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German Pages 255 [256] Year 2005
Barbara Fritz / Katja Hujo (Hrsg.) Ökonomie unter den Bedingungen Lateinamerikas: Erkundungen zu Geld und Kredit, Sozialpolitik und Umwelt
Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde - Hamburg Band 62
Barbara Fritz / Katja Hujo (Hrsg.)
Ökonomie unter den Bedingungen Lateinamerikas Erkundungen zu Geld und Kredit, Sozialpolitik und Umwelt
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 2005
Institut für Iberoamerika-Kunde • Hamburg
IIK Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut Das Institut für Iberoamerika-Kunde bildet zusammen mit dem Institut für Allgemeine Überseeforschung, dem Institut für Asienkunde, dem Institut für Afrika-Kunde und dem Deutschen Orient-Institut den Verbund der Stiftung Deutsches Übersee-Institut in Hamburg. Aufgabe des Instituts für Iberoamerika-Kunde ist die gegenwartsbezogene Beobachtung und wissenschaftliche Untersuchung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Lateinamerika. Das Institut für Iberoamerika-Kunde ist bemüht, in seinen Publikationen verschiedene Meinungen zu Wort kommen zu lassen, die jedoch grundsätzlich die Auffassung des jeweiligen Autors und nicht unbedingt die des Instituts darstellen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. (Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Hamburg; Band 62) ISBN 3-86527-199-5 © Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2005 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Konstantin Buchholz Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis Einleitung I. Ökonomie, Regionen und die anderen: Erkundungen Marianne Braig Ökonomie als transnationale Disziplin oder: Das Fach entkernen Stefan Collignon Globalisierung, Regionalismus und die politische Ökonomie von Ideologien Elmar Altvater Verarmung in reicher Gesellschaft oder die Tragödie der privaten Aneignung öffentlicher Güter Maria Angela D'Incao Rosa, genannt Rosa Prêta, eine brasilianische Frau Silvio Andrae Politikberatung und Beraterpolitik in Amazonien Manfred Niekisch Biodiversität als Entwicklungspotenzial: Paradigmenwechsel im Naturschutz II. Geld, Kredit und Entwicklung Reinhard H. Schmidt Die Sicht der teilnehmenden Beobachter: Ein Abriss der IPC/IMIGeschichte aus neo-institutionalistischer Perspektive Kathrin Andrae Regulierung und Integration von Mikrofinanzinstitutionen in formelle Finanzmärkte in Lateinamerika Barbara Fritz Tragfähigkeit von Verschuldung. Ein Blick über die Gläubigerperspektive hinaus Katja Hujo Wirtschaftskrisen und sozioökonomische (Un-)Sicherheit in Lateinamerika
III. Sozialpolitik im regionalen Vergleich Katharina Müller Die Politische Ökonomie der Rentenreform: Lateinamerika und Osteuropa im Vergleich
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Carmelo Mesa-Lago / Eva Maria Hohnerlein Rentenreformen im Vergleich: Internationale Systematisierung und Lehren aus Lateinamerika und Osteuropa für die deutsche Rentenreform
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Anthony J. Dukes / Kristin J. Kleinjans Kann Kollusion die hohen Rentenversicherungsgebühren in Kolumbien erklären?
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Helmut Schwarzer The Recent Brazilian Pension Reform: Lessons from Comparative Studies
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An Stelle eines Nachworts Hajo Riese Manfred Nitsch - ein politischer Ökonom par excellence
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Autorenverzeichnis
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Einleitung Es gibt eine Art von Wirtschaftswissenschaft, die verschiedene Regionen dieser Welt lediglich als Produzenten von Datenmaterial sieht, mit denen universelle Modelle empirisch unterfüttert werden können. Und es gibt ein anderes Verständnis von Ökonomie, das Regionen nicht auf die Rolle von Produzenten von Datenrohstoffen reduziert, sondern die Analyse ökonomischer Problemlagen im Kontext der jeweiligen gesellschaftlichen Konstellationen betreibt, aus deren Empirie Fragestellungen entwickelt und Antworten sucht, und die nicht zuletzt den aktiven Austausch mit Wissenschaftlern aus dieser Region als selbstverständlich begreift. Dieser Band folgt dem Verständnis einer solchen, innerhalb der Sozialwissenschaften verorteten und für die Empirie der lateinamerikanischen Region offenen Wirtschaftswissenschaft - was nicht zuletzt auch daran liegt, dass alle versammelten Autoren biografische Berührungspunkte mit Manfred Nitsch haben, der in seinem langen Wirken als Professor für Politische Ökonomie am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin für viele von ihnen Lehrer, Kollege und Freund gewesen ist. Insofern ist dieser Band zum einen eine themengeleitete Erkundung der Ökonomie „unter den Bedingungen Lateinamerikas", wie es im Titel heißt. Zum anderen ist er aber auch als Würdigung der wissenschaftlichen Arbeit Manfred Nitschs zu lesen, der sich über Jahrzehnte mit den ökonomischen Problemen und Herausforderungen Lateinamerikas beschäftigt hat und dabei mit Vehemenz und auch gegen tradierte Mehrheitsmeinungen immer einem solchen wirtschaftswissenschaftlichen Selbstverständnis gefolgt ist. Die Herausgeberinnen dieses Bandes fühlen sich dabei an die Teppichweber von Kujan-Bulak in dem Gedicht von Bertolt Brecht1 erinnert, die Lenin ehren wollten, sich aber anstelle einer gipsernen Büste für die Austrocknung des Malaria verbreitenden Sumpfes in ihrem Ort entschieden. So finden auch wir, dass
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Bertolt Brecht: "Die Teppichweber von Kujan-Bulak ehren Lenin", in: ders.: geschichten, Hamburg: Rowohlt, 5. Auflage 1958, S. 85-87.
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eine Würdigung der wissenschaftlichen Arbeit Manfred Nitschs anlässlich seiner Emeritierung kein Denkmal in Form einer Festschrift verdient, sondern einen Sammelband, in dem die Autorinnen und Autoren das Wissenschaftsverständnis, die Themen und Ansätze, die er verfolgt hat, weiterfuhren. Daher macht es sich das vorliegende Buch zur Aufgabe, auf verschiedenen Ebenen und anhand unterschiedlicher Themen Argumente für den wissenschaftlichen Mehrwert von area studies und komparativen area studies innerhalb der Ökonomie zusammenzutragen. Die Arbeit von Manfred Nitsch kann hier in mehrfacher Hinsicht als exemplarisch gelten: Sie ist erstens thematisch breit angelegt, wobei die Herausforderung darin liegt, theoretisch fundiertes Fachwissen mit umfassender Kenntnis über die Region zu verbinden. Sie ist zweitens interdisziplinär angelegt beziehungsweise verweist auf systematische Bezüge zu den anderen Disziplinen. Und sie bietet drittens die systematische Möglichkeit eines Erkenntnisgewinns durch die Übertragung auf und das Fruchtbarmachen von Erkenntnissen für andere Regionen oder Problemfelder. Entsprechend ist der erste Teil des Bands unter das Thema „Ökonomie, Regionen und die anderen: Erkundungen" gestellt. Marianne Braig eröffnet mit einem Beitrag, in dem sie den area studies in der Wirtschaftswissenschaft einen methodischen Platz zuweist. Diesen sieht sie angesichts der Entkopplung von Raum und ökonomischen Austauschprozessen in der Thematisierung und Problematisierung der vielfältigen Relationen und Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen geographischen Regionen. An einem solchen Ort, so Braigs Argumentation, können die vielfältigen Interaktionen zwischen divergierenden und kooperierenden Wirtschaftsräumen behandelt und detaillierte Fallstudien mit der Analyse globaler Transaktionen verbunden werden. „Für die Wirtschaftswissenschaft eröffnet eine regionale und zugleich transregionale Orientierung bei der Befassung mit Lateinamerika als dem ,Labor der Moderne' schlechthin vielfältige Erkenntnisse. Der Subkontinent gehört zu den Regionen, in welchen immer wieder in der Geschichte und insbesondere in den letzten Jahrzehnten rasche Umbrüche erfolgten und radikale Eingriffe erprobt wurden" (Braig in diesem Band, S. 25). Ob jedoch eine auf Lateinamerika bezogene ökonomische Forschung den Kern des Fachs erreichen oder gar sprengen könne, hänge auch von der Bereitschaft des Fachs ab, sich von der Enthistorisierung der Disziplin, der Biologisierung der Marktkräfte und der Mathematisierung der Instrumente zu lösen. Dies wiederum könnte wichtige Impulse zur Wiederbelebung der Disziplin als Teil der Sozialwissenschaften geben. Stefan Collignon leistet einen thematisch geleiteten Beitrag zur Diskussion um die sozialwissenschaftliche Einbettung der Wirtschaftswissenschaften sowie um die Bedeutung von regionenbezogenen Spezifika. Regionen unterscheiden sich in dieser Sichtweise durch ihre jeweils besondere Form, in der sie ihre gesellschaftlichen Ideologien artikulieren. Diese politische Normativität, so Collignon, hat ökonomische Fundamente, reflektiert aber zugleich einen gesell8
schaftlichen Konsens, der wiederum in spezifischen Formen wirtschaftlicher Logik verankert ist. So hat die Geldwirtschaft eine zerstörerische Kraft gegenüber hierarchisch-holistischen Normen traditioneller Gesellschaften, aber sie schafft zugleich ihre eigene Normativität, die sich in der moral economy des Individualismus ausdrückt. Unterschiedliche normative Präferenzen, so Collignon, resultieren in unterschiedlichen gesellschaftlichen Ideologien, Regulationsformen und Wirtschaftsprinzipien, deren jeweilige nationalstaatliche beziehungsweise regionale Ausprägung spezifisch ist. Diese Spezifika herauszuarbeiten sei dann Aufgabe der Politischen Ökonomie in der Auseinandersetzung mit einer spezifischen Region dieser Welt. Elmar Altvater schließt insofern an die Überlegungen Collignons an, als er in seinem Beitrag auf die historische Tendenz der Weltwirtschaft eingeht, alle Welt in den Geltungsbereich des Marktes einzubeziehen und in entsprechender Weise die gesellschaftlichen Normen zu beeinflussen. So wird die Privatisierung von öffentlichen und Gemeinschaftsgütern zur dominanten Tendenz, der partiell und sporadisch durch den Kampf um die Erhaltung der Allmende, der commons und um den öffentlichen Zugang zu Gütern und Diensten begegnet wird. Globalisierung ist in diesem Sinne als Zurückdrängung öffentlicher Räume zu Gunsten der Ausdehnung privater Sphären zu interpretieren, als eine globale Tendenz der privaten Inwertsetzung. Allerdings, so Altvater, ist das Resultat dieser Tendenz paradox. Die privaten Räume werden zwar größer, aber die Zahl der Exkludierten auch. Die Tragödie der Privatisierung öffentlicher Güter besteht also darin, dass das Fair Play in einer auf gewissen sozialen Ausgleich programmierten kapitalistischen Gesellschaft neue Regeln erhält, die nur um den Preis der Exklusion vieler Menschen, das heißt um den Preis einer Gesellschaftsspaltung eingehalten werden können. Maria Angela D 'Incao gibt in ihrem Beitrag nicht nur die Lebensgeschichte, sondern insbesondere die ökonomischen Strategien einer Frau der brasilianischen Unterschicht wieder. Rosa Preta, die schwarze Rosa also, wie sie aufgrund ihrer Hautfarbe genannt wird, gehört einem Teil der brasilianischen Gesellschaft an, der aufgrund der strukturell bedingten privaten Aneignung öffentlicher Güter durch den privilegierten Teil der brasilianischen Bevölkerung dauerhaft exkludiert ist. Der Überlebenskampf Rosas beinhaltet traditionelle Mechanismen der Patronagewirtschaft, der Aufnahme und sporadischen Unterstützung durch eine im ökonomischen Sinn „stärkere" Familie. Gleichzeitig aber, und dies zeigt der Beitrag auf eindrucksvolle Weise, weist Rosa erhebliche soziale und unternehmerische Kompetenzen auf - doch trotz geschickten Einsatzes dieser Kompetenzen kommt sie in ihrem Arbeitsleben über das Existenzminimum kaum hinaus. Damit spiegelt die Geschichte ihres Überlebenskampfs eine komplette Gesellschaftsstruktur wider. Ein wichtiger Aspekt der Forschungsarbeiten Manfred Nitschs sind immer auch Umweltfragen gewesen, verknüpft mit wirtschaftswissenschaftlichen Methoden, eingebettet in den sozialwissenschaftlichen Kontext und über einen lan9
gen und kontinuierlichen Zeitraum auf die Amazonasregion fokussiert. Silvio Andrae analysiert in seinem Beitrag die Problemlagen und Herausforderungen einer dementsprechend fundierten Politikberatung in Amazonien im Rahmen der International Advisory Group des PPG7-Programms zur Rettung der tropischen Regenwälder sowie am Beispiel des Planungsverfahrens Zoneamento Ecolögico-Econömico. Er hebt dabei auf den hohen Komplexitätsgrad Amazoniens ab, der sich der Reduzierung auf Einzelfragen sperrt, wodurch gerade für Sozialwissenschaftler ein besonderes Spannungsfeld für die Beratung entsteht. Auf dieses Spannungsfeld reagierte Manfred Nitsch als politischer Ökonom, indem er mit Hilfe der Konzepte der Neuen Politischen Ökonomie die Brücke zwischen Politik und Wirtschaft zu schlagen suchte. Der Beitrag von Manfred Niekisch konzentriert sich in diesem Zusammenhang auf das Thema der Biodiversität auf globaler Ebene sowie in Lateinamerika, in deren Zusammenhang er unter anderen in Amazonien Mitglied der Internationalen Beratergruppe des PPG7-Programms ist. Er stellt fest, dass die lokale Bevölkerung und vor allem indigene Gemeinschaften über umfangreiche Kenntnisse der Biodiversität verfügen, die wissenschaftlich nicht erfasst sind. In der langen und intensiven Auseinandersetzung zwischen globalen Umweltanforderungen und lokalen Nutzungsinteressen hat sich über zahlreiche Beispiele gerade in dieser Region ein wichtiger Paradigmenwandel herausgeschält: Der Versuch, menschenfreie Schutzgebiete einzurichten, hat sich als unpraktikabel erwiesen. Schutzgebiete dienen nicht nur dem protektiven und restriktiven Naturschutz, sondern können über touristische Nutzung beziehungsweise wegen ihrer „Umweltdienstleistungen" Entwicklungsmotoren für die umliegenden Regionen sein; menschliche Nutzung und Naturschutzziele können kompatibel gestaltet werden. Der zweite Teil des Sammelbands ist Arbeiten gewidmet, die sich mit einem zentralen Forschungsthema von Manfred Nitsch auseinandersetzen, mit Fragen von Geld, Kredit und Entwicklung, fokussiert auf die ökonomischen und gesellschaftlichen Probleme Lateinamerikas. Dabei unterscheiden sich zwei Stränge: die Auseinandersetzung mit der Konzeption von Kleinkreditprogrammen im entwicklungspolitischen Kontext einerseits, an der Manfred Nitsch nicht nur als Akademiker beteiligt gewesen ist, sondern sich als Berater und Mit-Gestalter eingemischt hat, und monetär fundierte makroökonomische Analysen, die Nitsch in Auseinandersetzung mit dem entwicklungstheoretischen mainstream geführt und angeregt hat. Markt-basierte Mikrokredite als Ansatz der Armutsbekämpfung haben seit den ersten Anfängen in den 80er Jahren einen solch rasanten Auftrieb genommen, dass die UN das Jahr 2005 zum „Internationalen Jahr des Mikrokredits" erklärt hat. Reinhard Schmidt berichtet in anschaulicher und gleichzeitig präziser Weise, wie sich der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn über Vor- und Nachteile der Entwicklungsfinanzierung, an deren Weiterentwicklung auf institutio10
nentheoretischer Grundlage Manfred Nitsch beteiligt war, in der Gestaltung von Mikrofinanzprogrammen und -Institutionen niedergeschlagen hat. Ursprünglich ausgehend von Asien, hat sich dieses Modell in Lateinamerika und jüngst auch in Osteuropa in eindrucksvoller Weise verbreitet. Leitend waren nach Schmidt dabei vor allem neo-institutionalistisch geprägte Erkenntnisse, die die Anreizgestaltung und das Design von finanziell sich weitgehend selbsttragenden Finanzinstitutionen in den Mittelpunkt stellten. Dies umfasst auch die Frage von ownership für so genannte „kleine Leute" in Entwicklungs- und Transformationsländern und der Schaffung der dafür erforderlichen dauerhaften institutionellen Strukturen. Angesichts der erreichten Dimensionen von Mikrokrediten in der internationalen Entwicklungsdiskussion gewinnt auch die Frage des Selbstverständnisses der Mikrofinanzinstitutionen als Element ihrer nationalen Finanzmärkte und damit nach einer adäquaten Regulierung dieses Segments an Gewicht. Kathrin Andrae kommt in ihrem Beitrag zu dem Schluss, dass eine externe Regulierung von Mikrofinanzinstitutionen, beispielweise über die klassische Bankenaufsicht, nicht per se zu einer Nachhaltigkeit des Mikrofinanzangebots für die Zielgruppen führt. Vielmehr sei die Förderung eines integrierten Risikomanagements und die Stärkung der Selbstregulierung durch die Eigentümer, Geber, die Zielgruppe bzw. Dachverbände der geeignete Weg. Den wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung und Nachhaltigkeit der Mikrofinanzinstitutionen in Lateinamerika jedoch leiste - und hier trifft sie sich mit dem Beitrag von Reinhard Schmidt eine Aktivierung und effektive Durchsetzung von ownership, also eine Stärkung des „Eigentümer-Verständnisses" seitens der nationalen und internationalen Institutionen. Der zweite Strang der Beschäftigung mit Geld, Kredit und Entwicklung erfolgt aus makroökonomischer und entwicklungstheoretischer Perspektive. Barbara Fritz setzt sich, ausgehend von der aktuellen Debatte über die sogenannte Tragfähigkeit von Verschuldung (debt sustainability), mit der vom wirtschaftswissenschaftlichen mainstream postulierten positiven Korrelation zwischen Verschuldung und Entwicklung auseinander. Die derzeit im IWF verfolgte Strategie, potentielle Risiken einer Auslandsverschuldung stärker als bisher in die Analyse mit aufzunehmen, bedeutet aus Sicht der Autorin einen wichtigen Fortschritt; dennoch greift sie aus entwicklungstheoretischer und -strategischer Sicht zu kurz, da das debt sustainability-Konzept ausschließlich auf den Aspekt der Zahlungsfähigkeit der Schuldner abstellt, die systemischen Implikationen der Verschuldung für das Wachstum jedoch ausblendet. Hierfür ist ein Perspektivenwechsel notwendig, der zu dem idealtypisch von Gläubigerinteressen geleiteten Erkenntnisinteresse die idealtypische Sicht und Interessenlage der Schuldner hinzufügt und damit insgesamt ein realitätsnäheres Bild von der globalen Finanzstabilität zu vermitteln vermag. In diesem Sinne hat die wirtschaftswissenschaftliche Auseinandersetzung mit einer Region einen wichtigen methodischen Ort. 11
Der Beitrag von Katja Hujo zielt auf die Verknüpfung einer makroökonomisch fundierten Analyse der Entwicklungsperspektiven Lateinamerikas mit neueren sozialpolitischen Ansätzen, denen auch der dritte Teil des Buchs gewidmet ist. In diesem Sinne setzt sie sich mit einem neuen Thema in der entwicklungspolitischen Debatte auseinander, das aus einer Kritik an den so genannten Schattenseiten der Globalisierung entstanden ist: der Zunahme an Unsicherheit infolge der zahlreichen Wirtschafts- und Währungskrisen, des Anstiegs von Arbeitslosigkeit und Informalisierung von Beschäftigung sowie des Rückzugs des Staates aus sozialpolitischen Aktivitäten. Vor dem Hintergrund der Diskussion um die geeigneten wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen, die sowohl Krisenprävention als auch deren sozial verträgliche Bewältigung fordern, vertritt sie die These, dass Volatilität und eine höhere Krisenanfälligkeit in der Peripherie auch in Zukunft die Regel sein werden, solange der interne Einkommensbildungsprozess und die Handlungsoptionen für Wirtschafts- und Sozialpolitik von den Restriktionen einer schwachen Schuldnerwährung bestimmt bleiben. Im Rahmen von Regionalforschung bzw. vergleichenden area studies ist die Beschäftigung mit einzelnen Politikfeldern besonders fruchtbar, ermöglicht sie doch sowohl Rückschlüsse auf die Validität der theoretischen Grundlagen einer Reformpolitik als auch auf die Bedeutung von Kontext und Akteuren bei der Umsetzung von Reformen. Als Ergebnis ergibt sich eine Belebung der theoretischen Debatte ebenso, wie Lerneffekte bezüglich einer best practice möglich werden, die jedoch gleichzeitig die Berücksichtigung der Einzigartigkeit eines bestimmten Reformkontextes und damit geeigneter -Strategien zulässt. Im Bereich der Alterssicherung hat sich Lateinamerika als Experimentierfeld für neue Reformansätze erwiesen, seit Chile 1981 sein staatliches Rentensystem durch ein privates System auf Basis individueller Kapitaldeckung ersetzte. Manfred Nitsch hat diesen Prozess von Beginn an mitverfolgt und insbesondere in den 90er Jahren zu einem Schwerpunkt der Forschung an seinem Lehrstuhl ausgeweitet. Unterstützt durch internationale wissenschaftliche Vernetzung, konnte er auf diese Weise eine beeindruckende Zahl von Nachwuchswissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen für die Problematik sozialer Sicherungssysteme begeistern, der auch der dritte Teil des vorliegenden Bands gewidmet ist. Katharina Müller untersucht so in vergleichender Perspektive die Politische Ökonomie der Rentenreform in Lateinamerika und Osteuropa. Dabei geht sie der Frage nach, warum die traditionell für Industrieländer verfochtene These, dass ein radikaler Systemwechsel in der Alterssicherung in höchstem Maße unwahrscheinlich sei, in mittlerweile 20 Ländern Lateinamerikas und Osteuropas widerlegt wurde. Sie kommt zu dem Schluss, dass sowohl das Gewicht neuer internationaler Reformmodelle im ökonomischen und sozialpolitischen Bereich (Washington Consensus, neue rentenpolitische Orthodoxie), als auch Kriterien wie Pfadabhängigkeit, reformbegünstigende Krisen sowie politische Rahmenbe12
dingungen und Handlungsspielräume für eine erfolgreiche Durchsetzung radikaler Reformen in der Rentenversicherung entscheidend waren. „Dabei ist es kein historischer Zufall, sondern das Ergebnis eines Modelltransfers vom Süden in den Osten, dass die Privatisierung der Alterssicherung in beiden geographisch so fernen Regionen nach einem ähnlichen Muster verlief' (Müller in diesem Band, S. 200). Carmelo Mesa-Lago und Eva Maria Hohnerlein nutzen die Lehren aus den lateinamerikanischen und osteuropäischen Rentenreformen, um die jüngste deutsche Reform in der Alterssicherung zu bewerten und international zu verorten. Ähnlich wie in den Transformations- und Entwicklungsländern wird für Deutschland durch den mit der Riester-Rente beschlossenen Teileinstieg in die private Kapitaldeckung ein Paradigmenwechsel diagnostiziert, der dem internationalen Trend des Umbaus von Wohlfahrtsstaat und Generationenvertrag folgt. Aufgrund der Erfahrungen in Lateinamerika und Osteuropa zeigt sich die Studie hingegen skeptisch, was die zu erwartenden positiven Effekte betrifft. Anthony Dukes und Kristin Kleinjans widmen sich in ihrer Fallstudie des neuen kolumbianischen Rentensystems der Frage, warum der neue Markt für die Anlage von Altersersparnissen nicht effizient funktioniert und sowohl überhöhte Verwaltungskosten als auch Versicherungsprämien auf einen unvollständigen Wettbewerb hinweisen. In der einschlägigen Literatur werden zumeist die hohen Kosten der privaten Rentensysteme in Lateinamerika und Osteuropa als ein zentraler Schwachpunkt der Reformen angesehen und in erster Linie durch hohe Werbungskosten und irrationales Versichertenverhalten erklärt. Dagegen argumentieren Dukes/Kleinjans, dass die derzeit gültige staatliche Regulierung der Rentenfondsindustrie möglicherweise eine implizite Kooperation zwischen den Rentenfonds fördern könnte und damit eine Gebührensenkung verhindere. Diese These könnte nach Ansicht der Autoren auch für andere Länder mit dezentralen Rentensystemen aufschlussreich sein. Eine Lockerung der Regulierung könnte nach Auffassung der Autoren Wettbewerbsanreize verbessern und folglich die Kosten für die Versicherten verringern bzw. die zukünftigen Rentenerträge erhöhen. Um die brasilianische Rentenreform der Regierung Lula geht es in dem Artikel von Helmut Schwarzer, der als Staatssekretär im Sozialversicherungsministerium seit dem Jahr 2003 maßgeblich für ihre Umsetzung verantwortlich zeichnet. Im Gegensatz zu der Vielzahl von Ländern, die für eine strukturelle Rentenreform mit einem obligatorischen Übergang zur individuellen Kapitaldeckung optierten, setzen die Reformer in Brasilien auf eine graduelle Sanierung des staatlichen Umlagesystems durch den Abbau von Privilegien und eine Stärkung der Beitrags-Leistungs-Äquivalenz. Schwarzer leistet aus der Perspektive eines Beteiligten am Reformprozess eine Analyse der Politischen Ökonomie der brasilianischen Rentenreform und betont dabei sowohl die Bedeutung des internen politischen Verhandlungsprozesses als auch die Einbeziehung der regionalen und internationalen Erfahrungen auf dem Gebiet der Rentenreformpolitik. Dass 13
der brasilianische Weg mittlerweile auch von den internationalen Finanzorganisationen akzeptiert wird, ist laut Schwarzer ein Zeichen für den Reifeprozess, der in den letzten Jahren in diesem Politikfeld stattgefunden hat, und welcher ohne den Beitrag der Wissenschaft nicht in diesem Maße möglich gewesen wäre. Anstelle eines Schlussworts endet der Band mit einer Würdigung der wissenschaftlichen Arbeiten von Manfred Nitsch durch Hajo Riese, der die Konturen des Forschungsprogramms seines langjährigen Fachkollegen skizziert. Dieses benennt er als Dualismus von Entwicklungstheorie einerseits und Theorie und Politik der Unterentwicklung andererseits, exemplifiziert zwar nicht allein am Fall Lateinamerikas, dennoch aber stets auf diesen bezogen. Dieser Dualismus, so Riese, prägt Nitschs Werk als ein Spannungsverhältnis von registrierbaren Entwicklungstheorien und der vorfindbaren Realität von Unterentwicklung. In diesem Sinne gliedert der Autor die Publikationen Manfred Nitschs in einen makroökonomisch fundierten entwicklungstheoretischen Strang einerseits, der von einer kritischen Würdigung des Dependencia-Ansatzes bis zum monetärkeynesianischen Ansatz zur Erklärung von Entwicklung und Unterentwicklung reicht. Den zweiten Strang kennzeichnet Riese als den institutionenökonomischen und wirtschaftspolitischen Kontext der entwicklungstheoretischen Position. Hierzu zählt er Nitschs Publikationen zu Amazonien, Problemen der Sozialversicherung, der Konzeption von Kleinkreditprogrammen und der Einmischung in die Transformationsdebatte zu Osteuropa.
Barbara Fritz und Katja Hujo
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I. Ökonomie, Regionen und die anderen: Erkundungen
Marianne Braig
Ökonomie als transnationale Disziplin oder: Das Fach entkernen Im Zuge der Streichung der Professur für Volkswirtschaftslehre/Politische Ökonomie Lateinamerikas an der Freien Universität Berlin zu Beginn des Jahres 20041 argumentierten die Fachvertreter in altbekannter Weise. Verschärft angesichts der notwendigen Streichungen an den Universitäten, gehe es um die Sicherung der grundständigen Lehre, der Erforschung allgemein wichtiger Probleme, kurz um den „Kern des Fachs"; hingegen sei die Befassung mit den exotischen Problemen ferner Länder ein Luxus, den man sich in Zeiten der Krise nicht (mehr) leisten könne. Gegenargumente, dass für die Entwicklung der ökonomischen Disziplin Lateinamerika geradezu das Experimentierfeld nicht nur wirtschaftlicher Krisen sondern unterschiedlichster Rezepturen sei, das Fach also von diesem „Labor der Moderne" und seinen empirischen Materialien Erkenntnisse gewinnen, ja vielleicht sogar lernen könne, stießen im besten Fall auf ein freundliches Lächeln. Während zur gleichen Zeit deutsche Politiker sich dezidiert in internationale Beziehungen einzumischen suchen und die wirtschaftlichen Prozesse und Akteure in Deutschland aktiv Globalisierung mit vorantreiben, während zugleich andere von negativen Wirkungen so krass wie noch nie betroffen sind, gehen die deutschen Universitäten daran, die meist in den 1970er Jahren geschaffenen Lehrstühle einzusparen, an denen Regionalforschung betrieben, wissenschaftlich fundierte Regionalexpertise bereitgestellt und grundlegende Kenntnisse über die verschiedenen Weltregionen vermittelt werden (vgl. für Afrika Mehler/Engel 2004: 1, 24ff.).
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Es handelt sich hierbei um eine von insgesamt drei Professuren in Ökonomie mit dieser Denomination in Deutschland.
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I. Es sind nicht allein Ökonomen/innen, die sich mit einer Region befassen und dazu noch mit einer außereuropäischen, nicht-angelsächsischen, die sich aufgrund ihres regional konnotierten Forschungsgegenstandes auf das Feld der Regional- oder Landeskunde reduziert sehen. In der Politikwissenschaft, der Soziologie, der Geschichte, ja selbst der Romanistik gilt man als hoch spezialisiert und damit als randständig, wenn man sich mit anderen Verhältnissen und Kulturen - beispielsweise den lateinamerikanischen - auseinandersetzt als denen, die der Herausbildung und Etablierung dieser Wissenschaften zugrunde liegen. Ganz so als ob die Globalisierung der Finanz- und Gütermärkte und die Migration von Menschen beladen mit ihrem kulturellen Gepäck und ausgestattet mit zahllosen, oftmals unsichtbaren Verbindungen und Netzwerken, unserer Ordnung des Wissens nichts anhaben könnten, glauben viele an der Systematik der Disziplinen festhalten zu können, ohne zu reflektieren, dass diese Wissensordnung historisch geworden, eng mit der Entstehungsgeschichte der modernen Nationalstaaten und des nationalstaatlichen Paradigmas einhergeht. Im Entstehungsprozess kommt es in den systematischen Sozialwissenschaften zu einer institutionellen Fixierung der „imperialen Trennung" (Conrad/Randria 2002: 21) zwischen Europa, später den USA, als Subjekt und der kolonisierten Welt als Gegenstand. Während sich die entstehenden Disziplinen der Nationalökonomie, der Soziologie und der Politikwissenschaft von vorneherein mit der europäischen bzw. angelsächsischen Welt als moderner befassen, wird die Untersuchung so genannter vormoderner Kulturen der Kulturanthropologie, der Altamerikanistik oder der Ethnologie übertragen (vgl. Wallerstein 1996). Scheinbar als unumstößlich gilt vielen eine Wissensordnung, die dazu führt, dass mit Beginn des 19. Jahrhunderts die außereuropäischen Kulturen langsam aus der Konstituierung der Gegenstandsbereiche, wie beispielsweise der Geschichtswissenschaft, verschwinden oder erst gar nicht aufgenommen werden, wie in die modernen Sozialwissenschaften. Diese, selbst Produkt des Liberalismus des ^ . J a h r h u n derts und einer am Fortschritt orientierten Geschichtskonzeption, blenden sowohl andere historische Realitäten als auch empirische Gegebenheiten fremder Regionen aus bzw. definieren sie als rückständig, traditionell, unterentwickelt oder unmodern aus den systematischen Sozialwissenschaften heraus. Die Ausblendungen betreffen auch die Nationalökonomie bzw. Politische Ökonomie oder Volkswirtschaftslehre, die im Zuge einer nachhaltigen Enthistorisierung aus ihrem Gegenstandsbereich nicht nur den Oikos verbannt, sondern in der ihr unterliegenden Marktlogik alle anderen Modi von Produktion, Verteilung und Umverteilung sowie Konsum ausblendet bzw. ihnen die Logik moderner Märkte überstülpt. Im Unterschied zur Nationalökonomie verstand sich die
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Ökonomik als Teil der praktischen Philosophie2 eines Aristoteles als Lehre von der rechten Führung des Hauses. Damit war sehr viel mehr gemeint und zu erfassen als mit dem, was heute von den Fachvertretern unter dem „Wirtschaftlichen" verstanden wird. Die Ökonomik „beinhaltete das Verhältnis zwischen Mann und Frau: die eheliche Gemeinschaft; das Verhältnis des Vaters zu den Kindern: die väterliche Gemeinschaft; das Verhältnis des Hausherrn zu den Sklaven: die despotische Gemeinschaft. Alle drei häuslichen Gemeinschaften fußen auf Ungleichheit, Unterordnung und Herrschaft. Alle haben die gleiche Bezugsperson; den Hausherrn. Ökonomik ist Herrschaftsausübung im und über das Haus. Ohne das herrschaftliche Moment könnte das Haus nicht funktionieren. Ohne Herrschaft wäre ein Haus kein Oikos" (Bürgin 1993: 13).
Die Nationalökonomie als wissenschaftliche Disziplin, losgelöst von anderen Sozialwissenschaften und unberührt von jeglicher Herrschaft, kann sich dagegen erst mit dem Durchbruch marktwirtschaftlicher Verhältnisse und in Absetzung zu anderen als nicht marktmäßigen Entscheidungsinstanzen ausbilden. Erst in diesen Prozessen, die von einem wachsenden Abstraktionsgrad der ökonomischen Beziehungen begleitet werden, kann der Markt zu einer wesentlichen Entscheidungsinstanz werden, die wiederum sich als zentraler Bezugspunkt ökonomischen Wissens herauskristallisieren kann. „Die Ausrichtung auf den Markt, das Marktversagen und die Marktbedürfnisse gerieten in den Vordergrund des Handelns und Analysierens. Er erschien als eine Sache für sich. ... Die Ökonomie erhielt den Schein des Autonomen; vom Wirken des Marktes, von Marktfrauen und von den Gesetzen des Marktes, von Marktgleichgewichten wird gesprochen" (Bürgin 1993: 22), die theoretische Separierung von Ökonomie, Politik und Sozialem reproduzierbar. Doch erst einmal losgelöst von den anderen Sozialwissenschaften festigt eine explizite und zunehmend abstraktere Theorie der Ökonomie die Vorstellung der Autonomie des Ökonomischen und ihre Betrachtung als isolierbaren Forschungsgegenstand. Dieser werden in Anlehnung an die Naturwissenschaften eigene Gesetzmäßigkeiten zugeschrieben; Biologisierung und Mathematisierung der Ökonomie schreiten so weit voran, dass viele Fachvertreter sie nicht mehr länger als Sozialwissenschaft oder gar als Kulturwissenschaft begreifen wollen und auch die wissenssoziologischen Erkenntnisse eines John Maynard Keynes in den Wind schreiben, der noch wusste, dass Ökonomie „essentially a moral science, not a natural science" ist (Keynes 1972: 296). Eine weitere Einengung erfährt die Nationalökonomie als wissenschaftliche Disziplin durch das nationalstaatliche Paradigma. Aus der Perspektive des Weltsystemansatzes (Immanuel Wallerstein) wie auch aus der der lateinamerikanischen Dependenztheorie macht eine Fokussierung auf nationale, ökonomische Räume keinen Sinn, will man die Entwicklung der einen und die Unterentwick2
Unterteilt ist die praktische Philosophie bekanntermaßen in Politik, die Lehre der guten Gemeinschaft, in Ethik, die Lehre vom guten Handeln des Einzelnen, und in Ökonomik.
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lung der anderen Regionen erklären. Aus ihrer Sicht gibt es eine Welt, deren unterschiedliche und durchaus heterogene Teile durch ein komplexes Netz im Kern ökonomischer Tauschbeziehungen mehr oder weniger intensiv miteinander verbunden sind. In diesen Austauschbeziehungen werden Ungleichheiten und Abhängigkeiten geschaffen und über die Entwicklungschancen einzelner Regionen und Nationalökonomien entschieden.
IL Die Frage danach, welche Bedeutung es für die Entstehung moderner wissenschaftlicher Disziplinen hat, dass diese die europäische Welt der Moderne als die Moderne schlechthin behandeln und den Rest ausklammern, kann vor dem Hintergrund der skizzierten Verengungen der systematischen Disziplinen nicht gestellt werden. Die alten Hochkulturen ebenso wie die ,primitiven Kulturen' werden als störende Artefakte ausgegliedert. Auf die Zurschaustellung ihrer Exotik seit den ersten Weltausstellungen und in allen wichtigen Museen der Arsten Welt', und verbunden mit ihrer wissenschaftlichen Erfassung und Katalogisierung als ,vormoderne' bzw. .traditionelle' Kulturen in der Ethnologie folgt im 20. Jahrhundert ihre Ausgrenzung als „unterentwickelte" Gesellschaften und ihre Charakterisierung als ,entwicklungsfeindliche' Kulturen, die von sparunwilligen Wirtschaftsakteuren bevölkert werden, unter denen sich kein Schumpeterscher Unternehmer finden lässt. Abgekoppelt von den systematischen Wissenschaftsdisziplinen werden weite Teile der Welt und die Mehrheit der Weltbevölkerung, die in hochkomplexen gesellschaftlichen Verhältnissen leben und arbeiten, zu Gegenständen der Entwicklungsökonomie, -Soziologie und -politik; eine genauere Befassung mit ihnen erfolgt meist in der Verbannung der , Regionalwissenschaften'. Der sich selbst erschaffene ,Kern des Fachs', wiederum immunisiert gegenüber irritierenden Realitäten, reduziert sich auf hohem Abstraktionsgrad, enthistorisiert und oftmals ohne Wirklichkeitsbezug auf spielerische „Modellschreinerei". Allerdings sind Regionalforschung oder area studies, die in ihrer relativ kurzen Geschichte ein extremes Auf und Ab von Zustimmung und Kritik erfahren mussten, nicht ganz unschuldig an ihrer Abkopplung vom ,Kera'. In ihrem theoretischen und methodischen Instrumentarium gelten sie oftmals als wenig innovativ, sind sie doch auf die jeweiligen Grunddisziplinen angewiesen und werden von diesen entweder zu Hilfswissenschaften degradiert oder als exotische Spezialisierung eingeordnet. Zu ihrer Randständigkeit tragen sie dadurch selbst bei, als sie nicht selten von einem traditionellen Kulturbegriff ausgehen und an ihm festhalten, der , Kultur' im Sinne der Container-Theorie in klaren regionalen, nationalstaatlichen oder lokalen Grenzen behandelt wissen will. Nicht selten bleiben sie getrennt nach den jeweiligen Spezialisierungen dabei auf eine selbstgenügsame Beschäftigung mit fernen und exotischen Kulturen begrenzt, anstatt 20
diese interdisziplinär in grenzüberschreitenden, transregionalen und transnationalen Prozessen zu verorten. Grundlage für eine - in letzter Zeit im Kontext der postcolonial studies einerseits und der Globalisierung andererseits geforderten - transkulturelle Perspektivierung ist zunächst die eigentlich banale Tatsache, dass der Kontakt der europäischen mit der außereuropäischen Welt zumindest seit den Entdeckungsfahrten, dann erneut im 19. Jahrhundert und schließlich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts deutlich zugenommen und sich beschleunigt hat. Die dabei entstandenen Beziehungen haben zu nachhaltigen Veränderungen der betroffenen Gesellschaften Europas und außerhalb Europas geführt. Doch solange dieser Prozess in erster Linie als Diffusion westlicher Errungenschaften in andere Teile der Welt dargestellt werden kann, bleibt die Betrachtung der Welt und ihrer Regionen im Modernisierungsdiskurs und im nationalstaatlichen Denken gefangen. In neueren Auseinandersetzungen werden dagegen die Chancen reflektiert, die sich einerseits wissenschaftsimmanent aus dem cultural turn sowie den postcolonial studies und andererseits extern aus Globalisierungsprozessen für Regionalstudien ergeben. Hierbei treten neben einen nationalstaatlich motivierten Informationsbedarf über die , Anderen' lokale und supranationale Fragestellungen, die auf eine Verknüpfung von Kenntnissen über konkrete Regionen mit dem Verständnis transnationaler Prozesse zielen (vgl. Lackner/Werner 1999; Ford Foundation 1999).
III. Mit der Separierung der akademischen Disziplinen ist jedoch mehr verbunden als die Ausklammerung des ,Rests der Welt' aus dem ,Kern des Fachs', was für sich schon problematisch genug ist. Sie bringt zugleich auch mit sich, „dass für die Problematisierung der vielfältigen Relationen und Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen geographischen Regionen kein methodischer Platz existiert" (Randieria 1999). Zur Etablierung eines solchen methodischen Ortes kann die Regionalforschung durchaus beitragen. Nicht allein deshalb, weil sie durch unterschiedliche Disziplinen geprägt mit verschiedenen Methoden und Instrumentarien zur Entwicklung konkreten Wissens über bestimmte geographische Räume und Kulturen beiträgt, sondern auch weil sie aus ihrem eigenen Selbstverständnis heraus Fragen nach dem Verhältnis von Raum und Kultur immer wieder neu stellen muss und dabei einen konstruktivistischen, historischen und relationalen Kulturbegriff zugrunde legt. Insofern eröffnet gerade die Selbstverständigung der Regionalforschung, die im Kern über die Entkopplung von Kultur und Raum geführt werden muss, Chancen für die Überwindung nationalstaatlicher Wissenstraditionen, wenn sie sich auf die „wissenschaftsinternen (cultural turn) und externen (Globalisierung) Herausforderungen" einlässt (Lackner/Werner 1999: 45). Ihre Forschungsgegenstände sind durch kulturellen Austausch bestimmt, 21
der nicht selten die unterschiedlichsten Orte verbindet, und der durch äußerst vielgestaltige Praxen geprägt ist, der extreme Gewalt einschließt, aber auch subtile kulturelle und ökonomische Dependenzen umfasst. Die ökonomische Disziplin wiederum könnte angesichts der Entkopplung von Raum und ökonomischen Austauschprozessen ihrerseits ein idealer methodischer Platz für die Problematisierung der vielfältigen Relationen und Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen geographischen Regionen sein. Oftmals jedoch versagt sie aufgrund ihrer ahistorischen und abstrakten Theorieansätze und homogenisierenden Instrumentarien. Angesichts der Aufspaltung in Mikround Makroökonomie sowie international economics einerseits und der Abtrennung wichtiger Bereiche wie der Wirtschaftsgeschichte und der Wirtschaftsethnologie andererseits sowie der Ausblendung der Soziogenese der eigenen Disziplin verspielt sie ihre Chance, sich als ein solcher methodischer Platz profilieren zu können, an welchem die verschiedenen Relationen zwischen divergierenden und kooperierenden Wirtschaftsräumen behandelt und wo detaillierte Fallstudien mit globalen Transaktionen verbunden werden können. Eine der wenigen Ausnahmen, wo Regionalforschungen und transnationale Fragestellungen und Erkenntnisse aufeinander bezogen werden können, bilden Ansätze der Entwicklungsländerforschung, nicht zuletzt auch der Entwicklungsökonomie. Hier können transnationale und transkulturelle Zusammenhänge wie Peso-Crash in Mexiko und Turbulenzen privater Rentenfonds in den USA, globale Klimaveränderungen und bäuerliches Wirtschaften in Amazonien, Transferzahlungen von Arbeitsmigranten aus Spanien und den USA und lokale Überlebensökonomien sowie die Dollarisierung Ekuadors etc. verbunden werden. Doch auch diese Fähigkeit entzieht sich nicht der Randständigkeit. Selbst wenn sich Ökonomen, Politikwissenschaftler und Soziologen mit dem gesamten ,Rest der Welt', den sogenannten Entwicklungsländern, befassen, wird nicht selten der koloniale Blick festgeschrieben, mit welchem dieser ,Rest' betrachtet wird, indem er auf die Position des Empfängers von ökonomischen Transferleistungen reduziert wird. Ja, ,Entwicklungsexperten' werden zugleich selbst Opfer des kolonialen Blicks, wenn sie ihre Existenzberechtigung nur über die Krisen, das Chaos, die Gewalt, den Terrorismus, die Armut etc. in , ihren' Regionen legitimieren.
IV. Vor diesem Hintergrund sucht die Lateinamerikaforschung 3 sich neu zu orientieren, gilt es doch die Arbeitsteilung zwischen regional spezialisierten und systematisch orientierten Disziplinen angesichts der globalen und lokalen Veränderungen immer wieder zu überdenken und neu zu strukturieren. Die vielschichti3
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Die folgenden Ausführungen basieren auf der aktuellen Forschungskonzeption des Lateinamerika-Institutes der Freien Universität Berlin (vgl. LAI2002).
gen ökonomischen, sozialen und kulturellen Prozesse, die mit dem Begriff Globalisierung verbunden werden, stellen eine Forschungsperspektive in Frage, die einzelnen Disziplinen verhaftet bleibt und sich allein auf westeuropäische oder angelsächsische Denktraditionen und empirische Erfahrungen stützt. Prozesse globaler Vernetzung sowie lokale und regionale Entwicklungsdynamiken sind nicht allein aus der Perspektive Westeuropas und der USA zu verstehen und die Weltkontexte nicht nur von diesen Orten aus zu begreifen. Zugleich sind Globalisierungsprozesse kein neues Phänomen, sondern - wie außereuropäische Perspektiven zeigen - eng verbunden mit der Entstehung und den Krisen der Moderne in Europa. Nicht allein aufgrund der engen Verflechtung mit dem Aufbau neuzeitlicher internationaler Beziehungen seit der .Entdeckung Amerikas' 1492 und mit der Entwicklung der Moderne in Europa, sondern auch aufgrund der bis heute damit verbundenen Imaginationen der Neuen Welt einerseits als fremd und exotisch und andererseits als Teil des Okzidents erscheint die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Lateinamerika geeignet, neue Erkenntnisse für die einzelnen Disziplinen zu gewinnen, deren Grenzen aufzuzeigen, sie zu verändern und neu zu strukturieren. Das europäische bzw. westliche Entwicklungsprojekt einer in Raum und Zeit als grenzenlos gedachten Moderne ist von den überseeischen Erfahrungen wesentlich vorangetrieben worden. Lateinamerika wie auch andere außereuropäische Regionen jedoch sind diesem Projekt der Moderne nur begrenzt und in weiten Teilen gar nicht gefolgt bzw. haben ihre eigenen modernities ausgeprägt. Seit der Entdeckung und gewaltsamen Besiedlung der ,Neuen Welt' sind deren verschiedene Teile eigene Wege der Moderne gegangen, die in vielen Regionen zu komplexen Fragmentierungen geführt haben, die sich nicht isoliert als soziale, ethnische, regionale, ökonomische oder politische darstellen lassen, sondern in einem weiten Sinn als ,kulturelle' zu beschreiben sind. In Anlehnung an die Kulturanthropologie muss dabei mit einem weit gefassten Kulturbegriff gearbeitet werden, der Kultur nicht auf einen Teilbereich gesellschaftlicher Prozesse reduziert, sondern diese als Konfigurationen von Wahrnehmungsmustern, Repräsentation und Praxis handelnder Personen versteht, deren individuelles Handeln in vielfältige soziale Machtbeziehungen und Hierarchien eingebettet ist. Kulturelle Dynamiken werden somit als prägende Elemente ökonomischen, sozialen und politischen Geschehens verstanden, die sich nicht allein in Makroprozessen aufzeigen lassen, sondern gerade auch in kleinen Analyseobjekten - wie indianischen Gemeinden, Slumsiedlungen, Familien, Unternehmen - untersucht werden müssen. Zugleich gilt es, das traditionelle Verständnis von der Geschlossenheit von Kulturen zu überwinden. Das klassische Kulturkonzept schafft durch die Perpetuierung der Vorstellung vom separatistischen Charakter der Kulturen das Problem der strukturellen Kommunikationsunfähigkeit und schwierigen Koexistenz dieser Kulturen. Und mehr noch: die Beschreibung der Kulturen als in sich geschlossene Systeme (Herder spricht 23
von Kugeln bzw. Inseln) ist nicht nur deskriptiv falsch sondern auch normativ irreführend, wie die Debatten um Huntingtons Clash of civilization oder aktuell um The Hispanic Challenge zeigen. Kulturen haben aufgrund der Geschichte des Kulturkontakts de facto nicht die unterstellte Form der Homogenität und Separiertheit. Sie sind in ein dichtes Netz von Austauschprozessen und Interdependenzen eingebunden und durch diese geprägt. Das für eine Regionalforschung, die der methodische Ort der Problematisierung der vielfältigen Relationen und Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Regionen sein will, vorgeschlagene Konzept der Transkulturalität, kann daher auch nicht von einem holistischen und monadischen Kulturbegriff ausgehen, wie er lange Zeit üblich war und als Lehre von den „Kulturkreisen", in jüngerer Vergangenheit als Rede vom „Kampf der Kulturen", eine große Rolle gespielt hat. Vielmehr werden kulturelle Deutungsmuster als soziale und kulturelle Strategien verstanden, die nicht auf überzeitliche Essenzen zurückgreifen, sondern vielmehr durch und durch historisch und veränderbar sind. Transkulturalität impliziert, dass Kulturen nicht als abgeschlossene Entitäten gedacht werden können, sondern im ständigen Austausch begriffen sind und durch diese Kontakte tiefgreifend geformt werden. Die damit eröffnete kritische Reflexion der westlichen Perspektive, die immer von der eigenen Kultur ausgehend den Kontakt zu anderen herstellt, bedeutet, den für sie maßgeblichen Meridian der okzidentalen Kulturentwicklung in Frage stellen zu können und nicht mehr von einem unhinterfragbaren Eigenem als Zentrum auszugehen, sondern mehrpolig zwischen Kulturen zu wandern (Ette 2002: 44). Die kulturellen Dynamiken Lateinamerikas ergeben sich aus Wechselbeziehungen, die seit dem 16. Jahrhundert durch eine enge Verflechtung mit Europa und über Europa mit der Alten Welt insgesamt geprägt waren. In dieses Verhältnis wurden Kulturen unterschiedlicher Gestalt eingebracht, zuerst die vorspanischen Gesellschaften, die je nach Region zwischen einfach organisierten Verwandtschaftsverbänden von Jägern und Sammlern und komplexen Staatsgesellschaften variierten. Die zumeist gewaltförmige und durch komplexe wechselseitige Ausgrenzungs-, Aneignungs- und Adaptionsprozesse geprägte Eingliederung in den Weltkontext ergab sich aus den Interessen und Möglichkeiten der herrschaftlichen Verbindung mit diesen vorkolonialen Gesellschaften. Zugleich bedurfte die Ausbeutung der Ressourcen Lateinamerikas überall dort, wo die Europäer nicht auf eine beherrschbare Bevölkerung stießen, die sie ihren Wirtschaftsinteressen unterordnen konnten, der Einwanderung bzw. des Imports von Arbeitskräften aus Asien sowie von Sklaven aus Afrika. Insofern konstituierte sich dieser Teil der Welt von Beginn an bezogen auf andere, wobei diese ,anderen', wie der Weltkontext selbst, sich seitdem verändert haben und ständig verändern. Kulturelle Vielfalt im Kontext zunehmender globaler Einbettung von Gesellschaften, die seit dem frühen 19. Jahrhundert zumeist nationalstaatlich verfasst sind, kann vor diesem Hintergrund nicht allein aus der Sicht von Disziplinen 24
verstanden werden, die sich im Kontext von relativ fest gefügten Nationalgesellschaften wie den europäischen arbeitsteilig herausgebildet haben, und die seit ihrer Konstituierung ihre in der Arbeitsteilung geschaffenen Grenzen nicht grundsätzlich in Frage gestellt und sich einen dementsprechend spezialisierten disziplinaren Kodex geschaffen haben. Lateinamerikanische Kulturen sind immer grenzüberschreitend gewesen, und sie können auch in der heutigen, scheinbar global vereinheitlichenden ,Moderne' nicht als lokale oder nationale begriffen werden. Zugleich ist eine systematische Durchdringung ihrer Regelhaftigkeiten stets auf die Kooperation unterschiedlicher Disziplinen angewiesen, um sowohl ihrem regionalen Charakter als auch der nordatlantisch geprägten m o dernen' Wissenschaft gerecht zu werden. V. Für die Wirtschaftswissenschaft eröffnet eine regionale und zugleich transregionale Orientierung bei der Befassung mit Lateinamerika als dem , Labor der Moderne' schlechthin vielfältige Erkenntnisse. Der Subkontinent gehört zu den Regionen, in welchen immer wieder in der Geschichte und insbesondere in den letzten Jahrzehnten rasche Umbrüche erfolgten und radikale Eingriffe erprobt wurden. Fragen und Forschungsinteressen, wie sie Manfred Nitsch jahrzehntelang vorangetrieben hat, zielten darauf ab, den Spagat zwischen den Erkenntnissen aus lokalen Fallstudien und den transregionalen bzw. -nationalen Einbindungen der lokalen Erfahrungen nicht nur auszuhalten sondern produktiv zu nutzen. Weiterhin relevant ist es, „Fragen nach der Persistenz sowie der Überwindung von Armut unter einem Blickwinkel aufzugreifen, der es erlaubt, negative und positive Kombinationen verschiedener Eigenschaften von unterschiedlichen Produktions- und Reproduktionsverhältnissen zu identifizieren. Beispielsweise kann die Widerstandsfähigkeit der Familienwirtschaft mit dem Akkumulationsdrang der kapitalmarktgetriebenen Geldwirtschaft in einer von Ökonomisch-technischem Wandel erfassten dynamischen Interaktionssphäre ebenso in Kombination auftreten wie die Mischung aus geldwirtschaftlicher Exklusion und familienwirtschaftlicher Selbstausbeutung" (LAI 2002).
Manfred Nitsch betont: „Nicht chronologisch als Abfolge gedachte Dualismen von traditioneller' und moderner' Gesellschaft oder informeller vs. institutionell gefestigter Ökonomie bilden das Grundmuster der Erkenntnis, sondern die Gleichzeitigkeit des Diversen, das sich jeweils konkret zu einer Trouvaille der Geschichte oder - in der Sprache der Ökonomie - zu .multiplen Gleichgewichten' verdichtet und unterschiedliche, je nach Konstellation spezifische Dynamiken entwickeln kann" (LAI 2002).
Dabei sind die Ökonomien der Länder Lateinamerikas insbesondere auch im Kontext ihrer Einbindung in vielfältige weltwirtschaftliche Beziehungen zu ana25
lysieren, die v o n den transnationalen N e t z e n der M i g r a t i o n s b e w e g u n g e n bis zu internationalen W ä h r u n g s - u n d Finanzkrisen reichen. O b d i e R e g i o n a l f o r s c h u n g u n d i n s b e s o n d e r e die E n t w i c k l u n g s ö k o n o m i e u n d die ö k o n o m i s c h e F o r s c h u n g , die sich mit b e s t i m m t e n R e g i o n e n befasst, den K e r n des F a c h s erreichen, ihn sogar s p r e n g e n kann, h ä n g t d a v o n ab, o b eine W i r t s c h a f t s w i s s e n s c h a f t , die die R e g i o n e n im Blick hat, den H e r a u s f o r d e r u n g e n d e r Globalisierung gerecht w e r d e n und zu e i n e m m e t h o d i s c h e n Ort w e r d e n k a n n , w o d a s Verhältnis d e r R e g i o n e n z u e i n a n d e r und zu globalen P r o z e s s e n a u f g e a r b e i t e t w i r d . A u s sich h e r a u s wird das d e r Ö k o n o m i e k a u m m ö g l i c h sein; die Enthistorisierung d e r Disziplin, die B i o l o g i s i e r u n g d e r M a r k t k r ä f t e und M a t h e m a t i s i e r u n g d e r Instrumente blockieren Erkenntnisse ü b e r wirtschaftliches H a n d e l n in unterschiedlichen kulturellen K o n t e x t e n u n d in ihrem A u s t a u s c h . Im „Visier d e r K u l t u r w i s s e n s c h a f t e n " ( B e r g h o f f / V o g e l : 2 0 0 4 : 14) in e i n e m interdisziplinären F o r s c h u n g s z u s a m m e n h a n g k a n n d e r Perspektivwechsel gelingen, die Ö k o n o m i e sich w i e d e r als S o z i a l w i s s e n s c h a f t profilieren, die lokale O r t e u n d globale A u s t a u s c h e a u f e i n a n d e r b e z i e h e n k a n n .
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öffnen, Frankfurt a.M./New York:
Stefan Collignon
Globalisierung, Regionalismus und die politische Ökonomie von Ideologien Welche Rolle spielt Regionalismus in einer globalen Weltwirtschaft? Globalisierung ist ein wirtschaftliches Phänomen, getrieben von sinkenden Kosten für Transport und Kommunikation im privaten Sektor und dem Abbau politischer Barrieren für Handel und Investitionen im öffentlichen Bereich (Frankel 2000). Globalisierung ist nichts Neues, sondern schlicht Marktlogik im Weltmaßstab, die sich allerdings häufig kaskadenhaft durch die Erschließung regionaler Märkte (Regionalisierung) durchsetzt. Regionalismus dagegen folgt einer politischen Logik und ist mehr als der (sehr ungleich verteilte) geographische Effekt von Globalisierung. Eine rein ökonomische Perspektive blendet den politischen Kern des Globalisierungsproblems aus, der die Ursache fundamentaler Konflikte ist: Auf Grund der engen Verflechtung kommunikativer Strukturen in regionalen Zentren, einer Grundvoraussetzung für die Diffusion von Information und die Entwicklung von Märkten, entstehen einerseits neue Wertkonsense für lokale Bevölkerungen, andererseits werden aber auch die zuvor gebildeten Wert- und Normensysteme in Frage gestellt. Der daraus folgende „Clash der Zivilisationen" (Huntington 1993) impliziert beides: Chance für individuelle Emanzipation und Bedrohung durch totalitäre Reaktion.1 Regionalismus als politische Ideologie versucht diesen Konflikt durch die Verknüpfung verschiedener Wertsysteme zu entschärfen. Insofern verdienen nicht nur die ideologischen Komponenten von Regionalismus, sondern auch die Erfahrungen spezifischer Regionen der Welt ein wissenschaftliches Interesse. Wir verstehen bisher nur sehr unzureichend warum manche Länder und Regionen den Übergang zu einer emanzipativen Modernität besser meistern als andere. Noch geringer sind unsere Kenntnisse, wann regionale Integration erfolgreich ist. Ich will in diesem Beitrag versuchen, Gedanken zu skizzieren, die we1
Hirschman (1982) hat diese beiden Tendenzen als die Doux-commerce Destruction Thesis bezeichnet.
Thesis und die Self-
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niger fertige Antworten liefern, als zu einem Forschungsprogramm einladen. Meine zentrale These ist, dass sich Regionen politisch durch die spezifischen Formen unterscheiden, in denen sie ihre gesellschaftlichen Ideologien artikulieren und dass diese politische Normativität zwar ökonomische Fundamente hat, ihre spezifische Artikulation jedoch einen gesellschaftlichen Konsens reflektiert, der sich aus den gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen ergibt. Manfred Nitsch hat mich mit seinen sokratischen Fragen und oftmals mit praktischer Hilfe seit einem Vierteljahrhundert ermutigt, über diese und andere Probleme wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung nachzudenken. Die moral economy der Moderne In den Wirtschaftswissenschaften dominiert seit bald einem Jahrhundert das positivistische Dogma, wonach wissenschaftliche Aussagen nur über die Welt wie sie ist, aber nicht wie sie sein soll, möglich sind (Robbins 1938). Damit haben Ökonomen jedoch die „linguistische Wende" verpasst, die sich in der Philosophie seit Wittgenstein vollzogen hat (Putnam 2002). Searle (1995) hat gezeigt, dass gesellschaftliche Phänomene {social facts) sogar nur möglich sind, weil sie normativ begründet sind. Denn Institutionen verkörpern die „kollektive Intentionalität" menschlichen Handels, sie geben individueller und kollektiver Aktion ihre Richtung, und verallgemeinern diese Orientierung durch gesellschaftlich verbindliche Normen. Werte sind also nicht nur exogene Beschränkungen des wirtschaftlichen Handelns von rationalen Individuen, sondern sie strukturieren die Rationalität selbst. Damit wird die Analyse gesellschaftlicher Normativität jedoch zu einem legitimen Objekt wissenschaftlicher Untersuchung. Ideensysteme, die beschreiben, wie politisches Verhalten sein soll, bezeichne ich als Ideologien. In der Entwicklungstheorie ist Normativität häufig ein Topos heterodoxer Ökonomen geblieben, insbesondere in den Analysen lateinamerikanischer Strukturalisten. Der Fokus lag dabei auf der strukturellen Heterogenität unterschiedlicher Wirtschaftslogiken, die die Dauerhaftigkeit von Marktunvollkommenheiten begründet. Doch diese Theorien konnten die Dominanz unterschiedlicher Normativitäten nicht erklären. Nitsch (1995) sah im monetär-keynesianischen Ansatz einer Hierarchie der Märkte ein Model, das zumindest formulieren konnte, warum die Geldwirtschaft sich als das weltweit dominierende Wirtschaftssystem durchsetzen konnte. Aber es bleibt im Dunkeln, warum manche Länder und Regionen den Durchbruch zu erfolgreichen „Hartwährungsländern" schaffen und andere nicht. Selbst wenn man die Weltwirtschaft als Währungspyramide interpretiert („wenige Hartwährungen an der Spitze, viele Weichwährungen an der Basis"), so ist doch unklar, welche Form die Pyramide nimmt oder nehmen kann. Es scheint mir, dass Antworten auf diese Fragen eine stärkere Integration von Ökonomie und Politik erfordern. Die Orientierung wirtschaftlichen und politischen Handelns ist fundiert in Normen, aber die Effizienz gesellschaftlicher 28
Praktiken erfordert die Kohärenz ihrer Normativität. Thompson (1971) und Scott (1976) haben den Begriff der moral economy geprägt, welcher Konzepte von sozialer Gerechtigkeit, von Rechten und Pflichten und Reziprozität beschreibt, die in den ökonomischen Praktiken und sozialen Austauschbeziehungen von Gesellschaften ihre Wurzeln haben. Es zeigt sich, dass sich in traditionellen Subsistenzwirtschaften Recht und Unrecht, politisch Akzeptables von Revoltierendem an anderen moralischen Maßstäben misst als in modernen Gesellschaften. Das Aufeinanderprallen verschiedener normativer Gesellschaftssysteme war eines der Grundprobleme des Kolonialismus, und es erfahrt heute im Zeichen der Globalisierung eine Auferstehung. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass Europas blutige Geschichte der letzten 400 Jahre ebenfalls vom Konflikt traditioneller und moderner Ideologien geprägt war. Scott analysierte die moral economy in bäuerlichen Gesellschaften, aber der Begriff ist universalisierbar. Insbesondere aus dem von Riese (1995) entwickelten und von Nitsch mitgeprägten Ansatz eines monetär-Keynianismus lässt sich die normative Fundierung einer moral economy der Moderne entwickeln. Geld und die Normativität der Moderne Im Zentrum einer keynesianischen Interpretation der Wirtschaft steht die Überlegung, dass Geld in erster Linie nicht Tauschmittel, sondern Zahlungsmittel ist. Die Übertragung von Geld bringt einen Schuldvertrag zum Erlöschen (Keynes 1930), und wichtiger noch, Geld entsteht nur dadurch, dass die Zentralbank privaten Kreditverträgen ihr Qualitätssiegel verleiht, wenn sie Schuldverpflichtungen diskontiert. Die moral economy des Geldes ist somit geprägt durch Vertragsbeziehungen zwischen Schuldnern und Gläubigern und durch deren gegenseitigen Vertrauensbeziehungen. Die Moral des Worthaltens („my word is my bond"; "I promise to pay the bearer...") wird transformiert zur Norm des Rechts, dessen Gegenstück die Verpflichtung ist. Vertrauen (trust) ist die zentrale, weil primäre Norm der Geldwirtschaft; formales, d.h. positives Recht ist seine abgeleitete Institution (Habermas 1992). Die neoklassische Ökonomie abstrahiert von Vertrauen, indem sie annimmt, dass die unsichtbare Hand des vollkommenen Wettbewerbs opportunistisches Verhalten der Marktteilnehmer verhindert. Alternativ muss sie hierarchische Organisationsformen einfuhren, wenn sie oligopolistischen Wettbewerb zulässt (Williamson 1975). Eine Weiterentwicklung davon ist Arrows (1974) Argument, dass Vertrauen im Sinne einer „generalisierten Moralität" für das Überleben und effiziente Funktionieren von Gesellschaften notwendig ist. Diese neueren Ansätze der New Institutional Economics modellieren allesamt Vertrauen als Instrumente zur Senkung von Transaktionskosten. Aus einer monetär-keynesianischen Perspektive dominiert dagegen Vertrauen (und Misstrauen) über das Nutzenkalkül der Konsumenten, denn ohne Vertrauen gibt es keinen Kredit, ohne Kreditverträge kein Geld, und ohne Geld keine Ware, wie schon Marx zeigte. Die neoklassische Ökonomie stellt individuelle 29
Tauschbeziehungen der Güterwirtschaft in den Mittelpunkt des Interesses und behandelt Geld eher wie Abfall: störend, aber unvermeidlich. Sie vergisst damit, dass Ressourcen erst durch Geld zu handelbaren Waren werden. Märkte entstehen nicht durch den Austausch von Nützlichkeiten, sondern durch die Akzeptanz und Übertragbarkeit von Versprechen und die Glaubwürdigkeit von Handelspartnern. Geld etabliert somit die Grundnormen der Moderne: die vertragliche Beziehung zwischen Individuen, die einerseits frei sind, in die Vertragsbeziehung einzutreten, andererseits gleich sind, da jeder Vertragsteilnehmer das Recht zum Rücktritt hat; und schließlich das positive Recht als formale, allgemeingültige Verbindlichkeit. Die Normativität der Geldwirtschaft entsteht folglich aus der Vertragswirtschaft. Sie drückt sich im Doppelpol von individueller Freiheit und Gleichheit aus und impliziert somit die Existenz von separaten Individuen als Akteuren. Die Gesellschaft als Ganzes dient den Individuen lediglich als Kontext und background ihrer privatwirtschaftlichen Aktivitäten. Die moral economy der Geldwirtschaft ist der Individualismus. Seit dem 18. Jahrhundert, also seit die Geldwirtschaft ihre hegemonische Rolle in Europa erobert hat, dominiert die von der schottischen Aufklärung entwickelte Theorie vom Eigeninteresse als moralischer Fundierung der Marktwirtschaft, welches der menschlichen Natur zugeschrieben wurde. Allerdings übersieht diese Theorie, dass das self-serving individual sich erst als Individuum aus seinen hierarchisch-holistischen Bezügen hat lösen müssen, bevor es ein natürliches Selbst hat erkennen können. Insofern ist die dominierende Stellung des Eigennutzes in der modernen Ideologie nichts anderes als Ausdruck der geldwirtschaftlichen moral economy. Diese Grundnormen des Individualismus, nämlich Freiheit und Gleichheit, sind modern, da sie ihre volle Kraft erst in der Renaissance entfalten. Sie stehen jedoch im fundamentalen Widerspruch zur Normativität traditioneller Gesellschaften, in denen Beziehungen zwischen Menschen hierarchisch strukturiert sind. In der Tat ist Hierarchie das einzige Alternativmodell zu marktwirtschaftlichen Vertragsbeziehungen das eine nicht-gewalttätige Zuordnung von Ressourcen an Individuen zulässt. Allerdings erfordert dieses Modell eine normative Akzeptanz, die auf einem anderem Fundament steht als der Vertrag und der Markt. Der Homo Hierarchicus ist Teil des Ganzen; er lebt nicht aus sich heraus, sondern aus seinem zugewiesenen Platz in der Hierarchie. In der traditionellen Gesellschaft dient der Einzelne der Gesellschaft, nicht umgekehrt. Popper (1945/95) hat diese normative Orientierung Holismus genannt;2 Dumont (1980) 2
Popper (1995: 100) definiert Holismus als die Norm "that the individual should subserve the interests of the whole, whether this be the universe, the city, the tribe, the race or any other collective body" und er zitiert Plato: "The part exists for the sake of the whole, but the whole does not exist for the sake of the part [...]. You are created for the sake of the whole and not the whole for the sake of you." Popper führt ebenfalls aus, dass dieser Holismus (fälschlicherweise) den Individualismus immer mit Egoismus gleichsetzt: "The appeal is to various feelings, e.g. the longing to belong to a group or a tribe; and one factor in
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zeigt, dass holistische Normen sich aus Status und Rang, nicht aus Freiheit und Gleichheit zwischen Individuen ableiten. Das ökonomische Prinzip der traditionellen Gesellschaft ist deshalb die Ressourcenzuteilung nach den Regeln der Hierarchie, nicht nach dem Vertragsprinzip, das die Beziehungen zwischen Individuen regelt. Nun ist allerdings zu beachten, wie Dumont (1980, 1985, 1991) immer wieder betont, dass in allen Gesellschaften stets beide Wertsysteme, Hierarchie und Individualismus, miteinander ko-existieren. Die Kohärenz der Normativität einer Gesellschaftsformation ist durch die Art und Weise geprägt, wie diese beiden Prinzipien artikuliert werden und insbesondere, welches Prinzip das andere dominiert. In modernen Gesellschaften dominieren die individualistischen Grundnormen von Freiheit und Gleichheit, aber der Holismus traditioneller Werte ist nicht notwendigerweise verschwunden; er wird lediglich anders artikuliert. Typische Beispiele sind Staat, Armee und Beamtentum, in denen sich Individuen den Befehlen und Weisungen ihrer Oberen unterordnen müssen. In einem modernen Staat sind diese hierarchischen Institutionen jedoch der demokratischen Kontrolle individueller Bürger von Außen unterworfen, was bedeutet, dass die individualistischen Normen von politischer Freiheit und Gleichheit dominieren. Das allgemeine Wahlrecht, beispielsweise, institutionalisiert die Dominanz von politischer Freiheit und Gleichheit der Bürger gegenüber dem Staat (der modernen Republik); der „Bürger in Uniform" ist die Manifestation einer demokratischen Armee. In traditionellen Gesellschaften ist dagegen der König (oder Principe bei Machiavelli) der Souverän, der allein gegenüber Gott oder dem himmlischen Mandat, mithin dem Ganzen, verantwortlich ist (siehe Bodin 1583/1993), während die Einzelnen sich der etablierten Ordnung unterwerfen und mit deren Normen konform gehen. Die hier beschriebene Dichotomie der Wertsysteme hat allerdings nur heuristischen Wert. Die konkreten Gesellschaftsformationen sind alle durch den spezifischen historischen Pfad ihres Übergangs von traditionellen Gesellschaften zur Moderne gezeichnet. Der Konflikt zwischen Tradition und Moderne Der Vektor, der die normativen Prinzipien der Moderne transportiert und für ihre Diffusion sorgt, ist die Geldwirtschaft. In dem Maße, in dem die Geldbeziehungen gesellschaftliche Transaktionen bestimmen, setzt sich die Normativität der Moderne als Grundnorm durch. Damit verlieren jedoch traditionelle Gesellschaftswerte systematisch ihre Verallgemeinbarkeit. Die alte Welt erscheint it is the moral appeal for altruism and against selfishness or egoism. Plato suggests that if you cannot sacrifice your interests for the sake of the whole, then you are selfish." Eine extrem brutale Manifestation holistischer Normativität ist der Roten Khmer Aphorismus: "Keeping you is no gain, losing you is no loss" (Chandler 1999). Aber die Logik einer Identifikation des Einzelnen mit dem Ganzen manifestiert sich auch in banalen Sätzen wie: „Als Deutsche sind wir für...", „Frankreich hat ein Interesse an...", etc.
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nicht länger als verlässlich; das Vertrauen in common knowledge, also die Tatsache, dass jeder weiß was der andere weiß, schwindet. In der Übergangsgesellschaft nimmt das Misstrauen zu, während die Unsicherheit wächst. Hinzu kommt, dass die moral economy der Moderne ökonomische Unsicherheit systematisch reproduziert: Einerseits erfordert die Kreditwirtschaft die Bedienung der Zinsen und somit einen Einkommensüberschuss, ohne den die Vertragsbeziehung verletzt würde. Unvorhergesehene Einkommenseinbußen, sei es aus klimatischen, materiellen oder konjunkturellen Gründen, schaffen deshalb Risken für die lange Kette der Zahlungsverpflichtung, die das Merkmal von Marktwirtschaften sind (Muldrew 1998). Dadurch wird die Sicherheit des Vermögensbestands der Individuen in Frage gestellt, weil im Zweifelsfall die Kredittilgung durch Vermögensliquidierung bedient werden muss. In Gesellschaften, deren Durchschnittseinkommen nahe am Subexistenzniveau liegt, oder in denen die Ungleichheit zwischen armen und reichen Bevölkerungsgruppen stark ausgeprägt ist, so dass die Masse der Individuen über kein existenzsicherndes Vermögen verfugt, kann die Normativität von modernen Geldwirtschaften deshalb als existenzbedrohend erscheinen, wenn die Norm von Recht und Verbindlichkeit höher bewertet wird als die Subsistenz des Einzelnen (Scott 1976). Das Wucherverbot im Mittelalter oder das Zinsverbot im islamischen Recht ist Zeuge des schwierigen Übergangs in die Moderne. Formale Menschenrechte sind in diesem Kontext nur legitimierbar, wenn sie substantiell durch geeignete Wohlfahrtssysteme bzw. den Sozialstaat ausgefüllt werden (Collignon 2000). Die kollektive Existenzabsicherung nimmt in der Moderne die Form der Solidarität, d.h. des individuellen Engagements für den Schutz der Integrität eines anderen an; sie ist nicht länger Brüderlichkeit, d.h. hierarchisch zugewiesene Hilfe für die, die so sind wie wir, also Mitglieder einer Gruppe mit der wir uns identifizieren (Collignon 2003, Kapitel 4). Wenn aber die Modernisierung einer Gesellschaft durch die Verbreitung der Geldwirtschaft vorangetrieben wird, so stellt sich früher oder später die Frage der sozialen Absicherung individueller Existenzen durch solidarische Instrumente. Ist diese nicht gewährleistet, tritt ein Spannungsverhältnis zwischen Individualismus und traditionellem Holismus auf, welches zu totalitären Reaktionen führen kann. Traditionelle Gesellschaftskräfte versuchen dann mit Gewalt das Rad der Geschichte zurückzudrehen und den Holismus durch Unterdrückung des Individualismus wieder zur dominanten Norm werden zu lassen. Historische Beispiele für solche Reaktion gegen Individualismus und Geldwirtschaft waren im letzten Jahrhundert Kommunismus und Faschismus, und gegenwärtig islamischer Fundamentalismus. Diese Bewegungen sind Ausdruck eines gesellschaftlichen Ungleichgewichts und somit instabil (Dumont 1991). Die Frage ob und wie ein normatives Gleichgewicht wiedergewonnen werden kann, hängt von der Rolle des Staates ab, also von der institutionellen Artikulation holistischer Werte.
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Die Rolle des Staates Der Staat ist die Institution, welche die Allgemeinverbindlichkeit der kollektiven Interessen herstellt. Seine wesentliche Rolle ist die Vermittlung von individualistischen und holistischen Gesellschaftsnormen. Auch wenn seine innere Organisation immer hierarchisch ist, wird diese Funktionsweise, wie bereits erwähnt, in Demokratien jedoch dem Individualismus der einzelnen Bürger untergeordnet. Deren Status wird durch die politischen Normen von Freiheit und Gleichheit geprägt, welche sich ökonomisch in Vertragsrecht und politisch im allgemeinen Wahlrecht manifestieren. In traditionellen Gesellschaften („L'Etat, c'est moi") oder totalitär-repressiven Staaten fehlt diese Rückkopplung des Gesamtinteresses an das einzelne Individuum (Collignon 2003). Dieses Staatsmodel erlaubt es, die normative Kohärenz von Staat und Wirtschaft in der Moderne zu definieren: Idealtypisch erfordert eine Geldwirtschaft einen modernen, d.h. demokratischen Staat in dem das individuelle Wahlrecht die Grundlage der Allgemeinverbindlichkeit staatlicher Gesetze ist, einschließlich der nicht-kontraktuellen Steuergesetzgebung. Traditionelle Gesellschaften dagegen operieren mit der Normativität von Hierarchien, die Dumont (1980) exemplarisch für das indische Kastensystem beschreibt. Realistischerweise müssen diese Idealtypen jedoch als focal point eines dynamischen Prozesses von Konsensbildung gesehen werden. Allerdings lassen sich heute unkorrumpierte traditionelle Gesellschaften kaum noch in der Realität beobachten.3 Häufiger sind repressive Staaten, die versuchen, politische Freiheit und Gleichheit durch hierarchische Strukturen zu ersetzen. Sie sind mit einer modernen Wirtschaft unvereinbar, da sie die Normativität der Geldwirtschaft unterhöhlen. Wenn holistische Werte den ökonomischen Individualismus unterdrücken, so tendiert die materielle und ideologische Reproduktion der Gesellschaft zu einem Gleichgewicht mit geringem Wachstum und geringen Menschenrechten, bzw. keiner Demokratie. Die normative Inkohärenz repressiver Gesellschaften manifestiert sich dann in Korruption und wirtschaftlicher Stagnation. Dominiert andererseits der ökonomische Individualismus der Geldwirtschaft über das traditionelle Wertsystem, so transformiert sich die Gesellschaft auf dem Weg zu einem Gleichgewicht mit wachsender Wirtschaft und politischer Demokratisierung. Der moderne demokratische Staat als Idealtyp repräsentiert somit keine universellen Werte, wie in westlichen Gesellschaften häufig behauptet, sondern lediglich Normen, die mit der modernen Geldwirtschaft kohärent sind. Gescheiterte Staaten (failed states) sind Staaten mit inkohärenter Normativität, die ihre internen Widersprüche nur durch Gewalt nach innen und häufig auch nach außen unterdrücken können. Dabei ist festzustellen, dass die holistische Besessenheit
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Selbst in den mir bekannten Gebieten im Nordosten Birmas, wo die „befreiten" ethnischen Minoritäten meist ohne Geld leben, ist Geld für die politische Führung wichtig, um Waffen für den „nationalen Widerstand" zu kaufen. Ähnliches galt für das sehr viel grausamere Regime Pol Pots in Kampuchea.
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mit „Reinheit" (ethnic cleansing, political purges) sich nur dann in Genozid ausdrücken kann, wenn einerseits effiziente hierarchische Strukturen existieren (politisch-totalitäre Parteien in Faschismus und Kommunismus, Armee und Militär in Lateinamerika und Afrika), dem Holismus jedoch praktisch keine individualistisch programmierten Institutionen gegenüberstehen. Auch wenn diese Institutionen häufig als Folge von Kriegen eliminiert werden (das hervorstechende Beispiel ist Kambodscha), so ist es doch die innere Struktur von wirtschaftlichen und politischen Institutionen, die nicht nur zur Verhinderung von Völkermord, sondern ganz allgemein als inner- und internationale Friedenspolitik von zentraler Bedeutung ist. Die Artikulation moderner Normativität Welche Folgen ergeben sich aus dieser Analyse für das Phänomen von Regionalität? Normen und Werte geben praktischem Handeln seine Orientierung und setzen den Rahmen für gesellschaftliche Präferenzen, aus denen sich politische Entscheidungen ableiten. Regionalismus in einer sich globalisierenden Weltwirtschaft resultiert daraus, dass politische Institutionen in verschiedenen Regionen gesellschaftliche Normen unterschiedlich artikulieren. Wir können die Artikulationsformen als eine Gewichtung der beschriebenen Grundnormen von Holismus und Individualismus modellieren, letzterer mit seinen zwei Polen von Freiheit und Gleichheit. Aus dieser Gewichtung leitet sich eine Werteordnung ab - im doppelten Sinn von ordering und von Organisationsstruktur - die einen normativen Konsens widerspiegelt. Die Gewichtung der Normen ist einerseits ein individueller Vorgang, in dem jeder Mensch sich zu bestimmten gesellschaftlichen Fragen eine Meinung bildet, die er dann jedoch an den Kompetenzen seiner Mitmenschen misst und korrigiert (Lehrer/Wagner 1981). Wir konzipieren hier also Individuen als kognitive Noden (Knotenpunkte) in einem Netzwerk, in dem Information zirkuliert. Primäre Information (neue Erkenntnisse, frische Nachrichten, etc.) wird von jedem Individuum auf seine „Annehmbarkeit" auf dem Hintergrund vorgegebener Wertvorstellungen überprüft („Das ist richtig, falsch, nützlich, einleuchtend..." etc.). Da die Kompetenz bei der Beurteilung primärer Information jedoch nicht gleich verteilt ist (bounded rationality), evaluieren Individuen immer zugleich, welchen Mitmenschen sie in einer spezifischen Frage wie viel vertrauen können. Es lässt sich zeigen, dass sich ein gesellschaftlicher Konsens dann ergibt, wenn jedes Individuum dem Urteil zumindest eines anderen mit anderen in Kontakt stehenden Menschen vertraut. Dieser Konsens, den ich „stochastisch" nenne, spiegelt dann gleichzeitig individuelle Präferenzen und die allgemeine Kompetenzbeurteilungen aller Gesellschaftsmitglieder wider. Insofern ist die ideologische Wertgewichtung eine Folge von gesellschaftlichen Kommunikationsprozessen, die zugleich zu einer Konvergenz individueller Werteinschätzungen fuhrt. Durch diese in einer Gesellschaft permanent stattfindenden Prozesse entsteht also eine volonté générale (Rousseau 1993), nicht nur darüber, was Men34
sehen tun sollten, sondern auch darüber, was sie tun. Stochastischer Konsens ist nicht mit Einstimmigkeit zu verwechseln, sondern er impliziert Dissens um ein allgemeinverbindliches, normatives Gleichgewicht herum (einen gewichteten Meinungsdurchschnitt) welches sich allerdings im Verlauf der kommunikativen und deliberativen Prozesse zwischen den Individuen permanent verändert.4 Die Akzeptanz gesellschaftlicher Normen findet, wie Habermas (1981) herausgearbeitet hat, auf der Ebene diskursiven Handelns statt. Individuelle und kollektive Identität drücken sich einerseits in der Bedürfinisstruktur von Individuen und andererseits in dem von allen Individuen geteilten normativen Konsens aus, oder um Searles (1995) Formulierung zu gebrauchen, in der kollektiven Intentionalität. Holistische Grundwerte lassen sich somit auf intentionale Sätze in der ersten Person Plural reduzieren: Wir wollen, werden, tun... Die Bedürfhisautonomie und damit die Freiheit von Individuen wird dagegen in der ersten Person Singular {Ich will, werde, tue...) ausgedrückt. Diese hat jedoch ihr Spiegelbild im alter ego, in der Gleichheit des anderen, die nur in der zweiten Person Singular darstellbar ist {Du willst, wirst, tust...). Die relative Gewichtung zwischen individueller Bedürfnisautonomie (Freiheit), Anerkennung des Anderen (Gleichheit) und Unterwerfung unter die volonté générale lässt sich dann darstellen als die Zuordnung von Wertgewichten auf die drei beschriebenen Grundnormen, die sich zu Eins addieren. Aus der Gewichtung ergibt sich zugleich eine normative Rangordnung und sechs Kombinationen strikter Präferenzzuordnungen, die wir als Artikulationen politischer Ideologien verstehen können, wie Tabelle 1 zeigt. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei es nochmals betont, dass hier die Werte auf einer eindimensionalen Präferenzaxis angeordnet werden und nicht, wie in neueren Modellen, in einem zweidimensionalen Politikraum {policy space) (Tsebelis and Garrett 2001; Hix/Noury/Roland 2003). Die Stärkung einer politischen Wertgewichtung impliziert deshalb die Schwächung (mindestens) einer anderen, so dass sich dieser Politikraum nicht orthogonal darstellen lässt. Moderne Ideologien präferieren grundsätzlich individualistische Wertorientierungen über holistische Werte, was nicht bedeutet, dass kollektive Bezüge keinen Platz im Wertesystem hätten. So reflektiert die Präferenzordnung Ich > Du >Wir die klassische (christdemokratische) Zentrumsideologie europäischer Demokratien, die Ordnung Du > Ich >Wir das sozialliberale Gegenstück. Nationalliberale bzw. neoliberale Ideologien gewichten den holistischen Nationalismus bzw. Kommunitarismus höher als die Anerkennung der Gleichheit des anderen Individuums. Umgekehrt geben linkssozialistische Ideen der individuellen Freiheit weniger Gewicht als der Gleichheit und dem Kollektiv.
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In Collignon 2003 findet sich das formelle Modell dieses stochastisehen Konsenses, das auf früheren Arbeiten von deGroot (1974) und Lehrer/Wagner (1981) basiert.
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Tabelle 1 : Ideologische Artikulationen Normative Rangordnung
Ideologie
Regulationsform
Wirtschaftsprinzip
1. Ich > Du > Wir
Liberale Christdemokratie
Markt und Moral
Geld
2. Du > Ich > Wir
Sozialdemokratie
Markt und Staat
Geld
3. Du > Wir > Ich
Linkssozialismus
Aktive Marktintervention
Geld
4. Ich > Wir > Du
Neoliberalismus
Nationalistischer
Geld
Wettbewerb
5. Wir > Ich > Du
Faschismus
Führerprinzip
Plan
6. Wir>Du> Ich
Kommunismus,
Parteihierarchie
Plan
Stalinismus Quelle:
Eigene Darstellung
In Gesellschaften, in denen individualistische Wirtschaftsbeziehungen bereits weit verbreitet sind, politischer und kultureller Holismus jedoch seine alte Dominanz verteidigt, werden Werte totalitär artikuliert. Wenn sich Holismus und individuelle Bedürfnisautonomie verbinden um den Respekt gegenüber anderen zu unterdrücken, ist die Wertorientierung faschistisch. Wird dagegen die individuelle Freiheit durch eine holistische Orientierung der Gleichheit unterdrückt, so reflektiert dies stalinistisch/kommunistische Regime. Diese normativen Präferenzzuordnungen sind nur ein grobes Raster zur Analyse gesellschaftlicher Ideologien. In der Realität bestimmt der relative Abstand in der Wertgewichtung den spezifischen Charakter eines politischen Regimes. Je geringer beispielsweise der Abstand zwischen Freiheit und Gleichheit ist, desto stärker ähneln sich christdemokratische und sozialliberale Ideologien. Je geringer der Abstand zwischen Holismus und Freiheit, desto ähnlicher werden sich Faschismus und Neoliberalismus, etc. Dabei ist von Bedeutung, dass diese Wertgewichtung das Resultat von kommunikativen Prozessen ist, die sowohl von offenen und verdeckten Debatten als auch durch die Struktur kommunikativer Medien geprägt sind. Regionalismus und die globale Artikulation politischer Ideologien Die Artikulation politischer Ideologien ist primär ein nationales Phänomen. Institutionen strukturieren die kommunikativen Prozesse und gesellschaftlichen Debatten aus denen ein (stochastischer) Konsens über Normen, Werte und Orientierungen entsteht. Historisch war der Nationalstaat der Rahmen, in dem die Geldwirtschaft sich entfalten konnte. Mit der Globalisierung der Geldwirtschaft ist der Nationalstaat jedoch vielfach zu einer holistischen Barriere geworden. 36
Dies ist besonders deutlich in gescheiterten Nationalstaaten, in denen holistische Nonnen mit Gewalt individualistische Werte und damit auch wirtschaftliche Strukturen unterdrücken. Hirschman (1982) hat dies die Feudal-shackles Thesis in der Entwicklungstheorie genannt. Danach hätte eine unvollendete bürgerliche Revolution in unterentwickelten Regionen der Welt die zivilisatorischen Aspekte der Modernität verhindert. Aus monetär-keynesianischer Perspektive hat die Schwäche lokaler Mittelklassen allerdings mehr mit Geldpolitik zu tun. Manfred Nitschs Arbeiten über die Geldwirtschaft in Entwicklungsländern und Lateinamerika haben die korrumpierenden Effekte holistischer Normen herausgearbeitet, die nicht notwendigerweise staatlich-gesellschaftliche, sondern oftmals lokal-gemeinschaftliche Ideologien reflektieren. Der Aufbau von Mikrofinanzsystemen kann dabei möglicherweise eine Brücke von lokalem Holismus zu emanzipativem Individualismus schlagen. Aber auch in modernen Industrieländern sind Nationalstaaten in Zeichen der Globalisierung zu Schranken der Geldwirtschaft geworden, beispielsweise wenn nationale Marktregulierung das Entstehen von Skaleneffekten in der Produktion verhindert. Regionale Integration ist dann der Versuch, die holistischen Schranken zu überwinden (Collignon 2004). Allerdings ist diese Öffnung und Liberalisierung nationaler Märkte nur mit einer normativen Fundierung möglich, die sich in den Funktionsweisen gesellschaftlicher und politischer Institutionen niederschlagen muss. Regionalismus ist eine politische Ideologie, die die wirtschaftliche Integration von Märkten über die Grenzen von Nationalstaaten hinaus ermöglicht. Selbst innerhalb moderner Industriestaaten nimmt die Unterordnung holistischer Normen unter den modernen Individualismus unterschiedliche Formen an, die die Funktionsweise der Geldwirtschaft strukturieren. So fuhrt beispielsweise die starke Rolle neoliberaler Ideologien in Großbritannien oder den USA zu einem größeren short-termism in der Finanz-, Unternehmens- und Arbeitsmarktstruktur, als in christdemokratisch oder sozialdemokratisch dominierten Ländern Westeuropas (Hall/Soskice 2001). Diese ideologischen Orientierungen sind auch für die Herausbildung, regionaler politischer Blöcke von Bedeutung. Neoliberal dominierte Gesellschaften tun sich mit Regionalismus schwer, da die hohe Werthaftigkeit nationalistischer oder kommunitaristischer Normen die offene Interaktion mit kulturell Andersgesinnten erschwert oder unmöglich macht. Der mangelnde gegenseitige Respekt verhindert die grenzüberschreitende Kommunikation zwischen Individuen, die in verschiedenen Staaten leben und wirken, und schafft deshalb ein hohes Maß an Dissens zwischen verschiedenen nationalen Kulturen. Eine Folge davon ist die Dauerhaftigkeit nationaler Eigenheiten im politisch-gesellschaftlichen Bereich und Autonomiebehauptung im wirtschaftlichen Wettbewerb. Auf der anderen Seite erlaubt der Respekt für andersartige Individualität, auf dem die zwei klassischen Artikulationen der Moderne aufbauen, eine größere Offenheit in internationalen Kommunikationsprozessen und damit auch eine raschere Heraus37
bildung von grenzüberschreitendem, stochastischem Konsens.5 Geldwirtschaft und politische Ideologie ergänzen sich somit zu einem virtuous circle regionaler Integration: die Geldwirtschaft treibt individualistische Normativität voran, die ihrerseits hierarchische Strukturen auflöst und Individuen aus ihren holistischnationalistischen Fesseln befreit. Insofern ist es logisch kohärent, wenn neoliberale Britten der europäischen Integration im Allgemeinen und dem Euro im Besonderen kritisch gegenüberstehen, Kohl und Mitterrand dagegen als ihre Architekten gelten. In Gesellschaften, die regionale Integration positiv bewerten, stellt sich jedoch ein neues Problem: da Individualismus zwangsläufig Externalitäten schafft, brauchen moderne Formen des Regionalismus eine Unterordnung und demokratische Einbettung von holistischen Strukturen für regionale Regulierung. Die politische Koordination zwischen Regierungen oder Staaten kann dies nur zum Preis normativer Inkohärenz leisten, da Intergovernementalismus die Interaktion holistischer Institutionen ohne Kontrolle durch "individuelle" Bürger impliziert. Mit anderen Worten, in dem Maß, in dem die Globalisierung Geldwirtschaft und Individualismus vorantreibt, stellt sich ein Problem der governartce, welche versucht, Externalitäten zu re-internalisieren. Aber nur eine demokratische Kontrolle dieser Regulierung ist normativ kohärent mit der Auflösung des demokratischen Nationalstaates. Intergovernementalismus, also die Zusammenarbeit von Staatsapparaten, unterhöhlt die Autonomie des individuellen Bürgers, der im demokratischen Staat seine Autorität durch das allgemeine Wahlrecht ausübt. Diese politische Inkohärenz ist die Achillesferse der regionalen Integration. Diese Integration kann nur dann dauerhaft sein, wenn sie das demokratische Defizit eliminiert. Dieses Phänomen hat in der Europäischen Union heute bereits krisenhafte Züge angenommen. Aber auch in anderen Regionen, wie z.B. Mercosur, ASEAN, wird sich dieses Problem früher oder später stellen, wenn die regionale Integration dort weiter fortschreiten sollte. Normativität ist der Anfang und das Ende von Regionalismus. Zusammenfassung Dieser Essay hat versucht zu zeigen, dass Regionen in einer globalisierten Wirtschaft nicht ein zu ignorierender Atavismus sind, sondern dass sie vielmehr den Rahmen abgeben, in dem politische Normativität artikuliert wird. Die spezifischen Ausdrucksformen politischer Ideologien sind Folge von kommunikativen Prozessen, die zu einem (stochastischen) Konsens fuhren, der die Grundlage normativer Allgemeinverbindlichkeit schafft aber zugleich in spezifischen Formen wirtschaftlicher Logik verankert ist. Geldwirtschaft hat eine zerstörerische 5
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In Collignon/Schwarzer (2003) arbeiten wir die Bedeutung von grenzüberschreitendem Vertrauen für das Entstehen von europäischem Politikkonsens heraus; Collignon (2003) analysiert die Rolle politischer Institutionen. Djelic (2004) zeigt, dass die Existenz grenzüberschreitender Netzwerke die Modernisierung der französischen Wirtschaft nach dem Krieg erklären kann, und ihr Fehlen in Italien eine ähnliche Entwicklung verhindert hat.
Kraft gegenüber hierarchisch-holistischen Normen traditioneller Gesellschaften, aber sie schafft zugleich ihre eigene Normativität, die sich in der moral economy des Individualismus ausdrückt. Individuelle Emanzipation impliziert, dass der Einzelne mehr ist als eine Ikone seiner Kultur. Sie erfordert aber auch die Einsicht, dass der Einzelne nur im kommunikativen Kontext mit Anderen seine Individualität entwickeln kann. Normative Inkohärenzen sind die Ursache von wirtschaftlicher und politischer Repression. Aufgabe der politischen Ökonomie sollte es sein, die Bedingungen zu studieren, unter denen individuelle Freiheit und Gleichheit mit kollektiven Wertorientierungen in Einklang gebracht werden können. Aber dies ist ein neues Forschungsfeld.
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Elmar Altvater
Verarmung in reicher Gesellschaft oder die Tragödie der privaten Aneignung öffentlicher Güter Es ist keineswegs naturgegeben, was öffentlich und was privat ist. Die Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit wird Faktum erst mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft. Die Zivilgesellschaft - im Unterschied zur politischen Gesellschaft und zur Ökonomie, um die Unterscheidung Antonio Gramscis zu verwenden - wäre ohne Öffentlichkeit gar nicht denkbar und erst recht nicht machbar. Der Verlust von Öffentlichkeit in modernen, durch und durch kapitalisierten Gesellschaften, der beispielsweise von Jürgen Habermas vor Jahrzehnten konstatiert worden ist, ist daher mehr als eine unter Zweckmäßigkeitskriterien zu bewertende gesellschaftliche Veränderung, mehr als eine „Reform". Öffentlichkeit versus Marktvergötzung Was für das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatsphäre generell zutrifft, ist im Verhältnis öffentlicher und privater Güter nicht anders. Zunächst stellt sich die einfache Frage, warum eigentlich die Banane ein privates Gut ist und der Zugang zu Wasser, zu Gesundheits- oder Bildungsdienstleistungen als öffentliche Güter gelten. Ist dies nur der Befolgung einer Norm, die sich aus der Kraft des Faktischen ergibt, geschuldet? Kommt darin die pragmatische Rationalität von Ökonomen, die in aller Regel mehr Effizienz (was immer das ist) versprechen, zum Ausdruck? Oder liegt es daran, dass Wasser zum Überleben notwendig ist, eine Banane aber leicht durch andere Nahrungsmittel substituiert werden kann? Doch die in den Fragen enthaltenen Argumente ziehen nicht. Es ist eher davon auszugehen, dass die Privatisierung öffentlicher Güter als Verlust von Öffentlichkeit, als Beschränkung öffentlicher Räume und als eine Minderung partizipativer (also nicht nur prozeduraler) Demokratie verstanden wird. Die Privatisierung öffentlicher Güter wird als Exklusion von den Gratifikationen der 41
Gesellschaft verstanden, weil sie in jedem Fall eine private Aneignung von Teilen der Öffentlichkeit bedeutet. Daher haben Inge Kaul und die Co-Autoren Recht, wenn sie bei der Definition der öffentlichen Güter das „Öffentliche" und dessen Herstellungsmodi durch gesellschaftliche und politische Diskurse betonen (Kaul et al. 2003). Die Privatisierung öffentlicher und Gemeinschaftsgüter ist die eine Tendenz, und die andere ist der Kampf um die Erhaltung der Allmende, der commons und um den öffentlichen Zugang zu Gütern und Diensten. In einer Marktwirtschaft (und Marktgesellschaft) jedoch ist das zentrale Faktum, das die gesellschaftlichen Normen bestimmt, eine historische Tendenz, alle Welt in den Geltungsbereich des Marktes einzubeziehen. Alle Welt muss daher im Prinzip in privateigentümliche Parzellen aufgeteilt werden, das Geld und mit ihm die Preisbildung regieren diese Welt. In der dieser Welt entsprechenden Vorstellungswelt sind durchaus religiöse Elemente (freilich nur von monotheistischen Religionen) enthalten. Der Markt duldet keine Götter neben sich. Genauer: Waren und Geld, die auf dem Markt getauscht werden, sind Machwerke der Menschen, Fetische, wie Marx analysiert. Sie üben Gewalt über die Menschen aus, werden als Sachzwänge der Marktkonkurrenz wahrgenommen, denen sich die Menschen fraglos unterwerfen müssen. Es gibt gegenüber dieser Herrschaft keine Alternative, wie nicht nur die Konservative Margret Thatcher, sondern ein Jahrzehnt später auch der Sozialdemokrat Schröder zur Begründung des in der Geschichte der BRD beispiellosen Abbaus sozialstaatlicher Rechtsansprüche verkündet. Dabei handelt es sich ohne Zweifel um öffentliche Güter, die aus dem sozial staatlichen „Angebot" genommen werden; die Klientel wird auf die marktvermittelte und profitorientierte privatwirtschaftliche Alternative verwiesen. Gewichtige Repräsentanten des Geldfetischs, z. B. der DeutschBanker Breuer, verkünden, dass die Finanzmärkte in der Demokratie die fünfte Gewalt seien und die Politik sich „ins Schlepptau der Finanzmärkte" nehmen lassen müsse. Der Markt ist also weniger Gott als Götze, ihm fehlt das Göttliche: Transzendenz und Heilsversprechen, Vergeben und Hoffnung. Der Markt ist die auf Erden platzierte Trostlosigkeit. Doch dessen sind sich weder die Theoretiker noch die Praktiker des Marktes bewusst. Im Hinblick auf die Prozeduren ist auch die „Dollarstimmzetteldemokratie" eine Demokratie, aber eine Demokratie ohne staatsbürgerschaftliche Rechtsansprüche und folglich keineswegs partizipativ. Es ist eine Demokratie ohne Substanz. Die partizipative Demokratie ermöglicht Ausgleich und ein Mindestmaß an Gleichheit der Lebenschancen; die Dollarstimmzetteldemokratie des Marktes erzeugt Ungleichheit gemäß der den Marktteilnehmern zur Verfügung stehenden monetären Kaufkraft. Basta! Der real existierende kapitalistische Markt und die Vergötzung des Marktes, für die in erster Linie der moderne Neoliberalismus steht, sind expansive Gestalten. Was öffentlich ist, muss im Prinzip privatisiert und in Wert gesetzt werden (können). Die enclosures sind nicht auf die Zeit der ursprünglichen kapitalisti42
sehen Akkumulation beschränkt. Die Kolonisierung der Lebenswelten durch das Kapital endet erst, wenn es kein Leben mehr gibt (De Angelis 2004). Dies ist ein Grund für die vom Kapital beanspruchte Alternativlosigkeit und für das hegelianische Selbstverständnis, die Geschichte sei am Ende. Die Warenwelt muss allerdings erschaffen werden, damit die kapitalistische Dynamik auf freien Märkten überhaupt loslegen kann. Dass Bildungsdienstleistungen oder Wasser als Ware verkauft werden, dass der Wechselkurs, wie Egon Matzner (2003) schrieb, nicht mehr durch hoheitlichen Akt einer demokratischen Gesellschaft, sondern auf dem Markt unter dem Einfluss der privaten Interessen gebildet wird, dass an indigenem Wissen Pharmakonzerne patentgeschütztes Eigentumsrecht erwerben, oder dass Bäume als Bauholz auf den Markt geworfen werden und exotische Fische Liebhaberpreise beim Verkauf erzielen, dass die öffentliche Sicherheit inzwischen im Angebot privater Sicherheitsfirmen steht und sogar Söldnerheere privat geheuert werden können, dass ein Kulturerbe der Menschheit, wie das Nationalmuseum in Bagdad oder die antiken Fundstellen Mesopotamiens zu Gunsten von privaten Antiquitätenhändlern mit Hilfestellung der Armee der „einzigen Weltmacht" ausgeraubt werden können das alles ist nicht naturgegeben, sondern die Folge einer umfassenden, politisch machtvoll gestützten Privatisierung von öffentlichen Gütern, einer „Inwertsetzung" von Dingen und Prozessen, die sich bislang außerhalb der Welt der Werte befunden haben. Die Inwertsetzung findet in der langen Geschichte des Kapitalismus kein Ende. Die Schöpfungsgeschichte der Warenwelt endet daher nicht nach dem sechsten Tag. Der Gott der kapitalistischen Inwertsetzung kennt weder Pause noch den siebenten Tag der Ruhe, und er wird niemals, mit seiner Arbeit zufrieden, sagen, das Werk sei gelungen. Nein, es muss rastlos auf immer höherem Niveau fortgesetzt werden. Dies predigen die Markttheoretiker und dieser Botschaft folgen die Marktpraktiker. Und so expandiert die private Wirtschaft und die öffentliche Sphäre schrumpft. Im Zuge des Bedeutungszuwachses privater Akteure und dem damit spiegelbildlich einhergehenden Verlust des Einflusses öffentlicher Akteure wird jedoch das staatliche Gewaltmonopol erodieren. Private Mächte sind dann imstande, sich Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft zu entziehen, öffentliche Räume zu besetzen, öffentliche Güter privat anzueignen, also die Politik der enclosures auch in der Spätphase des Kapitalismus fortzusetzen (De Angelis 2004; Harvey 2003; Altvater/Mahnkopf 2002). Freilich bilden sich gegen diese Tendenz auch Gegenbewegungen, z. B. gegen die Privatisierung von kommunalen Krankenhäusern oder gegen die Einführung von Studiengebühren oder zur kollektiven Wiederaneignung privatisierten Landes durch die Sem 7eira-Bewegung oder die copy /^-Bewegung gegen die Privatisierung intellektueller Eigentumsrechte etc. Privatisierung als Inwertsetzung Inwertsetzung - das ist die Durchdringung und Öffnung der letzten geschlossenen Ökonomien in der globalisierten Weltwirtschaft, das sind auch die Erobe43
rung des Weltalls für die satellitengestützte kommerzielle Telekommunikation oder der staatlich geförderte Vorstoß in die Nanowelt der Gene. Das ist auch die weitgehende Privatisierung öffentlicher Unternehmen, Einrichtungen und Güter, in die sich große Unternehmen einkaufen oder die sie sich für den berühmten „Appel und ein Ei" unter den Nagel reißen, wie bei den Privatisierungen in den ehemals real-sozialistischen Staaten oder jenen Ländern der Dritten Welt, die sich IWF-Strukturanpassungsprogrammen und dem Regelwerk des Consensus zu unterwerfen hatten. Eigentumsrechte der Privaten werden durch staatliche Gewalt zugeteilt und gesichert: durch Patentrechte, Grundbucheintragungen und das Strafrecht zur Abwehr von Eigentumsdelikten. Der Markt kann gar nicht existieren ohne die politische Macht, die Eigentumsrechte zuteilt und Nicht-Eigentümer wirksam vom Eigentum anderer fernhält. Kein Wunder also, wenn gerade im Hinblick auf Eigentumsrechte innerhalb des globalen Dienstleistungsabkommens GATS oder im Zusammenhang mit „intellektuellen Eigentumsrechten" an Computer-Software, Musik oder genetischen Codes heftig gestritten wird und als Ergebnis des Streits internationale Regime gebildet werden. Darüber hinaus sind die größeren privaten Freiräume eine Einladung für Praktiken der Aneignung, die mindestens illegitim, häufig aber illegal und kriminell sind. Die Kehrseite der Erosion des staatlichen Gewaltmonopols ist die Zunahme der privaten Kriminalität. Die reicht von Steuerhinterziehung und Steuerflucht, Korruption und illegalen Kapitalbewegungen zur Privatisierung des Gewaltmonopols durch Selbstjustiz und Privatjustiz, die gerade in Brasilien weit verbreitet sind, bis zur Geldwäsche von Einnahmen aus Drogengeschäften, Menschenhandel, Anlagebetrug und ähnlichen Delikten. Dies ist ein bestürzender Aspekt der modernen Tendenzen der Inwertsetzung, der enclosures von öffentlichen und gemeinschaftlichen Gütern, die die lokale Entsprechung der Globalisierung sind. Sie sind eine Folge der Erosion von Staatlichkeit und Öffentlichkeit und der neuen Macht von Privaten und haben die Zerstörung der moralischen Grundlagen und sozialen Sicherheiten des Gemeinwesens, das dann keines mehr ist, zum tragischen Ergebnis. Alles wird auf den Markt geworfen. Der von Karl Polanyi (1978) beschriebene Prozess des disembedding, der Herauslösung der Märkte aus gesellschaftlichen Beziehungen, ist nicht auf das 19. Jahrhundert beschränkt (ebenso wenig wie die auch von Polanyi beschriebenen gesellschaftlichen Gegenbewegungen zum sozialstaatlichen Schutz gegen die „Stansmühle" des Marktes). Er wird auch heute fortgesetzt, und zwar forciert. Denn Unternehmen müssen Felder für Kapitalanlagen ausfindig machen. So kommt es, dass die Welt in Wert gesetzt wird. In jüngster Zeit sind besonders öffentliche Dienstleistungen und Güter ins Visier von Anlegern und daher unter Privatisierungsdruck (Brunnengräber 2003) geraten. Denn hier hat sich mehr als ein paradigmatischer Wandel der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik vollzogen; tiefgreifende kulturelle Veränderungen haben in den westlichen Gesellschaften, aber auch in den Entwicklungsländern und in Mittel- und Osteuropa stattgefunden. Nach dem Zweiten Welt44
krieg war es aufgrund des Schocks der Weltwirtschaftskrise mit hoher Massenarbeitslosigkeit und auf dem Hintergrund der schrecklichen Erfahrungen mit Nationalsozialismus und Krieg selbstverständlich, große Industriekomplexe zu verstaatlichen oder doch öffentlicher Kontrolle zu unterstellen und die Wirtschaft zumindest indikativ zu planen, wie in Frankreich {planification) und in Italien (programmazione) bis in die 60er Jahre - von Planwirtschaften im „sozialistischen Lager" und den „Entwicklungsstaaten" in Lateinamerika, Afrika und Asien an dieser Stelle abgesehen. Von den Regierungen wurde eine aktive Interventionspolitik verlangt, um Vollbeschäftigung zu gewährleisten. Man wird in diesem Zusammenhang an den „Fordismus" erinnern müssen, an jene gesellschaftlichen Verhältnisse der Massenproduktion mit Hilfe des Fließbands, der Massennachfrage, des massenhaften Energieverbrauchs, der massenhaften Interventionen des Staates in die Wirtschaft, an die Rationalisierung und Systematisierung, die Standardisierung in der Produktion aber auch im Alltag und im Denken. Der „Fordismus" war mehr als eine sozioökonomische Formation. Das Bauhaus wäre gar nicht denkbar ohne die zugehörige „Rationalisierungskultur". Die „Frankfurter Küche" als Vorform der modernen Einbauküche wurde zum Symbol für die Ausdehnung der Produktionsweise auf die Lebensweise. Die Rationalisierungsmaßnahmen von Arbeitsbewegungen und deren Aufzeichnung in Bewegungsstudien von Ingenieuren, dies hat Siegfried Giedion (1982) gezeigt, finden ihre Entsprechung in der Malerei von Max Ernst, Paul Klee und anderen. Dies alles ist auch die Grundlage für den großartigen Entwurf von Elias Canetti in „Masse und Macht" (1980): Die Konzentration und Zentralisation von Eigentum und von Verfügung brachten einen neuen Typus Mensch hervor. „Moderne Zeiten" von Chaplin oder Fritz Längs „Metropolis" legen davon Zeugnis ab. Diese Zeiten sind aus vielen Gründen, spätestens seit Beginn der 70er Jahre vorbei. Anstelle der lokal konzentrierten Macht werden Netzwerke im globalen Raum geflochten; das Staatseigentum hingegen wird entflochten und auf dem Markt versilbert. Das ist nur in seltenen Fällen für die öffentliche Hand ein gutes Geschäft, zumeist ist Korruption im Spiel und private Geschäftemacher gewinnen. Der physiokratische Ruf des enrichissez vous erschallt erneut, und er wird gehört und erhört. Von „Aktienkultur" oder von „Börsenkultur" wird gesprochen. Die Stelle von Masse und Macht hat im öffentlichen Diskurs die Individualisierung eingenommen, und Individuen sind als einzelne weniger resistent gegen die privaten Mächte, die sich ihrer Lebenswelten bemächtigen. Zu dieser neuen Situation, mit neoliberalen Theoriestücken fundamentiert, passt das große öffentliche Eigentum nicht mehr; die Privatisierungstendenzen stoßen daher auf breite Akzeptanz. Sie ist durch radikale kulturelle Veränderungen vorbereitet worden, deren Tiefe wir als Zeitgenossen noch gar nicht so recht zu begreifen vermögen. Der paradoxe Rückzug der Staatlichkeit Der politische Realismus eines Carl Schmitt (1963), der Politik als die Fähigkeit bezeichnet, den Feind definieren zu können, war schon zu seiner Zeit in den 45
1920er bis 1940er Jahren eine idealistische Übertreibung. Denn die politische Macht von Nationalstaaten kann zwar militärisch gesteigert werden; dafür gibt es bis in unsere Tage schreckliche Beispiele. Aber ob die Steigerung auf die Dauer ökonomisch und gesellschaftlich durchgehalten und der imperial overstress vermieden werden kann, ist fraglich. Staatliche Machtentfaltung, insbesondere mit militärischen Mitteln, ohne Konsens der betroffenen Menschen, ist nichts als nackter Terrorismus. Diese theoretische Einsicht kommt einem angesichts des Desasters in den Sinn, das die US-Truppen im Irak anrichten, für die betroffene Bevölkerung in erster Linie, aber auch für die USA als eine Weltmacht. Es kommt auch auf die Erzeugung von Konsens an, und der erfordert die Bereitschaft zu einem gewissen Interessenausgleich. Hegemonie im internationalen oder gar globalen System kommt nicht nur durch die Institutionen des Regierens in nationalen und internationalen sowie globalen Räumen zustande, sondern auch durch ökonomische und gesellschaftliche, also öffentliche und private Akteure, deren Handlungslogiken und -impulse und strukturelle Restriktionen immer schon bedeutsam waren und es heute erst recht sind - und die nicht über den Kamm der Regierungspolitik einer Supermacht geschert werden können. Zu den globalen öffentlichen Gütern, so Inge Kaul und Ko-Autoren, gehören neben anderen „basic human dignity for all people", „respect for national sovereignty", „global public health", „global peace", „availability of international arenas for multilateral negotiations between states as well as between State and nonstate actors" (Kaul et al. 1999) - und diese öffentlichen Güter werden durch eine politisch-militärische Übermacht ohne Konsens und daher ohne Hegemonie zerstört. Aber Staatlichkeit wird auch durch eine Tendenz unterminiert, die als „Privatisierung von Politik" (Brühl u.a. 2001) oder als Informalisierung von Politik und Staat (Altvater/Mahnkopf 2002) bezeichnet wird. Was ist die nationalstaatliche Fiskalpolitik gegenüber den Anpassungsprogrammen von IWF und Weltbank oder gegenüber den Risikoeinschätzungen von rating agencies? Was ist die nationalstaatliche Souveränität Brasiliens über Amazonien angesichts der NASA-Aufklärungssatelliten, die Informationen über die Bodenschätze der Region der US-amerikanischen und nicht in gleicher Weise der brasilianischen Regierung liefern? Welche Möglichkeiten hat die indonesische Regierung gegenüber den Ölmultis Caltex und Exxon, die eine private Quasi-Souveränität über große Territorien des Landes ausüben? Die Tragikomödie, die öffentliche und private Akteure im Zusammenhang mit der Einfuhrung eines elektronischen Mautsystems in Deutschland aufführen (Toll Collect), ist ein tolles Exempel für die Vorherrschaft des Privaten und dafür, wie einfach und erniedrigend sich öffentliche Akteure von privaten Konzernen vorführen lassen. Auch innerhalb des internationalen Systems wirken öffentliche und private Akteure. Sie folgen der politischen Logik von Machtentfaltung und ihrer Legitimation, der ökonomischen Nutzen- bzw. Profitoptimierung mittels des Äquivalenzprinzips auf Märkten, der Konsenserzeugung und -erhaltung in der Gesell46
schaft auf Basis von Solidarität und Reziprozität. Die unterschiedlichen Handlungslogiken schließen sich bei den (öffentlichen oder privaten) Akteuren nicht aus; sie können sich ergänzen. Häufig aber widersprechen sie sich. Wenn die US-Armee viele Aufträge, von der Treibstoffversorgung des Geräts bis zur Postbeförderung oder Sicherheitsdienstleistungen an private Unterauftragnehmer vergibt, ergänzen sich private und öffentliche Akteure. Doch ist es etwas anderes, ein öffentliches Schwimmbad zu fuhren oder einen privaten WellnessBetrieb profitabel zu leiten. Auch wenn politische Akteure dem Ziel der legitimierten Machtentfaltung nicht nur mit Hilfe von Zwang oder Gewalt, sondern auch mit den Methoden der durch Medien bewirkten Überredung und Überzeugung oder mit den ökonomischen Mitteln der Bestechung folgen, bedienen sie sich einer Hybridform von öffentlicher und privater Handlungslogik. Die Idee, dass Hegemonie der „mit Zwang gepanzerte Konsens" ist, und dass der Konsens auf sehr verschiedene, moralisch nicht immer akzeptierte Weise herbeigeführt werden kann, hat Gramsci von Machiavelli gelernt. Auch im Konzept der global governance ist diese Idee präsent, ausdifferenziert und vielfach gebrochen, z.B. als gouvernementalité, d.h. der Einbeziehung von Regierten in den Prozess des Regierens durch „Techniken des Selbst" (Foucault 1993). Man könnte das Konzept Foucaults auch als Fetischismus des Regierens und Regiertwerdens bezeichnen, als monströse Gestalt der Verdinglichung, die die Marktvergötzung zur Voraussetzung hat. Die Märkte haben das Sagen, und die Marktmenschen, und das sind im entwickelten Kapitalismus alle, haben den „Sachzwängen" zu folgen. Das ist tief in der Mentalität der Regierenden und der Regierten eingeschrieben. Dieses „Gehäuse der Hörigkeit" wird heute als „Neoliberalismus" bezeichnet. Die Selbstbeschränkung der öffentlichen Sphäre gegenüber den privaten Räumen scheint auf den ersten Blick der Entwicklung moderner Staaten zu widersprechen, die von dem von Adolph Wagner formulierten „Gesetz der wachsenden Staatsausgaben" geprägt schien. Galt dieses Gesetz nur für eine spezifische Epoche, und welche sind die Funktionsbedingungen, die nun eine relative Absenkung der Staatsausgaben ermöglichen und sogar erforderlich machen? Starke Argumente sprechen dafür, dass Wagners „Gesetz" so lange galt, wie der Nationalstaat die Souveränität nach innen und außen aufbauen und sichern musste durch den Ausbau eines Gewaltapparats nach innen und außen, durch die Errichtung der materiellen Infrastruktur für eine sich industrialisierende Gesellschaft, und auch in Folge der kompensierenden Leistungen eines Sozialstaats, der die Folgen der Verwandlung der Bevölkerung in Lohnabhängige lindern musste. Viele Güter konnten nur als öffentliche, als public works und „allgemeine Produktionsbedingungen" bereitgestellt werden, die heute aus technischen und rechtlichen Gründen auch privat angeboten werden können. Die Tendenzen der Globalisierung umfassen ja auch die der Deregulierung, der Liberalisierung und der Privatisierung. Daher muss die Globalisierung vor allem als Zurückdrängung öffentlicher Räume zu Gunsten der Ausdehnung privater Sphären in47
terpretiert werden, als eine - wie schon ausgeführt - globale Tendenz der privaten Inwertsetzung. Allerdings ist das Resultat dieser Tendenz paradox. Die privaten Räume werden zwar größer, aber die Zahl der Exkludierten auch. Um das von ihnen ausgehende Veränderungspotential (und manchmal auch die Gewalt) unter Kontrolle zu halten, wird das staatliche Gewaltpotential nach innen (polizeiliche Aufrüstung) und nach außen (militärische Aufrüstung) ganz im Sinn des Wagner'schen Gesetzes ausgedehnt. Die Privatisierung von öffentlichen Gütern bedeutet daher paradoxerweise einen Rückzug des Staates und gleichzeitig die gesteigerte Präsenz des staatlichen Gewaltpotentials. Diejenigen Staaten, die nicht in der Lage sind, die notwendigen finanziellen und materiellen Ressourcen aufzubringen und das Gewaltpotential zur Sicherung der Souveränität einzusetzen, scheitern, reihen sich in die Liste d e r f a i l e d states ein. Öffentliche Güter für kommerzielle oder menschliche Sicherheit Auch wenn die neoliberale Ideologie der Freiheit des Marktes und der Privatisierung öffentlicher Güter das Wort redet, unterstützt sie staatliche „Ordnungspolitik" und dabei alle Maßnahmen, die der „Sicherheit" dienen. Schon Adam Smith schrieb dem Souverän die Aufgabe zu, für commercial security zu sorgen. Öffentliche Güter und Dienste haben also eine Funktionsbestimmung, und über die wird ebenso heftig gestritten wie um Qualität und Quantität des öffentlichen Raums selbst. Der Begriff der public goods und der global public goods ist daher nicht so eindeutig wie die üblichen Kriterien (non rivalry, non exclusion, publicness of decisions) nahe zulegen scheinen. Es sollte bei der Debatte um public goods zwischen der Nachfrage und Nutzung (dem „System der Bedürfnisse") einerseits und ihrer Produktion, dem Angebot bzw. der Versorgung (dem „System der Arbeit") andererseits unterschieden werden. Auch sind der Zusammenhang öffentlicher Güter mit privaten Gütern sowie die Transformation von öffentlichen Gütern in positional goods oder „Clubgüter" zu klären. Notwendig ist auch ein Rekurs auf die in der ökonomischen Theorie debattierten external diseconomies, sprich social costs und public bads als Gegensätze zu external economies bzw. public goods. Diesen Fragen kann hier aber nicht nachgegangen werden (vgl. Altvater 2003). Auf der Ebene des „Systems der Bedürfnisse" lassen sich Unterscheidungen gemäß der Reichweite sinnvoll treffen. Eine lokale Straße befriedigt im wesentlichen lokale Bedürfnisse, während der Schutz der Erdatmosphäre, die Bekämpfung von globalen Krankheiten wie AIDS oder finanzielle Stabilität im Rahmen einer neuen internationalen Finanzarchitektur ohne jeden Zweifel globale öffentliche Güter sind. Bestimmte Regeln, die menschliche Sicherheit (auch sozioökonomische Sicherheit) gewährleisten, haben nationale Reichweite. Der traditionelle Wohlfahrtsstaat ist an die Form des Nationalstaats gebunden; ein globaler Wohlfahrtsstaat ist heute allenfalls als rudimentärer Ansatz zu entdecken, für dessen Entfaltung angesichts der Dominanz neoliberaler Marktideologie keine großen Chancen bestehen. Andere Regeln hingegen haben supranationalen, 48
makroregionalen Charakter, etwa im Rahmen der EU. Auch transeuropäische Verkehrs- und Energienetzwerke sind (makro)regionale öffentliche Güter. Im Hinblick auf das „System der Arbeit", d. h. in Bezug auf Angebot und Bereitstellung öffentlicher Güter jedoch ist die Unterscheidung zwischen globaler, nationaler oder lokaler Reichweite so tragend nicht. Denn erstens ist die Privatisierung von public goods eine starke Tendenz in aller Welt, gleichgültig ob es sich um globale oder lokale öffentliche Güter (von ihrer Nachfrageseite her betrachtet; zur Angebots- und Nachfrageseite von öffentlichen Gütern im Kontext von global governance vgl. Elliott 2002) handelt. Die Regeln des GATS, die broad policy guidelines der EU oder die conditionality der Bretton Woods Institutionen sorgen für die Durchsetzung von Privatisierungsmaßnahmen auf nationaler und lokaler Ebene. Die Bedeutung der globalen Ebene und der auf ihr operierenden Akteure selbst für lokale öffentliche Güter wird erst recht offenkundig, wenn die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen, Güter und Dienste durch Verkauf an Kapitalanleger erfolgt. Die privaten Investoren stammen aus allen Industrieländern, und sie vergleichen die erzielbaren Renditen auf globalen Finanzmärkten weltweit, so dass nun auch die lokalen öffentlichen Güter im Falle der Privatisierung in den globalen Renditevergleich einbezogen werden. Besonders ausgeprägt ist dies bei den skandalträchtigen Geschäften zwischen US-amerikanischen „Investoren" und europäischen Stadtkämmerern, die sich auf komplexe Cross-BorderLeasing-Verträge eingelassen haben, die den Investoren eine schöne Rendite auf Kosten des US-amerikanischen Fiskus einbringen, und an denen die Stadtkämmerer in geringem Maße partizipieren konnten. Die Privatisierung ist voraussetzungsvoll. Denn es müssen Eigentumsrechte etabliert werden, und dies ist durchaus keine Selbstverständlichkeit. Erstens scheinen technische Entwicklungen in der Elektronik und bei den Biotechnologien die Privatisierung zu erleichtern, weil die Exkludierbarkeit (z. B. Mautsysteme auf den Autobahnen, Codierungs- und Decodierungssysteme beim „Bezahlfernsehen", die gentechnologische Isolierung von Genen) hergestellt und daher Güter und Leistungen in Waren verwandelt werden können, für die dies bislang nahezu ausgeschlossen schien. Darüber hinaus dürfte die Privatisierung zweitens eine Folge von Marktstrategien privater Akteure sein, die im Falle der Privatisierung öffentlicher Güter ein hohes (monetäres) Marktpotential und ein rentierliches Anlagefeld von Kapital erblicken (zum Beispiel bei der Privatisierung der Wasserversorgung, bei der dreistellige Milliardenbeträge locken). Darüber hinaus aber ist drittens anzunehmen, dass die Privatisierung der öffentlichen Güter Teil eines politischen Projekts ist, das als „neoliberal" etikettiert werden kann. Also hat sich inzwischen das bewahrheitet, was Karl Marx in den „Grundrissen" andeutet: dass die staatliche Verantwortung für allgemeine Produktionsbedingungen noch Ausdruck einer nicht voll entwickelten kapitalistischen Produktionsweise ist. War Marx ein Neoliberaler? Er war es nicht, er hat lediglich eine 49
immanente Tendenz schon im 19. Jahrhundert klarsichtig benannt, die wir heute viel deutlicher wahrnehmen können. Es werden die technischen, rechtlichen, aber auch die ideologischen und mentalen Voraussetzungen geschaffen, um die öffentlichen Güter durch deren Privatisierung in Wert zu setzen, also profitabel zu verwerten. Der Tragödie letzter Akt Nun befinden wir uns in der Tragödie. Allerdings nicht in der „tragedy of the commons", die Garrett Hardin 1968 beschrieben hat: Ihrer individuellen Rationalität der Nutzenmaximierung folgend übernutzen die Akteure mit den besten Absichten die Gemeinschaftsgüter und zerstören dabei die gemeinsamen Grundlagen ihrer ökonomischen Existenz, ja ihres Lebens. Der Lauf der Tragödie, so Hardin, kann nur angehalten werden, wenn die Rationalität der Nutzung, die Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Gemeinschaftsgut prämiert, verändert wird: Durch Privatisierung, da nun an die Stelle der Hemmungslosigkeit die Verantwortung aus Eigeninteresse tritt und das öffentliche Interesse an der Erhaltung des Gemeinschaftsgutes und privates Interesse an dessen Nutzung kongruent werden. Die Tragödie hat sozusagen ein happy end, für das sich auch konservative Grüne wie Herbert Gruhl stark gemacht haben: die Natur muss einen Wirt haben, und das heißt nichts anderes, als dass Naturstücke so weitgehend wie irgend möglich privatisiert werden sollten. Doch der schicksalhaften Verwicklung in die Tragödie kann man so nicht entkommen. Denn mit der Privatisierung öffentlicher Güter entstehen neue tragische Konstellationen. Bei der Privatisierung öffentlicher Güter, Einrichtungen, Unternehmen sind, wie Skandalmeldungen aus vielen Ländern vermuten lassen, korruptive Praktiken nicht selten: Bestechung und Bestechlichkeit, Veruntreuung, Bilanzmanipulationen, Beiseite-Schaffen von Wertgegenständen, illegale Weitergabe von Insiderwissen. Der Umfang korruptiver Praktiken bei der Privatisierung in verschiedenen Ländern ist enorm. Die Weltgeschichte der Bereicherung auf Kosten der Allgemeinheit bei der Privatisierung öffentlicher oder Gemeinschaftsgüter muss noch geschrieben werden. Korruption findet erstens an der Schnittstelle zwischen öffentlichem und privatem Sektor statt, zweitens aber im Verlauf der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen. Wenn die Privatisierung geschehen ist, müsste Korruption, wenn sie auf die Schnittstelle zwischen öffentlichen und privaten Sektoren beschränkt ist, verschwinden. Doch gibt es drittens eine Vielzahl von Fällen der Korruption zwischen privaten Akteuren, insofern als deren korruptive Kollusion (wie an der Schnittstelle zwischen öffentlich und privat auch) auf Kosten Dritter oder der Gesellschaft insgesamt erfolgt. Es handelt sich um white collar crime oder crime in business. Dabei entstehen soziale und moralische Kosten, die dazu geeignet sind, das öffentliche Gut Vertrauen im Wirtschaftsleben zu zerstören. Die Ausmaße sind insbesondere unter dem Druck der shareholder value-Orientierung 50
enorm, wie einige ans Licht gekommene Skandale der jüngsten Vergangenheit zeigen („Enronomics", „Parmalactose"). Doch der Sinn von Privatisierungen muss sich auch an gängigen ökonomischen Kriterien bemessen lassen: an den Auswirkungen der Privatisierung auf Quantität und Qualität der Versorgung, auf Umfang und Qualität der Beschäftigung, an der Entlohnung der Beschäftigten, den Effekten auf einzel- und gesamtwirtschaftliche Produktivität und nicht zuletzt an den Preisen, die die Nutzer öffentlicher Güter und Dienstleistungen nach der Privatisierung zu bezahlen haben. Die Tragödie besteht darin, dass nach der Privatisierung an allen sinnvollen Kriterien gemessen die menschliche und soziökonomische Sicherheit, häufig noch nicht einmal die commercial security verbessert sind, obwohl alle dies versprochen haben. Dann wird kaum etwas anderes übrig bleiben, so manche Privatisierung wieder rückwärts abzuwickeln. Das ist zumeist teuer und zeitaufwändig. Also bleibt die Frage: Was passiert, wenn öffentliche Güter privatisiert werden? Was passiert mit voll privatisierten Kultureinrichtungen oder mit Opernhäusern und Universitäten, für die keine ausreichende öffentliche Finanzierung mehr zur Verfügung steht? Wie verändern sich die Lebensbedingungen und die Denk- und Wahrnehmungsmuster von Menschen, die keinen oder nur noch marktvermittelten und daher zumeist teuren Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen finden? Wird dies als eine Art Enteignung empfunden, und wer eignet sich eigentlich das Enteignete mit welcher Legitimation an? Wie kommen sinnstiftende Angebote zustande, wenn auf dem Markt nur jene zu haben sind, die auf jeden Fall monetäre Einnahmen bringen? In den Koordinaten der politischen Philosophie Carl Schmitts wären diese Fragen nicht zu beantworten, da sie gar nicht erst auftauchen. Doch da sie in modernen, kritischen Diskursen gestellt werden, muss auch eine Antwort gefunden werden. Die Privatisierung und Vermarktwirtschaftlichung von öffentlichen Gütern, auch von öffentlichen Kulturgütern, ist der Weg in die Paradoxie einer Verarmung in reicher Gesellschaft. Denn der bislang freie Zugang für alle Staatsbürger wird nun durch Eigentumsrechte, die immer und unabdingbar Ausschlussrechte sind, geregelt. Die einstigen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger erhalten Zugang nur in der neuen Larve als Konsumentinnen und Konsumenten, d. h. wenn sie über die geforderte monetäre Kaufkraft verfügen. Sie müssen also in dem Markttheater die Rolle wechseln, und dies kostet Geld, das viele nicht haben. Die Tragödie der Privatisierung öffentlicher Güter besteht also darin, dass das Fair Play in einer auf gewissen sozialen Ausgleich programmierten kapitalistischen Gesellschaft neue Regeln erhält, die nur um den Preis der Exklusion vieler Menschen, d. h. um den Preis einer Gesellschaftsspaltung eingehalten werden können.
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María Angela D'Incao
Rosa, genannt Rosa Preta, eine brasilianische Frau Meine Themenwahl wurde von Eile und Zeitdruck bestimmt, aber gleichzeitig von großem Interesse, an dieser Festschrift mitzuwirken. Ich hoffe, ein Thema gewählt zu haben, das Manfred Nitsch entgegenkommt, einem deutschen Wirtschaftswissenschaftler und Brasilienforscher, der interessiert ist an soziologischen Themen wie beispielsweise Mehrheiten, die als Minderheiten angesehen werden. Brasilien liefert dem Wirtschaftswissenschaftler wichtige Beispiele für die Forschung über Mikrokredite und familiäre Gruppen. Ich habe mich entschieden, eine Lebensgeschichte zu erzählen, die mir typisch für dieses Land erscheint, und die vielleicht jedem als eine Art Hintergrund dienen kann, der sich für Länder wie Brasilien interessiert. Im Allgemeinen stelle ich bei meinem Umgang mit Ausländern immer wieder fest, dass sie viele der Dilemmas und Probleme unserer brasilianischen Realität nicht verstehen können, die durch eine Vielzahl von Sozialgruppen auf der Suche nach Entwicklung, Gesundheit, Wohlstand und einem,.Platz in der Sonne" charakterisiert wird. Deshalb versuche ich mit der Darstellung dieses Einzelschicksals zur Erklärung von Aspekten unserer aktuellen Geschichte beizutragen, eng mit der Erkenntnis verknüpft, dass man nicht einfach zu Ergebnissen gelangen kann, wenn man nur sporadisch oder für kürzere Zeit in einem fremden Land forscht. Zwar können sehr wohl Lebensgeschichten von Leuten ausgewählt und dargestellt werden, aber die Strukturen und Werte ihrer Herkunft sowie ihre vordefinierten Ziele befinden sich jenseits der erforschten Realität. Die Anthropologen legen viel Wert auf weitreichende Kenntnis der Kultur, egal ob es sich um die eigene Kultur oder eine dem so genannten westlichen Kulturkreis einigermaßen ähnliche Kultur handelt. Diese Tatsache lässt sich unter anderem durch die symbolische Bedeutungsvielfalt erklären, die nur bei einer ganzheitlichen Betrachtung der Gesellschaftsdynamik ersichtlich wird. Außerdem existieren meiner Meinung nach innerhalb der Wirtschaftswissenschaften generell wenige Möglichkeiten, Forschungen anzustellen, in denen der persönliche Kampf eine ganze Gesellschaftsstruktur widerspiegeln könnte. Das vorliegende Einzelschicksal 55
lässt auf jeden Fall einige wirtschaftliche Rückschlüsse zu, die eine interessante Herausforderung für Wirtschaftswissenschaftler darstellen. Also, los geht's. Wer ist Rosa, die farbige Frau, die ich heute meinem Kollegen und Freund Manfred Nitsch vorstelle?1 In ihren Worten: Am 10. März 1956 wurde ich geboren, als das jüngste von 7 Kindern - Rosa, Ricardo, Rodolfo, Rivaldo, Reginaldo, Roseli und Reinaldo. Ich stamme aus einer bescheidenen aber tüchtigen Familie. Mein Vater war Tischler und meine Mutter Hausfrau. Es war also ein schwieriges Leben mit so vielen Kindern. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Er war auch farbig. Er soll als kleines Kind nach Italien gefahren und erst als Erwachsener zurückgekehrt sein (eine Familie seiner Stadt hatte ihn mitgenommen). Als er zurückkam, brachte er den Spitznamen „kleiner Italiener" mit, denn er soll die italienische Sprache sehr gut beherrscht haben. Über diese Familie lernte er Maria, meine Mutter, kennen, die er dann heiratete. Meine Mutter stammt aus einer Stadtfamilie, und mit so vielen Kindern begann sie im Haushalt zahlreicher Familien zu arbeiten. Aber bald starb mein Vater, und so hatte ich nicht einmal die Möglichkeit, ihn als Kleinkind kennen zu lernen. Heute kenne ich nur die von meinen älteren Geschwistern erzählten Geschichten von ihm. Die Zeit verging. Wir Kinder wuchsen sehr auf uns allein gestellt auf, da Mama den ganzen Tag außer Haus arbeitete. Irgendwann kam die Schulzeit, und ich wurde von denjenigen abhängig, die in einer stärkeren Position, in einer besseren finanziellen Lage waren, da sie uns im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützten. Dies war ein Programm, bei dem jeder eine gewisse Zeit von einer Familie in der Stadt aufgenommen wurde. Ich durfte, von ihnen finanziert, zur Schule gehen. Die Familie unterstützte mich und half mir wo es ging, um mich voranzubringen, obwohl ich keine Ahnung hatte wohin, denn der Bildungsstand in unserer Familie war sehr schwach: Nichts ist uns gegeben worden außer der familiären Liebe. Also, wuchs ich mit dieser Familie auf und wurde mit ihr vertrauter. Da ich keine großartigen Aussichten im Leben hatte, war die Grundschule auch nichts Besonderes. Nach der Grundschule hatte ich den nächsten Kampf vor mir: Die weiterführende Schule weckte schon größere Hoffnungen in mir, und ein anderes Leben begann für mich, weil ich plötzlich den Sport entdeckte: Ich war verrückt nach Basketball - ich kam morgens an, duschte in der Schule und verbrachte fast den ganzen Tag beim Training. Diese Zeit war sehr schön und voller Gefühle; auf diese Phase schaue ich mit Sehnsucht zurück. Aber sie verging sehr schnell [...]
Wichtig ist als generelles Phänomen: Rosa (so wie alle ihre Geschwister) brauchte jemanden in einer „stärkeren Position",2 um die Schule besuchen zu können. Es ging aber nicht nur darum, den Schulbesuch zu ermöglichen, son1
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Der Zugang zu Rosas Lebensgeschichte ergab sich durch das nahe Zusammenleben mit ihr. Ich fragte sie eines Tages, ob sie über ihre wirtschaftliche Entwicklung schreiben möchte. Sie fragte genauer nach, worum es denn gehe. Dann schrieb sie per Hand einen Text, der hier in Auszügen wiedergegeben wird. Darüber hinaus haben wir lange über ihren eigenen Text und ihr Leben gesprochen, was das Verständnis für ihren ökonomischen Überlebenskampf erleichterte. „Stärker" heißt in Rosas Sprache, dass eine Person mehr Kaufkraft hat.
d e m die Familien, die einen Jugendlichen aufnahmen, sollten diesen ernähren und einkleiden. A l s Gegenleistung musste er oder sie bei der Hausarbeit helfen. Die damals schon sehr häufige Praxis existiert auch heute noch, vor allem in Säo Paulo. D a s heutige Brasilien kämpft gegen solche Verhältnisse an, hat aber nichts an ihre Stelle gestellt, w a s sicherstellt, dass aus diesen Beziehungen auch ein garantierter Vorteil für die Besitzlosen des brasilianischen Wirtschaftssystems entspringen könnte. Zwar gibt es viele Vorschläge von N G O s , aber in der Realität werden die Jugendlichen nach wie vor von wohlhabenderen Familien aufgenommen. Es gibt außerdem weiterhin Arbeit, die nicht mit Geld bezahlt wird, sondern mit Gefälligkeiten (bei Wahlen, in der öffentlichen Verwaltung, in den N G O s , in den Parteien etc. 3 [...] und mit 17 Jahren kam das, womit ich nicht gerechnet hatte, denn ich wusste nicht einmal, was mit mir selbst geschah: Ich wurde schwanger. Mit der Hilfe der Familie, die mich aufgenommen hatte, verstand ich bald, dass die Dinge sich ändern würden, weil ich meine Jugend unterbrechen und heiraten müsste. In dieser Zeit sagten die Eltern, man kriege einen schlechten Ruf, wenn man nicht heiraten würde. Ich stimmte dem nicht zu, da für mich niemand jemanden anderen zu etwas zwingen konnte. Die Schwangerschaft war, was das Kind anging, sehr gut, weil sie meine Entwicklung för4 derte; was die Sportträume betraf, na ja, sie scheiterten. Hier zeigt sich ein weiterer wichtiger Aspekt, der universell ist: die frühe Schwangerschaft. Die starke Verstädterung und die sexuelle Emanzipierung der Frauen hatten auch eine Zunahme der frühen Schwangerschaften bei Jugendlichen zur Folge. Dann fing bei mir die harte Arbeit an, und ich lernte Verantwortung zu übernehmen. Von der Familie (bei der ich 20 Jahre lebte) unterstützt, habe ich die Schule zu Ende gemacht. Zu dieser Zeit war mein Sohn fünf Jahre alt. Dann schlug mir die Familie vor, ins Ausland zu gehen. Ich lehnte es aber ab, denn mein Sohn hätte in Brasilien bleiben müssen. Er ist das Wichtigste für mich, und ich dachte, ich würde es nicht aushalten, drei Jahre von ihm entfernt zu leben. Unsinn! Heute wäre ich in einer ganz anderen Situation. Die Familie ging weg, und ich ging nach Mato Grosso do Sul zu den Latifundien. Dort sah es nicht gut aus: geringe finanzielle Aussichten, dafür große Lebensgefahr. Ich arbeitete dort als Sekretärin bei einer Baufirma, bei der auch gesellschaftliche Außenseiter jobbten. Am Zahltag kam unser Geschäftsleiter mit dem Flugzeug und bewaffnet eingeflogen, um die wütenden Leute im Zaum zu halten.
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Die Schwierigkeit, die bürgerlichen Rechte (cidadania) in diesem Land zu gewährleisten, hängt damit zusammen, dass die öffentlichen Mittel und damit die Möglichkeiten der Politik in dieser Richtung immer begrenzt sind, d.h. diese damit auch nicht für alle gültig sind. Einige bleiben immer außen vor; sie entwickeln dann die Unterwürfigkeit und den Wunsch, sich auf irgendeine Art mit jemand „Stärkerem" zusammenzutun. Rosa heiratete einen jungen, weißen Mann mit größerem Vermögen als sie. Von Beginn an gestaltete sich das gemeinsame Leben schwierig: Trennungsszenen und Versöhnung, bis sie schließlich schwer misshandelt wurde. In diesem Moment erkannte sie die Unmöglichkeit der Beziehung. 57
In dieser Zeit ging meine Familie nach Sorocaba. U m in ihrer Nähe zu bleiben, zog ich nach Säo Paulo. Dort begann eine neue Lebensphase: Bei einer Buchhandlung5 hatte ich meinen ersten Job in der Großstadt, an den ich mich gleich gewöhnte, und wo ich sogar ordentlich arbeitete. Danach ging ich selber auch nach Sorocaba, w o man zu dieser Zeit leicht einen Job finden konnte. Ich bekam einen in einer Fabrik, w o ich mit allen Maschinen umzugehen lernte. Drei Jahre später zog die Firma in eine andere Stadt, und die Arbeiter konnten auch mitgehen. Ich wollte nicht mitgehen und musste mir daher etwas Anderes suchen. Ohne Arbeit verbrachte ich die Zeit auf der Straße vor meinem Haus und sah den Kindern beim Spielen zu... Ich beobachtete sie und dachte, wie kurz die Träume von vielen von ihnen sein werden, denn in der gewaltsamen, gefährlichen und grausamen Großstadt ist alles viel schlimmer für diejenigen, die keine Familie haben. Die Eltern sind oftmals Dealer, Alkoholiker, Penner, und haben nicht nur eines, sondern viele Kinder [ . . . ]
Die Straßenkinder und die Arbeitslosigkeit in einer Industriestadt der 1980er Jahre Bei der Betrachtung dieser Situation kam ich mit ihnen ins Gespräch, damit wir uns kennen lernen konnten, und was weiß ich, denn ich hatte keine Ahnung, was ich ihnen damals hätte anbieten können. Aber wir fingen an zu reden und verbrachten dann jeden Tag mit Spielen (z.B. Himmel und Hölle), Lesen und Gesprächen über Themen wie Hygiene, Nähen, Verhalten, sein eigenes Essen kochen, usw. Alles passierte auf der Straße, weil wir uns nirgendwo treffen konnten: Die Anzahl der Kinder in dem ärmlichen Viertel, in dem es an allem mangelte, nahm schließlich zu. Mit der Zeit wurde es unmöglich, die Dinge weiter zu entwickeln, denn es handelte sich um mehr als 30 Kinder, die mich aufsuchten, um über ihre Familien, Nachhilfe und Sport zu reden. Ich war die Einzige, die das so gemacht hat, dass es den Kindern gefiel. Einmal im M o nat gab es einen freien Raum für vom Rathaus geforderte Freizeitvor- und -nachmittage. Wenn es an den restlichen Tagen der Woche noch freie Stunden gab, nutzten wir den Gemeinderaum - eine Art Sportverein nur zum Spielen oder für irgendwelche Sportarten. Die Erwachsenen machten den Kindern nie Platz, aber ich bestand darauf und organisierte, dass sie sich abwechselten, und dass sie dabei halfen, die Kinder an ihrem Training zu beteiligen. Auch organisierte ich Spiele zwischen ihren Kindern und deren Freunden und den Kindern, mit denen ich bereits diese Vereinbarung hatte. Und die Sache lief so weiter, bis es die ersten Kurse zur Verwertung von Schrott gab, den ich den Kindern schenken wollte. Aber ich hatte da ein großes Problem: Was würde ich tun, um zu überleben? Zu dieser Zeit ist viel Handwerk durch solche Kurse (Tischlerei, Schrottverwertung) entstanden. Ich fing also an, mit den Kindern zusammen zu arbeiten, damit sie zusätzliches Geld für eine zukünftige berufliche Entwicklung verdienen könnten; ich konnte mich damit gleichzeitig auch weiterentwickeln und meine Sachen auf Handwerks- und Tauschmärkten verkaufen. Ich verbrachte fast ein Jahr in diesem Kampf ums Überleben. Es war Wahlkampfzeit, und mein Viertel entwickelte und verbesserte sich. In dieser Zeit kam ein Vorschlag der Benediktiner-Schwestern für einen sehr schlecht bezahlten
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Es handelte sich um eine Buchhandlung, deren Besitzer mit der Frau befreundet war, bei der Rosa wohnte. Die Freundschaftsbeziehungen eröffneten der jungen arbeitslosen Frau eine neue Chance.
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Job, aber ich hatte keine Alternative. Mit dem Verkauf meines Handwerkes und dem winzigen Lohn fing eine andere Phase meines Lebens an. In einer verlassenen Schule bot ich Kunst, Kunsthandwerk, Freizeitgestaltungen, Religions- und Nachhilfeunterricht und Sport an und musste noch das monatliche Protokoll über die Arbeit mit den Kindern schreiben. Ein weiteres Kampfjahr verging, bis das Rathaus von Sorocaba das Projekt der Nonnen übernahm, denn sie konnten die Kinder nicht mehr richtig ernähren. Es waren nämlich schon über 50 Eingeschriebene vormittags und nachmittags. So bekam ich einen Vertrag mit dem Rathaus. Nach einigen Sitzungen bauten wir das Projekt aus, wobei uns das Rathaus finanziell unterstützte. Das Projekt wuchs und die Anzahl der Kinderabteilungen nahm zu. Ich arbeitete in meiner Abteilung und ging durch die anderen, da die Kinder, die mich schon kannten, mindestens einmal in der Woche auf meinen Besuch zählten. Manchmal wurden die Kinder von den Sozialarbeiterinnen (so wurden wir im Vertrag genannt) nicht gut behandelt, und sie beschwerten sich bei mir: Es sollte so spannend sein, wie wenn wir zusammen waren. 6 In diesem Job war der Lohn sehr bescheiden. Ich hatte kein Eigentum, und mein Sohn wuchs heran, und ich musste viel für die Schule ausgeben. So begann ich, das Wochenende zu nutzen, denn irgendwas musste ich ja machen, damit wir überleben konnten, und der Lohn reichte nicht für die anfallenden Ausgaben. Es wurde schwierig, in der Großstadt zu überleben. Also fing ich an samstags Lose für die Sportlotterie und sonntags für gegrillte oder rohe Rindsrippen (je nach Wunsch) zu verkaufen. Manchmal konnte ich nicht alle Lose verkaufen und betete „Hoffentlich hat niemand den Hauptgewinn gezogen!". Das wäre dann die mistura1 der Woche gewesen. Manchmal klappte es auch: Es gab keine Gewinner, und wir aßen die Rippen. Im Laufe der Zeit kamen mehr Verkäufer, hauptsächlich Männer, und das Geschäft wurde weniger einträglich. Ich machte mein Handwerk weiter, das ja gut war, weil ich Schrott verarbeitete. Zwar hat es niemand außer den Kunsthandwerkern selbst so richtig gewürdigt, aber es half mir trotzdem beim Uberleben."
Frauen und zunehmend auch Männer drängen in den informellen Sektor und Kleinhandel Im Laufe der Jahre nahmen die Schwierigkeiten zu. In der Großstadt wurden die Chancen immer geringer. Mit meinem Verdienst konnte ich kaum die Miete zahlen, und es gab keine Aussicht auf Besserung. Aber ich kämpfte weiter. Mit der Zeit kamen immer mehr Kinder mit ihren Brüdern und Cousins, aber das Rathaus legte immer weniger Wert auf die Arbeit, und wir hatten schon so viele Schwierigkeiten zu meistern. Da beschloss ich zu kündigen und einen besser bezahlten Job zu suchen, was zwar sehr schwierig war, aber mir schließlich doch gelang. Ich konnte eine Kneipe kaufen, bei der 6
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Viel wird darüber geschrieben, wie Kinder erzogen werden sollen. Ich finde diese Passage wunderschön: Da gelingt es einer jungen arbeitslosen Frau, die keine besondere Ausbildung hat, Straßenkinder zu erziehen und mit großem Erfolg die Aufmerksamkeit der Benediktinerinnen auf dieses Projekt zu lenken. Mistura heißt Mischung und besteht beispielsweise aus Fleisch und Gemüse und wird mit Reis oder Bohnen gegessen. Im Allgemeinen ist das der teuerste Teil der brasilianischen Ernährung. Zu der Zeit, in der Rosa mit dieser Arbeit anfing, war der Verkauf schwierig, weil es noch wenige Leute gab, die Wert auf Schrotthandwerk legten.
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mir meine Erfahrung helfen würde: Es handelte sich um ein Lokal mit Plakaten und Informationen über Veranstaltungen, damit auch Erwachsene eine Freizeitbeschäftigung haben würden. Es war einerseits anstrengend aber andererseits auch sehr interessant. Denn nun organisierte ich Veranstaltungen zu jeder besonderen Angelegenheit: Weihnachten, Muttertag, Ostern, einen Tanzwettbewerb zu Karneval, Kartenspielturniere, Billard, außergewöhnliche Essen usw. Mit den Aktionen kamen mehr Leute, und das Geschäft lief von Mal zu Mal besser. Es war hart: Ich musste allein arbeiten, denn das Geld reichte nicht für einen Mitarbeiter. Vor allem am Wochenende schlief ich im Geschäft, damit ich länger arbeiten konnte. Zwei Jahre blieb ich in den gleichen Geschäftsräumen, bis der Besitzer das Gebäude zurück haben wollte. Ich musste noch mal das Geschäft wechseln. Im Neuen veranstaltete ich immer mehr Ereignisse, damit der Gewinn gut blieb. Mehrere Jahre vergingen, trotzdem verlor ich den Kontakt zu den Kindern nicht, denn sie kamen mit ihren Eltern zu meinen Veranstaltungen. Mit der Zeit wurde es aber in der Großstadt schwieriger: Obwohl mein Sohn nach der Schule zu arbeiten anfing und sich seine Lebensumstände verbesserten - und ich folglich weniger Verpflichtungen hatte - , blieb das Leben weiter hart für mich, und ich verkaufte schließlich das Lokal. Wegen der Widrigkeiten, der Erschöpfung und der großen Konkurrenz ähnlicher Lokale (auch andere Arbeitslosen eröffiieten Geschäfte, häufig sogar nebenan) begann ich, an eine andere Arbeit zu denken. Was könnte es zum Beispiel sein? Nach reiflicher Überlegung kaufte ich mir eine Nähmaschine. Ich konnte schon ein bisschen nähen, wollte mich aber weiterentwickeln, und so fing ich langsam an, Blusen oder Hosen selbst herzustellen. Diese Arbeit lief erfolgreich neben dem Schrotthandwerk. Ich verkaufte bei mir zu Hause oder in den Dörfern, oder ich tauschte meine Arbeit gegen etwas, was ich brauchte. Ich habe sogar Blusen für eine neue Nähmaschine getauscht, als die Qualität besser wurde. Ich schloss dann eine Partnerschaft mit einer Freundin, die in einer Kleidungsfabrik arbeitete, denn sie bekam den Stoff für einen niedrigeren Preis; so nähte ich die Blusen für ihre Produktion zusammen und bekam dafür Stoff für meine Produktion. Ich lernte auch andere Nähtechniken. So baute ich mit der Zeit eine kleine Fabrik bei mir im Hinterhof auf und verkaufte die Sachen, um meine Ausgaben decken zu können. Es war eine richtig interessante Erfahrung. Schade, dass es am Ende nicht geklappt hat, denn in Sorocaba gab es viele große Kleidungsfabriken. Und irgendwann gab es noch mal eine Welle von Arbeitslosen, die mit dem Schließen der Fabriken die alten Maschinen bekamen. Die Stadt wurde zur „SorocabaHinterhofproduktion" und da wurde die Arbeit knapp für meine wenigen Dienste.
Ihr Sohn - bereits zum zweiten Mal verheiratet - erwartete das erste Kind und arbeitete als Geschäftsführer bei Pizza Hut. Er brachte sie in seinem Hinterhof unter, wo sie lange Zeit wohnte. Aber ihr fehlte die Unabhängigkeit. Also ging sie aufs Land, wo sie Freunde hatte. Ich entschloss mich, dorthin zu reisen, wo ich geboren wurde und aufgewachsen bin, nach Santo Anastäcio, denn ich war schon seit vielen Jahren nicht mehr dort gewesen. Nachdem ich lange mit meinem Sohn geredet hatte, schlug er vor, ich sollte ein bisschen verreisen und danach entscheiden, was ich machen wolle. Es dauerte eine Weile bis der Groschen fiel, aber schließlich fuhr ich los. Ich hatte genug von der Großstadt und vom ewigen Kämpfen und war froh die Reise gemacht zu haben. Ich fand den Ort interessant, und vielleicht könnte ich, mit der ganzen Erfahrung, die ich gesammelt hatte, zur Ruhe kommen. Verhungern sollte ich dort nicht. Endlich verstand ich den Unter-
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schied zwischen der Großstadt und dem Land. Das Land war besser zum Leben, es gab zwar wenig Arbeit, aber vielleicht etwas Ruhe, die ich dringend brauchte. Also kehrte ich endgültig in mein Heimatdorf zurück. Ich musste zuerst mein Haus restaurieren, denn es standen fast nur noch Ruinen, aber so wurde die Miete nicht so hoch. Der Besitzer hatte meinen Bruder eingestellt, um es zu renovieren. Das Haus ist aus Holz, und da ich ein bisschen von Tischlerei verstehe, half ich meinem Bruder bei der Arbeit. Für die Renovierungsarbeit verdiente ich täglich R$ 20,00, die von der Miete abgezogen wurden. Bis auf die Malerarbeiten machte ich alles: Die kaputten Holzstücke zersägen, den Müll trennen und den Sperrmüll wegbringen. Schließlich war das Haus fertig, und ich zog ein. Die Einrichtung habe ich selber hergestellt - aus Schrott und Plastik, denn es war schwierig, alles von so weit weg herzubringen. Also baute ich mit etwas Kreati9 vität mein Zuhause auf. Was sollte ich nun machen, um Geld zu verdienen? In einigen Häusern konnte ich den Haushalt erledigen, ich erntete Melonen auf den Plantagen, verkaufte mein Handwerk und die selbstgenähten Blusen auf dem Markt; Änderungsarbeiten machte ich auch. Aber der Ort war zu klein und der Gewinn war armselig. Deshalb ging ich in die Geschäfte und bat um Hilfe: Aus Bierdosen könnte ich Gegenstände bauen und verkaufen. Ich verkaufte dann viele Sachen, die ich gesammelt hatte: Mit dem Verkauf eines Videos bekam ich z.B. einige Anleitungen für die Herstellung von Reinigungsmittel, wie Weichspüler, Seife, Desinfektionsmittel, flüssigen Wachs... und eine Menge anderer Produkte, die ich dann gegen Aluminium tauschte: Wenn eine Person kein Geld für die Reinigungsmittel hat, gibt sie mir dafür Aluminium, das ich dann für ein anderes Geschäft nutze: Gepresst kann ich es als Rohmaterial verkaufen - ein weiterer Weg, um Geld zu verdienen. Vor drei Jahren bin ich in meine Stadt zurückgekehrt. Seit einem Jahr und vier Monaten arbeite ich dreimal in der Woche und betreibe nebenbei mein Handwerk weiter, das mir sehr beim Überleben hilft und mir die Hoffnung gibt, dass die Sonne für alle scheint.
Das Einkommen von Rosa Maria Marques: Tageslöhne für die Arbeit als Hausangestellte: R$ 200,00 Verkauf von Reinigungsmitteln: R$ 200,00'° Verkauf von Handwerk: saisonal bestimmt Verkauf von Aluminium: zweiwöchentlich R$ 14,00 Verkauf von Blusen: verkaufen kann sie nur, wenn sie auch produziert Änderungsschneiderei: kein exakter Betrag
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Rosa wurde sowohl von Freunden als auch von der Frau aus der „stärkeren" Familie, die sie in ihrer Kindheit und Jugend aufgenommen hatte, unterstützt. Es war nicht das einzige Mal, dass sie von dieser Familie Hilfe empfing. Sie helfen ihr jetzt dabei ein Haus zu kaufen. Dann wird Rosa endlich ihr eigenes Haus haben und keine Miete mehr zahlen. Hier wird nicht nur der Wert für den Verkauf von Reinigungsmitteln wiedergegeben, sondern die allgemeine Summe von allen damit zusammenhängenden Aktivitäten - außer der Arbeit als Reinigungskraft. Dabei ist zu beachten, dass Rosa die grundlegenden Materialien selber kauft, wofür sie normalerweise R$ 140,00 ausgibt. Der wöchentliche Verkauf nach der Weiterverarbeitung ist abhängig von der Nachfrage.
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Gesamtes Einkommen: R$ 414,00 monatlich und eine Schenkung um die R$ 73,00. Sie besitzt außerdem zwei von Supermärkten geschenkte Kreditkarten: eine für R$ 120,00, die andere für R$ 100,00. Die Ausgaben von Rosa Maria Marques: Miete: R$ 100,00 Strom: R$ 31,00 Telefon: R$ 70,00 Hundefutter: R$ 28,00 Wasser: R$ 18,00 Grundnahrungsmittel vom Supermarkt: R$ 60,00 Freizeit und Zigaretten: R$ 30,00 Gemüse, zweiwöchentlich: R$ 28,00" Gas: R$ 30,0012 Gesamte Ausgaben: ca. R$ 451,00 Auch wenn die Berechnungen nur Schätzungen sind, spiegeln sie doch Rosas Realität wider. Am Ende des Monats fehlt ihr Geld, aber sie hat eine Lebensstrategie, die sie trotz ihres einfachen und anstrengenden Lebens unabhängig bleiben lässt.
Rosas ökonomische Strategie Es gibt viele und unterschiedliche Strategien im Leben einer Brasilianerin, die wie Rosa absolut kein Eigentum besitzt. Sie investiert das Geld so, dass sie ihre Ausgaben durch eine Vielfalt von Aktivitäten decken kann. Wenn sie zum Beispiel R$ 20,00 für die Telefonrechnung braucht, zögert sie nicht, auf Plantagen zu arbeiten - eine harte Arbeit, die normalerweise junge, starke Männer tun. Man kann dennoch sagen, dass sie einigermaßen „komfortabel" lebt. Wie schafft sie das? Es geht nur, wenn sie alle finanziellen Möglichkeiten, die auftauchen, nutzt. Neben dem Verdienst für die drei Tage Hausarbeit (wöchentlich) und die Hilfe beim Tragen von Waren, produziert diese Frau eine große Menge von Ge11
Von ihrer Arbeitgeberin bekommt Rosa Gemüse aus dem Garten, aber sie kauft zusätzlich welches für sich und ihre Hündinnen auf dem Markt. Außerdem bekommt sie wöchentlich vier Liter Milch geschenkt. Hätte Rosa diese Schenkungen nicht, müsste sie für 25 Liter (ä R$ 1,80) R$ 45,00 ausgeben. Rechnet man die Summe für das Gemüse dazu (R$ 30,00), würde Rosa ohne die Schenkungen weitere R$ 75,00 ausgeben. Die Arbeitgeberin hilft ihr auch noch, indem sie Rosa mit dem Auto fährt, wenn sie zuviel Gewicht tragen oder das Material für die Reinigungsmittel kaufen muss.
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Die Gasflasche sowie weitere Gebrauchsgüter kauft Rosa mit der Kreditkarte vom Supermarkt. Sie darf ein gewisses Limit der Kreditkarte allerdings nicht überschreiten, da sie sich sonst ruinieren würde.
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genständen aus Schrott, den sie geschenkt bekommt oder tauscht. Sie hat herausgefunden, wie man selber Reinigungsmittel herstellt und verkauft über 15 Arten mit unterschiedlichen Düften (je nach Wunsch des Kunden). Als sie mit dem Verkauf dieser Produkte anfing, bekam sie von ihrer Arbeitgeberin ein Handwägelchen, mit dem sie einmal pro Woche sowie am Wochenende ca. 50 kg Waschmittel und andere Produkte zu ihren Kunden durch die ziemlich hügelige Stadt transportiert. Sie gewährt kleine Kredite und nimmt statt Geld auch andere Waren im Tausch an - unter anderem Bierdosen und Colaflaschen um ihr kleines Geschäft am Laufen zu halten. Außerdem näht sie auch noch. Von einer Freundin bekam sie eine gebrauchte Profi- und eine normale Nähmaschine. Zum Ende des Jahres plant sie erneut, Reinigungsmittel zum Verkauf herzustellen, um einen Vorrat für die Zeit zu haben, in der sie nichts machen kann, weil sie plant, noch eine weitere Beschäftigung auszuüben. Werfen wir einen Blick auf die Art und Weise, wie sie ihre Hunde hält, und welche wirtschaftliche Belastung die Hundehaltung bedeutet. Rosa hat zwei Hunde, die ihr als Familienersatz dienen. Mit 48 Jahren, nach einer gescheiterten Ehe und einigen kraftraubenden Beziehungen, hat sie sich entschieden, allein zu leben. Die Hunde machen ihre dabei große Freude. Rosa arbeitet für ihr eigenes Überleben und das der beiden Hündinnen, die es sehr gut bei ihr haben. Beim Futter, das sie im Abstellraum hat, achtet sie immer auf beste Qualität. Da Rosa wenig Geld hat, geht sie jede Woche auf den Markt, um Gemüse zu sammeln, das nicht mehr zu verkaufen ist. Daraus macht sie zu Hause eine Suppe oder mischt das Futter mit Reis. Täte Rosa dies nicht, so müsste sie für Comprida, ihre große Hündin, täglich 200g zusätzliches Futter kaufen - was sie monatlich 6 kg mehr Futter kosten würde, also R$ 10,00. Wenn sie für eine Hündin, die 1 kg Futter braucht, nur 800g kaufen muss, gelingt es ihr, beide Hündinnen gesund und munter zu halten. Bei allem, was Rosa tut, handelt sie sehr sparsam und effizient. Als Reinigungskraft, Feldarbeiterin, Reinigungsmittelherstellerin und -Verkäuferin sowie als Schneiderin kommt Rosa am Ende ihres harten Arbeitstages nach Hause, wo sie sich über ihre Hunde freut und viel mit ihnen spielt. Für Rosa ist es wichtig, dass die Tiere sich bewegen, und dass man mit ihnen spricht.13 Letzte Anmerkungen: Rosa ist der Meinung, dass das Leben in Brasilien härter geworden ist. Sie meint, dass es heutzutage schwieriger sei, Geld zu verdienen, als es früher war. Von ihrem Sohn bekommt sie keine finanzielle Unterstützung, und obwohl es sie etwas verletzt, sieht sie es auch nicht als seine Pflicht an. 13
Eine der Hündinnen hat momentan eine rätselhafte Krankheit. Rosa ernährt sie mit einem Brei aus Milch und Brot und weiß nicht, ob sie die Hündin zum Tierarzt bringen sollte. Der Arztbesuch würde R$ 25,00 kosten, und diese Summe ist in ihren üblichen Ausgaben nicht eingeplant.
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Rosa hat viel Selbstvertrauen und Durchhaltevermögen. Sie ist ein echtes Vorbild. Ihr Charisma und Überlebenswille gehören ebenfalls zu ihrer Lebensstrategie.14 Die Fragen, die gestellt werden können, lauten: Wie kommt man aus diesem Armutskreis heraus, um ein angenehmeres und ruhigeres Leben zu führen? Wäre Rosas Leben ohne die Schenkungen und Zuwendungen anderer möglich gewesen? Übersetzung: Marta Barroso
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Ihr wird gerade empfohlen, einen Pädagogikkurs zu machen, um einen leichteren Job machen zu können.
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Silvio Andrae
Politikberatung und Beraterpolitik in Amazonien Vor 25 Jahren begann sich Manfred Nitsch intensiver mit Amazonien zu beschäftigen - einem zunächst sehr amorphen Untersuchungsfeld, das zu dieser Zeit in Deutschland allenfalls Interesse in den Naturwissenschaften, der Geographie und der Ethno- und Anthropologie weckte, ansonsten aber selbst in der sozioökonomischen Beschäftigung mit Brasilien selten mehr als eine Randbemerkung wert war. Durch die Vielzahl und das breite Spektrum der bis heute von Manfred Nitsch selbst durchgeführten oder aktiv betreuten Projekte in und zu Amazonien sowie die feste Verankerung dieser regionalen Beziehung in Forschung und Lehre des Lateinamerika-Instituts der Freien Universität Berlin mit dem Núcleo de Altos Estudos Amazónicos (NAEA) der Universidade Federal do Pará, aber auch weiteren international wirkenden Einrichtungen wie dem Museu Paraense Emilio Goeldi (Belém), ist Amazonien in wichtigen Teilbereichen für die Sozialwissenschaften, die nationale und internationale Politik, aber auch die deutsche Öffentlichkeit deutlich sichtbarer geworden. Eine neue Dynamik erhielt die Beschäftigung mit Amazonien seit Ende der 1980er Jahre institutionell mit einer immer stärker werdenden Kooperation zwischen dem Lateinamerika-Institut und dem NAEA und thematisch durch die Vorbereitung und die Ergebnisse des Rio-Gipfels im Jahre 1992. In der Folge wurde Amazonien nicht nur in der deutschen Öffentlichkeit deutlich präsenter,1 auch die Forschung erhielt neuen Schwung, nicht zuletzt durch die Bereitstellung von erheblich höheren finanziellen Ressourcen für eine intensivere internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen des Pilotprogramms zum Schutz der tropischen Regenwälder Brasiliens (PPG7), ausgedrückt z.B. im Forschungsgroßvorhaben Studies on Human Impact on Forests and Floodplains in the Tropics (SHIFT). Von 1995 bis 2000 leitete Manfred Nitsch das Projekt „Kleinbauern in Amazonien: Wechselbeziehungen zwischen Ökosystem und 1
So unter anderem durch die Ausstellung „Klima Global. Arte Amazonas" in der Staatlichen Kunsthalle Berlin 1993.
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Sozialsystem bei Nutzung und Schutz tropischer Regenwaldgebiete". Die Zielsetzung des Forschungsvorhabens beschreibt die gewählte Methode, die versucht, sich der komplexen Wirklichkeit Amazoniens angemessen zu nähern: Zielsetzung [...] ist also die Erarbeitung und Dokumentation der familienwirtschaftlichen Überlebensstrategien im brasilianischen Amazonien in Wechselwirkung mit dem Ökosystem auf der einen Seite und in Abhängigkeit von den staatlichen und sonstigen gesellschaftlichen Institutionen auf der anderen. Die Spannweite soll dabei von den (fast noch) unberührten und bereits unter Schutz gestellten Primärwäldern bis zu den bereits vor Jahrzehnten abgeholzten und seitdem landwirtschaftlich oder forstlich genutzten Flächen reichen. Und auf der gesellschaftlichen Seite ist daran gedacht [...] die sozioökonomischen, kulturellen und politischen Voraussetzungen und Strategien im Einzelnen zu erforschen, um auf diese Weise den Wechselbeziehungen zwischen Ökosystem und Sozialsystem in ihren konkreten Ausprägungen auf die Spur zu kommen. (SHIFTProjektantrag von Nitsch 1994 unveröffentlicht).
Zum unveränderlichen Charakter von Amazonien gehört es, sich dem Betrachter immer sehr komplex und somit nur schwer auf Einzelfragen reduziert zu offenbaren. Zudem sieht sich die Region seit Anbeginn der intensiveren Forschung einer großen internationalen Öffentlichkeit ausgesetzt, die es bis heute schwer macht, Amazonien in der brasilianischen Gesellschaft seiner Bedeutung nach angemessen zu verankern. In der aktuellen Geschichte Brasiliens erfahrt die regionale Aggregation laufende Veränderungen, die eine konsistente Verfolgung insbesondere quantitativer Größen erheblich erschwert. Für die Beschäftigung mit Amazonien fallen insbesondere die Statusveränderungen von Territorien, die Schaffung neuer Bundesstaaten und die Zusammenfassung dieser politisch definierten Territorien zu Regionen ins Gewicht. So gibt es für die Beschäftigung mit der Region zwei administrative Bezugspunkte: zum einen Amazönia Legal und zum anderen die Makroregion Norden. Der Norden ist politisch durch das Aggregat von sieben Bundesstaaten definiert. Amazönia Legal als Planungsregion hingegen wurde 1953 auch unter Berücksichtigung geographischer Gegebenheiten bestimmt. Seit 1970 wird der Norden durch folgende Bundesstaaten formiert: Acre, Amazonas, Parä, Rondönia (seit 1981 Bundesstaat), Roraima, Amapä und Tocantins, wobei die letzten drei erst mit der Verfassung von 1988 Bundesstaaten wurden. Im Jahre 2000 leben im Norden auf einer Fläche von fast 4 Millionen Quadratkilometern - etwa 45% des Staatsterritoriums Brasiliens - etwas mehr als 13 Millionen Menschen - das sind etwas mehr als 7% der brasilianischen Bevölkerung. Der Urbanisierungsgrad hat zu diesem Zeitpunkt bereits ein Niveau von 66 bis zu 89% erreicht. Die Planungsregion Amazönia Legal formiert sich aus dem Norden plus dem Bundesstaat Mato Grosso und dem Westen von Maranhäo. In Amazönia Legal leben auf einer Fläche von 59% des brasilianischen Territoriums im Jahre 2000 etwas über 12% der Bevölkerung Brasiliens, insgesamt 21 Millionen Menschen.
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Alle Regionalwissenschaftler, die in Amazonien arbeiten, stehen nicht zuletzt angesichts dieser Dimensionen vor der Herausforderung, stärker als bisher vertraute Theorien und Analyseinstrumentarien auf ihre Tauglichkeit für diese Region zu prüfen. Der für die Beschäftigung mit Amazonien von Nitsch favorisierte systemtheoretische Ansatz schlägt eine Brücke zwischen dem naturwissenschaftlichen Ansatz der Ökosystemforschung und den sozialwissenschaftlichen Systemtheorien, und zwar in einem doppelten Sinne: Innerhalb der vom Beobachter gesetzten räumlichen und zeitlichen Grenzen wird das Ganze als ein System von interdependenten und auf einander bezogenen Elementen und Beziehungen betrachtet, die es im Einzelnen zu analysieren gilt. Neben und quer zu diesem „holistischen" Systembegriff hat es sich als fruchtbar erwiesen, auch die Luhmannsche „Autopoiese" als konstituierend für sich selbst reproduzierende Systeme heranzuziehen. Der Forscher hat hier die Eigenlogik des Untersuchungsgegenstandes und seine Reproduktion zu entdecken und gerade nicht die Grenzen selbst abzustecken. Weiter, angereichert mit weiteren theoretischen Versatzstücken zu einem inter- und multidisziplinären Forschungsprogramm, bestimmt so das in einem doppelten Sinne „systemische" Denken maßgeblich das Engagement von Manfred Nitsch als internationalem Berater in Amazonien. Das hat die Diskussion und die Auseinandersetzung mit seinen Analysen und Lösungsvorschlägen nicht einfacher gemacht, denn auch die potentiellen Empfanger von Politikberatung müssen für diesen Zugang aufgeschlossen sein.
Beratung in Amazonien - schwerer als anderswo? Wissenschaftliche Politikberatung ist ein relativ altes „Geschäft", dessen Ursprünge sich im historischen Rückblick bis in die griechisch-römische Antike zurückverfolgen lassen. Internationale Politikberatung zu einer Vielzahl von Themen, ob durch Institutionen wie die Weltbank, den IMF oder gesellschaftspolitische Think Tanks, oder durch Einzelpersonen - Politiker, Wissenschaftler, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen - sieht sich seit jeher schnell dem Vorwurf der „betroffenen" Region oder national verfassten Institution ausgesetzt, ohne eine genaueste Kenntnis der Wirkungsmechanismen auf der untersten Ebene sei keine Analyse, mitnichten eine ziel- und entscheidungsorientierte Beratung oder gar Handlungsempfehlungen möglich. Und insbesondere in den Sozialwissenschaften mit ihrer immer stärker werdenden Orientierung auf (formalisierte) Mikrostudien verschwindet zunehmend der Bezug zum Systemischen, dem „Alles hängt mit Allem zusammen", das auch Amazonien charakterisiert.2 Und so entstehen die kritischen Situationen für einen Berater in Amazonien dort, wo mit dem Rückgriff auf „not one, but many Amazons" (IDB/ UNDP/ACT 1992) Abstraktionen auf einer höheren als der lokalen Ebene, Ver2
Zur unbefriedigenden Wirkung der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung vgl. u.a. Frey (2000a).
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allgemeinerungen, Bezüge zum Nationalstaat und Verweise auf globale Zusammenhänge von der lokalen und regionalen Politik, aber auch der scientific Community als nicht zulässig bewertet werden und somit schwer vermittelbar sind. Dieses Spannungsfeld macht die besondere Schwierigkeit einer an der Einheit der Sozialwissenschaften oder gesellschaftspolitisch orientierten Beratung im brasilianischen Amazonien aus. Denn es ist natürlich so, dass die scheinbare sozioökonomische und ökologische Einheit Amazonien eine große innere Diversität birgt, die sich durch die verschiedenen natürlichen Ökosysteme mit ihren spezifischen Bedingungen für anthropogene Aktivitäten ausdrückt. Diese Diversität ist wiederum eingebettet in eine heterogene brasilianische Wirtschaft und Gesellschaft. Deren innerer Zusammenhalt, Konflikte und Lösungen sind zumindest in den grundlegenden Strukturen zu berücksichtigen. Tut der Wissenschaftler und Berater dies nicht, verzweifelt er schnell an den sich ihm präsentierenden Widersprüchen zwischen Sein und Sollen, zwischen Formalität und Faktizität, und das oftmals in einer Institution, in einer Person vereint. Was entscheidungsrelevante, umsetzungsorientierte Politikberatung in Amazonien ungleich schwieriger als anderswo macht ist die Verfassung des politischen Systems in Brasilien und seine speziellen Ausformungen in der Region. Im Allgemeinen und insbesondere außerhalb der Hauptstädte der Bundesstaaten Amazoniens ist durch die historische Anhäufung verschiedenster institutioneller Gefüge ein System entstanden, das (neo-)korporativistische, klientelistische, pluralistische und plebiszitäre Elemente enthält, ohne dass jedoch eines von ihnen die Funktionslogik des Systems dominieren würde. In der Konsequenz ist es zumindest auf lokaler und regionaler Ebene ein System, das durch eine geringe Fähigkeit zu Entscheidungen gekennzeichnet ist, die mehr als nur partikulare Interessen widerspiegeln. Seit einigen Jahren werden die politischen Strukturen durch die stärkere Integration der Region in die brasilianische Politik und Gesellschaft klarer und somit leichter adressierbar. Die Betonung des Lokalen (s.o.) zusammen mit der politischen Verfasstheit des Raumes Amazonien lässt es umso mutiger erscheinen, als internationaler Berater in Amazonien auftreten zu wollen. Zumal Politikberatung in Amazonien das doppelt fremde Aufeinandertreffen zweier Kulturen bedeutet - Wissenschaftler kommen ins Gespräch mit Politikern, wobei die einen sich nicht verstanden fühlen, die anderen nichts verstehen wollen, der Grundkonflikt von Politikberatung - , und Vertreter von Industrieländern versuchen sich an der Beratung von politisch Handelnden in einer peripheren Region eines Schwellenlandes. 3
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In der Zusammenarbeit z. B. im Rahmen des PPG7 sind die Diskussionen über die Entwicklungschancen der Region bis heute sehr stark von Sentiments und Ressentiments getrieben: globale ökologische Bedeutung und weitgehender Schutz auf der einen Seite gerne der „Geberseite" im PPG7 zugeordnet; und Wahrnehmung von Entwicklungschancen unter Umständen auch zu Lasten des Ökosystems Tropischer Primärwald auf der anderen Seite - schnell der „Nehmerseite" unterstellt.
Dass Nitsch sich vor diesem Hintergrund solcher Aufgaben angenommen hat und weiter annimmt, ist sicherlich zu einem wesentlichen Teil auf seine Berufung als Politischer Ökonom zurückzuführen, die er gegen abrupte Theorie- und Methodenwechsel verteidigt hat, aber doch ständig offen war für Weiterentwicklungen. Seine Stärken als Regionalwissenschaftler - die breite Anwendung seines theoretischen und methodischen Instrumentenkastens - geraten jedoch zuweilen mit der Wahrnehmung als „nur" Ökonom unter Druck. Damit steigt die Gefahr erheblicher Vermittlungsschwierigkeiten bei dem breiten Spektrum von Adressaten - die Politik, die interessierte Öffentlichkeit, die Vertreter einzelner Interessengruppen der amazonischen Gesellschaft, und auch zuweilen bei den akademischen Kollegen in der Region. Dabei erfüllt die Politikberatung von Nitsch, entwickelt aus den besonderen Fachanforderungen eines Volkswirtschaftslehrstuhls mehr am LateinamerikaInstitut denn am wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereich und damit an der sich befruchtenden Schnittstelle verschiedener sozialwissenschaftlicher Disziplinen, fokussiert auf eine Region, den Anspruch, der zunehmend für die wirtschaftswissenschaftliche Politikberatung allgemein lauter und deutlicher formuliert wird: dass die Volkswirtschaftslehre weg muss von der „zunehmenden Formalisierung und Behandlung selbstdefinierter Probleme" hin zu einer Verortung der „Volkswirtschaftslehre als Teil der Sozialwissenschaften", die „sich mit drängenden Problemen der Gegenwart" auseinandersetzt (Frey 2000b: 25). Denn es gibt auch für die Politik in Amazonien genügend gute Gründe, die Bearbeitung mancher Fragen nicht den eigenen Fachleuten anzuvertrauen, sondern aus der weisungsabhängigen Verwaltung auszulagern. Externe haben oftmals mehr Distanz, sind unabhängiger und zumeist nicht selbst betroffen. Umgekehrt ist auch der Vorwurf nicht von der Hand zu weisen, dass es den Beratern gerade wegen der mangelnden Binnensicht oft an Detailkenntnis fehlt. Der Königsweg lässt sich nur im Wettbewerb finden: Indem man beides ausprobiert, den Rat von draußen anhört, und indem man verantwortungsvoll die Erfahrung mit der Phantasie abgleicht. Professionelle Berater verringern die Komplexität, sie machen Schwierigkeiten fassbar. Sie leisten damit einen nicht zu unterschätzenden Dienst an ihrem Kunden. Demgegenüber neigen Wissenschaftler als Berater nicht selten dazu, die Vielfältigkeit eines Problems in ihrer ganzen schönen Deprimiertheit aufzufächern. Sie stellen damit häufig zu hohe Ansprüche an die Urteilskraft einer Politik, die den rasch fassbaren, alltagstauglichen Rat sucht. Das ist in Amazonien nicht anders.
Politikberatung in der Neuen Politischen Ökonomie Bei der Bewertung von politischem Handeln begibt man sich zwangsläufig auf unsicheres Terrain. Damit hört allerdings die Möglichkeit, wissenschaftlich exakt zu beschreiben, zu erklären und zu prüfen keineswegs auf. Es stellt sich aber die Frage nach klar definierten Maßstäben und Kriterien, die als Messlatte bei 69
der Beurteilung dienen können. Im Blickfeld der Analyse stehen die Ziele, Akteure und der Grad der Zielerreichung durch geplante oder bereits getroffene Maßnahmen. Es gilt bei den Vertretern der Neuen Politischen Ökonomie (NPÖ) als herrschende Meinung, dass die wenigsten theoretisch abgeleiteten Aussagen und Prognosen hinsichtlich des Handelns eigennutzorientierter Individuen in Entscheidungssituationen auch empirisch überprüfbar sind. Untersuchungen, die das Eigenverhalten von Bürokratien analysieren oder in die Analyse miteinbeziehen, stehen, weil sie oft auf eigenen Beobachtungen und informellen Gesprächen beruhen, auf dünnem Grund. Es kommt hinzu, dass es recht schwierig ist, wenn auch nicht unmöglich, mit den Methoden der empirischen Sozialforschung Vorgänge nachzuweisen, die sich in Räumen abspielen, die noch am ehesten mit den klinischen Methoden der Individualanalyse ausgeleuchtet werden können. Dies gilt um so mehr als die Akteure in der politischen Auseinandersetzung sich und anderen für ihr Verhalten harmlose und plausible Gründe angeben, die tatsächlichen Gründe aber vor sich und den anderen im Schatten des Unbewussten verborgen bleiben. Wo die wirklichen Gründe unbewusst bleiben sollen, werden eingestehbare Gründe vorgeschoben. Im brasilianischen politischen System kommt es exemplarisch vor allem auf den persönlichen Kontakt mit allen Beteiligten an, denn schriftliche Planungen, Absichtserklärungen, Evaluationen gibt es zuhauf - oft von den verschiedenen Ebenen der staatlichen Verwaltung zu gleichen Sachfragen unter zum Teil gegensätzlichen Vorzeichen und nur wenig koordiniert entworfen. Im persönlichen Kontakt mit allen Akteuren und der brasilianischen Wissenschaft lassen sich besser Selbstverständnis und Zielsetzungen der maßgeblichen Akteure ableiten und mit den Planungen bzw. Ergebnissen der Politikproduktion vergleichen. Darauf aufgesetzt analysiert der Berater, wie die Politik im Spannungsfeld zwischen (1) gesetzten politischen Zielen, (2) den unter sachlichen Problemlösungsaspekten von Fachexperten und Wissenschaftlern formulierten Optionen, (3) dem situativen Kontext der jeweiligen Entscheidungssituation und (4) den gesellschaftlichen, politischen und institutionellen Schranken gouvernementalen Handelns abschneidet. Für ein besseres Verständnis der komplexen Zusammenhänge von Politik und Ökonomie ist eine Analyse der wechselseitigen politisch-ökonomischen Interaktionen erforderlich. Die Neue Politische Ökonomie ist dabei als positive Erklärung der Funktionsweise und -mängel des öffentlichen Sektors konzipiert. Sie geht davon aus, dass die Regierung, die öffentliche Verwaltung, die Interessengruppen und generell alle Akteure des politischen Systems ebenfalls ihren eigenen Nutzen unter diversen politischen und wirtschaftlichen Restriktionen zu maximieren versuchen. Es sind dies unter anderem Zuwächse an materiellem Einkommen bzw. Vermögen, Wählerstimmen, Freiheit, Ansehen und Prestige sowie die Reduzierung von Unsicherheit und Informationskosten. Dass jenseits dieses Rationalkalküls auch Ressentiment, Euphorie oder auch Missgunst eine Rolle spielen, ist unbestritten. Die Einbeziehung dieser Faktoren in eine Nutzenfunktion würde entsprechend die Realitätsnähe der angewandten Theorie deut70
lieh erhöhen. In der Praxis allerdings erlaubt ein derart weiter Nutzenbegriff die Ex-post-Rationalisierung jedes freien Ergebnisses durch entsprechende Gewichtung dieser zweckfreien Nutzenelemente in der Präferenzordnung. Bei der Problemauswahl ist das von der konventionellen Ökonomie Weggelassene das für die Neue Politische Ökonomie Interessante. Die Frage der Institutionenwahl wird von der NPÖ allerdings von der Mikroebene in die politische Sphäre als Grundlage der Wirtschaftsordnung gehoben. Dass die Erklärung staatlichen Handelns zu den vordringlichsten Problemen der Neuen Politischen Ökonomie gehört, ist eine von ansonsten sehr unterschiedlichen Strömungen geteilte Grundüberzeugung. Die NPÖ stellt die Einheit von Ökonomie und Politik wieder her, indem sie die Wechselwirkungen zwischen Politik und Wirtschaft thematisiert, unter Nutzung der methodischen Fortschritte und mit Bezug auf den Wandel im Objektbereich. Das ist es, was Amazonien in der Politikberatung braucht, und das ist es, was Manfred Nitsch in Amazonien leistet. Anknüpfungspunkt der institutionenökonomischen Analyse sind nicht die Präferenzen von Akteuren, sondern die das individuelle Verhalten strukturierenden gesellschaftlichen Institutionen. Dem Hegt die Einsicht zugrunde, dass politische wie wirtschaftliche Prozesse in modernen Gesellschaften regelgesteuert sind, d. h. sie lassen sich ohne Kenntnis der relevanten institutionellen Restriktionen nicht angemessen erklären. Institutionen stellen in diesem Sinne die „Spielregeln" des menschlichen Zusammenlebens dar. Sie sind systematisch zu unterscheiden von den „Spielzügen", die die Akteure im Rahmen solcher sozialen Regeln tätigen. Die systematische Unterscheidung zwischen Spielregeln (Handlungsbedingungen) und Spielzügen (Handlungen) erfolgt dabei ausschließlich problemabhängig und nicht aufgrund inhärenter Eigenschaften. Anknüpfungspunkt für die Lösung gesellschaftspolitischer Probleme sind die Handlungsbedingungen und unter diesen der gestaltungsfähige Teil, d. h. die Institutionen. In dem Maße, wie die Spielregeln den zentralen Bezugspunkt für die Analyse darstellen, ist nicht mehr - wie etwa in der wohlfahrtsökonomisch geprägten Theorie der Wirtschaftspolitik - die Formulierung wünschenswerter Endzustände gesellschaftlicher Interaktionen Gegenstand wirtschaftspolitischer Gestaltungsempfehlungen. An die Stelle einer Ergebnisorientierung tritt vielmehr eine Verfahrensorientierung, welche die Suche nach angemessenen (effizienten) institutionellen Regelsystemen zur Koordinierung individuellen Verhaltens in den Vordergrund stellt. Oder in anderen Worten: Interaktionsbeziehungen werden unter den Bedingungen einer komplexen Gesellschaft in aller Regel nicht über gemeinsam formulierte Zielsetzungen, sondern über gemeinsam geteilte Regeln kanalisiert. An die Stelle einer reinen Ergebnisorientierung tritt damit eine stärkere Prozessoptimierung wirtschaftspolitischer Maßnahmen. Zur Analyse realer Politik gehört die Frage nach der Zielerreichung. Institutionenfrei argumentiert, ist es unschwer, „Marktversagen" (politisch) auszugleichen. Nun müssen aber „unvollkommene" Marktlösungen mit ebenfalls „unvollkommenen" Politiklösungen (Nicht-Markt-Lösungen) verglichen werden. 71
Besonderes Augenmerk muss daher weniger auf tatsächliche Politik gerichtet werden - sie kann häufig nicht anders reagieren, sie hat die entsprechenden Regeln innerhalb eines vorgegebenen legalen Netzes zu bewegen - als auf die vorgegebenen Prozesse, die zu den institutionellen Schranken geführt haben. Hier liegt eine der Stärken der Beratertätigkeit von Manfred Nitsch als politischer Ökonom. Exemplarisch hierfür ist die gutachterliche Auseinandersetzung mit dem Planungsverfahren Zoneamento Ecolögico-Econömico (s.u.). Fest steht, dass die Auseinandersetzungen im Vorfeld stets heftiger sind und länger andauern als nach der Errichtung der Institution. Es kann daher bei der Analyse von Institutionenbildungen nicht nur darum gehen, die wirtschaftspolitischen Entscheidungen und Verfahren zu beurteilen, die aufgrund eben dieser speziellen Regeln erfolgen, sondern um die im Vorfeld ablaufenden Prozesse, die den Rahmen erstellen. Weniger die choice within constraints sind interessant, als die Analyse der choice of constraints. Diese Kreativität, die die Forschergruppe des Lateinamerika-Institutes in der Beschäftigung mit Amazonien entwickelt hat, ist sowohl bei den regionalen Akteuren als auch in der mit einem relativ festen Rahmenwerk versehenen internationalen Politik des PPG7 nur schwer zu vermitteln. Dennoch ist es die besondere Leistung in der Politikberatung für periphere Regionen wie Amazonien mit ihren multiplen Problemlagen den Horizont auf die Breite der Sozialwissenschaften zu erweitern. Die Effizienz von Politik als Kommunikationsprozess wertabhängiger Akteure hängt prägnant von den konkreten institutionellen Arrangements der Demokratie in ihren verschiedenen Formen ab. Vor allem sind die Zustimmungsmodalitäten nicht nur von den Transaktionskosten der Entscheidungsfindung, sondern auch von der im Externalitätsgrad ausgedrückten Werthaltigkeit der Rechtsmaterie abhängig. Es würde daher von einer Ausblendung des kumulierten Wissens der Kulturanthropologie, der Ethnologie und der Kulturgeschichte zeugen, wenn menschliche Vergesellschaftung nur über externe Regelbildung für rationales Handeln nutzenorientierter Akteure modelliert wird. Beides - Regelbildung sowie darauf aufbauende kollektiv geteilte Regelorientierung einerseits und innere Wertbildung und normative (sinnhafte) Orientierung durch Generierung subjektiver Haltungen andererseits - sind die in Wechselwirkung stehenden Elementarkräfte der Vergesellschaftung. Gesellschaft lässt sich nicht allein als Setting emergierender Spielregeln hinreichend bezeichnen; vielmehr hat Gesellschaft - als Figuration der Individuen, die diese Gesellschaft bilden - immer auch die Kehrseite der personalen Geschehensordnung. Die Soziologie entdeckt die theoretische Erklärungskraft der generalisierten Reziprozität und der Moralökonomie vielfaltiger sozialer Netzwerke wieder. Die verhaltenswissenschaftliche Fundierung der modernen ökonomischen Theorie öffnet sich soziologischen und sozialpsychologischen Befunden. Zunehmend wird konstatiert, dass rationale Modelle sich Theoremen der normativen Einbettung von Akteuren öffnen.
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Es ist daher durchaus mit dem Idealtypus von Max Weber vereinbar, Politikberatung als Policy-Wirkungsanalyse auf der Basis des empirischen Wissens über das Funktionieren von Gesellschaft, aber im Lichte alternativer Leitbilder der Gestaltung zu betreiben. Der Ökosystemare Ansatz und das eindeutige Bekenntnis von Nitsch zum Leitbild der immensen globalen Bedeutung Amazoniens und zur Notwendigkeit des Schutzes der tropischen Regenwälder lassen sich hier einordnen.
Die International Advisory Group des PPG7-Programms zur Rettung der tropischen Regenwälder Seit 2001 ist Manfred Nitsch Mitglied der International Advisory Group (IAG) des PPG7, die dem Joint Steering Committee sowie der Weltbank, den Gebern, der brasilianischen Regierung und der Öffentlichkeit (www.amazonia.org) berichtet. In der Zusammensetzung der IAG wird versucht, von vornherein in den Beratungsprozess eine Vielzahl von Akteuren und Interessen einzubeziehen eine Varianz von Wissenschaftsdisziplinen und Vertretern der Zivilgesellschaft. Auf der Agenda der IAG, die sich zweimal jährlich trifft, jeweils verbunden mit Aufenthalten in der Region und in den Projekten des PPG7, stehen klassische Aufgaben eines Evaluierungsgremiums wie Berichte und Dokumentationen zur Umsetzung des PPG7 im Detail, aber auch Beratungsleistungen wie die Bewertung des vereinbarungsgemäßen Engagements der Kooperationspartner, eine Diskussion der weiteren strategischen Ausrichtung dieses mit ursprünglich US$ 1,2 Mrd. ausgestatteten Programms sowie Vorschläge hinsichtlich der Prioritätensetzung in den verschiedenen Stufen der Umsetzung. Damit befinden sich die Mitglieder der IAG in der ambivalenten Position einerseits der wissenschaftlichen Begleitung des PPG7, andererseits in der Inanspruchnahme für die gesellschaftliche und wissenschaftliche Legitimation unterschiedlichster Interessen. Denn es muss mehr als ein Jahrzehnt nach Inkrafttreten des PPG7 konstatiert werden, dass die materielle, aber auch gesellschaftliche Resonanz auf das Programm in Amazonien selbst noch nicht befriedigen kann, die unmittelbar an (Pilot-)Projekten beteiligten Regionen ausgenommen.4 Der Diskurs über das PPG7, den der brasilianische Zentralstaat, aber auch die amazonischen Bundesstaaten mit ihren Wählern führen, als auch die Planungen zur Entwicklung der Region wie Avança Brasil - trotz stärkeren Einbezugs von Umweltinteressen - stehen nicht selten in einem deutlichen Widerspruch zur faktischen Zusammenarbeit mit den Programmstrukturen vor Ort. In diesem bis heute grundsätzlich nicht gelösten Interessenskonflikt zwischen der brasilianischen Politik und den internationalen Gebern über den Umfang des notwendigen Schutzes der tropischen Regenwälder Amazoniens ist es auch für die IAG bzw. einzelne Vertreter von 4
Die bisherige PPG7-Performance - bislang wurden nur rund US$ 120 Mio. der zugesagten US$ 1,2 Mrd. in Programme kanalisiert - wird von Linden et al. (2004) kritisch beurteilt.
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ihr schwierig, über die Programmstrukturen und deren institutionelles Eigenleben hinweg mit kreativen Ideen für die Region Gehör und Einfluss zu gewinnen. Das erscheint umso nötiger, als dass aktuelle Studien zu den tropischen Regenwäldern mittlerweile zu der Aussage kommen, dass ein fragmentierter Schutz einzelner Teilräume des gesamten Ökosystems Tropischer Regenwald für den Bestand desselben nicht ausreichend sind (Linden et al. 2004). Für das PPG7 würde eine Auseinandersetzung mit diesen Erkenntnissen eine Neuorientierung bedeuten, bei der es von Bedeutung wäre, dass die International Advisory Group die Richtung und das Tempo wesentlich mitbestimmt.
Das Zoneamento
Ecolögico-Econömico
Vor dem normativen Ausgangspunkt eines größtmöglichen Schutzes von tropischem Regenwald unter der Restriktion der Wahrung von Einkommenschancen für die dort lebende Bevölkerung hat sich Manfred Nitsch seit Beginn der 1990er Jahre mit einem Instrument der Flächennutzungsplanung, dem Zoneamento Ecolögico-Econömico (ZEE), auseinandergesetzt. Dabei war es entscheidend, die wechselvolle Geschichte und Ausgestaltung der property rights in Amazonien, der Eigentumsrechte, so umfassend wie möglich zu berücksichtigen. Dieser institutionentheoretische Baustein eingebunden in das Gebäude der Geldwirtschaft setzt den aus der Perspektive von Nitsch notwendigen Bezugspunkt zu einem zunächst einmal schlichten Planungsverfahren wie dem ZEE, das jedoch durch seine politische Aufblähung und die starke Bezugnahme auf eine nicht zu Ende geführte Diskussion über property rights und Ressourcenschutz einen gesellschaftspolitischen Stellenwert einnimmt, der in der öffentlichen Diskussion am Ende kaum noch zu steuern ist. Denn die Flächennutzungsplanung des ZEE ist rein raumplanerisch, ohne Bezug auf darunter liegende Eigentumsrechte, konzipiert. So werden große Flächen wie ganze Bundesstaaten im Pilotprojekt Rondönia - oder mittlerweile auch kleinere Flächen in Zonen eingeteilt, die den Feldern einer Matrix von hoher oder niedriger natürlicher Verwundbarkeit bzw. hohem oder niedrigem ökonomischen Potential, bezogen allein auf den Boden, entsprechen: Daraus ergeben sich Schutzzonen, Wiedergewinnungszonen, Expansionszonen und Konsolidierungszonen. Das ZEE generiert für jeden interessierten Bürger eine widersprüchliche Interessenlage: Er ist für das ZEE, weil es verspricht, die herrschenden Schutzgesetze, die es flächendeckend gibt, außer Kraft zu setzen, und er ist gegen das ZEE, weil es seine Verfügungsrechte, nach denen er im Prinzip mit seinem Eigentum nach Belieben verfahren kann, weiter einschränkt. Ökologisch sind die Effekte des ZEE insbesondere durch das Unterlaufen schon parlamentarisch verabschiedeter und durch mehrere Wahlen geprüfter sowie mehr oder weniger auch effektiv kontrollierter Schutzmaßnahmen zum Erhalt des tropischen Regenwaldes fatal. Galt bis Ende der 1990er Jahre im wichtigsten Umweltgesetz Brasiliens, dem restriktiv ausgestalteten Cödigo Florestal, ein Verbot des Abholzens von Primärwald in Amazo74
nien von mehr als 50% der jeweils privaten Fläche, wurde dieses Verbot mit dem deutlichen Anstieg der Entwaldungsraten mittels einer Medida Provisoria einer vorläufigen Verordnung der Zentralregierung - sogar auf 80% ausgedehnt. Das ZEE ist in dem nun seit vier Jahren andauernden Diskussionsprozess und aufgrund von wiederholten Vorstößen zu einer Neuregelung des Código Florestal die beste Begründung für das faktische - und nach den Wünschen sowohl der großen Landbesitzer als auch der brasilianischen Industrie - auch rechtliche Absenken dieser Umweltauflage.5 Im ökonomischen Sinne ist knapp, was bezahlt werden muss. Fehlende Eigentumsrechte an der Umwelt scheinen daher aus neoklassischer Sicht verantwortlich für ihre Übernutzung oder gar Zerstörung, weil die Umwelt keinen Preis hat, der ihre Knappheit relativ zu anderen Leistungen ausdrückt. Der Verbrauch eines Gutes wird beschränkt durch den Vergleich des Nutzens bzw. des Ertrages, den dieses Gut im Konsum bzw. in seiner Produktion stiftet, mit den Kosten, die sein Erwerb verursacht. Der weitere Verbrauch findet dort seine Grenze, wo der zusätzliche Nutzen bzw. Ertrag gerade noch so hoch ist wie die zusätzlichen Kosten seines Erwerbs. Eigentumsrechte an der Umwelt würden deren Nutzung knapp halten. Bestünden z.B. Eigentumsrechte am gesamten tropischen Regenwald, so würden die konkurrierenden Verwendungen des Regenwaldes ihren Preis bestimmen. Der Eigentümer hat die sofort mögliche Steigerung des Konsums aus den Erlösen des Verkaufs der Eigentumsrechte an einen landwirtschaftlichen Großbetrieb oder eine Holzfirma abzuwägen gegen die zukünftigen Beeinträchtigungen der Umwelt durch Verlust an Biodiversität oder eine Verstärkung des Treibhauseffektes. Dieser Vergleich von gegenwärtigen und zukünftigen Konsummöglichkeiten wird preistheoretisch in der Zeitpräferenzrate ausgedrückt: Je höher die Zeitpräferenz, desto ungeduldiger ist der Konsument, desto höher bewertet er die gegenwärtigen Konsummöglichkeiten im Verhältnis zu den zukünftigen. Und umgekehrt: Je geringer die Zeitpräferenz, desto höher wird die Möglichkeit bewertet, auch in Zukunft mit den so genannten environmental services des Regenwaldes rechnen zu können. Entsprechend dieser These wird das Eigentumsrecht an tropischem Regenwald dann entsprechend teuer verkauft und dessen Nutzung dadurch knapp gehalten. Je höher der Preis, desto rentabler werden andere Verwendungen bzw. die explizite Berücksichtigung von ressourcenschonenden Technologien. Über den Markt stellt sich das für das Unternehmen profitable Verhältnis von Kosten des Verlustes an environmental services und den Kosten der Vermeidung dieses Verlustes ein. Für die Modellierung des Umstandes, dass Eigentümer des tropischen Re„Se uma terra tem vocafäo para a agricultura, seria um crime (näo usá-la) em um país como o nosso, que precisa produzir alimentos, que tem que dar renda e tem que dar emprego. Nós propomos isso. [...] A lei de reserva legal é inconstitucional." Das ist die Begründung zur neuerlichen Revitalisierung des Gesetzgebungsvorhabens für einen neuen Código Florestal, der eine deutliche Absenkung der Schutzzonen beinhalten soll, eingebracht von M. Micheletto (PMDB-PR) (www.congressoemfoco.com.br).
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genwaldes und Unternehmer in einer Einheit vereint sind, ergibt sich die Notwendigkeit, die Erstzuteilung der Eigentumsrechte an tropischem Regenwald, an Boden in Amazonien über den Markt unter Berücksichtigung der alternativen Verwendungen zu alloziieren, d. h. möglichst teuer zu verkaufen. Entsprechend hat Coase die neoklassisch konsequenteste Behandlung des Umweltproblems vorgeschlagen: Es bedürfe eben lediglich dieser eindeutigen Zuordnung von Eigentumsrechten, sei es ein Anspruch der Haushalte auf die environmental services des tropischen Regenwaldes, sei es der Anspruch der (Eigentümer-)Unternehmer auf Abholzung und anderweitige Nutzung des Bodens, damit sich eine (pareto-)efiiziente Marktlösung einstelle, bei der simultan Preis und Mengen ausgehandelt würden. Neoklassische Ansätze zur Umweltzerstörung durch unvollständige und unterentwickelte Märkte nehmen außerdem an, dass Kapital- oder Arbeitsknappheit im Kontext eines Übermaßes an Land und natürlichen Ressourcen zu einem verschwenderischen Umgang mit der Natur und zu extensiven Praktiken wie dem Unterhalten der großen Rinderfarmen führt. Werden die neoklassischen Voraussetzungen als gegeben angenommen, lässt sich mit einigem Geschick ein Trade-off zwischen Wachstum und Umweltschutz aus neoklassischer Sicht berechnen. Dabei werden Ober- und Untergrenzen der möglichen Kosten für einen Umweltschutz in Amazonien gegenübergestellt. Die obere Grenze ist ein Szenario, das mit der völligen Beendigung aller landwirtschaftlichen Aktivitäten in der Region inklusive der Viehzucht rechnet, die auch entsprechende Auswirkungen auf die anderen Sektoren haben, so dass sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Region halbiert. Diese obere Grenze markiert zirka 2% des brasilianischen BIP. In der wissenschaftlichen Diskussion wird dies für eine Überschätzung gehalten, weil es unter anderem unwahrscheinlich sei, dass die gegenwärtige landwirtschaftliche Aktivität in Gänze nicht nachhaltig sei bzw. es völlig unmöglich wäre, Landwirtschaft und moderate Abholzung in Einklang zu bringen. Schätzungen für eine Untergrenze gehen dagegen von einem Verlust von nur 0,1 bis 0,4% des brasilianischen BIP aus. Aus geldwirtschaftlicher Perspektive stellt sich der Ressourcenschutz etwas anders dar. Das Niveau der Umweltbelastung wird durch die spezifische Form ökonomischer Vergesellschaftung über Geld bestimmt. Demzufolge ist zwar richtig, dass fehlende Eigentumsrechte zu einer Übernutzung der knappen Ressource Umwelt führen. Aber daraus folgt noch nicht, dass der Geldwirtschaft nicht auch bei Existenz von Eigentumsrechten eine umweltzerstörende Dynamik innewohnt. Die Aussage einer marktlichen Regelung muss außerdem auf jene Ressourcen in ihrer Gültigkeit beschränkt werden, die durch gesellschaftliche Übereinkunft in die Verfügung von Personen gegeben sind. Weit schwieriger stellt sich der Fall dar, wenn an eine Vergabe von Verfugungsrechten überhaupt nicht gedacht werden kann, wie man das etwa für Luft (oder die Funktion des tropischen Regenwaldes als Kohlendioxid-Senke) und in einem abgeschwächten Ausmaß auch für Wasser unterstellen muss. Hier kann der Markt praktisch
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nichts leisten, weil Ausschließungsrechte nicht wirkungsvoll zugeordnet werden können. Sind Eigentumsrechte nun entsprechend der Coase'sehen Lösung verteilt, können sie pareto-effizient gehandelt werden. In einer Geldwirtschaft jedoch, in der sich der Zinssatz monetär bestimmt, setzt sich die Präferenz für Umweltgüter nicht schon aufgrund der Zuteilung von Eigentumsrechten durch. In einer Geldwirtschaft müssen ökonomisch und ökologisch rational handelnde Haushalte ihren (nicht-pekuniären) Ertrag aus gegenwärtigem und zukünftigem Konsum bestimmter Umweltqualitäten immer mit dem Zinssatz, der höher als die Zeitpräferenzrate ist, diskontieren. Denn sie können dann heute z.B. aus der Verpachtung ihrer Eigentumsrechte an Unternehmen für einen bestimmten Zeitraum zusätzliche (pekuniäre) Erträge erzielen. Der Konsument würde in einer Geldwirtschaft mehr Umweltzerstörung zulassen, als es seiner Zeitpräferenz für die environmental services entspricht. Denn das „Unternehmen" ist bereit, dem Konsumenten das Recht auf die Nutzung der environmental services bis zu dem Preis abzukaufen, bei dem die Kosten pro „Abholzungseinheit" der vom Vermögensmarkt bestimmten Ertragsrate entsprechen. Das bedeutet, dass ein Haushalt in einer Geldwirtschaft mit vollständig verteilten Eigentumsrechten an Umwelt gut daran tun wird, seinen Kalkülen einen monetären Zinssatz zugrunde zu legen. Die intensivere Umweltnutzung birgt die Gefahr der eskalierenden Umweltzerstörung. Dass jeder Haushalt mit seinen Eigentumsrechten an Umwelt nur einen verschwindend geringen Einfluss auf die Umweltqualität hat, verstärkt das beschriebene Kalkül. Weil der nachteilige Einfluss der eigenen Entscheidung auf die Umweltqualität vernachlässigbar erscheint, besteht für jeden Haushalt ein noch größerer Anreiz, mehr von seinen Rechten abzutreten, als es seinem Gebrauchswertkalkül (der Zeitpräferenz) entspricht. Die Marktlösung nach Coase ist eine radikale Anwendung neoklassischen Denkens. Es ist die Voraussetzung, dass die Umwelt und alle anderen Lebensbereiche vollständig dem Prinzip individueller ökonomischer Rationalität unterworfen werden können, die dem Marktvertrauen der neoklassischen Ökonomie zugrunde liegt. Zwar mag es richtig sein, dass ein vollständiges System von Eigentumsrechten an Umwelt, so es sich politisch und administrativ etablieren ließe, zu einer ökonomisch optimalen Nutzung der Umwelt führt. Wie ausgeführt, entspricht aber die ökonomisch optimale Nutzung in einer Geldwirtschaft, die vom Zins bestimmt wird, nicht der ökologisch erwünschten. Subsumiert man alle ökologischen Rücksichten unter das ökonomische Prinzip, wäre gegen eine optimale Umweltzerstörung nach der Präferenzrate „Nach mir die Sintflut" kein Einwand möglich. Auch das Privateigentum schützt vor der ökonomisch rationalen Umweltkatastrophe nicht. Für die Umweltpolitik in und für Amazonien bedeutet eine Marktkonditionierung, dass sie das monetär bestimmte Zinsniveau, das die intensivere Umweltnutzung bedingt, akzeptieren muss. Sie kann nur versuchen, die Präferenzen für 77
einen geringeren Grad der produktiven und konsumtiven Nutzung von natürlichen Ressourcen gegen die ansonsten resultierende Marktlösung durchzusetzen. Der Prozess der politischen Willensbildung und der Rechtsfortbildung entscheidet über den Stellenwert der gegenwärtigen im Verhältnis zur zukünftigen Umweltnutzung. Die brasilianische und die internationale Umweltpolitik muss die gesellschaftlich erwünschte Menge gegenwärtigen Ressourcenverbrauchs im Ökosystem Tropischer Regenwald vorzugeben versuchen. Durch die Veränderung relativer Preise wirkt sie auf die Struktur, die Zusammensetzung von schädigender und neutraler Umweltnutzung. Die Preisbestimmung für diese Menge erfolgt am Markt. Als geeignete Instrumente der Umweltpolitik erscheinen dann die Erhebung von Steuern und Abgaben, die Setzung von Standards, die Mengenvorgabe durch Zertifikate sowie das Verhängen von Verboten. Somit scheinen gerade die Regeln im Código Florestal als geeignetes umweltpolitisches Instrument, wenn effektive Kontrolle und gegebenenfalls effektive Sanktionierung garantiert werden können. Allen diesen Maßnahmen ist gemeinsam, dass sie auf eine Beeinflussung des Niveaus der produktiven und konsumtiven Nutzung der natürlichen Ressourcen zielen. In dieser Analyse verbergen sich die großen Themen der Politikberatung fur Amazonien in den nächsten Jahren, die engagierte Vertreter wie Manfred Nitsch in ihren Reihen benötigt.
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Manfred Niekisch
Biodiversität als Entwicklungspotenzial: Paradigmenwechsel im Naturschutz Nährstoffarmut begründet Reichtum Vermutlich mehr als 80% aller Tier- und Pflanzenarten der Erde kommen in den Entwicklungsländern vor (World Conservation Monitoring Centre 1992). Dieser in vielfaltiger Weise nachweisbare und zweifelsfrei dokumentierte Reichtum tropischer Länder an Biodiversität hat seine Ursache wesentlich in den im Vergleich zu den gemäßigten Breiten viel länger währenden Zeiträumen der Evolution, die nicht durch Eiszeiten unterbrochen waren, und in der Nährstoffarmut der Böden. Bei an Nährstoffen reichen Böden, wie sie in gemäßigten Klimaten vorherrschen, können wenige Arten große Individuenzahlen ausbilden und andere Arten überwuchern bzw. unterdrücken (ein Grund, warum z.B. Orchideen auf Viehweiden in Mitteleuropa nur dann überleben können, wenn künstliche Pflegemaßnahmen ergriffen werden). Bei Nährstoffarmut kann dagegen keine Art viele Individuen ausbilden, sondern zahlreiche Arten - mit jeweils wenigen Individuen - entwickeln ganz unterschiedliche Strategien und Spezialisierungen, um sich die wenigen Nährstoffe zu erschließen. Nährstoffarmut der Böden fuhrt also zu Artenreichtum bei gleichzeitiger geringer Individuenzahl pro Art. Dass tropische Pflanzen und Tiere gleichzeitig sehr viele (für die menschliche Nutzung interessante) Wirkstoffe enthalten, liegt an dem evolutiven Zwang, sich mit spezifischen Mitteln z.B. gegen Fressfeinde, Licht- und Nahrungskonkurrenten sowie Parasiten zu schützen, insbesondere in Waldgebieten, wo der Konkurrenzdruck besonders groß ist. Dies geschieht häufig durch Ausbildung von mechanischen Abwehrstrukturen, besonders aber auf chemischem Wege, etwa durch Ausbildung von „Giften". Auch der Zwang vor allem für waldbewohnende Arten, Geschlechtspartner oder Bestäuber (wie Fledermäuse, Vögel und Insekten) über Gerüche zu finden, führte zur Ausbildung zahlreicher hochkomplexer chemischer Substanzen, die in unzähligen Bereichen Verwendung durch den
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Menschen finden. Bioprospektion vor allem nach neuen Medikamenten konzentriert sich deswegen besonders auf tropische Wälder. Die globale Methode, mit moderner Land- und Forstwirtschaft durch den großflächigen und intensiven (= individuenreichen) Anbau weniger „Kulturarten" wie Mais und Eukalyptus den menschlichen Bedarf an Nahrung und Gebrauchsgütern zu decken, steht also in weiten Teilen der Tropen in diametralem Gegensatz zu den natürlichen Gegebenheiten, welche auf hohe Diversität bei relativ geringen Individuenzahlen ausgerichtet sind. Die fatalen Folgen der Ausweitung des Anbaus von Soja und der damit verbundenen Infrastruktur auf die Feuchtwälder des brasilianischen Amazonasgebietes und lokale Bevölkerung wurden aktuell für den Vieijahresplan 2004-2007 der brasilianischen Regierung nachgewiesen (International Advisory Group 2003). Biodiversität: Der Stand der Kenntnis Artenzahlen sind ein anschaulicher und tauglicher Indikator für den Bestand an Biodiversität. Allerdings reichen sie nicht aus, um biologische Vielfalt wirklich zu beschreiben, denn diese umfasst neben der Vielfalt innerhalb einer Art (intraspezifische Diversität, z.B. Unterarten, Varietäten und genetische Unterschiede zwischen den Individuen einer Art) und der Vielfalt zwischen den Arten (interspezifische Diversität) auch die Diversität auf Ebene der Ökosysteme mit ihren Veränderungen in Raum und Zeit. Somit bezieht die Definition Prozesse, Beziehungsgefüge und Stoffkreisläufe und damit auch die zeitliche Dimension ein. Das Wissen über die globale Biodiversität ist noch immer äußerst gering. Nicht einmal die ungefähre Anzahl von Tier- und Pflanzenarten ist bekannt. Wissenschaftlich beschrieben sind derzeit etwa 1,8 Millionen Arten. Schätzungen der Zahl tatsächlich existierender Arten reichen aber bis 100 Millionen. Selbst bei Zugrundelegung eines eher konservativen Schätzwertes von 15 bis 30 Millionen Arten (vgl. Stork 1997) bedeutet dies, dass erst ein Bruchteil der auf der Erde lebenden Arten wissenschaftlich erfasst ist. So erfolgte in den letzten zehn Jahren die Neubeschreibung von allein über 1000 Reptilienarten. Innerhalb von nur zwei Jahren wurden in den wenigen verbliebenen Naturwäldern Vietnams drei für die Wissenschaft neue Arten großer Säugetiere entdeckt, nämlich Riesenmuntjak (Megamuntiacus vuquangensis), Zwergmuntjak (Muntiacus truongsonensis) und Sao-la (Pseudoryx nghetinhensis). Diese spektakulären Neubeschreibungen werfen ein bezeichnendes Licht auf den Stand der Kenntnis über die Diversität speziell in tropischen Wäldern und lassen erahnen, dass bei den ungleich schwerer zu erfassenden Kleintieren und Pflanzen noch sehr viel mehr Entdeckungen und wissenschaftliche Neubeschreibungen zu erwarten sind. Über die jeweilige Bestandssituation der einzelnen Arten, das heißt über Häufigkeit bzw. Bedrohung der einzelnen „bekannten" Arten (siehe Tab. 1) ist das Wissen zwangsläufig noch geringer. So nimmt es nicht wunder, dass Berech82
nungen zum Artensterben von großen Ungenauigkeiten geprägt sind und j e nach verwendeter Datengrundlage und Berechnungsmethode schwanken. Die Anzahl aussterbender Arten wird beispielsweise angegeben mit 0,2-0,3% pro Jahr ( W i l son 1993), 15-20% zwischen 1980 und 2000 ( L o v e j o y 1980), 25% zwischen 1985 und 2015 (Raven 1988) und 2 bis 8% zwischen 1990 und 2015 (Reid 1992). Insgesamt bewegen sich die Schätzungen zur Aussterberate von Tierund Pflanzenarten zwischen drei und 130 Arten pro Tag (Wissenschaftlicher Beirat 1996). Tabelle 1:
Zahlen wissenschaftlich beschriebener („bekannter"), nachweislich bedrohter und innerhalb der letzten 400 Jahre ausgerotteter Tierarten Bekannt (ca.)
Bedroht
Säugetiere
4.330
1.096
Vögel
9.670
Reptilien
6.550
Amphibien Fische Wirbellose
Ausgerottet
Nur in Gefangenschaft überlebend
86
3
1.107
104
4
253
k.A.
1
4.000
124
5
0
22.000
734
81
11
1,2 Mio.
1.891
315
11
Quelle: Niekisch 2000.
Spekulationen um tatsächliche globale Artenzahlen und um die genaue Anzahl pro Tag oder Jahr aussterbender Tier- und Pflanzenarten sind insofern müßig, als auch ohne sie kein Zweifel besteht, dass der derzeitige Artenschwund unnatürlich hoch ist und dass er anthropogen ist. Dies lässt sich anhand der Bestandstrends bei bekannten Arten und gut untersuchten Tiergruppen nachweisen. Besonders geeignet sind hier die Vögel: Ihre Artenzahl ist weitgehend vollständig erfasst, und es gibt zahlreiche historische und moderne Beobachtungen über Bestandsentwicklungen. Unter natürlichen Bedingungen würde das Aussterben der Hälfte aller heute existierenden Vogelarten einen Zeitraum von etwa 500.000 Jahren beanspruchen. Bei Anhalten der gegenwärtigen Trends wäre es dagegen schon in 800 bis 2800 Jahren zu erwarten (Crosby et al. 1994), also zwischen 178 und 625-mal schneller. Bei den Gefäßpflanzen sind weltweit 34.000 Arten nachweislich bedroht, das entspricht 12,5% (Walter/Gillet 1998). Trotz der Intensivierung von einschlägiger Forschung und Bioprospektion ist wissenschaftlich nach wie vor auch sehr wenig bekannt bezüglich der Nutzungspotenziale selbst der „bekannten", weil wissenschaftlich beschriebenen wildlebenden Tier- und Pflanzenarten. Noch sehr viel größeres Potenzial ist in den (zahlenmäßig weit überwiegenden) unbekannten Arten zu erwarten. Es ist
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eher die Ausnahme, dass die wissenschaftliche Erfassung einer Art einhergeht mit ausreichenden Erkenntnissen über Lebensweise, Rolle der Art im Ökosystem, Vermehrungs- und Verbreitungsstrategien etc. Dieses Wissen ist aber unabdingbar, wenn eine den Kriterien der Nachhaltigkeit gehorchende Nutzung nicht nur seltenes Zufallsprodukt bleiben soll. Recht auf Schutz des geistigen Eigentums Zahlreiche von der Wissenschaft „neu entdeckte" Tier- und Pflanzenarten sind allerdings der lokalen Bevölkerung seit langem bekannt und - wie im Falle der neu entdeckten Großsäuger in Vietnam - seit jeher auch Bestandteil der Fleischversorgung bzw. in medizinischer und anderer Verwendung von Bedeutung. Traditionelle Bewohner und vor allem indigene Gemeinschaften verfügen über umfangreiche Kenntnisse der Biodiversität, die wissenschaftlich nicht erfasst sind. Dass diese Kenntnisse vor allem bezüglich Heil- und Nahrungspflanzen auch hohes wirtschaftliches Potenzial haben, steht unumstritten fest (vgl. Swanson 1995). Die Intensivierung internationaler Auseinandersetzungen (vor allem zwischen Entwicklungsländern und Industrienationen) um geistiges Eigentum und intellektuelle Besitzrechte gibt davon beredtes Zeugnis (vgl. u.a. De Beer/ McDermott 1996, Forum Umwelt und Entwicklung 1999, Halladay/Gilmour 1995, Inter-Commission Task Force 1994, Posey 1996, Niekisch 2003, Swanson 1995, Ten Kate/Laird 1999). Es handelt es sich mitunter um äußerst komplexe Kenntnisse. Beispielsweise muss zur Erreichung erwünschter heilender Wirkungen von Pflanzen genaues Wissen vorhanden sein darüber, welches Teil welcher Pflanze zu welcher Jahreszeit gesammelt und wie zubereitet werden muss, um in welcher Verabreichungsform und -menge wie appliziert wogegen zu helfen. Der Schutz dieses - oft von Gemeinschaften getragenen - Wissens ist national und international noch immer ein praktisch rechtsfreier Raum. Zwischen den einschlägigen Regelungen der CBD (Convention on Biological Diversity) und dem innerhalb der Welthandelsorganisation WTO bestehenden Abkommen über handelsbezogene Aspekte intellektueller Besitzrechte, TRIPS (Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights), bestehen erhebliche und sehr grundsätzliche Widersprüche, deren Auflösung nicht in Sicht ist (vgl. Correa 2000, Forum Umwelt und Entwicklung 1999). Zentrale Konfliktlinien liegen in den durch TRIPs begründeten ausschließlich privaten, individuellen Rechten des geistigen Eigentums auf biologische Vielfalt, während CBD kollektive Eigentumsrechte einheimischer und lokaler (auch indigener) Gemeinschaften auf gleiches rechtliches Niveau stellt. Des Weiteren anerkennt CBD das Recht souveräner Staaten, geistiges Eigentumsrecht auf Lebewesen zu verbieten, während TRIPs private Eigentumsrechte auf Mikroorganismen und Pflanzenvarietäten bzw. -sorten fordert. Im Gegensatz zu CBD negiert TRIPs auch das Recht der Staaten, Nutzenteilhabe und Vorteilsausgleich einzufordern sowie über prior informed consent (schlecht aber kompakt und gebräuchlich eingedeutscht mit „vorherige infor84
mierte Zustimmung") zum Beispiel Maßnahmen gegen Biopiraterie zu ergreifen. Die World Intellectual Property Organisation (WIPO), verwaltet zwar bereits über 20 internationale Verträge zum Schutz des geistigen Eigentums, kann jedoch mit ihrem Instrumentarium (Patente, Sortenschutz, Copyrights etc.) hier bisher keinerlei Hilfe anbieten. WIPO diskutiert derzeit - ergebnisoffen - die Möglichkeiten der Entwicklung spezieller Schutzrechtsinstrumente („sui generis") zur Umsetzung der Ziele der Biodiversitätskonvention. Artenschutz auch für Fäkalien? Die weltweite wirtschaftliche Bedeutung von Produkten, die aus der Biodiversität vor allem tropischer Länder und speziell tropischer Feuchtwälder gewonnen werden, summiert sich zur schier endlosen Liste von Lebens- und Genussmitteln, Würzstoffen, Kosmetikprodukten, Medikamenten, technischen Schmiermitteln, Lacken und Farben, die global vermarktet werden. Diese Produkte stammen zum Teil bis heute aus der unmittelbaren Verarbeitung von vor Ort geernteten Pflanzen oder auch Tieren. Eine beträchtliche Palette solcher Produkte hatte immerhin ihren Ursprung in diesen Gebieten, wird aber inzwischen entweder in vitro bzw. ex situ vermehrt oder auch synthetisiert, und zwar im Wesentlichen in den Industrienationen, ohne dass ein Transfer von Know-how oder finanzieller Ausgleich zurück in die Ursprungsländer erfolgt. Im Zuge des erstarkenden Selbstbewusstseins der „unterentwickelten" Länder und des Versuches der endgültigen Überwindung kolonialer Strukturen reklamieren immer mehr Ursprungsländer ihre Rechte an den aus ihren Hoheitsgebieten stammenden genetischen Ressourcen, auch wenn diese schon lange in anderen Ländern „produziert" werden. Wie weit reichend die aus den bisherigen Erfahrungen resultierenden Besorgnisse nicht industrialisierter Länder hinsichtlich der illegitimen Verwendung ihrer genetischen Ressourcen geworden sind, zeigte sich markant an einem Dokument, das unter dem Zeichen „Ref. COP 13 Prop. 1" im Oktober 2004 der 13. Konferenz der Vertragsstaaten des Washingtoner Artenschutzübereinkommens zur Beratung und zum Beschluss vorlag. Das Washingtoner Artenschutzübereinkommen (WA) regelt den internationalen Handel mit lebenden und toten Exemplaren wildlebender Tiere und Pflanzen, Teilen davon und Erzeugnissen daraus. Im Namen der Europäischen Union brachte Irland den Vorschlag ein, die Bestimmungen dahin gehend zu klären, dass unter anderem Kot und Urin der im WA gelisteten Arten von den Bestimmungen ausgenommen werden sollten. Dies stieß auf den erbitterten Widerstand zahlreicher Länder des Südens, unter anderem Kenias. Es ging diesem Land nicht nur um die mögliche Vermarktung von Papier, das aus Elefantenkot hergestellt werden kann, sondern - wie vielen anderen Ländern auch - noch mehr darum, dass Urin beispielsweise der streng geschützten Nashornarten zu medizinischen Zwecken Verwendung findet und sich aus Kot Schleimzellen isolieren lassen, die genetisches Material enthalten. Die Ursprungsländer wollen sich die Rechte der Ver85
marktung jeglicher Bestandteile ihrer Biodiversität exklusiv sichern und nicht mehr zulassen, dass die Wertschöpfung ausschließlich außerhalb ihrer Grenzen und ohne gerechten Vorteilsausgleich erfolgt. Die Erklärung von Cancún: Blockbildung aufgrund hoher Biodiversität In der Declaración de Cancún manifestiert sich die politische und ökonomische Dimension von biologischer Diversität. Im Februar 2002 hatten sich zunächst Brasilien, China, Costa Rica, Kolumbien, Ecuador, Indien, Indonesien, Kenia, Mexiko, Peru, Südafrika und Venezuela zu einer Gruppe von like minded countries zusammengeschlossen, die geeint sind durch ihren Status als Länder mit biologischer Megadiversität. Später traten auch Bolivien, Malaysia und die Philippinen dieser Gruppe bei. Mit der Erklärung von Cancún wurde diese „Gruppe der megadiversen gleich gesinnten Länder" gegründet als ein „Mechanismus zu Beratung und Zusammenarbeit" zur Wahrnehmung von deren Interessen und Prioritäten bezüglich der Erhaltung und der nachhaltigen Nutzung der biologischen Diversität, und zwar, wie die Präambel besagt, in der Erkenntnis, dass das Naturerbe dieser Länder etwa 70% der biologischen Diversität der Erde ausmacht und verbunden ist mit der kulturellen Diversität, unter Hervorhebung des großen strategischen, wirtschaftlichen und sozialen Wertes der Biodiversität und der darauf fußenden Entwicklungschancen für die Länder selbst wie für die internationale Gemeinschaft. Wörtlich heißt es in der Präambel: Reconociendo nuestro importante patrimonio natural, que representa alrededor del 70% de la diversidad biológica del planeta, asociado a nuestra riqueza y diversidad cultural [...]. Destacando que los recursos de la diversidad biológica tienen un enorme valor estratégico, económico y social, y ofrecen oportunidades de desarrollo para nuestros pueblos y para la comunidad internacional [...]. Subrayando la importancia del conocimiento tradicional de las comunidades indígenas y locales [...]. Decidimos [...] 1. Establecer el Grupo de Países Megadiversos Afines [...] (Secretaria de Medio Ambiente 2002).
Das hohe Entwicklungspotenzial, welches in den biologischen Ressourcen liegt, wird also expressis verbis von den Ursprungsländern erkannt und soll vor dem - bisher meist „kostenlosen" - Zugriff durch Wissenschaftler und Unternehmen aus anderen Nationen geschützt werden. Mehr noch, in der Präambel wird betont, dass die Staaten souveräne Rechte haben über ihre eigenen biologischen Ressourcen, und es wird die Notwendigkeit unterstrichen, sich in den Handlungen von einer neuen Ethik leiten zu lassen, in der die Fairness in den Beziehungen zwischen den Ländern, zwischen Männern und Frauen vorherrscht sowie verantwortliches Handeln, welches die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt unter Berücksichtigung des Vorsorgeprinzipes garantiert. Mit der Erklärung von Cancún soll also das Verhältnis der Staaten zueinander (und speziell das Nord-Süd-Verhältnis) eine neue Qualität erhalten.
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Der Naturreichtum Lateinamerikas Acht der 15 Länder des Grupo de Paises Megadiversos Afines sind lateinamerikanisch, und der auch im internationalen Vergleich besonders hohe biologische Reichtum Lateinamerikas ist sowohl für den ganzen Kontinent als auch für einzelne Länder oder bestimmte Gebiete, wie Nationalparke, vielfach dokumentiert, insbesondere in Form der Erfassung und Gegenüberstellung von Artenzahlen. Als Maßstab für den Reichtum Lateinamerikas an Naturgütern und Naturlandschaften im Besonderen kann die Liste des Weltkultur- und Naturerbes im Rahmen der Welterbe-Konvention (World Heritage Convention, WHC) der UNESCO gelten. Das Welterbe-Komitee führt derzeit 754 Güter in dieser Liste. Davon sind 582 Kulturgüter, 149 Naturgüter und 23 Mischformen zwischen beiden. Sie liegen in 129 Mitgliedsstaaten. 62 der 173 Naturgüter oder Mischformen (= 36%!) befinden sich in 20 Staaten Lateinamerikas und der Karibik. Am Beispiel des Vergleichs der gelisteten Welterbe-Stätten Deutschlands und Argentiniens zeigt sich zudem, dass eine rein zahlenmäßige Betrachtung den tatsächlichen Gegebenheiten nicht ganz gerecht wird. So hat Deutschland zwar mehr als zwei Dutzend Güter in der Welterbeliste, Argentinien dagegen nur sieben. Allerdings sind die deutschen Welterbegüter ausschließlich Kulturgüter, überwiegend in Form einzelner Gebäude oder von Stadtteilen, und von relativ kleiner Ausdehnung, während für Argentinien fast ausschließlich großflächige Naturlandschaften und Nationalparke in der Liste verzeichnet sind. Südamerika verfügt im Vergleich der Kontinente über die größten Tropenwaldflächen und die geringsten Abholzungsraten (Tab. 2). Bei Betrachtung des Bestandes an tropischen Feuchtwaldflächen und ihrer Veränderung steht Lateinamerika besser da als Afrika und Südostasien (Achard et al. 2002). Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass in einigen Ländern, allen voran Brasilien, die Entwaldung dramatisch hoch ist. Sie lag in den letzten zwei Jahrzehnten bei etwa 18.000 km2 Primärwald pro Jahr (mit dem Spitzenwert von 29.000 km2 im Jahre 1995), und steigerte sich bis zum Jahr 2002 auf schätzungsweise 25.500 km2 (Grupo Permanente 2003).
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Tabelle 2: Bestand und Änderungen der Tropenwaldflächen 1990 - 1995 TropenRegion
Wald 1990 Wald 1995 (1000 ha) (1000 ha)
Rückgang 1990-1995 (1000 ha)
Jährl. Rückgang (1000 ha)
Jährl. Rückgang in %
Afrika
523.376
504.901
18.475
3.695
0,7
Asien
295.041
279.766
15.275
3.055
1,1
84.628
79.443
5.185
1.037
1,3
851.223
827.946
23.277
4.655
0,6
1.754.268
1.692.056
62.212
12.442
0,92
Mittelamerika und Karibik Südamerika Summe
Quelle: FAO (Food and Agriculture Organisation) 1997. Schutzgebiete als Dienstleister Die Einrichtung von Schutzgebiets-Systemen wurde auf der CBD-Vertragsstaatenkonferenz 2004 als prioritär eingestuft. Schutzgebiete dienen nicht nur dem protektiven und restriktiven Naturschutz, sondern können über touristische Nutzung und/oder wegen ihrer „Umweltdienstleistungen" Entwicklungsmotoren für die umliegenden Regionen sein (Barzetti 1993, Munasinghe/McNeely 1994, Niekisch 1998). Der Nationalpark Avila in der unmittelbaren Nähe der venezolanischen Hauptstadt Caracas versorgt diese mit Wasser und erbringt so neben Erholungsfunktion und Naturschutz eine lebenswichtige Dienstleistung. Ähnliches gilt für den panamaischen Parque Nacional Soberanía, der eingerichtet wurde, um den Panama-Kanal mit Wasser zu versorgen. Die Kette der Beispiele von Schutzgebieten mit solch wirtschaftlich eminenter Bedeutung lässt sich beliebig verlängern. Paradigmenwechsel im Naturschutz Es erweist sich zunehmend als unrealistisch und wenig handlungsleitend, „unberührte Gebiete" zu unterscheiden von solchen mit menschlicher Nutzung. Die Reservas extrativistas Brasiliens sind wie zahlreiche indigene Territorien in anderen Ländern hervorragende Beispiele, wie durch Restriktionen der Nutzung und den Ausschluss von „Außenstehenden" Naturschutzziele erreicht und gleichzeitig die Rechte und wirtschaftlichen Grundlagen der lokalen Bevölkerung gesichert werden können (Clüsener-Godt/Sachsl994, Ruiz Murrieta/Pinzón Rueda 1996). Aus Lateinamerika sind zahlreiche Beispiele bekannt, dass bzw. wie menschliche Nutzung und Naturschutzziele kompatibel gestaltet werden können (Amend/Amend 1992, Ruiz Pérez et al. 1993). Diese konkreten Erfahrungen und Beispiele haben zusammen mit der Erkenntnis, dass lokale Bewohner oft auf die Nutzung der natürlichen Ressourcen in Schutzgebieten angewiesen sind bzw. zu deren Schutz beitragen können, zu einem Paradigmenwechsel 88
beim Verständnis von Schutzgebieten geführt. Dieser bahnte sich bereits 1982 beim III. World Parks Congress der IUCN World Commission on Protected Areas in Bali/Indonesien an und wurde auf dem IV. und V. World Parks Congress 1992 (Caracas/Venezuela) und 2003 (Durban/Südafrika) weiterentwickelt. Die Kongresse in Caracas und Durban standen bezeichnenderweise unter dem Motto Parks for Life und Benefits beyond boundaries, wodurch die Evolution des Schutzgebietsgedankens weg vom kategorischen Ausschluss menschlicher Bewohner gut veranschaulicht wird. Auch die strengsten von der IUCN empfohlenen Management-Kategorien für Schutzgebiete schließen heute die permanente Anwesenheit von menschlichen Bewohnern nicht mehr aus (EUROPARC/IUCN 1999, IUCN 1994). Im Gegensatz werden angestammte Bewohner von Schutzgebieten heute als legitime Hüter dieser Gebiete verstanden (IUCN 1993). Die Partizipation lokaler Bevölkerung beim (Ko-)Management von Schutzgebieten bis hin zur Überlassung von Landtiteln in geeigneter Form erweist sich als Instrument zum nachhaltigen Schutz solcher naturnahen Gebiete und ihrer biologischen Ressourcen (Borrini-Feyerabend 1996, Keutmann 2004, Makombe 1993, Mannigel 2004, Wells/Brandon 1992). Naturschutz innerhalb und außerhalb von Schutzgebieten Etwas mehr als 10% der Fläche der Erde haben einen rechtlichen Status als Schutzgebiete (IUCN 2003). Gleichzeitig wird mit der Einrichtung von Pufferzonen zunehmend versucht, die Interessen der Bewohner des Umfeldes mit dem Schutzanliegen zu harmonisieren oder zumindest kontraproduktive oder unzumutbare Wirkungen in beide Richtungen abzupuffern. Pufferzonen sind Entwicklungszonen mit besonderem Status, in denen unter anderem durch Sondermaßnahmen Restriktionen kompensiert werden. Andererseits genießen auf den „restlichen" knapp 90% der Erde die Flächen mit ihrem Arteninventar keinen Schutz, weswegen es nicht ausreicht, die globale Biodiversität nur in Schutzgebieten zu sichern. Außerhalb dieser Gebiete mit Sonderstatus sind die Herausforderungen an den Naturschutz noch sehr viel größer als innerhalb ihrer Grenzen. Hier können nachhaltige Nutzungsformen, wie sie von indigenen Ethnien und traditionellen Bewohnern praktiziert werden, modellhaft Ansatzpunkte für ressourcenangepasste Landnutzung geben (vgl. z.B. Halladay/Gilmour 1995, Inter-Commission Task Force on Indigenous Peoples 1994). Die Konvention über Biologische Vielfalt und die „Bonn Guidelines" über Zugang zu genetischen Ressourcen und gerechten Vorteilsausgleich legen hierzu, wenngleich nicht mit Sanktionen bewehrt bzw. rechtlich nicht bindend, international die Grundlagen und bieten zahlreiche neue Perspektiven für den Naturschutz (Niekisch 2004). Bedrohte Arten, „ungestörte" Lebensräume und Schutzgebiete reichen als traditionelle Betätigungsfelder des Naturschutzes nicht mehr aus bzw. haben auch in der Vergangenheit wohl nicht ausgereicht, wenn Naturschutz den Anspruch hat, die biologische Vielfalt der Erde zu bewahren. Der Versuch, menschenfreie 89
Schutzgebiete einzurichten, hat sich als weitestgehend unmöglich erwiesen. Eine große Zahl von Nationalparken und anderen Schutzgebieten muss sich Problemen mit temporär oder permanent dort lebenden Bevölkerungsgruppen stellen (Phillips 2003). Von den 1991 bestehenden 184 Nationalparken Südamerikas waren 85,9% besiedelt oder zumindest wurden ihre Ressourcen genutzt (Amend/ Amend 1995). FAO trägt in den neuen Definitionen der verschiedenen Waldtypen für das Global Forest Resources Assessment 2005 der Tatsache Rechnung, dass die Vorstellung „unberührter" Naturwälder (primary forests oder gar virgin forests) allzu oft eine Illusion ist. Primärwald ist dort jetzt definiert als ein Wald ohne klar erkennbare Anzeichen menschlicher Aktivitäten, in dem die ökologischen Prozesse nicht signifikant gestört sind. „Klar erkennbar" ist subjektiv und lässt Spielraum für Interpretation, ebenso die Einschätzung, wann ein Prozess „signifikant gestört" ist. Jedenfalls liegt diese Definition im allgemeinen Trend der Erkenntnis, dass vom Menschen unberührte Naturräume auf der Erde kaum mehr anzutreffen sind. Prioritäre Aufgaben des modernen Naturschutzes liegen damit in zwar von Menschen genutzten, aber noch nicht anthropogen überformten Landschaften.
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II. Geld, Kredit und Entwicklung
Reinhard H. Schmidt
Die Sicht der teilnehmenden Beobachter: Ein Abriss der IPC/IMI-Geschichte aus neo-institutionalistischer Perspektive I.
Einleitung: Was uns verbindet
Mit Manfred Nitsch verbindet mich neben methodisch-wissenschaftlich ähnlichen Positionen eine gemeinsame Erfahrung auf dem Gebiet der so genannten Mikrofinanzierung und eine daraus erwachsene persönliche Freundschaft. Es ist die gemeinsame Erfahrung als teilnehmende Beobachter einer Innovation, eines Experiments im realen Leben, das wir beide gleichermaßen faszinierend und persönlich-wissenschaftlich bereichernd fanden und finden. Zwar sind wir in erster Linie Beobachter und nicht so sehr Akteure, aber die beiden Rollen sind nicht trennbar: Indem wir beobachten und die Interpretationen und Einschätzungen dessen, was wir beobachten, mit den eigentlichen Akteuren regelmäßig austauschen, beeinflussen wir das, was wir beobachten, zumindest in einem gewissen Maße. Zugleich hätten unsere Beobachtungen in der Rolle der Wissenschaftler so nicht vorkommen können, wenn wir nicht aktive Teilnehmer des beobachteten Geschehens gewesen wären. Gemeinsam haben wir teilnehmend und aus beträchtlicher Nähe beobachten können, wie außerhalb Asiens erstmals etwas verwirklicht worden ist, was seit vielen Jahren von vielen Seiten gefordert worden ist: ein konsequent konzipierter und umgesetzter kommerzieller Ansatz der Entwicklungsfinanzierung im Sinne der Bereitstellung von Finanzdienstleistungen für so genannte kleine Leute in Entwicklungs- und Transformationsländern und die Schaffung der dafür erforderlichen dauerhaften institutionellen Strukturen. Für uns und viele andere ist diese Entwicklung eng mit dem Aufbau der „IPCIMI-Gruppe" verbunden, in deren Zentrum unser gemeinsamer Freund ClausPeter („C.P.") Zeitinger steht. IPC ist ein Frankfurter Beratungsunternehmen, das sich auf den Aufbau von Finanzinstitutionen mit einer Ausrichtung auf kleine und kleinste Unternehmen in Entwicklungs- und Transformationsländern 95
spezialisiert hat. Die Gründung von IPC im Jahre 1982 war die Folge einer gemeinsamen Aktion von Manfred, C.P. und mir. Ohne Manfreds intellektuelle Führerschaft wäre es vermutlich nie zu der angesprochenen gemeinsamen Aktion, zu der gemeinsamen Erfahrung und zur Gründung von IPC gekommen. Von IPC zu unterscheiden ist die Internationale Micro Investitionen AG (kurz IMI), eine Beteiligungs- und Managementgesellschaft, die 1998 auf Initiative von IPC als Unternehmen entstanden ist. Manfred war von 1998 bis 2001 Mitglied des Aufsichtsrats der IMI. Auch zur Entstehung dieses für das Gebiet der Entwicklungsfinanzierung völlig neuartigen Unternehmens wäre es vermutlich ohne seine aktive Unterstützung nicht gekommen. Bis heute ist sein Einfluss unübersehbar, auch wenn sich seine Rolle im Laufe der Zeit immer mehr von der eines Mit-Akteurs zu der eines teilnehmenden Beobachters gewandelt hat. In einem 2002 erschienenen Buch (Nitsch 2002) hat Manfred seine vielen über einen Zeitraum von 30 Jahren entstandenen Aufsätze zur Mikrofinanzierung zusammen publiziert. Die Aufsätze sind geprägt durch die sachliche, intellektuelle, politische und persönliche Nähe zu IPC und IMI. Wie im Folgenden noch deutlich werden wird, ist die Mikrofinanzierung im engen Sinne der Vergabe von kleinen und kleinsten Krediten ein Problem der Institutionengestaltung. Selbstverständlich gilt dies auch für die Unternehmen, die in diesem Kontext entstanden sind: für IPC selbst, vor allem aber für IMI und ganz besonders für die Mikrofinanzinstitutionen, die von IPC und teilweise von IMI aufgebaut worden sind. Sie sind Institutionen in dem Sinne, dass sie Regelwerke darstellen, die auf bestimmte Ziele ausgerichtet sind und durch Regeln und Vorgaben festlegen, welches Verhalten den jeweiligen Akteuren möglich ist und von ihnen erwartet wird. Manfred hat in einem Aufsatz das Beispiel der Mikrofinanzierung und der Mikrofinanzierungsinstitutionen verwendet, um daran den Nutzen des institutionenökonomischen Ansatzes für die Entwicklungsforschung und die Entwicklungspolitik deutlich zu machen (Nitsch 1989). Freilich ist für ihn der institutionenökonomische Ansatz auch deshalb interessant und vielversprechend, weil er es kreativen Denkern wie ihm erlaubt, einen beträchtlichen Teil dessen, was er selbst früher unter einen systemtheoretischen Ansatz subsumiert hat, in wirtschaftstheoretisch zeitgemäßer Weise zu erfassen und - durchaus im Hegeischen Sinne - aufzuheben. In der Tat: So wie er - und weitgehend auch ich - diesen Ansatz sieht, ist er dem systemtheoretischen viel näher, als es die einschlägige Lehrbuchliteratur zum contract design vermuten lässt. In diesem Beitrag möchte ich nicht nur gemeinsame Geschichte und zugleich ein faszinierend aktuelles Thema aufbereiten, sondern dabei besonders diejenigen Aspekte betonen, die sich für eine Betrachtung aus der von Manfred begrüßten und geforderten systemtheoretisch-institutionenökonomischen Perspektive besonders eignen. Der Beitrag enthält außer dieser Einleitung und einem kurzen Schlusswort, das das methodische und methodologische Thema noch einmal
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aufgreift, zwei Teile. Der erste ist der Geschichte von IPC gewidmet, der zweite der der IMI. II.
IPC - der Versuch, Recht zu behalten und zugleich ein Unternehmen aufzubauen
1.
Ausgangspunkte in Südamerika Entwicklungsbanken und Sparkassen
Begonnen hat alles Anfang 1981 in Lateinamerika. Manfred leitete eine Gruppe von Gutachtern, die vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) den Auftrag erhalten hatte, „die entwicklungspolitische Wirksamkeit der deutschen Förderung von Entwicklungsbanken in Lateinamerika" am Beispiel von drei Ländern zu überprüfen. Zu dieser so genannten Expertengruppe gehörten C. P. und ich. Experten waren wir - im Gegensatz zu Manfred - freilich nicht, denn wir hatten uns mit Entwicklungsfinanzierung vorher nie befasst und kannten uns auch in Lateinamerika nicht aus. Aber wir waren neugierig, als Ökonomen ausgebildet und dem Zeitgeist entsprechend kritisch. Die drei Länder waren Nikaragua, Kolumbien und Ekuador. Nikaragua hatte gerade die sandinistische Revolution hinter sich. Wir hatten deshalb die, wie sich zeigte, berechtigte Erwartung gehabt, Informationen darüber zu bekommen, wie das vorherige Regime es angestellt hat, (deutsche) Entwicklungshilfemittel in großem Umfang zu stehlen. Es gelang uns nicht nur nachzuweisen, dass, sondern auch wie jeder Pfennig von zwei deutschen Kreditlinien in die Taschen der Herrschenden geflossen und dort verschwunden war. Dieser Befund war auch für unsere Auftraggeber im BMZ und die anderen beteiligten deutschen Institutionen peinlich, und deshalb wollte man ihn gern unter den Tisch fallen lassen. Für uns war die Erfahrung aus Nikaragua freilich nützlich, nicht nur weil sie ein wichtiger Teil unserer sehr negativen Einschätzung der deutschen Entwicklungspolitik gegenüber Entwicklungsbanken wurde, sondern auch weil sich an diesem Beispiel lernen ließ, worauf wir auch in den beiden anderen Ländern zu achten hatten. In Kolumbien hatte Manfred schon früher eine ähnliche Untersuchung angestellt, an die wir anknüpfen konnten. Wenn auch nicht ganz so krass wie in Nikaragua waren auch dort - und genau so in Ekuador - die Erscheinungsformen und die Auswirkungen der so genannten Kleinbetriebsfinanzierer und der mit ihnen zusammenarbeitenden deutschen Instanzen der Entwicklungshilfe schlimmer als es jede Satire hätte zeichnen können. Dass wir viel sehen und vieles von dem Gesehenen auch analysieren konnten, lag an Manfred, der uns dabei im wörtlichsten Sinne lehrte zu sehen und zu verstehen. Bei unserer Gruppe war auch ein Ministerialbeamter des BMZ als Begleiter und Türöffner, vielleicht auch als Aufpasser. Er stellte nicht in Abrede, was wir sahen und was davon objektiv zu halten wäre. Aber darauf folgte jedes Mal dieselbe Beschwichtigung: „So ist das nun mal, daran kann man nichts machen". 97
Genau dies akzeptierten wir drei nicht, und deshalb hatten wir auf unserer Reise immer wieder Streit. Eine dieser heftigen Auseinandersetzungen veranlasste C.P. zu dem Schwur oder, wie man es auch sehen kann, zu der Drohung oder dem Versprechen, das, was den Anlass unserer Reise bildete, „anders und richtig" zu machen. So genau wusste zwar keiner von uns, was „richtig" bedeutete, aber jedenfalls musste es „anders" sein; und erst recht wusste niemand, was bei der Kleinbetriebsfinanzierung wirklich machbar ist. Denn das Beobachtete mahnte uns dringend zur Vorsicht: Selbst bei den besten Absichten und dem größten Engagement dürfte es sehr schwierig sein, Kredite an Menschen zu vergeben, die üblicherweise als nicht kreditwürdig gelten, und dies nicht zuletzt deshalb, weil sie keine Anreize zur Kreditrückzahlung haben und deshalb, wie es schien, Kredite von formellen Finanzinstitutionen auch wirklich nur selten zurückzahlten. Knapp ein Jahr später wurde IPC als ein Consultingunternehmen mit der erklärten Absicht gegründet, das entwicklungspolitische Geschäft und zumal die Entwicklungsfinanzierung, „anders und richtig zu machen". Aber mit unserem undiplomatisch offen geschriebenen Gutachten für das BMZ hatten wir uns in der deutschen Entwicklungsbürokratie viele Feinde geschaffen. Von Eingeweihten wurde später erzählt, dass es in den 80er Jahren für die drei Gutachter - und als Erweiterung auch für die junge Firma IPC - einen faktischen Boykott bei relevanten deutschen Institutionen gegeben haben soll. IPC musste deshalb ihre Tätigkeit auf anderen Gebieten beginnen, namentlich dem der seinerzeit entwicklungspolitisch hoch bewerteten so genannten Alternativenergie. Auch hier war Manfred heftig involviert, hatte er doch zeitgleich am Lateinamerika-Institut der FU Berlin ein Forschungsprojekt über Biotreibstoff in Brasilien in Gang gesetzt. Nach langem ungeduldigem Warten bekam IPC 1985 schließlich ihren ersten Auftrag auf dem Gebiet der Entwicklungsfinanzierung. In Peru hatte es eine Verfassungsreform gegeben, die es den municipios erlaubte, Sparkassen als kommunale öffentlich-rechtliche Institute zu errichten. Im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) reiste eine Gruppe von IPC-Mitarbeitern, natürlich wieder zusammen mit Manfred, nach Piura in Nordperu zu einer Projektprüfung. Dort sollte bei positivem Ausgang der Projektprüfung ein städtisches Pfandhaus in eine caja municipal de ahorro y credito (CMAC) umgebaut werden. Ob das von Anfang an ein aussichtsreiches Projekt war, sei dahingestellt. Peru befand sich damals in einer Hochinflationsphase und zugleich unter einem Regime der financial repression, gewiss keine guten Bedingungen, um das Finanzsparen, die Kernfunktion jeder Sparkasse, zu forcieren. Aber es war der Strohhalm, an dem sich IPC festhielt, um endlich ausprobieren zu können, was man sich vorgenommen hatte. Außerdem war der deutsche Sparkassen- und Giroverband (DSGV) als Projektträger sehr daran interessiert, die Sparkassenidee zu exportieren. Er unterstützte die Sparkassen in Peru tatkräftig und vielfaltig, und sein damaliger Präsident Dr. Geiger gab IPC in de98
ren Bemühen, sparkassenähnliche Institutionen zu schaffen und dabei „alles anders und besser zu machen", die immer wieder erforderliche politische Rückendeckung. Mit deutscher Finanzierung und IPC-Beratung entstanden in den folgenden Jahren in Peru tatsächlich kommunale Sparkassen, zuerst in Piura und bald darauf auch in etwa einem Dutzend anderer Orte. Dann wurde ein Sparkassenverband mit einer Schulungsinstitution und einer Revisionsabteilung gegründet. In der zweiten Phase dieses Entwicklungsprojekts wurde sogar eine eigene Abteilung für die Beaufsichtigung von Sparkassen bei der peruanischen Bankenaufsicht geschaffen und ein Sparkassengesetz geschrieben und als Verordnung in Kraft gesetzt. Die cajas municipales de ahorro y crédito gediehen unter der deutschen Förderung und der sehr engagierten Betreuung durch IPC. Viele wurden relativ schnell zu stabilen und sogar kostendeckend arbeitenden Banken. Es gibt sie auch heute noch, wenn auch nicht mehr als öffentlich-rechtliche Institute, sondern in privater Rechtsform, aber immer noch im öffentlichen Eigentum und mit einem klaren Auftrag zur finanziellen Förderung der Unter- und Mittelklasse. Zusammen, d. h. als Netzwerk, bilden sie die größte Mikrofinanzinstitution Lateinamerikas, und einige von ihnen gehören seit Jahren zu den besten dieser Institutionen. Schaut man heute auf das deutsche Entwicklungshilfeprojekt „CMAC in Peru" in den ersten zehn Jahren zurück, dann fallen einige Besonderheiten auf. Die erste ist, dass die deutschen Berater extrem vorsichtig waren, überhaupt Kredite vergeben zu lassen. Die Erfahrungen der Entwicklungsbankenuntersuchung von 1981 wirkten massiv nach. Damals hatten wir gesehen, dass Klein- und Kleinstkredite einfach nicht zurückbezahlt wurden, und weitere Einblicke in ähnliche Projekte so gut wie überall auf der Welt hatten dies bestätigt. Bei den CMAC wurde dieses Problem mit einem Trick umgangen, der den einheimischen Geldverleihern abgeschaut war: Es wurden über Jahre hinweg nur mit Goldpfändern gesicherte Kredite vergeben. Diese Kredite wurden auch korrekt verzinst und getilgt, denn die Kreditnehmer wollten ihre Pfander zurückbekommen. Gold hatte in Nordperu aus geographisch-geologisch-politischen Gründen beinahe jeder Haushalt. Insofern war diese Art der Kreditvergabe sogar sozialverträglich, weil es ärmere Kreditnehmer nicht ausschloss und die Wohlhabenderen, die ohnehin Zugang zu Banken hatten, nicht auf die teuren Pfandkredite zurückgegriffen hätten. Mit dieser Art der Kreditvergabe und einer kostenorientierten Preispolitik, verbunden mit einem straffen Management wurden einige peruanische Sparkassen schon in den späten 80er Jahren die ersten formellen Finanzinstitutionen in Lateinamerika, die Kleinstkredite ohne jeden nennenswerten Ausfall und sogar kostendeckend vergeben haben. Erst nach fünf Jahren und nach langen Vorstudien wurde mit der Kreditvergabe ohne Goldpfander an kleine und kleinste Unternehmen begonnen. Natürlich ist diese Kredittechnologie wie jede
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andere ein Beispiel dafür, wie Handlungsspielräume festgelegt und Anreize gesetzt werden, also eine Institution im weiteren Sinne des Wortes. Auch die zweite Besonderheit geht auf die Erfahrung von 1981 zurück. Man misstraute jeder Machtkumulation bei den einheimischen Entscheidungsträgern, seien sie Politiker oder Bankmanager. Deshalb waren die formalen und administrativen Strukturen im System der CMAC extrem komplex, ja überkompliziert. Es gab checks and balances auf allen Ebenen. Das begann mit der Zusammensetzung des Direktoriums und der Struktur des Verbandes und seines Verhältnisses zu den einzelnen Banken und ging bis zu der subtil konzipierten Rollenverteilung zwischen Verbandsaufsicht und staatlicher Bankenaufsicht. Sehr wichtig war IPC und ihren Projektmanagern, deutschen Erfahrungen folgend, dass die kommunalen Eigentümer zwar Kontrollrechte, aber keine aktiven Eingriffsmöglichkeiten hatten, um die sonst sehr wahrscheinliche Politisierung der Kreditvergabe zu verhindern. Lateinamerikanische Erfahrungen standen hinter der Idee, zugleich die Leiter und Leiterinnen der CMAC so in ihrer Macht zu beschränken und zu sachlichen Entscheidungen zu zwingen, dass sie nicht als caudillos Kredit an ihre Klientel vergeben konnten. Manfred, der wesentlich zur Konzeption dieses Systems beigetragen hatte, hat es in einem sehr instruktiven Aufsatz (Nitsch 1997) im Detail erläutert und analysiert. Freilich kann man daran zweifeln, ob dieser ursprünglich für die GTZ geschriebene Beitrag auch in Deutschland bei den Auftraggebern von IPC gelesen und verstanden worden ist. Ich habe von „IPC-Beratung" geschrieben. Das mag eine irreführende Bezeichnung sein, denn die vor Ort tätigen Hauptakteure, vor allem C. P. selbst und Anja Lepp, haben faktisch die CMAC als Gruppe geschaffen, geprägt und geführt. Das war gewiss nicht politically corred, aber es war effektiv. Und es löste den zu erwartenden Widerstand aus: in Deutschland den der GTZ, der das Vorgehen von IPC „zu interventionistisch" erschien, und in Peru den deijenigen, die sich durch die straffe und sehr teutonisch-wertorientierte Führung durch IPC in ihrer Freiheit, einschließlich der Freiheit zur Bedienung von Freunden und zur Selbstbedienung, effektiv eingeengt sahen. Dies sollte zum Konflikt fuhren. Die beschriebene doppelte Vorsicht bei der Kreditvergabe und der Organisation der Entscheidungs- und Kontrollstrukturen wurde ergänzt durch eine fast ebenso große Vorsicht gegenüber jeder externer Finanzierung der Sparkassen. Wir hatten ja 1981 studieren können, wie fatal externe Finanzierung für die Stabilität von Institutionen der Entwicklungshilfe sein kann, denn erst wenn Geld da ist, lohnt es sich, es abzuzweigen, gegebenenfalls es einfach zu stehlen. Durch den Verzicht auf externe Finanzierung war aber das Wachstum der CMAC drastisch beschränkt, denn die Ersparnismobilisierung als Quelle von loanable funds war unter den damaligen dortigen Umständen nahezu unmöglich. Dies beschränkte zugleich die Wirksamkeit - outreach and impact - der CMAC und schlug sich in sehr hohen Kosten der Sparkassen nieder, denn zumindest bei Banken, die so klein sind, wie es die CMAC bis in die Mitte der 90er Jahre wa100
ren, gibt es beträchtliche economies of scale. So abgeschottet konnte das Projekt nicht weiter gehen bzw. so konnten sich die Sparkassen nicht weiter entwickeln. Zu Beginn der 90er Jahre hatte IPC gute Beziehungen zur Interamerican Development Bank (IDB) aufgebaut. Die IDB hatte in jener Zeit ein so genanntes programa de pequeños proyectos, das dazu diente, Institutionen wie den einzelnen CMAC durch Subventionen und Kreditlinien nachhaltig unter die Arme zu greifen. Diese Wachstumsspritze war im Falle der CMAC nötig, aber sie einzusetzen hätte das Machtgleichgewicht gefährdet und die Gefahr des „institutionellen Abrutschens" - ein typischer Manfred-Nitsch-Ausdruck - in tradierte lateinamerikanische Verhaltensmuster mit sich gebracht. IPC arrangierte deshalb die Kanalisierung der IDB-Mittel statt direkt zu den einzelnen cajas indirekt über eine eng mit dem Verband liierte Dachorganisation der Sparkassen in Peru. Doch das passte den lokalen Leitern einiger größerer Banken nicht, die sich vom Verband und mittelbar von „den Deutschen" nicht gängeln lassen wollten. Der Konflikt wurde manifest, als eine hohe peruanische Führungskraft einen beträchtlichen Teil des plötzlich vorhandenen Geldes unterschlagen hatte. IPC erfuhr davon, C. P. informierte die Verbandsaufsicht und die staatliche Bankenaufsicht - und nichts passierte. Er war entsetzt und enttäuscht. Mit der externen Kapitalzufuhrung war das System der checks and balances doch zerbrochen. Erst als er sah, dass sich niemand um die Unterschlagung kümmern wollte, sprach er darüber mit einer peruanischen Journalistin, die die Angelegenheit publik machte. Damit war der Skandal da - aber nicht die Unterschlagung war der Skandal, der zumal in Deutschland die Gemüter bewegte, sondern die Information der Journalistin durch einen Berater, der seine Kompetenzen überschritten hatte. Die deutsche GTZ ergriff auf einmal entschieden Position, aber nicht für ihr Projekt und ihren Vertragspartner IPC, sondern für ihre Vorstellung davon, wie diskret ein deutscher Berater zu sein habe und wie sehr politisch korrektes Verhalten Vorrang haben müsse vor den inhaltlichen Zielen eines Entwicklungsprojekts und erst recht den Interessen der Zielgruppe der eher armen Leute. Der Prozess eskalierte. IPC wurde aus dem Projekt rausgeworfen, und eine deutsche Entwicklungshilfeorganisation, die zuvor die Idee einer Sparkasse mit einem sehr subtilen System der Corporate Governance als entwicklungspolitisch vorbildlich eingestuft hatte, wurde plötzlich zu einer entschiedenen Gegnerin des ganzen Konzepts. Der öffentlich-rechtliche Charakter des Sparkassensystems sei, so hieß es auf einmal - und sehr zum Entsetzen nicht nur von IPC und von Manfred, der sich erneut vehement als Gutachter und Ratgeber und sogar als Schlichter einschaltete, sondern auch des früheren DSGV-Präsidenten Geiger - ohnehin der „Geburtsfehler" des ganzen Peru-Projekts gewesen. Manfreds Erläuterungen, warum der öffentlich-rechtliche Status unter den gegebenen Umständen ein kluges und anreizkonformes institutional design wäre, wurden nicht etwa zurückgewiesen, sie wurden mit der Arroganz der Macht einfach ignoriert. Der Konflikt zwischen IPC und GTZ - genauer: mit zwei Personen in der GTZ und mit der GTZ als ganzer, soweit sie sich nur hinter diese stellte - nahm 101
in den folgenden Jahren dramatische und die Existenz von IPC bedrohende Formen an. Darüber ist inzwischen fast kein Wort mehr zu verlieren. Die Eingeweihten seien an die Auseinandersetzung um die source codes der IPCMicrofinance Software und an die Projekte WWB-Kolumbien und CERUDEBUganda erinnert, in denen der Konflikt von der Seite der GTZ ohne jede Rücksicht auf die Menschen geschürt wurde, denen man vermeintlich helfen wollte. Auch wenn es zeitweise kaum danach aussah, hat IPC diese Krisen aber überstanden. Es gibt viele Lehren aus dem Peru-Projekt. Die wichtigsten positiven Lehren sind die, dass es doch möglich ist, kleine und kleinste Kredite zu vergeben und das verliehene Geld zurückzubekommen, dass es nötig und möglich ist, leistungsfähige Institutionen aufzubauen, die allerdings nicht so kompliziert sein müssen wie im Falle der CMAC in Peru, und dass es möglich ist, Klein- und Kleinstkredite vergebende Institutionen kostendeckend operieren zu lassen, wofür allerdings ein schnelles Wachstum und dessen externe Finanzierung nötig sind. Daneben gibt es aber auch eine recht bittere Lehre: Wenn man wie IPC ernsthaft an dem entwicklungspolitischen Erfolg der betreuten Projekte interessiert ist, darf man sich nicht zu sehr darauf verlassen, dass institutionelle Partner aus der Entwicklungsbürokratie sich dauerhaft sachorientiert und fair verhalten. Freilich sind es nicht ganze Organisationen, die sich gegebenenfalls schnöde verhalten, sondern Menschen in diesen Organisationen. 2.
Die Erweiterung: Upgrading and Downscaling in Lateinamerika und Afrika
Als ihr Verhältnis mit der GTZ noch gut war und das mit der IDB immer besser wurde, segelte IPC auf einer Welle des Erfolgs. In El Salvador und Bolivien wurden in Kooperation mit diesen beiden Partnern die Entwicklungsfinanzierungsinstitutionen Calpiä und Caja los Andes gegründet und ausgebaut. Die institutionelle Gestaltung war zwar in beiden Fällen einfacher als die der CMAC, aber auch sie wies „Subtilitäten" auf, mit denen IPC einer damals noch allgemein verbreiteten Vorstellung Rechnung tragen musste. Damals galt es noch als Dogma, dass es eine existierende lokale Institution geben müsse, die als Empfängerin der zum Aufbau einer Kleinkreditinstitution nötigen Entwicklungshilfemittel fungiert. Es galt damals als innovativ und geradezu wünschenswert, im Rahmen einer so genannten upgrading-Strategie solche Institutionen erst institutionell zu stärken und sie danach zu formalisieren, d.h. sie in formelle Mikrofinanzbanken umzuwandeln. Also brauchte IPC Institutionen, die sie „aufwerten" und formalisieren konnte. In Umkehrung der üblichen Rollenverteilung suchte sich IPC dafür geeignet erscheinende lokale Institutionen, und wo es keine geeigneten Institutionen gab oder zu geben schien, schuf sie sich diese selbst. In El Salvador gab es einen so genannten Kleinunternehmerverband AMPES, den die IPC-Berater kurzerhand umgründeten, um die drei lokalen Großkapitalisten, die diesen Verband faktisch 102
beherrschten, beiseite zu schieben. In Bolivien wurde mit einer kleinen Gruppe honoriger Persönlichkeiten die Stiftung PROCREDITO mit dem einzigen Zweck gegründet, Trägerin der zu schaffenden Caja los Andes und „lokaler Partner" der entsprechenden Entwicklungsprojekte zu werden. Beide Projekte begannen gleich mit Kleinstunternehmenskrediten ohne Goldpfander, beide sind nach wie vor extrem erfolgreich, beide sind in späteren Jahren als beste Mikrofinanzinstitutionen Lateinamerikas ausgezeichnet worden, und beide sind IPC eng verbunden geblieben; sie gehören heute zum IMI-Netzwerk. Mit dem Teilerfolg der CMAC und dem dauerhaften Erfolg der Institutionen in El Salvador und Bolivien hat sich IPC endgültig die Reputation als ein im Umgang manchmal schwieriger aber sehr kompetenter Institution builder erworben. Die beiden nächsten Schritte waren kühn, aber konsequent. Die BID suchte nach einem Projekttyp, bei dem nicht das upgrading versucht, sondern bestehende formelle Banken dazu gebracht werden sollten, das Geschäft der Kleinstunternehmensfinanzierung zu erlernen und in ihre Geschäftspolitik zu integrieren. Zuerst nannte man diesen Projekttyp downgrading, und als irgend jemand mit einem wachen Sinn für sprachliche Nuancen - wahrscheinlich wieder Manfred - merkte, dass dies doch recht negativ klingt, bürgerte sich die Bezeichnung downscaling ein. IPC entwickelte einen solchen Projekttyp und setzte ihn mit Erfolg in Paraguay und Costa Rica um. Dabei ging es zuerst darum, mit finanzieller Unterstützung der IDB geeignete Partnerbanken zu identifizieren und sie dann intensiv zu beraten. Unterstützt wurde dies durch eine großzügige Refinanzierung durch die IDB. Der zweite neue Schritt bestand darin, das Konzept der Mikrofinanzierung auf andere Erdteile zu übertragen. Das erste Projekt dieser Art war die Zusammenarbeit mit der kircheneigenen Bank CERUDEB in Uganda von 1992 an. Es gelang, diese Bank aus einer tiefen Krise herauszufuhren. Sie war völlig überschuldet und machte damals auch im laufenden Geschäft immer weitere Verluste. Die Umkehr gelang durch ein radikales downscaling, dem die dortige Bankleitung zuerst mit beträchtlicher Skepsis begegnete, nach ersten sichtbaren Erfolgen aber uneingeschränkt zustimmte und alle eigenen Mittel auf Kleinstkredite umlenkte. Nach einigen Jahren war CERUDEB profitabel geworden und diente sogar als Musterbeispiel dafür, dass sich selbst in Afrika ein profitables Kleinstkreditgeschäft aufbauen lässt. Die von IPC angestrebte Umwandlung in mehr als eine gut funktionierende „Kreditmaschine", nämlich in eine effiziente Bank für kleine Leute, die Ausbreitung auf das ganze Land und die erforderliche Neuordnung der Kapitalbasis scheiterten allerdings am Widerstand sowohl der GTZ als auch der ugandischen Bischöfe als der bisherigen Eigentümer. Die GTZ-Verantwortlichen gönnten der inzwischen massiv in Ungnade gefallenen IPC diesen weiteren Erfolg nicht und zögerten die Auszahlung einer in Regierungsvereinbarungen längst fest vereinbarten Eigenkapitalspritze für CERUDEB so lange hinaus, bis die Bank beinahe geschlossen worden wäre. Die Bischöfe sahen hingegen nur den Erfolg und sahen nicht ein, warum sie für eine Sanie103
rung auch der Kapitalbasis die Herrschaft über ihre Bank mit anderen teilen sollten. IPC zog sich zurück, sobald CERUDB auf eigenen Füßen stehen konnte und lehnte auch das Angebot der britischen Overseas Development Administration ab, die an Stelle der Deutschen die weitere Beratung von CERUDEB zu bezahlen bereit war. 3.
Die Expansion: Going East
Die Übertragbarkeit der Kredittechnologie aus Lateinamerika zeigte sich nicht nur in Afrika. Nach dem Ende der Sowjetunion und des ganzen früheren Ostblocks war IPC erst sehr vorsichtig gewesen, sich im „wilden Osten" zu engagieren. Dazu kam es erst 1994. Auf eine Empfehlung aus der IDB hin bekam IPC von der EBRD (European Bank for Reconstruction and Development), der so genannten Osteuropabank in London, den Auftrag für ein downscalingProjekt in Russland. Dieses Russia Small Business Project der EBRD war riesig. In der ersten Projektphase hatte die EBRD drei Consultingfirmen dafür verpflichtet. In den folgenden Phasen blieb IPC als einzige übrig und übernahm auch die Aufgaben der beiden anderen, die mit den schwierigen Verhältnissen nicht fertig geworden waren und die vorgegebenen Performanceziele nicht erreicht hatten. Vor der Russlandkrise von 1998 arbeitete IPC im Auftrag der EBRD in mehr als 100 Städten mit dreizehn russischen Banken zusammen. Das Gesamtvolumen der ausstehenden Kredite lag unmittelbar vor der Krise bei US$ 100 Mio. Zeitweise hatte IPC mehr als 30 Berater in Russland eingesetzt. In der Russlandkrise brachen die meisten Partnerbanken zusammen. Trotzdem gelang es dem IPC-Team, den überwiegenden Teil der ausstehenden Kredite für die EBRD zu retten. In enger Zusammenarbeit mit der EBRD wurde dafür in der Krise schnell eine neue russische Bank, die später so genannte Micro Enterprise Bank (KMB), gegründet, auf die die von den Partnerbanken an die EBRD abgetretenen Kredite übertragen wurden. Diese Bank wurde von IPCPersonal aufgebaut und geführt, bis sich auch hier - ähnlich wie bei CERUDEB - IPC im Jahre 2002 aus der Beraterrolle zurückzog, weil es nicht gelang, IMI zu einem Teilhaber der KMB zu machen. Heute ist KMB die größte auf Kleinund Kleinstkredite spezialisierte Bank in Russland. Ihre weitere Entwicklung ist aber - wieder ähnlich wie bei CERUDEB - unsicher, weil es Schwierigkeiten zu bereiten scheint, das für die mögliche und nötige weitere Expansion erforderliche Eigenkapital aufzubringen. Die gegenwärtigen Eigentümer scheinen sogar bereit zu sein, die Bank an andere zu verkaufen, was bei IPC die akute Besorgnis auslöst, dass damit die bisherige konsequente Orientierung auf die Zielgruppe der Klein- und Kleinstunternehmer aufgegeben werden könnte und KMB eine Bank wie jede andere würde oder ihre Eigenständigkeit verlieren könnte. Dafür hatte man nicht so lange so hart gearbeitet. Relativ schnell nach der Krise hat sich das weiter bestehende und weiter von IPC geleitete Russia Small Business Project wieder erholt und seinen früheren Kreditbestand erreicht und sogar übertroffen. Es funktioniert weiter nach dem 104
alten Muster, wobei die KMB eine unter mehreren Partnerbanken darstellt. Nach dem Vorbild des russischen downscaling-Projekts wurden in den späten 90er Jahren weitere solcher Projekte in der Ukraine und in Kasachstan begonnen. In der Ukraine war IPC dabei weniger erfolgreich als in Russland und später in Kasachstan. Wie es ein Mitarbeiter bei dem ersten New Development Finance Seminar in Frankfurt formulierte, schien es in der Ukraine nicht zu genügen, dass man „die Pferde zur Tränke führt": sie schienen „nicht saufen zu wollen". Im Klartext: Die ukrainischen Banken hatten lange Zeit einfach kein Interesse daran, Kleinkredite zu vergeben und die entsprechende Technologie zu übernehmen und sie in ihre Geschäftsorganisation einzubeziehen. Dies änderte sich erst, als im Jahre 2001 eine eigenständige von IPC geleitete Micro Enterprise Bank den Betrieb aufnahm und den existierenden Banken vormachte, dass Klein- und Kleinstunternehmer wirklich Kredit brauchen, nachfragen und zurückzahlen und auch unter finanziellen Gesichtspunkten attraktive Kunden sein können. Das Projekt in Kasachstan hat hingegen eine enorme Breitenwirkung erreicht und erfüllt vollkommen die Erwartungen, die die EBRD und andere Entwicklungsinstitutionen an solche Projekte stellen können. 4.
Erfolg als Anstoß, nach neuen Herausforderungen zu suchen
IPC hatte in Peru, El Salvador und Bolivien beim Aufbau von Institutionen, die es vorher nicht gegeben hatte, etwas wirklich Neues in Gang gebracht. Das hat die beteiligten Personen und das Unternehmen geprägt, und es war inhaltlich und entwicklungspolitisch erfolgreich, auch wenn man vieles aus der Rückschau noch eher suchend finden mag, und auch wenn es finanziell mehr mit Selbstausbeutung als mit finanziell erfolgreichem Unternehmertum zu tun hatte. Aber es hat den Beteiligten und den teilnehmend Beobachtenden Spaß gemacht. Dass es begeisternd war, dürfte eine der wichtigsten Triebfedern des Erfolgs gewesen sein. Die Ausrichtung auf Osteuropa bzw. die Länder der ehemaligen Sowjetunion mit den downscaling-Projekten der 90er Jahre hat IPC verändert. Das gilt nicht zuletzt für den Umstand, dass IPC mit diesen umfangreichen Projekten zum ersten Mal in der Unternehmensgeschichte in einem Maße Geld verdienen konnte, das dem beträchtlichen Renommee des Unternehmens in der professional peer group angemessen erscheint. Seit Ende der 90er Jahre erzielt IPC regelmäßig einen Jahresüberschuss, der deutlich über € 2 Mio. liegt. Dazu kommt eine beträchtliche Vergrößerung des Personalbestandes, der gegen Ende des Jahrtausends erstmals über 100 anstieg. Diese Expansion hat unter anderem die Option eröffnet, mit vielen neuen für die Osteuropaprojekte eingestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Personalreservoir aufzubauen, das auch für andere Aufgaben eingesetzt werden kann. Mit der Expansion hat sich IPC zweifellos als Unternehmen stabilisiert. Zugleich ist das Unternehmen mit der Zeit zwangsläufig reifer und konventioneller geworden. Man kann ja auch ein Unternehmen mit der Größe, die IPC in 105
dieser Zeit erreicht hatte, nicht ohne eine gut funktionierende Verwaltung fuhren. Es war auch richtig, neben C. P. Zeitinger mit Gabriel Schor, Anja Lepp und Martin Holtmann drei bewährte Mitarbeiter zu Geschäftsführern mit weitgehend eigenen Verantwortungsbereichen zu machen. Diese Entwicklung des Unternehmens hat aber nicht den Verzicht auf permanente Innovation und entwicklungspolitischer Ernsthaftigkeit gekostet. „Wir wollen alles anders und besser machen" blieb uneingeschränkt die Devise der Gruppe, die das Unternehmen leitete und prägte. Auch die erfolgreichen Projekte in Russland und Kasachstan waren absolute Innovationen der Entwicklungsfinanzierung. Aber das war wohl nicht alles. Es gibt auch Entwicklungen, die nicht nur und nicht für alle direkt und indirekt Beteiligten positiv waren. Nicht zuletzt für Manfred und mich ist durch die Entwicklung „nach Osten" ab der Mitte der 90er Jahre die persönliche Beziehung zu IPC anders und distanzierter geworden, als sie in den Anfangsjahren gewesen war. Wir waren bei dem großen Russlandprojekt nur noch Zuschauer und nicht mehr aktiv teilnehmende und miterlebende, uns mit-freuende und über Ärger und Enttäuschungen mit-leidende Beobachter. Aber was hatte sich eigentlich geändert? Vielleicht war es nur Atmosphärisches. Bei allem Erfolg schien der Elan, die Begeisterung für das Neue, das Ungewohnte nicht mehr so stark wie früher, jedenfalls wirkte die Begeisterung nicht mehr so ansteckend. Das „Wir wollen alles anders und besser machen" war, so scheint es zumindest mir, zwar zu einem verbindlichen und wirksamen Motto des Unternehmens geworden, aber mehr war es nicht mehr. Es war nicht mehr wie früher ein lustvoll ausgestoßener Kampfruf. Damit deutete sich an, dass die Zeit für einen neuen großen Schritt gekommen war - wohl vor allem für C. P. selbst, aber ebenso für viele Mitarbeiter und Mitstreiter, die sich durch den früheren begeisterten und kämpferischen Elan zu IPC hingezogen gefühlt und genau deshalb dort ihre berufliche Zukunft und oft eine emotionale Heimat gesucht hatten. IPC ist von Anfang an und bis heute als Unternehmen sehr stark auf C. P. zugeschnitten. Die Berufung weiterer Geschäftsführer hat daran nichts geändert. Er war und ist nicht nur der Gründer und Haupteigentümer des Unternehmens, sondern auch sein Inspirator und Motor. Er ist in vielem ein „dynamischer Schumpeterscher Unternehmer", denn unter seiner Führung hat IPC jahrelang und bis heute - die Standards in ihrem Metier neu definiert und verändert. Aber C.P. ist auch der pater familias „seiner Firma" und „seiner Leute" und dieser Rolle völlig verpflichtet. Insofern kann es ihn nur gefreut haben, wie erfolgreich IPC damit geworden war, ein bewährtes Muster immer wieder und mit immer mehr Erfolg anzuwenden, wie dies in den downscaling-Pro)ekten gelungen ist. Aber war das nicht doch zu viel Erfolg und zu wenig an Konflikt, Kreativität und „Schumpeterscher Dynamik"? Soweit ich sie bisher beschrieben habe, knüpfen die Projekte in der früheren Sowjetunion nicht unmittelbar an das an, was in Lateinamerika im Vordergrund gestanden und in wesentlichem Ausmaß die Identität von IPC geprägt hat, näm-
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lieh der Aufbau von neuen Finanzinstitutionen. Natürlich bedeutet auch das downscaling ein Gestalten von Institutionen, insofern ist es natürlich auch Institution building. Aber das Herz von C. P. scheint daran nicht gehangen zu haben. Ihn reizte wohl nach wie vor das wirklich Neue. Bei allem Unternehmertum und aller Fürsorglichkeit war für ihn IPC immer auch die Startrampe, von der aus er Raketen starten lassen wollte. Genau dazu kam es bald wieder: zu einer Neubelebung des eigentlichen Institution building, die an die Erfahrungen in Peru, Bolivien und El Salvador anknüpft. Nicht verwunderlich, dass dabei Manfred und ich wieder wie früher inhaltlich und persönlich stark engagiert waren. III.
Internationale Micro Investitionen AG: Der Institutionenaufbau auf der Geberseite
1.
Die Intentionen hinter der IMI-Gründung
Mit der Gründung der Kapitalbeteiligungsgesellschaft Internationale Micro Investitionen AG (IMI) realisierte sich ein lange gehegter Wunsch, der aus Frustrationen über die Beschränkungen entstanden war, die der Status von IPC als „Nur-Beraterin" mit sich brachte. IPC war zwar faktisch schon in den frühen Jahren die treibende Kraft beim Zustandekommen der Projekte und auch später beim Aufbau der Mikrofinanzinstitutionen gewesen, doch das war zumindest aus der Sicht der Entwicklungsinstitutionen wie der GTZ mit der formellen, rein vertraglich vorgesehenen Rolle einer Beraterin nicht vereinbar. Was IPC anerkanntermaßen gut konnte und für entwicklungspolitisch richtig hielt, musste gegenüber den Auftraggebern immer mehr oder weniger kaschiert werden. Dabei hätte es eigentlich leicht sein müssen, sich mit genau diesen Leuten, die plötzlich den „Interventionismus" von IPC als nicht mehr hinnehmbar ansahen, offen und direkt darüber zu verständigen, wie viel „Interventionismus" wirklich nötig und sachgerecht war und ist, um die immer wieder ins Feld geführten entwicklungspolitischen Ziele des Finanzsystemaufbaus und der Klein- und Kleinstbetriebsfinanzierung zu erreichen. Nur kam es zu diesem Dialog in den 90er Jahren nicht. Er wurde von IPC immer wieder angeboten, ja geradezu aufgedrängt, aber von der anderen Seite nicht aufgenommen. Manfred und ich waren Zeugen und Teilnehmer vieler solcher gescheiterter Versuche. Auch in den Projekten selbst erwies sich die Position von IPC als „NurBeraterin" als problematisch, zumal wenn die für die lokalen Partnerinstitutionen sprechenden Personen sich bei der deutschen Entwicklungsbürokratie beschwerten, sie seien von IPC übergangen worden. Als Sachverhaltsbehauptung stimmt dieser Vorwurf auch: sie wurden in der Tat gelegentlich übergangen. Doch dies geschah immer nur dann, wenn sie trotz sehr langer Diskussionen auf Positionen beharrten, die im Gegensatz zu den viel zitierten entwicklungspolitischen Zielen und dem vor Projektbeginn zwischen lokalen Partnern, Beratern und Entwicklungshilfegebern Vereinbarten standen, und wenn dieses Beharren erkennbar nur der Sicherung der eigenen Positionen diente. Insoweit stimmte die 107
Wertung aus entwicklungspolitischer Sicht nicht. Denn man muss sehen, dass in den Projekttyp des wirklichen upgrading ein explosives Konfliktpotenzial eingebaut ist. „Wirkliches upgrading" meint Fälle, in denen es bereits vor Projektbeginn eine lokale Institution gegeben hat, die erst gestärkt und dann in eine formale Mikrofinanzinstitution umgewandelt werden sollte. In diesen Institutionen gibt es immer Gründer(innen), Führer(innen) und andere Personen, die sich als Eigentümer der Institution verstehen oder zumindest so verhalten und manchmal aus guten und manchmal mit nicht so guten Motiven heraus die im Projekt vorgesehene Entwicklung „ihrer" Institution über Effizienzsteigerung, Wachstum und Formalisierung behindern, wenn diese ihre Position schwächen würde. Eigentlich ist das verständlich, aber IPC hatte es viel zu lange nicht erkannt. Erstaunlicher ist schon, dass es auch immer wieder Entwicklungsbürokraten in den Industrieländern gibt, die den „eingesessenen lokalen Machthabern" im Konfliktfalle fast von vornherein Recht geben und sich dabei wenig um frühere eigene Pläne kümmern. Alle Fälle in der IPC-Geschichte, bei denen das aus IPC-Sicht letztlich angestrebte Ziel der Schaffung einer formellen Mikrofinanzbank nicht erreicht wurde, sind an diesem Problem gescheitert. Aus solchen Erfahrungen entstand insbesondere bei C. P. selbst der Wunsch, entweder wirkliche und verlässliche Partner unter den so genannten donors zu haben, die auch bereit und fähig zu Konflikten sind und für die von ihnen finanzierten Institutionen und deren Kunden eintreten, auch wenn dies andere stört, oder aber selbst die zusätzliche Macht zu bekommen, die aus einer Position als Miteigentümer erwachsen würde. Damit war ein Tabuthema berührt: Wer soll eigentlich das „Eigentum" an einer Entwicklungsfinanzinstitution und Macht haben, Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen? Es ist ja auch a priori nicht klar, wer „Eigentümer" einer Finanzinstitution ist, die, als kleine NGO entstanden, mit massivem Einsatz von ausländischem Geld „aufgewertet" worden ist. Eine NGO in der Rechtsform einer Stiftung oder eines Vereins ist allein von der rechtlichen Konstruktion her kein Objekt, an dem der Gründer oder eine aktuelle Präsidentin ein rechtliches Eigentum geltend machen können, und ebenso wenig schafft die massive Zuführung von Entwicklungshilfemitteln einen Eigentumstitel. Bei der Frage von Eigentum und Macht handelt es sich aber nicht um eine juristische Frage, sondern um ein Kernproblem der Institutionengestaltung, denn es ist überaus wichtig, dass es jemanden gibt, der die Rolle eines Eigentümers übernimmt und ausfüllt: für den Fortbestand der Institution und für ihre Fortentwicklung verantwortlich zu sein, auch wenn dies Konflikte impliziert. 1994 haben C. P. und ich auf zwei Tagungen zur Mikrofinanzierung die These vertreten, dass das größte langfristige Interesse an der Existenzerhaltung und Fortentwicklung der „kreditvergebenden NGOs" und der dauerhaften Ausrichtung an den entwicklungspolitischen Zielen eigentlich die donors haben müssten, und dass man bei ihnen auch die nötige Kompetenz dafür voraussetzen müsste. Unsere daraus abgeleitete Devise Donors as Owners war keine Feststellung und auch nicht aus der Beobachtung abgeleitet, dass in den meisten rele108
vanten Fällen die donors viel mehr investiert haben als eventuelle Gründer, sondern sie war als Appell gemeint: Die Entwicklungshilfeinstitutionen sollten sich wie verantwortungsbewusste Eigentümer verhalten.1 Aus heutiger Sicht erscheint diese These naiv. Sie übersieht, dass die donors selbst Bürokratien sind, in denen Menschen agieren, die selbst wechselnde Positionen innehaben und in der Regel mehr an der eigenen Karriere interessiert sind als an dem Wohl „ihrer" Institutionen und deren Kunden. Auch die Praxis zeigte bald, dass donors keine guten owners werden können. Umso größer war das Interesse von IPC, selbst diese Rolle zu übernehmen. Der Wechsel von der „Nur-Beraterin" zur Miteigentümerin begann 1996. Nach dem Krieg im damaligen Jugoslawien und dem Friedensabkommen von Dayton für Bosnien-Herzegowina war die Idee entstanden, im NachkriegsBosnien eine Micro Enterprise Bank aufzubauen. Upgrading kam nicht in Betracht, weil es dort keine geeignete Institution gab. Eine Gruppe von donorsinvestors, unter ihnen die Weltbank-Tochter IFC und die EBRD, wollte IPC mit dem Aufbau einer solchen Bank als greenfield investment betrauen. In der für die IFC charakteristischen Denkweise von Investmentbankern schlug einer ihrer Vertreter vor, das beauftragte Consultingunternehmen solle sich auch am Eigenkapital der neuen Bank beteiligen, damit es einen Erfolgsanreiz habe. Der IFCVertreter argumentierte damals, dass man statt von einem möglichen conflict of interest eher von einer Interessenangleichung reden sollte, und setzte sich letztlich mit seiner Idee durch. IPC nahm die „Einladung", Anteilseigner zu werden, gern an. Einen zusätzlichen finanziellen Anreiz brauchte IPC allerdings nicht, denn schließlich galt es für sie, den in Lateinamerika erworbenen Ruf als exzellenter institution builder zu wahren, was faktisch zugleich einen höheren finanziellen Einsatz und Anreiz darstellte als die geforderte Kapitalbeteiligung. Das „Beteiligungsmodell" funktionierte in Bosnien gut. Dies legte für alle Beteiligten nahe, aus der vermeintlichen Ausnahme eine Regel zu machen. Nur konnte IPC damals nicht das Geld aufbringen, um beträchtliche Anteile an den anderen geplanten Mikrofinanzbanken in Osteuropa zu erwerben. Dies führte zu der Idee, eine Beteiligungsgesellschaft zu gründen, an der auch andere Kapitalgeber beteiligt wären. So wurde 1998 in Frankfurt IMI als Aktiengesellschaft nach deutschem Recht mit einem Eigenkapital von etwa 700.000 € gegründet und in Personalunion vom Management von IPC gefuhrt. Zu den ersten Aktionären gehörten neben IPC eine kleine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, über die sich IPC-Mitarbeiter beteiligen konnten, die Deutsche Entwicklungsgesellschaft (DEG) und die bolivianische Stiftung PROCREDITO, die einst als Vehikel zur Schaffung der Mikrofinanzbank in Bolivien gegründet worden war. C. P. hatte vermutlich damals schon den Plan, aus IMI eine größere Organisation zu machen. In schneller Folge wurden neue Beteiligungen eingegangen. Für 1
Vgl. Schmidt/Zeitinger (1994) und die Zusammenfassung davon in Schmidt/Zeitinger (1998).
109
die Aktionäre der IMI bedeutete dies, dass sie immer wieder aufgefordert waren, ihr Kapital zu erhöhen, und wegen der vielleicht verständlichen Skepsis einiger Eigentümer gegenüber den weit reichenden und optimistischen Plänen von C.P. weckte dieses Ansinnen nicht nur Begeisterung. Zudem erweiterte sich der Kreis der Aktionäre. Ein wichtiger IMI-Partner wurde zu einem frühen Zeitpunkt die holländische DOEN-Foundation, die bis heute mit großem Nachdruck die entwicklungspolitische Mission der IMI unterstützt. Alle Beteiligten werteten es als einen großen Erfolg, dass im Jahre 2000 auch die IFC einen Anteil an IMI erwarb. Ebenso wie die spätere Aufnahme der KfW in den Aktionärskreis verlieh diejenige der IFC der IMI nicht nur Finanzkraft, sondern auch zusätzliches Ansehen und ließ auf politischen Schutz im Falle von Konflikten mit lokalen Instanzen hoffen. Welche Regierung möchte es sich schon mit der Weltbankgruppe oder der KfW verderben? Die folgende Tabelle 1 zeigt die heutige Aktionärsstruktur von IMI mit den aktuellen Kapitalanteilen. Sie zeigt auch das Jahr, in dem die betreffende Institution IMI-Aktionärin geworden ist, um deutlich zu machen, dass in den ersten beiden Jahren die Aktionäre von IMI mit einer Ausnahme private bzw. nichtstaatliche Organisationen waren. Das änderte sich bald, und es ergab sich in etwa eine Gleichverteilung von privaten bzw. nicht-staatlichen und staatlichen bzw. internationalen Aktionären; eine Art Gleichgewicht, das allen Beteiligten sinnvoll erschien, um den eigentlich privaten Charakter der Gesellschaft zu erhalten. Tabelle 1: Die Aktionärsstruktur der IMI-AG IMI-Aktionäre
Jahr der ersten Beteiligung
Aktueller Anteil am IMI-Kapital (% August 2004)
IPC GmbH
1998
21
IPC-Invest GbR
1998
4,9
DOEN-Foundation
1998
28,5
Pro Credito
1998
4,1
1998 bzw. 2003
9,8
IFC
2000
10,8
FMO
2001
10
BIO
2002
5,0
Fundasal
2004
3,5
Andromeda Fund
2004
1,2
responsability
2004
1,2
KfW-Group (DEG & KfW)
Quelle: Eigene Darstellung.
110
2.
Die Entwicklung der IMI im Zeitablauf
IMI wuchs schnell, nicht nur was den Aktionärskreis anging, sondern auch auf der Aktivseite, und natürlich bedingte das eine das andere. In rascher Folge wurden neue Beteiligungen erworben. IMI wurde typischerweise ein Minderheitsaktionär mit einem Anteil zwischen 10% und 25%. Zumal bei den Banken in Osteuropa waren dies Beteiligungen an neuen Institutionen, die von IPC als Consultant im Auftrag der internationalen donors-investors gegründet, von denen einige zugleich IMI-Aktionäre waren. Zudem waren die neuen Banken mit technical assistance (TA) ausgestattet, aus der auch die IPC-Berater finanziert wurden, die die neue Bank aufbauten und leiteten. Diese TA wurde entweder von einem der Gesellschafter einer solchen neuen Bank selbst aufgebracht oder aus Quellen finanziert, die ein Teilhaber für solche Zwecke erschlossen hatte. Für eine Anfangsphase von zwei bis drei Jahren waren damit weder die Banken selbst noch IMI mit den wirklichen Anlaufkosten der Neugründungen belastet, und IPC hatte seine Beratungsleistungen zu branchenüblichen Sätzen verkauft. Bei den neu gegründeten Banken in Osteuropa waren die Aktionärsstrukturen recht ähnlich. Unter den Aktionären befanden sich neben IMI internationale Finanzinstitutionen wie FMO, IFC und DEG, die zugleich auch IMI-Anteile hielten, sowie EBRD und Commerzbank, die nicht an IMI beteiligt waren. Eine zweite Gruppe von IMI-Beteiligungen waren die in Lateinamerika. IMI erwarb Anteile an den Mikrofinanzbanken in Bolivien und El Salvador, die IPC vor Jahren aufgebaut hatte. Die dritte Gruppe umfasst Beteiligungen an neuen Banken, an denen eine lokale Bank einen beträchtlichen Anteil hält (Mosambik und Haiti) und einen Fall (Nikaragua) einer Beteiligung an einer bereits existierenden, aber nicht ehemals IPC-initiierten Institution. Tabelle 2 enthält die Liste der IMI-Banken, jeweils mit dem Jahr und dem Anfangsbetrag der Beteiligung und dem aktuellen Anteil von IMI am Eigenkapital der Banken. 3.
Kleinstkreditvergabe, Mikrofinanzbanken und IMI als Institutionen und Anreizsysteme 2
Schon sehr früh hat IPC erkannt, dass die Mikrofinanzierung zumal in Ländern mit schwach ausgebildeten Rechtssystemen im Kern ein Anreizproblem darstellt. Eine Mikrofinanzinstitution muss ihre Kredite so gestalten und ihre ganze Geschäftspolitik darauf ausrichten, dass es Anreize für die Kreditnehmer gibt, ihre eingegangenen Verpflichtungen auch dann zu erfüllen, wenn sie nicht wirklich mit rechtlichen Sanktionen rechnen müssen. Das prägt die Kredittechnologie. Diese beruht bei den IPC-IMI-Banken auf einer sorgfaltigen Auswahl der Kreditnehmergruppen, auf der Prüfung der erwarteten Einkommensströme des Schuldnerhaushalts in jedem einzelnen Fall, auf einer generell vorsichtigen Kreditbemessung und auf einer konsequenten Eintreibung. Verantwortungsvoll ver2
Dieser Abschnitt lehnt sich an Schmidt/Tschach (2003) an.
111
g e b e n e K l e i n s t k r e d i t e d ü r f e n d i e S c h u l d n e r n i c h t in d i e Ü b e r s c h u l d u n g t r e i b e n , aus der nur die RückZahlungsverweigerung einen A u s w e g darstellen würde. T a b e l l e 2:
Die Beteiligungen der IMI-AG (in E u r o o d e r U S - D o l l a r j e w e i l s w i e a n g e g e b e n ) Erste IMiBeteiligung
Aktuelle Situation (August 2004) Eingez. EK (Mio. $ bzw. €)
IMI EKBeteiligung (Mio. $ bzw. €)
Bank
KreditBetrag Ptf. Zeit(Mio. $ (Mio. $ punkt bzw. €) bzw. €)
Caja Los Andes Bolivia (USD)
03/99
0,4
101,2
10,9
5,5
68,7
MEB B&H (EUR)
04/99
0,5
56,4
8,0
2,6
33,6
MEB Kosovo (EUR)
12/99
0,4
98,3
10,1
1,3
16,7
MCN Haiti (USD)
01/00
0,4
6,2
2,3
0,4
25,0
FEFAD Albania (EUR)
02/00
0,8
74,2
11,8
3,6
32,5
MEC Moldova (USD)
02/00
0,2
9,7
0,7
0,2
38,4
Financière Confia Nicaragua (USD)
07/00
0,5
36,4
4,6
4,1
81,3
NovoBanco Mozambique (USD)
10/00
0,4
5,8
3,4
0,9
25,0
MFB Ukraine (USD)
11/00
0,5
88,6
14,3
3,2
20,0
MBG Georgia (USD)
01/01
0,2
56,9
15,8
5,9
39,0
Financiera Calpiä El Salvador (USD)
01/01
2,4
82,2
12,6
3,6
25,1
S FE Ecuador (USD)
03/01
1,0
35,4
8,6
6,3
73,2
ProCredit Bulgaria (EUR)
06/01
1,2
119,5
17,6
3,6
20,3
MIRO Bank Romania (USD)
01/02
0,3
51,7
14,0
1,6
11,0
IMI Kapitalanteil (in %)
Sikhaman Ghana (USD)
04/02
0,8
3,2
1,9
0,7
35,0
MFB Serbia (EUR)
05/02
0,5
104,4
10,5
2,2
16,7
ProCredit Bank, Macedonia (EUR)
05/03
1,6
16,5
6,0
1,6
25,8
ProCreditBank, Angola
4/04
4,9
NA
4,9
2,1
42,9
Quelle: Eigene Darstellung
112
Loan officers müssen dazu gebracht werden, keine später gefährdeten Kredite zu vergeben und sich intensiv um die Rückzahlung zu bemühen. Ein Kreditsachbearbeiter muss von der Kreditprüfung bis zur völligen Rückzahlung für die Kredite seiner Kunden verantwortlich sein, und er muss entsprechend ausgebildet, kontrolliert und bezahlt werden. Gerade für die Kreditsachbearbeiter müssen und können starke finanzielle Anreize gesetzt werden, so dass sie viel Kredit vergeben, geringe Ausfallraten haben und vor allem auch viele kleine Kredite vergeben. Ergänzend müssen sie aber auch die Möglichkeit haben und sehen, in ihrer Organisation aufzusteigen, wenn sie sich dauerhaft bewähren. Die Kredittechnologie ist damit eine wichtige Determinante der internen Organisation. Doch das genügt nicht. Ein weiterer Anreiz, und je nach dem Entwicklungsstand des Finanzsystems eventuell sogar der wichtigere Anreiz zur Kreditrückzahlung, ergibt sich aus der Erwartung, später bei Bedarf von der Bank weitere Kredite zu bekommen. Es muss für die Kreditnehmer wichtig sein, durch pünktliche und volle Verzinsung und Rückzahlung ihr Standing bei „ihrer" Bank auszubauen. Dies erfordert nicht nur, dass die Bank die entsprechenden Daten ihrer Kunden sammelt, sondern sicherstellt, in der Zukunft, wenn Kreditnehmer wegen neuer Kredite zurückkommen, noch zu existieren und zu funktionieren. Sie muss auf ihre Stabilität und dafür wiederum auf ihre Profitabilität bedacht sein, und Stabilität und Profitabilität müssen auch für die Kreditnehmer als Kunden erkennbar sein. Dieselbe Überlegung gilt auch für die Wirksamkeit der Anreize für Mitarbeiter, die auf dauerhafte Beschäftigung und Aufstiegschancen hoffen und nicht zuletzt deshalb effektiv und effizient arbeiten. So prägt die Kredittechnologie nicht nur die interne Organisation, sondern die gesamte Geschäftspolitik und macht sustainability nicht nur zu einem Ziel, sondern zugleich zu einem Mittel, um den Erfolg der gesamten Institution auf Dauer zu sichern. Dieses zirkuläre Verhältnis von Zielen und Mitteln macht die Systemhaftigkeit der Mikrofinanzierung aus und ist da - wie auch in anderen Zusammenhängen - eine Basis des Erfolges. Dies setzt sich auf der Ebene der Eigentümer und der Governance-Struktur fort. Eigentümer, seien sie nur Eigentümer im wirtschaftlichen Sinne oder auch im juristischen Sinne, müssen ihre Institution so führen, dass es wirksame Anreize und wirkliche Möglichkeiten für die Mitarbeiter und Kunden gibt, sich im eigenen Interesse so zu verhalten, wie es dem Interesse der Institution entspricht. Das stellt, wie C. P. und ich seinerzeit mit unserer These von den donors as owners argumentiert hatten, hohe Anforderungen an diejenigen, die Eigentümerfunktionen ausüben und eine Institution führen. Diejenigen donors, die in den von IPC geprägten Banken eine solche Rolle hätten spielen können und unserer Einschätzung nach auch spielen sollen, sind der Erwartung allerdings nicht gerecht geworden. Möglicherweise haben sie die Zusammenhänge eines solchen Systems von miteinander verbundenen Anreizen nicht überschaut oder die Mühe und Kosten gescheut, die ihre Aufgabe mit sich bringen würde. Vermutlich waren aber einfach ihre Anreize, sich als gute Eigentümer zu verhalten, nicht stark 113
genug. In einer solchen Situation nimmt ein so fragiles Gebilde wie eine Mikrofinanzbank leicht Schaden. Es gibt genügend Beispiele, um dies zu belegen, etwa das von Calpiä in El Salvador vor der „Übernahme" durch IMI - und diese Erfahrung ist ein wesentlicher Grund, warum IPC die Rolle und auch den rechtlichen Status einer Eigentümerin gesucht und sich IMI dafür als Instrument geschaffen hat. Nun ist in dem System, das IPC zusammen mit IMI und den anderen IMIAktionären und den Banken und deren Aktionären bildet, auch mit Anreizproblemen zu rechnen. Die starke Rolle von IPC, die in den meisten IMI-Banken das Management stellt und der dominierende Faktor innerhalb von IMI war, wirft die Frage nach der Kontrolle auf: Wie kann man verhindern, dass IPC und speziell C. P. das ganze System letztlich nur nutzt, um ihre bzw. seine eigenen Ziele zu verfolgen, ganz gleich ob diese Ziele eher finanzieller Natur sind oder, was man bei C. P. wohl eher zu furchten hätte, darin bestehen, von Engagement, Ideologie und Idealismus getrieben ein Imperium aufzubauen. Solche Befürchtungen hatten einige der IMI-Aktionäre, und sie betrafen - zu unterschiedlichen Zeitpunkten - sowohl die möglichen finanziellen Interessenkonflikte wie die befürchtete Neigung von C.P. zu empire building und Überoptimismus. C. P. bzw. IPC hatten in der Tat eine sehr starke Stellung, und einige IPC-Aktionäre bzw. Aufsichtsratsmitglieder hatten lange nicht damit gerechnet, dass die optimistischen Erwartungen wirklich aufgehen könnten. Möglicherweise waren die Befürchtungen auch deshalb so ausgeprägt, weil man, durchaus richtig, erkannte, wie wichtig die Rolle von IPC für IMI und erst recht für die Banken war und nach wie vor ist. Das schuf eine starke Abhängigkeit, denn eine Möglichkeit, C.P. zu bremsen bzw. IPC zu sanktionieren, wenn sie sich aus der Sicht der anderen Beteiligten nicht richtig verhalten würden, bestand faktisch nicht mehr: Man konnte IPC nicht einfach „feuern", denn dann wären die Investitionen in IMI und auch die Banken akut gefährdet gewesen. Waren und sind die anderen also machtlos und ausgeliefert? Damit ist die Govemance des IMI-Systems angesprochen. IPC hat nach meiner Interpretation in den frühen Jahren nach der Gründung der IMI ein komplexes System der Bindungen und der Kontrollen geschaffen und sich ihm konsequent unterworfen. Sie hat den anderen Beteiligten zahlreiche Möglichkeiten geboten, IPC zu sanktionieren oder zumindest zu bremsen, ohne dass dies den Zusammenbruch des ganzen Systems zur Folge gehabt hätte. Dafür war es wichtig, dass die Aktionäre von IMI zugleich Aktionäre der einzelnen Banken waren und als solche Sitz und Stimme sowohl im Aufsichtsrat von IMI wie auch in den Aufsichtsräten der einzelnen Banken haben und dort jeweils detaillierte Informationen bekommen. Sie hatten damit viele Möglichkeiten zu dosierten Eingriffen. Auf der Ebene der IMI ist nicht nur die Zustimmung des Aufsichtsrats für alle Investitionen erforderlich, sondern regelmäßig auch zu Kapitalerhöhungen. Die Verweigerung der Zustimmung zu beidem kann IPC und ihren eventuellen Übereifer oder Überoptimismus effektiv bremsen. Zudem setzt die Gründung 114
einer neuen Bank voraus, dass sich dafür Teilhaber finden und Institutionen in dem Netzwerk der Beteiligten die erforderlichen Startsubventionen von etwa € 3 Mio. selbst aufbringen oder zumindest deren Aufbringung organisieren. In vielen Fällen kamen diese Subventionen aus EU-Mitteln, die die EBRD verwaltet. Es gibt also sozusagen drei Türen, durch die jedes Vorhaben gehen muss die Entscheidung im Aufsichtsrat und die Kapitalaufbringung bei IMI, die Gründung und die Zustimmung im Kreis der Gesellschafter bzw. im Aufsichtsrat der jeweiligen Bank und schließlich die Bereitstellung der TechnicalAssistance-Mittel. Für diese drei Türen gibt es wiederum Schlösser, für die jeweils mehrere gut verteilte Schlüssel gebraucht werden. Das IPC- bzw. IMIManagement muss deshalb immer viel inhaltliche Überzeugungsarbeit gegenüber vielen Seiten für neue Projekte und gute Arbeit bei den laufenden Projekten leisten, um die Unterstützung für jedes neue Vorhaben zu bekommen. Die anderen Beteiligten sind somit keineswegs machtlos. Sie haben genügend kleinere Geschütze und brauchen nicht besorgt zu sein, dass sie das große Geschütz, die Kanone des Rauswurfs von IPC, wirklich nicht einsetzen können. Man kann den Eindruck gewinnen, dass mit diesem komplizierten und so durchaus gewollten Governance-System die Tradition aus Peru wieder auflebte, denn bei den CMAC gab es ein ähnlich subtiles System. Beide funktionieren bzw. funktionierten aber nur, wenn die Möglichkeiten der Kontrolle und Steuerung kompetent genutzt werden: Wenn überzeugende Argumente und gute Leistungen gefordert werden können, faktisch gefordert werden und auch erbracht werden, muss die erhoffte Kooperation auch zustande kommen. Mit Obstruktion kann dieses System nicht fertig werden. Diejenigen, die sich zu Recht als Kontrolleure der Akteure verstehen, müssen ihre Macht im Interesse der gemeinsamen Sache gebrauchen. Im Falle von Peru ist die Zusammenarbeit genau daran gescheitert; Argumente und Leistungen zählten von einem gewissen Punkt an nicht mehr. Hinzu kommt ein Weiteres: Das System beruht darauf, dass das jeweils zu steuernde System nicht zu groß wird. Denn wenn dies der Fall ist, schaffen es die Beteiligten einfach nicht mehr, zugleich an allen Türen zu stehen und klug und fair und auf der Basis der Informationen aus den verschiedenen Quellen zu entscheiden, was sie mit ihren Schlüsseln, ihrer Macht zu blockieren, anfangen sollen. Gleichzeitig sind die Anreizsysteme fiir die potenziellen Kreditnehmer und die Mitarbeiter der Banken auf ein starkes Wachstum ausgelegt. Diese Überlegung wie auch die Erfahrung aus Peru mit der „Überkomplexität" der Konstruktion gibt Anlass, das IMI-System zu vereinfachen und es dadurch zu stabilisieren und zu sichern.
115
Die Expansion von IMI und die bisherigen Ergebnisse 3
4.
Wie schon Tabelle 2 zeigt, ist IMI derzeit an 18 Banken beteiligt, zehn davon in Osteuropa, fünf in Lateinamerika und drei in Afrika. Die Anzahl der Banken im Netzwerk ist in den Jahren 2003 und 2004 langsamer gewachsen als in den Jahren davor. Gleichzeitig sind die Banken im Netzwerk im Durchschnitt stärker gewachsen als früher. Das liegt daran, dass der Anteil der jüngeren und deshalb schneller wachsenden Banken in Osteuropa gestiegen ist. Die 18 Banken haben voraussichtlich zu dem Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags zusammen einen Kreditbestand von einer Milliarde Euro. Das Wachstum von über 50% pro Jahr betrifft gleichermaßen das Kreditvolumen wie die Zahl der ausstehenden Kredite, so dass die durchschnittliche Kredithöhe bei € 3.000 für neu gewährte Kredite und knapp über € 2.000 für ausstehende Kredite konstant ist. Das Wachstum der Institutionen und des Netzwerks hat nichts an der primären Ausrichtung der Banken auf die Zielgruppe der Klein- und Kleinstbetriebe geändert, auch wenn man sich inzwischen intensiv darum bemüht, auch den Markt für kleine und mittelgroße Kredite zu erschließen. Die Banken beschäftigen derzeit etwa 6.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in den Hauptverwaltungen und ca. 300 Filialen der IMI-Banken tätig sind. Die „Qualität" des Kreditportefeuilles ist besser denn je, der Anteil der Kredite im gesamten Netzwerk, bei denen irgendeine Zahlung seit mehr als 30 Tagen im Verzug ist, liegt unter einem Prozent, und der Ausfall, gemessen an den vorgenommenen Abschreibungen, ist mit weniger als einem halben Prozent deutlich geringer als beispielsweise im gesamten deutschen Bankensystem. Die Rückstellungen für mögliche Kreditausfalle liegen mit etwa € 25 Mio. weit über dem Betrag von € 10 Mio. der rückständigen Kredite. Die Differenz stellt einen Eigenkapitalpuffer dar. Schließlich sei auch ein kurzer Blick auf die Ertragssituation geworfen. Bei den neuen Banken ist die Zeit, die es erfordert, bis sie ihre gesamten laufenden Kosten aus den laufenden Erträgen decken, auf weniger als zwei Jahre gefallen. Nach drei Jahren sind die Anlaufverluste gedeckt, und es werden wirkliche Gewinne erzielt. Dabei gibt es allerdings von Fall zu Fall und von Region zu Region beträchtliche Unterschiede. In ihrer Gesamtheit sind die Banken profitabel. Die durchschnittliche Rendite auf das bilanzielle Eigenkapital bei allen Banken liegt im Jahr 2004 bei 13%, wenn man als Gewichte das jeweilige Eigenkapital nimmt, und über 15% wenn man den von IMI daran gehaltenen Anteil verwendet. Da IMI natürlich auch eigene Kosten hat, liegt die Eigenkapitalrendite von IMI niedriger, und zwar bei etwa 10%. Wohl kaum jemand hätte bei der Gründung der IMI und noch lange danach eine solche Entwicklung erwartet. Das gilt gleichermaßen für die Zahl der Banken im Netzwerk, für die Kreditportefeuilles und für die Ertragslage. Immer 3
Alle Angaben beruhen auf internen Daten der IMI AG. Die meisten von ihnen sind aber auch auf der IMl-Homepage www.imi-ag.de verfugbar.
116
wieder mussten Planungen nach oben korrigiert werden, und dies obwohl IMI ihre Planungsrechnungen nicht auf vorsichtige, sondern auf realistische Prognosen aufgebaut hatte. Inzwischen ist IMI auch als Unternehmen wertvoll geworden. Parallel zu dem Anstieg der Kreditportefeuilles ist bei den einzelnen Banken auch das Eigenkapital angestiegen. Allein dies erforderte zusätzliche Investitionen von IMI, und dies machte wiederum eine Serie von Kapitalerhöhungen bei IMI selbst nötig. Das eigene Aktienkapital von IMI liegt im Oktober 2004 bei etwa € 65 Mio. und wird demnächst weiter steigen. Die nächsten Kapitalerhöhungen sind schon geplant und faktisch beschlossen. Im Jahre 2004 konnte IMI zum ersten Mal „richtig private" Investoren gewinnen: Zwei Schweizer Investmentfonds haben - ebenso wie eine Stiftung aus El Salvador, die schon lange mit IPC und IMI zusammengearbeitet hat, kleine Anteile erworben und dabei ein beträchtliches Agio akzeptiert. Zudem ist der Zusammenhalt zwischen den Banken sichtbar gesteigert worden. Die meisten von ihnen haben im letzten Jahr den gemeinsamen Namen ProCredit Bank übernommen. 5.
Der Kampf um IPC und IMI und die Umstrukturierung der Gruppe
Die stürmische und unerwartet positive Entwicklung von IMI hat sich auch auf das Verhältnis zwischen den Aktionären ausgewirkt, und dies keineswegs nur positiv. Was einige Investoren ursprünglich als ein Engagement angesehen haben dürften, das auf absehbare Zeit finanziell nicht interessant werden könnte und vor allem ihr Ansehen als innovative und sozial orientierte Organisationen fordern sollte, ist inzwischen zu einem „richtigen" wertvollen Investment geworden. Das weckt die Neigung, auch um die Verteilung der Früchte der gemeinsamen Arbeit zu streiten. 2003 ist in dieser Hinsicht für IPC und IMI ein schwieriges Jahr gewesen. Anscheinend erkannten erst dann einige der Investoren, dass die IPC-Berater in den neuen Banken nach dem - inzwischen fast überall erfolgten - Auslaufen der Anfangssubventionen von den Banken selbst bezahlt wurden. Das fließt natürlich auch in deren oben genannte Ergebnisse ein, vermindert aber rein quantitativ ihre Rentabilität nicht wesentlich. Die Ersetzung der technical assistance durch Zahlungen der Banken an IPC war so vorgesehen gewesen und in jedem einzelnen Fall im Aufsichtsrat der betreffenden Bank beschlossen worden. Trotzdem hat es einige überrascht und wurde zu einem Konfliktpunkt. Plötzlich war von einem conflict of interest statt von Interessenangleichung die Rede, obwohl sich sachlich alles nur zum Besseren verändert hatte. Diese „Entdeckung" führte zu dem Vorschlag, ja geradezu der Forderung, die IPC-Mitarbeiter in den Banken sollten sich entscheiden, ob sie in Zukunft für IMI statt für IPC arbeiten wollten. Dass diese etwa 40 Personen für das Unternehmen IPC ein wertvolles asset und eine wichtige Ertragsquelle darstellen, wurde dabei nicht thematisiert. Die Idee einer Entschädigung für IPC wurde kaum erwähnt. Faktisch sollte IMI die besten der IPC-Mitarbeiter abwerben. 117
Wäre dies geschehen, hätte IMI als das Unternehmen, das von IPC initiiert worden ist, der „Mutter" IPC einen vermutlich nicht mehr auszugleichenden Verlust, vielleicht sogar den Todesstoß zugefugt. All dies ist umso eigenartiger, als die letzten Jahre sehr deutlich gemacht hatten, wie positiv es für IMI und die Banken war, dass die IPC-Unternehmenskultur auch auf IMI übertragen werden konnte. Für den fürsorglichenpater familias C. P. und viele seiner alten und neuen Mitstreiter war diese Aushöhlung von IPC nicht akzeptabel. Fast wäre IMI an diesem Konflikt zerbrochen. Es gab auch andere Probleme. Zwei seien hier erwähnt. Einige IMI-Aktionäre aus dem Kreis der internationalen Finanzinstitutionen, die auch Aktionäre der einzelnen Banken sind, sahen sich nicht mehr in der Lage, ihre Rolle in der Governance der Banken so zu spielen wie vorher und wie es dem oben erläuterten Konzept entspricht, weil das Bankennetzwerk zu groß geworden war. Statt hochrangiger directors, die in dem gesamten Netzwerk eine wichtige übergreifende Rolle spielen und dadurch den Gesamtzusammenhang verstehen, schickten sie jeweils verschiedene Personen in die lokalen Aufsichtsräte, die keinen Überblick über das Ganze haben konnten. Außerdem erwies sich das Problem der Finanzierung des unerwartet starken Kreditwachstums bei den Banken als gravierend. Es muss j a finanziert werden, und wegen interner Risikobegrenzungen konnten mehrere institutionelle IMI-Investoren an die IMI-Banken nicht noch mehr Kredite vergeben, als sie ohnehin schon gegeben hatten. Umso wichtiger wurde es, dass IMI überschüssige Einlagen aus einigen Banken an andere Banken kanalisieren könnte, die viel mehr an Krediten zu vergeben in der Lage wären, als sie an Einlagen mobilisieren können. Dies ist aber aufsichtsrechtlich nicht erlaubt, solange IMI in den betroffenen Banken keine Anteilsmehrheit hält. Es war also nötig, das gesamte Netzwerk und insbesondere die Beziehungen zwischen IMI und IPC und die Struktur der Beteiligungen umzustellen. Dafür wurde lange an Plänen gefeilt. Als Erstes führten diese Verhandlungen zu einem Management Service Agreement zwischen IMI und IPC, das zwar faktisch nichts veränderte, aber die bestehende Beziehung erstmals richtig formalisierte. Der zweite Teil ist ein im Februar 2004 vereinbarter Plan, die bisherigen direkten Beteiligungen der internationalen Finanzinstitutionen an einer Reihe von Banken durch indirekte Beteiligungen zu ersetzen. Beispielsweise würden danach KfW/DEG, FMO und IFC ihre Anteile an der ProCredit Bank in Bulgarien an IMI verkaufen und mit dem Verkaufserlös weitere Anteile an IMI erwerben. Dies hätte den gewünschten Effekt, die Struktur des Netzwerks zu vereinfachen und auch für mögliche zukünftige IMI-Aktionäre überschaubarer zu machen. Die faktische Konzernstruktur der IMI und der Banken würde damit zu einer auf Mehrheitsbesitz beruhenden Konzernstruktur verändert. Mit dieser gäbe es keine rechtlichen Beschränkungen mehr für die faktisch immer schon präsente und von allen Beteiligten immer schon und ohne jeden Vorbehalt begrüßte zentrale Steuerung und Kontrolle der Banken, und es würde dann auch aus der Sicht der deutschen Finanzaufsicht zulässig, Überschüsse von Einlagen innerhalb des 118
Konzerns umzuschichten, was der Gruppe beträchtliche finanzielle Vorteile bringen würde. Ein solcher Plan der Ersetzung von direkter durch indirekte, also über IMI vermittelte, Investitionen ist beschlossen worden. Seine Umsetzung hat begonnen, und dabei zeigen sich auch schon seine Probleme, unter anderem weil nicht an IMI beteiligte Aktionäre der Banken besorgt sind, demnächst als Minderheitsaktionäre dem Mehrheitsaktionär IMI gegenüber zu stehen. Aber es gibt auch ein weiteres Problem, und dies betrifft die Mehrheitsverhältnisse bei IMI. Bisher waren die Anteile an IMI etwa gleich zwischen privaten und nicht privaten Aktionären verteilt, und alle Beteiligten empfanden dies als einer private public partnership durchaus angemessen. Die geplante Umstrukturierung der Gruppe würde die Aktionärsstruktur von IMI grundlegend verändern. Nach allen im Rahmen dieser Umstrukturierung geplanten Transaktionen hätten die öffentlichen Institutionen eine Mehrheit am Aktienkapital von IMI. Zumal im Lichte der oben geschilderten Konflikte der letzten Zeit wollte dies niemand. Deshalb musste ein Weg gefunden werden, wie auch die privaten Aktionäre im Zuge derselben Umgestaltung des Netzwerkes von IMI, IPC, den Banken und den diversen Aktionären zu einem Konzern mit öffentlichen und privaten Aktionären ihre Rolle und Position wahren können. Formal ist dies kein Problem, wohl aber materiell, denn es bedeutete, dass die privaten Aktionäre zu massiven Kapitalzuführungen bereit und in der Lage wären. Die Bereitschaft dazu bestand auf allen Seiten, die finanzielle Fähigkeit ist eine andere Frage. Die großen privaten Anteilseigner bei IMI sind die DOEN-Stiftung und IPC. DOEN hat eine ihre Position wahrende Zuführung von neuem Kapital zugesagt und zur Hälfte auch schon umgesetzt.4 Auch IPC hat schon zusätzliche Aktien gezeichnet. Dafür wurde ein großer Bankkredit aufgenommen. Doch das reicht nicht, um den IPC-Anteil an IMI auf die gewünschte Höhe zu bringen. IPC muss mehr zusätzliche Anteile an IMI erwerben, wenn sie ihre alte Position unter den Aktionären erhalten will. Dafür wurde erstmals in der Geschichte von IPC eine Anleihe emittiert. Im Emissionsprospekt steht ausdrücklich, wofür die zu beschaffenden Mittel verwendet werden sollen: ausschließlich zur Erhöhung der IPC-Beteiligung an IMI und damit letztlich zur kapitalmäßigen Stärkung der Mikrofinanzbanken im IMI-Netzwerk. Das war nicht nur für IPC eine weitere Innovation, sondern auch eine Innovation auf dem Gebiet der Entwicklungsfinanzierung, denn es ist das erste Mal, dass ein allgemeines Anlegerpublikum die Möglichkeit erhält, sich - wenn auch mittelbar - finanziell am Ausbau derartiger Banken zu beteiligen. Diese Anleihe ist im September im Zuge eines private placement und ohne Einschaltung von Banken weitgehend untergebracht worden. 4
Das ist der Grund, warum die Angaben über die Anteile an IMI in Tabelle 1 ein „verzerrtes Bild" vermitteln: Sie geben die aktuellen Anteile nach der Kapitalerhöhung von DOEN und teilweise von IPC wieder, aber noch nicht die der anderen Aktionäre.
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Es ist vielleicht ein glücklicher Zufall, dass genau in der Woche, in der die Zeichnungsfrist für die zur Aufstockung der IPC-Beteiligung an IMI vorgesehene IPC-Anleihe ablief, die Rating-Agentur Fitch zum ersten Mal ein Rating für IMI veröffentlicht hat. Dass dies trotz des wahrlich unkonventionellen business model und trotz der nach vorherrschender Sicht geringen Kreditwürdigkeit der Kunden der IMI-Banken ein Investment grade rating geworden ist, dürfte allerdings mehr sein als Zufall. Es wäre zu hoffen, dass diese positive Bewertung von IMI durch externe Beurteiler zumindest die Zweifel beseitigen, die einige unter den Beteiligten immer noch hegen. Dass damit auch die Unruhe verschwindet, wäre allerdings zu viel Optimismus. IV.
Lehren und Perspektiven
Die Geschichte von IPC stellt eine bemerkenswerte Abfolge von institutionellen Innovationen dar. Das gilt für die Technik der Klein- und Kleinstkreditvergabe ebenso wie für die Schaffung von Institutionen der Entwicklungsfinanzierung, die es in dieser Form vorher nie gegeben hatte. Auch IMI selbst und das Netzwerk der IMI-Banken bilden solche innovativen Institutionen. Zumindest für diejenigen, die in diese Innovationsprozesse direkt oder als teilnehmende Beobachter involviert waren, besteht auch kein Zweifel daran, wie wichtig es für den entwicklungspolitischen und finanziellen Erfolg der IPC- bzw. IMI-Banken ist, dass IPC den institutionellen Fragen der Anreize und der Organisationsgestaltung von Anfang an so große Bedeutung zugemessen hat. Für jemanden, der wie Manfred seit Jahren Studentinnen und Studenten beizubringen versucht, wie wichtig es ist, Anreizprobleme zu erkennen, Anreize richtig zu setzen und Handlungsfelder sachgemäß einzugrenzen, ist dies eine sehr befriedigende Lehre. C. P. dürfte über die Jahre eher von einem anderen Motiv als dem, akademische Theorien zu bestätigen, dazu gebracht worden sein, Anreizen und anderen Aspekten des organisational design so viel Aufmerksamkeit zu widmen: Ihm lag und liegt vor allem daran, seine Vorstellung davon, was in der Entwicklungsfinanzierung „anders und richtig" gemacht werden könnte, erfolgreich umzusetzen und sich damit auch gegen die Anhänger konventionellerer Konzepte durchzusetzen. Er hat früh die Bedeutung von Macht und Eigentum für den entwicklungspolitischen Erfolg sowohl der Mikrofinanzinstitutionen als auch von IPC bzw. der IMI erkannt und dieser Einsicht gemäß gehandelt. Freilich hängt beides eng zusammen: Institutionen und ihre Ausgestaltung sind in einer Welt wichtig, in der Macht eine Rolle spielt, und nur wo Macht wichtig ist, spielen auch Institutionen eine Rolle. Die jüngste Entwicklung des IMI-Netzwerkes läuft darauf hinaus, nicht mehr, wie es in der so genannten Entwicklungszusammenarbeit eine „politischkorrekte" Tradition darstellt, Eigentumspositionen aufzuteilen und damit zu verwässern, sondern, ganz im Gegenteil, sie zusammenzuführen und zu stärken. Jahrelange Erfahrung zeigt, dass dies der praktisch sinnvolle Weg ist. Auch aus akademischer Sicht ist dies eine interessante Lehre, zeigt es doch, dass es zuviel 120
Raffinesse und Komplexität gibt, zu der Manfred und ich wohl neigen, und dass Einfachheit auch ökonomische Vorzüge hat. Freilich ist dies auch eine Lehre, die manchen politisch nicht angenehm ist, sicher nicht zuletzt denen, von denen gleich am Anfang dieses Beitrags die Rede war. Die Geschichte der unter IPC-Einfluss entstandenen Banken zeigt ein Weiteres: Die wichtigsten und stärksten Nutznießer der geschilderten Entwicklung sind die Bankkunden im derzeitigen Portefeuille der von IPC heute oder früher betreuten und geleiteten Banken. Unter Einbeziehung der downscaling-Projekte, der Kunden in den Mikrofinanzbanken, die aktuell nur Einlagen halten, und der Kunden in den früher von IPC aufgebauten oder wesentlich geprägten Institutionen sind dies inzwischen - als Bestandsgröße, also nicht über die Zeit kumuliert gerechnet - deutlich mehr als eine Milliarde Kunden. Man kann in einer sehr vorsichtigen Schätzung davon ausgehen, dass mehr als die Hälfte von ihnen und insbesondere die überwiegende Anzahl von sehr kleinen Kreditnehmern keinen Zugang zu Bankleistungen hätte, wenn es die IPC-geprägten Banken nicht gäbe. Das ist ein beachtlicher entwicklungspolitischer Erfolg, der die Frage nach der Kausalität, nach den Ursachen des Erfolges aufwirft. Ist es der methodische Ansatz der IPC-IMI mit seiner konsequenten Betonung institutioneller Aspekte oder das persönliche Engagement der eigentlichen Akteure aus dem privaten Bereich oder die erhaltene und in aller Regel sehr entschieden „herbeigeführte" Unterstützung der Mitinvestoren und der TA-donors und der investors and creditors aus dem öffentlichen Bereich oder einfach eine Kette glücklicher Zufälle, oder war einfach die Zeit für ein solches Unternehmen reif? Sicher ist nicht einer dieser Erfolgsfaktoren allein verantwortlich, aber es wäre auch alles nicht gelungen, wenn es auch nur an einer einzigen dieser vier genannten Ursachen gefehlt hätte. Für Manfred und mich, für die der Erfolg des Unterfangens in erster Linie ein Grund zur persönlichen Freude ist, und für andere an institutionellen Fragen interessierte Wissenschaftler stellt es eine bleibende Herausforderung dar, das Beobachtete zu begreifen, namentlich den Einfluss von persönlichen Faktoren und den des Zufalls in unsere Denksysteme einzubauen. Es bleibt also noch viel Grund, Anlass und Gelegenheit für unsere teilnehmende Beobachtung.
Literaturverzeichnis Nitsch, Manfred (1989): „Vom Nutzen des institutionalistischen Ansatzes in der Entwicklungsökonomie", ursprünglich erschienen in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 183; wiederabgedruckt in: ders. (2002): Glaspaläste und Mikroflnanz. Beiträge zur Entwicklungsfinanzierung, Frankfurt a.M.: Lang, S. 103-118. — (1997): „Systemische Intelligenz in Entwicklungsprojekten. Lehren aus dem Sparkassenprojekt in Peru", ursprünglich erschienen in: Festschrift für Renate Rott, wiederabgedruckt in: ders. (2002): Glaspaläste und Mikroflnanz. Beiträge zur Entwicklungsfinanzierung, Frankfurt a.M.: Lang, S. 165-192.
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— (2002): Glaspaläste und Mikroßnanz. Beiträge zur Entwicklungsfinanzierung, a.M.: Lang.
Frankfurt
Schmidt, Reinhard H./Tschach, Ingo (2003): Microfinanzierung als ein Geflecht von Anreizproblemen, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, NF, Vol. 297, Berlin: Duncker und Humblot, S. 39-73. —/Zeitinger, Claus-Peter (1994): Critical Issues in Small and Microbusiness Finance and the Role of Donors, IPC-Working Paper. —/— (1998): „Critical Issues in Microbusiness Finance and the Role of Donors", in Kimenyi, Mwangi S./Wieland, Robert C./von Pischke, J. D. (Hrsg.) (1998): Strategie Issues in Microfinance, Aldershot, UK: Ashgate, S. 27-51.
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Kathrin Andrae
Regulierung und Integration von Mikroflnanzinstitutionen in formelle Finanzmärkte in Lateinamerika Das bevorstehende „Internationale Jahr des Mikrokredits" 2005, initiiert von der UN, ist für die G8-Länder und die Consultative Group to Assist tke Poorest (CGAP)' Anlass, eine weltweite Initiative für markt-basierte Mikrofinanzierung zu starten. Dabei wird, so ist zu erwarten, auch das Thema der Integration der Mikrofinanzierung und der sie betreibenden Institutionen in die nationalen Finanzmärkte und damit auch ihre Regulierung auf die Tagesordnung gehoben. Spätestens seit dem stetem Wachstum und einsetzender Konsolidierung der Mikroflnanzinstitutionen (MFI) weltweit zum Ende der 1990er Jahre - heute arbeiten schätzungsweise 70.000 Mikroflnanzinstitutionen - hat eine intensive Diskussion über die Frage des Selbstverständnisses der MFI als Element ihrer nationalen Finanzmärkte und damit über eine adäquate Regulierung von MFI an Fahrt gewonnen.2 Von dieser Entwicklung sind die MFI in Lateinamerika durch ihre jeweils spezifischen founding histories ganz unterschiedlich betroffen: Auf der einen Seite diejenigen, die bereits unter einem marked-based oder commercial approach gegründet wurden, auf der anderen Seite MFI, die auf Initiativen von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) u. a. als grassroot project und originäre Institutionen der „klassischen" Entwicklungshilfe initialisiert wurden. Dieser Beitrag konzentriert sich nach einer kurzen Einfuhrung auf ausgewählte technische und institutionelle Fragen von Regulierung und Integration und diskutiert, inwieweit diese Entwicklung zu einer Konsolidierung und Stabilisierung dieses speziellen Finanzmarktsegmentes beiträgt und damit den Anspruch unterstützt, dass MFI dann einen nachhaltigen Entwicklungsbeitrag leisten, 1
Die Consultative Group to Assist the Poorest (CGAP) ist ein Zusammenschluss von 30 internationalen Gebern, die sich in der Mikrofinanzierung engagieren.
2
Federführend ist die CGAP. Vgl. zum letzten Stand der Diskussion CGAP 2002.
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wenn sie den verschiedenen Zielgruppen dauerhaft als Partner zur Verfügung stehen und zielgruppenadäquate Produkte anbieten.
Mikrofinanzierung in Lateinamerika Die Bereitstellung von banküblichen Finanzdienstleistungen an die Zielgruppe der ärmeren städtischen und ländlichen Bevölkerung in Lateinamerika durch NGOs, durch aus NGOs hervorgegangene Banken und eigenständig für diesen Zweck gegründete Banken oder andere Finanzinstitutionen ist seit ungefähr zwei Jahrzehnten wesentlicher Bestandteil nationaler und internationaler Entwicklungsbemühungen und -politik. Mikrofinanzierung beschreibt dabei im Unterschied zur finanziellen Förderung der Zielgruppen über subventionierten Kredit oder Zuschüsse (grants) die marktmäßige Bereitstellung einer Spannbreite von Finanzdienstleistungen (FDL), deren wesentliches Charakteristikum eine Adaption klassischer Geschäftsbankenversorgung auf die spezifischen Bedürfnisse kleiner und mittlerer Unternehmer sowie von Kleinbauern ist. Eine entwicklungsfördernde Mikrofinanzierung erfüllt unabhängig von ihrer institutionellen Ausgestaltung zwei Anforderungen: zum einen ein die Zielstellungen der MFI befriedigender outreach im Hinblick auf die Zielgruppen und das Spektrum an angebotenen FDL sowie die finanzielle und institutionelle Nachhaltigkeit der Institution und damit des Angebotes. In den vergangenen Jahrzehnten wurden und werden die unterschiedlichsten institutionellen Modelle zur Bereitstellung dieser Dienstleistungen auf der Suche nach einer Best Practice von Mikrofinanzierung angewandt. Diese institutionelle Vielfalt und der unerwartete Boom von Mikrofinanzierung in einigen Ländern stellt die beteiligten Akteure - Mikrofinanz-Praktiker, internationale Geber, nationale Regierungen, die Vertreter der Zielgruppe, aber auch die nationalen Finanzmärkte - vor die Notwendigkeit, für die Sicherung der Nachhaltigkeit von Mikrofinanzierung Sorge zu tragen. Die volatilen internationalen Finanzmärkte und die weiterhin hohe Vulnerabilität Lateinamerikas durch fortschreitende Integration in die Weltwirtschaft lassen den Bedarf nach einer adäquaten Regulierung und Aufsicht von formellen MFI wachsen. Dabei ist es notwendig, die Diskussion über Regulierung von MFI breit gefächert zu führen, d. h. sowohl über eine Regulierung im weiteren Sinne durch allgemeine rechtliche Normen sowie Rechnungslegungs- und Publizitätsstandards, über eine Regulierung im engeren Sinne durch eine institutionalisierte Bankenaufsicht als auch über Elemente einer „Selbstregulierung" durch Dachverbände oder andere Dritte.
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Ziele der Regulierung von Mikrofinanzinstitutionen Die Regulierung und Überwachung von Mikrofinanzinstitutionen sollte dem übergeordneten Ziel der Entwicklung eines marktorientierten Finanzsystems verpflichtet sein. Instrumente und Verfahren müssen fünf Prinzipien genügen: (1) Wettbewerbsneutralität - Ziel ist ein level playingfield für alle Finanzintermediäre; (2) allokative, operationale und dynamische Effizienz; (3) eine anreizkompatible governance structure; (4) Flexibilität, um auf Ausweichreaktionen, technologische Innovationen u. a. reagieren zu können; (5) eine positive KostenNutzen-Relation. Der besondere Charakter von Mikrofinanzinstitutionen - und ihre Stärke - ist ihre institutionelle und organisatorische Vielfalt, die es schwierig macht, auf der Grundlage eines Idealtypus einer MFI über eine „weise" (prudential) Regulierung zu diskutieren. Noch stärker als im traditionellen Bankensektor unterscheiden sich Eigentümerstrukturen, Geschäftsphilosophien und -modelle. Die Bandbreite reicht von rein geberfinanzierten MFI über MFI, die mit obligatorischen Sparmodellen arbeiten, Spar- und Kreditvereinen oder Spar- und Kreditgenossenschaften bis hin zu bereits formell lizensierten Mikrobanken. Qua Anspruch der Mikrofinanzierung sind die Zielgruppen zwar breit, aber dennoch stärker segmentiert als im traditionellen Bankengeschäft. Eine effiziente Regulierung von MFI muss daher in der Lage sein, die institutionelle Vielfalt nicht unnötig einzuschränken. Das kann unter Umständen sehr viel allgemeinere Normen als bei der traditionellen Bankenregulierung üblich zur Folge haben. Kontrovers diskutiert wird die Frage, inwieweit formalisierte Regulierung dazu beitragen kann und soll, die Transformation der institutionellen Vielfalt verschiedener MFI-Philosophien in formelle Mikrobanken zu beschleunigen. Damit wird schnell ein falscher Anspruch an die formelle (Banken-)Regulierung erhoben. Die große Mehrheit der heute immer noch als NGO arbeitenden Mikrofinanzinstitutionen in Lateinamerika dürfte ausschließlich Kreditkanal bleiben und kann durchaus bei intelligentem Design, professionellem Management und einer Selbstregulierung unter Aufsicht von Eigentümern und Zielgruppe finanzielle Nachhaltigkeit und einen befriedigenden outreach erreichen. Einige MFI fahren besser, wenn sie auf niedrigem Niveau weiterarbeiten und effiziente Dienstleistungen für Teilsegmente der sehr heterogenen Zielgruppe anbieten. In einer langfristigen Perspektive sollte die Rahmensetzung im Finanzsektor daher so strukturiert sein, dass sie jeder MFI eine klare Vorstellung darüber vermittelt, welche Schwellen auf dem Pfad einer institutionellen Entwicklung und Transformation in eine formelle Bank zu nehmen sind - auch wenn bei weitem nicht alle MFI diesen Weg wählen werden.
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Regulatorische Umwelt Die Regulierung von MFI lässt sich nicht isoliert von den bestehenden Rechtsund Regulierungssystemen des betreffenden Landes interpretieren. Diese regulatorische Umwelt befindet sich seit einigen Jahren in einem erheblichen Umbruch. Bis Ende der 1990er Jahre waren noch zahlreiche lateinamerikanische Länder damit beschäftigt, die 1988 von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich unter dem Stichwort Basel I entworfenen internationalen Leitlinien für Bankenregulierung in ihre nationale Gesetzgebung umzusetzen. Doch bereits zu diesem Zeitpunkt wurde die Diskussion nicht zuletzt durch die internationalen Finanzkrisen, in die Lateinamerika wesentlich involviert war, neu aufgenommen und findet in diesem Jahr ihren Abschluss in der Nachfolgeregelung Basel II, die wesentliche materielle Änderungen der Bankenregulierung vorsieht. Vor diesem Hintergrund stehen die lateinamerikanischen Finanzsektoren vor einer besonders hohen Herausforderung der Entwicklung und Implementierung eines das Finanzsystem stabilisierenden Rechts- und Regulierungsrahmens, der trotz erhöhter Vulnerabilität der lateinamerikanischen Finanzsysteme innovative Modelle wie die Mikrofinanzierung zulässt und in ihrer Handlungsfähigkeit und Nachhaltigkeit stärkt. Basel II kann an dieser Stelle nicht ausführlich diskutiert werden. Eines sei jedoch hervorgehoben: Gerade durch Basel II ergeben sich für formalisierte MFI vielfaltige Chancen; ist es doch gelungen, insbesondere Retail-Banken mit einem breiten Kleinkunden-Kreditportfolio (Private und Gewerbekunden) von den Vorteilen eines effizienten Risikomanagements profitieren zu lassen. Resultat wären bei einer optimalen Umsetzung in der Regel geringere Eigenkapitalerfordernisse als heute in den MFI, die es einer Vielzahl lateinamerikanischer MFI ermöglichen würden, ihre Geschäftsaktivitäten unter gleichbleibenden Refinanzierungsvolumina auszuweiten. Momentan muss man jedoch konstatieren, dass die Entwicklung der allgemeinen legislativen und aufsichtsrechtlichen Umwelt für MFI in Lateinamerika deren exponentiellem Wachstum weiterhin stark hinterher hinkt. Die Regulierung der lateinamerikanischen nationalen Finanzmärkte ist weiterhin als im internationalen Vergleich restriktiv einzustufen. Die existierenden Rahmenbedingungen sind in der Regel nicht auf eine Förderung der Expansion und Nachhaltigkeit der Bereitstellung von Mikrofinanzierung ausgelegt und sehen institutionelle Transformationen kaum vor. Ergebnis sind mehrheitlich von der Kapitalbereitstellung durch inländische und ausländische institutionelle Geber abhängige Mikrofinanzinstitutionen, die sich nur geringen Anreizen gegenübersehen, sich zu unabhängigen und in den nationalen Finanzmarkt integrierten Mikrobanken zu entwickeln. Auf den Boom von Mikrofinanzierung reagieren Gesetzgebung und Aufsichtsbehörden bisher vor allem auf dreierlei Weise: Sie zeigen entweder nur geringes Interesse an der Förderung der Integration von Mikrofinanzierung in 126
den nationalen Finanzmarkt; sie intervenieren direkt durch die Unterstellung unter eine restriktiv und bürokratisch ausgestaltete Banken- und Aufsichtsgesetzgebung, die mit der Herkunft der MFI und den Zielstellungen konfligieren, die gemeinsam mit den Zielgruppen entwickelt werden oder aber es gibt ad-hoc und letztlich nur marginale gesetzgeberische Initiativen für die konkreten Bedürfnisse von MFI. Insbesondere die Unterstellung unter die auf Geschäftsbanken ausgerichtete Bankengesetzgebung hat die Entwicklungschancen und die Nachhaltigkeit von Mikrobanken in Lateinamerika keineswegs erhöht. Die Mehrzahl der MFI sind mit Regeln konfrontiert, deren Erfüllung ihnen mehr Kosten auferlegen als Nutzen stiften. Dazu gehört vor allem eine Überreaktion der Gesetzgeber auf die Entwicklungen im Zuge der Reform und Liberalisierung ihrer nationalen Finanzsektoren und der weiteren Öffnung zu den internationalen Finanzmärkten. Die Etablierung deutlich erhöhter Markteintrittsbarrieren wie Eigenkapitalausstattung und Reservehaltung sowie bankenaufsichtliche Rückstellungsanforderungen mit dem Ziel der Abwendung von Bankzusammenbrüchen, das starre Festhalten an statischen Bilanz- und Finanzierungsregeln sowie die unsystematischen und bürokratisch aufgeblähten Dokumentations- und Berichtserfordernisse, die in vielen Ländern die Regulierung und Aufsicht von formalisierten MFI prägen, waren in Bezug auf die Ziele der Regulierung von Mikrofinanzinstitutionen nicht hilfreich. Es ist zu beobachten, dass die herrschende Regulierungsdiskussion in den lateinamerikanischen Aufsichtsbehörden noch immer auf Mikrofinanzinstitutionen abstellt, die nicht notwendigerweise die Best Practice von New Development Finance umsetzen. Dominant ist eine sehr risikoaverse und allein auf die Stabilität des Finanzsektors ausgerichtete Konzeption von externer Regulierung. In dieser eher traditionellen Auffassung von Mikrofinanzierung haben MFI in der Tendenz hohe Ausfallraten, deutlich höhere Kosten als „normale" Geschäftsbanken, sie werden von den Zielgruppen eher als Wohlfahrtsinstitutionen wahrgenommen und arbeiten kaum mit Professionals. Als Folge belegt die Unterstellung formalisierter MFI unter die externe Regulierung vor allem den Typus der lizensierten Mikrobank mit zusätzlichen Kosten, ohne einen signifikanten Beitrag zu den Zielen der Bankenaufsicht zu leisten.
„Weise" Regulierung von Mikrofinanzinstitutionen In der internationalen Community zur Förderung der Mikrofinanzierung hat sich spätestens nach den ersten Erfahrungen mit der formellen Regulierung von MFI ein Grundkonsens herausgebildet: Eine weise Regulierung von MFI setzt zunächst in den Institutionen selbst an. Erst an zweiter Stelle stehen alternativ Selbstregulierungsmechanismen und/oder die Unterstellung unter die nationale Bankenaufsicht. Die Wahl zwischen diesen beiden Alternativen wird bestimmt durch die institutionelle Verfasstheit der jeweiligen MFI, ihr Geschäftsfeld und 127
dessen Umfang sowie ihre Relevanz für die Stabilität des heimischen Finanzsektors. Als notwendiges, aber nicht hinreichendes Kriterium für die Unterstellung unter die Bankenaufsicht gilt die Aufnahme des Passivgeschäftes mit dem allgemeinen Publikum. Wenig Erfolg verspricht hingegen ein fragmentiertes formelles Regulierungssystem je nach MFI-Typ, in dem verschiedene MFI jeweils verschiedenen Regulierungsstufen unterworfen sind. Zum einen setzt ein solches System den involvierten Institutionen einen Anreiz zur strategischen Ausnutzung von Lücken und einer Unterminierung der Regulierung, zum anderen entstehen dadurch in Transformationsprozessen erhebliche bürokratische Hürden.
Regulierung durch Risikomanagement - eigener Beitrag der MFI Risikomanagement für Finanzinstitutionen und somit auch MFI umfasst sowohl interne Regeln und Strukturen als auch die externe Risikoüberwachung über die Bankenaufsicht. Ersteres gilt in geschäftsspezifischen Abstufungen für alle Typen von MFI, während für die externe Aufsicht weitere Kriterien und Kennziffern zur Anwendung kommen, die der Integration formeller MFI in den Finanzsektor des jeweiligen Landes entsprechen. Das Risikomanagement umfasst alle Aktivitäten zum systematischen Umgang mit Risiken, beginnend mit ihrer Erfassung über die Klassifizierung und die Entwicklung von Strategien zu ihrer Bewältigung. Ein formalisiertes Risikomanagement ist Grundlage der internen Regulierung über die governance structure einer MFI. Risikomanagement in einer Mikrofinanzinstitution konzentriert sich auf (1) Standardrisiken, auf (2) die governance structure in ihrer personellen Zusammensetzung und Qualifikation, Funktionsabgrenzungen und Entscheidungsprozessen sowie auf (3) einen dynamischen und laufenden Risikobewertungsprozess. Die Effektivität eines umfassenden Risikomanagements wird im Wesentlichen durch die Kontrollstruktur beeinflusst, die sich in Wissen, Fähigkeiten und Einstellungen der in einer MFI Beschäftigten niederschlägt. Sie bildet das Fundament für die einzelnen Risikomanagementmaßnahmen. Eine Risiko- und Kontrollstruktur, verstanden als gemeinsames, grundlegendes Normen- und Wertgerüst, bedarf eines längeren Zeitraums zu ihrer Entwicklung. Die Risiko- und Kontrollstruktur als „weicher Faktor" ist damit Element der governance structure, die auch die so genannten „harten Faktoren" wie Controlling, Funktionstrennung und Limitsysteme regelt. Die vom Board of Directors entwickelten risikopolitischen Grundsätze sind konkreter Ausgangspunkt für die Ausgestaltung der RisikomanagementOrganisation innerhalb einer Mikrofinanzinstitution. Im Gegensatz zu „traditionellen" Geschäftsbanken ist eine Balance in den risikopolitischen Grundsätzen bei MFI besonders schwierig: Zum einen sind aus der Perspektive der finanziellen Nachhaltigkeit angesichts der Zielgruppenorientierung und damit einer eher 128
möglichen Ballung von Risiken (nach Branchen, nach Regionen, nach Alter der Unternehmen) eher konservative Grundsätze zu empfehlen, die jedoch andererseits nicht dazu führen dürfen, dass die Finanzdienstleistungen einer MFI im Sinne einer Kreditrationierung nur einem sehr auserwählten Kreis der Zielgruppen angeboten werden. Die Besonderheiten innovativer Kredittechnologien von Mikrofinanzinstitutionen, so unter anderem der deutlich engere Kontakt zum Kunden, verlangen von den Kreditsachbearbeitern vor allem eine risikobewusste Selbstkontrolle. Die Risikomanagement-Funktion innerhalb einer MFI ist die Schnittstelle zur Koordination und Pflege von Teilbereichen. Ihr obliegt u. a. die Gestaltung und gegebenenfalls die Anpassung des Berichts- und Kontrollwesens, die Risikoberichterstattung und zeitnahe Bereitstellung entscheidungsrelevanter Managementinformationen, aber auch die Entwicklung performance- (und damit auch risiko-)orientierter Anreizsysteme. Wesentlich ist die Verhinderung einer Datenflut: Eine angemessene Komplexitätsreduktion ist ein wichtiger Erfolgsfaktor für die Praktikabilität und damit konsequente Umsetzung eines Risikomanagement-Systems. Der wesentliche Punkt bei der Implementation eines adäquaten Risikomanagements ist der hohe Anteil an Standardkomponenten und -kennziffern, die einen Nutzen für das Management der MFI, den Board of Directors, Eigentümer oder Mitglieder, für externe Prüfer, die Bankenaufsicht, institutionelle Anleger, Geber und das allgemeine Publikum haben. Innerhalb der microfinance Community haben sich dabei die beiden Systeme CAMEL 3 und PEARLS 4 als praktikabel erwiesen. Es kommt vor allem darauf an, dass die einzelnen Anforderungen so konzipiert werden, dass die hohen risikomindernden Effekte einer professionellen Kredittechnologie der Mikrofinanzierung berücksichtigt werden, die vor allem die Mikrobanken anwenden. Hervorzuhebende Risikokategorien bei der Mehrzahl der Mikrofinanzinstitutionen sind an erster Stelle das Kreditrisiko und vor allem für Nicht-BankenMFI das Managementrisiko aufgrund von geringerer Professionalität im Finanzsektor und Systemschwierigkeiten wegen einer unausgereiften governance structure. Aber auch sonstige Risiken fallen unter Umständen deutlich stärker ins Gewicht als bei „traditionellen" Geschäftsbanken - so Risiken durch kriminelle Akte wie Betrug und Unterschlagung seitens des Personals, aber auch Schäden durch Raub, Einbruch, Diebstahl usw. In peripheren und klimatisch sensiblen Regionen gesellen sich dazu noch die Risiken durch unvorhersehbare Ereignisse wie den Ausfall der Infrastruktur oder die Behinderung der Geschäftstätigkeit durch Unwetter, Stromausfälle usw. Ein weiterer Baustein der Risikomanagementorganisation ist die Interne Revision. Als prozessunabhängige Überwachungsinstanz besteht ihre Aufgabe in der begleitenden Überprüfung der Wirksamkeit, Angemessenheit und Effizienz 3
4
Capital, Asset, Management, Earnings, Liquidity. Protection, Earnings, Asset quality, Rates of return and costs, Liquidity, Signs of growth.
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der Maßnahmen des Risikomanagements. Bestimmte Überwachungsaufgaben im strategischen Bereich sollten letztlich jedoch nur durch den Board of Directors oder ähnliche Institutionen wahrgenommen werden. Entscheidend ist letztlich jedoch nicht die Existenz einer eigenen organisatorischen Einheit „Interne Revision", sondern die Erfüllung der notwendigen Überwachungsfunktion. Die Interne Revision ist die geeignete Schnittstelle zwischen internem Risikomanagement und externer (Risiko-)Überwachung unter anderem durch die Bankenaufsicht. Bei der Internen Revision bestehen vielfaltige Möglichkeiten des Einbezugs auch der Stakeholder, z. B. durch die Auslagerung an eine Dachorganisation oder die Bildung eines Revisionskomitees aus Mitgliedern der verschiedenen Akteursgruppen von Mikrofinanzierung.
Optionen der Selbstregulierung durch Dritte Auch in den entwickelten Finanzmärkten hat sich die Selbstregulierung innerhalb bestimmter Formen von Finanzinstitutionen - sei es im genossenschaftlichen Bereich oder bei den Sparkassen - als bisher sehr effektiv erwiesen. Nicht selten kann dadurch mit ökonomischen Mitteln eine überbordende staatliche Intervention reduziert werden. Auch in Lateinamerika existieren bereits Dachorganisationen vor allem von durch NGOs gegründeten und betriebenen Mikrofinanzinstitutionen. Neben einer Regulierung im Sinne einer erweiterten Revision ist hier der Ort zum Erfahrungsaustausch über erfolgreiche Geschäftsstrategien, Qualitätsverbesserungen im Management sowie Platz für die Diskussion und Verbreitung von Standards im Geschäft der Mikrofinanzinstitutionen. Eine effektive Rolle kann diese institutionelle Struktur jedoch nur entfalten, wenn die Mehrheit der MFI sich dieser anschließt und eine mehrheitsfahige Verfassung gefunden wird, die im Falle der Nichterfüllung auch Normen und Regeln zur Durchsetzung von Sanktionen kennt. Denkbar ist z. B. eine Überwachungsinstitution, die als eine Art Rating-Institution fungiert. Die Sanktionsmacht besteht dann darin, öffentlichkeitswirksam einer MFI, die sich nicht an einen verabredeten Verhaltenskodex hält, das „Gütesiegel" zu verweigern. Bei dieser Selbstregulierung dient die Veröffentlichung von Informationen, deren Glaubwürdigkeit von einer möglichst unabhängigen Institution kontrolliert wird, als ein Substitut für staatliche Aufsicht. Für den Fall, dass eine MFI außerdem das Einlagengeschäft mit dem breiten Publikum betreibt, kann eine privatwirtschaftliche Einlagenversicherung, die sich aus den risikoadjustierten Prämien der teilnehmenden MFI finanziert, ein sinnvolles Instrument sein. Bei aller positiven Einschätzung der Möglichkeiten von Selbstregulierung ist von einem nicht unerheblichen enforcement-Problem in den fragilen Finanzmärkten Lateinamerikas auszugehen, mit dem auch die reguläre Bankenaufsicht konfrontiert ist.
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Externe Regulierung der Bankenaufsicht Stellt die Bankenaufsicht bei ihrer Prüfung einer ihr unterstellten Finanzinstitution eine schwierige oder gar existenzbedrohende Lage fest, ist es in vielen Fällen bereits zu spät zu einem Umsteuern. Das gilt auch und insbesondere für Mikrofinanzinstitutionen. Deshalb kommt es gerade in der Mikrofinanzierung darauf an, die Risikomanagementkapazitäten in den MFI zu stärken und für eine angemessene „Aufsicht" durch Eigentümer, Geber und die Zielgruppe zu sorgen. Dennoch steht außer Frage, dass Mikrofinanzinstitutionen, die sich, versehen mit einer Vollbanklizenz, dem breiten Publikum im Aktiv- und Passivgeschäft zuwenden wollen, auch einer externen Regulierung im Sinne der Unterstellung unter die Bankenaufsicht unterliegen sollten. Noch immer steht in Lateinamerika eine Mehrheit von nicht-regulierten Mikrofinanzinstitutionen einer, wenn auch wachsenden, Minderheit von regulierten MFI gegenüber, die sowohl transformierte NGOs als auch bereits als lizensierte Mikrobanken gegründete Institutionen umfasst. Falsche Anreize würden durch ein fragmentiertes Aufsichtsrecht für verschiedene Typen von Mikrofinanzinstitutionen gesetzt. Der bessere Weg ist die Einbeziehung in das nationale Bankenrecht, von dem in den meisten lateinamerikanischen Ländern jedoch eine Anpassung, d.h. in den häufigsten Fällen eine grundlegende Modernisierung eingefordert werden muss. In der Regel unterschätzen die derzeitigen Systeme der Bankenaufsicht die Fähigkeiten im Risikomanagement von formalisierten Mikrobanken. Der besondere Nutzen des Rückgriffs auf ein Monitoring des formalisierten Risikomanagements durch die externe Bankenaufsicht liegt darin, dass dieser Prozess auf die auch für das Management der Mikrobank wichtigen Dinge rekurriert und diese den Anreiz hat, Anforderungen zu erfüllen und entsprechend zu dokumentieren. Die Bankenaufsicht betreibt in der Regel ein Risikomanagement durch die Vorgabe der grundsätzlich möglichen Geschäftsfelder, die notwendige Kapitalunterlegung der Risikoaktiva, Beschränkungen in der Konzentration von Risiken sowie durch Dokumentationsanforderungen. Die lateinamerikanischen Systeme der Bankenaufsicht erweisen sich in diesem Zusammenhang als restriktiv, wenn es um die Geschäftsfelder und Kapitalanforderungen geht, und bürokratisch in der Dokumentation, ohne auf der anderen Seite über ausreichend operationeile Kapazitäten für eine effektive Kontrolle der zahlreichen Bestimmungen zu verfügen. Auf den besonderen Charakter von Mikrofinanzinstitutionen bezogen schränken sie in der Regel deren operationale Flexibilität und die Handhabung innovativer Kredittechnologien eher ein als dass sie sie fördern. Trotz der jetzt schon langen Erfahrung mit den verschiedensten Formen von Mikrofinanzierung sind die externen Regulierungspraktiken in Lateinamerika nicht besonders gut auf die Bedürfnisse der MFI angepasst. Es fehlt insbesondere an der nötigen Flexibilität im Hinblick auf harte regulatorische Anforderungen wie die Bestimmung der assef-Qualität, die geforderten Rückstellungen, 131
Dokumentationserfordernisse oder auch für alternative Bereitstellungswege von Finanzdienstleistungen an die Zielgruppen der MFI, z. B. durch mobile Filialen. Auf der anderen Seite existieren immer noch Vorschriften zu Zinssatzbeschränkungen, die für den sich weltweit als Best Practice durchsetzenden market approach von Mitfinanzierung zumindest bürokratische Hürden in der Aufnahme des Kreditgeschäftes setzen, auch wenn es Wege und Möglichkeiten gibt, diese Bestimmungen zu unterlaufen. Diese restriktive Ausgestaltung schafft Anreize für MFI, Beschränkungen zu umgehen, die unter Umständen dann die gesamte Institution in Gefahr bringen. Exemplarisch dafür ist der Fall der kolumbianischen FinanSol 1996. Als grundsätzlich problematisch für alle Mikrofinanzinstitutionen in Lateinamerika erweisen sich außerdem die hohen bürokratischen Anforderungen an das Tagesgeschäft, die unmittelbarer Ausfluss der hohen Bürokratielasten der einzelnen Volkswirtschaften sind. Die Vielzahl von Dokumenten, die die Kunden der MFI aufbringen müssen, um mit ihrer Bank „ins Geschäft" kommen zu können, sind für die Mehrheit der Zielgruppen nur unter hohen monetären und Transaktionskosten zu beschaffen. Somit greift eine Diskussion über die externe Regulierung von Mikrofinanzinstitutionen zu kurz, wenn sie sich nur auf die Beziehung zwischen der MFI und der Bankenaufsicht beschränkt.
Regulierung von MFI in Lateinamerika weiterhin auf der Agenda Eine externe Regulierung von Mikrofinanzinstitutionen führt nicht per se zu einer Nachhaltigkeit dieses Angebotes für die Zielgruppen. Vielmehr setzt eine ineffektive und nicht angepasste Regulierung falsche Anreize für das Management, aber auch für die Eigentümer und Geber dieser Institutionen und führt obendrein zu einer Kostenaufblähung bei den MFI, ohne dass dem eine Risikominderung für den Bestand der Institution und den nationalen Finanzmarkt gegenübersteht. Die traditionelle Bankenaufsicht implementiert, wenn sie ihren Blick nicht für die Besonderheiten von Mikrobanken öffnet, relativ schnell und deutlich Markteintrittsbarrieren und Marktbeschränkungen in der Weiterentwicklung des Angebotes der Mikrofinanzinstitutionen. Eine im Boom der Mikrofinanzierung durch die staatliche Bürokratie gestellte Forderung, auch bisher nicht formalisierte kreditvergebende Institutionen unter Bankenrecht zu stellen, eröffnet eher den Pfad in die bekannte financial repression, als dass daraus Vorteile für die Kunden dieser MFI entstehen. Für diese Institutionen ist die Förderung eines integrierten Risikomanagements und die Stärkung der Selbstregulierung durch die Eigentümer, Geber, die Zielgruppe bzw. Dachverbände geeignet. Mikrofmanzpraktiker und -förderer sollten den Mut haben, in ihrer gestaltenden Einflussnahme auf die externe Regulierung von MFI nicht abzuwarten, bis sämtliche Stadien traditioneller Aufsicht für Geschäftsbanken durchlaufen sind, sondern selbst Empfehlungen und Wünsche für eine externe Regulierung von 132
formalisierten Mikrobanken als Teil der Modernisierung der allgemeinen Finanzsektorregulierung vorzubringen und durchzusetzen. Das sind vor allem eine Absenkung des Interventionsgrades der Bankenaufsicht, die Forderung und Förderung eines integrierten modernen Risikomanagements in den MFI, sowie eine vereinfachte Berichterstattung, die auf das gleiche Datenmaterial für eine Bandbreite von Interessenten - von den Eigentümern/Gebern über die Geschäftsführung und die Kunden bis hin zur Bankenaufsicht - zurückgreift. Den Besonderheiten von Mikrobanken kann die Bankenaufsicht durch eine performanceorientierte Absenkung zunächst konservativ angesetzter Geschäftsbeschränkungen, Kapitalunterlegungsanforderungen und Limits, durchaus bei gleichzeitigem Einbau von „Sicherungen" auf Seiten der Eigentümer sowie der Geber gerecht werden. Den größten Fortschritt auf dem Weg zu einer dem besonderen Charakter von Mikrofinanzinstitutionen angepassten Regulierung und damit Integration in die formellen Finanzmärkte haben Bolivien und Peru vollzogen. Deutlichen Nachholbedarf haben vor allem Brasilien und Argentinien, in denen sich aber auch die Entwicklung von Mikrofmanzierung nur sehr schleppend vollzieht. Den wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung und Nachhaltigkeit der Mikrofinanzinstitutionen in Lateinamerika jedoch leistet eine Aktivierung und effektive Durchsetzung von ownership. Noch immer gibt es in der Mehrheit der Mikrofinanzinstitutionen kein von den Gebern entwickeltes „Eigentümer-Verständnis", seien sie nationale oder internationale Institutionen oder eine Gemeinschaft derer. In den boards der meisten MFI sind die Geber durchaus vertreten. Dennoch bleiben für die Geschäftsführung der Mikrofinanzinstitution und die Zielgruppen respektive ihre Vertreter nicht selten die Geber und ihre Rolle als ökonomische Eigentümer der MFI sowie ihr Einfluss auf die Geschäftsprozesse der MFI nebulös. Nur eine effektive ownership ist in der Lage, den besonderen Charakter einer Mikrofinanzinstitution - ihre in der Regel heterogene Eigentümerstruktur und die daraus resultierenden unterschiedlichen Ansprüche an die Tätigkeit der MFI - als Chance dieser Form der Bereitstellung von Finanzdienstleistungen an die Zielgruppen zu gestalten. Eine positive Entwicklung hat die Stärkung dieser ownership-¥\mkX\ov\ durch das Engagement der Internationale Micro Investitionen Aktiengesellschaft (IMI AG) genommen, die sich im Grunde als klassische Beteiligungsgesellschaft, wenn auch eine mit besonderem Anspruch - nämlich der weltweiten Förderung von marktbasierter Mikrofmanzierung - betätigt. In der IMI AG haben sich verschiedene Institutionen und Kapitalgeber der Mikrofmanzierung aus Deutschland, den Niederlanden, Belgien, der Schweiz, Bolivien sowie der Weltbank-Gruppe zusammengeschlossen. Mittlerweile erstreckt sich das breite Portfolio an Beteiligungen an erfolgreichen Mikrobanken auf 18 Länder in Lateinamerika, Zentralamerika und der Karibik, Afrika und Südosteuropa. Für die Mehrheit der lateinamerikanischen MFI ist es aber auch aus den bestehenden Eigentumsverhältnissen heraus möglich, sich der besonderen Rolle von ownership für die Nachhaltigkeit des Angebotes an zielgruppenorientierten 133
Finanzdienstleistungen gewahr zu werden und entsprechende institutionelle Regelungen für ihre Umsetzung zu treffen.
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Barbara Fritz
Tragfähigkeit von Verschuldung. Ein Blick über die Gläubigerperspektive hinaus Die Lateinamerikaner, so hatte der Kulturwissenschaftler Néstor Garcia Canclini einmal gesagt, integrieren sich auf dreierlei Wegen in die globalisierte Weltwirtschaft: Als Kulturschaffende, als Emigranten und als Schuldner (Garcia Canclini 2002: 12). Gerade letzteres ist alles andere als neu: Viele der Staaten Lateinamerikas wurden bereits mit Schulden in die Unabhängigkeit entlassen; die Geschichte des 19. Jahrhunderts ist vor allem an seinem Ende, als Waren- und Kapitalströme in ähnlichem Maße global integriert waren wie dies seit Ende des 20. Jahrhunderts der Fall ist, auch eine Geschichte der sich rasch wiederholenden Schuldnerkrisen. Die „goldenen Jahre" der Nachkriegszeit stellten mit einem System fester Wechselkurse, hoher Handelsbarrieren und einer anfänglich fast vollständigen Unterdrückung privater internationaler Kapitalflüsse auf der globalen Ebene hochgradig regulierte Bedingungen bereit, die auch den lateinamerikanischen Ländern relativ dauerhafte und hohe Wachstumsraten ermöglichten. Ironischerweise just in dieser Phase der weitgehenden Unterdrückung des privaten Kapitalmarkts (die internationalen Entscheidungsträger setzten die Verwerfungen der Great Depression in enge Verbindung mit dem freien Kapitalverkehr) entwickelte die junge Disziplin der Entwicklungstheorie die Vorstellung, dass ökonomische Entwicklung in armen Ländern des Imports ausländischer Ersparnisse bedürfe, eine Vorstellung, die sich über die paradigmatischen Grenzen und Umwälzungen hinweg hartnäckig gehalten hat. Die große Schuldenkrise der 80er Jahre jedoch setzte den Wachstumsjahrzehnten ein eindeutiges Ende. Verschuldung wurde zum zentralen Thema; über Entstehung, Folgen von Schuldenkrisen und Lösungsmechanismen entstand eine intensive Debatte mit signifikant unterschiedlichen Positionen. Ende der 80er Jahre jedoch schien es zunehmend, als müssten die Länder nur die richtigen, also in erster Linie auf Effizienzsteigerung angelegten Reformen wählen und umsetzen. Das Thema Verschuldung verschwand nicht nur aus den Schlagzeilen 135
der Zeitungen, sondern auch aus dem, was der ökonomische Mainstream für wichtig befand. Lange hielt dieser Zustand nicht an. Schon ab Mitte der 90er Jahre häuften sich erneut dramatische Währungskrisen in so genannten emerging markets (Mexiko 1994/95; Thailand, Malaysia, Südkorea 1997/98; Russland 1998; Brasilien 1999; Argentinien 2001, Brasilien 2002). Die internationale Finanz- ebenso wie die Wissenschafts-Community reagierten zuerst mit erheblicher Verstörung, reichten doch die mikroökonomisch angelegten Analyseraster weder zur Prognose noch zur Erklärung und auch nicht zur Lösung dieser Krisen aus. Im Laufe der letzten Jahre hat sich - innerhalb der überaus breiten Debatte zu Entstehung, Lösungsmechanismen und Möglichkeiten des zukünftigen Vorbeugens derartiger Krisen - ein wichtiger Strang herausgebildet, der sich mit dem Schuldenmanagement, also der Wahrnehmung (und Vermeidung) mittel- und langfristiger Risiken in Verbindung mit einer Fremdwährungsverschuldung aufgrund von Wechselkurs- und Zinsniveauänderungen (balance sheet effects) beschäftigt und der derzeit die Diskussion bestimmt, maßgeblich vorangetrieben durch den IWF. Hintergrund ist die Reformdebatte über die Funktion des IWF, der aufgrund der gehäuften Krisen in die Schusslinie der unterschiedlichsten Kritiker geraten war. Die neue, mit den G7-Mitgliedern abgestimmte Politikleitlinie1 für den Umgang des Fonds mit Zahlungsbilanzkrisen besteht in der systematischen Unterscheidung zwischen Liquiditäts- und Solvenzkrisen und der entsprechend unterschiedlichen Behandlung der Fälle: Liquiditätskrisen sollen durch neue Kredite, Solvenzkrisen durch Restrukturierung der Schulden gelöst werden. Das klingt im Prinzip vernünftig. Jedoch steht einer konsequenten Umsetzung dieses Ansatzes zweierlei entgegen. Zum einen bleibt dem IWF das Instrument zur adäquaten Behandlung von Solvenzkrisen verweigert, indem der von führenden IWF-Vertretern lancierte Vorschlag für ein Insolvenzrecht für souveräne Staaten von den Regierungen der USA und anderer G7-Staaten im Frühjahr 2003 abgelehnt wurde. Zum anderen erweist sich das Unternehmen der Grenzziehung zwischen Solvenz- und Liquiditätskrisen, und damit zwischen einer tragbaren und einer nicht tragbaren Verschuldung nicht nur technisch als ein überaus schwieriges Unterfangen. Denn die konsequente Anwendung der Ansätze, die die mit einer FremdwährungsVerschuldung verbundenen Risiken und Unsicherheiten explizit zu machen suchen, erfordert, so die im Folgenden ausgeführte Argumentation, im Grunde eine erheblich kritischere Bewertung des Imports von Ersparnis für die Förderung von nachholendem Wachstum.
Diese Leitlinie wurde im „Prager Rahmenprogramm" („Prague Framework", s. Köhler 2000; IMF 2002b) anlässlich des IWF-Treffens in der tschechischen Hauptstadt im Jahr 2000 festgelegt.
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Liquidität, Solvenz und Tragfähigkeit von Verschuldung zur Unschärfe der Konzepte In einem programmatischen Papier (IMF 2002a) liefert der Fonds folgende Definition zur Festlegung der Grenze der Zahlungsfähigkeit sowie der Liquidität: An entity is solvent if the present discounted value (PDV) of its current and future primary expenditure is no greater than the PDV of its current and future path of income, net of any initial indebtedness. [...] An entity is illiquid if, regardless of whether it satisfies the solvency condition, its liquid assets and available financing are insufficient to meet or roll-over its maturing liabilities (IMF 2002a: 5).
Die Solvenz gilt also als gesichert, wenn der abdiskontierte Gegenwartswert der Verschuldung nicht höher ist als das laufende und zukünftige Einkommen unter den derzeitigen Bedingungen. Anders gesagt: die Zahlungsfähigkeit gerät in Gefahr, wenn zur Bedienung der Zinsen neue Schulden aufgenommen werden müssen. Die Frage der Liquidität hingegen bezieht sich nur auf die Zahlungsunfähigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt, während die Solvenz langfristig gegeben ist. Das Problem ist jedoch, wie auch die Autoren dieses Dokuments einräumen, dass die Grenze zwischen Liquiditäts- und Solvenzkrise im Zweifelsfall sehr rasch verschwimmt, da eine Liquiditätskrise, wird sie nicht unmittelbar gelöst, in der Regel zu steigenden Refinanzierungskosten und damit zu einer Erhöhung des Gegenwartswerts der Verschuldung führt (IMF 2002a: 5). Das Konzept der debt sustainability nun versteht unter einer „tragbaren Verschuldung" die Erfüllung des Liquiditäts- sowie des Solvenzkriteriums: „Sustainability thus incorporates the concepts of solvency and liquidity, without making a sharp demarcation between them" (IMF 2002a: 4). Ebenso einbezogen in die Tragbarkeit eines bestimmten Schuldenniveaus wird die Annahme, dass dieses ohne größere Korrekturen auf der Einnahmen- oder Ausgabenseite, die an die Grenzen der politischen und sozialen Belastbarkeit eines Landes stoßen, finanzierbar ist (IMF 2002a: 6). Nun ist jedoch nicht nur die Grenze zwischen Liquidität und Solvenz eine fließende, sondern auch das Konzept der Tragbarkeit ist bei genauer Betrachtung alles andere als präzise. Denn bei den gelieferten Definitionen ist die Höhe der Kosten die zentrale Schlüsselgröße. Die Höhe des Schuldendienstes ist jedoch in erster Linie von zwei makroökonomischen Größen bestimmt: dem Zins zur Refinanzierung einer Fremdwährungsverschuldung sowie dem Wechselkurs, der darüber bestimmt, wie hoch Schuldenbestand und Schuldendienst ausgedrückt in einheimischer Währung ausfallen.2 2
Im Prinzip bezieht sich die Debatte auf sämtliche Formen der Verschuldung, also die private genauso wie öffentliche und Fremdverschuldung wie diejenige in einheimischer Währung. Wechselkursänderungen haben jedoch cet. par. nur einen Einfluss auf Kredite in ausländischer Währung.
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Kein seriöser Ökonom dieser Welt gibt sich der Illusion hin, die Entwicklung der Zinsen und des Wechselkurses in der mittleren Frist mit hoher Wahrscheinlichkeit realistisch zu schätzen oder gar als fest annehmen zu können. Denn diese Größen hängen wiederum nicht nur von schwer prognostizierbaren Politikvariablen ab, sondern auch von einer Vielzahl von intrinsisch unsicheren und hochgradig schwankenden makroökonomischen Variablen, allen voran der Entwicklung der Finanzmärkte (Daseking 2002: 12). Die Einschätzung der internationalen Gläubiger über die mittelfristige Zahlungsfähigkeit eines Landes ist entscheidend für ihre Bereitschaft, ihre Forderungen zu verlängern. In diese Einschätzung aber fließen zudem eine ganze Reihe von Faktoren ein, die häufig auf historisch basierten Erwartungen sowie durchaus nicht unveränderbaren Mehrheitsmeinungen basieren, ob und in welchem Maße Anpassungsleistungen zur Erbringung des Schuldendienstes politisch und sozial durchsetzbar seien. Zudem hängt die Zahlungsfähigkeit einer Ökonomie in Fremdwährung von ihren NettoExporterlösen ab, die wiederum von den terms of trade des Landes, von den Import* und Exportelastizitäten und weiteren Faktoren bestimmt werden (IMF 2002a: 3ff.). Daraus schließt der Fonds korrekterweise, dass die Bestimmung der Tragbarkeit einer Fremdwährungsverschuldung hohen Unsicherheiten unterliegt: „Assessments of sustainability are thus inherently probabilistic and no framework can dispense with the need for making judgments" (wiederum IMF 2002a: 6). In jüngster Zeit hat ein Teil dieser den Zustand der Unsicherheit erhöhenden Effekte zunehmend Berücksichtigung unter dem Begriff der balance sheet effects (Aghion et al. 2000 und 2003; Allen et al. 2002; Cespedes et al. 2000; sowie IMF 2003) gefunden. Anlass war die Häufung von Währungskrisen in Südostasien Ende der 90er Jahre; aus der Beschäftigung mit diesen Ereignissen entstand die so genannte dritte Generation von Modellen der Währungskrisen, die Realschuldenprobleme in den Mittelpunkt der Analyse stellen (Chang/Velasco 2000; Corsetti et al. 1998; Krugman 1997 und 2003). Balance sheet effects, auch als Realschuldeneffekte bezeichnet, erfassen die Interaktion zwischen stocks (Beständen) und flows (Flussgrößen), die durch die Veränderung des Zinsniveaus beziehungsweise des Wechselkurses erzeugt werden. Diese treten in Folge von Änderungen des Zinsniveaus bei kurzfristigen Kreditverträgen in einheimischer Währung (maturity mismatch) sowie in Folge von Änderungen des Wechselkursniveaus bei Kreditverträgen in ausländischer Währung (currency mismatch) auf. Zinsänderungen schlagen sich umso rascher in einer Veränderung des Gegenwartswertes von Verbindlichkeiten nieder, je kürzer die Laufzeiten der Kreditverträge ist; dabei führt eine Erhöhung (Senkung) des Zinssatzes zu einer steigenden (sinkenden) realen Schuldenbelastung (maturity mismatch). Eine Veränderung des Wechselkurses resultiert für Fremdwährungsschuldner in einer Veränderung des Schuldendienstes, gemessen in einheimischer Währung, wenn ein Fremdwährungsschuldner Gewinne nicht (oder nicht in für den 138
Schuldendienst ausreichendem Maß) in der Fremdwährung, sondern in einheimischer Währung erzielt. Dabei zieht eine Abwertung (Aufwertung) des Wechselkurses eine Erhöhung (Senkung) der Fremdwährungsverschuldung nach sich. Ein makroökonomischer currency mismatch entsteht immer dann, wenn ein Land eine Netto-Außenverschuldung aufweist, die höher als der laufende Exportüberschuss ist, selbst wenn einzelne Sektoren, sei es nun der Unternehmen, der Banken oder der öffentliche Sektor des Landes gegen die Realschuldeneffekte durch ausreichende Deviseneinnahmen geschützt sind. Die Erhöhung des Schuldendienstes, ob nun aus einer Währungsabwertung oder einer Zinssatzerhöhung rührend, führt zu Solvenzkrisen einzelner Sektoren der Ökonomie, die rasch auf andere übergreifen können und häufig gravierende fiskalische Kosten nach sich ziehen. Wenn beispielsweise der Realschuldeneffekt vor allem im Unternehmenssektor auftritt, überträgt dieser sich rasch über die Verschlechterung der Qualität des Forderungs-Portfolios auf die Geschäftsbanken. Um dann eine systemische Bankenkrise zu verhindern, ist ein rascher und ausreichend hoher staatlicher bail out des Bankensektors erforderlich. Dieses Phänomen hoher fiskalischer Kosten auf Grund von impliziten oder expliziten Bankeinlagenversicherungen im Kontext von Realschuldenproblemen wird auch unter dem Begriff der contingent liabilities diskutiert (Rojas-Suärez/ Weisbrod 1996; Schinasi et al. 1999). Für Konzepte zur Messung der Tragbarkeit stellt die Ex-ante-Schätzung dieser potentiellen Verbindlichkeiten des Staates, die häufig nicht einmal explizit, sondern ausschließlich implizit bestehen, ein erhebliches Problem dar (IMF 2002a: 13).
Konsequenzen der Fremdwährungsverschuldung auf den Zustand des Vertrauens Die mit den Realschuldeneffekten verbundenen Imponderabilien in Bezug auf die Tragbarkeit der Verschuldung eines Landes sind jedoch im Grunde das kleinere Problem, das sich mit einer Netto-Fremdwährungsverschuldung und den damit verbundenen Leistungsbilanzdefiziten verbindet. Denn eine externe Verschuldung erzeugt systemische Unsicherheiten, die zusätzlich zu den marktwirtschaftlich inhärenten Unsicherheitsfaktoren hinzutreten. Denn a) wird das Vertrauen in eine Schuldnerwährung systematisch dadurch untergraben, dass eine Fremdwährungsverschuldung dauerhafte latente Abwertungserwartungen schafft, die sowohl das interne als auch das externe Zinsniveau für diese Ökonomie erhöhen, und b) die Effekte einer Abwertung kumulativ wirken, unabhängig davon, welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen ergriffen werden. Zu a): Zwar vermag eine Abwertung der Währung auf dem Gütermarkt insofern eine verbesserte Schuldentragbarkeit herzustellen, als diese die Importe verteuert und Exporte verbilligt, die Handelsbilanz also verbessert. Dies gilt jedoch zum einen nur unter bestimmten Voraussetzungen. Wenn beispielsweise die Importelastizität bezogen auf die Preise niedrig ist, aber hoch in Relation zum Bin139
nenwachstum, oder wenn die Exporte in hohem Maß auf importierten Vorprodukten basieren, bleiben die Effekte einer realen Abwertung auf die Handelsbilanz gering. Zum anderen wird die Verbesserung der realen Wettbewerbsfähigkeit im Falle eines Netto-Fremdwährungsschuldnerlandes durch den Realschuldeneffekt der Abwertung konterkariert. Bei hoher Verschuldung und geringem belebendem Effekt auf die Handelsbilanz kann eine Abwertung gar hohe volkswirtschaftliche Netto-Kosten erzeugen. So können für die Wirtschaftspolitik (vor allem im Zusammenhang mit fixen oder quasi-fixen Wechselkursen) Anreize zur Nicht-Realisierung oder zumindest zur Verzögerung einer realen Abwertung entstehen.3 Dies hat gravierende Konsequenzen: [...] if necessary devaluations are postponed or prevented, the countries tend to real overvaluation which hampers the international competitiveness and tends to increase the current account deficit even further. A current account deficit as such is a warning signal with respect to competitiveness and the exchange rate (Herr/Priewe 2003: 38).
Im Falle eines außenverschuldeten Landes bestehen im Grunde immer zumindest latente Abwertungserwartungen, denn bei akuten Zahlungsbilanzengpässen, die aus den verschiedensten Gründen immer wieder auftreten können, bleibt schlicht kein anderer Weg als der der Abwertung. Dies fuhrt zu einem Risikoaufschlag seitens der internationalen Gläubiger, dem sogenannten spread. Dieser Aufschlag kann sowohl im Zeitverlauf, das heißt je nach aktueller Einschätzung der Schuldentragbarkeit, als auch zwischen verschiedenen Schuldnerökonomien erheblich schwanken, aber er ist aufgrund dieser inhärenten Abwertungserwartungen immer positiv. Dasselbe gilt für das interne Zinsniveau, insbesondere unter den Bedingungen freien Kapitalverkehrs: die Zentralbank muss den inländischen Investoren einen Risikoaufschlag in Form eines erhöhten Zinses bieten, will sie eine anhaltende Kapitalflucht in eine ausländische Währung verhindern, die frei von diesen Abwertungserwartungen ist. Das heißt auch, dass Investoren in Schuldnerländern unter einem strukturellen Wettbewerbsnachteil leiden, indem sie vor allem in einheimischer, aber auch in Fremdwährung höhere Refinanzierungskosten zu tragen haben als Investoren in Nicht-Schuldnerländern. Zu b) Jenseits der direkten, durch die Umbewertung von Bestandsgrößen verursachten Kosten entfaltet eine reale Abwertung kumulative Wirkungen. Die Änderung des Devisenpreises setzt eine Abwertungs-Inflations-Spirale in Gang, 3
Die daraus resultierende Unsicherheit über den zukünftigen wirtschafts- und insbesondere währungspolitischen Kurs steht daher auch nicht zu Unrecht im Mittelpunkt von Modellen zur Erklärung von Währungskrisen der zweiten Generation, die auf die Existenz von multiplen Gleichgewichten abstellen (vgl. Obstfeld 1986). Die Unsicherheit darüber, ob die Zentralbank den bestehenden Wechselkurs verteidigen oder aber doch abwerten wird, löst dann ab einem bestimmten Moment die Flucht aus der Währung aus. In den 90er Jahren haben sowohl die Währungskrisen des EWS als auch der Zusammenbruch des mexikanischen Peso und dann die Krisen der südostasiatischen Währungen die Forschung in dieser Richtung vorangetrieben.
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die den abwertungsvermittelten Real Schuldeneffekt für die einheimischen Fremdwährungsschuldner verstärkt. Jenseits von stabilitätspolitischen Zielen erfordert sie allein schon deshalb eine Verhärtung der Geldpolitik, um das Weiterdrehen dieser Spirale zu beenden. Denn ohne geldpolitische Eingriffe fuhrt der Anstieg der Inflation zu weiteren Abwertungserwartungen, die wieder neue Kapitalexporte zur Vermeidung der erwarteten Vermögensverluste nach sich ziehen und den Wechselkurs weiter unter Druck setzen. Dem muss die Geldpolitik zuvorkommen, indem sie per Zinssteigerung den Kapitalabfluss stoppt und per Repression der Binnenmarktnachfrage das Importvolumen senkt, mit positiver Wirkung auf Handelsbilanz und internationale Zahlungsfähigkeit. Die Zinserhöhung zur Konterkarierung des Realschuldeneffekts der Abwertung bei Fremdwährungsschuldnern löst jedoch ihrerseits wiederum Realschuldeneffekte bei denjenigen Schuldnern aus, die Verbindlichkeiten in einheimischer Währung kontrahiert haben. Deren Verbindlichkeiten sind in der Regel kurzfristig, da die dem Schuldnerstatus inhärenten Abwertungserwartungen langfristige monetäre Verträge zu risikoreich machen; die Eindämmung des currency mismatch auf der einen Seite erzeugt eine Verschärfung des maturity mismatch. Unternehmens- und Bankensektor sowie Staat sind also in Schuldnerökonomien auf mehrfache Weise dem Risiko von Solvenzkrisen ausgeliefert, die sich rasch in Fiskal- und Währungskrisen niederschlagen können und vice versa. Auf diese Weise erzeugt eine Netto-Fremdwährungsverschuldung eine systematische Erhöhung des Zustands der Unsicherheit in der Ökonomie.
Von Unsicherheit durch Verschuldung zur Abkehr vom Growth cum Debt Eine Netto-Außenverschuldung generiert also spezifische marktendogene Unsicherheiten, die über den „normalen" Zustand der Unsicherheit, der das Handeln der ökonomischen Akteure grundsätzlich leitet, deutlich hinausgehen. Das Ausmaß dieser spezifischen marktendogenen Unsicherheiten korreliert positiv mit der Höhe der Verschuldung, doch treten sie grundsätzlich auf, sobald ein Land eine Netto-Schuldenposition in Fremdwährung einnimmt und diese nicht durch dauerhafte Handelsbilanzüberschüsse, die die Möglichkeit einer sehr raschen und weitreichenden Entschuldung eröffnen, konterkarieren kann. Die erhöhte ökonomische Unsicherheit, die mit einer Schuldnerposition verbunden ist, wird inzwischen von der Mehrheit der Ökonomen in- und außerhalb des Fonds zumindest partiell durch die Berücksichtigung von balance sheet effects wahrgenommen. Damit stellt sich die Frage, welcher entwicklungsstrategische Nutzen jenseits der Frage der Schuldentragbarkeit, das heißt letztendlich der aktuellen Zahlungsfähigkeit, dem Import externer Ersparnisse zugewiesen werden sollte. Aufschlussreich ist hier eine empirische Studie, die nach den Auswirkungen einer Netto-Fremdwährungsverschuldung auf das Wachstum fragt (Pattillo et al. 141
2002 und 2004). Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass im Durchschnitt ab einer Verschuldung (abdiskontierter Netto-Gegenwartswert) von etwa 17-20% im Verhältnis zum BIP sowie einem Verhältnis von Devisenverbindlichkeiten zu Exporten von 80-85% eine negative Wirkung auf das Investitionsverhalten ausgeht.4 Dies würde bedeuten, dass der überwiegende Teil der Entwicklungsländer eine wachstumshemmende Verschuldung aufweist; selbst innerhalb der Gruppe der gering verschuldeten Länder gemäß der Kategorisierung der Weltbank liegt das Verschuldungsniveau vielfach höher als das von Pattillo et al. angegebene maximale investitionsunschädliche Niveau.5 Als Erklärung ziehen die Autoren der Studie Theorien zur Erklärung von Ursachen und Wirkungen eines Schuldenüberhangs heran. Unter diesen ist vor allem der Ansatz von Serven (1997) relevant, der das Problem unter Berücksichtigung der Literatur zum Investitionsverhalten unter Unsicherheit behandelt. Demnach ziehen Investoren in einem hochgradig unsicheren Umfeld aufgrund zu hoher externer Verschuldung eine Wartehaltung vor, die impliziert, dass unter derartigen Bedingungen keine großen, auf langfristige Gewinnerwartungen angelegten Investitionen getätigt werden, selbst wenn gleichzeitig eine Verbesserung der Fundamentaldaten stattfindet. Das heißt, dass sowohl das Volumen der Investitionen geringer ausfällt als auch die Effizienz der realisierten Unternehmungen aufgrund der Verkürzung des Zeithorizonts niedriger liegt, als dies in einem Umfeld ohne spezifische Unsicherheit der Fall wäre. Wenn empirisch gewonnene Erkenntnisse nahe legen, dass die Grenze, bei der die Wachstumsimpulse einer Verschuldung negativ werden, sehr niedrig liegt, und wenn als Folge der Verschuldung eine Investitionsblockade angenommen wird, die den erhöhten Unsicherheiten aufgrund der damit verbundenen (latenten) Abwertungserwartungen und der kumulativen Wirkung von (potentiellen) Abwertungen zuzuschreiben ist, so fuhrt dies im Grunde zu der Erkenntnis, dass, wenn überhaupt, nur eine sehr geringe Fremdwährungsverschuldung der nachholenden Entwicklung von Entwicklungsländern forderlich ist. Trotz ihrer bahnbrechenden empirischen Erkenntnisse bleiben Pattillo et al. theoretisch allerdings nach wie vor in den Ansätzen des Growth-cum-Debt verhaftet, wie ihre weiteren Ausführungen zeigen. Zur Untermauerung ihrer These, dass zwar anfanglich eine Verschuldung wachstumsforderlich ist, aber ab einem relativ frühen Punkt die wachstumsfordernden Impulse einer Verschuldung überwiegen, ziehen sie zwei getrennte Theoriestränge heran, einen zu Wachstum per 4
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Wenn die Verschuldung das doppelte Niveau erreiche, also etwa 35 bis 40% des BIP bzw. 160 bis 170% der Exporte, dann sei auch das Niveau der Tragbarkeit überschritten, so Pattillo et al. (2002: 19; zur Kritik der verwandten Messgrößen s. unten). Die Autoren betonen dabei, dass die quantitativen Aussagen mit relativ hoher Unsicherheit belegt seien. Die Kategorisierung nach Schuldnerklassen findet sich unter World Bank (2004); die Angaben zum Verschuldungsniveau der Entwicklungsländer ist World Bank (2003) entnommen.
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Verschuldung und einen zur Überschuldung. Die einzige Erklärung, die sie für den Übergang vom Wachstum per Verschuldung zur wachstumshemmenden Verschuldung bereit halten, sind ausgerechnet Politikfehler: die anfänglich zur effizienten Investitionsfinanzierung kontrahierte Verschuldung sei aufgrund schlechter Politiken und trotz sich verschlechternder externer Bedingungen über das richtige Maß angestiegen (Pattillo et al. 2002: 5). Es ist jedoch erstens willkürlich und zweitens auch nicht wahrscheinlich, dass bei der großen Mehrheit der Entwicklungsländer, die eben eine Verschuldung über 20% des BIP aufweisen, eine falsche einheimische Politik als Erklärungsmuster herangezogen werden kann. Eher ist es wohl so, dass diese Länder dem mainstream der ökonomischen Entwicklungstheorien gefolgt sind, internationales Kapital zur Finanzierung des heimischen Wachstums zu importieren. Denn sowohl post-keynesianische als auch neoklassisch geprägte entwicklungstheoretische Ansätze postulieren als eines der zentralen Hemmnisse zur Überwindung der Unterentwicklung eine Sparlücke. Diese Sparlücke muss durch Kapitalimporte (ob in Form von Krediten, Portfolio- oder Direktinvestitionen) gefüllt werden, die die Realisierung einer für eine nachholende Entwicklung ausreichend hohen Investitionsquote erlauben. Frühe Ansätze (Chenery/Strout 1966) wandten dafür das äußerst simple postkeynesianische Wachstumsmodell von Harrod-Domar auf die Entwicklungshilfe und im Allgemeinen auf Kapitalimporte zur Ermöglichung einer nachholenden Entwicklung an. Und obschon Harrod als hauptverantwortlicher Autor des Theorems dasselbe später zurückzog, weil er es für theoretisch schwach fundiert hielt (Easterly 1997: 2), geistert es in Form der Berechnung des Kapitalimportbedarfs zur Erzielung einer bestimmten Wachstumsrate noch immer durch die Modelle der Ökonomen von IWF und Weltbank (Easterly 1997; Fritsche 2002: 114ff.). Im Zuge der neoklassischen Kritik der Entwicklungstheorie in den 70er Jahren (getting the prices right) behielten trotz der theoretischen Schwächen des Ansatzes Kapitalimporte ihren entwicklungsstrategischen Stellenwert, wenn auch die Verfechter dieses Ansatzes Wert darauf legten, dass nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität der Kapitalimporte beziehungsweise der damit realisierten Investitionen von Bedeutung sei („Verwendungshypothese"). Solange kein öffentliches Defizit zu verzeichnen sei, das - aufgrund der unterstellten geringeren Effizienz des Staates im Vergleich zum Privatsektor - eine Fehlallokation der importierten Ressourcen anzeige, sei ein steigendes Leistungsbilanzdefizit Ausweis für eine richtige Wirtschaftspolitik, nicht etwa Ausdruck ihrer Inkonsistenz. Korrekt alloziierte Investitionen würden zu Wachstum und damit auch zur Erhöhung von Exporten fuhren, die dann eine Rückzahlung der Auslandsverbindlichkeiten ermöglichten (Corden 1994, Kap. 6). Während die neoklassischen Ansätze immerhin einen intertemporalen Ansatz des Ausgleichs der Leistungsbilanz verfolgten, der die zukünftige Entschuldung zumindest vorsah (allerdings ohne eine Begründung dafür liefern zu können, auf 143
welchen Marktprozessen der Übergang vom verschuldungsbasierten Wachstum zur Phase der Entschuldung basieren soll; s. unten), schleppen die jüngeren Tragbarkeitsansätze zwar den theoretischen Ballast der Sparlücken-Hypothese implizit noch immer mit sich, weisen jedoch darüber hinaus eine auf die Sicherung der Zahlungsfähigkeit verkürzte Sichtweise auf. Die eingangs aufgeführte Definition von Schuldentragbarkeit zielt ausschließlich auf die Stabilisierung des Schuldenniveaus, nicht mehr auf den Abbau des Schuldenbestands. Damit rückt im Grunde die Gläubigerperspektive in den Mittelpunkt, die an der geregelten Bedienung ihrer Forderungen ein Interesse hat, nicht aber an den Entwicklungsperspektiven der Schuldnerländer. Das Hauptproblem des Sparlücken-Ansatzes besteht jedoch darin, dass es keinen auf Marktprozessen basierenden Zusammenhang zwischen der Akkumulierung von Devisenverbindlichkeiten und dem Wachstum aus der Verschuldung per Exportüberschuss gibt (Nitsch 1995 und 1999; Riese 1989 und 1997). Da Kapitalimporte zur Investitionsfinanzierung aufgrund der gestiegenen Nachfrage am Devisenmarkt immer eine reale Aufwertung der heimischen Währung erzeugen, wird die produktive (Re-)Strukturierung grundsätzlich stärker auf die Binnennachfrage und nicht auf den Exportmarkt hin orientiert sein, falls keine Politikintervention stattfindet, da die Währungsaufwertung zu einem Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit führt. Ein Gleichgewicht der Zahlungsbilanz setzt jedoch voraus, dass - zumindest über einen absehbaren Zeitraum - Deviseneinnahmen in Höhe der vorherigen Kapitalimporte einschließlich ihrer Verzinsung erzielt werden. Binnenmarkt-orientierte Investitionen, die durch externe Ersparnisse finanziert werden, mögen die heimischen Produktionskapazitäten stärken und die Produktivität erhöhen, sie fuhren jedoch zu einem negativen Devisensaldo und damit zu einem Leistungsbilanzdefizit im Zeitverlauf. Daher erfordert die Erzielung einer positiven Handels- und Leistungsbilanz zum Zweck des externen Schuldenabbaus bei einem extern verschuldeten Land grundsätzlich die Einschränkung der Binnennachfrage und eine Abwertung der Währung zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Die destabilisierenden Vermögenseffekte einer Abwertung und, damit verbunden, einer kontraktiven Geldpolitik resultieren in der Unvereinbarkeit von externen Überschüssen mit dauerhaftem Wachstum. Im Gegenteil, eine Netto-Fremdwährungsverschuldung in Kombination mit einem Leistungsbilanzdefizit zwingt dazu, die Wirtschaftspolitik auf die Sicherstellung eines ausreichend hohen NettoKapitalzustroms zur Finanzierung der kumulativen Leistungsbilanzdefizite auszurichten. Daraus erwächst die Notwendigkeit, die Geld- und Fiskalpolitik an einen marktinduzierten Zyklus des stop and go anzupassen, der von der Verfügbarkeit internationalen Kapitals abhängt (Fritz 2002: 132ff; Schvarzer 2002). Eine stop-Politik wird immer dann unvermeidlich, wenn die autonomen Kapitalimporte zu sinken drohen; sie erzwingt eine Repression der Binnennachfrage zur kurzfristigen Maximierung von Exporten und zur Reduzierung der Importe, vermittelt über eine deutliche Verhärtung der Geld- und Fiskalpolitik, und führt 144
auch zu sinkenden Reallöhnen und steigender Arbeitslosigkeit. Die Aktivierung der Handels- oder gar der Leistungsbilanz wird folglich auf Kosten der Binnenökonomie erkauft. Die go-Phase hingegen ist durch Binnenwachstum, steigende Löhne und steigende Beschäftigung gekennzeichnet, die durch hohe Kapitalimporte, eine erneute Ausweitung des Leistungsbilanzdefizits und damit auch eine weiter steigende Verschuldung ermöglicht wird6. So kommt es, dass Wachstum in solchen Ökonomien mit der Sicherung von Kapitalimporten in Verbindung gebracht wird, d. h. mit weiterer Schuldenakkumulierung, während andererseits Schuldenreduzierung mit ökonomischer Rezession assoziiert wird. Der Mythos von der Sparlücke als Grundlage nachholender Entwicklung erhält auf diese Weise eine erneute - falsche - Begründung. Neuere Publikationen zu den Problemen der Fremdwährungsverschuldung stützen die Ablehnung der These der wachstumsfördernden Kapitalimporte. So kommen Eichengreen et al. (2002; 2003) auf der Grundlage breit angelegter empirischer Studien zu dem Schluss, dass Länder, die keine langfristige Investitionsmittel in einheimischer Währung erhalten, selbst wenn sie hervorragende Fundamentaldaten aufweisen, eine erheblich höhere makroökonomische Volatilität aufweisen als Länder, die nicht dieser Beschränkung unterliegen. Dabei stellen sie fest, dass selbst schnell wachsende so genannte emerging markets mit robusten Fundamentaldaten in einheimischer Währung nur kurzfristige Finanzierung, langfristige Kredite hingegen nur in Fremdwährung erhalten. Die Autoren haben dies das Problem der original sin genannt, der „Ursünde" der Fremdwährungsverschuldung. Diese „Ursünde" begründen sie mit einem Bündel historischer und anderer Faktoren, die jedoch explizit nicht heimischen Politikfehlern entspringen. Analytisch erklären sie die hohe Korrelation von „original sin" und Volatilität mittels einer konsequenten Anwendung der Realschuldeneffekte der Bilanzveränderungen einer externen Verschuldung auf die makroökonomische Konstitution dieses Ländertyps. Demnach macht die wechselseitige Kumulation von currency und maturity mismatches die finanzielle Fragilität aus, die die so genannten emerging markets, die großen Kapitalimporteure unter den Entwicklungsländern, so deutlich prägt.
Abwehr von Kapitalimporten als entwicklungsstrategische Leitlinie Nicht umsonst basierte die Strategie aller Länder und Regionen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine erfolgreiche nachholende Entwicklung durchlaufen haben, also Japan, die Bundesrepublik Deutschland sowie in jüngster Vergangenheit eine Reihe asiatischer Länder wie China, auf einer Strategie sehr geringer Fremdwährungsverschuldung (Dooley et al. 2003). 6
Diese Unvereinbarkeit von interner und externer Stabilisierung kann auch im so genannten Swan-Diagramm erfasst werden; vgl. Krugman (1998) sowie Roy (2000).
145
Dementsprechend sollte eine wirtschaftliche Entwicklungsstrategie für die Entwicklungsländer nicht auf ein Growth-cum-Debt zielen, wo die Bereitstellung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen für die Attrahierung internationaler Investitionen eine immer größere Bedeutung erlangt. Stattdessen scheint es notwendig, eine Strategie des Wachstum-mit-ein-bißchen-Verschuldung-bei-Leistungsbilanzüberschüssen zu verfolgen, eine Art Low-Debt-Growth. Es ist sicherlich nicht sinnvoll, völlig von einer Fremdwährungsverschuldung abzusehen (No-Debt-Growth), schließlich gilt es im Rahmen einer Strategie der nachholenden Entwicklung ein gewisses Quantum an Technologie und Know-how zu importieren und unter spezifischen Umständen von den Vorteilen des internationalen Kapitalmarkts zu profitieren. Eine geringe Fremdwährungsverschuldung kann für ein Land, das an dem Problem des original sin einer international nicht kontraktfahigen Währung leidet, nicht über eine liberale Wirtschaftsstrategie erreicht werden. Denn bei liberalisiertem Kapitalverkehr ist es aus betriebswirtschaftlicher Sicht immer billiger, sich in fremder Währung zu verschulden, weil die Dollarzinsen immer niedriger sind als die einer Entwicklungsländerwährung - nur dass diese Verschuldung später gravierende volkswirtschaftliche Kosten nach sich zieht. Daher sind auf verschiedenen Ebenen staatliche Interventionen in den Markt notwendig, deren eventuell auftretende Effizienzverluste dadurch eingegrenzt werden können, dass ein zentrales Kriterium für die Intervention immer auch die Herstellung und Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit sowie die Sicherung der internen Preisniveaustabilität sein muss. Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine ganze Reihe von Maßnahmen nötig und möglich, die je nach ökonomischer und gesellschaftlicher Struktur der Länder durchaus variieren kann. Dies umfasst Konvertibilitätsbeschränkungen und Kapitalverkehrskontrollen, eine gezielte, eventuell zeitlich begrenzte und von Exporterlösen abhängige Protektionismuspolitik zum Schutz bestimmter Bereiche des Binnenmarktes gegen Importe, gestützt durch öffentliche Kredite in inländischer Währung, eine Steuerung von ausländischen Direktinvestitionen in exportorientierte Bereiche, indem bestimmte Exportquoten zur Auflage gemacht werden, eine öffentliche Nachfrage, die die Binnenproduktion stützt, gezielte öffentliche Kapitalexporte in Form der Kreditgewährung an andere Länder und Investitionen in diesen Ländern und anderes mehr (ausführlich s. hierzu Lüken gen. Klaßen 1993; sowie Metzger 2003). In diesem Sinne ist das zentrale Kriterium, das eine entwicklungsstrategische Schuldentragbarkeit anzeigt, indem es die Fähigkeit zur Schuldentilgung mittels Netto-Deviseneinnahmen ausweist, das Verhältnis zwischen Verschuldung und Leistungsbilanz (Flassbeck 2004: 1). Hat dieses Verhältnis ein negatives Vorzeichen, verweist es auf eine kumulative Verschuldung und damit auf zunehmende Entwicklungshemmnisse. Ist die Relation hingegen positiv, das heißt steht einer Netto-Fremdwährungsverschuldung (stock) ein positiver Leistungsbilanzsaldo (flow) gegenüber, der im Zweifelsfall einen relativ raschen Abbau der 146
Verschuldung möglich erscheinen lässt, so können die wachstumshemmenden Effekte der Verschuldung als gering oder nicht existent betrachtet werden. Ein Leistungsbilanzüberschuss (wobei der Handelsbilanzüberschuss die erste Phase der Entschuldung markiert und der Leistungsbilanzüberschuss die zweite) suggeriert, dass die Währung nicht überbewertet (und somit abwertungsverdächtig) ist, sondern eher unterbewertet (und damit aufwertungs verdächtig). Damit kann sich die einer Fremdwährungsverschuldung inhärente spezifische Unsicherheit mit ihren fatalen Auswirkungen auf Geld- und Fiskalpolitik sukzessive verringern, was sich dann in einem sinkenden Zinsniveau und der Fristenverlängerung der internen Kreditverträge niederschlägt. Zählt man die Probleme zusammen, die in den neueren balance sheetAnsätzen und in der Literatur zum Investitionsverhalten unter Unsicherheit mit einer Netto-Fremdwährungsverschuldung in Verbindung gebracht werden, so scheint es an der Zeit, sämtliche Theorien des Growth-cum-Debt ad acta zu legen. Denn aufgrund der sich wechselseitig verstärkenden destabilisierenden Effekte, die von Zins- oder Wechselkursänderungen ausgehen, schafft eine externe Verschuldung ein Klima der Unsicherheit, das das Investitionsverhalten nachhaltig beeinträchtigt. Daraus folgt, dass allenfalls ein wenig Verschuldung, möglichst bei gleichzeitig überschüssiger Leistungsbilanz, der Entwicklung förderlich ist. Daraus folgt auch, dass für hochverschuldete Länder - und selbst bei der Gruppe der sogenannten emerging markets ist die Mehrheit als hochverschuldet einzuschätzen - nach wie vor die Errichtung eines internationalen Insolvenzrechts zur koordinierten und effektiven Entschuldung notwendig ist. Dass eine Schuldenreduzierung Gläubigerinteressen beschneidet, ist offensichtlich. Aber auch ein Leistungsbilanzüberschuss bei Entwicklungsländern, die das Ziel einer nachhaltigen nachholenden Entwicklung verfolgen, hat Konsequenzen für die Leistungsbilanzen der anderen Länder der Welt, insbesondere der Industrieländer. Dafür müssen die Gläubigerländer zulassen, dass der Abbau ihrer Forderungen gegenüber den Schuldnerländern mit dem Aufbau eines Leistungsbilanzdefizits auf ihrer Seite einhergeht (Flassbeck 2004: 2) - schließlich ist der Welthandel ein geschlossenes System, in dem die Überschüsse des einen zwangsläufig Defizite eines anderen in gleicher Höhe erfordern. Dies ist sicherlich der konfliktivste aller Punkte, handelt es sich hier doch um nichts anderes als den Anspruch der Entwicklungsländer auf eine Umverteilung der Reichtümer dieser Welt zu ihren Gunsten.
Zur Bedeutung einer regional fokussierten Forschung und Lehre am Beispiel der Fremdwährungsverschuldung Was die Bedeutung der Regionalforschung innerhalb der Ökonomie angeht, so zeigt dieses Thema, das durchaus als repräsentativ für Themen und Problemstellungen einer regional fundierten Forschung gelten kann, dass die Wahrnehmung der Perspektive „der anderen" den Blickwinkel tatsächlich verschiebt. Es ist 147
nachvollziehbar, dass US-amerikanisch oder europäisch geprägte Lehrbücher dazu tendieren, das Problem der Verschuldung aus der Gläubigerperspektive zu betrachten, wie dies seit geraumer Zeit durch die Reduzierung des Themas auf die Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit zu beobachten ist. Um diese Verkürzung - die nicht der Simplifizierung des Problems dient, sondern letztendlich spezifische Akteursinteressen in den Vordergrund stellt korrigieren zu können, reicht es nicht aus, sich mit der nackten Empirie spezifischer Länder und Regionen in Form von Datensätzen zu befassen. Darüber hinaus ist es notwendig, komplexere wirtschaftspolitische und gesellschaftliche Zusammenhänge sowie die akademische und gesellschaftliche Debatte in diesen Ländern wahrzunehmen und zu rezipieren. Erst das Zusammenfügen der unterschiedlichen Sichtweisen, hier also das gleichberechtigte Nebeneinanderstellen von Gläubiger- und Schuldnerperspektive ergibt ein vollständiges Panorama der Ursachen und Konsequenzen einer externen Verschuldung. Diese Notwendigkeit des Wahrnehmens und Zusammenfügens unterschiedlicher Perspektiven gilt für viele Themen ähnlich. Will man das bloße Übertragen von Denkschablonen, die in der Regel im Kontext entwickelter Ökonomien entstanden sind, verhindern, will man auch das Denken vom Rand, das immer wieder kreative Inputs auch in die Wirtschaftswissenschaft geliefert hat, ermöglichen und fordern, dann muss die Weiterfuhrung einer regional fokussierten Forschung und Lehre innerhalb der Wirtschaftswissenschaften, wie Manfred Nitsch sie über Jahrzehnte betrieben und dabei erfolgreich Studierende und Promovenden aus Deutschland und Lateinamerika geprägt hat, hohe Priorität haben.
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Katja Hujo
Wirtschaftskrisen und sozioökonomische (Un-)Sicherheit in Lateinamerika La idea de que una inseguridad económica generalizada amenaza el respaldo político a las reformas en curso orientadas al mercado ha pasado a ser una de las más escuchadas en los debates actuales sobre los asuntos latinoamericanos. Rodrik (2001: 7) Economic security promotes happiness, and is beneficial for growth and social stability. ILO (2004: 1)
I.
Einleitung
Seit die internationalen Finanz- und Währungskrisen der letzten Dekade von Mexiko (1994) über Asien, Russland und Brasilien (1997-99) bis Argentinien (2001) gerade in den so genannten emgerging markets zu schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Einbrüchen gefuhrt haben, hat die Entwicklungsdebatte eine neue Richtung erhalten. Das nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaften konkurrenzlose Paradigma, von John Williamson (1990) mit Bezug auf den Stammsitz der dominanten Akteure in diesem Politikfeld als Washington Consensus bezeichnet, ist zunehmend in die Kritik geraten und wird allenfalls noch mit zahlreichen Ergänzungen als wirtschaftspolitisches Leitbild akzeptiert (vgl. Williamson 2004, Kuczynski/Williamson 2003 u.a.). Neben den genannten Krisen trugen dazu auch die unbefriedigenden Fortschritte bei der Verringerung der weltweiten Ar-
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mut (mit Ausnahme Chinas und Indiens) und eine allgemeine Verschärfung der Verteilungsproblematik bei, die in Lateinamerika besonders ausgeprägt ist.1 Es überrascht deshalb nicht, dass seit Mitte der 90er Jahre eine Flut von Studien und neuen Ansätzen publiziert wurde, die sich mit der Krisen- und Armutsproblematik auseinandersetzen und dabei Begriffe wie Volatilität, Vulnerabilität und Unsicherheit sowie auf der Policy-Ebene die Prävention und das Management von Krisen in den Vordergrund heben. Die theoretische und politische Auseinandersetzung mit Krisen 2 ist dabei kein neues Phänomen, sondern allenfalls in den ersten Jahren der jüngsten Globalisierungseuphorie in den Hintergrund getreten. Gerade das Auftreten von abrupten wirtschaftlichen Abschwüngen und Depressionen wurde immer wieder zum Anlass genommen, das Auseinanderfallen zwischen einer in harmonischen Gleichgewichtskategorien operierenden (neoklassischen) Theorie und der Realität zu beklagen und nach neuen Antworten zu suchen. Diese reichten von der Zielsetzung einer Überwindung des Kapitalismus bis zum Glauben an die Möglichkeit einer staatlichen Steuerung desselben: Postulierte Marx noch, der Kapitalismus würde an seinen zyklischen Krisen zugrunde gehen, legte Keynes nach der Weltwirtschaftskrise 1929 in seiner General Theory (1936) den Grundstein für eine staatliche Krisenpräventions- bzw. Konjunkturpolitik auf Basis der marktwirtschaftlich-demokratischen Prinzipien von „Freiheit und Effizienz" und avancierte damit zur dominanten ökonomischen Denkschule der Nachkriegszeit. Im Bereich der Sozialpolitik wurde die Ausweitung von staatlichen Leistungen, sei es im Rahmen der an formelle Erwerbstätigkeit gebundenen Bismarckschen Sozialversicherung oder als universelle Grundsicherung á la Beveridge, als wohlfahrtsstaatliches Komplement der Strategie staatlicher Nachfragestabilisierung gesehen: Über progressive Steuern und Beiträge finanzierte Sozialleistungen fungierten als automatische Stabilisatoren zur Glättung der Konjunkturzyklen. Die nächste globale Krise Anfang der 70er Jahre verwies jedoch den Steuerungsoptimismus keynesianischer Vollbeschäftigungspolitik in seine monetären Grenzen. Steigende Inflationsraten bei stagnierender Beschäftigung signalisierten das Ende des goldenen Zeitalters, das in Lateinamerika in die Schuldenkrise von 1982 mündete. 3 Ein erneuter globaler Theorie- und Politikwechsel wurde eingeleitet, welcher Stabilisierungs- und Strukturanpassungspolitik den Vorzug vor staatlicher Intervention, Protektionismus und fiskal- sowie geldpolitischer Nachfragestimulierung gab. 1
2 3
Für einen statistischen Überblick vgl. Cepal (2003), World Bank (2001a) sowie ILO (2004). Vgl. für eine Einführung in Begriff und Geschichte der Wirtschaftskrise Born (1988). Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass in einigen der von der Schuldenkrise betroffenen Ländern, v.a. im Cono Sur, in der zweiten Hälfte der 70er Jahre bereits orthodox-monetaristische Liberalisierungsprogramme implementiert wurden, die in Verbindung mit externen Faktoren die Explosion privater Verschuldung ermöglichten.
154
Die Tatsache, dass sich gegenwärtig auch verstärkt Vertreter der neoklassisch-monetären Schule mit dem Krisenphänomen auseinandersetzen, verweist auf einen neuen paradigmatischen Zyklus, da wir es im Gegensatz zur Marktkonstellation der Inflationskrise der 70er Jahre seit mehreren Jahren mit einer Krisenkonstellation zu tun haben, die als direkte Folge der Stabilisierungs- und Liberalisierungspolitik der 80er und 90er Jahre interpretiert werden kann und die in der weltweiten Problematik steigender Arbeitslosigkeit und der Vielzahl systemischer Finanz- und Währungskrisen ihren deutlichsten Ausdruck findet.4 Die jüngsten Krisen sind deshalb nicht nur Wirtschaftskrisen, sondern wie in der Vergangenheit auch Krisen desjenigen theoretischen Modells, welches die Wirtschaftspolitik der letzten zwei Dekaden maßgeblich geprägt hat. Im folgenden Beitrag soll eine erste Einschätzung dieser noch jungen Debatte geleistet werden, und zwei Teilbereiche der innerhalb der scientific Community aus den Krisen gewonnenen Einsichten sollen kritisch beleuchtet werden. Zum einen soll untersucht werden, welche makroökonomischen Empfehlungen die derzeitige Diskussion dominieren, um in Zukunft systemische Finanz- und Währungskrisen zu verhindern sowie die zunehmende Volatilität der Wirtschaftsentwicklung in der Dritten Welt zu stabilisieren und besonders die Belange der Ärmsten zu berücksichtigen. Zweitens wird analysiert, welche Rolle der Sozialpolitik bei der Prävention und Bewältigung von Krisen zukommen soll, und inwiefern die begonnene Transformation der wohlfahrtsstaatlichen Regime in Lateinamerika im Rahmen der neuen Ansätze in Frage gestellt bzw. gestützt wird. Zur besseren Einordnung der Thematik wird ein kurzer Überblick über die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Region vorangestellt. Als zentrale These innerhalb des Aufsatzes soll herausgearbeitet werden, dass für Entwicklungsländer eine höhere wirtschaftliche Unsicherheit und Anfälligkeit für Krisen im Vergleich zu den Industrieländern prägende Merkmale bleiben werden,5 solange die interne Einkommensbildung und damit auch die fiskalund sozialpolitischen Handlungsspielräume des Staates dem Diktat einer schwachen Währung und des externen Schuldendienstes unterworfen sind. Die erhöhte Unsicherheit, die eine schwache Schuldnerwährung für monetäre Verträge jeglicher Art im Vergleich zu den globalen hard currencies impliziert, kann daher als der zentrale endogener Störfaktor für die Entwicklung dieser Länder bezeichnet werden (vgl. Nitsch 1999).
4 5
Zum Problem der Arbeitslosigkeit vgl. Riese 1996. Ciaessens etal. (2001: 2) zählen 117 Krisen dieser Art in 93 Ländern in den 80er und 90er Jahren. De Ferranti et al. (2000) bestätigen dies empirisch: Die langfristige Instabilität in Lateinamerika (Schwankungen des BIP) beträgt das Zweifache eines Industrielandes, in Bezug auf Konsumschwankungen das Dreifache. Vgl. zu Messungen von Volatilität auch Rodrik (2001).
155
II.
Lateinamerika - Kontinent der Krise?
Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Lateinamerikas nach der Schuldenkrise von 1982 verlief für die Mehrzahl der Länder in der Region unbefriedigend. Die internationalen Kredit- und Geberorganisationen knüpften ihre finanzielle Unterstützung in den von den privaten Kapitalmärkten abgeschnittenen überschuldeten Ländern an die Durchführung rigoroser Stabilisierungs- und Strukturanpassungsprogramme, die zu wirtschaftlicher Stagnation bzw. sinkendem Pro-Kopf-Einkommen, steigender Arbeitslosigkeit und einer Verschlechterung der sozialen Indikatoren führte. Trotz dieser negativen Bilanz und zunehmender Kritik an den sozialen Kosten der neuen Politik gelang in den 90er Jahren eine Konsolidierung des Modells. Die politischen und wirtschaftlichen Umbrüche nach 1989 sowie die zunehmende Verflechtung der Weltwirtschaft und -gesellschaft unterstützten den neuen entwicklungspolitischen Konsens auf Basis marktwirtschaftlich-liberaler Prinzipien und verwiesen die Experimente und Diskussionen zwischen herrschender Meinung und Gegenmeinung sowie jegliche Spielart „populistischer Makroökonomie" (Dornbusch/Edwards 1991) in die Vergangenheit. Zahlreiche Länder in Lateinamerika machten sich die Empfehlungen der internationalen Berater zu Eigen und reformierten ihre Wirtschaft entlang der Prinzipien Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung. Geschwindigkeit und Ausmaß der Reformen gingen dabei weit über das hinaus, was die entwickelten Länder der Ersten Welt zu leisten bereit waren. Die interne Reformdynamik in Verbindung mit einer positiven Weltkonjunktur führte in den Schwellenländern der Region zu einem wirtschaftlichen Aufschwung, der sich in hohen Wachstumsraten, einer Verringerung der Armut sowie stabilen makroökonomischen Rahmenbedingungen widerspiegelte. Insbesondere die Kombination aus Stabilität und Wachstum in Ländern wie Mexiko, Argentinien und Brasilien stand in direktem Gegensatz zu den Erfahrungen der Vergangenheit und wurde als Erfolg des Kurswechsels gewertet. Parallel stattfindende negative Entwicklungen wie Wettbewerbsverluste in Folge einer realen Wechselkursaufwertung bei zunehmender Importkonkurrenz, steigende Leistungsbilanzdefizite und Verschuldung, sinkende Beschäftigung, Einkommenskonzentration und (v. a. Währungs-)Ungleichgewichte im Finanzsektor wurden hingegen so lange ignoriert, bis die mexikanische Peso-Krise 1994 nicht nur eines der wirtschafts- und reformstärksten Länder Lateinamerikas selbst, sondern auch die internationalen Finanzmärkte und andere aufstrebende Länder erschütterte. Das Ende der wechselkurs-basierten Stabilisierung cum Liberalisierung in Mexiko blieb kein Einzelfall - die nachfolgenden systemischen Finanz- und Währungskrisen in Asien, Russland und Lateinamerika zeichneten sich trotz unterschiedlich solider Fundamentaldaten durch die Gemeinsamkeit einer zunehmenden Wechselkursüberbewertung im Rahmen (quasi-)fixer Regime, steigen-
156
der Leistungsbilanzdefizite und einer Verschlechterung der externen Verschuldungsindikatoren aus.6 Die Abhängigkeit dieser growth-cum-debt-Entwicklungsstrategie von der Aufrechterhaltung und Ausweitung der Kapitalzuflüsse ist in vielen Studien zu Recht als die zentrale Ursache der instabilen und krisenhaften Entwicklung der 90er Jahre bezeichnet worden.7 Kapitalimporte mussten in den genannten Ländern einen doppelten Devisenabfluss aus Importüberschüssen und einer steigenden Dollarnachfrage (Dollarisierung, Kapitalflucht, Zins und Tilgung von Dollarverschuldung) alimentieren;8 eine Abschwächung bzw. Umkehr von Kapitalströmen resultierte so unweigerlich in einer Zahlungsbilanzkrise, die drastische Wechselkursabwertungen, Einkommenskontraktionen und aufgrund der realen Aufwertung von Devisenschulden Insolvenzen im Finanz- und Unternehmenssektor provozierte.9 Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kosten der Krisen müssen als immens bezeichnet werden (vgl. die Überblickstabellen in Chudnovsky etal. 2003): In der Gruppe der betroffenen Länder in Asien, Osteuropa und Lateinamerika kam es zu bis zu zweistelligen Einbrüchen des realen Bruttoinlandsproduktes BIP (Indonesien, Argentinien), Währungsabwertungen von mehreren Hundert Prozent (Indonesien, Russland, Argentinien), die aufgrund der korrespondierender Aufwertung der Fremdwährungsverschuldung in einigen Ländern bis zur Erklärung der staatlichen Zahlungsunfähigkeit führten (Russland, Argentinien), Reallohnverlusten und Beschäftigungseinbrüchen, hohen fiskalischen Kosten zur Finanzierung von Sozialprogrammen und zur Sanierung des Bankensektors (letztere betrugen in Indonesien z.B. 50% des BIP), einer Explosion der Armutsraten und, last but not least, zu massiven sozialen und politischen Protesten, die in Indonesien und Argentinien zu vorzeitigen Regierungswechseln führten.
6
Vgl. Fritz 2002 zum Thema wechselkurs-basierter Stabilisierung, Metzger 1999 und Riese 2001 für eine kritische Analyse der Asienkrise sowie für einen instruktiven Überblicksartikel Chudnovsky et al. 2003.
7
Allerdings wird weder auf die tieferliegenden Ursachen dieser Abhängigkeit, die fehlende Kontraktfähigkeit der heimischen Währung, verwiesen, noch die grundsätzliche Problematik von Kapitalimporten (Aufwertungsdruck und Verschuldung) thematisiert; vgl. dazu Hujo 2003.
g 9
Von Lüken gen. Klaßen 1993: 56-59 als Konstellation der Unterentwicklung bezeichnet. Zu den Determinanten von Kapital strömen sei auf die einschlägige Literatur (vgl. Hinweise in Hujo 2003) sowie die verschiedenen Generationen der Modelle spekulativer Währungsattacken verwiesen.
157
III. Auf der Suche nach Lösungen: Socially responsible macroeconomics und economically responsible socialpolitics? Die neue Reformpolitik wurde nicht erst im Kontext der Finanz- und Währungskrisen modifiziert. Bereits nach der ersten, in vielen Ländern erfolgreich gemeisterten Phase makroökonomischer Stabilisierung artikulierte man die Forderung nach einer neuen Reformgeneration (vgl. Naim 1994 sowie Navia/Velasco 2003). Allerdings zielten die Reformen der zweiten Generation nicht auf eine alternative Wirtschaftspolitik ab, sondern strebten im Gegenteil eine Vertiefung und Ausweitung des begonnenen Kurswechsels in strukturpolitischen Bereichen wie Institutionen, Sozial- und Arbeitsmarktregimen und bezüglich der Wettbewerbsfähigkeit des Privatsektors an. Letztere sollte v. a. durch eine Reduzierung der Lohnkosten mittels einer Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und einer Senkung der Lohnnebenkosten erreicht werden. Auf internationaler Ebene gingen die Ziele hingegen über die traditionelle Reformabfolge - Stabilisierung und Strukturanpassung - hinaus. So wurde im Rahmen des Kopenhagener Sozialgipfels (1995), der Milleniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen und der Entschuldungsinitiativen für die Least Developed Countries LDCs {Highly Indebted Poor Countries Initiative HIPC) die Forderung nach Armutsbekämpfung, Umverteilung und mehr Gerechtigkeit in den Vordergrund gestellt. In Bezug auf die zahlreichen Finanz- und Währungskrisen, die als Hauptgrund für die schlechte Wachstumspez/ormance der 90er Jahre gelten, wurden von der zweiten Hälfte der 90er Jahre an verstärkt Vorschläge bezüglich einer neuen globalen Finanzarchitektur formuliert: Mit Hilfe internationaler Regulierungen, Informationssystemen und Verhaltenskodizes sollten die globalen Instabilitäten verringert und v. a. die Länder der Peripherie stärker geschützt werden. Allerdings hat sich trotz der neuen Bekenntnisse zur Notwendigkeit verstärkter staatlicher Regulierungen und Eingriffe als Ergebnis der radikalen globalen Umbrüche und Krisen der letzten zwei Dekaden die Perzeption wachsender Unsicherheit verstärkt und erfasst nicht nur die Bevölkerungen der Entwicklungsländer, sondern auch die entwickelte westliche Welt. 10 Wirtschaftliche Risiken und Unsicherheit gelten mit Bezug auf den Globalisierungsprozess zunehmend als kontraproduktiv und werden kaum im Sinne des klassischen Investitionsrisikos als „Motor der Entwicklung" begriffen (vgl. Nitsch 1999). Immer häufiger werden Befürchtungen laut, die Bevölkerungen der Entwicklungsländer und ihre Regierenden könnten den market-friendly re-
10
Zunehmende (reale oder wahrgenommene) Unsicherheit ist sicherlich nicht allein auf ökonomische Faktoren zu begrenzen (Stichwort internationaler Terrorismus, Kriege, Naturkatastrophen etc.), allerdings werden wir uns in diesem Beitrag auf diese enge Auslegung beschränken.
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forms ihre weitere Unterstützung versagen, weil sie sich als Globalisierungsverlierer fühlten.11 Wie kommt es zu dieser Einschätzung? Ob Investoren und auch Arbeitnehmer bereit sind, (kalkulierbare) Risiken einzugehen, hängt von der erwarteten Entlohnung des eingesetzten Faktors ab. Bei Vermögenseigentümern betrifft dies die Höhe (Zins) und die Sicherheit des Vermögensrückflusses. Erwartungen in Bezug auf eine ungewisse Zukunft werden jedoch von einer Vielzahl von Merkmalen beeinflusst, deren Eintrittswahrscheinlichkeiten gerade hinsichtlich systemischer bzw. makroökonomischer Dimensionen nicht im Voraus berechnet werden können. Die jüngste Debatte rund um den Begriff Unsicherheit bezieht sich jedoch auf gesamtwirtschaftliche Fluktuationen (vgl. De Ferranti et al. 2000), deren Eintritt und Wirkungen vom Einzelnen weder vorhersehbar noch steuerbar sind. Statt von Krisen wird deshalb im Rahmen des neoklassischen Paradigmas gerne von Schocks gesprochen, d.h. die Exogenität des Ereignisses (Naturkatastrophe, Veränderung internationaler Preise, Ansteckungseffekt bei Finanzkrisen) hervorgehoben. Diese Art von Unsicherheit hat aus Sicht des mainstream sowohl negative Auswirkungen auf die individuelle Wohlfahrt, insbesondere der ärmsten Bevölkerungsschichten, als auch auf den gesamtwirtschaftlichen Output, da langfristige Investitionen in physisches und humanes Kapital in einem Klima der Unsicherheit ausbleiben und Anreize für ein kurzfristiges Planungsverhalten (short-termism bzw. cortoplazismo) geschaffen werden (ebenda: 6). Abgesehen von der unterschiedlichen Bedeutung von Schock und Krise (exogen versus endogen) ist es aus einer keynesianischen Perspektive heraus nicht einmal notwendig, auf das Phänomen der Krise zu rekurrieren, da im Gegensatz zum neoklassischen Paradigma die (Einkommens-)Sicherheit vermittelnde Situation stabiler Vollbeschäftigung eine Ausnahmeerscheinung darstellt: Die typisch keynesianische Vorstellung vom Marktgleichgewicht bei Unterbeschäftigung impliziert staatliche Verantwortung und Sorge für diejenigen, die als Arbeitslose oder als Mitarbeiter in Familienwirtschaften außerhalb formeller Lohnverhältnisse nicht in die spezifisch geldwirtschaftliche Arbeitsteilung integriert sind. Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung wird hier - im Gegensatz zum Mainstream der Neoklassik - deshalb für möglich und wahrscheinlich erklärt, weil Vermögenseigentümer sich wegen des Risikos eines Vermögensverlustes in einer ungewissen Zukunft nicht dazu bereit finden, die Produktion von Unternehmen zu finanzieren (Nitsch 1999: 317, Hervorhebung im Original).
Da Vermögenseigentümer stattdessen in auf Fremdwährung denominiertes Finanzvermögen oder in Sachvermögen (z.B. Immobilien) investieren, bleibt die Beschäftigung von Ressourcen und Arbeit hinter ihrem Potential zurück. Während in der Vergangenheit die Regierungen in den Entwicklungsländern versucht haben, diese Symptome der Unterentwicklung durch eine Ausweitung des Staatssektors (Verwaltung, Produktion, Finanzsektor, Sozialversicherung) zu 11
Vgl. das Zitat von Rodrik auf Seite 1 dieses Beitrags sowie Williamson 2004.
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kompensieren und dafür den Preis von Inflation, Fiskaldefiziten, Abwertungen und Ineffizienzen zahlten, tritt die Problematik der Unterbeschäftigung im Zeitalter von Liberalisierung und Privatisierung offen zu Tage und wird im Falle einer Krise zusätzlich verschärft. Stellen sich während eines Abschwungs bzw. während einer Rezession negative Profiterwartungen ein, ergeben sich häufig kumulative Prozesse mit einer sukzessiven Verringerung der Einkommensbildung, so dass sowohl der individuelle Markterfolg als auch der Wirkungsgrad der Wirtschaftspolitik eingeschränkt wird. In Entwicklungsländern wirken sich diese kumulativen Prozesse aufgrund des monetären Charakters der Einkommensbildung besonders negativ auf den Akkumulationsprozess aus, da die ohnehin geringe Bereitschaft zu langfristiger Kreditvergabe in heimischem Geld weiter sinkt, steigende Realzinsen den Investitionsprozess hemmen und im Krisenfall auch der Zugriff auf (private) Fremdwährungskredite verwehrt bleibt. Als Ergebnis bleibt im Falle einer Zahlungsbilanzkrise für Schwachwährungsländer nur die Option, über eine Einkommenskontraktion (restriktive Geld- und Fiskalpolitik) Leistungsbilanzüberschüsse zu erzielen bzw. den Schuldendienst auszusetzen und/oder zu verhandeln. Um der folgenden Diskussion (III. 1. und III.2.) vorzugreifen: Insbesondere die ersten zwei Optionen verdienen weder das Prädikat sozial verantwortlich (gegenüber der eigenen Bevölkerung) noch ökonomisch verantwortlich (gegenüber internen und externen Gläubigern), und sind deshalb weniger als Option, sondern vielmehr im Sinne einer Einschränkung von Handlungsspielräumen der Schuldnerländern in einer durch Währungskonkurrenz geprägten internationalen Geldwirtschaft zu interpretieren. Die Rückgewinnung von Handlungsspielräumen ist hingegen schwieriger, als die Orthodoxie mit ihrem Verweis auf right policies und good governance suggeriert. Aus Sicht der Theorie der Geldwirtschaft ist eine Stärkung der heimischen Währung über einen Abbau der Auslandsverschuldung, der im besten Fall auch institutionell vorangetrieben wird, erforderlich, damit über sinkende Zinsen und langfristige Kreditvergabe der Investitionsprozess gestärkt werden kann. Wettbewerbsfähige, stabile nominale Wechselkurse zur Förderung des Exportsektors und eine Begrenzung von (Kapital- und Güter-)Importen in Verbindung mit einer stabilitätsorientierten Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik sind weitere Schlüsselkomponenten innerhalb einer Strategie nachholender Entwicklung, die diesen Realitäten Rechnung trägt. III.l. Sozial verantwortliche Makropolitik im Kontext der Globalisierung Wie erklärt der mainstream die instabile Wirtschaftsentwicklung in der Dritten Welt, die zwar zeitweise durch hohe Wachstumsraten und Fortschritt besticht, aber gleichzeitig durch Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse, überforderte Regierungen und wachsende Ungleichheiten gekennzeichnet ist? Mit welchen Instrumenten möchte man Abhilfe schaffen und dem (immer noch vehement propagierten) Ziel einer Konvergenz zwischen armen und reichen 160
Ländern näher kommen? Im Folgenden sollen anhand einiger exemplarisch ausgesuchter Publikationen zum Thema der sozioökonomischen Unsicherheit und Krisenbewältigung die zentralen Argumente kritisch reflektiert werden.12 Nora Lustig von der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IADB) veröffentlichte 1999 (zitiert nach der spanischen Fassung von 2000) eine Studie mit dem Titel „Crises and the Poor: Socially Responsible Macroeconomics" und verweist wie die Weltbank in ihrem Weltentwicklungsbericht von 2000/2001 zur Armutsbekämpfiing (World Bank 2001a) auf zwei wichtige Aspekte in Bezug auf Entwicklung und Wirtschaftskrisen. Zum einen führten Krisen in der Dritten Welt zu Rückschlägen in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, die vorherige Fortschritte oftmals überkompensieren und die Armutsraten drastisch erhöhen. Zum anderen sei die arme Bevölkerung aufgrund unzureichender bzw. unwirksamer Sicherungsmechanismen besonders von systemischen Krisen betroffen und erleide teils irreversible Schäden am „Humankapital",'3 wodurch das zukünftige Entwicklungspotential dieser Bevölkerungsgruppe und der Wirtschaft insgesamt negativ beeinträchtigt würde. Aus Sicht der Wirtschaftspolitik ergeben sich aus dieser Analyse für Lustig zwei Anforderungen, um sozial verantwortlich zu agieren: Die Makropolitik sollte a) Krisen verhindern, und b) Krisenbewältigung so betreiben, dass nicht nur möglichst schnell das makroökonomische Gleichgewicht wiederhergestellt wird, sondern dieser Anpassungsprozess auch sozial verträglich gestaltet wird (vgl. auch World Bank 2001a: 202-3). In Bezug auf die erste Forderung betont Lustig (2000: 7), dass sich die 90er Jahre durch einen neuen Krisentypus auszeichnen, der nicht mehr auf unverantwortliche (also expansive) Geld- und Fiskalpolitik zurückgeführt werden kann. Die Krisen seien vielmehr Ergebnis einer Kombination aus volatilen internationalen Kapitalströmen und schwachen, unzureichend regulierten lokalen Finanzsektoren. Entsprechend soll eine bessere Regulierung und Kontrolle des Finanzsektors erfolgen sowie Kapitalverkehrskontrollen (wie beispielsweise die Bardepotpflicht auf Kapitalimporte in Chile) als Präventionsinstrumente eingesetzt werden.
12
Die hier näher betrachteten Studien thematisieren v.a. den Zusammenhang zwischen Wirtschaftskrise, Unsicherheit und Armutsbekämpfung; neben dem Sammelband von Kuczynski/Williamson 2003 existiert darüber hinaus eine Vielzahl von Publikationen, die sich mit den Finanz- und Währungskrisen der 90er Jahre und Entwicklungsstrategien auseinandersetzen. Zu langfristig kontraproduktiven Krisenüberwindungsstrategien der Ärmsten zählen der Verkauf von wichtigen Aktiva der Familien- oder Kleinbetriebe, welche die zukünftige Produktionskapazitäten einschränken sowie Konsumeinschränkungen und Reduzierung von Bildungsinvestitionen (insbesondere bei Kindern). Zusätzlich werden Arme als Konsumenten von staatlichen Leistungen durch Verschlechterung der Qualität derselben geschädigt, selbst wenn sie ihre Ausgaben in diesen Bereichen konstant halten.
161
Während eine verstärkte Regulierung und Kontrolle der lokalen Banken- und Finanzsysteme in der Literatur einheitlich befürwortet und als Teil des notwendigen sequencing bezeichnet wird, ist die Frage einer Regulierung des internationalen Kapitalverkehrs weiterhin umstritten (vgl. Hujo 2003): Während Williamson Kapitalkontrollen in seiner Post-Washington-Konsens-Agenda positiv beurteilt (2003: 7-9, 2004: 4-5), 14 lesen sich in den Publikationen der Weltbank unterschiedliche Einschätzungen zu dieser Frage - von einer vorsichtigen Befürwortung (World Bank 2001a: 202, Ferranti et al. 2000: 66) bis hin zu einer tendentiellen Ablehnung (Arnes et al. 2002).' 5 Empfohlen werden ferner Kreditkontingentlinien mit internationalen Geschäftsbanken (wie in Argentinien und Mexiko in den 90er Jahren), der Aufbau von Liquiditätsreserven sowie ein vorausschauendes staatliches Schuldenmanagement und die Begrenzung von Leistungsbilanzdefiziten (vgl. De Ferranti et al. 2000: 65 sowie den Überblick in Tabelle 1). Bei der Suche nach dem besten Wechselkursregime gibt der mainstream ebenfalls keine einheitliche Antwort. Lustig diskutiert die nach der Mexiko-Krise populär gewordenen Randlösungen - vollkommen flexible Regime versus hard pegs {currency board oder Dollarisierung) - und geht dabei der Frage nach, wie die unterschiedlichen Regime im Falle eines Schocks reagieren und welche Politikmaßnahmen im Krisenfall gefordert sind, um negative soziale Wirkungen zu mindern. Traditionell wird einem flexiblem Wechselkurs im Falle eines negativen Schocks über korrespondierende Preisanpassungen eine Pufferfunktion zugeschrieben, die zu geringerer Arbeitslosigkeit und einem geringeren Einbruch des Sozialproduktes führe, als in einem fixen Regime. Rodrik (2001: 25) bezeichnet Wechselkursflexibilität als soziale Sicherung, wenn der Anpassungsmechanismus eine Stabilisierungsfunktion für die Realwirtschaft ausüben könne. Allerdings sei diese Stabilisierungsfunktion in einer Welt volatiler Kapitalströme stark eingeschränkt (ebenda: 23), da sowohl bei fixen als auch bei flexiblen Regimen die Steuerung von kurzfristigen Kapitalflüssen und das Vertrauen der internationalen Investoren als wirtschaftspolitische Ziele im Vordergrund stünden und das Ziel der Wettbewerbs- und Exportfahigkeit verdrängten. Rodrik stellt mit Bedauern fest, was innerhalb der Theorie der Geldwirtschaft eine Selbstverständlichkeit ist: dass die Vermögensmärkte die Gütermärkte (selbst in einer geschlossenen Volkswirtschaft!) dominieren, und dies nicht immer zum Wohle der betroffenen Wirtschaft. Allerdings ist er der Auffassung, 14
15
Williamson betont immer wieder gerne, dass die Frage nach einer Liberalisierung des Kapitalverkehrs in Entwicklungsländern aus dem originären Washington Konsens bewusst ausgeklammert wurde, allerdings de facto Anfang der 90er Jahre vom IWF sowie gegenwärtig von der US-Administration weiter als Ziel verfolgt wird, vgl. Williamson 2003, 2004. Arnes et al. (2002) sehen im Zugang zu Fremdwährung eine Möglichkeit für Arme, sich vor Inflation und Abwertung zu schützen, weshalb sie Devisenkontrollen in jeglicher Form ablehnen. Das Risikopotential der Dollarisierung wird hingegen nicht thematisiert.
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dass sich die Wirtschaftspolitik freiwillig nach dem Diktat der Finanzmärkte richte und stattdessen die Bedürfnisse der Realwirtschaft stärker berücksichtigen sollte (Rodrik 2001: 24). Damit interpretiert er als Handlungsparameter, was in Wirklichkeit Teil der Funktionslogik einer Geldwirtschaft ist und deshalb von der Wirtschaftspolitik kaum beeinflusst werden kann. Lustig beschreibt die constraints für periphere Länder besser. Auch sie weist auf die lange Zeit vernachlässigten Vermögensmarkteffekte einer Abwertung hin, die de facto dazu führten, dass auch in flexiblen Regimen eine hohe Abwertung durch Einsatz der Zinspolitik vermieden werden soll, um die Realschuldenaufwertung bei dollarisierten Banken und Unternehmen zu begrenzen sowie Vertrauensverluste und damit eine Abwertungsspirale zu verhindern.16 Als Ergebnis stellten sich bei beiden Varianten Mengenanpassungen auf dem Arbeitsmarkt ein, während der (für Arme besonders schädliche) Inflationsanstieg bei flexiblen Regimen in der Regel höher ausfiele. Regierungen mit fixen und flexiblen Regimen müssten sich deshalb im Falle einer Krise auf staatliche Beschäftigungsprogramme einstellen, während Transferprogramme zur Kompensation von Reallohnverlusten eher bei flexiblen Regimen notwendig seien.17 Während die Weltbankstudie von Ferranti et al. für die Randlösungen eintritt und diesbezüglich auf den trade-off zwischen Flexibilität und Glaubwürdigkeit hinweist, spricht sich Williamson (2004: 4) eindeutig gegen die bipolare Sichtweise und für intermediäre Wechselkurssysteme aus. Crawling-peg Systeme sowie die Orientierung an Zielzonen seien eher geeignet, Wechselkursüberbewertungen zu vermeiden und so Leistungsbilanzdefizite und externe Verschuldung und damit auch das Krisenpotential zu begrenzen. Im Konzept einer sozial verantwortlichen Makropolitik nimmt die Fiskalpolitik ohne Zweifel eine prominente Stellung ein. Sie ist das traditionelle Bindeglied zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik, denn Einnahmen- und Ausgabenpolitik des Staates betreffen die Einkommenssicherheit und -Verteilung unmittelbar. Die Steuerpolitik sowie Qualität und Menge öffentlicher Leistungen und Transfers haben insbesondere für die unteren Einkommensschichten eine hohe Bedeutung, die im Falle einer Krise zunimmt. Folgende Lehren wurden in den 90er Jahren gewonnen: Während aus sozialpolitischer und ökonomischer Sicht eine antizyklische Fiskalpolitik empfohlen wird, um sowohl einem verstärkten Bedarf an Sozialleistungen in der Krise nachzukommen, als auch eine makroökonomische Stabilisierungsfunktion auszuüben, wird der Einsatz dieses keynesianischen Instru-
16
17
Dies wird in der Literatur auch als fear offtoating bezeichnet. In der Theorie der Geldwirtschaft verletzen nominale Abwertungen das Ziel der Vermögenssicherung, während es den hard pegs an einem Kreditgeber in letzter Instanz mangelt. Dabei wird davon ausgegangen, dass ein negativer Schock im Falle eines Fixkurssystems nicht zur Aufgabe des Ankers und damit zu einer Abwertung führt, wie es in den von Krisen betroffenen Ländern in Asien und Lateinamerika de facto geschehen ist.
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mentes in der Praxis zu Recht als problematisch bezeichnet.18 Sowohl Lustig (2000: 11) als auch Ferranti et al. (2000: 67) weisen daraufhin, dass eine fiskalische Expansion in der Krise für Entwicklungsländer aufgrund der negativen Reaktion der internationalen Finanzmärkte illusorisch sei. Da sowohl die privaten internationalen Kapitalströme als auch die Staatseinnahmen (aufgrund einer hohen Abhängigkeit von Konsum- und Rohstoffsteuern) in den Entwicklungsländern in einer Krise prozyklisch reagieren und gegenüber den Finanzmärkten fiskalische Austerität demonstriert werden soll, kommt es in der Regel zu einer Senkung von staatlichen Ausgaben. Als mögliche Lösung verweisen Lustig und Ferranti et al. auf die antizyklische Kreditvergabe der multilateralen Kreditorganisationen sowie auf die Option, über Stabilisierungsfonds (bei stark rohstoff abhängigen Staatseinnahmen) und spezielle fiskalpolitische Regeln, die einen Reserveaufbau in guten Zeiten fordern sollen, die Handlungsspielräume der Budgetpolitik für den Krisenfall zu sichern. Was das makroökonomische Krisenmanagement angeht, wird im Rahmen einer sozial verantwortlichen Wirtschaftspolitik (Lustig 2000: 13, World Bank 2001a: 203) von einer übermäßig restriktiven Geld- und Fiskalpolitik bzw. einer Schocktherapie abgeraten. Allerdings weist der Weltentwicklungsbericht darauf hin, dass die Weigerung, kontraktive Politikmaßnahmen zu implementieren, aufgrund von negativen Vertrauenseffekten auch eine Verschärfung der Krise produzieren kann. Die Handlungsspielräume der betroffenen Regierungen hingen von den wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen vor Eintritt der Krise und der Glaubwürdigkeit der Wirtschaftspolitik ab. Nach Williamson (2004: 7) ist eine entscheidende Lehre aus den Ereignissen der letzten zehn Jahre, dass die Bedeutung von Politikmaßnahmen überschätzt, und die der Institutionen unterschätzt wurde. Die Notwendigkeit, eine richtige wirtschaftspolitische Strategie mit Institution und capacity building zu begleiten, sei deshalb die große Erkenntnis in der entwicklungstheoretischen Debatte der 90er Jahre. Die neue Diskussion um eine sozial verantwortliche Makropolitik hat einige interessante Aspekte in die Entwicklungsdebatte gebracht, die zuvor mehrheitlich vernachlässigt wurden: Fragen der Beschäftigung wird erneut Aufmerksamkeit gewidmet, die Problematik einer restriktiven und prozyklischen Fiskalpolitik stärker in den Vordergrund gestellt sowie Umverteilungsmaßnahmen befürwortet. Im monetären Bereich wird auf die Gefahr von Währungsungleichgewichten im Finanz- und Unternehmenssektor, die negativen Wirkungen einer (auch kapitalimportinduzierten) Wechselkursüberbewertung auf Leistungsbilanz und Verschuldung sowie der Bedeutung der Vermögensmärkte für die Wirtschafitsentwicklung insgesamt und die Handlungsoptionen der Wirtschaftspolitik 18
Auch die Finanzierung über progressive Steuern und Beiträge trägt zur Wirkung der automatischen Stabilisatoren bei - in Lateinamerika zeigt sich hingegen in den meisten Ländern eine starke Abhängigkeit der Staatseinnahmen von regressiven Konsumsteuern, die prozyklisch reagieren.
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hingewiesen. Die Euphorie für die (aus geldwirtschaftlicher Sicht marktinkonformen) Randlösungen in der Wechselkurspolitik sinkt, und die Toleranz gegenüber regulativen Maßnahmen in Bezug auf Handels- und Kapitalbilanz ist leicht gestiegen. Grundsätzlich wird jedoch an der Überzeugung festgehalten (Williamson 2004), dass unter der Voraussetzung funktionierender Institutionen und einer entwickelten Marktverfassung die Liberalisierungsstrategie für alle am Weltmarkt partizipierenden Länder von Vorteil sei und positive Erwartungen sowie Vertrauen von Investoren durch transparente Regeln (in Geld- und Fiskalpolitik) geschaffen werden könnten.19 Damit wird in alter Manier im realwirtschaftlichen Bereich am Marktoptimismus, im monetären Bereich am Regulierungsoptimismus festgehalten und dabei sowohl die asymmetrischen Entwicklungsbedingungen zwischen Erster und Dritter Welt, als auch die Notwendigkeit einer marktkonformen und deshalb diskretionären Wirtschaftspolitik unterschätzt. Tabelle 1 auf S. 166 fasst die Vorschläge im Bereich der Wirtschaftspolitik zusammen und ergänzt sie durch die Perspektive der Theorie der Geldwirtschaft. III.2. Sozialpolitik mit wirtschaftlicher Verantwortung Nicht nur die Wirtschaftspolitik und die ihr zugrunde liegenden Modelle wurden im Kontext von Globalisierung und Wirtschaftskrisen mit neuen Herausforderungen konfrontiert - auch in der Sozialpolitik hat in den letzten zwei Jahrzehnten ein Paradigmenwechsel stattgefunden, der nun auf dem Prüfstand steht. Historisch gesehen haben wirtschaftliche Krisen zu einer Ausweitung staatlicher Interventionen im Allgemeinen und der öffentlichen Sozialversicherungssysteme im Besonderen geführt. Dies wurde nach der Weltwirtschaftskrise und in der Nachkriegszeit mit Marktversagen, der mangelnden Wirksamkeit von privaten Sicherungssystemen im Falle systemischer Krisen sowie der positiven ökonomischen Effekte staatlicher Nachfragestabilisierung begründet (Rodrik 2001, Tokman 2003). Die Krise der 70er/80er Jahre hatte hingegen einen gegenteiligen Effekt: Staatliche Sozialleistungen wurden in makroökonomischer Hinsicht als fiskalische Belastung und aus mikroökonomischer Perspektive als ineffizient und leistungsfeindlich interpretiert. Die aus dieser Erklärung resultierende Tendenz zur Kürzung und Privatisierung sozialer Leistungen wurde in den 90er Jahren vor dem Hintergrund der Diskussionen um globalen Standortwettbewerb, demographischen Wandel und der fortschreitenden Reduzierung formeller Erwerbstätigkeit weiter vorangetrieben.
19
Letzteres ist u.a. die Botschaft der diesjährigen Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaft, Finn Kydland und Edward Prescott.
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Tabelle 1: Wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Prävention und Bewältigung von Krisen (Politik-)Quelle/ Amplifizierer der Volatilität Terms of Trade Internationale Kapitalflüsse
Finanzsysteme
Versicherung
Selbstversicherung
Selbstschutz
Handelsdiversifizierung, Handelssteuern/ -Subventionen Schuldenmanagement Liquiditätspuffer Begrenzung von LB-Defiziten, Kapitalverkehrskontrollen Risikodiversifizie- Erhöhte Kapital- und Adäquate Bankenregurung über Liquiditätsanfordelierung und ÜberwaKapitalmarktentrungen im chung, wicklung erleich- Bankensektor, Portfolio-Mismatches tern, Depositenversichevermeiden rung Internationalisierung des Bankensystems Internationales Portfolio, Hedging Kreditkontingentlinien
Stabilisierungsfonds
Geldkeynesianische Wirtschaftspolitik Selektiver Protektionismus Kapital(import)kontrollen
Entdollarisierung
Zweistufiges Bankensystem mit unabhängiger Zentralbank undLOLRFunktion Vorsichtsziele und Diversifizierung Steuer- Antizyklische Kontigentregeln basis, Politik Staatliches SchuldenBudgetübermanagement schüsse Entschuldung Klare und transpaHeimische Währente Regeln (Geldrung stärken und WechselkurspoFixe nominale litik), Wechselkurse (UnterbewerAbwägung Flexibilitung) tät versus Glaubwürdigkeit Regionale mone-
Fiskalpolitik
Geld- und Wechselkurspolitik
täre Koordination Stabile, produktivitätsorientierte Nominallohnpolitik
Einkommenspolitik
Quelle: Ferranti et al. 2 0 0 0 : 65, Tab. 4.4, eigene Ergänzungen (kursiv) LB:
Leistungsbilanz
L O L R : Lender
of Last
Resort
Das neue sozialpolitische Paradigma sollte sich an den gleichen Prinzipien orientieren, wie die marktliberale Wirtschaftspolitik und die makroökonomische Konsolidierung nicht gefährden, sondern unterstützen. So sollte der Staat im Sinne einer residualen Wohlfahrtsstaatskonzeption nur dort eingreifen, wo private Sicherungsmechanismen versagten bzw. aus sozialen Gründen gezielte Maßnah166
men zu rechtfertigen waren. Die Grundstruktur der sozialen Sicherungssysteme bestand in den neuen Modellen aus privater Eigenvorsorge über den Markt (Sparen, Versichern, Kredite) bzw. informellen Mechanismen (Familie, Gemeinschaft etc.) und zielgruppenorientierten staatlichen Programmen zur Armutsbekämpfung und Krisenbewältigung. Insbesondere für Entwicklungsländer wurde von einer Ausweitung staatlicher, universeller Systeme abgeraten, da an den Erwerbsstatus gebundene Leistungen aufgrund des geringen Anteils formell Beschäftigter als ungerecht und universalistische Systeme als nicht finanzierbar eingeschätzt wurden. Beispiele für die Umsetzung des neuen sozialpolitischen Modells sind zahlreich. Bereits in den 80er Jahren entstanden zur Abfederung der negativen sozialen Wirkungen von Stabilisierungs- und Strukturanpassungsprogrammen Sozialfonds als marktwirtschaftliches Instrument der Infrastrukturforderung für arme Bevölkerungsgruppen und Gemeinden. Im Bereich der Alterssicherung wurde das chilenische Modell privater, kapitalgedeckter Rentenfonds mit staatlicher Mindestsicherung empfohlen und in zahlreichen Ländern implementiert, und in Bezug auf die Prävention und Bewältigung von Wirtschaftskrisen propagierte die Weltbank ein modulares Konzept des sozialen Risikomanagements (World Bank 2001b), welches zwischen informellen, marktbasierten und öffentlichen Sicherungsmodulen unterscheidet. Ein entscheidendes Merkmal des neuen sozialpolitischen Ansatzes ist die enge Beziehung zur Wachstumspolitik, d.h. der Versuch, wie im Rahmen des keynesianischen Paradigmas bezüglich der Nachfragestabilisierung im Kontext des neoliberalen Modells eine komplementäre Beziehung zwischen Wohlfahrts- und Akkumulationsregime zu schaffen. Dies wird v. a. im Bereich der Rentenversicherung deutlich, wo die Weltbank kapitalgedeckte Pensionsfonds wegen der Akkumulation von privatem Sparkapital (Erhöhung der nationalen Sparquote) und der Stimulierung der lokalen Finanz- und Kapitalmärkte als direkt wachstumsfördernd bezeichnete (World Bank 1994).20 Auf Kapitaldeckung und damit auf das Wirken der Sparfonds-Investitions-Hypothese wird auch im Bereich der Unfall- und Arbeitslosenversicherung gesetzt (z.B. in Argentinien und Chile). In den anderen Bereichen der Sozialen Sicherung werden Investitionen in das Humankapital, d.h. eine Förderung der Primarschulbildung und Basisgesundheitsversorgung sowie der Aufbau und die Verteilung von assets (Zugang zu Krediten, Land und Ausbildung) angeraten, um die Produktivität von Armen zu erhöhen und darüber simultan zwei Ziele - soziale Gerechtigkeit und Wirtschaftswachstum - zu erreichen (vgl. Birdsall/Szekely 2003). Obwohl Ungleichheit nicht mehr wie früher als wachstumsfördernd, sondern im Gegenteil als Wachstumshemmnis interpretiert wird, liegt die Betonung innerhalb der neuen Ansätze auf einer Umverteilung von Chancen und weniger 20
Aus keynesianischer Sicht erfordern Investitionen ex-ante keinen Sparfonds, sondern Kredite. Vgl. für eine theoretische Kritik am Weltbankansatz Hujo 2004b. 167
auf direkter Einkommensumverteilung (Birdsall/Szekely 2003:53f., World Bank 2001a, World Bank 2004). Auf Basis dieser neuen sozialpolitischen Agenda wurde in Lateinamerika in vielen Ländern ein Transformationsprozess des Wohlfahrtsstaates eingeleitet, der durch die Prinzipien Entstaatlichung, Dezentralisierung und Armutsfokussierung gekennzeichnet ist. Die gravierenden Wirtschaftskrisen der 90er Jahre haben jedoch die Schwächen der neuen Ansätze mehr als deutlich gemacht. Dies trifft v. a. auf den Bereich der Rentenversicherung, aber auch in Bezug auf die fokussierten Sozialausgaben zu. Die Privatisierung der Alterssicherung versagte sowohl bezüglich ihrer ökonomischen Zielsetzung, Wachstum und Stabilität zu fordern, als auch bezüglich des sozialpolitischen Anspruchs, sichere und höhere Renten für die Bevölkerungsmehrheit zu garantieren. 21 Bei den zielgruppenorientierten Ausgaben hat man hingegen festgestellt, dass sie im Gegensatz zu fest institutionalisierten Leistungsansprüchen stark prozyklisch reagieren (vgl. Hicks/Wodon 2001) und im Krisenfall in der Regel sinken, da diskretionäre Programme unter Sparzwang zuerst gekürzt werden. Selbst wenn der relative Anteil an zielgruppenorientierten Sozialausgaben konstant bleibt, verringern sich die absoluten Ausgaben pro Kopf im Kontext zunehmender Armutsraten und eines sinkenden Sozialproduktes. 22 So ist die Sozialpolitik im Zeitalter der Globalisierung durch ein zweifaches Dilemma gekennzeichnet: Fiskalische Engpässe und die Grenzen der Verschuldung legen eine Reduzierung des staatlichen Engagements im Bereich der sozialen Sicherheit nahe und machen private, marktbasierte Lösungen attraktiv. Letztere sind jedoch weder geeignet, die Reichweite der Sozialsysteme zu erhöhen, noch bieten sie Schutz bei systemischen Wirtschaftskrisen. Ist der Übergang von staatlichen zu privaten Sicherungssystemen wie im Falle der Alterssicherung zudem mit hohen fiskalischen Kosten verbunden, kommt es zu einer Kombination negativer Effekte: erst wird die wirtschaftliche Krise verschärft, dann der soziale Schutz, den das neue System bieten soll, durch die Krise untergraben (Hujo 2004b). Als Konsequenz aus diesen Erkenntnissen ist eine Rückkehr der universalistischen Ansätze in den globalen sozialpolitischen Diskurs zu beobachten (Deacon 2002). Privatisierung wird selbst aus Sicht der internationalen Kreditinstitutionen nicht mehr als das alleinige Patentrezept bezeichnet (vgl. Gill et al. 2004); ad-hoc eingerichtete Notfallprogramme (wie Sozialfonds und staatliche Beschäftigungsprogramme) sollen durch permanente Sicherheitsnetze und (möglichst an Bedingungen geknüpfte) Einkommenstransfers ergänzt werden. 21
22
Für eine Analyse der argentinischen Rentenreform vgl. Hujo 2004a, 2004b; für einen Überblick über die lateinamerikanischen Reformen Mesa-Lago 2004; für eine Evaluierung der Reformen aus Sicht der Weltbank Gill et al. 2004. Vgl. Hicks/Wodon 2001: 106ff. Fokussierte Sozialausgaben pro Person sanken nach der Tequila-Krise in Mexiko um 24%, in Argentinien um 28%. Zu einer Kritik am targetingAnsatz vgl. auch ILO 2004.
168
Ob diese Ziele in einem Kontext steigender sozialer Ansprüche und finanzieller Restriktionen erfüllt werden können, ist hingegen eine andere Frage.
IV. Fazit Makroökonomie mit sozialer Verantwortung und Sozialpolitik mit ökonomischer Verantwortung sind neue Schlagwörter in einer Entwicklungsdebatte, die durch die Erfahrung der jüngsten Finanz- und Währungskrisen und die globale Beschäftigungsproblematik geprägt ist und gleichzeitig dem Ziel einer weltweiten Bekämpfung von Armut und Ungleichheit näher kommen will. Die Einsicht, dass Stabilisierungs- und Liberalisierungspolitik in Verbindung mit strukturpolitischen Maßnahmen nicht ausreicht, um Wachstum in der Dritten Welt auch breitenwirksam zu machen und zu einer höheren sozioökonomisehen Sicherheit beizutragen, hat zu einer Ausdifferenzierung und Ergänzung der im Washington Consensus zusammengefassten Ziele und Strategien gefuhrt. Allerdings zeugt die Post-Washington-Konsens-Agenda mehr von der Schwierigkeit, das einer Geldwirtschaft inhärente Spannungsverhältnis zwischen Stabilisierung und Entwicklung sowie die Tendenz zu zyklischen Krisen an der Peripherie zu lösen, als dass neue Patentrezepte für das Wunschziel long term pro-poor growth entdeckt worden wären. Die Wirtschaftspolitik in den Entwicklungsländern hat nur begrenzte Handlungsspielräume und kann nur dann sozial sein, wenn es ihr gelingt, die lokalen Ressourcen und Arbeitskräfte in Beschäftigung zu bringen und damit sowohl Einkommenssicherheit für die Individuen und Haushalte, als auch für den Staat zu ermöglichen. Die Sozialpolitik kann nur so gut den sozialen Rechten und Bedürfnissen entsprechen, wie es ihr durch die ökonomischen Rahmenbedingungen ermöglicht wird. Dabei sind schnelle und umfassende Liberalisierungsmaßnahmen im Finanzsektor, beim Güter- und Kapitalverkehr und auf dem Arbeitsmarkt sowie die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme dem Ziel nachholender Entwicklung abträglich. Hingegen sollte die immer wieder betonte Notwendigkeit, private und (supranationale) staatliche Institutionen zu stärken, mit der Zielsetzung verfolgt werden, diskretionäre und selektive Interventionskapazitäten der Wirtschaftspolitik zu stärken, eine progressive Ein- und Ausgabenpolitik zu fordern sowie sich der Last der „Erbsünde" (Eichengreen/Hausmann/Panizza 2002), der externen Verschuldung, durch Exportförderung und Maßnahmen auf globaler Ebene (Entschuldung) zu entledigen. Auch regionale Institutionen und Koordinationsmechanismen können dazu beitragen, Instabilitäten zu verringern und Entwicklung zu fordern (vgl. Fritz in diesem Band). Wirtschaftliches Handeln im Kontext einer ungewissen Zukunft ist Merkmal einer kapitalistischen Geldwirtschaft und sowohl Motor als auch Störquelle der Entwicklung (Nitsch 1999). Entwicklungsländer sehen sich dabei in einem vicious circle gefangen, in dem Unsicherheit auf den Vermögensmärkten zu subop169
timalen Ergebnissen und Unsicherheit auf den Güter- und Arbeitsmärkten fuhrt. In der Entwicklungsdebatte sollte nicht die Illusion erzeugt werden, diese Unsicherheit könne durch einen geeigneten Policy-Mix gemanagt werden. Die Unzufriedenheit in der Dritten Welt mit den Entwicklungsrezepten der Ersten Welt entspringt nämlich u.a. der v o m mainstream vermittelten Botschaft, j e d e s Land und jeder Mensch könne sein Schicksal selbst zu seinem eigenen Vorteil gestalten, wenn sich nur an die von der herrschenden Meinung vertretenen Regeln gehalten wird. 23 D i e s e Auffassung hat ihre Wurzeln mehr in der gerade von der neoklassischen Orthodoxie verpönten Interpretation der Ökonomie als moral science (vgl. Braig in diesem Band), als dass sie den tatsächlichen Gesetzmäßigkeiten und Restriktionen der globalisierten Wirtschaft gerecht würde.
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Was nützt beispielsweise einem in Dollar verschuldeten Betrieb im Falle einer Währungskrise Kreativität, Effizienz und ein funktionierendes Konkursrecht? Wie ist zu werten, dass relativ erfolgreiche Kandidaten für nachholende Entwicklung wie Chile und China immer wieder wegen ihrer unorthodoxen wirtschaftspolitischen Maßnahmen unter Druck gesetzt werden?
170
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172
III. Sozialpolitik im regionalen Vergleich
Katharina Müller
Die Politische Ökonomie der Rentenreform: Lateinamerika und Osteuropa im Vergleich 1. Einleitung Die Aushöhlung der erwerbsarbeitszentrierten Beitragsgrundlage sowie demographische Trends stellen die Finanzierbarkeit umlagefinanzierter Alterssicherungssysteme und die Tragfähigkeit des zugrundeliegenden Generationenvertrags vielerorts auf die Probe (Nitsch 2004). Das Gros der volkswirtschaftlichen und politikwissenschaftlichen Literatur zur Politischen Ökonomie der Rentenreform betont indes - bedingt durch ihren Fokus auf westliche Industrieländer die bemerkenswerte Stabilität rentenpolitischer Arrangements und die Unwahrscheinlichkeit eines fundamentalen Systemwechsels in der Alterssicherung.1 Demgegenüber zeigt die rentenpolitische Empirie in Lateinamerika und Osteuropa allerdings ein anderes Bild. In beiden Weltregionen ist seit Anfang der 90er Jahre eine Welle radikaler Rentenreformen zu beobachten, die mit der (Teil-) Privatisierung der Alterssicherung und dem Übergang vom Umlage- zum Kapitaldeckungssystem bis heute mehr als 20 Staaten erfasst hat (Mesa-Lago 2004; Müller 2004). Dabei fiel das jeweilige Mischungsverhältnis zwischen Staat und Markt, Umlagefinanzierung und Kapitaldeckung, individualisierter und intergenerational organisierter Vorsorge durchaus unterschiedlich aus. In einigen Staaten, darunter auch Chile, wurde das umlagefinanzierte, staatliche Alterssicherungssystem geschlossen und durch private, kapitalgedeckte Pensionsfonds ersetzt (substitutives Modell).2 In einer weiteren Gruppe von Ländern wurde das staatliche Umlagesystem mit einer privaten Pensionsfondssäule auf obligatorischer Basis kombi1
2
Vgl. etwa Pierson (2001: 416), demzufolge Umlagesysteme „highly resistant to radical reform" sind. Das substitutive Modell findet sich außerdem in Bolivien, der Dominikanischen Republik, El Salvador, Mexiko, Nikaragua und Kasachstan; eine Variante wurde kürzlich im Kosovo eingefühlt.
175
niert (gemischtes Modell).3 Andernorts wurde den Versicherten eine Wahlmöglichkeit zwischen beiden obligatorischen Systemen eingeräumt (paralleles Modell).4 Während in Lateinamerika der substitutive Ansatz dominiert, ist in Osteuropa das gemischte Modell vorherrschend. Die vollständige oder teilweise Privatisierung der Alterssicherung in beiden Weltregionen soll in diesem Beitrag komparativ untersucht werden. Lateinamerika-Osteuropa-Vergleiche sind heute längst kein exotisches Unterfangen mehr, wie zahlreiche inzwischen klassisch zu nennende Arbeiten beweisen.5 Diese konzentrierten sich jedoch zumeist auf die Interdependenzen zwischen ökonomischen und politischen Umbrüchen, während die Politische Ökonomie einzelner Politikfelder kaum komparativ untersucht wurde. So waren auch die in Lateinamerika und Osteuropa unternommenen Rentenreformen trotz offenkundiger paradigmatischer Parallelen zunächst kein Gegenstand interregional vergleichender Forschung. Dabei ist es kein historischer Zufall, sondern das Ergebnis eines Modelltransfers vom Süden in den Osten, dass die Privatisierung der Alterssicherung in beiden geographisch so fernen Regionen nach einem ähnlichen Muster verlief (Müller 2001). Unter welchen Bedingungen konnte es zu den radikalen Rentenreformen und dem fundamentalen Paradigmenwechsel in der Alterssicherung Lateinamerikas und Osteuropas kommen? Dieser Frage soll hier am Beispiel von acht Reformfallen aus beiden Regionen nachgegangen werden: Argentinien, Uruguay, Peru und Bolivien sowie Ungarn, Polen, Kroatien und Bulgarien.6 Diese Fälle wurden mit Hilfe einer Forschungsheuristik untersucht, die auf den bisherigen Forschungsergebnissen zur Politischen Ökonomie von Reformen im Allgemeinen und der Politischen Ökonomie der Rentenprivatisierung im Besonderen basiert.7 Mit den Möglichkeiten und Grenzen der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Reformen beschäftigen sich Wissenschaftler bereits seit Anfang der 90er Jahre. Anfangs stand die politische Durchsetzbarkeit radikaler Strukturanpassungsprogramme und des so genannten Washington Consensus (Williamson 1990) in
3
4 5
6
7
Für das gemischte Modell entschied man sich in Argentinien, Costa Rica, Ecuador und Uruguay sowie in Bulgarien, Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, Mazedonien, Polen, der Russischen Föderation, der Slowakei und Ungarn. Das parallele Modell wurde bisher nur in Kolumbien und Peru implementiert. Vgl. etwa Huntington (1991), Bresser Pereira/Maravall/Przeworski (1993), Karl/Schmitter (1991), Linz/Stepan (1996), Przeworski (1991) und Przeworski et al. (1995). In den ausgewählten Fällen trat die vollständige bzw. teilweise Privatisierung der Alterssicherung 1993 (Peru), 1994 (Argentinien), 1996 (Uruguay), 1997 (Bolivien), 1998 (Ungarn), 1999 (Polen) bzw. 2002 (Kroatien und Bulgarien) in Kraft. Die hier vorgestellte Analyse fasst die Ergebnisse eines von 1999 bis 2002 durch die Volkswagen-Stiftung geförderten Forschungsprojektes zusammen, das am Frankfurter Institut für Transformationsstudien (FIT) der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) durchgeführt wurde. Für eine ausführliche Darstellung der Forschungsergebnisse sowie der acht Fallstudien vgl. Müller (2003b). Siehe auch Müller (1999).
176
Entwicklungsländern im Vordergrund der Analysen.8 Inzwischen ist unter dem Stichwort political economy of policy reform ein interdisziplinäres Forschungsfeld entstanden, das sich sehr unterschiedlicher Methoden bedient und seinen geographischen Fokus auch auf die Transformationsländer und OECD-Staaten ausgedehnt hat.9 Der internationale Vergleich kann dabei den Blick für die Spezifika der nationalen Reformagenden und ihre Durchsetzungsmöglichkeiten schärfen.
2. Neue Rentenreformmodelle und ihr supranationaler Transfer Wenn sich in zwei so entfernten Weltregionen eine Welle sehr ähnlicher Reformen beobachten lässt, deutet dies auf eine gemeinsame Inspirationsquelle bzw. einen supranationalen Transfermechanismus hin. In der Tat lässt sich eine sog. „neue Rentenorthodoxie" (Lo Vuolo 1996) identifizieren, die den Übergang zum Kapitaldeckungsverfahren propagiert und in beiden Regionen aktiv ist.10 Seit Mitte der 90er Jahre hat sich diese Orthodoxie international als dominante epistemische Gemeinschaft konstituiert, d. h. als Expertennetzwerk, das einem gemeinsamen politischen Projekt verpflichtet ist, normative und kausale Anschauungen teilt, ähnliche Argumentationsmuster verwendet und dieselben diskursiven Praktiken einsetzt.11 Innerhalb dieser epistemischen Gemeinschaft spielt die Weltbank, die seit zehn Jahren dezidiert für eine (Teil-)Privatisierung der Alterssicherung eintritt, eine Schlüsselrolle.12 Ihre Politikempfehlungen haben insbesondere in hochverschuldeten Entwicklungs- und Transformationsländern ein erhebliches Gewicht. Im Bereich der Rentenprivatisierung bietet die Bank nicht nur Kredite und Konditionalitäten, sondern auch einen Transfer von Spezialwissen an. Darüber hinaus haben sich auch der Internationale Währungsfonds (IWF), die US Agency for International Development (USAID) und die Interamerikanische Entwicklungsbank (IDB) in den letzten Jahren zunehmend engagiert, allerdings weniger prominent als die Weltbank. Warum fiel die Reformagenda der neuen Rentenorthodoxie nun gerade in Lateinamerika und Osteuropa auf fruchtbaren Boden? Beide Regionen vollzogen 8 9 10
11
12
Vgl. etwa Bery (1990), Whitehead (1990) und Krueger (1993). Vgl. Williamson (1994), Sturzenegger/Tommasi (1998), Drazen (2000) und Krueger (2000). Einen kritischen Überblick über den Diskurs der Wegbereiter der „neuen Rentenorthodoxie" - konservative Sozialstaatskritiker wie Hayek, Friedman, Tullock und Feldstein - gibt Hirschman (1991). Zur Rolle von epistemischen Gemeinschaften bei der transnationalen Übertragung von Politikmodellen vgl. Haas (1992) und Adler/Haas (1992). Dabei ist „Averting the Old Age Crisis" (World Bank 1994) nach wie vor die wohl prominenteste rentenpolitische Studie der Bank. Eine aktuelle Bestandsaufnahme der rentenpolitischen Erfahrungen Lateinamerikas aus Weltbanksicht liefern Gill/Packard/Yermo (2004).
177
in den 80er und 90er Jahren den Übergang von einem staatsinterventionistischen zu einem marktwirtschaftlichen Wirtschaftsmodell und waren dabei maßgeblich von den Politikempfehlungen des neoliberalen Washington Consensus geprägt. Ein Übergang vom Staat zum Markt ist auch den Verfechtern des Kapitaldeckungsverfahrens ein zentrales Anliegen. Somit lässt sich schlussfolgern, dass die Rentenprivatisierung in beiden Regionen auf ein günstiges politisches Umfeld stieß, da sie gegenüber der dominanten politischen Agenda „anschlussfahig" war (Huber/Stephens 2000).13 In Lateinamerika lässt sich darüber hinaus noch ein weiterer, zeitlich vorgelagerter Mechanismus beobachten: das direkte policy learning vom Präzedenzfall Chile (Weyland 2004). Allerdings erfolgte dieses mit gewisser zeitlicher Verzögerung: Hatte die Pinochet-Diktatur bereits 1981 das staatliche Umlagesystem privatisiert, so avancierte das sog. „chilenische Modell" erst zehn Jahre später nach der Rückkehr des Landes zur Demokratie und dem Aufstieg zum regionalen „Wirtschaftswunder" - zum Vorbild in der Region (Mesa-Lago 1997). Im osteuropäischen Kontext hingegen war dieser direkte Transfermechanismus sehr viel schwächer ausgeprägt. Mit Ausnahme Kroatiens und Kasachstans, wo sich die Rentenreformer in einem autoritären Kontext jeweils explizit auf das chilenische Vorbild bezogen, war Chile bei Sozialexperten und Bevölkerung der Region infolge der Pinochet-Diktatur sehr negativ konnotiert (Orenstein 2000; Müller 2003b). Darüber hinaus galt Lateinamerika auch aufgrund seines Charakters als Entwicklungsregion nicht als geeignetes Vorbild - schließlich orientierte man sich in Osteuropa in Richtung EU- und OECD-Beitritt. Den faktischen Modelltransfer vom Süden in den Osten in Form einer massiven Replikation der lateinamerikanischen Rentenreformen in den Transformationsländern hätte es ohne die aktive Vermittlerrolle der Weltbank - der es gelang, die lateinamerikanischen Präzedenzfalle politisch aufzuwerten - also wohl kaum gegeben. Die osteuropäischen Rentenreformer verzichteten jedenfalls in der Regel auf den expliziten Bezug auf die lateinamerikanischen Vorbilder und gaben den radikalen Paradigmenwechsel gerne als spezifisch nationale Initiative aus (vgl. etwa Rutkowski 1998).
3. Pfadabhängigkeiten und reformbegünstigende Krisen Bei der Erklärung des Verlaufs von Sozialreformen wird nach möglichen Pfadabhängigkeiten bzw. policy feedback gefragt: Inwiefern könnte das bestehende institutionelle Erbe und frühere politische Weichenstellungen die Reformentscheidungen und -ergebnisse beeinflusst haben? „Existing policies can set the
13
Die Privatisierung der Alterssicherung war ursprünglich kein Bestandteil des Washington Consensus, wurde jedoch im Verlauf der 90er Jahre faktisch integriert.
178
agenda for change [...] by narrowing the ränge of feasible alternatives" (PiersonAVeaver 1993: 146).14 Bei Reformen des Umlagesystems wird i. d. R. die sog. implicit pension debt (IPD) als relevante Größe angesehen. Die Höhe der IPD - d. h. die Summe der zum Zeitpunkt der Reform bereits im Umlagesystem erworbenen Rentenansprüche - wird also für das Ausmaß des Paradigmenwechsels in der Alterssicherung verantwortlich gemacht.15 Da diese impliziten Verbindlichkeiten beim Übergang zum Kapitaldeckungsverfahren explizit gemacht werden, erschwert eine hohe IPD aufgrund der resultierenden fiskalischen Belastung die Entscheidung für einen besonders weitgehenden Paradigmenwechsel - das substitutive Modell (Orenstein 2000; James/Brooks 2001). Diese Hypothese liefert eine mögliche Erklärung dafür, dass Argentinien und Uruguay - mit ihrem für lateinamerikanische Verhältnisse hohen Deckungsgrad und relativ stark gealterten Bevölkerungen - lange Jahre die einzigen Länder der Region waren, in denen ein gemischtes und kein substitutives Modell implementiert worden war (vgl. Tabelle 1). Auch die regionalen Unterschiede in der Paradigmenwahl - v. a. die bereits erwähnte Dominanz des gemischten Modells in den Transformationsländern, wo in der sozialistischen Zeit die gesamte Erwerbsbevölkerung rentenversichert war - lassen sich mit der IPD-Hypothese besser verstehen. Bei dieser Argumentation darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Höhe der IPD alles andere als ein fixer Parameter ist. Vielmehr lässt sich die Höhe der IPD durch das Reformdesign selbst reduzieren. So war es v. a. in Lateinamerika gängige Praxis, die vor der Rentenprivatisierung gegenüber den Versicherten bereits aufgelaufenen Verbindlichkeiten nur teilweise anzuerkennen, wie insbesondere der bolivianische und peruanische Fall zeigen (Müller 2003b). Diese unvollständige Anerkennung der bestehenden Rentenansprüche zu Lasten der künftigen Rentnergeneration - wird damit gerechtfertigt, dass sie dazu beitrage, die beachtlichen fiskalischen Kosten der Rentenprivatisierung zu minimieren (James 1998; Palacios/Rutkowski/Yu 1999). Ein Topos in der Literatur zur Politischen Ökonomie von Reformen ist der „benefit of crises" (Drazen/Grilli 1993: 598). Hierbei wird postuliert, dass reformbegünstigende Krisen politische Kontrahenten dazu veranlassen können, sich auf unpopuläre Maßnahmen zu einigen. Im Bereich der Reform der Alterssicherung können diese Krisen unterschiedliche Formen annehmen - auch jenseits der konkreten Finanzlage des staatlichen Umlagesystems. Die zu beobachtenden Krisenszenarios können vorwiegend makroökonomischer und/oder fiskalischer Natur sein bzw. mit einer hohen Auslandsverschuldung einhergehen.
14 15
Siehe auch Pierson (1993, 2000). Die Höhe der IPD wird von zahlreichen Faktoren beeinflusst, darunter dem Deckungsgrad des Rentensystems, der Dauer seines Bestehens, der Ausgestaltung der Rentenformel und der demographischen Situation (Mesa-Lago 2000).
179
Tabelle 1: Der Reformkontext im Vergleich Argentinien
Uruguay
Peru
Bolivien
Ungarn
Polen
Kroatien
Bulgarien
Über 60-Jährige / 20-59-Jährige (in%)'
27,0
34,5
14,3
16,2
35,1
29,4
37,6
38,5
Beitragzahler (in % der Erwerbsbevölkerung) 3
53,0
82,0
20,0
11,7
77,0
68,0
66,0
64,0
Implizite Rentenschuld (in % des BIP)
305
289
45
31
213
220
350
n.a.
Öffentliche Rentenausgaben (in % des BIP)"
4,1
8,7
1,2
2,5
9,7
14,4
11,6
7,3
Staatliches Haushaltsdefizit (in % des BIP) b
-1,3
-0,2
-5,7
-4,4
-6,7
-2,8
-1,3
-4,3
Auslandsverschuldung (in % des BIP) b
43,1
36,7
41,0
77,2
66,3
43,8
32,1
88,7
Freedom House Country Rating'
2,3
2,2
6,5
2,3
1,2
1,2
4,4
2,3
gemischt
gemischt
parallel substitutiv gemischt
gemischt
gemischt
Rentenreformtyp
gemischt
Quellen: Müller (2003b: 124, 2003c:14). a Mitte der 90er Jahre, b Vieljahresdurchschnitt vor Reform. c Im Reformjahr. Je niedriger der Wert, desto größer die politische Freiheit.
In den hier untersuchten Fällen lagen sehr unterschiedliche Krisenmuster vor. Hatte Uruguay einen fast ausgeglichenen Staatshaushalt und litt nicht unter einer Wirtschaftskrise, so traf dort ein besonders rasches Altern der Bevölkerung mit den höchsten Rentenausgaben Lateinamerikas zusammen. Peru und Bolivien wiesen hingegen eine junge Bevölkerung und sehr niedrige Rentenausgaben auf, waren jedoch von Haushaltsdefiziten und einer sehr hohen Auslandsverschuldung betroffen. In Kroatien war die Auslandsverschuldung niedrig und die Haushaltsdefizite gering, doch waren die Rentenausgaben und die Rentnerkoeffizienten hoch. Eine schwere Wirtschaftskrise ging der Rentenprivatisierung in Argentinien, Peru, Ungarn und Bulgarien voraus. In Argentinien und Bulgarien trug auch die Einführung eines rigiden Geld- und Wechselkursregimes (currency board) zum Sozialabbau bei (vgl. Tabelle 2). Krisen können Akteurkonstellationen nachhaltig verändern. Im Folgenden wird ihr Einfluss auf die rentenpolitischen Akteurkonstellationen in beiden Regionen näher beleuchtet.
180
Tabelle 2: Reformbegünstigende Krisen im Vergleich Argentinien Uruguay Defizit im Rentensystem
n.a.
Peru
Bolivien
Ungarn
Polen
Kroatien Bulgarien
ja
nein
ja
ja
n.a.
ja
ja
Staatliche Renten- moderat; steigend ausgaben
hoch; steigend
niedrig; konstant
sehr niedrig
hoch; fallend
hoch; konstant
hoch; steigend
hoch; konstant
Staatliches Haushaltsdefizit
niedrig; fallend
niedrig; steigend
hoch; fallend
hoch; fallend
hoch; konstant
hoch; konstant
niedrig; steigend
hoch; fallend
Wirtschaftskrise
ja
nein
ja
nein
ja
nein
nein
ja
Auslandsverschuldung3
sehr hoch
moderat
sehr hoch
sehr hoch moderat
sehr hoch
niedrig
sehr hoch
lohnbasierte Rentenindexierung verfassungsrechtlich verankert
unilaterales keine Moratorium bzgl. der Bedienung der Auslandsschulden; internationale Isolation nach Selbstputsch
erste postkommunistische Regierung nach 1989; Gerichtsverfahren gegen Leistungskürzungen
Krieg und currency internati- boartt onale Isolation; Gerichtsverfahren gegen Leistungskürzungen
sonstige relevante currency Kontextfaktoren boar(f\ Gerichtsverfahren gegen Leistungskürzungen
Quellen: a b
erste postkommunistische Regierung nach 1989
Müller (2003b: 124, 2003c: 14).
Weltbank-Klassifizierung zur Zeit der Reform. Währungsregime, das die Geld- und Wechselkurspolitik faktisch außer Kraft setzt und eine Haushaltskonsolidierung zwingend erfordert.
4. Akteurkonstellationen, politischer Handlungsspielraum und Politikstile Die hier betrachteten Fallstudien zeigen, dass radikale Rentenreformen dann politisch durchsetzbar wurden, wenn Weltbank und Finanzministerium Einfluss auf die rentenpolitische Paradigmenwahl nahmen, so dass das Sozialministerium die Reformagenda nicht allein bestimmen konnte. Ein besonders großer Handlungsspielraum für diese prominenten externen und internen Vertreter einer Rentenprivatisierung ging i. d. R. mit einer Krisensituation einher. Die Einflussmöglichkeiten der Weltbank wachsen mit dem Ausmaß der Auslandsverschuldung eines Landes. Dabei ist das Gewicht der internationalen Finanzinstitutionen nicht ausschließlich an ihrem eigenen finanziellen Engagement zu messen. Vielmehr senden sie bedeutende Signale an die Finanzwelt, die die allgemeine Kreditwürdigkeit eines Landes verbessern oder verschlechtern können (Zecchini 1995; Stiglitz 1998). Fünf der acht Untersuchungsländer waren zum Zeitpunkt der Rentenprivatisierung von sehr hoher Auslandsschuld betroffen, in zwei weiteren war sie hoch (vgl. Tabellen 1 und 2). In einem solchen Kontext kann die vollständige oder 181
teilweise Privatisierung der Alterssicherung als politisches Signal für eine orthodoxe Wirtschafts- und Sozialpolitik gelten.16 Einzig in Kroatien war die Verschuldung niedrig; dort machte allerdings die politische Isolation des TudjmanRegimes die internationalen Finanzinstitutionen zu wichtigen Bündnispartnern. In Kroatien und Polen wurden die Rentenreformteams sogar jeweils von einem Weltbankvertreter geleitet, so dass sich dieser internationalen Finanzinstitution besonders direkte Einflussmöglichkeiten auf die lokale Rentenreformagenda eröffneten. Doch kann die Initiative der Weltbank allein den radikalen Paradigmenwechsel nicht veranlassen - hierzu sind vielmehr lokale Bündnispartner vonnöten. Das Wirtschafts- und Finanzressort ist meist der wichtigste lokale Befürworter eines Übergangs zum Kapitaldeckungsverfahren, teilweise unterstützt von der Zentralbank. Die spezifische Ressortlogik begünstigt eine direkte Anknüpfung an die inhärent makroökonomische Agenda der Rentenprivatisierer. Diese wird jedoch nur dann unterstützt, wenn die fiskalischen Übergangskosten vom Umlage- zum Kapitaldeckungssystem als tolerabel angesehen werden bzw. sich hierfür interne oder externe Finanzierungsmöglichkeiten finden lassen.17 Bestehende fiskalische Probleme bzw. finanzielle Ungleichgewichte im staatlichen Rentensystem, wie sie sich jeweils in fünf der acht Untersuchungsländer fanden (vgl. Tabelle 2), stärken meist die Rolle des Finanzministers im Kabinett. Das Sozial- bzw. Wohlfahrtsministerium mit seiner traditionellen Orientierung an den Bismarck- bzw. Beveridge-Modellen leistete häufig, aber durchaus nicht immer Widerstand gegen einen radikalen Paradigmenwechsel in der Alterssicherung. Die Fallstudien lösen diesen vermeintlichen Widerspruch auf, indem sie folgendes Politikmuster aufzeigen: Das Sozialressort in Polen, Ungarn und Bulgarien zählte zunächst zu den Reformgegnern, verlor dann jedoch den Machtkampf im Kabinett gegen das Finanzministerium, so dass neue Sozialminister eingesetzt wurden, die bereits ex ante auf den Rentenprivatisierungskurs eingeschworen worden waren. Eine weitere Strategie zur Umgehung des Widerstands des Sozialressorts war die Bildung kleiner Reformteams, die nicht dem Sozialministerium, sondern dem Finanzministerium oder dem Premierminister unterstellt waren. Die Teams waren meist nicht mit den lokal etablierten Sozialrechtlern besetzt, sondern mit im Ausland (v. a. den USA) ausgebildeten Ökonomen. Auch diese personelle und disziplinare Neukonstituierung der relevanten Expertenteams erleichterte den Paradigmenwechsel von der „alten" zur „neuen" Schule.
16 17
Zum signaling siehe auch Rodrik (1998). Interessanterweise scheinen die internationalen Finanzinstitutionen ihre Position gegenüber Haushaltsdefiziten modifiziert zu haben, die aus einem Übergang zum Kapitaldeckungsverfahren resultieren. So argumentierte die Weltbank im ungarischen Fall: „the transitional deficit is not a fiscal deficit in the usual sense" (World Bank 1999: 44). Ähnlich positionierte sich der IWF im Fall Kroatiens (IMF 1998: 62).
182
Linken Parteien und Gewerkschaften - traditionellen Gegnern des Sozialabbaus - kam ebenfalls nicht automatisch eine Oppositionsrolle zu. So waren die argentinischen Peronisten, das bolivianische Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR) und die ersten postkommunistischen Regierungen Polens und Ungarns nach 1989 in den hier untersuchten Fällen für die vollständige oder teilweise Rentenprivatisierung verantwortlich.18 Linke bzw. linkspopulistische Regierungen waren in Lateinamerika und Osteuropa einem besonders starken externen Druck ausgesetzt, sich auf marktwirtschaftliche Reformen einzulassen. Sie konnten außerdem wichtige Teile der Gewerkschaftsbewegung kooptieren; mancherorts unter Zuhilfenahme materieller Anreize. So wurden Gewerkschaften beim Übergang zum Kapitaldeckungsverfahren etwa in Argentinien und Bulgarien durch die Verwaltung eigener Pensionsfonds als stakeholder in die Rentenprivatisierung eingebunden. Andernorts verzichteten Reformer und Gewerkschaften jedoch lieber auf diese Option; erstere, da sie den Gewerkschaften kein effizientes Pensionsfondsmanagement zutrauten, und letztere, da sie ihre Rolle als Arbeitnehmervertreter, nicht als Unternehmer sahen. In vier der untersuchten Länder - Uruguay, Argentinien, Polen und Kroatien - ist eine Konstellation unintendierter Effekte zu beobachten. Eine besonders erfolgreiche Opposition gegen geplante parametrische Rentenreformen, teilweise unter Zuhilfenahme von Plebisziten und Gerichtsverfahren, zementierte den rentenpolitischen Status quo im Umlagesystem und verhinderte die rechtzeitige Nutzung der vorhandenen Stellschrauben (vgl. Tabelle 2). In Uruguay wurde eine generöse Form der Leistungsindexierung sogar verfassungsrechtlich verankert. Was zunächst ein maßgeblicher politischer Erfolg von Rentnerverbänden, Gewerkschaften und linken Parteien zu sein schien, wirkte mittelfristig extrem kostentreibend, während gleichzeitig die Anpassungsmechanismen im Umlagesystem erheblich beschnitten wurden. Da die politischen Alternativen also blockiert waren, wurde durch diesen Widerstand gegen weniger radikale Rentenreformen letzten Endes der Paradigmenwechsel in der Alterssicherung befördert. Der politische Handlungsspielraum der Regierungen war in den acht Untersuchungsländern sehr unterschiedlich. In Bolivien, Bulgarien, Ungarn und Uruguay verfugte die Regierung bei der Verabschiedung der Rentenreform über eine komfortable parlamentarische Mehrheit. Auch in Kroatien kontrollierte das autoritäre Tudjman-Regime mit seiner Hrvatska demokratska zajednica (HDZ) das Parlament. In Peru wurde die Rentenreform indes per Dekret verabschiedet, da Präsident Fujimori das Parlament wenige Monate zuvor aufgelöst hatte. Nur in Argentinien waren aufgrund von knappen Mehrheitsverhältnissen im Parlament sehr intensive Verhandlungen mit der Opposition erforderlich, die in bedeutende politische Zugeständnisse mündeten (Müller 2003b).
18
Das Phänomen der sog. „unlikely administrations", wie es sich etwa bei der Durchführung neoliberaler Reformen durch linke Regierungen zeigt, wird in der Literatur als Nixon-inChina syndrome bezeichnet (Cukierman/Tommasi 1998; Ross 2000).
183
Aus den hier betrachteten Fällen lässt sich kein systematischer Zusammenhang zwischen dem Ausmaß des Paradigmenwechsels in der Alterssicherung und dem jeweiligen Handlungsspielraum der Regierung ableiten, wie er sich bei einer auf Lateinamerika begrenzten Analyse beobachten lässt." So führte insbesondere der zur Zeit der Rentenreform außergewöhnlich große Handlungsspielraum der peruanischen und kroatischen Regierung nicht zur radikalsten Paradigmenwahl unter den untersuchten Fällen (vgl. Tabelle 1). Wie eine Analyse des Politikstils bei der Privatisierung der Alterssicherung in den Untersuchungsländern zeigt, dominieren mit Dekretismus und Mandatismus wenig partizipative Spielarten der Reformpolitik.20 Lediglich in Argentinien, Bulgarien und Polen kamen dezidiert parlamentaristische bzw. korporatistische Politikstile zum Tragen (Müller 2003b). Die überwiegend unzureichende Konsensbildung kann im Verbund mit der Dominanz kleiner Technokratenteams im Reformprozess die politische Nachhaltigkeit der radikalen Rentenreformen gefährden.21 Überdies wurden einige der betrachteten Reformen äußerst übereilt verabschiedet und umgesetzt, um ein politisches window of opportunity zu nutzen. Die unzureichende Zeit zur Reformvorbereitung zog v. a. in Polen teilweise erhebliche Implementierungsprobleme nach sich, die bis heute - mehr als fünf Jahre nach Reformstart - nicht vollständig behoben sind (Müller 2003b). Diese anhaltenden Startschwierigkeiten waren nicht geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung in das neue Rentensystem zu stärken.
5. Fazit Die intra- und interregional vergleichende Analyse der jüngsten rentenpolitischen Entwicklungen in Lateinamerika und Osteuropa zeigt, dass entgegen der gängigen Annahmen in der Wohlfahrtsstaatsliteratur eine Privatisierung der Alterssicherung durchaus politisch durchsetzbar sein kann - nicht nur unter Pinochet, Fujimori und Tudjman. Ein radikaler Paradigmenwechsel vom Umlagezum Kapitaldeckungssystem war in beiden Weltregionen auch in einem demokratischen Kontext möglich, wenn auch begleitet von oftmals wenig partizipativen Politikstilen. Ob mit dem neuen Rentenmodell auch eine adäquate Antwort auf die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen im Bereich der Alterssicherung gefunden wurde, steht allerdings noch dahin.22 19 20
21 22
So etwa in Mesa-Lago (1999) und Mesa-Lago/Müller (2002). Bresser Pereira/Maravall/Przeworski (1993: 208) unterscheiden bei der Durchsetzung von Reformpolitik vier verschiedene Politikstile: Der Dekretismus beruht vorwiegend auf Präsidentialdekreten; der Mandatismus macht sich eine parlamentarische Mehrheit zunutze, um kontroverse Gesetze ohne Verhandlungen mit der Opposition durchzusetzen; während Parlamentarismus und Korporatismus intensive Verhandlungen mit der innerparlamentarischen Opposition bzw. sozialen Gruppen beinhalten. Siehe hierzu auch Silva (1999), Garland (2000) und Stiglitz (2000). Für eine kritische Zwischenbilanz siehe Mesa-Lago (2004) und Müller (2003a, 2004).
184
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188
Carmelo Mesa-Lago / Eva Maria Hohnerlein'
Rentenreformen im Vergleich: Internationale Systematisierung und Lehren aus Lateinamerika und Osteuropa für die deutsche Rentenreform Die deutsche Rentenreform von 2001 wurde als eine der bedeutendsten Sozialreformen in der Geschichte der Bundesrepublik eingestuft. Bereits 2004 wurden neue tiefgreifende Änderungen in der Alterssicherung verabschiedet. Dieser Beitrag verfolgt drei Ziele: Zunächst werden die durch die Reform 2001/2004 eingeleiteten Änderungen in der deutschen Alterssicherung und die neue private Altersvorsorge vorgestellt (I); anschließend wird die deutsche Reform in eine internationale Systematisierung struktureller Rentenreformen eingeordnet (II); zuletzt werden zentrale Grundannahmen zu den Wirkungen der deutschen Reform (Beitrittsanreize, Wettbewerb und Verwaltungskosten, Versorgungsniveau, Beitragssatzstabilisierung und die Folgen für die gesamtwirtschaftliche Sparquote, staatliche Kosten, Kapitalmarkt und Renditen) analysiert und den Daten über die konkreten Effekte der Rentenreformen in Lateinamerika und Osteuropa gegenüber gestellt (III). Allgemein gibt es zwei Arten von Rentenreformen: nichtstrukturelle und strukturelle. Nichtstrukturelle oder parametrische Reformen zielen auf die Konsolidierung des staatlichen Systems und stärken durch Erhöhung von Beitragssatz und -dauer, Anhebung des Rentenalters, Absenkung der Rentenleistungen, Begrenzung des Zugangs zu Frühverrentung und/oder Ausweitung der Staatszuschüsse die finanzielle Tragfähigkeit des Systems. Strukturreformen verändern das staatliche System radikal, indem sie es entweder ganz durch ein privates System ersetzen oder ein privates System schaffen, das mit dem gesetzlichen im Wettbewerb steht oder indem sie eine private Vorsorgekomponente in die ge-
1
Die Autoren schulden Alberto Arenas de Mesa, Jose Antonio Herce, Katja Hujo, Jiri Kräl, Martin Mächa, William M. Mercer, und Katharina Müller Dank für Daten und Kommentare.
189
setzliche Rentenversicherung integrieren. Eine viel beachtete Studie der Weltbank (1994) empfahl einen Drei-Säulen-Ansatz für strukturelle Rentenreformen auf der ganzen Welt. Später propagierte die Bank ein Reformmodell, das stark dem chilenischen ähnelte. 2 Die ILO widerspricht dem Ansatz eines „universell perfekten" Reformmodells, da Alterssicherung mit unterschiedlichen Techniken hinsichtlich Finanzierung (Kapitaldeckung oder Umlageverfahren), Verwaltung (öffentliche oder private Träger) oder Leistungsgestaltung (Festbeitrag oder Festleistung) organisiert werden könne. Die unterschiedliche Ausgestaltung der Rentensysteme sei durch ökonomische, demographische, soziale und politische Faktoren geprägt (ILO 2000: 405). Nach unserer Auffassung weisen Altersvorsorgesysteme bestimmte spezifische Merkmale auf. Wir unterscheiden „staatliche" und „private" Rentensysteme anhand von vier Kernelementen: Beiträge, Leistungen, Finanzierung und Verwaltung. Ein staatliches System ist gekennzeichnet durch: nicht festgelegte Beiträge (weil sie tendenziell langfristig ansteigen), über die Rentenformel gesetzlich definierte Leistungen, Umlagefinanzierung und staatliche Verwaltung. Ein privates System zeichnet sich aus durch: langfristig festgelegte Beiträge, nicht festgelegte Leistungen (deren Höhe sich aus dem angesammelten und investierten Kapital ergibt), ein voll kapitalgedecktes Finanzierungssystem auf der Basis individueller Sparkonten und private Verwaltung. Ein wichtiger Aspekt struktureller Rentenreformen betrifft die einzelnen Säulen des Systems und ihre Zusammensetzung. Die meisten entwickelten Länder kennen eine steuerfinanzierte Fürsorgerente, die pauschal und einkommensunabhängig gewährt werden kann, zumeist aber nur bei Bedürftigkeit gezahlt wird. Innerhalb der Sozialversicherung finden wir in vielen Ländern drei Säulen: (1) eine obligatorische solidarische Säule ohne vollständige Kapitaldeckung (umlagefinanziert oder mit teilweiser Kapitaldeckung), die durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge (gewöhnlich mit staatlicher Unterstützung) finanziert wird, und die vom Staat oder unabhängigen Sozialversicherungsträgern verwaltet wird; (2) eine obligatorische oder freiwillige zusätzliche Säule zur individuellen beruflichen Vorsorge mit voller Kapitaldeckung (bzw. teilweise kapitalgedeckt oder umlagefinanziert), die von staatlichen oder privaten Trägern oder den Arbeitgebern (Betriebsrentenprogramme) oder in einer Kombination aus all diesen Formen verwaltet wird; und (3) eine freiwillige, voll kapitalgedeckte individuelle Säule, die zumeist von privaten Trägern verwaltet wird (ILO 2000).
2
In einer neuen Studie über die Ergebnisse der Strukturreformen in Lateinamerika relativierte die Weltbank einige ihrer früheren Annahmen und Empfehlungen, hielt jedoch an ihren Grundprinzipien fest (Gill/Packard/Yermo 2004).
190
I. Die deutsche Rentenreform Die Rentenreform 2001/2004 verbindet parametrische und strukturelle Elemente: Einerseits wurden die Leistungsparameter der gesetzlichen Rentenversicherung (erste Säule) verändert, andererseits wurde ein neues System freiwilliger privater Altersvorsorge geschaffen, das die gesetzliche Rente partiell substituieren soll. A.
Die parametrischen Reformelemente
Die parametrische Reform des gesetzlichen Rentensystems weist folgende Schwerpunkte auf: (1) Rentenanpassung-. Seit Einfuhrung der dynamischen Rente 1957 wurden die Vorschriften zur Rentenanpassung mehrfach geändert. Seit 2002 gilt eine modifizierte Bruttolohnanpassung, wobei die Beiträge an die gesetzliche Rentenversicherung und an zertifizierte private Rentensysteme bei der Ermittlung der durchschnittlichen Bruttolöhne abgezogen werden. 2004 wurde ein Nachhaltigkeitsfaktor eingeführt, der Veränderungen der Relation zwischen Rentenempfängern und Beitragszahlern bei der Rentenanpassung berücksichtigen soll. (2) Absenkung des Rentenniveaus: Das Sicherungsziel der gesetzlichen Rentenversicherung, das über die sog. Standardrente (d.h. die Nettomonatsrente eines Versicherten, der 45 Jahre lang ein Entgelt in Höhe des Durchschnittsentgeltes aller Versicherten bezogen hat) definiert wird, sinkt innerhalb von 26 Jahren um rd. ein Fünftel. Das derzeitige Nettorentenniveau (53% vor Steuern, aber nach Abzug der Rentoerbeiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung) verringert sich bis 2020 auf 46%, bis 2030 auf 43%. (3) Stabilisierung des Beitragssatzes: Der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung von derzeit 19,5%, den Arbeitgeber und Arbeitnehmer je zur Hälfte tragen, soll durch die Reform 2001/2004 bis 2020 nicht über 20%, bis 2030 nicht über 22% steigen. (4) Anhebung des Rentenniveaus für Zeiten der Kindererziehung: Die Reform 2001 erhöhte das Rentenniveau für Mütter oder Väter, die Kinder erziehen und deren rentenversicherungspflichtige Einkünfte unterhalb des Durchschnittslohns liegen. (5) Neue Grundsicherung im Alter: Anstelle der bisherigen allgemeinen Sozialhilfe wurde ab 2003 ein eigenständiges System der bedarfsorientierten Grundsicherung im Alter mit großzügigeren Regressregeln eingeführt. B.
Die strukturellen Reformelemente
Die neue private Altersvorsorge mit staatlicher Zulagenförderung bewirkt eine bedeutsame Verlagerung der Sicherung von öffentlichen auf private Renten, auch wenn die gesetzliche Rente bis auf weiteres die wichtigste Leistung im Alter bleibt. Das neue private System steht allen Pflichtversicherten offen, die von der Absenkung des Leistungsniveaus in der gesetzlichen Rentenversicherung direkt oder indirekt betroffen sind. Die drei Kernelemente des privaten Systems sind: (1) Rentenhöhe: Die private Zusatzrente soll zumindest die Absenkung des 191
Rentenniveaus der gesetzlichen Altersrente und die Kürzung der Hinterbliebenenrenten ausgleichen. (2) Beiträge: Der „empfohlene" Beitragssatz des neuen privaten Systems soll zwischen 2002-2008 stufenweise von 1% auf 4% des versicherungspflichtigen Arbeitsentgelts ansteigen. (3) Systeme und Anbieter: Die staatliche Förderung kapitalgedeckter Altersvorsorge umfasst zum einen bestimmte Formen betrieblicher Altersversorgung (Direktversicherung, Pensionskasse und Pensionsfonds), zum andern zertifizierte individuelle Systeme (private Rentenversicherung, Banksparplan, Fondssparplan) unterschiedlicher Anbieter. Die individuellen Systeme müssen verschiedene Voraussetzungen erfüllen, um die staatliche Zertifizierung zu erhalten. Die wichtigsten vier (von insgesamt fünf) Kriterien sind: Der Vertrag muss eine lebenslange und unabhängig vom Geschlecht berechnete Altersversorgung vorsehen; der Anbieter muss garantieren, dass zu Beginn der Auszahlungsphase zumindest die eingezahlten Beiträge zur Verfügung stehen; der Vertrag muss eine lebenslange Leibrente oder einen Auszahlungsplan in Verbindung mit einer Leibrente spätestens ab dem 85. Lebensjahr vorsehen; die Abschluss- und Vertriebskosten sind auf fünf (ursprünglich 10) Jahre zu verteilen. Die umstrittenste Änderung des Kriterienkatalogs durch die Reform 2004 war die Einführung geschlechtsneutraler Tarife für Vorsorgeverträge, die nach dem 31.12.2005 abgeschlossen werden.
II. Die deutsche Reform im Rahmen einer internationalen Systematisierung struktureller Rentenreformen Zahlreiche Länder haben entweder autonome parametrische Reformen zur Stärkung der gesetzlichen Rentensysteme durchgeführt oder sie mit strukturellen Reformen gekoppelt. Dieser Beitrag konzentriert sich auf strukturelle Rentenreformen, für die es nach unserem Wissen keine internationale Systematisierung gibt. Bisherige Ansätze einer universellen Klassifizierung waren entweder zu wenig differenziert (etwa Amato/Mare 2002; Herce 2002) oder auf bestimmte Regionen (Lateinamerika und Osteuropa) begrenzt (Mesa-Lago 2004; Müller 2003). Tabelle 1 bietet eine internationale Systematisierung, die 23 Länder aus Lateinamerika, West- und Osteuropa umfasst und nach vier Kriterien unterscheidet: Reformmodell, Art der Mitgliedschaft, Beiträge und Verwaltung.
192
Tabelle 1: Weltweite Systematisierung der strukturellen Rentenreformen („privates" System oder „private" Komponente) Stand: 2002-2004 Modell
Beginn/ Jahr
Art der Mitgliedschaft Neuzugänge b
Versicherte"
Beiträge (% des Lohnes) Versicherte
Arbeit- Staat geber
Verwaltung
Substitutive Modelle Chile Bolivien Mexiko Kasachstan El Salvador Nicaragua Dom. Republik
1981 1997 1997 1998 1998 2002 2003
Option0 obligatorisch obligatorisch Altersgrupped
10 10 1,125 10 3,75 1 1,56
0 0 5,15 0 7,25 6,5 3,94
j j
privat
0,715 multipel 1 i
privat
1
j
multipel
Gemischte Modelle Vereinigtes Königreich Argentinien Uruguay Ungarn Polen Tschechische Republik Schweden Costa Rica Lettland Bulgarien Kroatien Estland Deutschland Ecuador
1978 1994 1996 1998 1999 19942000 2000 2001 2001 2002 2002 2002 2002 2004
obligatorisch/freiwillig® 1
Option obligatorisch Altersgruppe" obligatorisch freiwillig Altersgruppe" freiwillig obligatorisch Altersgruppe obligatorisch Altersgruppe" freiwillig Altersgruppe" obligatorisch
unbestimmt g
7 12,26 6-8" 7,3 unbestimmt
unbest. 0 0 0 0 unbest.
k
multipel
1
1
privat
staatl" multipel staatl."
1,25 2,50 2-10" 2-2,5" 2,5 2 l-4 h
1,25 1,75 0 2-2,5" 2,5 2 1
n
8 2,5
0 7,5
J
staatl.0 privat multipel privat
Parallele Modelle Peru Kolumbien
1993 1994
Option'
privat multipel
" Versichert bei Inkrafttreten der Reform. b Nach Beginn der Reform erstmals Erwerbstätige. c Die Versicherten konnten zwischen Verbleib im gesetzlichen System und Wechsel zum privaten System wählen. " Die Zuordnung der Versicherten erfolgt nach Alter. e Die Versicherten müssen zur gesetzlichen Grundrente eine zusätzliche (betriebliche/private oder staatliche) Altersvorsorge haben. Wahlrecht zwischen dem gesetzlichen und dem privaten/gemischten System (teilweise ohne Rückkehroption). 8 Der ursprüngliche Beitrag von 11% wurde aufgrund der Krise vorübergehend auf 5% gesenkt, 2004 auf 7% erhöht. h Stufenweise Anhebung bis auf den zuletzt angegebenen Betrag. ' Ein Arbeitgeberbeitrag ist möglich.' In den meisten Ländern finanziert der Staat den Wert der Beiträge zum gesetzlichen System für Versicherte, die dem privaten System beitreten und garantiert ihnen eine Mindestrente. k Der Staat gewährt Entlastung durch (teilweise) Steuerfreistellung der Beiträge. ' Der Staat garantiert eine Mindestleistung. m Der Staat sieht Zuschüsse und Steuerfreibeträge für Beiträge vor. ° Der Staat gewährt Zuschüsse und Steuerfreibeträge für Beiträge. ° Beitragseinzug, Geldanlage und Kontenführung durch den Staat. Quellen: Für Lateinamerika Mesa-Lago 2004. Für Mittel- und Osteuropa Müller 2003; Fultz 2002, 2004; Kral 2002. Für Westeuropa Reinhard 2001; Herce 2002; OECD 2001.
193
A.
Reformmodelle
Die 23 Länder der Tabelle 1 werden in drei allgemeine Strukturreformmodelle unterteilt (substitutives, gemischtes und paralleles Modell). (1) Bei dem substitutiven Modell wird das gesetzliche System für Neuzugänge geschlossen und durch ein privates System ersetzt, das die vier typischen Merkmale aufweist (Festbeiträge, nicht festgelegte Leistungen, volle Kapitaldeckung und private Verwaltung). (2) Beim gemischten Modell wird das gesetzliche System mit einem privaten Zusatzrentensystem kombiniert. Die erste Säule weist die vier für das gesetzliche System typischen Merkmale auf (Festleistungen, nicht festgelegte Beiträge, Umlageverfahren und öffentliche Verwaltung), die zweite Säule die vier für das private System typischen Merkmale. Der jeweilige Anteil der beiden Säulen an der Gesamtversorgung im Alter ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. (3) Bei dem parallelen Modell wird das gesetzliche System reformiert; zugleich wird ein neues privates System geschaffen, das mit dem gesetzlichen konkurriert. Die staatlichen wie die privaten Systeme weisen jeweils mit einer Ausnahme - ihre vier typischen Merkmale auf. Das parallele Modell findet sich bislang nur in zwei lateinamerikanischen Staaten. B.
Art der Mitgliedschaft
Die Mitgliedschaft kann je nach System obligatorisch oder freiwillig sein, teilweise auch vom Alter der Versicherten abhängen oder vom Versichertenstatus zum Zeitpunkt der Reform. In je fünf Ländern Lateinamerikas und Osteuropas entscheidet das Alter der Versicherten über die Pflichtmitgliedschaft. Zumeist mussten sich die Jüngeren dem privaten System oder der privaten Komponente des gemischten Systems anschließen, während die Älteren im staatlichen System blieben. In fünf Ländern war die Mitgliedschaft im privaten System für alle obligatorisch. In drei lateinamerikanischen Ländern können die Versicherten zwischen dem staatlichen und dem privaten System/der privaten Komponente wählen, wobei in Argentinien und Peru eine spätere Rückkehr zum staatlichen System ausgeschlossen ist, während Kolumbien alle fünf Jahre einen Wechsel der Systeme zulässt. Das Vereinigte Königreich stellt einen Sonderfall dar, weil die Versicherten eine Zusatzvorsorge haben müssen, aber zwischen staatlichen oder privaten Zusatzprogrammen wählen können. In der Tschechischen Republik und in Deutschland ist die Mitgliedschaft freiwillig. C.
Beiträge
Die Finanzierung des privaten Systems bzw. der privaten Komponente setzt sich in unterschiedlichem Ausmaß aus Beiträgen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber sowie aus staatlichen Zuschüssen zusammen. Die Beiträge werden in der Regel als Prozentsatz des abgabenpflichtigen Lohns oder Einkommens festgelegt. Modellunabhängig tragen in zehn Ländern die Arbeitnehmer die volle Beitragslast, in weiteren zwölf Ländern beteiligen sich die Arbeitgeber an der Fi-
194
nanzierung. Der Beitragssatz variiert zwischen 12,26% (Uruguay) und 1-4% (etwa Deutschland). In sechs Ländern ist der Arbeitgeberbeitrag höher als der Arbeitnehmerbeitrag, in drei Fällen sind beide gleich hoch. Die Arbeitgeber zahlen zwischen 5-7,5% (Kolumbien, Mexiko) und 1,25-2,5% (Kroatien, Bulgarien, Costa Rica und Schweden). Mexiko ist das einzige Land, in dem sich der Staat an der Finanzierung mit einem Prozentsatz der steuerpflichtigen Löhne beteiligt. Bei den substitutiven Modellen finanziert der Staat in der Regel die Anerkennungsbonds für Beiträge an das staatliche System zugunsten von Versicherten, die in das private System überwechseln, und garantiert zudem eine Mindestrente für Versicherte im privaten System. In drei Ländern mit einem gemischten Modell gewährt der Staat Steuerabzüge für Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge, teilweise finanziert der Staat das private System durch besondere Zulagen zu den Beiträgen der Versicherten (Tschechische Republik und Deutschland). D.
Verwaltung
In neun Ländern liegt die Verwaltung ausschließlich in der Hand „privater" Träger (kommerzieller Aktiengesellschaften). Dies gilt ganz überwiegend bei substitutiven, teilweise auch bei gemischten und parallelen Modellen. Unabhängig vom jeweiligen Reformmodell gestatten zehn Länder mehrere („multiple") Arten der Verwaltung von Rentenfonds (private Unternehmen, öffentliche Körperschaften oder gemischte Einrichtungen wie staatliche Banken, Sozialversicherungen, Betriebskassen, Gewerkschaften, Genossenschaften). Nur drei Länder mit gemischtem Modell (Schweden, Lettland und Kroatien) sehen eine „öffentliche" Verwaltung (für Beitragseinzug, Kontoführung und Geldanlage) vor. E.
Ist die deutsche Rentenreform eine Strukturreform?
Die deutsche Rentenreform von 2001/2004 wie die tschechische von 1994/2000 stellen sich im Rahmen einer internationalen Systematisierung struktureller Rentenreformen als Grenzfälle dar, da in beiden Ländern der Beitritt zur privaten Zusatzrente (2. Säule) freiwillig ist. Einige Wissenschaftler sehen in der obligatorischen oder quasi-obligatorischen Teilnahme an einer privaten Altersvorsorge das wesentliche Element einer Strukturreform. Ursprünglich hatte das deutsche Sozialministerium ein solches Obligatorium für die kapitalgedeckte Zusatzvorsorge angestrebt, konnte dies jedoch politisch nicht durchsetzen. Eine Übertragung von Beiträgen vom staatlichen auf das private System findet nicht statt. Verschiedene Experten betonen jedoch die neuartige Verknüpfung von gesetzlicher Rentenversicherung und privater Altersvorsorge (Schmähl 2003). Im Rahmen der internationalen Systematisierung sehen wir die deutsche Reform von 2001/2004 als eine strukturelle Reform an: Das Rentenniveau der gesetzlichen Rentenversicherung der 1. Säule wurde massiv gesenkt; die 2. Säule ist zwar freiwillig, soll aber die Senkung der gesetzlichen Rente im Wege einer partiellen Substitution kompensieren. Dabei wirkt sich die neue private Altersvorsorge unmittelbar auf das Versorgungsniveau der gesetzlichen Rentenversi195
cherung aus: Zum einen fuhrt die Einbeziehung der fiktiven Beiträge zur freiwilligen Privatvorsorge (ab 2008 4% des individuellen versicherungspflichtigen Lohns) bei der Rentenanpassung zu einer Reduktion des Leistungsniveaus (4%Lücke); zum anderen beeinflusst auch die bis 2008 vorgesehene Möglichkeit zum Aufbau einer privaten Altersvorsorge aus beitragsfreier Entgeltumwandlung die gesetzliche Rentenversicherung, da für diese Entgeltbestandteile keine Ansprüche auf Leistungen aus dem gesetzlichen System erworben werden. Der Staat fördert die Mitgliedschaft in der 2. Säule durch besondere Zulagen bzw. durch Steuerfreiheit für Arbeitnehmerbeiträge zur privaten Vorsorge bis zu einer bestimmten Grenze (die durch die Reform von 2004 erweitert wurde) und Steuerabzüge für Arbeitgeberbeiträge. Strikte Voraussetzungen bei der Zertifizierung der neuen privaten Altersvorsorge sollen ein Mindestmaß an Sicherheit für das künftige Rentenniveau garantieren. Nach unserer Überzeugung wird sich die Grundannahme, dass die neue private Altersvorsorge die Kürzungen der gesetzlichen Rente kompensieren wird, nicht verwirklichen lassen, so dass in Zukunft ein Obligatorium für die zweite Säule zu erwarten ist.
III. Erwartete Effekte der deutschen Rentenreform im Hinblick auf lateinamerikanische und osteuropäische Reformergebnisse Dieser Abschnitt behandelt wesentliche (explizite und implizite) Grundannahmen zu den Effekten der deutschen Rentenreform in Bezug auf Beitrittsanreize, Wettbewerb und Verwaltungskosten, Höhe der Altersversorgung, Beitragssatzstabilisierung und ferner die Folgen für die volkswirtschaftliche Sparquote, die staatliche Belastung und die Verteilungswirkungen, den Kapitalmarkt und die Renditen. Diese Grundannahmen werden anhand von Daten über die tatsächlichen Reformwirkungen in Lateinamerika und - in geringem Maß in Osteuropa überprüft.2 A.
Hoher Deckungsgrad der privaten Altersvorsorge
Befürworter der deutschen Rentenreform rechneten wegen der staatlichen Anreize und der Senkung der gesetzlichen Rente mit einer hohen Beitrittsquote der beitrittsberechtigten Versicherten zum neuen System. Mitte 2002 schätzte das Ministerium für Arbeit und Sozialordnung das Beitrittspotential auf mehr als 20 Millionen Arbeitnehmer.
2
Die von Orszag und Stiglitz (2001) angestoßene und von Barr (2002) weiterentwickelte Debatte über die Reformmythen wurde von Mesa-Lago (2002) für Lateinamerika und von Müller (2003) für Osteuropa überprüft.
196
Tabelle 2: Ergebnisse der Rentenstrukturreform in neun lateinamerikanischen Ländern (Dezember 2002) Indikatoren" 1. Versicherte in beiden Systemen: Staatliches System (in Tausend) % der Gesamtzahl privat oder gemischt (in Tausend) % der Gesamtzahl 2. Aktive Beitragszahler (in Tausend) b 3. Von beiden Systemen erfasste Arbeitnehmer (in %), basierend auf: - Mitgliedern - aktiven Beitragszahlem 4 Beitragszahler / Versicherte (%) 5. Anzahl der Anbieter 6. Mitgliedschaft bei den drei größten Anbietern
(%)
7. Vom Lohn abgezogene Beiträge (%) für: Individuelle Rentenkonten Verwaltungskosten' Gesamtabzug 8 Anteil der Verwaltungskosten am Gesamtbeitragssatz (%) 9. Akkumuliertes Fondskapital in Millionen USS in % des BIP 10. Jährliche reale DurchBrutto 11. % des Portfolios investiert in: Staatspapieren Aktien
Kolum bien
Costa Rica
El Salvador
Mexiko
Peru
6.879
10.460
1.175
1.087
29.421
3.134
1.216
0
171
5.744
0
94
0
140
600
0
2
55
0
9
0
4
49
9.106
761
6.708
4.716
1.175
993
29.421
2.994
616
80
100
98
45
100
91
100
96
51
3.026
357
3.424
2.244
O.A.
472
12.283
1.181
278
69
23
115
59
69
40
72
28
77
24
11
60
24
O.A.
19
30
11
60
33
47
51
48
O.A.
48
42
39
45
12
2
7
6
9
3
12
4
4
57
100
79
66
82
100
44
76
87
Argenti nien
Bolivi en
11.316e
761
2.210 20
Chile
Uruguay
2,75
10
10
10
4,25»
11,02
6,27
8
12,26
2,25 5
2,21 12,21
2,43 12,43
3,5 13,5
O.A.
2,98 14
4,24 10,51
3,51 11,51
2,74 15
45
18,1
19,54
25,93
O.A.
21,28
40,34
30,5
18,2
1.144 35.515 15,5 55,8
5.350 6,2
138 0,9
1.061 7,5
31.456 5,3
4.484
893 9,3
11.650 11,3
10,45
15,5
10,3
7,3
7
8,4
10,4
76.7 6,5
69,1 0
30 9,9
49,4 2,9
90,1 0
84,7 0,5
83,1 0
8,1 ......
6
13,0 31,2
15
55,5 0
* Nr. 2 und 4-11 verweisen auf das private System bzw. die private Komponente des gemischten Systems. b Im Vormonat geleistete Beiträge. c Provision, die an die Verwaltung des Alterssicherungssystems gezahlt wird und Prämie, die in der Regel an eine Versicherung gezahlt wird, um Invalidität und Hinterbliebenensicherung abzudecken. d Vom Systembeginn bis Ende 2002; die Nettorendite berücksichtigt die Verwaltungskosten der Alterssicherung. e Inklusive der Unentschiedenen. f Ab 2004 auf 7 % e r h ö h t . 8 Die Provision wird vom Kapitalertrag und nicht vom Lohn abgezogen. Quellen: Statistiken für alle Länder durch Mesa-Lago 2004 und AIOS 2003.
197
1. Wahlfreiheit und andere beitrittsrelevante Faktoren. Auch in Lateinamerika und Osteuropa wurde erwartet, dass die Mehrheit der Versicherten dem privaten System beitreten würde. Statistiken scheinen diese Annahme zu bestätigen: 2001-2002 gehörten 100% der Versicherten in Bolivien, Kasachstan, Costa Rica und Mexiko dem privaten System (oder der privaten Komponente des gemischten Systems) an, 91-98% in Chile, El Salvador und Peru, 80% in Argentinien, 75% in Polen, 58% in Ungarn und 52% in der Tschechischen Republik (Tab. 2, Nr.l und Tab. 3, Nr.l). Diese Übertritte hingen nicht nur von den Vorteilen des privaten Systems wie vor allem der erwarteten höheren Rendite ab, sondern auch von anderen Faktoren, wie der Wahlfreiheit der Versicherten, staatlichen Anreizen zur Förderung des Übertritts, von der Werbung der privaten Anbieter oder schlicht vom Zeitablauf seit Inkrafttreten der Reform. In den vier Ländern, in denen 100% der Versicherten dem privaten System angehören, wurde der Übertritt für alle gesetzlich vorgeschrieben, so dass niemand eine Wahlmöglichkeit hatte. Ferner müssen sich in allen sieben Ländern mit einem substitutiven Modell und in vieren mit einem gemischten System alle Personen, die ihr Erwerbsleben nach der Reform beginnen, in dem privaten System bzw. der privaten Komponente versichern. Eine lange Reformdauer (z. B. 23 Jahre in Chile) erhöht zwangsläufig den Anteil der im privaten System Versicherten. Vier weitere Länder unterteilten die Versicherten in Altersgruppen, wobei die größte Gruppe - die der jüngeren Arbeitnehmer - zum Übertritt verpflichtet wurde. Um den Übertritt in Chile zu fordern, setzte der Staat bei Reformbeginn einen geringeren Beitragssatz für das private System als für das staatliche System fest. Im Gegensatz dazu sind in Kolumbien nur 48% der Versicherten in das private System übergetreten. Dies hat vier Gründe: Das gesetzliche System wurde umfassend reformiert und finanziell konsolidiert; Beiträge und Anspruchsvoraussetzungen sind in beiden Systemen die gleichen; die gesetzliche Rentenversicherung garantiert höhere Leistungen als das private System (Kleinjans 2004). In Lettland sind bis 2002 nur 6% der zum Wechsel berechtigten Altersgruppe der privaten Komponente beigetreten (im Gegensatz zu den 50% offiziell Vorhergesagten), was zum großen Teil an den besseren Leistungen des gesetzlichen Systems liegt (Casey 2002). Anders als in den meisten Ländern ist die Teilnahme an der neuen privaten Altersvorsorge in Deutschland in jeder Hinsicht freiwillig. Die finanziellen Beitrittsanreize des Staates sind mit den gesetzlichen Maßnahmen anderer Länder nicht vergleichbar. Damit ist die Entscheidungsfreiheit zum Eintritt in das private System insgesamt beträchtlich größer als in irgendeinem anderen Land mit struktureller Rentenreform. In der Tschechischen Republik, die ebenfalls ein freiwilliges System privater Altersvorsorge eingeführt hat, sind acht Jahre nach der Reform nur 52% der gesetzlich Versicherten dem privaten System beigetreten (Lasagabaster et al. 2002). All dies lässt vermuten, dass in Deutschland mit einer proportional geringeren Teilnahme am neuen System privater Altersvor198
sorge als in anderen Ländern mit struktureller Rentenreform zu rechnen ist. Tatsächlich blieb die Teilnahme an der freiwilligen Altersvorsorge bisher hinter den Erwartungen zurück: Derzeit (Mitte 2004) haben rd. 4,1 Mio. Bürger eine Riester-Vorsorge abgeschlossen. Immerhin ist die Zahl der neuen Verträge bei betrieblichen Pensionskassen und -fonds in jüngster Zeit stark gestiegen, so dass mittlerweile fast 20 Mio. Menschen an einer betrieblichen oder individuellen Form privater Altersvorsorge teilnehmen. Tabelle 3: Ergebnisse der Strukturreform in sechs osteuropäischen Ländern (2001-2002)" Indikatoren 1. Mitglieder im privaten System (Millionen) % der Gesamtversicherten
Bulgarien
Kroatien
Tschech. Republik
Ungarn
Kasachstan
Polen
o.A.
1.2
2.5
2.2
3.7
10.8
52
58
100
75 62
78
O.A.
o.A.
2. Im privaten System versicherte Erwerbstätige (%), auf der Basis der Mitglieder
o.A.
o.A.
53
52
52
3. Beitragszahler, % aller Mitglieder
O.A.
o.A.
o.A.
o.A.
o.A.
4. Anzahl der Anbieter
8
7
14
25
16
21
88
o.A.
49
65
73
60
6. Akkumuliertes Fondskapital (in % des BIP)
O.A.
o.A.
2,6
1,7
4,2
1,5
7. Jährliche durchschnittliche Realverzinsung (%), brutto
o.A
o.A.
0,5
11,1
2,5 b
50
50
75
78
75
58
O.A.
o.A.
7
16
o.A.
27
5. Mitgliedschaft bei den drei größten Anbietern (%)
8. % des Portfolios investiert in Staatspapiere Aktien
" Alle Zahlen beziehen sich auf das private System, die Zahlen für die Tschechische Republik und Kasachstan auf Ende 2001, für Ungarn und Polen auf Mitte 2001; die übrigen Zahlen können nicht benannt werden. b Eine weitere Schätzung lautet auf -3,5% bis -14%. Quellen: Fultz 2002a, 2002b, 2004; Kral 2002; Lasagabaster et al. 2002; Mächa 2002; Müller 2003.
2. Positive und negative Beitrittsanreize in Deutschland. Die neuen Formen kapitalgedeckter Altersvorsorge sind mit unterschiedlichen positiven wie negativen Beitrittsanreizen verknüpft. Als positive Beitrittsanreize sind vor allem staatliche Zulagen und die (begrenzte) Steuerfreiheit für Beiträge zur privaten Altersvorsorge zu nennen; jeder Zulageberechtigte erhält für Beiträge an ein förderfähiges Vorsorgesystem in Höhe der empfohlenen Sparrate (1-4% des versicherungspflichtigen Erwerbseinkommens) eine jährliche Grundzulage, die von € 38 in den Jahren 2002/2003 auf € 154 ab 2008 steigt. Ein zusätzlicher Anreiz besteht in der Kinderzulage für 199
jedes Kind, für das Kindergeld gezahlt wird, in Höhe von zunächst € 46 pro Kind, in der Endphase ab 2008 von € 185 p.a. Durch den Steuerabzug ermäßigt sich die tarifliche Einkommensteuer. Die Verpflichtung der gesetzlichen Rentenversicherung, alle Versicherten über 27 Jahre jährlich über die Höhe ihres künftigen Rentenanspruchs zu informieren, wirkt ebenso als positiver Beitrittsanreiz wie die Neuregelung der Besteuerung von Altersvorsorgeaufwendungen und Alterseinkünften, da die steuerliche Entlastung von Beiträgen zur Altersvorsorge den finanziellen Spielraum zum Aufbau einer zusätzlichen Altersvorsorge vergrößert. Spezielle Anreize wurden für die betriebliche Altersvorsorge geschaffen: Bestehende Zugangsbarrieren entfielen durch den neuen Anspruch auf betriebliche Altersversorgung durch Entgeltumwandlung. Ein zweiter Anreiz ist die Herabsetzung der Unverfallbarkeitsfristen bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem Betrieb. Ein neuer Durchfuhrungsweg mit höherer Kapitalanlagefreiheit (Pensionsfonds) wurde geschaffen. Ferner werden Beiträge in eine Pensionskasse/einen Pensionsfonds Steuer- und sozialabgabenfrei gestellt (bei Entgeltumwandlung bis 2008), soweit sie insgesamt im Kalenderjahr 4% der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht übersteigen. Arbeitgeberbeiträge können unbegrenzt (auch mehr als 4%) als Unternehmensausgaben vom zu versteuernden Ertrag abgezogen werden. Im Ergebnis stieg die Teilnahme an der betrieblichen Altersversorgung in der Privatwirtschaft innerhalb von 15 Monaten bis zum März 2003 von 38% auf 43% der Beschäftigten (ca. 10,3 Mio.); weitere 5 Mio. Beschäftigte im öffentlichen Dienst waren über öffentliche Zusatzversorgungssysteme gesichert. Insgesamt haben damit ca. 15,3 Mio. Beschäftigte (ca. 57% der Arbeitnehmer) Anwartschaften auf betriebliche Altersvorsorge. Andererseits bestehen auch negative Beitrittsanreize: Die große Vielfalt der Vorsorgeprodukte und die fehlende Produkttransparenz erschweren die Wahl für die Versicherten.3 Die Vorschriften für Sparer und Anbieter sind kompliziert, insbesondere das Verfahren zur Auszahlung der staatlichen Zulagen. Zahlreiche Vorschriften regeln die Zertifizierung zulagefahiger individueller Vorsorgeprodukte im Hinblick auf den Verbraucherschutz, ohne jedoch die Qualität der Produkte zu garantieren.4 Beitrittshemmnisse liegen auch in der unzureichenden Information der Versicherten und einer großen Skepsis gegenüber dem Kapitalmarkt sowie in mangelhafter Beratung durch die Anbieter. Für Personen mit geringem Verdienst und/oder in prekärer Beschäftigung, besonders aber für Arbeitslose, bestehen keine oder nur geringe Beitrittsanreize.
3
Es gibt mehr als 3500 zertifizierte Vorsorgeprodukte.
4
Die wichtigsten Voraussetzungen sind: Garantieleistung in Höhe der eingezahlten Beiträge; Leistung entweder in Form einer lebenslangen Leibrente oder eines Auszahlungsplans, der spätestens ab dem 85. Lebensjahr mit einer lebenslangen Leibrente verbunden ist.
200
Die Rentenreform 2004 sieht eine Reihe von Änderungen zum Abbau bestehender Beitrittshemmnisse vor. Ziel ist es insbesondere, die Förderung der privaten Altersvorsorge unbürokratischer und bürgerfreundlicher zu gestalten, die Besteuerung betrieblicher Altersversorgung zu vereinheitlichen und die Portabilität in der betrieblichen Altersversorgung zu verbessern. Im Bereich der Riester-Renten wurden die Informationspflichten der Anbieter zum besseren Produktvergleich um die Verpflichtung zur Angabe der effektiven Gesamtrendite vor Vertragsschluss erweitert. Hervorzuheben ist zudem die Einführung von Unisex-Tarifen für Neuverträge ab 2006. Diese Neuerungen sind auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Bundesregierung ab 2005 regelmäßig zu prüfen hat, ob und in welchem Umfang der Aufbau einer freiwilligen privaten Altersvorsorge mit Breitenwirkung erreicht wurde. Bei nicht ausreichender Verbreitung der zusätzlichen Alters Vorsorge ist zu prüfen, ob eine obligatorische private Altersvorsorge notwendig ist. B.
Mehr Wettbewerb und niedrigere Verwaltungskosten
Mit den neuen Formen privater Altersvorsorge gibt es auch eine wachsende Zahl neuer Anbieter (für betriebliche und individuelle Vorsorge). Dadurch sollen Wettbewerb und Effizienz steigen und die Verwaltungskosten sinken. 1. Wettbewerb. Zahlen aus Lateinamerika und Osteuropa belegen, dass ein verstärkter Wettbewerb durch privatisierte Altersvorsorge weitgehend von der Größe des Versichertenmarktes abhängt. Ende 2002 hatte Mexiko 29 Millionen Mitglieder und 12 Anbieter, Chile 6,7 Mio. und 7 Anbieter, Peru 3 Mio. und 4 Anbieter, El Salvador etwa 12 Mio. Versicherte und 3 Anbieter, Bolivien weniger als 1 Mio. und 2 Anbieter (Tab. 2, Nr. 1 und 5).5 In all diesen Ländern kam es zu einer Konzentration der Anbieter durch Zusammenschlüsse (z. B. in Argentinien fiel die Anzahl von 25 auf 12, in Chile von 21 auf 7, in Mexiko von 17 auf 12; vgl. Mesa-Lago 2004). In der Tschechischen Republik, dem Land mit der längsten Reformerfahrung in Osteuropa, sank die Zahl der Anbieter von 44 auf 14 bei 2,5 Millionen Mitgliedern (Kräl 2002). Selbst bei vielen Anbietern kann der Wettbewerb durch eine übergroße Konzentration behindert sein. Im Zeitraum 2001-2002 konzentrierten sich 100% der Mitglieder in Bolivien und El Salvador auf die drei größten Anbieter; in den meisten anderen Ländern zeigt sich ebenfalls eine erhebliche Konzentration (4988%) auf die drei größten Anbieter (Tab. 2, Nr. 6 und Tab. 3, Nr. 5). Nun könnte man eine solche Konzentration akzeptieren, sofern die drei größten Anbieter auch die besten sind. Dies ist jedoch - wie das Beispiel Chiles zeigt - nicht der Fall. Maßgebliche Gründe für die Anbieterwahl waren zumeist unvollständige Information (u. a. über die Verwaltungskosten), Unfähigkeit zu rationalen Ent5
Derzeit hat Brasilien - mit einem freiwilligen System - die meisten privaten Rentenanbieter (ca. 2000) in Lateinamerika (IPEA 2002).
201
Scheidungen und offensive Werbeaktivitäten (Mesa-Lago 2004). Die Zahl der aktiven Beitragszahler und damit der tatsächliche Deckungsgrad ist zumeist wesentlich geringer und lag 2002 in Lateinamerika bei durchschnittlich 44% der Mitglieder (Tab. 2, Nr. 4), während in Polen immerhin 78% der Versicherten Beitragseingänge verzeichneten (Tab. 4, Nr. 3).6 Nachdem in Deutschland bereits eine lange Tradition an privater Altersvorsorge besteht, sollte es mit dem zusätzlichen Vorsorgepotential zahlreiche Anbieter und intensiven Wettbewerb geben. Doch könnte gerade die hohe Zahl und die Komplexität der angebotenen Vorsorgeprodukte auch hier die Wahl des besten Programms erschweren. Große Anbieter könnten auf Maßnahmen wie Marketing, Werbung und offensiven Vertrieb statt auf objektive Information über Anlageergebnisse setzen. Kommt es zu einer Zersplitterung des Versichertenmarktes auf viele kleine Anbieter, so verringern sich deren Kostenvorteile. Eine starke Verbreitung betrieblicher Altersvorsorge könnte ebenfalls den Wettbewerb unter den Anbietern einschränken (Bonin 2001). Bisher zeichnet sich auch in Deutschland eine Konzentration der geforderten Verträge auf bestimmte Anbieter ab. Nach den Erfahrungen in anderen Ländern ist mit einem beträchtlichen Rückgang der Zahl der Anbieter zu rechnen. 2. Verwaltungskosten. Nach Auffassung der ILO haben kapitalgedeckte Systeme wegen der Anlageverwaltung tendenziell höhere Verwaltungskosten als nicht kapitalgedeckte Systeme. Zwar haben große Anbieter größenbedingte Kostenvorteile, aber wegen der Kosten für Marketing, Werbung oder wegen einer Marktaufteilung unter vielen Anbietern, die die größenbedingten Kostenvorteile mindert, kann es trotz Wettbewerb und Profitstreben zu einem Anstieg der Verwaltungskosten kommen (ILO 2000). In den meisten Ländern Lateinamerikas und Osteuropas hat der Wettbewerb im privaten System nicht richtig funktioniert; die Verwaltungskosten liegen sehr hoch und gingen insgesamt nicht zurück. Dadurch verringern sich die zu investierenden Mittel und die zukünftige Rente. Die Verwaltungskosten bestehen insgesamt aus zwei Komponenten: aus Gebühren für die Führung der einzelnen Rentenkonten, für das Management der Rentenanlagen und Renten und aus den Prämien an private Versicherungsgesellschaften zur Deckung der Risiken der Invalidität und der Hinterbliebenen. In Lateinamerika werden Verwaltungskosten gewöhnlich in Form eines Prozentsatzes des Versichertenlohns erhoben und zumeist nur vom Arbeitnehmer bezahlt. Ende 2002 bewegte sich der Anteil der gesamten Verwaltungskosten zwischen 2,2% des Arbeitseinkommens in Bolivien7 und 4,2% in Mexiko (Tab. 2, Nr. 7). In Ungarn berechneten die kleinsten und konkurrenzfähigsten Anbieter 6
Diese Zahlen widerlegen die Annahme, dass individuelle Konten in der privaten Altersvorsorge und die direkte Beziehung zwischen Beiträgen und Rentenniveau eine pünktliche Beitragszahlung gewährleisten würden.
7
In Estland gibt es wegen des sehr kleinen Versichertenmarktes vom Staat festgesetzte Höchstgebühren von 1,5% bis 2% (Casey 2002).
202
8,5% von den Bruttoeinkünften, während die größten Anbieter 23,8% berechneten (Fultz 2002a). Die beiden Komponenten der Verwaltungskosten sind in Höhe und Entwicklungstendenz verschieden: Die Versicherungsprämie - die kleinere Komponente - ist in fast allen Ländern gesunken, während die Verwaltungsprovision als die größere Komponente zumeist keine rückläufige Tendenz zeigte. Aufgrund von Marketing, Werbung und Provisionszahlungen weisen viele Länder insgesamt hohe Lohnabzüge (zwischen 18-45%) für die privaten Systeme auf (Tab. 2, Nr. 8). Vor der Reform waren die Verwaltungskosten im gesetzlichen Rentensystem Deutschlands relativ niedrig: Sie beliefen sich auf 1,65% der Gesamtausgaben, verglichen mit 5% in den betrieblichen Systemen und 15-20% in den privaten Systemen. Dabei erbringt das gesetzliche System neben den Altersrenten zahlreiche weitere Leistungen (Ruland 2002). Die Zahlen zu den Verwaltungskosten der neuen privaten Rentensysteme sind dürftig und insgesamt unübersichtlich. Im April 2002 betrugen die Verwaltungskosten zwischen 7-20%, durchschnittlich etwa 11,5% der Beiträge und lagen tendenziell über den Kosten konventioneller Systeme. Die Erfahrung in Lateinamerika und Osteuropa zeigt, dass die Verwaltungskosten zumeist vom Versicherten getragen werden. Einige Vorschriften zum Konsumentenschutz bei privater Altersvorsorge können zudem die Verwaltungskosten erhöhen (Gohdes/Schmandt 2001). C.
Sicherung oder Erhöhung des Rentenniveaus
Ein wesentliches Anliegen der deutschen Rentenreform 2001/2004 ist, mit Hilfe der privaten Altersvorsorge die Kürzung der gesetzlichen Renten zu kompensieren. Die Alterssicherung sollte auf eine breitere finanzielle Grundlage gestellt werden und auch künftig eine Absicherung des erreichten Lebensstandards im Alter ermöglichen. Als Vorzug struktureller Rentenreformen in Lateinamerika und Osteuropa wird v. a. die Zahlung höherer Renten aus der privaten Altersvorsorge genannt. Ein empirischer Nachweis dieser Behauptung konnte bislang weder in Chile, dem Land mit der längsten Reformerfahrung, noch anderswo erbracht werden. Ein Vergleich der Daten über die durchschnittlichen staatlichen und privaten Renten für den Zeitraum 2001-02 hatte folgende Ergebnisse: Die durchschnittliche private Altersrente (63% aller Renten) lag 24% unter der entsprechenden durchschnittlichen öffentlichen Rente; der Durchschnitt der übrigen privaten Renten (Erwerbsunfähigkeit- und Hinterbliebenenrenten, die nur 37% aller Renten ausmachen) lag 50% über der durchschnittlichen öffentlichen Rente; der gewichtete Durchschnitt aller privaten Renten lag nur 3% über der durchschnittlichen öffentlichen Rente (Mesa-Lago 2004). In Argentinien wird aufgrund der Änderungen in der Krisenzeit zwischen 2001-2002 eine Leistungskürzung der Durchschnittsrente nach 30 Beitragsjahren um 65% erwartet (ILO 2002). In Kolumbien und Lettland haben die öffentlichen Renten eine höhere Rendite als die 203
privaten Systeme, weshalb die meisten Versicherten im öffentlichen System bleiben (Kleinjans 2004; Casey 2002). In Deutschland wird das Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung über die „Standardrente" definiert. Vor der Reform 2001 lag das Standardrentenniveau bei rd. 70% des durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelts aller Versicherten nach einer regelmäßigen Beitragszeit von 45 Jahren. Diese Voraussetzungen erfüllten bisher nur etwa 50% der männlichen und 5% der weiblichen Versicherten, der tatsächliche durchschnittliche Rentenbetrag lag daher bei ca. 50% des statistischen Durchschnittslohns. Ein Durchschnittsverdiener benötigte fast 26 Beitragsjahre, um eine Rente in Höhe von 40% des durchschnittlichen Nettoentgelts und damit ungefähr das Sozialhilfeniveau zu erreichen. Aufgrund der Reformen von 2001/2004 kann die „Standardrente" auf 46% (2020) bzw. 43% (2030) des jährlichen Durchschnittsnettoentgelts sinken. Das Versprechen, die private Altersvorsorge werde die Einschnitte in die gesetzliche Rente auffangen und auch in Zukunft eine angemessene Alterssicherung (von ca. 70%) gewährleisten, erscheint nach den jüngsten Reformen von 2004 nur schwer realisierbar. Besonders Bestandsrentner und rentennahe Jahrgänge, aber auch Versicherte mit lückenhaften Erwerbskarrieren werden keine Gelegenheit haben, die Kürzung der gesetzlichen Rente durch private Vorsorge auszugleichen (MesaLago/Hohnerlein 2002). D.
Beitragssatzstabilisierung im gesetzlichen Rentensystem
Die Beitragssatzstabilisierung gehört zu den zentralen Zielsetzungen der deutschen Rentenreform 2001/2004. Der Beitragssatz zum gesetzlichen Rentensystem, der als Prozentsatz vom Gehalt gerechnet wird, ging von 20,3% (1998) auf derzeit 19,5% zurück. Die Rentenreform von 2001/2004 zielte auf eine langfristige Stabilisierung des Beitragssatzes und setzte eine Grenze für den Beitragssatz von 20% für 2020 und 22% für 2030 fest. Jede Bundesregierung ist gesetzlich zum Eingreifen verpflichtet, sobald eine nachhaltige Überschreitung dieser Zielgröße erkennbar wird. Die Strukturreformen in Lateinamerika führten größtenteils zur Abschaffung oder Senkung der Arbeitgeberbeiträge und zur Erhöhung der Arbeitnehmerbeiträge. Drei von zehn Ländern, die die Rentenreform voll implementierten, haben die Arbeitgeberbeiträge abgeschafft (Chile, Bolivien, Peru), zwei Länder haben sie verringert (Uruguay und Argentinien); fünf Länder erhöhten die Arbeitnehmerbeiträge (Bolivien, El Salvador, Nicaragua, Peru, Dominikanische Republik); und in Kolumbien wurde sowohl der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmerbeitrag angehoben (Mesa-Lago 2004). Wie die meisten Länder Lateinamerikas erhöhte die deutsche Reform die Gesamtbelastung und die Beitragsbelastung der Arbeitnehmer: In der Endphase ab 2008 darf der Gesamtbeitrag zu beiden Systemen 26% betragen (22% Pflichtbeitrag zum gesetzlichen System und 4% Beitrag zum privaten System), sofern die Arbeitnehmer an der freiwilligen Altersvorsorge im empfohlenen Umfang teil204
nehmen. Nachdem der Staat 2004 die weitere Absenkung des gesetzlichen Rentenniveaus bereits zugelassen hat, ist damit zu rechnen, dass der Beitragssatz zur Privatrente erhöht wird, vorausgesetzt letztere bewährt sich auf dem Kapitalmarkt und erzielt hohe Renditen. E.
Expansion des Kapitalmarkts und der gesamtwirtschaftlichen Sparquote
Kapitalbildung, Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Sparquote, Expansion des Kapitalmarktes, Diversifizierung des Anlageportfolios und Verbesserung der Renditen zählen zwar nicht zu den explizit formulierten Zielen der deutschen Rentenreform 2001/2004, gleichwohl sind all diese positiven Auswirkungen implizit in dem Versprechen besserer Renten durch private Altersvorsorge enthalten. Laut Weltbank (1994) fördern strukturelle Rentenreformen die nationale Sparquote, wodurch Wirtschaftswachstum und Beschäftigungslage stimuliert und schließlich auch bessere Renten erzielt werden. In der Präambel des mexikanischen Rentenreformgesetzes ist die Steigerung der volkswirtschaftlichen Sparquote als Reformerwartung genannt, ähnliche Erwartungen wurden in anderen Ländern in Lateinamerika und Osteuropa, aber auch in Deutschland formuliert. 1. Kapitalbildung und gesamtwirtschaftliche Sparquote. Zahlen aus Lateinamerika und Osteuropa scheinen die These von der verstärkten Kapitalbildung zu stützen, obgleich die Ergebnisse aufgrund verschiedener Faktoren unterschiedlich sind. Ende 2002 variierte die Steigerung des Rentenfondskapitals in Millionen US Dollar und in% des BIP zwischen US$ 35,515 und 55,8% in Chile und US$138 und 0,9% in Costa Rica (Tab. 2, Nr. 9). Zahlen aus Osteuropa sind nur in % des BIP verfügbar; die wegen der kurzen Dauer der Reformphase niedrigeren Sätze (außer im Vergleich zu Costa Rica) reichen von 4,2% in Kasachstan bis zu 1,5% in Polen (Tab. 3, Nr. 6). Die wirtschaftlich stärksten Länder mit der längsten Reformdauer weisen die größte Kapitalansammlung auf.8 Die genannten Zahlen spiegeln die wachsende Kapitalbildung auf den individuellen Konten privater Altersvorsorge, vernachlässigen jedoch die öffentlichen Kosten des Systemwechsels bei der Argumentation zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Sparquote. Am Beispiel Chiles, dem einzigen Land mit einer hinreichend langen Reformpraxis, wurde diese These von drei Studien verworfen und von zwei gestützt. Holzmann (1997) zeigte für 1981-1995 eine negative Auswirkung der Reform auf das gesamte Sparverhalten auf. Arenas de Mesa (1999) schätzte den jährlichen Durchschnittsbetrag in % des BIP für 1981-1996, indem er die öffentlichen Ausgaben für die Reform (-5,7%) von der Kapitalbildung auf den individuellen Konten (2,7%) abzog, wobei sich als Nettoergebnis 8
Die größte Kapitalbildung (US$ 80.000 Mio. oder 1% des BIP) hatte 2003 Brasilien in seiner freiwilligen zweiten Säule.
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eine negative Auswirkung auf die gesamtwirtschaftliche Sparquote (-3%) ergab. Acuña/Iglesias (2001) kamen ebenfalls zu einem negativen Nettoergebnis bei einem durchschnittlichen Betrag von -2,7% des BIP für 1981-1997. Hingegen ermittelte Haindl Rondanelli (1997) für die Jahre 1990-1994 einen positiven Effekt der Rentenreform auf die Gesamtsparquote, allerdings nicht auf der Basis der unmittelbar mit der Reform verbundenen staatlichen Ausgaben; bei ordnungsgemäßer Berechnung wäre auch er zu einem negativen Gesamtergebnis (-1,5%) gekommen. Schließlich gelangten Corbo/Schmidt-Hebbel (2003) zu einer Steigerung der volkswirtschaftlichen Sparquote um 2,3% des BIP im Zeitraum 1981-2001 als Ergebnis der Reform, wobei sie jedoch die staatlichen Aufwendungen für die Mindestrente, das Defizit der Soldatenversorgung und die Sozialrenten außer Acht ließen. Gegen den behaupteten Zusammenhang sprechen auch die Erfahrungen im Vereinigten Königreich und den Niederlanden. In beiden Ländern wies das private Rentenkapital einen höheren Anteil in % des BIP als in Deutschland auf, während die gesamtwirtschaftliche Sparquote dort niedriger als die deutsche lag, der relative Anstieg des Privatrentenkapitals somit nicht mit einem Anstieg der gesamtwirtschaftliche Sparquote einherging (Schmähl 2003). Über die Auswirkung der Rentenreform 2001/2004 auf die Kapitalbildung in Deutschland liegen keine genauen Zahlen vor. Die private Riester-Rente hat trotz öffentlicher Förderung bisher wenig zur Geldvermögensbildung beigetragen; die Aufstockung betrieblicher Ansprüche durch die Möglichkeit der Entgeltumwandlung war ebenso wie die Altersvorsorge über Pensionskassen und -fonds erfolgreicher, die angesammelten finanziellen Aktiva sind aber derzeit noch gering (Deutsche Bundesbank 2004). Das Potential der neuen Formen kapitalgedeckter Altersvorsorge wird auf mehr als € 100 Mrd. bis zum Jahr 2010 geschätzt. Eine künftige Bewertung der Auswirkungen der deutschen Reform auf die gesamtwirtschaftliche Sparquote muss die fiskalischen Kosten der Reform (Belastung des Staatshaushalts) berücksichtigen. 2. Die fiskalischen Kosten der Reform und ihre Verteilungswirkung. Die fiskalischen Kosten der Reform in der Übergangsphase sind in den einzelnen Ländern wegen unterschiedlicher Komponenten und methodischer Ansätze schwer zu vergleichen: Ihr prozentualer Anteil am BIP im Zeitraum 2000-2001 wurde auf 7,2% in Chile, 4% in Uruguay, 3,5% in Bolivien, 2,5% in Argentinien, 1- 2% in Kolumbien, Ungarn, Mexiko, Polen und den Baltischen Staaten geschätzt (Casey 2002; Fultz 2002a; Gill/Packard/Yermo 2004; Müller 2003). Die drei wichtigsten Komponenten der staatlichen Kosten in Lateinamerika sind das Defizit der gesetzlichen Rentenversicherung, die staatlichen Schuldverschreibungen zur Anerkennung der Beitragszahlungen an das alte öffentliche System (Anerkennungsbonds) und die Mindestrente. Die Haushaltsbelastung variiert je nach impliziter Rentenschuld, die dem derzeitigen Wert langfristiger Verbindlichkeiten entspricht, die sowohl laufende als 206
auch künftige Renten einschließen. Bei der Finanzierung im Umlageverfahren oder durch teilweise Kapitaldeckung besteht immer eine implizite Rentenschuld, aber das Reformmodell kann diese entweder explizit ausweisen und eine unmittelbare staatliche Kostenpflicht für die Gesamtschuld begründen, oder aber die Schuld - ganz oder teilweise - aufschieben. Unter dem substitutiven Modell wird mit der Schließung des gesetzlichen Systems die gesamte Rentenschuld unmittelbar explizit gemacht, weil der Staat sowohl die laufenden Renten wie auch die künftigen Renten der Versicherten zahlen muss, die im gesetzlichen System verblieben sind. Das Defizit entsteht, weil alle Versicherten (in Bolivien, Mexiko und Kasachstan) oder fast alle (in Chile und El Salvador) zum privaten System überwechseln und keine Beiträge mehr an das staatliche System zahlen, das mit sehr wenigen oder keinen Beitragszahlern so gut wie alle Renten zahlen muss. Im gemischten Modell wird die Schuld teilweise in der zweiten Säule explizit gemacht (dem zusätzlichen privaten System), während sie in der ersten Säule aufgeschoben wird. In Ländern, in denen alle oder die meisten Versicherten im staatlichen System geblieben sind (Costa Rica, Uruguay, Polen), verringert sich die Belastung für die öffentliche Hand stärker als in Ländern, in denen dies nur für eine Minderheit zutrifft (Argentinien). Beim parallelen Modell wird die Rentenschuld nur im privaten System explizit gemacht. In zehn von elf lateinamerikanischen Ländern trägt der Staat die Verantwortung für die Finanzierung des Defizits im gesetzlichen System (mit Ausnahme Costa Ricas, dessen staatliches System stark genug ist, das Defizit zu finanzieren). Die staatlichen Anerkennungsbonds entsprechen dem Wert der in der gesetzlichen Rentenversicherung von allen zum privaten System übergetretenen Versicherten angesammelten Beiträge. In acht der elf lateinamerikanischen Länder hat der Staat hierfür die Zahlungspflicht übernommen. Die Anerkennungsbonds sind an die Inflation angepasst und werden teilweise verzinst. Drei Länder gewähren keine öffentlichen Anerkennungsbonds, zwei von ihnen deshalb, weil die Versicherten im gemischten Modell nicht übertreten, sondern im gesetzlichen System bleiben, das ihnen eine Grundrente auszahlt. In neun von elf Ländern garantiert der Staat den Versicherten im privaten System eine Mindestrente. Bei dem gemischten Modell ist die Mindestrente die von der ersten Säule des gesetzlichen Systems finanzierte Grundrente. Der Staat versucht in der Regel, die fiskalischen Kosten der Reform gering zu halten (z. B. durch Kürzung der Leistungen im gesetzlichen System, keine oder unzureichende Gewährung von Anerkennungsbonds oder Mindestrenten), wobei er die soziale Absicherung der Versicherten opfert. Chile schützt die Versicherten am stärksten, hat aber die höchste Haushaltsbelastung, während Bolivien und Peru die Leistungen am stärksten einschränken, um die öffentlichen Kosten zu senken. Die öffentlichen Kosten wurden durch staatliche Anleihen (oft bei den privaten Rentenfonds) und/oder Steuern finanziert. In Ländern, in denen eine Minderheit der Arbeitnehmer rentenversichert ist, werden die Kosten der Reform über Steuern finanziert (besonders durch Umsatzsteuern), wodurch regres207
sive Umverteilungseffekte zu Lasten der Ärmeren und Geringverdiener eintreten (Mesa-Lago 2004). Anders als die meisten Länder Lateinamerikas und Osteuropas lässt die deutsche Reform zwei der typischen Finanzierungslasten (Anerkennungsbonds und garantierte Mindestrente) nicht entstehen, weil es weder eine Pflichtmitgliedschaft in der zweiten Säule noch eine Übertragung von Beiträgen von der ersten zur zweiten Säule gibt. Ob es zu einem Anstieg des Defizits im gesetzlichen System kommt, ist schwieriger zu beurteilen. Im gesetzlichen System werden Kosteneinsparungen durch die Senkung des Rentenniveaus erreicht; umgekehrt ergeben sich höhere Ausgaben durch die neue Grundsicherung im Alter oder die Verbesserung der Alterssicherung für Kindererziehung. Bis heute wurden keine offiziellen Schätzungen zu den Nettoergebnissen aus Einsparungen und zusätzlichen Ausgaben veröffentlicht. Im privaten System werden sich Fiskalkosten aus den staatlichen Zulagen und den Steuervergünstigungen ergeben, für die offiziell jährlich € 10 Mio. angesetzt werden. Eine Schätzung sämtlicher öffentlicher Kosten der Reform liegt nicht vor. Nach Ansicht von Experten werden sich staatliche Zulagen und Steuervergünstigungen regressiv auf die Einkommensverteilung auswirken: Zum einen begünstigen Steuerfreibeträge für betriebliche und private Programme mittlere und obere Einkommensschichten, weil sie das zu versteuernde Einkommen senken, aus dem das Sicherheitsnetz zum Schutz der Armen und auch die Zulagenförderung zugunsten der unteren Einkommensschichten finanziert werden. Die Ungleichheit unter den Rentnern wird sich vergrößern. Im Gegensatz zu fast ganz Lateinamerika ist der Deckungsgrad der Erwerbsbevölkerung in der gesetzlichen Rentenversicherung in Deutschland sehr hoch, zudem gibt es eine soziale Mindestsicherung im Alter. Beide Faktoren schwächen die regressive Wirkung für die Nicht-Versicherten ab. 3. Kapitalmarktentwicklung, Anlagenstreuung und effektive Renditen. Nach weit verbreiteter Meinung haben Rentenstrukturreformen günstige Auswirkungen auf die Kapitalmarktentwicklung und die Schaffung neuer Finanzinstrumente, auf die Diversifizierung des Anlagenportfolios und die Rendite in der privaten Altersvorsorge (kritisch dazu Orszag/Stiglitz 2001). Inwieweit die chilenische Rentenreform entscheidend zur Entwicklung des Finanzmarkts und einer Anlagenstreuung beigetragen hat, ist nicht schlüssig bewiesen, da auch andere Reformmaßnahmen diese Folgen verursacht haben könnten (Holzmann 1997). Viele Länder in Lateinamerika und einige in Osteuropa sind klein und haben entweder keinen oder erst einen entstehenden Binnenkapitalmarkt. Diese Faktoren haben zusammen mit der Notwendigkeit, die staatlichen Kosten der Rentenreform zu finanzieren, zu einer geringen Streuung des Portfolios beigetragen. Die prozentuale Verteilung des Portfolios nach Finanzinstrumenten im Jahr 2001-2002 zeigt in 12 Ländern Lateinamerikas und Osteuropas eine enorme Konzentration auf staatliche Schuldtitel (90% bis 69% 208
in Costa Rica, Mexiko, El Salvador, Ungarn, Argentinien, Kasachstan, Tschechische Republik, Bolivien, Tab. 2, Nr. 11 und Tab. 3, Nr. 8). Für Länder mit einem kleinen Binnenkapitalmarkt ist dies zu erwarten, nicht aber für Länder mit relativ großen Kapitalmärkten wie Mexiko und Argentinien. Einer der Gründe dafür ist, dass der Staat oft hohe Zinsen für seine Schuldtitel zahlt und deshalb filr institutionelle Anleger attraktiv ist, was aber aufgrund der großen wirtschaftlichen Belastung langfristig nicht finanzierbar ist. Aktien gehören zu den beliebtesten Instrumenten der Portfoliodiversifizierung, allerdings wurde im Zeitraum 2001-2002 nur in Peru, Polen, Ungarn, Chile, Argentinien und der Tschechischen Republik ein gewisser Anteil des Portfolios - zwischen 6% und 31% - in Aktien investiert. Als Alternative zu Inlandsinvestitionen kann im Ausland investiert werden, sofern dies nicht gesetzlich verboten ist. Im Jahr 2002 wurde in Kolumbien, Chile, Argentinien und Peru zwischen 7% und 20% in ausländische Papiere investiert (AIOS 2003). Während der argentinischen Wirtschaftskrise im Jahr 2002 stieg der Anteil staatlicher Schuldtitel auf 76%, durch Abwertung und Senkung des Zinssatzes sank der Wert des Rentenfonds um 65% (ILO 2002). Die effektiven durchschnittlichen (inflationsbereinigten) Jahresrenditen in Lateinamerika in Bruttowerten (d.h. ohne Abzug der Verwaltungskosten der Altersvorsorge) bewegten sich seit Beginn der Reform bis Ende 2001/2002 zwischen 17% und 15% in Bolivien und Uruguay, und 0,5-4% in der Tschechischen Republik, Polen und Ungarn (Tab. 2, Nr. 11 und Tab. 2, Nr. 7). Die genannten Zahlen geben den für den Gesamtzeitraum der Reform gültigen Durchschnittswert an; wenn wir jedoch den Zeitraum bis in die Mitte der 90er Jahre zugrundelegen, sind die Durchschnittswerte viel höher, während sie später aufgrund der Finanz- bzw. Aktienmarktkrisen von 1995, 1998 und 2001 sanken. Solche Fluktuationen der Renditen sind sehr riskant, denn die Versicherten, die in einer Kapitalmarkt-Hausse in den Ruhestand gehen, werden eine gute Rente beziehen, während in Krisenzeiten der Kapitalstock auf den einzelnen Konten wesentlich schrumpfen kann. Die Risiken einer Kapitalmarktkrise sind bei gemischten Modellen gemindert. Das gilt vor allem filr Deutschland, wo die gesetzliche Rente jedenfalls vorerst noch die wichtigste Einkommensquelle im Alter darstellt. Dass die Kapitalerträge aus der privaten Altersvorsorge langfristig höher sein würden als die aus dem gesetzlichen System, wurde in Deutschland aus verschiedenen Gründen bezweifelt: Zum einen haben Niedrigverdiener wegen unzureichender Information und infolge niedriger Anlagebeträge keinen uneingeschränkten Zugang zu den Kapitalmärkten und nur eine begrenzte Auswahl an Investitionsalternativen. Zum andern könnte die Kapitalrendite wegen der staatlichen Vorschriften wesentlich niedriger ausfallen als bei konventionellen Formen privater Vorsorge (Bonin 2001).
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Schlussbemerkung Gewandelte ökonomische, soziale und demographische Rahmenbedingungen führen in vielen Ländern zu einem Umbau der Alterssicherungssysteme, wobei individuelle Formen der Altersvorsorge eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Auch Deutschland hat mit seiner Reform von 2001/2004 einen Paradigmenwechsel eingeleitet, wie er in anderen Regionen der Welt, vor allem in Lateinamerika, schon länger vollzogen wird. Zwar lassen sich die Ergebnisse der dortigen Rentenreformen nicht ohne weiteres auf ein Land wie die Bundesrepublik übertragen. Dennoch erlauben regionale Studien zu den Pionierländern struktureller Rentenreformen in Lateinamerika vielfältige Rückschlüsse und Einsichten für Rentenreformen auch in Europa. Darüber hinaus erweisen sich entsprechende Mehrländerstudien als wertvolles komparatives Analyseinstrument und als Grundlage für eine universelle Systematisierung struktureller Rentenreformen. Im Fall der deutschen Reform spricht viel dafür, dass die bislang freiwillige zusätzliche private Altersvorsorge nicht genügend in Anspruch genommen und es daher in Zukunft zu erheblichen Sicherungsdefiziten im Alter kommen wird. Möglicherweise bedeutet die Einführung geschlechtsneutraler Tarife in der privaten zulagengeforderten Altersvorsorge den ersten Schritt in ein Obligatorium.
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Anthony J. Dukes / Kristin J. Kleinjans
Kann Kollusion die hohen Rentenversicherungsgebühren in Kolumbien erklären? 1. Einleitung In diesem Artikel1 stellen wir die These auf, dass unvollständiger Wettbewerb zwischen privaten Pensionsfonds der Grund dafür ist, dass es der kolumbianischen Rentenreform nicht gelungen ist, für kompetitive Verwaltungskosten und Versicherungsprämien für Rentenversicherte zu sorgen. Von der Rentenreform 1994 wurde erwartet, dass der Wettbewerb zwischen den privaten Pensionsfonds zu effizienten Resultaten führe. Von der Bankenaufsichtsbehörde erhobene Daten zeigen jedoch, dass die Gebühren, die von konkurrierenden Pensionsfonds erhoben werden, höher als das kompetitive Preisniveau sind. Dies impliziert wirtschaftliche Ineffizienz auf dem Markt für Rentenersparnisse. Wir wollen mögliche Erklärungen dafür finden, warum es den Pensionsfonds möglich war, Wettbewerbsanreizen zu entgehen. Wir argumentieren insbesondere, dass die Art, wie die Rentenindustrie reguliert wurde, die Kooperation zwischen den Pensionsfonds in Form von impliziter Kollusion fordert.2 Kolumbien hat sein Rentensystem 1994 reformiert, indem ein privates Rentenprogramm eingeführt wurde, das parallel zu dem bereits vorhandenen öffentlichen Rentenprogramm funktioniert. In beiden Programmen beträgt der Beitragssatz 14,5% des Lohns, und die Versicherten müssen sich für eines der beiden Programme entscheiden. Das öffentliche Rentenprogramm wird durch ein Umlageverfahren finanziert; die gegenwärtigen Teilnehmer finanzieren die Ren'
Übersetzt von Gesa Stedman. Die Autoren bedanken sich bei Ralf Dewenter für seine Anmerkungen; Kristin J. Kleinjans bedankt sich für die Unterstützung des U.S. National Institute on Aging mit der Fördernummer 1-T32-AG00244-09. 2 Stillschweigende Kollusionen sind Wettbewerbsbeschränkungen, die aus dem Verhalten von Anbietern resultieren, ohne dass eine explizite Absprache vorliegt. 213
ten der gegenwärtigen Rentenbezieher. Die Beiträge umfassen auch Verwaltungskosten und Prämien für Invaliden- und Hinterbliebenenrente. Das private Programm wird durch ein Kapitaldeckungsverfahren finanziert, in dem alle Beitragszahlungen in individuellen Rentenkonten angesammelt werden und die zukünftige Rente jedes Einzelnen durch seine angesammelten Ersparnisse finanziert wird. Diese Beitragskonten werden von Rentenfondsverwaltungsgesellschaften, so genannten SAFP (Sociedades Administradoras de Fondos de Pensiones) verwaltet, die ein Anlageportefeuille3 anbieten und für die Verwaltungsleistung sowie für eine obligatorische Invaliden- und Hinterbliebenenrente Gebühren erheben. Es gibt einen rechtlichen Höchstsatz von 3% des Lohnes für die Kombination aus Verwaltungsgebühren und Versicherungsprämien, die die SAFP erheben dürfen; dazu kommt ein Beitrag von 1,5 Prozentpunkten zum Mindestrentengarantiefonds, so dass mindestens 10% des Lohnes auf das Rentenkonto jedes Versicherten fließt. Die Gebühren dürfen nur im Voraus vor einem Quartal geändert werden. Obwohl die SAFP die Möglichkeit haben, für unterschiedliche Beitragszeiträume, Regelmäßigkeit der Zahlungen und Höhe der angesammelten Ersparnisse gestaffelte Gebühren zu erheben, haben bis heute alle SAFP eine feste Prozentzahl des Lohnes als Gebühr verlangt (Borrero Restrepo 2004a). Die Teilnehmer können begrenzt zwischen dem privaten und dem öffentlichen Programm wechseln, und auch zwischen den einzelnen SAFP. Die Rentenreform von 1994 hatte vier Hauptziele: die finanzielle Nachhaltigkeit des Rentensystems sicherzustellen, den Deckungsgrad der Bevölkerung zu erhöhen, Gleichbehandlung der Versicherten zu gewährleisten, sowie eine angemessene Rentenhöhe und zügige Rentenleistung zu gewähren. Der Wettbewerb zwischen dem öffentlichen und dem privaten Programm sowie unter den SAFP sollte zu niedrigen Kosten und hohen Renditen für die Versicherten führen.4 Trotz dieser Hoffnung wird immer noch über hohe und über dem kompetitiven Preisniveau liegende Verwaltungs- und Versicherungsgebühren geklagt (Mesa-Lago 2004: 54ff). Die Rentenversicherungsmärkte in anderen lateinamerikanischen Ländern leiden unter ähnlichen Problemen wie Kolumbien, einschließlich der hohen Gebühren. Weil sich die rechtlichen Grundlagen und die Marktstrukturen jedoch stark unterscheiden, nehmen wir hier keinerlei Vergleichsversuche vor.5 Verschiedene Autoren haben argumentiert, dass hohe Gebühren eine Folge von hohen Marketingkosten der SAFP seien, die versuchten, in einem Markt mit begrenztem Wettbewerb Kunden zu gewinnen (siehe z.B. Devesa-Carpio/VidalMeliá 2002: 17; Mastrángelo 1999: 28; Srinivas et al. 2000: 21). Als Grund ge-
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SAFP dürfen verschiedene Portfolio-Optionen anbieten, aber de facto hat nur eine SAFP, Skandia, diese Möglichkeit seit der Einführung des Programms 1994 genutzt, und begonnen wurde damit erst 2004. 4 Für mehr Details und eine Bewertung der Rentenreform siehe Kleinjans 2003. 5
Für einen Vergleich siehe James/Smalhout/Vittas 2001 sowie Whitehouse 2001.
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ben sie die hohen Kosten an, die durch die Versicherungsvertreter anfallen. Solche Behauptungen lassen sich jedoch durch gängige Konzepte von Gewinnmaximierungsverhalten nicht stützen. Denn Marketingkosten einer SAFP sind lediglich mit dem Anwerben und Informieren von potentiellen Kunden verbunden. Nachdem ein Arbeitnehmer über das Angebot einer SAFP informiert ist, sind diese Marketingkosten versunken (sunk costs), denn die Gebühren werden als fester Prozentsatz des Lohnes erhoben, und nicht pro Teilnehmer. Der Arbeitnehmer entscheidet sich hingegen für eine SAFP auf der Grundlage der angebotenen Rendite sowie der Verwaltungs- und Versicherungsgebühren; daher sind die Marketingkosten nicht Gegenstand des Optimierungskalküls der SAFP bezüglich der optimalen Verwaltungsgebühren.6 Im Gegensatz dazu verweist unsere Erklärung auf die Art der Wettbewerbsregulierung. Wir stellen die These auf, dass - obwohl mit guter Absicht geschehen - die erzwungene Offenlegung von Preisentscheidungen die Möglichkeit der SAFP zur impliziten Kollusion erhöht haben kann, was wiederum zu hohen Verwaltungsgebühren führt. Die Idee, dass die Offenlegung von Preisentscheidungen implizite Kollusion erleichtert, wurde bereits von anderen festgestellt. Zum Beispiel dokumentieren Albaek et al. (1997) dieses Phänomen in der dänischen Zementindustrie. Schmitz und Füller (1995) diskutieren ähnliche Erscheinungen für Eisenbahntransportpreise für Getreide in den USA. Valdes-Prieto (2001: 87) erwähnt die Möglichkeit, dass in privaten Rentenversicherungen die Veröffentlichung von Gebühren zusammen mit dem Verbot, sie für eine bestimmte Zeit zu ändern, zu höheren Preisen führen kann. Die vollständige Information von allen Marktteilnehmern über die Preise ist die Grundlage für ein effizientes Funktionieren von Märkten. Diesem Prinzip folgend verlangt das kolumbianische Recht von der Bankenaufsichtsbehörde, dass sie die Portfoliozusammensetzung der einzelnen SAFP zentral veröffentlicht. Gleiches gilt für die jeweiligen Verwaltungsgebühren und Versicherungsprämien, so dass die Versicherten sich über die Nettoerträge informieren können. Nachdem sie sich informiert haben, so lautet die Argumentation, können die Versicherten das beste Angebot und den besten Preis ermitteln. Dies führt zu effizienten Ergebnissen, weil SAFP versuchen, Teilnehmer zu gewinnen. Dieses Prinzip funktioniert möglicherweise jedoch nicht, wenn auf einer Seite des Marktes nur eine kleine Gruppe von Teilnehmern vorhanden und die Interaktion auf dem Markt dynamisch oder repetitiv ist. Wenn die Anzahl von Marktteilnehmern klein ist (und die Preise für alle Anbieter beobachtbar sind), entstehen Anreize für strategisches Verhalten. Wiederholte Interaktion kann darüber hinaus dazu führen, dass Teilnehmer, die vom kollusiven Verhalten abweichen, in der nächsten Periode bestraft werden. Oft genügt auch schon das Androhen von Strafe, um ein Kollusionsergebnis zu erzwingen. 6
Eine formelle Argumentation findet sich im Anhang.
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Wir möchten betonen, dass wir nicht behaupten oder dafür Beweise haben, dass die SAFP sich formell geeinigt haben, Gebühren festzulegen. Wir argumentieren eher, dass man einen bestimmten Grad an offenem kooperativem Verhalten unter den SAFP durch Marktinteraktionen nicht ausschließen kann. Beispielsweise beobachteten es gegnerische SAFP, als Colfondos 2001 ihre Verwaltungsgebühren um 0,05 Prozentpunkte verringerte. Im folgenden Quartal reduzierte Horizonte ihre Gebühren um 0,02 Prozentpunkte. Mitte des Jahres 2002 waren beide SAFP zu den höchstmöglichen Gebühren zurückgekehrt.7 In Übereinstimmung mit Interpretationen in anderen Industrien8 kann es sein, dass Horizonte auf die Gebührenverringerung von Colfondos mit einer Strafaktion oder der Androhung von Strafe bei Wiederholung reagiert hat. Im folgenden Abschnitt geben wir einen kurzen Überblick über die Rentenfondsindustrie und ihre Regulierung und beschreiben das Wettbewerbsverhalten der SAFP. Dann stellen wir im dritten Abschnitt eine theoretische Erklärung vor, wie die SAFP den Wettbewerbsdruck durch ein System impliziter Kooperation mildern können. Im vierten Abschnitt verwenden wir Daten, um die beobachteten Ergebnisse mit dem von unserer theoretischen Erklärung implizierten Verhalten in Beziehung zu setzen. Wir enden mit einer Zusammenfassung und Implikationen für Wettbewerbspolitik.
2. Regulierter Wettbewerb In diesem Abschnitt geben wir einen Überblick über den gegenwärtigen Stand des Wettbewerbs zwischen den privaten SAFP und beschreiben, wie die Rentenindustrie reguliert wird. Auf dem Markt für Pensionsfondsverwaltung gibt es sechs Anbieter. Die beiden größten SAFP, Porvenir und Protección, haben mehr als die Hälfte der Teilnehmer und verwalten 46% des gesamten Fondsvolumens (siehe Tabelle 1). Die erzielten Renditen der SAFP sind seit der Einführung des Rentenprogramms im Jahr 1994 relativ ähnlich ausgefallen, obwohl in den vergangenen Jahren die zweitgrößte SAFP, Protección, Marktführer mit um zwei bis drei Prozentpunkte höheren Renditen als der Durchschnitt war (siehe Tabelle 1). Obwohl dies zu einem überdurchschnittlichem Zuwachs von neuen Teilnehmern (siehe Borrero Restrepo 2004a) geführt haben mag, ist die Zahl der Versicherten in der größten SAFP, Porvenir, ebenfalls signifikant angestiegen, trotz ihrer schlechteren Renditen. Zwischen Dezember 2002 und Dezember 2003 stieg die Zahl der dortigen
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Wenn nicht anderweitig angegeben, stammen alle Statistiken über Renditen, Gebühren und Prämien von der kolumbianischen Bankenaufsichtsbehörde sowie von Asofondos, der kolumbianischen Gesellschaft für Pensionsfonds- und Arbeitslosenfondsverwaltungsunternehmen. Siehe Adams/Brock (2001) für eine anschauliche Schilderung von Strafandrohungen in der amerikanischen Luftfahrtindustrie.
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Teilnehmer um 8,8% und in der gleichen Periode die Gesamtzahl der Teilnehmer in allen Fonds um 11,4% und bei Protección um 16,7%. Die SAFP sind verpflichtet, eine Mindestrendite zu garantieren, die dem Durchschnitt eines von der Bankenaufsichtsbehörde kalkulierten Vergleichsportfolios und der von den SAFP erreichten Durchschnittsrendite entspricht (Borrero Restrepo 2004b). Die Wahl des Portfolios wird stark reguliert, so gibt es z. B. Höchstanteile für Staatsanleihen und Aktien. Die Teilnehmer haben das alleinige Eigentumsrecht an ihren akkumulierten Ersparnissen und müssen für die Verwaltung und für die Pflichtversicherung (Invalidität- und Hinterbliebenenrente) Gebühren zahlen. Daher sind die Gebühren, die von den Versicherten als Prozentsatz ihres Lohnes erhoben werden, die Haupteinnahmequelle für die SAFP.9 Diese Gebühren sind ebenfalls reguliert. Im Einzelnen dürfen SAFP die Verwaltungsgebühr und Versicherungsprämien frei bestimmen, solange die Summe einen festgelegten Höchstanteil des Lohnes nicht überschreitet. Bis März 2003 lag dieses Maximum bei 3,5 Prozentpunkten, dann wurde das rechtliche Maximum auf 3 Prozentpunkte abgesenkt.10 Es ist auffallig, dass in der gesamten Zeit seit 1999, dem ersten Jahr, für das wir über Daten verfügen (mit der Ausnahme einer SAFP, Skandia," und die für ein Quartal verringerten Gebühren von Colfondos und Horizonte, die wir im vorherigen Abschnitt geschildert haben), die gesamten Gebühren immer so hoch wie rechtlich erlaubt sind (siehe Tabelle 2). Gleichzeitig sind sowohl die Verwaltungsgebühren als auch die Versicherungsprämien der einzelnen SAFP sehr unterschiedlich. Die unterschiedlich hohen Verwaltungsgebühren könnten möglicherweise auf die unterschiedlichen Kosten zurückgeführt werden, die bei den SAFP anfallen. So sind etwa Skaleneffekte im Portefeuillemanagement wahrscheinlich (James/ Smalhout/Vittas 2001; Gillion et al. 2000: 461 ff.). Außerdem fallen Fixkosten wie zum Beispiel die Kosten für zugesandte Kontoauszüge, an. Da die erhobenen Gebühren einen festen Prozentsatz des Lohnes ausmachen, nehmen die Einnahmen aus diesen Gebühren mit dem Lohn der Teilnehmer zu. Wir würden daher niedrige Verwaltungsgebühren für diejenigen SAFP erwarten, deren Teilnehmer über höhere Löhne verfugen, sowie für die mit einer größeren Anzahl von Teilnehmern.12 Die Tabellen 1 und 2 zeigen jedoch, dass dies nicht der Fall ist. Im Dezember 2003 verlangten die beiden größten SAFP, Porvenir und Pro9 10
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Es gibt zusätzliche Gebühren für Teilnehmer, die gegenwärtig keine Beiträge zahlen, für Rentenauszahlungen, freiwillige Beiträge und für Wechsel der SAFP. Zu dieser Zeit wurden die Teilnehmer verpflichtet, 0,5 Prozentpunkte ihrer Beiträge in den neu eingerichteten Mindestrentengarantiefonds zu zahlen. Skandia ist eine Ausnahme unter den SAFP: Es handelt sich dabei um den mit Abstand kleinsten Fonds, was die Anzahl der Teilnehmer betrifft (sein Marktanteil lag im März 2004 unter 1%), und er zieht vor allem Teilnehmer mit hohen Löhnen an. Masträngelo (1999: 31) stellt die These auf, dass die SAFP sich im Markt positionieren, indem sie entweder so viele Teilnehmer wie möglich anzögen oder Teilnehmer mit hohen Löhnen zu werben versuchten.
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tección, mit 1,5 bzw. 1,49 Prozentpunkten mit die höchsten Verwaltungsgebühren. Die Bandbreite der Verwaltungsgebühren reichte von 1,40 bis 1,78 Prozentpunkte. Ähnlich große SAFP mit Teilnehmern, die eine vergleichbare Lohnstruktur aufweisen, wie z.B. Horizonte und Santander, hatten ebenfalls sehr unterschiedliche Verwaltungsgebühren: 1,40 bzw. 1,78 Prozentpunkte. Und die relativ kleine SAFP Horizonte, deren Teilnehmer relativ niedrige Löhne hatten, nimmt weniger Gebühren als die in Bezug auf Teilnehmerzahl und Fondsvolumen zweitgrößte SAFP Protección, deren Teilnehmer ebenfalls über höhere Löhne verfugten. Ein weiteres überraschendes Merkmal der Gebührenstruktur ist die hohe Streuung von Versicherungsprämien, die von 1,22 bis 1,60 Prozentpunkte reichten. Dies kann vielleicht zum Teil durch die Tatsache erklärt werden, dass drei der SAFP, Porvenir, Protección und Horizonte, eine Versicherungsgesellschaft kontrahieren, die zum gleichen Konglomerat gehört (Borrero Restrepo 2004).' 3 Geht man davon aus, dass Versicherungen, deren Leistungen gesetzlich festgelegt sind, ein homogenes Gut sind, sollten Versicherungsprämien einen uniformen Preis aufweisen. Dies ist jedoch nicht der Fall, was darauf hindeutet, dass einige Versicherungsprämien oberhalb der Kosten angesiedelt sind. Ein weiterer Punkt verdient unsere Aufmerksamkeit: Selbst wenn Versicherungskosten heterogen sind und marginale kostenbasierte Preiskalkulation (cost pricing) die Norm, dann müsste die Heterogenität der Verwaltungskosten die Versicherungskosten perfekt komplementieren, um die jeweils gleiche Gesamtgebühr von 3% zu erreichen. Dies ist unwahrscheinlich und führt uns zu der Schlussfolgerung, dass die Kosten nicht die Hauptdeterminante des Preises sind14 und dass die SAFP kooperieren, denn es stellt sich die Frage, wie die SAFP dem Druck des Wettbewerbs widerstehen können und den Anreiz vermeiden, sich gegenseitig zu unterbieten. Der Rest des Artikels widmet sich dieser Frage. Für unsere Erklärung ist ein unerwarteter Aspekt der Regulierungsmaßnahmen der Bankenaufsichtsbehörde zentral.15 Wie wir in der Einleitung erwähnt haben, sind die SAFP verpflichtet, ihre Renditen, Portefeuilleauswahl und ihre Gebührenstruktur vollständig offen zu legen. Wie vom Gesetz vorgesehen, werden diese Statistiken zentral gesammelt und sind allen Marktteilnehmern zugänglich, den SAFP wie den Arbeitnehmern. Während diese Maßnahmen im Geist der Transparenz implementiert wurden, um diese Informationen allen Marktteilnehmern zugänglich zu machen, 13
Mit Ausnahme von Skandia, die eine Versicherungsagentur im Haus haben, aber ihr Versicherungsgeschäft auskontraktieren, hat keine der SAFP eine Versicherungsgesellschaft in ihrem Konglomerat.
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Yermo (2002: 52) berichtet über mögliche Kollusion zwischen SAFP und Versicherungsfirmen, insbesondere wenn beide Firmen zur gleichen Finanzgruppe gehören. Er nennt Argentinien als Beispiel. Abgesehen von der Bankenaufsichtsbehörde sammelt und verteilt auch die Industriehandelsgruppe Asofondos zusätzliche Statistiken über die Aktivitäten der SAFP.
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argumentieren wir, dass es sich dabei um genau jenes Instrument handeln könnte, mit dem die SAFP ihre Gebühren auf der maximal erlaubten Höhe koordinieren. Diese These wird im Folgenden genauer erläutert.
3. Eine Theorie der Impliziten Kollusion In diesem Abschnitt geben wir eine theoretische Erklärung dafür, wie SAFP es schaffen können, dem Druck des Wettbewerbs zu widerstehen, um hohe Verwaltungs- und Versicherungsgebühren aufrechtzuerhalten. Insbesondere vertreten wir die These, dass die Entscheidung der Regierung, industrieweite Gebühren und andere Rentenstatistiken zu sammeln und weiterzuverteilen, implizite Kollusion unter den SAFP erleichtert. Verbreitete Vorstellungen von Kollusion erwecken die Vorstellung von Managern, die geheime Übereinkünfte abschließen, um Preise festzulegen oder den Verkauf einzuschränken. Derartige explizite Kollusionen funktionieren nach ähnlichen wirtschaftlichen Prinzipien wie ein Kartell. Es gibt jedoch auch gut dokumentierte Fälle, bei denen das gleiche Kollusionsergebnis auf implizite Weise erzielt wird, ohne dass jemals explizite und zentralisierte Übereinkünfte erfolgen.16 Während rechtlicher Druck Kollusion häufig entgegenwirkt, sind es meist private Anreize, die Kollusion tatsächlich verhindern. Man denke an eine kleine Anzahl von SAFP mit der Möglichkeit zur Kollusion. Jede SAFP steht vor dem klassischen „Gefangenendilemma": Gegnerische Anbieter setzen auf dem Wege der Kollusion hohe Verwaltungskosten fest. Die SAFP hat dann den Anreiz, eine etwas geringere Gebühr zu erheben, um die Kunden des Gegners abzuwerben. Wenn jede SAFP diesen Anreiz erkennt, könnte man von allen erwarten, dass sie von dem kollusivem Verhalten abweichen, was zu niedrigeren Gebühren und zu einem weniger wünschenswerten Ergebnis für alle beteiligten SAFP führen würde. Wird dieses Verhalten jedoch unbegrenzt wiederholt, entsteht das Potential für Kooperation unter den SAFP. Um dies zu illustrieren, verwenden wir Ideen aus der Literatur der Industrieökonomik.17 Man nehme an, dass alle SAFP damit beginnen, ihre Verwaltungsgebühr hoch anzusiedeln. Man nehme weiterhin an, dass jede SAFP so lange die Gebühren hoch ansetzt, wie es die rivalisierenden Anbieter auch tun, aber zu den kompetitiven niedrigen Gebühren zurückkehrt,
16
Siehe zum Beispiel Caves (1992) für mehrere derartige Fälle.
17
Stigler (1964) hat als erster die Bedingungen für Kollusion im Oligopol dargelegt. Es war jedoch die Einführung der Theorie der wiederholten Spiele in die Industrieökonomik, die zur Formalisierung der hier verwendeten Überlegungen geführt hat (Für eine Zusammenfassung siehe Tirole, 1988).
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wenn ein Gegner vom kollusiven Verhalten abweicht.18 Wenn eine SAFP ausschert, fuhrt dies zu einem sofortigen Anwachsen seiner Kundenzahl. Jedoch ist dieser Vorteil kurzlebig. Sobald die anderen SAFP beobachten, dass eine SAFP das kollusive Verhalten aufgibt, werden alle zu den niedrigen Gebühren zurückkehren, und alle zukünftigen Vorteile der Kollusion gehen verloren. Ein impliziertes aber wesentliches Merkmal dieses Arguments ist, dass jede SAFP feststellen kann, wann die andere vom kollusivem Verhalten abweicht. Könnte man es nicht feststellen, wären implizite Drohungen, zu kompetitiven Gebühren zurückzukehren, unglaubwürdig und die SAFP sähen sich keinen negativen Konsequenzen bei abweichendem Verhalten ausgesetzt. Folglich ist die Fähigkeit, das Verhalten eines Wettbewerbsteilnehmers zu beobachten, für implizite Kollusion notwendig. Man könnte argumentieren, dass theoretisch jede SAFP in der Lage ist, abweichendes Verhalten einer anderen SAFP aufzudecken, denn sie würde in diesem Fall eine deutliche Verringerung ihrer Kundenzahl erleben. In der Praxis ist es aber möglicherweise nicht so einfach, das Verhalten anderer SAFP mit Hilfe der Kundenzahlen zu beobachten. Die Zahl von Kunden, die eine SAFP in einem Quartal gewinnt oder verliert, hängt von zufalligen Faktoren ab, wie z.B. Änderungen des Erwerbsstatus der Teilnehmer. Derartige Faktoren machen es schwerer, das Abweichen vom kollusiven Verhalten festzustellen und schränken die Möglichkeiten zur Kollusion in dieser Industrie ein. Aber die Entscheidung der kolumbianischen Regierung, die Gebühren, die jede SAFP erhebt, zentral zu veröffentlichen, lassen keinen Zweifel zu, wer vom kollusiven Verhalten abweicht. Für jedes Quartal veröffentlicht die Bankenaufsichtsbehörde in einem an die Rentenfonds gerichteten offiziellen Dokument die durchschnittliche Drei-Jahres-Rendite, sowie die Verwaltungsgebühren und Versicherungsprämien, die von jeder SAFP erhoben werden.19 Diese Dokumente sind auf der Webseite der Bankenaufsichtsbehörde auch öffentlich zugänglich. Wir betonen hier, dass die Fähigkeit, das Verhalten von Mitbewerbern zu beobachten, lediglich notwendig, aber nicht ausreichend ist, um Kollusion angesichts von lang anhaltender dynamischer Interaktion aufrechtzuerhalten. Die Existenz von Beobachtungsmöglichkeiten der SAFP ist nur ein Indiz, und erlaubt die Schlussfolgerung, dass Kollusion tatsächlich vorliegt, nicht.
18
19
Hierbei handelt es sich um die bekannte „Trigger-Strategie" aus der Literatur über wiederholte Gefangenendilemma-Spiele (Friedman, 1971). Ein Gleichgewicht existiert, wenn alle SAFP diese Strategie anwenden. Außerdem sind maximale kooperative Resultate in diesem Gleichgewicht möglich. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass es viele andere Gleichgewichte gibt. Wir argumentieren hier nicht, dass es nur dieses und kein anderes Gleichgewicht gibt, sondern nur, dass dieses Gleichgewicht für alle SAFP das beste Ergebnis erlaubt. Mit wenigen Ausnahmen werden diese Dokumente etwa zwei Wochen nach dem Ende des vorhergehenden Quartals veröffentlicht.
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Um unsere Erklärung zu untermauern, ziehen wir zwei Schlussfolgerungen aus dieser Theorie und setzen sie mit dem, was man in dieser Industrie beobachten kann, in Beziehung. Zum einen sollte man stabile Marktergebnisse beobachten können. So sollte z. B. die Zusammensetzung der Kundengruppen der einzelnen SAFP im Allgemeinen stabil sein, da Arbeitnehmer keinen Grund haben, zu einer konkurrenzfähigeren SAFP zu wechseln. Und da die Marktsegmentierung eindeutig ist, ist es sowohl einfacher, sie zu respektieren, als auch leichter festzustellen, wenn abweichendes Verhalten vorliegt (Stigler 1964). Eine weitere Implikation unserer Theorie der Kollusion ist, dass in dem Fall dass eine SAFP vom Status quo abweicht und das Gebührenniveau des Marktes unterbietet, man Hinweise für Strafaktionen oder die Androhungen von Strafe erkennen können müsste. Der folgende Abschnitt vergleicht diese Implikationen mit den tatsächlichen Vorkommnissen.
4. Übereinstimmung der Beobachtungen mit kollusivem Verhalten In diesem Abschnitt untersuchen wir die Ergebnisse in der Industrie im Lichte der oben dargelegten Theorie. Insbesondere betrachten wir Kundenmuster, um herauszufinden, ob Marktsegmente etabliert wurden. Eine informelle Analyse deutet darauf hin, dass diese Segmente eindeutig identifiziert sind, was wiederum auf stabile Grenzen zwischen den SAFP verweist. Zusätzlich beschreiben wir einige Veränderungen der Gebührenstruktur, die in Übereinstimmung mit den oben beschriebenen Vergeltungsaktionen interpretiert werden können. Marktsegmentierung kann anhand einer Reihe von Dimensionen beobachtet werden: geographisch, nach Erwerbsstatus, nach Herkunft der Teilnehmer, nach Alter und Lohnhöhe.20 Die relative Verteilung der Teilnehmer unter den verschiedenen Bundesstaaten illustriert die Segmentierung entlang einer geographischen Dimension (siehe Tabelle 3). Die SAFP haben in den meisten kolumbianischen Bundesstaaten Teilnehmer, aber mit unterschiedlichem Prozentanteil. Im Dezember 2003 befanden sich mehr als drei Viertel der Teilnehmer von Horizonte in einem Bundesstaat, Antioquia, während Protección dort nur 31% seiner Teilnehmer hatte, obwohl es sich dabei um die einzige SAFP handelte, die ihren Sitz in diesem Bundesstaat und nicht in der Hauptstadt hatte. Porvenir hat in diesem Bundesstaat sogar noch weniger Teilnehmer: weniger als 10%. Auf der anderen Seite hatte Porvenir mehr als 45% seiner Teilnehmer im Bundesstaat Cundinamarca (in dem die Hauptstadt Santafé de Bogotá liegt), verglichen mit 27% von Protección und 3% von Horizonte. Ein ähnliches, allerdings weniger ausgeprägtes Muster kann man im Bundesstaat Valle feststellen. Hinzu kommt, dass nur eine SAFP, Colfondos, mehr als elf (sie) Teilnehmer außerhalb von Ko20
Es gibt keine Daten, anhand derer man die Interdependenzen dieser Attribute überprüfen könnte. 221
lumbien hat, während ihr Gesamtanteil an Teilnehmern mit 42% extrem hoch ist. Legt man eine Erwerbsdimension zu Grunde, hat die eine Hälfte der SAFP mehr selbständige Arbeitnehmer als die andere Hälfte; als extremes Beispiel sei Skandia genannt, die relativ gesehen beinahe fünfmal mehr selbständige Teilnehmer hatte als Porvenir (siehe Tabelle 3). Einige SAFP scheinen sich auf Teilnehmer spezialisiert zu haben, die vom öffentlichen Programm gewechselt sind, während andere Teilnehmer haben, die neu auf dem Arbeitsmarkt sind und für eine Rentenversicherung in Frage kommen. Die SAFP waren auch nach den Altersgruppen ihrer Teilnehmer differenziert. Protección hatte relativ gesehen jüngere Teilnehmer, und Skandia hat etwas ältere (siehe Tabelle 3). Die verfügbaren Daten über die Lohnstruktur der Teilnehmer verweisen ebenfalls auf Segmentierung. Skandia hatte den größten Prozentanteil von Teilnehmern mit hohen Einkommen, Porvenir und Colfondos hatten überdurchschnittlich viele Teilnehmer im oberen Mittelbereich der Einkommen, während Horizonte und Santander überdurchschnittlich viele im unteren Lohnbereich hatten (siehe Tabelle 3). Diese Beobachtungen verweisen auf eine beobachtbare Teilung von Marktterritorien, in denen sich SAFP vom Wettbewerb isoliert halten können. Weiterhin ermöglicht die Leichtigkeit, mit denen diese Segmente aufgrund der zentralisierten Statistiken identifiziert werden können, dass eine SAFP feststellen kann, wann eine rivalisierende SAFP in ihr Gebiet eindringt. Möglicherweise sind jedoch nicht alle Segmente in gleichem Abstand voneinander angesiedelt. Auf der Grundlage der Teilnehmer und ihrer Lohnverteilung befindet sich Skandia z. B. in einem anderen Wettbewerbssegment als die anderen SAFP, wie in Tabelle 3 dargestellt wird. Auf der anderen Seite scheinen Colfondos und Horizonte in Bezug auf den Erwerbsstatus ihrer Teilnehmer und ihre vorherigen Versicherer näher beieinander zu liegen (siehe Tabelle 3). Man könnte also annehmen, dass zwischen diesen beiden SAFP die Wettbewerbskräfte größer als z. B. zwischen Skandia und einer anderen SAFP sind. Dieser letzte Gesichtspunkt mag zur Erklärung beitragen, warum Colfondos und Horizonte eine Reihe von Gebührenstrukturveränderungen vorgenommen haben, die dem Muster von Aggression und Vergeltung zu entsprechen scheinen, das wir in unserer Theorie beschrieben haben. Wie in Tabelle 2 dargestellt, beobachteten es rivalisierende SAFP, als Colfondos im Jahr 2001 seine Gebühren um 0,05 Prozentpunkte herabsetzte. Infolge dieser Gebührenverringerung konnte Colfondos von einem Quartal zum anderen mehr als 150% neue Teilnehmer gewinnen, die von anderen SAFP hinübergewechselt waren. Ein Quartal später verringerte Horizonte ihre Gebühren für die Versicherung um 0,02 Prozentpunkte, was dazu führte, dass ihre gesamten Gebühren um 0,02 Prozentpunkte unterhalb des rechtlich erlaubten Maximums lagen. Diese Verringerung war jedoch nur temporär. Horizonte erhöhte ihre Gebühren im nächsten Quartal wieder auf das rechtlich erlaubte Maximum, indem sie die Verwaltungsgebühr anhob. Zu 222
diesem Zeitpunkt hatte Colfondos die Summe der Gebühren ebenfalls wieder auf das erlaubte Maximums angehoben. In Übereinstimmung mit der Interpretation im vorhergehenden Abschnitt und in anderen Industrien könnte Horizonte auf die Gebührenreduktion von Colfondos mit einer Strafaktion oder der Androhung von Strafe bei Wiederholung reagiert haben. Die Tatsache, dass die Gebührenreduktion bei Horizonte nur zeitlich begrenzt war, deutet daraufhin, dass es sich vermutlich lediglich um eine Drohung gehandelt hat. Es sollte auch erwähnt werden, dass die Gebühren bei Skandia zu verschiedenen Zeiten unterhalb des rechtlich erlaubten Maximums angesiedelt waren, ohne dass es offensichtliche Reaktionen oder Drohungen der anderen SAFP gegeben hat. Die Abwesenheit derartiger Reaktionen könnte damit erklärt werden, dass Skandia als kleine SAFP eine Ausnahmestellung einnimmt, deren Kundenbasis sich in sozioökonomischer Hinsicht deutlich von der der übrigen SAFP unterscheidet. Als solche werden Gebührenreduktionen bei Skandia möglicherweise von den anderen SAFP nicht als aggressives Preisunterbieten angesehen. Die stabilen Marksegmente, die wir hier beobachtet haben, legen nahe, dass es wenige Versuche gibt, um die Kunden der Rivalen zu kämpfen. Die deutlichen Marktgrenzen, die man anhand der zentralisierten Daten gut erkennen kann, verhindern, dass ein Anbieter durch aggressive Preispolitik die Kunden auf dem Gebiet seines Rivalen verfolgt. Wie das obige Beispiel zeigt, werden derartige Versuche erkannt und, wenn sie als Eindringen in das eigene Territorium wahrgenommen werden, mit Vergeltungsaktionen beantwortet.
5. Abschließende Bemerkungen und Implikationen für die Rentenmarktregulation Seit der Rentenreform von 1994 sind die Verwaltungsgebühren und die Prämien für die Pflichtversicherung so reguliert worden, dass ihre Summe einen festgelegten Prozentsatz der gesamten Beiträge nicht überschreitet (3,5% vor 2003 und 3% nach 2003). Mit der Ausnahme einer SAFP, Skandia, und einer kurzen Episode im Jahr 2001, hat die gesamte Industrie durchgehend die Höchstgebühr erhoben. Im zweiten Abschnitt haben wir argumentiert, dass ein solches Ergebnis nahe legt, dass der Wettbewerb für Rentenversicherungsverwaltung unvollständig ist. Wir haben jedoch auch betont, wie schwierig es für die SAFP ist Wettbewerbskräfte zu suspendieren. Im dritten Abschnitt haben wir mit Hilfe moderner Oligopoltheorie zu erklären versucht, wie die miteinander im Wettbewerb stehenden SAFP bei dynamischer und repetitiver Interaktion ihre Gebühren festlegen und den Wettbewerbsdruck mildern können, wenn ihr Verhalten von allen Teilnehmern vollständig und einfach zu beobachten ist. Schließlich haben wir kürzlich erfolgtes Verhalten der SAFP mit dieser Theorie in Beziehung gesetzt als Untermauerung unserer These, dass implizite Kollusion als Erklärung der hohen Verwaltungs- und Versicherungsgebühren, die von den SAFP erhoben werden, nicht ausgeschlossen werden kann. 223
Wir möchten an dieser Stelle betonen, dass unsere Argumentation spekulativ ist. Es ist unser Anliegen in diesem Aufsatz, zu postulieren, dass implizite Kollusion unter den rivalisierenden SAFP als Erklärung für die hohen Verwaltungsgebühren, die von den kolumbianischen Arbeitnehmern erhoben werden, nicht ausgeschlossen werden kann. Wenn unsere Erklärung richtig ist, hätte dies Folgen für die Art, in der der Wettbewerb unter den SAFP reguliert werden sollte. Wie bereits festgestellt, ist die Lösung des Problems der hohen Gebühren ein wesentliches Anliegen der Bankenaufsichtsbehörde. Eine verlockende Lösung dieses Problems ist es, niedrigere Gebühren festzuschreiben. Dies scheint die Absicht eines im Jahr 2003 erlassenen Gesetzes zu sein, das die Höchstsumme von Verwaltungs- und Versicherungsgebühren auf 3% abgesenkt hat. Es ist jedoch schwierig, die wahren wirtschaftlichen Kosten für Verwaltung und Versicherung zu ermitteln. Die Regulierungsbehörden, die daran interessiert sind, Wettbewerb sicherzustellen, sehen sich gezwungen, eine oberste Preisgrenze festzusetzen, die auf Schätzungen der tatsächlichen Kosten der SAFP basiert. Ohne genaue Kenntnis der Kosten sehen sich die Regulierungsbehörden einem heiklen Problem gegenüber. Wenn sie die Kosten auf zu niedrigem Niveau festlegen, d. h. unterhalb der tatsächlichen Kosten, könnten die SAFP gezwungen sein, bestimmte Dienstleistungen einzustellen. Wenn die SAFP auf der anderen Seite die Möglichkeit der impliziten Kollusion haben, kann das Festlegen der Preise auf einem zu hohen Niveau zu Marktinefiizienzen führen. Unsere Erklärung verweist auf eine andere regulatorische Lösung des Problems der hohen Gebühren. Wir schlagen vor, die zentrale und öffentlich zugängliche Datenbank der Bankenaufsichtsbehörde zu entfernen. Täte man dieses, wären die Möglichkeiten der SAFP, das Wettbewerbsverhalten der anderen SAFP zu beobachten, um kooperative Gebührenfestsetzungen aufrechtzuerhalten, eingeschränkt. Man könnte gegen diese Vorschrift den Einwand erheben, dass das Entfernen der Datenbank der Bankenaufsichtsbehörde die Konsumenten daran hindern würde, eine gut informierte Wahl ihrer SAFP zu treffen. Wäre die zentrale Datenbank nicht verfugbar, hätten die SAFP jedoch den Anreiz, ihre Gebühren zu senken und ihre potentiellen Teilnehmer darüber selbst zu informieren. Da ein derartiges Wettbewerbsverhalten von ihren rivalisierenden SAFP nicht leicht festzustellen wäre, könnten die SAFP keine gegen aggressiven Wettbewerb gerichteten Vergeltungsschläge verüben. Man könnte auch einwenden, dass die Entfernung der von der Bankenaufsichtsbehörde festgelegte Veröffentlichung der Aktivitäten der SAFP eine unabhängige, private Einrichtung wie Asofondos nicht daran hindern würde, diese Daten zu sammeln und zur Verfügung zu stellen. Eine derartige Institution hätte jedoch keine rechtliche Handhabe, die SAFP dazu zu zwingen, ihre Aktivitäten offen zu legen. Infolgedessen stünden die SAFP unter keinem rechtlichen Druck, genaue Informationen bereitzustellen. Als solche stünde es ihnen frei, kompetitive Gebühren zu erheben, ohne dass dies leicht zu entdecken wäre. 224
Tabelle 1: Leistungen der SAFP (2002-2003)' Colfondos Horizonte Gebühren (2003)
Porvenir
Protección
Santander
Skandia3
2
Verwaltung
1,49%
1,40%
1,50%
1,75%
1,78%
1,408%
Versicherung
1,51%
1,60%
1,50%
1,25%
1,22%
1,592%
Gesamtgebühren
3,00%
3,00%
3,00%
3,00%
3,00%
3,00%
Durch schnitt 4
Jährliche Reale Rendite 1999-2002
9,49%
9,20%
8,74%
11,35%
9,68%
9,66%
9,66%
2000-2003
9,23%
8,42%
8,50%
11,65%
8,76%
9,46%
9,37%
2002
770431
997327
1205442
900611
805294
36843
4715948
Wachstumsrate 2002-2003
6,9%
9,2%
8,9%
16,7%
11,5%
6,5%
10,5%
% Gesamt 2002
16,3%
21,1%
25,6%
19,1%
17,1%
0,8%
100%
% Gesamt 2003
15,8%
20,9%
25,2%
20,2%
17,2%
0,8%
100%
2002
359021
418486
600219
509342
336494
20042
2243604
Wachstumsrate 2002-2003
10,1%
11,8%
12,5%
16,2%
14,7%
11,1%
13,2%
% Gesamt 2002
16,0%
18,7%
26,8%
22,9%
15,0%
0,9%
100%
% Gesamt 2003
15,6%
18,4%
26,6%
23,3%
15,2%
0,9%
100%
2002
2427975
2927537
4239088
3588635
2061232
460209
15704676
Wachstumsrate 2002-2003
28,8%
27,6%
31,1%
33,25%
22,6%
34,5%
29,5%
% Gesamt 2002
15,5%
18,6%
27,0%
22,9%
13,1%
2,9%
100%
% Gesamt 2003
15,4%
18,3%
27,3%
23,5%
12,4%
3,0%
100%
Teilnehmer
Summe
Aktive Teilnehmer 5
Summe
Fondsvolumen (in Mio. Pesos)
Quellen: 1 2
1 4 1
Summe
Bankenaufsichtsbehörde und Asofondos.
Ab 31. Dezember des jeweiligen Jahres. Als % des Gehalts. Zusätzliche Gebühren werden von Teilnehmern erhoben, die derzeit keine Zahlungen leisten, für Rentenzahlungen, freiwillige Beiträge und fiir den Wechsel zu einer anderen SAFP. Beinhaltet beide Portfoliowahlmöglichkeiten. Basiert auf der durchschnittlichen Tagesbilanz der Fonds. Ein Einzahler ist aktiv, wenn er mindestens eine Beitragsleistung innerhalb der letzten sechs Monate geleistet hat.
225
Tabelle 2: Versicherungsprämien und Verwaltungsgebühren im Verlauf der Zeit (als % des Lohnes)' Quartal 1/99 2/99 3/99 4/99 1/00 2/00 3/00 4/00 1/01 2/01 3/01 4/01 1/02 2/02 3/02 4/02 1/03 2/03 3/03 4/03 1/04
Quartal 1/99 2/99 3/99 4/99 1/00 2/00 3/00 4/00 1/01 2/01 3/01 4/01 1/02 2/02 3/02 4/02 1/03 2/03 3/03 4/03 1/04 Quelle: 1
226
Skandia Vw GG
Vs 1,99
1,1
3,09
1,99
1,35
3,34
Vs
Porvenir Vw GG
2
1,5
Protección 2 Vw GG Vs
3,5
1,75
Vs
1,94
1,408
3,0
Davivir Vw GG
1,56
1,5
1,45
3,5
geschlossen
1,75
1,5
Vs
1,5
Colmena Vw GG
1,8
1,7
3,5
1,25
2
1,5
3,5
1,98
1,5
3,48
1,98
1,52
3,5
2
1
3,0
1,6
1,4
3,0
3,5
3,5
3,0
Horizonte 2 Vw GG Vs
3,5
2
1,45
3,45
2
1,5
3,5
3,49
1,5
1,592
Colfondos Vw GG
2,05
2
1,99
Vs
1,75
3,0
1,51
1,49
3,0
Santander Vs | Vw | GG Noch nicht auf dem Markt
1,94
1,56
3,5
1,22
1,78
3,0
geschlossen
Bankenaufsichtsbehörde. Vs steht für Versicherungsprämie, Vw für die Verwaltungsgebühr und GG für die gesamten Gebühren. Die rechtlich erlaubte maximale kombinierte Gebühr betrug vor 2003 3,5% des Gehalts und nach 2003 3%. Bis zur Fusion mit Horizonte im April 2000 war noch eine weitere SAFP, Colpatria, auf dem Markt aktiv. Ihre Versicherungsprämie und Verwaltungsgebühr betrug 1999 2,1% bzw. 1,4%. Die Versicherungsgesellschaft gehört demselben Konglomerat an wie die SAFP.
Tabelle 3: Marktsegmentierung (Dezember 2003) Colfondos Horizonte Porvenir Protección Santander Skandia Gesamt Bundesstaat 1 Antioquia Atläntico Boyacä Cundinamarca Valle alle anderen Bundesstaaten alle Bundesstaaten 2 Ausland Gesamt
10,7% 3,5% 0,8% 19,4% 8,9% 14,8% 58,0% 42,0% 100,0%
76,6% 2,9% 5,2% 3,5% 1,6% 10,2% 100,0% 0,0% 100,0%
9,3% 4,8% 1,5% 45,7% 16,2% 22,5% 100,0% 0,0% 100,0%
31,1% 5,5% 0,1% 27,3% 11,3% 24,8% 100,0% 0,0% 100,0%
9,4% 6,6% 2,0% 40,3% 10,3% 31,2% 100,0% 0,0% 100,0%
N/a N/a N/a N/a N/a N/a N/a N/a N/a
28,1% 4,6% 2,0% 28,0% 10,0% 20,6% 93,3% 6,7% 100,0%
96,1% 3,9% 100,0%
95,6% 4,4% 100,0%
98,7% 1,3% 100,0%
98,3% 1,7% 100,0%
97,3% 94,3% 2,7% 5,7% 100,0% 100,0%
97,3% 2,7% 100,0%
1,2% 41,5% 43,7% 13,6% 100,0%
1,2% 49,7% 31,2% 17,9% 100,0%
2,3% 67,2% 30,5% N/a 100,0%
0,9% 58,7% 31,6% 8,8% 100,0%
0,6% 0,5% 47,5% 37,7% 33,4% 19,1% 18,5% 42,8% 100,0% 100,0%
1,3% 54,2% 33,4% 11,1% 100,0%
1,3% 32,2% 40,8% 21,2% 4,2% 0,3% 100,0%
1,3% 33,6% 41,0% 20,5% 3,3% 0,4% 100,0%
0,6% 30,0% 42,9% 23,0% 2,8% 0,6% 100,0%
3,3% 45,5% 33,8% 15,2% 2,1% 0,1% 100,0%
1,1% 0,5% 35,8% 32,4% 41,0% 39,2% 18,9% 22,1% 2,9% 5,0% 0,3% 0,8% 100,0% 100,0%
1,5% 35,3% 40,0% 19,9% 3,0% 0,4% 100,0%
75,9% 16,7% 4,4% 1,4% 1,6% 100,0%
88,8% 7,2% 2,5% 0,7% 0,8% 100,0%
82,8% 9,9% 4,5% 1,7% 1,2% 100,0%
86,4% 8,2% 3,1% 1,1% 1,3% 100,0%
88,8% 63,8% 7,6% 9,1% 2,3% 7,9% 0,7% 6,8% 0,6% 12,3% 100,0% 100,0%
84,6% 9,7% 3,4% 1,2% 1,2% 100,0%
Erwerbsstatus angestellt selbständig Gesamt Herkunft öffentlicher Angestellter Neuzugang öffentliches Rentenprogramm andere SAFP Gesamt Altersgruppe 15-19 Jahre 20-29 Jahre 30-39 Jahre 40-49 Jahre 50-59 Jahre > 60 Jahre Gesamt Gehaltsstruktur (in Anzahl Mindestlöhnen) < 2 >2 & < 4 >4 & < 7 >7 & < 1 0 >10 Gesamt Quelle: Asofondos. Alle Bundesstaaten, in denen mindestens eine SAFP mehr als 5% ihrer Teilnehmer aulweist, sind einzeln aufgeführt. Laut DANE (Departamento Administrativo Nacional de Estadística; Statistik-Behörde in Kolumbien), leben in den einzeln aufgeführten Bundesstaaten 51% der kolumbianischen Bevölkerung über 12 Jahre.
227
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Anhang Die Beziehung zwischen den Marketingkosten und den Verwaltungsgebühren D i e s e r A n h a n g liefert eine f o r m a l e A r g u m e n t a t i o n f ü r die B e h a u p t u n g , d a s s M a r k e t i n g k o s t e n die h o h e n V e r w a l t u n g s g e b ü h r e n nicht erklären k ö n n e n . M a n n e h m e an, die V e r s i c h e r t e n k ö n n e n d u r c h eine Funktion repräsentiert w e r d e n , die die G e s a m t h e i t d e r N a c h f r a g e n a c h R e n t e n v e r s i c h e r u n g s l e i s t u n g e n abbildet. D i e N a c h f r a g e w i r d spezifiziert als q(a,