110 26 30MB
German Pages 267 Year 1980
OTTO DANN
Gleichheit und Gleichberechtigung
Historische Forschungen
Band 16
Gleidtheit und Gleidtberechtigung Das Gleichheitspostulat in der alteuropäischen Tradition und in Deutschland bis sum ausgehenden 19. Jahrhundert
Von Otto Dann
DUNCKER
&
HUMBLOT I
BERLIN
Als Habilitationsschrift der Universität zu Köln gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Alle Rechte vorbehalten
@ 1980 Duncker & Humblot, Berlln U Gedruckt 1980 bei Zippel-Druck in Firma Büro-Technik GmbH., Berlln 36
Printed in Germany ISBN 3 428 04591 2
Vorwort Wer tritt heute in Deutschland noch für die Parole der Gleichheit ein? Von den Progressiven kaum gebraucht und schon gar nicht verteidigt, wird sie von den Konservativen weiterhin als Zielscheibe in der politischen Auseinandersetzung eingesetzt. In dieser durch eine merkwürdige schiefe Schlachtordnung gekennzeichneten Situation wird hier eine historische Untersuchung vorgelegt, die von dem Tenor getragen ist, daß die Durchsetzung des sozialen Gleichheitspostulats zu den wichtigsten Errungenschaften der europäischen Neuzeit und zu den konstitutiven Elementen einer demokratischen Gesellschaft gezählt werden muß. Um diesen Zusammenhang in seiner geschichtlichen Entwicklung aufzuzeigen, mußte weit ausgeholt werden. Die Untersuchung umfaßt mehr als zwei Jahrhunderte neuzeitlicher Geschichte und greift darüber hinaus weit in die Antike zurlick. In einer historiographischen Landschaft, in der heute nur Spezialstudien gedeihen, ist das ein Wagnis. Es wurde eingegangen, um einen größeren Entwicklungszusammenhang deutlich zu machen und auf eine Problemstellung hinzuweisen, die in unserer politischen Diskussion nach wie vor zur Klärung ansteht, wenn man es mit dem Bekenntnis zu einer demokratischen Entwicklung ernst meint. Den Anstoß zu dieser Studie verdanke ich dem Unternehmen ,Geschichtliche Grundbegriffe', in dem die Leitbegriffe unseres politischen Denkens erstmals systematisch in ihrer geschichtlichen Entwicklung untersucht werden. In der Auseinandersetzung mit diesem Ansatz wurde deutlich, daß von dem Postulat der Gleichheit wohl als einzigem gesagt werden kann, daß hier ein Begriff, ein soziales Denkmodell, in einer distinktiven Weise Geschichte gemacht hat. Durch zahlreiche Diskussionen und Hinweise bin ich von Freunden und Kollegen unterstützt worden, vor allem von Winfried Hasserner, Christian Meier, Ursula Mittmann, Chaim Perelman, Adalbert Podlech, Wolfgang Schieder, Jürgen Schlumbohm und Hartrnut WoHf. Eine frühere Fassung dieser Studie hat der Philosophischen Fakultät der Universität Köln als Habilitationsschrift vorgelegen. Die Drucklegung wurde durch eine Beihilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt und im Verlag Duncker & Humblot, insbesondere durch Herrn Helmut Appelt, mit großem Entgegenkommen betreut.
6
Vorwort
In besonderem Maße danke ich schließlich denen. die mir bei der Herstellung des Manuskripts. dem Lesen der Druckfahnen und bei der Anfertigung des Registe~s geholfen haben. Sigrid Schneider vor allem. aber auch meiner Tochter Gisela O.D.
Inhaltsverzeichnis
I.
Einleitung.. . . .. . . .... . . . . . .... . . . .. . . .. . .. . . . . . . . . . .. . . ....
9
1.1.
Das Problem: Gleichheit und gesellschaftliche Entwicklung ...
9
1.2.
Der Gleichheitsbegriff ......................................
16
1.3.
Fragestellungen und Hypothesen ............................
20
1.4.
Materialien und Methoden ..................................
23
Exkurs: Zur Problematik einer Begriffsgeschichte ............
26
1.5.
Der Untersuchungsrahmen .................................
29
2.
Die europiitscheTraditton bis zum ausgehenden Mittelalter
31
2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.1.3.
Antike. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Griechenland .............................................. Rom ...................................................... Das antike Christentum ............................... , . . . . .
31 31 43 51
2.2. Mittelalter ................................................ . 2.2.1. Allgemeine Grundlagen .................................... . 2.2.2. Protestbewegungen ........................................ .
59 59 67
.2.3.
Reformation und Bauemkrieg in Deutschland ............... .
72
3.
Die Herausbildung des bürgerlichen Gleichheitspostulats der Neuzeit ................................................... .
85
3.1.
Gesellschaftliche und politische Voraussetzungen ............ .
85
3.2. Theoretische Grundlegung .................................. 3.2.1. Das neue Weltbild ......................................... 3.2.2. Die naturrechtliche Gleichheitstheorie .......................
89 89 93
3.3.
Gleichheit als gesellschaftliches Organisationsprinzip .........
100
3.4.
Das Gleichheitspostulat in der politischen Auseinandersetzung: Puritanische Revolution und amerikanische Unabhängigkeitsbewegung ....................................................
106
3.5. Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert..................... 3.5.1. Parität..................................................... 3.5.2. Das altständische Weltbild ..................................
114 115 117
8
Inhaltsverzeichnis
3.5.3. Der integrative Gleichheitsbegriff der deutschen Aufklärung und seine Grenzen ............................................. 3.5.4. Forderungen nach Rechtsgleichheit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ..............................................
119 124
4.
Gleichheit im Zeitalter der bürgerlichen Revolution. . . . . .. .
132
4.1.
Die revolutionäre Zuspitzung des Gleichhcitspostulats in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts .............
132
4.2. 4.2.1. 4.2.2. 4.2.3.
Deutschland um 1800 ...................................... Die Herausforderung durch die Französische Revolution...... Gleichheit als soziales Rechtsprinzip ......................... Die Reformbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts ........
143 143 153 164
4.3.
Die konservative Reaktion gegenüber dem modernen Gleichheitsprinzip im friihen 19. Jahrhundert ...................... Exkurs: Hegel .............................................
171 179
4.4. Die bürgerliche Bewegung im deutschen Vormärz............ 4.4.1. Der Liberalismus ............... ."'. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Tocqueville ........................................ 4.4.2. Die demokratischen Gruppierungen ......................... 4.4.3. Die nationale Bewegung ....................................
182 183 189 192 198
4.5. Die Revolution von 1848/49 in Deutschland ................. 4.5.1. Die revolutionäre Bewegung ................................ 4.5.2. Die parlamentarischen Auseinandersetzungen ................
200 201 205
4.6.
Der Antiegalitarismus im deutschen Bürgertum nach 1850 ....
211
5.
Das Gleichheitspostulat und die deutsche Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert........................................
219
5.1.
Die deutsche Arbeiterbewegung im Vormärz.................
219
5.2.
Kar! Marx und die sozialistische Arbeiterbewegung ...........
225
5.3.
Der Kampf um Gleichberechtigung in der Bismarckzeit .......
230
6.
Das Gleichheitspostulat innerhalb der deutschen Frauen· rechtsbewegung des 19. Jahrhunderts....... ...............
236
7.
Gleichheit und Gleichberechtigung (Zusammenfassung und Ausblick) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
248
Literaturverzeichnis .............................................
256
Register .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
261
1. Einleitung
1.1. Du Problem: Gleichheit und gesellschaftliche Entwicklung Der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz. der eines unserer wichtigsten Grundrechte enthält und sich heute in allen Verfassungen findet. wird meist im Indikativ formuliert: •.Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich". Sein Sinn jedoch ist nicht die Feststellung eines Tatbestandes. sondern eine Aufforderung: •.Alle Menschen sollen vor dem Gesetz als gleich behandelt werden." Jene Gleichheit kann demnach nicht vorausgesetzt. sie muß gegenüber ungleichen sozialen Gegebenheiten immer erst durchgesetzt werden. Es besteht eine latente Spannung zwischen dem Anspruch auf Gleichheit und der Verschiedenheit der faktischen VerhältnisseI. Hier liegt sicher ein maßgeblicher Grund für die andauernden Auseinandersetzungen über das Gleichheitsprinzip. Es ist bis heute vielfach umstritten. in welchen Lebensbereichen. für welchen Personenkreis und in welchem Maße. ja ob überhaupt das Prinzip der Gleichheit bei der Gestaltung sozialer Beziehungen zum Maßstab gemacht werden soll. Die häufige Verwendung des Begriffs in der politischen Polemik ist nur die auffälligste Form einer Diskussion. die nicht weniger engagiert innerhalb der Rechts- und Sozialwissenschaften geführt wird. In ihr offenbart sich nicht zuletzt auch eine Unsicherheit in der Ver·wendung des Begriffs. die allein dazu veranlassen kann. durch eine historische Rückfrage sich seiner ursprünglichen Elemente und Hintergründe zu versichern. Die Rolle der Gleichheitsfrage innerhalb der Entwicklung europäischer Gesellschaften läßt sich bis in deren früheste Überlieferungen zurückverfolgen. Erst im Zusammenhang der Herausbildung von bürgerlich geprägten Gesellschaften in der europäischen Neuzeit jedoch hat sie eme Bedeutung gewonnen. die das spezifisch modeme Problem der Gleichheit ausmacht. das im Zentrum dieser Untersuchung stehen soll. Die besondere Rolle. durch die sich die Gleichheitsfrage im modemen Europa von allen vorigen Epochen abhebt. läßt sich in drei Punkten zusammenfassen: I Eingehender dazu unten S. 19 f. Notiz zur Zitierwelse: Mit eiDern ntelstichwort wird nur die literatur zitiert, die im literaturverzeichnis aufgeführt und für das Gleichheitsproblem unmittelbar relevant ist. Die übrige literatur sowie die Quellennachweise erscheinen mit vollem ntel in der jeweils ersten Fußnote.
10
1. Einleitung
1. Der Begriff "Gleichheit" wurde in einem bisher nicht gekannten Maße zum Leitmotiv sozialer Schichten in ihrem Kampf um gesellschaftliche und politische Emanzipation. 2. Im Zusammenhang dieser gesellschaftlichen Bewegung wurde die Gleichheitsfrage zugleich zum heuristischen Prinzip einer umfassenden Analyse der Gesellschaft. Das Gleichheitsproblem bildete den Ausgangspunkt und ist das zentrale Thema der modernen Sozialwissenschaft und Sozialphilosophie2• 3. Seit dem ausgehenden Mittelalter vollzog sich ein Prozeß zunehmender Rationalisierung und Mobilisierung der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse, der entscheidend von gleichheitlichen Strukturen geprägt war und weitgehend den Hintergrund jener Entwicklungen darstelltl. Diese spezifisch neuzeitlichen Entwicklungen sind nicht auf eine bestimmte Epoche und Region beschränkt geblieben. Sie waren über Europa und das 18. Jahrhundert hinaus wirksam und sind heute noch keineswegs abgeschlossen. Von daher ist innerhalb der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung schon friihzeitig die These entwickelt worden, daß die gesellschaftliche Entwicklung der Neuzeit im Zeichen der Gleichheit stehe, ja daß eine zunehmend~ Tendenz zu einer gleichheitlich strukturierten Weltgesellschaft zu beobachten sei. Waren solche Aussagen bei Condorcet und Tocqueville noch weitgehend Spekulation 4 , so sind sie von der politischen Sozialwissenschaft in den letzten zwei Jahrzehnten - inspiriert durch die Entwicklungsprozesse der Dritten Welt - zu einer empirisch untermauerten Entwicklungstheorie ausgebaut worden. "Modernisierung" ist der Leitbegriff dieser Theorie, und die Durchsetzung von Gleichheit wird stets als eines der signifikanten Merkmale von Modernisierung betrachtets. Damit steht die Gleichheitsfrage heute mit neuem Gewicht 2 Vgl. Ralf Dahrendorf, Ursprung der Ungleichheit, 4 ff., der zudem auf eine charakteristische Verlagerung der thematischen Schwerpunkte der Gleichheitsfrage in der Entwicklung der Sozialwissenschaften hinweist. Zur Genese der modemen Sozialwissenschaften im Kontext der Gleichheitsfrage, die hier nicht im einzelnen zur Diskussion steht, weiterhin unten S. 93 ff.; beispielhaft für die Anfänge Hans Medick und A. LeppertFögen, Frohe Sozialwissenschaft, 25 ff. 3 Verwiesen sei auf Max Webers Aussagen zum Rationalisierungsprozeß und die sich an ihn anschließende Diskussion. Vgl. aus jüngster Zeit zu den Ansätzen im 16. Jahrhundert Immanuel Wallerstein, The Modem World System, New York 1974, 136 ff. und speziell zur Industrialisierung D. Treiman, Industrialization and Sodal Stratification, in: E. O. Laumann Hg., Sodal Stratification, New York 1970,217-230. Zu einzelnen Aspekten dieses Problemzusammenhangs auch unten S. 253 ff. 4 Vgl. unten S. 141 und 189 ff. 5 "Die Ausdehnung der Gleichheit betrachten wir als ein Gütezeichen der Modernisierung", schreibt Reinhard Bendix, einer der wichtigsten Vertreter der historisch orientierten Modernisierungsforschung (Modernisierung in internationaler Perspektive, in: Wolfgang Zapf Hg., Theorien des sozialen Wandels, Köln 1970,505). Vgl. auch James S. Coleman, Modemization. Political Aspects, in: International Encyclopaedia of Social Sciences 10, New York 1968,397, oder Amitai Ezioni, Elemente einer Makrosoziologie, in: Zapf (wie oben), 170 ff. Zur Modernisierungsforschung allgemein Peter Flora, Modemisierungsforschung. Zur empirischen An~yse der gesellschaftlichen Entwicklung. Opladen 1974; zu deren ge-
1.1. Das Problem: Gleichheit und gesellschaftliche Entwicklung
11
im Zentrum der wissenschaftlichen Bemühungen um eine Analyse neuzeitlicher Gesellschaften und ihrer Entwicklung. Unter Modernisierung wird der soziale Wandel verstanden, den Gesellschaften durchmachen, die sich zu einer modernen Nation entwickeln, - der komplexe Transformationsprozeß also, der sich vor allem in naturwissenschaftlich fundierter Technologie, Kapitalisie~ rung und Industrialisierung, in der Durchsetzung eines rationalisierten Verwaltungsstaates und in der Entwicklung einer säkularisierten Kultur und Wissenschaft niederschlägt. In der Modernisierungsforschung wird versucht, diesen komplexen, variantenreichen und in sich nicht widerspnichsfreien Prozeß als einen Gesamtzusammenhang zu begreifen6• Er wird als eine zielgerichtete Entwicklung verstanden, deren Etappen und Kriterien durch spezifische Indikatoren zu benennen sind. Als ein besonders wichtiger Indikator von Modernisierung gilt die Ausdehnung der Partizipation des Einzelnen am politischen System, seinen Aufgaben und Leistungen, - und als der Maßstab solcher Beteiligung das Prinzip der Gleichheit. Gegenüber den Partizipationsformen in vormodernen Gesellschaften ist die Gleichberechtigung aller Bürger das entscheidende Kriterium, das hier die Entwicklung bestimmt und deren tendenziell demokratischen Charakter festlegt. Das Gleichheitsprinzip wird von daher auch als ein Maßstab verwandt, um den Entwicklungsstand einer Gesellschaft zu messen und zu beurteilen7•
Orientiert man sich an dem Modernisierungsmodell der neueren politischen Entwicklungsforschung8, dann sind bestimmte Entwicklungsbereiche zu unterscheiden, in denen die Durchsetzung von Gleichheitskriterien9 beobachtet werden kann: Zunächst die allmähliche Gleichstellung der Untertanen gegenüber dem Rechtssystem und der staatlichen Verwaltung im Zuge der modernen Staatsund Nationsbildung. Hier geht es um. die Durchsetzung der bürgerlichen Rechtsgleichheit, wie sie als Postulat in den Grundrechtskatalogen des späten 18. Jahrhunderts enthalten ist. Wichtigste Elemente sind die Gleichheit vor schichtswissenschaftlichen Perspektiven Hans-Ulrich Wehl~r, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975, neuerdings aktualisiert in: ders., Voriiberlegungen zu einer modernen deutschen Gesellschaftsgeschichte, in: Industrielle Gesellschaft und p0litisches System. Festschrift Fritz Fischer, Bonn 1978, 4 ff. 6 Vgl. beispielhaft den Problemaufriß von Reinhard Bendix, Nation Building and Citizenship. Studies of our changing social order. New enlarged edition. Berkeley 1977, 2-35 und 361-434. 7 Vgl. etwa den gleichheitlichen Charakter der Indikatoren sozialer und politischer Modernisierung. die Karl W. Deutsch in seiner klassischen Studie "Soziale Mobilisierung und politische Entwicklung" aufführt. (In: Zapf (Anm.4), 329 H.). 8 Zur politischen Entwicklungsforschung der systematisch konzipierte Sammelband von Leonard Binder u. a., Crises and Sequences in Political Development, Princeton 1971, in dem das Gleichheitsproblem in seinen verschiedenen Dimensionen diskutiert wird. 9 Beispielhaft auch die umfassende, durch Diagramme veranschaulichte Studie von Talcott Parsons, Equality and Inequality, 13-72, in der eingehend die verschiedenen Dimensionen diskutiert werden, in denen sich gleicbheitliche Strukturen in modernen Gesellschaften durchsetzen.
12
1. Einleitung
dem Gesetz, eine einheitliche Strafverfolgung, eine gleichmäßige Veranlagung zu den staatlichen Abgaben, die Chancengleichheit im Zugang zu den öffentlichen Ämtern 10• Im Zusammenhang damit steht der eigentliche Entwicklungsbereich der Partizipation: das politische System und seine Institutionen. Hier ist die Gleichstellung der Staatsbürger als Mitglieder einer Nation, also der Prozeß der politischen Demokratisierung zu verfolgen. Er ist am deutlichsten ablesbar an der Entwicklung des politischen Mitbestimmungsrechtes, dessen Ausdehnung im Sinne des "one man one vote" auf immer größere Teile der BevölkerunglI. Schließlich ist die Entwicklung der Teilhabe an den ökonomischen, sozialen und kulturellen Leistungen und Ressourcen einer Gesellschaft zu verfolgen, mithin die Durchsetzung von sozialer Gleichheit als Problem der gesellschaftlichen Redistribution. Hier geht es um die Ausweitung der Beteiligung am Bildungssystem einer Gesellschaft, also die Durchsetzung einer größeren beruflichen Chancengleichheit, zum anderen um die Partizipation an dem sozialen Sicherungs- und Versorgungssystem, das der moderne Staat als Wohlfahrtsstaat ausbaut, schließlich im ökonomischen Bereich um die Auseinandersetzung um eine gerechte Beteiligurig der arbeitenden, nicht über Produktionsmittel verfügenden Bevölkerungsschichten an den Erträgen und Entscheidungen der Güterpraduktion l2 • Man wird in allen diesen Bereichen der gesellschaftlichen Entwicklung unschwer nachweisen können, daß im Verlaufe modernisierender Prozesse eine Erweiterung von Teilhabe im Sinne des Gleichheitsprinzips stattgefunden hat. Wenn auch in vielen Fällen keine konkreten empirischen Nachweise vorliegen, die bisher bekannten Daten und der unmittelbar sichtbare Entwicklungstrend sprechen dafür, daß in den Gesellschaften, die einen Modernisierungsprozeß durchmachen, auch ein größeres Maß an sozialer Gleichheit und Gleichberechtigung sich durchsetzt. Das Problem der Gleichheit in der Neuzeit scheint demnach weitgehend identisch zu sein mit dem Durchsetzungsprozeß moderner Strukturen und demokratischer Verhältrtisse, bzw.: Der Kampf um 10 Vgl. den jüngsten Band der Political Development-Forschungsgruppe: Charles Tilly Hg., The Formation of National States in Western Europe, Princeton 1975. 11 Vgl. die bereits klassischen komparativen Untersuchungen von T. H. MarshalI, Class, Citizenship and Sodal Development, New York 1964, Bendix (Anm. 6), 39- 174 und Stein Rokkan, Citizens, Elections, Parties, Oslo 1970. 12 Vgl. den jüngsten Überblick über diese Entwicklungstendenzen und Problemstellungen bei Karl Ulrich Mayer, Gesellschaftliche Entwicklung, Gesellschaftspolitik und soziale Ungleichheit, in: Wolfgang Zapf Hg., Probleme der Modernisierungspolitik, Meisenheim 1977, 206- 220. Dazu auch R Boudon, Education, Opportunity and Sodal Inequality, New York 1974. Zum Wohlfahrtsstaat heute vor allem H.l. Wilensky, The Welfare State and Equality, Berkeley 1975. Zur Einkommensverteilung zuletzt D. Wedderburn Hg., Poverty, Inequality and Class Structure, London 1974, und der internationale Vergleich von R W. Jackman, Politics and Sodal Equality. A Comparative Analysis, New York 1975.
1.1. Das Problem: Gleichheit und gesellschaftliche Entwicklung
13
die Modernisierung einer Gesellschaft erscheint als ein Kampf um Gleichheit und Gleichberechtigung, um größere soziale Gerechtigkeit und Partizipation l3 • Alle diese Zusammenhänge und Beobachtungen haben dazu veraniaßt. den Durchsetzungsprozeß der Modernisierung als eine zielgerichtete Entwicklung zu interpretieren. der eine unabweisbare Finalität innewohnt. Vergegenwärtigt man sich die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens in den letzten zweihundert Jahren. dann spricht vieles für eine solche These. Vor allem die Durchsetzung demokratischer Partizipationsformen wird heute als ein solches teleologisches Element der Modernisierung herausgestellt. Wenn man etwa die Entwicklung des Wahlrechtes in der Neuzeit betrachtet. dann erscheint die schrittweise Durchsetzung des Gleichheitsprinzips. etwa im Sinne des Stichworts von der Fundamentaldemokratisierung. in der Tat als ein Wesenselement moderner Gesellschaftsentwicklung. Von daher wird es verständlich. daß in der jüngst wiederbelebten Diskussion um eine Theorie der sozialen Evolution die Ausdehnung von Gleichberechtigung zu einem universalen Richtungskriterium erklärt wurde l4 • Liegt es nicht in der Tat nahe. die Durchsetzung des Gleichheitsprinzipes in den neuzeitlichen Gesellschaften als ein bis heute gültiges normatives Element sozialer Evolution zu betrachten? Gegenüber einem solchen evolutionistischen Optimismus ist jedoch Vorsicht geboten. Nicht etwa aus Sorge. der Fortschrittsglaube der Aufklärungsgesellschaft. den wir für überwunden halten. könnte wieder Urstände feiern. Es sind vielmehr empirische Untersuchungen zur Entwicklung in den fortgeschrittenen westlichen Ländern. die zu dem Ergebnis führen. daß es heute nur noch in minimalem Umfang gelingt. die bestehenden sozialen Ungleichheiten weiter abzubauen. Auf dem Gebiete der Einkommensverteilung z. B. hat sich trotz Lohn- und Steuerpolitik die Ungleichheit zwischen den Vermögensklassen nicht wesentlich verringert; auch in der jüngst wieder mobilisierten Bildungspolitik konnte die bestehende Chancenungleichheit trotz zahlreicher Verlagerungen im Schulsystem kaum merklich reduziert werden ls . Denkt man 13 Beispielhaft für diesen Kampf um Gleichheit und soziale Gerechtigkeit sei auf zwei herausragende Personen und deren Lebenswerk verwiesen: den Engländer R. H. Tawney (vgl. ders .• Equality. 4. AufI .• London 1952) und Alva Myrdal in Schweden (vgl. dies .• Jämlikhet. Stockholm 1969. dt. in gekürzter Fassung unter dem Titel Ungleichheit im Wohlfahrtsstaat. hg. von Walter Menningen. Reinbek 1971). 14 Vgl. etwa Henri Buch. La notion d'egalite dans les principes generaux du droit. in: L'Egalite. vol. I. 222 ff.• der von einer .,nature evolutive de l'egalite" spricht. Zur jüngsten Evolutionsdebatte vor allem Jürgen Habermas. Geschichte und Evolution. in: GG 2. 1976. 343 ff.• dessen These sich nicht unmittelbar auf die sozialwissenschaftlichen Fakten. sondern auf den ..evolutionären Lernvorgang" der neuzeitlichen Gesellschaft bezieht. in dem das Rationalmodell der Gleichheit eine führende Rolle gespielt habe. Zu diesem Zusammenhang auch die Erwägungen bei Wehler (Anm. 5). 41 f. IS Vgl. aus jüngster Zeit A. B. Atkinson Hg.• Wealth. Income and Inequality. Harmondsworth 1973 und Wedderburn (Anm. 12); zur Bildungsentwicklung Hartmut Kaelble. Chancengleichheit und akademische Ausbildung in Deutschland 1910-1960. in: GG 1. 1975. 121-149; P. Bourdieu und J. C. Passeron. Die musion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart 1971; außerdem Mayer (Anm. 12).
14
1. Einleitung
zudem an die sich ständig vergrößernde Ungleichheit im weltpolitischen Maßstab zwischen den industrialisierten Ländern und denen der Dritten Welt, dann wird man von einem modernisierungsimmanenten Abbau sozialer Ungleichheiten nicht mehr ohne weiteres sprechen können. Man wird sogar verstehen, daß die Situation in den westlichen Ländern jüngst als ein "ultrastabiles Ungleichheitssystem" bezeichnet wurde l6 • Ganz anders gelagerte Bedenken gegenüber der These von einer tendenziell egalitärep. Entwicklung in modernen Gesellschaften sind von jeher mit dem marxistischen Denkansatz verbunden. Seit Marx' beruhmter Analyse der revolutionären bürgerlichen Gleichheitsforderung wird hier stets auf die Gegenläufigkeit von politischer Egalisierungstendenz und sich verschärfender ökonomisch-sozialer Ungleichheit verwiesen. Ausgehend von dieser Widerspruchlichkeit wird die Ernsthaftigkeit des bürgerlichen Gleichheitspostulates bezweifelt und seine Realisierung generell in Frage gestellt. Wenn die heutigen kommunistischen Staaten andererseits aber eine materielle Verwirklichung von gesellschaftlicher Gleichheit als Ziel ihrer Politik proklamieren l7, dann unterwerfen sie sich damit ebenfalls dem normativen Kriterium des Gleichheitsprinzips und veranlassen nach dem, was sie bisher erreichten, bei einem Beobachter ähnliche Zweifel an den Realisierungschancen gleichheitlicher Prinzipien wie sie angesichts der Entwicklung in den westlichen Ländern formuliert wurden. Es gibt demnach nicht erst seit heute vielfache Grunde, die naheliegende These vom Gleichheitsprinzip als einer evolutionistischen Universalie im Modernisierungsprozeß nicht unbesehen zu übernehmen. In der kritischen Auseinandersetzung mit dem Gleichheitspostulat, die so lange zuruckreicht wie dessen positive Wirkungsgeschichte, sind sowohl grundsätzliche Einwäp.de erhoben worden wie auch zahlreiche praktische Probleme seiner Anwendung aufgetaucht. Zunächst ein grundlegendes Erkenntnisproblem: Gleichheit ist - wie noch zu erläutern sein wird - ein Rationalmodell menschlicher Erkenntnis, das auf eine gesellschaftliche Wirklichkeit angewandt wird, die von sich aus nie gleich, sondern stets individuell geprägt ist. Ist das Gleichheitsmodell von daher überhaupt geeignet, die Wirklichkeit realistisch zu erfassen und zu deren Gestaltung anzuleiten? Wird dieser dabei nicht der Zwang eines rationalen Prinzips Ebda., 215. Zur Position von Karl Marx unten S. 225 ff. Als Beispiel für die heutige Diskussion des Gleichheitsproblems im Marxismus-Leninismus vgl. aus der DDR zuletzt Werner Grahn und Ingo Wagner, Rechtliche und soziale Gleichheit im Klassenkampf, Berlin 1977. Die Kritik am bürgerlich geprägten Gleichheitsprinzip in der Nachfolge von Marx und Engels steht hier argumentativ weitgehend unvermittelt neben der Proklamation einer sozialistischen Gleichheit als einer ,.real existierenden Gleichheit". Ausgeglichener demgegenüber die ungarische Diskussion: J. Halasz, Civic Equality and Equality before the law, in: Socialist Concept of Human Rights. Budapest 1966, 165 ff., 181 ff. 16
17
1.1. Das Problem: Gleichheit und gesellschaftliche Entwicklung
15
auferlegt, das ihr letztlich inadäquat ist?18 Wenn das Gleichheitsprinzip jedoch auf bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse angewandt wird, dann stellt sich zusätzlich das Problem, welcher Sachverhalt dabei als Maßstab dienen soll. Von der Wahl des Vergleichsmaßstabes nämlich hängt es ab, wie eine Wirklichkeit gleichheitlich gestaltet wird 19. Im Zusammenhang damit erhebt sich schließlich die Frage, ob nicht eine jede Gesellschaft zu ihrer Erhaltung ein System von Differenzierungen und Gliederungen braucht, - so daß demnach auch Ungleichheit in bestimmten Fonnen ein strukturell notwendiges Element einer jeden Gesellschaft darstellt 2o• Diese allgemeine Problematik gewinnt ihre besondere Zuspitzung und Aktualität in der Antithese von Freiheit und' Gleichheit. Führt nicht, so ist immer wieder gefragt worden, das Prinzip der Gleichbehandlung zu einer Beeinträchtigung von naturgegebenen Entfaltungsmöglichkeiten, zu einer Gefährdung der individuellen Entwicklungsfreiheit? Betrachtet man die individuelle Entfaltung der menschlichen und der sozialen Kräfte als einen obersten Wert, dann erscheint die Durchsetzung von Gleichheitsnonnen als ein zutiefst inhumanes Prinzip, als Gleichmacherei, durch die die menschliche Freiheit bedroht wird 21 . Ganz andere Bedenken gegenüber der Brauchbarkeit des Gleichheitsprinzips ergeben sich im Bereich des Rechtslebens. Hier zeigt die Auslegungspraxis des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, daß dessen Anwendung nicht zu einer unterschiedslosen Gleichbehandlung führen kann. Wird nämlich die gleiche Würde eines jeden Menschen als Rechtssubjekt emstgenommen, dann erfordert das in der Rechtsanwendung die Berücksichtigung individueller Gegebenheiten, mithin eine rechtliche Differenzierung22. Stößt das Gleichheitsprinzip damit nicht an seine eigenen, ihm immanenten Grenzen? 18 Diese Argumentation ist zuerst umfassend von Hege! entwickelt worden; vgl. unten S. 179 ff. 19 Vgl. die aufschlußreiche Zusammenstellung verschiedener Indikatoren zur Bestimmung politisch relevanter Ungleichheiten durch H. R Alker und B. M. Russett, Indices for Comparing Inequality, in: R 1.. Merritt und Stein Rokkan Hg., Comparing Nations. New Haven und London 1966,349-372. 20 Parsons z. B. betrachtet die Differenzierung und Schichtung von Gesellschaften geradezu als eine "evolutionäre Universalie", als eine Bedingung für deren Weiterentwicklung (ders., Evolutionäre Universalien der Gesellschaft, in: Zapf Hg. (Anm. 5), 58 ff.). Vgl. auch Parsons, Equality and Inequality, 38 ff. zur notwendigen Balance von Gleichheit und Ungleichheit in einer jeden Gesellschaft. 21 Vgl. beispielhaft die soziologischen Erwägungen von Ralf Dahrendorf, Reflexionen über Freiheit und Gleichheit, in: ders., Gesellschaft und Freiheit, München 1962, und die juristische Übersicht von Gerhard Leibholz. Gleichheit, 17 ff.; andererseits Tawney, Equality, 181 ff. und 254 ff., die umsichtige Argumentation von Isaiah Berlin und Richard Wollheim, Equality, und heute vor allem John Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 229 ff. Dazu weiterhin unten S. 163 f. und 191. 22 Schon die Auslegung von Art. 3 GG durch das Bundesverfassungsgericht ist hier beispielhaft, etwa BVerfGE 1,52; 3, 240; 6, 84 und 91. Dazu Hans Justus Rinck, Höchstrichterliche Rechtsprechung, und die kritischen Bemerkungen von Reiner Schmidt, Natur der Sache und Gleichheitssatz, in: Juristenzeitung 22, 1967.402-404. Generell auch Stanley J. Benn. Equality. in: The Encyclopaedia of Philosophy. vol. 3. London 1967.39 f.
16
1. Einleitung
Es ist somit in Umrissen deutlich geworden, in welchem Maße die Gleichheitsfrage mit der Entwicklung neuzeitlicher Gesellschaften und ihrer Probleme verbunden ist. Das Gleichheitsprinzip dient weitgehend als ein positiver Wertmaßstab bei der Analyse moderner Gesellschaftsentwicklung; denn es ist bis heute die überzeugendste Formel für die Durchsetzung demokratischer und menschenrechtlicher Verhältnisse. Seine Anwendung wirft jedoch auch erhebliche Probleme auf, die zu Zweifeln an seiner Brauchbarkeit Anlaß geben. In dieser ambivalenten Funktion nimmt das Gleichheitsprinzip geradezu eine Schlüsselrolle beim Verständnis moderner Gesellschaften ein. Trotz seiner häufigen Verwendung und Beschwörung ist bisher aber nur wenig geklärt, worin seine gesellschaftliche Funktion im einzelnen begründet und wie sie entstanden ist. 1.2. Der Gletchhettsbegriff Bei der Frage nach der Entwicklung des modernen Gleichheitsprinzips verspricht eine Analyse des Begriffs in besonderem Maße zu einer Klärung und sachlichen Vertiefung des Problems beizutragen. Die besondere Rolle des Begriffs "Gleichheit" als gesellschaftlicher Leitbegriff und als politisches Schlagwort ist notorisch. Auch in Deutschland gibt es wohl nur wenige Begriffe der politischen Sprache, die seit den Tagen der Französischen Revolution die öffentliche Diskussion mehr bewegt haben als die Parole der Gleichheit. Daß der Begriff diese Rolle spielen konnte, beruht nicht zuletzt auf seinem besonderen Bedeutungsgehalt. "Gleichheit" - das gilt es zunächst deutlich zu machen - bezeichnet weder einen Gegenstand noch eine Institution der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern eine Aussage über bestimmte soziale Verhältnisse und Gegebenheiten. Hinter einer Gleichheitsaussage aber steht eine bestimmte Vorstellung von dem, was gleich ist: ein Anschauungsmodell, ein allgemeiner Begriff von Gleichheit. Ein solcher Begriff von Gleichheit existiert in jeder menschlichen Gesellschaft, wenn auch die Worte und semasiologischen Bedeutungsfelder dafür in den einzelnen Sprachen verschieden sind23• Sein Bedeutungsgehalt geht über die soziale Verwendung des Begriffs jedoch weit hinaus. "Gleichheit" ist kein Spezialbegriff des politischen Lebens. Man findet ihn ebenfalls in der Mathematik und in der Logik, darüber hinaus als einen Grundbegriff des alltäglichen Sprachgebrauchs, unseres allgemeinen Vorstellungsvermögens. Es erscheint sinnvoll, sich dieser allgemeinen Grundbedeutung des Begriffs zu versichern, um zunächst über die strukturellen Bedingungen Aufschluß zu bekommen, unter denen die soziale Gleichheitsfrage in der modernen Gesellschaft überhaupt formuliert werden konnte. 23 Zur Unterscheidung von Wort und Begriff vgl. Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1972, XV f.
1.2. Der Gleichheitsbegriff
17
Der Bedeutungsgehalt des allgemeinen Gleichheitsbegriffs ist nicht einfach zu bestimmen; denn "Gleichheit" bezeichnet nichts Konkretes, weder eine Person, noch einen Gegenstand Und auch keinen Sachverhalt an einzelnen Gegenständen. "Gleichheit" bringt vielmehr eine Beziehung zum Ausdruck, die zwischen zwei oder mehreren Objekten besteht24. "Gleichheit" ist ein Verhältnisbegriff - eine Vorstellung also, in der von den Dingen selbst abstrahiert wird und ein bestimmtes Beziehungsverhältnis zwischen ihnen ausgesagt werden soll. Die besondere Beziehung, die der Gleichheitsbegriff zum Ausdruck bringt, besteht - das ist wichtig zu sehen - nicht an den verglichenen Objekten selbst. Si~ wir~ allein durch den Menschen und seinen Verstand hergestellt, der reflektierend die Phänomene seiner Umwelt beobachtet und sie miteinander ver~ gleicht. Gleichheit existiert also stets nur in der Form von Gleichheitsaussagen, denen ein Vergleichen zugrundeliegt25. Eine jede Gleichheitsaussage enthältwenn auch oft in verkürzter Form - ein Gleichheitsurteil. Bedenkt man in diesem Zusammenhang, daß das Vergleichen und Unterscheiden eine Grundform menschlichen Denkens überhaupt darstellt, dann wird deutlich, in welchem Maße einer jeden sozialen und politischen Gleichheitsaussage eine reflektierte Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt zugrunde liegt26. Der Gleichheitsbegriff bringt eine bestimmte Form der Übereinstimmung zum Ausdruck, die genauer zu definieren und von anderen Begriffen der Übereinstimmung abzugrenzen ist. Von diesen bezeichnet "Identität" die weitestgehende Form der Übereinstimmung ei~es Gegenstandes mit sich selbst, in allen seinen Merkmalen. Sie kommt in der Formel a = a zum Ausdruck. Demgegenüber gilt für "Gleichheit" die Formel a = b. Sie bedeutet Übereinstimmung mehrerer Gegenstände, Personen oder Sachverhalte in mindestens einem Merkmal, bei Verschiedenheit in den übrigen. ,,Ähnlichkeit" schließlich bezeichnet eine nur annähernde Übereinstimmung zwischen mehreren Objekten27 . Der Begriff "Gleichheit" steht also in seinem Bedeutungsgehalt zwischen "Identität" und "Ähnlichkeit". Aus diesen definitorischen Abgrenzungen ergeben sich wichtige Folgerungen. Wenn sich eine Gleichheitsaussage allein auf ein konkretes Merkmal bezieht, dann beinhaltet sie nicht eine generelle, sondern stets nur eine partielle 24 Vgl. Wilhelm Windelband, Gleichheit und Identität, IS f.; eine Gleichheitsaussage sei "kein Abbild, keine Aufnahme oder Wiedergabe, keine Wiederholung eines Gegenstandes oder eines gegenständlichen Verhältnisses", sondern eine "nur im Denken selbst begründete Beziehung zwischen seinen Inhalten". 2S Auch hierzu Windelband, Gleichheit und Identität, 4 ff. 26 Auf die konstitutive Rolle der Gleichheitsvorstellung bei der Entstehung der abendländischen Philosophie, Mathematik und Naturbetrachtung sei hier im Vorblick verwiesen. Dazu unten S. 31 f. 27 Vgl. insbesondere Albert Menne, Identität, Gleichheit, Ähnlichkeit, in: Ratio 4, 1962, 4S ff. und 50 ff.; außerdem Windelband, Gleichheit und Identität, 4, 15 ff. und Adalbert Podlech, Gleichheitssatz, 31 ff. 2 Dann
18
1. Einleitung
Aussage über die verglichenen Dinge oder Personen. "Gleichheit" ist immer nur Gleichheit in einer bestimmten Hinsicht. Diese Hinsicht ist das tertium comparationis des Vergleichens, der Maßstab, an dem die Übereinstimmung gemessen wird. Die genaue Festlegung dieses Vergleichsmaßstabes ist entscheidend für den Charakter und die Überzeugungskraft einer Gleichheitsaussage; das gilt nicht zuletzt für den politisch-sozialen Bereich28 • Wenn eine Gleichheitsaussage stets nur partiell und in einer konkreten Hinsicht gilt, dann folgt daraus auch, daß die verglichenen Dinge in anderen Merkmalen verschieden und ungleich sind. Es kann also schon vom Begriff und seinem Gehalt her keine "völlige" Gleichheit geben. Die Rede davon wäre in sich widersprüchlich 29; "völlige Gleichheit" würde nicht mehr Gleichheit, sondern Identität bedeuten. Gleichheit kann auch nie "absolut" sein; denn sie ist eine Gleichheit von Verschiedenem. Sie bleibt konstitutiv bezogen auf die Ungleichheit des Verglichenen3o• Schließlich ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, in welchem Maße subjektive Faktoren bei Gleichheitsaussagen eine Rolle spielen. Wenn von allen Objekten und Personen, die untereinander gleich sein sollen, zugleich auch deren Ungleichheit konstatiert werden kann, dann hängt es allein vom Standpunkt des Beobachters ab, in welcher Hinsicht Gleichheit und Ungleichheit gelten soll. Die Auswahl des vergleichsentscheidenden Merkmals ist Sache des urteilenden Subjekts, das entscheiden muß, welches Merkmal es als tertium comparationis einer Gleichheitsaussage für wesentlich hält3 l . Insofern kann es stets auch Differenzen und Auseinandersetzungen darüber geben, ob bestimmte Personen und Objekte als gleich betrachtet werden sollen oder nicht. Der in seinen Grundstrukturen hier skizzierte Sinngehalt des allgemeinen Gleichheitsbegriffs ist gültig für alle seine Anwendungsgebiete. Auch innerhalb des gesellschaftlichen Lebens hat sich keine Sonderbedeutung des Begriffs herausgebildet; der Sinnzusammenhang zwischen Alltagssprache und politischer Sprache ist erhalten geblieben. Mit dem Bisherigen sind damit bereits wichtige Grundbedingungen für die Verwendung des Gleichheitsbegriffs im gesellschaftlichen Bereich genannt. 28 Vgl. Konrad Hesse, Gleichheitsgrundsatz, 172 f. und eingehend Hans Nef. Gleichht>it und Gerechtigkeit, 6 ff. und 10 ff. Außerdem sei auf die umrass~·nJ" ZU~llll1Cllbldlung und Diskussion von Maßstäben zur Bestimmung politischer Ungleichheit verwiesen, die Alker und Russett (Anm. 19) vorgelegt haben. 29 Viele sozialphilosophische Erörterungen über die Berechtigung und Möglichkeit absoluter Gleichheit, wie sie z. B. John Rees, Soziale Gleichheit, 123 ff., entwickelt, würden sich bei der Beachtung solch definitorisch·logischer Grundstrukturen erübrigen. 30 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 6. Aufl., Stuttgart 1963, 126, definiert: "Gleich· heit ist immer nur Abstraktion von gegebener Ungleichheit unter einem bestimmten Ge· sichtspunkt". Vgl. auch Windelband, Gleichheit und Identität, 8: "Gleichheit ist ein Verhältnis, worin Verschiedenes zueinander steht". Eingehend auch Nef, Gleichheit und Gerechtigkeit, 3 ff., 18 ff., 24 ff. 31 Vgl. hierzu vor allem Nef, Gleichheit und Gerechtigkeit, 24 ff., aber auch Hesse, Gleichheitsgrundsatz, 173.
1.2. Der Gleichheitsbegriff
19
Noch mehr als in anderen Wirklichkeitsbereichen herrscht innerhalb der menschlichen Gesellschaft eine durchgängige Verschiedenheit. Ungleichheit ist hier das von Natur und Geschichte her Vorgegebene 32 • Eine Gleichheit muß stets erst gesucht, bewußt hergestellt und deklariert werden. Sie bedeutet hier in besonderem Maße Abstraktion'von gegebener Ungleichheit und individueller Vielfalt. Die Diskrepanz zwischen dem deklaratorischen Charakter einer Gleichheitsaussage und der von Ungleichheiten geprägten Wirklichkeit ist im sozialen Bereich demnach besonders groß, sachnotwendig und unvermeidlich. Die gesellschaftliche Wirklichkeit wird nicht nur von den naturgegebenen Verschiedenheiten unter den Menschen geprägt, sondern zusätzlich von den Differenzierungen innerhalb der Gesellschaft und von der Vielfalt des geschichtlichen Wandels. Von daher treten Gleichheitsaussagen hier in besonderem Maße als Anspruch gegenüber einer entgegenstehenden Wirklichkeit auf und haben einen betont postulativen Charakter33• Je umfassender und summarischer sie formuliert werden, desto größer ist dieser Anspruch und um so naheliegender der Verdacht, beim Gleichheitspostulat handle es sich um eine jener propagandistischen "Leerformeln" der politischen Sprache34• Von daher ist betont festzuhalten: Eine mögliche Gleichheit unter Menschen hat stets partiellen Charakter und bleibt auf eine konkrete soziale Situation bezogen3s • Aus der Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit erklärt sich auch der forensische Charakter gesellschaftspolitischer Gleichheitsaussagen. Der Sachzusammenhang mit Rechtsverhältnissen ist für sie konstitutiv. Auch Rechtsaussagen beinhalten einen Anspruch an die gesellschaftliche Wirklichkeit; sie sind keine Abschilderung gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern treten diesen als ein Sollen gegenüber36• Da die Positionen und Besitzstände innerhalb einer Gesellschaft weitgehend in der Form von Rechten definiert sind, wird sich auch das Vergleichen solcher Positionen in der Abwägung von Rechten darstellen. Gesellschaftliche und politische Gleichheit zeigt sich in einer Gleichheit an Rechten und Rechtspositionen. Der Zusammenhang von Gleichheit und Recht besteht noch in einem anderen, grundlegenden Sinne. Ein vorurteilsloses Verglei~hen und Abwägen ist die Voraussetzung einer jeden Rechtsfindung. Dabei sollte eine gleichmäßige Be32 Vgl. etwa Nef. Gleichheit und Gerechtigkeit. 40 ff. oder Dahrendorf. Ursprung der Ungleichheit, 6 ff. 33 Von daher erscheint es fragwürdig, den Gebrauch des Gleichheitsbegriffs generell in eine "utopistisch-anarchistische" und eine "staatsimmanente" Richtung zu unterteilen (so Pawelka. Gleichheit. Sp. 1085 f.). 34 Vgl. Ernst Topitsch, Ober Leerformeln, in: ders. Hg., Probleme der Wissenschaftstheorie, Festschrift Victor Kraft, Wien 1960. 233 ff., auch ders .• Menschenrechte. 3 f. 3S Vgl. Leibholz, Gleichheit, 27 f. und Podlech, Gleichheitssatz. 83 ff. 36 Zu diesem grundlegenden Zusammenhang etwa Radbruch (Anm. 30), 174 ff. und Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Berlin 1969, 292 ff. 2*
20
1. Einleitung
rucksichtigung der Personen und Rechtspositionen oberste Maxime sein: das Prinzip der Gleichheit gilt von jeher als Inbegriff von Gerechtigkeit. Hinter dieser Grundformel steht in erster Linie das Prinzip der Gleichbehandlung: daß die Personen, die zu derselben Kategorie gehören (d. h. in bestimmter Hinsicht gleich sind), auch rechtlich gleich zu behandeln sind. Das allgemeine Rechtsprinzip der Gleichheit beinhaltet demnach ein grundsätzliches Willkürverbot als Kriterium der Gerechtigkeit37• Die Regel der Gleichbehandlung kann in allen Gesellschaften angewandt werden; denn mit ihr ist nicht festgelegt, welcher Wertmaßstab bei der Rechtsfindung gelten so1l38. Als das formale Kriterium der Gerechtigkeit ist sie überall dort gültig, wo sich der Rechtsgedanke als Ordnungsprinzip durchgesetzt hat. Inwieweit jedoch Gleichheitskriterien auch den Wertmaßstab, der einem Rechtssystem zugrunde liegt, bestimmen, ist von den jeweiligen Machtverhältnissen einer Gesellschaft abhängig. Die Entwicklung. Anwendung und Ausdehnung solcher Gleichheitskriterien machen die spannungsreiche Geschichte des Gleichheitsprinzipes aus. Nicht zuletzt von dieser konstitutiven Bedeutung der Gleichheitsvorstellung als sozialem Rechtsprinzip her kann die gesellschaftliche Anwendung des Gleichheitsbegriffs in zwei Richtungen gehen: Der Gleichheitsbegriff dient zunächst als ein Ordnungs- und Identifizierungsbegriff in allen gesellschaftlichen Systemen. Von daher kann er jedoch auch zum Leitbegriff für den Anspruch auf eine soziale Veränderung werden, - in der Regel als Forderung einer minderberechtigten Gruppe nach Rechtsangleichung an eine höhere Gesellschaftsschicht. ..Gleichheit" wird dann in emanzipatorischer Absicht3 9 verwandt, und von dieser Funktion sind bisher die größten geschichtlichen Wirkungen des Begriffs ausgegangen.
1.3. Fragestellungen und Hypothesen Für eine historische Analyse des modernen Gleichheitsproblems ist es demnach lohnend, einen Ansatz vom Gleichheitsbegriff her zu wählen. Es hat sich gezeigt, daß eine Gleichheitsfrage nicht objektiv von sich aus besteht, sondern abhängig ist von denen, die sie unter bestimmten geschichtlichen Umständen als Problem begrifflich formulieren und innerhalb der Gesellschaft zur Geltung bringen. Das geschieht stets in sprachlichen Formen, und allein über de37 Vgl. Nef, Gleichheit und Gerechtigkeit, 69 ff.; Berlin, Equality, 302 ff., vor allem jedoch die grundlegenden rechtsphilosophischen Erörterungen von Chaim Perelman, Gerechtigkeit,16 ff., 22 ff., 55 ff. und John Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 31 f., 121 ff., u. ö. 38 Vgl. besonders Perelman, Gerechtigkeit, 73 ff. und ders., Ega!ite et valeur, in: Egalite, vol. I, 319- 326; speziell für die deutsche Rechtsentwicklung im 20. Jahrhundert Leibholz, Gleichheit, 17 ff. 39 Zur emanzipatbrischen Funktion insbesondere Podlech, Gleichheitssatz, 179 ff.
1.3. Fragestellungen und Hypothesen
21
ren schriftliche Dokumentierung werden Gleichheitsvorstellungen und Gleichheitsprobleme früherer Gesellschaft für uns faßbar. Mit dem Vorhaben einer historischen Analyse der Gleichheitsbegrifflichkeit verfolgt diese Untersuchung von daher eine sprach- und begriffsgeschichtliche Fragestellung. Dabei hat man von einer doppelten Funktion der Sprache im gesellschaftlichen Bereich auszugehen: Sie bringt einerseits soziale Mentalitäten und Wirklichkeitsstrukturen zum Ausdruck und trägt andererseits als Medium gesellschaftlicher Kommunikation selbst zur Meinungsbildung und zur Gestaltung sozialer Verhältnisse bei4O • Das gilt in besonderem Maße für den Gleichheitsbegriff...Gleichheit" zählt zu den besonderen Leitbegriffen gesellschaftlicher Bewegungen und hat zugleich einen Bedeutungsgehalt, durch den allgemeine soziale Vermittlungsprobleme zum Ausdruck kommen. Durch eine historische Analyse der politischen Sprache und ihrer leitenden Begriffe zu einer kritischen Aufklärung über Gesellschaften und deren Selbstverständnis beizutragen, wird heute vielfach gefordert41 • In der vorliegenden Arbeit soll der soziale und politische Gleichheitsbegriff in diesem Sinne untersucht werden. Die Fragestellung, die der Untersuchung zugrunde liegt, lautet: Welche Rolle haben die Gleichheitsfrage und deren Tradition, speziell aber der Leitbegriff .. Gleichheit", im Zusammenhang der Modemisierung europäischer Gesellschaften gespielt? Bei der Verfolgung dieser Fragestellung ist von der besonderen reflexiven 'Struktur des modemen Gleichheitsproblems auszugehen: Das Problem hat erst durch seine begriffliche und theoretische Ausprägung in der frühen Neuzeit eine zentrale Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung in Europa bekommen. Es ist nicht vor dem Begriff, sondern mit ihm zugleich entstanden. Erst damit begann auch dessen besondere. Rolle als handlungsleitende politische Parole und verfassungsrechtlicher Leitbegriff. In der vorliegenden Untersuchung wird demzufolge nicht das Sachproblem von Gleichheit und Ungleichheit in modemen Gesellschaften behandelt. Dieses allgemeine Problem der gesellschaftlichen Stratifikation ist eine Aufgabe sozialwissenschaftlicher Forschung, die nicht nur für modeme Gesellschaften relevant ist. Deren Ergebnisse werden hier vorausgesetzt. Sie bilden den Hintergrund und strukturellen Rahmen der Begriffsanalysen. Die folgende Untersuchung ist demgegenüber ausschließlich auf die politische Sprache und Theorie ausgerichtet. Diese werden verstanden als der begriffliche Niederschlag von Verhaltensweisen, denen bestimmte gesellschaftliche Strukturen und Interessen zugrundeliegen. 40 Vgl. Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Peter Christian Ludz Hg., Soziologie und Sozialgeschichte, Opladen 1972, 124 f.: ,,Ein Begriff ist nicht nur Indikator der von ihm erfaßten Zusammenhänge, er ist auch deren Faktor." Zu diesem Zusammenhang auch unten S.27 und Anm. 56. 41 Vgl. zuletzt Karl D. Bracher. Schlüsselwörter in der Geschichte, Düsseldorl 1978. 96ff.
22
1. Einleitung
Ausgehend von den allgemeinen Problemstellungen der gesellschaftlichen Entwicklung konzentriert sich diese Untersuchung damit auf ganz bestimmte Bereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit: die soziale Theoriebildung, die Gesetzgebung und Rechtsauslegung, auf Literatur und Publizistik und damit auf den gesamten Bereich der gesellschaftlichen Meinungsbildung und Auseinandersetzung. Bevor dieser Untersuch~ngsbereich und seine Methodik genauer umrissen werden, sollen in Form von Thesen die konzeptionellen Voraussetzungen zusammenfassend genannt werden, von denen hier ausgegangen wird: 1. Es besteht ein grundlegender Unterschied zwischen dem sozialwissenschaftlichen Basisproblem der Schichtung, Positions- und Machtverteilung in einer Gesellschaft und der Reaktion auf diese Verhältnisse in Form von Gleichheitstheorien, Gleichheitsbegriffen und Gleichheitspostulaten. 2. Es ist davon auszugehen, daß die Vorstellung der Gleichheit in der Geschichte des sozialen Rechtsdenkens eine Grundformel für Gerechtigkeit, für ein gerechtes Verhältnis unter rechtsfähigen Partnern darstellt und als solche in allen Epochen und Gesellschaftsformen wirksam ist. 3. Die fundamentale Bedeutung dieser Rechtsformel der Gleichheit ist nur zu verstehen auf dem Hintergrund der vielfachen Ungleichheit, die für eine jede Gesellschaft konstitutiv ist und den Ausgl:\ngspunkt aller Gleichheitsfragen darstellt. 4. Von daher ist als die wichtigste soziale Funktion des Gleichheitsbegriffs seine emanzipatorische Verwendung zu verfolgen. Nicht ohne Grund steht er innerhalb der politischen Theorie in einem engen Begriindungszusammenhang mit dem Rechtsprinzip der Freiheit und der Verfassungsform der Demokratie42 • 5. Die Entwicklung des modernen Gleichheitsbegriffs ist einzuordnen in den tiefgreifenden Wandlungsprozeß des politischen Denkens, der sich in der Epoche der modernen bürgerlichen Revolution (1770-1850) vollzogen hat. Die bis dahin gültige, auf die Antike zurückgehende Begriffstradition des politischen Denkens kommt in dieser "Sattelzeit" an ihr Ende bzw. wird revolutionär umgeformt43 • Von daher ist speziell danach zu fragen, inwieweit das Gleichheitsprinzip als Symptom bzw. als leitendes Prinzip im Zusammenhang der Modernisierung nachgewiesen werden kann.
42 Zur allgemeinen Orientierung über den Zusammenhang von Gleichheit und Freiheit in der Tradition des politischen Denkens vgl. den begriffsgeschichtlichen Abriß von Christoph Dipper u. a., Freiheit, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, 425-542, speziell 531 ff.; dazu die sozialphilosophischen Überlegungen bei Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, 223 ff., und bei Berlin und Wollheim Equality. Zum Verhältnis Gleichheit - Demokratie auch Christian Meier u. a., Demokratie, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. I, 821-829. 43 Vgl. die Explikation dieser für das Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe" maßgeblichen Arbeitsthese durch Koselleck (Anm. 23), XIV ff.
1.4. Materialien und Methoden
23
6. Im Mittelpunkt der Untersuchung soll folgende Hypothese stehen: Das Gleichheitspostulat ist das spezifische Leitprinzip des europäischen Bürgertums der Neuzeit in seiner emanzipatorisch-revolutionären Entwicklungsphase, in der es sich gegenüber der dominierenden Position des Adels durchsetzt. Kontrollierend ist jedoch zu fragen, inwieweit der Gleichheitsbegriff von jeher als leitender Emanzipationsbegriff für aufsteigende Schichten gedient hat und inwieweit er nach dem Bürgertum auch von anderen Emanzipationsbewegungen übernommen wurde. Die vorliegende Untersuchung versteht sich als ein Beitrag zur Klärung des ideologisch verwirrten Gleichheitsproblems durch die historische Analyse des Begriffs. Wegen seiner doppelten Funktion - als konkreter Rechtstitel wie solziales Rechtspostulat - wird es besonders darauf ankommen, zwischen dem Anspruch auf Gleichheit und dessen Einlösung kritisch zu unterscheiden, also zwischen postulierter "Gleichheit" und konkreter "Gleichberechtigung". 1.4. Materialien und Methoden Die skizzierte Fragestellung ist auf einen sozialen Wirklichkeits bereich ausgerichtet, der komplex strukturiert und sehr verschieden dokumentiert ist. Potentiell sind für diese Untersuchung alle Dokumente von Interesse, in denen eine Gleichheitsfrage in reflektierter Form zum Ausdruck kommt, ein Gleichheitsproblem auf den Begriff gebracht ist - fast ausschließlich demna~h sprachliche Äußerungen, soweit sie überliefert sind44• Der Herkunft und Form solcher Äußerungen entsprechend stammt das Untersuchungsmaterial aus unterschiedlichen Bereichen: aus der gesellschaftlichen Theoriebildung und deren Popularisierung, die weitgehend in veröffentlichten Texten greifbar ist; aus der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und der Diskussion über die Rechtsauslegung, die nur z. T. in gedruckter Form überliefert sind; schließlich aus dem gesamten Bereich der öffentlichen Meinungsbildung und politischen Auseinandersetzung, dessen Überlieferung begrenzt ist, sich aber z. B. in der gedruckten Publizistik niederschlägt. Schon aus Gründen der Verfügbarkeit mußten innerhalb dieses Materialbereiches Schwerpunkte gesetzt werden. Auch die Schwierigkeit, die für den Begriff einschlägigen Belegstellen herauszufinden, zwang dazu, viele Quellengattungen - so vor allem die ungedruckten Archivalien - weitgehend außer acht zu lassen. Bevorzugt wurden deshalb solche Quellen benutzt, die durch Indices oder Inhaltsübersichten aufbereitet sind. Von daher stehen die Texte der Theoriebildung im Vordergrund, im wesentlichen also die durch Werkausgaben zu 44 Es sollte jedoch nicht übersehen werden, daß es - in der bildenden Kunst vor allem - auch nichtsprachliche Dokumente von sozialen Gleichheitsvorstellungen gibt; etwa wenn in der spätmittelalterlichen Malerei sozial ungleiche Personen plötzlich in einem gleichen Größenmaßstab dargestellt werden. Dazu auch unten S. 68.
24
1. Einleitung
erschließenden Äußerungen von führenden Zeitgenossen, deren Rang durch ihre Schrittmacherfunktion für die öffentliche Meinungsbildung in der Regel auch gerechtfertigt ist. Nicht zuletzt unter methodischen Gesichtspunkten bleibt es jedoch ein empfindlicher Mangel, daß die mittlere und untere Ebene der Meinungsbildung und Begriffiichkeit nicht genügend berücksichtigt werden konnte. Von großer Bedeutung für die begriffsgeschichtliche Forschung sind angesichts dessen die zeitgenössischen Lexika und kommentierten Wörterbücher. Sie enthalten ausformulierte Begriffsdefinitionen, die für das lesende Publikum der Zeit weitgehend repräsentativ und infolge ihrer alphabetischen Anordnung schnell verfügbar sind 45 • Für den Bereich des Rechtslebens muß sich die Untersuchung weitgehend auf die Analyse von Verfassungen und deren Diskussion beschränken, da aus der konkreten Rechtspraxis bisher nur wenig erarbeitet ist. Schließlich sollen Dokumente von politischen und sozialen Auseinandersetzungen, soweit sie gedruckt greifbar sind, in die Untersuchung einbezogen werden. Nicht zuletzt sei betont, daß hier keine erschöpfende systematische Verarbeitung der überlieferten Dokumente geleistet werden konnte, daß es sich bei dem herangezogenen Material also mehr oder weniger um eine Auswahl und oft auch um zufällige Funde handelt. Um so wichtiger ist es, angesichts der weitgespannten Thematik sich die schon geleistete Forschungsarbeit zunutze zu machen. Eine historische Begriffsanalyse zur .. Gleichheit" in dem hier konzipierten Sinne gibt es bisher jedoch nur in Ansätzen und nur für begrenzte Zeiträume46 • Innerhalb der politischen Ideengeschichte, wo die Gleichheitsidee bei einer Geschichte der Menschenrechte47 stets mitbehandelt wird, existieren außer einer systematisch nicht befriedigenden48 nur wenige, sektoral-begrenzte Untersuchungen49 • So waren es im wesentlichen Arbeiten aus dem Bereich der Rechts-, Politik- und Sozialwissenschaft, aus denen diese Darstellung Nutzen ziehen konnte. Innerhalb der politischen Sozialwissenschaften gibt es Untersuchungen zur Gleichheitsproblematik, die zwar kaum historisch orientiert sind, aber interessante Fragestellungen für die historische Analyse erbringen50. Noch hilfreicher aber waren Arbeiten aus dem Bereich der Rechtsphilosophie und der Rechtsge-
45 Auch hier ist an das Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe" zu erinnern, in dem der Ansatz über die Wörterbücher zuerst systematisch fruchtbar gemacht wurde. Vgl. KoselIeck (Anm. 23), XIV. 46 Zu verweisen ist auf zwei Beiträge zur Geschichte der USA: Willi Paul Adams, Gleichheitspostulat, und neuerdings auch J. R Pole, Pursuit of Equality. 47 Vgl. etwa Gerhard Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, Berlin 1968. 48 Sanford A. Lakoff, Equality; dazu eingehender unten Anm. 58! 49 Etwa Gaston Jouet, L'evolution de !'idee d'egalite. 50 So etwa Tawney, Equality; Parsons, Equality and Inequality; Dahrendorf, Ursprung der Ungleichheit; Rees, SoZiale Gleichheit, oder auch T. B. Bottomore, Die sozialen Klassen in der modernen Gesellschaft, München 1967.
1.4. Materialien und Methoden
25
schichte, wo sowohl systematisch wie historisch relevante Beiträge zur Entwicklung der Gleichheitsfrage vorliegen 51 • Die hier intendierte begriffsgeschichtliche Analyse zur Entwicklung des modernen Gleichheitspostulats stellt sich - im Unterschied etwa zur großen Tradition sozialwissenschaftlicher Literatur über das Problem von Gleichheit und Ungleichheit - als ein neuer und methodisch wesentlich anderer Zugang zum Gleichheitsproblem dar, über den Rechenschaft zu geben ist. Zum Verständnis des methodischen Vorgehens ist es notwendig, von der grundlegenden Unterscheidung zwischen Wort, Begriff und Sache auszugehen 52• Das bedeutet einerseits, daß Begriffs- und Sachgeschichte des Gleichheitsproblems auseinandergehalten werden, andererseits aber zwischen Worten und Tetmini (den Bedeutungsträgern) und dem Begriff (dem Bedeutungsgehalt selbst) unterschieden wird. Faßbar aber wird ein Gleichheitsbegriff nur über die Worte, und deshalb setzt die begriffsgeschichtliche Untersuchung mit den Worten ein, weitet sich aber nicht zu einer Wortfeldforschung aus, sondern beschränkt die semasiologische Fragestellung auf die für den Begriff relevanten Aspekte. Nachdem der jeweils gültige Bedeutungsgehalt des Begriffs erhoben ist, setzt die eigentliche geschichtliche Fragestellung ein: der diachronische Vergleich der erarbeiteten Sinngehalte, der zur Erkenntnis von Entwicklungen des Begriffs und zur Definition seines temporalen und funktiona:len Charakters führt. Hier ist schließlich die Sachgeschichte des Gleichheitsproblems heranzuziehen und als umgreifender Interpretationshorizont zur Geltung zu bringen. Für das methodische Vorgehen sind über die bei einer jeden historisch-kritischen Interpretation gültigen Regeln hinaus folgende Fragestellungen wichtig: Jede Gleichheitsaussage ist zu befragen nach der Hinsicht, in der Gleichheit gelten soll (dem tertium comparationis des Vergleichs), nach dem personalen Umfang ihrer Geltung, nach ihrer ideellen Begründung und nach den Angaben zu ihrer möglichen Realisierung. Des weiteren ist zu fragen nach dem Anlaß einer Gleichheitsaussage, nach den Absichten, die mit ihr verfolgt werden und nach der theoretischen Konzeption, aus der sie zu erklären ist. Im Anschluß an die Begriffsanalyse sind die Funktionen zu bestimmen, die der Gleichheitsbegriff im Rahmen der zeitgenössischen Gesellschaft und ihrer politischen Entwicklung ausfüllt. SI Hier sind an erster Stelle die in den Bänden L'Egalite 1- V gesammelten Arbeiten des Centre de Philosophie du Droits de l'Universite Ubre de Bruxelles zu erwähnen, die seit 1971 in Brüssel erscheinen; daneben aus jüngster Zeit Perelman, Gerechtigkeit, besonders auch Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, und als ältere rechtsgeschichtliche Arbeiten Hirzel, Themis; Flückiger, Geschichte; Leibholz, Gleichheit. 52 Zur Methodendiskussion der Begriffsgeschichte Koselleck (Anm. 40), 117 ff. und ders., (Anm. 23), XIV f1 .
26
1. Einleitung
Schließlich die Entwicklungsgeschichte des Begriffs: die Frage nach neuen Momenten seiner Bedeutung und seines Gebrauchs. nach Wandlungen oder Umbrüchen seiner Entwicklung. Mit der Einordnung des Begriffs in den politischen und sozialen Entwicklungsstand der Gesellschaft. mit der Beurteilung seiner Rolle im Modernisierungsprozeß ist der umfassendste Horizont dieser Untersuchung erreicht. Es ist jedoch von Anfang an einzuräumen. daß hier. in der Zuordnung des begriffsgeschichtlichen Befundes zu den Daten der gesellschaftlichen Gliederung und Machtverteilung. ein besonderes Problem dieser Untersuchung liegt. Nicht zuletzt wegen des Mangels an verläßlichen sozialgeschichtlichen Daten für die Entwicklung zwischen 1650 und 1850 müssen dazu viele Fragen offen bleiben. Die deutsche Entwicklung im 18. und 19. Jahrhundert hätte zudem in vielen Punkten ein Eingehen auf die einzelstaatlichen Verhältnisse verlangt. Das wurde jedoch - wie durchgängig in dieser Studie - dem Ziel geopfert. einen ersten Überblick über die Problementwicklung in einem größeren Zusammenhang vorzulegen. Dabei handelt es sich weitgehend um einen Versuch. einen ersten thematischen Zugriff. dessen Weiträumigkeit mit vielen Lücken erkauft werden mußte. Der Ehrgeiz dieses Unternehmens liegt nicht in einer irgendwie vollständigen Bearbeitung bestimmter Materialien und historischer Zusammenhänge. sondern im Aufweis von Traditionen und Zäsuren innerhalb der Geschichte der modernen Gleichheitsdiskussion. Detailliertere Studien sollen damit nicht erübrigt. sondern - so steht zu hoffen - erst eröffnet werden.
Exkurs: Zur Problematik einer Begriffsgeschichte Das Unternehmen einer begriffsgeschichtlich orientierten Untersuchung stellt heute noch immer ein gewisses methodisches Wagnis dar. das zu einer allgemeineren Stellungnahme herausfordert. Eine historiographische Beachtung und Aufarbeitung der politischen Leitbegriffe und Schlagworte wird seit langem gefordert und ist in vereinzelten monographischen Ansätzen auch schon realisiert worden 53 • Doch erst in den letzten Jahren hat sich die Begriffsgeschichte als eine Forschungsrichtung mit eigenem Problem- und Methodenbewußtsein innerhalb der Geschichtswissenschaft durchgesetzt 54. Gleichwohl bleibt die Problematik dieses neuen. theoretisch und methodisch noch vielfach ungesicherten Forschungsansatzes bis heute bewußt 55. Auf drei kritische Aspekte soll hier kurz eingegangen werden. 53 Vgl. den Problemaufriß von Wilhelm Bauer aus dem Jahre 1920 (Das Schlagwort als sozialpsychische und geistesgeschichtliche Erscheinung. in: HZ 122. 189-240. insbesondere 230 ff.) und die Studie über den neuzeitlichen Revolutionsbegriff von Karl Griewank (Weimar 1955. Reprint Frankfurt 1973). S4 Dazu hat in erster Linie das Projekt des von Otto Brunner. Werner Conze und Reinhart Koselleck herausgegebenen Lexikons ..Geschichtliche Grundbegriffe" beigetragen. Zu dessen methodologischen Implikationen zuletzt Reinhard Koselleck (Anm. 40). 116 ff.
Exkurs: Zur Problematik einer Begriffsgeschichte
27
Zunächst: Es erscheint problematisch, einen Begriff und seine Geschichte aus dem geschichtlichen Wirkungszusammenhang herauszunehmen und weitgehend für sich zu untersuchen. Über die Gefah~en einer methodischen Isolierung hinaus erhebt sich hier der Verdacht, daß der Begriff als ein geschichtlicher Wirkungsfaktor verabsolutiert und in einem neohegelianischen Sinne als ein movens der Geschichte betrachtet wird. Solche Befürchtungen sind in Deutschland nur allzu berechtigt. Die Notwendigkeit einer methodisch eigenständigen begriffsgeschichtlichen Forschung ist dennoch unabweisbar. Die Zusammenhänge von Sprache und Politik, die besondere Funktion von Leitbegriffen und Parolen für die Ideol0giebildung und die Rolle von politischen Grundbegriffen als Trägern politischer Tradition sind erst in jüngster Zeit systematisch erforscht und in ihrer konstitutiven Bedeutung nachgewiesen worden 56• Der nicht nur wissenschaftliche Nutzen einer kritischen Erforschung der politischen und sozialen Funktion der Sprache und ihrer Leitbegriffe liegt gerade in unserer Zeit auf der Hand. Die Gefahren einer möglichen Verabsolutierung des Begriffs und seiner Entwicklung sind jedoch ernst zu nehmen. Ihnen kann nur durch die konsequente Einordnung der Begriffsanalyse in die politische und soziale Geschichte begegnet werden. Reinhart Koselleck vor allem hat den Nachweis geführt, daß die Begriffsgeschichte ein methodisch eigenständiger wie sachlich integrierter Bestandteil sozialgeschichtlichen Forschens sein kann 57 • In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die begriffsgeschichtliche Fragestellung von einer Problemgeschichte wie von einer Ideengeschichte abzugrenzen, in denen die Begriffsentwicklung als sich entfaltendes Kontinuum verstanden oder als Beispielfeld bestimmter wiederkehrender Grundideen interpretiert wird 58• Eine Begriffsgeschichte fragt demgegenüber ebenso nach den Diskon55 Hans Georg Gadamer, Die Begriffsgeschichte und die Sprache der Philosophie, Opladen 1971, 8 ff. Vgl. den Abriß begriffsgeschichtlicher Fragestellungen innerhalb der deutschen Philosophiegeschichte durch H. G. Meier, Begriffsgeschichte, in: Historisches Wörterbuch, Bd. 1, Darmstadt 1971, Sp. 791 ff. S6 Vgl. heute die umfassenden Problemübersichten von Walter Dieckmann, Sprache in der Politik. Einführung in tUe Pragmatik und Semantik der politischen Sprache, Heidelberg 1969, und Georg Klaus, Sprache der Politik, Berlin 1971, der seine Beobachtungen auf der Praxis marxistischer Agitation aufbaut. Dazu die Aufsätze von Hermann Lübbe, Der Streit um Worte. Sprache und Politik, in: Hans Georg Gadamer Hg., Das Problem der Sprache, München 1967,352 ff. und Wemer Bahner, Zum Charakter des Schlagwortes in Sprache und Gesellschaft, in: Beiträge zur romanischen Philologie 2, 1963, 139 ff., die beide die Notwendigkeit von ideologischer Sprache gegen das Verdikt der angelsächsischen Sprachanalytiker verteidigen. 57 Vgl. Koselleck (Anm. 40), 116 ff. 58 Ober die problemgeschichtlichen Fragestellungen des späten 19. Jahrhunderts vgl. den Überblick bei Meier (Anm. 55), Sp. 792 ff. Aus dem Bereich der Gleichheitsforschung ist ein Musterbeispiel für eine topisch-ideengeschichtliche Betrachtungsweise die Monographie von Lakoff, Equality. Lakoff erklärt: "Our purpose is to demonstrate, with the help of textual explication most of all, the recurrence of several patterns of egalitarian thought throughout modem history" (das., 6).
28
I. Einleitung
tinuitäten und Verwerfungen in der Geschichte eines Begriffs, an denen strukturelle Veränderungen nachgewiesen werden können. Ein anders gearteter Einwand gegenüber einer politischen Begriffsgeschichte kommt von seiten der analytischen Sprachtheorie: Sie hält eine solche Fragestellung für sinnlos, weil die Leitbegriffe der politischen Sprache fast durchgängig "Leerformeln" seien, die keinen eindeutig fixierbaren Gehalt haben. Aus der Wandelbarkeit ihres Inhalts in der Geschichte und aus der Vieldeutigkeit ihrer satzlogischen Aussagen wird auf die Gehaltlosigkeit und wissenschaftliche Untauglichkeit der Begriffe überhaupt geschlossen. Der Gleichheitssatz als Menschenrecht gilt hier als ein klassisches Beispiel59• Bei dieser Argumentation, die sich vordergründig sehr überzeugend darstellt und eine natürliche Reserve gegenüber Ideologien sich zunutze macht, werden jedoch konstitutive Merkmale politischer Begriffsbildung nicht gesehen. Der Gehalt und die Funktion politischer Begriffe erschließt sich in der Regel nicht schon aus einer Satzanalyse, sondern erst aus dem Zusammenhang der politischen und sozialen Umstände, in denen sie stehen. Außerdem macht es gerade die Stärke und Wirksamkeit der politisch-sozialen Leitbegriffe aus, daß sie nicht als Termini für immer festgelegt, sondern vieldeutig sind und dadurch politische Meinungsbildung und Auseinandersetzung erst ermöglichen6O• Die geschichtliche Interpretation erscheint von daher als die einzig adäquate Methode ihrer wissenschaftlichen Erschließung und kritischen Bewältigung. Die logisch-sprachanalytische Methode ist gegenüber diesen Begriffen vor allem deshalb unzulänglich, weil sie die geschichtlichen Aspekte a limine ausklammert61 • Schließlich hat sich eine Begriffsgeschichte mit dem Vorwurf auseinanderzusetzen, sie führe zu einem übertriebenen HistorismUs, zu einer "totalen Aufklärung", wo auch die Sprache der Wissenschaft nicht mehr die eigene, sondern eine quellenspezifisch-verfremdete ist62• Hinter dieser Befürchtung steht Er sieht die Entwicklung des Gleichheitsdenkens nicht in einem gesellschafilichen Zusammenhang, sondern als das Nebeneinanderherlaufen von drei verschiedenen unit ideas of equality. Diese werden von ihm als liberale, konservative und sozialistische pattern durch die Geschichte hindurch verfolgt. In daS Schema dieser drei unit ideas werden alle behandelten Personen eingeordnet (als liberale gelten z. B. Luther, die Leveller und Hooker, als Konservative Calvin, Hobbes und Rousseau!) 59 Vgl. die Argumentation von Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit, Wien 1953,23 ff., Topitsch (Anm. 34), 3 f. und T. D. WeIdon, Kritik der politischen Sprache. Vom Sinn politischer Begriffe, Neuwied 1962, 36 ff., 107 ff. u. ö. 60 Vgl. Koselleck (Anm. 40),123 f. Lübbe (Anm. 56), 352 ff., hat auf diese Sachverhalte der politischen Sprache und die kurzatmige Argumentation ihrer sprachanalytischen Kritiker eindrücklich hingewiesen. 61 Die Argumentation von Podlech, Gleichheitssatz, 37, 162 u. ö., der bei seiner Auslegung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes nur mit sprachlogischer Argumentation auskommen will und die in der Geschichte wirksam gewordenen Begriindungen ausschaltet, ist hier ein eindrückliches Beispiel: Sie bleibt bei formalen Aussagen stehen, kann den spezifischen Gehalt des neuzeitlichen Gleichheitspostulats nicht in den Blick bekommen. 62 Vgl. Otto Brunners Forderung einer "quellengerechten Begriffssprache" (ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 1968,30 f.) und die Warnung vor der IDusion einer "totalen Aufklärung" bei Gadamer (Anm. 55), 13.
1.5. Der Untersuchungsrahmen
29
die berechtigte Warnung vor falschen Erwartungen, die mit begriffsgeschichtlicher Forschung verbunden sein können: als könne man sich der Sprachwelt früherer Zeiten anpassen und damit der Anstren~g des Übersetzens und des Interpretierens enthoben sein. Damit würden jedoch die hermeneutischen Gesetze, die in jeder geschichtlichen Fragestellung wirksam sind, verkannt. Hans Georg Gadamer hat in diesem Zusammenhang auf die "Sprachvergessenheit" hingewiesen, der wir unterliegen, auf die Prägung durch unsere Zeit und ihre Verstehenshorizonte, an denen jede historische Aufklärung ihre Grenze findet 63 • Dem bleibt auch eine noch so historisch-exakte Begriffsgeschichte unterworfen. Sie trägt jedoch dazu bei, sich diese Barrieren bewußt zu machen. Wenn sie ihrer sachbedingten und methodischen Probleme Herr wird, erfüllt die begriffsgeschichtliche Forschung eine doppelte Aufgabe: Sie trägt durch historisch-kritische Analysen zur Aufklärung über unsere politische Sprache und deren leitende Begriffe bei und sie dient der politischen Geschichte und der Sozialgeschichte sowohl als Interpretationshilfe wie als eigenständiger Indikator geschichtlicher Strukturveränderungen, die sich in Begriffswandlungen niederschlagen.
1.5. Der Untersuchung.rahmen Von ihrer leitenden Problemstellung her befaßt sich diese Untersuchung mit dem Zeitalter der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Mitteleuropa, die auch den Durchbruch der Modernisierung mit sich brachte, also mit dem Zeitraum von 1640-1870. Damit ist zugleich die Frage nach der regionalen Eingrenzung des Untersuchungsbereichs gestellt. Hier ist dem Rechnung zu tragen, daß man es einerseits mit gesamteuropäischen Entwicklungen zu tun hat (sowohl in der politischen Theoriebildung wie im Bereich der ökonomischen Entwicklung), andererseits mit spezifischen regionalen Verhältnissen. Die Untersuchung wird sich von daher, indem sie die Herausbildung des naturrechtlich fundierten modemen Gleichheitsbegriffs analysiert, mit den führenden Ländern der europäischen Kernzone der Modernisierung zu befassen haben (Kap. 3.1.-3.3.). ' Sie konzentriert sich dann jedoch in ihrer Analyse der konkreten Durchsetzung des modemen Gleichheitspostulats auf die Entwicklung in Deutschland (Kap. 3.5. und Kap. 4.2.-4.5.). Dem dient bereits ein Vorblick auf die führende Stellung Deutschlands im Zeitalter der Reformation (Kap. 2.3.), sodann die Einbettung, der deutschen Begriffsentwicklung in den gesamteuropäischen Rahmen des 17. und 18. Jahrhunderts, schließlich die spezielle Entwicklung bis zur Revolution von 1848/49 und den sich daran anschließenden Durchbruch der Industrialisierung. 63
Ebda.
30
1. Einleitung
In dieserVerzögerungsphase des Modernisierungsprozesses in Deutschland gingen entscheidende Impulse für die politische Theoriebildung von außerdeutschen Entwicklungsländern aus, deren Begriffsentwicklung durch sum~ marisehe Einblendungen in die Darstellung einbezogen werden soll: England im 17., die nordamerikanischen Staaten im 18. Jahrhundert (Kap. 3.4.) ur;td das revolutionäre Frankreich (Kap. 4.1.). Die Untersuchung geht in zwei Richtungen über die Geschichte des klassischen bürgerlichen Gleichheitspostulats hinaus: Sie fragt nach dessen Herkunft aus der alteuropäischen Tradition seit der griechischen Antike (Kap. 2.1. und 2.2.) und sie untersucht dessen Fortwirken in späteren emanzipatorischen Bewegungen, indem sie nach der Rolle fragt, die das moderne Gleichheitspostulat innerhalb der Arbeiterbewegung und der Frauenbewegung in Deutschland gespielt hat (Kap. 5 und 6). Die vorliegende Untersuchung zur Entwicklung des modernen Gleichheitsbegriffs zielt auf eine historische Aufklärung über den Gehalt und die Funktionen eines Zentralbegriffs unseres politischen Denkens. Ein solches Unternehmen hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn es gelingt, die kontroversen, agitatorischen und polemischen Obertöne und Hintergründe des Begriffs, den potentiell ideologischen Charakter seiner Verwendung stets kritisch in Rechnung zu stellen und zu hinterfragen. Die Untersuchung wird in der Überzeugung unternommen, daß nach einer langen Zeit kontroverser Auseinandersetzungen die Voraussetzungen für eine Verständigung über den Charakter des modernen Gleichheitspostulats heute gegeben sind.
2. Die europäische Tradition bis zum ausgehenden Mittelalter 2.1. Antike 2.1.1. Griechenland
Das Problem der sozialen Gleichheit stellt sich bereits für die Geschichte frühester menschlicher Gemeinschaften und wird in diesem Zusammenhang von jeher mit besonderer Intensität diskutiert!. Diese, auf den Gleichheitsbegriff ausgerichtete Untersuchung hat demgegenüber mit dem antiken Griechenland einzusetzen. Hier werden soziale Gleichheitsvorstellungen als Element politischer Argumentation zuerst historisch faßbar, und die Tradition des neuzeitlich-bürgerlichen Gleichheitsbegriffs geht bis auf diese Wurzeln zurück. Gleichheitsvorstellungen spielten im Leben der antiken Polisgesellschaften bereits eine solch dominierende Rolle 2, daß Griechenland zudem als das klassische Land des Gleichheitsdenkens gelten kann. Seine Begriffsentwicklung hat exemplarischen Charakter. Der Prozeß der Herausbildung einer Gleichheitsbegrifflichkeit konnte sich in Griechenland genuin und unbeeinfIußt von fremden Traditionsbildungen vollziehen. Am Anfang stand, wie allgemein in frühen Kulturen, das konkrete Gleichsetzen einzelner Gegenstände, Naturphänomene und Personen, dem die Vorstellung von einem magischen Kraftzusammenhang zwischen dem Gleichartigen und Ähnlichen zugrunde lag. Im Totemismus kommt sie am sinnfälligsten zum Ausdruck3• Diese Entwicklungsstufe wurde in Griechenland - und das ist die epochemachende Leistung seiner Naturphilosophie - seit dem 7. Jahrhundert in allen Bereichen des Denkens überwunden. Man abstrahierte nun von den individuellen Erscheinungen und wurde sich der Gleichheit als eines allgemeinen Prinzipes bewußt, das man begrifflich zum Ausdruck brach! Zur jüngsten Diskussion vgl. den Sammelband von Klaus Eder Hg., Klassengesellschaften. Aussagen zur gesellschaftlichen Gleichheit in frühen menschlichen Gesellschaften sind ein geradezu konstitutives Element der sozialphilosophischen und sozialwissenschaftlichen Theoriebildung. Aufgrund ihres meist hypothetischen Charakters sind sie jedoch oft mehr für diese Theorien als für jene Gesellschaften aussagekräftig. 2 Man vergleiche als Indikator allein den Bereich der Sprachbildung: von den beiden griechischen Wortstämmen mit der Grundbedeutung ..gleich", homoiD- (Gleichheit an Gestalt, Form und Eigenschaften, auch Ähnlichkeit) und iso- (quantitative Gleichheit der Größe, Zahl, Stärke des Besitzes usw.), verzeichnet das einschlägige Lexikon 425 bzw.245, insgesamt also etwa 670 Komposita (Wilhelm Pape, Griechisch-deutsches Wörterbuch, Graz 1954). 3 Vgl. Karl W. Müller, Gleiches, IX Cf. und die dort angegebenen Belege und Literaturstellen.
32
2. Die europäische Tradition bis zum ausgehenden Mittelalter
te: in der Philosophie durch die Erhebung der Gleichheit zum obersten Prinzip des Kosmos. seiner Ordnung und Gerechtigkeit4 ; in der Medizin durch die Vorstellung vom Gleichgewicht der Körperkräfte 5 ; schließlich in der Mathematik. wo Euklid am Ende des 4. Jahrhunderts als Ertrag der bisherigen Entwicklung sc;:inen .. Elementen" eine Reihe von Gleichheits-Axiomen voranstellte 6 • Auch die Verwendung von politischen und sozialen Gleichheitsvorstellungen. die uns hier ausschließlich beschäftigen sollen. zeigt in Griechenland eine charakteristische Entwicklung: In einem Zeitraum von zwei Jahrhunderten lassen sich von einem ständischen über einen demokratischen bis hin zu einem sozialistisch anmutenden Begriff die wichtigsten Stufen einer Demokratisierungsbewegung im Spiegel von Gleichheitsbegnffen verfolgen. Diese Entwicklung wurde von einer Grundanschauung getragen. die bis heute für unser Rechtsdenken konstitutiv geblieben ist: der Überzeugung. daß allein das Verhältnis der Gleichheit den Inbegriff eines gerechten Verhältnisses zwischen rechtsfähigen Menschen darstellt. daß somit .. Gleichheit" als das Kriterium von Recht und Gerechtigkeit zu gelten hat. In der Gleichheit der Waagschalen als Symbol der Gerechtigkeit kommt diese Grundanschauung zum Ausdruck. ebenso etwa in Philos Sentenz .. Die Gleichheit ist die Mutter der Gerechtigkeit". Aristoteles hat diesen Sachverhalt in dem Satz festgehalten: ..Wenn nun das Ungerechte Ungleichheit bedeutet. so bedeutet das Gerechte Gleichheit (to dikaion ison); das ist eine allgemein verbreitete Annahme. für die kein Beweis notwendig ist"7. In dieser Verbindung von Gleichheit und Gerechtigkeit liegt der Schlüssel für die zentrale Rolle. die die Gleichheitsbegrifflichkeit als Leitmotiv und ideologischer Promotor emanzipatorischer Auseinandersetzungen gespielt hat 8• 4
Bereits in dem Spruch des Anaximander (Diels. Fragmente der Vorsokratiker. 12 B
1) sind die Aspekte der Ordnung (des Gleichgewichts) und der Gerechtigkeit enthahen.
Vgl. vor allem Parmenides' Gedicht (Diels 28 B 8.42 ff.): ..Sich selbst nämlich ist es (das Seiende) von allen Seiten her gleich. gleichmäßig herrscht es innerhalb seiner Grenzen"; ebenso Empedokles (Diels 31 B 28) und dessen Aussage. daß Gleiches nur durch Gleiches erkannt werden kann (31 B 108 f.). Zu dieser zentralen Anschauungsform des griechischen Gleichheitsdenkens. dem homoion - homoio - Prinzip umfassend Müller. Gleiches. passim. Vgl. außerdem Rudolf Hirzel. Themis. 309 ff. und Gregory Vlastos. Equality. der auf den Zusammenhang mit der gleichzeitigen Durchsetzung der Demokratie in den Polisgesellschaften hinweist (das .• 174 f.). 5 Vgl. Alkmaion (Diels 24 B 4). Dazu Vlastos. Equality. 156 ff. und 1.. MacKinney bei Mau und Schmidt Hgg.• Isomonia, 79 ff. 6 Sie beginnen mit dem bekannten Satz: "Was in demselben gleich ist. ist auch einander gleich" (vgl. auch die Axiome Nr. 2. 7 und 10). Vgl. Kurt von Fritz. Gleichheit. 7 ff. Zur Gleichheitslehre in der griechischen Mathematik seit Thales das .• 68 ff. 7 Philo. De spec.legibus IV. 231. und Aristoteles. Eth. Nicom. 1131 a 10. Vgl. die Definitionen von Gerechtigkeit in Top. 143 a 16 und Eth. Nicom 1129 a 30! Weitere einschlägige Belege bei Hirzel, Themis. 228 f. Die ältere. im Schicksalsglauben wurzelnde Rechtsauffassung der Griechen schildert eingehend Felix F1ückiger. Geschichte. 9-78. Zur Herkunft und zur Durchsetzung des Gleichheitsgedankens im griechischen Rechtsleben fehlt es an schlüssigen Nachweisen. Vgl. etwa Victor Ehrenberg. Rechtsidee. 124 f. 8 Zur Grundstruktur dieses Topos bereits öben S. 19 f.
2.1. Antike
33
In den ersten Zeugnissen eines sozialen Begriffsgebrauchs, wie er in den Epen Homers greifbar wird, findet man eine Vielzahl von Gleichheits-Komposita, die im konkreten Vergleich von Personen Verwendung fanden. Es fehlte zunächst ein Allgemeinbegriff,' der über den individuell-konkreten Anwendungsfall hinausging. Die Verschiedenheit der menschlichen Verhältnisse bestimmte die soziale Vorstellungswelt9• Das entsprach der ständisch-hierarchischen Gesellschaftsstruktur der frühen griechischen Stadtstaaten, in denen ein Kreis von Adelsfamilien, basierend auf dem KriegsführungsmonopoI. dem Grundbesitz und kultischen Vorrechten, die politische Herrschaft innehatte. In dieser sozialen Umwelt war der Begriff homoios, der eine Artgleichheit zum Ausdruck bringt, besonders verbreitet. Homoioi (die von gleicher (adliger) Abstammung) war ein Charakterisierungs- und Identifizierungsbegriff für die obere, bevorrechtete Gesellschaftsschicht. "Heiraten aus dem Kreis der Homoioi" galt als Richtlinie für standesgemäße Eheschließungen. In der Literatur findet sich der Begriff vor allem als Bezeichnung für die adlige Führungsschicht in Sparta, die Spartiaten. Seine Funktion ist eindeutig: Er diente der sozialen Abgrenzung nach unten und zur Wahrung des sozialen Status lo • Die weitere Entwicklung in den Polisstaaten stand jedoch bezeichnenderweise nicht im Zeichen des deskriptiven homoios-Begriffs, sondern war geprägt von der isos-Begrifflichkeit, die eine quantitative Gleichheit der größeren Zahl, des Vermögens und der Macht zum Ausdruck bringt, damit unmittelbar auf soziale Unterschiede hinweist und das Einfordern von Recht und Besitz ermöglicht ll • Isomoiria (Gleichheit der Verteilung, speziell des Bodens) ist der am frühesten bezeugte Gleichheitsbegriff dieser Art, - ein Hinweis darauf, daß Auseinandersetzungen über Besitzanteile - etwa an der Kriegsbeute, dem Weideland oder dem Ackerboden - in frühen Gesellschaften vorherrschten 12. Der Begriff isomoiria wurde in seiner Bedeutung für die politischen Verfassungskämpfe jedoch bald von dem Kompositum isonomia (Gleichberechtigung) .übertroffen, das als allgemeine Forderung nach neuen Rechten zum Leitbegriff der Verfassungsentwicklung im 5. Jahrhundert wurde l3 • Vgl. Hirzel, Themis, 234 ff.; Müller, Gleiches, XIV. Alle anderen Bevölkenmgsgruppen wurden unter dem Sammelbegriff hypomeiones (die übrigen) zusammengefaßt. Wichtigste Belegstelle bleibt Aristoteles, Polit. 1308 a .l1. Die Zugehörigkeit zu den homoioi beinhaltete ein Anrecht auf die Privilegien der Schicht, in ~p~ insbesondere die Teilnahme ~ der Ag~ge.Erziehung. Vgl. Otto Schulthess, Ho· mOlOl, m: RE Bd. 8, Sp. 2252 ff. und Müller, GleIches, 164 f. 11 Eine befriedigende semasiologische Abgrenzung der Wortfelder iso- und homoiofehlt. VgL Ansätze dazu bei Hirzel, Themis, 251 f., 421 ff. und Müller, Gleiches, xm f. 12 Der früheste Nachweis für Solon, also um 600 v. ehr., bei Aristoteles, Athen. Polit. 12, 3. 13 Die heute zugunsten von iso nomos als widerlegt zu betrachtende Ableitung des Be· griffs aus isa nemein (gleiches Verteilen) durch Hirzel (Themis, 242 f.) u. a hat den Vorzug. daß sie die auf das Verteilen ausgerichtete ursprüngliche Form sozialer Gleichheitsforderungen zum Ausdruck bringt. 9
10
3 Dann
34
2. Die europäische Tradition bis zum ausgehenden Mittelalter
In Athen und den ionischen Städten hatten seit dem 7. Jahrhundert neue Entwicklungen wie die wachsende Bedeutung von Handel und Handwerk. der Übergang zur Phalanx-Taktik in der Kriegsführung (wo es nicht mehr auf den adligen Reiter. sondern eine Vielzahl gleichgerichteter Kämpfer ankam). die Verschuldung und Versklavung von Bürgern dazu geführt. daß die Herrschaftspositionen der Adelsfamilien fragwürdig wurden. so daß Forderungen nach Abbau der Privilegien und der zunehmenden Ungleichheit unter den Vollbürgern erhoben wurden. Ihnen wurde zuerst in der Solonischen Reformgesetzgebung Rechnung getragen. ohne daß dafür schon ein fester Gleichheitsbegriff überliefert istI". Sie wurden dann im Verlaufe des 6. Jahrhunderts sowohl von Alleinherrschern (Tyrannen) wie deren aristokratischen Opponenten aufgegriffen. um die verarmten Bürgerschichten als Anhänger zu gewinnen. Hier. im Zusammenhang des Widerstandes gegen die Peisistratos-Tyrannis und der Reform des Kleisthenes. um 500 v. ehr. in Athen. wird der Begriff isonomia zuerst faßbar ls. Er enthielt als konkrete Forderung zunächst die Gleichheit aller Bürger gegenüber dem Gesetz. also die V~rbindlichkeit der Gesetze gegen alle Polisbürger l6• Bald jedoch - und darauf lag im 5. Jahrhundert der Akzent - wurde die Isonomieforderung ausgedehnt auf die Gleichberechtigung der Vollbürger in der Mitwirkung am politischen Entscheidungsprozeß der Polis. auf das Rede- und Abstimmungsrecht in der Vollversammlung. Von besonderer Bedeutung muß in Athen das Recht auf freie Rede in der Agora gewesen sein; denn hier kam es zu eigenen Begriffsbildungen: isegoria (Gleichheit in der Agora). isopsephia und isologia (Gleichheit im Stimm- und Rederecht) 17. Nachdem durch die Reformen des Kleisthenes. insbesondere durch die Einbeziehung der Theten in den Kreis der Wählbaren. die Isonomie der Vollbür14 Vgl. jedoch Aristoteles. Polit. Athen. 12.4. über Solon: ..Ich habe gleiche Rechtssätze sowohl für den Geringen wie für den Edlen niedergeschrieben und ein übereinstimme~~ des R~cht für jeden Einzelnen." Zum Gleichheitsproblem bei Solon insbesondere G. Vlastos. Solonian Justice. in: Classical Philology 41. 1946. S. 73 ff.• der die Ambivalenz von SoIons Wirksamkeit herausstellt: seine Progressivität hinsichtlich der rechtlich-politischen Gleichstellung der Bürger und seinen Traditionalismus im Hinblick auf ökonomische Forderungen. . 1S Vgl. das sogenannte Tyrannen-Skolion (Diehl. Bd. 2. B Scol. Anon. 10). das die Tat von Hermodios und Aristogeiton besingt: ..... als sie dem Tyrannen töteten und die Athener zu Gleichberechtigten machten." Aus der zahlreichen und vielfach kontroversen literatur zum Isonomie-Begriff sind hervorzuheben: V. Ehrenberg. Isonomia (mit der älteren literatur). der die aristokratische Entstehung des Begriffs vertritt; Vlastos. Isonomia, 337 ff. (Betonung der demokratischen Wurzel des Begriffs gegen Ehrenberg) und ders .• Isonomia politike. 2 ff. (mit einer zusammenfassenden Übersicht über den Forschungsstand); J. Mau und E. G. Schmidt Hg.• Isonomia; schließlich Christian Meier. Entstehung. 36 ff. und ders .• Demokratie. 821 ff. Zu den sozialen und politischen Hintergründen T. Tarkiainen. Demokratie. 50 ff.• 279 ff.• 309 ff. und speziell zur Epoche des Kleisthenes Martin Ostwald. Nomos and the Beginnings of the Athenian Democracy. Oxford 1969.96 ff. 16 Vgl. Demosthenes 24. 59 und weitere Belege bei Hirzel. Themis. 240 ff. - Zu den beiden Aspekten der Isonomie besonders Vlastos. Isonomia, 356 ff. 17 Zu den politisch akzentuierten Gleichheits-Komposita Hirzel. Themis. 265 ff.
2.1. Antike
35
ger in Athen realisiert war, hielt man an dieser Errungenschaft fest. Sie prägte das politische Leben in einem solchen Maße, daß der Begriff bald über seinen konkreten Bedeutungsinhalt hinauswuchs und pars pro toto zu einem Verfassungsbegriff wurde. "Für die Herrschaft der Mehrheit wurde aber zuerst als schönster Name isonomia gebraucht", schreibt Herodot und fügt hinzu: "Außerdem ist sie von allen den Fehlern frei, die die Alleinherrschaft aufweist." Isonomie stand also als Verfassungsform zunächst im Gegensatz zu jeder Form von Alleinherrschaft (Monarchie, Tyrannis). "Er legte die Alleinherrschaft nieder und schuf in Milet Gleichheit vor dem Gesetz", heißt es von Aristagoras aus Milet l8 • lsonomia wurde zunehmend als eine Konkretisierung des alten, seit Solon bezeugten Verfassungs begriffs eunomia verstanden: Die Gleichberechtigung der Bürger galt nun als der Inbegriff einer guten, gesetzlich geordneten Verfassung. Der Isonomie-Begriff wurde damit zum weitertreibenden Prinzip der politischen Entwicklung, die im Verlaufe des 5. Jahrhunderts in Athen und den ihm verbündeten Städten zum Ausbau einer demokratischen Verfassung führte l9 • Isonomie und Demokratie stehen zueinander also in einem engen Begründungszusammenhang: Als Verfassungsbegriff ist isonomia Vorläufer des in der Mitte des 5. Jahrhunderts aufkommenden Begriffs demokratia. Und sie bleibt zugleich deren essentieller Maßstab: Die Demokratie enthält keine über die Isonomie hinausführenden Merkmale. Die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz und ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen Entscheidungsprozeß sind somit die von ihrer Entstehung her konstitutiven Elemente einer Demokratie. In der von Thukydides überlieferten Leichenrede des Perikles kommt dieser Zusammenhang deutlich zum Ausdruck: "Weil das Regiment bei uns nicht in der Hand Weniger, sondern der Gesamtheit liegt, nennt man unsere Verfassung demokratisch. Denn wie in den Angelegenheiten der Einzelnen gleiches Recht für alle gilt, so gibt auch in Bezug auf Geltung und Ansehen in Staat und Gemeinde nur persönliche Tüchtigkeit einen Vorzug. nicht aber Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse, und selbst Armut hindert keinen, der etwas kann, zu Amt und Würden zu gelangen 20."
Im Hinblick auf die weitere Entwicklung der politischen Theorie ist beachtenswert, daß in diesen Texten des 5. Jahrhunderts neben der Gleichheit auch die Freiheit bereits als Merkmal einer demokratischen Verfassung genannt wird. In der Rede des Maiandrios von' Samos heißt es bei Herodot: "Mir hat es 18 Herodot 3, 80 und 5, 37. Die Frage, ob und wieweit Isonomie auch einen Gegensatz zu Oligarchie bedeutet, ist umstritten (vgl. Ehrenberg, Isonomia, 294 f., Meier, Entstehung. 40 ff. und Ostwald (Anm. 15), 136 ff.), immerhin findet sich bei Thukydides (3, 62,3) der Ausdruck oligarchia isonomos. 19 Zum Zusammenhang eunomia - isonomia - demokratia insbesondere Meier, Entstehung. 15 ff. und Tarkiainen, Demokratie, 106 ff., 154 ff. Hans Schäfers Unterscheidung von Isonomie und (radikaler) Demokratie erscheint heute als zeitbedingte Oberzeichnung (ders., Staatsform und Politik, Leipzig 1932, S. 115 f.). 20 Thukydides 2, 37. Vgl. auch Demosthenes 21, 67.
3'
36
2. Die europäische Tradition bis zum ausgehenden Mittelalter
nicht gefallen, daß sich Polykrates als Herr aufspielte üb~r Männer, die doch seinesgleichen waren ... Darum übergebe ich jetzt die Gewalt der Gesamtheit und verkünde euch Gleichheit vor dem Gesetz (isonomia) und gebe euch die Freiheit (eleutheria) :ruruck21." Auf dem Höhepunkt der demokratischen Verfassungs entwicklung in Athen, in den Jahren um 420 v. Chr., hatte der Gleichheitsbegriff eine Geltung22 , die wohl nur mit der im Frankreich des 18. Jahrhunderts zu vergleichen ist. Hier begegnet er zuerst als Substantiv, wird personifiziert und hymnisch gefeiert so bei Euripides - als eine Göttin des Ausgleichs, des sozialen Zusammenhalts und des demokratischen Maßes 23 • Neben gesellschaftlichen haben ökonomische Aspekte bei den Auseinandersetzungen um politische Gleichberechtigung stets eine besondere Rolle gespielt. Die schrittweise Einführung einer Vergütung für öffentliche Tätigkeiten, die sich auf die Beamten, die Geschworenen in den Dikasterien und schließlich sogar auf die Agorateilnahme und den Theaterbesuch aller Bürger erstreckte, ist dafür ebenso beispielhaft wie das Losverfahren bei der jährlichen Besetzung der Ämter 24 • Die griechische Gleichheitsdiskussion ist infolgedessen nicht bei den Institutionen einer politischen Gleichberechtigung stehengeblieben; sie führte im ausgehenden 5. Jahrhundert zu neuen, weitergehenden Forderungen. Ein Beispiel dafür ist Phaleas von Chalkedon, von dem Aristoteles berichtet, daß er um 400 v. Chr. mit den Forderungen nach einer gleichmäßigen Verteilung des Bodens, nach gleicher Erziehung für alle Bürger und nachkollektiv betriebenem Handwerk an die Öffentlichkeit trat; er erblickte in der Ungleichheit des Besitzes die Ursache aller politischen Unruhen 2s . Phaleas' Äußerungen stellen die radikalste Konsequenz des demokratischen Gleichheitsdenkens im 5. Jahrhundert dar. Sie enthalten den Versuch, die politische Gleichberechtigung in der Polis auch auf die sozioökonomischen Verhältnisse auszudehnen. Diese sozialistisch anmutenden Gleichheitsvorstellungen26 gingen weit über die Realitäten der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse hin21 Herodot 3, 142. VgJ. Plutarch, Dion 37, 2 und die Aufzählung aller wichtigen Merkmale einer Demokratie bei Euripides, Hiket. 403-408 und 429-441. 22 Charakteristisch sind in diesem Zusammenhang die zahlreichen damals entstandenen Namensbildungen mit dem Kompositum iso- wie Isokrates, Isodike, Isodoros, Isonomos. 23 Vgl. Euripides, Phoeniss. 535-45. 24 Vgl. Tarkiainen, Demokratie, 135 ff., 143 ff. Diese Institutionen standen bald im Zentrum der Demokratie-Kritik: Vgl. Plato, Gorgias 515 E und Aristoteles, Polit. 1317 bill. u.ö. 2S VgJ. Aristoteles, Polit. 1266-67. Dazu W. Nestle, Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1942,493 f. 26 Vgl. deren diesbezügliche Inanspruchnahme durch Robert v. Pöhlmann, Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, Bd. 2, München l'}Ü, 6 1I., dessen Interpretation jedoch durch eine sachlich nicht gerechtfertigte Übertragung moderner Theorien auf die antiken Gegebenheiten beeinträchtigt wird.
37
2.1. Antike
aus; sie wurden in ihrer Zeit als utopisch betrachtet und ironisiert, wofür die Ekklesiazusen des Aristophanes ein schönes Beispiel bieten 27• Bei diesem Überblick über die progressive Entwicklung der politischen Gleichheitsforderungen im antiken Griechenland sollte jedoch deren soziale Begrenzung nicht übersehen werden. Die besprochenen Gleichheitsrechte beziehen sich stets nur auf den Bereich einer Polis und innerhalb der Polis nur auf einen bestimmten Teil der Bevölkerung. die Vollbürger (Politen). Ausgeschlossen von der politischen Mitsprache waren die Sklaven und die zugewanderten Freien (Metöken), die Schichten also, auf denen die Produktionsarbeit in Handel und Landwirtschaft im wesentlichen ruhtel8. Aber auch innerhalb der Schicht der Politen hatten arm und reich nicht gleiche politische Möglichkeiten.Die politischen Ämter z.B. waren weiterhin in der Hand der durch Ausbildung und Mußestellung begünstigten Adligen, und die Reden in der Agora hielten trotz Isegorie die dafür geschulten Redner. Die Grenzen demokratischer Gleichheiten im antiken Griechenland sind damit deutlich. Die Isonomie und andere Gleichheitsrechte beinhalteten stets nur eine Gleichheit für maximal 20 Prozent der Bevölkerung29• Die erste uns bekannte Gleichheitskonzeption, die bewußt über den Rahmen einer Polis und deren Politenschicht hinausging. wurde von den Sophisten entwickelt, die inAthen überwiegend Ausländer und deshalb von den Gleichheitsrechten ausgeschlossen waren. Deren Konzeption ist von besonderem Interesse, weil hier erste Formen eines naturrechtlichen Gleichheitsbegriffes vorliegen. Bei den Sophisten wird der Begriff homoios wieder aufgegriffen und in einen neuen Zusammenhang gestellt: in die für ihre Lehre zentrale Gegenüberstellung von nomos und physis, den Gesetzen, die von den Menschen selbst festgelegt werden und auf dem Recht der Stärkeren beruhen, und den unveränderlichen Gesetzen der Natur, die für alle in gleicher Weise gelten. Der Nomos, der das öffentliche Leben der Polis bestimmt, wird hier entscheidend abgewertet; ihm gegenüber wird ein Naturbegriff (physis) eingeführt, der die Grundlage für eine neue Art von Gleichheit abgibt. Davon spricht Hippias in einer Rede, die Platon überliefert: ..Ich denke ..., daß wir Verwandte, Befreundete und Mitbürger von Natur sind, nicht durch das Gesetz; denn das Gleiche ist dem 27 Vgl. das Praxagora-Programm der landaufteilung bei Aristophanes, Ekklesiazusen 590-94 und 597-600, und die Kommentierung der Phaleas-Forderungen durch Aristoteles, Polit. 1266 a 38 ff. 28 Der Begriff isote1eia, der verdienten Metöken als Ehrentitel verliehen wirlt ein bezeichnendes licht auf diese sozialen Unterschiede: Er beinhaltet Gleichstellung mit den Politen in den Abgaben und im Wehrdienst, jedoch nicht im politischen Mitspracherecht! Zur Situation der Sklaven vgl. M. I. Fmley, Slavery in Classical Antiquity, London 1960,32 ff. und den Überblick über die Forschungslage bei H. Heinen, Sklaverei, in: SDG 5,878 ff. 29 In Athen sollen um 430 v. Chr. ca 42 000 Politen, 70000 Metöken und über 100 000 Sklaven gelebt haben. Zum tatsächlichen Ausmaß an Gleichberechtigung und Chancengleichheit in der athenischen Demokratie vgl. Tarkiainen, Demokratie, 40 ff. u. ö., auch Meier, Entstehung, 37 ff. und M. I. Finley, The Ancient Economy, London 1973,35 ff. u. ö.
wur;n.,
38
2. Die europäische Tradition bis zum ausgehenden Mittelalter
Gleichen von Natur verwandt; das Gesetz aber. welches ein Tyrann der Menschen ist. zwingt vieles gegen die Natur." Die Natur wird hier als Fundament einer Gleichheit geltend gemacht. die in der verwandtschaftlichen Zugehörigkeit der Menschen zur selben natürlichen Gattung begriindet ist. Mit dieser homoiotes wird erstmals die These aufgestellt. daß die Menschen trotz ihrer unübersehbaren individuellen und sozialen Unterschiede unter dem Gesichtspunkt einer übergreifenden Naturbetrachtung untereinander gleich sind30• Es ist also nicht die empirische Beobachtung des von Natur her Gegebenen. sondern die denkerische Abstraktion davon. die zum Erkennen der natürlichen Gleichheit der Menschen führt. Dieser Begriff von Gleichheit. in dem man die Vorfonn des naturrechtlichen erkennt. setzt ein besonderes Abstraktionsvermögen voraus. Er war zunächst ein Begriff der Philosophen und Gebildeten und wurde als solcher später von der Stoa aufgenommen und weiterentwikkelt. Nicht zu übersehen ist der kritische Akzent gegenüber den Grundlagen der Polisdemokratie. der in diesen Anschauungen enthalten ist. Durch die sophistische Theorie werden der Nomos. das Fundament der Polisverfassung, und die auf den Nomos bezogene Isonomie als Maßstab in Frage gestellt. Zugleich werden durch die These von der natürlichen Gleichheit aller Menschen die.sozialen Klassifizierungen der Polisgesellschaft relativiert. Von zwei der wichtigsten sind uns entsprechende Schlußfolgerungen überliefert: der Satz Antiphons "Von Natur her sind wir alle in allem gleich geschaffen. sowohl Barbaren als Hellenen". der die für das griechische Selbstbewußtsein fundamentale Unterscheidung zwischen Hellenen und Barbaren in Frage stellt. und ein Spruch d~s Alkidamas. der sich auf den Unterschied zwischen freien Bürgern und Sklaven bezieht: "Frei hat der Gott alle entlassen. die Natur hat keinen zum Sklaven gemacht3 1." Obwohl solche Sätze erheblichen sozialkritischen Sprengstoff enthalten. dürfen sie in ihrer Bedeutung nicht verallgemeinert werden. Es istrticht bekannt. daß die Sophisten aus ihrem Gleichheitsbegriff neue politische oder soziale Forderungen für die in der Polis benachteiligten Gruppen abgeleitet haben. Der Satz von der natürlichen Gleichheit diente ihnen im Rahmen der politischen Ethik vielmehr als eine relativierende Folie. um das von ihnen proklamierte Recht des Stärkeren zu sozialem Aufstieg zu Iegitimieren32; Die Bedeutung der Gleichheitskonzeptionen des antiken Griechenland für die weitere europäische Traditionsbildung basiert weitgehend auf den Schriften von Plato und Aristoteles. Ihre besondere Rolle beruht darin. daß sie die 30 Plato. Protagoras 337 C. Vgl. zum Zusammenhang besonders Flückiger. Geschichte. 86 ff.• im übrigen Nestle (Anm. 25), 375 ff. und F. Heinimann. Nomos und Physis. Basel 1945. 110 ff. 31 Antiphon, Fr. B 44, Col. 2 und Alkidamas, Fr. 4 (aus den Scholien zu Aristoteles, Rhetorica I, 13; 1373 b 18). 32 Dazu Nestle (Anm. 25), 335 ff. und Flückiger, Geschichte, 108 ff.
2.1. Antike
39
bisherige Begriffsentwicklung theoretisch zusammengefaßt. systematisiert und überliefert haben. zum anderen aber in deren fundamentaler Kritik. Der Gleichheitsbegriff wird bei Plato und Aristoteles erstmals systematisch in den Rahmen einer politischen Verfassungslehre eingeordnet. Die Gleichheit der Polisbürger gegenüber Gesetz und Rechtsprechung. deren aktive Teilnahme am politischen Entscheidungsprozeß und der Zugang zu den öffentlichen Ämtern. sind bei beiden konstitutive Merkmale einer demokratischen Staatsform. Sie unterscheidet sich damit sowohl von der Monarchie (Tyrannis) wie von der Aristokratie (Oligarchie) ... Das sind die gemeinsamen Eigenschaften aller Demokratien: Aus der Gerechtigkeit. die als demokratisch gilt. nämlich daß quantitativ alle das gleiche haben. entspringt eben jene Verfassung. die am meisten demokratisch und volkstümlich zu sein scheint. Die Gleichheit besteht darin. daß Arme und Reiche in gleicher Weise regieren. daß nicht einzelne allein entscheiden. sondern alle gleichmäßig nach ihrer Zahl. So. meint man. sei für die Verfassung die Gleichheit und die Freiheit garantiert33." Diese Zuordnung von Gleichheit und Demokratie ist ein grundlegender Topos politischen Denkens geblieben. Wie auch immer das Urteil über die Demokratie als Verfassungsform lautet. Kriterium ist stets die Bewertung der politischen Gleichberechtigung. Neben dem Begriff der Gleichheit gilt der der Freiheit heute als Kennzeichen der demokratischen Verfassungsform. Auch für die Verankerung dieses Begriffspaares in der politischen Verfassungslehre waren die platonisch-aristotelischen Schriften grundlegend. Eine Zuordnung beider Begriffe war seit der Einführung der Isonomie. also seit dem 6. Jahrhundert. im politischen Leben Griechenlands geläufig. Aristoteles gab dieser Verbindung nun eine zusammenhängende Begründung: ..Grundlage der demokratischen Staatsform ist die Freiheit. Zur Freiheit gehört aber erstens. daß man abwechselnd regiert und regiert wird. Denn die demokratische Gerechtigkeit besteht darin. daß man nicht der Würde. sondern der Zahl nach die Gleichheit walten läßt; und wo diese Gerechtigkeit herrscht. da muß die Menge Herr sein; und was der Mehrzahl recht scheint. das muß das Gültige und das Gerechte sein. Man sagt nämlich. es sei gerecht. daß jeder Bürger das Gleiche habe. So sind denn in den Demokratien die Armen mächtiger als die Reichen ... Ein anderes Zeichen der Demokratie ist. daß man leben kann. wie man will. Sie sagen. dies eben sei die Leistung der Demokratie; denn nicht zu leben. wie man wolle. sei charakteristisch für Sklaven ... Auch dies trägt also zur Freiheit im Sinne der Gleichheit bei34." Die antike Definition der politischen Freiheit ist an dem Gegensatz zum Sklaven-Dasein orientiert; Freiheit bedeutet Unabhängigkeit von fremder 33 Aristoteles. Pollt. 1318 al ff.; vgl. den Zusammenhang 1317 a 40 und bei Plato z. B. Pollt. 557 A. 34 .Aristoteles. Pollt. 1317 a 40 ff. Vgl. 1291 b 30 ff. und 1310 a 30. dazu bei Plato Pollt. 563 B und aus der neueren litatur insbesondere Vlastos. Isonomia politike. 22 ff. und Meier. Demokratie. 832.
40
2. Die europäische Tradition bis zum ausgehenden Mittelalter
Herrschaft und Willkür. Eine solche Freiheit aber erfordert als Grundlage eine politische Gleichberechtigung. Aristoteles spricht deshalb von einer ..Freiheit im Sinne der Gleichheit": Die politische Gleichberechtigung ist notwendige Voraussetzung der als Unabhängigkeit verstandenen demokratischen Freiheit. Damit ist der bis heute gültige innere Zusammenhang dieser politischen Zentralbegriffe umrissen 35 • Plato und Aristoteles waren nicht nur die Theoretiker des demokratischen Gleichheitsbegriffs, sondern auch dessen wirksamste Kritiker. Seit den Jahren des Peloponnesischen Krieges läßt sich in Athen eine zunehmende Kritik an den demokratischen Verfassungs institutionen nachweisen, die in erster Linie von den begüterten und gebildeten Schichten getragen wurde. Hier spielte Plato eine wichtige Rolle. Angesichts der konstitutiven Bedeutung der Gleichberechtigungsforderung für das Selbstverständnis der attischen Demokratie war es folgerichtig. daß sich seine Kritik auf den Gleichheitsbegriff konzentrierte 36• Sein zentraler Einwand ist die Befürchtung, daß die gesellschaftliche Bedeutungder Wohlhabenden und Gebildeten in einer auf Mehrheitsentscheidung und Gleichberechtigung basierenden Verfassung nicht zur Geltung kommen kann; denn sie können durch die Masse der armen und demagogisch beeinflußbaren Bürger majorisiert werden. Um der demokratischen Entwicklungstendenz seiner Zeit entgegenzusteuern, entwickelte Plato die Lehre von zwei verschiedenen Gleichheitsbegriffen: ..Es gibt zwei Gleichheiten, die zwar mit demselben Namen bezeichnet werden, in der Tat aber in vielen Hinsichten einander fast entgegengesetzt sind ... Die eine ist die auf Maß, Gewicht und Zahl begründete ... aber die wahrhafteste und beste Gleichheit vermag nicht mehr mit Leichtigkeit jeder zu erkennen. Denn sie ist die Scheidung des Zeus, und den Menschen steht sie nur in· geringem Maße zu Gebot, bewirkt aber alles.. Gute. Dem Überlegenen nämlich teilt sie mehr, dem Schwächeren weniger zu und gibt so jedem der beiden Angemessenes im Verhältnis zu seiner Natur37 ." Aristoteles hat diese Unterscheidung aufgegriffen, sachlich präzisiert und mit den bis heute gebräuchlichen Benennungen "arithmetische Gleichheit" (isotes arithmetike) und "geometrische Gleichheit" (isotes geornetrike) versehen 38 • Diese Differenzierung entspricht derjenigen zwischen einem quantitativen und einem qualitativen Gleichheitsverständnis, die auch dem Nebeneinander der griechischen Wortstämme isos- und hornoios- zugrunde liegt. Die arithmetische Vgl. bereits S. 35 und die Ausführungen S. 136 und 156. Zur Diskussion über den Charakter von Platos politischer Theorie vgl. Reinhard Maurer, Platons Staat und die Demokratie, Basel 1970, 21 ff. Zur attischen Demokratiekritik die instruktive Abhandlung von A. H. N. Jones, Athenian Democracy, Oxford 1957, 41 ff., 45 ff.; außerdem HineI, Themis, 274 ff. 37 Nomoi VI, 757. Vgl. Maurer (Anm. 36), 76 ff. 38 Vgl. den Zusammenhang Eth. Nicom. 1131 a 22 bis 1131 b 33, dazu 1134 a 26 und Polit. 1301 b 28 ff.