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German Pages 294 [295] Year 2013
Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Die vorliegende Studie zielt auf Virtuosität im Spiel mit der hier erarbeiteten Klaviatur der Imaginationen. Sie ermöglicht und trainiert, Modelle religiöser Entwicklung ästhetisch zu durchdenken und verhärtete Vorstellungen zu relativieren. Das Schlusskapitel erweist die Potentiale solcher Virtuosität anhand der Herausforderungen des »generationenverbindenden Abendmahls«.
Konstanze Evangelia Kemnitzer
Dieses Buch wendet sich einem der großen Themen der Menschheit zu: dem irdischen Dasein als strukturierter Lebensspanne. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie der christliche Glaube sich selbst in seiner Verwobenheit mit dem Lebenslauf zu verstehen vermag. Mit Hilfe aktueller BildaktForschung werden wissenschaftliche Theoriemodelle religiöser Entwicklung mit alltagspraktischen und historischen Bildwelten innovativ vernetzt.
ISBN 978-3-374-03210-5
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783374 032105
EUR 38,00 [D]
Konstanze Evangelia Kemnitzer
GlaubenslebenslaufImaginationen Eine theologische Untersuchung über Vorstellungen vom Glauben im Wandel der Lebensalter
Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Konstanze Kemnitzer
GlaubenslebenslaufImaginationen Eine theologische Untersuchung über Vorstellungen vom Glauben im Wandel der Lebensalter
EVANGELISCHE VERLAGS ANSTALT Leipzig
Konstanze Evangelia Kemnitzer, Dr. habil., Jahrgang 1975, ist Pfarrerin der ELKB. Sie studierte in Neuendettelsau, Tübingen und München. Nach dem Vikariat in Untersteinach bei Kulmbach promovierte sie bei Prof. Dr. Michael Schibilsky über die Aktion »Brot für die Welt« und war Pfarrerin z.A. an St. Markus in München. Nach dem frühen Tod des Doktorvaters übernahm Prof. Dr. Klaus Raschzok die Betreuung der Studie. Diese wurde 2008 unter dem Titel »Der ferne Nächste« veröffentlicht. Seit 2007 ist Kemnitzer Assistentin am Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau. Sie ist zertifizierte Bibliodramaleiterin, verheiratet und Mutter von zwei Töchtern. Die vorliegende Arbeit ist ihre Habilitationsschrift.
Vielen Dank für die Druckkostenzuschüsse der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und der Augustana-Hochschulstiftung!
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2013 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig Printed in Germany · H 7623 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt. Cover: Zacharias Bähring, Leipzig Satz: Konstanze Kemnitzer, Neuendettelsau Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen ISBN 978-3-374-03210-5 www.eva-leipzig.de
Vorwort Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den Letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn. Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, und ich kreise Jahrtausende lang; und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang. Rainer Maria Rilke Unter dem grossen Baume Allvaters, dessen Gipfel über alle Himmel, dessen Wurzel unter Welten und Hölle reichen: bin ich Adler auf diesem Baume? bin der Rabe, der auf seiner Schulter ihm täglich den Abendgruß der Welten zu Ohr bringt? – welch eine kleine Laubfaser des Baums mag ich seyn! kleines Komma oder Strichlein im Buche aller Welten! Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts (1774), 561.
Die vorliegende Arbeit will einen Beitrag leisten zur Wiederentdeckung theologischer Virtuosität in Blick auf eines der großen Themen der Menschheit: ihr irdisches Dasein als strukturierte Lebensspanne. Sie fokussiert dabei die Frage, wie der christliche Glaube sich selbst in seiner Verwobenheit mit dem menschlichen Lebenslauf als Ganzes und in seinen einzelnen Abschnitten zu verstehen vermag. Das vorliegende Buch legt keine neue, »einzig richtige« Vorstellung vom ›Glaubenslebenslauf‹ vor, sondern zielt auf Virtuosität im Spiel mit der Klaviatur der Imaginationen. Dies nützt in vielen Begegnungen und fördert zudem die kirchliche und diakonische Arbeit von den sensiblen Bereichen persönlicher Seelsorge und geistlicher Begleitung über Bildungsaufgaben bis hin zum weiten Feld gesellschaftlicher Diskurse (z.B. zu Altersbildern, demographischer Entwicklung). Als eine konkrete Herausforderung haben mich bei diesem Forschungsanliegen Debatten über die generationenumgreifende Abendmahlsfeier (zugespitzt: Abendmahl mit Kindern) animiert.
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Vorwort
Das Habilitationprojekt war von Anfang an immer wieder mit Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Disziplinen zu diskutieren. So danke ich herzlich den drei Mitgliedern des Fachmentorats: Prof. Dr. Christel Köhle-Hezinger (Volkskunde), Prof. Dr. Klaus Raschzok (Praktische Theologie) und Prof. Dr. Markus Buntfuß (Systematische Theologie) für ihre engagierte Begleitung und ihre wertschätzenden und weiterführenden Gutachten. Ebenso danke ich Prof. Dr. Christian Albrecht (Praktische Theologie) und Prof. Dr. Martina Kumlehn (Religionspädagogik) für ihre positiven Einschätzungen und hilfreichen Anregungen in ihren Gutachten. Prof. Dr. Klaus Raschzok bin ich überdies als Assistentin an seinem Lehrstuhl herzlich dankbar für sein stets inspirierendes Fachverständnis und seine vielfältige Förderung meines wissenschaftlichen Nachdenkens in ermutigender Anteilnahme. Außerdem danke ich Prof. Dr. em. Klaus Petzold (Religionspädagogik), Dr. habil. Ursula Pfaff (Religionspädagogik) und – u.a. im Rahmen des Doktoranden- und Habilitandenkolloquiums – apl. Prof. Dr. Andreas von Heyl (Praktische Theologie) für ihre Impulse. Meinem Ehemann Jan Kemnitzer und meiner Schwester Franziska Berger danke ich für ihr sorgfältiges und interessiertes Korrekturlesen und – gemeinsam mit meinen Eltern – für ihre vielfältige Unterstützung in der zeitintensiven Phase der Fertigstellung. Ich widme diese Arbeit meinen beiden Töchtern Klara-Sophie Franziska und Marie-Luise Claudia, die im Laufe der zurückliegenden Forschungsjahre, 2008 und 2011, das Licht der Welt erblickten und ihren ureigenen ›Glaubenslebenslauf‹ begonnen haben – wo immer er sie hinführt.
Inhalt Inhalt
Vorwort .............................................................................5! Inhalt.................................................................................7! I. Einleitung.....................................................................11! I. 1!
Das Thema in seinen Bestandteilen...................................................... 11! I. 1. 1 Glaubens-Lebenslauf ............................................................... 11! I. 1. 1. 1 Lebenslauf und Lebensalter................................................................ 11! I. 1. 1. 2 Glaube....................................................................................................... 17! I. 1. 2 Imaginationen........................................................................... 21!
I. 2!
Ziel und Anlage der Studie .................................................................... 28!
I. 3!
Theorieverständnis ................................................................................. 33!
I. 4!
Stand der Forschung ............................................................................... 40!
I. 5!
Relevanz ................................................................................................... 44!
II. Wissenschaftliche GlaubenslebenslaufImaginationen ............................................................... 47! II. 1! Eine fachgeschichtliche Analyse........................................................... 47! II. 2! Die paradigmatische Imagination wissenschaftlicher Glaubenslebenslauf-Vorstellungen ................................................. 47! II. 3! Der Ursprung der paradigmatischen Imagination und ihre Fortschreibung – exemplarische Stationen ................................... 50! II. 3. 1 Die Rousseausche Entdeckung ............................................. 50! II. 3. 2 Herders historischer Sinn für das Menschsein .................. 56! II. 3. 3 Die paradigmatische Imagination und Schleiermacher .... 64! II. 3. 4 Die pädagogische Etablierung der Analogiefigur............... 73!
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Inhalt
II. 3. 5 Religionspsychologische Empiriemodelle............................76! II. 3. 6 Werner Gruehns Stufenmodell..............................................81! II. 3. 7 Die Imagination bei Piaget und Erikson ..............................92! II. 3. 8 Modelle im Gefolge Piagets und Eriksons .........................102! II. 3. 9 Synthetisierende Beschreibungen ......................................122! II. 3. 10 Zwischen Abwehr und Verstärkung der paradigmatischen Imagination .......................................................................................125! II. 4! Das Bildpanorama der wissenschaftlichen GlaubenslebenslaufImaginationen...................................................................................141! II. 4. 1 Glaubenslebenslauf als dreistufiger Podestbau ................142! II. 4. 2 Glaubenslebenslauf als Baum..............................................143! II. 4. 3 Glaubenslebenslauf als Treppenbogen...............................145! II. 4. 4 Glaubenslebenslauf als geschichtetes Diagramm ............149! II. 4. 5 Glaubenslebenslauf als Spirale ...........................................151! II. 4. 6 Glaubenslebenslauf als korallenartiges Geäst ..................153!
III. Alltagspraktische GlaubenslebenslaufImaginationen............................................................... 155! III. 1! Geburtstag – Ritualisierte Gelegenheit für bildreiche Reflexionen155! III. 2! Internet-Geburtstagsgedichte als Gratulationsphänomen ...............162! III. 3! Die Methode der Analyse......................................................................165! III. 4! Internet-Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse .................167! III. 4. 1 Imaginationen vom Lebensalter.........................................167! III. 4. 1. 1 Für Ein- bis Zehnjährige................................................................. 167! III. 4. 1. 2 Für Zehn- bis Zwanzigjährige....................................................... 170! III. 4. 1. 3 Für Zwanzig- bis Dreißigjährige................................................... 173! III. 4. 1. 4 Für Dreißig- bis Vierzigjährige ..................................................... 175! III. 4. 1. 5 Für Vierzig- bis Fünfzigjährige..................................................... 177! III. 4. 1. 6 Für Fünzig- bis Sechzigjährige..................................................... 179! III. 4. 1. 7 Für Sechzig- bis Siebzigjährige .................................................... 181! III. 4. 1. 8 Für Siebzig bis Achtzigjährige...................................................... 184! III. 4. 1. 9 Für Achtzig- bis Neunzigjährige .................................................. 187! III. 4. 1. 10 Für Neunzig- bis Hundertjährige............................................... 189! III. 4. 1. 11 Für Überhundertjährige............................................................... 191! III. 4. 2 Interpretative Verdichtung: Matrix der Ambivalenzen ..191! III. 4. 2. 1 Zahlenfaszination und Relativität der Lebensalter................. 192! III. 4. 2. 2 Wechselnde und bleibende Bindungen ..................................... 192! III. 4. 2. 3 Vergangenes festhalten und loslassen....................................... 193! III. 4. 2. 4 Fülle und Leere ................................................................................. 194! III. 4. 2. 5 Unendliches Universum und einzigartige Person.................. 195!
Inhalt
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III. 4. 2. 6 Diesseits und Jenseits......................................................................195! III. 4. 3 Glaubenslebenslauf-Imaginationen der Gedichte ........... 196! III. 4. 3. 1 Dynamisch-linear: Kurve, Reiseweg, Puzzlespiel....................197! III. 4. 3. 2 Statisch-räumlich: Staubkorn, Kreisel, Sanduhr......................198! III. 4. 3. 3 Die Herausforderung dieses alltagspraktischen Befundes...200!
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bildwelten ........................................... 201! IV. 1! Vorbemerkung ....................................................................................... 201! IV. 2! Die Methode der mediävistik-kunsthistorisch gestützen heuristischen Interpretation .......................................................... 202! IV. 3! Die paradigmatische Imagination der vormodernen biblischtheologischen Glaubenslebenslaufmodelle .................................. 204! IV. 4! Glaubenslebenslauf-Imaginationen in vormodernen Bildwelten – Ergebnisse......................................................................................... 206! IV. 4. 1 Zugeteilte Schöpfungsordnung.......................................... 206! IV. 4. 1. 1 Auf festem Platz im starren Spiel der Elemente......................206! IV. 4. 1. 2 Ausgerichtet auf Weisheit und abhängig von Segen .............208! IV. 4. 2 Göttliche Heilsgeschichte................................................... 210! IV. 4. 3 Gnädige Erfüllung jeden Alters ......................................... 215! IV. 4. 4 Berufung der Lebensalter................................................... 218! IV. 4. 5 Generationenpilgerzug ....................................................... 222! IV. 4. 6 Kampf mit dem Teufel ........................................................ 226! IV. 4. 7 Totentanz .............................................................................. 229! IV. 4. 8 Glaubensbaum ..................................................................... 232! IV. 4. 9 Christus-Rad......................................................................... 234! IV. 4. 10 Todbeherrschter Treppenbogen ...................................... 237! IV. 5! Ertrag der heuristischen Untersuchung ............................................ 239!
V. Zusammenschau und Konsequenzen für einen virtuosen Umgang mit GlaubenslebenslaufImaginationen ..............................................................243! V. 1! Virtuos mit Glaubenslebenslauf-Imaginationen umgehen .............. 243! V. 2! Das Repertoire der Glaubenslebenslauf-Imaginationen in ihrer spezifischen Ästhetik und Anästhetik.......................................... 247! V. 2. 1 Grundlegende bildtypologische Unterscheidung ............. 247! V. 2. 2 Imagination 1: Separierende Bilder ................................... 248! V. 2. 3 Imagination 2: Individualisierende Bilder ........................ 249!
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Inhalt
V. 2. 4 Imagination 3: Fragmentierende Bilder.............................250! V. 2. 5 Imagination 4: Relativierende Bilder .................................251! V. 2. 6 Imagination 5: Zentrierende Bilder ....................................252! V. 2. 7 Imagination 6: Determinierende Bilder .............................254! V. 2. 8 Das Zusammenspiel der Modelle ........................................255! V. 3! Eine kleine Etüde:Das freie Spiel der GlaubenslebenslaufImaginationen zum generationenübergreifenden Abendmahl ..256! V. 3. 1 Intonation und Vorstellung des Themas............................256! V. 3. 2 Variation mit Imagination 1: Inszenierte Rebellion.........264! V. 3. 3 Variation mit Imagination 2: Antizipation der Ewigkeit .265! V. 3. 4 Variation mit Imagination 3: Bergendes Ritual ................266! V. 3. 5 Variation mit Imagination 4: Eucharistische Demut........267! V. 3. 6 Variation mit Imagination 5: Zentrierende Liebe .............268! V. 3. 7 Variation mit Imagination 6: Memento mori ....................268! V. 3. 8 Schlussakkord .......................................................................269! V. 4! Fazit .........................................................................................................269!
Literatur- und Quellenverzeichnis ........................271!
I. Einleitung I. Einleitung
I. 1
Das Thema in seinen Bestandteilen
I.1 Das Thema in seinen Bestandteilen
I. 1. 1
Glaubens-Lebenslauf
I. 1. 1. 1 Lebenslauf und Lebensalter
Der Mensch ist ohne die Spanne von seiner Zeugung bis zu seinem Sterben nirgends, nie und nicht. Dass er in temporärer Ausdehnung existiert, ist die schlichteste, unverzichtbare Voraussetzung seines irdischen Daseins. »Die menschliche Existenz kann unter vielen Gesichtspunkten betrachtet werden, und es gehört zu ihrem Wesen, dass sie unter keinem zu erschöpfen ist. Einer von ihnen besteht in der eigentümlichen Spannung zwischen der Selbigkeit der Person und dem Wandel ihrer näheren Bestimmungen«.1 Eine fünf Meter lange Papierbahn ist auf den Fußboden ausgerollt. Dreißig Konfirmandinnen und Konfirmanden sitzen rings herum. Mit dickem Filzstift wird ein Zeitstrahl aufgezeichnet, vom einen Ende der Papierbahn zum anderen: Geburt, Tod – und was kommt dazwischen? Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Alter – jede Phase mit eigenen Highlights: Eine Schultüte symbolisiert den Eintritt in die Grundschule, ein Schnuller wird an den Anfang und noch einmal irgendwo im Bereich zwischen zwanzigstem und vierzigsten Geburtstag aufgemalt: Kinder1
ROMANO GUARDINI, Die Lebensalter. Ihre ethische und pädagogische Bedeutung, Würzburg 101986, 9. Er setzt hinzu: »In Wahrheit sind jede Stunde, jeder Tag, jedes Jahr lebendige Phasen unseres konkreten Daseins, deren jede nur einmal kommt, da sie eine unvertauschbare Stelle in dessen Ganzem bildet. Darin, dass jede neu ist, noch nicht da war, einzig ist und für immer vergeht, liegt ja auch die Spannung des Daseins; der innerste Anreiz, es zu leben.« A.a.O.,10.
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I. Einleitung
wunsch, vorher Führerschein, ein Auto, später ein eigenes Haus, irgendwann eine Brille, gegen Ende ein Gehwagen – Zeichen zunehmender Gebrechlichkeit. Die Jugendlichen sprechen über ihre Träume aber auch über ihre Ängste, von der »Normalbiographie« abzuweichen, die entscheidenden Etappen nicht zu erreichen oder sich selbst darin nicht zu finden. Soziale Prägungen sind spürbar, z.B. wann – und ob überhaupt – mit dem Eintritt in die Berufstätigkeit gerechnet wird. Das Phänomen der menschlichen Lebensalter, ihrer Einteilung, ihres Verständnisses und ihres Zusammenhangs interessiert »mannigfach schon vom frühsten Alterthum an und wie mit Wetteifer in den Weisesten desselben und fort und fort in der Menge des Volks, in der Wissenschaft und Poesie und bildender Kunst.«2 Aber erst in der (Post-)Moderne gelten die Lebensalter als Phasen, mit deren Aufforderungsstrukturen man sich auseinandersetzen kann und muss, wenn man auf seine Weise kindlich, jung oder erwachsen sein und altern will.3 Die Soziologie unterscheidet daher für die Beschreibung des menschlichen Lebens die Begriffe »(gesellschaftlich strukturierter) Lebenslauf, die Lebensalter« und die »je individuelle Biographie«.4 Die Kategorie ›Lebenslauf‹ bezeichnet demnach einen sozial vermittelten Spannungsbogen aus typisierten ›Lebensalter‹-Bausteinen, der dem Individuum vorgegeben ist, um seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft rückblickend und vorausschauend zu entwerfen und zu kommunizieren. Unter dem Stichwort »Lebenslaufforschung« untersuchen Sozial2
WILHELM WACKERNAGEL, Die Lebensalter. Ein Beitrag zur vergleichenden Sitten- und Rechtsgeschichte, Basel 1862, 37. 3
Vgl. LOTHAR BÖHNISCH, Sozialpädagogik der Lebensalter. Eine Einführung, Weinheim/München 52008, 81. 4
A.a.O., 38ff. WOLFGANG STECK, Praktische Theologie. Horizonte der Religion – Konturen des neuzeitlichen Christentums – Strukturen der religiösen Lebenswelt, Band 2, Stuttgart 2000, 484 unterscheidet in »gesellschaftlich normierten ›Lebenszyklus‹ und … individuell konturierte(n) ›Lebensgeschichte‹. Mit dem Zeitformat des Lebenszyklus lässt sich der sinnenhaft strukturierte Verlauf des Lebens, die geordnete Abfolge von Altersstufen und aufeinander geschichteten biografischen Lebenswelten erfassen. Der gesellschaftlich institutionalisierte Lebenszyklus legt den Einzelnen auf seinen aktuellen biografischen Status und die ihm entsprechende Lebensform fest, vermittelt ihm aber gleichzeitig eine präzise Vorstellung von den zurückliegenden und den noch ausstehenden biografischen Sinnwelten und überzeugt ihn damit von der rationalen Ordnung des in verschiedene Stadien gegliederten Lebenslaufs. Umgekehrt strukturiert der Einzelne die ihm zur Verfügung stehende Lebenszeit im Rückgriff auf das gesellschaftlich standardisierte Schema des Lebenslaufs und gewinnt damit die Möglichkeit, den Ablauf des eigenen Lebens zu verstehen und zu planen.«.
I.1 Das Thema in seinen Bestandteilen
13
und Kulturwissenschaften, dass und wie Menschen ihre Lebenszeit mit diesen sozial vorfindlichen Rollenmustern gliedern und ihre persönliche Biographie und Lebensgeschichte konstruieren. Erforscht wird die Abfolge der einzelnen Phasen und deren Charakter, die Ursachen, Folgen und Erscheinungen ihrer sozialen Prägekraft im Spiegel unterschiedlicher Kohorten, Kulturen und Subkulturen etc. Denn: Bei aller persönlicher Freiheit zur Variation bleibt die Spannung von Individualisierung und sozialer Standardisierung. Die Optionen, eigene Biographie zu planen und zu verwirklichen, begrenzt der Zwang, dass die vorgegebenen Lebensalter durchwandert werden müssen. An diese ist auch der Freieste gebunden. Sie – so erläutert die (interaktionistische) Soziologie5 der generationalen Ordnung – verordnen dem Individuum bestimmte Rechte, Pflichten und Aufgaben, suggerieren ihm Bedürfnisse und trauen ihm Fähigkeiten zu. Die Angehörigen der so geschaffenen 5
»In einer interaktionistischen Sicht sozialer Welt gilt die Aufmerksamkeit den Prozessen, in denen Konstruktionen wie die Alterskategorien hervorgebracht und immer wieder neu bearbeitet werden.« Sie »gilt den Gruppen, die miteinander verhandeln, ihren Interessen und Strategien. Er gilt ebenso dem eigenen Lauf, den das Geschehen bei der Vielzahl verfolgter Absichten und gegenläufiger Bestrebungen nehmen kann, einer Karriere sozialer Auseinandersetzungen, in der dann entweder ein ›point of no return‹ erreicht wird oder Folgen eintreten, die niemand beabsichtigt oder vorhergesehen hat, in der jedenfalls der nächste Schritt ebenso sehr durch die vorangegangenen bestimmt werden kann wie durch Absichten oder unmittelbare Steuerungsversuche der Beteiligten. Das ist eine Sicht des sozialen Geschehens, wie sie in der Soziologie der Chicago-Schule unter Bezugnahme auf den philosophischen Pragmatismus von John Dewey ausgearbeitet wurde. Anselm Strauss hat in seiner vielfältigen Forschung immer auf diese Sicht zurückgegriffen und als deren Ergebnis unter anderem den Begriff der Arena geprägt. … Arenen entwickeln sich rund um Themen, die während einiger Zeit verhandelt werden. Es sind Interaktionen im Schnittbereich verschiedener sozialer Welten. … In Arenen verhandeln typischerweise nicht einzelne Individuen, sondern Repräsentanten sozialer Welten. Dabei bleibt nichts und niemand neutral, vielmehr wird alles in das Geschehen einbezogen. Arenen zeichnen sich damit durch die Eigenschaften aus, durch die sich Prozesse sozialen Ordnens überhaupt auszeichnen: durch stete Transformation, durch ein Formen und geformt werden aller Elemente, durch immer schon ablaufende Interaktionen, in die neue Themen eindringen, durch dauerndes Bearbeiten und Ausarbeiten sowie durch Kontingenzen. … Betrachtet man das generationale Arrangement in dieser Perspektive, so erscheint es … nicht als unerlässliche, sondern als mögliche Lösung. Wie das für kulturelle Lösungen stets zutrifft, wird diese aber von Sinnzuschreibungen begleitet, die es übersehen lassen, dass man es hier mit einem Produkt kollektiver Aktionen zu tun hat, dem all die Ungereimtheiten und Zufälligkeiten eigen sind, die solchen Produkten stets anhaften. Man stößt also auf die prinzipielle Variabilität des Arrangements.« DORIS BÜHLER-NIEDERBERGER, Kindheit und die Ordnung der Verhältnisse. Von der gesellschaftlichen Macht der Unschuld und dem kreativen Individuum, Weinheim 2005, 13f.
14
I. Einleitung
verschiedenen Gruppen werden innerhalb des sozialen Gefüges unterschiedlich bewertet,6 »weil sie jetzt eben so alt sind.« In der Gesellschaft wird auf diese Weise permanent Macht ausgeübt.7 Wo die sozialen Lebensalter »expliziter Begründung und Absicherung bedürfen, gewinnen sie diese aus der Anleihe bei natürlichen Gegebenheiten: dem biologischen Alter, aufgrund dessen die Individuen eingeteilt werden, und den evidenten körperlichen Merkmalen, die mit dem zählbaren Alter immerhin korrelieren.«8 ›Lebenslauf‹ und ›Biographie‹ sind einander bedingende Forschungsthemen. Die Praktische Theologie hat sich in den letzten Jahrzehnten insbesondere im Bereich der Seelsorgetheorie auf die individuelle Dimension unter den Leitworten »Lebensgeschichte« und »Biographiearbeit« konzentriert und darum bemüht, der Einmaligkeit jedes Menschen gerecht zu werden, denn »als gelebte Erzählung ist jeder von uns einzigartig.«9 So erschien spätestens seit den 1980er Jahren in der deutschsprachigen Poimenik die Sensibilisierung für das Mitteilen des eigenen Lebensweges zentral: »Im Vorgang des Erzählens geschieht Konstruktion bzw. Rekon6
Vgl. a.a.O., 12.
7
»Die von Moralisten und Sozialreformern über Jahrhunderte hinweg über verschiedene Diskurse und Interventionen angestrebte separierte Kindheit, die im Rahmen von Familie und Schule stattfinden soll, nimmt beide Gruppen, Erwachsene und Kinder, in die gesellschaftliche Pflicht: als Kinder, die Disziplin zu lernen haben und als Erwachsene, die sie zu vermitteln und damit auch zu leben und vorzuleben haben. … Das neu geordnete generationale Arrangement eröffnet der Obrigkeit und später dem Staat und seinen Instanzen neue Kontrollmöglichkeiten von großer Reichweite: Über ihre Kinder … werden vor allem die Angehörigen des kleinen Volks in ihrer erzieherischen Pflichterfüllung und das heißt auch in ihrer Lebensführung gegängelt und kontrolliert.« BÜHLER-NIEDERBERGER, Kindheit, 16. 8
A.a.O., 12. Widerstand gegen diese soziale Kategorisierung nach dem Lebensalter ist im Gegensatz zu den Zuschreibungen von Geschlechterrollen oder Rassenmerkmalen bisher kaum auszumachen. Als ein Protestsignal wird die Aufgliederung der Altersphase in sogenannte ›Junge Alte‹ und ›Alte Alte‹ diskutiert. Dieses Phänomen ist möglicherweise auch Ausdruck einer für die Kohorte der 1968er typischen Neigung zur gesellschaftlichen »Revolution«. Vgl. DIETER OTTEN, Die 50+ Studie. Wie die jungen Alten die Gesellschaft revolutionieren, Reinbek bei Hamburg 22009 und KONSTANZE KEMNITZER, Das geheimnisvolle Lächeln der Ergrauten. Zeitgenössische Altersbilder vor dem Hintergrund des biblisch-antiken Altersdeutungsmodells, in: Zeitschrift für Gerontologie und Ethik 2012/1 Mit dem Alter kommt der Psalter ? Ein Symposium zur Religiosität 66 plus, 79-84. 9
OLIVER SACKS, The Man who mistook his Wife for a Hat, London 1986, 105: »each of us constructs and lives a ›narrative‹ … this narrative is us.« Vgl. MICHAEL KLESSMANN, Seelsorge. Begleitung, Begegnung, Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 22009, 143.
I.1 Das Thema in seinen Bestandteilen
15
struktion von Lebensgeschichte oder bestimmter Teile von ihr.«10 Die Forschung erbrachte eine Fülle von Konzepten und Methoden.11 Die Perspektive der Frage nach dem Lebenslauf und den Lebensaltern will neben diesem Interesse am Individuellen die Aufmerksamkeit wieder für das Reflektieren von Typisierungen und Schablonen wecken, die das Konstruieren (und Wahrnehmen) von persönlichen Lebensgeschichten (und Glaubensgeschichten) prägen. Sie geht davon aus, dass Singuläres nur auf der Basis von Mustern beschrieben und gehört werden kann – und dass umso wichtiger ist, diese typisierenden Konstruktionsmodelle bewusst zu durchdenken. ›Lebenslauf‹ meint dabei die Dynamik der gesamten ›Lebenslaufkette‹, also das spezifische Aufeinanderfolgen der Lebensalter, nicht nur eine Liste punktueller Eckdaten (wie sie unter dem Stichwort ›tabellarischer Lebenslauf‹ bei Stellenangeboten gefordert werden).12 Er ist mit ›Lebensspanne‹, dem Leitwort der sogenannten »Life-span-Psychology«,13 zu ver10
Vgl. a.a.O., 144 und ALBRECHT GRÖZINGER, Seelsorge als Rekonstruktion von Lebensgeschichte, in: WzM 38 (1986), 178-188. 11
Vgl. KLESSMANN, Seelsorge, 145. Siehe WOLFGANG DRECHSEL, Lebensgeschichte und Lebens-Geschichten. Zugänge zur Seelsorge aus biographischer Perspektive, Gütersloh 2002, KLAUS DEPPING, Altersverwirrte Menschen seelsorgerlich begleiten, Hanno2 ver 2000, KARL-HEINZ BIERLEIN, Lebensbilanz, München 1994, HANS G. RUHE, Methoden der Biografiearbeit. Lebensspuren entdecken und verstehen, Weinheim/Basel 2003. 12
Die lebenslaufsoziologische Perspektive betont dazu: »Gesellschaften sind keine statischen, sondern prozessuale Gebilde: Sie befinden sich in einem ›Zustand‹ permanenten Wandels, weil sich ihre konstitutiven Mitgliedern nicht in Ruhe, sondern in vielfältiger und ständiger Bewegung befinden. ... Über Jahrzehnte ist infolge amtlicher Statistiken, politische Institutionen, Alltags- und Medienverständigungen ein statisches Bild von Gesellschaften und ihren sozialen Problemen gezeichnet worden.« REINHOLD SACKMANN/MATTHIAS WINGENS, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Strukturen des Lebenslaufs. Übergang – Sequenz – Verlauf, München 2001, 11-16, 11. »Lebenslauf« stehe dagegen für eine »dynamische Forschungsperspektive«, mit der die Lebenslaufforschung »den Zusammenhang von mikrosozialen Prozessen und makrostrukturellen Gesellschaftsveränderungen untersucht.« REINHOLD SACKMANN/MATTHIAS WINGENS, Theoretische Konzepte des Lebenslaufs: Übergang, Sequenz und Verlauf, in: Dies. (Hrsg.), Strukturen des Lebenslaufs. Übergang – Sequenz – Verlauf, München 2001, 17-48, 17. 13
Die Disziplin der Life-span-Psychologie hat historische Vorläufer Anfang des 19. Jahrhunderts (Tetms, Carus, Quetelet), wird aber im Sinne empirischer Forschung erst seit den 1970er Jahren in der Nachfolge von Psychologen wie Charlotte Bühler, Erik H. Erikson, G. Stanley Hall, H.L. Hollingworth und Carl G. Jung vorangebracht. In Deutschland steht dafür vor allem die sogenannte »Bonner Schule« von Hans Thomae und seiner Schülerin Ursula Lehr. Vgl. PAUL B. BALTES, Entwicklungspsychologie der
16
I. Einleitung
binden. Diese psychologische Forschungsrichtung14 geht davon aus, dass »sich ontogenetische Prozesse von der Empfängnis bis zum Tod, also über den gesamten Lebenslauf hinweg erstrecken. Ontogenese wird als lebenslanger Prozess betrachtet.«15 Die wesentlichen Grundannahmen der Lifespan-Psychologie sind ›Lebenslange Entwicklung‹16 , ›Multidirektionalität‹17 , ›Entwicklung als Gewinn und Verlust‹18 , ›Plastizität‹19 , ›Geschichtliche
Lebensspanne. Theoretische Leitsätze, in: Psychologische Rundschau 41/1990, 1-24 2. Innerhalb dieses Feldes werden die Begriffe Lebensspanne und Lebenslauf oft synonym verwendet. Als Tendenz lässt sich beobachten, dass Psychologen den Begriff Lebensspanne und Soziologen den Begriff Lebenslauf bevorzugen. Vgl. ebd. Baltes bezeichnet die Lebenslaufpsychologie als Untergebiet der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. Er versteht das Auftauchen der lebenslangen Entwicklung in der Psychologie als einen »eher verspäteten Versuch …, sich einen Aspekt der menschlichen Natur zu erschließen, der schon lange Gegenstand des kulturell überlieferten Wissens ist.« A.a.O., 3. Innerhalb der Lifespan-Psychologie sind grob zwei Ansätze zu unterschieden: »Im ersten wird lediglich der Gegenstandsbereich der Entwicklungspsychologie auf alle Altersstufen des Lebenslaufes erweitert. … Im Gegensatz dazu zielt der zweite Ansatz darauf ab, die Erforschung des gesamten Lebenslaufs in ihren entwicklungstheoretischen Implikationen zu erfassen und die Neuformulierung grundlegender Konzepte der Entwicklungspsychologie voranzubringen.« A.a.O., 1. 14
Zu den Konzeptionen der Entwicklungspsychologie vgl. insbesondere LEO MONTADA, Fragen, Konzepte, Perspektiven, in: ROLF OERTER/LEO MONTADA, Entwicklungspsychologie, Weinheim/Basel 62008, 3-48, 3-19. 15
BALTES, Entwicklungspsychologie, 2. Siehe dazu auch TONI FALTERMAIER u.a., Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters, Stuttgart 22002. 16
Lebenslange Entwicklung impliziert: Keiner Altersstufe ist in der Bestimmung, was Entwicklung ist, eine Vorrangstellung einzuräumen. In allen Phasen der Lebensspanne können kontinuierliche und innovative Prozesse auftreten. Vgl. BALTES, Entwicklungspsychologie, 4. 17
Zwischen und innerhalb verschiedener Verhaltensbereiche (z.B. Intelligenz, Emotion etc.) variiert die Richtung der Veränderungen beträchtlich. In ein und demselben Entwicklungsabschnitt und Verhaltensbereich können manche Aspekte Wachstum, andere Abbau zeigen. Vgl. ebd. 18
Entwicklung beinhaltet immer Gewinn und Verlust. Lebensspannen-Psychologie definiert Entwicklung als »jegliche (positive oder negative) Veränderung in der adaptiven Kapazität eines Organismus.« Es geht wie auch in der sozialen Lerntheorie um die direktionale Offenheit ontogenetischer Entwicklungsprozesse. Vgl. a.a.O., 8. 19
Entwicklungspsychologische Forschung fragt nach dem Ausmaß, den Möglichkeiten und Grenzen der Veränderbarkeit innerhalb einer Person in Abhängigkeit zu ihren Lebensbedingungen und -erfahrungen (Intraindividuelle Plastizität). Vgl. a.a.O., 4.
I.1 Das Thema in seinen Bestandteilen
17
Einbeugung‹20 , ›Kontextualismus‹21 und ›Multidisziplinarität‹22 . Mit diesen Impulsen der Life-span-psychology mag gelingen, der Engführung entwicklungspsychologischer Theorien innerhalb der Theologie auf »Kindheit und Jugend« (endgültig) zu entkommen und das Zusammenspiel tatsächlich aller Lebensphasen zu entdecken, nicht nur »das Alter« als Forschungsaufgabe (wie in der Religionsgerontologie).23 Die vorliegende Arbeit focussiert mit dem Begriff ›Lebenslauf‹ das Gewebe der Lebensalter als Spannungsbogen des gesamten menschlichen Daseins und seiner Entwicklung. I. 1. 1. 2 Glaube
Wie die Begriffe »gelebte Religiosität/Spiritualität/Glaube« sinnvoll (praktisch-theologisch) zu füllen und zu definieren sind, wird derzeit rege diskutiert.24 »Dispite the great volume of work that has been done, little consensus has been reached about what the terms actually mean.«25 In dieser Situation wird für die vorliegende Arbeit der Weg beschritten, »Glaube« innerhalb des Wortfeldes operational zu präzisieren:26 20
Der Verlauf der ontogenetischen Entwicklung ist von den vorherrschenden soziokulturellen Bedingungen einer geschichtlichen Ära geprägt (Kohorteneffekte). Vgl. ebd. 21
Jeder individuelle Entwicklungsverlauf resultiert aus der Wechselwirkung alters-, geschichtlich- und nicht-normativ-bedingter Einflüsse. Vgl. ebd. 22
Die Offenheit der Lebensspannen-Perspektive impliziert eine multiperspektive Sicht, weil eine »rein« psychologische Betrachtung immer nur Ausschnitte darbieten kann. Vgl. ebd. 23
Um einen Bereich herauszugreifen: Piaget gilt insbesondere im Bereich der Religionspädagogik immer noch als einschlägiger Forscher für Fragen der Entwicklung der Intelligenz. Dies ist sicherlich auch gegenwärtig zu bejahen. Allerdings ist zur Kenntnis zu nehmen, dass er impliziert, die Entwicklung der Intelligenz sei im jungen Erwachsenenalter abgeschlossen. Das ist nach neueren Forschungen, z.B. zu »postformalen Operationen«, nicht der Fall! Vgl. a.a.O., 6. 24
Vgl. EUGENE C. ROEHLKEPARTAIN, u.a., Spiritual Development in Childhood and Adolescence: Moving to the Scientific Maeinstream, in: Dies. (Hrsg.), The Handbook of Spiritual Development in Childhood and Adolescence, 2006, 1-15, 4. Die Autoren verweisen auf Hill, King, MacDonald, Marler und Hadaway, Oser, Reich, Slater, Hall und Edwards, Stifoss-Hanssen, Wuthnow, Zinnbauer u.a. 25
BRIAN J. ZINNBAUER u.a., Religion and spirituality: Unfuzzying the fuzzy, in: Journal for the Scientific Study of Religion, 36, 549-564, 549. 26
Ebenso verfährt z.B. das Handbook of Spiritual Development in Childhood and Adolescence (im deutschsprachigen Standardwerk zur Entwicklungspsychologie als »das momentan umfassendste, von international anerkannten AutorInnen verfasste Handbuch zur religiös/spirituellen Entwicklung« bezeichnet, vgl. ANTON A.
18
I. Einleitung
Wendet sich das Forschungsinteresse der Frage nach anthropologischen Entwicklungskategorien zu, stehen »Religiosität« und »Spiritualität« gegenwärtig voran, »Glaube« wird diesen derzeit eher untergeordnet. »Spiritualität« kann gar zum Oberbegriff aufsteigen, denn sie hat eine beeindruckende Karriere zurückgelegt: Anfang des 20. Jahrhunderts erst vorsichtig als »Gefühlsseite« der Religiosität von dieser religionspsychologisch unterschieden27 , konnte sie dazu avancieren, die mehr subjektiven und erfahrungsbezogenen Momente von Religion zu bezeichnen. »Spiritualität« wird heute vielfach verbunden mit Individualität, unmittelbarem, frei gewähltem Transzendenzbezug, subjektivem Bewusstsein für Übersinnliches und persönlicher Sinnerfüllung. »Religiosität« wird im Kontrast dazu beschrieben als formal strukturierte Denkwelt und identifiziert mit Institutionen, Lehre, Theologie und Ritual28 . So kann »Spiritualität« mit dem Individuum und »Religiosität« mit der Institution identifiziert werden – eine Differenzierung, die aber auch als typisch westlich kritisiert wird.29 Um das Dickicht an Herleitungen zum Spiritualitätsbegriff zu durchdringen, wird auf die beiden verschiedenen Wurzeln verwiesen: die anglo-amerikanische und die französischromanische.30 Eine relativ junge Welle von Klärungen bemüht sich, »Religiosität« und »Spiritualität« wieder zusammenzubinden und zugleich die Unterschiede zu markieren:31 Verknüpft seien beide durch ein Konzept des Heiligen (Gott, Göttlichkeit, Transzendenz, letzte Realität). »Spiritualität« sei disBUCHER/FRITZ OSER, Entwicklung von Religiosität und Spiritualität, in: ROLF OERTER/LEO MONTADA (Hrsg.), Entwicklungspsychologie, Weinheim/Basel 62008, 607624, 624): »Thus, while the perceding definition has been offered as a starting point for shaping this volumne, all authors have been encouraged to articulate their owen approach and assumptions, in hopes that the resulting diversity enriches the dialogue and understanding.« ROEHLKEPARTAIN, Spiritual Development, 6. 27
DAVID WULFF, Psychology of religion. Classic and contemporary views, New York 1997 vermutet, dass die Unterscheidung von Spiritualität als Teil religiöser Erfahrung notwendig wurde durch einen veränderten Gebrauch des Begriffs Religion: William James habe die unterschiedlichen Dimensionen innerhalb der Religion unterschieden. 2
28
Vgl. ZINNBAUER, Religion, 551.
29
Vgl. ROEHLKEPARTAIN, Spiritual Development, 5.
30
Vgl. TRAUGOTT ROSER, Spiritual care. Ethische, organisationale und spirituelle Aspekte der Krankenhausseelsorge; ein praktisch-theologischer Zugang, Stuttgart 2007, 268ff. 31
Vgl. ROEHLKEPARTAIN, Spiritual Development, 5.
I.1 Das Thema in seinen Bestandteilen
19
kursive Suche nach dem Heiligen, nach etwas, an das man sich halten kann.32 »Religiosität« suche ebenso das Heilige, kreiere aber Lehre, Glaubensinhalte und Rituale, die Gläubige binden und miteinander vereinen.33 In einem weiteren Anlauf wird neuerdings versucht, »Spiritualität« als ein Bündel menschlicher Fähigkeiten (Einsicht, Verständnis, Verbundenheit, Achtung, Ehrfurcht, Großzügigkeit etc.), das sowohl religiös wie auch areligiös erworben werden kann, zu bestimmen.34 »Spiritualität« gilt als eine universale anthropologische Entwicklungskategorie – »Religiosität« nur für einen Teil der Menschheit relevant als eine bestimmte Ausformung der Spiritualität. »Glaube« evoziert ungleich schneller als »Religiosität« und »Spiritualität« substantielle, inhaltliche Aspekte, lässt danach fragen, woran sich ein Mensch aufrichtet und verweist innerhalb der westlichen Welt auf christliche Antworten.35 Als »gelebter Glaube«36 bezeichnet er die Prägungen der christlichen Religiosität im Alltag der Individuen. Allerdings sind diese innerhalb der westlichen Industriestaaten säkularisiert und pluralisiert: Vielfältige Glaubensgestaltungsweisen vagabundieren frei innerhalb des abendländisch-christlichen Kulturkreises.37 Ein Großteil davon fragt nicht 32
Vgl. ebd. PETER C. HILL/KENNETH I. PARGAMENT, Advances in the conceptualization and measurement of religion and spirituality: Implications for physical and mental health research, American Psychologist 2003/58, 64-74, definieren Spiritualität als »a search for the sacred, a process through which people seek to discourse, hold on to and, when necessary, transform whatever they hold sacred in their lives.« 33
Vgl. ROEHLKEPARTAIN, Spiritual Development, 5. Vgl. auch WILLIAM RICHARD MILLER/CARL E. THORESEN, Spirituality, religion, and health: An emerging research field, American Psychologist 2003/58, 24-35. 34
Vgl. ROEHLKEPARTAIN, Spiritual Development, 4. Vgl. auch ULRICH BECK, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, München 1992, WADE CLARK ROOF, A generation of seekers, San Franzisco 1993, 64: Spirituality »gives expression to the being that is in us; it has to do with feelings, with the power that comes from within, with knowing our deepest selves.« 35
Vgl. insgesamt zur Auseinandersetzung HEINZ STREIB/CARSTEN GENNERICH, Jugend und Religion, München 2011, 13ff. 36
DIETRICH RÖSSLER, Die Vernunft der Religion, München 1976, 68 spricht von »gelebter Religion«. Vgl. auch VOLKER DREHSEN, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie. Aspekte der theologischen Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christlicher Religion, Bd.1, Gütersloh 1988, 73-133. 37
Zwar lassen sich Frömmigkeitstypen herausarbeiten, sie bleiben aber Idealtypen. Vgl. z.B. CHRISTOPH BOCHINGER u.a., Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion – Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur, Stuttgart 2009, 33f. Der »spirituelle Wanderer« ist ein Idealtyp, der im Zuge eines Forschungs-
20
I. Einleitung
nach seinen christlichen Konnotationen, weil »der Bestand an religiösen Interpretationen inhaltlich nicht abschließend festgelegt ist. Vielmehr kann das Subjekt prinzipiell in einem kreativ-produktiven Prozess neue religiöse Deutungsoptionen entwerfen und sich aneignen.«38 »Glaube« meint im weiteren Verlauf dieser Studie dieses menschliche Vermögen39 , Selbst-, Welt-, Zeit- und Gottesbilder zu konstruieren, das gegenwärtig innerhalb und außerhalb der Kirche(n), im Möglichkeitsraum der Religion(en), umgeben von einer spezifisch westlich, christlichsäkularisierten »kulturellen Tapete« ausgebildet wird.40 Sein Hauptmedium ist die Sprache, besonders das Erzählen und Dichten. Menschen schöpfen aus dem Zeichenvorrat ihrer Umwelt, ihrer Familie, ihrer Gesellschaft und mischen persönliche Erfahrung im sozialen, lokalen, historischen Kontext. »Glaube« ist auf diese Weise kreative individuelle Interpretation und Gestaltung des Lebens. Er modifiziert Aspekte des Raumes der religiösen Möglichkeiten, seiner Bilder, seiner Poesie und Prosa.41 Der für diese Forschungsarbeit essentielle Vorteil des Begriffs »Glaube« liegt vor allem in seiner Affinität zur historischen Dimension: Er kann projekts empirischer Sozialforschung im geographisch abgegrenzten Raum (im bayerischen Regierungsbezirk Oberfranken) im Sinne eines Fachbegriffs gebildet wurde, um die Ergebnisse über die Untersuchung evangelischer und katholischer Kirchenmitglieder zu verdichten. »Sein zentrales Kennzeichen ist ein spezifischer Umgang mit den ›spirituellen Angeboten‹, die die globale Kultur der ›Spätmoderne‹ zur Verfügung stellt. Der ›spirituelle Wanderer‹ erscheint uns als ein ›Prototyp‹ spätmoderner Religiosität.« Ebd. 38
STREIB/GENNERICH, Jugend, 14. Diese »Neuerfindung des Religiösen als Rekomposition ihrer Elemente« (HUBERT KNOBLAUCH, Populäre Religion: Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt/M. 2009, 26), die der diskursive Religionsbegriff hervorhebt, ist m.E. ein grundlegendes – nicht nur ein neuzeitliches Phänomen, weshalb es auch mit dem Begriff »Glaube« verbunden ist, so dass der wichtige Beitrag der diskursiven Betrachtung nicht aufgegeben ist, auch wenn hier von Glaube und nicht von Religiosität gesprochen wird. 39
Als menschliches Vermögen mag Glaube theologisch wiederum als Gnadengabe gehört werden. 40
Dies versteht sich vor dem Postulat, dass eine protestantismusspezifisch geprägte kulturwissenschaftliche Praktische Theologie, »will sie ein vollständiges Bild gewinnen, auch den kirchendistanziert-verselbständigten Spuren religiöser Praxis des protestantischen Christentums«, der »faktische(n) Mannigfaltigkeit der gelebten Religion« nachgehen muss. CHRISTIAN ALBRECHT, Historische Kulturwissenschaft neuzeitlicher Christentumpraxis, Tübingen 2000, 318. 41
Vgl. dazu die Definition von Religion als interpretatives Phänomen, bei JOACHIM MATTHES, Auf der Suche nach dem ›Religiösen‹. Reflexionen zu Theorie und Empirie religionssoziologischer Forschung, in: Sociologiea Internationalis, 2 (1992), 129-142 und STREIB/GENNERICH, Jugend, 14.
I.1 Das Thema in seinen Bestandteilen
21
neben der Offenheit für die weite Landschaft säkularisierter, spiritueller und religiöser Entwicklung auch organisch für eine historisch orientierte Befragung des christlichen Gedächtnisses dienen, auf die hier nicht verzichtet werden soll. Die Wortneuschöpfung ›Glaubenslebenlauf‹ bezeichnet das anthropologische Phänomen, dass sich menschliches Leben und Glauben verweben. Dass Menschen auf den kulturellen Zeichenschatz einer spezifischen Tradition zugreifen – also in diesem diskursiven Sinne ›Glaube gestalten‹ –, ist nicht zwingend. Wenn sie dies tun, dann unter der Grundbedingung des menschlichen Daseins, als zeitliche Wesen in temporärer Ausdehnung, innerhalb sozialer Vorgaben. So entstehen Vorstellungen darüber, wie Leben und Glauben sich verflechten.42 Menschen können als soziale Wesen auf diesen Bestand an – inspirierenden oder auch beengenden – Lebenslauf- bzw. Lebensalter-Vorgaben zurückgreifen, die ihnen auch für ihr Selbstverständnis als Glaubende angeboten werden. Sie erzählen mit ihnen rückblickend von ihrer spirituellen Reise oder sie kreieren mit ihnen ihr (ideales) Modell des Zusammenspiels von Glaube und Leben. Nehmen wir an, die Konfirmandinnen und Konfirmanden sollten auf dem Papier auch vermerken, wie sie sich die Dimension ihres (christlichen) Glaubens, die Gestalt ihrer indiviuell-kreativen Gabe des SichSelbstverortens in Raum und Zeit mittels kultureller-religiöser Erzählungen, in der Abfolge ihrer zukünftigen Lebensalter vorstellen. Sie könnten eine Kurve malen, die – getreu der sprichwörtlichen Idee »Mit dem Alter kommt der Psalter« – gegen Ende stark ansteigt. Vielleicht würden sie auch ihrer Hoffnung Ausdruck verleihen, dass ihr christlicher Glaube sie kontinuierlich begleitet, wie er das von früher Kindheit an getan hat. Möglich ist auch, dass einzelne erwarten, dass er sogar wächst. Auch könnte jemand behaupten, dass die Glaubenslinie von Kindesbeinen an nur immer mehr absteigend gezeichnet werden sollte. Welche Gestalt hat der Glaubenslebenslauf? – Wie auch immer die Antwort ausfällt, sie ist »imaginativ«. I. 1. 2 Imaginationen
»Imagination« ist der Schlüsselbegriff der vorliegenden Arbeit.43 Auch hier stellt sich die Herausforderung, eine Verständigung über die praktisch42
Exemplarisch: »Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindliche Anschläge. Als ich aber erwachsen ward, tat ich ab, was kindlich war.« 1.Kor 13,11. 43
Zur Geschichte des Begriffs siehe z.B. MARY WARNOCK, Imagination, London/Boston 1976, MARC JOHNSON, The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination
22
I. Einleitung
theologischen Pointe von Imagination herbeizuführen, ohne sich einerseits in den weiten philosophischen,44 psychologischen,45 psychotherapeutischen46 und kulturwissenschaftlichen47 Debatten zu verlieren und sich and Reason, Chicago/London 1987, LUCIA TRAUT, Ritualisierte Imagination. Das Fantasy-Rollenspiel »Das Schwarze Auge«, Berlin 2011. 44
Überblick zur philosophischen Auseinandersetzung zum Verständnis der Imagination und der Einbildungskraft bieten einschlägige Lexika, z.B. die Beiträge von Jochen Schulte-Sasse im Historischen Wörterbuch der Ästhetischen Grundbegriffe. Vgl. KARLHEINZ BARCK u.a. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart 2000. Weiterführend auch: WOLFGANG ISER, Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt a.M. 1993 und die Forschungen von Mersch z.B. DIETER MERSCH, Imagination, Figuralität und Kreativität. Zur Frage der Bedingungen kultureller Produktivität, in: GÜNTER ABEL (Hrsg.), Kreativität, Hamburg 2006, 344359 zum entscheidenden philosophischen Dauerthema zur Imagination seit Ficino und Pico della Mirandolla über Diderot bis zu Herder, Hegel und darüber hinaus: Die Frage des Verhältnisses zwischen Vernunft und Imagination, die entweder als schöpferische Potentia gilt oder ihre Wahrheitstauglichkeit grundsätzlich verliert. Philosophiegeschichtliche Einordnungen bietet auch MARTIN STEINHÄUSER, Imagination. Studien zu Theorie und Wirksamkeit der Vorstellungskraft in Prozessen religiöser Bildung, Berlin 2011, 35ff. 45
Exemplarisch sei verwiesen auf: PAUL W. PRUYSER, The Play of the Imagination. Toward a Psychoanalysis of Cultur, New York 1983, JOHNSON, The Body, WARNOCK, Imagination und INKA TAPPENBECK, Phantasie und Gesellschaft: zur soziologischen Relevanz der Einbildungskraft, Würzburg 1999. Kognitionspsychologische Einordnungen bietet auch STEINHÄUSER, Imagination, 38ff. 46
Z.B. JEROME L. SINGER/ KENNETH S. POPE (Hrsg.), Imaginative Verfahren in der Psychotherapie, Paderborn 1986, VERENA KAST, Imagination als Raum der Freiheit. Dialog zwischen Ich und Unterbewusstem, München 1988, LUISE REDDEMANN, Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren, Stuttgart 122001. Psychotherapeutische Einordnungen bietet auch STEINHÄUSER, Imagination, 41ff. 47
Vgl. z.B. BERND HÜPPAUF/CHRISTOPH WULF (Hrsg.), Bild und Einbildungskraft, München 2006. Die Beiträge veranschaulichen das weite Spektrum an bildtheoretisch interessierten, kulturwissenschaftlichen Disziplinen: Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft (Hert Mattenklott), Philosophie und Kunsthistorie (Georges Didi-Huberman), Kunst- und Medienwissenschaft (Dieter Mersch), Literaturwissenschaft, Philosophie, Politologie (Ludger Schwarte), Philosophie (Marie José Mondzain), Kunst- und Medienwissenschaft (Hans Belting), Sinologie (Matthias Obert), Kognitions-, Neurowissenschaft und Linguistik (David Poeppel) und Sprachtheorie, Sozialphilosophie (Clare Stroud, Günter Gebauer), Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft (Vivan Sobchack), allgemeine und vergleichende Erziehungswissenschaft, historische Anthropologie (Christoph Wulf), Theaterwissenschaft (Erika Fischer-Lichte), Anglistik, allgemeine Literaturwissenschaft (Ludwig Pfeiffer), neuere Kunstgeschichte (Gottfried Boehm), Literaturtheorie und philosophische Anthropologie (Bernd Hüppauf), Theater/Performanzforschung (Rebecca Schneider), Theaterund Tanzwissenschaft (Gabriele Brandstetter), englische und vergleichende Litera-
I.1 Das Thema in seinen Bestandteilen
23
andererseits nicht auf den bisher nur relativ schmalen Verständnisbereich innerhalb der Praktischen Theologie48 zu diesem Fachbegriff einzuengen. Der geistigen Potenz »Imagination« haftet ein historisch weit zurückreichendes Misstrauen an:49 Sie wird, während der längsten Zeit des europäischen Denkens, seit den Anfängen bei Plato und Aristoteles, mit Geringschätzung der Vernunft untergeordnet, sogar als gefährlich eingestuft. Seit der Antike wurde Einbildungskraft mit Idolatrie verknüpft. Kirchenväter brandmarkten sie als ›cupiditas occulorum‹. Kant forderte ihre »Bezähmung«50 und argwöhnte, dass sich die regellose Phantasie dem Wahnsinn nähere. Er arbeitete dennoch an einer Beschreibung ihrer epistemologischen Bedeutung. Im 18. Jahrhundert änderte sich die Einschätzung: Bilder und das Visuelle an sich erfuhren neue Aufmerksamkeit. Die Einbildungskraft wurde im Zuge einer anti-cartesianischen Unterströmung der europäischen Moderne von Spinoza bis Schelling aufgewertet. Die Romantik schrieb schließlich dem Spiel mit inneren Bildern und Träumen als essentiellem Bestandteil der Aisthesis eine autonome, schöpferische, aber auch zerstörende Kraft zu. Sie bewertete ihren Beitrag zur Literatur, Kunst, Philosophie und Wissenschaften neu, sie nicht mehr verpöhnend. Jetzt nahm die Gabe der Komprimierung unanschaulicher Sachverhalte in einem Bild die höchste Position unter allen geistigen Tätigkeiten ein.51 Im 20. Jahrhundert beschrieben psychoanalytische, phänomenologische turwissenschaft (Martin Puchner), Kunstgeschichte (W.J.T. Mitchell), Filmwissenschaft (Gertrud Koch), Informatik im Gespräch mit Linguistik, Soziologie, Biologie, Wirtschaft, Materialwissenschaft und Medizin (Britta Schnizel), Ethnologie (KarlHeinz Kohl). 48
Im Zuge der ästhetischen Wendung der Praktischen Theologie wird zunehmend auf den Begriff Imagination zugegriffen. Vgl. (z.B.) DAVID PLÜSS u.a., Imagination in der Praktischen Theologie. Festschrift für Maurice Baumann, Zürich 2011 und STEINHÄUSER, Imagination. Zum weiteren s.u. Forschungsstand. 49
Zum Folgenden vgl. auch BERND HÜPPAUF/CHRISTOPH WULF, Einleitung. Warum Bilder die Einbildungskraft brauchen, in: Dies. (Hrsg.), Bild und Einbildungskraft, München 2006, 9-64. 50
IMMANUEL KANT, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), hrsg. von REINHARD BRANDT, Hamburg 2000, 1 § 33 A2 Von den Mitteln der Belebung und Bezähmung des Spiels der Einbildungskraft 78ff. »Die Vergehungen (vitia) der Einbildungskraft sind: dass ihre Dichtungen entweder bloß zügellos oder gar regellos sind (effrenis aut perversa).« 51
Vgl. HÜPPAUF/WULF, Einleitung 9. Vgl. MILDRED GALLAND-SZYMKOWIAK, Einbildung/Einbildungskraft, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd 1 (A-H), Hamburg 2010, 458-460.
24
I. Einleitung
und hermeneutische Denkströmungen dieses Potential. Im Rahmen des so genannten iconic turn trat als eine weitere Perspektive die theoretische Durchdringung aus bildtheoretischer Sicht hinzu, die Analyse wissenschaftlicher Theoriemodelle als Bilder.52 Hier fügt sich die vorliegende Arbeit ein. Sie untersucht Glaubenslebenslaufmodelle als bildliche Vorstellungen, als Imaginationen. Die Konzentration auf diese Aufgabe erklärt den Plural des Begriffs. Bilder zu wagen, zu setzen und mitzuteilen, ist als anthropologische Fähigkeit der »Imagination« im Folgenden vorausgesetzt. Das Interesse liegt nicht darauf, diese Gabe zu diskutieren, sondern eine besondere Gruppe ihrer Artefakte zu fokussieren, nämlich solche, die sie zur Verwobenheit von Glaube und Leben hervorbringt: die Glaubenslebenslauf-Imaginationen. Eine Brücke zu dem dahinter stehenden bildlichen Verständnis von Modellvorstellungen zum Glaubenslebenslauf mag die theologische Metapherntheorie schlagen.53 Diese erläutert, dass in der Theorie ebenso wie im Alltag bildliche Redeweisen entscheidend jeden Denkprozess begleiten: Während alltagskreative Metaphern Orientierung innerhalb der Lebenswelt stiften, wirken theoriekreative als Movens bei der Entstehung wissenschaftlicher Interpretationen und Erklärungen. »Metaphern fungieren sowohl im Prozess des philosophischen Denkens selbst als auch in seinem rezeptiven Nachvollzug als orientierendes Geländer, geistiges Spielfeld und begrenzendes Terrain.«54 Die bildtheoretische Forschung nimmt dieses Interesse an den imaginativen Potentialen wissenschaftlicher Theoriemodelle auf und wendet sich den, tatsächlich skizzenhaft oder auch nur schematisch dargestellten, Visualisierungen abstrakter Theoriegebäude zu. Der Kunsthistoriker Horst 52
Z.B. bei Ricoeur, Bachelard und Durand.
53
Vgl. KLAUS SACHS-HOMBACH, Bild/Bildtheorie, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, Band 1, A-H, Hamburg 2010, 291-295, 292. 54
MARKUS BUNTFUß, Tradition und Innovation. Die Funktion der Metapher in der theologischen Theoriesprache, Berlin 199, 64f mit MICHAEL PIELENZ, Argumentation und Metapher, Tübingen 1993. Zur theologischen Metapherntheorie vgl. auch: JOHANNES HARTL, Metaphorische Theologie: Grammatik, Pragmatik und Wahrheitsgehalt religiöser Sprache, Münster 2008 und JAROSLAV VOKOUN, Die Bibel ist zu lesen wie… Ein Kapitel metaphorischer Fundamentaltheologie (Vortrag am 20.6.2012 in Neuendettelsau, unveröff. Manuskript und Ders., Die Trennung in Metaphern verstehen, Materialdienst des KI Bensheim, 01/2005, 8-12. Vgl. z.B. zur metaphorischen Rede in der Ekklesiologie VERONIKA HOFFMANN, Ekklesiologie in Metaphern. Beobachtungen zum ersten Kapitel von Lumen Gentium, in: Cath (M) 62 (2008), 241-256, LUCIEN CERFAUX, Die Bilder für die Kirche im Neuen Testament, in: GUILHERME BARAÚNA (Hrsg.), De ecclesia, Bd.1, Freiburg i.B. 1966.
I.1 Das Thema in seinen Bestandteilen
25
Bredekamp erläutert, dass Entscheidendes geschieht, wenn wissenschaftliche Erkenntnis im Modell fixiert wird – ja, dass sie jenseits dieses Ereignisses noch nicht ist. Erst im Schema werden einzelne Gedanken zu einer verdichteten (!) Erkenntnis. Denken heißt Zeichnen, Skizzieren – jenseits der Frage künstlerischer Qualität: »I think« spricht die Skizze.55 Theorien werden gebildet, in ihre Imagination ergießt sich für einen fruchtbaren Moment56 wie in ein Sammelbecken das Meer an Beobachtungen und – kaum skizziert – schwärmen in den weiteren Augenblicken die daran anschließenden Assoziationen und Forschungsfragen spectralfarbenartig aus.57 Die vorliegende Studie geht davon aus, dass jede wissenschaftliche Theorie das Ergebnis eines verdichtenden Imaginationsprozesses, sozusagen eines »bildgebenden Verfahrens«58 ist, mit dem Menschen versuchen,
55
Die vielfältigen Funde und der reiche Sammelbestand an Objekten der Natur werden erst in einem Akt der Imagination zur Evolutionstheorie. Darwin stand vor der Herausforderung, die Arten, ihre Verschiedenheit und ihr Gewordensein begreiflich zu machen. Obwohl er nicht gut zeichnen konnte, kam auch er nicht umhin, zu diesem Zeitpunkt seiner Wissenschaft vom Modus des Sammelns und Beschreibens in einen Verdichtungsprozess durch Zeichnen überzugehen. Er skizzierte in seinem Notizbuch 1837 ein strauchartiges Geäst und schrieb darüber »I think«, »um das Medium der Zeichnung als Membran des Denkens zu definieren. Das Bild ist nicht Derivat oder Illustration, sondern aktiver Träger des Denkprozesses. ›I think‹ schreibt der Denker – und spricht die Skizze.« HORST BREDEKAMP, Darwins Korallen. Frühe Evolutionsmodelle und die Tradition der Naturgeschichte, Berlin 22006, 24. 56
Vgl. dazu: FRIEDRICH COPEI, Der fruchtbare Moment im Bildungsprozess, Heidelberg 1955, 72ff (Der fruchtbare Moment im Ästhetischen) und auch THEODOR WILHELM, Pädagogik der Gegenwart, Stuttgart 1959, 297. 3
57
Vgl. HERMANN DEUSER, Iconicity or the creativity of images, in: HEINZ STREIB u.a. (Hrsg.), Lived Religion. Conceptual Empirical and Practical-Theological Approaches. Essays in Honor of Hans-Günter Heimbrock, Leiden/Boston 2008, 190 mit Verweis auf BREDEKAMP, Darwins Korallen, 76: Das Bild wurde zur wahren Natur der Evolution. Nicht als Naturbeschreibung, sondern als Kommentar zu einem Diagramm hat Darwin die Essenz seiner Evolutionstheorie formuliert. 58
URLICH RATSCH u.a., Zur Einführung: Was Bilder vermögen und was nicht, in: Dies. (Hrsg.) Kompetenzen der Bilder. Funktionen und Grenzen des Bildes in den Wissenschaften, Tübingen 2009, 3-29, 8 erklären dazu: »Für die bildgebenden Verfahren der Naturwissenschaften stellen wir fest, dass den Bildern, die diesen Verfahren eigen sind, beide Aspekte von Bildlichkeit zukommen: … Betrachten wir etwa die Bilder der Medizin, so sind diese zum Teil Darstellungen, zum Teil erlauben sie dem Betrachter Einblicke in Bereiche, die dem Auge sonst verborgen sind, und sie geben auch, z.B. organische Strukturen wieder. Dies alles geschieht aber in gezielt verfremdender Weise, so dass spezielle Funktionen heraus präpariert werden. Die Erzeugung des Bildes ist ein Schritt in der Konstruktion wissenschaftlicher Erkenntnis.«
26
I. Einleitung
aus einzelnen Beobachtungen – in welcher Weise auch immer erhoben – Erkenntnis zu gewinnen. Diese Imaginationen sind beeinflusst von der aktuellen Perspektive, vorhandenen Modellangeboten (und ihres NichtGenügens), gegenwärtigen Eindrücken und dem aktuell verfügbaren Potential der Phantasie im Spiel mit der von ihr wahrgenommenen Realität unter einer wachsamen kritischen Vernunft. »In ihrer konstruierten Brillanz können Modelle zu Fetischen einer Forscherwelt werden«59 , sie werden wirkkräftig.60 Sie dienen der Klärung und der Suggestion. »Modelle komprimieren, um überbordende Datenmengen und Aufgaben handhabbar zu machen. Hierin liegt ein Moment der Distanzierung von Bedrängnis, wenn nicht Furcht. Die modellhafte Verkleinerung produziert einen psychologischen Überschuss der seinerseits nicht frei ist von einer suggestiven Physis, die nun von den Modellen selbst ausgeht. Von der schöpferischen Kraft dieses Zwiespalts handelt der intrinsische Bildakt.«61 Und: Die Produktivität von Bildern, ihre Kreativität und Spontanität setzt sich fort, nicht nur für den, der sie zur Verdichtung heranzieht, sondern auch für
59
HORST BREDEKAMP, Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010, 290. Beispiel: »Odile Crick hat dadurch eine Ikone der Naturwissenschaft geschaffen, dass sie mit dem Modell der Doppelhelix eine verdoppelte Parallele zu dieser Symbollinie erschuf. Um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass hier nicht etwa die Natur an sich, sondern ein ihr gewidmetes Modell abgebildet sei, das systematisch defizitär sein müsse, um funktionieren zu können, besagt die Legende, dass die Figur ›purely diagrammatic‹ sei. Diese kluge Einschränkung wurde jedoch über lange Zeit umso mehr verkleinert, als sich an dem Diagramm schier endzeitliche Hoffnungen entzündeten. Die Erkenntnis, dass die mechanisch wirkende Stabilität der Doppelspirale der bis heute rätselhaften Dynamik ihrer tatsächlichen inneren Vorgänge und vor allem ihres dynamischen Austausches mit der Umgebung nicht entspricht, hat sich erst Ende der neunziger Jahre durchsetzen können. Die Vorsicht des ›purely diagrammatic‹ war durch die Fetischisierung eines Bildes überblendet.« a.a.O., 291f. 60
»Indem große Bereiche der Evolutionsbiologie … allein das Modell des Lebensbaums erkannten, wurden und werden immer wieder Baumgraphiken produziert, obwohl deren Nachteile auf der Hand liegen: Ihr Ursprung läuft idealiter auf einen Punkt zu, wohingegen sich die Wurzeln des Baumes verzweigen, und der Wipfel suggeriert eine Gerichtetheit, die Darwin kategorisch verneint hat. Sein Evolutionsdiagramm ist ein Beispiel dafür, dass Modelle einen höheren Stellenwert gewinnen können als das, was sie repräsentieren. Die aus der Evolutionsbiologie selbst kommenden, teils vehement vorgebrachten Einsprüche gegen das Baummodell wirken, als stünden sie vor einer Wand.« a.a.O., 290. 61
A.a.O., 293.
I.1 Das Thema in seinen Bestandteilen
27
die, die das Modell betrachten. Diese Produktivität der Bilder ist Ur»Ermöglichung«.62 Alle wissenschaftlichen Modelle basieren auf solcher kreativer Bildlichkeit. Diese Einsicht führt zugleich über den Kontext der Wissenschaft hinaus und verbindet diese mit Kunst, Religion und alltäglichem Wirklichkeitserleben.63 Denn: Bildlichkeit ist Basisvoraussetzung für jegliches menschliche Wahrnehmen, Erkennen und Denken.64 »Icons have a mediating function, and therefore they are productive semiotic events.«65 Im Anschluss an Warburg und Cassirer formuliert, kann der Mensch von seinen ersten körperlichen Ausdrucksformen her als »animal symbolicum« begriffen werden: Außerhalb symbolischer Bezüge ist für ihn keine Welt zu entdecken. »Bilder sind nicht Dulder, sondern Erzeuger von wahrnehmungsbezogenen Erfahrungen und Handlungen; dies ist die Quintessenz der Lehre des Bildakts.«66 Auf der Basis dieser Überlegungen möchte die vorliegende Arbeit die lebendige Eigenkraft der modellhaften Vorstellungen zum Glaubenslebenslauf – wissenschaftlicher, alltäglicher und künstlerischer Ausprägung – erhellen. Sie verfolgt dabei ein spezifisch »kritisches« Anliegen: »Wenn das Subjekt im Lebensrecht des Bildes einen Bereich zu erfahren vermag, der selbstbestimmt von außen kommt, erreicht es eine Möglichkeitsform, in der die Selbstfesseln seiner Ich-Fixierung zu Gunsten einer dialogischen Freiheit entflochten werden können. Dies bedeutet, jenen Sphärenverlust ungeheuren Ausmaßes zu überwinden, den die Moderne mit ihrer Privilegierung des Subjekts als Erzeuger und Halter der Welt produziert hat. Das Ich wird stärker, wenn es sich gegenüber der Aktivität des Bildes relativiert. Bilder können nicht vor oder hinter die Realität gestellt werden, weil sie diese mit konstituieren. Sie sind nicht deren Ableitungen, sondern eine Form ihrer Bedingung.«67
62
Vgl. a.a.O., 194.
63
Vgl. DEUSER, Iconicity, 194.
64
Vgl. a.a.O., 184.
65
Vgl. a.a.O., 190.
66
BREDEKAMP, Theorie, 326.
67
A.a.O., 328.
I. Einleitung
28
I. 2
Ziel und Anlage der Studie
I.2 Ziel und Anlage der Studie
Das Interesse an Imaginationen zum Glaubenslebenslauf speist sich daraus, ihr ästhetisches Potential aufzudecken und damit zugleich ihrer Anästhetik gewahr werden zu können, d.h. dessen, wofür sie blind machen. Dieses Doppel »Ästhetik und Anästhetik« etablierte der Philosoph und postmoderne Denker Wolfgang Welsch in seiner Theorie zum »Ästhetischen Denken«.68 Die hier vorgelegte Studie will in diesem Sinne »ästhetisches Denken« zum Glaubenslebenslauf fördern: »Es geht nicht bloß um diese oder jene Wahrnehmung zusätzlich zu den gewohnten, sondern um die prinzipielle Anerkennung des Einsichtscharakters und der Orientierungsrelevanz von Wahrnehmungen. Das Denken steht … dem Wahrnehmen nicht mehr (feindlich) gegenüber, sondern ein erweitertes Wahrnehmen wird für das Denken selbst essentiell und ihm innerlich. … Ein solch ästhetisches Denken vermöchte – aber nicht, weil es das absolut Wahre wäre, sondern weil es nötiger wurde denn je – vielleicht einige Zukunftswege zu öffnen.«69 Ästhetisches Denken ist »kritisches Geschäft«.70 Die Vielfalt der hier zusammengestellten Glaubenslebenslauf-Imaginationen zielt darauf ab, für
68
Vgl. WOLFGANG WELSCH, Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, 30ff. Er wirbt für solches Trainieren kritischen Bildbewusstseins: »Wer diese Bilder, die unsere individuelle und gesellschaftliche Wirklichkeit durchherrschen, nicht irgendwann in ihrer Spezifität und Massivität vor Augen bekommen hat, der wird, in ihrem undurchschaubaren Glanz sich sonnend, ein Leben lang nach ihrer Pfeife tanzen müssen.« A.a.O., 34f. Welsch erklärt, dass es in der gegenwärtigen Wissenschaftssituation darauf ankommt, den Schritt mit zu vollziehen von einer Konzentration auf die Begriffe (wie dies noch Kant präferiert hat) hin zu einer Verbindung aus sinnlicher Wahrnehmung und Reflexion (wie dies auf den Impuls von Adorno zurückzuführen wäre). Es gehe in spezifischer Weise um, »eine Transformation von Ästhetik in Aisthetik«, die »Generierung aisthetisch kompetenter Lebensweisen« A.a.O., 77. Er schreibt weiter: »Genau dies war der tiefere Sinn schon der Ausbildung der Ästhetik im 18. Jahrhundert. … Es ist – wie mir scheint – ein abgegoltenes Projekt, und eines, das heute nicht mehr elitär ist, sondern allgemeiner wird und an vielen Stellen unsere Lebenswirklichkeit vordringt.« 69 70
A.a.O., 77f.
»Ästhetisches Denken, das mit seinem Wahrnehmungsbezug Wahrheitsansprüche verbindet – und ohne diesen wäre es trivial und zynisch – birgt gerade in einer Situation der Pluralität kritische Potenzen und wendete sein Sensorium gegen das aufgetretene Potpourri, das plural tut, während es in Wahrheit alles in eine Einheits-
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Differenzen, Irreduzibilität und Inkommensurabilität von Ausdrucksweisen zu sensibilisieren.71 Das Potential ästhetischen Denkens liegt in der Variabilität der Vorstellungen: Wer durch diese Schule gegangen ist, »der weiß nicht nur abstrakt um die Spezifität und Begrenztheit aller Konzepte – auch seines eigenen –, sondern rechnet mit ihr und handelt dem gemäß. Er urteilt und verurteilt nicht mehr mit dem Pathos der Absolutheit und der Einbildung der Endgültigkeit, sondern erkennt auch dem anderen mögliche Wahrheit grundsätzlich zu – noch gegen die eigene Entscheidung. Er ist nicht nur prinzipiell davon überzeugt, dass die Lage aus anderer Perspektive sich mit gleichem Recht ganz anders darstellen kann, sondern dieses Bewusstsein geht in seine konkrete Entscheidung und Praxis ein – und bewirkt nicht etwa währenddessen Stillstellung, sondern versieht sie mit einem Schuss Vorläufigkeit und Leichtigkeit. Seine Handlungswelt wird dem Einzelnen spezifischer und im Ganzen durchlässiger sein.«72 Die vorliegende Arbeit will demnach unter Aufnahme der Potentiale des iconic turn in ein weiteres Feld der praktischen Theologie, für die Frage nach der spirituellen Entwicklung des Menschen die Sensibilität für ästhetisches Denken erhöhen. Denn: Wirklichkeit ist zu komplex, als dass sie mittels quantitativer und qualitativer Forschungen umfassend erschlossen werden könnte. Das heißt nicht, dass solche Anstrengungen nicht zu unternehmen seien – aber sie müssen entscheidend kontextualisiert erhoben und auch ebenso rezipiert werden. Hinzu kommen muss die Darlegung der imaginativen Entscheidungen eines Modells und die Bereitschaft, aus neuen Blickpunkten vermeintlich sichere empirische Wissensbestände zu hinterfragen,73 Vorstellungen zu wechseln und verantwortlich die sich einstellenden Erkenntnisse zu beschreiben. soße verwandelt. Ästhetik bleibt unter den geschilderten Bedingungen … ein kritisches Geschäft.« A.a.O., 74. 71
Vgl. a.a.O., 75.
72
Vgl. a.a.O., 76.
73
In signifikanter Weise ist dies seit einigen Jahren ein Trend innerhalb der praktisch-theologischen Forschung: Heuristische Modelle, die sich zu scheinbarem empirischen Wissensbestand verfestigt haben, werden mithilfe eines Perspektivwechsels gegen den Strich gebürstet, um der Eindimensionalität festgefahrener Theorien zu entkommen. Mit dem Anliegen, dies für die abgesetzen Wissensbestände zum Glaubenslebenslauf bzw. den entwicklungspsychologischen Theoriebildungen innerhalb der Theologie zu erreichen, sieht sich die folgende Arbeit in guter Gesellschaft z.B. mit der kirchentheoretischen Arbeit von Gerald Kretzschmar (vgl. GERALD
KRETZSCHMAR, Kirchenbindung. Praktische Theologie der mediatisierten Kommunikation, Göttingen 2007). Ihm gelingt die Neuinterpretation der Modi »Nähe« und »Distanz« im
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I. Einleitung
Angesichts dessen, dass Imagination eine für die Theologie eminent bedeutsame Kategorie darstellt, die derzeit zunehmend entdeckt wird, aber längst noch nicht ausgeschöpft ist,74 hat die Arbeit auch über das Thema religiöser Entwicklung hinaus Potentiale: Sie zielt darauf, kritisches Imaginieren zu trainieren. Imaginationen-Virtuosität im Sinne eines reflektierten Umgangs mit bildhaften Vorstellungen versachlicht praktisch-theologisches Wahrnehmen, Verstehen und Gestalten.75 Die Anlage der Arbeit mag sich als »Museum« für GlaubenslebenslaufImaginationen in drei großen Räumen, einem Vorraum der Einleitung und einem Abschlussraum für Konsequenzen eröffnen.76 Die drei Hauptkapitel Blick auf Kirchenbindung.), den Forschungen zur Überwindung der allzu statischen Phasenmodelle in der Sterbe- und Trauerbegleitung (vgl. schon MICHAEL SCHIBILSKY, Trauerwege. Beratung für helfende Berufe, Düsseldorf 1989 und auch RUTHMARIJKE SMEDING u.a., Trauer erschließen – eine Tafel der Gezeiten, Wuppertal 2008. Sie erklären Trauerprozesse im Blick auf deren Vieldimensionalität und Wellenbewegungen) und der Diskussion um den vermeintlichen Traditionsabbruch des Christentums in der Postmoderne (Vgl. LIEVEN BOEVE, Interrupting Tradition. An Essay on Christian Faith in a Postmodern Context, Leuven 2003). 74
Vgl. PRUYSER, The Play, 2.
75
Diese Erweiterung des Denk- und Handlungshorizontes im Sinne des souveränen Umgangs mit Modellvorstellungen geht einher mit persönlicher Professionalisierung. Die Wiener Psychoanalytikerin Sylvia Zwettler-Otte erklärt dies für ihren Fachbereich: »Verschiedene Konzepte eröffnen unterschiedliche Zugänge zur psychischen Wirklichkeit. Für das theoretische Verständnis und die Weiterentwicklung der Psychoanalyse ist das Durchdenken dieser Konzepte unerlässlich. Es gehört zu der fundierten langjährigen theoretischen und praktischen Ausbildung von Psychoanalytikern, dass sie möglichst alle wesentlichen bis jetzt erarbeiteten psychoanalytischen Konzepte kennengelernt haben. Einige davon, die ihnen besonders einleuchtend und nützlich erscheinen, werden sie bevorzugt verwenden. Sie bilden ein Netzwerk, das dicht aber auch luftig genug sein sollte, um die persönlichen Erfahrungen des Analytikers mit den Seilen der Theorie zu verknüpfen. Wenn dieses Netz durch den Analysanden in Schwingung versetzt wird, dient dies dem Analytiker für das Abfedern seiner eigenen Einfälle, die – so ist zu hoffen – oft zu hilfreichen Deutungen werden von dem, was gerade im Analysanden vorgeht. (Wenn dieses Bild Assoziationen von Trampolin, Sicherheits- aber auch Spinnennetz hervorruft, so zeigt das genau die anregenden und fördernden aber auch die einschränkenden, hemmenden Aspekte einer Theorie.) … Es führt uns jedenfalls weiter, die unterschiedlichen theoretischen Modelle miteinander in Beziehung zu setzen und sie womöglich zu intergrieren, damit sie einander ergänzen und gegebenenfalls korrigieren können.« SYLVIA ZWETTLER-OTTE, Ebbe und Flut – Gezeiten des Eros. Psychoanalytische Gedanken und Fallstudien über die Liebe, Stuttgart 2011, 9ff. 76
Dies als Metapher im Anschluss an Welschs Bemerkung zum Boom der Museen, da »im allgemeinen Bewusstsein heute deutlicher als in manch wissenschaftlichen Rigorismus empfunden wird, dass unsere Welt zunehmend ästhetisch geprägt ist und dass es eine Kompetenz genau dafür zu entwickeln und die Chance dieses Trends zu
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inszenieren drei Welten von Glaubenslebenslauf-Imaginationen, das letzte Kapitel bezieht die Beobachtungen der Bildwelten aufeinander: Im ersten Hauptraum (Kapitel 2) werden zentrale wissenschaftliche Imaginationen zum Glaubenslebenslauf in Auswahl präsentiert. Im zweiten sind alltagspraktische Imaginationen anhand von Geburtstagsgedichten zusammengestellt und analysiert (Kapitel 3). Im dritten werden GlaubenslebenslaufImaginationen historischer Bildwelten gezeigt und interpretiert, »ein Kraftspeicher des Glaubens, der trotz seiner historischen Begrenzung und trotz des zeitlichen Abstandes immer noch christlicher Spiritualität zur Verfügung steht.«77 »In der Perspektive gegenwärtiger Ästhetik besteht eine Präferenz für mehrfachkodierte Werktypen, wo verschiedene Sprachen einander ergänzen oder bestreiten oder etwas Neues generieren«.78 Die unterschiedlichen Bildsprachen werden nicht um der reinen Kollision willen zusammengeführt, sie lösen vielmehr »ein interkonisches oder interdiskursives Geschehen«79 aus und und wollen seine Möglichkeiten erproben.80 Die Herausforderung liegt darin, heterogene Werkstücke unterschiedlicher syntaktischer Dichte81 so zu präsentieren, dass sie erhellend be-
enthalten gilt.« WELSCH, Ästhetisches Denken, 59. Die Präsentation von Religiösem in Museen wird insgesamt derzeit intensiv diskutiert. Vgl. hierzu ANJA SCHÖNE (Hrsg.), Religion und Frömmigkeit als Ausstellungsthema, Münster 2009. 77
KLAUS RASCHZOK, Spiritualität und bildende Kunst der Gegenwart, in: Herbst, Michael (Hrsg.), Spirituelle Aufbrüche. Perspektiven evangelischer Glaubenspraxis, Festschrift für Manfred Seitz zum 75. Geburtstag, Göttingen 2003, 199-211, 208. 78
WELSCH, Ästhetisches Denken, 72f.
79
Ebd.
80
Ebd.
81
Dieser Begriff stammt aus der semiotischen Bildtheorie von Goodman. Er erklärt, dass sich bildliche und sprachliche Darstellungsformen auf der semantischen Ebene eigentlich nicht unterscheiden. Bilder gehören aber zu den syntaktisch dichten Zeichensystemen und zeichnen sich durch relative Fülle aus. »Unter syntaktischer Dichte ist hierbei zu verstehen, dass es etwa zwischen zwei beliebigen Punkten immer einen weiteren Punkt oder zwischen zwei Farbtönen immer einen Zwischenton gibt. Syntaktische Dichte bezieht sich hierbei nur auf bestimmte Aspekte. Deshalb liefert der Begriff syntaktischer Dichte auch ein Kriterium zur Klassifikation bildhafter Darstellungen. Diagramme oder Landkarten sind danach gemischte Symbole, die nur wenige syntaktisch dichte Bereiche besitzen. Im Unterschied zu ihnen weisen Gemälde nach Goodman zudem eine relative syntaktische Fülle auf.« SACHS-HOMBACH, Bild, 293.
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I. Einleitung
trachtet werden können:82 Sie werden unterschiedlicher Weise wissenschaftlich aufbereitet: als fachgeschichtliche Analyse (Kapitel 2), als phänomenologische Forschung (Kapitel 3) und als mediävistikkunsthistorisch gestützte heuristische theologische Interpretation (Kapitel 4).83 Das Bildprogramm der unterschiedlichen Modellvorstellungen wird durch Schemazeichnungen herausgearbeitet: Diese schematischen Darstellungen konzentrieren die Aufmerksamkeit auf die in den Bildern enthaltenen Modellvorstellungen zum Glaubenslebenslauf.84 Sie sind sichtbarer Ausdruck dafür, dass die Bildgehalte der höchst unterschiedlichen Visuali82
Hierin orientiert sich die Studie noch einmal an Welsch. Er erklärt: »Auch die traditionelle ›neutrale‹ Präsentation leistet das nicht. Und in Wahrheit gibt es keine neutrale Präsentation, sondern jede als neutral präsentierte bevorzugt schon einen bestimmten Werktyp und unterwirft die anderen dessen Maßstab. Allzu leicht kommt es dabei zu einer Diktatur der ›Sachlichkeit‹. Auch das ist Manipulation – im Gewand von Objektivität. Zudem: unweigerlich streiten Werke miteinander, das bessere mit dem schlechteren, der eine Typ mit dem anderen. In diesem Bilderstreit, den nur Anästheten nicht wahrhaben wollen, wirkt die ›neutrale‹ Präsentation als Tranquilizer. Eine durchgängige Orientierung an Autonomie wäre mit einer Ghettoisierung der Energie der Werke verbunden. Besser als die ›neutrale‹ Präsentation vermag die bewusste und gelungene ›Inszenierung‹ mit der Diversität der Werke zurechtzukommen. Sie schafft charakteristische Ensembles, in denen ergänzungsfähige Werke untereinander sowie mit Architektur und szenischen Elementen ... zusammenwirken. Das Verfahren ist schwierig und risikoreich, es verlangt viel Fingerspitzengefühl, Phantasie und Klugheit, ist aber, genau genommen, alternativlos, denn es gibt, wie gesagt, keine Nicht-Inszenierung, sondern nur unterschiedliche Arten von Inszenierung.« WELSCH, Ästhetisches Denken, 61. 83
Dass auf der Suche nach Glaubenslebenslauf-Imaginationen Bildertypen unterschiedlichster Jahrhunderte in den Blick genommen werden, sei erneut unter Rückgriff auf Welsch begründet. Er erläutert, »dass vergangene Gestalten zwar abgelöst, aber nicht überholt werden, sondern uns auch, nachdem ihre geschichtliche Stunde abgelaufen ist, noch immer zu faszinieren vermögen. In der Wissenschaft ist die Phlogistontheorie out, wenn man eine bessere Erklärung der Verbrennungsprozesse gefunden hat, ein Rembrandt aber ist dadurch, dass nach ihm andere kommen und größeren Erfolg haben, keineswegs erledigt. … Das Diktat der Chronologie ist hier weniger unerbittlich als anderswo. Während Chronos seine Kinder frisst, bleiben die Töchter der Kunst am Leben.« A.a.O., 69. 84
Die Schemazeichnungen wurden nach Angaben der Verfasserin über die entsprechenden Schwerpunktsetzungen der Interpretation zum Thema Glaubenslebenslauf von Grafiker Helmut Herzog, Erlangen erstellt. Zwei Abbildungen stammen von der Verfasserin selbst. Zum Gebrauch von Schemazeichnungen sei auf Max Imdahl verwiesen. Auch er nützt diese Form der Darstellung, um besondere Aspekte aus Kunstwerken herauszuarbeiten und zu diskutieren. Vgl. z.B. MAX IMDAHL, Rembrandts »Nachtwache«. Überlegungen zur ursprünglichen Bildgestalt, in: GUNDOLF WINTER (Hrsg.), Max Imdahl. Gesammelte Schriften, Band 2: Zur Kunst und Tradition, Frankfurt a.M. 1996, 397-430.
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sierungen in sie verbindender Weise auf das hier interessierende Thema zugespitzt, reduziert, interpretiert wurden. Das abschließende Kapitel 5 präsentiert ein spezifisches Verständnis von Virtuosität im Umgang mit Glaubenslebenslauf-Imaginationen, stellt das Repertoire in seiner jeweiligen An-/Ästhetik zusammen und bietet als abschließende Etüde ein konzentriertes Erproben der GlaubenslebenslaufImaginationen zum Thema des generationenumgreifenden Abendmahls.
I. 3
Theorieverständnis
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In der aktuellen praktisch-theologischen Diskurslage sieht sich die vorliegende Arbeit in der Suchrichtung derer, die Praktische Theologie als »ästhetische Disziplin« grundieren. Rudolf Bohren, der als einer der ersten versuchte, Praktische Theologie – im Gegensatz zu ›handlungsorientiert‹ oder ›empirisch‹ – in dieser ästhetischen Weise auszurichten,85 formulierte als künstlerische Ausrichtung dieser Wissenschaft, dass sie nicht nur aufschreibt, was ist, sondern darüber hinausreichende Inspiration sammelt und verdichtet.86 Ästhetische Praktische Theologie ist die Hermeneutik
85
Ich teile Hastetters Perspektive, nach der bis heute verkannt wird, diese Leistung in adäquater Weise Rudolf Bohren würdigend zuzuschreiben und dabei die Verschränkung seines Ansatzes mit der Pneumatologie auszuloten. Vgl. MICHAELA CHRISTINE HASTETTER, Pneumatologische Bildpastoral. Neue Zugänge zur Seelsorge mit Heilig-Geist-Bildern, Regensburg 2011, 64. Aus heutiger Perspektive greift zu kurz, Bohren – wie Grözinger das tut – das Fehlen einer »profunden prinzipientheoretischen Diskussion sowohl hinsichtlich des Verständnisses von Ästhetik wie des Verständnisses einer die Ästhetik rezipierenden Praktischen Theologie« vorzuhalten. Vgl. ALBRECHT GRÖZINGER, Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Buch- und Forschungsbericht, in: IJPT 2 (1999), 269-294, 176. Vielversprechender erscheint dagegen, seine pneumatologischen Überlegungen kritisch zu erwägen. »Praktische Theologie ist von der Pneumatologie her und auf die Pneumatologie hin zu denken. Sie reflektiert das Praktisch-Werden Gottes. ... Das Praktisch-Werden Gottes ist ein Schön-Werden, weil Gott selbst schön ist. Gott wird uns in seiner Gegenwart schön, so dass wir ihm in unserer Gegenwart schön werden.« Von diesen beiden Thesen aus entwickelt Bohren das Programm: »Praktische Theologie ist von der Pneumatologie her als theologische Ästhetik zu entwerfen.« RUDOLF BOHREN, Dass Gott schön werde, München 1975, 15. 86
»Praktische Theologie ist Agronomie aufs Paradies hin und bestellt schon ›jenseits von Eden‹ Neuland. Hierbei ist die Urbanität der neuen Erde zu beachten: wer die neue Erde sieht, sieht eine neue Stadt. Praktische Theologie, auf die neue Erde und ihre Stadt hin gedacht, orientiert sich nicht bloß primär an der Möglichkeit des neuen, sondern entwirft praktische Theologie von der Wirklichkeit her, die im Heiligen Geist schon da und vorhanden ist. Die Möglichkeit des Neuen ist im Heili-
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I. Einleitung
einer Poesie der Praxis. Sie hat mehr zu leisten als – was zweifelsfrei schon viel ist – die Analyse prägender Gedankenkonstrukte und Ideologien der Vergangenheit und Gegenwart christlichen Lebens. Ihr obliegt die wissenschaftliche Suche nach einer zukünftigen Praxis, ein antizipierender,87 visionärer Dienst, der seine theologische Berechtigung aus der Hoffnung des Glaubens, seiner eschatologischen Dimension schöpft.88 Ästhetisch ist die Ausrichtung auch im Sinne eines Beitrags zur Diskussion um den iconic turn in der Praktischen Theologie,89 zur Förderung von Bildwahrnehmung und -deutung im Sinne der Impulse Wilhelm Gräbs.90 gen Geist eine Wirklichkeit. Das Noch-Ungedachte ist schon vorgedacht, das Undenkbare wird zum Denkbaren und wird einmal gedacht, jetzt oder in der Zukunft. Der Glaube denkt, was bei Gott möglich ist; darin überholt er eine Ratio, die nur das Menschenmögliche denkt. … Praktische Theologie ist, in sofern sie Theologie bleibt, ein Bedenken des Heiligen Geistes, ist ausgeführte und angewandte Pneumatologie.« A.a.O., 14. 87
Noch einmal Rudolf Bohren: »Ich müsste jetzt nochmals den Horizont der Pneumatologie erzählen …; den Horizont, auf den wir aus sind, der ein Horizont ist von der Schöpfung her, auf die Menschwerdung hin, ein Horizont von der Geistausgießung her auf die Neuschöpfung hin, der Horizont, indem wir sind. Dieser Horizont ist eine Geschichte und erzählbar, und wir werden praktisch innerhalb dieser Geschichte.« A.a.O., 227. »Im Horizont der Pneumatologie ist unsere Praxis in die rechte Perspektive gerückt; dann wird auch deutlich, inwiefern Gott selbst in unserer Praxis praktisch wird.« Ebd. Obwohl Bohren seinen Schwerpunkt so explizit auf den Heiligen Geist legen will, kehrt er doch immer wieder zu schöpfungstheologischen Essenzen zurück. Diese theologische Pointe teilt die vorliegende Arbeit nicht. M.E. ist aber dem inspirierenden pneumatologischen Potential des Selbstverständnisses Praktischer Theologie dennoch zu folgen – wenn auch unter deutlicherem eschatologischen Vorbehalt. 88
Bohren selbst blieb aber bei einer Konzentration auf die Pneumatologie, da er deren Relevanz für die Praktische Theologie betonen wollte. Vgl. a.a.O., 230. 89
Trotz des Anspruchs einer Wahrnehmungswissenschaft findet die theoretische Reflexion von Bildlichkeit noch wenig Beachtung. Hastetter formuliert im pneumatologischen Bildpastoral aus katholischer Perspektive ihren Eindruck, dass »trotz des Anspruchs einer Wahrnehmungswissenschaft ... aufs Ganze gesehen, der Iconic turn die Pastoraltheologie noch nicht in dem Maße erfasst« hat, »wie es das Ausmaß der Bilderflut vermuten lassen würde. Ihre Wende hin zur ästhetischen praktischen Theologie mag zwar vom Iconic turn beeinflusst sein, das Bild an sich spielt im aktuellen pastoraltheologischen Diskurs bislang aber nur eine Nebenrolle.« HASTETTER, Bildpastoral, 82. Dies ist aus protestantischer Perspektive in ähnlicher Weise zu bestätigen. Hastetter befähigt in einer neuartigen Intensität zur theologischen Reflexion ikonographischen Materials zu Heilig-Geist-Darstellungen. Die Zielsetzung dieser Arbeit ist freilich eine andere: »aus der praktisch theologischen Erschließung der spezifischen Heilig-Geist-Bilder, die noch näher zu bestimmen sein werden, soll über ein eigenes Modell zur pneumatologischen Bestimmung des seelsorgerlichen Handelns gelangt werden.« A.a.O., 23. Sie strebt an, »die in den
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Überdies begreift sich die vorliegende Arbeit, wie ihr Thema, selbst mit dem Begriff »imaginativ« im Anschluss an Henning Luther: »Wissenschaft zeichnet sich nicht nur durch einen methodisch reflektierten und überprüfbaren Zugriff auf ihre Gegenstände aus, sondern auch durch innovative Ideen und überraschende Hypothesen. Wissenschaft verfährt, wenn sie voranschreiten, aktuelle Problemlagen bearbeiten und Neuland erschließen will, nicht nur recht konstruktiv, sondern auch imaginativ, indem sie eingeschliffene Deutungsmuster gegen den Strich bürstet und bewährte Methoden mit neuen kontrastiert. Wissenschaft beinhaltet immer auch die Kunst der Imagination. Dies gilt in besonderer Weise für die akademische Disziplin und Wissenschaft der Theologie. Sie rekonstruiert historisch fern liegende Textwelten und imaginiert deren Gehalt und Bedeutung für die jeweilige Gegenwart. Sie imaginiert die Potentiale des Christentums für politische und kirchliche Selbstdeutungen in ihrem jeweiligen kulturellen Gedächtnisraum. … Theologie imaginiert Hypothesen zu den Möglichkeitsbedingungen menschlichen Lebens und Zusammenlebens, Hypothesen zum humanen Umgang mit Grenzen und Krisen, Hypothesen über den Grund christlicher Freiheit und Hoffnung. Der Praktischen Theologie kommt dabei die Aufgabe zu, die imaginierten Hypothesen auf deren Stichhaltigkeit und Bewährung hin zu prüfen. Sie ist eine Prüfungsagentur in Tuchfühlung mit religiöser Praxis in Kirche und Ge-sellschaft.«91 Die Abhandlung geht zudem von einem Grundaxiom zeitgenössischer praktisch-theologischer Wissenschaft aus: Praxis und Theorie sind ineinander verschränkt. Vor, während und nach jedem Tun hat der Mensch immer – und sei sie noch so vage und vorbegrifflich – eine Idee, einen Denkansatz, eine »Theorie«, nach der er handelt. Sein Tun wiederum bewegt sie weiter, sie anpassend und verändernd. Bei allem, was wir denken, entscheiden, voranbringen, läuft voraus, manchmal parallel, manchmal hinterher, eine eigene Theoriebildung – auch wenn keine Zeit gefunden wird, sie zu verbalisieren, in ein Modell zu fassen oder gar im pneumatologischen Bildern verborgenen Handlungsimpulse pastoraltheologisch zu fassen und für das seelsorgerliche Handeln fruchtbar zu machen.« A.a.O., 36. Hastetter arbeitet »bild-pragmatisch« (a.a.O., 23), d.h. sie versucht das ihr gestellte Thema einer praktischen Theologie vom Heiligen Geist mithilfe eines Bestandes von HeiligGeist-Bildern, von ihr als »Materialobjekten« verstanden, zu entwickeln. Vgl. ebd. 90
Vgl. WILHELM GRÄB, Wahrnehmen und Deuten, in: ALBRECHT GRÖZINGER/GEORG PFLEIDERER (Hrsg.), ›Gelebte Religion‹ als Programmbegriff Systematischer und Praktischer Theologie, Zürich 2000, 43-63. 91
DAVID PLÜSS u.a., Vorwort, in: Dies. (Hrsg.), Imagination in der Praktischen Theologie. Festschrift für Maurice Baumann, Zürich 2011, 7-8, 7.
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I. Einleitung
wissenschaftlichen Diskurs zu vernetzen. Das tatsächliche Erleben wirkt in jedem Augenblick auf unser Kombinieren und Abstrahieren ein. Diese wiederum prägen stetig unser Sehen92 und Agieren.93 Wissenschaftliche Theoriebildungen sind in diesem Austausch der Praxistheorien untrennbar verwoben.94 In ihrer gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Perspektivierung tritt die Praktische Theologie95 jeweils neu in Wechselbeziehung zu kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen, nutzt deren Sichtweisen und Methoden und erfährt dadurch einen »signifikanten Strukturwandel«96 . Längst ist 92
Modellvorstellungen können in allen »Seh-Akten« als performative Bilder für das Sehen als Praxis gelten. Vgl. EVA SCHÜRMANN, Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt a.M. 2008. 93
Das hier abgewehrte Kontrastmodell wäre das einer Praktischen Theologie, die zunächst die wissenschaftliche Theorie perfekt erarbeitet und dies dann der Praxis zur Anwendung aufgibt. Dies entspricht seit Schleiermacher nicht mehr der tatsächlichen Herausforderung. 94
Protestantische Praktische Theologie wird immer »die notwendigen Vermittlungen zwischen der je gegenwärtigen Praxis, den geschichtlich gegebenen Praxisformen und der Praxisidee des Christentums ermöglichen wollen. … Die in der Protestantismustheorie begründete Dimension der Praktischen Theologie erweist diese damit ihrer Bestimmung nach als eine diagnostische Reflexionstheorie der Kulturpraxis des Christentums, die durch Analyse und Deskriptionsleistungen geschichtlicher und gegenwärtiger faktischer Formen, Rahmenbedingungen und Realisierungschancen christlicher Praxis die von ihr erwartete Aufklärung durch Bildung der jeweiligen Praktiker zur selbständigen Einschätzung und Verantwortung angemessener Praxisformen bewirkt.« ALBRECHT, Kulturwissenschaft, 318. Der Ertrag der hier untersuchten Glaubenslebenslauf-Imaginationen soll daher auch zumindest für eine Gestaltungsherausforderung des kirchlichen Lebens erprobt werden. Siehe Kapitel V.3. Eine kleine Etüde zum generationenverbindenden Abendmahl. 95
Vgl. dazu grundlegend ALBRECHT, Kulturwissenschaft und CHRISTIAN ALBRECHT, Enzyklopädische Probleme der Praktischen Theologie, Tübingen 2011: Über die protestantismusspezifische Art und Weise, in der sich Praktische Theologie der Phänomene gelebter Religiosität annimmt, bringt sie unweigerlich einen kulturwissenschaftlichen Blick in die Theologie ein, weitet den Rahmen einer rein innerkirchlichen Handlungswissenschaft aus. In der Wahrnehmung dieses kulturtheoretisch perspektivierten Blickes auf die Religion erweist sie sich in der Theologie als eigenständige Disziplin, bringt ihre »Theologizität« ein. Vgl. ALBRECHT, Kulturwissenschaft, 319f. Zur kulturwissenschaftlichen Perspektive vgl. auch DIETRICH KORSCH, Religion mit Stil. Protestantismus in der Kulturwende, Tübingen 1997. 96
KLAUS RASCHZOK, Modeerscheinung oder Wahrnehmungszugewinn?, in : Verkündigung und Forschung 54.Jg, 2/2009, 75-87, 78. Raschzok erläutert mit Verweis auf ALBRECHT, Kulturwissenschaft, dass die kulturwissenschaftliche Perspektivierung der Praktischen Theologie einen für die Geschichte des Faches typischen Zugewinn an Wahrnehmungsfähigkeit darstellt. »Ihre kulturhermeneutische Tradition stand …
I. 3 Theorieverständnis
37
der Themenbestand nicht mehr nur durch kirchliche Handlungsformen bestimmt, vielmehr fragt die Praktische Theologie nach der Fülle der Formen und Funktionen gelebter Religion.97 Als »positive Wissenschaft«98 blickt sie zweckbezogen auf den dynamischen Gegenstand ausgeübter Frömmigkeit im Alltag der Einzelnen, der Familien und Gruppen und ihrer kirchendistanziert-verselbständigten Spuren, die eine auf die Kulturpraxis des Christentums ausgerichtete Praktische Theologie ebenso interessieren.99 Im Zuge des sogenannten »cultural turn« werden die Disziplingrenzen unschärfer. Die Praktische Theologie sucht sich »je und je von neuem … aus dem Reich des Gesamtwissens dasjenige heraus, was sie zur Erledigung ihrer jeweiligen Aufgabe braucht. Sie stellt sich das zu ihrer Zweckerfüllung erforderliche Wissensmaterial aus anderen Wissenschaften zusammen – sie ›entleiht‹ sich das Wissen aus den realen Wissenschaften. Die Praktische Theologie verfügt über kein Wissen, das nicht schon in anderen Wissenschaften präsent gehalten wäre. Sie stellt dieses Wissen lediglich zu eigenen, zweckbezogenen Formationen zusammen und bringt es auf eigene Weise zur Geltung.«100 Eine besondere Gesprächsmöglichkeit bietet die kulturwissenschaftliche Disziplin der Volkskunde, »mit den Schlagworten des wissenschaftlichen Diskurses um Alterität, Kontinuität und Identität, d.h. um ein Verstehenwollen der Andersartigkeit vergangener Zeiten, aber auch um das lange Zeit im Schatten der Dialektischen Theologie und konnte selbst von den humanwissenschaftlich und handlungstheoretisch orientierten Konzepten des Faches in den 70er und 80er Jahren des 20. Jh. nicht angemessen wahrgenommen werden.« 97
Vgl. dazu die Erläuterungen zur permanenten Umformungssituation, in der sich das Christentum in der Neuzeit befindet. Dies fordert die Praktische Theologie heraus, »die permanenten Individualisierungen und Pluralisierungen christlichreligiöser Lebenswirklichkeiten und Lebensführungen in den Blick zu nehmen, einer theologischen Deutung zugänglich zu machen und auf Möglichkeiten, bzw. Notwendigkeiten ihrer Gestaltung hin zu bedenken.« ALBRECHT, Probleme, 2. Zur Debatte um den erweiterten Kulturbegriff der Gegenwart siehe z.B. GERHART SCHRÖDER, HELGA BREUNINGER (Hrsg), Kulturtheorien der Gegenwart. Ansätze und Positionen, Frankfurt/Main 2001. 98
FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, Berlin 21830, in: Kritische Gesamtausgabe. Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abteilung. Schriften und Entwürfe, Bd. 6 : Universitätsschriften, hrsg. von DIRK SCHMID, Berlin/New York 1998, §1 (=KGA I,6, 317-446, 325). 99
Vgl. RASCHZOK, Modeerscheinung, 78 mit ALBRECHT, Kulturwissenschaft, 320.
100
A.a.O., 325f.
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I. Einleitung
Fortleben alter Strukturen, Wissensformen und Selbstverständlichkeiten, die insgesamt einstige und heutige Selbstfindung mitbestimmen.«101 Das Programm der religiösen Volkskunde gegen die ›Lebensweltvergessenheit der Theologie‹102 aufzunehmen, bietet jenseits der Methoden der Befragungen Wege der Einfühlung in die Alltagswelt der Menschen.103 Eine materialiter, an den Kulturleistungen der alltäglichen Glaubenspraxis interessierte, Praktische Theologie104 findet in diesem benachbarten Fachbereich ein inspirierendes Gegenüber, das sie in ihren Aufgaben als protestantische Kulturhermeneutik zu unterstützen vermag. Für die hier vorliegende Arbeit konkretisiert sich die Konsultation der Volkskunde besonders im dritten Kapitel bei den Erkundungen zum Geburtstag und im vierten Kapitel bei der Zuwendung zu verbreiteten historischen Glaubenslebenslauf-Bildern. Aus volkskundlicher Perspektive ist die Aus-einandersetzung mit Kunstwerken, die Theologisches zu erkennen geben, eine drängende Aufgabe.105 Noch darüber hinaus prägt die
101
WOLFGANG BRÜCKNER, Die Sprache christlicher Bilder, Nürnberg 2010, 10.
102
Eine Praktische Theologie, die antritt, »die Lebensweltvergessenheit der Theologie zu überwinden und ›zu erkennen, wie die Leute religiös fühlen und denken‹« (HENNING LUTHER, Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 16) versucht, »dem spezifischen Eigensinn der Alltagskommunikation gerecht zu werden und gerade die darin enthaltenen, virulenten und latenten Fragen, Widersprüche und kritischen Einsprüche gegen religiös-ideologische Gewißheiten und dogmatische Behauptungen aufzuschlüsseln.« Ebd. Im Hintergrund dieses Interesses an der Lebenswelt steht die Neugier, zu erkunden, welchen Rang Aspekte des abstrahierenden theologischen Diskurses in alltäglichen Kontexten eigentlich haben. 103
Diese Methoden haben ihre eigene Stärke, beeinflussen aber entscheidend auch die Wahrnehmung: Sie können nur auf Fragen und Inhalte Expliziertes erfassen. Selbst bei sorgfältiger Prüfung der Forschungsimpulse, verändert dies entscheidend das, was erhoben werden kann. Andere Vorgehensweisen der gegenwärtigen Kulturwissenschaften haben je eigene Schwächen. Die hier gewählte ist bewusst eine indirektere als die der Befragung: Sie geht davon aus, dass die Vorstellungen zum Glaubenslebenslauf und ihrer Alltagsrelevanz empfindlich beeinflusst werden, wenn sie zum Inhalt eines Interviews oder einer Befragung werden. Statt dessen wählt sie eine Beobachtungsfläche, auf der der Forschung möglich ist, sekundär hinzuzutreten und das Phänomen zu beobachten: die verdichteten Imaginationsleistungen in vormodernen Bildern, zeitgenössischen Internetgedichten und wissenschaftlichen Modellvorstellungen. 104
Vgl. INKEN MÄDLER, Transfigurationen. Materielle Kultur in praktisch-theologischer Perspektive, Gütersloh 2006. 105
»Die schon angesprochene Sinneskonstitution des Menschen als anthropologische Voraussetzung aller Wahrnehmungsfähigkeit kennt vielerlei ›Sprachen‹, nicht nur
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Kontaktaufnahme zur Kulturwissenschaft Volkskunde auch die gesamte Ausrichtung der Studie und ihren zentralen Erkenntnisschlüssel zum Verständnis der über viele Jahrhunderte tradierten, ineinander vermengten Imaginationentypen. Weiterhin ermöglichte die kunsthistorische Mittelalterforschung, als eine weitere kulturwissenschaftliche Nachbardisziplin, die im vierten Kapitel zu Rate gezogen wird, praktisch-theologische Folgeuntersuchungen. Die Beschäftigungen mit christlichen Kulturleistungen versteht sich als praktisch-theologische Mitarbeit unter dem Stichwort »Religion im Museum«. Dabei geht es um »die Suche nach den verlorengegangenen Gewissheiten, ohne schwärmerische Nostalgie, aber mit Aufmerksamkeit für das einst andauernde ernsthafte Bemühen unserer Vorfahren und immer noch vieler unserer verunsicherten Zeitgenossen.«106 Das Interesse an lebensweltlichen Äußerungen in Geburtstagsgedichten (Kapitel 3) und kulturellen Deutungsleistungen in historischen Bildern (Kapitel 4) zur Frage der religiösen Entwicklung entspringt diesem kulturwissenschaftlich perspektivierten, praktisch-theologischen Wissenschaftsverständnis der vorliegenden Studie: Sie erwartet, dass der reflektierende Kontakt mit der Alltagsklugheit der Menschen und dem Kunstgedächtnis des Christentums die spezifische Blickverengung der wissenschaftlichen Modelle, die seit vielen Jahrzehnten durch ihre empirisch-naturwissenschaftliche Ausrichtung ein Anspruch auf objektives Erkennen und Feststellen von Spiritualität umgibt (Kapitel 2), öffnet und weitet.
die des Sprechens und Hörens, sondern … auch der bildenden Kunst als Erfahrungsquelle. ›Mit den Augen denken‹ stellt …, wie wir heute wissen, die höchste Ausstattung der Physis des Homo Sapiens sapiens dar. Uns umgibt daher im Museum nicht eine Welt von vorgestern, mit der wir nichts mehr zu tun haben, weil wir sie nicht mehr richtig im Wortsinne begreifen können, so dass wir uns nur noch auf deren Außenerscheinung als dekorativ Schönem konzentrieren. Im Gegenteil, diese fremd gewordene Welt in Reststücken, Relikten, also Ruinen ihrer einstigen Lebenszusammenhänge für die Menschen damaliger Zeit, lässt sich anschauen und wissend aneignen und rekonstruieren zu dem, was wir das Verstehen nennen. Dabei müssen wir uns allerdings hüten zu glauben, damit schon die ganze Wirklichkeit der Tatsachen von einst erfahren zu können. Alle Geheimnisse lassen sich nicht wieder herstellen. Geschichte bleibt für uns immer nur eigene, d.h. selbst produzierte, subjektiv erzählte, in gelehrter Vorstellungskraft imaginierte Annäherung.« BRÜCKNER, Sprache, 24. 106
A.a.O., 215.
I. Einleitung
40
I. 4
Stand der Forschung
I.4 Stand der Forschung
Glaubenslebenslauf-Imaginationen wurden in der hier vorgelegten Weise noch nicht in den Fokus einer praktisch-theologischen Untersuchung gerückt. David Plüss, Johannes Stückelberger, Andreas Kessler teilen in einer Festschrift für Maurice Baumann die auch im vorliegenden Projekt grundlegende Einschätzung, dass der inspirierten und inspirierenden Vorstellungskraft in der Praktischen Theologie ein wichtiger Platz zusteht:107 Denn Wissenschaft beinhaltet immer auch die Kunst der Imagination108 und die besondere Herausforderung der Praktischen Theologie sei, »die Sinnpotentiale des Christentums für politische und kirchliche Selbstdeutungen in ihrem jeweiligen kulturellen Gedächtnisraum« zu imaginieren. Die Autoren, die sich für diese Festschrift gewinnen ließen, legten ihren Beiträgen ein Kunstwerk zugrunde, das sie inspiriert.109 Sie verdeutlichen, dass die Beschäftigung mit Kunst die Arbeit der Praktischen Theologie in vielfältiger Weise in theoretischer Reflexion und praktischer Anschauung anreizt und vertieft.110 Der Begriff »Imagination« taucht vereinzelt im Bereich der religiösen Bildungstheorie und Religionspädagogik auf: Eine aktuelle Monographie hat Martin Steinhäuser vorgelegt.111 Er entwickelt eine religionspädagogische Theorie der Einbildungskraft.112 Dazu beschreibt er, dass der christliche Glaube auf verständnisintensives Lernen durch die Entwicklung 107
Vgl. PLÜSS, Vorwort, 7.
108
Ebd.
109
Ralph Kunz und Matthias Zeindler wählen ein literarisches Werk, Christoph Morgenthaler ein Gedicht, David Plüss und Andreas Marti ein Lied, Thomas Schlag eine Musikinterpretation, Pierre-Luigi Dubied und Moisés Mayordomo einen Film, Kurt Schori, Christoph Müller ein Bild, Piere Paroz einen biblischen Text, Johannes Stückelmann eine Raumgestaltung, Ernst Axel Knauf die Figur des Nilpferds, Albrecht Grözinger die Figur des Freibeuters, Félix Moser das Phänomen der Mode, Andreas Kessler die Gestaltung privater Weihnachtsbeleuchtungen. Vgl. PLÜSS, Imagination. 110
Vgl. a.a.O., 8.
111
Vgl. STEINHÄUSER, Imagination.
112
Steinhäuser bietet auch einen Überblick zum Stand der religionspädagogischen Aufnahme des Imaginationsbegriffs (Vgl. a.a.O., 60ff) und in allgemeinpädagogischer Verwendung (Vgl. a.a.O., 30ff).
I.4 Stand der Forschung
41
religiöser Vorstellungen angewiesen ist, denn einerseits sei »der Glaube ohne religiöse Vorstellungen im theologischen Sinn nicht lebendig« und andererseits stelle der Glaube »die Frage nach der Wahrheit, indem er die Realität Gottes in Jesus Christus in die Wechselwirkung mit dem imaginierenden Subjekt einbringt.«113 Er resümiert, dass die Einbildungskraft konstitutiv in die theologisch-anthropologische Balance der vertrauensvollen Grundhaltung (fiducia) des Glaubens gehört, durch die der Mensch glaubt (fides qua creditur) und die sich dem unverfügbaren Wirken des Heiligen Geistes verdankt.114 Während Steinhäuser in seiner Arbeit die Tätigkeit des Imaginierens besonders focussiert und dabei verschiedene pädagogische Handlungsfelder einbezieht,115 konzentriert sich die hier vorgelegte Studie auf einen spezifischen Inhalt des Imaginierens: auf Vorstellungen zur Gestalt des Glaubens im Laufe der Lebensalter, die im Raum der Wissenschaft, der alltäglichen Lebenswelt und des christlichen Bildgedächtnisses betrachtet und miteinander in Beziehung gesetzt werden. In der Poimenik und in der Pastoralpsychologie wird das Thema »spiritueller Lebenslauf« seit kurzem wiederentdeckt.116 Das Phänomen der sogenannten »Geistlichen Begleitung« kann als Brücke zwischen psychologischen Reifungsprozessen und Glaubensentwicklung verstanden werden, die den Versuch einer geistlichen Interpretation des Lebensverlaufs unternimmt.117 In Fortbildungen zur Geistlichen Begleitung wird regelmäßig auf
113
A.a.O., 83.
114
Vgl. a.a.O., 296.
115
Steinhäuser beschreibt vier Ebenen des Imaginationenbegriffs: menschliches Vermögen, menschliche Tätigkeit, Inhalt der Vorstellungskraft und Schema im Sinne Kants, bzw. Paradigma oder auch Leitbild im Sinne Thomas S. Kuhns. Vgl. a.a.O., 30. 116
Einige Jahrzehnte war im Zuge der hohen Bedeutung des pastoralpsychologischen Paradigmas die Frage nach der religiösen Biographie eines Menschen den anderen Gesprächsanliegen untergeordnet. Eine Selbstreflexion der eigenen Modellvorstellungen zu Fragen der spirituellen Entwicklung wurde nicht angestellt. (S.o. Biographiearbeit unter Lebenslauf) In der Pastoralpsychologie wurden Fragen der Spiritualität ohnehin vernachlässigt. Dem steht gegenüber, dass gegenwärtig die spirituelle Begleitung ein wichtiges Thema von Psychotherapie, Medizin und Pflege ist und »spirituelles Wohlbefinden« als eigenständiger Bestandteil umfassender Gesundheit gesehen wird. Vgl. DOROTHEA GREINER u.a., Geistlich Begleiten. Eine Bestandsaufnahme aus evangelischer Perspektive, Leipzig 2010, 11-21, 20. 117
Vgl. a.a.O., 20. Michael Utsch formuliert als Verständnis, das sich innerhalb der Landschaft Geistlicher Begleitung vielerorts niederschlägt: »Die spirituelle Entwicklung ist eingebettet in den personalen Reifungsprozess.« MICHAEL UTSCH, Psychologi-
42
I. Einleitung
die Aufgabe der »Rekonstruktion des spirituellen Lebenslaufs« hingewiesen.118 Unterschiedliche kreative Methoden dienen dabei, sich der eigenen religiösen Biographie bewusst zu werden. Die unbewusste Steuerung internalisierter Modellvorstellungen vom Glaubenslebenslauf – besonders auch im seelsorglichen Gespräch – ist in ihrer Bedeutung weitgehend unerforscht.119 Diese Arbeit schließt darüber hinaus an die Kritik gegen die Vorstellungen von der prozessualen Höherentwicklung einer zunehmenden Identität des Menschen an.120 Sie ließ sich inspirieren von der Idee Gabriel sche Hilfen zur spirituellen Entwicklung, in: DOROTHEA GREINER u.a., Geistlich Begleiten. Eine Bestandsaufnahme aus evangelischer Perspektive, Leipzig 2010, 174-195, 178. 118
»Grundphasen und Krisen des religiösen Weges«, werden als Teil der Qualifikation im Kurs der Universität Zürich reflektiert (Vgl. a.a.O., 227), die Evangelische Michaelsbruderschaft spricht von »Einzelgesprächen zum ›spirituellen Lebenslauf‹« (A.a.O., 247). 119
KLESSMANN, Seelsorge, 270f erläutert, dass zwei Menschen im Gespräch ihre gegenwärtige Lebenssituation und die Erfahrungen ihrer Biographie mit einbringen. Eine Begegnung beginnt niemals am Nullpunkt. Neben der spontanen Übertragung (Assoziationen an eine bekannte Person aus der Vergangenheit), der typologischen Übertragung (Erinnerung an bestimmte Rollen und Erfahrungen) und der notorischen Übertragung (Verknüpfung mit oft unbewältigten Erlebnissen und Bindungen) wäre m.E. die Übertragung durch Einordung des Gegenübers nach Lebensalter-MusterVorstellungen und Lebenslauf-Modellen, d.h. in religiöser Hinsicht nach den jeweils für die Beteiligten relevanten Glaubenslebenslauf-Imaginationen aufschlussreich zu erforschen. Beispiel: Ein Seelsorger, der nach Fowlerschem Modell seinem Gegenüber zuhört, wird anderes wahrnehmen als einer nach anderer Imagination. Wiederum wird ein Mensch, der eine Version seiner Lebensgeschichte erzählt, mit seinen Glaubenslebenslauf-Imaginationen arbeiten. 120
Vgl. LUTHER, Religion und GUNDA SCHNEIDER-FLUME, Die Identität des Sünders. Eine Auseinandersetzung theologischer Anthropologie mit dem Konzept der psychosozialen Identität Erik H. Eriksons, Göttingen 1985. Luther erklärte: »Mißverstanden wird m.E. das Identitätskonzept dann, wenn der Identitätsbegriff nicht als regulatives Prinzip einer Entwicklung, sondern als deren konstitutives Ziel angesetzt wird. Vielfach aber wird – mehr oder weniger explizit – bei der Verwendung des Identitätsbegriffs genau dies unterstellt. Als ginge es um die Schaffung und Herausbildung einer Identität, die zu einem bestimmten Zeitpunkt … erreichbar ist.« LUTHER, Religion, 163. Schneider-Flume kam ebenfalls zum Einspruch gegen die Entwicklungsmodelle des gläubigen Individuums. Sie widersprach harmatologisch dem System der Identitätsentwicklung des Menschen: »Die Entwicklung des seine Identität herstellenden Menschen stellt sich dar als Ausgehen von den Konflikten der Vergangenheit über die Bewältigung der Gegenwart in eine zu leistende bessere Zukunft. Die starke Betonung des Entwicklungsgedankens vermittelt andererseits den Eindruck von Flüchtigkeit, insofern der seine Identität leistende Mensch von Krise zu Krise zur nächsten Entwicklungsstufe eilt. Gegen diese Lebensbewegung steht das befreiende: ›Siehe, es ist alles neu geworden.‹ Gottes Neuschaffen deckt die Sünde des Menschen
I.4 Stand der Forschung
43
Morans, nach alternativen Bildern für die religiöse Entwicklung zu forschen.121 Der Stand kulturwissenschaftlicher, historischer und soziologischer Forschung zu den Lebensaltern weist jüngst eine interessante Neuorientierung auf: In den 1980er Jahren wurde das Thema »Lebensalter« zum anachronistischen, nur noch historisch interessierenden Stoff erklärt. Er sollte vom Topos der Lebensstile und Gesellschaftsschichten abgelöst werden. Gegenwärtig wird das Thema Lebensalter neu entdeckt, weil die Paradigmen der Moderne, Pluralisierung und Individualisierung in ihrem Absolutheitsanspruch hinterfragt werden.122 Nun interessiert wieder mehr – auch im Sinne der Konsum- und Wirtschaftskritik – wer wie und warum von Lebensaltern spricht, und welche Modelle vom Lebenslauf im Institutionengedächtnis der Gesellschaft weiterhin prägend sind, systemintegrativ – wenn auch biographisch-sozialintegrativ scheinbar relativiert.123 auf, der das Vergangene nicht abtun kann und im Gegenwärtigen nicht präsent ist, weil er seine kontinuierliche Entwicklung gewährleisten muß. Das Wunder der Neuschaffung begründet Präsenz und Fülle: Hier und jetzt darf sich der Mensch dem Leben in der Geschichte mit Gott hingeben.« SCHNEIDER-FLUME, Identität, 128. Auch KLAUS RASCHZOK, Christuserfahrung und künstlerische Existenz. Praktischtheologische Studien zum christomorphen Künstlerselbstbildnis, Frankfurt a.M. 1999, bemerkt, dass seine Betrachtungen des christomorphen Künstlerselbstbildnisses darauf hinführen, das Identitätskonzept Eriksons um den von Schneider-Flume eingeforderten Aspekt der Sündenerkenntnis zu ergänzen, eine »Befreiung vom Zwang der ausschließlich durch das Ich zu leistenden Identität. Die eigentliche Leistung der Identitätsbildung … erfolgt nicht mehr ausschließlich durch das Ich, sondern in seinem Gegenüber zu Christus. Christus gewährt das Aushalten von Spannungen und Brüchen.« A.a.O., 368. 121
Vgl. GABRIEL MORAN, Alternative Bilder der Entwicklung, in: GERHARD BÜTTNER/VEITJAKOBUS DIETERICH (Hrsg.), Die religiöse Entwicklung des Menschen. Ein Grundkurs, Stuttgart 2000, 159-174. Er geht diese Suche philosophisch an und erkundet die denkerischen Bildalternativen, auf der Suche nach größerer Vielfalt. Er plädiert für eine Erweiterung der zweidimensionalen auf dreidimensionale Bilder und auf den Einbezug einer größeren Anzahl der Sinne. Er findet dabei zu einem Plädoyer für eine spezifische Pädagogik des Gesprächs jeder Art zwischen den Generationen. 122
Zur Infragestellung der Relevanz der Lebensalter im Zuge ihrer Relativierung bzw. Biographisierung in den 1980er Jahren siehe BERNICE LEVIN NEUGARTEN, Age or Need? Public policy for older people. Beverly Hills 1982. Vgl. dazu BÖHNISCH, Sozialpädagogik. 123
Böhnisch stellt dar, dass in der Soziologie und Sozialpädagogik in den 1980er und 1990ern diskutiert wurde, ob die Kategorie der Lebensalter nicht ganz sinnentleert werde und klärt die scheinbare Nivellierung der Lebensalter dadurch, dass die traditionellen Lebensalter systemintegrativ weiterhin den Lebenslauf strukturieren, »auch wenn ihre Grenzen untereinander fließend sind und sich oft verwischen. Erziehung, Bildung und Ausbildung (Kindheit und Jugend), Erwerbstätigkeit (Erwa-
I. Einleitung
44
Philosophie und Theologie bieten bisher kaum metatheoretische Diskursbeiträge zu den Vorstellungen vom Glaubenslebenslauf. Sie erarbeiteten aber zahlreiche, insbesondere aus der Zusammenarbeit mit der Entwick-lungspsychologie inspirierte, Untersuchungen sowohl zur Frömmigkeit einzelner Lebensalter als auch zum Wesen des Glaubens, seiner Dynamik im Lauf der Lebensspanne. Diese aber zählt die vorliegende Arbeit weniger zum Forschungsstand als vielmehr zu ihrem metatheoretisch fokussierten Forschungsobjekt.
I. 5
Relevanz
I.5 Relevanz
Die Frage nach seiner Verbindung zum Lebenslauf stellt sich dem christlichen Glauben im Laufe seiner Historie mit zunehmender Dringlichkeit: Zunächst ist sie eher zweitrangig: In den neutestamentlichen Texten spiegelt sich die Konzentration auf den endzeitlichen Kairos des Christusglaubens. Die biographische Notiz des Paulus »avpokalu,yai to.n ui`o.n auvtou/ evn evmoi« (Gal 1,16) entfaltet die Apostelgeschichte zu einer Begegnung mit dem ihn ansprechenden Christus, die Paulus nieder- und umwirft. (Apg 9,4) Er wird schlagartig bekehrt. Der Glaube kommt wie ein Sturm: »Der Geist weht, wann und wo er will.« Wer erfasst ist und durchdrungen von der Wahrheit, wer erkennt und glaubt, dass Christus der Sohn des lebendigen Gottes ist, hat das ewige Leben und ist vom Tod ins Leben gedrungen. Die frühen Schriften bewerten das Annehmen des Wortes als das allein Entscheidende.124 Die Taufe koinzidiert mit dem im Geist vollzogenen Schritt in ein neues Leben. Die Getauften werden ermahnt und ermuntert in vielerlei Weise, in der Gnade und Erkenntnis Jesu Christi zu wachsen (2. Petr 3,18). Die ersten Generationen verdichten aber noch keine Glaubenslebenslaufmodelle. chsenenalter) und Entberuflichung (Alter) sind immer noch die Kristallisationspunkte, an denen sich die Lebensperspektiven im Lebenslauf – von welchem Lebensstil und welcher Lebensform aus auch immer – ausrichten und an die die gesellschaftlichen Rollenerwartungen gebunden sind. Aus der sozialintegrativen Perspektive des biographischen Lebenssinns, der lebensweltlichen Normakzeptanz und der zwischenmenschlichen Lebensgestaltung (so auch das sozialpädagogische Verständnis von Sozialintegration) haben sich dagegen Perspektiven entwickelt und werden konsumtiv und alltagskulturell gefördert, welche diese tradierte Struktur der Lebensalter relativieren und nivellieren.« A.a.O., 75. 124
Die Evangelien verdichten in den Jüngerberufungen dieses Geschehen, dass Christus »Folge mir nach« ruft und die Angesprochenen alles verlassen, um bei ihm zu bleiben.
I.5 Relevanz
45
Dies ist ein Phänomen der Parusieverzögerung und der Verbreitung der Kindertaufe. Beides beförderte, dass immer mehr Menschen im Glauben von klein auf und bis ins Alter von einem christlichen Leben erzählen und damit ihre Nachkommen ermutigen und beraten konnten. Nun verschmolzen Lebensweg und Glaube ineinander durch Sitten, Riten, Bräuche, Lieder, Gebete. Lebenswege von Heiligen und Märtyrern wurden erzählt und unterdessen die alltäglichen Glaubenslebensläufe in Familien und Dorfgemeinschaften geteilt. Schließlich förderte die Auseinandersetzung um die Reformation im 16. Jahrhundert die Profilierung des christlichen Selbstverständnisses auch in der Frage, wie ein Leben im Glauben zu gestalten sei. Dann kehrte in den lange Zeit nach Konfessionen abgegrenzten Gebieten wieder eine gewisse Ruhe in dieser Frage ein, denn der Alltag und die Spanne des menschlichen Lebens war für alle je nach Region in spezifischer Weise geprägt und strukturiert: durch Feiertage, Verhaltensgebote, Gottesdienstzeiten, in protestantischen Gegenden besonders auch durch das Glockengeläut des Morgen- und Abendgebetes, spezifische Lerninhalte wie Hauptstücke des Katechismus, Choräle und Bibelverse. Die Schulstuben legten einen Schatz an Zitaten, die in allen Lebensaltern halfen zu beten, zu trauern, zu hoffen, zu bekennen. Eine konfessionell vorbestimmte Religion »ohne Entscheidung«125 prägte jahrhundertelang die Lebensläufe. Dies ändert sich durch Säkularisierung, Pluralisierung und Individualisierungsprozesse, deren Anfänge kaum zu fixieren sind, die sich aber spätestens ab dem 17. Jahrhundert im christlichen Kulturraum verstärken. Nun vervielfältigen sich auch die Möglichkeiten, Leben und Glauben miteinander zu verbinden. Die Vorstellungen zur Gestaltung ihres Ineinanders werden vom theologischen Spezialwissen für kirchliche Berufsgruppen etwa seit dem 20. Jahrhundert zum immer breiter diskutierten Thema für alle, die über ihren spirituellen Lebensweg imaginativ nachdenken, ins Gespräch kommen wollen und nach Orientierung fragen, wie dies in Glaubenskursen geschieht. Glaubenslebenslauf-Imaginationen sind keine seltenen, nüchternen oder gar abgehobenen Konstruktionen. Wer einmal dafür sensibilisiert ist, vermag sie überall zu entdecken, wo Menschen über ihr zeitlich begrenztes Dasein grübeln und rätseln und nach den spirituellen, christlichen
125
»Religion ohne Entscheidung« ist eine Anspielung darauf, dass diese konfessionelle Prägung der Lebensläufe sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein erstreckt. Vgl. HANS-OTTO WÖLBER, Religion ohne Entscheidung. Volkskirche am Beispiel der jungen Generation, Göttingen 1959.
46
I. Einleitung
Selbstverständnis in Vorstellungen, Mustern und Erfahrungen anderer fragen. Im Bereich des gottesdienstlichen Lebens lassen sich jenseits der individuellen Imaginationsmomente ritualisierte Orte im Kirchenjahr festhalten, die besonders zur Aktivierung von Glaubenslebenslauf-Imaginationen einladen, wie Volkstrauertag, Ewigkeitssonntag und Advent und deren eschatologische Impulse, oder auch Christi Himmelfahrt und Exaudi mit ihrer pneumatologischen Spannung in der Hoffnung auf den Heiligen Geist. Für das weite Feld der impliziten, »säkularisierten und pluralisierten« Religiosität im Dunstkreis der christlich geprägten westlichen Lebenswelt, öffnet sich eine weit ausgreifende Beobachtungslandschaft in Todesanzeigen, Geburtsmitteilungen und vielerlei Ausdrucksweisen, die Menschen zu erkannten Zäsuren des Lebens hervorbringen. Aus Freude an der Imaginationskraft der Menschen seit frühen Jahrhunderten des christlichen Glaubens wurde diese Arbeit geschrieben und mag sie auch zu lesen sein.
II. Wissenschaftliche GlaubenslebenslaufImaginationen
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
II. 1
Eine fachgeschichtliche Analyse
II.1 Eine Fachgeschichtliche Analyse
Für die vorliegende Studie wurden die aktuellen Theoriebildungen zur religiösen Entwicklung in Theologie und Religionspädagogik in die Wurzeln ihrer Vergangenheit hinein verfolgt. Dies geschah mit besonderem Interesse für die bildlichen Dimensionen, ihrem Imaginationspotential. Dabei drängte sich eine Denkfigur besonders auf, die im Folgenden als »paradigmatische Imagination zum Glaubenslebenslauf« bezeichnet und in den Fokus der Darstellung gestellt wird.
II. 2
Die paradigmatische Imagination wissenschaftlicher GlaubenslebenslaufVorstellungen
II.2 Die paradigmatische Imagination
Die paradigmatische Imagination lässt sich in die Formel: »Der Mensch entwickelt sich wie die Menschheit« fassen. Mit diesem Denkschlüssel beschreiben wissenschaftliche Theorien die Verwobenheit von Glauben und Leben als phylo- und ontogenetisch parallele Epochenfolge: So, wie sich die Kulturgeschichte von ihren Anfängen bis zu den gegenwärtigen Zuständen entwickelt habe, vollzögen auch die Einzelnen ihre Entwicklungsschritte, vom Primitiven bis zum heute möglichen Status (der von manchen schon als Spitze der Entwicklung, von anderen erst als Schritt,
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
48
dem noch viele folgen werden, angesehen wird). Dieser Analogieschluss von der individuellen auf die Menschheitsentwicklung – und umgekehrt – ist heuristische Theoriefigur neuzeitlichen, empirisch-wissenschaftlichen Forschens,126 in der naturwissenschaftlichen Zuspitzung bekannt als »biogenetisches Gesetz«. In den aktuellen Sozial- und Kulturwissenschaften wird diese paradigmatische Imagination kritisch diskutiert.127 Denn die Parallelisierung von Phylo- und Ontogenese fixiert die Idee einer enormen Distanz zwischen den Lebensaltern – nicht geringer als der gesamte Gang von Evolutions- und Zivilisationsgeschichte und noch dazu machtvoll in der Sprache jener Wissenschaft formuliert, »die als die genaueste und unwiderlegbarste gilt und der die anderen Wissenschaften gelegentlich nacheifern: der Naturwissenschaft.«128 Auch theologische Glaubenslebenslauf-Modelle erweisen sich in besonderer Weise von dieser Denkfigur geprägt. In ihrem Gefolge reflektieren sie das Verständnis von Kindheit in einer phylogenetisch imaginierten natürlichen Wesensdifferenz zu den anderen Lebensaltern, als »EntdeDkung der Kindheit«129 und als »Entdeckung der Religion des Kindes« (sogar mit einer Vorgeschichte bis in die Reformationszeit verlängert).130 Bis 126
Vgl. BÜHLER-NIEDERBERGER, Kindheit, 169.
127
Ebd. In der Biologie ist dieses »biogenetische Gesetz«, dass die Ontogenese die Phylogenese wiederholt, weitgehend widerlegt. Als Rekapitulationstheorie hat sie aber weiter heuristische Bedeutung. Vgl. dazu z.B. STEPHEN JAY GOULD, Ontogeny and Phylogeny, Harward 1977, REINHARD JUNKER, Ähnlichkeiten, Rudimente, Atavismen, Holzgerlingen 2002, WERNER A. MÜLLER/MONIKA HASSEL, Entwicklungsbiologie und Reproduktionsbiologie von Mensch und Tieren. Ein einführendes Lehrbuch, Berlin 2005. 128
Ebd.
129
Vielbeachtet ist in der Theologie das Werk PHILIPPE ARIÉS, Geschichte der Kindheit, München 41977. Mit »Entdeckung der Kindheit« ist die stärkere gedankliche und dann institutionalisierte Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen gemeint, »wie sie sich seit dem ausgehenden Mittelalter anbahnt, aber je nach sozialer Klasse anders vollzogen wird.« BÜHLER-NIEDERBERGER, Kindheit, 16. 130
Aus einer bildtheoretischen Perspektive erscheint dies als anachronistische Projektion entwicklungspsychologisch orientierter theologischer Forschungsfragen und Erkenntnisse über die einzelnen Lebensalter und den Lebenslauf, die eine enorme geistesgeschichtliche Bruchstelle ignoriert und einebnet zu Gunsten einer linearen »Problemgeschichte einer religionspädagogischen Grundfrage«, wie dies FRIEDRICH SCHWEITZER, Die Religion des Kindes. Zur Problemgeschichte einer religionspädagogischen Grundfrage, Gütersloh 1992 unternimmt. Die »Herausbildung der modernen religionspädagogischen Kindheitsvorstellung« kann dann schon bei Martin Luther einsetzen – mit unverhohlenem Stolz schon vor die Aufklärung platziert werden – und in acht großen Schritten entlang der wichtigsten religionspädagogi-
II.2 Die paradigmatische Imagination
49
heute fördern Theologie und Religionspädagogik die wissenschaftliche Analyse der Natur des Kindes, die seit dem 18. Jahrhundert in Gang gebracht wurde und versuchen, sich bezüglich der Religiositätsforschung daran zu beteiligen.131 Darüber hinaus evoziert die phylo- und ontogenetische Strukturanalogie als heuristische Theorie anthropologischer Naturforschung das spezialisierte Erforschen an allen Lebensaltern und ihrer Religiosität. Die paradigmatische Imagination wird dabei unterschiedlich weit zugespitzt – von der nur formalen Musterähnlichkeit (dass sich der Glaubenslebenslauf als kultureller Geschichtsprozess auch individuell beschreiben lässt) bis zur inhaltlichen Identifizierung (dass Glaubenslebenslauf als individuelle Kulturgeschichte von den Naturvölkern bis zur Industriegesellschaft durchbuchstabiert wird.)
schen Entwürfe dargestellt werden. Das biogenetische Gesetz ist so nur eine leicht absonderliche Zuspitzung eines grundlegenden religionspädagogischen Fragens nach der Anthropologie des Kindes und seines Glaubens und dem der anderen Lebensalter. Die aktuellen gängigen Modellvorstellungen zum Glaubenslebenslauf sind ihrerseits damit gewachsene Früchte des theologischen Nachdenkens von der Reformation bis zur Gegenwart, durch den historischen Kontext selbstverständlich geprägt, doch in ihrer Denkweise die entscheidende Brille auch für die Reflexion religionspädagogischer Entwürfe vor der Aufklärung. Wer die prägenden Bildwelten betrachtet, kann eine solch lineare Problemgeschichte nicht teilen. Denn sie erkennt, dass in der Aufklärung eine bis heute wirkkräftige paradigmatische Imagination etabliert wurde, die sich dem theologischen Nachdenken vor der Aufklärung nicht einfach unterschieben lassen kann! Der Bruch, den die sozialwissenschaftliche Forschung »Entdeckung der Kindheit« nennt, ist auf der imaginativen, bildprägenden Ebene tatsächlich von so großer Bedeutung, dass nicht hilfreich ist, diesen geistesgeschichtlichen Einschnitt zu übersehen und z.B. für Luther die »Wahrnehmung des Kindes als Kind und auch der Kindheit als einer eigenen Lebensphase herauszustellen«. A.a.O., 63. Wer Problemgeschichte so konstruiert, findet nicht in den Modus der alternativen Denkweisen, sondern nutzt historische Darstellung, um die (vermeintliche) Würde der gängigen Modellvorstellungen entwicklungspsychologischer Couleur in der Religionspädagogik zu untermauern. Vgl. dazu auch die Erläuterungen von Ullrich zu Comenius. Er macht deutlich, dass auch die Bildungsstufen des Comenius nicht mit entwicklungspsychologischen Modellen zu verwechseln sind, da er in entscheidender Weise in gesellschaftlichen Ordnungen nicht in dynamischer Entwicklung denkt. Vgl. HEINER ULLRICH, Das Kind als schöpferischer Ursprung. Studien zur Genese des romantischen Kindbildes und zu seiner Wirkung auf das pädagogische Denken, Bad Heilbrunn 1999, 78. 131
Inzwischen laufen sie aber Gefahr, mit diesem separierenden Blick auf die Lebensalter, insbesondere auf Kindheit, Jugend und Alter – metaphorisch gesprochen – allein zurück zu bleiben am »Seziertisch des Menschseins«. Andere Wissenschaften haben sich erschüttern lassen von der Beobachtung, dass die vermeintliche »Entdeckung der Kindheit« ambivalent ist, ja als »Apartheitsgeschichte« gelesen werden kann – nicht nur als Befreiung des Kindseins und seiner Rechte.
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
50
Im Folgenden wird zunächst dieser paradigmatischen Imagination im Zuge des genetischen Denkens der Aufklärung nachgegangen. Sie wird dort nicht »erfunden« aber in spezifisch säkularer Weise etabliert: Sie erhält ihre Dignität als »Naturgesetz«.132 In einem zweiten Schritt wird ihre Fortschreibung in wissenschaftlichen Glaubenslebenslauf-Modellen in exemplarischen Stationen beschrieben. Abschließend werden diese in ihren typischen Vorstellungen als Bildpanorama überblickt.
II. 3
Der Ursprung der paradigmatischen Imagination und ihre Fortschreibung – exemplarische Stationen
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
II. 3. 1 Die Rousseausche Entdeckung
Die Abkehr von der Metaphysik, die in den großen Systemen des 17. Jahrhunderts ihren Höhepunkt gefunden hatte,133 öffnete im Zuge der Aufklärung den Raum für ein vielfältiges Erwachen des Interesses am Menschen.134 »Hinwendung zur Erfahrung« war der Schlachtruf des neuen
132
Die Wurzel der Parallelisierung der Entwicklung des Einzelnen und der Menschheit reicht weiter zurück: Im Eindruck der Untersuchung historischer Bildwelten (Kapitel IV) erscheint die phylo- und ontogenetische Strukturanalogie als säkularisierte Variante der augustinischen Vorstellung über die Einteilung sowohl des Lebenslaufs des natürlichen Menschen als auch – auf asketische Weise – des geistlichen Menschen und der biblischen Heilsgeschichte als »sechs-plus-eins«-Schema. (Siehe IV.4.2.) Der Unterschied des neuzeitlichen »biogenetischen Gesetzes« zu dieser altkirchlichen Idee liegt in der Beobachtungsoberfläche, auf der die Erkenntnisse erhoben werden: Augustinus erarbeitete sein Schema mittels geistlicher Schriftauslegung zum Zwecke paränetischer Verkündigung; das neuzeitliche biogenetische Gesetz ist Werkzeug empirischer Naturforschung im kulturkritischen Impetus. Die entscheidende Differenz liegt überdies in der Dynamisierung und Entgrenzung des Analogiemodells in der neuzeitlichen Variante: Für Augustinus ist die Epochenfolge offenbarungstheologisch festgelegt und steht vor ihrem Abschluss, für das biogenetische Denken hat der evolutionäre Prozess keine feststehende Grenze und daher keine fixierte Epochenzahl. 133 134
Siehe IV.3.
JOHN LOCKE, Versuch über den menschlichen Verstand. An Essay concerning Human Understanding (1690), Nachdruck der Neubearbeitung der C. Wincklerschen Ausgabe (1911-1913). In vier Büchern (zwei Bücher pro Band), erweitert um eine Bibliographie von Reinhard Brandt, Hamburg 52000, ist ein Wegweiser für das ihm folgende Jahrhundert. Zur Darstellung Rousseaus im Weiteren vgl. auch MARTIN RANG, Rousseaus Lehre vom Menschen, Göttingen 1959. Diese Analyse ist – unab-
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
51
Wissenschaftsbewusstseins, ähnlich wie im 17. Jahrhundert das Prinzip der mathematischen Einsichtigkeit prägend gewesen war. Erschien Newton als der große Vollender einer mathematischen Naturerklärung,135 so entwickelten sich nun, neben der auf die Mathematik gegründeten Physik, als eigenständige Erfahrungswissenschaften die Chemie – die große Mode jener Zeit – und die Biologie. Die angesagte Wissenschaftsmethode (erstmals von Condillac prominent herausgestellt) wurde »Analyse« genannt und umfasste zwei Vorgänge: Auseinanderlegen und Zusammensetzen nach der Ordnung des Werdens.136 Innovativ an diesem Vorgehen war das genetische Interesse. Alle Phänomene des Lebens interessierten nun unter der Perspektive ihres Gewordenseins – auch der Mensch selbst. Die Rekonstruktion des Werdens der Menschheit hielt lange Zeit die Geister in Atem - und wurde anhand unterschiedlicher Beobachtungsobjekte zu lösen versucht (Naturvölker, verwahrloste oder unzivilisierte (Waisen-)Kinder, etc.). Jean-Jacques Rousseau wird die Entdeckung zugeschrieben, nach dem Wesen des Menschen und seiner Genese am »Objekt Kind« zu forschen. Euphorisch kommentierte der Philosoph und Historiker Groethuysen: »Die Idee des natürlichen Menschen ist damit sozusagen auf die Erde zurückgebracht. Was erst eine bloße Abstraktion war … steht nun lebendig vor unsern Augen. … Das ist nicht mehr eine ferne Vergangenheit, durch die Einbildungskraft beschworen, das ist nicht mehr die Geschichte der hängig von der sonstigen Einschätzung Martin Rangs als Religionspädagoge – eine herausragende anthropologische Studie zu Rousseau. 135
Zur Bedeutung Newtons für die Neuzeit vgl. HANS-GEORG GADAMER, Nachwort, in: JOHANN GOTTFRIED HERDER, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Nachwort von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a.M. 1967, 146-177, 153f: »Wir machen uns heute nicht so leicht einen Begriff von dem Enthusiasmus, mit dem Newtons Werk nach dem Zusammensturz des aristotelisch-scholastischen Geozentrismus als der Aufbau eines neuen Kosmos gefeiert wurde … Es ist ein neues Empfinden für das geordnete Gleichgewicht aller Dinge, das nun auch der menschlichen Seele ein neues Selbstverständnis verheißt. Ihr Ort im Ganzen ist zwar nicht mehr die Mitte des Alls. Aber sie selbst ist nun der Ort, in dem das große Gleichgewicht des Ganzen zur Fühlung kommt, dieses Ineinanderwirken aller Kräfte, die den Lauf der Natur und der menschlichen Geschicke bestimmen.« 136
Descartes mag als Vordenker dazu gelten, siehe RENÉ DESCARTES, Disours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la verité dans les sciences, 1637, deutsche Übertragung von Kuno Fischer 1863. Die Pointe bei Condillac aber ist, dass er nicht beim Zerlegen der Phänomene blieb, sondern seine Methode, im Anschluss an das Zergliedern, die Zusammensetzung nach der Reihenfolge des Werdens einschloss. Vgl. ÉTIENNE BONNOT CONDILLAC, Abbé de, Oevres, 3 Bd (1777), Traité des systèmes (1749), ch. XVI, II, 297.
52
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Menschheit, die wir rekonstruieren müssen, es ist die Geschichte des Individuums. Was die Natur gewollt hat, wir wissen es, wenn wir das Kind beobachten.«137 Rousseau fokussierte die Frage nach der Genese gesellschaftlichkultureller Verderbtheit – jenseits der mythologisch aufgeladenen, biblisch-theologischen Rede vom Sündenfall im Paradiesgarten, ausgelöst durch die verführerische Rede der Schlange.138 Sein 1755 erschienener Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (Abhandlung über den Ursprung und die Gründe der Ungleichheit unter den Menschen) erregte große Aufmerksamkeit. Seine genetische Anthropologie kennt drei archetypische Phasen: Wildheit, d.h. der ursprüngliche natürliche Mensch, der – entgegen der Theorie Hobbes ohne Konkurrenzneid139 und entgegen der Naturrechtslehrer (z.B. Pufendorf) ohne Vernunft – ausgestattet ist mit angeborenen Instinkten, die jedoch einen kleinen Spielraum lassen, so dass ein winziger Riss in der Einheit von Natur und Mensch besteht, der ihn vom Tier unterscheidet und den Raum bietet, dass sich Kultur und das Böse überhaupt entwickeln. Die zweite Stufe ist Barbarei, die frühste, lockere Vergesellschaftung zu Stammesgemeinschaften und Hirtenvölkern, das goldene Zeitalter der 137
BERNHARD GROETHUYSEN, Jean-Jacques Rousseau, Paris 1949, 24. Ein gewisser euphorischer Unterton ist auch bei Rang nicht zu überhören: »Seltsam, so möchte man fragen, warum noch kein Denker vor Rousseau auf diesen Gedanken gekommen war. … Locke war es noch nicht in den Sinn gekommen, seine eigene Analyse der menschlichen Vernunft an dieser individuellen Genese zu exemplifizieren. Aber auch unter Rousseaus Zeitgenossen war Rousseau der einzige, der begriff, dass die kindliche Entwicklung der Schlüssel zum Verständnis des Menschen überhaupt sein könnte. Das Naheliegende blieb wie so oft unbeachtet, so wie dies ein Wort Condillacs ausdrückt, das uns fast eine Prophezeiung auf Rousseaus Entdeckung scheinen möchte: ›Wir haben wahrscheinlich die Erklärung so mancher Phänomene in unsern Händen, aber wir suchen sie weit in der Ferne.‹« RANG, Rousseaus Lehre, 102. 138
»Die Erbsünde erklärt alles, ausgenommen ihr Prinzip. Aber das Prinzip zu erklären, darum handelt es sich ja gerade … Der Mensch werde gut geschaffen, darin stimmen wir, glaube ich, beide überein. Aber Sie sagen, dass er böse ist, weil er böse geworden ist, und ich zeige, wie er böse geworden ist.«, schrieb Rousseau an den Erzbischof von Paris. JEAN-JACQUES ROUSSEAU, Lettre à M. de Beaumont, H. III, 67 (übersetzt bei RANG, Rousseaus Lehre, 461). 139
Vgl. auch JEAN-JACQUES ROUSSEAU, Émile, Oeuvres Complètes (Pléiade), Vol IV. 596. Sowohl für die ökonomische als auch für die politische Theorie folgen aus dieser Prämisse liberale Konsequenzen, während aus der Hobb’schen Annahme die Forderung effizienter staatlicher Repression entwickelt wurde. Vgl. IRING FETSCHER, Jean Jacques Rousseau. Ethik und Politik, in: RÜDIGER BUBNER, u.a. (Hrsg.), Rousseau und die Folgen, Neue Hefte für Philosophie, H 29 (1989), 1-23, 6.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
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Menschheit: »ce période du développement des facultés humaines, tenant un juste milieu entre l’indolence de l’état primitif et la pétulante activité de notre amour propre, dût être l’époque la plus heureuse et la plus durable … cet état est la véritable jeunesse du monde … tous les progrès ultérieurs ont été, en apparence, autant de pas vers la perfection de l’individu, et, en effet, vers la décrépitude de l’espéce«.140 Äußere Umstände zwingen die Menschen zur Kooperation. Auf der dritten Stufe, der Phase des Ackerbaus, entbrennt durch den Verlust der Autarkie ein Wettkampf um Liebe, Achtung und Prestige.141 Aus diesem Streben nach Anerkennung gehen zivilisatorische Errungenschaften hervor – aber zugleich wächst die amour propre. Diese Entwicklung der Menschheit auf der Stufe der Kultur kann nicht zurückgenommen werden. Rousseau plädiert für ein Vorwärts zur Tugendethik aufgrund eines starken Gewissens, nicht »retournons à la nature«.142 Dieses Modell phylogenetischer Entwicklung ist die Grundlage des pädagogischen Programms individueller Erziehung in Rousseaus Spätwerk, seinem vierbändigen Roman ›Émile ou de l’éducation‹ (1762):143 Der Einzelne wird in anthropologischer Natürlichkeit geboren. »Tout est bien sortant des mains de l’Auteur des choses, tout dégenère entre les mains de l’homme.«144 Rousseau kritisiert, dass aus dem Urzustand natürlicher Wildheit der Mensch frühzeitig in die Kulturgesellschaft hineingezogen wird. Rousseaus pädagogisches Ziel ist, die für die menschliche Entwicklung entscheidenden Stufe der »Barbarei«, die ›goldene Lebensphase‹ vor der Integration in die all seine Ressourcen fordernde Sozialwelt, zu schützen, damit das Individuum später dem ehrsüchtigen Treiben der Kulturgesellschaft mit eigenem tugendhaften Gewissen trotzen kann. Dieser Schutzraum vor dem Erwachsenenalter solle späteren Zielen nicht geopfert werden. Die ›güldene Phase‹ der Kindheit und frühen Jugend lässt einen
140
JEAN-JACQUES ROUSSEAU, Discours sur l’origine de l’inégalité parmi les hommes (1755), Oeuvres Complétes (Pléiade), Vol. III, 171. 141
Vgl. a.a.O., 158.
142
Vgl. FETSCHER, Jean Jacques Rousseau, 10.
143
Rousseau bezeichnete dieses Werk als Schlussstein seines Schaffens. Vgl. dazu RUDOLF DINKLER, Jean-Jacques Rousseau. Emile oder Über die Erziehung, 4. Bändchen, Leipzig, Kempten ca. 21925, 4. Siehe dazu auch BRIGITTE SCHLOSSER, Rousseaus Émile ou de l’Éducation. Ein Erziehungsentwurf aus produktiver Einbildungskraft, Marburg 2008. 144
JEAN-JACQUES ROUSSEAU, Émile ou de l’Éducation, Nouvelle Edition. Revue avec le plus grand soin d’aprés les meilleurs Textes, Paris 1866, 5.
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II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
jungen Mann in möglichst unverstellter Weise, im direkten Kontakt mit der Natur seine persönlichen Lebenstechniken ausbilden. Nur zurückhaltend wird er über Kulturleistungen belehrt. Aus dieser phylogenetischen Modellvorstellung erwächst sein Plädoyer für das Zeitalter der Kindheit und Jugend, die darin golden ist, dass sie dem Individuum Zeit gewährt, seine innere Stärke zum Guten auszubilden, nahe der Natur, fernab der Gesellschaft. Jede einzelne Lebenssequenz zähle, denn nichts sei ungewisser als die Lebensdauer des Menschen.145 »Il faut considérer l’homme dans l’homme, et l’enfant dans l’enfant. … Nous ne savons ce que c’est que bonheur ou malheur absolu. Tout est melé dans cette vie;«146 Religiosität und Tugend sind für Rousseau Anlagen des natürlichen Menschen, die sich dann gut entwickeln, wenn das Individuum sich seiner ›artgerechten‹ Lebenswelt, der unberührten Natur aussetzt, bis er herangereift ist und selbstbewusst genug ist, um im Wettstreit mit anderen innerlich gefestigt zu bestehen. Die begrifflich gefassten Inhalte des Glaubens mag Rousseau denn auch erst auf der dritten Stufe dem Menschen zumuten, so dass der Weg des Glaubens über die Verbundenheit mit der Natur sich ausbildet als Frage nach dem Schöpfer und innere Liebe zur Tugend. Rousseaus ontologisches Modell geht von der Idee einer jeweils neuen, einmaligen Chance aus. Jedes Individuum erhält sie uneingeschränkt und voraussetzungslos. Die Menschheit kann sich in diesen Einzelpersonen dem phylogenetischem Missverlauf entgegenstellen. Der französische Philosoph prangert kulturelle Menschheitsentwicklung an als Verknechtung unter Dogmen, Wörter, Offenbarungswissen. Deren Ergebnisse seien gebeugte Menschen. Individuelle Ontogenese wird das Potential anthropologischer Emanzipation in möglichst unmittelbarem Kontakt zur Natur zugetraut, an deren Ende selbstbewusste Persönlichkeiten stehen, die die jeweiligen Grenzen ihrer Kräfte je nach Lebensalter kennen und mit erhobenem Kopf die Herausforderungen miteinander bewältigen. Rousseaus alternative Ontogenese des Émile wird zur revolutionären Phylogenese: nicht der Natur ent-wachsen, sondern in der Natur zum Menschen er-wachsen. Die paradigmatische Imagination ist in ihrem Ursprung das entscheidende Handwerkszeug einer kritischen Anthropologie, die sich Erkenntnisse über den Menschen aus irdischer Beobachtung erhofft, nicht mehr 145 146
Vgl. a.a.O., 56.
A.a.O., 58. »Man muss im Mann den Mann, im Kind das Kind betrachten. … Wir wissen nicht, was absolutes Glück oder Unglück ist. Alles ist gemischt in diesem Leben.«
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
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aus der Offenbarung. Sie ist der alternative Arbeitsweg und die denkerische Pointe einer »Anthropologie von unten«. Das Werden des Individuums wurde zur menschheitlichen Offenbarungsquelle im Einspruch gegen die Alleinstellung der christlichen Verkündigung des 17. Jahrhunderts. Das biogenetische Prinzip diente dazu, einen Schleier zu lüften, der biblischtheologisch über dem Wesen der Menschheit liegt, und an einer neuen Meta-Erzählung zu schreiben, einer phylo- und ontogenetischen Kulturgeschichte als gesellschaftliche und politische Kritik. Die Stufenfolge der Entwicklungsschritte tritt an die Stelle einer schöpfungsmäßig vorgegebenen hierarchischen Ordnung.147 Nun sieht sich der Mensch in der Freiheit, über alternative Gestaltung der Lebenswege nachzudenken. In der Folgezeit wurde der Ausgangspunkt für die Rousseausche Strukturanalogie der phylo- und ontogenetischen Entwicklung entscheidend verändert, um das biogenetische Gesetz theologisch nutzen zu können.148 Die Vorstellung, dass der Mensch in einem tierartigen Naturzustand seine Entwicklung beginne, wurde abgetan: Im kindlichen, kulturgeschichtlichem Urzustand des Menschen sei er deshalb von Anfang an nicht Tier, weil mit ihm als imago dei, das Höhere, Intelligenzen und Autoritäten in Wechselbeziehung stünden. Nur deshalb könnten sich Vernunft und Organe der Humanität ausbilden. Die Rousseausche Denkfigur der Stukturanalogie von Mensch und Menschheit wurde beibehalten, zugleich aber – im Gegensatz zu Rousseau – Kindheit als ›Ur-Religiösität‹, als reinste Form der in göttlicher Zuwendung geschenkten ›Ur-Gläubigkeit‹ identifiziert – nicht wie bei Rousseau als nur naturverbundene Schöpfungsfrömmigkeit.149
147
Vgl. RANG, Rousseaus Lehre, 49f.
148
Damit nahm man zugleich dem genetischen Gedanken seinen tieferen weltanschaulichen Sinn. Entwicklung hieß für Rousseau: Menschheit und Kind beginnen in einem Zustand, der ihnen mit den Tieren weitgehend gemeinsam ist, abgesehen von einem kleinen Riß (s.o.). Demgegenüber setzte sich in der Anthropologie der folgenden Zeit durch, das Wesen des Menschen und der Menschwerdung nur im Gegensatz zum tierischen Dasein zu bereifen. »Ob mehr christlich oder mehr humanistisch gefärbt, überall können wir, vor allem in Deutschland, diesen Vorgang verfolgen. Es gehört insbesondere zum Kennzeichen der deutschen Romantik, dass sie in allen Bereichen an die Stelle einer genetischen Erklärung den Glauben an einen höheren, göttlichen Ursprung setzt.« A.a.O., 55. Rousseau selbst hat im übrigen kaum weiter mit der Parallele von Phylogenese und Ontogenese gearbeitet. Vgl. a.a.O., 102. 149
Zwischen 1770 und 1830 wurden vielfach Worte mit der Vorsilbe ›Ur-‹ kreiert: »Auf dem Boden der rein natürlichen Geschichtsschreibung der Aufklärung und ihrer Theoreme erwächst ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine Denkweise, die man als Ursprungsdenken charakterisieren kann … Das zeitlichen Beginn und Wesen
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II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Diese ›Anthropologie von oben‹ setzte sich durch. Damit konnte in der Theologie der Disput um einen schöpfungstheologischen Unterschied zwischen Tier und Mensch ausgespart bleiben und überdies am frühzeitigen christlichen Prägen der Individuen festgehalten werden. Zugleich bestand das biogenetische Gesetz weiter. Unterdessen entbrannte die philosophische Grundsatzdebatte der Aufklärung. Sie erhob die Ursprünge des Menschengeschlechts in der klassischen Antike zum Kanon alles Wahren, Guten und Schönen. Sie erklärte den Fortschritt der Neuzeit zu jenem Gipfelpunkt, der die Zwischenzeit finster und abergläubisch erscheinen ließ. Dabei buchstabierte sie die Genese des Menschseins als Abwärts- oder Aufwärtsentwicklung – oder entzog sich mit Voltairschem Skeptizismus solcher Qualifizierung und zersetzte mit ihm jede Erwartung an die menschliche Geschichte.150 II. 3. 2 Herders historischer Sinn für das Menschsein
Als Wegbereiter für Heinrich Pestalozzi, Jean Paul, Friedrich Heinrich Christian Schwarz und Friedrich Fröbel hat besonders Johann Gottfried Herder die theologische Durchdringung der Verbindung von Phylo- und Ontogenese vorangetrieben.151 Er wollte »nicht eher ruhen« bis er »eine Geschichte des Menschlichen Geschlechts mache«,152 die alles genetisch zu identifizierende Ursprungsdenken strahlte eine so große Faszination aus, daß es auf nahezu allen Wissensgebieten angewendet wurde.« Vgl. STEFAN ALKIER, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, Tübingen 1993, 257. 150
Vgl. VOLTAIRE, Siècle de Louis XIV. Essais sur les moeurs et l’esprit des nations et sur les principaux faits de l’historie depuis Charlemagne jusqu’à Louis XIII. Siècle de Louis XV, Ouvres, Basel 1784, Bd. 18-22. Siehe auch GADAMER, Nachwort, 148f. 151
Zu Herder siehe auch RUDOLF HAYM, Herder nach seinem Leben und seinen Werken, Berlin 1954, MARKUS BUNTFUß, Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenrode und De Wette, Berlin 2004, 21-85, SABINE GROß/GERHARD SAUDER, Der frühe und der späte Herder: Kontinuität und/oder Korrektur. Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder-Gesellschaft Saarbrücken 2004, Heidelberg 2007, zu den Vorstellungen Herders zur Religion des Kindes vgl. auch SCHWEITZER, Religion des Kindes, 187ff. Hamann ist der für Herder beachtenswerte Vordenker in »Kontinuität mit Korrekturen, vielleicht Kontinuität trotz Korrekturen.« ANDRE RUDOPH, Kontinuum der Rhapsodie: Herder – Hamann – Shaftesbury, in: GROß/SAUDER, Herder, 269-284, 282. 152
JOHANN GOTTFRIED HERDER, Journal meiner Reise im Jahr 1769, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 4, hrsg. v. BERNHARD SUPHAN, Berlin 1878, 3. Nachdruck, Hildesheim 1994, 343-461, 379f. Die Intensität, mit der Herder dieses Ziel anstrebte, erklärte er vor dem Hintergrund seiner bisherigen Biographie, die ihn zur theoretischen Wissenschaft gebracht hat und an die er sich schier versklavt fühlte. Die Kenntnisse über
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
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Beschreibende verschmelze als »eine Geschichte der Menschlichen Seele überhaupt.«153 »Ein großer Plan! ein wichtiges Werk! … Es würde … eine Zeit der Bildung schaffen, indem es auf die Hauptaussicht einer zu bildenden Menschheit merken lehrte.«154 Herder wollte sich den zu beschreibenden Realitäten existentiell, d.h. ihn aktuell beeindruckend, stellen: »Kein Schritt, Geschichte, Erfahrung wäre vergebens, ich hätte alles in meiner Gewalt, nichts wäre verlöscht, nichts unfruchtbar; alles würde Hebel, mich weiter fortzubringen.«155 Als »Schriftsteller der Menschheit«156 wollte er Gewinn und Verlust aller Epochen der Vergangenheit und der eigenen Gegenwart gerecht erwägen:157 »Das menschliche Geschlecht hat in allen seinen Zeitaltern nur in jedem auf andere Art, Glückseligkeit zur Summe.«158 Mit dieser Feststellung überwand Herder – angetrieben von dem persönlichen Wunsch, sein Leben hier und jetzt zu schätzen159 – sowohl die Fortschrittsideologie160 als auch die Verfallstheorie161 und wurde zum »Entdecker des historischen
die Menschen sammeln und bedenken, »ein solcher Plan wird mich beständig auf einer Art von Reise unter Menschen erhalten und der Falte zuvorkommen, in die mich meine einförmige Lage in einem abgelegnen Scientischen Winkel der Erde schlagen könnte.« A.a.O., 367. 153
A.a.O., 367.
154
A.a.O., 367f.
155
A.a.O., 366.
156
A.a.O., 368.
157
Vgl. GADAMER, Nachwort, 149. Dass jede Epoche ihr Eigenrecht hat, geht Herder an den Erfahrungen seiner Seefahrt auf. Vgl. a.a.O., 156. 158
HERDER, Jorunal, 368.
159
»Werde ein Prediger der Tugend deines Zeitalters! O wie viel habe ich damit zu thun, dass ichs werde! … Mensch, den Gott auf der Stuffe unserer Cultur fordert.« A.a.O., 364f. 160
»›Roman einseitiger Hohnlüge‹ denn in alle Jahrhunderte, verspottet und verunziert damit die Sitten aller Völker und Zeitläufe … Der ganze Erdboden wird Misthaufe, auf dem wir Körner suchen und krähen! Philosophie des Jahrhunderts!« JOHANN GOTTFRIED HERDER, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts (1774), in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, Hrsg. v. BERNHARD SUPHAN, 3. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1891, Hildesheim 1994, 475-586, 555. 161
»Wie Rousseau Zeiten preisen, die nicht mehr sind, und nicht gewesen sind … aus diesen zu unserm Missvergnügen, Romanbilder schaffen und uns wegwerfen, um uns nicht selbst zu genießen.« HERDER, Journal, 364.
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
58
Sinnes«162 gegen die Alternative agnostizistischer oder atheistischer Geschichtsphilosophie.163 Er entwarf die Lebensalter der menschlichen Seele als »geometrische Progression«:164 »Jeder Mensch muss sie durchgehen: denn sie entwickeln sich auseinander: … in ihrer ganzen Folge nur geniesst man das Leben, und wird auf honette Weise alt. Man kann nie das vorhergehende völlig zurücknehmen (auch in Verbesserung) ohne das gegenwärtige zu verlieren.«165 Kindheit ist für Herder »Neugierde, daher kindischer Glauben, unersättliche Begierde, Dinge zu sehen, insbesonderheit Wunderdinge, die Gabe, Sprachen zu lernen … Biegsamkeit und Munterkeit.« Das »herrliche Talent der Jugend« sind Einbildungskraft und Liebe, Freundschaft, Empfindung.166 Als Attribute des erwachsenen Mannes und Gesellschafters zählen Witz und Scharfsinn, Vergnügungen. Gereift an Jahren sind »seine Denkart, seine Beschäftigung … die Reellsten im menschlichen Leben: er ist der wahre Philosoph der Thätigkeit Weisheit Erfahrung.« Der Greis sei schließlich reich an Erfahrung. »Das ist das Alter der Ruhe. Neuen Eindrücken ist die Seele kaum mehr offen … Sie ist zu furchtsam. Das was vorher weich, und gleichsam Knorpel der Bewegung waren, sind Knochen der Ruhe geworden. … Austernschaale … das ist der Greis.«167 Die Imagination der Strukturanalogie phylo- und ontogenetischer Entwicklung skizziert Herder in fünf Sequenzen: Kindheit als Patriarchenzeit,
162
GADAMER, Nachwort, 157. Herder sieht in dem Schema der Lebensalter mehr als ein Bild für das Verständnis der Geschichte. Er erkennt, dass man die Zeiten gegen die Messung mit Maßstäben einer anderen Zeit verteidigen muß. Jede Lebensphase des Menschen und der Menschheit habe den Mittelpunkt eigener Glückseligkeit in sich selbst. Vgl. a.a.O. 158. 163
»Wenns mir gelänge, die disparatsten Scenen zu binden, ohne sie zu verwirren – zu zeigen, wie sie sich aufeinander beziehen, aus einander erwachsen, sich in einander verlieren, alle im Einzelnen nur Momente, durch den Fortgang allein Mittel zu Zwecken – welch ein Anblick! welch edle Anwendung der Menschlichen Geschichte! welche Aufmunterung zu hoffen, zu handeln, zu glauben, selbst wo man nichts, oder nicht alles sieht!« HERDER, Auch eine Philosophie, 513. 164
HERDER, Journal, 450.
165
Ebd.
166
A.a.O., 448f.
167
A.a.O., 449f.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
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Knabenzeit als ägyptische und phönizische Hochzeit,168 Jünglingsjahre als Welt des antiken Griechenland,169 Mannesalter als Römerherrschaft,170 reifes Erwachsenendasein als europäische Epoche von der Reformation bis zur Aufklärung unter dem Banner der Bildung.171 Jede Phase des Menschseins hat bei Herder ihr Eigenrecht – und ist zugleich nie vollkommen. Fortschritt impliziert Verlust: »Das menschliche Gefäß ist einmal keiner Vollkommenheit fähig: muß immer verlassen, indem es weiter rückt.«172 Bei aller Unvergleichlichkeit der Lebensalter (»denn ich mag gar nicht vergleichen«173 ), ist ihr Aufeinanderfolgen doch »Entwickelung, Fortgang, Stufen der Leiter«.174 So versteht Herder seine eigene Gegenwart als einen Gipfel aber nicht als Vervollkommnung des Baumes, denn die Höhe eines Astes ist nicht wertvoller als alle anderen Zeiten.175 168
»Dort Morgenland! die Wiege des Menschengeschlechts, Menschlicher Neigungen und aller Religion. Wenn Religion in aller kalten Welt verachtet und verglüht sein sollte: ihr Wort dorther, Feuer- und Flammengeist dorther webend. Das verachtete Buch – die Biebel! Mit Vaterwürde und Einfalt, die insonderheit noch immer ›das unschuldige Herz des unschuldigen Kindes‹ wegführt! Kindheit des Geschlechts wird auf Kindheit jedes Individuum wirken: der letzte Unmündige noch im ersten Morgenlande geboren!« HERDER, Auch eine Philosophie, 562. 169
»Die Jünglinge … sind die Griechen: was weiter liegt, ist … vielleicht zu tief, zu kindisch; aber sie in der rechten Morgenröthe der Weltbegebenheiten, was haben sie auf all ihre Nachzeit gewürkt! – Die schönste Blüthe des Menschlichen Geistes, des Heldenmuths, der Vaterlandsliebe, des Freiheitsgefühls, der Kunstliebhaberei, des Gesanges, des Tons der Dichtung, des Lauts der Erzählung, des Donners der Beredtsamkeit, des Aufbruchs aller Bürgerlichen Weisheit.« A.a.O., 562. 170
»Römer, die ersten Sammler und Austheiler der Früchte, die andernweit vorher gewachsen, jetzt reif in ihre Hände fielen. … Rom die Mittelzeit der Härtung des Kerns und seiner Austheilung.« A.a.O., 562f. 171
Da »kamen nun eben die neuen, kältesten Mechanischen Erfindungen hinzu, die es ins Grosse spielten: Maschienen der kalten Europäischnordischen Abstraktion, für die Hand des Alllenkers grosse Werkzeuge! Da liegen nun die Saamenkörner fast unter allen Nationen der Erde: wenigstens allen bekannt, allen zugangbar: werden sie haben, wenn ihr Zeitpunkt kommt. Europa hat sie gedörret, aufgefädelt, verewigt – sonderbarer Ball!« A.a.O., 564. 172
A.a.O., 498.
173
A.a.O., 494.
174
A.a.O., 489.
175
»Wenn jeder Ast, jeder Zweig derselben Stamm und Wurzel seyn wollte – wo bliebe der Baum? Orientalier, Griechen, Römer waren nur einmal in der Welt; sollten die elektrische Kette, die das Schicksal zog nur in Einem Punkte, auf Einer Stelle
60
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Der Mensch »muß durch verschiedene Lebensalter hindurch! alle offenbar im Fortgange! ein Streben auf einander in Kontinuität! Zwischen jedem sind scheinbare Ruheplätze, Revolutionen! Veränderungen! und dennoch hat jedes den Mittelpunkt seiner Glückseligkeit in sich selbst! Der Jüngling ist nicht glücklicher als das unschuldige, zufriedne Kind: noch der ruhige Greis unglücklicher, als der heftigstrebende Mann … Indeß ists doch ein ewiges Streben! Niemand ist in seinem Alter allein, er bauet auf das Vorige, dies wird nichts als Grundlage der Zukunft, will nichts als solche seyn – so spricht die Analogie in der Natur, das redende Vorbild Gottes in allen Werken! offenbar so im Menschengeschlechte! Der Ägypter konnte nicht ohne den Orientaliter seyn, der Grieche bauetet auf jene, der Römer hob sich auf den Rücken der ganzen Welt – wahrhaftig Fortgang, fortgehende Entwicklung, wenn auch kein Einzelnes dabei gewönne! Es geht ins Große! es wird … Schauplatz einer leitenden Absicht auf Erden! wenn wir gleich nicht die letzte Absicht sehen sollten, Schauplatz der Gottheit, wenn gleich nur durch Öffnungen und Trümmer einzelner Scenen.«176 Theologische Essenz seiner Variante der paradigmatischen Imagination ist, menschliche Geschichte nicht als Vergöttlichung zu denken, da »Mensch Mensch bleibe, nach der Analogie aller Dinge nichts als Mensch … Hieroglyphe des Guten und Bösen, wovon die Geschichte voll ist – Mensch! – immer nur Werkzeug!«177 Alle Geschehnisse seien Gestaltwerdungen der Naturkraft. Der Mensch ist »eine zahllose Harmonie, ein lebendiges Selbst …, auf welches die Harmonie aller ihn umgebenden Kräfte wirket. Der ganze Lebenslauf eines Menschen ist Verwandlung; alle seine Lebensalter sind Fabeln derselben und so ist das ganze Geschlecht in einer fortgehenden Metamorphose. Blüthen fallen ab und welken; andere sprießen hervor und knospen: der ungeheuere Baum trägt auf einmal alle Jahreszeiten auf seinem Haupte. Hat sich nun … ein achzigjähriger Mann wenigstens vier und zwanzigmal am ganzen Körper erneuet, wer mag den Wechsel der Materie und ihrer Formen durch das ganze Menschreich auf der Erde in allen Ursachen Veränderung verfolgen … Und so wird die Menschengeschichte zuletzt ein Schauplatz von Verwandlungen, den nur Der übersiehet, der selbst alle diese Gebilde durchhaucht und sich in ihnen allen freuet und fühlet. … Der Wanderer auf der Erde … kann nichts als die Wunder dieses großen Geistes auf einem schmalen Streif anstaunen, sich berühren! – Wir also wenn wir Orientalier, Griechen, Römer auf Einmal sein wollen, sind wir zuverlässig nichts.« A.a.O., 554. 176
Vgl. a.a.O., 512f.
177
A.a.O., 558.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
61
der Gestalt freuen, die ihm im Chor der Andern ward, anbeten und mit dieser Gestalt verschwinden. ›Auch ich war in Arkadien‹ ist die Grabinschrift aller Lebendigen in der sich immer verwandelnden wiedergebährenden Schöpfung.«178 In tiefer Verbeugung vor der natürlichen Lebensenergie plädierte Herder für die Achtung jeder Variante der »genetischen Kraft«, der »Mutter aller Bildungen auf der Erde.«179 Mit seinem Interesse, die lebendige Natur überall auf der Erde zu verfolgen, »in welchen Harmonieen zusammenstimmender Theile sie sich hie und da mannichfaltig und immer ganz zeige«,180 bahnte Herder einer Kulturgeschichte181 den Weg jenseits einer Idealisierung des modernen Europas. Die Pointe der Herderschen Argumentation für die Frage nach dem Glaubenslebenslauf des Menschen liegt darin, Religion als von Anfang an zum Menschen gehörig zu denken – nicht in der Kategorie des Bruchs als aufgesetztes menschliches Kulturwerk – und ihren immanenten Reichtum zu beachten. »Religion … so verschieden ihre Hülle sei, auch unter dem ärmsten, rohesten Volk am Rande der Erde finden sich ihre Spuren.«182 So wie der Mensch »zur Vernunft nicht ohne Sprache kommen konnte: so konnte er zu beiden nicht anders als durch die Bemerkung des Einen im Vielen, mithin durch die Vorstellung des Unsichtbaren im Sichtbaren, durch die Verknüpfung der Ursache mit der Wirkung gelangen. Eine Art religiösen Gefühls unsichtbarer wirkender Kräfte im ganzen Chaos der Wesen, das ihn umgab, musste also jeder ersten Bildung und Verknüpfung abgezogener Vernunftideen vorausgehn und zu Grunde liegen.«183 Herder sieht schon im kleinsten Kind alle Seelenkräfte angelegt.184 Die menschliche Genese ist die Entwicklung aus einer Knospe. Dies inspirierte die Romantik weiter: Kindheit als Zeit des Antropolithes, d.h. des verstei178
JOHANN GOTTFRIED HERDER, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791), in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 13 u. 14, Hrsg. v. BERNHARD SUPHAN (1887 u. 1909), Reprint Hildesheim 1967, Bd. 13, 253ff. 179
HERDER, Ideen, 273.
180
A.a.O., 281.
181
Vgl. GADAMER, Nachwort, 172.
182
HERDER, Ideen, 388.
183
A.a.O., 391f.
184
Das Kind sei »eine Knospe, in der der ganze Baum eingehüllt blühet«. JOHANN GOTTFRIED HERDER, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume (1778), in: Sämtliche Werke, Bd. 8, Hrsg. v. BERNHARD SUPHAN (1892), Reprint Hildesheim 1967, 165-235, 226f.
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II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
nerten Idealmenschen und Engel185 mit aller Metaphysik im Herzen, religiös hochbegabt, voller wunderkräftiger Phantasie186 und Urvertrauen187 oder auch erfüllt von ursprünglicher Elterngüte, Dankbarkeit und Liebe als »Quelle des Glaubens«.188 Von der Kindheit aus entfalten sich phylo- wie ontogenetisch nach Herder die je eigenen religiösen Weisen der weiteren Lebensalter. Die spezifisch christliche Glaubenshaltung ist »Ferment, … Sauerteig, zu Gutem oder zu Bösem«, die zur Blüte kommt, wenn die Religiosität der alten Phasen aus Morgenlande, Ägypten und Griechenland und Römertum kraftlos wird und eine »frischere würkssamere Religion nöthig« ist.189 Die christliche Religion sei reelles Erwachsenenalter des »Gothischen Geist, nordisches Ritterthum im weitesten Sinne«190 , »sie sollte eigentlich Religion der Menschheit, Trieb der Liebe und Band aller Nationen zu einem Bruderheere werden … Eben so gewiss ists, daß sie (ihre Bekenner mögen späterhin aus ihr gemacht haben, was sie wollten) die Erste gewe185
»Was ist denn eigentlich die Geburt eines Kindes? – Es ist das Erscheinen, das ins Daseintreten eines unsichtbaren, geistigen, eines ewig seienden Wesens …; denn das Wesen des Menschen kann ja seiner Natur nach nichts anderes, es muss Ewiges, Himmlisches, Geistiges, Göttliches, Seiendes sein.« FRIEDRICH FRÖBEL, Die Menschenerziehung, die Erziehungs-, Unterrichts- und Lebenskunst, angestrebt in der allgemeinen deutschen Erziehungsanstalt zu Keilhau, Bd 1, Bis zum begonnenen Knabenalter (1826), in: Ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 2., Hrsg. v. E. HOFFMANN, Berlin 1951, 9ff. Das biogenetische Gesetz ist bei Fröbel eine existentielle Erkenntnis für Erwachsene: »Durch diese Beachtung der Kinder, der Kindheit wird der Mensch sich selbst und ihm sein Leben klar, es kommt Einheit in dasselbe, das eigene Leben wird ihm zu einem ungestückten Ganzen.« FRIEDRICH FRÖBEL, Das kleine Kind oder die Bedeutsamkeit des allerersten Kindestums (1826), in: Ders., Ausgewählte Schriften, Bd 1, Kleine Schriften und Briefe von 1809-1851, Hrsg. v. E. HOFFMANN, Godesberg 1951, 79-89, 85. 186
Vgl. FRIEDRICH HEINRICH CHRISTIAN SCHWARZ, Erziehungslehre, Bd. 1, Die Bestimmung des Menschen. In Briefen an erziehende Frauen, Leipzig 1802, 330. Vgl. auch SCHWEITZER, Religion des Kindes, 196ff. 187
Vgl. JEAN PAUL, Levana oder Erziehlehre, in: Werke, Hrsg. v. N. Miller, Bd. 5, München 31973, 515-874. Vgl. auch SCHWEITZER, Religion des Kindes, 189ff. 188
JOHANN HEINRICH PESTALOZZI, Die Abendstunde eines Einsiedlers (1780), in: Sämtliche Werke Bd.1, 263-282, 274. Pestalozzi stellt sich dann jedoch vor, dass nach dem kurzen Zustand der Güte das Wesen des Menschen verdorben wird durch die Gesellschaft mit anderen Menschen. Veredeln könne ihn dann nur die Sittlichkeit und die Religion – die erst in niederen Stufen und dann irgendwann zur Wiedergeburt des zu erreichenden Glaubens führt. Vgl. auch SCHWEITZER, Religion des Kindes, 192ff. 189
Vgl. HERDER, Auch eine Philosophie, 516f.
190
Vgl. a.a.O., 522.
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sen, die so reine geistige Wahrheiten, und so herzliche Pfichten, so ganz ohne Hülle und Aberglauben, ohne Schmuck und Zwang gelehret: die das Menschliche Herz so allein, so allgemein, so ganz und ohne Ausnahme hat verbeßern wollen. Alle vorigen Religionen der besten Zeiten und Völker waren doch nur enge national, voll Bilder und Verkleidungen, von Cerimonien und Nationalgebräuche, … kurz Religionen eines Volks, eines Erdstrichs, eines Gesetzgebers, einer Zeit – diese offenbar in allem das Gegentheil, die lauterste Philosophie der Sittenlehre, die reinste Theorie der Wahrheiten und Pflichten … kurz wenn man will, der Menschenliebendste Deismus – und sonach gewiß Religion des Weltalls.«191 Für diesen christlichen Glauben, solche tugendreine erwachsene Religiosität, brauchte es die anderen Vorformen bis zur Reformation: »Die Hefen sanken; und es ward – unser Denken! Kultur! Philosophie! … Keinen Zeitpunkt der Entwickelung des Menschlichen Geistes hat man schöner beschrieben als diesen.«192 Die religiösen Weiterentwicklungen des aufgeklärten Erwachsnenalters seien die Arbeit an den Lesarten der Bibel und Abschaffung des »lächerlichen Rittertums und Ordens«.193 Doch »kann ichs … kaum begreifen, wie das so allgemein und einzig für den Gipfel und Zweck aller Menschlichen Bildung, alles Glücks, alles Guten verrasonnirt werden könne?«194 Diese Bemerkung sei als Spezificum der Herderschen Glaubenslebenslaufs-Imagination betont: Herder beschrieb zwar in eindrucksvoller Breite die Verwandlungsweisen der Naturkraft – auch der religiösen Glaubenskraft – mit ihren phylo- und ontogenetischen Auswüchsen, betonte aber, dass alle Beschreibungen der Lebensalter die göttliche Schaffenskraft nur bruchstückhaft erfassen,195 weil der Mensch sich nicht außerhalb der
191
Vgl. a.a.O., 519.
192
Vgl. a.a.O., 530.
193
A.a.O., 553.
194
Vgl. a.a.O., 537.
195
»Niemand in der Welt fühlt die Schwäche des allgemeinen Charakterisirens mehr als ich. Man mahlet ein ganzes Volk, Zeitalter, Erdstrich – wen hat man gemahlt? Man faßet auf einander folgende Völker und Zeitläufe, in einer ewigen Abwechslung, wie Wogen des Meeres zusammen – wen hat man gemahlt? wen hat das schillernde Wort getroffen? – Endlich man faßt sie doch in Nichts, als ein allgemeines Wort zusammen, wo jeder vielleicht denkt und fühlt, was er will – unvollkommenes Mittel der Schilderung! wie kann man mißverstanden werden!« A.a.O., 501f.
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II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Genese betrachtend stellen kann, sondern die Menschheit innerhalb aller Phasen gleichzeitig existiere.196 Herder summierte, dass der »Allanblick … ausser dem Menschengeschlechte liegen müsse – Insekt einer Erdscholle, siehe wieder auf Himmel und Erde!« Als Imagination hinterlässt Herder ein Modell vom phylo- und ontogenetischen Glaubenslebenslauf der Menschheit als »Labyrinth … ›Pallast Gottes, zu seiner Allerfüllung, vielleicht zu seinem Lustanblicke, nicht zu deinem!«197 »Und wenn uns einst ein Standpunkt würde, das Ganze unsres Geschlechts zu übersehen! … wohin die Kette reicht? … Fragment des Lebens, was warest du? … Wohl aber, wen sein Lebensfragment auch alsdann nicht gereuet!«198 II. 3. 3 Die paradigmatische Imagination und Schleiermacher
In besonderer Weise hat Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher im Modell der phylo- und ontogenetischen Entwicklung weitergedacht.199 Er integrierte das theologische Selbstverständnis des christlichen Glaubens in das genetische Denken vom religiösen Menschen.200 Religiosität ist dabei 196
Vgl. a.a.O., 566.
197
A.a.O., 560.
198
A.a.O., 586.
199
Schleiermacher publizierte selbst relativ wenig. Unterhalb der Schwelle der zur Publikationsreife gebrachten Schriften verbirgt sich aber eine unübersichtliche Fülle an Manuskripten, Notizen, Entwürfen, Vorlesungsnachschriften, Briefen, etc. Die posthume Veröffentlichung erwies sich für die Nachlasspfleger als Mammut-Aufgabe. Die in Schleiermachers Hausverlag Reimer erschienenen ›Sämtlichen Werke‹ waren editorisch nicht immer zufriedenstellend und blieben unvollständig. Daneben wurde eine Reihe von Auswahl- und Einzelausgaben publiziert. 1980 wurde – nach langjährigen Vorarbeiten – unter der Leitung von Hans-Joachim Birkner das auf Jahrzehnte angelegte Projekt einer vollständigen Kritischen Gesamtausgabe (KGA) begonnen. Inzwischen sind die meisten Schriften und Entwürfe in dieser KGA erschienen. Vgl. UWE GLATZ, Religion und Frömmigkeit bei Friedrich Schleiermacher – Theorie der Glaubenskonstitution, Stuttgart 2010, 65. 200
So sehr Schleiermacher ansonsten – wie Herbart – für eine Verstärkung der Bezüge zwischen Pädagogik und Psychologie, bzw. der sog. empirischen Anthropologie plädierte (vgl. CHRISTOPH LÜTH, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Zur Grundlegung der modernen Pädagogik, in: KLAUS-PETER HORN/HEIDEMARIE KEMNITZ, Pädagogik unter den Linden: von der Gründung der Berliner Universität im Jahre 1810 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, 37-62, 60 mit FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER, Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn (1808), in: Edition Weniger/Schulze, Bd 2, 81-139), sind seine weiteren Äußerungen über die religiöse Entwicklung, bzw. den Prozess der christlichen Lebensführung primär philosophisch-anthropologischer, besonders aber dezidiert theologischer,
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
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gedacht als »das positive Bewusstsein von der Relativität des Gegensatzes zwischen einem einzelnen Leben und der Totalität«.201 Sie entpuppt sich im Laufe des Lebens individuell und menschheitlich schrittweise als dreiphasiges Stufenmodell:202 Die frühkindliche Phase, das »animalische Leben«203 , kennzeichnet die Symbiose von Subjekt und Objekt. Gefühl und Anschauung sind in einem Zustand der Verworrenheit miteinander vermischt. Damit wählt Schleiermacher weniger den Herderschen als vielmehr den Rousseauschen Gedanken vom tierischen Anfangszustand der Menschheit, einschließlich der nicht »entwicklungspsychologischer« Natur! Hier erscheint missverständlich, dass Nipkow und Schweitzer Schleiermacher einen ausgeprägten Sinn für die individuelle Lebensgeschichte als Entwicklung attestieren. Vgl. KARL ERNST NIPKOW/FRIEDRICH SCHWEITZER, Religionspädagogik: Texte zur evangelischen Erziehungs- und Bildungsverantwortung seit der Reformation, Bd 1, Von Luther bis Schleiermacher, München 1991, 41. Auch GLATZ, Religion, 300 spricht von einem »entwicklungspsychologischen« Stufenmodell. Dies ist anachronistisch: Schleiermacher dachte noch nicht in den Kategorien dieser erst später einflussreich gewordenen Unterdisziplin der Psychologie – auch wenn die Psychologie im Ganzen als »subjektivitätstheoretische Grundlagenwissenschaft« für Schleiermacher angesehen werden kann. Vgl. DOROTHEE SCHLENKE, »Geist und Gemeinschaft«. Die systematische Bedeutung der Pneumatologie für Schleiermachers Theorie der christlichen Frömmigkeit, Berlin/New York 1998, 21. Auch Kirsten Huxel bezeichnet Schleiermachers philosophische (!) Psychologie als Grunddisziplin seines Systems. Vgl. KIRSTEN HUXEL, Ontologie des seelischen Lebens. Ein Beitrag zur theologischen Anthropologie im Anschluss an Hume, Kant, Schleiermacher und Dilthey, Tübingen 2004, 145ff. 201
FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER, Zur Pädagogik. Manuskript (1813/14), in: Schleiermachers Pädagogische Schriften. Mit einer Darstellung seines Lebens, hrsg. von C. PLATZ, Langensalza 21876, 417-482, 472. Er erklärt ausführlich: »Um der Sache recht auf den Grund zu kommen, muß man unterscheiden die Entwicklung der Religion als inneren Princips im Leben überhaupt, und das Heraustreten desselben für sich allein. – In der ersten Form ist die Religion dem Menschen angeboren und die Bedingung alles anderen menschlichen Erkennens und Handelns. Sie ist das positive Bewußtsein von der Relativität des Gegensatzes zwischen einem einzelnen Leben und der Totalität; jemehr sich also dieser Gegensatz entwickelt und schärft, muß sie sich auch entwickeln. … Die andere Form ist wesentliches Element der vollendeten menschlichen Bildung; die Begriffe sind darin, da sie immer inadäquat bleiben, nicht die Hauptsache, sondern nur Mittel. Zweck ist die gegenseitige Mittheilung und Anregung, welche statthaben kann trotz des irrationalen Elements in den Begriffen.« Ebd. Siehe dazu auch: ANTON STROBEL, Die Pädagogik und Philosophie Schleiermachers in ihren Beziehungen zu J.J. Rousseau, München 1927, 207. 202
Zum Folgenden vgl. auch a.a.O., 300ff. Siehe den zentralen Text: FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Teilband 1, 21830/31, hrsg. von ROLF SCHÄFER, Berlin/New York 2003, §5 (= KGA I/13,1, 40-53). 203
A.a.O., 41.
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II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Betonung des Gefühls als ur-religiöser Anlage. Der Mensch ist schon in dieser ersten Phase insofern religiös, als die entscheidenden Konstitutiva ›Anschauung‹ und ›Gefühl‹ vorhanden sind. Die Ur-Religiosität ist ein natürlicher, geschöpflicher Wesenszug. Mit Rousseau verbindet Schleiermacher auch das Anliegen, die Religiosität der Kindheit nicht mit christlich-kirchlichem Glauben zu verwechseln und sie nicht »zu früh … auf bestimmte Weise fromm zu machen. … Gehen sie darauf ein, so kann doch nichts daraus entstehen, als daß sie sich mit einem leeren Schein begnügen, der die Entwicklung des rechten Processes hindert.«204 Da aber das Religiöse, genauer der Kultus, in Familie und Gesellschaft ein konstantes Lebenselement sind, sei nicht möglich, Kinder, die ihre Welt erkunden, im Rousseauschen religionsfreien Raum zu erziehen, bis ihr Verstehen weit genug entwickelt wäre.205 Genese des Menschseins ist von dieser ersten Stufe ausgehend, ein Separationsprozess, die Herausbildung eines Selbstbewusstseins (das den Menschen vom Tier unterscheidet). Religiöse Entwicklung bedeutet entsprechend, sich der eigenen und der umgebenden Religiosität bewusst zu werden. Die zweite Phase, die dabei durchlaufen wird, ist die des sinnlichen Selbstbewusstseins. Sie setzt mit dem Spracherwerb ein. Jetzt erfährt das Subjekt sein Getrenntsein von der Umwelt, seine Zeitlichkeit, und die Spannung von Freiheit und Abhängigkeit. Das Individuum unterscheidet Gefühle der Lust und der Unlust. Damit erkennt sich der Mensch als ein Wesen, das ins Dasein gestellt ist und in seinem Inneren konfrontiert ist mit einer Welt an Gefühlen, die von der äußeren beeinflusst werden. Die religiöse Entwicklung wird gefördert durch »eine stufenweise Herauskehrung der kontemplativen Seite der Gegenstände, wodurch jeder seinen intensiven Entwicklungsprocess, wenn er will, von jedem Punkt, auf dem er steht weiter fördern kann, bis zum höchsten.«206 Die höchste Stufe des Selbstbewusstseins ist die Erkenntnis der Relativität aller Freiheitserfahrungen und die Erkenntnis der schlechthinnigen Abhängigkeit. Was auf der ersten Stufe unreflektiert, wie im Traum gelebt wurde, die Symbiose mit der Umwelt, wird nun als Rahmen und Urgrund der alltäglichen Freiheiten und Gebundenheiten im Ultimativen reflektiert:
204
SCHLEIERMACHER, Zur Pädagogik. Manuskript, 435.
205
Hinzu kommt: Wenn das Verstehen der Maßstab wäre, so blieben nur die Spekulativen in der Kirche und »was sie trieben, wäre doch etwas anderes, als was in der Kirche getrieben werden soll.« A.a.O., 472. 206
SCHLEIERMACHER, Manuskript, 453.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
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Das Selbstbewusstsein ist seiner ursprünglichen Verbindung mit allem Sein gewahr. Der Mensch ist jetzt durch Sprache, die seine Anschauung und Gefühl reflektieren kann, geronnenes Selbstbewusstsein. Er bleibt zugleich animalisches Geschöpf und sinnliches Ich, auch wenn er auf dieser dritten Stufe angekommen ist. Tatsächlich hat sich an seinem Menschsein auf keiner Stufe etwas geändert, er ist immer Mensch mit Anschauung und Gefühl – allein sein Ich- und Weltverhältnis hat sich versprachlicht, so dass der Mensch sein Sein immer eigenständiger begreift. Das Erreichen der dritten Stufe gleicht einer sprungartigen Erkenntnis: Religiosität ist immer da, stellt sich aber dem religiösen Selbstbewusstsein plötzlich ein, als Ur-Erfahrung.207 Auf der höchsten Stufe erfasst sie der Mensch schlagartig. Solch inneres Empfinden drängt darauf hin, Glaube in Gemeinschaft zu leben. Schleiermacher imaginiert einen Geschichtsprozess, in dem das fromme Selbstbewusstsein zum Durchbruch kommen kann und in neugewonnener Mündigkeit die hohe Stufe der selbstbewussten Frömmigkeit erreicht. Hierzu verschränkt Schleiermacher die Denkfigur der phylo- und ontogenetischen Entwicklung mit einem Modell der Religionen: Er strukturiert nach dem Muster der individuellen Entwicklung die Religionengeschichte in Entwicklungsstufen. Das Christentum steht auf der dritten, höchsten – weil sich seiner Religiosität kritisch bewussten – Stufe: Christlicher Glaube ist die Gewissheit, dass durch die Einwirkung Christi der Zustand der Erlösungsbedürftigkeit aufgehoben und der »Zustand schlechthinniger Leichtigkeit und Stätigkeit frommer Erregungen« herbeigeführt wird.208 Ein Selbstbewusstsein, das auf dieser dritten Stufe im christlichen Glauben lebt, durchläuft seinerseits lebenslang eine Entwicklung. Dies ist der entscheidende Aspekt seiner Theorie, der die dogmatischen Grundeinsichten reformatorischer Theologie (solus Christus, sola gratia, sola fide) im Rahmen eines erfahrungsbezogenen, bewusstseinstheoretischen Ansatzes auf solche Weise verbindet, dass sowohl heilssynergistische als auch deterministisch-prädestinatianische Implikationen ausgeschlossen sind.209 Schleiermacher versteht frommes Dasein als Lebensgemeinschaft mit Christus und allen, die an ihn glauben. Diese im Glauben realisierte Chri207
Vgl. GLATZ, Religion, 171.
208
SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube, §14,1 (= KGA I/13,1,115). Siehe auch GLATZ, Religion, 311. 209
Vgl. a.a.O., 388.
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II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
stusgemeinschaft lässt sich in keiner Weise verändern – weder verschlechtern noch vervollkommnen oder steigern.210 Glaube ist ein Zustand des ruhenden Bewusstseins auf der dritten Podestebene des Selbstbewusstseins, der keine weiteren graduellen oder qualitativen Unterscheidungen erwirkt. Christsein ist auf dieser dritten Stufe nur im Sinne der Heiligung prozessual: In der christlichen Lebensführung verstetigt und stärkt sich aufgrund der Christusbeziehung das Gottesbewusstsein. Dies aber ist keine mystische Vertiefung oder emotionale Intensivierung der Christusgemeinschaft und keine ethische Perfektionierung oder Ausweitung des Wir- und Weltgefühls. Das Potential religiöser Phylo- und Ontogenese ist auf der dritten Stufe ausgeschöpft. Auf dieser Ebene ist alles weitere Gnadengabe des Geistes: spannungsvolle Beziehung zwischen der abnehmenden Macht der Sünde und der wachsenden Herrschaft Christi. Der einmalige Prozess des dreistufigen Aufbaus religiösen Selbstbewusstseins spielt sich innerhalb einer von Schleiermacher als »Stufenfolge der Vortrefflichkeit« beschriebenen Dynamik der Lebensphasen ab.211 Sie 210 211
Vgl. a.a.O., 370ff.
FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER, Zur Psychologie (1818), in: Friedrich Schleiermacher Schriften, hrsg. von Andreas Arndt, Bibliothek deutscher Klassiker 134, Frankfurt a.M. 1996, 845-944, 936. »Die Erzeugung müssen wir als ein Zugleichwerden von Leib und Seele betrachten … Hieraus ist nun im allgemeinen der Charakter der Kindheit zu zeichnen. Die aufnehmende Tätigkeit nach außen gekehrt. Fassen und Sondern von Bildern und Gestaltung von Begriffen. Die bildende Tätigkeit nach innen auf den Leib. … Der Zustand der Seele ist überwiegendes Versenktsein in den Organismus, wobei die Tendenz auf das Bewusstsein ganz zurücktritt. Daher der viele Schlaf. Abwechselnd damit Aufblicken in die Welt mit Erkennenwollen. … Die Liebe ist auch noch fast ganz in animalischer Analogie auf dem geteilten Leben mit der Mutter beruhend, daher wenn das Selbstgefühl in der Pubertät vollendet ist, diese Liebe verschwindet und ehe die eigentlich geistige sich erzeugt, eine Zwischenzeit eintritt, welche lieblos erscheint. … Die Jugend beginnt mit der physischen Entwicklung des Geschlechtssystems. … Darum erwacht nun desto stärker das Selbstbewusstsein und die Jugend ist die Zeit der völligen Entwicklung desselben. … Das männliche Alter. Anfangend mit dem psychisch Werden des Geschlechtssystemes und, zusammenhängend damit, mit dem völligen Bestimmtsein des Selbstbewusstseins. Ehe und Beruf. Endend mit dem Verschwinden der Zeugungskraft als Anfang des hohen Alters. Größte Produktivität und Charakterstärke; später kommt beides nicht mehr – Gesetzmäßigkeit und Virtuosität. … Das hohe Alter. Streit ob es Vollendung sei oder Abnahme, zusammenhängend mit den Vorstellungen von der Fortdauer. Beides. Abnimmt die organische Seite, also alles Aufnehmen und Ausführen, auch das Gefühl selbst des sittlichen nach der Seite der Äußerung hin. Dagegen vollendet ist und bleibt der Charakter, Ansicht, die ganze Form, in welcher sich die inwohnende Idee und das inwohnende Selbstbewusstsein ausgebildet haben.« A.a.O., 939-944. Wenn Schleiermacher von der Blüte des Lebens und ihrem Werden und
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
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stecken der religiösen Entfaltung gewisse Grenzen, so dass die Schrittfolge – bei aller individuellen Variationsmöglichkeit – lautet: ›Kindheit‹ als animalisches Bewusstsein, ›Jugend‹ als sinnliches Bewusstsein und ›Erwachsenenalter‹ als völliges Bestimmtsein des Selbstbewusstseins.212 Diese beiden Entwicklungsprozesse (des Körpers und des inneren Selbst) laufen in Kindheit und Jugend also weitgehend parallel. Wenn aber der Mensch die dritte Stufe seiner körperlichen Reifung mit Sinnenklarheit und Sprachvermögen erreicht hat, löst sich die Dynamik seiner charakterlichen Entwicklung von der körperlich-natürlichen Genese: Das Selbstbewusstsein, das einmal die dritte Stufe des imaginierten Podestbaus erreicht hat, verbleibt dort und steigt nicht mehr hinab – während der dreiphasig aufgeblühte Leib auch wieder schwächer wird und vergehen muss.213 Vergehen spricht, meint er folglich den Spannungsbogen des körperlichen Daseins. Den Glaubenslebenslauf, die religiöse Entwicklung imaginiert er aber als Wachstum eines bleibenden Habitus. Die Charakterbildung erreicht eine Stufe, die dann auch im Alter keinen Abbau mehr kennt: »Ein ander Gewächs ist Jeder; aber wie er ist, kann er blühen zugleich und Früchte tragen immerdar.« FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER, Monologen (1829). Eine Neujahrsgabe, (2.-) 4. Ausgabe, in: Kritische Gesamtausgabe, erste Abteilung, Schriften und Entwürfe Band 12, hrsg. von Günter Meckenstock, Berlin/New York 1995, (= KGA I/12), 323-393, 388, vgl. auch a.a.O. 391 (Dies widerspricht der Interpretation von SCHWEITZER, Religion des Kindes, 174.) 212
So kann der Säugling, ganz in der animalischen Symbiose verstrickt, noch nicht zum sinnlichen und schließlich selbstbewussten Bewusstsein vordringen. Allerdings gibt Schleiermacher über diese allgemeinen Hinweise auf biologisch vage vorgegebene Rahmenbedingungen hinaus keine genauen Altersgrenzen an. 213
Auch, wenn das Alter den Körper schwächt, sieht Schleiermacher den Geist in dieser Lebensphase von der leiblichen Entwicklung getrennt: ihn »vermag nicht solch irdisch Gesez unter seine Formeln zu bannen. … Woran sollte sich brechen seine Gewalt? was verliert er von seinem Wesen, wenn er handelt und sich mittheilt? was giebts das ihn verzehrt? Klarer und reicher fühl ich mich jetzt nach jedem Handeln, stärker und gesunder: denn bei jeder That eigne ich etwas mir an von dem gemeinschaftlichen Naturstoffe der Menschheit, und wachsend bestimmt sich genauer meine Gestalt. … Ein selbstgeschaffnes Uebel ist das Verschwinden des Muthes und der Kraft; ein leeres Vorurtheil ist das Alter, die schnöde Frucht von dem trüben Wahn, daß der Geist abhänge vom Körper. … Dem Körper bleibe was sein ist. Stumpfen die Sinne sich ab, werden schwächer die Bilder von den Bildern der Welt: so muß wol auch stumpfer werden die Erinnerung, und schwächer manches Wohlgefallen und manche Lust. Aber ist dies das Leben des Geistes? dies die Jugend, deren Ewigkeit ich anbetete? … Dies hab ich ergriffen, und lasse es nimmer, und so seh ich lächelnd schwinden der Augen Licht, und keimen das weiße Haar zwischen den blonden Lokken. Nichts was geschehen kann, mag mir das Herz beklemmen: frisch bleibt der Puls des innern Lebens bis an den Tod.« SCHLEIERMACHER, Monologen, 385393.
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II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Die paradigmatische Imagination hat bei Schleiermacher eine doppelte Pointe: Zum einen ist Religiosität, Teil des Urzustandes des Menschen, mit Rousseau eine anthropologische Fundamentale.214 Schleiermacher zeigt sich damit anknüpfungsfähig an die Aufklärung. Zum anderen ist sie involviert in den universalen Bewusstseinsprozess, der das Menschsein ausmacht und der nicht auf die Überwindung der Religiosität sondern auf religiöse Mündigkeit und Teilhabe auf der Basis eines aufgeklärten Selbst-, Welt- und Gottesbewusstseins hinausläuft.215
214
Schleiermacher sieht religiöse Äußerungen von Kindern mit Respekt. Schweitzer postuliert, Schleiermacher könne gar als Entdecker der Religion des Kindes gelten, in der Hinsicht, dass er Unterschiede zwischen der Religion von Erwachsenen machen würde und dass »die kindliche Religion zugleich als kindgemäß anerkannt und pädagogisch gefördert wird.« SCHWEITZER, Religion des Kindes, 184. Dies sei »ohne Zweifel« bereits in seinen Reden erfüllt: »Die Religion des Kindes wird klar von der des Erwachsenen abgegrenzt, und es wird nachdrücklich gefordert, der Religion des Kindes Raum zu geben.« Ebd. Schleiermacher habe systematisch und mit den Mitteln der damaligen Psychologie die Eigenart der Religion des Kindes herausgearbeitet, »und zwar nicht um sich dann von den anthropomorphen und phantastischen Vorstellungen des Kindes in aufklärerischem Erschrecken abzuwenden, sondern um sie in ihrem Recht zu bestätigen und sich darauf einzulassen.« Ebd. Dies zielt m.E. an Schleiermacher vorbei. Ihm liegt weniger daran, sich auf die Religiosität des Kindes einzulassen, als vielmehr, Religiosität als anthropologische Fundamentale zu etablieren. »Das Ziel der Argumentation besteht … in dem Erweis ›der durchgängigen Bestimmtheit aller Momente des Selbstbewusstseins durch das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl‹« GLATZ, Religion, 302. 215
Deutlich wird dies beim Abschluss der Reden über die Religion: »Neue Bildungen der Religion, seien sie nun untergeordnet dem Christenthum oder neben dasselbe gestellt, müssen hervorgehen, und zwar bald; sollten sie auch lange nur in einzelnen und flüchtigen Erscheinungen wahrgenommen werden. Aus dem Nichts geht immer eine neue Schöpfung hervor, und nichts ist die Religion fast in alle Genossen der jezigen Welt, denen ein geistiges Leben in Kraft und Fülle aufgeht. In Vielen wird sie sich entwikkeln aus einer von den unzähligen Veranlassungen, und wird in neuem Boden zu einer neuen Gestalt sich bilden. Nur daß die Zeit der Zurückhaltung vorüber sei, und der Scheu. Die Religion haßt die Einsamkeit, und in ihrer Jugend zumal, welche ja für Alles die Stunde der Liebe ist, vergeht sie in zehrender Sehnsucht. Wenn sie sich in Euch entwikkelt, wenn ihr die ersten Spuren ihres Lebens inne werdet: so tretet gleich in die Eine und untheilbare Gemeinschaft der Heiligen, die alle Religionen aufnimmt, und in der allein jede gedeihen kann. Ihr meint, weil diese zerstreut ist und fern, müßtet ihr dann unheiligen Ohren reden? Ihr fragt, welche Sprache geheim genug sei, die Rede, die Schrift, die That, die stille Mimik des Geistes? Jede, antworte ich, und Ihr seht, ich habe die lauteste nicht gescheut. In jeder bleibt das Heilige geheim und vor den Profanen verborgen. Laßt sie an der Schale nagen wie sie mögen; aber weigert uns nicht den Gott anzubeten, der in Euch sein wird.« FRIEDRICH DANIEL ERNST SCHLEIERMACHER, Reden über Religion 1799, (2.-) 4. Auflage, (= KGA I/12), 297f.
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Schleiermacher nutzt die Analogiefigur individueller, menschheitlicher und religionengeschichtlicher Genese, um die Kritik der Aufklärung an der kirchlichen Religion zu überwinden: Er holt sie mittels der paradigmatischen Imagination philosophisch-theologisch ein, um sie für die christliche Sichtweise zu öffnen: Wie der Einzelne vom animalen zum sinnlichen zum bewussten Selbstverständnis findet, so stellt sich auch der Entwicklungsprozess der Religionen und die Kulturgeschichte insgesamt dar: unbewusste, vorkritische Integration, kritische Separation und Widerstreit (Auseinandersetzung) und bewusste, ureigenste Integration.216 Das heißt aber: Schleiermacher suggeriert allen Glaubenskritikern, dass ihr Denken nur eine phylo- und ontogenetische Stufe ist: Der Krise durch die Aufklärung folge ein Christentum der dritten Ordnung, der selbstbewussten Stufe, dessen sich auch vor aufgeklärten Denkern niemand zu schämen braucht. Vielmehr erscheinen nun jene Religionskritiker als auf der zweiten Stufe des Menschseins zurückgeblieben. Diese Variante der paradigmatischen Imagination hat die theologischen Modellvorstellungen zum Glaubenslebenslauf intensiv beeinflusst: Kindheit als Zeit der Symbiose und des verschmolzenen Erlebens und Glaubens (phylogenetisch die Phase des Christentums bis ins 17. Jahrhundert), Jugend als Zeit der Auseinandersetzung und Kritik (phylogenetisch die Phase des Christentums in der Kritik der Aufklärung) und Erwachsenenalter als Zeit der zunehmend integrativen Weltsicht, des immer wieder Einsichtigwerdens der universalen Abhängigkeiten und der neuen, aufgeklärten Zuwendung zur Religion (phylogenetisch die Phase des aufgeklärten, modernen Christentums). Dieses Modell transportiert die Idee von einer positiven Überwindung der aufklärerischen Kritik an der Religion, die trotz und wegen der weiteren christentumskritischen Wellen bis heute durchgespielt wird.217 Während die philosophisch-theologische Auseinandersetzung sich auf die anthropologischen Fragen konzentrierte, verbreitete sich unterdessen die paradigmatische Imagination des biogenetischen Gesetzes als Denkan-
216
Palmer betonte nach Schleiermacher innerhalb der paradigmatischen Imagination besonders die kirchlichen Dimensionen: Kirchengeschichte nach dem Dreischritt Tradition – Schrift – Katechismus. Vgl. CHRISTIAN PALMER, Evangelische Katechetik, Stuttgart 1844. 217
Mithilfe der Rede von der ›zweiten Naivität‹ bei Paul Ricoeur versuchen Religionspädagogen und Theologen bis heute die Schleiermachersche Figur durchzudenken: Naive, vorbewusste Religiosität, Zeit differenzierender Kritik und schließlich die – nicht von allen Menschen erreichte, religionspädagogisch erstrebenswerte – Phase der zweiten Naivität.
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II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
satz, um die Fülle der zoologischen und geologischen Beobachtungen des natürlichen Daseins aller Lebewesen in einer modellhaften Theorie zu verdichten:218 Jean-Baptiste Lamarck legte 1809 in seiner »Philosophie zoologique« eine einflussreiche Entwicklungstheorie zum Verständnis der Vielfalt der Lebewesen vor. Er verglich die Kategorien der Lebewesen mit den Stadien der Ontogenese eines Individuums.219 Durch Beobachten und Kartographieren veränderte sich das theoretische Vorstellungsvermögen. Aus der im 17. Jahrhundert verbreiteten Einteilung der Lebewesen wurden großflächige Darstellungen der Verwandtschaft der Arten.220 Besonders die zunehmende Erkundung der Fossilien potenzierte phylogenetische Vorstellungen. Die forschungsgeschichtliche Spannung des 19. Jahrhunderts spitzte sich darauf zu, wer das entscheidende Modell präsentieren würde.221 Charles Darwin gelang schließlich der Durchbruch. Sein revolutionärer Schritt bestand darin, die Phylogenese ausgehend von Prozessen auf der Ebene von Populationen zu betrachten.222 Der Wettlauf mit Alfred Russel Wallace forderte aber seinen geistesgeschichtlichen Tribut: Darwins Vorstellung von einer korallenartigen Verästelung der Evolution und seinem zweipoligen Denken von »survival of the fittest« und »sexual
218
Zum Stichwort Evolution vgl. GEORG TÖPFER, Evolution, in: FRIEDRICH JAEGER (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Band 3 (Dynastie – Freundschaftslinien), Stuttgart 2006, Sp.659-664. 219
Vgl. PETER J. BOWLER, Evolution. The History of an Idea, London 32003 und WOLFGANG LEFÈVRE, Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie, Berlin 22009. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte – bei allem Interesse an der Entwicklung des Menschen – im Blick auf die gesamte Schöpfung die Vorstellung vor, sie sei ein harmonisches Ganzes, zusammengesetzt aus perfekt aneinander angepassten Teilen und nur im Katastrophenfall hin und wieder durch ad hoc neu geschaffene Arten ergänzt. Als einer der letzten großen Theoretiker dieses Denkens und Ablehner der graduistischen Evolutionstheorie Lamarcks gilt Georges Cuviere. 220
Vgl. GIULIO BARSANTI, La scala, la mappa, l’albero. Immagini e classificazioni della natura fra Sei e Ottocento, Sansoni, Firenze 1992. 221
Vgl. MICHAEL SHERMER, in Darwin’s Shadow. The Life an Science of Alfred Russel Wallace. A Biographical Study on the Psychology of History, New York 2002, 118ff und BREDEKAMP, Darwins Korallen 50ff. 222
Vgl. ERNST MAYR, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt. Vielfalt, Evolution und Vererbung, Berlin 1984 (Nachdruck 2002).
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
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ästhetik« erhielt seine Verengung auf die These eines nach oben sich streckenden Lebensbaumes zielgerichteter Auswahl der Besten.223 II. 3. 4 Die pädagogische Etablierung der Analogiefigur
War bei Schleiermacher die Idee einer phylo- und ontogenetische Strukturanalogie des religiösen Selbstbewusstseins vor allem eine theologische Metatheorie zur Verteidigung des Christentums angesichts der Religionskritik der Aufklärung, wobei er ihre Übertragung in eine pädagogische Pragmatik kritisch sah,224 verschob sich der Gebrauch bald signifikant: Nun wurde aus der Rousseauschen Idee, mittels der Beobachtung des Kindes über die kulturelle Entwicklung der Menschheit erkenntnistheoretisch Aufschluss zu gewinnen, ein pädagogisches Leitprogramm. Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg formulierte: »Jeder Mensch soll den Entwicklungsprozeß der Menschheit durchmachen«.225 Tuiskon Ziller verband Sittlichkeit mit Religion als grundlegendes Paradigma der christlichen Erziehungsarbeit, so dass die Frage der Entwicklung des Kindes auch zu einer Frage der Entwicklung seiner Religion wurde.226 Bei Ziller geriet das Wissen um das Besondere von Glaube und
223
Darwin selbst hat stets vermieden, die Metaphorik von Bäumen zu verwenden. Trotzdem ist sein Diagramm der ›Origin of Species‹ als Baumstruktur »eine Ikone der Moderne geworden.« BREDEKAMP, Darwins Korallen, 54. 224
Die Belebung des religiösen Prinzips gehört in die Familie und in die Kirche und hat somit mit der Theorie der pädagogischen Schulerziehung bei Schleiermacher nichts zu tun. Vgl. STROBEL, Pädagogik, 295. 225
FRIEDRICH ADOLPH WILHELM DIESTERWEG, Mein Religionsunterricht (1855), In: Ders., Sämtliche Werke Bd. 11, Berlin 1972, 407-425, 415. 226
Ziller zielte auf eine Integration von allgemeiner und religiöser Erziehung, wobei religiöse Erziehung weitgehend mit sittlicher Erziehung gleichgesetzt wird. Religion war für ihn weder eine Sache des Gefühls, noch des Wissens, sondern eine Richtung des Willens. Unterricht soll erziehend sein, der sittlich-religiösen Charakterbildung des Zöglings dienen. Ziller wollte damit das Werk Herbarts weiterführen und zugleich überbieten. Denn dieser habe den Begriff des Erziehungsunterrichtes zwar vollständig entwickelt, ohne ihn jedoch mit religiösen Begriffen in Verbindung zu setzen. Ziller vertrat einen Gesinnungsunterricht mit dem Ziel der sittlich religiösen Persönlichkeit, die sich wie das allgemeine Menschengeschlecht entwickle. Ziller entfaltete aus den beiden Prämissen, dass die kulturelle und die individuelle Entwicklung parallel laufe und von einem allgemeingeschichtlichen und religionsgeschichtlichen Fortschritt auszugehen ist, einen »kulturgeschichtlich-konzentrierten Lehrplan«, auf dem alle anderen Fächer mit aufbauen. Vgl. VEIT-JAKOBUS DIETERICH, Religionslehrplan in Deutschland (1870-2000). Gegenstand und Konstruktion des evangelischen Religionsunterrichts im religionspädagogischen Diskurs und in den amtlichen Vorgaben, Göttingen 2007, 139ff. Nebeneinander stehen hier ab dem
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II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Religion und damit ihr letztes der Erziehung Entzogensein – wie noch Herbart und Schleiermacher dachten – in Vergessenheit.227 Wozu erzogen und gebildet werden sollte, wurde von Ziller mithilfe einer von Herder inspirierten nun aber psychologisch-altersbezogen definierten Kulturstufentheorie beschrieben.228 Er postulierte: »Die Entwicklungsstufen des Menschengeschlechtes, die bis jetzt abgelaufen sind (sind solche), wie sie auch der Einzelne immer wieder durchmachen muß, um an der gegenwärtigen Bildung der Menschheit mit voller Kraft teilnehmen … zu können.«229 Vor dem Hintergrund der Kulturstufentheorie lehnte Ziller ab, dass Lerninhalte im Lauf ihrer Schulzeit den Kindern mehrfach (konzentrisch) begegnen. Vielmehr sollte die nachwachsende Generation den kulturellen, stufenweise aufsteigenden Gang der Menschheitsgeschichte im Unterricht nach-, mit- und durcherleben, wobei die Ordnung und Reihenfolge der Stufen streng einzuhalten war. In der Konsequenz führte diese pädagogische Variante der phylo- wie ontogenetischen religiösen Entwicklung zur Abschaffung des bis dahin üblichen Katechismusunterrichtes. Aus der Idee des Lernens und Auswendigkönnens von christlichen Glaubensinhalten, um sich an diese – ob verstanden oder nicht – halten zu können und lebenslang in der Spannung der tentatio an ihnen zu bleiben, wurde die Vorstellung eines zu bildenden Homo religiosus, dem wohldosiert Glaubensinhalte vermittelt werden.230 Mit dem Rückgriff auf die Kulturstufentheorie und die Völkergeschichte suchte sich die christliche Unterrichtslehre im Sturm ihrer Infragesteldritten Schuljahr jeweils biblische und profangeschichtliche Stoffe in historischer Reihung: Märchen (1. Schuljahr), Robinson (2. Schuljahr), Vätergeschichten und deutsche Heldensagen (3. Schuljahr), Richterzeit und Deutsche Könige (4. Schuljahr), alttestamentliche Könige und deutsche Kaiser des Mittelalters (5. Schuljahr), Leben Jesu und Zeit der Reformation (6. Schuljahr), Apostelgeschichte und Profangeschichte des Altertums (7. Schuljahr), Katechismus und Gegenwart (Gründung des Zweiten Deutschen Reiches) (8. Schuljahr). Vgl. a.a.O., 142f. 227
Vgl. CHRISTIAN GRETHLEIN, Religionspädagogik, Berlin 1998, 31ff.
228
Vgl. TUISKON ZILLER, Vorlesungen über Allgemeine Pädagogik, Leipzig 21884. Siehe auch ROBERT SCHELANDER, Religionstheorie und Reformbewegung. Eine Untersuchung zur liberalen Religionspädagogik, Würzburg 1993, 121-126. 229
TUISKON ZILLER, Materialien zur speziellen Pädagogik. Des »Leipziger Seminarbuches« 3., aus dem handschriftlichen Nachlasse des Verfassers vermehrte Auflage hrsg. von M. Bergner, Dresden 1886, 16f. Vgl. DIETERICH, Religionslehrplan, 141. 230
Zum Zusammenhang dieses pädagogischen Ansatzes mit der pietistischen Anthropologie und Erlösungslehre vgl. FRITZ OSTERWALDER, Die Geburt der deutschsprachigen Pädagogik aus dem Geist des evangelischen Dogmas, in: Vierteljahresschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 68 (1992), 426-454, 433f.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
75
lung durch die Aufklärung und im Klima der Diskussion um die Evolutionslehre Darwins, als anschlussfähig an die zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurse zu beweisen und ihren Platz in der schulischen Bildung zu sichern. Die allgemeine Praktische Theologie hielt sich überdies noch zurück und nahm kaum Anteil an diesem mit dem biogenetischen Prinzip bildungstheoretisch etablierten und bald verschiedene Disziplinen beschäftigenden empirischen, psychologischen Forschen. 1890 erschien ein großes praktisch-theologisches Lehrbuch von Achelis.231 Dies nahm nicht einmal in den Blick, dass neun Jahre zuvor, im rückwirkend so bezeichneten »Geburtsjahr der wissenschaftlichen Erforschung religiöser Entwicklung«232 , 1881, Granville Stanly Hall in seinen Vorlesungen an der ClarkUniversity zum ersten Mal auch Untersuchungen über die religiöse Vorstellungswelt von Kindern präsentiert hatte und in der Folge zusehends auch im deutschen Sprachraum, entsprechende Studien regelrecht aus dem Boden sprossen, sei es über die Himmelsvorstellungen von Kindern, ihre Gottes- und Jesusbilder, ihre Glaubenszweifel, insbesondere ihre Konversionen, d.h. die bewusste Entscheidung für eine bestimmte Glaubensrichtung.233 Die drei Pioniere der empirischen Religionspsychologie Granville Stanley Hall, James Henry Leuba und Edwin Diller Starbucks versuchten, im »jeweils unterschiedlich akzentuierten und realisierten Rekonstruktionswillen …, den Wert der Religion … zu retten in einer Welt, die angesichts der Erkenntnisse der neuen ›Sciences‹ und des Erfolgs, der durch sie ermöglichten Technik unterwegs ist, die Dimension des Religiösen nur noch als einen anachronistischen Sonderbereich menschlicher Erfahrung zu begreifen. Die Vorstellung, gerade diesen vermeintlichen Sonderbereich religiöser Erfahrung nun ebenfalls als empirisch erforschbar und mit den Mitteln szientifischer Rationalität verstehbar zu erweisen, stiftete die Grundidee ihres religionspsychologischen Theorieunternehmens.«234
231
Für ihn ist Praktische Theologie Lehre von der Selbstbetätigung der Kirche zu ihrer Selbst-Erbauung. Oberstes Subjekt aller Erbauung ist Christus. Er arbeitet vor allem mit historischem Material. Vgl. ERNST CHRISTIAN ACHELIS, Lehrbuch der praktischen Theologie, 3 Bd., Leipzig 31911. Erste Auflage 1890/91 in zwei Bänden. 232
BUCHER/OSER, Entwicklung, 609.
233
Vgl. ebd.
234
KIRSTEN HUXEL, Die empirische Psychologie des Glaubens: historische und systematische Studien zu den Pionieren der Religionspsychologie, Stuttgart 2000, 414.
76
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Für ihre Neuinterpretationen des Christentums war die onto- und phylogenetische Strukturanalogie unhinterfragtes Paradigma. James Mark Baldwin (1861-1943), amerikanischer Philosoph und Psychologe – bekannt vor allem als Evolutionstheoretiker235 mit seiner These gegen Lamarck (sog. Baldwin-Effekt236 ) – beschrieb als einer der ersten psychologische Stufen religiöser Entwicklung.237 Die etablierte kontinentaleuropäische Theologie, noch in historischhermeneutischen Paradigmen verankert, reagierte weiterhin mit Ablehnung oder Desinteresse.238 II. 3. 5 Religionspsychologische Empiriemodelle
Das offenkundige Erwachen des theologischen Interesses an empirischer Forschung im deutschsprachigen Raum mag man auf das Jahr 1910 datieren, als Paul Drews’ Programmschrift »Das Problem der Praktischen Theologie« erschien. Er forderte explizit, dass die Praktische Theologie als »evangelische Kirchenkunde« mit einem Hauptzweig »religiöse Volkskunde«, die religiöse Psychologie mit einbeziehe. Unter Rückgriff auf Drews bemühte sich Friedrich Niebergall in seiner »Praktischen Theologie« um
235
Baldwin beschrieb die menschliche Entwicklung in Epochen: niederes Wirbeltier (bis acht Monate), höheres Wirbeltier (bis 24 Monate), ab zwei Jahren geistige Eigenschaften eines menschlichen Lebewesens. Siehe dazu: JAMES MARK BALDWIN, Mental development in the child and the race, London 1995 (Nachdruck der Ausgabe von 1895) und JAMES MARK BALDWIN, Die Entwicklung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse (Methoden und Verfahren); Unter Mitwirkung des Autors nach der 3. englischen Auflage ins Deutsche übersetzt von ARNOLD E. ORTMANN. Nebst einem Vorwort von Th. Ziehen, Berlin 1898 und JAMES MARK BALDWIN, Social and ethical interpretations in mental development, London 1995 (Nachdruck der Ausgabe von 1897). Siehe auch JOHN M. BROUGHTON, The cognitive-developmental psychology of James Mark Baldwin: Current Theory and Research in Genetic Epistemology, Norwood 1982 und BRUCE H. WEBER/DAVID J. DEPEW, Evolution and Learning: The Baldwin Effect Reconsidered (Life and Mind: Philosophical Issues in Biology and Psychology), Cambridge, Mass. u.a. 2007. 236
Als Baldwin-Effekt bezeichnet man die Theorie, dass Erlerntes den Rahmen beeinflusst, innerhalb dessen Selektion wirkt, d.h. Erlerntes wird nicht direkt vererbt (wie dies Lamarck postulierte), wird aber über Generationen zum genetisch bestimmten, analogen Merkmal. Siehe dazu WEBER/DEPEW, Evolution. 237
Vgl. ANTON A. BUCHER, Psychologie der Spiritualität. Handbuch, Basel 2007, 60. Baldwin wirkte auf Piaget (insbesondere durch seine Prozesse der Gewohnheitsbildung und Akkommodation) und Kohlberg, aber auch auf Wilber. 238
Vgl. PETER MEYER, Typen Empirischer Theologie, in: ASTRID DINTER u.a. (Hrsg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, Göttingen 2007, 26-41, 28.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
77
eine religiöse Volkskunde und Psychologie.239 Er stellte programmatisch fest: »Unsere Aufgabe ist die Erfassung des eigentlich religiösen Lebens, wie es gleichsam nackt ohne die zufälligen Bekleidungsstücke anderer Einflüsse und Beziehungen, mit psychologischen Mitteln aufgefunden und dargestellt werden kann. Es handelt sich also nicht um die Anwendung empirischer Psychologie auf das religiöse Leben, sondern um die Erfassung des besonderen Sinns religiösen Lebens in seiner Eigentümlichkeit.«240 Niebergall informierte darüber, dass seit Beginn des 20. Jahrhunderts »durch die deutsche Lehrerwelt das Bestreben« gehe, »sich immer mehr mit dem wirklichen Stand der Kinderseele bekannt zu machen.«241 Dies geschehe nach der »biographisch-anekdotischen« oder nach der »statistischen Methode«.242 Er verwies auf Forschungen zu einzelnen religiösen Phänomenen von Bäumer, Dröscher, Kabisch, Schreiber, Weigl. Schließlich zitierte er auch Stufenmodelle religiöser Entwicklung: »Reukauf (…) versucht, die einzelnen Stufen der kindlichen Entwicklung zu zeichnen; deren erste ist z. B. die, da das religiöse Gefühl erwacht in der Gestalt eines blinden Vertrauens auf die phantasiemäßig aufgefaßte Gottheit, während es auf der zweiten schon in enge Verbindung mit dem sittlichen Leben tritt; darauf erwachen häufig schon allerlei Zweifel, denen freilich auch schon eine Vertiefung und Vergeistigung der Religion bei reifen Naturen entspricht; diese zwiefache Entwicklung setzt sich in das Jünglings- und Jungfrauenalter hinein fort. Aehnlich stellt auch Dietrich Vorwerk Stufen der Entwicklung der kindlichen Religion auf.«243 Mit August Reukauf (1867-1941) verwies Niebergall auf einen der großen »Epigone(n) und Nachlassverwalter«244 der Herbart-Zillerschen Religionspädagogik. Dieser unterschied im Blick auf das Bildungsziel der religiös-sittlichen Persönlichkeit zwar im Gegensatz zu Ziller bereits wieder deutlich zwischen Religion und Sittlichkeit – hielt aber die Entwicklung
239
Vgl. dazu auch CHRISTIAN MÖLLER, Einführung in die Praktische Theologie, Tübingen 2004, 5. 240
FRIEDRICH NIEBERGALL, Praktische Theologie. Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung auf religionswissenschaftlicher Grundlage, Bd 1, Tübingen 1918, 36. 241
FRIEDRICH NIEBERGALL, Praktische Theologie. Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung auf religionswissenschaftlicher Grundlage, Bd 2, Tübingen 1919, 266. 242
A.a.O., 267.
243
A.a.O., 266.
244
DIETERICH, Religionslehrplan, 147.
78
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
beider für in Stufenreihen beschreibbare Phänomene.245 Im Anschluss an Vogts Kulturstufen »phantasiemäßig – tatsächlich – reflektierend«246 ging seine Vorstellung von der kindlichen Entwicklung aus einer engen Verbindung von entwicklungshistorischer und entwicklungspsychologischer Analyse hervor.247 Reukauf versuchte, sich in die Kinderseele hineinzuversetzen. Er sah sich ›ganz an der Seite des Kindes‹.248 Anders als bei Zillers Kulturstufen sollte nun bei Reukauf das Kind in seiner eigenständigen Entwicklung in den Blick kommen.249 Dabei war Reukauf wichtig, die Grenzen der kindlichen »Apperzeptionskraft« zu benennen: Diese seien die mangelnden heimatkundlichen Vorstellungen der Kinder, ihre Defizite an Sprachgewandtheit, die zur »Entweihung« der biblischen Geschichten führten; ihr Unvermögen, in der bildlichen Sprachdarstellung den Kern biblischer Geschichten zu begreifen. Reukauf kombinierte diese Erkenntnisse mit religionspsychologischen und religionssoziologischen Studien, die belegten, dass die religiöse Sozialisation im Elternhaus als Folge der Säkularisierung defizitär sei, weshalb man nicht mehr von einer »Anknüpfungsfähigkeit« des Religionsunterrichts ausgehen könne.250 Eine Konsequenz seiner Vorstellung einer stufenweisen Entwicklung der Religiosität des Kindes war für Reukauf umsomehr, für den von Ziller begründeten schulischen Vorkurs einzutreten, der vorsah, Kinder einige Jahre lang anhand der Arbeit mit Märchen auf den Unterricht mit biblischen Texten vorzubereiten. Dietrich Vorwerk, der zweite Vertreter einer Stufentheorie zur kindlichen religiösen Entwicklung, den Niebergall erwähnte, begegnet in seinen Schriften als Herold und Wächter der Kinderseelenkunde für das geistliche Amt: »Es muss endlich mit der pädagogisch so verhängnisvollen Anschauung gebrochen werden, daß Erwachsene und Kinder sich in allen wesentlichen Stücken gleich seien. Gewiß, sie haben gemeinsame Bedürfnisse, sie haben ein gemeinsames ewiges Ziel. … Wer (aber) nur das Gemeinsame zwischen Kindern und Erwachsenen sieht und die Unterschiede verwischt, 245
Vgl. a.a.O., 150.
246
Vgl. RICHARD STAUDE, Der alttestamentliche Unterricht auf der Oberstufe der Volkschule, in: PädSt NF (1906), 82ff. Siehe auch DIETERICH, Religionslehrplan, 149. 247
Vgl. a.a.O., 150.
248
Vgl. AUGUST REUKAUF, Didaktik des evangelischen Religionsunterrichts in der Volksschule (1900) (Evangelischer Religionsunterricht I : Grundlegung für Lehrplan und Methode, 1), Leipzig 21906, 289f. 249
Vgl. DIETERICH, Religionslehrplan, 150.
250
Vgl. REUKAUF, Didaktik, 285f.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
79
der wird ein schlechter Erzieher sein.«251 Auch Vorwerk sprach von »Stufen« der Entwicklung: Er stellte die Kinder »nicht auf dieselbe Stufe, aber auf eine ähnliche Stufe wie die Wilden.«252 Die Erwachsenen hielt er dazu an, sich über die Kinderwelt zu unterrichten, wie Missionare die Sprache und Sichtweisen ferner Länder lernen. Denn »es ist nicht nur der Strom der Tage, die seit unserer Kinderzeit verflossen sind, es ist auch der Strom unserer inneren Entwicklung, der seit jener Zeit vieles anspülte und vieles hinwegriß.«253 Seine Theorie unterschied diese zwei große Stufen zwischen Erwachsenen und Kindern und differenzierte dann innerhalb der Kinderzeit einzelne Entwicklungsphasen.254 Ihn faszinierte die wachsende kinderpsychologische Wissenschaft, an deren Erkenntnisse über die triebhafte Kinderwelt er die Geistlichen partizipieren lassen wollte.255 Mit kulturgeschichtlichen Analogiebildungen veranschaulichte und plausibilisierte er 251 2
DIETRICH VORWERK, Kindergottesdienst und Kinderseelenkunde, Schwerin i. Meckl. 1911, 32.
252
A.a.O., 25.
253
A.a.O., 26.
254
»Der vierjährige Knirps im Fragealter ist anders als der dreizehnjährige Lümmel in den Flegeljahren. Die puppenspielende ABC-Schülerin ist anders als die vierzehnjährige Konfirmandin mit ihren ersten Einsegnungsgedanken und ersten dämmerhaften Backfischträumen. Wahrlich, ein ernstes Studium ist nötig, um die einzelnen Landschaften, Städte und Dörfer im Kinderlande kennen zu lernen und sich wegkundig in ihnen zurechtzufinden.« A.a.O., 33. 255
Vorwerks Texte zielten darauf, die Erziehung der Kinder dadurch zu verbessern, dass man ihre Welt zu begreifen und zu klassifizieren lernt, um z.B. »die Lügen der Kinder … wirksam (zu) bekämpfen, wenn man ihre Wurzeln bekämpft, die in den Trieben und Beweggründen der Seele liegen.« A.a.O., 40. »Im Anschluss an die Geschichte von Hananias und Saphira wäre Gelegenheit gegeben, besonders zu sprechen von den Kinderlügen aus ungezügelter Phantasie und übertriebener Prahlsucht, wie sie geschildert werden in der Geschichte vom lügenhaften Hirtenbüblein und in der Geschichte von dem Knaben, der einen Hund gesehen haben wollte, so groß wie eine Kuh. Im Anschluß an die Verleugnung des Petrus würde man dagegen sprechen von den Kinderlügen, welche aus Furcht vor der Strafe der Eltern und Lehrer oder dem Spott der Kameraden ihren Grund haben.« Kinderseelenkunde lehre, »die einzelnen Kinderseelen richtiger anzusehen, hindurchzuschauen durch die Verkleidungen des Angewöhnten und Angelernten bis in das lebendige Triebleben hinein, hinter dem Kindertrotz das Kinderleid, hinter der Kinderlüge die Kinderphantasie zu erkennen. Eine individuellere und gerechtere Beurteilung und Behandlung des einzelnen Kindes wird die Folge sein.« A.a.O., 41. Kinderpsychologie gehörte für Vorwerk daher in die Ausbildung der Geistlichen. Vgl. a.a.O., 39ff, und insbesondere auch in die Vorbereitungseinrichtungen und Zeitschriftenredaktionen für Kindergottesdienst(materialien) und Sonntagsschulen. Vgl. a.a.O., 41f.
80
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
seine Modellvorstellung256 – argumentativ aufgefüttert mit psychologischen Ergebnissen.257 Die Beschäftigung mit der Kinderseelenkunde diente Vorwerk vor allem dazu, die Beschränktheit und psychische Verfangenheit des Kindes zu beschreiben.258 Er bemühte sich um Antworten auf Fragen zur angemessenen religiösen Gestaltung für Kinder in Korrelation zu ihrer jeweiligen Altersstufe.259 Sein Modell lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass religiöse Entwicklung im Laufe des Erwachsenwerdens »Höherentwicklung« und »Verbesserung« des religiösen Individuums ist, bzw. sein soll: Das Gebet
256
So erläutert Vorwerk: »Ein Kinderkopf ist ein Rabenhaus, in welchem die Gedanken aus und einfliegen. Ein Kinderherz ist ein Kreuzweg, bei welchem die Wünsche und Interessen sich in den entgegengesetzten Richtungen durchkreuzen. Die Verfassung des kindlichen Seeelenlebens ist nicht eine absolute Monarchie, in der nur des Herrschers Gebot gilt. Sie ist eine Verfassung wie zur Zeit des mittelalterlichen Raubrittertums. Damals herrschte zwar ein Kaiser in Deutschland, aber die Ritter und Fürsten kehrten sich nicht daran, sie lagen miteinander und mit den Bürgern und Bauern in Fehde. Wohl sitzt ein Kaiser auf dem Thron im kindlichen Seelenleben. Sein Ich, sein Selbstbewusstsein, ist schon erwacht. Das Kind ist ein kleines Individuum, eine werdende Persönlichkeit. Aber sein Ich hat mehr den Namen als die Wirklichkeit der Herrschaft. Entgegengesetzte Stimmungen, einander widersprechende Wünsche, phantastische Bilder und zerstreute Gedanken werfen einander den Fehdehandschuh zu, unbekümmert um des Reiches Oberhaupt.« A.a.O., 31. 257
Wobei Vorwerk dazu mahnt, dass »nicht jeder meinen (soll), dass er deshalb, weil er einige Bücher über Kinderseelenkunde gelesen hat, nun gleich befähigt sei zu psychologischen Experimenten. Dazu gehört eine methodische Schulung im psychologischen Laboratorium, eine genaue und kritische Untersuchung der Fehlerquellen, die mehr oder weniger stark bei jeder Methode der Untersuchung fließen.« DIETRICH VORWERK, Kinderseelenkunde. Eine Einführung in ihr Studium und Nachweis ihrer Bedeutung als Grundlage des Konfirmandenunterrichts, Schwerin i. Meckl., 1914, 39f. 258
Vorwerk schildert z.B. wie er mithilfe der Erkenntnisse der Kinderseelenkunde die Versuchungsgeschichte des Neuen Testamentes dazu verwendet, »von den Kinderversuchungen zu reden.« Er beschreibt die Kinderversuchungen, die vom Nahrungstriebe ausgingen, solche, die von der kindlichen Eitelkeit und Prahlsucht kämen, jene, die Eigentumsbedürfnis und Herrschsucht brächten. Vgl. VORWERK, Kindergottesdienst, 34ff. 259
Vorwerk zählt z.B. auf: »Welche Gebetsverse eignen sich für das kindliche Gemüt auf einer bestimmten Altersstufe? Wie kann man durch eine rechte Unterweisung über Gebetserhörung das Kind vor Enttäuschungen in seinem Gebetsleben bewahren? Wie dürfen die Geschichten und Beispiele aus dem Gebetsleben sein, die man den Kindern erzählt, und wie dürfen sie nicht sein? Wann ist das Kind reif zum Gebet? Wie kann man es vom selbstsüchtigen Gebet zur Fürbitte führen?« A.a.O., 40f.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
81
wird vom »selbstsüchtigen« zum »fürbittenden«260 , das Gefühlsleben wird reifer, worunter Vorwerk verstand, das Gefühl »für die ernste und große Schönheit der Natur« zu erwerben, ebenso wächst der »Sinn für Humor«261 und das Kind entwickelt sich vom Sanguiniker zum selbstbeherrschten Erwachsenen.262 Das wachsende Interesse Vorwerks und anderer Zeitgenossen an der experimentell arbeitenden Psychologie wurde innerhalb der Theologie zunehmend rezipiert. Unterdessen entstand – aus Einzelabhandlungen hervorgehend (E. Spranger, W. Stern, O. Kroh) zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine neue wissenschafltiche Disziplin: die Entwicklungspsychologie.263 II. 3. 6 Werner Gruehns Stufenmodell
In den folgenden Jahren tat sich in der deutschsprachigen theologischen Literatur insbesondere ein Forscher mit einer spezifischen Theoriebildung hervor: der Dorparter Religionspsychologe und Theologe Werner Gruehn.264
260
A.a.O., 41.
261
A.a.O., 29.
262
Vorwerk erklärt: »Dem Willensleben der Kinder fehlt die Energie der Hemmung, die Selbstbeherrschung. Das hängt mit der mangelhaften Ausbildung der Hemmungszentren im Gehirn zusammen. Darum ist das Kind auch rasch zum Wort und rasch zur Tat. Noch schiebt sich nicht wie beim Erwachsenen eine Menge von Vorstellungen, die sich gegenseitig hemmen und kontrollieren, zwischen Wunsch und Wort, zwischen Wollen und Tun, zwischen Gefühl und Gefühlsäußerung. Das Kind lebt im Augenblick und erliegt dem Augenblick, es ist unbeständig und wankelmütig.« A.a.O., 29. 263
Eine erste Gesamtdarstellung bot CHARLOTTE BÜHLER, Kindheit und Jugend, Leipzig 1928. Zur Geschichte der Entwicklungspsychologie vgl. z.B. HANNS MARTIN TRAUTNER, Allgemeine Entwicklungspsychologie, Stuttgart 22003, 13-24. 264
Gruehns Ansatz wird im Folgenden insbesondere anhand von drei Werken nachgezeichnet. Die Erforschung dieses Dorparter Theologen ist ein Forschungsdesiderat. Hier wird daher kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, sondern mittels dreier gründlich analysierter Schriften die darin enthaltene Theorie dargestellt. Grundgelegt wurden sein Artikel im Handbuch für das Evangelische Jungmännerwerk Deutschlands: WERNER GRUEHN, Psychologie der männlichen Jugend mit besonderer Berücksichtigung des religiösen Erscheinungen, in: ERICH STANGE (Hrsg.), Der Junge Mann. Eine Physiologie, Psychologie und Soziologie des jungen Mannes, sowie ein Überblick über die Geschichte und Zielsetzung des evangelischen Jungmännerwerkes in Deutschland, Handbuch für das Evangelische Jungmännerwerk Deutschlands, Bd.1, Kassel-Wilhelmshöhe 1927, 49-162, seine »kleine« Religionspsychologie: WERNER GRUEHN, Religionspsychologie, Breslau 1926 und seine »große« Religionspsy-
82
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Er strebte die »tatsächliche planvolle Beherrschung der Wirklichkeit«265 durch die empirische Forschung an. Gruehn ging grundlegend davon aus, dass von außen »objektiv« die Lebenslinie eines Menschen »richtig« gedeutet werden könne – auch und gerade gegen die subjektiven Darstellungen der Individuen.266 Seinen Werken ist Begeisterung für die empirische Religions- und Entwicklungspsychologie abzuspüren, in Verbeugung vor den wissenschaftlichen Weichenstellungen der Aufklärung267 und mit Hochachtung vor E.D. Starbuck und Karl Girgensohn. Die psychologische Forschung sei »eine Neuschöpfung unserer Zeit«268 , endlich wahre »Tatsachenwissenschaft«, die alles kulturphilosophische Spekulieren der Theologen,269 das mangelnde religionspsychologische Wissen der Seelsorger, Prediger270 und der kirchlichen
chologie: WERNER GRUEHN, Die Frömmigkeit der Gegenwart. Grundtatsachen der empirischen Psychologie, Konstanz 21960. 265
GRUEHN, Psychologie, 159.
266
Vgl. GRUEHN, Die Frömmigkeit, 405f.
267
Gruehn erläutert: »Ein Beginn der wissenschaftlichen Jugendpsychologie und ein kontinuierlicher Fortschritt werden aber erst mit der neuzeitlichen Entdeckung einer wissenschaftlichen Psychologie überhaupt (Descartes +1650, John Locke +1704) und mit der Wendung zu empirischer Forschung möglich. Locke eröffnet, in ausgesprochen pädagogischem Interesse, mit verschiedenen bedeutenden Abhandlungen eine neue Epoche jugendkundlichen Interesses. Neben und nach ihm namhafte Pädagogen: Comenius, Rousseau, Pestalozzi, Herbart, Fröbel. Das kindliche Seelenleben lenkt nun in noch nicht dagewesenem Maße die Aufmerksamkeit auf sich. Auf diesem Umwege … entsteht die planmäßige jugendpsychologische Forschung der Gegenwart.« GRUEHN, Psychologie, 53. 268
A.a.O., 56.
269
»Wir dürfen aber angesichts der zahlreicher einsetzenden Sonderuntersuchungen der letzten Zeit wohl hoffen, … dass die Willkür der Spekulation und der subjektiven Standpunkte einem übersichtlichen und geschlossenen reichen Besitz an Tatsachen hat weichen müssen.« A.a.O., 60. 1960 erklärt er: »Mit einer bloßen Antipathie der Theologen gegen die ›naturwissenschaftliche‹ Methode des Experiments … ist uns nicht mehr gedient. Das unaufhaltsame Vordringen der empirischen Forschung in allen Zweigen der Wissenschaft ist nicht mehr aufzuhalten. Es fragt sich nur, ob man Knecht oder Herr (durch genaue Kenntnis) dieser neuen Methoden sein will. Mit bloßen Geistreicheleien und zufälligen Beobachtungen gelangen wir nicht weiter. Sie mögen interessant, vielleicht auch theologisch lehrreich sein, in der Lösung unserer brennenden Aufgaben helfen sie uns nicht.« GRUEHN, Die Frömmigkeit, 388f. 270
Vgl. a.a.O., 406.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
83
Stellen271 sowie jede unwissenschaftliche Naivität z.B. der Mütter seiner Zeit272 gleichermaßen überwinden könne. Gruehn verstand sich selbst als empirischen Religionspsychologen voll »Ehrfurcht vor den Tatsachen«273 »innerhalb eines ungeheueren Wissenschaftsbetriebes, in welchem eine Untersuchung die andere stützt, weiterführt, evtl. untergräbt, jedoch nie abschließt.«274 Mit auffälligem Wissenschaftspathos schwärmte Gruehn vom neuen Forschungsklima als »streng wissenschaftlich«, »nüchtern und sorgfältig«,275 voller »ganzem wissenschaftlichen Ernst«276 . Die Schriften eines Vorwerk und anderer erschienen ihm vor diesem Anspruch als nurmehr »populärwissenschaftliche Arbeiten«.277 Gruehn führte eigene empirische Forschungen278 durch und addierte279 möglichst viele Ergebnisse anderer empirischer Untersuchungen, wenn sie seinen wissenschaftlichen Standards genügten.280 Nicht nur die großen 271
Im Blick auf die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse berichtet Gruehn, dass dies für kirchliche Stellen als besonders relevant erkannt werde – insbesondere im Blick auf die Arbeit mit Jugendlichen. »Die gründlichste evangelische Arbeit scheint z.Z. in der von Lic.H.O.Wölber-Hbg. geleiteten Arbeitsgemeinschaft zur evangelischen Jugendführung geleistet zu werden.« A.a.O., 563, FN 2. 272
Gruehn verweist 1927 auf die »ersten Verdienste der jungen jugendpsychologischen Forschung«, die insbesondere darin lägen, dass die Menschen immer »seltener werden, wie jene gebildete Mutter mehrerer jugendlicher Kinder, der ich etwas von der Arbeit am jugendlichen Seelenleben erzählte und die mich erstaunt fragte: ›Ja, gibt es denn so etwas überhaupt?‹« GRUEHN, Psychologie, 50. Auch 1960 hob Gruehn als von ihm anvisierte Leserschaft »manche Mutter« und »gewissenhafte Erzieher« hervor. Vgl. GRUEHN, Die Frömmigkeit, VIf. 273
GRUEHN, Religionspsychologie, 14.
274
A.a.O., 5.
275
GRUEHN, Psychologie, 54.
276
A.a.O., 56.
277
A.a.O., 58.
278
Reizwort-Methode. Gruehn begeisterte sich auch für Menschenaffenexperimente. Vor diesem Hintergrund erscheint sein Modell als religionspsychologische Antwort auf die Debatten um Darwins Evolutionstheorie. 279
Nirgends scheinen ihm Zweifel zu kommen, ob die unterschiedlichen Ergebnisse psychologischer Forschung einmal nicht additiv verbunden werden könnten oder sich gar widersprechen könnten. Für ihn erschloss empirische Psychologie die Wirklichkeit »wie sie ist, nicht wie sie bloß scheint.« A.a.O., 51. 280
Ausführlich referierte er Einzeluntersuchungen und Gesamtdarstellungen der allgemeinen psychologischen und der speziell religionspsychologischen Forschung
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II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Namen – er nannte z.B. Berthold Sigismund, Wilhelm Preyer, William und Clara Stern, Stanley Hall – sondern auch viele internationale Einzeluntersuchungen und Sammlungen281 wollte Gruehn zur Kenntnis nehmen, immer auf der Suche nach »gesicherte(n) Tatsachen«282 . Religiosität – die er auch »Frömmigkeit« nannte – war für Gruehn ein Phänomen des »seelischen Aufbaues«, der »Ichfunktionen« und der »Werturteile«,283 im Sinne eines »inneren Ergreifen(s) der ewigen Werte«.284 Die Wertentwicklung, die Gruehn beschrieb, war nach seinen Vorstellungen ein lebenslanger und letztlich nie abzuschließender Prozess.285 Seine Theorie bestand aus einer Stufenmodellvorstellung, der er eine Darstellung der individualpsychologischen Unterschiede in Form einer Typenlehre286 beigesellte.287 Die Stufentheorie der religiösen Entwicklung (E.D. Starbuck). Letztere sah er »noch mehr in den Anfängen als jene.« A.a.O., 58. Er ging davon aus, dass die psychologische Forschung weiter wächst und besonders im Blick auf die Entwicklung im Jugendalter »erst in den allerersten Anfängen (sei).« A.a.O., 55. Er sammelte immer weiter. 1960 notiert er: »Wenn ich heute meine Übersicht über die religiöse Entwicklung (vom Jahre 1927) nochmals schreiben würde, so stände mir bereits ein reiches und anschauliches Material zur Verfügung, das damals noch nicht zugänglich war.« GRUEHN, Die Frömmigkeit, 400. 281
Aus der religionspsychologischen Schule im Anschluss an Girgensohn faszinierten Gruehn insbesondere die Arbeiten Nobilings. 282
GRUEHN, Psychologie, 55.
283
»Unter subjektiver Religion, unter persönlicher Frömmigkeit, verstehen wir mit K. Girgensohn ein ganz besonders geartetes Werterlebnis: ein irgendwie gestalteter Gottesgedanke tritt in innerlich-lebendige Berührung mit dem Ich. … Dieses urpersönliche Erfassen, diese Aneignung der göttlichen Wesenheit stellt den innerlichsten und zentralsten Kern der Wertvorgänge dar. Denn nicht nur dieser oder jener Teil des Ich, nicht nur eine Oberflächenschicht der Persönlichkeit, sondern das gesamte Ich, das innerste Zentrum des Individuums ist an dieser Aneignung beteiligt. Eine Hingabe der Gesamtpersönlichkeit an Gott wird aber nur von Stufe zu Stufe möglich.« A.a.O., 95f. Er meinte zu erkennen, dass »unter dem Einflusse der religiösen Eindrücke es zu einer immer stärkeren Entfaltung der ursprünglichen Anlagen, aber damit im Zusammenhang auch zu einer allmählichen Umwandlung und Erneuerung des ganzen Ich kommt.« GRUEHN, Religionspsychologie, 124. Die Bekehrung war für Gruehn ein Sonderfall der normalen genetischen Entwicklung. 284
GRUEHN, Psychologie, 121.
285
»Es gehört zum Reichtum des Lebens, daß man nie ›auslernen‹ kann.« A.a.O., 103.
286
Gruehn skizzierte z.B. mit W. James den Typus der Leichtmütigen und der Schwermütigen, mit Girgensohn den »Wicherntypus« und den »augustinischen Typus«. Vgl. a.a.O., 145f. Gruehn verwies auch auf die Typenlehre von C. Schneider, bedauerte aber ansonsten, dass diese Kunst noch ganz in ihren Anfängen stecke: »Es ist eigentlich merkwürdig: während es vorzügliche Handbücher der Pflanzenkunde
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
85
sollte die Ideallinie der religiösen Entwicklung288 der gebildeten Schichten Westeuropas bis zum Erwachsenenalter289 zeichnen,290 die Typenlehre und die Erläuterung von Abweichungen,291 Fehlentwicklungen und pathologischen Verläufen292 die Vielfalt der Wirklichkeit abstecken und erfassen. Gruehns Modell postulierte acht Stufen293 bis zum 27., maximal 35. Lebensjahr, wo es zur »eigentlichen inneren Ausreifung« komme.294 Die ideale Entwicklung verlaufe von der relativen Religionslosigkeit295 zur
gibt, die Zehntausende von Gattungen und Abarten in allen wissenswerten Einzelheiten schildern, kann man sich auch heut noch vergeblich nach einem ähnlichen Hilfsmittel umsehen, das uns die Eigenart der verschiedenen Menschen und ihres Erlebens schildert.« A.a.O., 144ff. 287
Wirkungsgeschichtlich ist sein Stufenmodell wichtig geworden. Die dazugehörige Typenlehre-Dimension wird oft nicht weiter erwähnt. Siehe z.B. BUCHER/OSER, Entwicklung, 609. 288
Gruehn stellte die ideale Entwicklung graphisch dar als eine aufsteigende Linie, entlang der Punkte »magisch«, »autoritativ-ethisch«, »Vertiefung« – dann eine sinuskurvenartige Unterbrechung »Entfremdung« und die auf ein höheres Niveau zielende Wiederaufbauperiode mit weiterhin steigendem Verlauf. GRUEHN, Psychologie, 128. 289
Kindheit und Jugend sind bei Gruehn ausführlich erläutert. Das Erwachsenenalter ist nicht Teil seiner Entwicklungstheorie, sondern wird von der Typenlehre erfasst. Zum Alter finden sich lediglich zwei Seiten, die nur wenige Beobachtungen bieten (Todesthematik wird virulent, kindliche Frömmigkeitsformen werden wiederentdeckt). Vgl. GRUEHN, Die Frömmigkeit, 412. 290
»Von hier aus lassen sich die Abweichungen und Abirrungen am besten übersehen und verstehen.« GRUEHN, Psychologie, 60. 291
Normal sind dabei eher die Abweichungen. Vgl. a.a.O., 133.
292
Irrwege nennt er z.B. die mystische und die rationalistische Frömmigkeit. Vgl. a.a.O., 136ff. Er kennt auch Stufen des Atheismus. Vgl. a.a.O., 133. 293
Diese präsentiert er unter der Überschrift »Kindheit, Jugend, Alter (Entwicklungspsychologie)« in seinem Hauptwerk 1960. »Acht verschiedene Stufen haben wir bisher feststellen können und jede einzelne von ihnen hat ein eigenes Gesicht. Keine gleicht der anderen. Wir wandern von Geheimnis zu Geheimnis, wenn wir uns in das bunte Bild jugendlicher Entwicklung vertiefen.« GRUEHN, Die Frömmigkeit, 374. 294
Die Entwicklung im Erwachsenenalter ist kein Thema seines Modells, da er den Erwachsenen ausgereift sieht. »Eine radikale Änderung der Gesamthaltung ist nicht mehr zu erwarten, es sei denn, dass außergewöhnliche Ereignisse eintreten.« A.a.O., 399. Die Untersuchung des Greisenalters bezeichnete er als Desiderat. Vgl. a.a.O., 411. 295
Als ersten sichtbaren Ausgangspunkt der religiösen Entwicklung sieht Gruehn ein Ineinander aus Gottesglaube, Mythologie und Magie. Diese primitivste Religion ist allerdings »keineswegs die reinste Religion.« GRUEHN, Religionspsychologie, 122. Was
86
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
gottfreien Mutterreligion zur Vormagie, Magie, autoritären Gesetzlichkeit, Sturm- und Drangphase, Wiederaufbau und Reife. In der zweiten Auflage seines Hauptwerkes »Die Frömmigkeit der Gegenwart« scheute er sich auch nicht mehr vor Altersangaben für diese Stufendarstellung:296 Die Stufen hielt Gruehn für »eherne Gesetzmäßigkeiten«,297 qualitativ und quantitativ messbar als »Verdickung der einzelnen Schichten« der religiösen, sittlichen, ästhetischen, intellektuellen und ökonomischen Werturteile eines Menschen.298 Gruehn betonte, dass ihn beim Kompilieren der vielfältigen empirischen Untersuchungen weiter keine spekulative sondern einzig eine empirische Haltung bestimme.299 Er verstand sich als Sammler gesicherter Fakten. Dennoch ging er davon aus, dass er als Theologe den entscheidenden Erkenntnisvorsprung gegenüber den Psychologen habe.300 Denn bei aller Hochschätzung der Empirie sei eine Beschreibung der religiösen Entwicklung nur schwerlich vom rein empirischen Boden aus möglich. Sie müsse letztlich immer eine Besinnung auf letzte metaphysische Ziele und Aufgaben des Menschengeschlechts zur Voraussetzung haben.301 Diese theologische »Besinnungs-Basis« lässt sich im Spiegel seiner Texte als schöpfungs-
vor dieser ersten sichtbaren primitiven Phase liegt, ist psychologisch-empirisch seiner Meinung nach voller Rätsel. 296
»Diese Abschnitte können wir in 4 Gruppen zerlegen: 1) unsere 1. bis zur 3. Stufe, die frühe Kindheit, von 0 bis 4 Jahren, die noch voller Rätsel ist. Daran schließen sich 2) die sehr verschiedenartigen und viel besser bekannten Stufen 4 und 5, vom 4. bis zum 15. Lebensjahr. Man kann sie auch die ›vorchristlichen‹ Stufen nennen. Dann 3) die wieder völlig andersartige Wandlungsstufe, vom 15. bis zum 18. Jahr, die 6. Stufe. Endlich 4) die beiden Stufen jugendlichen Lebens, 7 und 8, vom 20. bis zum 25. oder 27. Jahr.« GRUEHN, Die Frömmigkeit, 399. Vgl. auch GRUEHN, Psychologie, 70. 297
»Die Entfaltung des Körpers und der Seele folgt … ehernen Gesetzmäßigkeiten: so in der Reihenfolge der einander ablösenden Reifungsstufen und hinsichtlich eines sinnvollen Zusammenhanges der einzelnen Funktionen auf jeder Stufe untereinander und mit denen der nächsten Stufe.« Vgl. a.a.O., 71. 298
Vgl. a.a.O., 98.
299
Vgl. a.a.O., 52.
300
Der Streit um das Wesen der religiösen Erscheinungen könne »nur dann eine sachgerechte Behandlung finden, wenn die Theologie selbständig mit den besten wissenschaftlichen Mitteln die Religionsforschung in die Hand nehmen würde; der allgemeinen Psychologie fehlt es meist an Interesse, oft auch an Verständnis für diesen Gegenstand.« A.a.O., 59. 301
Vgl. a.a.O., 106.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
87
theologisch302 -kulturgenetische303 Variante der von uns hier beobachteten, paradigmatischen Imagination des biogenetischen Gesetzes in profilierter protestantischer Zuspitzung304 beschreiben: Die Völkerpsychologie habe
302
Seine Begeisterung für die »neue wunderbare Welt« der genetischen Religionspsychologie, die er aus den Forschungsergebnissen seiner Zeit zu einem immer weiter wachsenden Wissensstand zusammensetzen wollte, ist ihm »zuletzt … eine religiöse Aufgabe« im schöpfungstheologischen Sinne der »Ehrfurcht vor Gott und vor der durch ihn geschaffenen Wirklichkeit« als »echte Demut …, daß wir Tatsachen als solche anerkennen, daß wir vor Tatsachen uns beugen lernen.« A.a.O., 51. »Diese Gesetze und die Wertordnung selber entziehen sich der Möglichkeit eines willkürlichen Durchexperimentierens. Wer gegen diese Gesetze verstößt, versündigt sich gegen die Weltordnung Gottes und damit gegen sich selbst.« A.a.O., 102. Dieser schöpfungstheologische Gedanke geht so weit, dass Gruehn davon spricht, mithilfe der empirischen Psychologie Einblick in die Führung des menschlichen Lebens durch Gott zu erhalten. »Abgesehen von dem direkten Ertrage an wissenschaftlicher Erkenntnis eröffnet sich in solcher Arbeit auch ein Einblick in die göttliche Führung von Menschenleben.« Vgl. GRUEHN, Die Frömmigkeit, 406. Die schöpfungstheologische Dimension dient auf diese Weise der Autorisierung seiner Theorie. Sie soll ihr Respekt verschaffen. 303
Religiöse Entwicklung entspricht der »axiomatische(n) (apriorische(n)) Wertordnung«. GRUEHN, Psychologie, 101. Der Mensch entwickelt sich gemäß der Ordnung der »objektiven Welt«. Gruehn erläutert: »So vollzieht sich der Aufbau des Ichs in seinen inneren und innerlichsten Stufen während des Jugendalters. Entsprechend dem Stufenbau der Werte in der objektiven Welt entfaltet sich in der Seele des Jugendlichen ein eigentümliches, in Begriffen nicht genau wiederzugebendes Gebilde: In ihr ruht, gleichsam ein Abglanz und eine Spiegelung des Wertstufenreiches der objektiven Welt eine reiche Mannigfaltigkeit an einzelnen vollzogenen Bewertungen … Sie hat sich mit den wichtigsten Dingen der irdischen und überirdischen Welt auseinandergesetzt. Sie hat diese Dinge wertend geordnet und das ihrem Herzen Nächstliegende als tiefsten Grund ihrer Seele erwählt.« A.a.O., 100. 304
Die normative Dimension protestantischer Frömmigkeit spiegelt sich in Gruehns Erklärungen: Der »hohe Gipfel menschlicher Vollendung« ist für ihn erreicht, wenn es das »innterste(s) Bedürfnis« wird, »die empfangene Liebe weiterzugeben. Solche Frömmigkeit wird immer mehr zum Dienst durch die Tat. Sie erkennt ihre von Gott gewiesene Sendung. Im selben Maße wird sie leidensbereit, sei es in aktiver Verantwortungsfreudigkeit, wie bei Jesajas (Jes. 6,8) sei es in rezeptiver Beugung unter übermächtige Gewalten, wie beim jugendlichen Jeremias (Jer 1,6ff). Sie weicht nicht mehr den Führungen Gottes aus dort, wo diese hart und unverständlich erscheinen. Sie scheut vor den schwersten Aufgaben nicht mehr zurück, auch nicht mehr vor dem Martyrium eines Lebens oder des Todes … hier ist eine Seele durch Gottes Hand zu den höchsten auf Erden erreichbaren Höhen emporgeführt worden. Gereifte christliche Persönlichkeiten in diesem Sinne sind in der Tat das größte Geschenk Gottes an ein Volk, an eine Gesellschaft, an einen Staat.« A.a.O., 132. Als Archetypen beschreibt er das »Erleben des Paulus, Augustin, Franziskus, Luther, Wichern«, denn »der Weg, den sie sich zu Gott gebahnt, den sie geführt wurden, hat solcherart normative Bedeutung für jede menschliche Innenentwicklung.« A.a.O., 102. Dies ist
88
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
entscheidende Ergebnisse hervorgebracht305 und so zeige sich die Individualpsychologie in ihren Ergebnissen letztlich parallel: Der Mensch entwickele sich vom ersten Erwachen eines »naiven Vertrauensverhältnisses«306 zu Gott »wie es ähnlich der Bauer oder die primitiven Völker haben«, durch eine Zeit des kritischen Fragens hindurch, hin zur »letze(n) innerlichste(n) Bejahung Gottes, die völlige Unterwerfung im Gehorsam«.307 Der Entwicklungsverlauf der Religiosität sei »im Grunde der gleiche lange Weg, den die Menschheit in der Religionsgeschichte vom primitiven Zauberglauben bis zur Frömmigkeit der Reformatoren zu durchschreiten hatte.«308 Das Ziel aller religiöser Entwicklung sei »die ausgereifte, von Gott geführte Persönlichkeit«,309 gleichbedeutend mit der »wunderbare(n) Tiefe der evangelischen Frömmigkeit«310 bzw. den »Höhen reifer und eigentlich das Maß, an dem Gruehn Phänomene der Irreligiosität identifiziert und pathologisiert. Vgl. a.a.O., 135. Die protestantisch-aszetische Dimension dient Gruehn zur grundlegenden Konstruktion seines Modells im Sinne eines Ideals der besten Religiositätsentwicklung. Zum genuin protestantischen Profil seiner Theorie gehört auch, dass sie empirische Fakten, theologische Begriffe (z.B. spricht er von »Periode der Heiligung« nach der Bekehrung. Vgl. a.a.O., 126.) und – in seinen Texten aus den 1920er Jahren – sogar immer wieder Bibelworte miteinander verbindet. A.a.O., 101 zitiert z.B. Joh 3,27. 305
»Im ganzen haben wir die religiöse Entwicklung als eine Entfaltung immer feinerer Leistungen aus ursprünglich primitiven Funktionen heraus … unter dem Einflusse des objektiven Geistes resp. seiner Medien zu verstehen … Die Frömmigkeit der Kindheit und Jugend ist … vorwiegend rezeptiv. Die persönliche Erlebnisaktivität scheint allmählich und planmäßig, sich von den niederen Wertstufen zu den höheren hinauf zu entfalten: im Anschlusse an die intellektuelle Entwicklung kommt es zu selbständigen Stellungnahmen auf sittlichem und ästhetischem Gebiete, dann erst auf religiösem. … Neuerdings scheint es, daß auch hier phylogenetische und ontogenetische Entwicklung einander parallel laufen. Die Frömmigkeit der Einzelindividuen durchschreitet vielleicht alle wichtigeren Stufen religionsgeschichtlicher Entwicklung: primitiven mystisch-magischen Kultglauben, ethische Gesetzesfrömmigkeit, Religion der Freiheit und der Liebe. Relativ spät erst kann selbst unter günstigsten Bedingungen die wunderbare Tiefe der evangelischen Frömmigkeit erreicht werden.« GRUEHN, Religionspsychologie, 125f. 306
Die Beschreibungen der ersten Stufe konkretisiert Gruehn mit Parallelisierungen zur Völkerkunde: »Es ist hier, wie in der Jugendzeit der Völker, in welcher es ähnlich ein unentwickeltes, vor allem funktionelles Verstehen gibt.« A.a.O., 125. 307
GRUEHN, Psychologie, 96f.
308
A.a.O., 132.
309
A.a.O., 103.
310
GRUEHN, Religionspsychologie, 126.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
89
evangelischer Frömmigkeit«.311 Diese wird bei ihm als bestimmte Werthaltung verstanden, geprägt von Gottvertrauen, Kirchenbindung, Christusteilhabe.312 Das Hauptwerk Gruehns, erschienen nach dem Zweiten Weltkrieg313 und stieß 1956 auf großes Interesse, das sich in »Hunderte(n) von Besprechungen«314 ausdrückte. Er hatte offensichtlich den Nerv seiner Zeit getroffen, ihm gelang »naturwissenschaftlich abgesichert« das Daseinsrecht der protestantischen Frömmigkeit nachzuweisen, intellektuell zu sichern – gegen alle Irritationen durch Entmythologisierung, Psychoanalyse und Gesellschaftskritik. Gruehns fulminantes religionspsychologisches Werk sicherte protestantische Erziehungswerte für die Kindheit und die seit der Weimarer Republik so umgreifend verändert erlebte und in Frage gestellte Jugend.315 311
GRUEHN, Psychologie, 98.
312
»Der sittliche Imperativ behauptet seinen Vorrang gegenüber den ästhetischen Werten; die religiösen Werte überragen die sittlichen. Mit fortschreitender religiöser Entwicklung wird der religiöse Wert zum absolut beherrschenden allen anderen Werten gegenüber. … Gott wird endlich der letzte entscheidende Wert, der allen anderen Werten, auch dem Sittlichen, als absoluter und schlechthinniger, als letzte Wertgarantie gegenübersteht. … Der mit Gott Lebende und von Gott Geführte gelangt nicht nur zu Bejahung seines persönlichen Schicksals; er erkennt in ihm auch Spuren einer unendlich barmherzigen und weisen Hand … Er gewinnt eigentümliche, überpersönliche und doch erst vollpersönliche Gemeinschaftsbeziehungen zu den Gliedern der Kirche; ihm wird eine innerlich-geheimnisvolle Verbindung mit dem auferstandenen Christus zuteil. Er lebt in der Gewißheit seligen Lebens und wird erfüllt mit überirdischen Kräften inmitten der Fährnisse und Sünden dieser Welt. Es ist eine geheimnisvolle pneumatische Wirklichkeit – das Reich Gottes auf Erden, zu dem seine Seele nun Zugang gewonnen … die Welt des göttlichen Geistes … erwächst ohne scharfe Übergänge aus der Welt der Religion.« A.a.O., 99f. 313
Das Buch selbst hat eine dramatische Entstehungsgeschichte hinter sich: 1937 in Angriff genommen, wurde es 1945 in Berlin vernichtet. »Der Bombenkrieg in Berlin, Jahre des Hungers und der Entkräftung, der Mangel an wissenschaftlichen und finanziellen Hilfsmitteln haben … das Erscheinen des Buches wiederholt in Frage gestellt.« GRUEHN, Die Frömmigkeit, VII. 314 315
A.a.O., VIII.
Vgl. BÖHNISCH, Sozialpädagogik, 96ff. Bis 1880 war »Jugend« ein Begriff der Pädagogik im Sinne einer bürgerlichen Lebensphase als »Schonraum«, in der die Erziehung hohe Bedeutung hat und der junge Mensch zu separieren ist, damit seine Bildung, seine Weiterentwicklung über den Stand der vorherigen Generation hinaus die gesamte Gesellschaft voranbringt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts aber fielen bei fortschreitender Industriealisierung und Urbanisierung, mit entsprechenden Migrationen und sozialen Segregationen zunehmend mehr junge Leute aus diesem bürgerlich-pädagogischen Raum heraus. Zugleich strömten aus der Arbeiter- und
90
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Sein Stufenmodell erlaubte, jede Lebensphase des Heranwachsens als wertvollen Bestandteil einer zielgerichteten Entwicklung zu verstehen und bot Orientierung für die Arbeit mit jungen Menschen316 nach Kriegszeiten und gesellschaftlichen Umbrüchen.317 Gruehn selbst notierte, dass angesichts des »an sich selbst verzweifelnden Geschlechts der Nachkriegsjahre« das Interesse an der (religions-)psychologischen Forschung gestiegen sei.318 So verwundert nicht, dass der Herausgeber des Handbuchs, in dem Gruehn schon 1927 eine große Abhandlung über religiöse Entwicklungspsychologie bot,319 Erich Stange320 war, der 33 Jahre an der Spitze der Mittelschicht durch die kulturellen und sozialen Modernisierungsphänomene nach dem ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik »neue Jugendliche« in diese neue, soziologisch nun kaum mehr fassbare, schichtenübergreifende Lebensaltergruppe hinein. Die Jugend lernte die neuen Berufe, strömte in das nach der Weimarer Verfassung offene Bildungs- und Ausbildungssystem und wuchs in den modernen Rhythmus von Ausbildung, Arbeit und Freizeit hinein. Schon damals fiel der Begriff der »individualisierten« Jugend, einer Jugend, die aus ihrem traditionellen sozialen Herkunftsmilieus herausstrebt, gleichsam freigesetzt wird. Die allgemeine Bildungsund Berufsorientierung löste die Jugend aus ihren mittelschichtigen und proletarischen Herkunftsmilieus. Als »junge Generation« teilten proletarische wie bürgerliche Jugendliche jenseits von Klasse und Schicht ein gemeinsames Generationengefühl in Abgrenzung zu den Alten (Wandervogel-Bewegung). Jugend war explizit die Phase, in der die vorgefundene Gesellschaft in Frage gestellt werden kann, bevor man mit neuen Haltungen einen eigenen Platz in ihr anstrebt und sie dadurch verändert. 316
Gruehn lag die Unterstützung kirchlicher Arbeit mit jungen Menschen am Herzen. »Das Wichtigste bleibt immer, die einzelnen möglichen Formen zu kennen und in der praktischen Arbeit ihrer eingedenk zu sein. Daraus werden sich dann für den Erzieher die nötigen Geschichtspunkte schon ergeben. Vor allem wird es wichtig sein, bei pädagogischer Verurteilung nicht nur den Gesamtcharakter der Frömmigkeit, sondern auch den verschiedenen Ablauf der Entwicklung (die Lebenslinie) eines jeden Jugendlichen ins Auge zu fassen.« GRUEHN, Psychologie, 143. 317
Gruehn deutet immer wieder an »wie sehr die christliche Kirche an einem Fortschritt dieser theologischen religionspsychologischen Forschung interessiert ist«. A.a.O., 60. 318
Vgl. a.a.O., 56.
319
Vgl. ebd.
320
Pfarrer Erich Stange gestaltete deren Entwicklung maßgeblich mit. Sein bleibender Verdienst ist die Zusammenführung der evangelischen Jugendverbände zu einem großen Werk. Aber sein Bau des Evangelischen Jugendwerks zerbrach. Seine Versuche, sich mit der Staats- und Kirchenführung zu verständigen, stigmatisierten ihn zu einem Mitläufer der Nationalsozialisten. Vgl. RAINER BOOKHAGEN, Die evangelische Kinderpflege und die Innere Mission in der Zeit des Nationalsozialismus. Rückzug in den Raum der Kirche, Bd. 2: 1937-1945, Göttingen 2002, 1072 und BIRGIT SIEKMANN, Stange, Erich, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Bd. 20, Nordhausen 2002, Sp. 1355–1367.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
91
evangelischen Jugendverbände stand, und dessen Aussagen die große Sehnsucht nach guten Wegen für die Arbeit mit Jugendlichen in den Wirren der Kriegs- und Krisenerlebnisse festhalten.321 Die Vorstellung der phylo- und ontogentischen Strukturanalogie religiöser Entwicklung erweist sich bei Gruehn erneut als paradigmatische Imagination, die das Grundverständnis der empirischen Forschung der religiösen Entwicklung steuert. Sie vermittelt die prinzipielle Unterschiedlichkeit von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Alten im Blick auf
321
Stanges Texte sind voller warmherziger Aussagen über die Arbeit mit jungen Menschen. Die Jugendzeit habe »ein Recht in sich selbst« und sei »nicht nur als Durchgangsstufe zu künftiger Reife« zu bewerten. ERICH STANGE, Zur Einführung: Evangelium und Jugend, in: Ders. (Hrsg.), Der junge Mann. Eine Physiologie, Psychologie und Soziologie des jungen Mannes, sowie ein Überblick über die Geschichte und Zielsetzung des evangelischen Jungmännerwerkes in Deutschland, Handbuch für das Evangelische Jungmännerwerk Deutschlands, Bd.1, Kassel-Wilhelmshöhe 1927, 11-15,13. Stange zog aus der Beschäftigung mit der Kinder- und Jugendseelenkunde andere Schlüsse als die Herbart-Zillersche Schule, insbesondere in Blick auf den Zeitpunkt, wann Heranwachsenden biblische Geschichten zu erzählen seien. Er ermunterte Eltern, in den Kinderstuben weit vor dem schulischen Unterricht und – gegen alle Kulturstufentheorie – frühzeitig zur (am Kirchenjahr orientierten und mit Bildern unterstützen) Begegnung mit biblischen Erzählungen, insbesondere des Neuen Testamentes. Vgl. ERICH STANGE, Elternbüchlein. Wie Vater und Mutter ihre Kinder zu Gott führen, Kassel-Wilhelmshöhe 1939, 14ff. »Ich (will) hier durchaus nicht die törichte Spielerei anraten, die in einigen neumodischen Schulstuben eine Zeitlang herumgeisterte – als könne man Märchen und Gottesgeschichten miteinander vermengen. Auch ein Kind, das wahrhaftig noch nicht voll ermessen kann, was ›Geschichte‹ ist, hat ein sehr feines Gemerk dafür, ob eine Erzählung ›wirklich wahr‹ ist, oder nur ›erfunden‹. Und das sollst du deshalb auch deutlich machen, wenn du vom Märchen zur Gottesgeschichte kommst. Wenn ich aber sage, du solltest die Gottesgeschichten erzählen, wie du ein Märchen erzählst, so meine ich: so beschaulich und geruhsam, so ausmalend und zuchtvoll. Viele von ihnen, wie sie in den Evangelien stehen, sind ja sehr knapp und kurz erzählt – wie man zu Erwachsenen von Tatsachen spricht. Kinder aber – ach nein, die wollen keine ›kurzen‹ Geschichten, sondern recht, recht lange. Und so braucht es für viele der Gottesgeschichten ein besinnliches Gemüt.« Er entwirft eine Anleitung zum Erzählen biblischer Geschichten für Kinder »unsere eigentliche Aufgabe, die kurzen Gottesgeschichten recht liebevoll zu durchdenken und dann Zug um Zug auszumalen – ja also recht ›vor die Augen zu malen‹ wie der Apostel tat und sagte. Fritz und Grete wollen nicht bloß wissen, daß der kleine Zachäus dort oben auf dem Maubeerbaum saß, sondern auch wie er da hinaufkam und so fort. Kommt es freilich dann an die Hauptsachen und Kernstücke der biblischen Geschichte – also vor allem an die Worte und Taten unseres Herrn – dann bleibe alles Rankenwerk und Gespinst beiseite: Da gib das biblische Wort so wörtlich, wie du kannst, und du wirst es gerade auf diese Weise tief in die junge Seele einpflanzen.« Der Jugend die Begegnung mit dem Evangelium vorzuenthalten, nannte Stange die »letzte satanische Gewalt(en)«, denn »Jugend und Evangelium (brauchen) einander.« STANGE, Zur Einführung, 12f.
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II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
ihren Glauben und den Glaubenslebenslauf als kulturgeschichtlich dimensionierte Bewegung. Gruehns Begeisterung galt der empirischen Auffütterung dieser paradigmatischen Imagination. Nicht dass und ob Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Altgewordene anders glauben – das war so klar, wie die Evolution des Menschengeschlechts an sich – sondern wie, in welcher Weise sie anders glauben, interessierte jahrzehntelang. Unterdessen beeinflussten die Lehrpläne die Konzeptionen evangelischer Unterweisung: Neutestamentliche, alttestamentliche, kirchengeschichtliche Themen jedes Schuljahr, aufsteigend im Reflexionsniveau. Entwicklungspsychologische Informationen sollten die pädagogische Ausgestaltung unterstützen, der biblischen Orientierung und Führung allerdings unter- und nachgeordnet.322 II. 3. 7 Die Imagination bei Piaget und Erikson
Jean Piaget veränderte die Wissenschaft vom Menschen, »dergestalt, dass auch ihr Verhältnis zur Philosophie ein anderes geworden ist. … Betrachtet man Piagets Werk vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft und Philosophie, so präsentiert es sich als die letzte und vielleicht größte Herausforderung der Wissenschaft an die Philosophie.«323 Piagets revolutionärer Ansatz bestand darin, nun auch die menschliche Erkenntnis unter die Perspektive der Genese zu stellen, sie als »continual transformation, a continual reorganisation«324 zu begreifen. Seine genetische Epistemologie untersuchte das Werden menschlicher Erkentnis mit naturwissenschaftlichen Mitteln.325 322
Vgl. SCHWEITZER, Religion des Kindes, 332.
323
RETO LUZIUS FETZ, Piaget als philosophisches Ereignis, in: GERHARD STEINER (Hrsg.), Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd VII, Piaget und die Folgen. Entwicklungspsychologie, Denkpsychologie, Genetische Psychologie, Zürich 1978, 27-40, 27. 324
JEAN PIAGET, Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, 4 Vorlesungen, Frankfurt a.M. 41988, 10. »Let me repeat once again that … there is simply a continual transformation, a continual reorganisation.« Piaget veröffentliche die vier Vorlesungen, die in diesem Buch abgedruckt sind, 1968 an der Columbia Universität. (Die Erste zeigt http://www.marxists.org/reference/subject/philosophy/works/fr/piaget.htm (12.7.2012)) Die englische Übersetzung aus dem Französischen besorgte damals Eleanor Duckworth. Die deutsche Version wurde aus dem Amerikanischen in der ersten Auflage 1973 übertragen von Friedhelm Herborth. 325
Erkenntnistheorie könne unmöglich einen statischen Standpunkt einnehmen, weil alle wissenschaftliche Erkenntnis sich in ständiger Entwicklung befände. Vgl. JEAN PIAGET, Meine Theorie der geistigen Entwicklung, hrsg. von Reinhard Fatke, aus dem Amerikanischen von Hainer Kober, Frankfurt a.M. 1983, 86. Die Originalausgabe
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
93
Wie einst Rousseau stand auch Piaget vor der Frage, wie er die menschliche Entwicklung – jetzt speziell die Entwicklung menschlicher Erkenntnis – beobachten könnte und kam auf dieselbe Idee: »Of course the most fruitful, most obvious field of study would be reconstituting human history - the history of human thinking in prehistoric man. Unfortunately, we are not very well informed about the psychology of Neanderthal man or about the psychology of Homo siniensis of Teilhard de Chardin. Since this field of biogenesis is not available to us, we shall do as biologists do and turn to ontogenesis. … There are children all around us. It is with children that we have the best chance of studying the development of logical knowledge, mathematical knowledge, physical knowledge, and so forth.«326 Piaget ging von der Hypothese aus »that there is a parallelism between the progress made in the logical and rational organisation of knowledge and the corresponding formative psychological processes.«327 Er distanzierte sich aber davon, diese Idee von der Konstruktionsarbeit des Theoretikers zu lösen: »Selbstverständlich geht es nicht im geringsten darum, einen ontophylogenetischen Parallelismus im Sinne Haeckels zu beschwören … Das heißt, wenn Übereinstimmung zwischen ›Theorien‹, die der Vergangenheit der Wissenschaft angehören, und bestimmten, leicht zu verfolgenden Konstruktionen auf der Ebene der Psychogenese besteht, handelt es sich doch um eine Übereinstimmung zwischen kognitiven Leistungen auf natürlich völlig verschiedenen hierarchischen Stufen des Denkens: Der Theoretiker stellt sich Problemen und hält sich, um sie zu lösen, an Begriffe, Schlüsse oder Operationen, die mehr oder weniger klar ›thematisiert‹, das heißt Objekte des Denkens geworden sind, und zwar
dieses Textes erschien im »Carmichael’s Manual of Child Psychology« 1970 in New York. 326
Vgl. http://www.marxists.org/reference/subject/philosophy/works/fr/piaget.htm (12.7.2012) »Das fruchtbarste und sich am ehesten anbietende Feld der Untersuchung wäre natürlich die Rekonstruktion der menschlichen Geschichte – der Geschichte des menschlichen Denkens vom vorgeschichtlichen Menschen an. Doch leider wissen wir über die Psychologie des Neandertalers oder diejenige des Homo siniensis von Teilhard de Chardin nicht sehr viel. Da uns diese Dimension der Biogenese nicht zugänglich ist, werden wir uns wie die Biologen der Ontogenese zuwenden müssen. … Überall sind Kinder um uns, und die Entwicklung der logischen Erkenntnis und so fort können wir nirgendwo besser studieren als an Kindern.« PIAGET, Einführung, 21. 327
»… dass zwischen dem Fortschritt in der logischen und rationalen Organisation der Erkenntnis und den entsprechenden psychologischen Formationsprozessen ein Parallelismus besteht.« Ebd.
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
94
eines offensichtlich reflexiven Denkens, da es um theoretische Forschung geht.«328 Das biogenetische Gesetz verstand Piaget als zunächst philosophische Hypothese, die Parallelität feststellt zwischen zwei Entwicklungen, »die auf gänzlich verschiedenen Ebenen ablaufen.«329 Er beanspruchte aber, über solches Philosophieren zu naturwissenschaftlichen, kognitionspsychologischen Tatsachen zu kommen und fand schließlich den sachlichen Grund für die phylo- und ontologische Analogie: Sie werde verständlich, wenn man sie als Konsequenz dessen begreift, dass menschliche Erkenntnisse einzig nach dem »Grundgesetz der kognitiven Konstruktionen … Stufe um Stufe durch Rekonstruktionen des Vorangegangenen entstehen, die dann in das Nachfolgende integriert werden. Daraus folgt, dass sich die auf einer höheren Ebene des Denkens aufgebauten Vorstellungen, auch wenn es sich um diejenigen eines Theoretikers handelt, notwendigerweise auf eine Substrukur von Handlungen stützen, der sie ihre Substanz entnehmen, wobei sie sie in unterschiedlichem Ausmaß erweitern.«330 Piaget wurde damit der erste, der das biogenetische Konzept begründete, nicht nur postulierte. Die Parallelität zwischen Onto- und Phylogenese der Erkenntnis sei die logische Konsequenz der Genese menschlicher Erkenntnis an sich. Das Individuum und die ganze Menschheit entwickeln sich analog, weil menschliche Erkenntnis nur in der Weise des strukturgenetischen Prinzips voranschreiten könne: »Warum ist sich die aus der Reflexion über die täglichen Schlüsse geborene Aristotelische Logik nicht der Strukturen von Relationen bewusst geworden, die ebenso häufig gebraucht werden, wie die sylogistischen Einschachtelungen? Unzählige andere Beispiele ließen sich dafür anführen, dass die gedankliche Konstruktion eines Begriffs mit beträchtlicher Verzögerung auf seine effektive und manchmal sogar systematische Anwendung auf den niederen Stufen der Handlungsschemata oder der schon repräsentativen, aber nicht thematisierten (und auch nicht thematisierbaren) Substrukturen folgen kann. Von daher ist es natürlich und verständlich, dass sich Übereinstimmungen zwischen den Konstruktionen der Psychogenese, wie sie bei jedem normalen Menschen auf den unteren Stufen des Denkens bestehen, und den
328
JEAN PIAGET, Die historische Entwicklung und die Psychogenese des Impetusbegriffs, in: GERHARD STEINER (Hrsg.), Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. VII, Piaget und die Folgen. Entwicklungspsychologie, Denkpsychologie, Genetische Psychologie, Zürich 1978, 64-73, 64. 329
A.a.O., 65.
330
Ebd.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
95
Etappen der Geschichte finden lassen.«331 Die Ähnlichkeit zwischen Phylound Ontogenese »beweist, … dass die Intelligenz Stufe um Stufe auf die gleiche Weise funktioniert und, um weiterzukommen, ständig rekonstruieren muss, weil der Fortschritt des Wissens nicht in einfachen Additionen besteht, sondern in Umgestaltungen, die die Neuschöpfungen bedingen.«332 Kognition steigere sich durch Prozess von einer Entwicklungsstufe zur nächsten, mit je neuen Denkstrukturen, die vorher nicht existieren, bzw. nicht verfügbar sind.333 Piaget beschrieb vier Stufen: sensomotorisch (bis 2 Jahre), pre-operational (bis 7 Jahre), konkret-operational (bis 12 Jahre), formal-operational (ab 12 Jahren). Piaget zementierte das biogenetische Gesetz als wissenschaftliche Modellvorstellung durch diese innere Begründung, dass menschliche Erkenntnis sich strukturgenetisch und nicht anders entwickle. Sein Forschungsinteresse galt diesen universal gültigen Strukturen.334 Die komplexe paradigmatische Imagination der phylogenetischen und ontogenetischen Analogie, das biogenetische Gesetz, ist seither verdichtet zum strukturgenetischen Gesetz menschlicher Geistesentwicklung. Dem Phänomen der religiösen Entwicklung widmete sich Piaget kaum. Seine Theorie der Entwicklung menschlicher Erkenntnis beeinflusste aber direkt die Modelle anderer Forschender.335
331
A.a.O., 66.
332
A.a.O., 73. Er erklärt weiter: »Rätselhaft erscheint dagegen die beachtliche Beschleunigung, mit der im Vergleich zu den geschichtlichen Perioden die Stadien der Entwicklung … beim Kind aufeinanderfolgen. Der Grund dafür liege sicher in der von Erwachsenen geprägten sozialen Umwelt, die fortwährend mit vielfältigen Anregungen und stets neuen Problemstellungen auf das Kind einwirkt. Das bedeutet aber keineswegs, dass diesem seine Reaktionen durch einfaches Lernen diktiert würden. Dadurch, dass es durch die umgebende Atmosphäre zur Quantifizierung getrieben wird, entstehen ihm nur neue Fragen. Es bleibt dem Einzelnen überlassen, in jedem speziellen Fall seine Lösungsinstrumente selbst zu konstruieren.« Ebd. 333
Vgl. PIAGET, Einführung, 87f.
334
Dabei wurde ihm vorgeworfen, dass die Menschen selbst aus seinem Blick gerieten, weil die individuellen Kinder, an denen er forschte, förmlich hinter den kognitiven Erkenntnisstrukturen, die Piaget interessierten, verschwunden seien. Vgl. EDWARD ROBINSON, The original Vision. A study of religious experience in childhood, Oxford 1977; EDWARD HOFFMAN, Visions of innocence. Spiritual and inspiritual experiences of childhood, Boston/London 1992. 335
»Theoretical conceptualizations of religious growth generally (Elkind, Goldman), an faith development in particular (Fowler, Streib) have apparently been stimulated by Piaget’s formulations. And much other work of religious development (e.g., images of god, concepts of prayer) has also used the Piagetian framework as the basis für
96
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Eine weitere Variante der paradigmatischen Imagination bot Erik H. Erikson, dem wie Piaget die hohe Aufmerksamkeit der Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts galt.336 In seiner jahrzehntelangen psychoanalytischen Tätigkeit erarbeitete er das Modell einer achtstufigen interaktionistischen Entwicklung im Spannungsfeld psychosozialer Krisen (Urvertrauen und Urmisstrauen, Autonomie und Scham, Initiative und Schuldgefühl, Werksinn und Minderwertigkeit, Identität und Identitätsdiffusion, Intimität und Isolation, Generativität und Stagnation, Integrität und Lebensekel.)337 Erikson erläuterte mit Freud, dass Erwachsene die Stufen der Kindheit mittragen, folgerte aber auch umgekehrt, dass Kinder Vorahnungen und Vorankündigungen der Zukunft in sich trügen.338 »The underlying assumptions for such charting are (1) that the human personality in principle develops according to steps perdetermined in the growing person’s readiness to be driven toward, to be aware of, and to interact with, a widening social radius; and (2) that society, in principle, tends to be so constituted as to meet and invite this succession of potentialities for interaction and attempts to safeguard and to encourage the proper rate and the proper sequence of their enfolding. This is the ›maintenance of the human world.‹«339 empirical studies.« RALPH W. HOOD u.a., The Psychology of religion. An empirical Approach, New York 42009, 107. 336
»Schon seit der Aufnahme der sozialwissenschaftlichen Sozialisationstheorien in den 70er Jahren zählt die psychoanalytische Entwicklungspsychologie zu den breit rezipierten Bezugstheorien der Religionspädagogik. Besonders die Grundbegriffe von Erik H. Erikson gehen in die Religionspädagogik ein.« – so die Einschätzung Nipkows in NIPKOW, Religionspädagogik, 231. Ulrich Schwab formuliert: »Erik H. Erikson … gehört zweifelsohne zu den einflussreichsten Entwicklungspsychologen des 20. Jahrhunderts.« ULRICH SCHWAB, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Erikson und die Religion. Beiträge zur Rezeption der Theorie Erik H. Eriksons in der Gegenwart, Berlin 2007, 5-6, 5. 337
Vgl. ERIK H. ERIKSON, Childhood and Society, New York 21963, 247ff.
338
Vgl. ROBERT COLES, Erik H. Erikson. Leben und Werk, aus dem Amerikanischen von Grete Felten und Karl-Eberhard Felten, München 1974, 95. 339
ERIKSON, Childhood, 270. »Die Annahmen, die einer derartigen Tabelle zugrunde liegen, sind 1.) dass sich die menschliche Persönlichkeit im Prinzip gemäß bestimmter Schritte entwickelt, die in der Bereitschaft der wachsenden Person vorgegeben sind, auf einen sich erweiternden sozialen Radius hin angetrieben zu sein, seiner gewahr zu werden und mit ihm in Wechselbeziehung zu treten; und 2.) dass die Gesellschaft im Prinzip darauf eingerichtet ist, dieser Aufeinanderfolge von Möglichkeiten zur Wechselwirkung gerecht zu werden und ihnen entgegenzukommen, und dass sie versucht, das richtige Maß und die richtige Reihenfolge ihrer Entfaltung zu sichern und zu ermutigen. Das ist ›die Aufrechterhaltung der menschlichen Welt‹.«
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
97
Die Verflochtenheit von Individuum und Gesellschaft implizierte auch die Korrelation jeder Phase zu jeweils einem sozialen Basiselement, »and this for the simple reason that the human life cycle and man’s institutions have evolved together.«340 So entspräche der ersten Stufe des Urvertrauens die der Religion341 , die zweite der Autonomie der institutionellen Sicherung im Prinzip von Recht und Ordnung342 , die dritte der Initiative dem ökonomischen Ethos, »in the form of ideal adults recognizable by their uniforms and their functions, and fascinating enough to replace, the heroes of picture book and fairy tale.«343 Die vierte Stufe der Leistung geht parallel zu Institutionen systematischer Belehrung, verbunden mit Technisierung und dem »a sense of division of labor …, of the technological ethos of a cultur.«344 Die fünfte Stufe (Identität) entspricht gesellschaftlich des »ideological outlook of a society«345 , der Aristokratie als Herrschaft zur Entwicklung der Besten. Der sechsten Stufe (Intimität) ordnete Erikson die Institution der gelungenen Partnerschaftlichkeit zu, die die Lebenskreise der Arbeit, Zeugung und Erholung in Einklang bringe, um der Nachkommenschaft ebenfalls alle Stadien einer befriedigenden Entwicklung zu sichern.346 Zur siebten Stufe der Generativität gesellte Erikson die gesellschaftliche Institution der Fürsorge (Care).347 Die achte Stufe der Integrität verband er mit »leader classes«, mit »participation by followship as well as acceptance of the responsibility of leader-
Vgl. ERIK H. ERIKSON, Kindheit und Gesellschaft, aus dem Englischen übersetzt von Marianne von Eckhardt-Jaffé, Stuttgart 61976, 265. 340
ERIKSON, Childhood, 250. »… und zwar aus dem einfachen Grund, dass der menschliche Lebenszyklus und die Institutionen der Menschheit sich zusammen entwickelt haben.« ERIKSON, Kindheit, 244. 341
Ebd.
342
Vgl. ERIKSON, Childhood, 254.
343
A.a.O. 258, »… in der Form idealer Erwachsener, die durch ihre Uniformen und durch ihre Funktionen kenntlich und faszinierend genug sind, die Helden der Bilderbücher und Märchen zu ersetzen.« ERIKSON, Kindheit, 253. 344
ERIKSON, Childhood, 260. »… Gefühl für Arbeitsteilung, … für das technologische Ethos einer Kultur.« ERIKSON, Kindheit, 255. 345
ERIKSON, Childhood, 263, »ideologischen Warte der Gesellschaft« ERIKSON, Kindheit, 257. 346
Vgl. ERIKSON, Childhood, 265f.
347
Vgl. a.a.O., 267.
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II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
ship« in Religion und Politik, in Wirtschaftsordnung und Technik, Künsten und Wissenschaft.348 Der Psychoanalytiker349 erklärte, seine wissenschaftliche Schule als Durchbruch, weil sie nach innen zu Forschen gelehrt habe und nach den ontogenetischen Ursprüngen der Psyche und ihrer Störungen suchte. Sie sei nach unten zu jenen Triebregungen vorgedrungen, die in der Kindheit des Individuums – der Primitivität des menschlichen Ursprungs – und in der Evolution verdrängt und verleugnet seien.350 Erikson verstand die Psychoanalyse im wesentlichen als »historical method. Even where it focuses on medical data, it interprets them as a function of past experience. To say that psychoanalysis studies the conflict between the mature and the infantile, the up-to-date and the archaic layers in the mind, means that psychoanalysis studies psychological evolution through the analysis of the individual. At the same time it throws light on the fact that the history of humanity is a gigantic metabolism of individual life cycles.«351 Seine eigene Theorie nannte er »epigenetic«, und bezeichnete damit Entwicklung durch Neubildung. Die gedankliche Analogie bezog sich auf pränatales und postnatales Leben: Wie im pränatalen Entwicklungsprozess nach genetischem Zeitplan gewisse Bereiche des Organismus ihre Zeitfen348
Vgl. a.a.O., 269.
349
Erikson war von Freud geprägt, der sich seinerseits des biogenetischen Gesetzes als Denkmodell bediente, um festgefahrene Erkenntnisse zu überwinden. Vgl. ERIK H. ERIKSON, Lebensgeschichte und historischer Augenblick, übersetzt von Thomas Lindquist, Frankfurt a.M. 1977, 68ff. (Die Orginalausgabe Life History and the Historical Moment erschien 1975 in New York) Erikson erklärt hier, wie sich Freud von seiner Theorie einer ›Verführung durch den Vater‹ als dem prähistorisch Anderen löst mithilfe der Analogiefigur von Phylo- und Ontogenese, zurück zur Theorie des Mittelalters und den geistlichen Berichten von Besessenheit‹. Erikson beschreibt sein eigenes Lernen unter Freud als Begreifen, dass das, was im einzelnen gärte, auch in aller Geschichte vom Menschengeschlecht unterdrückt worden war. Vgl. a.a.O., 22. 350
Vgl. A.a.O., 39. Er verweist darauf, dass dies auch Darwins Territorium gewesen sei. 351
ERIKSON, Childhood,16. »Selbst wo sie sich auf medizinische Daten richtet, deutet sie sie als Funktionen früherer Erfahrungen. Wenn man feststellt, dass die Psychoanalyse die Konflikte zwischen den ausgereiften und den infantilen, den gegenwartsangepassten und den archaischen Schichten des Geistes untersucht, so heißt das, dass sie die psychologische Evolution durch die Analyse des Individuums untersucht. Gleichzeitig erhellt sie die Tatsache, dass die Geschichte der Menschheit ein gigantischer Stoffwechselvorgang aus individuellen Lebensabläufen ist.« ERIKSON, Kindheit, 12.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
99
ster maximaler Entwicklungsaktivität haben, so sei auch die postnatale Entwicklung ein (mit gewisser Varianz) determiniertes Konsolidieren einzelner Phasen über die gesamte Lebensspanne hinweg.352 Erikson wollte vermeiden, aus seinem Modell eine Erfolgsideologie humaner Entwicklung abzuleiten. Er beschrieb zunächst Herausforderungen menschlichen Lebens. Dennoch ordnete er seinem Modell durchaus eine Liste mit pro Phase zu erwerbenden Tugenden bei: Antrieb und Hoffnung, Selbstbeherrschung und Willenskraft, Richtung und Zweckhaftigkeit, Methode und Können, Hingebung und Treue, Bindung und Liebe, Produktivität und Fürsorge, Entsagung und Weisheit. Ohne diese Grundtugenden »and their re-emergence from generation to generation, all other and more changeable systems of human values lose their spirit and their relevance.«353 Als »führender Kopf der Psychohistorie«354 schrieb Erikson über Martin Luther,355 Sigmund Freud,356 Adolf Hitler und die Legende seiner Kindheit357 352
Vgl. ERIKSON, Lebensgeschichte und historischer Augenblick, 303.
353
ERIKSON, Childhood, 274 bzw. ERIKSON, Kindheit, 269 FN 3. In seinem 1964 erschienenen Werk »Insight and Responsibility« (deutsch: ERIK H. ERIKSON, Einsicht und Verantwortung. Die Rolle des Ethischen in der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1971 erläuterte er seine Stufenfolge der Grund-Tugenden: »I will, therefore, speak of Hope, Will, Purpose, and Competence as the rudiments of virtue developed in childhood; of Fidelity as the adolescent virtue; and of Love, Care, and Wisdom as the central virtues of adulthood.« ERIK H. ERIKSON, Insight and Responsibility. Lectures on the Ethical Implications of Psychoanalytic Insight, New York 1964, 115. 354
EDWARD C. ADAMS, Das Werk von Erik H. Erikson, in : DIETER EIKE, Freud und die Folgen (II) … bis zur allgemeinärztlichen Psychotherapie. Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Zürich 1977, 301-347, 336. 355
ERIK H. ERIKSON, Young man Luther. A study in psychoanalysis and history, New York 51962. Dt: Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie, Hamburg 1970. 356
Eriksons Analyse Luthers schließt mit einem Vergleich von Luther und Freud. Jeder steht als ein Pionier da: Luther als erster Protestant am Ende des Zeitalters absoluten Glaubens, Freud als Psychoanalytiker am Ende der Ära absoluter Vernunft. Vgl. a.a.O., 277ff. Erikson referierte ausführlich zu Freud als Entdecker der Psychoanalyse in: ERIKSON, Insight. 357
Vgl. ERIK H. ERIKSON, Hitler’s Imagery and German Youth, in : Psychatry 5 / November 1942, 475-493. Eine revidierte Fassung erschien 1948 (ERIK H. ERIKSON, Hitler’s Imagery and German Youth, in : CLYDE KLUCKHOHN/ HENRY A. MURRAY, Personality in Nature, Society and Culture, New York 1948, 485-510). Erneut revidiert, gingen diese Forschungen in »Kindheit und Gesellschaft« 1950 ein, das in der zweiten Ausgabe 1963 erweitert wurde. Signifikante Aspekte von »Hitlers Bild« unterlegt er auch in ERIK H. ERIKSON, Ego Development and Historical Change. The
100
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
und Mahadma Gandhi.358 Erikson dachte über ihre Position als krisenhafte Entwicklungsereignisse der Phylogenese nach.359 Er positionierte Luther am Ende des Zeitalters des absoluten Glaubens, Freud am Ende des Zeitalters der absoluten Vernunft, Hitler als Höhepunkt des menschenverachtenden Rassismus, Gandhi an der Schwelle eines neuen Zeitalters der Liebe. Nach seiner Variante der hier untersuchten paradigmatischen Imagination360 entsprechen sich Phylo- und Ontogenese durch ihr inneres Entwicklungsprinzip: Identitätskrisen bringen den Menschen wie die Menschheit weiter. Ritualisierungen transportieren Bewältigungsmuster innerhalb des sozialen Gefüges. Die Epigenese des Individuums steht in Analogie zur Beziehung der Generationen und zum Wachstum des menschlichen Ichs.361 Die Stufen des Eriksonschen Modells versuchten, die verschiedenen Gesellschaften362 mit ihren so bunten Lebensweisen,363 die anthropologiPsychoanalytic Study of the Child, Bd 2, New York 1946, 359-396. Vgl. auch: LOUSIE E. HOFFMANN, Erikson on Hitler: the origins of ›Hitler’s imagery and German youth‹, in : The psychohistory review 22/1993, 69-86, 82, FN2. 358
ERIK H. ERIKSON, Gandhi’s truth. On the origins of militant nonviolence, New York 1969. Siehe auch ERIKSON, Insight, 198ff und ERIKSON, Lebensgeschichte und historischer Augenblick 113-196. 359
Vgl. a.a.O., 32.
360
Erikson hatte übrigens selbst ein Bewusstsein für die künstlerische, malende Ausdrucksweise wissenschaftlicher Modellbildung, so dass er seine Theorie wohl ohne Umschweife als Imagination bezeichnet hätte. Vgl. A.a.O., 29f. Erikson reflektierte auch kritisch die Verwendung von »aboreal terms … the imagery of man as a being grounded in a locality, supported by roots and absorbing organic nourishment from a ecologically bound universe. … As long as man can fit his own life cycle entirely into the natural cycles of a segment of nature, which he has learned to exploit, he can maintain a sense of participation … in the roots which he cultivates. The resulting imagery of rootedness and growth has supported (as does all integrated imagery) some simple dignity and beauty, but it has also fostered special forms of rigidity and depravity … But whether we use images of the laboratory, the factory or the arboretum we must beware lest the mere sound of our terms makes us believe that we have gained more relevant concepts for human development.« ERIKSON, Insight, 100f. 361 362
Vgl. ADAMS, Das Werk, 340.
Für die konkrete westliche Gesellschaft führte Erikson aus: Das abendländische Geschichts-, Welt- und Menschenbild verlange beständige Reformen seiner selbst in der Verfolgung einer Karriere, die zu immer höherem Standard hinführt. Diese Reform fordere ein zunehmend internalisiertes Gewissen, das automatisch und unbewusst gegen die Versuchung handelt, ohne die Anwesenheit kritischer Beobach-
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
101
sche »Pseudo-Species«364 , in ihrer innersten Epigenetik zu erfassen und damit auf das hin durchsichtig zu machen, was alle Menschen verbindet – das ist letztlich die Pointe seiner phylo- wie ontogenetischen, anthropologischen Epigenetik! Erikson philosophierte: »Die Vielfalt meiner klinischen und ›angewandten‹ Beobachtungen half mir …, eine Verbindung zwischen Individuum und Geschichte, wie auch zwischen Vergangenheit und Zukunft zu erkennen.«365 »Der Ursprung der menschlichen Identitätsproblematik liegt … in der Evolution selbst beschlossen. Folglich müssen wir fragen: Wird die Menschheit erkennen, dass sie eine einzige Art ist – oder ist es ihr Schicksal, für immer in ›pseudo-Arten‹ getrennt zu bleiben und die eine (notwendig unvollkommene) Version von Menschentum gegen alle anderen auszuspielen, bis im dubiosen Glanz des Atomzeitalters einer dieser Arten die Macht und das Glück zufallen werden, alle anderen auszulöschen – Sekunden vor ihrem eigenen Untergang?«366 ter. Dem indianischen Gewissen, das Erikson mit dem westlichen kontrastiert, gehe es darum, innerhalb eines Systems klar umrissener Ehren und Beschämungen peinliche Situationen zu verhindern. Vgl. ERIKSON, Childhood, 155f. 363
Vgl. Eriksons volkskundliche Studien bei indigenen Gemeinschaften und seine Forschungen zu Ritualisierung und Zeremoniell. »I would, therefore, suggest that this mutuality of recognition, attached as it is to the first necessities of mere survival, becomes the ontogenetic root of a pervasive element in human ritualization and in fact, in mature ritual. Such ritualizations range from daily greetings affirming a strong emotional bond, to singular encounters of a sudden and mutual fusion in love or inspiration, to the aura of Madonna-and-Child images, and to the mass surrender to a leader’s ›charisma.‹ The first dim affirmation thus becomes one basic element in all ritual.« (»Ich würde deshalb vorschlagen, dass diese Gegenseitigkeit der Anerkennung, wie sie den ersten Notwendigkeiten schieren Überlebens anhaftet, zur ontogenetischen Wurzel eines alles durchdringenden Elements menschlicher Ritualisierung und des reifen Rituals wird. Derartige Ritualisierungen reichen von der täglichen Begrüßung, die eine starke emotionale Bindung unterstreicht, über das einmalige Zusammentreffen in einer plötzlichen und gegenseitigen Verschmelzung in Liebe oder Inspiration, bis zur Aura von Madonna-mit-dem-Kind-Bildern und bis hin zur Massenhingabe an das ›Charisma‹ des Führers. So wird die erste schwache Bestätigung zu einem Grundelement jeden Rituals.«) ERIK ERIKSON, The Ontogeny of Ritualization in Man, in: Rudoph Maurice Loewenstein u.a. (Hrsg.), Psychoanalysis – A General Psychology, New York 1966, 601-621, 604. 364
Vgl. a.a.O, 606. Im Gegensatz zu sozialen Tieren hat der Mensch sich zu vielen verschiedenen Gruppen entwickelt, die sich verhalten, als gehörten sie verschiedenen Spezies an. Säuglinge können in jede hinein erzogen werden. ArtenDifferenzierung ist Ritualisierung. 365
ERIKSON, Lebensgeschichte und historischer Augenblick, 45.
366
A.a.O., 48.
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II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Eriksons Modell war mittels des biogenetischen Gesetzes eine visionäre Landkarte der Herausforderungen für den einzelnen und für die Menschheit als ganze und spiegelte seine Vorstellung, dass über das Weiterleben des Menschen wie der Menschheit letztlich das Wachsen von Tugenden und Sittlichkeit entscheide. Er konstatierte, dass sein Modell durchaus appellativ war: »I belong to … the clinicians, who are modest and vain … we speak with relative ease of the core of man’s personality and of stages in its development. But then, our subjects whant to become whole; and the clinician must have some theories and methods which offer the patient a whole world to be whole in. Mistaking our patients’ gratitude for verification, we are sometimes sure that we could explain or even guide mankind if it would only consent to be our collective patient.«367 II. 3. 8 Modelle im Gefolge Piagets und Eriksons
Die Religionspädagogik rezipierte sowohl Piaget als auch Erikson seit den 1960er Jahren schier überschwänglich. Bis heute wird besonders Eriksons erste Phase in schnellen logischen Schlüssen mit der Rechtfertigung und Begründung des Gottvertrauens verbunden.368 Als von Piaget und Erikson inspirierte Theorien zur religiösen Entwicklung erlangten insbesondere Elkind,369 Goldman, Fowler und Oser/Gmünder, neben vielen kleineren
367
ERIKSON, Insight, 136. »»Ich gehöre zu … den Klinikern, die … bescheiden und eitel sind.« Wir »sprechen … mit relativer Leichtigkeit vom Kern der menschlichen Persönlichkeit und von Stadien seiner Entwicklung. Aber dann verlangen unsere Subjekte, ganz zu werden, und der Therapeut muss über einige Theorien und Methoden verfügen, die dem Patienten eine ganze Welt bieten, um in ihr ganz zu sein. Indem wir die Dankbarkeit unserer Patienten als Bestätigung unserer Meinung missdeuten, sind wir manchmal überzeugt, dass wir die Menschheit erklären und sogar leiten könnten, wenn sie sich nur entschlösse, unser Kollektivpatient zu werden.« ERIKSON, Einsicht, 124f. 368
So kann Fraas in wenigen Sätzen folgern: »Erikson spricht von ›unbewussten inneren Zuständen‹, die durch die Mutter-Kind-Beziehung begründet sind bzw. von einem Identitätsgefühl, das vorbewusst als psychosoziales Wohlbefinden erlebt wird. Es ist da, was theologisch als ›extra nos‹ bezeichnet wird, vor aller Tätigkeit des Bewusstseins (Schleiermachers ›Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit‹, als dem Bewusstwerden des Sich-nicht-gesetzt-Habens). Diese Vorgabe ist die ontologische Voraussetzung des Urvertrauens. Sie gewinnt in der Religion symbolische Gestalt. So ist der Glaube als Gottvertrauen gewissermaßen die transzendentale Legitimation des Urvertrauens.« HANS-JÜRGEN FRAAS, Erikson und die Religion, in: ULRICH SCHWAB (Hrsg.), Erikson und die Religion. Beiträge zur Rezeption der Theorie Erik H. Eriksons in der Gegenwart, Berlin 2007, 8-15, 9. 369
Die Untersuchungen des amerikanischen Forschers David Elkind (ab 1961) ergaben, dass die von Piaget beschrieben Entwicklung des Denkens auch auf das
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
103
Untersuchungen, innerhalb der internationalen Theologie große Bekanntheit.370 Ronald Goldmans Werk, 1965 in England erschienen,371 wurde Anfang der 1970er Jahre übersetzt372 und so einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland zugänglich.373 Goldman versuchte nachzuweisen,374 dass religiöses wie nichtreligiöses Denken Piagets Entwicklungsstufen folge.375 In seinen Studien ordnete er Antworten von Kindern auf Fragen zu fünf biblischen Geschichten den strukturgenetischen Stufen zu. Dabei meinte er zu beobachten, dass sich im Laufe der kindlichen Entwicklung die Religiosität von anthropomorphen zu artifiziellen, animistischen bis zu abstrakteren Konzepten entwickle.
religiöse Verständnis und auf das Gebetsverhalten von Kindern zu übertragen sei. Auch der finnische Forscher Kalevi Tamminen kam zu ähnlichen Ergebnissen. Zu Elkind und Tamminen vgl. HOOD, The Psychology, 78ff. 370
Vgl. a.a.O., 78.
371
1964 veröffentlichte er eine Zusammenfassung der neusten Untersuchungen und seiner Folgerungen daraus in seinem ersten Buch »Religious Thinking from Childhood to Adolescence«. RONALD GOLDMAN, Religious Thinking from Childhood to Adolescence, London 1964. 1965 erschien sein Werk »Readiness für Religion. A Basis for Developmental Religious Education« – vier Jahre später bereits in 5. Auflage. 372
1972 übersetzten seine Theorie Walter Lück und Jutta Schult ins Deutsche.
373
Der Schwerpunkt liegt im Folgenden daher auf der deutschsprachigen Übersetzung des vielbeachteten Werkes: RONALD GOLDMAN, Vorfelder des Glaubens. Kindgemäße religiöse Unterweisung, London 1964, übersetzt Neukirchen-Vluyn 1972. 374
Goldman wurde jedoch vorgeworfen, dass er die Nähe zu Piagets Stufen eher postuliere als nachwies. Vgl. BERNHARD GROM, Religionspsychologie, München 32007, 388-389. 375
RONALD GOLDMAN, Religious Thinking from Childhood to Adolescence, London 1966, 51ff. Goldman übernahm dazu aus den Erkenntnissen Piagets (vgl. GOLDMAN, Vorfelder, 37ff) insbesondere die These von der Ichbezogenheit bis zu sieben Jahre alter Kinder, ihres einlinigen und irreversiblen Denkens, ihrer zunehmenden Generalisierungs- und Objektivierungsfähigkeit bis zum zehnten Lebensjahr, die jedoch mit Unreife verbunden sei, weil das Kind noch auf konkrete Situationen, visuelle Erfahrungen und sinnliches Wahrnehmen beschränkt sei und schließlich der Befreiung des Kindes im frühen Jugendalter »von jenen Schranken der Kindheit.« A.a.O., 40. Nun würden die Fähigkeiten des abstrakten Denkens erworben. »Diese Form des hypothetischen Denkens ist für die Ausformung einer Theologie ebenso wichtig wie für die Naturwissenschaft. Wir sehen nun die Vorgänge im Denken des Kindes deutlicher, durch die die intellektuellen Begrenzungen teilweise bedingt sind und die bei den jüngeren Kindern eine vorreligiöse und bei den ältern Kindern eine subreligiöse Denkweise bedingen.« A.a.O., 40. Die Altersangaben in seinem Stufenmodell will er nur als grobe Anhaltspunkte betrachtet wissen. Vgl. a.a.O., 183. 3
104
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Sowohl in seinen entwicklungspsychologischen wie in seinen bibeldidaktischen Erläuterungen376 klingt seine Kulturtheorie zur Menschheitsentwicklung an.377 Goldman ging mit Piaget davon aus, dass die Erkenntnisse über die Genese des Denkens die Erklärung dafür böten, warum sich die religiöse Entwicklung in dieser Weise vollziehe.378 376
Goldman sieht in den biblischen Texten die Entwicklung der Kulturstufen abgebildet, »so, daß hier die entscheidenden Probleme vorkommen, mit denen der Mensch zu tun hatte, und für die er langsam und unter Mühen Antwort suchte. Von der animistischen Religion der Erzväter ausgehend, können wir diese Entwicklung bis zur vollen Offenbarung Gottes in der Inkarnation weiterverfolgen.« A.a.O., 170. »Ein ganzer Kurs in vergleichender Religionswissenschaft könnte daraus werden, der wie von selbst über den Animismus (Religion der Erzväter), den kriegerischen Stammesgott, einen Naturgott des Sturms und der Gewalt (mosaische Religion), einen kanaanäischen Territorialgott, einen Fruchtbarkeitsgott der Ackerbauzeit (die Landnahme?) zu Monolatrie (Elia) führt. Die Entwicklung geht weiter in Richtung auf Universalismus und Monotheismus, zu ethischem Monotheismus und göttlichem Gericht (die Propheten), über Andeutungen eines universalen Gottes der Liebe (Jesaja) bis hin zur umfassenden Offenbarung des Neuen Testaments.« Auch pädagogisch schließt sich der kulturstufentheoretische Kreis seines Denkens: »Eine solche geistige Reise anhand einer der Hauptideen der Bibel ist jetzt (erg. im Jugendalter) sinnvoll, weil die Jugendlichen auf ihre eigenen primitiven Vorstellungen aus der Kindheit zurückblicken und so zu einem besseren Selbstverständnis kommen können.« A.a.O., 140. 377
GOLDMAN, Religious Thinking, 231 und GOLDMAN, Vorfelder, 39 und 103-104: »Der bald zehnjährige Peter … befindet sich in einem Stadium, das ich ›sub-religiös‹ nennen würde, in dem ein materialistischer und gegenständlicher Zugang zu den Dingen vorherrscht, fast vergleichbar den älteren, gröberen Vorstellungen des frühen Judentums. Rache, widersprüchliches Verhalten auf seiten Gottes sowie spektakuläre Eingriffe sind allesamt Teil seines theologischen Weltverständnisses. Peter fängt an, die ersten enttäuschenden Erfahrungen mit diesen primitiven Vorstellungen zu machen.« A.a.O., 33. Siehe auch a.a.O., 48: »Der christliche Glaube ist nicht nur ein für erwachsene Männer und Frauen schwer zu verstehender und zu akzeptierender Glaube, er ist auch eine der im Hinblick auf die geforderte hohe Ebene theologischen Denkens am weitesten entwickelten Religionen. Es wäre beispielsweise viel einfacher, Kindern bestimmte Aspekte des Hinduismus mit seinen animistischen Anschauungen, seinen vielen Göttern und der pantheistischen Theologie beizubringen. Kindern den christlichen Glauben ›lauter und rein‹ in einer Form für Erwachsene zu lehren, ist unmöglich, weil es unrealisitisch ist.« Den Begriff subreligiös verwendet Goldman »als Synonym für vorchristlich«. A.a.O., 55. Seine Variante der paradigmatischen Imagination zeigt sich erneut: »Im achten Lebensjahr fangen die meisten Kinder an, auch christliches Vokabular zu verwenden. Dabei gehen sie gerade erst von einer voroperationalen Denkweise zu konkretem, operationalem Denken über. Es beginnt eine vor-christliche Phase, in der ein Großteil ihres Denkens der primitiven, materialistischen Religion der alten Hebräer nahekommt.« A.a.O., 101. 378
Er begründet z.B. dass die Entwicklung des konkret-operationalen Denkens automatisch dazu führe, dass die biblische Bildsprache zu anthropomorphen Vorstellungen führe. Vgl. a.a.O., 39.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
105
Auf der Basis seiner Modellvorstellung wollte Goldman ein Programm für die religiöse Erziehung entwerfen, das mit dem Wissen über die Entwicklung des Kindes besser übereinstimmen und mit der modernen Erziehungswissenschaft mehr in Einklang stehen sollte.379 Die alten Lehrpläne böten – aus Mangel an besserem Wissen380 – zuviel Beschäftigung mit der Bibel.381 Angesichts der Säkularisierungstendenzen seiner Zeit forderte Goldman, nicht mehr von christlicher, sondern von religiöser Erziehung zu sprechen,382 denn diese sei eine notwendige Vorstufe.383 Auch die Religi-
379
Vgl. a.a.O., 11. Er hoffte darauf, dass »die Lehrpläne für den Religionsunterricht sich in den kommenden Jahren in der in diesem Buch empfohlenen Richtung ändern werden, sobald auch die Ergebnisse der Forschung bekannter werden und mehr Erkenntnisse über die religiöse Erziehung angesammelt sind.« A.a.O., 12. 380
»Dieses wirklichkeitsfremde Übergewicht der Bibel im Religionsunterricht der Jüngeren erklärt sich ganz einfach daher, daß zu der Zeit, als die Lehrpläne abgefaßt wurden, nur sehr wenige Unterlagen über die religiöse Entwicklung des Kindes zur Verfügung standen. In den letzten zehn Jahren jedoch hat unsere Kenntnis vom Denken, der Einstellung und dem Verhalten der Kinder in einem beträchtlichen Maße zugenommen. Dabei ist deutlich geworden, daß die Bibel kein Buch für Kinder ist, daß das, was sie in weiten Teilen lehrt, dem Verständnis des Kindes für Religion eher schaden als nützen kann, und daß zu viele biblische Stoffe zu früh und zu häufig verwendet werden.« A.a.O., 18. 381
»Gleichnisse in der Vorschule, die Exodusgeschichte in der Grundschule, Unterricht über die Propheten für Schüler in den ersten Jahren der Sekundarstufe sind Bestandteile einer geistigen Kost, die, wie die Forschung beweist, für Kinder ungeeignet ist.« Ebd. 382
Nicht zuzustimmen ist m.E. der Einschätzung BUCHER/OSER, Entwicklung, 609, die feststellen: »Goldman (1964) zog provozierende Konsequenzen: Kinder seien vor religiöser Unterweisung zu verschonen, weil sie religiös-biblische Konzepte entwicklungsbedingt nur missverstehen könnten.« Dies ist zumindest zu ergänzen mit dem Hinweis, dass Goldman wohl verfrühte biblische Unterweisung ablehnte, frühzeitige religiöse Förderung aber befürwortete. Vgl. RONALD GOLDMAN, Readiness für Religion. A Basis for Developmental Religious Education, London 1965. Goldman notierte weitere Jahre später: »Nun möchte ich das verbreitete Missverständnis korrigieren, dass ich dafür wäre, vor dem zwölften Lebensjahr auf den Bibelunterricht zu verzichten. Ich empfehle wohl eine drastische Reduktion des biblischen Stoffes in den Lehrplänen für die Jahre vorher, aber der Unterschied liegt nicht so sehr in der Menge des verwendeten biblischen Stoffes als vielmehr in der Art und Weise, wie er verwendet wird. … Deshalb muss man einen deutlichen Unterschied machen zwischen einem Unterricht ›aus der Bibel‹ und einem Unterricht ›im Zusammenhang mit der Bibel‹. … Wenn wir ›im Zusammenhang mit der Bibel‹ unterrichten, dann berücksichtigen wir die sprachlichen, intellektuellen und erfahrungsmäßigen Grenzen der Kinder für die Auseinandersetzung mit der Bibel und wählen geeignete Stoffe aus.« Von der Grundschule an will er die Erfahrungen der Kinder mit biblischen Textwelten verbinden. Vgl. GOLDMAN, Vorfelder, 75ff.
106
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onspädagogik solle durch die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie Kinder nicht länger überfordern, sondern zur rechten Zeit, die Bereitschaft für Lernschritte nutzen384 im Sinne einer »entwicklungsgerechten religiösen Erziehung«385 . Goldman verstand seinen Ansatz dabei als Vermittlungsmodell zwischen den beiden Richtungen Bibelorientierung - Kinderorientierung.386 Die gesamtgesellschaftliche Stimmung, auf die das übersetzte Werk in den 1970er Jahren in Deutschland traf, war wohl mit derjenigen Mitte der 1960er in England vergleichbar.387 Dies mag ein Grund sein, warum sein 383
»Wir versuchen, die Kinder in einem allgemeinen Sinn für den religiösen Charakter ihres Lebens empfänglich zu machen, als Vorbereitung auf ihre spätere, in ihrem eigenen Erlebnisbereich stattfindende Begegnung mit dem christlichen Glauben … Die christliche Erziehung kann nicht in der frühen Kindheit in ihrer vollen Gestalt, im geistigen Sinne, auf einmal da sein. Deshalb besteht kein Grund, die frühen Vorbereitungsstufen als unwürdig, trivial und für Christen nicht der Mühe wert abzutun.« A.a.O., 203f. 384
Er zählte zu den entscheidenden Fortschritten der Pädagogik, dass Kindern zugestanden wird, vieles noch nicht zu können. Dies führe dazu, dass Kinder nicht mehr überfordert würden mit mathematischen oder sprachlichen Aufgaben. Dies wollte er für den Religionsunterricht entsprechend erreichen. »Das Versäumnis, das genaue Wesen dieser Begrenzungen zu erkennen, hat in der Vergangenheit, wie wir sahen, nicht nur geistige Grausamkeit gegenüber Kindern zur Folge gehabt, sondern auch eine ganze Menge wirkungsloser und falsch eingesetzter pädagogischer Bemühungen.« A.a.O., 35. 385
A.a.O., 75.
386
Vgl. a.a.O., 71. Die theologische Ausrichtung des Goldmanschen Vermittlungsmodells zeigt sich, wenn er die Stellung der Bibel erläutert: »Die Bibel ist die wichtigste Quelle des Christentums für Erwachsene. Sie ist von Erwachsenen für Erwachsene geschrieben und ist in keiner Weise ein Kinderbuch. … Das Leben dient nicht zur Illustration biblischer Geschichten, sondern die Bibel dient zur Illustration der Erfahrung im Leben. … Die Behandlung kindlicher Erfahrung, die durch biblische Ereignisse illustriert wird, entspricht der Bibel selbst. Die Bibel ist nämlich eine Erzählung von den Erfahrungen, die Menschen in ihren vielfältigen Beziehungen zu Gott gemacht haben. Wenn wir unterrichten, dann versuchen wir, die Wahrheit weiterzugeben, von der die Bibel spricht.« A.a.O., 77. Goldman erweist sich damit in der deutschen Diskussionslandschaft anschlussfähig an die Vermittlungsmodelle, die mit dem Erfahrungsbegriff auf der Basis eines von Paul Tillich her rezipierten Korrelationsbegriffs arbeiten. Er selbst pointiert »Aber ist das nur Tillich? Wenn wir uns zurückwenden zum größten Lehrer der Welt, dann sehen wir, dass auch Jesus so gelehrt hat. Die Berichte der Evangelien zeigen, daß er gelegentlich anhand der alttestamentlichen Schriften lehrte, doch der Hauptakzent liegt auf seinem Lehren anhand des Lebens.« A.a.O., 204f. 387
In seinem Buch spiegelt sich die Erschütterung der christlich-kirchlichen Sozialgefüge Mitte der 1960er Jahre in England. Vgl. a.a.O., 58. Sein Konzept scheint eine
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
107
Werk auf so großes Interesse stieß. Ronald Goldmans Entwurf gilt heute als eine der ersten strukturgenetischen Theorien zur Entwicklung der Religiosität von Kindern und Jugendlichen, die in der deutschsprachigen Religionspädagogik rezipiert worden sind388 – allerdings zunächst vorsichtig – noch kaum im Bereich der wirkungsvollen Konzeptionen der 1970er Jahre.389 Antwort darauf geben zu können, dass sich Jugendliche von der Religion abwenden – und wie dies zu verhindern wäre. »Nachdem wir sie … zu unreifen Fundamentalisten gemacht haben, haben wir die Saat der Ablehnung gesät … Daher liegt es auf der Hand, dass wir ihnen aktiv beibringen müssen, kritisches Denken auch auf die Bibel anzuwenden und zwar dann, wenn ihnen das Glauben noch leicht fällt.« A.a.O., 60. »Die gegenwärtige Schwäche der christlichen Erziehung liegt darin, daß Lehrinhalte und Methoden die Tendenz haben, infantile Entscheidungen gegen ein christliches Engagement zu ermutigen. Das ist genau das Ergebnis der Bemühungen, zu vieles (und zu viel Unangemessenes) auf einer zu frühen Altersstufe zu unterrichten. Wenn wir daran festhalten, zeigt das nur, daß es uns mehr um die Bedürfnisse der Religion als um die der Kinder geht. Wir leisten der Religion damit einen regelrechten Bärendienst.« A.a.O., 70. Angesichts der Säkularisierungsphänomene jener Zeit scheint ein Aufgreifen der Individualisierungstendenzen die rettende Idee zu sein: »Religion ist in hohem Maße persönliches Suchen, persönliche Erfahrung und persönliches Gefordertsein. Es ist zuerst und zu allermeist eine persönliche Begegnung mit dem Göttlichen.« A.a.O., 70. Die Beachtung der strukturgenetischen Entwicklungspsychologie, im Sinne des Prinzips »entwicklungsgerechte religiöse Erziehung« ist für Goldman vor diesem Hintergrund das Gebot der Stunde: »Die Ziele einer christlichen Erziehung sollten daher auf eine Erfüllung der persönlichen Bedürfnisse des Kindes, wie sie in den verschiedenen Entwicklungsstadien empfunden werden, gerichtet sein.« Ebd. 388
STEFANIE SCHULTE, Gleichnisse, Entwurf einer wirkungsästhetischen Hermeneutik und Didaktik, Stuttgart 2008, 173. Sie verweist auf Slee, Mette, Grom, Heimbrock, Oser/Bucher und Oser/Gmünder, Reich, Schweitzer und Tamminen. Anton A. Bucher und Fritz Oser bezeichnen Goldmans Studien zur religiösen Entwicklung als »eine der einflussreichsten« (BUCHER/OSER, Entwicklung, 609) im Bereich der von Piaget inspirierten religiösen Konzeptforschung. Insbesondere zur Frage, wie Kinder auf ihrer jeweiligen kognitiven Stufe Konzepte wie Gott, Tod, Gleichnisse strukturieren. Vgl. KENNETH E. HYDE, Religion in Childhood and Adolescence. A comprehensive review of the research, Birmingham, AL: Religious Education Press 1990. Auch hier wiederholen sich die kulturgeschichtlich-biognetischen Ergebnisse ontogenetisch, z.B. dass Kinder zwischen fünf und sieben Jahren egozentrische und magische Bittgebete favourisieren, Schulkinder das Gebet konkret verstehen, und dass kaum vor dem elften Lebensjahr Beten als innere Zwiesprache mit Gott oder dem Selbst aufgefasst werde. Vgl. DIANE LONG u.a., The child’s conception of prayer. Journal for the Scientific Study of Religion, 6 (1967), 101-109. 389
Vgl. HEINZ STREIB, Kinder und Jugendliche – religiöse Erziehung und Entwicklung, in: FRIEDRICH SCHWEITZER u.a. (Hrsg.), Religionspädagogik und Zeitgeschichte im Spiegel der Rezeption von Karl Ernst Nipkow, Gütersloh 2008, 41-54, 41. Er erklärt, dass Stoodt noch 1977 behaupten konnte, dass sowohl im hermeneutisch-orientierten
108
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Der durchschlagende Erfolg einer entwicklungspsychologisch orientierten Modellvorstellung innerhalb der Religionspädagogik dauerte noch einige Jahre – etwa bis 1982.390 Eine entscheidende Rolle spielte hierbei Karl Ernst Nipkow und seine Rezeption eines über Goldman hinausgehenden Theoriemodells: den Stufen des Glaubens von James Fowler. Der 1940 in San Fernando, Kalifornien geborene Theologe James Fowler391 war ein Freund von Fritz Oser.392 Er wollte als »Bürger des Landes der Theologie«393 dieser den »ungeheueren Reichtum …, den ich in der Welt Jean Piagets, Lawrence Kohlbers und Erik Eriksons gefunden habe«394 erschließen.395 Mit Erikson396 nahm Fowler die gesamte Lebensspanne397 und »den funktionalen Aspekt von Glaube in den Blick …, die erwarteten existentiel-
als auch im problem- und lernzielorientierten Unterricht die Religiosität des Schülers nicht als entscheidender Bezugspunkt verstanden würde. Vgl. DIETER STOODT, Unterricht als Therapie? Am Beispiel des sozialisationbegleitenden Religionsunterrichts, in: PETER M. PFLÜGER (Hrsg.), Tiefenpsychologie und Pädagogik. Über die emotionalen Grundlagen des Erziehens, Stuttgart 1977, 178-193, 179. 390
Vgl. STREIB, Kinder, 41.
391
Fowler war Sohn eines methodistischen Pastors. Als methodistischer Theologe studierte er an der Duke University und an der Harvard University. Später übernahm er dort auch eine Lehrtätigkeit. Er leitete das Center for Research on Faith and Moral Development (Zentrum zur Erforschung der Glaubens- und Moralentwicklung) und das Emory’s Center for Ethics in Public Policy and the Professions (Zentrum für Ethik in öffentlicher Politik und akademischen Berufen) an der Emory University (gegründet von der methodistischen Kirche) in Atlanta. 392
Vgl. JAMES FOWLER, Vorwort zur deutschen Ausgabe, in: Ders., Stufen das Glaubens, Gütersloh 1991, 15-20, 15. Der Schwerpunkt liegt im Folgenden auf dieser deutschsprachigen Übersetzung seines Werkes, da diese weit einflussreicher in der deutschsprachigen Debatte als das amerikanische Orginal war. Darüber hinaus wäre interessant, einmal zu prüfen, inwieweit die Rezeption innerhalb der deutschsprachigen theologischen und religionspädagogischen Diskurse dadurch beeinflusst wurde, dass Fowler (wie Goldman und meist auch Erikson und Piaget) in Deutschland jahrzehntelang vor allem in Übersetzung gelesen wurde. 393
Fowler versteht sich selbst als »Theologe und Ethiker«. A.a.O., 20.
394
JAMES FOWLER, Stufen das Glaubens, Gütersloh 1991, 59.
395
Dafür lud Fowler seine Leserinnen und Leser ausdrücklich dazu ein, die von ihm dargebotenen typischen Entwicklungen (entwicklungspsychologische »JedermannsGeschichten« (A.a.O., 109) lebensgeschichtlich zu überprüfen und die Theorie als ernsthafte Spielerei und mit spielerischem Ernst anzusehen. Vgl. a.a.O., 22f. 396
Eriksons Einfluss auf Fowler war stärker als der Piagets und Kohlbergs. Außerdem parallelisiert er seine Stufenfolge mit der Daniel Levinsons. Vgl. a.a.O., 129ff.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
109
len Probleme, bei deren Bewältigung er dem Menschen auf jeder strukturellen Stufe des gesamten Lebenszyklus helfen muß.«398 Fowler wollte über eine rein kognitiv-strukturelle Entwicklung des religiösen Denkens hinausgehen, menschliche Sinnkonstruktion ganzheitlich betrachten in ihren Beziehungen zwischen Denken und Einbildungskraft, moralischer Urteilsbildung und symbolischer Repräsentation, ekstatischer Intuition und logischer Deduktion.399 Dazu verstand Fowler Glaube als »Interaktionsprozeß«400 . Sein Faithbegriff war – geprägt von Niebuhr, Tillich401 und dem vergleichenden Religionswissenschaftler Cantwell Smith402 – fundamental und universal angelegt, als »ein allgemein menschliches Phänomen«403 des homo poeta (Ernest Becker), des Sinn schaffenden Menschen.404 Es handelt sich um »ein bündnisartiges Beziehungsmuster« in triadischer Form.405 Die Art, in der Fowler seine Ergebnisse präsentierte, hatte etwas Pädagogisches406 und Dramatisches407 zugleich. Die empirischen Grundlagen
397
Fowler entwickelte aus seiner Theorie die Aufgabe, »eine ständige Weiterentwicklung im Erwachsenenalter zu fördern«. A.a.O., 312. 398
A.a.O., 128.
399
Vgl. A.a.O., 118.
400
A.a.O., 119.
401
Vgl. a.a.O., 26f.
402
Vgl. a.a.O., 30ff. Von Smith übernahm Fowler die Beschreibung der Veränderung des »Believing«: Zuvor meinte dies, dass ein Mensch seine Treue Gott, einem Faktum des Universums, gegenüber bekundete, jetzt, dass die Gottesvorstellung ein Teil der geistigen Ausstattung eines Mensch ist. 403
A.a.O., 23.
404
Vgl. a.a.O., 26.
405
Vgl. a.a.O., 37f. »Wenn wir über unser Glaubensleben nachdenken, … dann erkennen wir, dass wir Mitglieder vieler verschiedener Triaden von Glaubensbezügen sind. In jeder Rolle, die wir spielen, in jeder bedeutungsvollen Beziehung zu anderen, in jeder Institution, der wir angehören, sind wir in gemeinsamen Vertrauen und gemeinsamen Loyalitäten gegenüber Wert- und Machtzentren mit anderen verbunden.« A.a.O., 39ff. Er unterscheidet drei Typen von Beziehungen zwischen Glauben und Identität: polytheistisch (viele Triaden ohne übergeordnetes Wert- und Machtzentrum), henotheistisch (irdisch-materielles Wert- und Machtzentrum), monotheistisch (transzendierendes Wert- und Machtzentrum). 406
»Mein Ziel …, ist es, Ihnen zu ermöglichen, diese neuen Denk- und AnalyseMuster allmählich selbst zu konstruieren. Seien Sie deshalb nicht ungeduldig mit sich selbst oder mit mir, wenn Sie das Gefühl haben, daß Sie Teile des Interviews
110
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
seiner Theorie bildeten 360 bis 380408 Interviews aus den Jahren 1972 bis 1981. Er ordnete deren Ergebnisse in sieben Stufen ein: Urvertrauen, intuitiv-projektiver, mythisch-wörtlicher, synthetisch-konventioneller, individuierend-reflektierender, verbindender und universalistischer Glaube.409 Obwohl Fowler seine Theorie nicht in Längsschnittstudien überprüfte, ging er davon aus, dass »die Stufenfolge, wie wir sie jetzt beschrieben haben, einen Entwicklungsprozeß bei Menschen widerspiegelt, der einen sowohl ontologischen als auch ontogenetischen Sinn ergibt.«410 oder die Antworten, die ich auf die Fragen gebe, noch einmal lesen müssen. … Ich empfehle Ihnen also, zu lesen und nochmals zu lesen und einige Zeit darauf zu verwenden, Ihre eigenen Antworten zu formulieren und zu überprüfen. Wenn Sie das befolgen, werden Sie sich allmählich ein Verständnis der Glaubensstufen aufbauen, mit dem Sie arbeiten können.« A.a.O., 233. 407
Man beachte allein die emotionalisierende Einleitung: »Um vier Uhr früh, in der Dunkelheit eines kalten Wintermorgens, bin ich plötzlich hellwach, schrecklich wach. Ich sehe es deutlich: Ich werde sterben. Ich werde sterben. … In dem merkwürdigen Alleinsein dieses von der Gewißheit des Todes gekennzeichneten Moments erwache ich zu den wahren Tatsachen des Lebens. … Dieses Buch handelt vom Glauben. … Es muß ein persönliches Buch sein, persönlich für mich als Autor, persönlich für Sie als Leser.« A.a.O., 22. 408
»Die Angaben schwanken« notiert auch KARL ERNST NIPKOW, Wachstum des Glaubens – Stufen des Glaubens, in: HANS MARTIN MÜLLER, DIETRICH RÖSSLER (Hrsg.), Reformation und Praktische Theologie. Festschrift für Werner Jetter zum siebzigsten Geburtstag, Göttingen 1983, 161-189, 172. 409
Vgl. FOWLER, Stufen, 331. Als umstrittenen Aspekt des Werkes nennt Fowler selbst die »Behauptung, es gebe einen normativen Endpunkt, der die Tendenz des Wachstums im Glauben auf universale Weise definiert. Gleichzeitig scheint dieser Versuch, das Ziel menschlicher Veränderung im Glauben zu portraitieren, für die Leser einer der attraktivsten Aspekte zu sein.« FOWLER, Vorwort, 17. 410
FOWLER, Stufen, 314f. »Jede Stufe stellt eine Erweiterung der Sichtweise und der Wertung dar, die mit einer parallel verlaufenden Steigerung der Gewissheit und Tiefe, in der man sein Selbst wird, verbunden ist, und zu qualitativen Steigerungen in der Vertrautheit mit dem Selbst – den Anderen – der Welt führt.« A.a.O., 291. Fowler denkt in der Kategorie des Fortschritts, seine Vorstellung einer Entwicklungsspirale ist hierarchisch, ständigem ›Besserwerden‹ des Menschen verpflichtet. »Die kognitive-strukturelle … Perspektive mit ihren formalen Beschreibungen der stufenartigen Positionen und Stile der Existenz im Glauben kann zu der Klärung dessen beitragen, was unter ›gutem Glauben‹ verstanden werden kann. … Die Stufen liefern formal normative Kriterien, um zu bestimmen, wie angemessen, verantwortungsvoll und frei von götzenhaften Verzerrungen unsere Art und Weisen tatsächlich sind, wie wir unsere Glaubenstraditionen aneignen und aus ihnen heraus leben. Die Stufenfolge liefert ein formal deskriptives und normatives Modell, bezogen auf das die Angemessenheit unserer partikularen Seinsweisen im Glauben beurteilt und verarbeitet
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
111
Erikson Theorie war Fowlers »Hintergrundfolie …, vor der wir die Lebensgeschichten, die uns die Menschen mitteilen, hören und analysieren konnten. Uns wurde deutlich, dass die Zeit der Bewegung von einer von Eriksons Phasen zu einer anderen häufig mit einer Veränderung in den strukturellen Operationen des Glaubens korrelierte oder sie zu beschleunigen half. Aber nicht immer. In jüngster Zeit sind wir zu der Einsicht gekommen, dass die strukturelle Glaubensstufe eines Menschen … wichtige Implikationen für die Art und Weise hat, wie der Mensch die Erfahrung der Krise, die eine neue Eriksonsche Entwicklungsphase eröffnet, konstruieren wird.«411 Fowlers Beschreibung, der sich im Laufe der Älterwerdens412 immer höher und qualitativ besser413 entwickelnden Glaubensstufen,414 ist eine werden kann.« A.a.O., 311. So sehr sich Fowler auch bemüht, dass seine Glaubensstufen nicht als Leistungsskala verstanden werden und auch nicht als erzieherische oder therapeutische Ziele, so sehr besteht er doch darauf, dass Erziehung und Unterstützung darauf gerichtet sein sollen, »die potentielle Stärke des Glaubens auf jeder Stufe voll zu realisieren und die Neubearbeitung des Glaubens, mit dem die Stufenveränderung einhergeht, auf dem Laufenden zu halten mit der parallel verlaufenden Übergangsarbeit in den psychosozialen Epochen.« A.a.O., 133. 411
A.a.O., 125.
412
Im Einzelnen bedeutet jede neue Stufe für Fowler die Erweiterung der Logik, der Rollenübernahme, des moralischen Urteils, des sozialen Bewusstseins, der Verortung von Autorität, der Form des Weltzusammenhangs und der Symbolfunktion. Vgl. a.a.O., 318. »Ein struktureller Stufenwechsel stellt eine qualitative Veränderung in der Art und Weise dar, wie sich der Glaube die Inhalte der religiösen oder ideologischen Traditionen aneignet. Weil die Bereitschaft für einen strukturellen Stufenwechsel zum Teil eine Funktion der biologischen Reifung und der psychosozialen, kognitiven und moralischen Entwicklung ist, besteht ein gewisses Maß an Vorhersagbarkeit für ihn – zumindest der Bereitschaft und der Richtung nach. So gibt es zum Beispiel Mindestalter, unter denen es höchst unwahrscheinlich wäre, daß bestimmte Stufenwechsel bereits begonnen hätten.« Auf der dritten und vierten Stufe sah Fowler vermehrt auch »ältere« Menschen, die eigentlich schon »weiter« sein müssten. Vgl. a.a.O., 188, z.B. Einundsechzigjährige mit synthetisch-konventionellem Glauben. »Die Stufe 3 beginnt und entfaltet sich normalerweise im Jugendalter, aber für viele Erwachsene wird sie ein dauerhafter Ort des Gleichgewichts.« Fowler a.a.O., 191. Fowler plädiert, dass Weiterentwicklung wichtig ist und kennt auch eine »ideale Zeit« für den Übergang auf Stufe vier: »Anfang bis Mitte zwanzig.« A.a.O., 199 und 293. 413
Er hebt hervor, dass die Qualität der Glaubensstufen sich tatsächlich steigert. Vgl. a.a.O., 120. 414
Fowler betonte, dass die Bilder, die der Glaube schafft, nicht statisch sind, und er durch seine Untersuchung entwicklungsmäßige Wendepunkte in der Art und Weise, wie der Glaube seine Vorstellungen bildet, identifizieren kann. Grundlegend geht er dabei davon aus, dass »nur mit dem Tod unseres früheren Bildes … ein neues und
112
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
methodistische Übertragung der sittlich-tugendhaften Imagination der individuellen und phylogenetischen Menschheitsentwicklung Eriksons: Auf der letzten Stufe nähere sich der Mensch dem Inbegriff »jüdischchristlichen« Glaubens im Sinne eines »radikalen Monotheismus«.415 Mit »Stage of Faith. The Psychology of Human Development and the Quest of Meaning« legte James Fowler 1981 der internationalen Öffentlichkeit ein Buch vor, das eine ungewöhnliche Resonanz gefunden hat.416 adäquates Bild entstehen« kann. A.a.O., 52. Mit Erikson erkennt er, dass die Impulse für Veränderungen neue Anforderungen sind, Lebenskrisen, Unterbrechungen (Offenbarungen) und alles, was zu Ungleichgewicht führt, und nach neuen Seh- und Seinsweisen des Glaubens verlangt. Vgl. a.a.O., 120. 415 416
Vgl. a.a.O., 223. Siehe auch NIPKOW, Wachstum, 178.
Vgl. KARL ERNST NIPKOW, Geleitwort, in: JAMES FOWLER, Stufen des Glaubens. Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn, Gütersloh 1991, 9-12, 9f. Fowler schilderte die Wirkungsgeschichte seines Buches bis 1991: Zwanzig Auflagen in Nordamerika, australische, koreanische und portugiesische Übersetzungen, kürzere Zusammenfassungen von dänischen, schwedischen, indonesischen und britischen Kollegen. »In den Vereinigten Staaten wurde es zu einem Lehrbuch katholischer, protestantischer (auch evangelikaler) und jüdischer Hochschulen und Seminare. Es findet weithin auch in Kursen der klinischen Seelsorgeausbildung Verwendung.« FOWLER, Vorwort, 15. Nipkow kommentierte: »In den von Jean Piaget angestoßenen und mitbegründeten Forschungen zur kognitivstrukturellen Entwicklung standen bisher andere entwicklungspsychologische Sachverhalte im Vordergrund, die der Denkentwicklung, der Sprachentwicklung und der Entwicklung des kindlichen Weltbildes sowie des moralischen Urteils; der letzte Bereich wurde das Hauptarbeitsfeld Lawrence Kohlbergs. Innerhalb derselben theoretischen Schule hat sich der religiösen Thematik noch Fritz Oser zugewandt, in Konzentration auf die Entwicklung des religiösen Urteils, bzw. Denkens. Fowlers Ansatz ist gegenüber allen genannten Ansätzen breiter.« NIPKOW, Geleitwort, 9f. Fowler führte die öffentliche Beachtung seiner Studie auf mehrere Gründe zurück: die Aufarbeitung der Frage nach dem Glauben im Sinne eines anthropologischen Grundphänomens des Sinnschaffens und der damit ermöglichten Legitimation der Erforschung der Religiosität als sozialwissenschaftlich-empirisches Thema, das Aufgreifen der Metapher der Entwicklung, die Möglichkeit, mithilfe seiner Theorie, die Aneignung religiöser Traditionen durch Personen und Gruppen zu bewerten. Vgl. FOWLER, Vorwort, 15ff. Fowler ergänzte, dass sein Buch umfassende Darstellungen zu Erikson, Piaget und Kohlberg enthalte und es daher für vielerlei Ausbildungen interessant sei. Außerdem lieferten die Glaubensstufen ein Gerüst zur Bewertung und Korrektur von Lehrplänen und pädagogischen Zugängen. »Wie schon Piagets und Kohlbergs Theorien führt auch der Gedanke der Glaubensentwicklung Lehrer zu einer neuen Qualität des Hörens und der Aufmerksamkeit darauf, wie ihre Schüler Sinn konstruieren oder finden. Er fördert auch das Bewußtsein für die konstruktive Rolle der Einbildungskraft einer Person, ihrer Aneignung von Symbol und Mythos und für die Integration persönlicher Erfahrung in den Glauben.« Auch für Seelsorger sei seine Modellvorstellung hilfreich geworden: »Für eine Disziplin, die nun ihre überkommene Feindseligkeit oder Ignoranz gegenüber Glaubensangelegenheiten
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
113
Schnell avancierte es zum »Klassiker«.417 Der deutschen Ausgabe von 1991 setzte Nipkow ein Geleitwort voran.418 Er selbst hatte den Autor und das
ablegt, scheint der Ansatz der Glaubensentwicklung die Methoden und die Sprache bereitzustellen, um diesen Bereich der Persönlichkeit anzusprechen.« Außerdem sei seine Theorie ein »Gerüst der Erinnerung«, ein »Rahmen zur Erforschung und Wiederaneignung von Erfahrungen und Beziehungen aus Epochen der eigenen Vergangenheit.« Viele Rezipienten der Theorie seien insbesondere von der Vorstellung fasziniert gewesen, dass es ein Ziel religiöser Entwicklung geben könnte, ein »Ziel menschlicher Entwicklung im Glauben.« Ebd. 417
Wolfgang Huber erzählt: »Als ich 1989 für ein Semester Gastprofessor an der Emory University war, begegnete mir Jim Fowler als eine der markanten, ja herausragenden Gestalten dieser Fakultät. (…) Seine ›stages of Faith‹ waren zu jenem Zeitpunkt zwar noch nicht ins Deutsche übersetzt, aber in Amerika schon längst als Klassiker anerkannt.« WOLFGANG HUBER, Vorwort, in: GABRIELE KLAPPENECKER, Glaubensentwicklung und Lebensgeschichte. Eine Auseinandersetzung mit der Ethik James W. Fowlers, zugleich ein Beitrag zur Rezeption von H. Richard Niebuhr, Lawrence Kohlberg und Erik H. Erikson, Stuttgart 1998, 15-16, 15. 418
Er betonte darin die Bedeutung des Werkes insbesondere auch auf den Gebieten der Seelsorge, der kirchlichen Erwachsenenbildung und der Religionspädagogik einschließlich der Gemeindepädagogik. Vgl. NIPKOW, Geleitwort, 9. Er nennt Fowlers Ansatz ›differenziert durchdacht‹ und ›umfänglich empirisch überprüft‹. Fowler stehe insbesondere auf dem Stand der neueren Entwicklungspsychologie, weil der Zuschnitt des Modells die gesamte Lebensspanne mit in den Blick fasse. »Aus dem Gesamtumkreis der Entwicklungspsychologie nahm man bezeichnenderweise zunächst eher Erkenntnisse aus den verschiedenen tiefenpsychologischen Schulen auf; neben CG. Jung wurde vor allem E.H. Erikson ein vielzitierter Autor. Seine sozialpsychologische Fortentwicklung der triebtheoretischen Hypothesen S. Freuds half beispielsweise, die Bedeutung des Grundvertrauens in der Kindheit und die Probleme der Identitätsentwicklung im Jugendalter angemessener zu erkennen. Nur vereinzelt bezogen sich Veröffentlichungen auch auf J. Piaget, den Begründer der kognitiv-strukturellen Entwicklungspsychologie, und in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre auf L. Kohlberg. Immerhin traten Ende des Jahrzehnts die Fragestellungen dieser entwicklungspsychologischen Schule immer stärker ins Bewußtsein, und es wurde deutlich, daß Entwicklung weder nur biologistisch noch hauptsächlich als eine Form sozialen Lernens aufgefaßt werden kann. … In dieser Situation war es ein Glücksfall, daß mit Fowlers Buch die religionspädagogische Diskussion auf ganz neue Weise bereichert und pädagogisch wie theologisch herausgefordert wurde. Fowlers Ansatz ist in der westdeutschen Religionspädigogik schon im Jahr darauf einbezogen worden.« A.a.O., 11. »Vor dem Erscheinen der bahnbrechenden Bücher von Fowler und Oser mussten Rückfragen von Studierenden nach einschlägigen Veröffentlichungen in der Regel mit dem Verweis auf allgemeine entwicklungspsychologische Gesamtdarstellungen beantwortet werden, die die religiöse Entwicklung meist kaum berührten.« A.a.O., 10.
114
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Buch schon unmittelbar nach Erscheinen des Werkes in den USA kennengelernt.419 Fowler nannte ihn und Friedrich Schweitzer seine entscheidenden Brückenbauer nach Deutschland.420 Sie widmeten Fowlers Fragen einen Kongress421 und verbreiteten seine Theorie als bedeutungsvoll für die Religionspädagogik422 , Kybernetik und die gesamte (Praktische) Theologie.
419
Vgl. KARL ERNST NIPKOW, Religionspädagogik zwischen Theologie und Pädagogik, Kirche und Gesellschaft, in: RAINER LACHMANN/HORST F. RUPP (Hrsg.), Lebensweg als religiöse Erziehung: Religionspädagogik als Autobiographie, Bd 2, Weinheim 1989, 215-233, 226ff. 420
Vgl. FOWLER, Vorwort, 15.
421
Ergebnisse in KARL ERNST NIPKOW u.a., Glaubensentwicklung und Erziehung, Gütersloh 21989. Nipkow: »Ich hatte Fowlers inzwischen sehr bekannt gewordenes Buch ›Stages of Faith‹ von 1981 unmittelbar nach Erscheinen in den USA kennengelernt und in meinem dritten Band der Grundfragen nicht ohne Vorbehalte gegenüber den anthropologischen Voraussetzungen dieser Richtung überhaupt und gegenüber dem Stufendenken im besonderen rezipiert. Inzwischen ist eine breitere Diskussion auch in der Bundesrepublik angelaufen, die jedoch zu genauerer kritischer Prüfung zwang. Darum haben Friedrich Schweitzer und ich im Sommer 1987 in TübingenBlaubeuren ein Symposion mit Fowler und Oser durchgeführt. ... Religionspädagogik, die sich auch – nicht ausschließlich – am Generationenproblem und am ganzen Lebenslauf des einzelnen orientiert und die danach fragt, wie die Generationen untereinander zu einer gemeinsamen Zeit finden, braucht die Ergebnisse von Entwicklungspsychologie und Lebenslaufforschung.« NIPKOW, Religionspädagogik zwischen Theologie und Pädagogik, 228. 422
Im 1986 veröffentlichten Grundsatzbeitrag im Jahrbuch für Religionspädagogik machte Nipkow deutlich, dass er den Entwurf Fowlers in seiner Intention, der Vermittlung von Entwicklungspsychologie und Theologie für wichtig hält, als Beitrag für die gerade neu entdeckte Notwendigkeit der Beachtung der dritten großen Dimension der Religionspädagogik (Gesellschaft, Kirche/Christentum sowie Lebensalltag/Lebenslauf der einzelnen Menschen.) Vgl. KARL ERNST NIPKOW, Lebensgeschichte und religiöse Lebenslinie. Zur Bedeutung der Dimension des Lebenslaufs in der Praktischen Theologie und Religionspädagogik, Jahrbuch für Religionspädagogik 1986, 3-35, 4f. Zugleich plädierte er für eine kritisch-reflektierte Aufnahme in die Religionspädagogik: »Die Theorien zur religiösen Entwicklung verwenden entsprechend nichttheologische Schlüsselbegriffe (z.B. Identität bei R. Preul und vielen anderen) sowie breit anwendbare Bezeichnungen für Gottesbeziehung (Mensch»Ultimates«, F. Oser) und Glauben (»faith« als »Lebensglaube« des Menschen überhaupt bei J. W. Fowler, Übersetzungsvorschlag des Vfs.). Wenn diese ›Konstrukte‹ trotzdem auf die christliche Gotteserfahrung angewendet werden sollen, wird eine Vielzahl systematischer Probleme aufgeworfen. … Erst ihre Prüfung erlaubt eine reflektierte praktische Anwendung, die gleichzeitig theologischen, pädagogischen und sozialwissenschaftlichen Kriterien gerecht wird.« A.a.O., 4.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
115
Trotz der offensichtlichen methodistischen Einfärbung dieser Theorie423 und der vielerorts herausgearbeiteten Kritik an Fowler424 , wurde sein Buch viele Jahrzente lang insbesondere in der deutschsprachigen Religionspädagogik aufgegriffen.425 423
Spätestens bei Stufe sechs festigt sich der Verdacht, dass hier eine theologische Theorie gepredigt wird als Entwicklung des frommen Bewusstseins, wie sie dem methodistischen Denker Fowler vorschwebt: »Es ist meine Überzeugung, daß die Menschen, die dazu gelangen, den universalisierenden Glauben zu verkörpern, durch Gottes Vorsehung und die Anforderung der Geschichte in diese Formen des Engagements und der Führerschaft hineingezogen werden. Es ist, als würden sie von dem großen Schmied der Geschichte ausgewählt, glühend gemacht in den Feuern des Aufruhrs und der Leiden und dann auf dem harten Amboß des Streits und des Kampfes in brauchbare Form gehämmert.« FOLWER, Stufen, 200. In einer breit angelegten Untersuchung betont Klappenecker jedoch immer wieder, dass das theologische Denken Fowlers auch lutherisch nachvollziehbar sei, ja dass »Fowlers Stufenmodell … in der Sprache der Sozialwissenschaften ein Stück Rechtfertigungstheologie zum Ausdruck« brächte. Vgl. KLAPPENECKER, Glaubensentwicklung, 189. Sie erklärt: »Zu Fowlers Verteidigung ist also festzustellen, daß er das Reich Gottes weniger zum Telos allein menschlicher Anstrengung erklärt hat, als es die Kritik nahelegt. Vielmehr hat er diese Kritik aufgenommen, bearbeitet und ist sich der Kontingenz der Gnade in jedem Entwicklungsabschnitt bewusst.« A.a.O., 191. »Unwidersprochen muß die Kritik an Fowlers Stufenmodell bleiben in bezug auf ihren Hinweis auf synergistische Tendenzen in seiner Theologie und im Hinblick darauf, daß das Stufenmodell an sich, insbesondere jedoch in der von Fowler nie ganz aufgegebenen kognitiv-strukturellen Lesart, Leistungsimplikationen mit sich bringt.« A.a.O., 200. 424
Die Kritik an Fowler sei in folgenden Stichworten notiert: Leistungsimplikation, Gewinngeschichte, Zielrichtung auf einen idealistischen Zustand, machtvolle Vereinnahmung menschlicher Entwicklung, Hybris religionspädagogischer Machbarkeit, vergessene Frauenperspektive, kulturreligiöse Normierung, methodische Schwächen. (Für seine letzten Stufen kann Fowler nur wenige Befunde und Interviews vorweisen und greift zur Beschreibung stattdessen auf Personen wie Gandhi oder Jesus zurück. Für Stufe 6 führt Fowler gerade einmal eine Interviewperson an, für Stufe 5 sind es 25.) Querschnittsstudie, keine Längsschnittstudien, Beschreibung in christlicher Terminologie, Zusammensetzung des Forschungssample vor allem aus Gläubigen jüdischer/christlicher Religionen, Fowlers faith-Begriff unsinnig in Form und Inhalt getrennt, religiöser und kultureller Imperialismus. Vgl. FOLWER, Stufen, 224. 425
Ein Indiz dafür, dass die akademische Theologie im Dialog mit der Entwicklungspsychologie weitgehend auf dem Stand Fowler verharrte, lieferte das Standardlexikon »Religion in Geschichte und Gegenwart« in seiner 4. Auflage. Den Artikel über Entwicklungspsychologie verfasste dort Fowler selbst, beendete seinen Abriss bei seinen eignen Forschungen und verwies auf keinerlei neuere Ansätze oder Ergebnisse der theologischen Auseinandersetzung mit der Entwicklungspsychologie. Vgl. JAMES FOWLER, Entwicklung, psychologisch, religionspsychologisch, in: HANS DIETER BETZ, u.a. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd 2 C-E, Tübingen 41999, Sp. 1337-1338. Zur Aufnahme Fowlers insbesondere in der deutschsprachigen Religionspädagogik, der
116
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Für den großen Erfolg dieser Theoriebildung mag von Bedeutung sein, dass Fowlers Buch veröffentlicht wurde, als das Thema Glaube als Frage des Individuums mit seinem Bedürfnis nach Reflexion der eigenen Lebensgeschichte in den 1990er Jahren nach Enttraditionalisierung und Entkirchlichung der 1970er und 1980er Jahre426 aus dem Schatten der Christentumskritik als Institutionenkritik hervorgeholt werden konnte.427 Fowler bot eine Möglichkeit, über die Schwierigkeiten religiöser Erziehung nicht nur psychologisch zu reflektieren. Er schilderte vielmehr erstmals ein positives Gegenbild zu einem weithin pathologisierten Glaubensverständnis dieser Jahrzehnte428 und sah das Reden über die religiöse Entwicklung nicht nur als schmerzhaftes Aufspüren erzieherischer Unterdrückungsstrukturen.429 Religionspsychologie und der Kybernetik der 1980er und 1990er Jahre vgl. auch KLAPPENECKER, Glaubensentwicklung, 18f. 426
NIPKOW, Religionpädagogik zwischen Theologie und Pädagogik, 221: »Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre sah sich die Kirche einigermaßen bestürzt gleich mehreren kritischen Herausforderungen zur selben Zeit ausgesetzt: Abmeldungswellen im Religionsunterricht, der Bestreitung des Existenzrechts des Fachs von links und seines -sinns von rechts aus eigenen frommen Kreisen, curricularen Reformen und organisatorischen Neuordnungen (besonders der Sekundarstufe II), insgesamt Ansätzen zu einer umfassenden staatlichen »Bildungsplanung« vom Elementar- bis Tertiärbereich. Es ist verständlich, daß nicht nur kirchliche Kommissionsarbeit zur Konsolidierung des Religionsunterrichts geboten schien, war er doch zum besonderen Ernstfall kirchlicher Bildungspolitik« geworden (so noch Martin 1984), sondern daß wir auch im Hochschulbereich zeitweise in drei vom Ev. Theol. Fakultätentag mitgetragenen Kommissionen nebeneinander die entsprechenden Probleme aufzuarbeiten versuchten (Grundsatzkommission, Gemischte Kommission, Kommission zur Reform der Religionslehrerausbildung).« 427
Nipkow verstand das Erwachen des Interesses an der Entwicklungspsychologie in der Theologie als »Antwort auf den gesellschaftlichen Wertwandel und das Generationenproblem, kirchlich und christentumsgeschichtlich gesehen im Interesse an der Kirche als gemeindepädagogisch und ökumenisch herausgeforderter Lerngemeinschaft, individuell bzw. individualgeschichtlich gesehen bei der Umkehr des Lehr/Lernverhältnisses zwischen Kindern und Erwachsenen im Sinne Jesu.« NIPKOW, Lebensgeschichte und religiöse Lebenslinie, 10f. 428
1976 veröffentliche Tilmann Moser sein Buch »Gottesvergiftung«. Dort notiert er in seinem Gespräch mit Gott: »Ich weiß, du hast nach mageren Jahren zur Zeit eher wieder Hochkonjunktur, und es könnte unfair scheinen, gerade jetzt mit dir eine kleine Abrechnung zu halten. Ich kann aber nichts dafür, wenn ich so unerhört lange gebraucht habe, dich zu durchschauen. Wie gesagt, ich hielt dich für verwest, bis ich entdeckte, dass du als Krankheit in mir weiterlebst.« TILMANN MOSER, Gottesvergiftung, Frankfurt a.M. 1976, 16f. 429
An diesem Punkt ähneln sich Fowler und die Rostocker Forscherin Szagun (s.u.). Beide berichten davon, dass von ihren Interviewpartner betont wurde, wie schön
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
117
Außerdem bot Fowlers Theorie die Möglichkeit, Theologie und Sozialwissenschaften zu verbinden, so dass der Theologie damit ein Sprachgewinn zuwachsen konnte – ein Anliegen insbesondere der Pastoralpsychologien der 1990er Jahre.430 Außerdem traf Fowlers Werk auf ein Forschungsdesiderat: Während die allgemeine Entwicklungspsychologie ihr Interesse auf die gesamte Lebensphase, besonders auch auf die »vergessenen Jahre« und »die Zeit der stillen Reise«431 zwischen 30 und 60 ausdehnte, vernachlässigten »die meisten der … Werke zur Lebenslaufforschung … so gut wie ganz die Religion und den Glauben der Erwachsenen in den untersuchten Lebensläufen.«432 Mit Fowlers Theorie umfasste eine Modellvorstellung zum religiösen Glaubenslebenslauf innerhalb der Theologie erstmals explizit alle Lebensalter, fragte über Kindheit und Jugend hinaus auch nach den Erwachsenen.433 Trotz des bei Fowler eigentlich wenig zufriedenstellenden Zuschnitts der Phase des Erwachsenenseins erschien seine Lebensspannenorientierung als »überfällige«434 Theoriebildung. Sie erinnerte in der Theologie, alle
gewesen war, einmal über die eigene religiöse Dynamik befragt zu werden: »Etwa neunzig Prozent unserer Probanden sagen nach zweieinhalb Stunden anstrengendem Interview und Untersuchung: ›Vielen Dank für die Erfahrung dieses Interviews. Ich hatte noch nie Gelegenheit, über diese Dinge zu reden!‹« Vgl. FOWLER, Vorwort, 18. 430
Vgl. KLAPPENECKER, Glaubensentwicklung, 187ff. Sie verweist z.B. auf Joachim Scharfenberg und Richard Riess. 431
HENRY C. SIMSONS, The Quiet Journey: Psychological Development and Religious Growth from Ages Thirty to Sixty, in Religious Education LXXI 1976, 2, 132ff. 432
Z.B. Levinson und Gould. Vgl. NIPKOW, Wachstum des Glaubens, 164.
433
Das Verständnis der Lebensphase des Erwachsenseins hatte – angelegt im 19. Jahrhundert, greifbar im 20. Jahrhundert – im Zuge eines enormen technologischen Schubes, verbunden mit gestiegener Rationalisierung und der Etablierung der Gleichung »Massenproduktion ist gleich Massenkonsum« einen bipolaren Charakter ausgebildet: die Zweiteilung des Alltagslebens in den Rhythmus von Produktion und Distribution, Arbeit und Freizeit (Familie und Haushalt als wichtige Konsumeinheit). »Der Konsum ist fortan – neben der Erwerbsarbeit, die für seine Finanzierung erforderlich ist – zum biografischen Sinnbezug im Erwachsenen- und Erwerbsalter geworden, je mehr die Rationalisierung, als Aufspaltung und Routinisierung der Arbeitsabläufe, dem Menschen eigene Aneignungs- und Gestaltungsmöglichkeiten verwehrt hat.« BÖHNISCH, Sozialpädagogik, 103. 434
Immerhin war die Rede vom Erwachsenenalter und die Entdeckung der gesamten Lebensphase als Thema der Entwicklungspsychologie schon jahrzehntelang etabliert – aber in der Theologie nicht angekommen! Siehe dazu FALTERMAIER, Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters.
118
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Altersstufen in den Blick zu nehmen und sich nicht mit Modellen der religiösen Entwicklung bis zum Ende der Jugend zufrieden zu geben. Innerhalb des Modells ist die Phase des Alters dabei zu einer merkwürdigen Stufe des Weisheitlichen und des Universalen überhöht. Dies ist wohl als Parallele zu einer allgemeingesellschaftlichen Tendenz zu deuten, nicht nur Ausfluss einer alterskorrelierten methodistischen Theologie der Heiligung: Während im Zuge der Moderne, Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter im Sinne von Entwicklung, Fortschritt und Erwerbsalter »entdeckt« wurden, wurde die Lebensphase des Alters »in einer bis heute spezifischen Weise ausgegrenzt«435 zu einer sozialbiographischen »Restzeit«.436 In den 1980er und 1990er Jahren, der Hoch-Zeit auch der Fowlerrezeption innerhalb der Theologie, findet sich vielfach das Phänomen, dass auf die »urplötzliche Abwertung des Alters« mit einer Glorifizierung seiner imaginären Stellung als weise Erfahrungsautorität in der vorindustriellen Zeit reagiert wird.437 Als zweite auf den ganzen Lebenslauf ausgerichtete – nun aber nicht an Erikson, sondern an Piaget orientierte strukturgenetische Modellvorstellung innerhalb der Theologie veröffentlichten 1982 der Lehrstuhlinhaber für Pädagogik und pädagogische Psychologie (Freiburg) Fritz Oser und der Theologe und Philosoph Paul Gmünder ihre gemeinsame438 Theorie der
435
BÖHNISCH, Sozialpädagogik, 104.
436
Ebd. Das ist die »bis heute andauernde, historische Hypothek, die darin liegt, dass vom Alter in der modernen Industriegesellschaft – bislang – kein eigenständiger gesellschaftlicher Beitrag erwartet wird.« 437
Vgl. LARS TORNSTAM, Gerotranscendence. A Developmental Theory of Positive Aging, New York 2005. 438
»Die beiden Autoren zeichnen gemeinsam für den vorliegenden Band. Die Abfassung der Hauptteile erfolgt in der Tat in Gemeinschaftsarbeit. Einzelne Abschnitte hingegen wurden ausschließlich von einem der beiden Autoren redigiert. … Im übrigen sind sich beide Autoren der Vorläufigkeit so mancher ihrer Formulierungen wohl bewußt. Sie erklärt sich aus dem Umstand, daß gerade der strukturgenetische Ansatz multidisziplinärer Abstützung bedarf. … In der Religionsforschung bedingt der strukturgenetische Ansatz die Zusammenarbeit von Religionshistorikern, Religionspsychologen und -soziologen, von Religionsphilosophen und Theologen. Wenn sich die beiden Autoren, die sich nicht von Anfang an einer solchen Zusammenarbeit versichern konnten, manchmal auf Gebiete vorgewagt haben, für die sie nicht voll zuständig sind, so geschah das im Bewußtsein, daß die strukturgenetische Religionsforschung nicht die Sache einer einzelnen Disziplin sein kann, und mit der Absicht eine interdisziplinäre Diskussion der anstehenden Probleme anzuregen.« FRITZ OSE/PAUL GMÜNDER, Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung. Ein strukturgenetischer Ansatz, Zürich 1984, 14f.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
119
Entwicklung des religiösen Urteils unter der Überschrift »Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung. Ein strukturgenetischer Ansatz«.439 Sie konzentrierte sich darauf, wie die Beziehung zwischen Mensch und Gott oder, allgemeiner formuliert, einem Letztgültigen (Ultimaten) jeweils konstruiert wird. Religiosität verstanden Oser und Gmünder »als besondere, subjektive Form der Lebensbewältigung.«440 Mithilfe sog. Dilemma-Geschichten wurden Kinder, Jugendliche und Erwachsene in semiklinischen Interviews441 herausgefordert, ihr religiöses Urteil zu aktivieren. Oser/Gmünder bestätigten mit den 448 Gesprächsprotokollen – in Anlehnung an die Stufenkonzeption L. Kohlbergs442 , Piagets443 , Meads444 und Fowlers445 – fünf überkonfessionelle Stufen des religiösen Urteils.
439
Ausgangspunkt der Theorie von Oser und Gmünder nannten beide die Beobachtung, dass Menschen in Interviews, die die beiden Forscher seit 1979 durchführten, »nicht nur davon (sprachen), wie sie die Dinge jetzt sahen, sondern wie sie sie vorher gesehen hatten. Diese erlebten Transformationen führten uns zur Frage nach der Entwicklung eines allgemeinen religiösen Urteils.« A.a.O., 9. 440
»Wir haben versucht … vom Subjekt her zu bestimmen: a) Religion als Auseinandersetzung des Menschen mit der Wirklichkeit angesichts eines Letztgültigen, das die gegebene Wirklichkeit transzendiert. Dies wird als Herstellung von „unbedingtem“ Sinn erfahren. b) Den motivatorischen Aspekt haben wir dann vom Begriff der Erfahrung her interpretiert, der kondensierten Erfahrung, die sich in den Strukturen des religiösen Urteils offenbart und in lebensgeschichtlichen Interaktionen gewonnen worden ist.« A.a.O., 9. 441
Vgl. a.a.O., 179ff.
442
Vgl. a.a.O., 9. »Wie Kohlberg den Bereich der Moral, so möchte das vorliegende Projekt den Bereich des Religiösen unter strukturgenetischem Vorzeichen auf einem symboltheoretischen Weg erschließen.« A.a.O., 12. 443
Oser/Gmünder verstehen Piaget mit Holenstein, Maier, Kesselring und anderen als eine fundamentale Transformation modernen Denkens, als Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, die seit Kant als die letzte typisch philosophische Disziplin gelten könne und danach frage, wie mehr Erkenntnis werde. »Im Rahmen des Piagetschen genetischen Strukturalismus wird das Erkenntnissubjekt nicht einfach als etwas so Seiendes, sondern zusätzlich als ein so Gewordenes betrachtet, wobei das Werden das Sein in dem Maße zu erklären vermag, als das Subjekt auf allen seinen Stufen das Resultat der zu ihm führenden Entwicklung ist.« A.a.O., 11. 444
Vgl. A.a.O., 10. George Herbert Mead, US-amerikanischer Philosoph und Psychologe, entwarf u.a. eine Theorie der symbolvermittelten Kommunikation und der Entstehung von Identität und Bewusstsein. Laut Mead entsteht die Identität durch die drei Medien: Sprache, Spiel und Wettkampf. Identität ist ein Prozess, der aus den beiden unterscheidbaren Phasen ›Me‹ und ›I‹ besteht. Im Anschluss an R.L. Fetz und dessen Anknüpfung an Ernst Cassierers Philosophie der symbolischen Formen
120
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Oser und Gmünder verstanden ihre Theorie als »widerspruchsfreies, begrifflich präzisiertes und empirisch überprüftes Strukturgebilde«, das »beschreiben und vorhersagen« könne, »wie die Entwicklung des religiösen Urteils verläuft und zugleich« erkläre, »warum Personen gemäß ihren kognitiven Grenzen Urteile unterschiedlicher Reichweite abgeben.«446 Grundlage der Theorie von Oser und Gmünder ist die Vorstellung, dass sich die religiöse Identität des Menschen447 im Laufe des Lebens durch das denkende, fühlende und handelnde Verarbeiten persönlicher Ereignisse immer höher448 entwickle449 hin zu einer »reifen religiösen Identität«,450 geprägt von »Rationalität und Universalität«451 . »Die Tiefenstruktur religiö-
verstehen Oser/Gmünder den Menschen als animal symbolicum, der mithilfe einer genetischen Semiologie erforscht werden könnte auf die »Heraufkunft aller Symbolformen, ihrem Zusammenhang, ihrer Spezifität und den durch sie repräsentierten Strukturen. … Das scheint uns der universale Rahmen zu sein, in den sich auch alle Religionsphänomene zwanglos einordnen und mit anderen Symbolisierungen des Menschen verbinden lassen. In ein solches Konzept läßt sich auch Meads »symbolischer Interaktionismus« unverkürzt integrieren, wie es unserer Absicht entspricht.« A.a.O., 12f. 445
Diesem danken die Autoren im Vorwort ausdrücklich »für viele Gespräche«, halten sich ansonsten jedoch mit direkten Bezügen zurück. Vgl. a.a.O., 15. 446
A.a.O., 10.
447
Oser/Gmünder gingen davon aus, dass sich jeder Mensch in einer ganz bestimmten Weise zu einem Ultimaten in Beziehung setzt und dass sich die Struktur dieser Beziehung im Laufe des Lebens verändere. Um das religiöse Urteil der Mensch zu beschreiben, arbeiteten sie mit sieben je zweipoligen Dimensionen, nach der sie die Aussagen der Versuchspersonen klassifizieren konnten. Vgl. a.a.O., 31ff. 448
Oser und Gmünder gehen davon aus »daß das Universalitätspotential, das in jeder Religion vorhanden ist, durch subjektive Entwicklung gefördert wird und schließlich die Bedingung der Möglichkeit höherer religiöser Identität darstellt.« FRITZ OSER/PAUL GMÜNDER, Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung. Ein strukturgenetischer Ansatz, Gütersloh 31992, 24. Die Entwicklungsweise beschreiben Oser und Gmünder als psychologische Transformation: Zunächst wird Neues internalisiert und kann schließlich auch kritisch betrachtet, externalisiert werden. Vgl. OSER/GMÜNDER, Der Mensch 1984, 86. Im Alter beobachteten Oser und Gmünder allerdings – entgegen ihrer Hypothesen – einen Strukturabfall, einen Abbau des religiösen Urteils. Vgl. a.a.O., 192. 449
»Ein Kind hat eine fundamental andere religiöse Identität als ein Erwachsener.« A.a.O., 17. 450
Ebd.
451
A.a.O., 18.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
121
ser Identität und die grundsätzliche Entwicklungssequenz« hielten Oser und Gmünder für »universell«.452 Von ihrer Theorie aus forderten Oser und Gmünder die Genetisierung theologischer Aussagen insbesondere in der Praktischen, der Systematischen, vor allem aber in der Biblischen Theologie. Ihre entwicklungspsychologische Modellvorstellung fordere die Frage heraus, »ob die phylogenetische Entwicklung religiösen Denkens der Entwicklung des religiösen Urteils einzelner Personen in einer bestimmten Weise entspricht.«453 Die Erweiterung, die sich Oser und Gmünder als entscheidende Neuerung vorstellten, »müßte grundsätzlich so angestrebt werden, daß das Werden theologischer Systeme als Vergleich ontogenetischer und phylogenetischer Ansätze mitbedacht wird.«454 1996 erschien die fünfte Auflage des Werkes in deutscher Sprache.455 Die Theorie wurde außerdem ins Französische und ins Englische übersetzt. Überall fand sie große Anerkennung. Kritische Einwände bezogen sich auf den universalen Geltungsanspruch. Hinterfragt wurden auch Forschungsparadigma, -konzeption und -methode.456 Eine wesentliche Rolle für die Beachtung der Theorie spielte wohl, dass mithilfe des Oser/Gmünderschen Werkes argumentiert werden konnte, wenn im Klima der 1980er und 1990er Jahre Religion gegen Autonomie, ausgespielt werden sollte.457 Mit Oser/Gmünders Modell war Religiosität ein beherrschbares Anthropologumenon, religiöses Denken 452
OSER/GMÜNDER, Der Mensch 1992, 23. Sie erklären: »Können z.B. ein Tibetaner, ein Dominikaner, ein Atheist usw. eine ähnliche religiöse Tiefenstruktur aufweisen? Gibt es Elemente des religiösen Bewußtseins, die universell sind? Wir postulieren beides.« 453
A.a.O., 274.
454
Ebd.
455
Hier führte zu weit, die doch recht großen Unterschiede der einzelnen Auflagen zu referieren. Insgesamt bleiben Oser und Gmünder bei ihrer Theorie, ändern aber Formulierungen und Darstellungsformen. 456
Vgl. BERNHARD F. HOFMANN, Kognitionspsychologische Stufentheorien und religiöses Lernen. Zur korrelationsdidaktischen Bedeutung der Entwicklungstheorien von J. Piaget, L.Kohlberg und F.Oser/P.Gmünder, Freiburg i.B. 1991, 249ff. 457
Bezeichnenderweise resümiert Hofmann: »Trotz dieser bisher offenen Fragen kann festgehalten werden, daß die Entwicklungstheorie des religiösen Urteils unter Berücksichtigung des kritischen Einwände, die den (von Oser/Gmünder geäußerten) Geltungsanspruch erheblich einschränken, Aufschluß über die Entwicklung der Beziehung zwischen dem Menschen und Ultimatem/Gott gibt und zeigt, daß sich Religion und Autonomie nicht zwangsläufig ausschließen müssen.« A.a.O., 290.
122
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
aus naivem, undifferenziertem Zustand heraus(er)ziehbar zugunsten eines friedlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das machte religiöse Bildungsanstrengungen demokratie-politisch unverzichtbar und unverdächtig. Die Kritik an Fowlers Modellvorstellung traf zunächst gewichtiger als jene an der Oser/Gmünders.458 Die welt- und menschheitsverbesserischen Pointen der onto- und phylogenetischen Analogie von Erikson und Fowler schienen angreifbarer als die scheinbar nüchterneren Analysen stukturgenetischer Denkentwicklung nach der Piagetschen Logik des biogenetischen Gesetzes menschlicher Erkenntnis bei Oser/Gmünder. Beide Theoriebildungen erhielten jedoch den Rang entscheidender Modellvorstellungen zum Glaubenslebenslauf innerhalb der Theologie, begleitet von einem eindrucksvollen Gefolge zahlreicher Einzeluntersuchungen.459 II. 3. 9 Synthetisierende Beschreibungen
Etwa ab Mitte der 1980er Jahre wurde erprobt, die entwicklungspsychologischen Stufenmodelle kritisch miteinander zu synchronisieren und mit Theorien der religiösen Sozialisation und Forschungen zum Symbolverständnis zu ergänzen.460 Dies führte zu »synthetischen Theoriebildungen«,
458
Im Standardwerk zur Entwicklungspsychologie von Oerter/Montada wird Osers Werk breit referiert – während Fowler nur wenig Platz einnimmt. Allerdings mag hierbei eine Rolle spielen, dass Oser selbst diesen Artikel mit verfasste. Vgl. BUCHER/OSER, Entwicklung. 459
Klaus Wegenast postulierte 1993 die Forschungsperspektive der Glaubensentwicklung im Sinne der Subjektorientierung für so wichtig, dass »sie die Religionspädagogik noch für Jahre in Atem halten wird.« KLAUS WEGENAST, Religionsdidaktik Sekundarstufe I. Voraussetzungen, Formen, Begründungen, Materialien, Stuttgart 1993, 44. Oser und Gmünders Strukturen religiösen Urteils werden besonders dann gerne aufgenommen, wenn nach einem überindividuellen Raster für religiöse Denkweisen gesucht wird. Vgl. z.B. ULRIKE SLEZAK, Religiöse Erziehung. Biographische Studien im Horizont der Stufentheorie nach Oser/Gmünder und religionspädagogische Konsequenzen, Kassel 2008. In recht symptomatischer Weise kommt sie zu jenem Ergebnis – das sich oft einstellt – dass die Methode allein nicht zu umfassenden Ergebnissen führt, da oft weitere Aspekte hinzugezogen werden müssen: »Die strukturgenetische Methode bietet prinzipiell gute Ansätze hinsichtlich der Vergleichbarkeit religiöser Grundelemente. Das Abstrahieren von konkreten, gegenständlichen Aussagen hin zu Strukturen ermöglicht globale Erkenntnisse. Die Transformationen, die Übergänge von einer Stufe zur nächsten, beinhalten wiederum interessante Einblicke.« A.a.O. 112. 460
Vgl. FRIEDRICH SCHWEITZER u.a., Religionsunterricht und Entwicklungspsychologie. Elementarisierung in der Praxis, Gütersloh 1995, 158. Siehe auch FRIEDRICH
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
123
die für die einzelnen Lebensphasen entwicklungspsychologisches und soziologisches Wissen präsentieren.461 Dabei wurden Ergebnisse und Kritik an den Stufenmodellen aus der speziellen Erforschung einzelner Lebensphasen aufgenommen. Darstellungsraster waren die Lebensabschnitte: Kindheit – Jugend – frühes Erwachsenenalter – höheres Erwachsenenalter. Dieses wurde mit passenden Erkenntnissen unterschiedlicher Theoriebildungen aufgefüttert. 462 Solche Sammlungen empirischer Forschungsergebnisse als entwicklungspsychologisch-soziologisch-pädagogische Informationen innerhalb der Theologie sollten explizit keine konsistent zusammenhängende Modellvorstellung mehr sein.463 Ihre Glaubenslebenslauf-Imagination konzentriert sich vielmehr auf das gesellschaftlich und biologisch vorfindliche Muster der Lebensalter, bestückt mit Einzelergebnissen zur Religiosität des Menschen: In Übersichtstabellen legte Friedrich Schweitzer in seinem weitverbreiteten religionspädagogischen Lehrbuch »Lebensgeschichte und Religion« Modelle synthetisierend aneinander.464 Dabei erschienen die Klassiker (Freud, Erikson, Piaget, Kohlberg, Oser/Gmünder und Fowler) als beson-
SCHWEITZER, Zwischen Theologie und Praxis – Unterrichtsvorbereitung und das Problem der Lehrbarkeit von Religion, in: Jahrbuch der Religionspädagogik 7, 1991, 3-41, FRIEDRICH SCHWEITZER, Lebensgeschichte und Religion: religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindes und Jugendalter, München 1987, 21991, 41999, Gütersloh 5 2004, 62007 und Schweitzer, Religion des Kindes. 461
Vgl. SCHWEITZER, Lebensgeschichte und HANS-JÜRGEN FRAAS, Die Religiosität des Menschen. Ein Grundriß der Religionspsychologie, Göttingen 1990, 21993. 462
Vgl. NIPKOW, Wachstum des Glaubens, 177ff.
463
Schweitzer erläutert in seinem 1987 zum ersten Mal erschienenen Werk »Lebensgeschichte und Religion« symptomatisch: »Wenn ich im folgenden die religiöse Entwicklung im Kindes- und Jugendalter darzustellen suche, so kommt es mir entscheidend darauf an, den Leser nicht nur mit einer der heute verfügbaren Theorien vertraut zu machen. An einer solchen Festlegung auf nur eine Deutung und auf nur eine Sicht leiden die meisten der bisher vorliegenden Darstellungen. Versucht werden soll statt dessen, von den lebensgeschichtlichen Erfahrungen, wie sie im autobiographischen Berichten zu finden sind, auszugehen und zu einer mehrperspektivischen Deutung der religiösen Entwicklung zu gelangen. Erst ein solcher Zugang, der die Erkenntnisse mehrerer Theorien miteinander verbindet und unterschiedliche Blickwinkel zu nutzen versucht, kann der lebensgeschichtlichen Erfahrung in ihrem Reichtum der Aspekte und Beziehungen auch nur annähernd gerecht werden.« SCHWEITZER, Lebensgeschichte, 10. 464
Vgl. a.a.O., 196.
124
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
ders ertragreich.465 Aus ihren Theoriebausteinen entstand auf diese Weise ein addiertes Bild von Glaubenslebenslauf-Phasen. Die Aspekte sind eklektisch (ohne dass die Auswahlkriterien wirklich deutlich sind), harmonisierend ineinander verschmolzen.466 Entsprechend arbeitete Hans-Jürgen Fraas in seinem 1990 veröffentlichten Werk »Die Religiosität des Menschen. Religionspsychologie«. Er überschrieb seinen materialiter größten Abschnitt mit »Genetischer Teil – die lebensgeschichtliche Entfaltung der Persönlichkeit.«467 In seiner Schilderung der Lebensabschnitte finden sich Thesen Eriksons, Fowlers, Piagets neben vielen psychologischen und psychoanalytischen Einzelerträgen der Psychologie und Soziologie, die er ehrgeizig zusammentrug.468 Fraas benannte als leitende Grundkategorie der religiösen Entwicklung ›Autonomiegewinn‹. Das Individuum lebt in Phänomenen der Einbindung und Ausgrenzung seiner Umwelt, in deren dreifachem Sinn von Gegenständlichkeit, sozialen Beziehungen und Umgreifendem. Der Glaubenslebenslauf sei Teil eines Prozesses, in dem das Individuum sich selbst findet, dieses Verhältnis zunehmend symbolisch ausformt.469 »Nicht der Glaube entwickelt sich, wohl aber der gläubige Mensch in seinen Lebensformen, seinen Ausdrucksweisen, seinem Vorstellungsvermögen.«470 Fraas äußerte die Hoffnung, dass in Zukunft immer besser möglich sein könnte, durch mittel- und langfristige Arbeiten, Längsschnitt-, Feldanalysen und Fallschilderungen »im Laufe der Zeit ein geschlosseneres Bild zu geben.«471 Bis dahin ist sein Werk der Versuch einer puzzleartigen Darstellung der Ontogenese der religiösen Persönlichkeit. Als drittes Beispiel multiperspektivischer (entwicklungspsychologischer und soziologischer) Ergebnissammlungen zu den Lebensaltern innerhalb der Theologie sei noch auf Anton Buchers Texte im Standard-
465
Insbesondere a.a.O., 176 Eriksons und Fowlers Modell. Vgl. a.a.O., 191ff.
466
Besonders deutlich ist dies im Kapitel zur Entwicklung des Gottesbildes. Hier werden addiert: Fowler, Oser/Gmünder, Rizzuto und viele andere. Widersprüche werden dabei nicht herausgearbeitet, vielmehr summieren sich die Ergebnisse zu einem von Schweitzer zusammengesetzten Bild. Vgl. Schweitzer, Lebensgeschichte 1987, 202ff. 467
FRAAS, Die Religiosität 1990, 157.
468
Vgl. FRAAS, Die Religiosität 1993, z.B. 164f, 280.
469
Vgl. a.a.O., 157.
470
FRAAS, Die Religiosität 1990, 52.
471
FRAAS, Die Religiosität 1993, 157.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
125
werk der Entwicklungspsychologie472 und seinem Handbuch zur Spiritualität473 verwiesen. Er notiert in der für diese Art der Aufnahme entwicklungspsychologischer Theorien innerhalb der Theologie typischen, sachlich-fachkundigen Manier: »Die bisher geschilderten Entwicklungsmodelle der Spiritualität erwiesen sich in vielem als spekulativ.« Er biete, »was an ›harten‹ empirischen Fakten zur spirituellen Entwicklung in den verschiedenen Lebensphasen vorliegt.« Die Gliederung »folgt dem Lebenslauf. Aufgenommen werden sowohl qualitative Studien, speziell biographische, als auch quantitative.«474 Zur Frage der theistischen Spiritualität hält Bucher noch 2007 sowohl Fowler als auch Oser/Gmünder für »von hoher Bedeutung«.475 Er plädiert aber auch dafür, »Spiritualität … so vorurteilslos wie möglich wahrzunehmen und sie nicht vorschnell in theoretische Konzepte oder Stufenschemen zu zwängen.«476 II. 3. 10 Zwischen Abwehr und Verstärkung der paradigmatischen
Imagination Unterdessen differenzierte sich die Landschaft der Einzeluntersuchungen zu den Lebensaltern weiter. Den jeweiligen Spezialisten lag ferne, ihre Erkenntnisse über eine spezielle Lebensphase in ein Modell vom gesamten Lebenslauf einzutragen. Hinter dieser zunehmenden Zurückhaltung gegenüber Gesamtmodellvorstellungen stand wohl auch die Beobachtung, dass die Forschungsdisziplin ›Entwicklungspsychologie‹ selbst sich inzwischen in ein weites, »ökologisch-differentiell« orientiertes Feld mit großem Selbstbewusstsein wandelte und eine kaum zu bewältigende Fülle an Einzelergebnissen und Diskursen hervorbrachte.477 472
Vgl. BUCHER/OSER, Entwicklung, 615-624.
473
Vgl. ANTON A. BUCHER, Psychologie der Spiritualität. Handbuch, Basel 2007.
474
A.a.O., 74.
475
A.a.O., 71.
476
A.a.O., 78. Er äußert dies besonders im Blick auf Kinder.
477
Als Kernannahmen der differentiellen und ökologischen Entwicklungspsychologie gelten: Das Forschungsanliegen betrifft die gesamte Lebensspanne. Viele differentielle Entwicklungen, Sonderentwicklungen, sind zu untersuchen. Eine „Normal-“ Entwicklungspsychologie gibt es eigentlich nicht. Entwicklung wird auch als Verlust und Einschränkung verstanden. Die Forschung fragt nach den Voraussetzungen von Entwicklungen und nach Folgeentwicklungen bei Defiziten. Die differentielle Entwicklungspsychologie lebt von der Zusammenarbeit vieler Disziplinen, erforscht die Auswirkungen von Einflussfaktoren, die Wechselwirkung von Individuum und Umwelt. Immer wieder wird die sogenannte Anlage-Umwelt-Debatte, zur Bedeutung der Umwelt, des Genotyps, des Lebensmilieus etc. geführt. Vgl. LEO MONTADA, Fragen,
126
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Die inzwischen in der Religionspädagogik zum Klassiker gewordenen strukturgenetischen Theorien – mal mehr Fowlerscher (Erikson), mal mehr Oser/Gmünderscher (Piaget) Coleur – blieben das Geländer für die Theologie. Auch wenn in additiven Darstellungen keine einzelne Stufenvorstellung präferiert wurden – eine direkte Absage erfolgte auf theologischakademisch anerkannten Niveau erst jetzt: um den Jahrtausendwechsel.478 Was dann blieb, waren aufwändige Einzeluntersuchungen zu einzelnen Kohorten (die heute Jugendlichen, die heute Alten) mit höchst differentieller und ökologischer Perspektive479 – und ohne den Anspruch, die religiöse Entwicklung des Einzelnen umfassend skizzieren zu können. So plädierte Heinz Streib dafür, Stile des Zugangs und Umgangs mit Religion wissenschaftlich zu erforschen und zu unterscheiden480 (und für die religionspädagogischen Aufgaben zu nutzen) – aber sich dabei explizit von einer Entwicklungslogik zu verabschieden.481 Die Rede von Stilen oder Schemata habe den Vorteil, dass nicht ein »besser«- oder »schlechter«Konzepte, Perspektiven, in: ROLF OERTER/LEO MONTADA, Entwicklungspsychologie, Weinheim/Basel 62008, 3-48, 5f. 478
Streib notiert: »Zu lange haben wir die kognitiv-strukturellen Entwürfe, besonders die von Kohlberg, Fowler und Oser, als empirisch abgesichtere und kaum anfechtbare Theorien genommen und nicht als das, was sie allein beanspruchen dürfen: Modelle, deren Validität wir nicht voraussetzen können und die je überprüft werden muss, nicht zuletzt von der Psychologie.« STREIB, Kinder, 51. Die Plausibilität einer invariant-unidirektionalen, irreversiblen, strukturalisitsch-ganzheitlichen, hierarchisch angeordneten und universal gültigen Stufenfolge der Entwicklung sei »erheblich gesunken.« Ebd. 479
Zur ökologischen Perspektive vgl. auch die Forschungen Schwabs zur Entwicklung der Religiosität innerhalb von Familien auf dem Land und in der Stadt. Vgl. ULRICH SCHWAB, Familienreligiosität. Religiöse Traditionen im Prozeß der Generationen, Stuttgart 1995. 480
Erste Vorschläge, die unter Hintanstellung der entwicklungspsychologischen Prämissen mit Begriffen von »Schema« und »Stil« arbeiten wollen stünden nach Streib bereits zur Diskussion. Vgl. STREIB, Kinder, 51, FN 47. Siehe auch HEINZ STREIB, Faith Development Theory Revisted: The Religious Styles Perspective, in: International Journal for the Psychology of Religion 11 (2001), 143-158 und HEINZ STREIB, Faith Development Research Revisted: Accounting for Diversity in Structure, Content and Narrativity of Faith, in: International Journal for the psychology of Religion 15 (2005), 99-121. 481
Vgl. STREIB, Kinder, 51. Das Piagetsche Zusammenspiel von Assimilation und Akkomodation könne man auch für unterschiedliche Zugangsmuster aufgreifen – allerdings ohne jede hierarchische Stufenfolge. Vgl. a.a.O., 52. Es sei wichtig auf diese Weise, die komplexe Felddynamik lebensgeschichtlicher Veränderung gerade im Blick auf die religiöse Entwicklung zu erfassen, weil damit auch die kreative Bedeutung der Entdeckung von neuen Geschichten und Symbolen Raum fände. Ebd.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
127
Urteil transportiert werde, sondern die Wahrnehmungsfähigkeit für individuelle Unterschiede geschult werde.482 Anna-Katharina Szagun483 löste mit ihrer Kritik an den gängigen wissenschaftlichen Modellen484 weitere Diskussionen aus.485 Sie plädierte
482
Vgl. a.a.O., 53. Umso deutlicher fordert er die Absage an die bisherigen entwicklungspsychologischen Modellvorstellungen innerhalb der Theologie: »Sind wir nicht … oft genug in Gefahr, Kindern und Jugendlichen die Übernahme eines Stils oder einer Kompetenz nur darum nicht zuzutrauen, weil die Entwicklungsmodelle das nicht vorsehen?« Ebd. Siehe auch seine entsprechende Kritik in HEINZ STREIB, Extending Our Vision of Developmental Growth and Engaging in Empirical Scrutiny. Proposals for the Future of Faith Development Theory, In: Religious Education 99 (2004), 427-434. 483
Sie schildert ihre eigene Lebensgeschichte als »vielfach gebrochene Biographie.« Ein dogmatisch vergittertes Gottesbild führte sie in eine tiefe Krise, die sie durch Psychoanalyse aufarbeitete. Die Begegnung mit Dorothee Solle stärkte sie für einen neuen Umgang mit biblischen Texten. In den 1970er Jahren kamen ihr als Mutter von fünf Kindern Zweifel an den Theorien von Piaget und Kohlberg. Seit den 1980er Jahren arbeitete sie mit Materialcollagen zu Metaphern für Gott »zur Ermittlung der Lernausgangslage (diagnostisch) als auch zur Kommunikation (unterrichtsmethodisch) der unterschiedlichen Perspektiven auf Gott.« Vgl. ANNA-KATHARINA SZAGUN, Dem Sprachlosen Sprache verleihen. Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachsen, Jena 2006, 21ff. 484
Ihre Kritik richtet sie vor allem auf die Modelle Osers und Fowlers aus. Entwicklungspsychologisch kommentiert sie, dass diese Theorien als Ergebnisse früherer Jahrzehnte unter den Bedingungen gewandelter Kindheit und Gesellschaft neu überprüft werden müssen und dass die Forschungskonzepte von Fowler und Oser/Gmünder auf Erwachsene zugeschnitten waren: »Die Abgehobenheit der Dilemmata von Oser/Gmünder gibt Anlass zu Zweifel, ob mittels dieser Befragungsinstrumente die Gottesvorstellungen von jüngeren Kindern zutreffend erfasst werden konnten. Das methodische Vorgehen Fowlers erscheint wegen des Fehlens eines speziellen Erhebungsbogens für Kinder undurchsichtig, die Ergebnisse entsprechend schwer nachvollziehbar.« A.a.O., 33. Solch psychoanalytische Entwicklungspsychologie arbeite mit Erinnerungen Erwachsener und damit rekonstruktiv auf Basis konstruierter Mythen. Vgl. ebd. Siehe auch MARTIN DORNES, Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre, Frankfurt 31999, 19ff. Szagun kritisiert an Bucher und Hanisch/Orth, dass deren Aufgabenstellung, ein Bild von Gott zu malen, zugleich ein gewisses Antwortspektrum begrenzt, dass die Methodik (Malen) Kinder nicht zu authentischer Darstellung sondern zur Reproduktion ikonographischer Vorlagen bringt, und sie durch Kanonisierung und Einkapselung früherer Malschemata zu Gottesbildern Darstellungen liefern, die ihrem aktuellen Denken und Fühlen nicht mehr entsprechen und dass keine Gespräche mit den Kindern zu ihren Bildern stattfanden. Auch der soziale und biographische Kontext der Kinder wurde nicht erfasst – das genüge einer gegenwärtigen Entwicklungspsychologie mit ökologischen Interesse nicht. SZAGUN, Dem Sprachlosen Sprache, 34f.
128
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
dafür, »Stufentheorien in ihrer klassischen Form der notwendig zu durchschreitenden, unumkehrbaren Folge von invarianten Stufen … ganz aus der Ausbildung von ReligionspädagogInnen (zu) verabschieden, weil sie Unterrichtenden den Blick für die Vielfalt ihrer Lerngruppen verstellen und damit auch didaktisch in die Irre führen.«486 Sie selbst sah sich mit ihrer Rostocker Langzeitstudie zur religiösen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im konfessionslosen Kontext auf dem angezeigten »Königsweg der Entwicklungsforschung«487 moderner Entwicklungspsychologie:488 Sie ermunterte Kinder und Jugendliche jahrelang in einem therapeutischen Setting489 , ihr Gotteskonzept490 mithilfe kreativ-dynamischer Materialcollagen491 metaphorisch darzustellen.
485
Bucher erhob gegen Szagun großen Einspruch und bestand auf der Gültigkeit strukturgenetischer Stufentheorien. Er bemerkte nach seiner vehementen Kritik: »Es bleibt abzuwarten, zu wie vielen weiterführenden Fragestellungen und Studien sie (die Rostocker Langzeitstudie) inspirieren wird und ob über sie in dreißig Jahren auch noch so rege diskutiert wird, wie über die Stufen des religiösen Urteils, die erstmals 1979 präsentiert wurden.« Anton A. Bucher im Interview: HANS MENDL, Wie »misst« man Gotteskonzepte von Kindern?, in: KatBl 134 (2009), 368-378, 378. 486
Anna-Katharina Szagun im Interview: a.a.O., 378.
487
SZAGUN, Dem Sprachlosen Sprache, 39. Mit einem Längsschnittsample von insgesamt 50-60 Kindern im Alter von 6-17 Jahren, die 4-7 Jahre begleitet wurden, systemischen Untersuchungen einschl. ausführlichen Gesprächen mit Bezugspersonen der Kinder, lag ihrer Meinung nach »ein Spektrum umfangreicher Datensätze vor, die den Ansprüchen einer entwicklungspsychologischen Langzeitstudie gerecht werden.« A.a.O., 39f. 488
Vgl. ANNA-KATHARINA SZAGUN/MICHAEL FIEDLER, Religiöse Heimaten. Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachsen, Jena 2008, 27. Nipkow stimmte dieser Einschätzung zu. KARL-HEINZ NIPKOW, Vorwort, in: SZAGUN, Dem Sprachlosen Sprache, 11-14, 13. 489
»In den Einzelgesprächen sollten nicht nur die Konstrukte der Kinder erfasst werden, sondern – sofern situativ erforderlich – auch Prozessbegleitung hinsichtlich einer (biblische Bilder als Angebote einspielende) Horizonterweiterung des Gotteskonzeptes geleistet werden.« SZAGUN/FIEDLER, Religiöse Heimaten, 448. Szagun hat sämtliche Erhebungen (Gestaltungsversuche wie Einzelgespräche) selbst durchgeführt. Vgl. SZAGUN, Dem Sprachlosen Sprache, 58. Sie trat als Entwicklungspsychologin und pädagogisch motivierte Seelsorgerin mit den Kindern in Kontakt. Vgl. a.a.O., 61. Außerdem war sie zeitweise auch deren Religionslehrerin. Die Auswertung der Daten erfolgte in einem interdisziplinär besetzten Forschungsteam aus Theologie/Religionspädagogik, Psychotherapie, Klinikseelsorge, Pädagogoische Psychologie und Kunsttherapie. Vgl. a.a.O., 105. Die Entwicklung wie die Durchführung der Erhebungsverfahren und ihre Aufarbeitung wurde ausschließlich von Szagun geleistet. Vgl. a.a.O., 25f.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
129
Untersucht wurde ihr Glaube492 mit Sensibilität für dessen kognitiven und emotional-motivationalen Aspekt493 und dem Interesse an Spuren der 490
Szagun fragte nach einem »theologischen Gott«, den sie abgrenzte von einem »philosophischen Gott« und präzisierte als »Gott für mich«. A.a.O., 25. Szagun markierte als ihr theologisches Anliegen, Kindern Impulse zu geben, »die den traditionellen Gottesbegriff nontheistisch zu ergänzen bzw. zu erweitern vermögen. In elementaren Formen werden Begriffe der neueren systematischen Theologie wie Gott als ›Geheimnis der Welt‹ (Ebeling, Jüngel), als ›Grund des Seins‹ (Tillich), als ›unbedingt verlässlichen Grund‹ (Luther: ›Woran du nun dein Herz hängst‹), als ›die Alles bestimmende Wirklichkeit‹ (Bultmann, Pannenberg, Härle), als ›Kraft der Beziehung‹, ›God happens‹ (Sölle) … eingebracht.« A.a.O., 53. Als zentraler biblischer Text gilt Szagun Exodus 3, die »biblische Grundeinsicht zur unverfügbaren Dynamik der sich Menschen immer wieder neu offenbarenden und verhüllenden Wirklichkeit Gottes.« A.a.O., 52. Ein Verweis auf Christus und weitere konkrete biblische Aspekte fehlen. Szagun wollte unbedingt jeden Anschein biblischer Unterweisung oder gar dogmatischer Bevormundung vermeiden. Vgl. a.a.O., 51. Im direkten Kontakt mit den Kindern nützte Szagun keine biblischen Texte, um den Boden für die Untersuchung zu bereiten, sondern griff als Einstieg auf die islamische »Gebetskette mit 99 Perlen für die 99 Namen Allahs« zurück. A.a.O., 67f. Szagun ermunterte Kinder, der Frage nach zu gehen, »Gott ist für mich wie …«. Begleitende Impulse: »Die Blinden und der Elefant« (Dem 1150 gestorbenen Sufi Sana’i zugeschrieben. Vgl. a.a.O., 68.), Teile des Bilderbuches »Fisch ist Fisch« und das Lied »Bist Du ein Haus aus dicken Steinen«. Zur Rostocker Studie ergänzt Michael Fliedler im zweiten Band theologische Überlegungen zur Definition des die Studie tragenden Religionsbegriffs, in der sich wieder eine besondere Bedeutung Tillichs zeigt. »Die theoretischen Voraussetzungen im Sinne des hier aufbereiteten Religionsbegriffs – Bezug auf Transzendenz mit der Funktion von lebensweltlich verankerter Kontingenzbewältigung – ermöglichen es auf theologisch-anthropologischer Ebene, jeden Menschen grundlegend in Transzendenzbeziehungen lebend wahrzunehmen. Denn in der Abhängigkeit vom ›Seinsgrund‹ ist jeder unbedingt von der Kontingenzhaftigkeit seines Lebens betroffen.« SZAGUN/FIEDLER, Religiöse Heimaten, 546. 491
Die Methode des dynamisch-kreativen, inszenatorischen Gestaltens von Materialcollagen sei Visualisierung, die nicht abbildet oder illustriert, ein kreativer Akt durch Assoziation, Innovation und den Erhalt von Komplexität. Vgl. SZAGUN, Dem Sprachlosen Sprache, 56. 492
»… woran das Herz des Kindes hängt, was es umtreibt, beunruhigt, bekümmert, bzw. das, was es hält, nährt und trägt.« A.a.O., 57. 493
Vgl. a.a.O., 25. Für Szagun begann die Gottesbeziehung da, »wo ein Kind in Bezug auf seine dringliche Lebensthematik Gott als Bewältigungshilfe wahr- und in Anspruch nimmt.« SZAGUN/FIEDLER, Religiöse Heimaten, 411. »Wenn ein Kind keine Verknüpfung sieht zwischen seiner Lebenswelt und Gott, so hat es entweder noch keine Gottesbeziehung oder aber die Gottesbeziehung ist aktuell gestört. … Es scheint so, als ob die Anbahnung einer Gottesbeziehung zusammen mit der Entfaltung des Gotteskonzepts von einem existenziell bedeutsamen Kernthema her erfolge: Dies Kernthema lässt sich häufig bereits Jahre vorher im Denken des Kindes ausmachen. Wenn das Kind ein religiöses Deutungsangebot seiner Kernthematik als persönliche
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II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
christlichen Umgebung und Kultur in den kindlichen Äußerungen und spontanen Gedanken.494 Ein erster Schwerpunkt der Ergebnisse der Rostocker Langzeitstudie lag in der hohen Bewertung der Sozialisationsbedingungen für die religiöse Entwicklung des Einzelnen: die Rolle der ersten geistigen Heimat in der familiären Subkultur,495 insbesondere durch die Eltern496 und die Bedeutung der »kulturellen Tapete«.497 Früh bildeten sich durch diese Einflüsse religiöse Sprachprägungen aus.498 »Den Sozialisationseinflüssen scheint, ein weit höheres Gewicht zuzukommen, als dies bisherige Theorien zur religiösen Entwicklung annahmen.«499 Diese vielschichtigen Einflüsse träfen auf Individuen, die ihrerseits nicht auf bestimmte »altersbedingte« Gottes500 und Bibelkonzeptniveaus501 fixiert seien, sondern vielmehr ein hohes Ressource für sich wahr- und in Anspruch nimmt, scheint dies den Kristallisierungspunkt einer Gottesbeziehung zu bilden.« A.a.O., 453. Ursache für die Störung der Gottesbeziehung eines Kindes könne sein, dass sein Gottesverständnis einem Fortbestehen seiner Gottesbeziehung im Wege steht. Die Begleitung von Kindern müsse daher sowohl deren Lebensthemen als auch ein, mit den Veränderungen des Lebens Schritt haltendes, bejahendes Gottesverständnis im Blick haben. 494
Vgl. SZAGUN, Dem Sprachlosen Sprache, 51f.
495
Vgl. SZAGUN/FIEDLER, Religiöse Heimaten, 398.
496
Hier komme es zur »Gefühlsansteckung«, wenn ein Kind zugewandte Eltern erlebe, die Kraft aus ihrer Gottesbeziehung schöpfen. Sie markiert, dass es keine unmittelbare Abhängigkeit von Elternbild und Gottesbild gibt. Vgl. a.a.O., 410. 497
»Botschaften der allgegenwärtigen ›kulturellen Tapete‹ konkurrieren permanent mit dem religiösen Deutungsrahmen, den schulische Bildungsangebote anbieten. … Der Irritationsfaktor ›kulturelle Tapete‹ stiftete erkennbar Unsicherheit.« A.a.O., 435. 498
Vgl. a.a.O., 401.
499
»Offenbar ist die emotionale Tönung des erstmalig in den Blick des Kindes gerückten religiösen Deutungsrahmens zentral. Die Erstbegegnung wirkt sichtlich dauerhaft, sowohl emotional als auch kognitiv … Dies lässt sich an den Biografien der Kinder aus den unterschiedlichen religiösen ›Heimaten‹ mit den je unterschiedlichen Startbedingungen und Wachstumsanreizen ablesen.« A.a.O., 398. 500
Menschen haben nach den Ergebnissen Szaguns nicht ein einziges Gotteskonzept, das sich im Lauf des Lebens wandelt, sondern wählen für unterscheidliche Lebenssituationen diverse Gottessymbole und nehmen unterschiedliche Distanzen und Haltungen dazu ein. Dies gilt nach Szagun für Erwachsene und für Kinder. Vgl. a.a.O., 387. Dabei scheint im Rostocker Milieu »der Begriff ›Gott‹ … für etliche Heranwachsende so besetzt zu sein, dass er keine positiven Denk- und Empfindungsräume mehr zu erschließen vermag.« A.a.O., 402. 501
Schon in jungen Jahren seien Kinder fähig, auch biblische Texte mehrperspektivisch, integrativ und symbolisch zu lesen. »Eine Spaltung zwischen ›religiöser‹ und
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
131
Maß an religiöser Flexibilität mitbringen, dann aber von klein auf je nach Milieu und Kontext geprägt werden.502 Die Varianz von Gotteskonzepten sieht Szagun also »stärker durch Sozialisationseinflüsse (vertikal, diagonal, horizontal) und bereits ausgeprägte individuelle Merkmale wie Bindungstyp, Wahrnehmungsweisen, Bedürfnisse, Einstellungen usw. bestimmt als durch generelle altersbedingte Entwicklungstrends.«503 Den zweite Schwerpunkt der Ergebnisse verband Szagun mit der Kritik an den Theorien Oser/Gmünders504 und Fowlers505 : Übereinstimmend ›rationaler‹ Weltdeutung ist nicht entwicklungsbedingt und damit quasi naturgegeben, sondern möglicherweise wesentlich sozialisationsbedingt. Und es hieß auch: Eine altersangemessen spielerisch-konkrete, kontext- und existenzbezogene Ersteinführung von zentralen biblischen Texten kann schon in frühem Alter ein Bibelkonzept anbahnen, das einem ›mitwachsenden Gotteskonzept‹ nicht im Weg steht.« A.a.O., 416f. Außerdem resümiert Szagun: »Biblische Texte können – vorausgesetzt, dass eine solche Perspektive eröffnet wurde – von Kindern relativ früh (wie poetische Texte auch) mehrperspektivisch, d.h. integrativ bzw. symbolisch gelesen werden, sofern einer solchen Lesart keine konkurrierenden Lesarten (Biblizismus bzw. wissenschaftlich-säkulare Deutungen) entgegenstehen.« A.a.O., 447. Sie erläutert weiter: »Offenkundig hatten viele Heranwachsende, vermittelt durch ihren Kontext, die angebliche Alternative zwischen einer wissenschaftlichen und einer christlichbiblischen Welterklärungshypothese im Kopf und entschieden sich deshalb überdurchschnittlich häufig für eine wissenschaftlich-säkulare Deutung bei dieser Thematik.« Ebd. 502
Im konfessionslosen Umfeld werde z.B. religiöse Erfahrung tabuisiert. »Besonders Jungen halten innere Erfahrungen untereinander geheim.« A.a.O., 453. Szagun resümiert: Die Lektüre ihrer Studie »kann (und soll) Individuen wie Instiutionen (Kirche, Schule) anstoßen, hinsichtlich der religiösen Sozialisation bisherige Grundannahmen zum Kind und zum Wesen von Entwicklung und die darauf bezogene Begleiterrolle neu zu reflektieren und gegebenfalls zu revidieren. Wenn wir christlichen Glauben als (potentielle) Ressource auf dem Weg der zerbrechlichen Subjektwerdung wie der Lebensbewältigung insgesamt sehen und Menschen die Botschaft des Evangeliums erschließen wollen, dann muss sich die Kommunikation des Evangeliums ebenso radikal verändern wie dies die Verstehensvoraussetzungen der Adressat/innen tun. … Der Blick auf die mediale Landschaft und auf das, was mehrheitlich beim Kind (oder auch Erwachsenen) in Schule bzw. Gemeinde real ›ankommt‹, zeigt …, dass die Macht der ‚kulturellen Tapete’ trotz religionspädagogischer Anstrengungen weitgehend ungebrochen ist.« 503
A.a.O., 451. »Während für Kinder aus religiös geprägten Elternhäusern zumeist die Gottesbeziehung das Primäre bildet, tasten sich Kinder aus religiös neutralen oder indifferenten Elternhäusern primär über das Gottesverständnis heran.« Ebd. 504
»Zu den Stufen 1 und 2 von Oser/Gmünder fanden sich kaum Schnittmengen. Bei manchen Kindern schienen diese Stufen überhaupt nicht aufzutauchen, d.h. Kinder begannen bei der Ausbildung ihres Gottesverständnisses gleich jenseits der von Oser/Gmünder beschriebenen Stufen 1 und 2. Dies steht in deutlichem Widerspruch zur klassischen Stufenlehre. Denn es bedeutet, dass die Stufen 1 und 2 nicht not-
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II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
mit deren Befunden, fand sie zwar die Tendenz bestätigt, dass auch bei den Rostocker Kindern mit zunehmendem Alter die Abstraktion des Gotteskonzeptes zunähme. Die klassische Korrelation des Niveaus der kognitiven Entwicklung mit dem der religiösen Vorstellungen schien aber kaum kompatibel mit der Häufigkeit der teils tiefgehenden visualisierten Abstrakta.506 wendig durchschritten werden müssen, um zu anderen Denkkonstrukten zu gelangen. Wenn die Stufen 1 und 2 anderswo in konfessionell gebundenen Kontexten – in den Untersuchungen von Oser/Gmünder– regelmäßig bei Kindern/Heranwachsenden auftauch(t)en, so ist dies als Effekt der vorgängigen religiösen Sozialisation zu sehen und damit sozialisations- und nicht entwicklungstheoretisch zu erklären. Inkompatibel zu den klassischen Stufentheorien sind auch die Befunde (vgl. die Positionierungen zu Gottessymbolen), dass Kinder/ Heranwachsende in unterschiedlichen Lebenssituationen unterschiedliche Gotteskonzepte aktualisieren. D.h. im Denken und Empfinden scheint nicht ein in sich geschlossenes Konstrukt vorhanden zu sein, sondern verschiedene Konstrukte und Muster von Beziehungen nebeneinander, auf die je nach Lebenssituation zurückgegriffen wird. Gott wird so je nach Situation anders wahrgenommen, emotional wie kognitiv. Diese Befunde stehen im Kontrast zur klassischen Stufentheorie, die annimmt, ein Mensch bewege sich in seiner Beziehung zum Letztgültigen jeweils mehr oder minder vollständig auf einer bestimmten Stufe.« A.a.O., 407f. 505
»Gewisse Schnittmengen finden sich in den Rostocker Befunden auch zu Teilaspekten der Stufentheorie von James Fowler. Z. B. traten intuiv-projektive Entwürfe von Gotteskonzepten auf, waren aber weder mit feinem magisch-numinosen Symbolverständnis noch mit einem Lohn-Strafe-Mechanismus im moralischen Urteil verknüpft. Grundschulkinder tendierten bezüglich verbaler Inhalte häufig primär zu einem buchstäblichen Verstehen im Sinne von Fowlers mythisch-wörtlichen Glauben, waren aber durchaus zu wechselseitiger Rollenübernahme und Mehrperspektivität fähig bei geeigneten Settings. Die Tendenz, sich im Sinne der synthetischkonventionellen Stufe von Fowler bezüglich des eigenen Gotteskonzeptes an wertgeschätzten Einzelpersonen oder Gruppen zu orientieren, fand sich von Kl. 1-11 und korrelierte weder mit der kognitiven Entwicklung noch mit dem moralischen Urteil oder dem Symbolverstehen. Individuierend-reflektierender Glaube im Sinne Fowlers trat jedoch in der Tat nur bei Heranwachsenden auf, die zu formalen Operationen fähig waren. D.h. die Rostocker Befunde bestätigen partielle Beobachtungen von Fowler, nicht jedoch seine als kohärentes Ganzes verstandenen Stufen.« A.a.O., 407ff. 506
Szagun fragte daraufhin provokant: »Kann die Differenziertheit und Reife eines religiösen Konstrukts vernachlässigt werden, nur weil dem Kind die Fähigkeit einer begrifflichen Explikation seiner Visualisierung (noch) fehlt?« a.a.O., 409. Kinder zeigten überdies bereits im Schuleintrittsalter neben einer Tendenz zu buchstäblichem Verstehen Ansätze zu Symbolkritik wie auch Ansätze echten Symbolverstehens (im Sinne einer zweiten Unmittelbarkeit). Diese Ansätze könnten (und müssten) didaktisch konstruktiv aufgenommen werden. Schon Grundschulkinder seien fähig, zum aktiven und passiven Umgang mit Metaphern und sie können visualisierend ausdrücken, dass ihr Empfinden und Denken bezüglich Gott je nach Lebenssituation ganz unterschiedlich sein kann. Schon mit Grundschulkindern könne man auf der
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
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Funktion und Bedeutsamkeit des Faktors Kognition für das Gotteskonzept seien insgesamt neu zu überdenken, denn die kognitive Entwicklung spiele in den verschiedenen Dimensionen von Religiosität eine unterschiedliche Rolle.507 Anthropomorphe oder moralisierende Gotteskonzepte im Kindesalter seien eben wesentlich durch die Vorgaben von Erwachsenen gefördert.508 Kinder, bei denen frühzeitig eine ungegenständliche Gottesvorstellung angebahnt wurde, seien bereits bei Schuleintritt fähig, sich vielfältig metaphorisch auszudrücken.509 Mit zunehmendem Alter würden Kinder überdies je nach Förderung durch ihre Umwelt510 eigenständiger Akteur
Basis ihrer eigenen unterschiedlichen Gottesbilder die Vielfalt biblischer Gottesbilder (einschließlich solcher von der Verborgenheit Gottes) erschließen. Außerdem seien bei einem zu konkretem Denken passenden Setting bereits Grundschulkinder in der Lage, biblische Texte vielfältig zu durchdringen. Vgl. a.a.O., 454f. 507
Die Intuition fungiere unabhängig vom kognitiven Niveau als Quelle religiöser Einsichten, die sprachliche Verarbeitung sei aber an die kognitive Entwicklung gebunden. Kognitive Möglichkeiten und deren Realisation könnten aber auseinanderklaffen. In der Regel wachse mit zunehmender kognitiver Reife bei Vorliegen von religiösem Interesse das Bemühen um Konsistenz des eigenen Konzeptes. Vgl. a.a.O., 455. 508
Theistische Konzepte förderten wunschfixierte und erfüllungsmotivierte Gebetshaltungen und führen häufig in einen Enttäuschungsatheismus. Kinder mit traditioneller christlicher Sozialisation würden durch ein naives Reden von Gott der Erwachsenen »quasi programmiert für die von Nipkow beschriebenen ›Einbruchstellen‹ des Glaubens.« A.a.O., 456. Die missliche religiöse Sprache begegne Kindern auch in liturgischen Zusammenhängen mit Engführung der Gottesbilder auf die Vatermetapher in Gebeten und Bekenntnis und mit theistisch-vergegenständlichenden Liedtexten und Ansprachen. Dies werde für Heranwachsende zu einer Barriere, die sie hindere, sich auf christliche Inhalte einzulassen. »Gottesdienste werden so zu Stolpersteinen des Glaubens statt für den Glauben zu öffnen.« A.a.O., 456. 509
Szagun erklärt, dass Kinder Gott überwiegend als moralische Instanz verstehen, die alles wahrnimmt und speichert. Eine Do-ut-des-Haltung sei aber äußerst selten und Gott gelte kaum als großer Manipulator im Hintergrund. Bei Kindern aus christlichen Familien mit emotional gestörter Atmosphäre fand Szagun teils massiv aggressive Elemente im Gotteskonzept. Vgl. a.a.O., 450ff. 510
Szagun hält fest, dass Kinder bei vorhandenen Wachstumsanreizen und Kommunikationsräumen schrittweise ihr Gottes- und Bibelkonzept erweitern und korrigieren, sofern keine emotionalen Barrieren entgegenstehen. »Im Grundschulalter aufgebaute, biblisch fundierte Gotteskonzepte (Aspekt Gottesverständnis) können relativ stabil sein. Fehlen Modellpersonen, welche für das Kind die Plausibilität und Relevanz der Konzepte authentisch repräsentieren, verbreitet sich Unsicherheit.« A.a.O., 454.
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II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
der eigenen religiösen Entwicklung.511 Umgeben von der kulturellen Tapete bräuchten sie dabei aber Unterstützung insbesondere im konfessionslosen Kontext.512 Szagun empfahl angesichts der Theismuskrise bei Heranwachsenden und ihren Eltern zweifach Abschied zu nehmen: zum einen von den Stufentheorien religiöser Entwicklung513 und zum anderen vom Bild vom naiven, an gegenständlichen Vorstellungen festklebenden Kind.514 Glaubensentwicklung als Sprachentwicklung sei eine lebenslange Herausforderung aller Altersstufen. Für die kritischen Zeitgenossen der Gegenwart sei anzustreben, »die nicht mehr tragenden religiösen Konstrukte hinter sich zu lassen und das Evangelium in Bildern zu denken, die ihrem Weltbild
511
A.a.O., 411f.
512
Denn sonst entwickle sich »kaum eine Gottesbeziehung, die das Leben bewältigen hilft. Ein Gott-Denken ohne Gottesbeziehung bleibt jedoch ›kaltes‹ Wissen. Diese Kinder brauchen vor allem Hilfen zum Aufbau einer Gottesbeziehung.« A.a.O., 411. 513
»Die Ergebnisse der Rostocker Langzeitstudie stellen Annahmen in Frage, die lange als gesichertes Wissen galten und weitgehend didaktische Überlegungen für Schule und Gemeinde bestimmten. … Es finden sich bestenfalls partielle Schnittmengen zu Aussagen der Stufentheorien. … Die in der Rostocker Langzeitstudie zu Tage getretene Varianz der von Kindern aus unterschiedlichen ›religiösen Heimaten‹ mitgebrachten Konzepte und die Varianz der Fortentwicklungen des Mitgebrachten unter je unterschiedlichen Bedingungen belegt, dass ein genaueres Hinsehen ebenso notwendig wie auch lohnend ist. Lohnend ist dies nicht nur, weil Erwachsene damit dem einzelnen Kind besser gerecht werden und Unterrichtsprozesse besser gesteuert und begleitet werden können. Lohnend ist es auch, weil sich dadurch das reiche Potential theologischen Denkens von Kindern in ihrem Anregungscharakter für Erwachsene erschließt.« A.a.O., 458. 514
»Die Rostocker Studie belegt, dass Kinder einen intuitiven Zugang zu theologisch fruchtbaren Einsichten haben und in visualisierter Form z. T. hoch abstrakte Vorstellungen ausdrücken, ohne sie verbal explizieren zu können (was Erwachsenen bei der Visualisierung von religiösen Inhalten oft nicht anders geht). Kindern ist theologisch sehr viel mehr zuzutrauen, auch im Umgang mit biblischen Texten. Ihr kreatives (Quer-)Denken und Fragen kann Erwachsenen Anstöße zu eigenen theologischen Klärungen und Neuformulierungen geben. Das Bild des naiven, zu mehrperspektivischem Erfassen unfähigen Kindes verführte Erwachsene, (angeblich kindgerechte) Vorstellungen an Kinder heranzutragen, die sie persönlich längst als nicht weiterführend abgelegt hatten. Die Revision des Bildes vom Kind befreit Erwachsene so einerseits und fordert sie an, die Versuche inhaltlicher Neubestimmungen mit Kindern bzw. Heranwachsenden zu kommunizieren. Vielleicht können Kinder in solch einen Prozess generationsübergreifender Selbstvergewisserung des Glaubens mit ihrem Querdenken konstruktive Impulse einspielen.« A.a.O., 459.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
135
und ihren Lebenserfahrungen entsprechen.«515 Dazu könnten Jüngeren wie Älteren »Wachstumsanreize … für die Entwicklung ihrer zweiten Naivität«516 gegeben werden. Szaguns Theorie formuliert angesichts des weitgehend konfessionslosen, säkularisierten und multireligiösen Kontextes ihres Forschungsfeldes in Ostdeutschland eine spezifische theologische Position. Sie idealisiert ein nontheistisches Gotteskonzept.517 Ihre Vorstellungen der Genese lebensdienlicher, souveräner, subjektiver und selbstbewusster Religiosität sind daher keineswegs ohne »Stufen«-Imagination. Die Schritte: naiv/vorkritisch – kritisch – zweite Naivität, erinnern an Schleiermachers Phasen.518 Wie jener bindet auch Szagun sie nicht an Lebensalter. Sie geht davon aus, dass je nach sozialer Prägung und aktueller Situation alle drei religiöse Denkweisen im Individuum einander durchdringen können – so denn dem Einzelnen wie der Menschheit vergönnt ist, alle drei Register 519 des Gotteskonzepts zu kennen. So prägt ihre Theorie religiöser Sozialisation und individueller Langzeitentwicklung eine emanzipatorisch515
»Trotz konzeptionell z.T. anspruchsvoller Richtlinien und Lehrpläne dominiert in der breiten Öffentlichkeit wie in den Medien ein eindimensional historisierendes Verständnis biblischer Texte und ein Mythenhimmel mit einem vergegenständlichenden Gottesbild. Die Hartnäckigkeit dieser Konstrukte kann angesichts der frühen Einwurzelung dieser Bilder kaum erstaunen, auch nicht, dass es Menschen schwer fällt, die nicht mehr tragenden religiösen Konstrukte hinter sich zu lassen und das Evangelium in Bildern zu denken, die ihrem Weltbild und ihren Lebenserfahrungen entsprechen. Dass das Evangelium die ihm innewohnende Kraft für Menschen und ihre Lebensgestaltung tatsächlich entfaltet, ist nicht methodisierbar. Aber unsere Kommunikation des Evangeliums, unsere ›Übersetzungsversuche‹ der lebenserhellenden Botschaft, kann sehr wohl die uns (privat wie auch institutionell) begegnenden Subjekte fördern oder aber auch behindern, die Einladung des Evangeliums mit seinem Zuspruch und Anspruch überhaupt wahrzunehmen.« A.a.O., 29f. 516
Vgl. a.a.O., 415.
517
Heranwachsende sind, so betont Szagun immer wieder, »sofern familiär/institutionell keine Denkverbote vorliegen – offen und fähig zu non-theistischen Gotteskonzepten.« A.a.O., 457. 518
Wobei Schleiermacher natürlich kein interkonfessionelles, interreligiöses, nontheistisches Gottesbild anstrebt, sondern für aufgeklärten evangelischen Glauben mit expliziter Bindung an Christus plädiert. (siehe II.3.3.) 519
Hier zeigt ihre Theorie appellative Züge in Richtung Kirche: Da Szagun die Ausbildung eines nontheistischen Gottesbildes für wichtig hält, erscheinen ihr Hilfestellungen zu einer Balance der Bilder dringlich, ebenso Liturgien und Gebetstexte, die dies fördern. Sie beklagt für die gegenwärtige Situation, dass Heranwachsende (und Erwachsene) mit non-theistischen Gotteskonzepten (fast) keine Ansprechpartner zur Kommunikation ihrer religiösen Fragen im Raum Kirche fänden. Vgl. a.a.O., 457.
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II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
pädagogische Pointe für Einzelne und Gesellschaft, die sich schon 2006 im Buchtitel des ersten Bandes der Rostocker Studie ausdrückt: GottesbildEntwicklung verfolgt ein Ziel: »den Sprachlosen Sprache verleihen«. Michael Fiedler entwirft in seiner Arbeit auf der Grundlage der Rostocker Daten und verschiedener Modelle aus der Pastoralpsychologie und der religionspädagogischen Psychologie eine weitere Alternative zu den 520 Stufentheorien nach Fowler und Oser/Gmünder. Er schlägt ein Schema zur Klassifizierung religiöser Sozialisation in der Balance von Struktur und Freiheit vor. Mit diesem Raster sei die religiöse Lage eines Individuums »sowohl situativ einzuschätzen als auch – in Bezug auf seine Biographie – ein(en) Verlauf zu rekonstruieren und ein(en) Typus religiöser Sozialisati521 on auszumachen.« Das Modell kennt dabei als Extrempositionen unter Umständen pathologische Formen religiöser Über- und Unterstrukturierung. Als Ideal gilt der religiös-dynamische Typus, der traditions- und selbstbewusst mit der postmodernen Vielfalt religiöser und weltanschaulicher Elemente im eigenen Leben und in der gegenwärtigen Gesellschaft 522 umgeht. Während die Stufenvorstellungen Fowlers und Oser/Gmünders mehr und mehr kritisiert wurden, fand in signifikanter Weise ein Modell zunehmend Beachtung, das zwar seit den 1970er Jahren vorangebracht, in der deutschsprachigen Religionspädagogik aber lange nicht rezipiert wurde: das Werk Kenneth (Ken) Earl Wilbers. Wilber arbeitete offensiv mit der paradigmatischen Imagination der phylo- und ontogenetischen Strukturanalogie – allerdings nicht allein im Blick auf die Genese der Religiosität, sondern explizit weiter gefasst als Modell der Genese der Spiritualität. Wilber gilt als exponierter Vertreter der Transpersonalen Psychologie, »der vierten psychologischen Kraft nach
520
Vgl. MICHAEL FIEDLER, Strukturen und Freiräume religiöser Sozialisation: Religiöse Sozialisation und Entwicklung von Gotteskonzepten bei Kindern aus Familien im konfessionslosen Kontext Ostdeutschlands. – Acht Einzelfallstudien, betrachtet im Modell von Struktur und Freiheit, Jena 2010. 521
MICHAEL FIEDLER, Kinder neben den Stufen. Religiöse Entwicklung und Sozialisation: Einzelfälle und alternative Modelle jenseits von Stufenentwicklungstheorien, in: Wege zum Menschen. Zeitschrift für Seelsorge und Beratung, heilendes und soziales Handeln, 62. Jahrgang, Heft 3 Mai/Juni 2010, 261-273, 272. 522
Vgl. a.a.O., 271. Das dortige Schaubild zeigt eine dynamische Schleifenfigur zwischen den Polen Struktur und Freiheit und sortiert tabellarisch drei Typen im Bereich des Ideals und zwei Extreme von Unter- und Überstrukturierung.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
137
Psychoanalyse, Behaviorismus und Humanistischer Psychologie«.523 Er strebte nach »wirklicher Synthese der verschiedenen Ansätze zur Bewußtseinserforschung (zu) gelangen, … in welcher die Einsichten bekannter Psychologen wie Freud, Jung, Maslow, May und Berne gleichrangig nebeneinander bestehen können, aber auch neben den Einsichten der großen Weisen von Buddha bis Krishnamurti … eine ›Synthese östlicher und westlicher Psychologie‹«.524 Wilber integrierte in sein Konzept gängige Modellvorstellungen der Psychologie, Evolutionsforschung und Philosophie, besonders Piaget, Baldwin, Loevinger und Erikson525 und verband sie mit psychologischen Systemen des Buddhismus und Hinduismus und ihren modernen Interpreten (Aurobindo, Guenon, Smith, Free John.)526 Wilber postulierte drei Ebenen, die das Individuum wie die Menschheit durchlaufen müssten: Vom Präpersonalen (Vorbewusstes, Natur) zum Personalen (Selbstbewusstes, Menschheit) zum Transpersonalen (Überbewusstes, Gottheit). Innerhalb dieser drei Ebenen nahm er – im Lauf seines Schaffens leicht modifizierte – Entwicklungsstufen vor, deren Entstehungszeitpunkte er auch in Lebensjahren angibt. Sie seien nach aller Zusammenschau der unterschiedlichen Forschungen »allgemein anerkannte Zeiträume«.527
523
BUCHER, Psychologie, 59. Er erklärt: Obwohl diese Transpersonale Psychologie oft als »esoterisch« und wenig empirisch kritisiert werde, erfreue sie sich einer stärker werdenden Anerkennung in der Religionspsychologie (Greenwood), Therapie (Galuska) und Gesundheitspsychologie (Belschner, Gottwald). 524
KEN WILBER, Das Spektrum des Bewusstseins. Ein metapsychologisches Modell des Bewusstseins und der Disziplinen, die es erforschen, Orginal: The Spectrum of Consciousness (1977), übers. v. Jochen Eggert, Bern 1987, 8. 525
Vgl. BUCHER, Psychologie, 60. Kritik an Wilber: Unzulässige Vermengung von Metaphysik und Wissenschaft (vgl. HANS W. WEIS, Ken Wilbers transpersonale Systemspekulation, in: WILFRIED BELSCHNER, u.a. (Hrsg.), Transpersonale Forschung im Kontext, Oldenburg 2002, Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg, 101-114) und kultureller Relativismus (vgl. JOHN HERON, Sacred science: Personcentred inquiry into the spiritual and the subtle, Roos-on-Wye 1998). 526
Vgl. KEN WILBER, Die drei Augen der Erkenntnis. Auf dem Weg zu einem neuen Weltbild, München 1988, 200. 527
A.a.O., 201. Physisch (vorgeburtlich bis 3. Monat), sinnesempfindlich (vorgeburtlich ab 3. Monat), emotional-sexuell (ab ersten Monat), bildhaft-denkend (ab 6. Monat), repräsentatorischer Verstand (ab 15. Monat), Regel/Rollen-Verstand (ab 6. Lebensjahr), formal-reflexiver Verstand (11.-15. Lebensjahr), überschauende Logik (ab 21. Lebensjahr), feinstofflich (ab 28. Lebensjahr), kausal (ab 35. Lebensjahr).
138
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Parallel dazu benennt er auch kulturgeschichtliche Epochen528 : archaisch (Säuglinge und erste Hominide vor 200000 Jahren),529 magisch (Kleinkinder), mystisch (Kindheit, Kelten), rational (Ende der Kindheit/Jugendliche, ab 500 v. Chr. Vorsokratiker, ausgereift erst an der Schwelle zur Neuzeit, »Halbzeit der Evolution«530 ), meditativ (Beginn der echten Spiritualität, Kontemplation), postformal (Integration über das formaloperatorische Denken hinaus), psychisch (universales, selbsttranszendierendes Denken, Einheit mit der Natur), subtil (transzendent, identitätserweitert, Einheit mit Geist), kausal (selbstauflösend). Sobald die Entwicklungsstufen »im Lauf der Entwicklung ins Dasein treten, bleiben sie bestehen und erfüllen nicht nur ihre eigenen Funktionen und Aufgaben, sondern tragen auch zu den höheren Strukturen bei oder verhalten sich sogar wie deren Bestandteile. Obwohl sie sich immer weiter entwickeln können, wächst man doch nie über sie hinaus.«531 Wilber imaginiert eine »geschachtelte Holarchie«. Die » Schwäche der Leiter-Metapher liegt … darin, dass jede höhere Stufe nicht einfach über der niedrigeren liegt, sondern sie vielmehr im Innersten in sich einschließt, wie eine Zelle Moleküle und diese wiederum Atome einschließen. … Ich persönlich benutze jedoch oft die Leiter-Metapher, weil diese die Wachstumsebenen klarer erkennen lässt.«532 Sein Modell stelle aufgrund einer »erdrückende(n) Fülle von Beweisen«533 einen interkulturellen Prozess dar, »der keine Ausnahmen zulässt.«534 Vorstellungen von spiritueller Entwicklung, die nicht hierarchisch und holarchisch sind, bezeichnet Wilber als »Flachland«.535 Die »verschiedenen Flachland-Paradigmen« würden »begierig aufgenommen, weil sie … keine
528 3
Vgl. KEN WILBER, Eros, Kosmos, Logos, Eine Jahrtausend-Vision, Frankfurt a.M. 2002.
529
Wilber erläutert, dass prärationale und präpersonale Bewusstseinszustände explizit von transrationalen oder transpersonalen Bewusstseinszuständen zu unterscheiden sind. Freud habe in seiner Abwertung der Spiritualität dies ebenso verwechselt, wie Jung, der prärationale Bewusstseinszustände überhöht habe. Vgl. a.a.O., 259f. 530
An dieser Schwelle stehen nach Wilber die meisten Zeitgenossen.
531
WILBER, Die drei Augen, 206.
532
KEN WILBER, Eine kurze Geschichte des Kosmos, Frankfurt a.M. 42000, 188.
533
A.a.O., 202.
534
A.a.O., 189.
535
A.a.O., 202.
II.3 Fachgeschichtlicher Überblick
139
wirkliche Transformation erfordern, nur ein einmaliges Aneignen …. Erlösung bedeutet also nur noch den Grad der Inbrunst, mit dem man sich diesem Flachland in die Arme wirft. Man errichtet eine Hierarchie, die die Hierarchie leugnet, und man herzt und küsst die Sprossen dieses grausamen Widerspruchs. … Jede Vorstellung von Stufen wird bekämpft, weil man – nicht ganz zu Unrecht – fürchten müsste, in einer Hierarchie sich auf einer der ›unteren‹ Stufen wiederzufinden. Jegliche Holarchie wird aggressiv geleugnet, und man betet glücklich die Litanei dieses monochromen Alptraums nach.«536 Wilbers Werk hat zahlreiche Anhänger gefunden und Folgestudien evoziert.537 Bucher resümiert: Wilber habe »ein faszinierendes, integratives Werk geschaffen, das enzyklopädische Breite aufweist und inspiriert.«538 Unterdessen werden weitere Stufenmodelle zur Entwicklung der Spiritualität vorgestellt: Helminiak unterscheidet die Sequenzen ›bewusst‹, ›mitleidsvoll‹, ›kosmisch‹ – als drei Stufen des Erwachsenenalters.539 Beck und Bucke konstruieren die Abschnitte ›chaotisch und assozial‹, ›insitutionell und fundamentalistisch‹, ›skeptisch und individuell‹, ›mystisch und kosmisch‹.540 Kegan postuliert die Etappen ›einverleibend‹ (Neugeborenes), ›impulsiv‹ (Kleinkind), ›souverän‹ (Kind), ›zwischenmenschlich‹ (Jugend), ›institutionell und autonom‹ (Erwachsensein), ›überindividuell‹ (spirituell reife Erwachsene);541 Ähnlich auch Liebert, die als Ziel der Entwicklung ein integriertes, tolerantes, sich dekonstruierendes Selbst bezeichnet.542 536
A.a.O., 203.
537
SUZANNE HAMEL u.a., Temporal Stability of the Trancendent Actualization Inventory. Perceptual and Motor Skills, 94 (2002), 449-452, untersuchten, ob Menschen prä- oder transpersonal denken. L. EUGENE THOMAS U.A., Two patterns of transcendence: An empirical examination of Wilber’s and Washburn’s Theories, Journal of Humanistic Psychology 33, 66-81, erforschten die subtile Stufe interkulturell in England und in Indien und das Phänomen spiritueller Krisen. 538
BUCHER, Psychologie, 69. Er würdigt besonders Wilbers spirituell-ökologisches Engagement. 539
Vgl. DANIEL A. HELMINIAK, Spiritual development. An interdisciplinary Study, Chicago 1987, 35. 540
Vgl. M. SCOTT PECK, The Different Drum: Community making and Peace, New York 1987 und RICHARD MAURICE BUCKE, Die Erfahrung des kosmischen Bewusstseins. Eine Studie zur Evolution des menschlichen Geistes, Freiburg i.B. 1975. 541
Vgl. ROBERT KEGAN, Die Entwicklungsstufen des Selbst. Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben, München 1986. 542
Vgl. ELIZABETH LIEBERT, Changing life patterns. In Conn, J.A. (Hrsg.), Woman’s spirituality. Ressources for Christian development, New York 21996, 349-361 und
140
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
In die Theologie wurde jüngst das Werk Wilbers neu ins Gespräch gebracht durch ein von seinem Denken durchdrungenes eigenes Modell von Marion und Werner Küstenmacher und Tilmann Haberer.543 Sie präsentieren neun Stufen, kombiniert mit Wilberscher Farbsymbolik und seinem »Ich/Wir-Pendel«, ausgestaltet im Licht des biogenetischen Gesetzes als individuelle und phylogenetische Entwicklung. In fünf Stufen reife der Mensch zum geistigen Erwachsenen. Von da aus stünden ihm noch weitere vier (bis) jetzt schon erkennbare neun (?) Entwicklungsstufen bevor. Aktuell erkennbarer Zielpunkt ist die paradoxe Formulierung: »Gott als unser Werdenkönnen«.544 Dass die meisten Menschen nach Küstenmacher und Haberer in ›blauen und orangen‹ Mustern leben, aber die Sehnsucht danach spüren, sich weiter, auf ›grünes und gelbes‹ Niveau hin zu entwickeln, erkläre, dass traditionelle kirchliche Glaubensweisen nicht mehr die Herzen berühren. So gratulieren die Autoren: »An diesen Gott können sie nicht mehr glauben? Glückwunsch! Ihr Bewusstsein hat sich weiterentwickelt.«545 Religionspädagogik und Theologie stehen am Scheideweg: Entweder folgen sie einer ökologisch-differentiellen Entwicklungspsychologie mit detailierten Erträgen für einzelne Kohorten und den Sozialisationsbedigungen von Religiosität. Dies lässt die Frage nach einer lebensspannenorientierten Modellvorstellung offen oder fügt sich in die gesellschaftlich standardisierten Lebensalter ein. Bildungs- und Erziehungsziele sind dann immer wieder neu, bedarfsorientiert zu formulieren, ELIZABETH LIEBERT, Changing life patterns: Adult development and spiritual direction, St. Louis 2000. 543
MARION UND WERNER KÜSTENMACHER/TILMANN HABERER, Gott 9.0. Wohin unserer Gesellschaft spirituell wachsen wird, Gütersloh 2010. 544
Beige (natürlich-instinkthaft, hilflos existieren: Säugling/Gott als große Hand/Urvertrauen), purpur (magisch-animistisch, clanorientiert: Kleinkind/Gott der Väter/Familienreligiosität), rot (aggressiv-expansiv, ausbrechend: Kind/Kriegsgott JHWH/heroischer Dienst und Abenteuer unter Machtgöttern), blau (hierarchischgesetzlich, moralorientiert: Jugendliche/monotheistischer Schöpfergott/Gehorsam und Gewissen), orange (effizient-aufgeklärt: Erwachsene/verlorener oder persönlicher Gott/Vertrauen in die Vernunft). Die meisten Zeitgenossen stehen nach Küstenmacher/Haberer (mit Wilber) auf diesen blau-orangen Stufen. Sie postulieren aber weitere vier: grün (verbindend-einfühlsam, teamfähig: spirituell gereiftere Persönlichkeiten/universaler Gott in allen Religionen/Liebe), gelb (systemischintegrativ, nondual: noch spirituell gereiftere Persönlichkeiten/trinitarische Koinhärenz von Mensch und Gott), türkis (multiperspektivisch-allverbunden: noch spirituell gereiftere Persönlichkeiten/Gott als pulsierender Prozess und Poet der Welt/Vertrauen in Kosmos), koralle (Gott als unser Werdenkönnen). 545
Gott 9.0., Motto der Autoren. http://gott90.de/(5.6.2012).
II.4 Bildpanorama der neuzeitlichen modelle
141
je nach Ergebnissen qualitativer und quantitativer Erhebungen für spezifische Zielgruppen und daran anschließender theologischer Reflexion christlicher Botschaft. Oder sie entwickeln die paradigmatische Imagination der phylo- und ontogenetischen spirituellen Entwicklung weiter und entwerfen ein Glaubenslebenslaufmodell, das die religiösen und spirituellen Visionen für Mensch und Menschheit vorgibt. Diese sind derzeit meist: Universalität, Selbsttranszendenz, Identitätserweiterung, (mindestens) zweite Naivität als spirituelle Begleitung für die Individuen in einer universal-gläubigen Gesellschaft.
II. 4
Das Bildpanorama der wissenschaftlichen Glaubenslebenslauf-Imaginationen
II.4 Bildpanorama der neuzeitlichen modelle
Die wissenschaftlichen Modellvorstellungen lassen sich folgendermaßen überblicken: Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts avancierte die Denkfigur, das Wesen des Menschen durch Erforschung seines Gewordenseins – entsprechend der sogenannten ›analytischen Methode‹546 – zu erfassen, zu einem anthropologischen Spitzenthema.547 Die epistemologische Wende der Aufklärung erbrachte, entscheidend beeinflusst von Jean Jacques Rousseaus Idee, die Genese der Menschheit im Individuum zu erforschen – etabliert als sogenanntes ›biogenetisches Gesetz‹ –, die Ausbildung einer phylo- und ontogenetischen Entwicklungstheorie menschlicher Kultur. Selbst-, Welt- und Gotteserkenntnisse wurden nun jenseits biblischer Texte mittels Naturbeobachtungen, zu gewinnen versucht. Forschende vielerlei Diszipinen des sich immer weiter differenzierenden Fächerkanons, erkundeten die natürlichen Gegebenheiten mit menschlichen Sinnen und zunehmendem Einsatz technischer Hilfsmittel. Was sie wahrnehmen konnten, beschrieben sie in Worten und Skizzen. Sie erhoben Gesetzmäßigkeiten. Die Erfahrungen von der Weite der Erde, die Forschungsreisende multiplizierten, von der Tiefe irdischer Gesteinsschichten mit ihren Fossilienfunden, die Biologen und Geologen vorantrieben, und der Strom an mikro- und makrokosmischen Entdeckungen veränderte von den ersten genetischen Theorien bis hin zur Evolutionstheorie Darwins und weit
546 547
Auseinandernehmen und Zusammensetzen nach der Ordnung des Werdens (s.o.).
Zuvor war anthropologisches Fragen teil des statischen Denkens und Forschens im göttlichen Weltgefüge. Sammeln und Auflisten, Strukturieren und Ordnen waren wissenschaftliche Kernmethoden. Mehr dazu im Kapitel 4.
142
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
darüber hinaus das grundlegende Verständnis vom Wesen alles Lebendigen: Aus statischer Schöpfungsordnung wurde die Annahme universeller dynamischer Prozesse.548 Mensch und Menschheit zu verstehen, hieß vom 18. Jahrhundert an, Vorstellungen von der Genese ihres Daseins zu kreieren. Dies betraf auch die Frage nach der religiösen Dimension. Auf der Basis des biogenetischen Gesetzes entwickelten Expertinnen und Experten dynamische Glaubenslebenslaufmodelle. Diese referierten wissenschaftlichen Theorien werden jetzt abschließend zu sechs Bildtypen verdichtet.549 Wenn sie graphisch visualisiert wurden, sind diese Abbildungen interpretierend hinzugefügt.550 II. 4. 1 Glaubenslebenslauf als dreistufiger Podestbau
Dieses Modell imaginiert eine Entwicklung in drei Schritten: individuell: naiv – kritisch – zweite Naivität, phylogenetisch: vorkritisch – aufklärerisch – modern. Die Vorstellung präsentiert ein anzustrebendes Ziel spiritueller, religiöser Entwicklung. Die geistige Genese von Mensch und Menschheit zielt auf eine Synthese von Vernunft und Glaube. Der Subtext dieser Perspektive ist, dass die Kritik an Religion integriert wird und damit nicht das letzte Wort behält. Ihr für den Glaubenslebenslauf bedrohliches Potential wird durch dieses Modell zum einkalkulierten Baustein. Dieser scheint trotz aller Mühen, die er macht, positiv und prinzipiell berechtigt. Das Modell stellt wie auf ein Siegerpodest aufgeklärte Fromme als Krönung der menschlichen Geschichte. Religiöse Haltungen, die nicht durch das Feuer aufklärerischen Hinterfragens gehen, erscheinen niederstufig, primitv. Ebenso gilt aber auch: Denker, die auf der religionskritischen Stufe verharren, retardieren vor dem letztmöglichen Entwicklungsschritt.
548
Vgl. WOLF LEPENIES, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1978. 549
Die Darstellung bisher zeigte chronologisch wichtige GlaubenslebenslaufImaginationen. Die nun vollzogene Verdichtung reduziert die Modelle auf sechs besonders deutliche Typen. 550
Dabei zeigt sich: Die philosophisch-anthropologischen Vorstellungen a là Herder und Schleiermacher entziehen sich solcher tatsächlich bildlichen Darstellungsweisen, bleiben im denkerisch-imaginären Modus. Graphische Darstellungen sind ein besonderes Merkmal der empirisch-naturwissenschaftlich, medizinisch und soziologisch anmutenden Modelle.
II.4 Bildpanorama der neuzeitlichen modelle
143
Das Bild hat einen aktionistischen Charakter: Jeder Mensch und die gesamte Menschheit sind animiert, sich strebend stets nach oben zu bemühen, um vom obersten Podest aus die Welt zu betrachten. Für die christliche Pädagogik wird dies zur Herausforderung: Menschen sind besonders hinsichtlich ihres religiösen Sprachgebrauchs und Symbolverständnisses zu begleiten. Ihnen wird dabei diese Reihung zugestanden: die Zeit wörtlichen, naiv erscheindenden direkten Glaubens, die Zeit des kritischen Hinterfragens und die Zeit der selbstbewussten, zweiten Naivität. Aufklärung ordnet sich dem christlichen Selbstverständnis als essentieller Baustein des Glaubenslebenslaufs ein. Sie ist nicht mehr eine Zumutung für die Religiosität.551 II. 4. 2 Glaubenslebenslauf als Baum
Diese Vorstellung zeigt die Genese von Mensch und Menschheit als naturgegebenes, unaufhaltsames Werden und Vergehen. Der Einzelne stammt ab von seinen Vorfahren und »fällt nicht weit vom Stamm«, wurzelt ein in einen Lebensraum, den Generationen vorgeprägt haben. Der Lebensprozess ist Aufstreben und Aufwachsen, Raumgreifen, Blühen, Fruchtbringen, Verblühen, Sterben, Verwehen. Jede Phase trägt in sich eigene Stärken und Schwächen. Glaube wächst in diesem Bild aus dem Nährboden der Kindheit. Wenn dieser Baum nicht durch Gewalt beschädigt wird, liegt in seiner Natürlichkeit ein unaufgeregtes Verbundensein mit den Lebensprozessen des irdischen Daseins. Glaube ist »in die Wiege gelegtes«, unverfügbar geschenktes anthropologisches Potential. Er zieht seine Stärke aus dem ihm eigenen Heimatboden und ist im Wesentlichen genährt durch Familie, Sippe, Landsmannschaft. Pädagogische Interventionen müssen sich eher davor fürchten, dieses zu stören, als dass sie sich zutrauen könnten, sinnvoll diese Pflanze »großzuziehen«. Sie begrenzen sich im Umgang mit anderen darauf, deren Lebensschicksale und -erfahrungen zu teilen und sich selbst als Wesen solchen epigenetischen Flusses zu begreifen. Glaube kommt und bleibt unverfügbar. Auch sein Fortgehen ist zuzulassen. Indem diese Imagination die überindividuelle Naturkraft betont – sich aus theologischen Gründen vor ihr verneigt –, bleibt nur die staunende Beobachtung des Glaubens in seiner Eigenmächtigkeit. Diese Imagination 551
Als ein exemplarischer Vertreter dieses Imaginationstyps mag Schleiermacher gelten, der mit diesem Modell für ein frommes Selbstbewusstsein gewinnen wollte. Hierzu gesellen sich auch Vorstellungen von religionspädagogischen Aufgaben wie der Symbolerziehung oder auch des religiösen Sprachgewinns (z.B. Szagun).
144
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
wehrt jeglicher Vorstellung von Steuerung. Begleitung heißt, mit dem zu gehen, was angelegt ist durch Kultur und Sozialraum, im gemeinsamen Leben mit Traditionen und religiösen Sprachbildern. Auf diese Weise prägt sich Glaube aus als ein charakteristisches, individuelles, urpersönliches Rüstzeug, mit dem sich das Dasein meistern und gestalten lässt. Die Menschheitsgenese als Baum verweigert sich ursprünglich allen Versuchen, dass sich ein Kulturkreis anmaßt, die endgültige Spitze der Geschichte zu sein. Die Imagination betont, dass das Gesamtbild noch weitertreibt, wie ein lebendiger Organismus. Der Impetus des Modells ist die Freude am Aufblühen, Gedeihen und Ernten, integriert aber die grundsätzliche Erkenntnis der nur staubkornartigen Beschaffenheit und der allgegenwärtigen Vergänglichkeit des Menschen.552 Die auf der nächsten Seite abgelichteten Darstellungen zitieren Zeichnungen Haeckels. Sie verdeutlichen auch eine spezifische Fortentwicklung des Modells: Das erste Bild von 1866 visualisiert einen buschig hochwuchernen Baum. Die Äste wachsen feingliedrig in überraschenden Windungen empor. Eine endgültige Krone gibt es nicht. In der zweiten Variante vereinfachte Haeckel 1874 seine Vorstellung entscheidend: Sein anfängliches Evolutionsgestrüpp übertrug er in das Schema einer wuchtigen Eiche. Es legte den Stammbaum des Menschen für lange Zeit auf eine bestimmte Form fest. Auf den Feldern trug er Namen von Tierarten ein. Oben auf der Spitze thronte nun der Mensch zentral auf dem höchsten Punkt des Baumes.553 Entsprechendes lässt sich für die Imagination des Glaubenslebenslaufs als Baum beobachten: Ist bei Herder noch eine Pflanze unfasslicher Naturkraft beschrieben, die keinen ewigen Höhepunkt kennt, ist in Gruehns religiösen Entwicklungsvorstellungen die höchste Entwicklungsstufe mit dem protestantisch-aufgeklärten Frommen besetzt.
552
Als Beispiel für diese Glaubenslebenslaufimagination mag zum einen das Modell von Herder gelten, der damit die Menschheitsgeschichte als bestaunenswerte Fülle der Naturkraft imaginiert, zum anderen auch der Schwerpunkt von Szagun, die in ihren Untersuchungen herausarbeitete, welche grundlegende Bedeutung ›religiöse Heimaten‹ und ›kulturelle Tapete‹ für das Aufblühen oder auch Absterben von Religiosität spielen. 553
Vgl. a.a.O., 158ff.
II.4 Bildpanorama der neuzeitlichen modelle
145
Abb. 1 und Abb. 2: Schemazeichnungen zu Haeckels ›Baum-Imaginationen‹,1866 und 1874554 II. 4. 3 Glaubenslebenslauf als Treppenbogen
Weil alle anderen Imaginationen unter Ideologieverdacht stehen,555 greift diese Vorstellung auf ein vermeintlich neutrales Raster zurück: die biologisch und soziologisch scheinbar festgesetzten Lebensalter. Der Glaubenslebenslauf wird mit ihrer Hilfe strukturiert und dann durch empirische Einzelerkenntnisse coloriert. Diese Imagination ist die theologische Variante der sogenanten Lebenstreppen-Darstellungen, die viele Jahrzehnte in der westlichen Gesellschaft weit verbreitet waren.556 Die Schemazeichnun554
Schemazeichnungen von Helmut Herzog zu Haeckels »Stammbaum der Säugethiere mit Inbegriff des Menschen« von 1866 und Haeckels »Stammbaum des Menschen« von 1874, graphisch zitierend nach JULIA VOSS, Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837-1874, Frankfurt a.M. 2007, 159 und 161. 555
D.h. dass ihnen unterstellt wird, sie postulierten nur ihr erwünschtes Selbstverständnis des Glaubens als höchstes Ziel aller Entwicklung der Religiosität. 556
Der auf- und abschwingende Lebensbogen war das meist anerkannte Abbild seit der Etablierung des genetisch-anthropologischen Denkens. Als Farbdruck im 17., 18., mit Höhepunkt seiner Popularität im 19. Jahrhundert in den Wohnstuben weit
146
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
gen zeigen dieses Bildprogramm der »Stufenalter der Frau« und der »Stufenalter des Mannes«. In neun Phasen wird der Gang des Lebens dargestellt: Kindheit, Jugend, junges Erwachsenenalter, mittleres Erwachsenenalter, hohes Erwachsenenalter, frühes Älterwerden, Alter, hohes Alter, Hochbetagte. Säuglinge und Sterbende sind unterhalb der Treppe zu sehen. In der Gewölbemitte entspricht die Darstellung des Garten Eden der ethisch-moralischen Konnotation des 18. Jahrhunderts, mit der die Rollenvorgaben der Lebensabschnitte visualisiert wurden. Mann und Frau werden jeweils spezifische Aufgaben und Lebensräume zugeteilt. Diese Phaseneinteilungen strukturieren das Miteinander der Generationen, ihr Erstarken und Ermatten als unausweichliche Vorgaben.557 Dem jeweiligen Status sind Rollen und Aufgaben zugewiesen: den Erwachsenen Verantwortung, Verlässlichkeit und Pflichterfüllung; den Kindern das
verbreitet, prägte er das Verständnis der Lebensalter. Er riet und half den Menschen, wenn sie ihn wiederholt angeblickt und dadurch verinnerlicht hatten, die ihnen zugefallene Rolle anzunehmen. Das Modell bestätigte die Gesellschaftsordnung. Es zeichnete zugleich die Richtung des weiteren Weges auf. Phylogenetisch imaginiert diese Ordnung, dass auf eine Phase der Leistungsfähigkeit notwendig Abstieg erfolgt, damit auch Nachgeborene – und andere Kulturen – im Zenit stehen dürfen. Die Verbreitung dieses Modells als farbig gedruckte Lehr- und Schautafel für die Massen, endet signifikant nach den Ernüchterungen des Ersten Weltkrieges und nach den Revolutionen, die Demokratie brachten und das Klassenwahlrecht beseitigten. Zur Lebenstreppe: Vgl. LANDSCHAFTSVERBAND RHEINLAND, Rheinisches Museumsamt, Brauweiler in Zusammenarbeit mit dem Städtischen Museum Haus Koekkoek, Kleve, Die Lebenstreppe. Bilder der menschlichen Lebensalter, Köln 1983; MARTIN SCHARFE, Evangelische Andachtsbilder. Studien zu Intention und Funktion des Bildes in der Frömmigkeitsgeschichte vornehmlich des schwäbischen Raumes, Stuttgart 1968, 297; MARCUS RASCHKE, Die Entwicklung der Lebenstreppe, Norderstedt 2009; CHRISTEL KÖHLE-HEZINGER, Willkommen und Abschied. Zur Kultur der Übergänge in der Gegenwart, in: ANITA BAGUS, KATHRIN PÖGE-ALDER (Hrsg.), Christel Köhle-Hezinger, Alltagskultur: sakral – profan. Ausgewählte Aufsätze, Münster 2011, 11-27, 17f. 557
Vgl. JOSEF EHMER, The »Life Stairs«: Aging, Generational Relations, and Small Commodity Production in Central Europe, in: TAMARA HAREVEN (Hrsg.), Aging and Generational Relations over the Life Course. A historical and cross-cultural perspective, Berlin/New York 1996, 53-74, JOSEF EHMER, Alterstreppe, in: FRIEDRICH JAEGER, Enzyklopädie der Neuzeit, Stuttgart 2005, Sp. 269-272 (1996 und 2005), HUBERT HERKOMMER, Die Lebenstreppe – ein antiquiertes Bild, in : UniPress. Forschung und Wissenschaft an der Universität Bern, 126, Oktober 2005, Lebensalter, 8-10, MARTIN KOHLI, Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und theoretische Argumente, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37(1985), 1-2, RASCHKE, Lebenstreppe.
II.4 Bildpanorama der neuzeitlichen modelle
147
Angewiesensein, ein elementares Lernenwollen und Lernenmüssen; den Alten Bescheidung, Verzicht, Rückzug.558
Als Glaubenslebenslauf-Imagination spricht dieses Modell jedem Lebensalter einen Frömmigkeitstyp zu:559 Kindheit und Alter kommen nahe bei den Glaubensinhalten zu stehen: Lieder, Verse, Geschichten, ritualisierte Gebete. Gesundheit und Belastbarkeit bei starker beruflicher Anspannung vermögen Erwachsene in einen gewissen Abstand dazu zu führen. Die auf- und absteigende Treppe weist darauf hin, dass auch der Stärkste in den »besten Jahren« jäh abstürzen kann. Er gerät damit auf das Niveau der Kinder und Alten. Damit hat er die Möglichkeit, wieder den Basiselementen des Glaubens zu begegnen.
558
Vgl. PETER JOERIßEN/CORNELIA WILL, Die Lebenstreppe. Bilder der menschlichen Lebensalter. Eine Ausstellung des Landschaftsverbandes Rheinland. Rheinisches Museum Brauweiler in Zusammenarbeit mit dem städtischen Museum Kleve 1983/1984=Schriften des Rheinischen Museumsamtes 23, Köln/Bonn 1983. 559
Rousseau und Schleiermacher unterschieden im Sinne der andersartigen sozialen Rollenvorgaben für Mann und Frau, die sich bis in die Lebenstreppendarstellungen des 19. Jahrhunderts auswirken, auch zwischen spezifisch weiblicher und männlicher Religiosität. Zahlreiche Forschungen widmeten sich in diesem Sinne der spezifischen Spiritualität von Mädchen und gehen davon aus, dass das Geschlecht und die sozialen Muster eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung des Glaubens spielen.
148
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Abb. 3 und Abb. 4: Schemazeichnungen zur ›Lebenstreppe‹ der Frau und des Man560 nes
Kindheit und Alter als Zeiten der aktiven Religionsausübung, Jugend als Abschied aus der Welt der Kindheit mit all ihren Märchen, Mythen und den Gehorsam heischenden Regelungen, Erwachsensein als Raum der Pflicht, rastlos durcheilt, so dass kaum Zeit für den Glauben und dessen geringe Anziehungskraft erübrigt werden kann. Er bleibt dennoch der alles tragende Grundstein. Mit seiner Präsenz am Eingang und Ausgang umrahmt er die Erdenspanne der menschlichen Existenz. Der Bogen versinnbildlicht, stark harmonierend, das Kommen in die Welt, das Verweilen und Fortgehen, das eine Heimkehr sein möchte.561
560
Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach: Bilderbogen »Das Stufenalter der Frau«, Entwurf: F. Leiber um 1900, http://www.dhm.de /ausstellungen/lebensstationen/1_178.htm (25.62012), Bilderbogen »Die Stufenalter des Mannes«, http://shop.billerantik.de/products/Exclusive-Motive/Stufenalter-desMannes-Lebensalter-Lebensrad-Geburt-Ehe-Tod-Lebensrad-Exz-3.html (25.6.2012). 561
Als wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imagination dient die Treppe der unhinterfragt standardisierten Lebensalter als Strukturmodell, z.B. bei Fraas und Bucher, d.h. besonders bei Forschern, die versuchen, eben gerade kein Glaubenslebenslauf-Modell vorzulegen und sich hinter das gesellschaftlich-soziale Muster vom Lebenslauf zurückziehen und dies mit Forschungen zur Religiosität ergänzen.
II.4 Bildpanorama der neuzeitlichen modelle
149
Die wissenschaftlichen Texte, die auf dieser Imagination aufbauen, um die zahlreichen Einzeluntersuchungen pro Lebensalter zu sortieren, bieten kompendienhafte Fülle zu jedem Abschnitt, skizzieren den Lebenslauf als Ganzen aber nicht in einer graphischen Abbildung. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass eine tatsächliche Visualisierung dieser Glaubenslebenslauf-Imagination als unsachgemäße Reduktion der vielfältigen Forschungserkenntnisse zum spirituellen Charakter der Lebensalter erscheinen würde. II. 4. 4 Glaubenslebenslauf als geschichtetes Diagramm
Ein weiterer Versuch, Lebenslauf und jeweiliges »Stehen im Glauben« zu imaginieren, systematisiert ein übersichtliches Raster, wie es bei medizinischen Diagnosen verwendet wird. In einer Tabelle sind statistische Normen in Feldern festgelegt. Die spezifischen Werte der einzelnen »Patienten« werden eingepunktet. Übereinstimmung mit den Durchschnittsdaten oder Abweichungen sind sofort ersichtlich. Die exemplarische Abbildung auf der nächsten Seite zeigt die Darstellungen Oser/Gmünders zur Visualisierung ihres Ergebnisses, wie Menschen ihr sogenanntes »Paul-Dilemma« durch religiöses Urteilen lösen.562 Vergleichbar sind zahlreiche weitere tabellarische Darstellungen, wie die hier darunter zitierte von Friedrich Schweitzer, die Eriksons psychosoziale Entwicklungsschichten mit Fowlers Glaubensstufen synthetisiert und so die einfache Einordnung in die entsprechenden Phasen ermöglicht.563 Dieses Modell des Aufeinanderfolgens mehrerer Schichten konzentriert sich – im Gegensatz zur Bogenbrücke – auf den Anstieg. Der Mensch hat den Lebenslauf als epigenetisches Programm in sich: Krisen bringen ihn voran.
562
Vgl. OSER/GMÜNDER, Der Mensch 1992, 180, Fig. 15. Absolute Häufigkeiten der Stufenzuordnungen über alle Altersgruppen für das Paul-Dilemma. »RMS« bezeichnet das »religious maturity score«. 563
Vgl. SCHWEITZER, Lebensgeschichte 62007, 210, Abb. 13. Die nach unten geöffneten geschweiften Klammern sollen hierbei zeigen, dass diese Stufen ein Leben lang erhalten bleiben können.
150
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Abb. 5 und Abb. 6: ›Geschichtetes Diagramm‹
Auch die Menschheit kann sich dieser Vorgabe nicht entziehen: In ihr wächst Erkenntnis, indem sie bisherige Wahrheiten in Frage stellt. Durch neue Antworten erreicht sie ein höheres Lernplateau. Auch diese zunächst befriedigenden Antworten geraten nach einiger Zeit in Zweifel und Konflikte und damit in ihre Krisen. Sie erheischen geistige Anstrengungen: entsprechende Lösungen führen wieder ein Stück weiter.
II.4 Bildpanorama der neuzeitlichen modelle
151
Dieses Bild weiß darum, dass für menschliche Entwicklung viel darauf ankommt, das passende Zeitfenster für einen Anstoß zu ergreifen: Während der Mensch seine psycho-sozialen Aufgaben mit Vernunft, Intelligenz und Kombinationsgaben meistert, steigt Feld um Feld weiter. Wer die Stufen erklommen hat, indem er seine Aufträge erledigte, hat ein Vermögen angesammelt, auf seine Weise mit Problemen fertig zu werden. Die Menschheit steht, wie das Indiviuuum vor der Herausforderung, eine eigene Identität auszubilden und zu festigen. Der Glaubenlebenslauf bedeutet hier einen Zugewinn von in Auseinandersetzungen gewonnenen Erfahrungen. Diese Imagination stellt einen Weg der psychosozialen Gewinne vor Augen. Das Leben kann auf jeder Stufe abbrechen. Damit endet auch der Glaubenslebenslauf auf tiefem oder höherem Niveau. Der pädagogische Impetus dieser Vorlage liegt in der psychosozialtherapeutischen Schulung, mit der der Blick auf den erreichten Stand in Leben und Glauben geschärft wird. Wenn Glaube im Lauf der Jahre verloren ginge, kann dies letztlich zurückgeführt werden auf frühere Abschnitte, insbesondere auf eine unzureichende Verfassung der Basis »Urvertrauen«. Je solider die Schichten der zurückgelassenen Herausforderungen in der Entwicklung sich aufstapeln, desto gefestigter erscheint eine Person. Abbrüche, Rückfälle verhindern nur das volle Menschwerden. Sie sind als Probleme des Glaubenslebenslaufs behandlungsbedürftig. Fragmentarität ist im Idealfall nicht vorgesehen. Der Verlauf des Glaubens ist Teil der Geschichte des Individuums. Seine Probleme muss der Mensch aus eigener Kraft auf eigenen Wegen, selbständig, eigenverantwortlich lösen.564 II. 4. 5 Glaubenslebenslauf als Spirale
Spiralen mit bis zu neun Windungen unterscheiden sich vom geschichteten Aufbau durch ihre auffällig ätherische Konstruktion, diese sich nach oben öffnende Leichtigkeit. Dynamisch entwickeln sich Mensch und Menschheit von unten nach oben, vom Irdischen zum Überirdischen. Spiritualität und Glaube werden, wenn sie denn als solcher Prozess gelebt werden, zu einem befreienden, universalisierenden Potential. Es hebt ihn über sich selbst hinaus bis in die Unendlichkeit, in manchen Visionen auch bis in die Vergöttlichung. Das Modell suggeriert eine evolutionär stringente Kraft des Glaubenslebenslaufs. Gerne wird beschrieben, dass 564
Diese Glaubenslebenslauf-Imagination ist zu beobachten im Modell Eriksons, trifft sich aber auch mit den Theorien Gruehns und ebenso mit den Vorstellungen, die anhand der strukturgenetischen Entwicklung der Erkenntnis (Piaget) Fortschritte des religiösen Urteils attestieren (Oser/Gmünder).
152
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Auf- und Abbewegungen innerhalb der Spirale möglich sind. Lebensalterangaben sind meist vorsichtig eingestreut, denn die spiral-dynamische Glaubensentwicklung kann in jedem Alter beginnen. Allerdings sind ihr kognitive Hürden mitgegeben. Die Entwicklung des Symbolverständnis wird erst einer gewissen geistigen Vermögenskraft zugestanden, so dass die Spirale in den ersten Windungen auch für die ersten Lebensjahre determiniert werden kann. Die ausgewählten Beispiele zitieren graphisch die Darstellung Fowlers und Küstenmacher/Haberers und das diese mitbestimmende holistische Grundmodell der Ebenen der Evolution von Wilber.
Abb. 7 ›Fowlers Spirale‹, Abb. 8 ›Küstenmachers Ich/Wir-Pendel-Spirale‹ und Abb. 9 ›Wilbers Spirale‹565 Die pädagogische Botschaft ist die Aufforderung zur potentialorientierten Entwicklungsanregung, bis hin zur Träumerei unbegrenzter menschlicher Höherentwicklung. Glaubenslebenslauf kennt keinerlei Ziel und keine Begrenzungen durch Inhalte und Dogmatiken der Religionen.
565
Schemazeichnungen von Helmut Herzog graphisch zitierend nach FOWLER, Stufen, 306 und KÜSTENMACHER/HABERER, Gott, 37 und Schemazeichnung von Konstanze Kemnitzer graphisch zitierend nach WILBER, Eros, 152.
II.4 Bildpanorama der neuzeitlichen modelle
153
II. 4. 6 Glaubenslebenslauf als korallenartiges Geäst
Die Koralle ist die eigentlich von Darwin präferierte Imagination für evolutionäre Lebensbewegungen.566 Sie verzweigt sich in unterschiedliche Richtungen, in die Höhe, in die Breite, mit absterbenden Bereichen und überraschend aufblühenden Nebenzweigen. Ihr Anfangspunkt ist in ausgewachsenen Korallen nicht mehr zu fixieren. Die Schemazeichnungen (auf der nächsten Seite) zitieren die weltberühmte Skizze Darwins zur Evolutionstheorie, die er 1837 in Notebook B mit »i think« überschrieb und eine weitere Zeichnung, mit der Darwin seine Überlegungen zum Werden der Nage- und Beuteltiere festhielt. Die Linien visualisieren unterschiedliche Korallenäste, Lücken zeigen Leerstellen und abgestorbene Zweige, aus denen auch wieder Neues entstehen kann. Jede Koralle ist einzigartig in ihrer Form und Größe. Die Koralle als Zeichnung für Stadien des Glaubenslebens567 visualisiert prinzipielle Unvorhersagbarkeit für die Relevanz geistiger Fragen und Themen in den Lebensphasen des Menschseins. Sie bietet keine Prognosen für zwingende Verläufe. Sie impliziert Spiritualität als anthropologische Option. Das Modell suggeriert eine sich evolutionär immer wieder neu zu erweisende Kraft der Religiosität des Menschen. Es ermöglicht kaum mehr als kohortenspezifische Beobachtungen. Prognosen sind grundsätzlich problematisch.
566
Bredekamp analysiert, wie Darwin auf der Suche nach der Vorstellung, die seine zahlreichen Einzelbeobachtungen zusammenbringt, auf das Bild einer Koralle zurückgreift – und dieses Bild erst im Konkurrenzkampf des Wissenschaftsdiskurses semantisch zurückstellt zugunsten des etablierten Redens vom »Baum des Lebens«, verbunden mit der starken Betonung des Aspektes »Aufstieg« und »survival of the fittest«. In den letzten Jahren wurde herausgearbeitet – so erläutert Bredekamp -, dass in Darwins Theorie ein zweiter Baustein elementar wichtig ist, nämlich die Selection in Relation to Sex, »die anarchische Kraft des Ornaments und des schöpferischen Überflusses.« Dies führte Darwin weg von einer Baum-Vorstellung hin zur Koralle, »die Darwin als Alternative zum Baummodell imaginiert hat.« BREDEKAMP Darwins Korallen, 77. 567
Nicht zu verwechseln mit der Farbe »koralle« die Küstenmacher/Haberer in Gott 9.0. als eine weitere Windung ihrer Spirale anvisieren. Darwin meinte das Meereslebewesen.
154
II. Wissenschaftliche Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Abb. 10 und Abb. 11: ›Koralle‹
568
Pädagogisches Handeln muss von der prinzipiellen Fragilität des Glaubens ausgehen und kann sich nicht von einem vagen Entwicklungsziel her legitimieren. Wachstum und Absterben von Korallenästen hängen von vielfältigen Faktoren ab. Nährboden und Wasser mögen bereitgestellt werden, die unwiederbringlich individuelle Ausbildung des Glaubenslebenslaufs ist aber kaum steuerbar. Dies verbietet auch jegliche Grundsatzaussagen, dass Glaube unbedingt irgendeiner psychischen oder biographischen Voraussetzung (z.B. Urvertrauen/Urgeschichten/Archetypen) bedarf. Diese Imagination lenkt den Blick auf das irgendwie schon immer Vorfindliche und regt an, am schon bestehenden ›Körper‹ weiter zu treiben.569 Nach der Analyse wissenschaftlicher Glaubenslebenslauf-Modelle richtet sich der Blick dieser Studie im Folgenden auf ein Material, das zeigt, welcher Art Vorstellungen vom Glaubenslebenslauf im gegenwärtig Alltäglichen sind.
568
Schemazeichnungen von Helmut Herzog graphisch zitierend nach Darwins Diagramm von 1837 aus Notebook B und Diagrammskizze von Darwin zu den Nageund Beuteltieren abgedruckt bei VOSS, Darwins Bilder, Bildtafeln ab 145. 569
Als wissenschaftliche Imagination trifft sie sich mit den Impulsen Streibs und oder anderen Forschenden, Frömmigkeitsstile von Kohorten zu erkunden. Sie schließt zudem an Herders Rede von der Entwicklung als göttliches Labyrinth – undurchschaubar und unvorhersehbar für den Menschen – an.
III. Alltagspraktische GlaubenslebenslaufImaginationen
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
III. 1 Geburtstag – Ritualisierte Gelegenheit
für bildreiche Reflexionen III.1 Geburstag als ritualisierte Gelegenheit bildreicher Reflexionen
Das jährliche Gedenken des individuellen Geburtstages einzelner Personen ist in der westlichen Gegenwartskultur ein gesellschaftsübergreifend bekanntes Phänomen. »Spätestens der dritte Geburtstag löst hektische Aktivitäten zur Inszenierung einer Kinderparty aus, und noch für die ältesten Mitbürgerinnen und Mitbürger ist der Geburtstag ein festlicher Tag. Die Geistlichen widmen einen respektablen Teil ihrer Zeit Geburtstagsbesuchen, und diese werden von den Gemeindemitgliedern durchaus erwartet, manchmal auch befürchtet. Geburtstagsdaten finden sich immer wieder in Lottozahlen. Sie steuern den Blick ins Horoskop. …«.570 Die phänomenologische, kulturwissenschaftliche, historische und theologische Forschung bietet allerdings nur wenige Erkenntnisse zu diesem Thema.571 In aller gebotenen Zurückhaltung angesichts der spärlichen 570
HERMANN BAUSINGER, Happy Birthday …! Zur Geschichte des Geburtstagsfestes, Tübingen 1994, 6. Zur hier angesprochenen pastoralen Aufgabe der Geburtstagsbesuche siehe EBERHARD HAUSCHILDT, Alltagsseelsorge. Eine sozio-linguistische Analyse des pastoralen Geburtstagsbesuches, Göttingen 1996. 571
Vgl. auch a.a.O., 7. Möglicherweise ist die Zurückhaltung bzgl. der phänomenologischen Forschung begründet im interkonfessionellen Konfliktpotential (Geburtstag in Konkurrenz zum Namenstag) oder tabuisiert durch die Erinnerung an die domi-
156
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Forschungslage, sei eine historische Linie gegenwärtiger Geburtstagskultur in Deutschland skizziert:572 Bis ins 17. Jahrhundert hinein war der Tag der Geburt keineswegs generell bekannt.573 Die christliche Gesellschaft574 interessierte sich kaum für den Geburtstag und seine jährliche Wiederkehr.575 Der Eintritt in die Welt vollzog sich in der (verachteten) abgeschirmten576 »Frauenwelt«.577 Die nante Feier des Hitler-Geburtstags im nationalsozialistischen Regime. Hinzu kommt, dass eine kulturanthropologisch materialiter interessierte Volkskunde (siehe HELGA MARIA WOLF, Das neue Brauchbuch. Alte und junge Rituale für Lebensfreude und Lebenshilfe, Wien 2000, 48ff) erst seit wenigen Jahrzehnten Phänomene ›durchschnittlicher Alltagswirklichkeit‹ (Walter Hartinger) erkundet, so dass möglicherweise bislang das Phänomen Geburtstag nur punktuell erarbeitet werden konnte. Dass aus praktisch-theologischer Perspektive nur wenige Studien neben der genannten Untersuchung von Hauschildt vorliegen, überrascht insbesondere in Hinsicht darauf, dass seit den 1960er Jahren, im Zuge des kybernetischen Paradigmenwandel (von der Komm- zur Gehstruktur) der Geburtstagsbesuch zur pastoralen Standardaufgabe avancierte. Bausinger selbst vermutet, dass die Selbstverständlichkeit des Geburtstages und seiner Rituale dazu führt, dass er selten zum Gegenstand empirischer Forschung gemacht wird. Vgl. BAUSINGER, Happy Birthday, 7. 572
Vgl. auch HAUSCHILDT, Alltagsseelsorge, 107ff.
573
Vgl. a.a.O., 20. Bis ins 17. Jahrhundert ist selbst in bürgerlichen Kreisen nicht selbstverständlich, dass man das Datum seiner Geburt weiß. Hilfe bot der Tauftag mit dem Namen des Heiligen. Vgl. MARIE-LUISE HOPF-DROSTE, Der Geburtstag. Ein Beitrag zur Entstehung eines modernen Festes, in: Zeitschrift für Volkskunde, 75. Jahrgang 1979, 229-237, 230. 574
Für antike Kulturen, insbesondere für Ägypten wird erwogen, dass diese Geburtstag feierten. Aber auch hier sind die Forschungserkenntnisse gering. Vgl. dazu HOPFDROSTE, Der Geburtstag, 230 und ihre Erläuterungen zu FRITZ BÖHM, Geburtstag und Namenstag im deutschen Volksbrauch, Berlin/Leipzig 1938. 575
Der Geburtstag wurde schon in der Antike begangen. Allerdings »in ganz anderen Zusammenhängen. Gefeiert wurde der Genius, der jeden Menschen von Geburt an begleitet. Dem Festgott wurde geopfert, und in Gebeten wurde für die Zukunft des Feiernden ein Weg bereitet. Diese Geburts- und Geburtstagsfeier wurde oft sogar jeden Monat wiederholt, der Monats- und nicht der Jahrestag war dann entscheidend. Geschenke allerdings wurden damals schon dem Geburtstagskind gebracht, und die römischen Kaiser machten ihre Geburtstage zu öffentlichen Festen mit Zirkusspielen, Tierhetzen, Paraden, Gladiatorenkämpfen.« BAUSINGER, Happy Birthday, 9f. Die Geschichte des Geburtstags verläuft von diesen Ursprüngen in der Antike keinesfalls kontinuierlich bis in die Gegenwart. 576 577
Von Männern und meist auch für Männer hermetisch abgeschirmt.
Die verachtende Haltung dem Geburtsgeschehen gegenüber beförderte auch die Theologie der Kirchenväter, die den Eintritt in das irdische Leben als Tod für den Himmel und die Ewigkeit interpretierten. Vgl. a.a.O., 10f. In Besinnung auf Christi Geburt konnte aber auch anders argumentiert werden. Die Dichtung des hohen
III.1 Geburstag als ritualisierte Gelegenheit bildreicher Reflexionen
157
soziale Umgebung der durch die Institution Kirche geprägten mittelalterlichen Gesellschaft würdigte erst den Beginn des christlichen Daseins eines Menschen, d.h. seine ritualisierte Aufnahme durch das Geschehen der Taufe.578 Hier erhielt das menschliche Wesen seinen sozial bedeutsamen Namen, meist den des Tauftagesheiligen. Die zeitliche Diastase zwischen Geburtstag und Tauftag betrug einige Wochen, wenn die Durchführung des Sakraments mit der Segnung der Mutter verbunden war, die das Ende des Sonderstatus als Wöchnerin und ihrer Unreinheit markierte.579 Aufgrund der hohen Kindersterblichkeit und der damit verbundenen Sorge um das Seelenheil ungetauft Gestorbener wurde aber oft unmittelbar oder zeitnah getauft – unabhängig vom Zustand der Mutter. Die Hebamme brachte das Kind in die Kirche. Dann fielen Geburts-, Tauf- und Namenstag fast in eins. Als jährlich wiederkehrendes persönliches Jubiläum wurde – wenn überhaupt – des Taufereignisses gedacht, meist aber ohne Brauchtum alljährlichen Gratulierens und Beschenktwerdens.580
Mittelalters erwähnt gelegentlich Geburtstage und Geburtstagsfeiern. Vgl. a.a.O., 11. Verachtung gegenüber der Frauenwelt des Gebärens spricht auch aus den Zeilen in einem Kirchenbuch, (Kirchenbuch der Kirchengemeinde ad Woringensem, Aufzeichnungen der Pfarrer ab 19.8.1616, Handschriftliche Eintragung, Johannes Lang in dessen Abteilung Geschichte, 19.1.1677): »Am 19. Jan. hat Maria Schüllerin müssen das Kind bringen. Da haben die Soldaten nicht auß der Stuben gewollt, ob man sie schon hat gebeten ins Wirthshaus zu gehen, da man ihnen Bier zahlen wolle, sondern haben geschoßen, gesungen, Tabak geraucht, gesoffen bis das Kind gebracht worden, haben auch gesagt: Die Maria werde junge Hünd bringen.« 578
Exemplarisch dazu die Auseinandersetzung Friedrich Lists (aus Reutlingen) um seine Wahl in den Landtag (1819). Die Aufsichtsbehörde erklärte seine Wahl für ungültig, weil er das 30. Jahr noch nicht vollendet hatte. Sie berief sich auf die Eintragung seiner Taufe ins Kirchenbuch. Lists Argument, er könne viele Wochen vorher geboren sein, wurde zurückgewiesen. Vgl. BAUSINGER, Happy Birthday, 21. 579
War das Kind kräftig, wurde die Taufe aber meist erst durchgeführt, wenn die Wochenbettbeschwerden der Mutter abklangen und diese mithilfe der Segnung aus dem als unrein geachteten Status der Wöchnerin (der sowohl herabwürdigende als auch schützende Aspekte hat) wieder in die Gesellschaft zurückkehrte. 580
Anlässlich der wenigen Mittel der meisten Bevökerungsschichten und der geringen Bedeutung des Individuums und seines persönlichen Besitzes (da das Familiengefüge und dessen Habe zählte) gab es für Einzelne, wenn überhaupt, nur zu den etablierten Etappen des Glaubenslebenslaufs Geschenke: zu Taufe, Kommunion bzw. Firmung / Konfirmation. Der Usus des Schenkens (insbesondere durch die Paten) war bei der Feier der Taufe weit verbreitet, je nach materiellem Vermögen. Traditionelle Taufgeschenke waren – und sind z.T. bis in die Gegenwart – Taufkerze, Goldkettchen mit Kreuz- und Schutzengelanhänger, Taufbriefe, Münzen (Tauftaler, heute
158
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Die Feier des Jahrestages einer Person, anlässlich ihres Geburts- oder Namenstages, war erst eine Konsequenz der konfessionellen Spaltung.581 Im Zuge reformatorischer Debatten erwachte das Bewusstsein für die Frage der Feierkultur persönlicher Gedenktage. Martin Luther hatte empfohlen, »das man alle fest abethet und allein den Sonntag behielt«582 und vor allem die Heiligenfeiern und ihre Kulte kritisiert.583 Im Zuge reformatorischer Theologie wurde das Geschehen der Taufe aus der rituellen Patina herausgeschält und in seiner existentiellen Relevanz für die Einzelnen proklamiert. Die Taufe lenkte durch ihre Heilsgabe den Blick auf den Wert jedes Individuums in Christus und öffnete damit auch eine liebevollere Perspektive auf den Eintritt ins irdische Leben des erbarmungswürdigen Geschöpfs. Evangelisch Getaufte entwickelten von nun an eine vorsichtige Achtung des eigenen Geburtstags, begingen ihn jedoch noch kaum feierlich und wenn, dann weniger als kirchliches als vielmehr als weltliches Fest.584 Die Bevölkerung in katholischen Regionen blieb bis ins 20. Jahrhundert beim Namenstag, seit dem 16. Jahrhundert durch die katholische Kirche offensiv gefördert.585 Protestanten wie Humanisten und später Aufklärer setzten umso energischer die Feier des Geburtstages entgegen.586 Festivitäten bei beiden Spielarten,587 blieben aber ein Phänomen der Wohlhabenden.588
meist in Form von Geldgeschenken als Sparbücher), Schmuckstücke, Besteck oder Geschirr. Vgl. WOLF, Das neue Brauchbuch, 152. 581
Vgl. WALTER DÜRIG, Geburtstag und Namenstag. Eine liturgiegeschichtliche Studie, München 1958, 71. Vgl. auch BAUSINGER, Happy Birthday, 12. Ebenso HOPF-DROSTE, Der Geburtstag, 230. 582
MARTIN LUTHER, An den christlichen Adel deutscher Nation (1520), Zum Achtzehenten, Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe Bd.6, Weimar 1888, 445, Z.233. 583
BAUSINGER, Happy Birthday, 12.
584
Vgl. a.a.O., 13.
585
Vgl. BÖHM, Geburtstag und auch AdV-Karte bei REGINE FALKENBERG, Namenstag, in: Diess., Kindergeburtstag. Ein Brauch wird ausgestellt, Berlin 1984, 27-33, 30. 586
Vgl. DÜRIG, Geburtstag, 71.
587
Vgl. HOPF-DROSTE, Der Geburtstag, 231.
588
Diese vermerkten den genauen Termin, z.B. auch zur Erstellung eines Geburtshoroskops. Vgl. REGINE FALKENBERG, Zur Geschichte des Kindergeburtstagsfestes, in: Diess., Kindergeburtstag. Ein Brauch wird ausgestellt, Berlin 1984,16-27,16.
III.1 Geburstag als ritualisierte Gelegenheit bildreicher Reflexionen
159
Der wesentliche Unterschied zwischen der Ausgestaltung des Namenstages und des Geburtstages lag in der sozialen Konstruktion: Der Namenstag war kollektiv589 und kirchlich geformt, rückgebunden an den Gottesdienst und das Kirchenjahr. Der Geburtstag war individuell und gesellschaftlich ausgerichtet. Als solcher war er besonders für jene Kreise, Adel und Spitzen des bürgerlichen Patriziats bedeutsam, die sich solch ausgeprägte Individualiät leisten konnten.590 Bis ins 17. Jahrhundert war die Feier des Geburtstages im wesentlichen eine höfische Sitte591 und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht überall verbreitet,592 besonders nicht in ländlichen Gegenden.593 Die Popularisierung des Geburtstagfeierns verlief von der preußischen Herrscherschicht über das gebildete Bürgertum bis in alle Bevölkerungsmilieus. Modernisierung – verbunden mit der Einführung der flächendeckenden bürokratischen Verzeichnung des Geburtstages594 –, Industrialisierung und Verstädterung wirkten sich auf die Feierkultur aus und verstärkten die Betonung der Bedeutung persönlicher Jubiläen.595 Bis ins Dritte Reich hinein gab es ausgeprägte öffentliche Geburtstagsfeiern herausragender Persönlichkeiten: In den deutschen Ländern wurde am Termin des jeweiligen Regenten gefeiert. Der Geburtstag des preußischen Kaisers und preußischen Königs wurde nach 1871 begangen,596
589
Die Träger eines Vornamens feierten für alle in der sozialen Gemeinschaft sichtbar gemeinsam Namenstag. Dies war besonders in Dörfern mit hoher kollektiver Aufmerksamkeit verbunden. Vgl. BAUSINGER, Happy Birthday, 15. 590
Vgl. ebd.
591
Ab dem 17. Jahrhundert hört man auch das erste Mal von Kindergeburtstagen. Vgl. FALKENBERG, Zur Geschichte, 16. Kindergeburtstagsfeste etablierten sich im 18. und 19. Jahrhundert aus dem Kränzchenwesen. Vgl. a.a.O., 19. 592
Wenn er auch nicht gefeiert wurde, so wurde er doch registriert. Siehe das Brauchtums des Würgens – sowohl zum Namenstag als auch bei protestantischen Geburtstagskindern. Vgl. BAUSINGER, Happy Birthday, 18ff. 593
Vgl. a.a.O., 18.
594
Vgl. a.a.O., 21.
595
Vgl. KAREN GÖRNER, Familiale Traditionen in der Betrachtung über mehrere Generationen – ein Vergleich zwischen Einheimischen und Vertriebenen, in: KURT DRÖGE (Hrsg.), Alltagskulturen zwischen Erinnerung und Geschichte: Beiträge zur Volkskunde der Deutschen im und aus dem östlichen Europa, München/Oldenburg 1995, 67-82, 78. und HOPF-DROSTE, Der Geburtstag, 229-237. 596
Kaisers Geburtstag am 18. August wurde vielbeachtet in allen Städten der österreichischen Monarchie und in zahlreichen Orten des Auslandes als Sommerfest
160
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
ebenso in der Habsburger Doppelmonarchie. Offiziell wurde Hitlers Geburtstag letztmals am 20. April 1945 proklamiert, wenige Tage vor dessen Suizid und der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht. Die öffentliche Aufmerksamkeit und Inszenierung solcher Geburtstage erstarb jäh nach dem zweiten Weltkrieg.597 Mit der Verbreitung des Wohlstandes ab Mitte der 1950er Jahre und der Verstärkung säkularisierender Prozesse, die die Bekanntheit katholischer Heiliger weiter sinken ließ, setzte sich die Wichtigkeit des Geburtstages für jedes Mitglied der Gesellschaft weitgehend durch598 – ob getauft oder ungetauft.599 Er verlor jegliche geistlich-kirchliche Spuren, so auch die bis in die 1950er Jahre in Schlesien noch verbreitete Segnung eines Kindes an seinem ersten Geburtstag.600 Ab dem 20. Jahrhundert spielt die genaue Kardinalzahl des neuen Lebensjahres eine Rolle. Die Quantifizierung aller den Menschen interessierenden Phänomene ist ein neuzeitlicher Prozess und geschieht in einer spezifischen kulturellen Weise.601 Nun steht das Messen des Daseins im patriotischen Charakters gefeiert. Berichte über betreffende Veranstaltungen füllten tagelang die Zeitungen. Neben der offiziellen Kirchenfeier gab es zahlreiche weitere Garten- und Sommerfeste zu diesem Anlass. Vgl. WOLF, Das neue Brauchbuch, 228f. 597
Vgl. BAUSINGER, Happy Birthday, 23f.
598
Geburtstagsfeste, wie wir sie heute in der westlichen Kultur kennen, finden sich als gesellschaftlich durchgängig verbreitetes Phänomen erst nach dem zweiten Weltkrieg. Vgl. FALKENBERG, Zur Geschichte, 22. (Befragungen zu Kindergeburtstagen.) 599
Wenn es noch heute Regionen gibt, die den Namenstag stärker gewichten, so sei dies darauf zurückzuführen, dass der Geburtstag und seine Feier zu den unwichtigen Dingen gehöre, die die Moderne erst ganz langsam nach sich zöge, für deren Verbreitung aber die allgemeine kulturelle Uniformierung sorge. Vgl. HOPF-DROSTE, Der Geburtstag, 237. 600 601
Vgl. GÖRNER, Familiale Traditionen, 78.
Vorindustrielle Gesellschaften orientieren sich an den Rhythmen der Natur. Das Jahr ist strukturiert durch die zyklisch wiederkehrenden Festtage. Hier hinein passt der Namenstag. Je industriealisierter eine Gesellschaft ist, desto entscheidender wird mit dem Längerwerden der Verflechtungsketten die Orientierung an quantifizierten Zeiten. Vgl. HOPF-DROSTE, Der Geburtstag, 233 und dazu EDITH FÉL/TAMÁS HOFER, Bäuerliche Denkweise in Wirtschaft und Haushalt, Göttingen 1972, 413ff und ARNOLD LÜHNING, Gemessene Zeit. Ausstellung zum 100jährigen Jubiläum, SchleswigHolsteinisches Landesmuseum, Schleswig 1975, RUDOLF BRAUN, Sozialer und kultureller Wandel in einem ländlichen Industriegebiet, Zürich/Stuttgart 1965. Die Quantifizierung befördert den Siegeszug des Geburtstages gegenüber dem Namenstag zusätzlich. »Der Namenstag entspricht einer zyklischen Zeitvorstellung, der Geburtstag einer mehr linearen.« HOPF-DROSTE, Der Geburtstag, 232.
III.1 Geburstag als ritualisierte Gelegenheit bildreicher Reflexionen
161
Mittelpunkt:602 Man feiert den Zugewinn der neuen Jahresziffer, nicht den Tag seiner Geburt im Sinne eines zyklischen Gedächtnisses.603 »Der Vorname und selbst der Nachname gehören noch zu einer Welt der Phantasie – im Falle des Vornamens – oder der Tradition im Falle des Nachnamens. Das Alter, eine Quantität, die sich auf Grund gesetzlicher Vorschriften bis fast auf die Stunde genau bestimmen lässt, entspricht einer anderen Welt, der der Exaktheit und der Ziffer.«604 Kindern eröffnen sich mit steigenden Zahlenwerten scheinbar immer größere Freiheiten. Ältere Menschen ringen um Identifikation mit einer erreichten Jahreszahl. Hochbetagtere wiederum kämpfen manchmal geradezu um das Erreichen der nächsten Station.605 Zunehmende Privatisierung prägt die Feierkultur.606 Der Geburtstag wird heute im wesentlichen als nichtöffentliches Ereignis begangen.607 Die historischen Prägungen des Geburtstagsgedächtnisses von der christlichen Taufe her mit den Kernelementen ›soziale Statuserinnerung‹ und ›persönliche Heilsverortung‹ werden im nahen Umfeld zelebriert: Einmal im Jahr nutzen Familien-, Freundes-, Kollegen- und Bekanntenkreise den Geburtstag, um ihre persönliche Wertschätzung auszudrücken. Die individuelle Geburtstagskultur verdichtet sich auf die Reflexion, ja im Zuge der weiter voranschreitenden Quantifizierungsprozesse mag man 602
Vgl. a.a.O., 236.
603
Symbolik der Quantifizierung: Zunehmende Zahl an Kerzen, Ziffern auf Kerzen, manchmal auch zunehmende Zahl an Zuckerstücken auf einem Kuchen, Armbändchen für das Geburtstagskind, etc. Buntverzierte Jahreslichter bekamen ihren Platz auf Geburtstagstischen vermutlich um 1900. Vgl. REGINE FALKENBERG, Im Glanz der Lichter, in: Diess., Kindergeburtstag. Ein Brauch wird ausgestellt, Berlin 1984, 62-69, 63ff. Quantifizierung ist immer innerhalb eines bestimmten kulturellen Musters entwickelt. Siehe dazu: PHILIPPE ARIÉS, Geschichte der Kindheit, München 1976, 69ff und HOPF-DROSTE, Der Geburtstag, 233f. Damit verbindet sich auch die Vorstellung, dass Zeit Geld ist: Zeitvermehrung entspricht Wohlstandsgewinn. 604
ARIÉS, Geschichte, 70. Dies gilt wohlgemerkt vor allem für die von der Aufklärung geprägten westlichen, christlichen Gesellschaften und stellt bis hin in die Integrationsdebatte vor Herausforderungen. Vgl. SINASI DIKMEN, Mein Geburtstag, in: Ders., Wir werden das Knoblauchkind schon schaukeln. Satieren, Berlin 1983 und BAUSINGER, Happy Birthday, 8f. 605
Vgl. auch a.a.O., 22. Vgl. auch GÖRNER, Familiale Traditionen, 78.
606
Vgl. BAUSINGER, Happy Birthday, 22f. Auch dies führte dazu, dass der kollektiv geprägte Namenstag gegenüber dem Geburtstag an Bedeutung verlor. 607
Derzeit zeigen sich aber auch neue Prozesse der sozialen Ausweitung des Geburtstags. Private Räume werden als verengt empfunden und zu weiten versucht. Vgl. a.a.O., 24.
162
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
formulieren, der Bilanzierung des eigenen Lebens, einschließlich Rück- und Vorschau. Hierbei können existentielle Fragen nach Sinn und Erlösung aufkommen – im Zuge der Entchristlichung freilich in pluralistischer Fülle oder offener Leere der Horizonte menschlichen Daseins. Der Geburtstag als herausgehobener Tag im Jahres- und Lebenslauf ist ein gesellschaftliches Ritual für den Einzelnen zur »Lebensfreude und Lebenshilfe«608 . Menschen nehmen den mittlerweile fest sozial etablierten Ort ›Geburtstag‹ und werfen einen Blick meist voller Einfühlung auf das zu feiernde Gegenüber. In ihren Äußerungen enthüllen sie mit ihren Gesten und Worten das eigene Verständnis ihres Selbst, ihrer Werte, der Zeit und der Welt. Sie bewegen sich dabei innerhalb des sie umgebenden kulturellen, religiös-christlich geprägten Möglichkeitsraumes.609 Damit liefern sie im Umgang mit dem säkularisierten, nie völlig christlichen Ritual ein breites Material über das Verhältnis zum ›Wieder-einJahr-älter-Werden‹ innerhalb der Bevölkerung: Stimmungen, Einsichten, Akzeptanz und Ablehnung treten zu Tage. Die vorliegende Arbeit kann mit dieser Fülle die Glaubenslebenslauf-Dimension im Phänomen ›GeburtstagBegehen‹ fokussieren.
III. 2 Internet-Geburtstagsgedichte als
Gratulationsphänomen
III.2 Internet-Gedichte als Gratulaitonsphänomen
Die Wiederkehr des Geburtsdatums im Kalender eines vertrauten Menschen oder eines, dem man Aufmerksamkeit gerne oder gezwungen schuldet, bringt Mitmenschen dazu, diesen an seinem Tag zu achten. Die Gratulanten können sich genötigt fühlen, dem zu Ehrenden Wortspiele und Reime, humorige oder gestelzte Sprachergüsse mehr oder weniger spontan zu widmen. 610 (Manchmal wird ein Geschenk mit überreicht.) Die Gratulationsworte können auch über Telefon und Internet, über Brief, Fax, Grußkarte und Zeitungsannonce übermittelt werden.611 608
Mit diesen Begriffen markiert Helga Wolf die soziale Funktion von Volkskultur. Vgl. WOLF, Das neue Brauchbuch, 35. 609
Siehe dazu die Begriffsklärungen in der Einleitung.
610
Vgl. dazu exemplarisch die Dokumentation der Ausstellung zum Teil äußerst berührender Exponate zum Thema Kindergeburtstag, in: REGINE FALKENBERG, Kindergeburtstag. Ein Brauch wird ausgestellt, Berlin 1984. 611
Vgl. REGINE FALKENBERG, Herzlichen Glückwunsch, in: Diess., Kindergeburtstag. Ein Brauch wird ausgestellt, Berlin 1984, 33-41, 33.
III.2 Internet-Gedichte als Gratulaitonsphänomen
163
Die Gratulierenden besinnen sich auf das Dasein des anderen. Sie prüfen, wo dieser derzeit steht, blicken für ihn zurück und wagen, in die Zukunft zu schauen. Diese Zuwendung konziliert im imaginativen Überblicken des Lebenslaufes. 612 Der so wichtig gemachte persönliche Termin regt das Geburtstagskind seinerseits zu eigener Imaginationsleistung an. Diese Art zu gratulieren hat ihre Geschichte: Eine besondere Verdichtungsleistung stellt die gereimte Form der Gratulation dar. Im 17. Jahrhundert eilte die vereinzelt schon im Mittelalter bekannte poetische Gattung des lyrischen Angebindes ihrem Höhepunkt zu: Zierliche Verse bekundeten dem Beschenkten Freundschaft, Loyalität und Respekt.613 Dichter wie Martin Opitz, Andreas Tscherning oder Andreas Gryphius schmiedeten vor allem für festliche Anlässe höfischen Lebens professionelle Verse, um sich durch deren Bezahlung ein Zubrot zu verdienen.614 In bildungsbewussten Bürgerfamilien verbreitete sich dieses Brauchtum, zu Ehren des Geburtstagskindes zu reimen. Die Volksbildungsbestrebungen im 19. Jahrhundert förderten die Voraussetzungen für die schriftliche Fixierung persönlicher Anliegen in weiten Teilen der Bevölkerung.615 Ausführliche Gedichte blieben jedoch bildungsnahen Schichten vorbehalten. Für die Allgemeinheit vereinfachten die mündlich standardisierten Gratulationsformeln und bekannten gereimten Verse die Ausdrucksbemühungen.616 Ab dem 19. Jahrhundert wuchs der Bestand an Hilfsliteratur, 612
Hierzu ist ein Blick auf die Imaginationstheorie Prysers bereichernd. Er entwickelt, dass Imaginationen dazu dienen, einen dritten Raum zwischen der autistischen, völlig privaten Innenwelt eines Subjekts (Phantasien, Träume etc.) und der realistischen Außenwelt (Sinneswahrnehmungen, Objekte, andere Menschen) hervorzubringen. Diesen dritten Raum nennt Pryser ›illusionistische Welt‹, abgeleitet von ludus (Spiel). Dieser spielerisch-ernst hervorgebrachte imaginäre Zwischenraum ist die Kultur (vgl. auch Johan Huizinga) bzw. das kulturelle Symbolsystem (nach Clifford Geertz). Der Zwischenraum existiert nur durch Imagination, die Schnittmenge zwischen autistischer und realistischer Welt. Vgl. PRUYSER, The Play, 65. Die Verbindung von Ritualtheorie und Imaginationstheorie beleuchtet TRAUT, Ritualisierte Imagination. 613
Vgl. Happy Birthday, 16.
614
Vgl. THEODOR KOHLMANN, Zum Geburtstage meines lieben Vaters, in: REGINE FALKENBERG, Kindergeburtstag. Ein Brauch wird ausgestellt, Berlin 1984, 41-45, 45. 615 616
Vgl. FALKENBERG, Herzlichen Glückwunsch, 33ff.
Die postalische Entwicklung im Deutschen Reich nach 1871 förderte die Verbreitung von Postkarten, ein Kommunikationsmittel, das auch nicht schreibgewandten Menschen, die Übermittlung von Glückwünschen ermöglichte. Für Geburtstagspostkarten gab es sogar Sammelalben. Vgl. a.a.O., 38f.
164
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
der zunächst besonders Kinder beim Formulieren und Schreiben unterstützte.617 Schulen förderten das Verfassen von Glückwunschbriefen, die Reimform diente als pädagogisches Gerüst. Nach dem ersten Weltkrieg wurden die Formulierungen individualisiert.618 Seit den 1970er Jahren verbreitete sich die Veröffentlichung von – wiederum oft gereimten – Geburtstagsglückwünschen als Familienanzeigen in Lokalzeitungen, zunächst nur zu runden Jubiläen.619 Trotz Medialisierung der Geburtstagsgratulation hält sich die persönliche Formulierung der Wünsche durch Freundeskreise und Familien als Zeichen besonderer Wertschätzung, und obwohl goldgeprägte Texte festliche Karten zieren, versuchen Menschen mehr als nur ihren Namen darauf zu verzeichnen. Inspiration und Formulierungshilfe bieten bis heute Gratulationsgedichtebücher. Mehr und mehr machen ihnen Internetforen diesen Rang streitig. Dort veröffentlichen Autoren unterschiedlichster Prägung Geburtstagsgrußworte, manchmal in schlichter Prosa, meist aber in Reimen.620 Einzelne greifen dort wiederum auf Werke oder Aussprüche bekannter Dichter zurück und versehen diese mit Aktualisierungen. Dieses Phänomen der Geburtstagsgedichte im Internet wurde bei der hier in ihren Ergebnissen präsentierten Untersuchung durchleuchtet. In 617
Heftchen und Büchlein mit Titeln wie »Kindliche Wünsche für häusliche Feste oder Glückwünsche und Albumfeste«. Vgl. KOHLMANN, Zum Geburtstage, 43f. Vgl. auch die Auflistung von Geburtstagswunsch-Literatur in REGINE FALKENBERG, Kindergeburtstag. Ein Brauch wird ausgestellt, Berlin 1984, 172ff. 618
Vgl. KOHLMANN, Zum Geburtstage, 45.
619
Die Zunahme dieser Anzeigen werten Popularkulturforschende als Gegengewicht zur Privatisierung des Festes. Vgl. FALKENBERG, Herzlichen Glückwunsch, 41. 620
Aus der Perspektive der Milieuforschung wurde das Phänomen der Geburtstagsgratulation bisher nicht untersucht. Die vorgenommene Analyse konzentrierte sich auf das anvisierte Forschungsanliegen. Sicherlich ist aber zu vermerken, dass die gereimte Form einer Gratulation keineswegs in allen Bevölkerungsgruppen verbreitet ist, sondern eine gewisse Affinität zu grundbildungsnahen Milieus aufweist. Geburtstagsgedichte sind – zumindest in der hier untersuchten Variante der InternetGeburtstagsgedichte – allerdings keineswegs nur für das hochkulturelle Milieu interessant, sondern sprechen gerade die bildungsorientierten Harmoniemilieus und Bodenständige an. Insgesamt ist vor einer milieutheoretischen Verengung allerdings zu warnen, insbesondere im Blick auf das Medium Internet. Aus der Perspektive des Pfarrberufs ist die Wortfindung auch eine professionelle Herausforderung. Im Kontext von Geburtstagen, insbesondere runden Feiern wird vielerorts von Pfarrerinnen und Pfarrern, oder auch von Besuchdienst-Beauftragten im Namen der Kirchengemeinde erwartet, dass sie ebenfalls ein paar Sätze sprechen. Dies bedeutet gewiss nicht, dass Pfarrerinnen und Pfarrer den Stil der Gedichte übernehmen sollen. Sicherlich ist aber erhellend, auf die Weisen nicht-pastoraler Gratulationen zu hören.
III.3 Die Methode der Analyse
165
diesen Gedichten wird für eine an der Lebenswelt interessierte, material informierte Praktische Theologie ein Stück kostbarer »Alltagssound«, Ausdruck von gegenwartsgebräuchlicher Sinndeutung und Feierkultur, greifbar. Reim und Form sind zwar oft banal – aber zugleich stecken sichtlich viel Anstrengung und Engagement sowohl im Erstellen der Gedichte als auch darin, sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das hier investierte »Herzblut« macht das Medium spannend, manchmal lustig und teilweise anrührend. Offen bleibt der alltagspraktische Einsatz: Die Gedichte eignen sich sowohl zum schriftlichen als auch zum mündlichen Gebrauch von der kleinen Feier bis zum größeren Fest.
III. 3 Die Methode der Analyse III.3 Die Methode der Analyse
Die Geburtstagsgedichte wurden auf verschiedenen Internetseiten gesammelt.621 Um möglichst beliebte und oft aufgerufene Anbieter zu besuchen, wurden sie mithilfe großer Suchmaschienen angesteuert.622 Als besonders ergiebig erwiesen sich Homepages, die unter speziellen Rubriken Gedichte für jedes Lebensalter bereit stellen. Verse, die zu jedem Alter passen sollen, wurden in einer eigenen Kategorie dann aufgenommen, wenn sie einen Eindruck von einer Vorstellung für den gesamten Lebenslauf vermitteln. Trotz der unterschiedlichen dichterischen Qualität wurden die Gedichte eingehend betrachtet und in ihrer alltäglichen Gestaltung als Angebote der Gratulierenden an das Geburtstagskind gelesen, das Dasein im Licht der gesellschaftlichen Konventionen des säkularisierten, christlich gepräg-
621
Internetgedichten haftet eine vielgestaltige Alltäglichkeit an. Sie sind nicht zum Ziele einer Buchveröffentlichung redaktionell überarbeitet. Hinter den Websites stehen Anbieter, die – oft mit verlinkter Werbung für Geschenkartikel oder ähnliches – kostenlos Geburtstagsgedichte veröffentlichen. Hier stellen unterschiedliche Autorinnen und Autoren Texte ein. In der Regel sind dies Gedichte, die im privaten Kontext entstanden und auf diese Weise weitergegeben werden – zur freien, privaten Nutzung, Inspiration, Weiterdichtung, etc. Manchmal finden sich auch gewerblich Schreibende darunter, die in großer Zahl Gedichte für Anlässe aller Art formulieren. 622
Bekannte Suchmaschinen listen die Treffer nach der höchsten Übereinstimmung mit der Anfrage und nach der Zahl der Aufrufe. So kann davon ausgegangen werden, dass die in die Untersuchung aufgenommenen und gesichteten Gedichte die Wahrnehmung einer breiten Bevölkerungszahl spiegeln – ansonsten ist diese Untersuchung aber natürlich exemplarisch, nicht umfassend zu verstehen.
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III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
ten, kulturellen Möglichkeitsraums zu betrachten.623 Besondere Beachtung fanden sprachliche Signale, die Existentialien streifen (Hoffnung, Sinn, Lebenswerte) aber auch auf alltägliche, z.T. schlichte oder deftige Beschreibungen der imaginierten Lebenswelt des Geburtstagskindes. Die Analyse bezog über 200 Gedichte ein: zehn bis 25 Exemplare pro Lebensjahrzehnt (von null bis über 100 Jahre), darüber hinaus weitere unter der Überschrift »allgemeine Geburtstagsgedichte« und unter der Rubrik »explizit christliche Geburtstagsgedichte«. Deren spirituelle Anspielungen sollten auf diese Weise die Interpretation der anderen nicht vorschnell lenken. In der folgenden Ergebnispräsentation sind sie in den Abschnitt III.4.2 eingegangen. Dort spezifizieren sie die Ambivalenzen, die in den anderen Gedichten zu jedem Lebensalter erhoben wurden. Die untersuchten Texte sind unterschiedlich lang, vom Vierzeiler bis zu über 20 Versen. Eine Auswahl wird in den Fußnoten präsentiert. Autorinnen und Autoren wurden so wiedergegeben, wie sie im Internet zum damaligen Zeitpunkt bezeichnet waren, auch wenn es sich dabei oft nur um Kurznamen handelt.624 Schreib- und Tipfehler wurden behutsam korrigiert. Die Imaginationsanalyse ging in fünf Schritten vor: Zunächst wurden die Gedichte einzeln wahrgenommen und für sich stehend interpretiert. Dann wurden sie nach den Kategorien ›Stimmung‹, ›Bildwelt/Leitmotive‹, ›Modellvorstellung(en) zum Lebenslauf‹, Andeutungen zu ›Herausforderungen, Chancen und Aspekten einer Lebensphase‹, ›Charakterisierung der Persönlichkeit und Beschreibung des körperlichen Zustandes des Geburtstagskindes‹, ›Geburtstagswünsche‹ und ›Appelle‹ durchsucht und auf diese Weise zueinander in Beziehung gesetzt. Der dritte Arbeitsgang trug die Aspekte für jedes Lebensjahrzehnt zusammen, mit dem Ziel, die verbreiteten Motive für eine Altersgruppe zu erfassen. Der vierte Schritt erhob die im Betrachten der Gedichte sich aufdrängenden Ambivalenzen, die den Spannungsraum prägen. Dieser inspiriert die Gratulierenden zu ihren Imaginationen. Abschließend wurden die Glaubenslebenslauf-Imaginationen der Internetgedichte auf herausragende derzeit verbreitete Bilder verdichtet. 623
Die Auseinandersetzung mit Internet-Gedichten versteht sich als eine Variante des Aufspürens von »Laientheologie«. Vgl. CHRISTOPH MÜLLER, »So kommen wir denn alle aus Gottes Bauch«. Zur Einholung der Laienperspektive in die (praktisch)theologische Reflexion, In: Pastoraltheologie 99. Jg., Göttingen 2010, 513-529. 624
Fehlt eine Namensangabe, dann war das Gedicht auf der Website ohne ersichtlichen Autor veröffentlicht.
III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
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Im Weiteren werden die zentralen Ergebnisse präsentiert: Beschreibungen der Lebensjahrzehnte, die Matrix an Ambivalenzen des Geburtstags als Insprirationsraum der Imaginationen und die herausragenden alltagspraktischen Glaubenslebenslauf-Imaginationen.625 Die Darstellung in Zehnerschritten liegt nahe, da dies auf den Websiten so vorgenommen wird.626
III. 4 Internet-Geburtstagsgedichte –
Ergebnisse der Analyse III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
III. 4. 1 Imaginationen vom Lebensalter III. 4. 1. 1 Für Ein- bis Zehnjährige
In Geburtstagsgedichten für Kinder bis zu zehn Jahren überwiegt ein zärtlicher, liebevoller Grundton. In keiner anderen Lebensphase wird so ohne Umschweife der Zuneigung zum Geburtstagkind Ausdruck gegeben und von körperlicher Nähe und Liebkosungen geschrieben: »Zum Geburts625
Jedes Gedicht, das zur Veranschaulichung der Ergebnisse im Apparat angeboten ist, hat natürlich immer noch darüber hinaus gehende Pointen, soll aber für jeweils einen Aspekt als Beispiel dienen. Dabei wird angestrebt, dass der analytische Haupttext in enger Korrespondenz zu den ausgewählten Gedichten bleibt und ein mehrdimensionales Beobachten und gedankliches Fortschreiben der Ergebnisse möglich ist. 626
Dies mag ein Signal dafür sein, dass die dekadische Lebenstreppe, die sich über Jahrhunderte gegenüber anderen Einteilungen durchgesetzt hatte (vgl. EHMER, The »Life Stairs«, 54f) zwar nicht mehr in ihrer Bildlichkeit aber doch in ihren Zehnerschritten weiterhin im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert ist. Die Einteilung in Jahrzehnte wird im späten Mittelalter verbreitet, dichterisch erstmals im Augsburger Liederbuch der Clara Hätzlerin von 1471. Vgl. UTE VON BLOH, Teuflische Macht. Das alte Böse, die böse Alte und die gefährdete Jugend, in: KLAUS RIDDER, Fastnachtsspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten, Tübingen 2009, 327-345, 338 und KRISTINA BAKE, Geschlechterspezifisches Altern in einem Lebensalter-Zyklus von Tobias Stimmer und Johann Fischart, in: HEIKE HARTUNG (Hrsg.) Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alters, Bielefeld 2005, 113-133, 117 und KRISTINA BAKE, ›Unser Leben währet siebzig Jahre und wenn’s hochkommt so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist’s Mühe und Arbeit gewesen.‹ Die zehn Alter von Mann und Frau des Tobias Stimmer (?) als Spiegel des bürgerlichen Lebens um 1575, in: ULF DRÄGER UND KRISTINA BAKE (Hrsg.), ›Die Güter dieser Welt‹. Schätze der Lutherzeit aus den Sammlungen der Moritzburg Halle, Begleitband zur Ausstellung, Halle a.d. Saale 2000, 23-37. Die Zehnereinteilung begegnet schon seit der Antike (Solon) neben anderen allegorisch zu verstehenden Zahlensystemen.
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III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
tag Küsschen, Küsschen ... / viele Bussis sollst Du kriegen / von allen, die Dich herzlich lieben. / Einige, die sich nicht trauen, werden schüchtern seitwärts schauen / und sich fürchterlich genieren, / einen Luftkuss fabrizieren. / Andere werden sich kaum schämen / und Dir doch glatt die Puste nehmen. ... Doch wie immer man Dich küsst, / ich wünsch mir, dass Du glücklich bist!«627 Die Kindheit wird als »des Lebens Sinnbild« gerühmt.628 Lebensfreude und Fröhlichkeit, Gegenwartsfähigkeit629 und die Gabe, zu staunen und zu träumen,630 sind herausgehobene Charakteristika. Inspirierender als alle Weisheit der Welt sind die Kinder.631 Im Kontrast zu den Aussagen, die die Weichheit und Leichtigkeit der Kindheit betonen, animieren die immer wieder zu lesenden Aufforderungen, sich durchzusetzen, »durchzubeißen«: »Da schaut nur an, / den ersten Zahn / hat unser Schelm bekommen! / Und wie der beißt, / wenn er ihn weist. / Nur ja in acht genommen. ... / Nun sei kein Dalk / und sei kein Schalk / und beiße frisch und munter / vom Fleisch und Brot, / bis in den Tod / dir deinen Teil herunter!«632 Kinder werden beschworen, sich zu wehren, sich mutig in der Welt zu behaupten.633 Der starke Wille und das kraftvolle Wachstum der Kinder
627
http://www.kindergeburtstag.ws/html/spruch_1_bis_17_jahre.html (18.10.2011). Sie auch ein Gedicht voller Liebesmetaphern mit G. von der Vring, auf http://www.geburtstags-feste.de/sprueche-erster-geburtstag-.html (7.4.2011). 628
http://www.geburtstagsspruch.de/html/geburtstagssprueche_fuer_kind.html (18. 10.2011). 629
Gratulationsworte mit Jean de la Bruyère, http://www.geburtstags-feste.de/sprucherster-geburtstag-.html (7.4.2011). 630
Gratulation zum 1. Geburtstag mit August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, »Wie mein Kind sich freuen kann!« http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-hoffmann-fallersleben.html (5.5.2012). 631
Mit Theodor Fontane, »Ein Juchzen aus frischer Knabenkehle«, http://www. geburtstags-feste.de/gedicht-erster-geburtstag-2.html (17.10.2011). 632
Friedrich (7.4.2011). 633
Güll,
http://www.geburtstags-feste.de/gedichte-erster-zahn.html
Vgl. http://www.geburtstagsspruch.de/html/geburtstagssprueche_fuer_kind.html (18.10.2011). Oder auch mit Johann Wolfgang von Goethes »Nutze deine jungen Tage, lerne zeitig klüger sein.« http://www.geburtstagsspruch.de/html/geburtstagssprueche_ fuer_ kind.html (18.10.2011).
III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
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werden gerne gelobt, oder auch mit Augenzwinkern über die Mühen, die sie den Erwachsenen abverlangen, geschildert.634 Zugleich findet sich häufig ein melancholischer Grundton: Beim Dichten für das Geburtstagskind wird bewusst, wie schnell die Zeit vergeht – ein Gedanke, der sich auch mit der Äußerung »alles wird sich wiederholen« und mit der Frage nach dem, was bleibt, verbinden kann: »… Du bringst Licht und Sonnenschein / in alle unsere Tage. / Dass wir dir dafür dankbar sind, / das ist wohl keine Frage. / Niemals hätten wir geahnt, / wie schnell die Zeit verfliegt, / vor so wenigen Jahren erst, / sangen wir dir ein Wiegenlied. / Vieles ändert sich im Leben, / doch eines sicher nicht, / egal was war, was kommen mag, / fest steht: wir lieben dich!«635 Ergriffenheit und Rührseeligkeit spiegeln sich in den Internetgedichten auch in der Auswahl an Zitaten zum Geburtstag eines Kindes.636 Die Bildwelt bestimmen Himmelskörper und Natur: Mond, Sterne, Sonne, Wolken, Licht, Blumen, Schmetterlinge. Die Kindheit liegt nahe bei der Traumwelt: »Schaukeln und Gaukeln / halb wachender Traum. / Schläfst du, mein Kindelein? / Ich weiß es kaum. / Halt zu dein Äuglein, / draußen geht der Wind; / spiel fort dein Träumlein, / mein herzliebes Kind! / Draußen geht der Wind, / reißt die Blätter vom Baum, / reißt die Blüten vom Zweig. / Spiel fort deinen Traum! …«637 Spielzeuge sind trotz ihrer gegenwärtigen Flut als Konsumartikel nicht zu benannt. Sie werden – wenn überhaupt – nur durch das klassische Objekt Puppe repräsentiert.638 Geburtstagswünsche für Kinder betreffen neben Gesundheit, Frohsinn und Glück639 oft Tugenden und Werte, besonders: Liebesfähigkeit, Freude
634
Anneliese Horn spannt von den ausgibig beschriebenen Mühen und Sorgen, die ein Baby macht einen weiten Bogen bis zu den Mutter- und Vaterfreuden, die das erwachsen geworden Kind einst selbst ebenso herausfordern werden wie heute die Eltern des Einjährigen. Vgl. http://www.geburtstags-tipp.de/gedicht-1ster-anneliesehorn.html (18.10.2011). 635
Sabine Etheridge (Gedicht für unseren Sohn zum 10. Geburtstag), http://www.gedichte-fuer-alle-faelle.de/geburtstagsgedichte/index.php?fnr=395 (26.9.2011). 636
Besonders beliebt sind klassische und romantische Dichter. Ein Favourit ist überdies Antoine de Saint-Exupery, vgl. z.B. http://www.geburtstagsspruch.de/html/ geburtstagssprueche_fuer_kind.html (18.10.2011). 637
Wilhelm Raabe, http://www.geburtstags-feste.de/gedichte-erster-geburtstag-1.ht ml (7.4.2011). 638
Z.B. Angela Keinert, http://www.geburtstagsspruch.de/html/geburtstagssprueche _fuer_kind.html (18.10.2011).
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III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
an der Wahrheit und Kraft zum Gutsein: »Freu dich des Schönen, / lerne es lieben. / Suche das Gute, / lerne es üben. / Schaff, dass die Wahrheit / stets in dir wohne, / als deines Herzen herrlichste Krone. …«640 Oft bewegt die Dichtenden Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens, Hoffnung auf Schutz und Segen für die Kinder und Bitte um Lebensgeleit und Orientierung in volkstümlichen Gewand: »… Drum wünsch’ ich dir für dein Leben: / Lass Gott dir Ziel und Richtung geben.«641 III. 4. 1. 2 Für Zehn- bis Zwanzigjährige
Für das zweite Lebensjahrzehnt ist die Zahl der Geburtstagsgedichte im Internet auffällig geringer. Vermutlich liegt das daran, dass diese Form der Gratulation nicht den Geschmack derzeitig Jugendlicher zu treffen vermag.642 Meist haben die Gedichte einen Hang zum Humorigen, versuchen zum Schmunzeln zu bringen und mit einfachen Reimen, Wortwahl und Zeichensetzung den Sprachstil der Altersgruppe aufzunehmen.643 Ein Hauptthema der Internetgedichte für Teenager ist die Schule und das Lernen, bzw. Lustlosigkeit und Langeweile aber auch Leistungsdruck in diesem Kontext.644 Im Kontrast dazu stehen die Träumereien der Jugend.645 Ihre Welt erscheint unter Lernpflichten und Verboten der Erwachsenen trotzdem als Raum der Freiheit und der Unbeschwertheit. Manche Gedichte versuchen, zu einem positiven Blick auf die Schulzeit anzuregen. Sie stellen die besondere Chance dieser Lebensphase 639
Z.B. Christine Lassnig, http://www.kindergeburtstag.ws/html/spruche_und_ reime.html (18.10.2011) oder auch volkstümlich: »»Drei Engel mögen dich begleiten / in deiner ganzen Lebenszeit; / und die drei Engel, die wir meinen, / sind: Frohsinn, Glück, Zufriedenheit. http://www.geburtstagsspruch.de/html/geburtstagssprueche _fuer_kind.html (18.10.2011). 640
http://www.geburtstagsspruch.de/html/geburtstagssprueche_fuer_kind.html (18. 10.2011). 641
Volkstümlich, http://www.geburtstagsspruch.de/html/geburtstagssprueche_fuer_ kind.html (18.10.2011). 642
Zumindest deutet sich dies auch darin an, dass die Form manchmal in humorvoller oder gar ironisierender Weise angesprochen wird, z.B.: »Geburtstagsgrüße und für Dich ein Gedicht, wir denken du machst ein erstauntes Gesicht….« Maria, http:// www.geburtstags-feste.de/flotte-gedichte-zum-16ten-.html (7.4.2011). 643
Z.B. Spielerischer Umgang mit Ausrufezeichen in großer Zahl. http://www. grusskarten-e-cards.de/gedichte/geburtstag3.php (17.10.2011) 644 645
Z.B. http://www.geburtstags-feste.de/coole-sprueche-16sten-.html (7.4.2011).
Z.B. mit Wilhelm Buschs »Zur Arbeit ist kein Bub geschaffen« http://www.geburtstags-feste.de/sprueche-zum-sechzehnten-.html (7.4.2011).
III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
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heraus: Alles, was nach der Schulzeit kommt, erscheint dann durch Pfichten von großem Ernst geprägt. »… Da ist es doch besser zur Schule zu gehen, / kann man dort die Freunde sehen / und mittags wenn das Lernen geht recht zäh, / steht der Computer bereit, in der Näh. / Auch gibt’s öfter Ferien, nicht zu vergessen, / da kann man schlafen bis zum Mittagessen, / geht man zur Arbeit ist’s nichts mit Pennen, / es lohnt abzuwägen, Vorteile der Schule zu erkennen. …«.646 »Lasche Zeiten« und »Lustlosigkeit« werden Teenagern zugestanden. Ihnen gehört die Welt des Müßigganges und der Phantasie – wobei nur wenige Gedichte noch mit kindlichen Begriffen und Reizworten spielen.647 Häufiger ist das explizite Erwähnen von »Disko« und »Computer« als Spaßobjekte. Auch auf die wichtige Bedeutung von Familien- und Freundeskreis im Sozialgefüge der jungen Menschen wird hingewiesen.648 Immer wieder begegnen die Worte »Auto« und »Führerschein« als Symbole der Freiheit und Autonomie: »… Auch liebend gerne würd’ er, (würd’ sie) / testen Papas Auto, / drehen damit ein paar Runden, / einfach so. / Im Voraus üben für den Führerschein, / schade, dass dies nicht geht, / es wäre so fein. …«649 Die Internetgedichte sprechen oft davon, dass der Jugend die Welt offen steht. Ihre Herausforderung sei, sich selbst zu finden: »Werde, was Du noch nicht bist, / bleibe, was Du jetzt schon bist: / In diesem Bleiben und diesem Werden / liegt alles Schöne hier auf Erden.«650
646
http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-16-17-schule.html (17.10.2011) »Zum 18. Geburtstag: Schule, das ist wie zur Arbeit gehen, schaffen, schuften, Kompromisse eingehen. Uli hat da so ne Vision, könnt’s für Lernen geben ’nen Arbeitslohn? Schüler würden viel lieber pauken und geigen, die Noten würden explosionsartig ansteigen. Für heute wünschen wir Dir ein schönes Fest, dass Du Dich auch reichlich beschenken lässt, dass Dir trotz allem die Schule mache Spaß und Du eine nette Familie und gute Freunde hast. Liebe Geburtstagswünsche zum 18. Geburtstag.« Ulla Kapverde, http://www.geburtstags-tipp.de/sprueche-181.html (17.10.2011). 647
Vgl. z.B. das phantasievolle, träumerische »Geburtstagslied«, das von Flugzeug, Zauberkunst, Eis, Zieharmonika erzählt. Aus Russland, http://www.geburtstaggedichte.com/kinder-geburtstagsgedichte.html (17.10.2011). 648
Z.B. mit Joachim Ringenatz, »Lieber Gott mit Christussohn«, darin die Zeile: »Beschütze mich in aller Not, / Mach meine Eltern noch nicht tot / und schenk der Oma Zähne.« http://www.geburtstag-gedichte.com/kinder-geburtstagsgedichte.html (17.10.2011). 649 650
Maria, http://www.geburtstags-feste.de/coole-sprueche-16sten-.html (7.4.2011).
Mit Franz Grillparzer, http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-16-17-schule.html (17.10.2011).
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III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Sie werden ermuntert, Pläne zu schmieden: »Es beginnt der Ernst im Leben, / setz Dir ein Ziel, es anzustreben. / … dann kannst Du sagen nach Tag und Jahr, / dass ein Ziel zu haben, lohnend war.«651 Angesichts der Vergänglichkeit, dem »stummen Vorwärts der Zeit«, wird zum »Carpe diem« gerufen.652 Die Gedichte nehmen diese Themen der Identitätsfindung und Rollenklärung jedoch möglichst locker mit einem Augenzwinkern auf.653 Ernst und Ergriffenheit finden sich in größerer Deutlichkeit als in den Jahren von zehn bis siebzehn in den Gedichten zum 18. Geburtstag. Hier werden Rückblick auf die Kindheit, Stolz der Eltern und Zukunftshoffnungen oft melancholisch thematisiert: »Wenn die Flügel sich entfalten / wartend auf den nächsten Wind / gibt es bald darauf kein Halten / Für das nun erwachsne Kind. / So ein Datum, wie das heute / macht es dann den Eltern klar, / man ist stolz und man fühlt Freude / und ein wenig Wehmut gar. … Doch wir hoffen sehr, wir haben / Dir das Rechte beigebracht / und mit dem, was wir dir gaben / Dich für alles fit gemacht. / Mögen große Stolpersteine / fernab deiner Wege sein ….«654 Leitmotive für 18jährige sind: »endlich groß«655 , »Feiern«, »Freiheit«, »Unabhängigkeit«, »Party«, »Alkohol« – auch in derber oder plumper Formulierung. Ab jetzt ist das Geburtstagskind eigenverantwortlich, kann »endlich alles tun und lassen / ohne Muss und Maulerei / brauchst auch keinen mehr zu fragen, / welche Uhrzeit passend sei…«656 Gewünscht wird Teenagern in der gesamten Lebensphase neben dem standardisierten »Alles Gute«, Spaß, Erfolg (Schulabschluss), Glück, Freu-
651
Egon Eisenmann, http://www.geburtstags-tipp.de/sprueche-18.html (17.10.2011).
652
Z.B. Ulla Kapverde, http://www.geburtstags-tipp.de/sprueche-16-besten.html (17. 10.2011). 653
Z.B. mit Wilhelm Buschs »Früher, da ich unerfahren« http://www.geburtstagstipp.de/sprueche-16-geburtstag-.html (17.10.2011). 654
Horst Winkler, http://www.verseschmiede.com/geburtstag-gedichte. htm#18.geburtstag (17.10.2011) Vgl. auch http://geburtstagswünsche.org/geburtstagswuensche-18-geburtstag. 655
http://geburtstagswünsche.net/geburtstagswunsche-18-geburtstag/das-leben-beginnt 11.3.2011). 656
Pia Goch, http://www.gedichte-fuer-alle-faelle.de/geburtstagsgedichte/index. php? fnr=388 (12.3.2011).
III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
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de, Gesundheit – und (deutlicher als in allen anderen Lebensaltern) immer wieder üppige Geschenke.657 III. 4. 1. 3 Für Zwanzig- bis Dreißigjährige
Internetgedichte für diese Dekade sprechen die Geburtstagskinder als jetzt offiziell Erwachsene, mit schon einiger Lebenserfahrung an. Im humorigen Ton wird versucht, tiefgehende Fragen anzudeuten: »Der nächste Grenzstein ist erreicht / die zweite Null im Leben, / das ist nicht viel und doch noch leicht, / um vorwärts hier zu streben. … / Nun aber kein Gedanke mehr / an Alter, Grenzen, Sein, / die Torte, Sekt und Gläser her / so feiern wir hinein / und prosten aus dem Herzen zu, / dir Liebe und nur Gutes. / Ein Hoch auf Dich, Geburtstagskind. / Nur weiter frohen Mutes.«658 Allem voran steht die Rede von der »weiten Welt« und der »weiten Zukunft«, die den über Zwanzigjährigen zu Füßen liege. Äußerlich wie innerlich vergrößert sich ihr Erleben – begleitet von einer gewissen Rastlosigkeit.659 Sie befinden sich in einer Lebensphase »goldner Freiheit« und fliegender Träume. Zugleich stehen wichtige Entscheidungen für weitere Ziele im Leben an und bestimmen Optionen.660 Studium, Ausbildung, Eigenverantwortung im Haushalt werden als steigende Anforderungen benannt: »Studieren ist ein harter Job, / für schwere Arbeit kein Mensch gibt Lob. / Zu bewältigen Studienstoff, anfallend in Bergen, / man braucht Ausdauer und starke Nerven. / Manchmal hat man erst nach Stunden / die Lösung des Problems gefunden. / Auch hat man die Hausarbeit am Hals, / Waschen, putzen, bügeln, kochen, jedenfalls. …«661 Nötig sind Ausdauer, Ehrgeiz, Beharrungsvermögen und Kraft, mit eigenen Fehlern und Missgeschick umzugehen: »Ich gesteh´ ich ärger mich / kommst mir ständig in die Quer. / Frag mich: ›warum immer ich?‹ / machst mir das Leben schwer. / Kannst dich woanders amüsieren / ich
657
Vgl. http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-16-freund-freundin.html (17.10.11) und Ulla Kapverde, http://www.geburtstags-tipp.de/sprueche-16.html (17.10.2011). 658
http://geburtstagswünsche.org/geburtstagswuensche-20-geburtstag (14.3.2011).
659
Z.B. mit Friedrich von Schillers »Rastlos vorwärts mußt Du streben« http://www. geburtstags-feste.de/gedichte-zwanzigster.html (14.3.2011). 660
Z.B. Mit Wolfgang von Goethes »Ach was soll der Mensch verlangen?« http://www.geburtstags-feste.de/gedichte-zwanzigster1.html (18.10.2011). 661 Ulla Kapverde, http://www.geburtstags-tipp.de/sprueche-zwanzigster0.html. (17. 10.2011).
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III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
hab genug von dir. / Musst nicht immer mir passieren / geh – bevor ich explodier.«662 Immer wieder scheinen Druck, Kritik, Überlastung« und Frustration in Ausbildunsgverhältnissen durch: »Ein Haar fiel in den Suppentopf / der Koch schilt den armen Tropf: / … Der Junge denkt – gesenkt den Kopf, / hör endlich auf du Sauertopf. / Vor Wut kriegst du noch einen Kropf / dein Adamsapfel – wie ein Pfropf – / hüpft auf und nieder – und mit deinem Schopf / siehst du aus wie ein Wiedehopf. …«663 Als Gegengewicht wirken die vielfachen Appelle, auf genug Pausen, Entspannung, Genuß zu achten.664 »Club«, »Computer«, »Freundschaft« und »Autoverkehr« sind Alltagsbegriffe, mit denen die Welt der Zwanziger metaphorisch skizziert wird. Der eigene Wagen ist Statussymbol »goldener Freiheit«.665 Schwächen und »kleine Laster« werden in liebevollem Ton aufgespießt.666 Das entscheidende Kernthema neben der Anstrengung beruflicher Orientierung ist die Liebe. Die Zwanziger werden als »Zweierzeit«, als Zeit der Partnersuche augenzwinkernd und romantisierend vorgeführt.667 Dabei werden »innere Werte« betont: Anmut und Wohlgestalt allein trage nicht, so sehr sie zum jungen Erwachsenenalter gehöre: »Geburtstagwünsche wir Dir senden / lass Dich nicht von Schönheit blenden, / Schönheit häufig will verführen, / Du wirst sie vielleicht bald nicht mehr spüren. … «668 Das Thema Vergänglichkeit wird explizit aufgegriffen als Emotion des Geburtstagskindes beim Rückblick auf die früheren Jahre – nicht mehr nur aus der Sicht derer, die an seinem Aufwachsen Anteil nehmen. Die Gedichte markieren einen deutlichen Unterschied zur Freiheit der vorausgehenden Lebensjahrzehnte. Jetzt drängen sich Entscheidungen und 662
Anita, http://www.geburtstags-feste.de/sprueche-zwanzig-verse.html. (18.10.11).
663
Anita Menger http://www.geburtstags-feste.de/sprueche-zwanzig-20-2.html. (18. 10.2011). 664
Vgl. Egon, http://www.geburtstags-feste.de/gedichte-zwanzigster-20-0.html. (17. 10.2011). 665
Vgl. Maria, http://www.geburtstags-feste.de/gedichte-zwanzigster0.html. (18. 10.2011). 666
Z.B. »Morgenmuffelei«, Anita Menger, http://www.geburtstags-feste.de/20-geburtstag-gedicht-.html (18.10.2011). 667
Z.B. volkstümlich mit der Doppeldeutigkeit des Wortes als Name eines Nebenflusses der Weichsel und zwischenmenschlicher Zuneigung. http://www.geburtstagsfeste.de/gedichte-20.html (18.10.2011). 668
Maria, http://www.geburtstags-feste.de/gedichte-zum-20.html (18.10.2011).
III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
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Aufgaben auf: »Im zweiten Lebensabschnitt – peu à peu, / steigst Du die Leiter dann in die Höh. / Du möchtest den richtigen Partner finden / und dann eine eigene Familie gründen. / Danach geht es um Ansehen, Geld und Ehre, / es geht ganz einfach um die Karriere. / Man sieht sich bei der Arbeit sitzen / und kreuz und quer durch Räume flitzen. / Fährt man beruflich durch das Land: / Geschäftsmann wird man dann genannt. / Doch manchmal reicht der Alltagsmist / und man wird glatt zum Opportunist! / Behutsam, ruhig sollte es dann sein, / das scheint wichtig, ungemein. / Die Realität sieht häufig anders aus, / die Lehren zieht man schnell daraus …«669 Die Zwanziger erscheinen als Phase der »Entdeckung der Wehmut über die Flüchtigkeit des Daseins«. Dieser unvermittelte Schmerz erinnert sich zum Trost an einen Gott der vorgegebenen Ordnung.670 In diesem Zusammenhang und im Blick auf die Liebe671 und den Lebenssinn werden existentielle Gedanken angedeutet: »Was sind schon zwanzig Jahre / im großen Weltgeschehen, / was hast in dieser Zeit / Du von der Welt gesehen? / Die Welt zeigt schöne Bilder, / Länder, Berge, Seen, / in der Heimat, in der Ferne / am Himmel Sterne stehen. / Jeder Tag schenkt genügend Zeit Dir / um vieles anzuschauen, / Du magst bewundern und erleben. / Dies möge Dich erbauen. / Doch kann die Ehre dieser Welt / Dir keine Ehre geben, / was Dich in Wahrheit hebt und hält, / muss in Dir selber leben. …«672 Was zählt, zeigt sich in den meistgenannten Wünschen für die Geburtstagskinder: Erfolg und Liebe, Mut und Glück, Gesundheit und Entspannung.673 III. 4. 1. 4 Für Dreißig- bis Vierzigjährige
Deutlich häufiger begegnet ab dem dreißigsten Geburtstag in Internetgedichten die Formulierung »Bleib, wie du bist.«674 Die Persönlichkeit wird
669
Anita, (18.10.2011).
http://www.geburtstags-feste.de/gedichte-zwanzigster10.html
670
Vgl. mit Eduard Mörike, »Bei jeder Wenung deiner Lebensbahn« http://www.geburtstags-feste.de/gedicht-20-eduard-moerike.html (18.10.2011). 671
Vgl. mit Friedrich Rückert, »Ich liebe dich, weil ich dich lieben muss«, http:// www .geburtstags-feste.de/sprueche-zwanzig-0.htmlhtml (18.10.2011). 672
Egon Eisenmann, http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-20-freundin-freund. html.(18.10.2011). 673
Z.B. http://geburtstagswünsche.org/glueckwunsch-zur-20 (12.3.2011).
176
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
von Freundes- und Familienkreis gewürdigt. Die Gratulanten loben berufliche Kompetenzen und Lebenserfahrungen.675 Aus der Freizeitwelt erwähnen sie Sport, Vereinskultur und Musik. Die Liebe tritt dahinter fast zurück. Arbeit, Geld und Haushalt sind häufiger angesprochen – auch in ihrer zermürbenden Routine: »…Der Alltag vermiest uns die Freuden der Zeit. / Der Job und das Geld, die schlagen uns breit. / Doch jeder muss für sich selber begreifen, / was es heißt mit dem Alter an Erfahrung zu reifen.«676 Der Platz im Leben scheint gefunden – oder zumindest ist die Suche danach nicht mehr im Gedicht thematisiert. Das Auto als Statussymbol – humorig verbunden mit ›Pleiten, Pech und Pannen‹ – veranschaulicht die Anforderungen und Chancen der Erwachsenen: »… sein Auto schnell, verlässlich, / trotz Blitzstarts macht es kaum Verdruss / und grau ist auch nicht hässlich. / Riskant wird umher geflitzt … das aktive Leben ist halt so. / Schnell wieder weggefahren, / andere Freunde warten schon / und es fliegt die Zeit in Tagen, / die Winter- wie die Sommersaison. …«677 Das Kernthema aber kreist um einen scheinbar notwendigen Perspektivwechsel: Abschied vom Jungsein, abgehängt werden von der Jugendkultur. Die neue Identität konstituiert die Rede von »den besten Jahren« und der Zuspruch »Du bist noch immer jung geblieben«. Dennoch sind die Formulierungen entlarvend nüchterner: Jetzt steht nur noch »fast die halbe Welt« offen. Ziele und Träume gelten dennoch weiterhin als wichtig: »Geh stets durchs Leben mit flottem Schwung, / das bekommt Dir gut und hält Dich jung. … / Fast die halbe Welt steht Dir offen, / eine gute Wahl zu treffen, wir hoffen, / Jung sein ist einfach wunderbar, herrlich. / Oberstes Gebot, ein festes Ziel verfolgen, beharrlich. / So werden viele Deiner Träume wahr / Du wirst Alles bestens managen, sonnenklar.«678 Immer wieder werden körperliche Zeichen des Alterns (Falten, graue Haare) angesprochen, manchmal ironisch, manchmal humorvoll theatralisch: »Die Torte durch viel leckere Creme besticht, / sie ist zum essen und 674
Siehe z.B. http://www.grusskarten-e-cards.de/gedichte/geburtstag.php (30.10.11) und http://www.geburtstagsspiel.ws/html/sprueche-30-geburtstag.html (18.10.2011). 675
Vgl. z.B. Egon Eisenmann, http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-30-nichte.ht ml. (18.10.2011). 676
Uwe Müller, http://www.festpark.de/g463.html (18.10.2011).
677
Egon Eisenmann, http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-35-herr-aktiv.html (18. 10.2011). 678
http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-30-tochter-sohn.html (18.10.2011).
III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
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nicht für deine Falten im Gesicht. / Das alt werden macht ja Spaß, / nachts schlafen deine Zähne im Glas. / Vorsicht beim Spazieren mit dem langsam Gehen, / Manch ein Hund glaubt, du bist ein Baum, / würde er dich sehen. … / Mache Schluss, bevor dir vor Schreck ausfallen die Haare, / Du hast sicher noch viele schöne Jahre. …«679 Beim Thema Rückblick auf vergangene Zeiten scheint wachsender Ernst durch. Den Kontrapunkt dazu bildet der Anstoß zum kräftigen Feiern.680 Die Wünsche betonen Glück und Erfolg, drücken Anerkennung für Arbeitsleistung aus, Liebe und Wohlergehen. Mit dem Aspekt »Gesundheit« kann sich scheu im Konjunktiv der Blick auf Gott verbinden: »… Halt dich beim Jacky ein bisserl zurück, / werde ruhiger und familiär – Stück für Stück. / Mögest du deiner Traumfrau bald begegnen, / der liebe Gott möge dich mit Gesundheit segnen. …«681 Gedanken zu Lebenssinn und Vergänglichkeit werden meistens mit einem Appell zur Konzentration auf das Hier und Heute kombiniert: »Geburtstag, das heißt freudig leben, / der Gegenwart den Vorzug geben, / jeden einzelnen Tag für Tag, / bewusst empfinden alles was man mag.«682 III. 4. 1. 5 Für Vierzig- bis Fünfzigjährige
Mit dem 40. Geburtstag beginnt das Jahrzehnt, das in den Internetgedichten einen deutlichen Wendepunkt markiert: »Halbzeit« des Lebens, Bergfest: »In deinem Lebensspiel zum Pausentee / pfeifts heute unparteiisch und statistisch. / Wie lautet wohl dein Halbzeitresümee?«683 »Mit vierzig Jahren ist der Berg erstiegen, / wir stehen still und schau’n zurück, / dort sehen wir der Kindheit stilles liegen / und dort der Jugend lautes Glück. / Noch einmal schau, und dann gekräftigt weiter. / Erhebe deinen Wanderstab! / Hin dehnt ein Bergesrücken sich, ein breiter, / und hier nicht, drüben gehts bergab. / Nicht atmend aufwärts brauchst du mehr zu steigen, / die Ebne zieht von selbst dich fort; / dann wird sie sich mit dir
679
http://www.grusskarten-e-cards.de/gedichte/geburtstag.php (17.10.2011).
680
Z.B. Thea Uhrig, http://www.gedichte-fuer-alle-faelle.de/ge burtstagsgedichte/index.php?fnr=407 (26.9.2011) und http://geburtstagswünsche.org/geburtstagswuensche-30-geburtstag (14.3.2011). 681
Egon Salzlechner http://www.festpark.de/g430.html (18.10.2011).
682
http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-30-sohn.html (18.10.2011).
683
Hans Retep, http://www.gedichte-fuer-alle-faelle.de/geburtstagsgedichte /index. php?fnr=328 (26.9.2011).
178
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
unmerklich neigen, / und eh du’s denkst, bist du im Port.«684 Körperliche Schwächen sind häufig beschrieben. Witze überspielen die Enttäuschung des Haarausfalls, der Augenprobleme, der Falten, der wachsenden Kümmernisse und Sorgen.685 Humorige Schamlosigkeit und gelegentliche Zotigkeit spotten dem Altern. Ein Arsenal an Ernährungstipps, Kosmetika, medizinischen Hilfsmitteln, meist mit ironischem Unterton, zieht sich über mehrere Seiten.686 Neben dieser hohen Beachtung der körperlichen Alterserscheinungen werden die Geburtstagskinder zum realistischen Planen und Träumen ermuntert und zum versöhnten Blick in die Vergangenheit als unwiederbringlichen, zur Persönlichkeit gehörenden Weg.687 Die Endlichkeit des Daseins, das Näherrücken des Sterbens wird mit einem kurzen Gruseln betrachtet688 und dann beiseite gelegt, zugunsten der Feierlust. »Sich bloß nicht gehen lassen« ist Leib und Seele als Motto empfohlen. Als Potential wird den Vierzigern zugetraut, dass sich ihre Persönlichkeit gefestigt hat, mit Stärken und Schwächen und dass nicht mehr so entscheidend ist, »was die Leute sagen«. Ihre Lebensklugheit wird auch darin gesehen, die Gegebenheiten mit besonnener Nachdenklichkeit zu nehmen, wie sie ist,689 ohne sich mit Warum-Fragen aufzuhalten. Pure Daseinsfreude zählt: »Wenn du heute vierzig wirst / und vor Lebenslüsten birst / und dein Haus wird dir zu klein / will ich dein Reisepartner sein / Komm, erobern wir die Welt, / niemand, der uns hier aufhält. / Sollen sie doch alle schrein / uns quatscht heute keiner ’rein … / Lass uns einfach glücklich sein.«690 Wünsche überwinden trübe Ahnungen, 684
http://www.gedichte-fuer-alle-faelle.de/geburtstagsgedichte/index.php?fnr=328 (26.9.2011). 685
Z.B. http://geburtstagswünsche.org/geburtstagswuensche-40-geburtstag (14.3.11).
686
Z.B. Martina Decker, http://www.festpark.de/g419.html (18.10.2011).
687
Z.B. mit Wilhelm Busch, »Gar mancher seufzt auf dieser Erden: / ›Könnt ich noch mal geboren werden«http://www.geburtstags-feste.de/freund-gedichte-verse-2.html (7.7.2011). 688
Z.B. mit Theodor Storm, »Am Geburtstage / Es heißt wohl: Vierzig Jahr ein Mann!« http://www.gedichte-fuer-alle-faelle.de/geburtstagsgedichte /index.php?fnr= 328 (26.9.2011). 689
Z.B. mit Kurt Tucholsky, »Einkehr / Mit vierzig Jahren soll man sich besinnen.« http://www.gedichte-fuer-alle-faelle.de/geburtstagsgedichte/index.php?fnr=328 (26.9.2011). 690
Hans Retep, http://www.gedichte-fuer-alle-faelle.de/geburtstagsgedichte/index. php?fnr=328 (26.9.2011).
III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
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via negativa formuliert: nie Traurigkeit, keine Krankheit. Dass Gott den Lebensweg segnen möge, wird von Ringelnatz ausgeliehen: »Gott bewinke Dir / alle Deine Schritte…« 691 III. 4. 1. 6 Für Fünzig- bis Sechzigjährige
Der 50. Geburtstag ist ein besonders beachtetes rundes Fest, zu dem sich deutlich mehr Internetgedichte finden als zu den anderen Lebensaltern. Die Phase zwischen vierzig und fünfzig ist deutlich deprimierender beschrieben als das jetzt beginnende sechste Lebensjahrzehnt. Zwar schildern einige das Altern in allen körperlichen Gebrechen – mal vorsichtig sensibel – »Mit Fünfzig kommt das Alter leise / Es droht noch nicht, es mahnt nur still …«692 – mal hemmungslos und vulgär: »50 Jahre sind verstrichen / und die Jugend ist gewichen, / Zähne klappern, Haare weichen – das Gedächtnis kann man streichen / … und die holde Manneskraft, / die wird müde und erschlafft: / … Haare wachsen aus den Ohren, / der Geruchssinn geht verloren, / dabei hast Du noch zu kämpfen, / um den Nasentropf zu dämpfen, / der sich an der Spitze sammelt / und als Tropfen runter bammelt. / Flach und trüb liegt die Pupille, / … Du bekommst Paradonthose, / Deine Zähne werden lose, / schmerzhaft, wie sie einst gekommen, / werden sie Dir jetzt genommen. / Und das künstliche Gebiss / Ist oft gar ein Hindernis. / Schweigen wir von Nierenschmerzen, / von dem starken Klopf am Herzen, / von dem Magen, / diesem Hund, / keineswegs ist er gesund. / Unten wird die Bauchwand faltig, / der Urin wird zuckerhaltig. / Der Popo, einst straff und rund, / leidet sehr an Muskelschwund. / Wenn Dir mal ein Wind entfleucht, / wird Dir gleich die Hose feucht / und des Mastdarms volle Falten / können kaum den Stuhlgang halten. / Oftmals stören Deinen Frieden / walnussgrosse Hämorroiden. …«693 Noch viel intensiver wird aber ein positives Licht auf den 50. Geburtstag und die folgenden Jahre geworfen. Der Fünfzigste erscheint als Schallmauer, die lange bedrohlich wirkt – bis sie durchschritten ist.694 Über dem
691
Mit Joachim Ringelnatz, http://www.gedichte-fuer-alle-faelle.de/ geburtstagsgedichte/index.php?fnr=328 (26.9.2011). 692
»Mit Fünfzig kommt das Alter leise / Es droht noch nicht, es mahnt nur still / Dass es auf unsrer Lebensreise / Nun langsam abwärts gehen will.« Horst Winkler, http://www.verseschmiede.com/geburtstag-gedichte.htm (17.10.2011). 693
http://www.festpark.de/g307.html (18.10.2011).
694
Vgl. http://www.festpark.de/g420.html (18.10.2011).
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III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
offiziellen Zenit hinaus werden neue Höhen entdeckt. Gott schimmert in blasser Redewendung, »hinterm Horizont geht’s weiter«.695 Die Persönlichkeit ist gefestigt und sympathisch, einschließlich ihrer kleinen Sünden und Schwächen. Neue Leichtigkeit ist gefunden, Feierfreude bleibt erhalten.696 Das Leben kann als Spiel betrachtet werden. Das rechte Maß aus Arbeitseinsatz und Urlaub prägt den Alltag.697 Kinderstress ist vorüber, statt dessen ist Zeit für Hobbys.698 Die Zahl des Lebensalters ist plötzlich nicht mehr wichtig, denn physisch ist offensichtlich deutlich mehr möglich, als klischeehaft erwartet wird. Frohgemute Lebensklugheit und wahre Weisheit wird den Fünfzigern darin zugetraut, dass sie bilanzieren, was im Leben zählt, in Freude an den Mitmenschen und an den kleinen Alltäglichkeiten: »… jeden Tag zu leben, so gut man es kann: / etwas arbeiten, ausruhen dann und wann / viel Freundlichkeit schenken, die Stunden genießen, / dafür sorgen, dass Sorgen uns nicht verdrießen, / sich darüber freuen, gesund zu sein, / zu danken, ist man nicht völlig allein, / die Familie und Freundschaften nicht vergessen, / spazieren gehen, lachen und gerne gut essen, / Gespräche führen, sich um andere kümmern, / gute Bücher lesen, bei Wehwehchen nicht wimmern, / und auch bei Schicksalsschlägen Stärke bewahren. … «699 Tatkraft und Knowhow wird Menschen in den Fünzigern zugeschrieben.700 Erhoft wird für die Jubilare Kraft, Glück, Weisheit, Liebe und Fröhlichkeit.701 Vor allem aber wird beschworen: »Gesundheit, ja, das wünschen wir, / die bleibe bis zuletzt bei Dir. / Dazu wünschen wir Dir für alle Zeit, / das schöne Gefühl der Zufriedenheit.«702 Geraten wird: Statt Rückschau und Ausblick zu halten, sei besser, die Gegenwart zu genießen. Dass die Jahre nach dem 50. Geburtstag überwiegend positiv geschildert werden, überrascht. Ist das der Versuch, Schwermut abzuwehren? Wollen die vielen positiven Impulse vor allem aufmuntern, so dass sich in 695
http://geburtstagswünsche.org/geburtstagswuensche-50-geburtstag (14.3.2011).
696
Vgl. Stefanie Freud, http://www.festpark.de/g182.html (18.10.2011).
697
Vgl. http://www.geburtstags-feste.de/gedichte-zum-50-sten.html (17.10.2011).
698
Vgl. http://geburtstagswünsche.org/eine-frau-wird-50 (12.3.2011).
699
http://www.festpark.de/g090.html (18.10.2011).
700
Z.B. Egon, http://www.geburtstags-feste.de/sprueche-fuenfzigster-50-0.html (17. 10.2011) und http://www.geschenke.de/geburtstag/liebe-leute.htm (11.3.2011) mit Verweis auf ›Versschmiede‹. 701
Z.B. Astrid Wolthoff, http://www.festpark.de/g158.html (18.10.2011).
702
Anita, http://www.geburtstags-feste.de/gedichte-50ster-anita-.html (17.10.2011).
III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
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ihnen indirekt doch schildert, dass der 50. Geburtstag eine besondere Krise darstellt? Oder zeigt sich in den Internetgedichten, dass immer dann, wenn dieser Geburtstag naht, sich die gefürchteten Schablonen nicht bewähren, so dass sie tatsächlich nur noch zu negieren sind? In jedem Fall wird deutlich: Der 50. Geburtstag ist ein gesellschaftlich herausgehobener Lebenseinschnitt – der 40. Geburtstag scheint aber die persönlich und individuell tatsächlich krisenhafter erlebte Wegmarke zu sein: »Vierzig Jahre sind das Alter der Jugend, fünfzig die Jugend des Alters.«703 III. 4. 1. 7 Für Sechzig- bis Siebzigjährige
Mit dem 60. Geburtstag nehmen die Komplimente deutlich zu: Die Optik und die körperliche Fitness werden im Kontrast zum Lebensalter positiv betont.704 Körperliche Zeichen des Alterns werden zwar erwähnt, haben ihren Schrecken aber scheinbar verloren und werden als unabwendbare Gegebenheiten oft mit Humor und Sangesfreude aufgespießt.705 Ab der Sechzig richtet sich der Blick zu den anderen Jahrzehnten nach vorne: im Vergleich mit Siebzig-, Achtzig- und Neuzigjährigen fühlen sich die Sechziger wieder jung.706 Mit dem Sechzigsten beginnt ein neuer Lebensabschnitt, in dem der Mensch wieder als Anfänger erscheint. In Analogie zu den Jahreszeiten erscheint der Herbst mit seiner ganz eigen Lebensqualität. Auch er kennt gute Tage: »… Der Sommer geht zu Ende, / des Lebens Herbst beginnt, / man darf wohl ehrlich sagen: / und kühler weht der Wind... / Doch solche goldnen Tage, / wie sie der Herbst gewährt, / spendiert sonst keine Jahreszeit: / warm, schön und abgeklärt. / Du erntest, was Du sätest / in früherer Lebenszeit. / Die Krönung deiner Ernte / ist die Zufriedenheit.«707 Als Stärke der Sechzigjährigen gilt ihre ausgereifte Persönlichkeit, die »jetzt erwachsen« sei. Die über Sechzigjährigen werden als Unikate ge-
703
Victor Hugo, http://www.gedicht-schreiben.de/40-Geburtstag-Gedichte (11.7.12).
704
Z.B. http://geburtstagswünsche.org/geburtstagswuensche-60-geburtstag (14.3.11), Tim Rohm, http://www.festpark.de/g537.html (20.10.2011). 705
Z.B. das zu singende Gedicht auf die Melodie »Weine nicht wenn der Regen fällt über körperliche Einschränkungen von H. Kahl, http://www.festpark.de/g441.html (20.10.2011). Ähnlich heiter auch Bodo Pankonin, http://www.festpark.de/60geburtstag.html. (20.10.2011). 706 707
Z.B. Manfred Bartylla, http://www.festpark.de/g408.html (5.5.2012).
Na.ti, (20.10.11).
http://www.geburtstags-tipp.de/sprueche-rentner-renterin-3.html
182
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
liebt,708 besonders mit ihrem Humor, Schalk, ihrer Selbstironie, Geselligkeit und beeindruckend kraftvoller Aktivität in Freizeit und Beruf: »… Bist noch ein Lausbub mit allen Schikanen / und wer dich kennt, der wird schon erahnen, / dass auch das nächste Jahrzehnt / sicher noch von deinen Taten erzählt! / Du hast Humor und kannst kräftig lachen / über Dich auch und andere Sachen. … / Bleib wie Du bist / alles andere wäre glatter Mist / wir lieben Dich so wie ein Wirbelwind / der kommt und geht und auch wieder verschwindt!«709 Dieses Lebensjahrzehnt erscheint energiereich, selbstbewusst, fröhlich und konsumstark: »… Die Zeit, die bleibt, sollst Du genießen, / und machen, was das Herz beliebt, / ob wandern, lesen, Karten spielen, / oder was es sonst noch gibt. / Wellness, Schönheitspflege oder Haare färben, / viele Firmen jetzt um Deinen Euro werben. / … Und geht´s auch einmal rund im Leben, / wir können auch noch Vollgas geben, / zum alten Eisen gehört man wirklich nicht, / weil auch mit 60 noch der Hafer sticht …«710 Eine besondere Rolle spielt im Blick auf den Tatendrang der Sechzigjährigen das Thema Rentenbeginn.711 Hier schwingt manchmal Trauer und Frustration mit.712 Deutlicher steht dem aber entgegen, dass nun eine Phase neuer Freiheit, Zeit und Erholung beginnt, »… weil es schön werden kann, / so mit Enkeln und Pension, / denn die warten ja schon.«713 »… Jetzt kannst Du Dich mit anderem befassen, / … mit Deinem Garten, denn der bleibt / arbeitsreich, wie eh und je. / Du kannst die Freizeit neu gestalten / 714 … und es mit jenen Bürgern halten, / die öfter mal nach fern entflieh’n.«
708
Z.B. http://www.verseschmiede.com/geburtstag-gedichte.htm#18.geburtstag (17. 10.2011). 709
http://www.grusskarten-e-cards.de/gedichte/geburtstag.php (17.10.2011).
710
A. und W. Hillmann, http://www.festpark.de/g500.html (20.10.2011).
711
Z.B. Renate Eggert-Schwarten, http://www.passende-gedichte-finden.de/ gedichtezum-60-geburtstag.html (20.10.2011). 712
Z.B. Ulla Kapverde, http://www.geburtstags-tipp.de/ sprueche-rentner-renterin2.html (20.10.2011), die »Trotzdem«, trotz des Verlustes des Arbeitsplatz durch den Renteneintritt alles Gute wünscht. 713
http://www.passende-gedichte-finden.de/gedichte-zum-60-geburtstag.html (20.10. 2011). 714
Egon Eisenmann, http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-60-alle-neutral.html (20.10.2011).
III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
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Das Auto symbolisiert autonome selbstbestimmte Mobilität, die im Ruhestand nach Herzenslust ausgenutzt werden kann. Dies wird sogar noch gesteigert durch die Hoffnung auf weltweites Reisen. Abwechslung, Spaß, eingespielte Beziehungen und zugleich persönliche Unabhängigkeit sind positive Leitideen dieser Lebensphase. Die Möglichkeiten zu innerer Gelassenheit scheinen durch das Ausscheiden aus der Berufswelt zu wachsen. Inmitten leicht hin gesprochener Empfehlungen können wie ein Umschwung nach innen unvermittelt tiefgründige Gedanken aufblitzen: »… Es ist die Würze eines Rentnerlebens / und heißt Abwechslung im Leben. / Heute hier und morgen dort / das macht das Leben reich und froh. / So bastle nur vergnügt und heiter / an Deiner Lebensleiter weiter, / blick zufrieden dann zurück / und danke Gott für soviel Glück! / Freue Dich Deines neuen Lebens, / genieße jeden neuen Tag, / denn wer weiß, was in unserem Alter / der nächste Morgen bringen mag. …«715 Besinnliche Töne klingen an, wenn die Rückschau auf die vergangenen Jahre angesprochen wird: »Zieh dich … ins stille Kämmerlein zurück / und mach für dich alleine nur / einmal Bilanz und Inventur. / Per Saldo wird sich dann ergeben: / es ist doch ein erfülltes Leben!«716 Dies verbindet sich mit einem positiven Gefühl der Dankbarkeit und der Rede von der Fülle des Lebens – die gerade durch Höhen und Tiefen sichtbar wird und daher keine Beschönigung braucht. Auffällig ist, dass in den Internetgedichten ab dem 60. Geburtstag häufiger das Wort »Gott« zu finden ist – wenn auch oft nur in leisen Anspielungen, Scherzen oder kurzen Formeln. Manchmal scheinen sich die Gedichte auf ein Klischee im Hintergrund zu beziehen, das davon ausgehen lässt, dass ab der Sechzig religiöse und spirituelle Gedanken wichtiger werden, Frömmigkeit vor allem den älteren Menschen zugetraut wird.717 Ernsthaft findet sich die Ausrichtung auf Gott aber nur im Blick auf die Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens – ansonsten wird auf Glaubensdimensionen mit Ironie Bezug genommen: »… Ein berühmter Mann hat
715
Karin Rapp, http://www.festpark.de/g171.html (20.10.2011).
716
Steffi, http://www.festpark.de/g240.html (20.10.2011).
717
Offen muss bleiben ob dies ein Kohortenphänomen ist. Vgl. zur Debatte um Frömmigkeit im Alter: INSTITUT FÜR GERONTOLOGIE UND ETHIK (Hrsg.), Mit dem Alter kommt der Psalter? Ein Symposium zur Religiosität 66plus, in: Zeitschrift für Gerontologie und Ethik 2012/1.
184
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
einmal gesagt, / dass ihm jenseits der 60 / nur noch drei Dinge wichtig waren: / seine Bibel, seine Brille und seine falschen Zähne. …«718 Lebenshalt, Sinn und Freude liegen vor allem in der Kunst, den Augenblick zu genießen, zu feiern und die persönlichen Bindungen in Freundeskreis und Familie (neue Phase der Zweisamkeit) zu pflegen.719 Gewünscht wird Gesundheit, gefolgt von Zufriedenheit. III. 4. 1. 8 Für Siebzig bis Achtzigjährige
Bei den Internetgedichten ab dem 70. Geburtstag fällt auf, dass viele Exemplare deutlich länger ausfallen als in den Jahren zuvor. Nur wenige begnügen sich mit ein paar Zeilen, zu lesen sind Überschriften wie »Ode« oder »Laudatio«. Zahlenspiele sind sehr beliebt, um das Ausmaß der Lebenszeit mehr oder weniger ernsthaft erfassbar zu machen.720 Gerne wird auf die Bedeutung der Zahl Sieben in Philosophie, Mythologie, Dichtung und Märchen hingewiesen.721 Oft wird aber auch erklärt, dass ab der 70 spätestens erkannt wäre, wie gleichgültig das Zählen der Jahre eigentlich sei: »Alt macht nicht die Zahl der Jahre, / alt machen nicht die grauen Haare, / alt ist, wer den Mut verliert / und sich für nichts mehr interessiert. / Drum nimm alles mit Freud’ und Schwung, / dann bleibst Du auch im Herzen jung. …«722 718
Karl-Heinz Wittmann, http://www.festpark.de/g156.html (20.10.2011).
719
Z.B. http://www.geburtstags-tipp.de/60-geburtstag-gedicht-1.html (20.10.2011), und Kurt Schröder, http://www.festpark.de/g316.html (20.10.2011). 720
Z.B. mit Franz Grillparzer, »Der Mann bracht’ es auf siebzig gar« http://www. geschenke.de/geburtstag/jubelfeier.htm (11.3.2011). 70 Jahre entsprechen 25567 Tagen, ca. 38.469.600 cm Toilettenpapier, 1278 m Zahnpasta, 24 t Kartoffeln, 4261 Kisten Wasser, 37,5 t Heizkohle …, rechnet dichtend K. Hoffmann vor, vgl. http://www.festpark.de/g557.html (20.10.2011). 75 Lebensjahre sind fünf mal 15 Lebensjahre. Die vier Jahreszeiten begegneten dabei 75 mal, 300 Vierteljahre mit Schnee, Frühlingsblumen, Hitze und Regen, 900 Monate, 27 375 Tage. 1/3 der Zeit wurde zum schlafen verbraucht, das sind 657 000 Stunden, zählt Egon, http://www.geburtstags-feste.de/gedichte-zum-75-ster.html (5.5.2012). 721
Z.B. http://www.geburtstagsspiel.ws/html/sprueche-70-geburtstag.html (20.10. 2011). 722
»Alt macht nicht die Zahl der Jahre, / alt machen nicht die grauen Haare, / alt ist, wer den Mut verliert / und sich für nichts mehr interessiert. / Drum nimm alles mit Freud´und Schwung, / dann bleibst Du auch im Herzen jung. / Zufriedenheit und Glück auf Erden, / sind das Rezept, uralt zu werden. / Die besten Glückwünsche zu Deinem 70. Geburtstag!« http://www.geburtstagsspiel.ws/html/sprueche-70-geburtstag.html (20.10.2011).
III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
185
Meist halten die Gedichte ausgiebig Rückschau.723 Als wichtigste Lebensinhalte sind Liebe, Kinder und Enkelkinder, Arbeit, Haus, Garten, Hobbys und Vereine genannt. Auch das Engagement in einer Kirchengemeinde kann hier aufgenommen sein.724 Begriffe aus der Welt des christlichen Glaubens und dem kirchlichen Kontext werden mit größerer Selbstverständlichkeit als in den Lebensphasen zuvor eingestreut. Dabei wird auch mit Elementen und Formen der kirchlichen Gottesdienstkultur gespielt.725 Im Gestus privater Frömmigkeit wird vor allem Dankbarkeit für das hohe Alter und die erlebte Fülle verbalisiert: »70 Jahre von Gott gegeben, / 70 Jahre ein erfülltes Leben, / 70 Jahre Schaffen und Streben …«726 Körperliche Altersbeschwerden, dezent erwähnt, sind – durchweg mit einem Augenzwinkern – nurmehr »Wehwehchen«. Sichtbare Alterungsprozesse von Haut und Haar wiegen nicht schwer. Dieses Leichternehmen ist verbunden mit der Entspannung, dass ab dem 70. Geburtstag zu ihnen gestanden werden darf.727 Vorsichtig wird der Gedanke an das Ende des Lebens angetippt. Eher die Scham für das Religiöse, dieses ungewisse Terrain, keine Spracharmut, erwähnt keusch den unsichtbaren Gott, von dem man trotzdem hofft, dass er im Hintergrund die Fäden in der Hand hält: »Tapfer Leben, Schaffen, Streben. / Das ist Segen ohnegleichen. / Nicht ein jeder kann’s erreichen. … / 70 Jahr – ein langes Leben / und nun heißt es weiterstreben: / Immer höher, immer weiter, / bis zur letzten Sprosse heiter! / Wann sie kommt, weiß Gott allein (...) / möge er gnädig mit uns sein.«728 Die Persönlichkeit wird in den Mittelpunkt gestellt, gerühmt für gewonnene Lebenserfahrung, Gelassenheit, Weisheit. »Edel« ist eine öfter zu
723
Z.B. Axel Eumann, http://www.festpark.de/g289.html (1.10.2011) und Dirk, http://www.grusskarten-e-cards.de/gedichte/geburtstag2.php (1.10.2011). 724
Z.B. Egon, http://www.geburtstags-feste.de/gedichte-70er.html (20.10.2011).
725
Mit dem Modus des kirchlichen Wechselgesangs spielt z.B. ein langes Gedicht, für das ein Vorsänger und ein Chor vorgesehen sind. Ulrike Többen, http://www.festpark.de/g535.html (20.10.2011). 726
http://www.geburtstagsspiel.ws/html/sprueche-70-geburtstag.html (20.10.2011).
727
Z.B. http://www.festpark.de/g068.html (20.10.2011).
728
http://www.festpark.de/g107.html (20.10.2011).
186
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
lesende Charakterbeschreibung.729 Zur hohen Zahl der Lebensjahre fügen sich Assoziationen wertvoller Materialien, wie Perlen.730 Heiterkeit und Humor spielen eine wichtige Rolle. Allerdings erscheinen diese Eigenschaften nicht mehr so oft attestiert wie im vorausgegangenen Lebensjahrzehnt. Umso mehr wird an sie erinnert,731 verbunden mit Ermunterungen, sich am Kleinen zu freuen, nicht zu hadern732 und zu erkennen, dass alles relativ ist: »… Doch die Weisheit kommt nicht ganz von allein, / sie will fast täglich erworben sein. / Dazu gehört – Du wirst es ja wissen: / man sollt auch die schlechteren Seiten nicht missen. / Ab und an ein wenig Gelassenheit / bringt Harmonie zur rechten Zeit. / … Den Kopf nicht mit unnötigen Dingen zermartern, / denn Du hast wirklich nichts zu bereu’n!...«733 Das Lebensgefühl der Siebziger erscheint gegen alle Befürchtungen positiv: Genuß bei Alltagsaktivitäten, Muse zum Spazieren, Fernsehen und Freude an den Kindern und Enkeln.734 Nur indirekt ist zu spüren, dass Alterschwäche und Traurigkeit die Lebensfreude gefährden können. Die Begrenztheit des Lebens wird manchmal angedeutet, ebenso wie das schnelle Dahineilen der Zeit. Auf solche »tempus fugit«-Motive folgt oft ein »Carpe diem«, der Ruf sich für die Gegenwart zu begeistern – und zu feiern wie ein trotziges Tanzen auf der sinkenden Titanic.735 Die Wünsche betreffen zwar weiterhin häufig Gesundheit – doch mit neuer Intensität kommen auch Harmonie,736 Gelassenheit und Zufriedenheit dazu.
729
Z.B. mit Johann Wolfgang von Goethe http://www.geburtstags-feste.de/gedichte75ster.html (20.10.2011). 730
Z.B. Inge Esmarch, http://www.festpark.de/ g565.html (20.10.2011).
731
Z.B. http://www.festpark.de/g136.html (20.10.2011).
732
Z.B. http://www.geburtstagsspiel.ws/html/sprueche-70-geburtstag.html (20.10. 2011). 733
Christine Thomas http://www.festpark.de/g371.html (20.10.2011).
734
Z.B. Egon Eisenmann, http://www.geburtstags-tipp.de/spruch-70.html (20.10.2011). 735
Vgl. http://geburtstagswünsche.org/geburtstagswuensche-70-geburtstag (5.5.2012). 736
Z.B. Egon, http://www.geburtstags-feste.de/sprueche-siebzigstger-.html (20.10.2011).
III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
187
III. 4. 1. 9 Für Achtzig- bis Neunzigjährige
Gegenüber den Achtzigjährigen sind in den Internetgedichten besonders zärtliche, liebevolle Gefühle formuliert, oft mit Dankbarkeit und Respekt verwoben: »…Deiner Liebe und Gunst verdanke ich viel. / Was hast du alles gesehen und hast alles erlebt, / auch wenn Du die heutige Zeit oftmals nicht ganz verstehst. / Ich will dir heute Dankeschön sagen, / für all Deine Liebe an allen Tagen….«737 Die Welt der über Achtzigjährigen spiegelt sich in den Stichworten »(gutes) Essen«,738 »Familienbande« und »Medizin«.739 Hin und wieder macht sich Frust über die körperlichen Gebrechen im Alter Luft: »… sagen wir es ehrlich, / ein 80-iger, der lebt gefährlich, / er muss mit mancherlei Beschwerden, / in diesem Alter fertig werden.«740 »Wo soll man sich denn noch beschweren? / Man resigniert und übt Geduld / Wer achtzig wird, / ist selber Schuld!«741 Frommes wird so wenig wie möglich ausgesprochen, vermutlich damit keine Fragerei nach Gott entsteht, die häufig zu Streit und Verbitterung führt. Der Tonfall bleibt leicht und banal, vom Tod will am Geburtstag niemand sprechen und hören. Nur indirekt gehen die Gedanken auch einmal »himmelwärts«. Manche Autoren deuten darauf hin, dass die Achtzigjährigen in der »heutigen Zeit« nicht mehr ganz zuhause sind. Vergesslichkeit wird angesprochen – aber nicht mehr im Sinne eines humorigen Kalauers wie im siebten Lebensjahrzehnt, sondern als Ärgernis. Im Kontrast zum Thema zunehmender Gebrechlichkeit betonen und rühmen andere exzessiv, wenn ein achtzigjähriges Geburtstagskind aktiv und engagiert ist, »mitten im Leben« steht.742 Die meisten Internetgedichte zum Achtzigsten formulieren unverhohlenes Staunen über das erreichte hohe Lebensalter. Man steigert gern gleich weiter und spricht von der Hoffnung auf die Vollendung eines
737
http://geburtstagswünsche.org/liebe-oma (12.3.2011).
738
Z.B. Egon Eisenmann, http://www.geburtstags-tipp.de/spruch-80-2.html (20.10.2011). 739
Z.B. http://www.festpark.de/g255.html (20.10.2011).
740
http://www.easy-birthday.de/showgg.php?id=gg41. (20.10.2011).
741
http://www.festpark.de/ g101.html (20.10.2011).
742
Z.B. Horst Winkler, http://www.verseschmiede.com/geburtstag-gedichte. htm#18. geburtstag (17.10.2011).
188
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Jahrhunderts.743 Um die Fülle und Größe der achtzig Jahre zu fassen, werden wie in den Siebzigern Zahlenspiele versucht.744 Im Anschluss an das Staunen über das hohe Alter taucht vielfach ein Perspektivwechsel auf: Wenn auch das Alter hoch ist, so sei jedes Lebensjahr ein neuer Anfang, genau wie jeder einzelne Tag: Sie »… geh’n und reichen sich die Hände / und ziehen laut und leise ihre Spur. / Ein jeder Tag ist Anfang und ist Ende / und gleicht dem Räderwerk einer Uhr. … / Und so im Rhythmus unserer Lebenstage, / der heute so und morgen anders schlägt, / das Herz sein Sehnen, Hoffen, keine Frage, / von einem Tage bis zum nächsten trägt. / Bis einmal jeder ist ans Ziel gekommen, / der Rhythmus stockt, der Pendelschlag setzt aus / und alles Fragen hat ein End’ genommen, / das ruhelose Herz sich fand nach Haus… .«745 Ein ähnlich gelagertes, blickveränderndes Motiv ist, dass Achtzigjährige »jung im Herzen«, »jung in der Seele« sein können.746 Als wichtigste Charakterstärke wird den Achtzigjährigen Weisheit durch Lebenserfahrung zugeschrieben. Sie wissen, was wirklich zählt. Den äußerlich eingeschränkten Bewegungsradien steht ihr reiches Innenleben gegenüber – das auch in spiritueller Hinsicht sich zu weiten scheint. Rückschau wird gerne bis in Kindheit und Jugend hinab gehalten.747 Als Bildmotive dienen vor allem »Weg« und »Leiter«.748 Ein in den anderen Lebensphasen unüblicher Ernst deutet auch die Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit der Zeit an: »… Man lebt doch, als könnt’s kein Ende geben, / weil eine leise Stimme spricht: / Was Du hier ahnst, wird einst erst wahres Leben, / wenn diese Schale hier zerbricht.« 749 Viele Internetgedichte zum 80. Geburtstag überblenden das schnell angeklungene Thema ›Tod und Sterben‹ zügig zugunsten der Feierfreude im Hier und Jetzt. Die Hauptthemen bleiben Gesundheit und Heiterkeit. Sie stehen bei den Wünschen an vorderster Stelle. Zu ihnen eilen die Worte,
743
Z.B. Horst Rehmann, http://www.grusskarten-e-cards.de/gedichte/geburtstag2.php (17.10.2011). 744
Z.B. Rinchen, http://www.festpark.de/g532.html (20.10.2011).
745
http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-80-geburtstag-oma.html (20.10.2011).
746
Z.B. Horst Winkler, http://www.verseschmiede.com/geburtstag-gedichte.htm (17.10.2011). 747
Z.B. Eisenmann, http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-80-mutter.html (20.10.2011). 748
Z.B. Barbara Haane, http://www.festpark.de/g281.html (20.10.2011).
749
http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-80-geburtstag-opa.html (20.10.2011).
III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
189
wobei sie mehr wissen, als sie sagen, wenn sie kurz 1.Kor 13 streifen: »… Große Güte hält Dich fest, / was gewesen, wird verständlich, / Sorgenzweifel Dich verlässt, / Innres Leben wird unendlich. / Und Du fühlst Dich glücklich doch, / kannst noch hoffen, glauben, lieben. / Denn Du bist trotz allem noch / in der Seele jung geblieben. …«750 III. 4. 1. 10 Für Neunzig- bis Hundertjährige
Zum 90. Geburtstag wird im Rückblick auf die private Lebensgeschichte751 besonders gern die inzwischen längst versunkene Alltags- und Konsumwelt vergangener Jugendzeiten des Geburtstagskindes skizziert, eine Zeitreise für Jubilare und ihre Gäste: »… Wisst Ihr noch wie’s früher war, / als der Karl ein Baby war? / Es sind vergangen neunzig Jahr! / Kinderkleidung kauft’ man gelassen, / so groß, dass sie in zwei Jahren noch passen. / Die Kleider – und das ist ja wohl klar, / erfreuten noch die ganze Geschwisterschar. …«752 Und obwohl manchmal humorvoll davor gewarnt wird, die Vergangenheit zu verklären, scheint doch offensichtlich, dass die Erinnerung an die weit zurückliegenden Tage in ernsthafter Weise Sehnsucht und Wehmut einschließt: »… Und ob auch alle Spuren löscht das Leben, / nie löscht die Spur von Kindheitstagen aus. / Wohin das Schicksal auch uns hat verschlagen, / wir suchen immer doch die Spur nach Haus. / Was wir im Leben haben auch erfahren / an Glück und Leid, an Freuden und an Not, / es kann das Heimweh nicht in uns ertöten, / wo wir als Kinder aßen unser Brot ….«753 Das Hauptthema der Neunziger ist die Endlichkeit des Daseins, verbunden mit staunender Freude darüber, so alt geworden zu sein,754 aber auch mit den Fragen: War alles vergebens? Was lohnt sich noch? Worauf ist zu hoffen? »… Es weiß keiner was geschieht, / was danach alles kommt, ob es sich auch lohnt? / Manche haben viel Angst davor, man weiß nicht warum. / Vielleicht weil’s auf Ewig ist, da kommt keiner davon. / Vielleicht kommts auch ganz anders, wer weiß es genau? / Der Mensch ist zwar schlau, doch da sind seine Grenzen, / der Himmel ist blau….«755 750
http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-80-geburtstag-vater.html (20.10.2011).
751
Z.B. http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-90-mutter.html (20.10.2011).
752
http://www.festpark.de/g581.html (20.10.2011).
753
http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-90-geburtstag-vater.html (17.10.2011).
754
Z.B. Kaminka, http://www.geburtstagsgedichte.org/gedicht-90-geburtstag.htm (20.10.2011). 755
Margit T., http://www.geburtstags-tipp.de/90-geburtstag-gedicht-.html
190
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Antworten werden zum einen innerweltlich gegeben: Sie liegen in der Freude an den nachfolgenden Generationen, in Familie und Gemeinschaft. Als Traumziel begegnet immer wieder, die 100 Jahre zu vollenden.756 Zum anderen aber wird in dieser Lebensphase Hoffnung angedeutet, die über das irdische Leben hinausreicht. Jetzt finden sich deutlich mehr Symbole und Metaphern mit christlichen oder allgemein-religiösen Dimensionen: Ewigkeit, Auferweckung, Himmelreich, Unsterblichkeit der Liebe, Buch des Lebens, Gottes Segen, Begleitung und Schutz. Gott kommt als Spender des Lebens in den Blick. Beten wird Neunzigjährigen nahezu empfohlen, denn »… eine himmlische Ruhe senkt sich von oben, / eine lautlose Antwort, ins gläubige Herz….«757 Die Natur gilt als Wahrheit eines unerklärten Vergehens und Werdens. Der Mensch kann sich dieses Anblicks nie entziehen. Geburtstagskinder und Festgesellschaft werden ermuntert: »… Geht diesen ewigen Kreis des Lebens / und freut euch am Leben, / es ist euch gegeben.«758 Dem Lebensalter der Neunziger wird Rührung und Tränen zugestanden. Einsamkeit, Verzichten, Sich Fügen, auch in eines Gottes Willen, werden als unausweichliche Herausforderungen benannt. Darüber hinaus aber stehen diese Jahre für große angenehme Ruhe,759 Frieden, Bescheidenheit. Sie gelten als »Gnadenfrist«760 – und haben ihre ganz eigene Schönheit, für diejenigen, die sich ins Alter schicken.761 Nur wenige Gedichte bieten als Kontrast das Bild der junggebliebenen Alten. Die Wünsche sprechen Gesundheit, Glück, Freude und Heiterkeit an und scheuen sich nicht, sexuelles Triebleben im Alter zu erwähnen.762 Vor allem wird wiederholt auf die Liebe hingewiesen, als das Band zu den Lebenden und zu den Verstorbenen, das bis zum letzten Tag zu leben lohnt. Unsterblichkeit und ewiges Leben begegnen als Worthülsen mit (20.10.2011). 756
Z.B. http://www.festpark.de/g416.html (20.10.2011) und Familie Giehl, http://ww w. festpark.de/g292.html (20.10.2011). 757
http://www.geburtstags-tipp.de/spruch-90-beten.html (20.10.2011).
758
Samuel W., http://www.geburtstags-tipp.de/gedicht-samuel-w-kreis.html (20.10. 2011). 759
Z.B. Johanna Wolff, http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-90-geburtstag-0.html (20.10.2011). 760
http://www.geburtstags-tipp.de/spruch-90-0.html (20.10.2011).
761
Z.B. http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-90-grosseltern.html (20.10.2011).
762
Z.B. http://www.festpark.de/g175.html (20.10.2011).
III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
191
wenig Kraft.763 Das Wort des christlichen Glaubens ›Auferstehung‹ taucht hin und wieder unvermittelt auf: »… Alt werden heißt Leben, Sterben / und fröhliches Auferstehen / und segnen, wenn neue Geschlechter / auf Wegen von heute gehen. …«764 III. 4. 1. 11 Für Überhundertjährige
Ab dem 100. Geburtstag finden sich im Internet deutlich weniger Gedichte. Eine solche Fülle an Lebensjahren sorgt für eine gewisse dichterische Ratlosigkeit: »Zum 100sten Geburtstag fällt mir nichts ein…«765 Die meisten zeigen: Die Hundert ist eine Art Siegestrophäe, die noch immer als seltenes Glück und auch als Leistung verstanden wird und mit Stolz gefeiert werden darf.766 Die Jubilare gelten als bescheiden767 – trotz bzw. wegen ihrer vielen Lebenserfahrung. Körperliche Gebrechen treten angesichts des beeindruckenden Lebensalters in den Hintergrund.768 Die Gratulierenden ringen in vorsichtigen Formulierungen darum, was sie aufrichtig noch wünschen können. Möglicherweise erschiene übertrieben, hier noch von Gesundheit und langem Leben zu schreiben.769 So bleibt meist ein flüchtiges, ratloses »Herzlichen Glückwunsch« und »Alles Gute«. III. 4. 2 Interpretative Verdichtung: Matrix der Ambivalenzen
Die Imaginationen der Geburtstagsgedichte bespielen sechs dialektisch verbundene Themen, eine Matrix an Ambivalenzen.770 Diese Ambivalenzen bezeichnen lebensrelevante Spannungsfelder, ein »zeitweiliges oder 763
Z.B. http://www.geburtstags-tipp.de/gedichte-90-geburtstag-oma.html (20.10.11).
764
http://www.geburtstags-tipp.de/spruch-aelter-werden.html (20.10.2011).
765
Heidrun-Auro Brenjo, http://www.festtagsgedichte.de/festtage/1-bis-100-geburtstag/81-bis-100-geburtstag/100-geburtstag.htm (20.10.2011). 766
Z.B. Arne Gabriel, http://www.geburtstag-abc.de/geburtstags-gedichte-reime/Gedichte-100-s1.php (20.10.2011). 767
Z.B. Arne Gabriel, http://www.geburtstag-abc.de/geburtstags-gedichte-reime/Gedichte-100-s1.php (20.10.2011). 768
Z.B. Arne Gabriel, http://www.geburtstag-abc.de/geburtstags-gedichte-reime/Gedichte-100-s1.php (20.10.2011). 769
Z.B. Arne Gabriel, http://www.geburtstag-abc.de/geburtstags-gedichte-reime/Gedichte-100-s2.php (20.10.2011). 770
Dieser Begriff sei auch im Anschluss an ein Konzept des Konstanzer Soziologen Kurt Lüscher gewählt. Er bewährte sich bereits im Zusammenhang mit einer praktisch-theologischen Taufuntersuchung. Vgl. MÜLLER, »So kommen wir …«, 523.
192
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
dauerndes Oszillieren«, manchmal auch ein »Hin- und Hergerissenwerden zwischen polaren Gegensätzen«.771 »Es ist eine Spannung wie bei einer Geigen- oder Gitarren-Saite: Sie erklingen, wenn die Spannung nicht aufgelöst wird. Beides ist aufeinander bezogen und ermöglicht kreative Lebendigkeit.«772 III. 4. 2. 1 Zahlenfaszination und Relativität der Lebensalter
Die Lebensjahre zu quantifizieren und die jeweilige Zahl in das eigene Selbstverständnis positiv oder negativ zu integrieren, ist eines der leidenschaftlichsten Themen der Geburtstagsgedichte. Ein großer Teil scheint darin die Hauptaufgabe der Gratulation zu verstehen: Die Zahl hervorheben, durch (klischeehaftes) Beschreiben oder auch durch Rechenspiele zugänglich machen und auf diese Weise dem Geburtstagskind Raum geben, sich mit der neuen Lebensalterzahl zu identifizieren. Das Gegengewicht dazu bietet die Formel »Du bist so alt, wie Du Dich fühlst« oder andere Erklärungen dazu, dass die Zahl des Lebensalters letztlich doch auch wieder ganz unwichtig sei. Die Spannung liegt dabei zwischen Determination und Freiheit des Individuums. »Älter werden schließlich alle.« 773 In Gedichten auf Internetseiten christlicher Anbieter werden Astrologie und Zahlenmystik gemieden, das Vergnügen der Zahlenspielereien lieber mit Bibelworten verknüpft.774 Als philosophische, spirituelle Fragen des Menschseins treten in der Ambivalenz vom Zahlenfaszination und Relativität der Lebensalter hervor: Wie frei bin ich angesichts der Festlegung auf ein bestimmtes Alter? Wie verhalten sich Quantifizierung und Identität/Individualität ? III. 4. 2. 2 Wechselnde und bleibende Bindungen
Eine zentrale Rolle spielt in den Internetgedichten unzweifelhaft die Liebe unter sich nahe stehenden Menschen. Angesichts des Geburtstages wird das Geburtstagskind seiner besonderen Einzigartigkeit und herausgehobe-
771
CHRISTOPH MÜLLER, Ambivalenzen in Kasualien. Wahrnehmungen und Umgangsweisen bei Taufen, kirchlichen Trauungen und Bestattungen, in: Walter Dietrich u.a., Ambivalenzen erkennen, aushalten und gestalten. Eine neue interdisziplinäre Perspektive für theologisches und kirchliches Arbeiten, Zürich 2009, 123-192, 133. 772
MÜLLER, »So kommen wir …«, 524.
773
http://www.geburtstagsvorlagen.de/ geburtstagswuensche.html (11.3.2011).
774
Z.B. Rainer Jetzschmann, http://www.christliche-gedichte.de/?pg=11874 (21.10. 2011).
III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
193
nen Bedeutung für die Gratulierenden vergewissert. Die Zuneigung in den Gedichten erscheint als Rückhalt für den Einzelnen, um sich den wechselnden gesellschaftlichen Erwartungen zu stellen. Als sozialer Lebenslauf spiegelt sich in den Versen eine lange Zeit der Erweiterung des sozialen Radius und der Suche nach der eigenen Position, schließlich der Anstrengung, den eigenen Platz zu behaupten. Mit dem Rentenalter scheint sich der gesellschaftliche Wirkungskreis nach und nach zu verengen. Familie und Freunde sind umso wichtiger als bleibender Halt gegen drohende Einsamkeit. Explizit christliche Gedichte betonen, dass nicht nur die Liebe in Familien- und Freundeskreis, sondern besonders auch die Liebe Gottes die entscheidende Konstante ist, die ewig bleibt, auch wenn alle anderen Bindungen zu Menschen endlich sind. Als spirituelle und religiöse Lebensfragen spiegeln sich in der Spannung unter bleibenden und wechselnden Beziehungen: Wer trägt mich? Woran bin ich und wer ist an mich gebunden? III. 4. 2. 3 Vergangenes festhalten und loslassen
Zum ritualisierten Innehalten am Geburtstag unterstützen die Gedichte das persönliche Bilanzieren, die Biographiearbeit des Geburtstagskindes. Sie erheben dabei nicht den Anspruch, umfassende Lebensresümees zu ziehen. Sie ermuntern, zufällig gewichtete Rück- und Vorausschau in situativer Leichtigkeit zu halten. Anspielungen erinnern an zurückliegende Lebensereignisse. Appelle, Vergangenes ruhen zu lassen und sich auf die offene Zukunft einzulassen, aktivieren für das neue Jahr(zehnt). Wünsche rüsten zu und verschaffen ein paar Augenblicke, sich auf die wichtigsten Paradigmen für ein gelingendes Leben zu besinnen: Gesundheit, Glück und alles Gute, Zufriedenheit, Freude und Liebe.775 In Gedichten christlichen Genres sind im Zuge des Erinnerns auch die Stichworte »Versöhnung« und »Vergebung« durch Christus zu finden, ebenso wie die »Hoffnung auf (Heimkehr in) sein Reich«. Außerdem verbinden sie den Rückblick oft mit dem Motiv des Dankens für Gottes Bewahrungen und Führungen. Als existentielle Fragen klingen zwischen den Optionen des Festhaltens und Loslassens: Wer war ich? Wer werde ich sein? In welchen Hori775
In christlichen Geburtsagsgedichten fällt eine Verschiebung auf: Dass Gesundheit das Höchste sei, wird verneint. »Gottes Segen« ist der zentrale Wunsch. Dieser weist über alle körperlichen Zustände hinaus. Z.B. Rainer Jetzschmann, 2009, http://www. christliche-gedichte.de/?pg=11762 (21.10.2011).
194
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
zont zeichne ich mein Leben ein? Wo sind Vergangenes und Zukünftiges geborgen? Welche Erfahrungen integriere ich, welche stoße ich ab – und wie frei bin ich in diesen Entscheidungen? III. 4. 2. 4 Fülle und Leere
Immer wieder deuten die Gedichte an, dass im Lauf des Lebens besonders an den Geburtstagen Menschen zumindest an»gedichtet« wird, dass sie überlegen, wie und ob ihr Dasein Sinn hat. Zwei Möglichkeiten erleichtern dem Geburtstagskind das Feiern: Manche Gratulierende postulieren, dass das Grübeln aufzugeben ist, weil das Leben ein Rätsel bleibt und die Frage nach seinem tieferen Sinn nichts bringt. Andere erkennen Substanz im miteinander intensiv erlebten Augenblick und der Erinnerung an viele solche Stunden. Gedichte mit christlichem Anspruch umschreiben, dass die Nachfolge Jesu das persönliche Leben wie ein Fundament tragen kann und dem irdischen Dasein ewige Perspektive, A und O verleiht. Sie betonen, dass dies wervoller ist als jedweder Besitz und Äußerlichkeiten:776 Ein Christenmensch sei berufen, sich einzufügen in Gottes Wege und sich auf dem schmalen Weg zum ewigen Heimatland zu wissen.777 So wird gemahnt, immer bewusster mit der Zeit umzugehen,778 sich noch intensiver an Bibelworten zu orientieren, und mit Jesus als Freund, Retter779 und Heiland zum Vater zu ziehen.780 Dort warten ewiges Leben und das Geschenk der Lebenskrone, dargeboten in frommen Formulierungen, wie sie im 19. Jahrhundert vornehmlich verwendet wurden.781 Ob in allgemeinen oder christlich gehalten Gedichten: Am Geburtstag dringt aus der Spannung von Leere und Fülle des menschlichen Lebens in seiner Gesamtschau die Frage: Was gibt dem Dasein Sinn? 776
Z.B. http://www.christenload.com/category/christliche_gedichte/geburtstag/page /3 (21.10.2011) und mit Eleonore Fürstin von Reuß, »Ich bin durch die Welt gegangen« http://www.christliche-gedichte.de/?pg=5301 (21.10.2011). 777
Z.B. http://www.christenload.com/category/christliche_gedichte/geburtstag/page /2 /(21.10.2011) und Johannes Kandel, http://www.christliche-gedichte.de/? pg=12222 (21.10.2011). 778
Z.B. Maria Gorges, http://www.christliche-gedichte.de/?pg=12401 (21.10.2011). und Martin Volpert, http://www.christliche-gedichte.de/?pg=10741 (21.10.2011). 779
Z.B. Wilhelm Konuchow, http://www.christliche-gedichte.de/?pg=12528 (21.10. 2011). 780
Z.B. Joachim Krebs, http://www.christliche-gedichte.de/?pg=6006 (21.10.2011).
781
Z.B. http://www.christliche-gedichte.de/?pg=10564 (21.10.2011).
III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
195
III. 4. 2. 5 Unendliches Universum und einzigartige Person
»Bleib wie du bist«, ist eine weit verbreitete, wenn auch paradoxe Empfehlung an ein der Zeit unterworfenes Wesen. In den Gedichten stehen sich Aussagen zum gleichmütigen Fluss des unendlichen Universums, dem ›Lauf der Dinge‹ und zum ›unerschöpflichen Wert‹, der Einmaligkeit der Person des Geburtstagskindes gegenüber. Anekdoten, Stärken und Schwächen – alles, was einen Menschen individuell auszeichnet, wird allzu gern herausgearbeitet. Ein Geburtstagsgedicht ist ein ›Spotlight‹ auf einen unverwechselbaren, unersetzlichen Menschen im Dunklen der gleichgültigen Unendlichkeit. Gedichte mit christlichem Hintergrund bilden dazu Glaubensaussagen über Gott: Er, der alle Zeit in Händen hält, beachte zugleich jede einzelne Person. Mit Liebe,782 Allwissenheit, Begleitung783 lenke er alles,784 bewahre785 und trage in schweren Zeiten, schütze und wache. Auf diese Seiten könne der Mensch vertrauen786 und sich dankbar und freudig787 am göttlichen Geschenk des Daseins erfreuen, um es zu erfüllen mit einem Handeln aus dem Glauben: »… Den Sinn der Zeit - lasst ihn uns gut verstehen. / Sinnvoll ist, wenn Weisheit und Liebe das Alter krönt. / Und glücklich ist, der weiß, dass er mit Gott versöhnt. / Noch hält die Lebenszeit viele Wege für uns offen: / Wir haben Zeit zu lieben, zu glauben, zu hoffen.«788 Zwischen den Ambivalenzen der Unendlichkeit des Universums und der einzelnen Persönlichkeit keimen Fragen auf: »Was hat Bestand?« und »Was bin ich wert?«, »Was zähle ich und meine Lebensgeschichte?« III. 4. 2. 6 Diesseits und Jenseits
Als zentrale Herausforderung menschlicher Daseinsbewältigung spiegelt sich in den Internetgedichten die Endlichkeit, die temporäre Begrenzung der körperlichen Existenz. Tod und Sterben werden kaum direkt angesprochen, doch häufig findet sich das »tempus fugit«-Motiv. Meist wird dem ein lautes »Carpe diem« entgegengestellt – besonders in der Variante, den 782
Vgl. Petra Schärtel http://www.christliche-gedichte.de/?pg=11924 (21.10.2011).
783
Vgl. Elvira Strömmer, http://www.christliche-gedichte.de/?pg=10687 (21.10.11).
784
Vgl. Elvira Strömmer, http://www.christliche-gedichte.de/?pg=10323 (21.10.11).
785
Vgl. Martin Volpert, http://www.christliche-gedichte.de/?pg=10699 (21.10.11).
786
Vgl. http://www.christenload.com/category/christliche_gedichte/geburtstag/page /3 (21.10.2011). 787
Vgl. Manfred Reich, http://www.christliche-gedichte.de/?pg=10317 (21.10.2011).
788
Ursula Wulf, http://www.christliche-gedichte.de/?pg=6004 (21.10.2011).
196
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Augenblick des Festes gemeinsam zu genießen. Jede Minute zählt und kann für das Wesentliche genutzt werden. Während dieses »Wesentliche« – jenseits der Geburtstagsfeier – oft nicht genauer bestimmt ist und dem Ermessen des Geburtstagskindes anvertraut wird, ist dies in den untersuchten christlichen Gedichten mit Hinweisen auf das göttliche Regiment verbunden. Dies offenbart das Leben als rotierende »Tretmühle«: »… Der Mensch, er denkt, es wird sich zeigen / wohin ihn führt sein stetig Steigen / er nimmt nicht wahr die Rotationen, / die ihn mit Schwindeleien belohnen / Er meint es würde aufwärtsgehen / und muss sich um sich selber drehen. / Der Mensch, er denkt auf eigner Welle / und tritt gar weiter auf der Stelle. / Er beraubt sich so, auf diese Weise, / kostbarer "ER"– Fahrungen einer Lebensreise«.789 Dies führt zur Mahnung, den eigenen Lebensweg kritisch zu prüfen und die Gegenwart in Verantwortung vor Gott zu gestalten.790 Insgesamt fällt auf, dass christliches Sprachgut der Grenze des Daseins, der Auferstehungshoffnung und Ewigkeit herausragendes Gewicht geben, während die anderen Internetgedichte hier zurückhaltend sind und nur selten (und im höheren Lebensalter) Hoffnungsgedanken, die über den Tod hinausgehen, andeuten. So soll unterstützt werden, am Geburtstag das Leben zu ordnen, Wichtiges vom Unwichtigen, Vergängliches vom Unvergänglichen zu trennen, über das Kreisen um sich selbst hinauszukommen und Liebe zu den Mitmenschen und dem Schöpfer ins Zentrum zu rücken. Zwischen der Erkenntnis der Begrenztheit des irdischen Daseins und der in die kulturelle Tapete eingegangenen christlichen Hoffnung auf eine Rettung aus dem Tod (vermischt mit der Rede unterschiedlicher weiterer Religionen und Philosophien vom Jenseits) erwacht: »Wo gehe ich hin?«, »Welche Zukunft erwarte ich, für mich und für andere?«, »Wie läuft (meine) Geschichte aus?« III. 4. 3 Glaubenslebenslauf-Imaginationen der Gedichte
Im freien Spiel der Ambivalenzen mit ihren existentiellen, spirituellreligiös dimensionierten Fragen werden in den Geburtstagsgedichten zwei Typen von Modellvorstellungen über das Verwobensein des Lebens mit seinen Sinn- und Glaubensdimensionen imaginiert: Dynamisch-Lineare und Räumlich-Statische:
789
Manfred Reich, 2011, http://www.christliche-gedichte.de/?pg=12479, (21.10.11).
790
Vgl. Martin Volpert, http://www.christliche-gedichte.de/?pg=10700 (21.10.11).
III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
197
III. 4. 3. 1 Dynamisch-linear: Kurve, Reiseweg, Puzzlespiel
Drei Bild-Varianten erscheinen dynamisch-linear: Zum einen steht zahlreichen Gratulierenden ein Modell vor Augen, das den Einzelnen in einer sozialen Kurvenbewegung sein Leben gestalten sieht.791 Die piktographisch jahrhundertelang so weit verbreitete Lebenstreppe792 erscheint dabei in spezifischer Weise abgewandelt. Ihre Stufenfolge ist asynchron: Der Aufstieg ist länger und schonender als das steile Abwärts.793 Mühsam ringt das Individuum um seinen passenden Ort in der Gesellschaft. Es hat diesen etwa zwischen 30. und 40. Lebensjahr gefunden.794 Nach einer Zeit erneuter Selbstausrichtung (als sogenannte ›MiddlelifeKrise‹ zum Allgemeingut geworden, derzeit eher um das 40. als um das 50. Lebensjahr empfunden), warten bis zum 70. Geburtstag besonders gute Jahre und mit dem Eintritt in den Ruhestand sogar eine betont gefeierte Freiheit. Ab dem 80. Geburtstag sinkt die imaginierte Kurve spürbar ab. Nun bleibt nur Hinabsteigen und die Einkehr in Erinnerungen.795 Die zweite dynamisch-lineare Imagination kreist um das Wegmotiv:796 Der Lebenslauf des Menschen ist eine Strecke, ein Pfad, der – wie verschlungen auch immer – einen Anfang und ein Ende hat. Geburt und Tod sind die natürlichen Fixpunkte der menschlichen Reise. Viele Geburts-
791
Z.B. http://www.confetti.de/index.php?id=geburtstagsgedichte (12.3.2011).
792
Siehe dazu oben im zweiten Kapitel zum Modelltyp Treppenbogen.
793
Auch die Geburtstagsgedichte ohne Altersangabe mit Blick auf den gesamten Lebenslauf zeigen, dass sich bei aller individueller Lebensgestaltung diese gesellschaftliche Druckwelle durch die Lebensphasen zieht. Als wichtige Kräfte im Anstieg erscheinen die Lern- bzw Schulpflichten und die Erziehungsverbote, besonders aber auch die wachsende Fähigkeit zur Teilnahme an der Konsumgesellschaft. Auf dem Plateau des sozialen Erwachsenendaseins wirken Leistungs- und Erwerbsdruck mit Generationenverantwortung und Erhaltungsaufgaben. Im Abstieg, etwa ab dem 80. Geburtstag, werden die Einzelnen immer mehr aus dem sozialen Leben verabschiedet durch das Zugeständnis körperlicher Schwächen und Ermüdungserscheinungen. Weit verbreitet ist in Internetforen zum Geburtstag jene Geschichte, die dies in Tiersymbolik spiegelt. Vgl. http://www.festpark.de/g200.html (20.10.2011). 794
Z.B. http://www.grusskarten-e-cards.de/gedichte/geburtstag3.php (17.10.2011).
795
Gedichte, die sich verpflichtet fühlen, Glaube zu Wort kommen zu lassen, spielen zur Bebilderung der Imagination auch gerne mit dem Motiv ›Lebensbaum‹. Vgl. z.B. Hans-Georg Wigge, http://www.christliche-gedichte.de/?pg =11876 (21.10.2011). 796
Z.B. Monika Minder, http://www.geburtstag-gedichte.com/geburtstagsverse.html (21.10.2011).
198
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
tagsgedichte bespielen dieses Motiv mit großer Leichtigkeit, die meist vergnügt in die Zukunft blickt.797 In feinsinniger Weise wird dazu gern das Auto als Symbol genützt. Noch keinen Führerschein zu haben, dann einen zu besitzen und schließlich wieder darauf verzichten zu müssen, ist eine Möglichkeit, die WegImagination humorvoll mit einem gesellschaftlichen Statusphänomen zu verbinden. Dezidiert christliche Gedichte spielen zur Untermalung der Reise-Weg-Imagination auch mit dem Motiv vom »Lebensschiff«.798 Die dritte dynamisch-lineare Imagination, die die Gedichte prägt, zeigt das Schicksal des Menschen als Puzzle alter Ereignisse. Sie hinterlassen in unterschiedlicher Weise Spuren. Der Mensch setzt fragmentarisch zusammen, was er war und was er visionär träumt, er hat – zumindest am Geburtstag – in der Hand, sich zu entscheiden, welche Erinnerungen er besonders integrieren möchte.799 Hin und wieder – und passender Weise am Geburtstag einmal im Jahr – legt er sein »Tarot der eigenen Persönlichkeit«.800 Alles ist im Fluss, und das Individuum bastelt an seiner Welt-, Selbst- und Gottessicht mit den Puzzlestücken, die es greifen kann. Manche Bereiche des Puzzles sind schon verbunden, andere nicht – wie das ein Gesamtbild ergibt, ist offen; dass es irgendwann vollendet wird, bleibt als Ausblick. III. 4. 3. 2 Statisch-räumlich: Staubkorn, Kreisel, Sanduhr
Die Betrachtung der Geburtstagsgedichte fördert auch statische Imaginationen zu tage, die das Leben in seinen Sinn- und Glaubensdimensionen gleichbleibend und konstant vor Augen führen. Die Gratulanten haben im kulturellen westlichen Möglichkeitsraum offensichtlich längst ihren eigenen Frieden mit Gott und Ewigkeit gemacht. Religiosität und Spiritualität sind scheinbar in gelassener Gemütsruhe verinnerlicht. Die Beziehung zu einem Gott, einem Herrn der Tage, zum Sinn des Lebens und existentiellen Fragen ist als persönliches Eigentum kaum zu
797
Z.B. Monika Minder, http://www.geburtstag-gedichte.com/kurze-geburtstagsgedichte.html (21.10.2011). 798
Vgl. http://www.christenload.com/category/christliche_gedichte/geburtstag (21. 10.2011). (Hier in der Sprache pietistischer Gemeinschaften.) 799
»Fliegt nicht so rasch ihr Lebenswellen / An Erinnerungen schon reich / Gedenk ich im Geheimen / Und schicke einen lieben Gruss zu euch.« Monika Minder, http://www.geburtstag-gedichte.com/geburtstagsverse.html (21.10.2011). 800
Z.B. Anita, http://www.geburtstags-feste.de/ gedichte-neutral-55ster-0.html (17. 10.2011).
III. 4 Geburtstagsgedichte – Ergebnisse der Analyse
199
erschüttern oder zu verlieren, unveränderlich. Glaube und Lebenshaltung sind individuelles Fundament – in einer für die Theologie (und Religionspädagogik) mit ihren dynamischen Modellen nahezu verstörenden Statik, resistent gegen Entwicklungslogik.801 Die erste statisch-räumliche Imagination führt das Geburtstagskind zu einem weiten Abstand zu sich selbst und lenkt den Blick bis an die Sterne weit, bis hin zum Universum. Vor diesem Hintergrund ist der Lebenslauf des Einzelnen nur ein staubkornartiger Punkt, von dem aus gar keine großen Entwicklungen erwartet werden oder gar erzwungen werden müssten: »…Auf tausend Kilometer diese Zeit nun verteilt, / vielleicht fünfzehn Millimeter, in denen einer hier weilt. / Und bis kurz danach, zehn Millimeter vielleicht, / denkt noch einer an Dich, und ich glaub auch, das reicht. / Und noch ein paar Millimeter drauf, / dann hört das Denken an Dich schließlich auf. / … Drum merk Dir, Du bist überhaupt nicht wichtig. / Genieß’ jede Stunde, dann machst Du es richtig.«802 Die zweite statisch-räumliche Vorstellung zeigt den Menschen, wie er im Laufe seines Lebens immer um den Sinn des Lebens kreist – und sich insofern statisch, ›tretmühlenartig‹ nicht vom Fleck bewegt: »… Nur Spuren bleiben – bis der Wind sie ebnet. / Wo stehst Du nun ? Wo ist Dein Mittelpunkt ? / Der Plan ist groß – und wird geändert. / Zurückgebogen auf das Rund Deiner Bestimmung. / Laß Zahlen nicht, laß Leben sprechen, / bis Du – um wenig höher – Dich selbst eingeholt …«803 Von der Mitte – wie auch immer sie besetzt wird – ist er in jeder Lebensphase gleich weit entfernt. In diesem Modell ist kein Fortschritt zu erwarten, und Junge wie Alte sind vor die immer gleiche Herausforderung des inneren Gleichgewichts gestellt. Die dritte statisch-räumliche Imagination zeigt den Menschen als zeitlich determiniertes Lebewesen. Die einmal gestartete Stoppuhr zählt Sekunde für Sekunde die vorgesehene Zeit ab, ohne dass irgendjemand daran etwas ändern könnte. Die Sanduhr ist zu Anfang jedes irdischen Daseins aufgerichtet. Deren Körnlein rieseln kontinuierlich, ohne kleinste Rhythmusstörungen, wie das Signal der Atomuhren keine außergewöhnlichen Zeitquantifizierungen mehr vorsehen. Dieser anthropologischen
801
Einen Glauben »hat man« – das scheint weite Teile der alltagspraktischen Glaubenslebenslauf-Imaginationen besser zu treffen als die Rede von »spiritueller Entwicklung«, für die in Theologie und Religionspädagogik so intensiv ausgebildet wird. 802
Rüdiger Keller, http://www.gedichte-fuer-alle-faelle.de/ geburtstagsgedichte/index.php?fnr=393 (26.9.2011). 803
Michael J. Bergmann, http://www.festpark.de/g501.html (26.9.2011).
200
III. Alltagspraktische Glaubenslebenslauf-Imaginationen
Kontitutio ist die Entwicklung des spirituellen, religiösen Bewusstseins untergeordnet. Glaubenslebenslauf weiß: Dasein ist permanente Vergänglichkeit. III. 4. 3. 3 Die Herausforderung dieses alltagspraktischen Befundes
Dass Imaginationen zum Glaubenslebenslauf in Geburtstagsgedichten sowohl dynamisch-linear als auch statisch-räumlich sind, ist ein eindrückliches Ergebnis: Offensichtlich sind die Geburtstagsgedichte nicht nur von neuzeitlichen, modernen Motiven und Denkweisen geprägt: Sie treffen sich zwar mit den derzeitigen wissenschaftlichen Modellvorstellungen (gerade im Bild von ›Kurvenbewegung‹, ›Reiseweg‹ und ›Puzzlespiel‹ besonders mit den wissenschaftlichen Varianten von ›Lebenstreppe‹, ›Baum‹ und ›Koralle‹)804 , haben darüber hinaus aber in etwa gleicher Gewichtung einen Grundcharakter, den die wissenschaftlichen Modellvorstellungen nicht kennen: Sie sind eben auch statisch-räumlich und darin vormodern. (›Staubkorn‹, ›Kreisel‹, ›Sanduhr‹) Im Alltag wird mit beiden Bildertypen in (postmoderner) Freiheit gespielt. Eine praktisch-theologische Modellsprache, die sich nur auf dynamisch-lineare Bilder stützt und daran pädagogisches wie seelsorgliches Handeln ausrichtet, zielt somit an einer großen Zahl profaner Vorstellungen vom Glaubenslebenslauf, an einer grundlegenden Dimension des Wirklichkeits- und Selbstverständnis von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen und aktuellen Lebensäußerungen vorbei.805 Das nächste Kapitel strebt an, mithilfe einer mediävistikgestützten Bildinterpretation das derzeit verengte Glaubenslebenslauf-ImaginationenRepertoire der Praktischen Theologie durch ihre eigenen Archivbestände zu erweitern. Das Material und seine Betrachtung kann ihr helfen, aus ihrer biogenetisch-dynamischen Blickverengung um der lebensweltlichen Vielfalt willen herauszufinden. 804
Die Verbindung zwischen den Glaubenslebenslaufimaginationen des zweiten und dritten Kapitels erfolgt ausführlich, nachdem auch die des vierten Kapitels erarbeitet wurden unter V. Zusammenfassung und Konsequenzen. 805
Dieser Befund ist eine Erklärung für das Befremden, das Pfarrerinnen und Pfarrern oft entgegengebracht wird, wenn Sie Lebens- und Biographiearbeit z.B. in Seelsorgegesprächen nur unter dem Fokus »Wie hat sich (Ihre) Religiosität entwickelt?« widmen und ihre Rückfragen nur auf vermeintliche »Stufengewinne« zielen. Ein Großteil der Glaubenslebenslauf-Erfahrungen, die ein Mensch gesammelt hat, eben jene, die Menschen statisch-räumlich reflektieren, wird dann von diesen einseitg dynamisch-linearen Modellen überdeckt. Vergleichbar sind auch Irritationen, die Religionspädagogik auslösen kann, wenn sie anstrebt, religiöse Kompetenzen zu fördern. Dies widerspricht alltagspraktischen Denkweisen, die davon ausgehen, dass Glaubens- und Lebenshaltung unverfügbare, nicht steigerbare Gaben sind.
IV. Glaubenslebenslauf-
Imaginationen historischer Bildwelten
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
IV. 1 Vorbemerkung IV.1 Vorbemerkung
Die Glaubenslebenslauf-Imaginationen, die im folgenden Teil betrachtet werden, sind »vormodern«. Sie teilen also nicht jene paradigmatische Imagination der Aufklärung, jenes biogenetische Gesetz, das Werden des Menschen als Spiegel der Genese der Menschheit zu verstehen. Sie beziehen ihre Informationen zum Werden und Sein von Mensch und Menschheit durch theologische Betrachtungen biblischer Texte und einem von ihnen gelenktem anthropologischen Blick. Die denkerische Methode der Glaubenslebenslauf-Imaginationen vor dem 18. Jahrhundert ist damit eine andere: Der Mensch offenbart nicht als natürliches Anschauungsobjekt in seinem Werden die Entwicklungsgeschichte der Menschheit und umgekehrt. Vielmehr dienen biblische Heilsbotschaften und das in ihnen geronnene Wissen dazu, die Frage nach dem Ineinander der Lebens- und Glaubensdynamik zu erhellen. Sich vormodernen Glaubenslauf-Imaginationen zuzuwenden, gleicht einem erneuten Reframing des Themas. Dieser Blickwechsel ist davon motiviert, dass sich die Gegenwart in der Analyse der im Alltag gebrauchten Glaubenslebenslauf-Imaginationen als Gemenge aus vormodernen (»statisch-räumlichen«) und modernen (»dynamisch-linearen«) Denkweisen darstellte. Die folgende heuristische Interpretation forscht nach jener theologischen Bildsprache, die im Licht der paradigmatischen Imagination des biogenetischen Gesetzes überblendet wurde.
202
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
IV. 2 Die Methode der mediävistik-
kunsthistorisch gestützen heuristischen Interpretation IV.2 Mediävistik-Kunsthistorisch gestützte Interpretaion
Über einhundert vormoderne Bilder wurden unter Aufnahme mediävistischer und kunsthistorischer Verständnishilfen aus theologischer Perspektive auf der Suche nach ihren Glaubenslebenslauf-Imaginationen betrachtet. Sie entstammen Malereien und Plastiken (insbesondere aus Kirchen, aber auch Häusern oder Prachtbauten), Büchern zur Schriftauslegung, zur Predigtinspiration806 und zur Berechnung der Zeiten (Computistische Werke),807 Enzyklopädien und Einzelblattdarstellungen (auch Miniaturen, z.B. zur persönlichen Andacht). Die Auswahl beansprucht keine Vollständigkeit. Sie wurde getroffen unter Zuhilfenahme auf das Mittelalter bezogener Forschungen, hauptsächlich von Kunsthistorikerin Elizabeth Sears. Sie hat in ihren Arbeiten, besonders in »Ages of man«, weit verbreitete, zentrale christliche Bildprogramme zum Lebenslauf von der Antike bis zum späten Mittelalter zusammengetragen und in ihren Wechselbezügen beschrieben.808
806
Im Mittelalter etablierten sich bestimmte Predigttexte als Gelegenheiten, über die Verwobenheit von Glaube und gesamtem Lebenslauf zu sprechen. Am zweiten Sonntag nach Epiphanias war dies Joh 2, 1-11, an Septuagesimae Mt 20, 1-16. Insbesondere in Predigtanleitungen zu diesen beiden Texten finden sich auch Lebenslaufdarstellungen. Die Predigercompendien (von Predigerorden oder von Laien zusammengestellt) boten eine breite Auswahl von Texten, zeitgenössische und klassische, zur Erschließung des Predigtthemas ›Lebenslauf‹. Vgl. ELIZABETH SEARS, Ages of man. Medieval Interpretations of the Life Cycle, Princeton 1986, 124. 807
Die mittelalterliche Bildung schloss die Kunst der Zeitberechnung mit ein, »computus« genannt. Dies diente einem praktischen Nutzen: Von Kirchenleuten wurde erwartet, dass sie Ostern zu terminieren wussten – genau wie die anderen Feste des Kirchenjahres. Hilfsmittel, um diese Kunst zu lernen, war seit dem frühen Mittelalter das »computus manual«, ein Werk mit Texten unterschiedlicher, auch anonymer Autoren, mit Diagrammen, Dialogen, Briefen, Versen, etc. Viele Themen waren zusammengestellt – auch wenn sie scheinbar nur entfernt mit dem Hauptthema zu tun hatten – mit dem Sinn, dass alles relevant für das Verständnis der Natur der Zeit sein könnte, ihrer Messung und ihrem Sinn. Das Thema »Lebensalter« hatte seinen Platz in diesen computistischen Arbeiten. Vgl. a.a.O., 31ff. Beispiel eines solchen Werkes: BEDA VENERABILIS: De Temporum Ratione, Patrologiae cursus completus: Series Latina, Bd. 90, Paris 1862. Er inspirierte spätere Autoren unter ihnen Helperic of Auxerre, Hrabanus Maurus im 9. und Abbo of Fleury im 10. Jahrhundert. Das Ziel dieses Arbeitens war die Anleitung zum fortwährenden Erkunden der Welt. Vgl. a.a.O., 31ff. 808
In der Theologie wurde diese Forschung bisher nicht fruchtbar gemacht.
IV.2 Mediävistik-Kunsthistorisch gestützte Interpretaion
203
Zusätzlich wurde insbesondere das Motiv »Lebenstreppe« betrachtet, dessen Fortschreibung als eine zentrale Bildlichkeit bis ins 19. Jahrhundert schon in Kapitel 2 begegnete. Auch dies geschah unter Aufnahme kulturwissenschaftlicher Forschungsleistungen, vor allem einem akademisch kommentierten Ausstellungsband des Landschaftsverbandes Rheinland.809 Die Bilder wurden mithilfe fachspezifischer Erklärungen erschlossen und dann in eigenständiger Interpretationsleistung auf ihre theologischen Pointen befragt, unter Einbezug biblischer und dogmatischer Konnotationen.810 Diese hier vorgenommene heuristische theologische Bildinterpretation betrachtet die Bilder mit spezifischem Erkenntnisinteresse, mit dem Ziel, Modellvorstellungen zum Glaubenslebenslauf aus vergangenen Jahrhunderten zu erheben.811 In der Präsentation der Ergebnisse werden besonders eindrucksvolle Beispiele unter profiliertem Schwerpunkt gezeigt. Die für die theologische Interpretation bedeutungsvollen Schemata zeichnete Grafiker Helmut Herzog gemäß meiner Angaben als interpretierende Theologin nach. Seine Darstellungen visualisieren die heuristische Konzentration der theologischen Bildinterpretation auf die Frage nach Glaubenslebenslauf-Imaginationen. Bei der Beschäftigung mit dem ungeheueren Bildreichtum vormoderner Imaginationen zum Glaubenslebenslauf ließ sich erneut eine paradig812 matische Imagination beobachten. Sie steht in dieser Ergebnisdarstellung entsprechend voran. 809
Vgl. JOERIßEN/WILL, Die Lebenstreppe.
810
Diese heuristische Bildinterpretation aus theologischer Perspektive unternimmt Sears in ihrem Werk aufgrund ihres eigenen Forschungsinteresses nicht. Sears sichtet und sortiert antike und mittelalterliche Bildwelten zu den Lebensaltern des Menschen. Sie resümiert, dass von der Wahrnehmung dieser Darstellungen wertvolle Impulse für die Gegenwart ausgehen. Die altertümliche Zeichensprache solle nicht daran hindern, die existentiellen, anthropologischen Themen zu dechiffrieren. Vgl. SEARS, Ages of man, 155. Sears führt dies aber selbst nicht weiter aus, sondern endet mit diesem Impuls. Die hier vorgelegte theologische Interpretation für das Thema Glaubenslebenslauf-Imaginationen versteht sich als eine Möglichkeit, ihre Anregung mit eigenem Forschungsinteresse aufzunehmen. 811
Zur Auseinandersetzung mit der stets perspektivierten Erhebung von Bildbotschaften vgl. NILS-ARVID BRINGÉUS. Volkstümliche Bilderkunde, München 1982, 135-148. Er erklärt: »Bilder sind Symbole, und Symbole sind vieldeutig. Wir sehen sie immer durch unsere eigene kognitive Brille.« A.a.O., 148. 812
Zur komplexen Thematik der Wahrnehmung von Zeit, ihrer Einteilung und ihrer wissenschaftlichen Reflexion, besonders zur mittelalterlichen Komputistik, siehe auch: ARNO BORST, Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas, Berlin 1990.
204
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
IV. 3 Die paradigmatische Imagination der
vormodernen biblisch-theologischen Glaubenslebenslaufmodelle IV.3 Vormoderne Denkparadigmen
Bevor die tabellarisch-lineare Darstellungsform der naturgenetischanalytischen Betrachtungsweise der Neuzeit ihren Siegeszug antritt813 – wobei die Übergänge zwischen den Denkweisen fließend sind814 – prägen das spätantike und mittelalterliche Forschen – bei aller Vielfalt der Ansätze auch dieser Epochen – ontologisch-metaphysische und aristotelischtopische Ordnungshierarchien.815 Ihre Denker sortieren die Teile eines untersuchten Objektes oder Themas in die vorgegebene Struktur der biblisch offenbarten Schöpfungswelt – nicht in die Abfolge einer dem Erforschten selbst innewohnenden Genetik. Durch Zergliedern und Eingliedern in etablierte Raster816 wurde Wissen additiv zusammengetragen und festgehalten. Die Perspektive des Nacheinanders und Sich-gegenseitigAblösens in einem immer wieder veränderlichen Zustand, lag diesem Weltverständnis fern. Der Rahmen, in den Erkenntnisse eingebaut wurden, war theologisch festgefügt, angereichert durch die Integration philosophischer Gedankengebäude und Beobachtungen der Natur. Auch »geschichtliche« Überlegungen zum Werden des Menschen sind diesem statischen Denken eingestellt. Der Mensch »wird« nicht, er »ist«: Geschaffen als fertiges Wesen, harrt er wie die ganze Schöpfung der schlagartigen, plötzlichen Erlösung. Er unterliegt keinen evolutionären Prozessen. Von »Entwicklung« ist in diesen Modellen nur unter Vorbehalt zu sprechen. Vergangenheit wird im Lesen der biblischen Texte erschlossen. Sie ist geschehen und konstituiert das Dasein. Der Christenmensch sieht sich an den heilsgeschichtlichen Endpunkt gesetzt und hofft mit aller Menschheit auf das kommende – nicht sich entwickelnde! – Reich Gottes. Er hält Ausschau nach der jenseitigen Ewigkeit, dynamische Verbesserun-
813
Zum Folgenden vgl. besonders BERNHARD STEINER, Die Ordnung der Geschichte. Historische Tabellenwerke in der frühen Neuzeit, Wien 2008. Diese Untersuchung ist durch ihre Konzentration auf die modellhafte Darstellung von Geschichte für die hier leitende Frage nach Glaubenslebenslauf-Imaginationen besonders anschlussfähig. Steiner arbeitet heraus, wie sich Historienverständnis in wissenschaftlicher Verdichtung von spätantiken-mittelalterlichen zu neuzeitlichen Skizzen und bildhaften Darstellungen wandelt. 814
Vgl. a.a.O. 48.
815
Vgl. a.a.O., 28ff.
816
Vgl. ebd.
IV.3 Vormoderne Denkparadigmen
205
gen oder Verschlechterungen interessieren – wenn überhaupt – als Signale der Endzeit und Christi Wiederkehr. Ein Kulminationspunkt dieser paradigmatischen Imagination ist das universale Wissenssystem des Raimundus Lullus im 13. Jahrhundert; ein anderer, unter Aufnahme der antiken Rhetorik, die topische Wissensordnung des Boethius. Bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin verschmelzen schließlich die aristotelisch-ciceronianischen Ordnungsmodelle mit theologischen Zielsetzungen zu einem komplexen System. Die Aufschreibgattungen dieser vormodernen Denkweise sind Matrizen, KreisLinien-Schemata, nur manchmal ergänzt mit kleinen Tabellen.817 Intention ist stets, alle Erkenntnisse in ein konsistentes System zu vereinen, z.B. durch figurale Schaubilder aus »drehbaren« konzentrischen Kreisen, beschriftet mit Buchstaben oder Begriffen, die je nach Position der Scheiben andere Kombinationen darstellten.818 So ist die Welt vollendetes Schöpfungswerk und die Wissenschaft auf diese Vollständigkeit ausgerichtet. Um ihre Komplexität vereinfacht darzustellen, wurde auch auf die Ordnungsmetapher des Wissensbaumes zurückgegriffen.819 Scholastische Ordnungstechniken versuchten, dem zunehmenden enzyklopädischen Wissensbestand Struktur zu geben durch hinreichende Aufzählung (Totalität), Arrangement des Systems in homologen Teilen und das Prinzip der kategorialen Trennschärfe und Deduzierbarkeit.820 Regelmäßigkeit, Übersichtlichkeit, Ordnung des Wissensgebäude waren die entscheidende Herausforderung. Die wissenschaftliche Methode – im Gegensatz zur Analyse der Neuzeit – sei mit Thomas von Aquins »Syllogismus« konkretisiert: similitudinis corporalis und imagines sind die Werkzeuge der Erkenntnis, sie vereinfachen das Einordnen, Abstecken und Erinnern abstrakter Wissensbestände.821 Auch der menschliche Lebenslauf in seinen Veränderungen wurde als Teil dieser statischen Schöpfungsordnung wahrgenommen. Lebensalter galten als gottgegebene Strukturen, unhintergehbare Fati wie das Geschlecht und verbunden mit sozial determinierten Gestaltungsvorgaben. Glaubenslebenslauf-Imaginationen erscheinen im Licht dieser paradigmatischen Imagination. Zehn herausragende Motive, eines davon in zwei Varianten, werden präsentiert.
817
Vgl. a.a.O., 29.
818
Vgl. a.a.O., 32.
819
Vgl. a.a.O., 32f.
820
Vgl. a.a.O., 40.
821
Vgl. a.a.O., 40f.
206
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
IV. 4 Glaubenslebenslauf-Imaginationen in
vormodernen Bildwelten – Ergebnisse IV.4 Ausgewählte Ergebnisse
IV. 4. 1 Zugeteilte Schöpfungsordnung IV. 4. 1. 1 Auf festem Platz im starren Spiel der Elemente
Das ›Diagramm des Byrhtferth‹ ist eine mönchische Zeichnung aus einem komputistischen Werk um 1090. Diese Skizze steht exemplarisch für jene Darstellungen, die den Lebenslauf des Menschen in die Zeitrhythmen und Ordnungskategorien der biologischen und physikalischen Schöpfung integrieren. Im Orginal sind die Felder und Verbindungslinien detailiert beschriftet. Vier Elemente, vier Himmelsrichtungen, zwei Sonnenwenden, zwei Tag- und Nachtgleichen, vier Jahreszeiten, werden in den Kreisen bezeichnet. Die vier Elemente dominieren die Form an den Eckpunkten, die zwölf Winde, vier Primäre und acht Sekundäre sind in die gleichen Kreise eingeschrieben. (Die Inschrift ist Latein und umgeschriebenes Griechisch). Die Buchstaben ADAM sind groß eingetragen und dominieren das Zentrum. Der Mensch setzt sich zusammen aus allen Elementen der Schöpfung: »›Protoplast Adam‹ containing in himself all the parts of the world and all its elements, is thus a meaningful centerpiece for the diagrammatic composition.«822
Abb. 12: ›In fester Schöpfungsordnung‹823
822 823
SEARS, Ages of man, 35.
Schemazeichnung von Helmut Herzog, zitiert: Oxford, St. John’s College, ms. 17 (»Ramsey Computus«), fol. 8r, »Byrhtferth’s Diagram«, Photo: British Library, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, 34, Abb. Nr.10.
IV.4 Ausgewählte Ergebnisse
207
Solche Modelle verbinden die Zyklen des Universums, Makrokosmos und Mikrokosmos. Auch die anthropologischen Lebensabschnitte sind in die Gesamtstruktur aller Welt eingezeichnet, im Sinne der Ordnung folgerichtig als »vier Alter«. »A tetradic diagram was a versatile commodity«824 , ein vielseitiger Rohstoff, um Charakter, Zeit, Leben, Elemente, Wind, Lebensalter und vieles mehr, zusammenzuschauen und zu begreifen. Der Reiz des Viererschemas spiegelt sich in einem Gedicht von Alan of Lille, Plaint of Nature, ca. 1160: »Sieh, wie das Universum, mit Proteusartiger Folge von wechselnden Zeiten, nun spielt in der Kindheit des Frühlings, nun wächst heran in der Jugend des Sommers, nun reift in dem Erwachsenenalter des Herbstes, nun verwelkt im Alter des Winters. Vergleiche die Wechsel der Jahreszeiten und die gleichen Variationen im Alter der Menschen. … In all dem siehst du meine Kraft, die durchscheint in größere Ausmaße als Worte dies ausdrücken können.«825 Die Pointe dieser Imagination ist, dass dem Menschen in jedem Lebensalter, in jeder geistigen und geistlichen Phase ein Ort in der Schöpfung zugewiesen ist. Dies relativiert jegliche Selbstüberhöhung und lässt auch Rivalität zwischen Generationen absurd erscheinen. Zu dieser Vorstellung gehörte auch, dass sich die Zusammensetzung der Temperamente im Zustand der einzelnen Abschnitte verändert, je nach Mischungsverhältnis der irdischkörperlichen Lebenssäfte. Jeder hat aber eine gewisse Menge der anderen immer auch in sich. So ist das menschliche Dasein durchwirkt von der allgemeingültigen irdischen Stuktur, die alles formt, ein Gefüge, das weit größer ist, als nur eine persönliche Leidenschaft, individuelle Begabung, einzelnes Schicksal oder persönliche Biographie eines Menschen. Der Rahmen ist fest definiert: Die Energiekräfte bestimmen und ziehen am menschlichen Dasein, der Platz im Kosmos bleibt aber doch immer der gleiche: Der Mensch ist Geschöpf. Dieses Modell vermittelt, dass der Mensch stets Stückwerk ist. Das ganze Leben, jeder menschlicher Zustand im unumkehrbaren Ablauf seiner vier Zeiten ist durch die Hand des Schöpfers vorgeordnet. Die Glaubenshaltung der einzelnen Lebensalter ist im Kern unveränderlich:
824 825
Ebd.
Allan of Lille, De planctu Naturae, prose 3 (ed. Wright, Rolls Series 59:2, 454), übersetzt nach SEARS, Ages of man, 36f. Sears arbeitet ihrerseits mit einer Übersetzung von JAMES J. SHERIDAN in Plaint of Nature, 123 und verweist auf ROSEMOND TUVE, Seasons und Months, Paris 1933, 18-21.
208
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
Ausrichtung auf den, der alles in Händen hält, Staunen, Demut, Selbstrelativierung und Dank.826 IV. 4. 1. 2 Ausgerichtet auf Weisheit und abhängig von Segen
Die folgende Schemazeichnung zitiert das Bildprogramm einer Diagrammsammlung mit dem Titel »Virgiet de solas« aus der letzten Dekade des 13. Jahrhunderts, lokalisiert in Picardy.827 Auch hier wird Schöpfung als geordnetes System vorgestellt. Allerdings wird nicht mit der Zahl Vier, sondern mit der Zahl Sieben gearbeitet.828 In den Kreisen auf der linken Seite ist die Entwicklung des Menschen in sieben Lebensaltern gezeigt, auf der rechten Seite die septem artes Liberales der Philosophie.829 In der Mitte sitzt Christus mit einer segnenden Geste. Im Rahmen bei ihm stehen die Worte: »Omnia dispono, creo singula, cunctaque dono.« (Ich ordne alles, ich schaffe alles, ich schenke alles.) Die Weisheitsordnung der Welt ist das Schlüsselmotiv dieses Schemas.830 Das menschliche Dasein ist Teil einer klar gegliederten Schöpfung. Die Lebensphasen bauen aufeinander auf und sind zugleich direkt auf das eine Zentrum ausgerichtet. In den Verbindungen zur Mitte stehen Sätze, die das entsprechende Lebensalter charakterisieren.831 Dass den Menschen jeweils eine besondere Lebensbewegung treibt: Genießen, Sehnen, Lernen, Blühen, stark Sein, klug Sein, Zweifeln ist Teil der natürlichen Schöp826
Weitere Bildbeispiele: SEARS, Ages of man, Nr. 9 und Nr 1.
827
Auf dem ersten Blatt wird erläutert: Dieses Buch kann »Garten/Hain des Trostes« genannt werden. Er bietet für jeden, der begehrt, hier durch Nachdenken und Studieren erfreuliche Bäume und Früchte zu finden, ausreichend um zu nähren die Seele und um zu erziehen und um den Körper zu trainieren. Vgl. a.a.O., 142. 828
Sears beschreibt und klärt die Unterschiede zwischen dem Siebner- und dem Vierersystem ausführlich. Vgl. a.a.O., 38ff. 829
Wobei Sears ausschließt, dass die einzelnen Künste je einem Lebensalter zuzuordnen sind. Vgl. a.a.O., 141. 830 831
Vgl. ebd.
Infans: Infans abseque dolo, matris fruor ubere solo. (Ein Säugling ohne Trug, genieße ich die Mutterbrust), Puer: Est michi sors munda, nature purior unda. (Mein ist die reine Sehnsucht, ich bin reiner als pures Wasser), Adolescens: Informans mores, in me flos promit odores. (Ich lerne Sitten, in mir verströmt eine Blume ihre Düfte), Iuvenis: Nature decore, iuvenili gaudeo flore. (Natürliche Schönheit, ich erfreue mich der jugendlichen Blüte), Vir: Viribus ornatus, in mundo regno letatus (Die Kräfte zeichnen mich aus, ich regiere auf der Welt), Senex: Hoc reor esse senum, sensum discernere plenum. (Ich denke, das heißt alt sein, die Fülle des Sinns auszuloten), Decrepitus: In dubio positus est homo decrepitus. (In Zweifel ist der altersschwache Mensch gestellt).
IV.4 Ausgewählte Ergebnisse
209
fungsordnung. Unterdessen ist jedes Lebensalter direkt mit dem Christusbild verbunden, das sich für alle unveränderlich darstellt.
Abb.13: ›In weiser Segenshand‹832 832
Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Paris, Bibliotheque Nationale, ms. fr. 9220 (Vrigiet de solas”), fol. 16r Tree of Wisdom. Photo: Bibliotheque Nationale abgedruckt bei SEARS, Ages of man, 34, Abb. 84.
210
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
Leben ist eine Abfolge von Phasen. Gott bestimmt und steuert sie. Der Mensch hat auf seine Entwicklung keinen Einfluss. Er wird in sie hineingesetzt. Der Glaube erhellt die Struktur dieses Daseins. Die Haltung »Sich und die Welt der Weisheit des ordnenden Schöpfers zu verdanken«, bleibt ein Leben lang. Das Gottes- und Christusbild eines Menschen verändert sich nicht. Es ist aus jeder Altersperspektive gleich und zeigt sich jedem Menschen allewege mit der immer gleichen segnenden Geste. Glaubenslebenslauf ist in dieser Imagination eine (vorgeschriebene) Haltung demütiger Rückbindung in jedem Alter. Spirituelle, gar aktive Aufwärtsentwicklung ist diesem Modell, das von der Schöpfungsordnung her denkt, völlig fern. Die körperlichen Kräfte der Lebensalter sind wohl unterschiedlich – aber der Glaube bleibt immer die Herausforderung, hineinzufinden in die Haltung des Vertrauens auf eine göttliche Ordnung im Dank und Hoffnung auf Segen. Selbst, wenn die menschliche Weisheit zunehmen kann, bleibt die Glaubenshaltung in allen Lebensaltern doch die gleiche.833 IV. 4. 2 Göttliche Heilsgeschichte
Augustinus erhob ein Sechs-plus-eins-Schema aus der Tageszählung der biblischen Schöpfungserzählung und betrachtete damit die Epochenfolge der Heilsgeschichte und der Lebensalter des Menschen. Das Sechserschema – das mit dem siebten Tag des Jenseits zum Siebnerschema wird – wurde im Mittelalter die Regel.834 In das Zahlenspiel ist das Ptolemäische Schema der sieben Alter und der Planeten integriert.835 Augustinus entwickelte daraus zwei Modellvorstellungen für den menschlichen Lebenslauf: Die Geschichte der natürlichen Menschen als göttliche Geschöpfe unter der Sünde und die der geistlichen Christenmenschen, die die Sünde überwinden wollen. Beide Modelle umfassen jeweils »sechs plus einen« Abschnitt. Für den natürlichen Menschen skizzierte Augustinus sechs Epochen der Mühsal von der Geburt bis zum Tod. Das erste Alter ›infantia‹ ist die 833
Ebd.
834
Vgl. a.a.O., 54f.
835
Wichtigste Werke Augustins zu diesem Thema: De genesi contra Manichaeos I,23 (PL 34,190-193), de civitate Dei 16,43 (CCL 48,550). Bezugnahmen auf die Lebensalter des Menschen erscheinen außerdem in vielen seiner weiteren Werke: De vera religione 26(48)–27(50), (CCL 32,217-220), De diversis questionibus octoginta tribus 58,2; 64,2 (CCL 44A,105-107,137-138), Enchiridion 27(103) (CCL 46,105), Enerrationes in psalmos 127,15 (CCL 40,1876), Epistula 213,I (CSEL 57,373). Vgl. dazu auch weitere Angaben von SEARS, Ages of man, 174 FN 5.
IV.4 Ausgewählte Ergebnisse
211
Zeit von Adam bis Noah. Das Kind freut sich am ersten Licht, der erste Schöpfungstag ist die makrokosmische Parallele. Am Ende steht völliges Vergessen in der Sintflut. Das zweite Alter ›pueritia‹ reicht von Noah bis Abraham. Die Kindheit ist voller Freude an Sternen, Wasser, Land. Am Ende steht noch kein Volk Gottes, denn diese Jahre sind noch nicht zur Fortpflanzung geeignet. Das dritte Alter ›adolescentia‹ spannt den Bogen von Abraham bis in die Zeit vor David. So wie am dritten Schöpfungstag Gott das Wasser vom Land scheidet, so dürstet dieses Alter nach gesetzlichen Trennungen von Gutem und Bösem. Abraham scheidet sich als Gottesmann von den irrenden Anderen. Fruchtbarkeit keimt auf. Das vierte Alter ›iuventus‹ zieht sich von David bis zur babylonischen Gefangenschaft. Gestirne und Sonne und erste erkannte Ordnungen sind Leitmotiv dieser Phase der Herrscherkraft. Das fünfte Alter ›senectus‹ reicht von der babylonischen Gefangenschaft bis vor das Erscheinen Christi, eine Phase des Alterns: die Stärke bricht: Fische und Vögel unter dem Himmel erscheinen in ihrer Heimatlosigkeit als Symbole für die letzte Unbehausung des Menschen. Das sechste Alter ›senectus veteris hominis‹ entspricht den Jahrhunderten von Jesu Geburt bis in die Gegenwart. Das fleischliche Königreich ist ermüdet, der Tempel zerstört, und doch kann im Schwachen durch den Heiligen Geist ein neuer Mensch wohnen, wie ein reines Christuskind, geboren in der Welt der Sünde. Der Weltabend beschließt diese Ära. Der Mensch stürzt in die Dunkelheit des Todes. Aber, am Morgen des siebten Tages, eine Zeit, die keinen Abend mehr haben wird, wird der Herr kommen und den Seinen Ruhe schenken. Diese Glaubenslebenslauf-Imagination verweist die Geschichte der Menschheit an die Schwelle der Wiederkunft des Herrn. Der Einzelne wiederholt die Abschnitte, die ganze Welt aber hält inne vor der letzten Tür. So erkennt der Mensch in diesem Modell seine Sünden und seine Erlösungsbedürftigkeit. Alles zielt darauf hin, dass die göttliche Heilsgeschichte vollendet wird. Für den geistlichen Christenmenschen sah Augustinus eine weitere spezifische Imagination für den Glaubenslebenslauf: Sie seien schon auf Erden zu Höherem berufen:836 »… nonulli totum agunt ab istius uitae ortu
836
»Sicut autem isti ambo nullo dubitante ita sunt, ut unum eorum, id est ueterem atque terrenum possit in hac tota uita unus homo agere, nouum uero et caelestem nemo in hac uita possit nisi cum uetere, nam et ab ipso incipiat necesse est et usque ad uisibilem mortem cum illo quamuis eo deficiente se proficiente perduret, sic proportione uniuersum genus humanum, cuius tamquam unius hominis uita est ab
212
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
usque ad occasum, nonnulli autem uitam istam necessario ab illo incipiunt, sed renascuntur interius et ceteras eius partes suo robore spirituali et incrementis sapientiae corrumpunt et necant et in caelestes leges, donec post uisibilem mortem totum instauretur, astringunt. Iste dicitur nouus homo et interior et caelestis habens et ipse proportione non annis, sed prouectibus distinctas quasdam spiritales aetates suas.«837 In sechs Stufen entwickeln sich die Frommen über die Schöpfungsgeschichte hinaus: Sie erleben ihre persönliche »Heiligungsgeschichte« innerhalb der gottgesetzten »Weltgeschichte«: Auf der ersten Stufe nähren sie heilsame Vorbilder. Auf der zweiten Stufe lösen sie sich von menschlichen Autoritäten und nützen ihre Vernunft, um das höchste Gebot zu erkennen. Auf der dritten Stufe nimmt der Verstand die fleischliche Begierde in Zucht: Aus freien Stücken wollen die Gläubigen nicht mehr sündigen.
Adam usque ad finem huius saeculi, ita sub diuinae prouidentiae legibus administratur, ut in duo genera distributum appareat. Quorum in uno est turba impiorum terreni hominis imaginem ab initio saeculi usque ad finem gerentium, in altero series populi uni deo dediti, sed ab Adam usque ad Iohannem Baptistam terreni hominis uitam gerentis seruili quadam iustitia, cuius historia uetus testamentum uocatur, quasi terrenum pollicens regnum ….« (Mit diesen beiden verhält es sich ohne Zweifel so, daß der eine, nämlich der alte und irdische, lebenslänglich das Feld beherrschen kann, während der neue und himmlische in diesem Leben den alten noch nicht los wird. Denn mit diesem fängt nun einmal unvermeidlich das Leben an, und bis zum leiblichen Tode muß der neue Mensch ihn ertragen, wenn auch der alte schwächer wird, während er selbst sich kräftigt. Nach demselben Verhältnis wird das ganze Menschengeschlecht von Adam bis zum Ende der Weltzeit, das man sich als das Leben eines einzigen Menschen vorstellen kann, von den Gesetzen der göttlichen Vorsehung so geleitet, dass es in zwei Abteilungen zerfällt. Zur ersten gehört die Masse der Gottlosen, die vom Anfang bis zum Ende der Welt das Bild des irdischen Menschen in sich trägt. Zur zweiten die Geschlechterfolge des dem einen Gott ergebenen Volkes, das jedoch von Adam bis zu Johannes dem Täufer in einer Art knechtischer Gerechtigkeit das Leben des irdischen Menschen führen mußte.) AURELIUS AUGUSTINUS, De vera religione, XXVII, 50. 1-15 (CCL 32, 187-260, 219). 837
»Manche kommen von Anfang bis Ende des Lebens nicht darüber hinaus, andere aber beginnen notwendigerweise ihr Leben ebenso, aber sie werden innerlich wiedergeboren. Dann schwächen und töten sie die Reste des alten Menschen durch die Kraft des Geistes und der zunehmenden Weisheit und binden ihn an die himmlischen Gesetze, bis er schließlich nach dem leiblichen Tode in seiner Ganzheit erneuert wird. Nun heißt er der neue, innere und himmlische Mensch und hat gleichfalls seine geistlichen Altersstufen, die nicht nach Jahren, sondern nach der Höhe des Fortschritts zu unterscheiden sind.« A.a.O., XXVI, 49. 26-34 (CCL 32, 187260, 218).
IV.4 Ausgewählte Ergebnisse
213
Die vierte Stufe macht sie in Glauben und Haltung noch sicherer, so daß sie Verfolgungen durch Menschen sowie die Stürme und Fluten der Natur aushalten und überwinden. In der fünften Stufe stellen sich Ruhe ein und vollständige Befriedung. Nun leben sie in höchster und unaussprechlicher Weisheit. Die sechste verwandelt sie ins ewige Leben. Die siebente ist dauernde Glückseligkeit.838 »Vt enim finis ueteris hominis mors est, sic finis noui hominis uita aeterna. Ille namque homo peccati est, iste iustitiae.«839 Augustinus zweifache Imagination (für den allgemeinen Menschen bzw. die Menschheit und für die zur Freiheit von der Sünde berufenen Gläubigen) hatte appellativen Charakter: Weil die Geschichte des geschaffenen Menschen letzte Etappe der göttlichen Heilsgeschichte ist – die Augustinus als Antimanichäer nicht grundsätzlich dem Demiurgen preisgeben wollte –, sollen die Gläubigen in Kenntnis des göttlichen Musters ihren geistlichen Weg strukturieren. Mittels geistlicher Sinnerschließung wirbt diese Glaubenslebenslauf-Imagination für eine spirituelle Existenz als stufenweise Ablösung vom Fleisch: Das gläubige Bewusstsein erkennt, dass Gott in ihm wirkt, indem er ihn von der leiblichen Welt mit ihren Lüsten und Abhängigkeiten löst und ihn am Ende in die Ewigkeit einlässt. Glaubenslebenslauf ist ein Wachsen in der Freiheit des Gotteskindes, ein ethisch-asketischer Stufenweg. Religiöse Entwicklung bezieht sich nicht auf eine Veränderung des Gottesbildes. Dieses bleibt immer gleich: Gott rettet von der Macht der Sünde. Im Fokus der Imagination steht seine göttliche Heilsgabe: die schrittweise Veränderung des geistlichen Menschen. Sein Weg der Askese kann in jedem Alter beginnen. Fromme finden die Struktur ihres Weges, den sie in der letzten Phase vor der göttlichen Endzeit gehen wollen, in der biblischen Offenbarung zur persönlichen Rekapitulation in nuce vorgezeichnet. Das Muster des Augustinus fand weite Verbreitung. Die Bilder in der Bible moralisée demonstrieren die weite Akzeptanz des umfassenden Schemas der »sechs (plus eins)« Lebensalter im mittelalterlichen Westen. Mit ihm wurde das antike Denken von einer Harmonie zwischen Mikro-
838 839
Vgl. a.a.O., XXVI, 49, 34-53 (CCL 32, 187-260, 218f).
»Denn wie der Tod das Endziel des alten Menschen, des Menschen die Sünde ist, so ist das ewige Leben Endziel des neuen, des Menschen der Gerechtigkeit.« A.a.O., XXVI, 49, 53-55 (CCL 32, 187-260, 219).
214
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
kosmos und Makrokosmos in einer speziellen christlichen Form modifi840 ziert und etabliert. Die skizzierten Beispiele zeigen Noah als Sinnbild für die Jugend und Christi Wiederkehr für die Hochbetagten. Ein Vertreter des entsprechenden Lebensalters ist im Kreisemblem des jeweiligen Rahmens zu sehen: Der junge Mann trägt eine Armbrust. Die Söhne Noahs, links im Bild, sind etwa im gleichen Alter. Sie blicken ehrfürchtig auf und lernen von der Haltung des Älteren in seiner dem Herrn ergebenen Geste. Der Hochbetagte im Rahmen des zweiten Bildes legt in für den alten Menschen typisierter grüblerischer Position die Hand ans Kinn. Er hat viel gesehen und kann doch nur Stückwerk erkennen. So bleibt nur die Hoffnung auf Christi Widerkehr in der Schar der Seinen. Er erscheint segnend in ihrer Mitte.
Abb. 14 und Abb. 15: ›heilsgeschichtliche Epochen‹
840 841
841
Vgl. SEARS, Ages of man, 80.
Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Vienna, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 2739, fol. 4v Noah, the third hour, and adolescentia. Photo: Österreichische Nationalbibliothek, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 26 und nach Vienna, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 2739, fol. 12v Christ, the eleventh hour, and etas decrepita. Photo: Österreichische Nationalbibliothek, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 29.
IV.4 Ausgewählte Ergebnisse
215
IV. 4. 3 Gnädige Erfüllung jeden Alters
Zahlreiche Bilder und Predigtstudien des Mittelalters verbinden eine Darstellung der Lebensalter des Menschen mit Joh 2, 1-11.842 Die Perikope hatte ihren festen Ort im Kirchenjahr. Der Text wurde immer am zweiten Sonntag nach Epiphanias gelesen. Durch den häufigen Gebrauch vervielfältigte sich die Auslegungspraxis. Bei Hugo von St. Viktor lässt sich eine der frühsten Verknüpfungen mit dem Thema Lebensalter nachweisen.843 Die erste Schemazeichnung zeigt einen Ausschnitt eines Kirchenfensters in der Christus-Kathedrale in Canterbury um 1180.
Abb. 16: ›Wasserkrüge zur Verwandlung/Canterbury‹844
842
Vgl. SEARS, Ages of man, 69f. Origenes gründete auf diesen Text seine Theorie vom zweifachen Schriftsinn. Augustinus sah in Joh 2 ein Bild für die Vervollkommung der Geschichte des Alten Testamentes: Die Propheten und ihre Worte seien Wasser, die Christus in Wein verwandelte. Dass die Verbindung zu den Lebensaltern gezogen wurde, war eine weitere Folge der Augustinischen Analogiefigur zur Heilsgeschichte (s.o.), die aber von ihm selbst nicht anhand von Joh 2 expliziert wurde. 843 844
Vgl. a.a.O., 71.
Schemazeichnung von Konstanze Kemnitzer, graphisch zitierend nach Canterbury, Kathedrale, Nord-Chor, Das Wunder von Kana, die sechs Lebensalter der Welt und
216
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
Im runden Fensterkreis links oben ist die Hochzeitsgesellschaft an einem Tisch versammelt. Christus und seine Mutter sitzen an der Tafel. Der Speisemeister wendet sich von den Krügen aus zu ihnen hin. Die Gefäße stehen aneinander gereiht im Vordergrund, jedes in eigener Ausgestaltung. Im Halbkreis rechts daneben, leicht nach unten versetzt, sind die Lebensalter des Menschen angedeutet in zunehmender Körpergröße vom hell-weißen Kleinkind bis zum bärtig, leicht gebeugten Alten. In den Krügen ist vorerst nur Wasser. (Die menschlichen Körper sind nicht verwandelt.) Alle Blicke der Menschen wenden sich bittend Christus (ganz rechts) zu, dass er handeln möge. Diesen Moment veranschaulicht auch eine Schemazeichnung aus der Bible moralisée (auf der nächsten Seite skizziert): Zwei miteinander durch eine Kreuzblume verbundene Bildscheiben stellen die Verbindung von Joh 2 und den Lebensaltern dar. Je ein Krug symbolisiert ein Lebensalter. Befüllt mit Wasser stehen die zerbrechlichen Gefäße für das gefährdete, irdische Dasein des Menschen. Jedes einzelne ist schön gestaltet und veranschaulicht die je eigene Würde der Lebensphasen. Gleichberechtigt können sie mit den anderen auf Jesu heilende, erlösende Gnade hoffen. Im Bild darunter sind die Lebensalter im typisierenden Muster gezeigt: spielend, übend, lernend, arbeitend, nachdenkend, gebrechlich.845 Über ihnen sind wieder Jesus und Maria im Gespräch vereint. Die Krüge segnet Christus im oberen Bild mit einer bestimmenden Geste; in der unteren Darstellung breitet er ein weißes Band über alle aus. Dem einzelnen Lebensalter ist zugetraut, zum Guten umgestaltet zu werden und über ein Leben im Fleisch hinausgehoben zu sein.846 Der Glaubenslebenslauf ist die Wirkgeschichte der heilsamen Kraft Christi und seiner Weisungen von Kindesbeinen an. Sich durch ihn umgestalten zu lassen, wird jedem Alter als geistig-geistliches Potential zuerkannt und als Christi Tat verheißen. Die Fröhlichkeit des Hochzeitsmahles liegt über dieser Darstellung, vor allem aber eine eindrücklich dynamische Geschwindigkeit: Im kräftigen Schwung werden die Fässer gefüllt – schon ist ein Eimer geleert – , in
die sechs Lebensalter des Menschen. Foto: National Monuments Record, London, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb 18. 845
Sears erwägt, ob die Geste des Tränkens des alten Mannes auch eine Anspielung auf das Motiv des Augustinus, dass im Alter der Mensch wiedergeboren wird, sein könnte. Vgl. a.a.O., 75. 846
Vgl. a.a.O., 74.
IV.4 Ausgewählte Ergebnisse
217
enger, schneller Folge sind die einzelnen Lebensalter so dicht beieinander dargestellt, dass keines für sich allein Platz hat. Jedes schließt schnell an das andere an. So erscheint das Leben als eiliger Lauf: Tempus fugit. Wahre Ruhe kann erst im ewigen Hochzeitsmahl erhofft werden, zu dem Christus Jung und Alt verwandeln kann.
Abb. 17: ›Wasserkrüge zur Verwandlung/Bible moralisée‹847
847
Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Toledo Cathedral (Bible moralisée), Vol. III, fol 21r, upper right, the six hydriae and the six ages, Photo: Foto Mas, Barcelona, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 20.
218
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
IV. 4. 4 Berufung der Lebensalter
Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16) ist in vielen Darstellungen mit den Lebensaltern verbunden. Die Einteilung des Tages, manchmal explizit im Sinne der liturgischen Gebetspraxis848 wird dabei zur Struktur des gesamten Lebens. Dies führt zu einem Fünferschema.849 Besonders wirkmächtig erwies sich eine Interpretation des Gleichnisses der Arbeiter im Weinberg von Gregor dem Großen in seiner vielzitierten 19. Predigt.850 Er erläuterte: »Possumus vero et easdem diversitates honarum, etiam ad unumquemque hominem per aetatum momenta distinguere. Mane quippe intellectus nostri pueritia est. Hora autem tertia adolescentia intelligi potest, quia quasi iam sol in altum proficit, dum calor aetatis crescit. Sexta vera iuventus est, quia velut in centro sol figitur, dum in ea plenitudo roboris solidatur. Nona autem senectus intelligitur, in qua sol 848
Vgl. a.a.O., 80. Kombiniert mit den liturgischen Tageszeiten (Siebenmal am Tag will ich dich preisen Psalm 119,164) konnte beschrieben werden: Matutin als Infantia (getauft beginnt das Leben), Prima als Pueritia (lesend öffnet sich die Welt), Tertia als Adolescentia (verstehend achten wir das Gesetz), Sexta als iuventus (diaconat als kirchliches Amt kann erreicht werden) Nona als senectus (hohe kirchliche Aufgaben können warten), Vesper als decrepitas (viele merken jetzt, dass sie vergeblich gelebt haben.) Komplet steht für das Ende, den Jüngsten Tag, das Jüngste Gericht. Sicarus von Cremona (1215) erklärte: Mit diesem Gleichnis sagen wir, dass Gott alle Zeiten gelobt werden soll, durch den Lauf der Geschichte und durch den Lebenslauf des Menschen hindurch. Vgl. a.a.O., 89. 849
Dieses wiederum erschien z.B. Irenäus hilfreich in Auseinandersetzung mit gnostischen Denkern. Sie argumentierten, Jesus sei mit 30 getauft worden, passend zu den 30 Äonen im Pleroma (Die Gnostiker machten aus den Stunden im Gleichnis ein Zeichen für die Äonen des Pleroma 1+3+6+9+11 ist 30.), und hätte nur noch ein Jahr gepredigt bis zu seinem Tod. Irenäus lehnte den Gedanken an einen frühen Tod Christi ab und versuchte, Jesus ein ehrwürdigeres Alter zuzurechnen, damit er für alle Lebensalter perfekter Vermittler zwischen Gott und Mensch wäre. Er postulierte in adversus haereses, dass Christus nicht in seinen besten Jahren starb, sondern den vollen Zyklus der Lebensphasen durchlief, um jedes Lebensalter zu rechtfertigen und zu heiligen. Er wurde darum ein Säugling, ein Kind, ein Jugendlicher, ein Erwachsener, ein Alter. Irenäus berief sich für das Fünferschema auf Mt 14,19, Mt 25,2, die fünf Finger an der Hand, die fünf Sinne: infans, parvulus, puer, iuvenis, senior. (Varro folgte ihm, Tertullian auch.) Ebenso auch bei Clemens von Alexandrien. Augustinus geht auf das Gleichnis nur in zwei Predigten ein – es passt nicht in sein Sechs(plus eins)-System. Für ihn sind dann die fünf Stunden: Adam, Abraham, Mose und Aron, die Propheten und zuletzt alle Christenmenschen. Er vermeidet aber die Rubrik Lebensalter oder Weltalter im Fünfersystem. Vgl. a.a.O., 82. 850
Das Gleichnis war und ist reguläre Evangeliumslesung bzw. Predigttext des Sonntags Septuagesimae. Die Auslegung Gregors des Großen diente als Anregung z.B. auch für Smaragdus und Hrabanus Maurus.
IV.4 Ausgewählte Ergebnisse
219
velut ab alto axe descendit; quia ea aetas a calore iuventus deficit. Undecima vero hora ea est aetas quae decrepita vel veterana dicitur. … Quia ergo ad vitam bonam alius in pueritia, alius in adolescentia, alius in iuventute, alius in senectute, alius in decrepita aetate perducitur, quasi diversis horis operarii ad vineam vocantur. Mores ergo vestros, frates carissimi, aspicite, et si iam Dei operarii estis, videte. Penset unusquisque quid agat, et consideret si in Domini vinea laboret. … Et si Deo vivere in pueritia et iuventute noluistis, saltem in ultima aetate resipiscite, et ad vitae vias cum iam laboraturi multum non estis, vel sero venite.«851 Auch für das Fünferschema konnten Gestalten der biblischen Heilsgeschichte als Symbolfiguren dienen: Adam (frühe Stunde, pueritia, Kindheit), Noah (dritte Stunde, adolecentia, Jugend), Abraham (sechste Stunde, iuventus, Erwachsene), Mose (neunte Stunde, senectus, Alte), Christus (elfte stunde, decrepitus, Hochbetagte).852 Gregors zentrales Anliegen war, dass der Mensch im Gleichnis, wie in einem Beichtspiegel, den eigenen Glaubensweg überblickt und dabei prüft, ob er in Gottes Weinberg arbeitend und nicht müßig am Markte stehend, gefunden wird.853
851
Gregor der Große, Homiliae in evangelia I, 19, 2-3 (PL 76, 1154-1155). »Wir können nun aber die verschiedenen Stunden auch bei einem jeden Menschen in seinen Altersstufen unterscheiden. Der frühe Morgen ist ja die Kindheit unserer geistigen Erkenntnis. Die dritte Stunde aber läßt sich als Jugendzeit verstehen, da die Sonne sozusagen schon höher steigt, wenn die Glut des Alters wächst. Die sechste Stunde ist jedoch das Mannesalter, da die Sonne sozusagen im Zenit steht, wenn sich in ihm die Fülle der Kraft festigt. Unter der neunten Stunde versteht man nun aber das Greisenalter, in dem die Sonne gleichsam vom hohen Himmel herabsinkt, da in jener Phase die Glut des Mannesalters nachlässt. Die elfte Stunde aber ist jene Zeit, die Altersschwäche und hohes Alter heißt. … Da nun der eine in der Kindheit, der andere in der Jugend, ein dritter im Mannesalter, ein weiterer im Greisenalter, ein weiterer im hohen Alter zu gutem Leben gelangt, werden sozusagen zu verschiedenen Stunden Arbeiter in den Weinberg gerufen. Blickt also auf euren Lebenswandel, geliebte Brüder, und seht, ob ihr schon Gottes Arbeiter seid. Ein jeder bedenke, was er tut und überleg, ob er im Weinberg des Herrn arbeitet. … Auch wenn ihr nicht im Kindes- oder Mannesalter für Gott leben wolltet, kommt wenigstens in der letzten Lebensphase zur Besinnung. Kommt wenigstens am Abend, wenn ihr nicht mehr viel zu arbeiten habt, auf die Wege des Lebens.« 852
Der Unterschied zum sechs-plus-eins-Schema von Augustinus ist die zentrale Rolle, die Mose zugestanden wird (während David und die babylonische Gefangenschaft als epochale Einschnitte zurücktreten). 853
Vgl. a.a.O., 84.
220
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
Die Darstellung zeigt einen Ausschnitt der Säule eines Portals einer Taufkapelle (um 1196). Im untersten Abschnitt beruft der Herr des Weinbergs ein kleines Kind, in der nächsten Biege des Weinstocks zwei etwas Ältere, dann Jugendliche, schließlich einen Erwachsenen, darauf noch einen Alten und als letztes einen Hochbetagten. Abb. 18: ›Berufen in Christi Weinberg/Parma‹854
Ganz oben erfolgt die Auszahlung an jeden von ihnen. Sie stehen auch am Ende als Repräsentanten ihres Lebensalters in ihrer spezifischen Größe vor dem Herrn. Alle erhalten die hoch erhobene Münze, die aussieht wie eine Hostie im Abendmahl. Jedem von ihnen schenkt sich Christus ganz. Als Glaubenslebenslauf-Imagination ist die gleichbleibende Beziehung zwischen Weinbergbesitzer und Lebensalter-Repräsentanten bezeichnend. Allen begegnet er mit gleichem Anspruch und Gnade. Keinem wird er vorenthalten, jedem gilt sein Ruf. Die Weiterführung dieser Interpretation des Gleichnisses erbrachte zahlreiche Bildvarianten. Der Grundton ist stets eschatologisch855 bestimmt von der Frage: Nützen wir unsere Zeit? Erreichen wir das ewige Leben? In welchem Alter jemand berufen ist, wird nicht entscheidend sein – doch der Mensch soll sich im Abwägen der Lebensalter bewusst werden, dass sie alle unwiederbringliche Gelegenheiten in sich bergen, sich im Weinberg einzufinden – und dass irgendwann die letzte Stunde schlägt.
854
Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Benedetto Antelami Parma, Taufkapelle, rechte Säule des Westportals, Gleichnis der Arbeiter im Weinberg, Photo: Convey Libary, Courtauld Insitute of Art, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 30. 855
Vgl. a.a.O., 88.
IV.4 Ausgewählte Ergebnisse
221
Abb. 19: ›Berufen in Christi Weinberg/Stavelot Bibel‹856
Das zweite Bildbeispiel entstammt der Stavelot Bibel (um 1095). Es handelt sich um eine Ausschmückung eines großen »I« als Anfangsbuchstabe der Bibel (In principio, Schöpfungsgeschichte). In mittleren Kreis-Kette sind Stationen des Lebens Christi von der Ankündigung bis zur Wiederkunft gemalt (Mariä Verkündigung, Bethlehem, Taufe, Kreuz, Grablegung, Auferstehungsverkündigung durch den Engel). In der linken Emblem-Abfolge sind die heilsgeschichtlichen Etappen (Adam, Noah, Abraham, Mose, Christus, Apostel) dargestellt. Die rechte Abfolge zeigt das Abholen der Menschen zur Arbeit im Weinberg. Die Zeichen für die einzelnen Altersstufen sind nur angedeutet. (Kindheit im lockeren Spielbein-Stand, Jugend in schönem Gewand mit erstem Bartwuchs, Erwachsene schon müder auf einen Stab gestützt, Alte abgewandt, fast schon verloren im Weggehen, Hochbetagte mit verdrehtverknöchertem Stand). Das sechste Emblem visualisiert die Auszahlung durch den Herrn. Auch auf der linken Seite finden sich entsprechend die Menschen zum Jüngsten Gericht ein. Als siebter Tag ist die Ewigkeit der Zielpunkt aller drei Linien, der Chri856
Schemazeichnung von Konstanze Kemnitzer, graphisch zitierend nach London, British Library, ms. Add. 28106 (»Stavelot Bible«), fol. 6r, Genesis initial. Photo: British Library, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 25.
222
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
stuskette, der heilsgeschichtlichen Abfolge und derer, die sich – und sei es erst im letzten Lebensalter – in seinem Weinberg einfinden. Die Imagination des Glaubenslebenslaufs als Berufungsgeschichte wird auch anhand der Parabel von den drei Nachtwachen (Lukas 12, 3338) ausgeführt.857 Alle drei Phasen können durch Gottes Gnade zur Erleuchtung führen: Kindheit, dann die Zeit des Großwerdens und -seins, und die Jahre des Alters. Eine weitere Variante bieten die Imaginationen anhand der Beschreibungen des himmlischen Jerusalems (Apk 21,31): Im Westen, Osten, Süden und Norden sind je drei Tore. Aus diesen vier großen Richtungen ergeben sich damit zwölf Zeiten, die den Eintritt zum Himmelreich eröffnen können: Manche treten in der Kindheit (Osten) hinzu, manche in der Jugend (Norden), manche in der Höhe ihres Lebens (Süden) und manche am Lebensabend (wenn das Tor im Westen offen steht). Wieder kann damit die Heilsgeschichte verknüpft werden, nun in den vier großen Bögen: Weltbeginn bis Babylonische Gefangenschaft, Nebukadnezar bis Christus, Christus bis Antichristus, Antichristus bis Weltende.858 Die Pointe all dieser Berufungs-Modelle will den Menschen nahelegen, sich in jedem Alter auf das Wort Gottes auszurichten und sich die Chance, dem Herrn zu dienen und damit auf ewiges Leben zuzugehen, zu vergegenwärtigen. Jedes Alter, darin stimmen die Texte überein, bietet den Kairos, der göttlichen Bestimmung zu folgen.859 Die Ausrichtung dieser Glaubenslebenslauf-Imagination als Berufung ist paränetisch. Ihr liegt daran, die Vergänglichkeit und den Zielpunkt aller Zeiten vor Augen zu führen. Jedes Lebensalter hat seinen unmittelbaren Auftrag im Glauben an Christus. IV. 4. 5 Generationenpilgerzug
Neben den z.T. hochphilosophischen Zahlenspekulationen von fünf bis zwölf, blieb die Dreiteilung des Glaubenslebenslaufes populär, in meist folkloristischer oder auch mystischer Ausschmückung.860 Sie verband sich in spezifischer Weise mit der Darstellung von den drei Weisen, die dem Christuskind ihre Gaben schenken (nach Mt 2, 1-12). 857
Vgl. a.a.O., 88f.
858
Vgl. a.a.O., 89f.
859
Vgl. a.a.O., 90.
860
Populär verbreitet z.B. in der Frage der Sphinx: Was hat erst eine Stimme und vier Füße, dann zwei Füße dann drei? Ödipus rettete Theben, indem er wusste, dass der Mensch gemeint war.
IV.4 Ausgewählte Ergebnisse
223
Die drei Weisen wurden interpretiert als junger (Caspar), erwachsener (Baltasar) und alter Mann (Melchior). Die hier skizzierte Darstellung ist ein Bild des Stuttgarter Psalters. Sie zeigt die drei Weisen, die von rechts her auf Christus zugehen. Er sitzt auf dem Schoß seiner Mutter. Er hebt die überdimensionierten Finger seiner Hand in mächtiger Geste zum Segen. Alle drei bewegen sich so schwungvoll, dass ihr jeweils linker Fuß aus dem Bild hinausgleitet. Keines der Lebensalter hat Bestand: Sie stürzen nahezu Christus entgegen.
Abb. 20: ›Generationenpilgerzug zum Christkind/Psalter‹861
Auch, wenn die Kirchenväter die Verknüpfung zu den Lebensaltern nicht direkt herstellten, wirkten sie doch im Hintergrund des Motivs: Augustinus hatte die drei Weisen als die ersten Vertreter der Völker interpretiert, die Christus ehren.862 Leo der Große sah in ihnen alle Natio-
861
Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Bibl. fol 23 (»Stuttgarter Psalter«), fol. 84r, die drei Magier, Photo: Bildarchiv Foto Marburg, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb.31. 862
Augustinus, Sermo 202, »In epiphania domini«, PL 38, 1033: »Quia et illi magi quid iam fuerunt, nisi primitiae Gentium? Israelitae pastores, Magi genitles.« Vgl. a.a.O., FN V/51.
224
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
nen repräsentiert.863 Im Karolingischen Zeitalter galten sie auch als Zeichen für die drei Kontinente Asien, Afrika und Europa, analog den menschlichen Geschlechtern, die von den drei Söhnen Noahs, Sem, Ham, Jafet, abstammten.864 Die Verwendung des Motivs der drei Weisen für die Lebensalter war weit verbreitet. Die theologische Lehre hielt sich aber zurück, denn die Imagination hatte wenig paränetischen und philosophischen Gehalt, diente eher zur Veranschaulichung des freundlichen, respektvollen Umgangs zwischen den Generationen: Sie alle haben ein gemeinsames Ziel. Diese Glaubenslebenslauf-Imagination strahlt eine trostvolle Note aus: Solange nur das Herz liebevoll auf Christus ausgerichtet ist, um dem Kind in der Krippe zu huldigen, darf auf Frieden und Trost im Miteinander der Lebensphasen gehofft werden. Im Christuskind steht der Glaube allen gleichberechtigt offen. Christus bringt sie zusammen für die eine große Freude. Dass alle drei Lebensalter unmittelbare Nähe zum Christuskind haben, veranschaulicht besonders die zweite, auf der nächsten Seite abgebildete, Variante. Bei diesem Ausschnitt aus dem Klosterneuburger Altar (1181) stehen die drei Weisen so nahe beieinander, dass sie fast zu einer Person verschmelzen. Jeder symbolisiert eine Glaubenshaltung der Christusverehrung: Der junge Mann die Ausrichtung auf seine Wegweisung, der ältere Mann die Demutsgeste des Abnehmens seiner Krone, der dritte und älteste Mann die Niederlegung seiner Gaben. Glaubenslebenslauf als Generationenpilgerzug ist eine Darstellung, die in besonderer Weise die Gemeinschaft zwischen den Lebensaltern betont. Ihr Glück und ihre wohlwollende Gemeinschaft wächst in der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus im Schoß seiner Mutter.
863
Leo d. Gr., Tractatus 33,3 (ed. Chavasse, CCL 138, p. 173, trans. Feltoe, p.146): »Adorent in tribus magis omnes populi universitatis auctorem…«. Vgl. a.a.O., FN V/52. 864
Vgl. z.B. Pseudo-Bedan, In Matthaei evangelium expositio I,2 (PL 92,13): »Mystice autem tres Magi tres patres mundi significant, Asiam, Africam, Europam, sive humanum genus, quod a tribus filiis Noe seminarium sumpsit.« vgl. a.a.O., FN V/53.
IV.4 Ausgewählte Ergebnisse
225
Abb. 21: ›Generationenpilgerzug zum Christkind/Altar‹865
865
Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Klosterneuburger Altar, die drei Weisen von Nicholas von Verdun, Photo: Chorherrenstift Klosterneuburg, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 32.
226
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
IV. 4. 6 Kampf mit dem Teufel
Das Thema des »breiten und des schmalen Weges« variiert reichhaltig in der christlichen Kulturgeschichte.866 Sein Hintergrund ist das biblische Wort: ›Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt und viele sind’s die auf ihm hineingehen. Wie eng ist die Porte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind’s, die ihn finden.‹ (Mt 7,13-14) Als Imagination für den Glaubenslebenslauf verbindet sich das Motiv manchmal mit einer Zwölfteilung der Lebensphasen. Dies entstand im späten Mittelalter aus dem Vier-Jahreszeitenschema mit einen spezifischen melancholischen Ton und einer eminent moralischen Ausrichtung,867 deren Schwerpunkt die gesellschaftliche Ordnung mit ihren Aufgaben und Pflichten und Aufgaben war.868 Die Seele des Menschen ist bedroht von finsteren Mächten.869 Diese Glaubenslebenslauf-Imagination ergab einen »Kalender des guten Lebens« – im scharfen Kontrast zu dem eines bösen Ungläubigen. Die zwei hier ausgewählten Bilder (auf der nächsten Seite) zeigen ›Mai‹ und ›Dezember‹ aus dem Stundenbuch von Charles V. aus dem frühen 16. Jahrhundert. Im Mai vergnügt sich der Sünder mit einem Mädchen. Der gute Mensch bezähmt seine körperlichen Triebe! Im Hintergrund sind Adam und Eva zu erkennen, wie sie sich aneinanderklammern. Im Dezember wartet der Tod. Nun nimmt der Teufel die Seele des einen. Die Engel tragen die des andern in den Himmel. Glaubenslebenslauf ist ein steter Kampf. Immer wieder kann er verloren werden. Nie darf sich der Fromme ›gehenlassen‹. Im schnellen Lauf der zwölf Lebensalter muss er immer neue Gefahren des Seelenheils abwenden, indem er ethisch-geistliche Herausforderungen meistert. Kindlich gezeichnet sind die Seelen, die des Bösen und die des Guten, die am Ende aus dem Körper herausgelöst werden. Sie hatten im Spiel der großen Mächte eigentlich keine Chance. Bis kurz vor dem Tod wird ein Durchgang zum Glauben noch offen gehalten. Das Tor, das Christuskind und Maria anbieten, ließe auch den letzten Sünder Zuflucht finden. 866
Vgl. CHRISTEL KÖHLE-HEZINGER, Das »Zwei Wege-Bild« und das »Stufenbild« aus dem Blick der Kulturwissenschaften. Bilder und Wege, Andacht und Gebrauch, in: Kirche und Kunst, 89. Jg., 2/2012, 12-15. 867
Vgl. SEARS, Ages of man, 113.
868
A.a.O., 119.
869
Vgl. a.a.O., 120.
IV.4 Ausgewählte Ergebnisse
227
Abb. 22: ›Kampf mit dem Teufel/Mai ‹870
Abb. 23: ›Kampf mit dem Teufel/Dezember‹871
870
Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Madrid, Biblioteca Nacional, cod. Vit. 24-3 (Book of Hours), p.7, ein böser und ein guter Mann im Fünften der zwölf Lebensalter (Mai), Photo: Biblioteca National, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 58. 871
Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Madrid, Biblioteca Nacional, cod. Vit. 24-3 (Book of Hours), p.14, ein böser und ein guter Mann im
228
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
Das Anliegen der moralischen Erziehung steigerte sich ab dem 12. Jahrhundert weiter. Prediger riefen die Christenmenschen dazu auf, ihre Bosheit und ihre fortwährende Gefährdung durch den Teufel zu erkennen. Alan von der Lillie erläuterte in seiner Ars praedicandi (12. Jh.), Predigten seien Instruktion in Angelegenheiten des Glaubens und des Benehmens: Spiritualität und Aszetik.872 Die Lebensalter des Menschen als moralische Herausforderung beschreiben die manchmal illustrierten Predigthilfen neben zahreichen anderen Texten und Bausteinen.873 Naturphilosophie und Moralerziehung verbanden sich, auch mit Lehrthesen zu Planeten, Engeln, Sternen und dem liturgischen Jahr. Eines erläuterte das andere.874 Die folgende Abbildung der Glaubenslebenslauf-Imagination ›Kampf mit dem Teufel‹ zeigt die Bilder, die rings um ein Gedicht zwischen den Textzeilen die Aussagen visualisieren, gefunden in einem Manuskript aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Drängend hält sie allen Lebensaltern vor Augen, wie Engel und Teufel 875 ständig mit ihren Angeboten locken und an ihrer Seele zerren. Alle Lebensstationen sind in dieser Vorstellung Einfallstore der Sünde. Die sieben Todsünden können gar mit jedem von ihnen in besonderer Weise synchronisiert werden;876 aber auch ihre Gegenspieler: die Tugenden des jeweiligen Lebensalters.877
letzten der zwölf Lebensalter (Dezember), Photo: Biblioteca National, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb.59. 872
Vgl. a.a.O., 121.
873
Predigerkompendien: z.B. Thomas von Cantimpré (Dominikanermönch), Liber de natura rerum (ein über 15 Jahre zusammengestelltes, weit verbreitetes Werk. Anderes Beispiel: Bartholomaeus Anglicus, De proprietatibus rerum. 874
Vgl. a.a.O., 126.
875
Vgl. a.a.O., 139f.
876
Säugling, Adam – luxuria, Kind, Noah – superbia, Jugend, Abraham – invidia, junger Erwachsener, Mose – gula (Völlerei), alter Erwachsener David – cupiditas or avaricia, Greis, Babylonisches Exil – ira, Sterbender, Christus – accidia. 877
Petrus Berchorius (1362) synchronisert Infantia, humilitas (Prov 10,19), pueritita charitas (Mal 2,14), adolescentia pietas (Lk 7, 14), iuventus fortitudo (1. Joh 2,14), Senecta honestas (Ps 91,15), senectus (1. Kor 3,18), senium timor dei (Jes 5,15). Vgl. a.a.O., 129.
IV.4 Ausgewählte Ergebnisse
Abb. 24: ›Kampf mit dem Teufel/Gedichtillustration‹
229
878
IV. 4. 7 Totentanz
Ein Hauptthema beschäftigt besonders spätmittelalterlicher Darstellungen zum Glaubenslebenslauf: der Tod, das memento mori, mal in drohender Art, mal voller Schwermut. Die Verkündigung schildert die Mühsale des Lebens, betont die Krankheiten des Alters und zitiert oft die hebräischen Verse von der Kürze und Sorge des Lebens.879 Das hohe, todgeweihte Alter steigt in dieser GlaubenslebenslaufImagination zu der Lebensphase auf, die die Wahrnehmung aller anderen steuert. Manche sehen mit Augustinus das hohe Alter unweigerlich der Ewigkeit nahe. Andere führen aus, dass in der Gebrechlichkeit des Alters sichtbar wird, wozu der Mensch grundsätzlich berufen ist: der Leib soll abnehmen, der Geist soll frei werden. Dessen mögen sich alle Lebensalter bewusst bleiben. Der Mensch versteht seinen Glaubenslebenslauf vom Ende her: Dem ›decrepitus‹ ist der größte Raum zugestanden. Er zieht die Blicke auf sich,
878
Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach London, British Library, ms. Add. 37049, fols. 28v-29r, »Of the Seuen Ages«, Photo: British Library, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 81. 879
Vgl. a.a.O., 135.
230
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
so auch in der hier zitierten Darstellung (frühes 15. Jahrhundert). Alle Lebensalter kreisen im erschrockenen Betrachten des Altersgeschwächten, um die Erkenntnis ihrer selbst und um die Frage, wer und wie werde ich sein. Er strahlt Ruhe und Würde aus, scheint aber auch müde und abgekämpft. Die Hände aufeinandergelegt, bleibt ihm nur, auf den nahen Tod zu warten. Unter seinem Tisch, einer Grabplatte ähnlich, liegt das Skelett eines toten Menschenkörpers. Wer den Hochbetagten als Zentrum seiner Lebenslauf-Imagination wählt, sieht die höchste Weisheit des Menschen dann erreicht, wenn er bereit ist, alles loszulassen.
Abb. 25:›Totentanz um den Decrepitus‹880
880
Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Minneapolis, University of Minnesota, Fames Forder Bell Libary, 1400/f Ba (Bartholomaeus Anglicus, De propretatibus rerum in French translation) not foliated, seven ages of man and death, Photo: James Ford Bell Library, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 75.
IV.4 Ausgewählte Ergebnisse
231
Diese »Decrepitus-Bilder« stehen den Totentanz-Darstellungen nahe. Exemplarisch seien zu dieser thematischen Verknüpfung die Ausgestaltungen eines Buchletters auf der nächsten Seite gezeigt: Im Ersten tanzen die Lebensalter, im Zweiten in gleicher Weise die augustinischen heilsgeschichtlichen Epochen-Vertreter miteinander. Ein Totenschädel drängt sich dazu.
Abb. 26: ›Tanz der Lebensalter«881 und Abb. 27: ›Totentanz der Epochenvertreter‹882
Memento mori und vanitas sind die Leitgedanken solcher Glaubenslebenslauf-Imaginationen.883 Die Erkenntnis ist bestimmt von dem Tenor, dass nichts Irdisches Bestand hat. Leben im Glauben heißt: Bereite dein Sterben vor! Dies drängt zum Handeln: Im offenen Blick auf das sichere Ende wird die Gestaltung der geschenkten Spanne an Jahren zur bewuss-
881
Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Baltimore, Walters Art Gallery, ms.171 (Dirc van Delf, Tafel van den Kersten Gehlove), fol. 30r, the seven ages of man. Photo: Walters Art Gallery, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 63. 882
Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Baltimore, Walters Art Gallery, ms.171 (Dirc van Delf, Tafel van den Kersten Gehlove), fol. 30r, the seven ages of the world. Photo: Walters Art Gallery, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 64. 883
Vgl. a.a.O., 127.
232
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
ten Aufgabe.884 Memento mori und vanitas-Motive bilden im Glauben an Christus ein spezifisches ›Carpe diem‹. IV. 4. 8 Glaubensbaum
Der Baum der Weisheit als (didaktisches) Gliederungsschema885 muss von den eher »naturalistisch« anmutenden Darstellungen der Lebensbäume unterschieden werden. Die hierzu ausgewählte Variante, abgedruckt auf der nächsten Seite, kommt aus einem Kompendium des Ulrich von Lilienfeld nach 1351. Liebevoll sind in die ausladenden Äste eines großen Baumes Lebensstationen des Menschen eingezeichnet. Spruchbanner verbinden die einzelnen Elemente. Am Fuße des Baumes thronen Gott-Vater, Heiliger Geist und Jesus Christus. Solche Darstellungen mit Bäumen veranschaulichen, wie der gläubige Mensch sich in jedem Alter entfaltet, betreut vom Dreieinigen Gott. Er schenkt ihm das Leben und lässt seine Seele – dieses Gotteskind in körperlicher Hülle – am Ende in den Himmel steigen. Die gläubigen Menschen in diesen Bildern tun nichts besonderes. Sie sind sogar wie im hier gewählten Beispiel oft gerade in schwachen, bzw. hilfebedürftigen Haltungen gezeigt. Die Bilder visualisieren einen besonderen inneren Frieden, den Gläubige im Laufe ihres irdischen Lebens spüren können: Sie erkennen, dass sie in jeder Lebenszeit auf jene Gnade angewiesen sind, die sie erhoffen dürfen. Das Leben kann getrost angenommen und geführt werden, denn von der Taufe an ist es gegründet und eingewurzelt im unbedingten Ja Gottes zu dieser einmaligen, unverwechselbaren und unwiederholbaren Existenz. Die nötige Lebenskraft entströmt dem Glauben, ohne dass besondere spirituelle Leistungen erwartet werden, so natürlich wie aus dem Wurzelstock der Saft in die Blätter.
884 885
Siehe auch Kol 4,2.
Siehe oben bei Schöpfungsordnung und zur Erläuterung der mittelalterlichen paradigmatischen Imagination.
IV.4 Ausgewählte Ergebnisse
233
Abb. 28: ›Gehegter Glaubensbaum‹886
886
Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Lilienfeld, Stiftsbibliothek, cod. 151 (Ulrich von Lilienfeld, Concordantia caritatis), fol. 257v, tree of the twelve ages of life, Photo: Stiftsbibliothek, Lilienfeld, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 93..
234
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
IV. 4. 9 Christus-Rad
Bilder vom Glaubenslebenslauf als Rad sind eine Variante populärer Fortuna-Darstellungen der Antike und des Mittelalters.887 Sie betonen die Instabilität und Wechselhaftigkeit irdischer Dinge. Tod und Auflösung liegen am Boden des Rades. Der Kreis ist geschlossen. Am Ende gelangt der Mensch dort an, wo er angefangen hat – im Staub. Das Leben erscheint als unwägbares launenhaftes Schicksalsspiel. So bleibt die Ermahnung, sich an dem auszurichten, der das Rad in Händen hält und bestimmt. Die ausgewählte Darstellung ist einem Psalter, illustriert von William de Brailes, ca. 1240, entnommen. Der Radkranz umschreibt Krone und Fußspitzen einer Anbetung gebietenden Figur. Die Einheit aus majestätischer Gestalt und Urbild des Kreises symbolisiert die Harmonie des Kosmos, die von dieser dargestellten Macht regiert wird. Die rechte Hand fasst eine der sechs goldenen Speichen, um sie nach oben zu reißen. Die linke stößt eine ihr symmetrisch gegenüber liegende an: Das Rad gerät aus der Balance und rotiert. Ein Gott mit Antlitz bestimmt, wohin die heiteren und die bitteren Lose fallen – nicht ein blindes Schicksal oder unheimliche Mächte aus dem Nichts. Die vier Eckkreise entsprechen der Glücksrad-Symbolik, die Halbscheiben dazwischen Lebensalter-Motiven (Unten links beginnt der Lauf vom Wickelkind an in je drei zu einem Drittel abgeschnittenen Rundflächen: Kindheit, junges Erwachsenenalter, hohes Erwachsenenalter und Alter bis zum Sterben).888 Der innere Ring mit acht weiteren Bildern erzählt die Heiligenlegende von Theophilus.889 Dies wird zum Schlüssel für eine Deutung: Der Gottesmann lebt innerhalb der Auf- und Abbewegung des irdischen Geschicks einer gegenläufiger Bestimmung: Theophilus’ Ge887
Vgl. Boethius, Buch 2, Consultatio philosophiae IV, pr 6 (ed Bieler, pp. 78-84), vgl. Sears (1986), 144. Boetius qualifiziert die Fortuna trotzdem als nicht so mächtig: Gottes Vorsehung hält letztlich auch sie. Wissenschaftliche Studien über die Lebensalter begannen im 19. Jahrhundert mit Variationen des Lebensrades. Sie erbrachten, dass das Rad des Lebens sich aus dem Glücksrad entwickelte, aber nicht vollständig davon abhängt. 888
Ein lateinisches Verssprichwort des Mittelalters deutet die Lebensphasen in den vier exponierten Rundflächen: rursus ad astra feror (aufsteigende Jugend), Glorior eleatus (königlicher Erwachsener), descendo minorificatus (abstürzender Alternder), Infimus axe teror (am Boden liegender Sterbender). Vgl. SEARS, Ages of man, notes VII, 36. 889
Der Geistliche Theophilus (1. Bild) wird verstoßen (2. Bild). Er schließt, um sein Priesteramt wiederzuerlangen, einen Pakt mit dem Teufel (3. Bild), der ihn in die Hölle führt (4. Bild). Er bittet Maria um Hilfe (5. Bild). Sie holt ihn heraus (6. Bild) und löst ihn aus dem Pakt (7. Bild). Versöhnt stirbt Theophilus (8. Bild).
IV.4 Ausgewählte Ergebnisse
235
schichte beginnt rechts oben. Sein irdischer Lauf führt zunächst hinab ins Dunkle, am Ende aber steht er hoch erhoben. Sein Ende ist spiritueller Siegespunkt – während der natürliche Mensch in seiner Stunde zu Tode erniedrigt wird.
Abb. 29: ›Christusrad mit Theophiluslegende‹890
890
Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Cambridge, Fitzwilliam Museum, ms.330, no.4, Wheel of Fortune. By William de Brailes, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 86.
236
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
Eine weitere verbreitete Variante des Radmotivs entstammt dem De Lisle Psalter: Zehn Lebensalter sind zu erkennen.891
Abb. 30 ›Ruhevolles Christusrad‹892
Im Zentrum steht Christus. Da ist kein Platz für Fortuna. Die aus dem Totentanz verwandte Botschaft ist: »We come into being and pass away, ending where we began, our lives a vanity«.893 Sie verknüpft sich hier mit 891
Die Zehnzahl hatte oft symmetrische Gründe. Vgl. a.a.O., 148.
892
Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach London, British Library, ms. Arundel 83 (»Psalter of Robert De Lisle«), fol 126v, Wheel of Life, Photo: British Library, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 87. 893
A.a.O., 151.
IV.4 Ausgewählte Ergebnisse
237
einer festen Bindung jeder Lebensphase an die Achse. Alle sind gleichermaßen abhängig vom göttlichen Segen. Niemand hat im Glaubenslebenslauf je einen Vorsprung – auch das Alter nicht. Wieder spielt das »Memento mori«-Motiv eine gewichtige Rolle, die Erinnerung daran, dass Glück und Leben immer am seidenen Faden hängen. Zugleich wird imaginiert, dass der Mensch in jeder Lebensstufe unmittelbar vor Christus steht und jederzeit vor dessen Richterstuhl offenbar werden muss (2. Kor 5,10). IV. 4. 10 Todbeherrschter Treppenbogen
Dieser Bildertyp wurde am Ende des Mittelalters etabliert. Er hat vom 17. bis zum 19. Jahrhundert immense Verbreitung erfahren. Dabei wurde er in vielfältiger Weise modifiziert. Eine der ältesten und zugleich berühmtesten mittelalterlichen Darstellungen ist jene von Joerg Breu, dem Jüngeren. Er arbeitet mit den Symboltieren, die seit der Antike für die zehn Abschnitte des Daseins stehen können. Auf jeder Stufe hockt ein Lebensalter. Über ihnen ist der Tod erschienen. Er hat einen seiner grausamen Pfeile abgeschossen. Keiner der Neun ist getroffen. Die Warnung stößt bei einigen auf Gleichmut. Der Fürst liest einfach weiter. Der Vorletzte zeigt auf den Greis: Den soll er töten; das wäre gerechte, verstehbare Ordnung. Aber der Tod beachtet ihn nicht: Er schaut den stattlichen Dritten, diesen Mann in den besten Jahren an. Die Blicke dieses einen mit der Fahne und des Henkers mit dem Bogen begegnen sich. Überrascht, betroffen scheint der Mensch zu fragen: Bin ich an der Reihe, muss ich die Fahne lassen, was hab ich in Händen, wenn ich die Insignien meiner Macht und meines Reichtums abliefern muss? Habe ich recht gelebt? Die Wirkung des Bildes lässt den Betrachtenden erschrecken, wie der eigentlich unsichtbare Tod so nah, so wirklich, so präsent sein kann. Beim Glauben geht es um diese Wahrheit des Sterbens und die daraufhin bohrende Frage der Rechtfertigung. Die Szene unter dem Treppenbogen erinnert an die verkündete Zuversicht, dass der Pantokrator, der die Welt zu Füßen hat, aus der Macht des Todes errettet und mit ewigem, von allen Flüchen erlöstem Leben beschenkt. Selig knieen über den geöffneten Gräbern zwei vor dem Herrn, der sie mit offenen Vaterarmen empfängt. Leben ist hier ein Weg hinauf und wieder hinunter durch eine düstere Welt, in der letztlich alles dem Tod geweiht wird. Jede Entwicklung des Menschen ist dadurch völlig relativiert. Der Glaube spielt »oben auf der Treppe« keine sichtbare Rolle. Er macht dem Beobachter einzig klar, dass er dem Lauf des menschlichen Daseins nicht
238
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
entfliehen kann. Dessen Bewegung reißt ihn mit und fort. Die Reaktion ist die Zuflucht in die Hoffung auf die Auferstehung.
Abb. 31: ›Todbeherrschter Treppenbogen‹894 Die Zeichnung stammt aus Zeiten, in denen die Frage nach einem gnädigen Gott durch Hunger, Pest, Naturkatastrophen den Menschen schier unablässig aufgezwungen war. Martin Luthers theologischer Durchbruch, dass der Gerechte seines Glaubens leben würde, führte aus dem Dunkel der Ängste vor einem unberechenbar strafenden Allmächtigen in die Freiheit des Vertrauens. Gleichzeitig und dann in den folgenden Epochen vermehrt, gelang den Menschen, Seuchen zurückzudrängen und den Hunger in Mitteleuropa zu bändigen. Ein böser schneller Tod drohte weiterhin (vor allem in Kriegen und Naturkatastrophen). Aber seine Gewalt hatte nicht mehr die unerbittliche Härte früherer Jahrhunderte. Die Lebenserwartung stieg. Einzelne reißt wohl ein jähes Ende, ein plötzliches
894
Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach British Museum, Steps of Life, By Jörg Breu the Younger. Photo: Warburg Instiute, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 98.
IV. Ertrag der heuristischen Untersuchung
239
Sterben hie und da hinweg. Doch die Frage, »Wer weiß, wie nahe mir mein Ende?« hat viel Beunruhigendes, Beklemmendes verloren. Der Treppenbogen konnte daraufhin sich wandeln in süßliche, romantische Darstellungen. Das Memento mori verblasste. Die Stufenbilder dienten nun dazu, den eigenen Platz in der Gesellschaft zu reflektieren. Die Dimension des Jüngsten Gerichts verliert sich. Umso stärker werden moralische, soziale Implikationen.895
IV. 5 Ertrag der heuristischen Untersuchung IV. Ertrag der heuristischen Untersuchung
Das Bildpanorama der vormodernen GlaubenslebenslaufImaginationen wurde in zehn exemplarischen Varianten betrachtet. Sie seien zusammengefasst: Glaubenslebenslauf als Lehre einer als gesetzt anerkannten Schöpfungsordnung zeigte den Menschen im starren Spiel der Elemente. In seinem Glauben an Gott weiß er sich zutiefst abhängig von dessen unendlicher Weisheit, die ihm das Seine an Segen und Bewahrung zuteilt. Was ist der Mensch und seine Frömmigkeit in diesem großen Weltgefüge als nur das, wozu er vorherbestimmt ist? Er wird den Rahmen niemals sprengen. Die Haltung des Glaubens ist lebenslang ein demütiges Einfügen an den zugewiesenen Ort. Im Modell göttlicher Heilsgeschichte verbeugt sich der Mensch vor dem unermesslichen Erlösungshandeln seines Gottes und richtet sich aus auf den letzten ausstehenden Schritt: die Wiederkunft Christi. Er ringt um Freiheit von der Macht der Sünde auf einem ethisch-asketischen Stufenweg. Im Bild der Verwandlung von Wasser zu Wein focussiert der Glaube die Hoffnung, dass Jesus Christus sich jedem Lebensalter in gütiger Kraft zuwendet und ihm gelingt, die zerbrechlichen Gefäße mit ihrem natürlichirdischem Inhalt zur Freude im ewigen Hochzeitsmahl zu bereiten. Diese Imagination der Hoffnung richtet die Augen auf den kommenden Erlöser. Wie schön oder misslungen auch die einzelnen Lebensabschnitte sein mögen, im Glauben sind sie vor ihn gestellt im Vertrauen auf seine Wohltat. Die Imagination der Berufung der Arbeiter im Weinberg veranschaulicht, dass Christus für seine Aufgaben alle Jahrgänge braucht. Er achtet sie in gleicher Weise und sammelt in jeder Lebensphase Menschen auf. Im 895
II.
Zum Lebenstreppenbogen in seiner neuzeitlichen Gestaltweise, siehe auch Kapitel
240
IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
Spiegel dieses Gleichnisses ist zugleich ein ehrsüchtiges Vergleichen von Glaubenslebensläufen unterbunden. Wer schon lange dient oder wer erst nur kurz vor dem Eintritt in die Ewigkeit Jesu Ruf folgte – am Ende der Zeit erwartet alle der gleiche Lohn aus Christi Hand. Das Bild des Generationenpilgerzuges der drei Weisen zum Christuskind zeigt das fröhliche Miteinander von Jungen, Erwachsenen und Alten durch ihre Ausrichtung auf ihren Heiland. Jede und jeder hat eigenen Gaben, vereint die Verehrung Jesu. Im Christuskind ist die unermessliche Größe Gottes zu solcher Niedrigkeit inkarniert, dass ihm alle von klein auf nahen können. Diese Imagination wird zum seelsorglichen Zuspruch bis in die schwächsten Stunden des Glaubens: Jeder Moment im Glaubenslebenslauf ist Teil des Pilgerzugs. Der Einzelne vermag immer wieder »bei der Krippe« anzufangen. Die Vorstellung vom alltäglichen Kampf mit dem Teufel unterbindet jegliche Träumereien, dass der Mensch irgendeine Gewissheit über Tragfähigkeit und Stärke seiner Treue zu Gott gewönne. Weil er seinem Glauben »keine Elle zufügen kann« (nach Mt 6,27), ist ihm auch verwehrt, dass er sich irgendwelche Methoden aneigne, mit denen er sein Gegründetsein in der Beziehung zu Gott weniger störanfällig, stärker und sicherer machte. Er ist allezeit gefährdet von der Gewalt des Bösen. Das Bleiben im Heiligen Geist ist fragil. Der Mensch vermag nur zu beten, dass ihn der Teufel nicht überwinde, denn er ist hilflos, ein ewiges Kleinkind im Glauben, auch wenn er an Lebensaltern und an irdischer Größe zunimmt. Die Vorstellung vom Totentanz kreist um die Faszination des hohen Alters und seiner offensichtlichen Nähe zum Ende des Lebens. Sie stellen den Hochbetagten in die Mitte aller Lebensläufe, damit auch die jungen Lebensalter sich ausrichten auf dieses sie früher oder später nivellierende Ende. Ob gläubig oder ungläubig, sie verdorren wie Gras. In bitterer Selbsterkenntnis ist jede denkbare Gabe dieses schwächlichen Lebewesens erbarmungswürdig klein. Lieblichere Klänge vermittelt die Imagination vom Glaubensbaum. Hier wird unspektakulär von den natürlichen, »biologischen« Lebensetappen des Aufwachsens, Blühens, Fruchtbringens, Alterns und Vergehens ausgegangen: Wie die Pflanzen, so auch der Mensch. Er vertraut auf die Pflege des Gärtners, sein Umsorgen und seine Hege, besonders auch in Zeiten der Schwäche, die jedes Lebensalter kennt. Glaube saugt seine Kraft aus dem Wasser des Lebens, das der dreieinige Gott von der Taufe an auf seine Wurzeln gießt. Jede Lebensphase zehrt gleichermaßen von diesem Urgrund. Das Modell des Glaubenslebensrades zieht die Blicke der verschiedenen Lebensalter hin zur Mitte, auf die Achse Christus. Der Glaubenslebenslauf ist wie ein Reigen um dieses Zentrum, Jahr um Jahr gleich weit
IV. Ertrag der heuristischen Untersuchung
241
von ihm entfernt. Er relativiert scheinbar so wichtige Veränderungen des Lebens, die Stärke der Erwachsenen ebenso wie die Gebrechlichkeit der Hochbetagten, die Kraft der Jugend ebenso wie die Hilfsbedürftigkeit der Säuglinge. Er fängt sie auf und gibt sich jedem in seiner ganzen Fülle. Einen Stand im Glauben zu erkennen heißt hier, zu danken, überhaupt in den Bannkreis Christi gelangt zu sein. Diese Einsicht verbietet, je zu wähnen, dass man sich dem Göttlichen nahen könnte und andere dabei hinter sich ließe. Zugleich mahnt sie, auf der Hut zu bleiben, damit das Heil nicht belanglos erscheint, oder irgendwelche anderen Einflüsse vom Zentrum der Radnabe wegreißen. Der vom Tod beherrschte Treppenbogen zieht in seinen frühen Darstellungen den Blick auf den, der die Stufen oberhalb regiert und zugleich hinab unter das Gewölbe, in die Welt jenseits der irdischen Lebensbewegung. Was immer auch der Lebenslauf des Menschen bringt, Tod und jüngstes Gericht relativieren alles. Das allein ist anthropologische Bestimmung: vom Tod gemäht, vor das Gericht gestellt. Jedes Lebensalter verweilt in tiefer Einsamkeit für kurze Augenblicke auf seiner Position. Jedes stürzt hinab. Und was der Mensch in irdischen Glaubenslebensdingen auch hätte aufbauen wollen, es zählt nichts. Er bleibt in Ewigkeit auf Erbarmen angewiesen. Im Gesamteindruck umgibt die Darstellungen durch ihre paradigmatische Imagination der göttlichen Ordnung eine eigentümliche Ruhe. Selbst die heilsgeschichtlichen Aspekte sorgen nicht für Dynamik. Immer werden die Gläubigen auf ihren vorbestimmten Platz verwiesen. Die Vorstellungen mahnen zu einer biblischen Geboten entsprechenden Lebensweise, die der Sünde zu trotzen versucht und sich immer wieder an Christi Gnade aufrichtet. In allen Imaginationen steht der Mensch unmittelbar vor seinem Schöpfer, Herrn und Erlöser. Glaubenslebenslauf ist nirgends ein Prozess, der ihn aus diesem Status als »Gegenüberwesen« herauslöste. Wachstum ist kein zentraler Gedanke und schon gar kein spirituelles Motto. Einzig einen ethisch-asketischen Stufenweg stellen die alten Darstellungen vor, als Ermunterung zum Kampf gegen das Böse. Gottes Ausstrahlung und seine Zusage gelten gleichbleibend allen Lebensjahren. Auch, wenn körperliche Kräfte und Gaben des Verstandes wachsen oder verfallen – das Geschenk des Glaubens ist stets unbegreiflich und unverfügbar. Eine pädagogische Folgerung aus dieser Imagination ist, dass Menschen von Kindesbeinen an bis ins hohe Alter das ganze Evangelium zuzutrauen bleibt – in seinen Zusagen, Christus- und Gottesbildern ebenso wie in seiner Analyse des Menschseins als schwach, endlich und von Sünde und Teufel regiert. Kein gestufter Lernweg führt zu Kompetenzge-
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IV. Glaubenslebenslauf-Imaginationen historischer Bilder
winn – Glaubenslebenslauf ist ein kontinuierliches Dasein vor der zugemuteten Verkündigung. In großer Ernsthaftigkeit ist in den präsentierten Bildern das Nachdenken über den Glaubenslebenslauf Vorausdenken an den Tod, Widerstand gegen alle Formen der Verehrung und Abhängigkeit von Fortuna, nüchternes Einsehen in die unveränderliche Auf- und Abbewegung des Lebens mit dem Ziel der geistlichen Festigung des Charakters gegen Bosheit und Sünde. Im Kern kreisen all diese Darstellungen um den Ruf: Memento mori. Der Mensch sieht sich als beschränktes Geschöpf, bedrohtes Wesen, auf Gnade angewiesen, todgeweiht, mit seinen Fragen nach Recht und Gerechtigkeit und ewigem Verbleib. Er erfährt sich ermahnt zu einem Leben in Freiheit und Moral, ermuntert zur Hoffnung auf Erlösung und eingebunden in die Gemeinschaft mit Generationen vor und nach ihm. Die Starrheit der Modelle räumen keine individuelle Gestaltungsfreiheit ein. Sie schüren Angst vor dem Satanischen und konfrontieren penetrant mit den Schwächen des Menschseins. Zusage und Fluchtort des Heils durch Christus leuchten zugleich umso heller, je elender der menschliche Weg vor Augen geführt wird. Die paradigmatische Imagination der strukturierten Weltordnung im Licht der biblisch-theologisch erkannten Transzendenz bestimmt das Dasein im Glauben als theologisch-anthropologisches Thema, genuin verschmolzen im Beziehungsgeschehen von Dreieinigem Gott und Mensch. Diese Glaubenslebenslauf-Imaginationen verkünden immer zugleich das Eschaton. Sie reflektieren alle irdische Frömmigkeit im Ausblick auf die zukünftige Gestalt im Schein ewiger Herrlichkeit.
V. Zusammenschau und Konsequenzen für einen virtuosen Umgang mit GlaubenslebenslaufImaginationen
V. Zusammenschau und Konsequenzen V.1. Virtuosität
V. 1
Virtuos mit GlaubenslebenslaufImaginationen umgehen
Drei »Schatzkammern«896 voller Glaubenslebenslauf-Imaginationen wurden in den zurückliegenden Kapiteln betrachtet. Wir sahen wissenschaftliche, alltagspraktische und historische Modelle von der Gestalt des Glaubens im Wandel der Lebensalter, diskursiv und kreativ im kulturellen Möglichkeitsraum aktiviert. Das Interesse an Imaginationen zum Glaubenslebenslauf speiste sich daraus, ihr ästhetisches Potential aufzudecken – um damit zugleich ihrer Anästhetik gewahr werden zu können und auf diese Weise ein spezifisch ›ästhetisches Denken‹ im Blick auf Glaubenslebenslaufmodelle zu entwic-
896
Diese Metapher mag noch einmal unterstreichen, dass die bildorientierte Untersuchung über Vorstellungen vom Glaubenslebenslauf eine Fülle von Modellvorstellungen erbrachte, so dass eindimensional erscheint, die Frage nach der religiösen Entwicklung des Menschen als Auseinandersetzung um ein exklusives Modell zu führen.
244
V. Zusammenschau und Konsequenzen
keln.897 Dies entspricht der aktuellen Herausforderung der Praktischen Theologie in ihrer derzeitig kulturwissenschaftlich-ästhetischen Ausrichtung.898 Im Zuge des cultural turn arbeitet Praktische Theologie grundsätzlich multiperspektivisch, theorie-ergänzend – nicht in Form von einander ablösenden Thesen und Antithesen!899 Sie versteht Wirklichkeit facettenreich. Keine Theoriebildung genügt allein zu ihrer Wahrnehmung, vielmehr ist ein Ensemble an Modellen und Werkzeugen zu eruieren. Der Erkenntnisprozess selbst ist »ein innovatives Spiel mit Modellen der 900 Wirklichkeit…, das sich als unabschließbar versteht.« Glaubenslebenslauf-Imaginationen jedweder Couleur sind in diesem Sinne Bilder. Sie ergänzen einander, weil jedes von ihnen Aspekte der nie vollständig zu erfassenden Realität erklärt und zugleich andere ausblendet. Um nicht in der geistigen (und geistlichen) Sackgasse zu verharren, Modellvorstellungen zu überschätzen oder sogar mit Gesetzmäßigkeiten 901 gleichzusetzen, ist praktisch-theologische Virtuosität im Umgang mit Vorstellungen von religiöser Entwicklung zu erarbeiten.
897
Zu dieser Begrifflichkeit von Ästhetik und Anästhetik siehe Einleitung, I.2 Ziel und Anlage der Studie, mit WELSCH, Ästhetisches Denken. 898
Die Herausforderung des ästhetischen Denkens besteht nicht nur auf dem Feld der Theorien zur religiösen Entwicklung. Eine gewisse Analogie weist die Auseinandersetzung mit Milieutheorien auf. Vgl. KONSTANZE KEMNITZER, Spieglein, Spieglein der Milieus. Für einen neuen Umgang mit Milieutheorien im Sinne einer ästhetisch orientierten Praktischen Theologie, in: Kirche und Kunst, 88. Jg., 1/2011, 8-12. 899
Vgl. RASCHZOK, Modeerscheinung, 76.
900
GERHART SCHRÖDER, Vorwort, in: GERHART SCHRÖDER/HELGA BREUNINGER (Hrsg.), Kulturtheorien der Gegenwart. Ansätze und Positionen, Frankfurt/Main 2001, 7-11, 11, Siehe auch: NORBERT BOLZ, Jenseits der großen Theorien: das Happy End der Geschichte, in: GERHART SCHRÖDER/HELGA BREUNINGER (Hrsg.), Kulturtheorien der Gegenwart. Ansätze und Positionen, Frankfurt/Main 2001, 203-215 und seinen Hinweis auf Michael Schrage, der diesen Umgang mit Modellen »serious play« genannt habe: »Mit Prototypen spielen heißt laut denken. Im ernsten Spiel konvergieren Designprozess und Innovationsprozess: eine Idee wird in Szene gesetzt.« A.a.O., 210. 901
Gemeint ist Virtuosität im Sinne meisterlichen Könnens, wie dies z.B. in der Musik verstanden wird. Praktisch-Theologische Virtuosität ist damit als wissenschaftlichdenkerisches Können nicht zu verwechseln mit dem Gegensatz von Massen- und Virtuosenreligiosität, den Max Weber erläutert. Als wissenschaftliche Fähigkeit ist praktisch-theologische Virtuosität zu erlangen, wenn der denkerisch-flexible Umgang mit den Modellvorstellungen geübt wird – während Weber das Phänomen einer besonders begabten religiösen Gruppe bezeichnet. Siehe dazu MAX WEBER, Religiöse Gemeinschaften, in: HANS G. KIPPENBERG/PETRA SCHILM (Hrsg.), Max Weber, Wirtschaft
V.1. Virtuosität
245
Entscheidende Hilfestellung dazu kommt aus der Kunsttheorie. Denn Glaube zu gestalten, ist eine im Wesentlichen künstlerische Tätigkeit aller Christinnen und Christen902 im Privaten wie im Öffentlichen.903 Sie ist darin künstlerisch, dass die Akteure wohl zweckorientiert handeln, sich aber im Verlauf und Resultat nicht an Zwecken orientieren. Ziele und Intentionen sind Rahmenbedingungen innerhalb derer Glaubensgestaltung – weil sie nicht mechanisch oder physikalisch ist904 – frei spielt.905 Dies ermöglicht
und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass, Teilband 2, Tübingen 2001, 319, 398. 902
Glaubensgestaltung als kirchenleitendes Agieren betrifft prinzipiell jedes Kirchenmitglied, im Sinne Schleiermachers: »Jeder Christ der seinen Einfluß auf Andre zu üben sucht in Beziehung auf das Christenthum, ist in der Kirchenleitung begriffen.« SCHLEIERMACHER, Theologische Enzyklopädie, 8. 903
Zur integralen Lebensdimension der Religion, die beide Hemisphären ineinander verschränkt vgl. STECK, Praktische Theologie, Band 1, 142ff. 904
Hier sei daran erinnert, dass Schleiermacher die Kunstregeln der Praktischen Theologie von denen der mechanischen Kunst unterscheidet. Die praktischtheologischen Kunstregeln setzen ein eigenes Vermögen voraus, mit ihnen etwas zu gestalten, während in der mechanischen Kunst in den Regeln schon die Anwendung enthalten ist. Praktische Theologie vergleicht die spekulative Konstruktion der historischen und philosophischen Disziplinen mit dem empirisch wiederum modellhaft Beschreibbaren. Sie evoziert dabei Kriterien für das Handeln im geschichtlich Gegebenen. Diejenigen, die ihre Kunstregeln nützen, machen von den Ergebnissen spezifisch freien Gebrauch, d.h. sie Adaptieren und Modifizieren die Erkenntnisse im jeweils wahrgenommenen Geschehen. Dazu brauchen sie ein gewisses Talent. Diese Vorgänge sind nicht zwingend in Analogie dazu zu sehen, wie ein Künstler von kunsttheoretischen Impulsen Gebrauch macht. Die Analogie erweist sich aber durchaus als erhellend. Auch in der Hinsicht, dass davon ausgegangen wird, dass kirchenleitendes Handeln bildungsfähige Subjekte voraussetzt, ist die Analogie zum Künstler hilfreich um zu verstehen, in welcher Weise der Umgang des Subjekts mit praktisch-theologischer Theoriebildung für seine Aufgabe der je aktuellen Gestaltung der Kulturpraxis des Christentums konstituiert ist. Vgl. ALBRECHT, Probleme, 19f, 61f. 905
Vgl. THOMAS LEHNERER, Methode der Kunst, Würzburg 1994, 102 zur Definition von Kunst: »Kunst ist aus der Perspektive des Künstlers ein zweckorientiertes Handeln, das sich im Verlauf und Resultat jedoch nicht nach seinen Zwecken orientiert, sondern – radikal verkehrt – mit all seinen Zwecken und Intentionen, wo sie im künstlerischen Prozess auftreten, als bloße Rahmenbedingungen frei spielt. Denn der Zweck der Kunst ist – scheinbar paradox – dass sich Handeln, wo es künstlerisch verläuft, nicht, jedenfalls nicht durchgängig nach Zwecken orientiert. Diese Orientierung, die Kunstorientierung (der »Freizweck«) lässt sich – durch ›Kunstempfinden‹ – an Gegenständen erkennen. Wir bezeichnen diese Gegenstände dann als ›Kunstwerke‹.«
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V. Zusammenschau und Konsequenzen
Kreativität, Innovativität, Inspiration. Ob die Unternehmung gelingt, ist immer unverfügbares Geschenk.906 Der Bildhauer und Kunsttheoretiker Thomas Lehnerer beschreibt die Herausforderung der Virtuosität907 solchen Gestaltens: »Alle Theorie endet hier. Was kann ich – als Künstler – dann aber überhaupt machen… Was soll ich tun? Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen?«908 Im Blick auf die Glaubenslebenslauf-Imaginationen zugespitzt: Was ist zu tun mit diesen Bildern, die aller religiösen Gestaltpraxis vorausgehen, innewohnen, folgen und sich mit ihr verändern? Lehnerer ermuntert: »Erweitere alle deine theoretischen und praktischen Fähigkeiten. Denn je mehr du als Künstler weißt und je mehr du kannst…, desto mehr Möglichkeiten bringst du ins Spiel, desto interessanter, wichtiger und reichhaltiger wird deine Kunst. Aber, was du bei all deinem Wissen und Können tun sollst, um ›Kunst‹ hervorzubringen, ist nichts, als all dies wieder loszulassen und in ein freies kommunikatives Spiel zu bringen.«909 Übertragen auf unsere Frage: Jedes Modell vom Glaubenslebenslauf schult die Sensibilität und initiiert neue Impulse. Je mehr Bilder sich auftun, desto vielfältiger und spezifischer wird die Glaubensgestaltwahrnehmung und ihre Praxis. Virtuos ist, wer diese Klaviatur »beherrscht«, also fähig ist, unterschiedliche Klänge beizusteuern – in seelsorglichen Situationen, in pädagogischen Diskursen, in den mannigfachen Ereignissen christlicher Glaubensgestaltung. Die Vorstellungen sind reflektierend zu »bewohnen« und wieder »loszulassen«. Sie wirken sich im freien Spiel der evangeli-
906
Lehnerer, der zahlreiche künstlerische Methoden beherrschte, konstatierte, dass auch er nicht vorhersagen könne, ob in der Ausführung all seiner Technik ein Kunstwerk gelingt. Vgl. a.a.O., 103. Aus theologischer Perspektive mag dies für alle Glaubensgestaltung der entscheidende pneumatologische Vorbehalt sein. 907
Lehnerer selbst zögerte, für sich und seine eindrucksvolle Arbeit den Begriff der Virtuosität zu gebrauchen. Er vermied den Begriff und mit ihm seine Aura von Meisterhaftigkeit. Dennoch kreist sein freies Spiel um das Phänomen der Virtuosität, im Sinne der permanentem Überbietung des durch Nachahmung Erlernten. Zu dieser Definition vgl. GÜNTER OESTERLE, Imitation und Überbietung. Drei Versuche zum Verhältnis von Virtuosentum und Kunst, in : HANS-GEORG VON ARBURG (Hrsg.), Virtuosität. Kult und Krise der Artistik in Literatur und Kunst der Moderne, Göttingen 2006, 47. 908 909
LEHNERER, Methode, 146.
A.a.O., 146f. Vgl. dazu KLAUS RASCHZOK, Methode der Predigt. Vom homiletischen Nutzen einer zeitgenössischen Künstlertheorie (Thomas Lehnerer), in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Bd. 97 (2000), 110-127, 116f.
V.2. Das Repertoire in seiner An-/Ästhetik
247
schen Glaubenskunst in stets neuer Weise aus.910 Um einen solchen virtuosen Umgang mit Glaubenslebenslauf-Imaginationen zu evozieren, sei nun das Gefüge der Bilder, die in dieser theologischen Untersuchung zusammengetragen werden konnten, betrachtet.911 Sicher bleiben nicht alle Modelle in gleicher Weise im Gedächtnis. Und gewiss fänden sich weitere. Dennoch genüge zunächst der folgende Grundbestand.912
V. 2
Das Repertoire der GlaubenslebenslaufImaginationen in ihrer spezifischen Ästhetik und Anästhetik
V.2. Das Repertoire in seiner An-/Ästhetik
V. 2. 1 Grundlegende bildtypologische Unterscheidung
Grundlegend ließen sich zwei Bildtypen voneinander unterscheiden: Dynamische-lineare Modelle betonen die Veränderungen des Glaubens im Wandel der Lebensalter. Sie blenden Konstanten aus. Statisch-räumliche Imaginationen focussieren Beständiges und verschatten Veränderungen der Religiosität des Menschen. In der phänomenologischen Untersuchung zu alltagspraktischen Vorstellungen vom Glaubenslebenslauf zeigte sich, dass in Geburtstagsgedichten beide Bildtypen in je drei spezifischen Variationen verwendet wurden: dynamisch-linear: Treppe, Reiseweg und Puzzle, statisch-räumlich: Staubkorn, Sinnkreisel, Sanduhr. Die wissenschaftlichen und historischen Modelle lassen sich ihnen zugesellen. Wissenschaftliche haben aufgrund ihrer paradigmatischen Imagination der onto- und phylogenetischen Strukturanalogie eine gewisse Nähe zu dynamisch-linearen Ausprägungen, historische aufgrund ihrer paradigmatischen Imagination der Ordnung des Kosmos zu statischräumlichen. Sensibilisiert durch das Gemenge innerhalb der alltagspraktischen Imaginationen wird sichtbar, dass beiden Bildwelten (der wissenschaftlichen und der historischen) auch Aspekte zu dem ihnen weniger paradigmatischen Typus innewohnen. 910
Dies verdeutlicht die abschließende Etüde an einem konkreten Thema.
911
Missverstanden wäre die Unternehmung, nun alle Bilder ineinander zu verrechnen und ein »Lösungsmodell« zu etablieren. Dies ist so unmöglich wie Mathematikerinnen und Mathematikern die Quadratur des Kreises. Dennoch schulen sie an der Reflexion des Problems ihren Verstand und ihre rechnerische Ausdrucksfähigkeit. 912
Auch Klavierspielende verwenden nicht sogleich alle Tasten auf einmal.
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V. Zusammenschau und Konsequenzen
Sechs grundlegende Bildtypen und ihre je eigene Ästhetik und Anästhetik seien festgehalten: V. 2. 2 Imagination 1: Separierende Bilder
Separierende Bilder teilen den Lebenslauf des Menschen in einzelne Abschnitte und bauen daraus einen Spannungsbogen. Die älteste Variante bot eine Grafik aus dem Spätmittelalter. Dort sind die Lebensalter als auf- und absteigende Treppe dargestellt. Die Stufenlänge ist gleichmäßig. Die Symmetrie ist ausgewogen. Dies blieb bis ins 19. Jahrhundert erhalten. In der gegenwärtigen westlichen Lebenswelt und in den wissenschaftlichen Theorien, die sich dieses Rasters bedienen, um altersspezifische Religiosität zu beschreiben, ist die Treppe auffällig arhythmisiert: Stufe um Stufe steigt der Mensch etwa bis zum 30. Lebensjahr hinauf und verweilt schließlich für einige Jahrzehnte auf einer Art sozialem Plateau. Darauf folgt ein kurzer, harter Abstieg. In dieser Veränderung der Stufenlänge spiegelt sich die Verbreitung des Wohlstands913 ebenso wie die Standardisierung der zentralen, gesellschaftlichen Lebenseinschnitte, besonders durch Bildungsinstitutionen, aber auch durch gesetzliche Regelungen, wie der Eintritt in den Ruhestand. Aus der Welt der wissenschaftlichen Modelle scharen sich der ›dreistufige Podestbau‹ und der ›tabellarische Schichtaufbau‹, ein Diagramm, das den Entwicklungsstand eines Menschen bestimmen hilft, zum separierenden Typus hinzu, auch wenn sie sich nur mit dem Aufstieg des Menschen aus niederer Position bis zur Höhe des ›rational‹ oder ›psychosozial stabilen‹ Frommen beschäftigen. Auf- und Abbau beschreibt auch der – meist vierphasige – ›Lebensbaum‹, der ebenso von wissenschaftlichen wie von historischen Bildwelten genützt wird. Wissenschaftlich ist dies ein Modell, mit dem sich die Bedeutung der religiösen Sozialisation für die weitere Entwicklung in Jugend, Erwachsensein und Alter unterstreichen lässt. Die mittelalterlichen Varianten visualisieren das Auftreiben, Aufblühen, Fruchtbringen und Verwelken des Menschen im naturgegebenen Muster – und legen alle anthropologischen Gaben in die Hand der bebauenden und bewahrenden Dreieinigkeit. Sie befrieden mit dieser Vorstellung alles unruhige Fragen nach der Bestimmung der Frommen.
913
Der Herrscher Tod, der im 16. Jahrhundert noch über der höchsten Stufe mittig als allgegenwärtige Bedrohung thronte, ist nicht mehr zu sehen.
V.2. Das Repertoire in seiner An-/Ästhetik
249
Das ästhetische Potential der separierenden Glaubenslebenslaufimaginationen als Kurve, Treppe, Podest- und Schichtbau, werdender und vergehender Baum ist: Strukturieren, Gliedern und Einschätzen des religiösen Daseins. Sie helfen, Individuen zu klassifizieren und altersspezifische körperliche, psychische und gesellschaftliche Anforderungen und entsprechende Zugeständnisse in ihrer Auswirkung auf die Religiosität zu reflektieren. Die Angabe der Zahl der Lebensjahre lässt mittels der Modelle auf spezifische religiöse Merkmale und Bedürfnisse rückschließen. Die Anästhetik liegt in der bildimmanenten Diskriminierung der Lebensalter. Sie sortiert und beschränkt Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Alte je nach definierten Gruppenbildungen auf spirituelle Fähigkeiten und Ansprüche. V. 2. 3 Imagination 2: Individualisierende Bilder
Individualisierende Bilder kennen nur zwei Sicherheiten: Jeder Mensch beginnt mit dem Startpunkt des Zur-Welt-Kommens und ihm schlägt wie allen zu seiner Seite einmal die Stunde des Sterbens. Zwischen Geburt und Grab liegt Zeit. Das Individuum kann sie frei gestalten. Die alltagspraktische Vorstellung »Reiseweg« imaginiert ›von der Wiege bis zur Bahre‹ einen beliebig verschlungenen Weg. Geburtstagsgedichte laden zur individuellen Rück- und Vorschau ein und zur selbstbewussten Verwirklichung eigener Vorhaben. Wissenschaftlich begleitet dieses Bild die Biographieforschung und personenorientierte qualitative Längsschnittstudien. Aus den historischen Bildwelten gesellt sich das sechs-plus-eins Modell des Augustinus in diesen individualisierenden Typus. Denn auch hier ist der Gang des Christenmenschen angesichts der angebrochenen sechsten, letzten Phase bis zur Wiederkehr Christi sein einzigartiger Lauf, meist ein Umherirren, bedroht von der Macht der Sünde, angetrieben von der Hoffnung auf Erlösung. Dies ist die Situation aller Menschen in dieser Endzeit der sechsten Epoche. Sie wandeln vor Gottes Ewigkeit. Wer sich zum geistlichen Weg berufen fühlt, kann die bisherige Heilsgeschichte zum Kampfplan seines ethisch-asketischen Stufenweges gegen alles Verdorbene und Verderbliche wählen (quasi einem Bild im Bild). Die Ästhetik dieser Imaginationen betont die Individualität und Freiheit des Einzelnen. Der Verlauf der Reise ist offen und voller Möglichkeiten: ernst nur in der Gewissheit, dass am Ende der Tod steht – doch voller banger oder freudiger Erwartung, dass die Reise bis dahin Überraschungen und Chancen bereit hält. Das Bild animiert zu Aufmerksamkeit für die persönlichen Erlebnisse und zukunftsweisenden Hoffnungen. Die Anästhetik deutet sich darin an, dass schon Augustinus das Bild vom Wandern in der Gegenwart der göttlichen Heilsgeschichte bis zu ihrer
250
V. Zusammenschau und Konsequenzen
Vollendung, mit seinen Mahnungen zur Lebensführung ergänzt. Denn das Bild vom völlig frei verlaufenden Reiseweg verschleiert zum einen, dass Menschen Struktur suchen und dass sie zum anderen nicht jenseits sozialer, biologischer und religiöser Grenzen existieren (wollen). V. 2. 4 Imagination 3: Fragmentierende Bilder
Fragmentierende Bilder unterscheiden einzelne Lebensalter und differenzieren oft noch weiter nach zusätzlichen Kriterien. Sie gehen davon aus, dass sich nur Einzelaspekte punktuell erkennen lassen, das Ganze des Lebenslaufes aber ein Modell voller Lücken ist. Die alltagspraktische Vorstellung vom Glaubenslebenslauf als Puzzle stellt ein unfertiges Legewerk vor Augen, das je nach passendem Fundstück immer weiter zusammengesetzt wird. Ob es jemals vollendet wird, ist offen. So lange der Mensch lebt, ist zumindest noch Platz für immer weitere Teile. Der Fortgang ist nicht festgelegt. Manchmal überrascht auch, wo plötzlich an früher angeknüpft werden kann. Manche Stücke passen lange gar nicht und liegen separat, unverbunden neben dem Gebilde. Die wissenschaftliche Theoriebildung kennt mit Darwin die Vorstellung von evolutionären Prozessen im Modell der Koralle. Auch dies betont, dass Lebensthemen jahrelang brach liegen können und plötzlich neu fortgesetzt werden. Forschungen mit diesem Modell interessieren sich für einzelne religiöse Themen und ihre Virulenz in den individuellen Geschichten zu einem spezifischen Zeitpunkt – die wiederum maximal auf Kohortenebene zu verallgemeinern sind. Glaubensfreude blüht mal hier mal dort auf, und welkt und stirbt zugleich in anderen Bereichen. Aus der historischen Bildwelt fügt sich das Motiv der Wasserkrüge auf der Hochzeit zu Kana an. Auch hier liegt der Fokus darin, die Lebensalter des Menschen unverbunden nebeneinander zu imaginieren. Die Gestaltung des einen ist schön, die eines anderen misslungen, eine weitere aufwändig, eine andere beschmutzt. Ein Ganzes aus den Lebensaltern zu machen, ist dem Einzelnen nicht möglich. Die Hoffnung ruht auf Christi Verwandlungskraft, die aus dem Stückwerk etwas Helles, Vollkommenes, Schönes machen kann, zur Freude im ewigen Hochzeitsfest. Auch die Vorstellung vom allgegenwärtigen Ringen mit dem »alt bösen Feind« in jeder Lebensphase reiht sich hier ein. Sie hält vor Augen, wie bedroht der Mensch in jedem Alter ist und dass er niemals sicher auf Erreichtem aufbauen kann. Sünde und Bosheit können ihn immer neu zerschlagen. Der Glaube ist ein lebenslanges Abmühen gegen die Versuchungen und Verstrickungen. Die verstreuten Kalenderblätter des Lebens dokumentieren am Ende jedes für sich Sieg oder Niederlage. Die Ästhetik dieser Bilder ist die Sensibilität für die Bruchstückhaftigkeit des Subjekts und seiner Religiosität. Sie fördert ehrliche Auseinander-
V.2. Das Repertoire in seiner An-/Ästhetik
251
setzung mit den offenen »Baustellen« des Lebens und wehrt aller Anmaßung, von sich zu meinen, rund, vollständig, absolut integer werden zu können. Sie lenkt kritisches Prüfen auf die Leerstellen und Fragen des Daseins, des eigenen Tuns und Lassens. Sie lässt sehnen nach Vollendung als eschatologischem Gnadengeschenk. Die Anästhetik betrifft die Aktivität des Menschen, seine Verantwortung im Blick auf die Gestaltung seines Glaubenslebenslaufs. Alles scheint Schicksal. Je nach dem, was für Puzzleteile Los und Zufall hinwerfen, kann der Mensch nur noch zusammensetzen, reagieren. Zwischen Gut und Böse zerrieben, bleibt ihm kaum mehr als der Versuch, sich zu erkennen und zu orientieren. V. 2. 5 Imagination 4: Relativierende Bilder
Relativierende Bilder stellen die Frage nach der religiösen Entwicklung des Menschen in den Horizont allen Daseins. Die alltagspraktische Imagination vom »Staubkorn in der Unendlichkeit«, schaut auf die Weite des Universums. Eine einzelne Lebenszeit schrumpft zum ›Wimpernschlag der Ewigkeit‹. Der Mensch existiert als ›Zigeuner am Rand des Weltalls‹. Passagen in Geburtstagsgedichten staunen darüber, wie wunderbar so ein flüchtiges Menschenkind gebildet ist. Sie freuen sich an der Persönlichkeit eines Einzelnen. Sie rufen auf, die kurze Zeit zu genießen, für alle Freude dankbar zu sein und dabei zu vergessen, dass sie rasch verweht. Das Wohl und Wehe, Scheitern oder Erfolg des Lebenslaufs verschmilzt aus himmelweiter Perspektive zu unbedeutender Dynamik. Einzig die Gegenwart zählt. Das Dasein ist zu 914 akzeptieren, wie es ist, oder gar die Haltung der »Amor fati« anzustreben. Aus den mittelalterlichen Darstellungen ist an die Schöpfungsdiagramme zu denken, die den Menschen und seine Lebensalter eingebunden in die Rhythmen des Kosmos zeigen. In der fulminanten Größe der Welt ist der Mensch an seinen Platz gestellt. Alles ist von göttlicher Hand gesetzt, auch wie sich Stimmungen und Charaktereigenschaften mischen. Christus ordnet als göttliche Weisheit Zeit und Raum. In einer weiteren Abbildung, als ›Christusrad‹ bezeichnet, ist er das Zentrum der Lebensalter. Sie stehen in immer gleichen Abstand zu ihm, werden von ihm gehalten – im Leben und im Sterben. Mag die blinde
914
Dieser Topos wäre freilich auch philosophiegeschichtlich viele weitere Untersuchungen wert, besonders vor dem Hintergrund, dass »Schicksal« als ein Grundthema religiöser Welt- und Lebenseinstellung der Gegenwart gilt. Vgl. WOLFGANG STECK, Praktische Theologie, Horizonte der Religion – Konturen des neuzeitlichen Christentums – Strukturen der religiösen Lebenswelt, Band 2, Stuttgart 2011, 164.
252
V. Zusammenschau und Konsequenzen
Glücksgöttin ihr zynisches Spiel treiben, Glaubende sehen sich darin geborgen, wie Christus steuert. Wissenschaftliche Theoriebildungen gemäß dieser Denkrichtung verabschieden religiöse Entwicklungspsychologie. Sie beschreiben gegenwärtige religiöse Stile und Milieus in ihrer aktuellen Beschaffenheit. Der Glaubenslebenslauf bleibt gebunden in einer jeweiligen religiösen Heimat, die ihm wenig Veränderungsmöglichkeiten einräumt. Die Ästhetik dieser Vorstellungen ist Freude am gegenwärtigen Dasein und seinen göttlichen Gaben. Sie respektiert individuelle Frömmigkeit als gegebenes Phänomen und betont die Herausforderung, mit und bei den Menschen zu sein, wie sie (als Geschöpfe gewollt) sind – statt sie nur als potentiell entwicklungsfähige Baustellen zu betrachten. Der Mensch gilt in jedem Lebensalter als geschaffen in aller Unvollkommenheit und Schönheit. Glaube ist lebenslang mit Demut und Dank verwoben. Die Imagination trägt auch negativ fatalistische Züge: Ihre Anästhetik ist die Flexibilität und Gestaltungsfreiheit der Menschen, ihre Chance auf Veränderungen und die zupackende Hoffnung auf Verbesserung persönli915 cher und globaler Zustände. V. 2. 6 Imagination 5: Zentrierende Bilder
Zentrierende Bilder lenken den Blick auf das anthropologische Apriori aller Spiritualität und visualisieren den Glaubenslebenslauf als Daseinsbestimmung des homo religiosus und homo amans. Diese menschliche Wesensbestimmung pulsiert in allen Lebensaltern. Die meisten alltagspraktischen Imaginationen sehen den Menschen wie einen Kreisel, tanzend um die Frage nach dem Lebenssinn. Er kommt dabei nicht vom Fleck – und das ist auch gar nicht zu erstreben. Maximal zeichnet im Laufe seines Lebens die drehende Kreiselspitze eine plane Miniaturspirale um das geheimnisvolle Zentrum. »Bleib, wie Du bist« signalisiert Jung und Alt, dass sie geschätzt werden für ihr innerstes Wesen, ihre einzigartige Weise, Lebensinn zu gestalten. Sie bestätigen das Geburtstagskind ermutigend und vergnügt in seinem ureigenen Drehen um das, woran sein Herz hängt. Während die alltagspraktischen Imaginationen die qualitative Bestimmung der Sinnmitte offen lassen und deren Füllung dem Geburtstagskind
915
Siehe dazu: HANS JONAS, Fatalismus wäre die Todsünde des Augenblicks. Berliner Ansprache (Juni), in: DIETRICH BÖHLER (Hrsg.), Hans Jonas. Fatalismus wäre Todsünde. Gespräche über Ethik und Mitverantwortung im dritten Jahrtausend, Münster 2005, 53-55.
V.2. Das Repertoire in seiner An-/Ästhetik
253
zugestehen, verkündigen die historischen Bilder Christus und sein Evangelium als Lebensfundament und -inhalt. Die Darstellung der Lebensalter als berufene Arbeiter im Weinberg geht davon aus, dass alle geschaffen sind, den Auftrag Christi zu hören. Ihm zu folgen, eröffnet am Ende seinen – immer gleiche – Gnadenerweis. Ähnlich ist das Bild von den vier Eingängen des himmlischen Jerusalems. Alle Wege durch die Zeit über die Erde führen dorthin. Auch die Vorstellungen vom Generationenpilgerzug bebildern diesen Gedanken. Sie decken die einende Mitte auf: unterwegs zum Christuskind. Er ist ihr innerer Antrieb, ihr Energiezentrum. Wissenschaftliche Modelle zum Glaubenslebenslauf bearbeiten dieses kontinuierliche Kreisen um den Sinn des Lebens nicht als »flache« Spirale. Sie imaginieren spezifisch vertikale Varianten, eine Mischung aus PodestSchichtaufbau und planer Spirale. Damit wollen auch sie zeigen, dass zum Menschsein gehört, eine Mitte zu umkreisen, und verbinden dies mit der universalisierenden Dimension des Glaubens: Was die jeweiligen Theoretikerinnern und Theoretiker gemäß ihrer theologischen Erkenntnis für letztgültig halten, wird als ultimative Schwingung der hochaufgetürmten Spirale zum für alle erstrebenswerten Zustand.916 Die Ästhetik dieser Bilder ist die einende Ausrichtung aller Lebensalter auf eine gemeinsame Sinnmitte. Die Bildwelten berühren sich darin, dass in allen Varianten die Liebe als innerster Kern dieses Zentrums erscheint: In den Geburtstagsgedichten meist personalisiert, in den historischen Darstellungen christologisiert, in den wissenschaftlichen Modellen philosophisch-spiritualisiert. Sie zielen auf die Vereinfachung aller Differenzierungen des Glaubenslebenslaufs, auf die Wesensgleichheit der Menschen trotz Individualisierung, Pluralisierung und Spezialisierung. Die Anästhetik liegt darin begründet, dass dieses Modell Menschen für Sinnkonstrukteure hält und davon ausgeht, dass letztlich jedermann die eine Mitte des Daseins auszuloten versucht. Die Imagination glorifiziert Ganzheit und Synthese. Sie ebnet die Unterschiede der Menschen und im einzelnen Lebenslauf ein.
916
Durch die Kombination mit dem Stufendenken des Podest- und Schichtaufbaus haftet diesen vertikalen Spiralen trotz universaler Ausrichtung eine separierende Ästhetik an: Die Spirale wird von den Individuen erst nach und nach erobert, bis sie alle zu höchsten Erkenntniswindungen erhoben werden.
254
V. Zusammenschau und Konsequenzen
V. 2. 7 Imagination 6: Determinierende Bilder
Determinierende Bilder beleuchten die religiöse Entwicklung von ihrem Ende her, dem Tod als unausweichlicher Bestimmung und seinen vorauseilenden Schatten, der allgegenwärtigen Vergänglichkeit. Die Vorstellungen aus den Geburtstagsgedichten, dass die Zeit des Menschen unaufhaltsam verrinnt wie die Körner einer Sanduhr, wie das Ticken einer mit der Geburt initiierten Uhr, zeigt das Leben als ständiges Abschiednehmen. Wehmut, Sehnsucht und Trauer können ein Geburtstagsgedicht, das eigentlich frohgemut angestimmt ist, umintonieren. Altersgebrechlichkeit ist ein Lieblingstopos der Alltagspoesie. Schon etwa ab dem 30. Lebensjahr dreht sich alles ums Älterwerden und wie ihm zu wehren ist. Der Mensch erscheint eingesperrt in die starren Bedingungen seiner biologischen Uhr. Eine Flucht ist unmöglich. Wann seine Zeit abgelaufen ist, weiß keiner vorauszusagen. Gewiss ist nur, dass sie schwindet. Die mittelalterlichen Bilder vom Tanz der Lebensalter um den todgeweihten Hochbetagten, oder gleich um einen Totenschädel, stimmen mit ein. Sie verbreiten das Vanitas-Motiv, alles ist eitel, oft verbunden – und darin manchem alltagspraktischen Gedicht ähnlich – mit der Pointe »Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot.« (1 Kor 15,32) Sie transportieren auch die Erinnerung an die Worte des 90. Psalms: »Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.« Wissenschaftliche Theorien beschäftigen sich in dieser Hinsicht mit dem Phänomen der »Gerotranszendenz«. Nah am Tod (auch bei jungen Schwerkranken) sei dies eine spirituelle Entwicklung des Menschseins: Ehrlichkeit, Gelassenheit, Weisheit, Güte – einschließlich universalisierender Tendenzen. Religiosität wird in diesem Sinne als Coping-Muster erforscht, als gesundheitsfördernd und – etwas leichtfüßiger – als AntiAging-Mittel bzw. als Pro-Aging-Dimension. Die Ästhetik der Bilder enttabuisiert das unaufhaltsame Vergehen der Individuen und lenkt den Blick auf die verletzliche Körperlichkeit und Leiblichkeit des Menschen. Sie imaginiert die Auseinandersetzung mit dem Sterbenmüssen als entscheidende Aufgabe des Glaubens. Religiöse Entwicklung übt ständiges Abschiednehmen in jedem Alter. Die Anästhetik ist die Verabsolutierung des Todes als letztgültiges Anthropologumenon. Sie vermag, alles Diesseitige zu entwerten. Geburtstagsgedichte, die mit diesem Modell über das Dasein nachdenken, rufen daher oft vehement dazu auf, diese Gedanken rasch beiseite zu schieben und sich dem Leben und der Feier zuzuwenden. Das Leben sei schließlich mehr als nur Vergänglichkeit.
V.2. Das Repertoire in seiner An-/Ästhetik
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V. 2. 8 Das Zusammenspiel der Modelle
Die Glaubenslebenslauf-Imaginationen sind nun im Sinne ästhetischen Denkens (in aller Vorläufigkeit) beschrieben. Jedes einzelne der sechs Modellvorstellungen initiiert sein eigenes, von den anderen unerreichtes Bedeutungsfeld. Zugleich weisen die Bilder aufeinander, manche widersprechen sich, ohne sich vollständig aufzuheben. Sie bereichern sich wechselseitig. Die Zusammenstellung der Modelle mag weitere Ideen evozieren, welche Vorstellungen gut miteinander klingen können oder disharmonieren. Menschen werden auf je eigene Weise unzählige weitere Glaubenslebenslauf-Imaginationen äußern. Die hier beschriebenen mögen die Sensibilität für die Bilder erhöhen – in alltäglichen, seelsorglichen, kirchenleitenden, pädagogischen, wissenschaftlichen Begegnungen. Haben sich Modelle verfestigt, so dass sie den Blick verengen und Prozesse behindern, kann hilfreich sein, sich durch Alternativen von ihnen zu lösen.917 Eine Möglichkeit ist, dynamisch konnotierte mit statischen zu konfrontieren, etwa die ›separierende Treppe‹ mit dem ›zentrierenden Sinnkreisel‹, die ›Individualisierende Lebensreise‹ mit dem ›relativierenden Staubkorn im Universum‹, die ›fragmentierende Koralle‹ mit der ›determinierender Sanduhr‹. Imaginieren und Agieren gehört zusammen. Erweitert sich das Imaginations-, dann erweitert sich auch das Aktionspotential. Dies spezifiziert sich, wenn nun ein Ereignis der Gestaltpraxis des Glaubens einbezogen wird.
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Ein Modell nur zu verwerfen ohne eine Alternative zu haben, die ein neues Denken ermöglicht, ist oft ein sinnloses Unterfangen. Menschen denken in Bildern – solange sie keine alternative Vorstellung haben, bleiben auch vermeintliche Absagen z.B. an wissenschaftliche Stufenmodelle blutleer.
V. Zusammenschau und Konsequenzen
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V. 3
Eine kleine Etüde: Das freie Spiel der Glaubenslebenslauf-Imaginationen zum generationenübergreifenden Abendmahl 918
V.3 Etüde mit Glaubenslebenslauf-Imaginationen zum Abendmahl
V. 3. 1 Intonation und Vorstellung des Themas
Abendmahl und Taufe gelten in der christlichen Kirche als die biblisch begründete sakramentale Zurüstung zur Gestaltung des Glaubenslebenslaufs. Der Empfang der Taufe geschieht im christlichen Menschenleben 919 einmal, der des Altarsakraments kann wiederholt werden. Die Frage nach dem rechtmäßigen Umgang mit Taufe und Abendmahl begleitet die christliche Kirche seit ihren Anfängen.920 Sie stellt sich kir-
918
Der Begriff Etüde bezeichnet musikgeschichtlich etwa seit 1800 das einzelne Instrumental-Übungsstück, das der Ausbildung spieltechnischer und kunstfertiger Fähigkeiten dient. Im 20. Jahrhundert ist eine Preisgabe dieser pädagogischen Bedeutung festzustellen. Das vorbereitende Übungsstück, das schon in den 1830er Jahren bis hin zum virtuosen Vortragsstück für den Konzertgebrauch entwickelt wurde, hat damit einen spezifisch trainierenden Aspekt, der mit konzentrierten Ansprüchen an die keineswegs nur technische, sondern umfassend interpretatorische Kunstfertigkeit der Spielenden verbunden ist. Vgl. MARKUS, Étude/Etüde, in : Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, 17. Auslieferung, Freiburg i.B. 1989/90. Wie Pianisten damit ihr Fingerspiel trainieren, soll im Folgenden anhand eines Themas der Umgang mit der Klaviatur der Glaubenslebenslauf-Imaginationen geübt werden. Im Sinne einer Etüde ist dieser letzte Abschnitt ein probeweises Agieren im Raum der Modellvorstellungen. Dies dient der Einübung – darf aber im Sinne der Kunsttheorie nicht mit der konkreten künstlerischen Gestaltpraxis verwechselt werden! Diese bleibt dem aktuellen Geschehen vorbehalten. Alle theoretischen Überlegungen führen in der tatsächlichen Begegnung mit Menschen in je aktuelle Herausforderungen der Glaubensgestaltpraxis. Theoriemodelle und die Auseinandersetzung mit ihrer Ästhetik und Anästhetik erhöhen die Wahrnehmungsfähigkeit – sie schärfen den Blick, wecken Besonnenheit, d.h. sie legen niemals fest, was jeweils vor Ort, hier und heute zu tun ist. Sie bereiten aber darauf vor, dies zu entscheiden. 919 920
Auf die Thematik des ›Wiedertaufens‹ kann hier nicht eingegangen werden.
Überblickartige Darstellungen zur Genese des generationenübergreifenden Abendmahls, bzw. des Abendmahls mit Kindern finden sich in zahlreichen Arbeitshilfen und Einführungen. Vgl. z.B. GEORG OTTMAR, Mit Kindern Abendmahl feiern. Eine Einführung, in: Ders. (Hrsg.), Mit Kindern Taufe und Abendmahl feiern, Gütersloh 1998, 99ff, EVANGELISCHE LANDESKIRCHE IN WÜRTTEMBERG, Arbeitshilfe: Abendmahl mit Kindern, Stuttgart 32006. Zum neutestamentlichen Hintergrund der Frage des Kinderabendmahls wird oft darauf hingewiesen, dass in Apg 16,15 Lydia sich und ihr ganzes Haus taufen ließ und davon auszugehen sei, dass alle Anwesenden – Jung und Alt – Abendmahl miteinander feierten. Außerdem könne das Abendmahl keinem
V.3 Etüde mit Glaubenslebenslauf-Imaginationen zum Abendmahl
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chenleitenden Gremien und einzelnen Gläubigen, die für sich oder in Verantwortung für andere Glaubenslebenslauf begleiten.921 Die Festsetzung des »passenden« Lebensalters und die Modi der Vorbereitung verlangen sorgsames Abwägen und intensive Überlegungen.922 Die reformatorische Abendmahlspraxis fand die Regelung des IV. Laterankonzils vor, dass ein getaufter Christ erst zu den »anni discretionis« gelangt sein müsse, bevor er die Eucharistie empfangen durfte.923 Diese Jahre der Unterscheidungsfähigkeit waren zwar auf etwa das siebte Lebensjahr datiert, meinten dann aber meist die Delikt- und Beichtfähigkeit, während ein Verständnis der Gegenwart Christi in Brot und Wein und ein würdevoller Umgang mit den Elementen diesen Kindern kaum zugetraut wurden. Die erste Kommunion empfingen sie darum meist erst zwischen zehntem und vierzehntem Geburtstag.924 Dem ging ein Unterricht zum geistlichen Vollzug voraus.925 Diese Praxis übernahm die Reformation im Sinne ihres Bildungs- und Sakramentsverständnisses. Sie band aber die Erstzulassung weder in den Bekenntnisschriften noch in frühreformatorischen Kirchenordnungen an ein bestimmtes Lebensalter. Festgesetzt wurde einzig, dass jedem Empfang des Altarsakraments Vorbereitung und Unterweisung voraus gehen sollten, um Brot und Wein in Ehrfurcht aufzunehmen.926 Dies betraf nicht nur Getauften versagt werden. (Siehe dazu auch Apg 10,15 und Röm 14,14). Auch die neutestamentliche Hochachtung der Kinder wird hierzu herausgearbeitet. 921
Zur Abendmahlsfeier als »höchste Realität des Abendmahls« vgl. GÜNTER BADER, Die Abendmahlsfeier. Liturgik, Ökonomik, Symbolik, Tübingen 1993 und RENATUS HUPFELD, Die Abendmahlsfeier. Ihr ursprünglicher Sinn und ihre sinngemäße Gestaltung, Gütersloh 1935. 922
Dies wird nun für das Sakrament der Taufe nicht weiter ausgeführt, da das generationenübergreifende Abendmahl focussiert werden soll. 923
Bis zum 11. Jahrhundert war die Teilnahme aller Lebensalter am Abendmahl verbreitet. Dann wuchs die Scheu vor der Heiligkeit des Altarsakraments. 924
Vgl. PETER BROWE, Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht, Münster 2003, 102ff. 925
Dies sollte verhindern, dass Kinder aus Unachtsamkeit die Feier entweihen, z.B. Teile der Hostie zu Boden fallen ließen. 926
Mit 1. Kor 11, 17-34 wurde begründet, dass diejenigen, welche unwürdig feierten, das Sakrament zum Gericht empfingen. Unwürdig seien solche, die das Abendmal »ohne wahre Buß und ohne Glauben empfahen«. Vor dem Abendmahl fand darum eine Prüfung und Beichte statt. Im 25. Artikel der Confessio Augustana: »non enim solet porrigi corpus Domini nisi antea exploratis et absolutis. Et docetur populus diligentissime de fide absolutionis, de qua ante haec tempora magnum erat silentium. Docentur homines, ut absolutionem plurrimi faciant, quia sit vox Dei et mandato Dei
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V. Zusammenschau und Konsequenzen
die Erstkommunion: Lebenslange Abendmahlsbildung galt nach reformatorischem Verständnis als wesentliche kirchenleitende Aufgabe!927 In Martin Bucers Konfirmationsagende verdichtete sich die sakramentale Glaubenslebenslauf-Gestaltung nach reformatorischem Verständnis928 pronuntietur.« (»Dann diese Gewohnheit wird bei uns gehalten, das Sakrament nicht zu reichen denen, so nicht zuvor verhort und absolviert seind. Darbei wird das Volk fleißig unterricht, wie trostlich das Wort der Absolution sei, wie hoch und teuer die Absolution zu achten«). Confessio Augustana, XXV De confessione, Von der Beichte. Vgl. Confessio fidei exhibita invictissimo Imeratori Carolo V. Caesari Augusto in comitiis Augustae Anno MDXXX (Die Augsburgische Konfession. Confessio oder Bekanntnus des Glaubens etlicher Fürsten und Städte uberantwort Kaiserlicher Majestat zu Augsburg, Anno 1530), in: Die Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche, herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 21952, 37-137, 97f. 927
Zu schwer waren die Schatten, die die Reformatoren auf dem Abendmahl der römischen Kirche sahen: Magisches Verständnis, Überhöhung der Macht der Zelebranten, als könnten sie Brot und Wein »verwandeln« und damit Menschen höherer göttlicher Ordnung sein. Mit ungetrübtem Blick und klarem Verstand sollten die Christen mündig dem Abendmahl begegnen, als Speise für ihre Seele. (Siehe dazu auch die Formulierungen in der Tetrapolitana 1530, 18. Artikel: De Eucharistia. De hoc venerando corporis et sanguinis Chrisi Sacramento omnia quae de illo Euangelistae, Paulus et sancti Patres scripta reliquerunt, fide optima nostri docent et inculcant indeque singulari studio hanc Christi in suos bonitatem semper depredicant, qua is non minus hodie quam in nouissima illa Coena omnibus, qui inter illius discipulos ex animo nomen dederunt, Cum hanc coenam ut ipse instituit repetunt, verum suum corpus verumque sanguinem suum vere edendum et bibendum in Cibum potumque animarum et vite eterne dare per Sacramenta dignatur ut iam ipse in illis et illi in ipso viuant et permaneant. Unde et in die nouissimo in nouam et immortalem vitam homines resuscitentur. … (Von disem württ bey vnns gelert vnnd gepredigt, wie das von den Euangelisten vnd Paulo furgeschryben vnnd von den haylligen Vättern gehallten, Auch der gemain gottes am nutzlichisten vnnd haylsamsten ist. Nemlich, das der herr wie in seinem letsten Nachtmal allso auch heuttigs tags seinen jungern vnnd glaubigen, wann sy sein haylliges abentmal hallten, laut seiner wortt: Nemend vnd essenndt, das ist mein leyb etc. Trinckent daraus alle, diser Kellch ist das new testamennt in meinem blut etc., in diesem sacrament seinen waren leyb vnnd wares plut warlich zuessen vnnd trincken gipt, zur speyß irer seelen unnd ewigen leben, Das sye in ime vnnd er in inen bleybe. Da her sye dann auch am jungsten tag zu der vnsterbligkait vnnd ewigen seligkait vfferweckt werden.) Confessio Tetrapolitana, in: Martin Bucers Deutsche Schriften, Band 3, hrsg. von ROBERT STUPPERICH, Gütersloh 1969, 35-185, 123-125. Zu solchem Empfang mit der Seele sollte Lernen der Texte mit Erklärungen, das Ablegen einer Art Prüfung und die gemeindliche Abendmahlsunterweisung bereiten. 928
Auf die Geschichte der Konfirmation kann hier nicht eingegangen werden. Einen knappen Überblick bietet HERBERT KOLB, In Gottes Namen. Impulse für eine nachhaltige Konfirmandenarbeit, Heilsbronn 2009, 10f. Siehe auch LUKAS VISCHER, Die Geschichte der Konfirmation. Ein Beitrag zur Diskussion über das Konfirmationsproblem, St. Gallen 1958 und zur Geschichte: WILHELM MAURER, Geschichte der Firmung
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signifikant – auch wenn die Praxis der Konfirmation regional bis ins 19. Jahrhundert unterschiedlich blieb.929 Das Bildungsinteresse der Aufklärung und die Wertschätzung des Pietismus gegenüber lehrhaftem Unterrichten festigte die Verbindung von Konfirmation und erster Teilnahme am Abendmahl. Nun galt die Gleichung ›confirmatio est admissio‹. Der Glaubenslebenslauf hatte die entscheidenden sakramentalen Höhepunkte: Taufe, Konfirmation mit Beichte930 und erstem Abendmahl, fortan regelmäßiger Empfang von Brot und Wein. Ein spezifisches Netz aus verantwortlichen Personen trug die damit verbundenen erzieherischen, pädagogischen Aufgaben: Eltern, Paten, Lehrer und als lebensbegleitender geistlicher Halt, der jeweilige Ortspfarrer. Die gesellschaftlichen Veränderungen des 20. Jahrhunderts mit ihren säkularisierenden und individualisierenden Prozessen lösten dieses soziale Gefüge und seine Prägekraft für den protestantischen Glaubenslebenslauf der Einzelnen vielfach auf. Religiöse Erziehung galt zunehmend als familiäres Hoheitsrecht. Gesellschaftliche Institutionen haben auf Wunsch dienend zuzuarbeiten.931
und Konfirmation bis zum Ausgang der lutherischen Orthodoxie, in : KURT FRÖR (Hrsg.), Confirmatio. Forschungen zur Geschichte und Praxis der Konfirmation, München 1959, 9-38, WILHELM STURM, Aus dem Gespräch über Ursprung und Frühgeschichte der Konfirmation, in: KURT FRÖR (Hrsg.), Confirmatio. Forschungen zur Geschichte und Praxis der Konfirmation, München 1959, 39-42, KARL HAUSCHILDT, Zur Geschichte und Diskussion der Konfirmationsfrage vom Pietismus bis zum 20. Jahrhundert, in: KURT FRÖR (Hrsg.), Confirmatio. Forschungen zur Geschichte und Praxis der Konfirmation, München 1959, 43-73, KARL LINKE, Zur Frage des Konfirmationsalters, in: KURT FRÖR (Hrsg.), Confirmatio. Forschungen zur Geschichte und Praxis der Konfirmation, München 1959, 153-163. Siehe auch KURT FRÖR, Zusammenfassung, in: KURT FRÖR (Hrsg.), Confirmatio. Forschungen zur Geschichte und Praxis der Konfirmation, München 1959, 197-202. 929
Vgl. JÜRGEN JEZIOROWSKI, Fest ohne Kinder, in: VEREINIGTE EVANGELISCH-LUTHERISCHE KIRCHE DEUTSCHLANDS (Hrsg.), Abendmahl mit Kindern, Hamburg 1979, 16-33, 17. 930
Die Debatte um den sakramentalen Charakter der Beichte kann hier nicht ausgeführt werden. Siehe dazu JOSEF HEINRICH LINKE, Luthers Lehre von der Beichte, Erlangen 1942, LEONHARDT FENDT, Luthers Reformation der Beichte, in: Luther 24 (1953), 121–137, PETER ZIMMERLING, Studienbuch Beichte, Göttingen 2009. 931
Vgl. auch SCHWAB, Familienreligiosität, MICHAEL DOMSGEN, Altersbeschränkung am Tisch des Herrn? Warum Kinder vom Abendmahl nicht ausgeschlossen werden dürfen, in: Deutsches Pfarrerblatt 4/2007, 184-189 und zu Familienritualen: KURT SCHORI, Kinder in Familienritualen. Zur kindlichen Erfahrung von Religion in rituellen Prozessen, Stuttgart 2009. Familie hat die entscheidende »Schlüsselstellung als Sozialisationsinstanz« inne. Vgl. MICHAEL DOMSGEN, Eltern- und Familienarbeit, in :
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V. Zusammenschau und Konsequenzen
Seit den 1970er Jahren932 wird in den deutschsprachigen evangelischen Kirchen die Teilnahme von Kindern am Abendmahl diskutiert933 und erprobt.934 Die Diskussion um das Abendmahl mit Kindern zieht ihre Dynamik aus ihrer Schnittstellenposition in verschiedenen Debatten:935 über das MATTHIAS SPENN u.a. (Hrsg.), Handbuch Arbeit mit Kindern – Evangelische Perspektiven, Gütersloh 2007, 245-252, 245. 932
Einflussreich waren Veränderungen der Abendmahlsfrömmigkeit (Kritik an der ausschließlich zelebrierten Dimension der Sündenvergebung). Auf Grund sinkender Gottesdienstteilnahmezahlen wurde intensiv über die Gestaltung von Gottesdiensten debattiert und auch das Abendmahl thematisiert. Besonders die Aspekte Gemeinschaft, Befreiung, Gedächtnis, Dank und Hoffnung wurden neu entdeckt. Das Feierabendmahl beim Kirchentag regte die Diskussionen an. Vgl. OTTMAR, Mit Kindern, 99f. 933
Die Argumente der damaligen Diskussionen spiegeln sich in den Synodenprotokollen der Landeskirchen: Gegen ein Abendmahl mit Kindern wurde angeführt, dass diese die harmatologischen und diakonischen Dimensionen nicht erfassten, das Abendmahl kognitiv nicht unterschätzt werden dürfe, die Wirklichkeit der Gemeinde ein differenziertes Hineinwachsen sinnvoll mache, ihre Teilnahme ein Bruch mit der Tradition darstelle, die Konfirmation an Bedeutung verliere, Kinder durch mangelnde Erkenntnis unwürdig sein könnten (nach 1. Kor 11,17-34) und eine Verlebendigung des Abendmahls an anderen Punkten vorangetrieben werden müsse. Für eine generationenübergreifende Feier wurde angeführt, dass Erleben vor dem Erfassen komme, das Abendmahl ganzheitlich sei und nicht primär auf den Verstand ziele, der Gemeinschaftscharakter des Abendmahls die Abwehr von Kindern ausschließe, mangelndes begriffliches Fassungsvermögen nicht ausschließt, dass die Inhalte erlebt werden, Kinder offen seien für die emotionale Dimension des Abendmahls, das Neue Testament und die Bekenntnisschriften keine Zulassung auf ein bestimmtes Lebensalter nennen, Kinder die Haltung des Empfangens beim Hören und Beten ebenso einnehmen, die Säuglingstaufe keine Einschränkung der Kirchenmitgliedschaft im Vergleich zur Erwachsenentaufe beinhalte, das Abendmahl jedem Getauften offen stehe, die Frage des unwürdigen Empfangs nicht mit dem Lebensalter, sondern mit der Feiergestaltung zusammenhänge, das Evangelium inklusiven Charakter habe, Kinder im christlichen Glauben vollwertig anerkannt sind und auch Erwachsene nicht alle Aspekte des Abendmahls reflektieren können und doch teilnehmen dürfen. Siehe dazu auch ANGELIKA LUTZ, Perspektivenwechsel Abendmahl. Abendmahl mit Kindern – ein theologisch-pädagogischer Diskurs, Münster 2004, 47f. 934
Vgl. auch OTTMAR, Mit Kindern, 99ff, LUTZ, Perspektivenwechsel, 45 und ULRICH WALTER, Kinder erleben Kirche. Werkbuch Kindergottesdienst, Gütersloh 1999, 85. 935
Vgl. EBERHARD KENNTNER, Abendmahl mit Kindern. Versuch einer Grundlegung unter Berücksichtigung der geschichtlichen Wurzeln der gegenwärtigen Diskussion in Deutschland, Gütersloh 31989, 195. Kenntner bietet auch eine Analyse der zentralen praktisch-theologischen Positionen zur Frage. Er verdeutlicht, dass bis in die 1950er Jahre Konsens war, kein Abendmahl mit Kindern zu feiern, weil 1. Kor 11 intellektualisiert wurde, die katechetische Beichte betont war, Kinder im Vergleich zu
V.3 Etüde mit Glaubenslebenslauf-Imaginationen zum Abendmahl
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Verständnis der Konfirmation,936 die liturgischen Bewegungen, die Praxis der Kindertaufe, die exegetische Auseinandersetzung um 1.Kor 11 und die humanwissenschaftlich-psychologisch-pädagogische Forschung.937
Eltern und Älteren defizitär erschienen, die Konfirmation eine wichtige traditionelle Schnittstellenposition zwischen gesellschaftlichem und kirchlichem Leben innehatte und die Nähe zur katholischen Kommunionspraxis gefürchtet wurde. Vgl. a.a.O., 70ff. 936
Dies hängt auch mit der örtlichen Tradition der Konfirmation zusammen: Diese wurde seit der Reformation nach und nach mit der Erteilung des ersten Abendmahls verknüpft. Weil ein Abendmahl mit Kindern dies verändert, bezeichneten die meisten Landeskirchen die Zulassung von Kindern zum Abendmahl daher als »vorläufig«, nur unter Verantwortung der Eltern und der Gemeinde gültig. Erst mit der Konfirmation seien die Jugendlichen eigenverantwortlich zugelassen. Vgl. REINHARD HEMPELMANN, Vergleichende Kommentierung anhand wichtiger Einzelfragen, in : Dokumentation des Comenius Instituts : Abendmahl mit Kindern. Entwicklungen in den Evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik. Dokumentation 1977-1982, Münster 1983, 257-279, 259ff und LUTZ, Perspektivenwechsel, 49. 937
Aus der Sozialisiationsforschung wurde, z.B. bei REINHARD UND ANNE-MARIE TAUSCH, Erziehungspsychologie, Göttingen 61971 angeeignet, dass Kindheit als prägende Zeit zu verstehen sei. Von der Lernpsychologie wurde übernommen: Je unbefangener man an etwas teilnimmt, desto besser erschließt sich dessen symbolische Tiefe. Vgl. ROBERT LEUENBERGER, Theologische Überlegungen zum Kinderabendmahl, in : HANS EGGENBERGER, Abendmahl auch für Kinder? Grundsätzliche Überlegungen, Praxisberichte und Materialien, Zürich 1979, 13-26. Er parallelisiert die Chance des Abendmahls mit der des Betens am Kinderbett und bei Tisch. Er zeigt zudem Probleme bei der Erstbegegnung mit dem Abendmahl im Konfirmationsalter, gerade in der Phase der Rebellion. Kenntner betonte, dass das Kind im Mitvollzug lerne (Vgl. KENNTNER, Abendmahl, 174). Fraas beschrieb, dass das Kind durch Nachahmung von Haltungen affektive Gehalte erlerne. Vgl. HANS-JÜRGEN FRAAS, Religiöse Erziehung und Sozialisation im Kindesalter, Göttingen 21975, 125f. Noch mehr unterstrich dies Oerter: Wo die Erwartung von Kompetenz groß ist, sei die Bereitschaft, sich etwas abzuschauen, groß. Vgl. ROLF OERTER, Moderne Entwicklungspsychologie, Donauwörth 131973, 288. Wiegand erläuterte: Je jünger, desto wichtiger seien Handlungen und nicht Begriffe, hier gingen religiöse und allgemeine Erziehung noch ineinander (diese differenzieren sich erst mit dem begrifflichen Denken). Vgl. WOLFGANG WIEGAND, Religiöse Erziehung in der Lebenswelt der Moderne, Wilhelmsfeld 1994, 274. Mette nannte die Entwicklung des Kindes die Geschichte seiner Entdeckungen und Handlungen, die der Erziehende ermöglicht. Vgl. NORBERT METTE, Voraussetzungen christlicher Elementarerziehung. Vorbereitende Studien zu einer Religionspädagogik des Kleinkindalters, Düsseldorf 1983, 231ff. Grom bezeichnete religiöse Sozialisation ohne Modelllernen defizitär. Vgl. BERNHARD GROM, Religionspädagogische Psychologie, Düsseldorf 52000, 91. Außerdem wurde für die Entwicklung des Selbstkonzeptes des Kindes beklagt, dass, das Bild, welches ein Kind von sich selbst gewinnt, von der Umgebung abhänge. Ablehnung evoziere, dass ein Kind verinnerlicht, dass es als defizitär gilt. Vgl. LUTZ, Pespektivenwechsel, 75-83.
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V. Zusammenschau und Konsequenzen
Seit 1977 die VELKD die Teilnahme von Kindern am Abendmahl unter gewissen Voraussetzungen938 empfohlen hatte und den lokalen, gemeindeleitenden Gremien ein hohes Maß an Entscheidungsfreiheit in dieser Frage zugestanden hatte, verabschiedeten viele evangelische Landeskirchen in ihren Synoden entsprechende Erklärungen.939 Die wesentlichen Argumente scheinen aufgeboten.940 Handreichungen und Praxishilfen stehen zur Verfügung.941
938
Vgl. GENERALSYNODE DER VELKD, Beschluß am 28.10.1977 und Handreichung zur Teilnahme von Kindern am Heiligen Abendmahl, in: Texte aus der VELKD Nr.1/1979, 1-8. Der Teilnahme sollte eine altersgemäße Unterweisung vorangehen. Die Kinder sollten von einer erwachsenen Bezugsperson begleitet werden. Abendmahlsfeiern ausschließlich für Kinder sollte es nicht geben. 939
Vgl. RAT DER EKD, Das Abendmahl. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis des Abendmahls in der evangelischen Kirche, Gütersloh 52008, 54f. 940
Vgl. DOMSGEN, Altersbeschränkung. Er referiert die zentralen historischen Etappen, die wichtigsten theologischen Argumente (Gnadengeschenk der Sakramente, ein-Leib-Gemeinschaftsverständnis, 1.Kor 11 als Kritik am Feierverhalten Wohlhabender, nicht als Wettbewerb intellektueller Unterschiede und Fülle des Abendmahlsverständnisses) und zentrale pädagogische Perspektiven (frühkindliche Erfahrungen prägen, Tun geht Denken voraus, Kinder lernen durch Beobachten). Er plädiert für die Wertschätzung und Unterstützung der Familien als religiöse Lernorte. Kinder seien Gegenwart, nicht nur potentiell zu überwindende Phase einer Gemeinde. In zahlreichen weiteren Publikationen sind die Argumente aufbereitet, z.B. auch LEUENBERGER, Theologische Überlegungen und WALTER NEIDHART, Psychologische Überlegungen zum Kinderabendmahl, in: HANS EGGENBERGER, Abendmahl auch für Kinder? Grundsätzliche Überlegungen, Praxisberichte und Materialien, Zürich 1979, 27-36. 941
Exemplarisch: OTTMAR, Mit Kindern, 99ff, THEOPHIL SCHUBERT, Kurs für Kinder und Eltern zur Vorbereitung auf das Abendmahl, in: HANS EGGENBERGER, Abendmahl auch für Kinder? Grundsätzliche Überlegungen, Praxisberichte und Materialien, Zürich 1979, 65-70, HANS-JÜRG STEFAN, Vorbereitung mit allen Beteiligten, in: HANS EGGENBERGER, Abendmahl auch für Kinder? Grundsätzliche Überlegungen, Praxisberichte und Materialien, Zürich 1979, 71-80. Liturgische Hilfen, ausgearbeitete Gottesdienstentwürfe finden sich ebenfalls zahlreich. Vgl. z.B. MARTIN LIENHARD, Mit Kindern Abendmahl feiern, Modelle – Reflexionen – Materialien, München 1978, GEORG-HINRICH HAMMER, Kinderabendmahl, in: HORST NITSCHKE, (Hrsg.), Abendmahl, liturgische Texte, Gesamtformulare, Predigten, Feiern mit Kindern, neue Formen, Besinnungen, Gütersloh 1977, 94f, KONSTANZE KEMNITZER, Bausteine für einen Abendmahlsgottesdienst mit Kindern, in: Diakonisches Werk der EKD (Hrsg.), »Kommt, esset und trinket!« Gib uns unseren täglichen Fisch, Werkheft Jubiläumsprojekt »Abendmahl-Teller« aus Papua Neuguinea, Stuttgart 2008, 28-29.
V.3 Etüde mit Glaubenslebenslauf-Imaginationen zum Abendmahl
263
Das altersunabhängige Abendmahl ist zum Prüfstein der Praxis in den Gemeinden geworden,942 die immer wieder zu Diskussionen Anlass gibt.943 Mancherorts prallen die Meinungen nicht mehr laut und strittig aufeinander,944 weil die Form ihren lokalen Usus gefunden hat.945
942
Die Gestaltweisen sind verschieden: Manche bieten an, dass das Kind mit an den Altar kommen darf und dort einen Segen empfängt, während die anderen Brot und Wein empfangen, oder dass das Kind nur Brot empfängt und statt Kelch einen Segen, oder tatsächlich beide Gaben, wobei dann ein alkoholfreies Getränk ausgegeben wird, etc. Siehe auch OTTMAR, Mit Kindern, 99f. 943
Vgl. exemplarisch: Abendmahl mit Kindern. Diskussionspapier für einen Gesprächsprozess in der Ev.- Luth. Landeskirche Sachsens (Vorlage TA/BEA zur Herbsttagung der Ev.-Luth. Landessynode Sachsens im November 2010) http://www.evlks.de/doc/DS_90_Abendmahl_mit_Kindern.pdf (21.6.2012). Hier werden als aktuelle Probleme beschrieben, dass in vielen Gemeinden die Mitarbeitenden, die sich in den 1980er Jahren für die Verbreitung des Abendmahls mit Kindern engagierten, nicht mehr da sind und personelle Veränderungen dafür sorgen, dass auch in Gemeinden, die das generationenübergreifende Abendmahl eingeführt hatten, die Debatte wieder aufflammt und die Gestaltung diskutiert wird. Mancherorts führe dies auch dazu, dass die gestalterischen Konsequenzen des Abendmahls mit Kindern kaum mehr beachtet werden, weil die Verantwortlichen prinzipiell dagegen sind, die Teilnahme aber nicht verhindern. Außerdem erschwere auch die Strukturreform der Landeskirche den Umgang, da Gemeinden zusammengelegt würden, die in dieser Frage nicht einheitlich agieren. Das pädagogische Programm zur Unterweisung der Kinder im Abendmahl sei zudem durch die mobile Gesellschaft zunehmend erschwert. Außerdem verunsichere die gestiegene Kenntnis der Praxis in anderen Ländern und Konfessionen. Manche Gemeinden konstatieren durch mangelnde Unterweisung und Kenntnis einen unwürdigen Umgang mit den Abendmahlsgaben durch kleine Kinder und deren Eltern. Insgesamt sei auffällig, »dass die Kritik an der bisherigen … Regelung zum Abendmahl mit Kindern aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommt: Einerseits spielen ›christlich-liberale‹ Motive eine Rolle, von denen her kirchlich-rechtliche Festlegungen generell problematisiert und alle religiösen Entscheidungen allein als private und familiäre Festlegungen gesehen werden. Andererseits geht es um die eher ›christliche-konservative‹ Sorge um die kirchliche Tradition und um die Einheitlichkeit kirchlichen Handelns, die durch die gegenwärtige Praxis des Abendmahls mit Kindern ausgelöst wird.« A.a.O., 2. 944
Vgl. LUTZ, Perspektivenwechsel, 3. Sie berichtet, dass die Diskussion von den Kindergottesdienst-Verantwortlichen eher mühsam wach gehalten wird. Ernüchterung scheint eingekehrt. 945
Manche bieten schon im Grundschulalter eine Abendmahlsunterweisung und von da an ein allen offenes Abendmahl. Vgl. MARTIN HINDERER, Konfirmandenunterricht in zwei Phasen, in : SPENN, Handbuch, 263-270, 264. KU3/KU4 gilt als »Chance für die religiöse Sozialisation«. A.a.O., 266. Doch auch Widerstand gegen dieses Abendmahl artikuliert sich in mancher lokaler Gestaltpraxis, z.B. wenn eine Gemeinde am ersten Abendmahl bei der Konfirmation festhält und die Sakramentsfeier auf die Sünden-
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V. Zusammenschau und Konsequenzen
Befürworter wie Skeptiker halten derzeit fest: Die Teilnahme ist im Blick auf das Lebensalter nicht völlig freigegeben und -gebbar. Sie ist für einen Zeitpunkt vorgesehen, an dem eine erste pädagogische Unterweisung in das Abendmahl möglich erscheint.946 Dabei ist meist an die Grundschulreife gedacht. In manchen Landeskirchen zeichnet sich ab, dass für dieses Lebensalter ein neuer Ritus des »Evangelischen Erstabendmahls« etabliert wird: im Rahmen kirchlicher Vorschularbeit, als Einführungskurs für den Familiengottesdienst zur Einschulung oder als Höhepunkt während des ersten Schuljahres in der Osterzeit.947 Im Mittelpunkt der Konfirmation (als Festgottesdienst, meist weiterhin mit Abendmahl) steht dann das altersgemäße Bekenntnis auf der Grundlage einer prozessualen Einführung in den christlichen Glauben und die Gemeinde, der Segen der einzelnen für ihr weiteres Leben und ihren Glauben, sowie die Übertragung einzelner kirchlicher Rechte.948 V. 3. 2 Variation mit Imagination 1: Inszenierte Rebellion
Im Licht separierender Modellvorstellungen wie Lebenstreppe, Podestaufbau und Schichtdiagramme, Baum in vier Phasen, an- und absteigender Kurve erscheint das altersgruppeneinende Abendmahl als Rebellion gegen gesellschaftliche, soziale Strukturen, gegen biologische, medizinische, psychologische, naturwissenschaftliche Beobachtungen und gegen theologische Thesen, die die Differenzierung der Lebensalter für gottgewollte Schöpfung halten. Sie ist ein Gegenritual zu einer segmentierten Gesellschaft, die von Kindheit an trainiert, in zugewiesenen Räumen zu leben. Sie trägt die
vergebung konzentriert mit einer vorangestellten Gemeindebeichte. In diesem Umfeld kommt die Frage nach einer Feier mit Kindern oft nicht einmal zur Sprache. 946
Vgl. http://www.evlks.de/doc/DS_90_Abendmahl_mit_Kindern.pdf (21.6.2012), 2. Dies trennt die Entscheidungen zum Abendmahl mit Kindern von jenen um die Teilnahme von Schwerstbehinderten. Beide Themenkomplexe hatten sich lange Zeit überschnitten. Die Regelung, Abendmahl in einem Alter nach frühstmöglicher Unterweisung auszuteilen, stellt außerdem vor die Notwendigkeit, Eltern, die ihre Hostie mit einem Kleinkind oder Säugling während der Feier teilen, auf die notwendige Abendmahlsschulung hinzuweisen – und das Kleinkind fortan nicht zuzulassen, bis diese geschehen ist. 947
»Die Lebensschwelle des Eintritts der Kinder in die Schulzeit und damit in eine größere Gemeinschaft sollte bei all diesen Varianten im Blick bleiben.« http://www.evlks.de/doc/DS_90_Abendmahl_mit_Kindern.pdf (21.6.2012), 3. 948
Vgl. http://www.evlks.de/doc/DS_90_Abendmahl_mit_Kindern.pdf (21.6.2012), 4.
V.3 Etüde mit Glaubenslebenslauf-Imaginationen zum Abendmahl
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Sehnsucht nach Koinonia und der Hoffnung auf die Überwindung aller anthropologischer Unterschiedlichkeit, nach Gal 3,28 in sich. Je überzeugter in einer separierenden Imagination gedacht wird, die Trennungen nach Altersstufen ausfeilt, desto riskanter erscheint das Vorhaben des Abendmahls mit allen. Denn aus der Modellperspektive ›Lebenstreppe‹ mit ihrer gliedernden, sorgsam die Merkmale der Lebensphasen beschreibenden Ästhetik, wiegen die altersspezifischen Bedürfnisse schwer. Ein gemeinsames Abendmahl kann dann nur gelingen, wenn Unterweisung die einzelnen Lebensalter vorbereitet. Außerdem ist innerhalb der Feier darauf zu achen, dass jedem Lebensalter Erfahrungsräume geöffnet werden und nicht nur das »unterste Niveau«, d.h. in dieser Modellvorstellung, die Frömmigkeit der Kinder, wie die der Hochbetagten, bedient wird. Das generationenübergreifende Abendmahl kann aus dem Blickwinkel der Lebenstreppe nur eine Sonderform als Versöhnungszeichen neben spezialisierten Feierformen sein, die den einzelnen Gruppen gerecht werden können.949 V. 3. 3 Variation mit Imagination 2: Antizipation der Ewigkeit
Die individualisierende Imagination, die den Menschen ›von der Wiege bis zur Bahre‹ auf seinem unvergleichlichen Reiseweg sieht, beleuchtet das Beieinandersein der Individuen bei einem Abendmahl, das alle in seinen Kreis schließt, als besonderen Kairos: Er führt einzigartige Biographien zusammen. Nach der Begegnung der Glaubenslebensläufe im Ritual des Altarsakraments werden sich die Beteiligten trennen und ihre eigenen Wege weiter gehen. Keiner vermag zu sagen, wann sie sich wiedersehen, ja ob überhaupt, die Anwesenden erneut Abendmahl feiern. All den individualisierten Glaubenslebensläufen ist in dieser Imagination nur Eines gemeinsam: Das Ziel der Ewigkeit, das zukünftige Abendmahl bei Christus in seinem himmlischen Reich. Dies ist das einzige Motiv, das in jeder Feier die Wanderer auf ihrem Reiseweg innerlich verbindet.
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Z.B. Feierabendmahl fokussiert auf junge Erwachsene; besonders festliches Abendmahl zur Konfirmation, in Musik und Würde dem gesellschaftlichen Kasus des Übergangs von Kindheit zu Jugend angepasst; stille Sündenvergebungsfeier, orientiert an den Bedürfnissen Belasteter und nach alten Traditionen sich sehnender (alter) Menschen – explizit ohne Kinder, damit die Konzentration gewahrt bleiben kann; etc. Dass diese einzelnen Feste dann auch von anderen Lebensaltern besucht werden, ist so weit flexibel zu handhaben, wie ihre Teilnahme den Charakter der Ausprägung nicht stört.
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V. Zusammenschau und Konsequenzen
Aus dieser Modellperspektive erhält das Abendmahl aller Lebensalter eine genuin eschatologische Zuspitzung. In Respekt vor den einzigartigen Lebensgeschichten ist keinem der anwesenden Generationen ein bestimmtes Gottes-, Welt- und Selbstbild zuzuschreiben – zu verschieden sind Erfahrungen, Haltungen und Denken. So bleibt, das aktuelle Erleben, mit anderen die Hostie zu empfangen und den Kelch zu teilen, durch Sprache in Voten und Liedern zu weiten auf die Hoffnung des himmlischen Abendmahls, das nach seinem Anfang ohne Ende sein wird. Die Verkündigung der Auferstehung Jesu und die an ihn geknüpfte Sehnsucht auf ein Wiedersehen nach dem Tode, die Vergegenwärtigung jener überzeitlichen Gemeinschaft im Geiste des Altarsakraments kann von dieser Imagination aus ein wesentlicher Gedanke der Unterweisung und der Liturgie sein. Der Traum vom himmlischen Horizont vermag auch die seelsorgliche Anteilnahme für die einzelnen Biographien und ihre Schicksale zu beflügeln.950 V. 3. 4 Variation mit Imagination 3: Bergendes Ritual
Von der Vorstellung her, dass der Glaubenslebenslauf korallenartig west, in unvorhersagbarer Weise mal hier mal dort aufblüht, an anderer Stelle verdorrt und wiederum genau hier Jahre später vielleicht plötzlich weitertreibt, ist das altersunabhängige Abendmahl das Zusammentreffen bruchstückhafter Identitäten. Sie alle stehen an verschiedenen Punkten ihres Lebens – selbst, wenn sie auf den Tag gleich alt wären. Ihre Vergangenheit ist Stückwerk, ihre Gegenwart ein Panoptikum verschiedenster Facetten, die Zukunft ein dunkler Spiegel mit schwachen Projektionen. Die Feier steht vor der Sorge, wie sie all diese fragmentarischen Identitäten in einem Ritual bergen kann. Die Kraft der Liturgie muss nach diesem Modell darin liegen, die Einzelnen – wann auch immer sie das Aufblühen eines Korallenastes ihres Glaubenslebenslaufs an den Altartisch zum Empfang des Abendmahls führt –, durch die Klarheit der ritualisierten Abläufe zu stabilisieren. Deutliche Gesten, wiederkehrende Worte und Lieder und ein symbolischer Kernbestand konstituieren eine abendmahlseigene Ästhetik, die jenseits aller Lebensalter Menschen jederzeit in seiner Schönheit beheimaten kann. Die Ästhetik der fragmentierenden Imagination scheut vor jeglicher Vollständigkeitsideologie für den Einzelnen zurück. Sie setzt nicht darauf, dass Menschen einen spirituellen Habitus mitbringen und ausbauen können. Umso eindeutiger muss die Abendmahlsgestaltung sein, mitvoll950
Selten erreichen sorgsam ausgewählte Bibelworte Seelen so unmittelbar wie im Empfang der Gaben des Altarsakraments.
V.3 Etüde mit Glaubenslebenslauf-Imaginationen zum Abendmahl
267
ziehbar beim ersten und bei jedem weiteren Mal, damit sich seine haltgebende Kraft auch von den unterschiedlichsten Schwächen und Stärken her erschließen kann. Je mehr der Einzelne als Fragment gedacht wird, desto wichtiger erscheint die Sorgfalt im Blick auf die rituellen Dimensionen der Abendmahlspraxis. Im Sinne dieser Imagination ist darauf zu drängen, dass die Experimentierphase der Einführung des Abendmahls mit Kindern in die Ausbildung einer entsprechenden soliden Agende mündet, die Halt und Wiedererkennbarkeit der Sakramentsfeier sichert. Kreative Ausgestaltung vor Ort kann sich dann an diesem verbindlichen Bestand orientieren und auf diese Weise den Teilnehmenden trotz ihrer hohen Fluktuation und Mobilität vertraut sein. Im Sinne der Modellvorstellung vom Glaubenslebenslauf kann das Abendmahl in der Gemeinde eine stete Unterweisung begleiten, da in jedem Lebensalter Interesse aufkommen kann, mehr über das Geschehen zu erfahren und solche Anleitung nicht nur Kindern und Jugendlichen angeboten werden sollte. V. 3. 5 Variation mit Imagination 4: Eucharistische Demut
Die Vorstellung von der Unendlichkeit des Universums, die allen Glaubenslebenslauf relativiert, wirft auf das jeweilige Zusammentreffen der »Staubkörner Mensch« bei einem generationenvereinenden Abendmahl ein spezifisch eucharistisches Licht: Wie die Existenz jedes Einzelnen, so erscheint auch ein solches Beieinandersein am Altar als unendliche Gnade in der Grenzenlosigkeit des Alls. Dieses Modell beeinflusst die Haltung gegenüber der Feier und allen Beteiligten. Es führt in die Demut angesichts der weiten Welt und in Dankbarkeit für die eigene und fremde Existenz. Freude am Leben und aneinander erscheint als zentrale Dimension jenes alle einschließenden Abendmahls in diesem Licht: ob jung oder alt, wer bereit ist, mag sich an der Nähe der anderen erfreuen. Die Mitfeiernden verhindern das beklemmende Gefühl der Verlassenheit; es kann ein Herz befallen, das sich nachts ins Nichts, in die Einsamkeit stürzen sieht.951 Brot und Wein erschließen sich in dieser Imagination als Schöpfungsgaben. Das gemeinsam gebetete Vaterunser umgreift alle Lebensalter in den ihnen gemeinsamen Bedürfnissen.
951
Fowlers Buch zum Glaubenslebenslauf begann mit der Schilderung solchen nächtlichen Erwachens. Sie findet sich auch in Rilkes Gedicht »Herbst des Einsamen«.
268
V. Zusammenschau und Konsequenzen
Das generationenübergreifende Abendmahl erscheint in diesem Licht als Feier der Geschöpfe, die sich aneinander und an den Gaben dieser Welt freuen und ihren Blick auf den richten, der alles in Händen hält. V. 3. 6 Variation mit Imagination 5: Zentrierende Liebe
Im Licht der zentrierenden Imaginationen erscheint dieses Abendmahl als eine Feier von Individuen, die um ihre persönliche Sinnmitte kreiseln. Das Abendmahl zelebriert für alle das gemeinsame Zentrum: Liebe. Diese Liebe strahlt in vielen Nuancen. Sie wird in Christi Gabe sichtbar. Sie stiftet Versöhnung mit Gott und untereinander. Die einen loten diesen Mittelpunkt christologisch aus, andere verknüpfen damit ethische Wertvorstellungen für ein gutes Miteinander, wieder andere richten sich pneumatologisch darauf aus, dass sie vom Heiligen Geist erfüllt werden. Manche sind auf persönliche Beziehungen hin orientiert, manche führt die Liebe als Anstoß gedanklich über ferne Grenzen hinaus. Die Imagination inspiriert dazu, die Anwesenden, unabhängig ihres Lebensalters, in ihrer Suche nach sinnstiftender Liebe zu erkennen und dies in der Durchführung aufzugreifen in Gesten und Worten bis hin zum einfühlsamen Gebet. Das zentrierende Modell des Glaubenslebenslaufes geht davon aus, dass jeder auf seine Weise und zu seiner Zeit dem Ruf Christi folgt. Das Abendmahl gibt dieser Stimme Raum und dient der Herzensstärkung: Bei diesem Geschehen, besonders deutlich, wenn sich die Teilnehmenden zu einem Kreis ordnen, erblicken Altgewordene Grundschulkinder, Junge, die Orientierung suchen, erkennen Frauen, Mütter, Männer, Väter, die mitten im Leben stehen und es gemeistert haben, geachtet sind, in ihren Berufen Anerkennung und eine gewisse Meisterschaft erlangten. Unausgesprochen können sich in diesem Ring um den sakramentalen Christus Trost und Ermutigung von Generation zu Generation hin ereignen. Jeder und jede kann zugleich in Projektion der anwesenden Lebensalter seinen persönlichen Glaubensweg in der Bindung an Christi Impuls der Liebe bergen. V. 3. 7 Variation mit Imagination 6: Memento mori
Aus der Perspektive der determinierenden Imaginationen durchdringt das Abendmahl mit Menschen jeden Alters der große Ernst des Memento mori. Keiner der Anwesenden weiß zu sagen, wie nahe das eigene Ende und das der anderen ist. Alte Menschen signalisieren dies bei der Feier manchmal durch ihre sichtbare Gebrechlichkeit – doch auch die anderen, jung, stark, blühend, sind bedroht von einem bösen, schnellen Tod. Diese Sicht legt Gewicht darauf, dass dieses Feiern, wie entfernt oder nah die Teilnehmenden dem Alter sind, Gedächtnis an Jesu Sterben am Kreuz und an seine Auferstehung ist. Alle konfrontiert das eigene Ster-
V.4. Fazit
269
benmüssen. Hinzu tritt das Versprechen, dass in Jesus Christus die Hoffnung auf Errettung liegt. Die Memento-mori-Dimension schwingt besonders mit, wenn Hochbetagte mitfeiern. Dieser Gedanke führt zu einer sensiblen Gestaltung der Liturgie im Blick auf körperliche Schwächen, besonders bei der Austeilung der Abendmahlsgaben, damit nicht, während andere unbeschwert zelebrieren, das bittere Bewusstwerden der eigenen Hilfslosigkeit und Unbeweglichkeit Freude vergällt. Sie ermutigt dazu, davon auszugehen, dass alle Lebensalter davon profitieren, wenn die Feier auf die Ältesten hin gestaltet wird – weil sich in ihrer Todesnähe die eigene spiegelt und im sorgsamen Umgang mit ihnen Einfühlsamkeit eingeübt und Respekt gewahrt werden kann. V. 3. 8 Schlussakkord
Die Glaubenslebenslauf-Imaginationen beleuchten das Generationen einladende Abendmahl auf je eigene Weise. Sie inspirieren zu praktischen Folgerungen, die vor Ort die Gestaltung der Verantwortlichen und Beteiligten bestimmen. Sie helfen, überlegte Entscheidungen und feste Formen zu begründen. Sie leiten an, das Phänomen der gemeinsamen Feier aller Lebensalter in seinen Anforderungen wahrzunehmen im Blick auf sein gesellschaftskritisches Potential, seine eschatologische Ausrichtung, seine festen Ritualbestände, seine eucharistische Demut, seinen Ruf zur Liebe und seine Sensibilität für die Endlichkeit und Verletzlichkeit aller Mitfeiernder.
V. 4
Fazit
V.4. Fazit
Jede Glaubenslebenslauf-Imagination hat ihre spezifische Ästhetik und Anästhetik. Das bewusste Jonglieren mit verschiedenen Bildern öffnet neue Denk- und Handlungsoptionen. Keines führt direkt zu einer Praxis, wie christliche Religiosität individuell und in Gemeinschaft geformt wird. Doch das Fluidum der Modellvorstellungen beeinflusst die Glaubensgestaltung. Das Nachdenken in Religionspädagogik952, Jugendarbeit, Erwachse-
952
In der Religionspädagogik mag die Erkenntnis, dass alle Theorien religiöser Entwicklung nur Modellvorstellungen sind, die bildhaft Aspekte betonen und andere verdecken, dazu führen, den kritischen Umgang mit ihnen frühzeitig zu trainieren und mithilfe von Imaginationen-Wechseln in religionspädagogischen Debatten neue Perspektiven zu erkunden, damit sich Vorstellungen von Lebensaltern und ihren religiösen Vermögen nicht verhärten – im Blick auf Schülerinnen und Schüler wie auf Lehrpersonen. Dann kann öfter gelingen, den Inhalten des christlichen Glaubens
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V. Zusammenschau und Konsequenzen
nenbildung, Seelsorge etc. mag sich davon inspirieren lassen und – wenigstens hin und wieder – neben dem (noch) allgegenwärtigen stufenartigdynamischen Denken auch andere Imaginationen erproben, auf der Suche nach zukunftsweisenden Ideen für die vielfältigen Begegnungen mit Menschen in ihren Glaubenslebensläufen. Solche »postmoderne« Freiheit mag der protestantischen Theologie ohnehin besser anstehen als die 953 Fixierung auf lineare, am Paradigma des Fortschritts orientierte Modelle.
in partnerschaftlicher Auseinandersetzung zu begegnen, ohne eine Strategie vermeintlich denkbarer Zugewinne an Religiosität und Gottesverständnissen. 953
Siehe dazu die Erläuterungen von Wolfgang Steck, dass der Protestantismus langsam erkennt, dass die Wirklichkeitsoptik der Postmoderne seinem Wesen entspricht, besonders im Blick auf sein Verständnis von Identität als Fragment, bleibender Erlösungsbedürftigkeit, wider Systeme mit Totalitätsanspruch. Vgl. STECK, Bd.1, 209ff, 215. Postmoderne meint dabei weniger »eine aus der Moderne gewendete und sie außer Kraft setzende Epoche, sondern vielmehr … eine aus der Moderne selbst hervorgegangene und mit ihr aufs engste verbundene Entwicklungstendenz. … Insofern stellen sich die postmodernen Reformulierungen traditioneller theologiescher Theorieparadigmen als Ausdrucksformen einer in der bürgerlich-neuzeitlichen Reflexionskultur verankerten theologischen Theorietradition dar.« A.a.O., 216.
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VERZEICHNIS DER INTERNETSEITEN MIT GEBURTSTAGSGEDICHTEN www.geburtstag-gedichte.com (Zugriff vom 17.10.2011 bis 21.10.2011) www.geburtstagswünsche.net (Zugriff am 11.03.2011) www.geburtstagswünsche.net (Zugriff am 11.3.2011) www.geburtstagsvorlagen.de (Zugriff am 11.3.2011) www.geschenke.de (Zugriff am 11.3.2011) www.confetti.de (Zugriff am 12.3.2011) www.gedichte-fuer-alle-faelle.de (Zugriff vom 12.03.2011 bis 26.9.2011) www.verseschmiede.com (Zugriff am 17.10.2011) www.kindergeburtstag.ws (Zugriff am 18.10.2011) www.festtagsgedichte.de (Zugriff am 20.10.2011) www.geburtstag-abc.de (Zugriff am 20.10.2011) www.geburtstags-feste.de (Zugriff vom 07.04.2011 bis 20.10.2011) www.geburtstagsgedichte.org (Zugriff am 20.10.2011). www.geburtstagsspiel.ws (Zugriff vom 18.10.2011 bis 20.10.2011) www.geburtstagsspruch.de (Zugriff vom 18.10.2011 bis 20.10.2011) www.geburtstagsspruch.de (Zugriff vom 18.10.2011 bis 20.10.2011) www.passende-gedichte-finden.de (Zugriff am 20.10.2011) www.christenload.com (Zugriff vom 20.10.2011 bis 21.10.2011) www.christliche-gedichte.de (Zugriff am 21.10.2011) www.grusskarten-e-cards.de (Zugriff vom 01.10.2011 bis 30.10.2011)
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VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN Abb. 1 und Abb. 2: Haeckels ›Baum-Imaginationen‹,1866 und 1874, Schemazeichnungen von Helmut Herzog zu Haeckels »Stammbaum der Säugethiere mit Inbegriff des Menschen« von 1866 und Haeckels »Stammbaum des Menschen« von 1874, graphisch zitierend nach JULIA VOSS, Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie 1837-1874, Frankfurt a.M. 2007, 159 und 161 Abb. 3 und Abb. 4: ›Lebenstreppe‹ der Frau und des Mannes, Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach: Bilderbogen »Das Stufenalter der Frau«, http://www.dhm.de/ausstellungen/lebensstationen/1_178.htm (25.62012), Bilderbogen »Die Stufenalter des Mannes«, http://shop.billerantik.de/products/ExclusiveMotive/Stufenalter-des-Mannes-Lebensalter-Lebensrad-Geburt-Ehe-Tod-LebensradExz-3.html (25.6.2012) Abb. 5 und Abb. 6: ›Geschichtetes Diagramm‹ nach Paul/RMS-Tabelle von OSER/GMÜNDER, Der Mensch 1992, 180, Figur 15 und FRIEDRICH SCHWEITZER, Le6 bensgeschichte 2007, 210, Abb.13 Abb. 7 : ›Fowlers Spirale‹, Schemazeichnung von Helmut Herzog graphisch zitierend nach FOWLER, Stufen, 306 Abb. 8 : ›Küstenmachers Ich/Wir-Pendel-Spirale‹,Schemazeichnung von Helmut Herzog graphisch zitierend nach KÜSTENMACHER/HABERER, Gott, 37 Abb. 9 : ›Wilbers Spirale‹, Schemazeichnung von Konstanze Kemnitzer graphisch zitierend nach WILBER, Eros, 152 Abb. 10 und Abb. 11: ›Koralle‹, Schemazeichnungen von Helmut Herzog graphisch zitierend nach Darwins Diagramm von 1837 aus Notebook B und Diagrammskizze von Darwin zu den Nage- und Beuteltieren abgedruckt bei VOSS, Darwins Bilder, Bildtafeln ab 145 Abb. 12: ›In fester Schöpfungsordnung‹, Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Oxford, St. John’s College, ms. 17 (»Ramsey Computus«), fol. 8r, »Byrhtferth’s Diagram«, Photo: British Library, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, 34, Abb. 10 Abb.13: ›In weiser Segenshand‹, Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Paris, Bibliotheque Nationale, ms. fr. 9220 (Vrigiet de solas”), fol. 16r Tree of Wisdom. Photo: Bibliotheque Nationale abgedruckt bei SEARS, Ages of man, 34, Abb. 84 Abb. 14 und Abb. 15: ›heilsgeschichtliche Epochen‹, Schemazeichnungen von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Vienna, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 2739, fol. 4v Noah, the third hour, and adolescentia. Photo: Österreichische Nationalbibliothek, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 26 und nach nach Vienna, Österreichische Nationalbibliothek, cod. 2739, fol. 12v Christ, the eleventh hour, and etas decrepita. Photo: Österreichische Nationalbibliothek, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 29
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Abb. 16: ›Wasserkrüge zur Verwandlung/Canterbury‹, Schemazeichnung von Konstanze Kemnitzer, graphisch zitierend Canterbury, Kathedrale, Nord-Chor, Das Wunder von Kana, die sechs Lebensalter der Welt und die sechs Lebensalter des Menschen. Foto: National Monuments Record, London, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 18 Abb. 17: ›Wasserkrüge zur Verwandlung/Bible moralisée‹, Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Toledo Cathedral (Bible moralisée), Vol. III, fol 21r, upper right, the six hydriae and the six ages, Photo: Foto Mas, Barcelona, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 20. Abb. 18: ›Berufen in Christi Weinberg/Parma‹, Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Benedetto Antelami Parma, Taufkapelle, rechte Säule des Westportals, Gleichnis der Arbeiter im Weinberg, Photo: Convey Libary, Courtauld Insitute of Art, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 30. Abb. 19: ›Berufen in Christi Weinberg/Stavelot Bibel‹, Schemazeichnung von Konstanze Kemnitzer, graphisch zitierend nach London, British Library, ms. Add. 28106 (»Stavelot Bible«), fol. 6r, Genesis initial. Photo: British Library, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 25 Abb. 20: ›Generationenpilgerzug zum Christkind/Psalter‹, Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Bibl. fol 23 (»Stuttgarter Psalter«), fol. 84r, die drei Magier, Photo: Bildarchiv Foto Marburg, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb.31 Abb. 21: ›Generationenpilgerzug zum Christkind/Altar‹, Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Klosterneuburger Altar, die drei Weisen von Nicholas von Verdun, Photo: Chorherrenstift Klosterneuburg, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 32 Abb. 22: ›Kampf mit dem Teufel/Mai‹, Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Madrid, Biblioteca Nacional, cod. Vit. 24-3 (Book of Hours), p.7, ein böser und ein guter Mann im Fünften der zwölf Lebensalter (Mai), Photo: Biblioteca National, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 58 Abb. 23: ›Kampf mit dem Teufel/Dezember‹, Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Madrid, Biblioteca Nacional, cod. Vit. 24-3 (Book of Hours), p.14, ein böser und ein guter Mann im letzten der zwölf Lebensalter (Dezember), Photo: Biblioteca National, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb.59 Abb. 24: ›Kampf mit dem Teufel/Gedichtillustration‹, Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach London, British Library, ms. Add. 37049, fols. 28v-29r, »Of the Seuen Ages«, Photo: British Library, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 81 Abb. 25: ›Totentanz um den Decrepitus‹, Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Minneapolis, University of Minnesota, Fames Forder Bell Libary, 1400/f Ba (Bartholomaeus Anglicus, De propretatibus rerum in French translation) not foliated, seven ages of man and death, Photo: James Ford Bell Library, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 75 Abb. 26: ›Tanz der Lebensalter«, Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Baltimore, Walters Art Gallery, ms.171 (Dirc van Delf, Tafel van den Kersten Gehlove), fol. 30r, the seven ages of man. Photo: Walters Art Gallery, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 63
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Abb. 27: ›Totentanz der Epochenvertreter‹, Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Baltimore, Walters Art Gallery, ms.171 (Dirc van Delf, Tafel van den Kersten Gehlove), fol. 30r, the seven ages of the world. Photo: Walters Art Gallery, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 64 Abb. 28: ›Gehegter Glaubensbaum‹, Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Lilienfeld, Stiftsbibliothek, cod. 151 (Ulrich von Lilienfeld, Concordantia caritatis), fol. 257v, tree of the twelve ages of life, Photo: Stiftsbibliothek, Lilienfeld, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 93 Abb. 29: ›Christusrad mit Theophiluslegende‹, Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach Cambridge, Fitzwilliam Museum, ms.330, no.4, Wheel of Fortune. By William de Brailes, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 86 Abb. 30 : ›Ruhevolles Christusrad‹, Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach London, British Library, ms. Arundel 83 (»Psalter of Robert De Lisle«), fol 126v, Wheel of Life, Photo: British Library, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 87 Abb. 31: ›Todbeherrschter Treppenbogen‹, Schemazeichnung von Helmut Herzog, graphisch zitierend nach British Museum, Steps of Life, By Jörg Breu the Younger. Photo: Warburg Instiute, abgedruckt bei SEARS, Ages of man, Abb. 98