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German Pages 174 [176] Year 2013
Glanzlichter der Wissenschaft Ein Almanach
herausgegeben vom Deutschen Hochschulverband
LUCIUS LUCIUS
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8282-0596-3 © Deutscher Hochschulverband 2013 Redaktion: Felix Grigat, M.A. (verantwortl.) Dr. Michael H a r t m e r Friederike Invernizzi, M.A. Ina Lohaus Vera Müller, M.A. D r u c k : Saarländische Druckerei und Verlag G m b H , 66793 Saarwellingen
Inhaltsverzeichnis Warum bewegt uns Musik? Uber die emotionale Wirkung und ihren evolutionären Ursprung Eckart Altenmüller
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Vertrauen in Recht und Wissenschaft Zur Notwendigkeit von Vorgaben, Verfahren und Vielfalt Susanne Baer
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Thomas Mann - ein Virtuose der Halbbildung Peter J. Brenner
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Europa in der Krise: Trägt die europäische Idee? Udo Di Fabio
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Im Gehäuse der Hörigkeit Dieter Freiburghaus
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Über Wahl Ein Gespräch mit dem Psychologen und Risikospezialisten Gerd Gigerenzer Gerd Gigerenzer
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Muss ich das lesen ? Ja, das hier schon Wissenschaftliches Publizieren im Netz und in der Überproduktionskrise Valentin Groebner
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Die umgekehrte Angst Zum Lebensgefühl von Jugendlichen zwischen '68 und heute Stephan Grünewald
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Intellektuelle Leidenschaft in der Drittmittel-Welt? Hans Ulrich Gumbrecht
63
Einübung in paranoides Denken „The Wire", „Homeland" und die filmische Ästhetik des Überwachungsstaats Vinzenz Hediger
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„Alle wollen ja nur unser Bestes" Über Beobachter der Beobachter, Freiheit und Sicherheit Jochen Hörisch
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Inhaltsverzeichnis
Fürs Leben verwöhnt Wie Babys und Kleinkinder eine sichere Bindung Nicola Holzapfel Universität, Prestige, Soziologiekolumne Jürgen Kaube
entwickeln 75
Organisation 81
Forschen heißt Hoffen Hoffen als Antrieb menschlichen Paul Kirchhof
Denkens 89
Stütze oder Hilfe zum Sturz? Das Potenzial des Internets in Autokratien Marianne Kneuer
101
Wie zeitgemäß ist das Konzert? Ein Plädoyer für das musikalische Laurenz Lütteken
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Kunstwerk
Der wahre Geist in der Maschine Schwächen der Technologiekritik Evgeny Morozov
109
Glück aus philosophischer Annemarie Pieper
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Perspektive
Das große Unbehagen Bernhard Pörksen/Wolfgang Krischke Streiten Tiere fairer als Menschen ? Der schwierige Weg zur Regelung von Josef H . Reichholf
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Konflikten 131
Eine deutsche Bildungskatastrophe Die Geschichte von Hellmut Becker und Georg Picht Heike Schmoll
135
Irrtümer der Weltliteratur „Die Odyssee" mit GPS? Manfred Schneider
141
Inhaltsverzeichnis
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Von der Schwierigkeit des Entscheidens Barbara Stollberg-Rilinger
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„Speichellecker" und „sehr rohe Teppen" Wissenschaftliche Kontroversen und Feindschafren Heinrich Zankl
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Strukturlose Öffentlichkeit Warum mehr Transparenz per Internet zu weniger Demokratie führen kann Barbara Zehnpfennig
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Die Autoren
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Quellennachweis
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Eckart
Altenmüller
Warum bewegt uns Musik ? Über die emotionale Wirkung und ihren evolutionären Ursprung
I
n allen menschlichen Kulturen werden oder wurden musikalische Aktivitäten ausgeübt. U n t e r den ältesten kulturellen Artefakten fand man in den Höhlen des oberen Donautals 35 000 Jahre alte Flöten aus Knochen und Elfenbein. Die große Bedeutung der Musik in der klassischen Antike und auch in späteren Zeitaltern ist unbestritten. Plato widmete ein ganzes Kapitel seines Werkes „Der Staat" der Bedeutung von Musik für die Charakterbildung. Auch heutzutage wird die emotionale Wirkung von Musik häufig als wichtigste Begründung für die Beliebtheit musikalischer Aktivitäten aufgeführt: Immerhin musizieren oder singen regelmäßig etwa sieben Millionen Deutsche. Der U m s a t z der Deutschen Phonoindustrie lag 2011 trotz der wirtschaftlichen Flaute und der Raubkopien bei fast 1,7 Milliarden Euro. Was also treibt die Menschen.an, Musik zu machen? Warum bewegt uns Musik?
Erzeugt Musik Emotionen - oder erkennen wir sie nur? Die meisten Menschen stimmen überein, dass Musik fröhlich oder traurig klingen kann. Allerdings besteht schon weniger Konsens, ob Musik wirklich beim H ö r e r Emotionen auslöst. In der Musikpsychologie werden die „kognitivistische" und die „emotivistische" Position unterschieden. „Kognitivisten" argumentieren, dass fröhliche oder traurige Musik diese Emotionen nicht im H ö r e r erweckt, sondern nur in dieser Weise vom H ö r e r klassifiziert und bewertet wird. Allerdings kann eine solche Bewertung der Musik Emotionen auslösen. Z u m Beispiel k ö n n t e die lang-
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Eckart
Altenmüller
weilige und ungenaue Wiedergabe eines sonst als „fröhlich" klassifizierten musikalischen Meisterwerks bei einem Musikliebhaber Gefühle von Arger, Frustration und Trauer auslösen, die natürlich auf seinen Kenntnissen anderer, angemessenerer Interpretationen beruhen. Im Gegensatz dazu postulieren die „Emotivisten", dass Musik direkt Emotionen erzeugt. Ein extremes Beispiel sind Schreck-Reaktionen auf plötzliche sehr dissonante und laute Klänge, die über ein fest verdrahtetes neuronales Netzwerk des Hirnstamms vermittelt werden. Mächtige Emotionen können auch über Koppelung von M u s i k an wichtige Lebensereignisse entstehen. Die seelische Kraft derartiger Assoziationen ist in Filmen und Literatur vielfach beschrieben worden. Schließlich werden Aufbau, Erfüllung und Täuschung musikalischer Erwartungen als wesentlicher Auslöser von Emotionen beim Hören von Musik diskutiert. Vor kurzem hat David Huron diese Idee in seinem Buch „Sweet Anticipation" ausgearbeitet. Danach entsteht eine gewisse emotionale Befriedigung, wenn Erwartungen erfüllt werden. Werden die musikalischen Erwartungen jedoch intelligent getäuscht, überrascht uns zum Beispiel eine harmonische Wendung, eine besondere Klangfarbe, ein neues Instrument, eine plötzliche Stille, dann führt dies nicht zwangsläufig zu negativen Gefühlen, sondern das Ergebnis kann eine starke emotionale Reaktion in Form einer „Gänsehaut" sein. Diese ist mit der Aktivierung der Belohnungszentren im Gehirn, mit Ausschüttung von Dopamin und Endorphin und mit Glücksgefühlen verbunden. Das Phänomen der Gänsehaut beim Musikhören haben wir gemeinsam mit dem Musikpsychologen Reinhard Kopiez und dem Neuro- und Musikwissenschaftler Oliver Grewe in den letzten Jahren eingehend erforscht. Hier kann direkt das Erzeugen von Emotionen durch M u s i k am Aufstellen der Haare beobachtet und mit psychophysiologischen Methoden gemessen werden. Etwa 70 Prozent der Menschen in unserer Kultur kennen das Gefühl des wohligen Schauers. Notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für die Ausbildung der Gänsehaut sind strukturelle Brüche in der Musik, neuartige akustische Strukturen, ungewöhnliche Klangqualitäten und insbesondere auch bewegende menschliche Stimmen. Empfindsame Persönlichkeiten erleben häufiger Gänsehaut als Menschen mit hohen Reizschwellen. Wichtig sind aber auch Kontext und Hörsituation: Texte, die uns emotional stark bewegen (z.B. Kundry's Fluch in „Parzival" von Richard Wagner), Wissen über besondere Bedingungen der Werkentstehung (das letzte Werk eines Komponisten, z.B. das dritte Klavierkonzert von Bela Bartok), und eine besonders emotional empfängliche Stimmung können die Wahrscheinlichkeit einer Gänsehautreaktion deutlich erhöhen.
Musik bewegt - aber warum. ? Offenbar bewegt Musik. Was ist nun der evolutionäre Ursprung dieser emotionalen Wirkung? Musikliebe und Musikwahrnehmung scheinen genetisch angelegt zu sein. Diese Annahme wird nicht nur durch den Nachweis von Musikalitätsgenen in Finnland gestützt, sondern auch durch eine genetisch bedingte Teilleistungsschwäche, der kongenitalen Amusie. Menschen mit Amusie haben Schwierigkeiten, Tonhöhen und Rhythmen zu unterscheiden und Musik lässt sie emotional kalt. Warum aber haben wir Musikalitätsgene? Es gibt zahlreiche Argumente dafür, dass Musik in der Evolution einen Beitrag zum „Uberleben des Stärkeren" leistete. Bereits Charles Darwin war der Auffassung, dass Musik bei der Werbung um Sexualpartner eine Rolle spielt. Musiker und Musikerinnen zeigen nicht nur Kreativität
Warum bewegt uns Musik?
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und Körperbeherrschung, sondern demonstrieren indirekt verborgene Qualitäten: sie verfügen über Ressourcen, um ein Instrument zu kaufen und zu üben, sie sind geschickt (und daher meist gesund) und sie zeigen offen Emotionen und Einfühlungsvermögen! Auf der Gruppenebene kommt Musik eine wichtige Rolle bei der Herstellung sozialer Bindungen zu. So ist Tanz in zahlreichen Gesellschaften fester Bestandteil religiöser Feste und gesellschaftlicher Riten. Tanz bewirkt über eine verstärkte Oxytocin-Ausschüttung der Hypophyse eine stabilere Gedächtnisbildung und fördert damit die Erinnerung an das Gruppenerlebnis. In ähnlicher Weise wird Musik als Markersignal von Gruppenidentität bei zahlreichen anderen Gelegenheiten eingesetzt. Man denke nur an Nationalhymnen, Fußballgesänge und an die identitätsstiftende Wirkung, die bestimmte Lieder von ethnischen Minderheiten in einem Staatswesen haben. Bereits bei Kindern scheint gemeinsames Musizieren die soziale Kohärenz, Kooperativität und Hilfsbereitschaft zu fördern. Auch hier kann leicht der evolutionär adaptive Wert erkannt werden: Erst durch die soziale Organisationsform der Gruppe konnten sich frühe Hominiden gegenüber konkurrierende Primaten sowohl bei der Jagd als auch beim Schutz der Gruppenmitglieder durchsetzen. Neben sexueller Selektion und Gruppenzusammenhalt wird als dritte wichtige evolutionäre Anpassung die frühe Eltern-Kind Interaktion mit Wiegenliedern und rhythmisch-gestischer Interaktion angeführt. Diese Form der emotionalen Kommunikation hat drei Hauptfunktionen: die Bindung zwischen Elternteil (meist der Mutter) und Kind wird gestärkt, der Spracherwerb und die auditive Mustererkennung werden unterstützt und der Erregungszustand des Kindes kann gesteuert werden. Weltweit werden Wiegenlieder bei überaktiven Kindern beruhigend, bei zu passiven Kindern aber aktivierend gestaltet. Alle drei Funktionen verbessern die kindlichen Uberlebenschancen und wirken daher auch auf die natürliche Selektion. Zusammenfassend bewegt uns Musik, weil sie Teil der genetischen Grundausstattung des Menschen ist, um uns zu bewegen. Musik ist ein in den letzten Jahrtausenden unendlich verfeinertes, aber im Kern uraltes affektives Kommunikationssystem mit zahlreichen positiven Auswirkungen für uns Menschen: Musik bietet einen sicheren „Spielplatz" für neue Hör-Erfahrungen, fördert die Gruppen-Synchronisierung, den Gruppenzusammenhalt, die Mutter-Kind-Bindung und den Spracherwerb. Musik erhöht das Wohlbefinden und erzeugt sogar manchmal Glücksgefühle. Gründe genug, um Musik zu machen, Musik zu fördern und einem Abbau der Musikkultur entschieden entgegen zu treten!
Susanne Baer
Vertrauen in Recht und Wissenschaft Zur Notwendigkeit von Vorgaben, Verfahren und Vielfalt ertrauen - das ist ein hohes Gut. Es ist vielleicht gerade deshalb auch eine komplizierte Angelegenheit, der sich folglich zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen annehmen. Zu ihnen gehört die interdisziplinäre Rechtsforschung, weshalb hier auch eine juristische Perspektive gewagt werden darf. Es k ö n n t e nun allerdings der Eindruck bestehen, Vertrauen sei - im Jahr 2012, heute - auch ein besonders aktuelles Thema. Das gilt zumindest f ü r das Vertrauen in die und in der Wissenschaft, da dieses in Deutschland aufgrund prominenter und skandalisierter Plagiatsvorwürfe aktuell spezifisch erschüttert ist. Zudem könnte die Frage nach Vertrauen als besonders aktuell empfunden werden, weil (nicht nur) zu Beginn des 21. Jahrhunderts dauernd die Rede von der Krise ist - des Euro, der Politik, der Wirtschaft, der Werte. Damit wird nicht zuletzt ein Zustand als Problem (und nicht als U m b r u c h oder Chance) gekennzeichnet, in dem Vertrauen fehlt. Die Frage nach dem Vertrauen ist allerdings tatsächlich immer brennend aktuell, weil wir so vieles im Vertrauen tun und weil uns viele um Vertrauen bitten. Vertrauen ist ein Vorschuss auf das, was wir nicht wissen, ein Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen, so der Soziologe Georg Simmel. Vertrauen ist der Glaube daran, dass es so und nicht anders laufen, dass nichts schiefgehen wird. Vertrauen reduziert die Komplexität der sich ständig wandelnden Verhältnisse um uns herum, indem wir uns wenigstens auf irgendetwas verlassen. U n d Vertrauen lebt dann allerdings auch davon, dass es wieder hergestellt wird, wenn etwas schiefgegangen ist. Vertrauen korrespondiert insofern mit Kontrolle, mit einem Genau-Hinschauen, denn Vertrauen ist anders, als es von der Liebe heißt - nicht blind. U n d darauf wird z u r ü c k z u k o m m e n sein.
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Susanne Baer
Vertrauen - als entlastende Orientierung, als Sicherheit auch ob der Kontrolle - spielt nun zwar überall eine Rolle, ist aber in Universitäten und auch in Gerichten auf besondere Weise präsent. Beide - die Hochschulen und die Justiz - genießen ein sehr hohes Maß an institutionell gesicherter Freiheit, das wir ihnen jedoch nur zugestehen, weil und solange wir ihnen vertrauen. Eine Wissenschaft, die sich als korrupt erweisen würde, hätte unser Vertrauen ebenso wenig verdient wie eine Justiz, die sich politisch funktionalisieren ließe, und umgekehrt. Die akademische und die gerichtliche Freiheit sind uns auch sehr viel wert, weil sie wiederum das Vertrauen in zahlreiche Vorgänge sichern, auf die wir uns angewiesen fühlen: Forschung prägt Technik und Gerichte sichern Verträge, um nur die im Alltag wichtigsten Aspekte zu nennen. Wie aber funktioniert das genau mit diesem Vertrauen? Und was verrät uns die vergleichende Betrachtung von Wissenschaft und Justiz über die Bedingungen, unter denen Vertrauen funktioniert - und damit auch über die Gefahren, die Vertrauen gefährden können? Als Professorin, die im Hauptamt als Richterin des Bundesverfassungsgerichts tätig ist, liegt es nahe, über Vertrauen in Wissenschaft und Justiz im Vergleich nachzudenken, und insofern lag es nahe, der Einladung der Präsidentin der Universität, Prof. Beisiegel, die Göttinger Universitätsrede im Jahr 2012 zu halten, mit Überlegungen zum Thema Vertrauen zu folgen. Diese Überlegungen speisen sich aus bestimmten Erfahrungen, denn Erfahrungen mit Vertrauen lassen sich an Universitäten und Gerichten reichlich sammeln. Auch da wird immer wieder deutlich: Vertrauen ist ein kostbares Gut, nirgendwo eine Selbstverständlichkeit. Und schon beginnen die Schwierigkeiten. Wem sollten Sie vertrauen, wenn Sie informiert über Vertrauen nachdenken wollen? Wer verdient das Vertrauen, über so komplizierte Fragen zu sprechen? Warum also vertrauen Sie einem „Experten" oder einer „Expertin"? Was erzeugt Autorität für Texte oder auch für Vorträge, für Reden? Wer etwas über Vertrauen in der Wissenschaft erfahren will, kann ausgewiesene Akteure fragen. Insbesondere bieten sich jene an, die an der Denkschrift zur guten wissenschaftlichen Praxis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mitgearbeitet, viele Vorschläge dazu gemacht und in vielen Runden dazu diskutiert haben. Das Thema ließe sich überhaupt an jene delegieren, die seit Jahren nicht nur forschen und lehren, sondern sich auch wissenschaftspolitisch engagieren. Ein Indiz für das Entstehen von Vertrauen sind insofern die institutionellen Zusammenhänge, in denen Positionen erarbeitet werden, in denen gesprochen wird (wie beispielsweise die DFG). Ein weiteres Indiz ist der attributierte, durch Titel, Zeichen und Verhalten implementierte Status der Sprechenden. Deshalb sitzen in Beiräten viele Menschen mit akademischen Titeln, Zeichen zugesprochener Kompetenz. Zudem beruht Vertrauen nicht selten darauf, dass nicht nur eine Stimme hörbar wird, sondern viele besprochen haben, was es tatsächlich zu einer Frage zu sagen gibt. Daraus resultiert die Neigung zu Kommissionen, Arbeitsgruppen und Beiräten. Allein: Vertrauen lässt sich durch Delegation auch enttäuschen. Wer der Einladung zu einem Vortrag folgt, will nicht nur hören, was andere sagen würden. Also kann ich nicht abgeben und nur verweisen, sondern will einige eigene Überlegungen zum Thema mit Ihnen teilen.
Vertrauen in Recht und Wissenschaft
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Wo wir vertrauen Vertrauen ist immer aktuell, weil es unseren Alltag immens prägt. Wie sehr wir auf Vertrauen angewiesen sind, lässt sich besonders gut erkennen, wenn es an diesem fehlt: Wo verletzt der Vertrauensbruch zutiefst, und wo ist eine Vertrauenskrise besonders gravierend? G a n z fundamentale Bedeutung hat das Vertrauen aufeinander und ineinander in persönlichen, privat genannten, intimen Beziehungen. Es ist ein besonderes Sich-verlassen-Können,
die eigene
Wachsamkeit, die eigene Kontrolle hinter sich lassend. Dieses Vertrauen ist ein wichtiger Teil der Liebe, und die Verletzung dieses Vertrauens ist so groß, wenn es - wie in Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern und anderen Abhängigen - nicht nur gewaltsam, sondern auch die Liebe manipulierend enttäuscht wird. Vertrauen ist daneben in der Arbeitswelt enorm wichtig und muss daher auch in Bildung und Ausbildung eine zentrale Rolle spielen. Dieses ebenfalls auf Personen bezogene Vertrauen prägt kollegiale Verhältnisse - vom Team in Betrieben, U n t e r n e h m e n und Amtern über die Fakultät oder die Verwaltungseinheit bis zur Arbeitsgemeinschaft mit Kommilitoninnen und Kommilitonen. Zwar ist das alleinige Tun nicht unwichtig geworden, aber insbesondere die in den Geisteswissenschaften nicht selten gepflegte Vision des einsamen D e n k e r s wird heute weithin nicht mehr dem gerecht, was gute „Wissensarbeit" ausmacht; deshalb ist die Arbeit in (interdisziplinären) Teams auch im Hochschulstudium durchaus ausbau- und förderungswürdig. Dieses kollegiale Vertrauen ist, und auch das zeigt sich, wenn es enttäuscht wird, nicht zuletzt Vertrauen in Arbeitsteilung. Es fehlt, wenn der Funke nicht zündet und das noch so ausgetüftelte Fahrzeug steht, nicht fährt, oder wenn der Chip nicht funktioniert, der die Hardware bewegen soll. Das kleine alltägliche Vertrauen auf Technik ist nicht zuletzt ein Vertrauen auf die Technikerinnen und Techniker, die diese herstellen und ihre Funktionalität sichern. Für den F o r t schritt moderner Gesellschaften ist das Vertrauen in Arbeitsteilung, in verlässliche Zu- und M i t arbeit sogar entscheidend. Allerdings ist es nicht nur ein Vertrauen in die, die für mich arbeiten, also klassisch-hierarchisch von oben nach unten. Genauso wichtig ist das Vertrauen in umgekehrter Richtung, von unten nach oben, also das Vertrauen, das durch Verantwortungsverteilung entlastet. Dazu k o m m t das Vertrauen weder nach unten noch nach oben, sondern gewissermaßen zur Seite, wenn wir M e n s c h e n beauftragen, Dinge mit ein wenig Abstand für uns zu erledigen. So vertraut die G ö t t i n g e r Universität einem Stiftungsrat, dass die jährlich vergebenen Förderpreise weise zugesprochen werden und auch sonst die Geschicke der G ö t t i n g e r Universität in guten Händen liegen; hierarchisch ist demgegenüber das Vertrauen in die Präsidentin oder andere Menschen in Leitungspositionen. Zu diesem Vertrauen in Hierarchien gehört auch das kleine Q u ä n t c h e n Vertrauen in die Präsidentin, dass die Einladung an mich zur Universitätsrede 2 0 1 2 kein Fehlgriff war, der Abend also zumindest nicht langweilig wird. Worauf aber gründet es genau? A u f Erfahrung? Kenntnis der Person? D e m Zwang, der von Traditionen ausgeht, die sich zu Vorgaben verdichten? D e n Verfahren, in denen ein Präsidium konstituiert wird? O f t beruht Vertrauen jedenfalls auch darauf, sich - wenn es doch langweilig war - beschweren zu dürfen und Dinge damit auch verändern zu k ö n nen. Gerade das Vertrauen in M e n s c h e n , die einige Entscheidungen allein fällen dürfen, ist nicht blind. E s lebt auch von Kontrolle, und diese Kontrolle lebt von Vorgaben und Verfahren, in denen diese wirksam werden können. Auch darauf k o m m e ich sogleich zurück.
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Smanne
Baer
Neben Intimität und Kollegialität vertrauen wir noch in weiteren, größeren Zusammenhängen auf diffusere Phänomene. Damit mag zusammenhängen, dass es besonders dramatisch wirkt, wenn so großes und allgemeines Vertrauen zu dann eben auch größeren Enttäuschungen führt. Beispiele sind das Vertrauen in „den Markt" und „die Wirtschaft" und „die Währung" - bis zu Lehman Brothers, bis zur Bankenkrise, bis zum Rettungsfonds. Manche vertrauen auch in „das Schulsystem" - bis zum Pisa-Schock. Es gibt ein Vertrauen in „die Kunst" - bis zur Langeweile nur ökonomisch motivierter Kreativität. Es gibt - bestenfalls - Vertrauen in „die Politik", die unter jedem Spendenskandal, jeder falschen Selbstaufwertung, jedem Wortbruch leidet. Zudem gibt es ein ebenso allgemeines Vertrauen in „das Recht", bis zum eigenen Scheitern vor Gericht, bis zur plausiblen Darstellung struktureller Ungerechtigkeit, bis „die Verhältnisse" als ungerecht erlebt werden. Und schließlich gibt es das Vertrauen in „die Wissenschaft" als H o r t der Wahrheit, der Antworten, der Lösungen, das mit jeder Datenfälschung und jedem Plagiat erodiert. Dient Wissenschaft dann noch der Wahrheit - in eiligen, kompetitiven, ausgrenzenden, bluffenden Verhältnissen? Dieses Vertrauen in Markt und Wirtschaft und Währung, in Schule und Kunst und in Recht und Wissenschaft ist diffus und allgemein, kostbar und schnell zu erschüttern. Das zeigt sich nicht nur in den Krisen deutlich, wenn eben Vertrauen fehlt, sondern auch in den Maßnahmen gegen die Krise, in denen Vertrauen erzeugt wird, und wenn nur das genügt. Wenn die Europäische Zentralbank etwas ankündigt, aber nicht realisiert, und dennoch die Märkte beruhigt, war Vertrauen entscheidend. Wenn Studiengänge anders organisiert und genannt werden, ohne im Curriculum tatsächlich etwas zu verändern, und dies den Wert von Bildungsabschlüssen prägt - wie im Streit um Master vs. Magister oder Staatsexamen - , geht es ebenfalls um Vertrauen. Und was benötigen wir dazu, gegen die Krisen, um vertrauen zu können oder Vertrauen zu gewinnen?
Auf Vorgaben vertrauen Manche meinen: Vertrauen lebt von Regeln. Dann soll das Vertrauen in die Märkte und den Euro wieder hergestellt werden durch die Regulierung der Finanzwirtschaft, oder durch Schuldenbremsen in Verfassungen oder durch Aufsichtsrechte für Zentralbanken. O d e r das Vertrauen in den Arbeitsmarkt soll entstehen, indem Abschlüsse europaweit vergleichbar normiert werden. Oder Vertrauen auf die Chance zur Erwerbsarbeit durch faire Pcrsonalauswahl soll darin gründen, dass es mittlerweile auch in Deutschland Regeln gegen Diskriminierung gibt. Und hier vor O r t , an einer Universität soll das Vertrauen in faire Berufungsverfahren darauf beruhen, dass dazu Regeln existieren, Vertrauen in die Promotion soll davon leben, dass strengere Regeln verabschiedet werden, und Vertrauen in eine N o t e soll von weiteren Regeln zur Qualitätssicherung leben, so wie Vertrauen in Exzellenzentscheidungen und anderen Voten zur Forschungsförderung oder zu Preisen durch Regeln im „peer review" gesichert wird. Da ist natürlich etwas dran. Urteile ohne Regeln sind willkürlich. Insbesondere geschriebene Regeln haben den Vorteil, dass diese ausgehandelt werden müssen und, wichtiger noch, nachgelesen werden können und als Text eine gewisse Statik haben, zumindest zeitweise auf ihren schlichten Bestand vertraut werden kann. Deshalb ist es auch ein gravierender Unterschied, ob gesagt und betont und beschworen wird, dass natürlich alle Gleichberechtigung wollen und auch
Vertrauen in Recht und Wissenschaft
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s e h r gern F r a u e n in der W i s s e n s c h a f t f ö r d e r n , o d e r o b es f o r s c h u n g s o r i e n t i e r t e G l e i c h s t e l l u n g s standards - also g l e i c h s t e l l u n g s o r i e n t i e r t e F o r s c h u n g s s t a n d a r d s , also R e g e l n zur F a i r n e s s in d e r W i s s e n s c h a f t - g i b t , in d e n e n s t e h t , w o r u m es g e h t . A b e r leider g e n ü g e n R e g e l n n i c h t . D a s ist s e h r traurig, aber wahr. E s ist sogar bitter, i n s b e s o n d e r e f ü r J u r i s t i n n e n und J u r i s t e n : D a s g r o ß a r t i g e V e r s p r e c h e n des R e c h t s , für G e r e c h t i g k e i t zu s o r g e n , erfüllt s i c h n i c h t v o n selbst. D i e s m a g n u n a u c h I h r b i s h e r i g e s V e r t r a u e n in d e n R e c h t s s t a a t e n t t ä u s c h e n , u n d d a r f es a u f k e i n e n Fall g ä n z l i c h , d e n n v o n u n s e r e m V e r t r a u e n als a n h a l t e n d e m V o r s c h u s s lebt der R e c h t s staat g a n z w e s e n t l i c h . A b e r R e g e l n allein r i c h t e n die D i n g e n i c h t . Sie sind h i l f r e i c h . Sie k ö n n e n a u c h d e s t r u k t i v w e r d e n , w e n n sie b e i s p i e l s w e i s e K r e a t i v i t ä t e r s t i c k e n , wie in der W i s s e n s c h a f t . W o die F r e i h e i t w i c h t i g ist, wie in der F o r s c h u n g , u n d die U n a b h ä n g i g k e i t e n t s c h e i d e n d , wie in d e r J u s t i z , wird d e u t l i c h , wie a m b i v a l e n t R e g e l n w i r k e n . A b e r R e g e l n allein g e n ü g e n jedenfalls n i c h t , u m V e r t r a u e n t a t s ä c h l i c h zu r e c h t f e r t i g e n . D a s gilt a u c h , w e n n wir alles r e g e l n , in R e c h t s f o r m e n f a s s e n , uns V o r s c h r i f t e n m a c h e n . D e n n s o leben wir b e r e i t s . U n s e r e W e l t ist z u m i n d e s t w e i t g e h e n d reguliert - u n d genau das f u n k t i o n i e r t n u r b e g r e n z t . D e r M a r k t ist n i c h t b e l i e b i g „ f r e i " , s o n d e r n d u r c h g ä n g i g reguliert -
und
t r o t z d e m gibt es M a r k t v e r s a g e n e b e n s o wie w i s s e n s c h a f t l i c h e s F e h l v e r h a l t e n . D i e S c h u l e ist ein w e i t h i n r e g u l i e r t e r O r t (in d e m i m Z u g e j ü n g e r e r D e r e g u l i e r u n g s o w o h l R e g e l n als a u c h R e g e l u n g s b e f u g n i s s e e h e r n u r neu verteilt w e r d e n ) , u n d d e n n o c h b e k l a g e n w i r B i l d u n g s m ä n g e l . A u c h das R e c h t selbst ist R e g e l n u n t e r w o r f e n - den V e r f a h r e n s o r d n u n g e n v o r G e r i c h t e n , d e n Vorgab e n für V e r t r ä g e , d e n R e g e l n d e r G e s e t z g e b u n g , u n d t r o t z d e m ist n i c h t alles r e c h t e n s , was da R e c h t s f o r m erlangt. A u c h d e s h a l b k o n t r o l l i e r e n V e r f a s s u n g s g e r i c h t e , o b alle die ä u ß e r s t e n G r e n z e n e i n h a l t e n , die das G r u n d g e s e t z s e t z t , und d e s h a l b ist s o g a r die P o l i t i k , die selbst R e g e l n s e t z e n k a n n u n d soll, i m V e r f a s s u n g s s t a a t an R e c h t g e b u n d e n , im e u r o p ä i s i e r t e n u n d g l o b a l i s i e r t e n V e r f a s s u n g s s t a a t a u c h weit ü b e r die eigene n a t i o n a l e V e r f a s s u n g hinaus. D e n n es g e h t t r o t z u m f ä n g l i c h e r V o r g a b e n n i c h t a u t o m a t i s c h überall m i t r e c h t e n D i n g e n zu. U n d die W i s s e n s c h a f t ? F o r s c h u n g u n d L e h r e sind frei, a b e r es gibt s e h r viele R e g e l n , und viele gibt es auch s c h o n seit l a n g e r Z e i t . W i s s e n s c h a f t w a r u n d ist vielfach reguliert - d u r c h speziell w i s s e n s c h a f t s r e c h t l i c h e V o r g a b e n d e r G e s e t z g e b e r wie in den L a n d e s h o c h s c h u l g e s e t z e n ,
aber
a u c h d u r c h das V e r g a b e r e c h t o d e r A r b e i t s r e c h t , z u d e m d u r c h die e i g e n e n R e g e l n der H o c h s c h u len in G r u n d o r d n u n g e n , S a t z u n g e n u n d R i c h t l i n i e n , d u r c h die R e g e l n d e r w i s s e n s c h a f t l i c h e n F a c h g e s e l l s c h a f t e n , d u r c h die S t a n d a r d s und L e i t l i n i e n d e r W i s s e n s c h a f t s o r g a n i s a t i o n e n . Es gibt g a n z viel R e c h t i m R e i c h d e r F r e i h e i t - u n d das k ö n n t e d a f ü r s p r e c h e n , dass die F r e i h e i t R e g e l n b r a u c h t , u m sich e n t f a l t e n zu k ö n n e n , und das V e r t r a u e n also v o n V o r g a b e n lebt. A l l e i n : S o g a r g a n z viele R e g e l n sind n i c h t g e n u g . D i e V o r g a b e n h a b e n - u m es n u r für das F e l d d e r W i s s e n s c h a f t zu b e l e u c h t e n - n i c h t v e r h i n d e r t , dass plagiiert wird, dass in m a n c h e n F ä c h e r n eine N o t e n i n f l a t i o n e i n g e t r e t e n ist u n d in a n d e r e n N o t e n g e i z h e r r s c h t , a b e r beide n i c h t fair i m g a n z e n S p e k t r u m b e w e r t e n , dass n i c h t i m m e r die b e s t e n F o r s c h e r i n n e n u n d F o r s c h e r als e x z e l l e n t e r k a n n t w o r d e n sind u n d w e r d e n und dass b i s l a n g n i c h t i m m e r d i e j e n i g e n C h a n c e n u n d P r e i s e e r h a l t e n h a b e n , die das v e r d i e n t u n d b e n ö t i g t h ä t t e n , sowie dass t r a d i t i o n e l l n i c h t i m m e r - und vielleicht s o g a r r e g e l m ä ß i g n i c h t - die b e s t e n F o r s c h e n d e n u n d L e h r e n d e n a u f P r o f e s s u r e n b e r u f e n w o r d e n sind. Z w a r gibt es B e r u f u n g s - , P r o m o t i o n s - u n d P r ü f u n g s o r d n u n g e n , es g i b t R e g e l n d e r B e g u t a c h t u n g u n d d e n E h r e n k o d e x der D F G für g u t e s w i s s e n s c h a f t l i c h e s V e r h a l t e n u n d die E t h i k - K o d i c e s der F a c h g e s e l l s c h a f t e n - u n d es gibt d o c h S e i l s c h a f t e n , Z i t i e r k a r t e l l e , S e l b s t b e d i e n u n g s l ä d e n , unfaire E n t s c h e i d u n g e n .
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Susanne Buer
Regeln allein genügen also nicht, um Vertrauen zu rechtfertigen. Sie sind allerdings auch nicht verzichtbar. Dies ist kein Plädoyer für die politisch oft attraktive Deregulierung, die gern als Befreiung von bürokratischen Fesseln beworben wird. Regeln sind vielmehr wichtig, denn der Verzicht auf sie statuiert sonst informale Macht, geschlossene Zirkel, tradierte Exklusion, und zwar ohne nachlesbare Vorgabe, die nicht zuletzt Kontrolle ermöglicht. Regeln können also Vertrauen erzeugen und stabilisieren und das ist wichtig. Sie sind nur keineswegs per se in der Lage, Vertrauen auch tatsächlich zu rechtfertigen. Vertrauen wird jedoch überall dringend gebraucht. J e komplizierter, je schneller, je intransparenter und auch je gefährlicher die Dinge sind, je anonymer und entfernter, desto mehr brauchen wir Vertrauen. Für die Wissenschaft und auch für das Recht kommt hinzu: J e mächtiger und je freier die Dinge sind, desto mehr Vertrauen ist gefragt. Woher nehmen wir das also? Was benötigen wir - jenseits der oder besser noch: neben den Regeln, zugunsten der Regeln - , um in Wissenschaft und in Recht zu vertrauen? Kurz gesagt: Wir benötigen Menschen, die sich an Verfahren halten. So einfach, so schwer zu realisieren.
Regeln mit Leben füllen D e r Ruf nach Verfahren und nach einem bestimmten Verhalten der in ihnen agierenden Personen lässt sich als Ruf nach Prozeduralisierung deuten. Dabei geht es eben nicht nur um Prozesse als geregelte Verfahren. Es ist mehr gefragt. Auch Verfahren sorgen nur dann für Vertrauen, wenn sie spezifisch ausgestaltet sind und wenn sie auf bestimmte Art und Weise gelebt werden. Die bittere Erfahrung mit den Regeln besagt ja nicht nur, dass sie von selbst nicht funktionieren. Sie besagt auch, dass sie nicht einmal funktionieren, wenn wir Verfahren vorsehen, um die Vorgaben umzusetzen. Frauen-, Gleichstellungs- und Diversity-Beauftragte können davon traurige Lieder singen: Zwar gibt es im Hochschulrecht seit Langem Vorgaben zur fairen Personalauswahl und sonstiger Gleichstellung, und schon bald wurden auch Verfahren etabliert, um diese mit Leben zu füllen, doch genügt dies offenkundig nicht, um die Verhältnisse tatsächlich zu verändern. Deshalb konzentriert sich mein Nachdenken über Vertrauen nicht nur auf Regeln und setzt auch nicht nur auf Verfahren. Vertrauen kommt einfach nicht ohne die Menschen aus. Anders - und noch etwas anspruchsvoller - formuliert: Vertrauen lebt von Vorgaben, Verfahren und Vielfalt. Ich will das im Lichte der Erfahrungen und Beobachtungen aus der Praxis eines Verfassungsgerichts erläutern, denn das ist derzeit die Institution - also die Mischung aus Verfahren, Vorgaben und Vielfalt - , der sehr viele Menschen vertrauen. Es ist sogar etwas überwältigend, dass ein sehr großer Teil der deutschen Bevölkerung dem Bundesverfassungsgericht sehr weitgehend vertraut - im Jahr 2009 wird das von 76 Prozent der Befragten gesagt, im Jahr 2012 rangiert das Gericht neben dem Bundespräsidenten und der Polizei eben ein wenig beunruhigend weit vor dem Bundestag oder der Bundesregierung. Der Vergleich zwischen Wissenschaft und Gericht ist also nicht nur persönlich-biografisch bedingt. Also: Warum vertrauen Menschen auf dieses Gericht - manchmal auch zu schnell, und manchmal nur scheinbar, wenn sie eigentlich schwierige Entscheidungen abschieben wollen, die sie selbst treffen sollten? Liegt es daran, dass das Gericht immer wieder mutige Entscheidungen getroffen hat - für die Kleinen, gegen den Mainstream, für die Bürgerinnen und Bürger, gegen
Vertrauen in Recht und Wissenschaft
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die institutionalisierte Politik, für die Minderheiten, gegen hegemoniale Macht? Genießt Karlsruhe Vertrauen, weil es nachträglich Konflikte entscheidet und nicht vorgängig Versprechen macht, diese also auch nicht enttäuschen kann? Das Vertrauen ist jedenfalls vorhanden. Wie agiert das Gericht da konkret? Und was lässt sich daraus folgern? Der Vergleich zwischen Rechtspraxis und Wissenschaft kann sich lohnen, denn es gibt durchaus strukturelle Ähnlichkeiten. Für die Frage nach dem Vertrauen sind das bei beiden hohe Maß an Verantwortung und das bei beiden sehr große Maß an Autonomie von Bedeutung. So fällen sowohl Wissenschaft als auch Gerichte wirkmächtige Urteile. Das liegt bei der Justiz auf der Hand (sie entscheidet Konflikte und verändert so die Welt). Aber die ethische Dimension sollte auch der Wissenschaft ständig bewusst sein (sie definiert Wahrheit, ermöglicht Handeln, stellt Wissen und Material bereit, was die Welt verändern kann, sie organisiert aber auch Bildung, lässt Menschen in forschendes Denken hineinwachsen, ermöglicht und fördert Kritik, Reflexion). Wer so viel Verantwortung trägt, weil sie so wirkmächtig urteilen darf, benötigt Vertrauen. Dazu kommt das hohe Maß an Freiheit, also Autonomie: Die Wissenschaft ist ähnlich autonom wie die Rechtsprechung, auch wenn sie in einem anderen Modus operiert. Professoren und Professorinnen sind tatsächlich kaum kontrollierbar (deshalb ist die Berufung auf Lebenszeit ein sehr enges Nadelöhr), und Richterinnen und Richter genießen ein Höchstmaß an Unabhängigkeit (deshalb sind die Richterwahlverfahren durchaus sensible Veranstaltungen). Weil Wissenschaft und auch Recht nicht nur Macht haben, sondern auch so frei sind, müssen wir ihnen vertrauen können. Wie aber funktioniert hier prozeduralisierte Verantwortung - in der Rechtspraxis, für ein Verfassungsgericht? Geregelte Vorgaben sind wichtig, aber nicht alles. Sie unterscheiden sich gravierend von Rhetorik und Sonntagsreden. So entscheidet das Bundesverfassungsgericht auf der Grundlage des Grundgesetzes, eingedenk der Straßburger Rechtsprechung zu den Menschenrechten der Konvention des Europarates und eingedenk des in Luxemburg ausgeurteilten Rechts der Europäischen Union. Diese Texte, die andere verfasst haben und die alle anerkennen, tragen zur Vertrauensbildung bei. Die Bindung an Text unterscheidet ein Gericht - und auch ein Verfassungsgericht in seiner speziellen Position nah der Politik - auch fundamental von dieser. Die Politik hat Gestaltungsspielräume und auch Gestaltungsaufgaben, solange sie nicht mit dem Grundgesetz kollidiert. Das Bundesverfassungsgericht darf im Unterschied dazu nur entscheiden, wenn es angerufen wird und was sich aus dem Grundgesetz ergibt, hat also keinen offenen Spielraum. Der Text bindet und bändigt die immense Unabhängigkeit, die einem solchen Gericht zugestanden wird - und diese Bindung an Vorgaben schafft eben Vertrauen. Die machen nicht, was sie wollen. Auch in der Wissenschaft gibt es solche Effekte, wie bei den erwähnten Gleichstellungsstandards, bei sinnvollen Promotionsordnungen und -Vereinbarungen. Aber dort sehen wir zugleich, dass es das allein nicht sein kann.
Vertrauen in Verfahren Mindestens so wichtig wie die Regeln sind die Verfahren, in denen diese Regeln zur Anwendung kommen. Das ist die formelle Seite der Justiz. Für das Karlsruher Gericht ist es das Verfassungsprozessrecht, mit dem der Gesetzgeber festlegt, wer unter welchen Voraussetzungen Anspruch
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auf eine Entscheidung zu welchen Fragen hat, und wer in welcher F o r m entscheiden darf. D a z u k o m m t die Geschäftsordnung, die als Verfahrensvorgabe zwar selbst statuiert, aber auch - Vertrauen schaffend - publiziert wird. In den Verfahren zeigt sich dann, dass insbesondere F o r m v o r schriften und Informationsregeln nicht zu verachten sind: Was eine Seite vorträgt, muss die andere wissen und reagieren dürfen, in bestimmten Formen und Fristen. In der Wissenschaft gibt es ähnlich gelagerte Regeln, wenn beispielsweise konkurrierende Forschungsanträge in identischer F o r m eingereicht werden müssen, weil sonst die Beurteilung verzerrt wird. Auf die Vermeidung verzerrter Wahrnehmung zielt es auch, wenn die Suche nach den besten Köpfen, die ja gerade in der Wissenschaft immer wieder beschworen wird, ohne ein F o t o von diesem K o p f auskommen würde, auch o h n e Angaben zur Herkunft oder z u m Beruf der Eltern. In einem G e r i c h t gelten zudem bestimmte Regeln zum Verbot der Mitwirkung bei Befangenheit. Ein Urteil darf niemand fällen, der mit einem bestimmten Ergebnis konkret eigene Interessen verbindet. Bei Gerichten wird allerdings, wenn die Parteien einen Antrag darauf stellen, auch schon die Besorgnis der Befangenheit überprüft, und es wird erwartet, dass ich als Richterin eine solche Sorge auch sofort selbst anspreche, wenn sie am H o r i z o n t aufscheint. Weil wir unsere Unabhängigkeit so schätzen und sie, damit uns M e n s c h e n vertrauen, auch hegen und pflegen, wollen wir jeden auch nur entfernten Anschein von Befangenheit ausräumen. Das gibt es auch in der Wissenschaft. Sollten in wissenschaftlichen Verfahren die Betroffenen noch öfter die angstfreie Möglichkeit erhalten, Befangenheit überprüfen zu lassen? Sollten wir immer wissen, wer über uns urteilt und was ihn oder sie legitimiert? In Gerichten schafft das Vertrauen. Sollten die Gründe, die Befangenheit ausmachen, auch in der Wissenschaft noch stärker auf Besorgnis ausgerichtet sein, also genügen, dass ein Schein entstehen könnte, der Misstrauen nährt? Sollte mehr dokumentiert werden, um Vertrauen zu fördern? Wäre es sinnvoll, schwerwiegende E n t scheidungen auch in der Wissenschaft öffentlich zu verhandeln, unter Beteiligung diverser Akteure? Das funktioniert jedenfalls anders als die anonymisierte Suche nach Fehlern im Internet. D i e öffentliche Kritik, die auch Verfassungsgerichte nicht zuletzt im N e t z erfahren, dient der Debatte zwar auch. Aber genügt das?
Vertrauen in Verhalten N e b e n den formellen Regeln gibt es auch an einem Verfassungsgericht die praktisch oftmals mindestens so wichtige informelle Seite, die ungeschriebenen Regeln der Gerichtspraxis,
die
Gerichtskultur. U n d auch das kennen wir aus der Wissenschaft: Es gibt die Promotionsordnung, aber die Promotionskultur ist letztlich entscheidend. Es gibt die Prüfungsordnung, aber die Prüfungskultur macht die Praxis aus. U n d es gibt Berufungsregeln, aber alles hängt an den informellen Ritualen, die da gepflegt werden. Im Bundesverfassungsgericht gibt es wunderbare Rituale, informelle Regeln, Gepflogenheiten, Riten. D i e meisten kann ich nicht anschaulich schildern, denn sie fallen unter das Beratungsgeheimnis, dem ich verpflichtet bin. A b e r manches ist auch bekannter Teil der Institution. So wird im Verfassungsgericht zunächst einmal nichts allein entschieden, denn es arbeitet immer im Team, kollegial. Ich versichere Ihnen, dass dies nicht daran liegt, dass sich jemand eine Entscheidung nicht auch allein zutrauen würde. Aber das Vertrauen in unsere Entscheidungen lebt eben auch davon, zwar frei zu sein, aber nie allein. B e i großen Fragen sind es acht Richterinnen und
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Richter, bei kleinen, vorgeklärten Fragen drei Beteiligte. Diese sind dabei völlig gleichberechtigt, bis z u m letzten Komma. Es besteht immer die Möglichkeit, überstimmt zu werden, dann aber die abweichende Meinung zu artikulieren. Gibt es Vergleichbares in der Wissenschaft? Der Wissenschaftsrat hat daran erinnert, dass kollegiale Betreuung gerade bei Promotionen wirklich qualitätssichernd wäre. Nicht wenige Professoren fürchten da aber auch sofort um ihre Wissenschaftsfreiheit. Inwieweit das verfassungsrechtlich überzeugt, ist hier nicht zu klären. Doch lehrt die Erfahrung im Verfassungsgericht demgegenüber, dass Freiheit durchaus kollegial gelebt werden kann und dass Qualität damit steigt und nicht leidet. Zwar mögen manche bedauern, dass Sätze, die verhandelt und schließlich konsentiert worden sind, nicht so scharfe Formulierungen beinhalten wie die Philippika Einzelner. Aber der Rechtsprechung und dem Vertrauen in diese tut das, wie sich auch im internationalen Vergleich zeigt, gut. Im Verfassungsgericht gibt es zudem eine zumindest mir besonders erscheinende Diskurspraxis, das Ritual Beratung. In den Beratungen gibt es eine Pflicht zur nachvollziehbaren Argumentation und insbesondere zur Quellentransparenz. Diese erklärt sich natürlich aus dem in der Rechtspraxis besonders deutlichen Gebot, im Zweifel Kontinuität zu wahren und nur dann von einer etablierten Argumentationslinie abzuweichen, wenn dafür sehr gute Gründe sprechen. Praktisch bedeutet das, zwingend immer genau sagen zu müssen, ob etwas vorher schon einmal so oder anders gesagt worden ist - der Rückverweis auf eigene Entscheidungen. Dies wird dem Bundesverfassungsgericht zwar manchmal als Selbstreferentialität vorgeworfen. Doch liegt in der Vorhersehbarkeit der Entscheidungen des Gerichts doch ein spezifischer Wert. Es kann sich Wankelmütigkeit nicht leisten, und zwar auch, weil das Vertrauen zerstört. Das mag sich in die Wissenschaft nicht ohne Weiteres übertragen lassen, w o das Neue, das Erfundene und Entdeckte zählt. Im Anschluss an den Stand der Forschung und im Nachweis der angemessenen Methodenwahl spielt es allerdings doch eine gewisse Rolle. Zudem gibt es noch einen Grund dafür, so strikt auf Quellentransparenz zu achten: Die Angabe der Quellen erleichtert es in Beratungen, konsentierte Aussagen von subjektiven Einschätzungen zu unterscheiden und die im juristischen Kontext unsachlichen Äußerungen schnell identifizieren zu können. Wenn politisch-ideologische Positionen Einzug halten würden, wäre das also schnell zu entdecken. Wir begreifen es daher auch als notwendige Tugend, sehr deutlich zu kennzeichnen, wenn wir uns selbst zitieren. Demgegenüber wird in der Wissenschaft manchmal argumentiert, zumindest sich selbst müsse man nicht zitieren. Das hat allerdings problematische Folgen. In Berufungsverfahren ist nicht selten zu beobachten, dass Publikationslisten Varianten der Selbstplagiate - die Kurzfassung, die Fassung in anderer Sprache - nicht ausweisen. Ich halte das für einen Teil des Bluffs, der der Wissenschaft nicht nutzt, sondern schadet. Wie sollen Studierende und Promovierende zudem aufrichtig arbeiten, wenn solche Grauzonen existieren? Eine weitere informelle Verfahrensregel im Bundesverfassungsgericht ist die Pflicht zur Selbstkritik. Das klingt anstrengend und wohl auch ein wenig unrealistisch. Wie läuft das also, ernsthaft? Zunächst gilt für Karlsruhe: Jede Anfrage an das Gericht wird beantwortet, denn wir dürfen anders als der Supreme Court der U S A - nicht frei entscheiden, worüber wir entscheiden. Eindrücklicher ist eigentlich: Jede Anfrage erhält ein Aktenzeichen und wird geprüft und mit einem Gutachten versehen, dem Votum, das eine Entscheidung vorschlägt. Da dieser Vorschlag dann drei Richterinnen und Richter in der Kammer, oder in großen Verfahren im Senat mindestens vier
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weitere, also viele überzeugen muss, die ja meist durchaus starke eigene Meinungen vertreten, muss versucht werden, alles, was an Einwänden kommen könnte, möglichst offensiv vorwegzunehmen. Deshalb sprechen Richterinnen und Richter auch oft davon, dass wir um Entscheidungen „ringen", auch „hadern". Im Bundesverfassungsgericht ist dies kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Indiz für Ernsthaftigkeit. Wer Gegenargumente entkräften will, tut in dieser Kultur gut daran, sie so stark wie möglich zu machen. Das bedeutet, sie nicht in Fußnoten zu verstecken oder gar ganz zu verschweigen, sondern ihnen Raum zu geben, sie jedenfalls nicht zu diffamieren. Eine solche Praxis der routinierten und offensiven Selbstkritik kann vielfach motiviert sein. Sie ist aber jedenfalls auch ein Ausdruck Kant'scher Rationalitätsanforderungen: Kritik als Kern jedweder Reflexion - und das ist der Wissenschaft sehr nahe. Trotzdem ist sie der wissenschaftlichen Praxis nicht ohne Weiteres eigen. U n d das ist irgendwie menschlich: Wer zweifelt schon gern öffentlich an sich, bietet damit auch Angriffsflächen, zeigt Schwächen, und zwar ernsthaft, nicht rhetorisch-kokett. Es ist aber auch systemisch und damit ein problematischer Effekt eines Wissenschaftsbetriebs, der manchmal zu sehr auf Neues und Wahres und Klares, auch gern auf „anschlussfähig" und „vermittelbar" und „anwendbar" setzt, anstatt nicht nur Komplexität, sondern auch Ambivalenz und auch tastende Suche als produktiv zu begreifen. Das ist eine Praxis, die kritische Durchsicht des Vorhandenen mit fehlender Erkenntnis und Fehler mit Verfehlung verwechselt. Im Gegenzug plädieren einige beispielsweise dafür, (auch) in der Wissenschaft für eine Fehlerkultur zu sorgen, denn sie schwächt nicht, sie stärkt. Zu den informellen Regeln des Bundesverfassungsgerichts gehört zumindest nach meiner Beobachtung auch eine Verpflichtung auf konstruktive Kritik. Das klingt groß und anspruchsvoll. Praktisch geht es um eine schlichte Regel: Wer etwas anderes will als das, was vorgeschlagen wurde, muss eine Alternative erarbeiten. Es gibt keine nur ablehnende Kritik, ohne Besseres vorzuschlagen und auch begründen zu können. In der Diskussion darf gezweifelt werden, aber wenn es um ein Urteil geht, muss sogar akzeptiert werden, wozu keine bessere Alternative vorgeschlagen wird. Wie steht es darum in der Wissenschaft? Ich habe Forschung manchmal so erlebt und so zu leben versucht. Vielleicht ist die produktive Kritik in manchen Fächern, Instituten und Universitäten auch Alltagserfahrung, doch meine war es nicht. Erkenntnisse aus den Forschungsfeldern der Geschlechterstudien, also der Gender Studies, und insbesondere aus der feministischen Forschung, der feministischen Rechtswissenschaft, in denen ich gearbeitet habe, wurden und werden regelmäßig denunziert oder einfach ignoriert. Erkenntnisse in diesen sehr dynamischen und schon aufgrund der wissenschaftskritischen methodologischen Ausgangsposition dezidiert selbstkritischen Feldern wurden und werden außerhalb der Gender Studies denn auch viel zu selten produktiv aufgenommen. Nur ein Beispiel: D i e Frage danach, ob und inwiefern die Abschottung der Privatautonomie von Gerechtigkeitsanforderungen zum Beispiel als Vertragsfreiheit, innerhalb derer auch diskriminiert werden könne, auf Kosten von Frauen konstruiert und praktiziert wird, gilt manchen immer noch als „abseitig", oder als „banal", oder als „zickig", oder als „einseitig". Die weitere Frage der heutigen Gender Studies, inwiefern das noch dazu im Kontext weiterer Ungleichheitskategorien zu sehen ist - intersektional, mehrdimensional - , also Vertragsfreiheit historisch auch dazu diente, Eigentum weißer Männer nicht nur an Frauen, sondern auch an schwarzen Menschen zu begründen, die Konstruktion der Geschlechterordnung also mit der rassistischen Konstruktion von Hautfarbe als Hierarchie eng verwoben ist — gilt dann als unangenehme Politisierung, als
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unzulässige Vermengung wirklich schwieriger (postkolonialer) mit abseitigen (Geschlechteroder schlimmer: Frauen-) Fragen, als „polemisch", „simpel", „daneben". Aber konstruktive Kritik - die ist selten, sie fehlt. Kritisch wäre ja durchaus zu diskutieren, inwieweit die Ausblendung von Geschlecht als wirkmächtiger Wissenskategorie ein Problem darstellt, also genau diese Wissenschaft, die sich als allgemein und relevant und innovativ und exzellent darstellt, nicht selbst einseitig ist. Dann wäre anzuregen, w o und wie Dinge anders theoretisiert oder empirisch genauer erfasst werden sollten, w o was nicht geht und warum - anstatt einfach weiter über Gender Studies zu sprechen, ohne sich auf sie je einzulassen. Solche ignoranten, von Ressentiments getragenen Debatten schaffen kein Vertrauen in die Qualität von Wissenschaft. Ein Gericht dürfte so nicht handeln. Vertrauen in das Verfassungsgericht beruht auch darauf, dass es durch Verfahrensregeln gezwungen ist, jeden Fall zu nehmen und jedes Argument gewissenhaft zu hören, und dass es sich auch in der eigenen Praxis zwingt, nur zurückzuweisen, was tatsächlich widerlegt werden kann. Alle werden zumindest gehört, niemand von vornherein ausgegrenzt. Ich denke, dass es auch da eine Parallele geben könnte: Je mehr die Wissenschaft auch zunächst irritierende Thesen konstruktiv aufnimmt, desto stärker wird sie und desto mehr verdient sie unser Vertrauen.
Vertrauen in Vielfalt Klingt das idealistisch? Lässt sich einer solchen Darstellung vertrauen? Vorgaben und formelle wie informelle Verfahrensregeln sind wichtige Komponenten jeder Institution, auf deren Entscheidungen wir vertrauen. Doch fehlt bislang der Faktor Mensch: Was trägt dazu bei, dass die Verfahrensregeln und die Vorgaben auch als Kultur gelebt werden? Im Bundesverfassungsgericht gibt es nach meinem Eindruck einen weiteren Faktor, der dazu beiträgt: Es ist die Vielfalt in der Einheit, und etwas genauer: die gewollte Diversität in höchster Loyalität. Gäbe es sie nicht, dann würden auch die schönsten Regeln irgendwann leerlaufen, einschlafen, die Anstrengung in den beschriebenen Verfahren vermieden werden. Kollegiale Vielfalt in institutioneller Loyalität - das ist ein weiterer Baustein, den Vertrauen benötigt. Vielfalt bedeutet konkret zunächst einmal nichts Einfach-Schematisches, keine Einheit, Monotonie, Passung. So müssen am Bundesverfassungsgericht die vielen Richter und die wenigen Richterinnen schon nach dem Willen des Gesetzgebers aus unterschiedlichen juristischen Berufen kommen - im Wesentlichen aus der Justiz und aus der Rechtswissenschaft. Zwar sind folglich alle juristisch ausgebildet, aber damit sind nicht alle gleich sozialisiert. Zudem werden die Richterinnen und Richter von den politischen Parteien je nach ihrer Stärke in den Wahlen vorgeschlagen und stehen so zunächst für unterschiedliche Grundhaltungen, müssen dann allerdings mit einer Zweidrittelmehrheit der Stimmen im Ausschuss gewählt werden, brauchen also einen großen Konsens mehrerer Parteien. Das lässt sich als Vertrauensvorschuss deuten. In der Praxis bedeutet es, das niemand durchkommt, den die anderen wirklich nicht wollen, aber dass durchgelassen werden muss, wer ganz anders, aber verkraftbar scheint - denn das gilt ja dann auch für den eigenen Kandidaten oder die eigene Kandidatin. Die politische Vorauswahl garantiert also in Kombination mit der Mehrheitsanforderung bereits Unterschiede ohne extreme Polarisierung.
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Zudem rekrutieren Abgeordnete und nicht die J u s t i z selbst, weshalb das Verfahren auch für die Präsenz unterschiedlicher Lebenswelten im Gericht sorgt. Lebenswelten erzeugen Normalitätsannahmen, und je unterschiedlicher diese sind, desto genauer wird dann auch in den Beratungen überprüft, was eigentlich als „normal" gelten sollte. Hintergründig spielte für Wahlen zum Verfassungsgericht wohl auch immer eine gewisse R o l le, ob Regionen gleichmäßig vertreten waren, die landsmannschaftliche Bindung. Zudem spielte eine Rolle, o b bestimmte religiöse Bindungen präsent waren, wenn auch bislang nur aus dem Christentum. Schließlich gibt es mittlerweile eine gewisse Erwartung, nicht mehr nur Männer zu wählen. Wie bei jeder Personalentscheidung gibt es zudem das heimliche Leitbild, also die Vorstellung davon, wie diese Figur beschaffen sein soll - im Gericht: ein Richter, in der Wissenschaft: der Professor. Das Leitbild ist sowohl in Karlsruhe als auch in der Wissenschaft wohl nach wie vor männlich (das Maskulinum eben nicht generisch, sondern gezielt gesetzt), und zwar spezifisch männlich. N i c h t macho-aggressiv, sondern eher seriös distinguiert, machtbewusst, souverän, kühl-verlässlich. Das verträgt sich gut mit Vorstellungen von Lauterkeit, die auch in der Wissenschaft erwartet wird, und nicht zuletzt Vertrauen schafft und rechtfertigt. Es hatte über Jahrzehnte zur Folge, dass R i c h t e r des Bundesverfassungsgerichts als distinguierte H e r r e n imaginiert wurden, mit unsichtbarer Familie im Hintergrund, grauen Schläfen, dunklem A n z u g , gemessenen Schritten, gewählten Worten, sonorer Stimme. J u t t a Limbach als Präsidentin des Gerichts, auf Vorschlag der S P D , hat daran nicht wenig verändert. O h n e h i n hat die S P D weit häufiger, wenn auch nicht so häufig Frauen zur Wahl vorgeschlagen und manche wurden auch gewählt, die F D P hat bislang nur M ä n n e r und die Grünen haben zuerst einen Mann und nun mich geschickt, also den immerhin zwei Geschlechtern die differente sexuelle Identität, aber auch den Feminismus und G e n d e r - K o m p e t e n z hinzugefügt. Zudem gab es immer ältere und jüngere Richterinnen und Richter, manche aus Großstädten, viele aus Kleinstädten oder vom Land. E s gab und gibt auch keinesfalls nur M e n s c h e n aus Akademiker- oder gar Juristenfamilien. Das G e r i c h t baut also, wenn auch in M a ß e n , auf Vielfalt. Das ist wichtig für das Vertrauen, dass dort nicht einheitlich abgehoben, k o n f o r m elitär gedacht wird. Diese Vielfalt lässt sich in Karlsruhe wie auch in der Wissenschaft ausbauen. A m Bundesverfassungsgericht sind von den 16, die da urteilen, immer noch 11 Männer, alle mehr oder minder zumindest christlich sozialisiert; und manche Fakultäten k o m m e n nie ohne Frauen aus, aber immer n o c h ganz ohne Frauen als Professorinnen, fühlen sich also in der männlichen M o n o k u l tur wohl und kreativ genug. Es lohnt sich jedoch auch in der Wissenschaft, mit denen zu sprechen, die dem Eigenen gerade nicht ähnlich sind. D a n n müssen sich auch Vorgaben und Verfahren beweisen. Vielfalt bedeutet für die Absicherung von Vertrauen auch, dass sich alle ziemlich genau beobachten, weil sie so unterschiedlich sind, dass Vertrauen also nicht qua Ähnlichkeit vorausgesetzt werden kann. Unterschiede bedeuten auch Fremdheit, und Fremdheit bedeutet gerade kein Vertrauen. A b e r anders als in der Liebe muss Vertrauen in solchen Institutionen nicht blind funktionieren. Vertrauen lebt jenseits der intim-emotionalen Bindung nicht zuletzt von der Erfahrung, dass etwas funktioniert, mit : echten Dingen zugeht, fair läuft, gerade t r o t z der Unterschiede. Es lebt deshalb gerade auch vom Hinschauen, von dauernd beobachtender Kontrolle, die nicht erstickend, sondern entlastend wirkt. Wohlgemerkt: I m Gericht ist das eine wechselseitige Kontrol-
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le mit gleichem Stimmgewicht. Sogar ein Präsident ist da - jenseits des Bildes, das die Medien lieben - Primus inter Pares. Vielfalt sichert also, dass unterschiedliche Perspektiven einfließen und Vertrauen aktiv fortlaufend hergestellt werden muss. Das funktioniert allerdings nur, solange es Loyalität gibt. Vertrauen wird auch dadurch geschaffen, dass nicht jede Debatte, jeder Dissens, jedes Hadern, jedes Ringen nach außen getragen wird. Vertrauen ist da, wenn alle dafür einstehen, dass man gemeinsam das Beste versucht hat, und wenn niemand danach behauptet, es eigentlich besser zu wissen. Und Vertrauen wird zerstört, wenn von außen individualisiert und personalisiert wird, also beispielsweise Entscheidungen eines Kollegialorgans Einzelnen zugeschrieben werden, Einzelne für alle stehen, also das divide et impera auch der Mediendemokratie greift. Wie aber steht es um Loyalität in der Wissenschaft? Es ist ein schwieriges Unterfangen. Kreative Genies (und alle, die sich diesem Bild verhaftet fühlen) sind nicht leicht auf Loyalität zu verpflichten. In Deutschland ist es auch aufgrund der nach wie vor dominanten Lehrstuhl-Struktur der Fächer eine hohe Kunst, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu zu bringen, nach innen hoch divers zu sein, aber sich nach außen immer vor ihre Universität zu stellen, die eigene Hochschule zu verteidigen, ein Bild einer Institution zu zeichnen, der man vertrauen kann.
Nicht blind vertrauen Mit diesen Beobachtungen will ich Sie motivieren, natürlich nicht dem Markt, nie der Politik, nicht der Wissenschaft und nicht einmal dem Recht - nicht einmal dem Bundesverfassungsgericht - blind zu vertrauen. Vielmehr müssen wir darauf setzen und aktiv selbst dafür sorgen, dass Vertrauen entsteht und besteht, dass es gerechtfertigt ist, uns entlastet und nicht enttäuscht; dass die Dinge tatsächlich fair funktionieren. Dazu gehört es, auf die Einhaltung von Regeln als verlässlichen Vorgaben zu pochen, Verfahren zu achten und Vielfalt als produktiv anzusehen - nicht weil sie bunt ist, sondern weil sie spezifische Qualitäten hat. So einfach, so anspruchsvoll, so notwendig. Ich hoffe nun, Ihr Vertrauen in eine nicht völlig langweilige Festrede nicht enttäuscht zu haben.
D e r Beitrag ist mit Nachweisen erschienen im Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
Peter J.
Brenner
Thomas Mann - ein Virtuose der Halbbildung
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n der Kulturgeschichtsschreibung wurde stets amüsiert zur Kenntnis genommen, dass der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann ein ziemlich schwacher Schüler gewesen war. Auch seine Laufbahn als Zuhörer an der Technischen Hochschule München dauerte nur zwei Semester. Weltweiten Ruhm hat er sich dennoch erworben, aber mit dem Problem der „Bildung" hat er sein Leben lang gerungen. Seine Romane und Erzählungen sind gesättigt mit Bildungswissen aller Art, das der Erzähler Thomas Mann in ironischer Distanz ausbreitet, ohne den Vorwurf der „Halbbildung" zu scheuen. Auf der anderen Seite aber gibt er den Zusammenhang zwischen „Bildung" und „Humanität" nie auf und plädiert unter dem Eindruck der N S - D i k t a t u r für eine Wiederbelebung der abendländischen Kulturtradition.
Thomas Manns Bildungsweg Am 16. März 1894 wurde Thomas Mann in Lübeck sein Schulabgangszeugnis gegen eine Gebühr von 1,80 Mark überreicht. Ein gutes Zeugnis war es nicht. D e m Schüler Thomas Mann wurden durchgehend mäßige bis sehr mäßige Leistungen bescheinigt. Das Wort „gut" findet sich nur beim „Betragen" - „im ganzen gut" - , in allen anderen Fächern, auch in „Deutsch mündlich" und „Deutsch schriftlich", finden sich die Vermerke „befriedigend" oder „noch befriedigend", nach heutigen Maßstäben also ausreichend oder gerade noch ausreichend. Dieses Zeugnis ist die staatliche Gegenleistung für die neun Jahre Schulbesuch, die Thomas absolviert hat, um einen eigentlich auf sechs Jahre angelegten Schulabschluss, das „Einjährige", die Mittlere Reife also, zu erzielen. Dass das Abitur in unerreichbarer Ferne lag, hat der Schüler selbst eingesehen. N a c h dem Schulabschluss siedelte Thomas Mann von Lübeck nach München zur Mutter und zu den Geschwistern über. Auf Drängen der Mutter und gegen die innere Uberzeugung versuch-
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te er sich kurzfristig als Volontär in der „Süddeutschen Feuerversicherungs = Bank" u n d schlug damit die k a u f m ä n n i s c h e L a u f b a h n ein. Dass er d a f ü r nicht geeignet war, h a t t e ihm u n d seinem Bruder H e i n r i c h d e r Vater indirekt testamentarisch bescheinigt, als er die Liquidation der Firma nach seinem T o d 1891 verfügte. D a m i t legte er die G r u n d l a g e f ü r das bescheidene Vermögen, v o n dessen Erträgen die Witwe u n d die Kinder k ü n f t i g leben k o n n t e n . Lange gut ging es mit dem Versicherungs-Volontär T h o m a s M a n n nicht. N a c h einem halben J a h r quittierte er die ungeliebte Tätigkeit u n d verfolgte das etwas u n b e s t i m m t e Ziel, „Journalist" werden zu wollen. Dass hierfür ein gewisser Bildungs- oder zumindest Wissensstand erforderlich sei, war ihm w o h l halb bewusst. So schrieb er sich in der „Allgemeinen Abteilung" der Technischen H o c h s c h u l e M ü n c h e n z u m WS 1894/95 als „Zuhörer" ein u n d besuchte in dieser Zeit mit einer gewissen Regelmäßigkeit auch die belegten Vorlesungen, sofern sie nicht vor 15 U h r begannen. Schlecht b e k o m m e n ist ihm das nicht. Ein Vierteljahrhundert zuvor, 1868, war das M ü n c h e n e r P o l y t e c h n i k u m d u r c h den technikbegeisterten Ludwig II. gegründet u n d 1877 zur „Technischen H o c h s c h u l e " a u f g e w e r t e t w o r d e n . Dabei wurde zugleich eine „Allgemeine A b t e i l u n g " eingericht e t , um den S t u d e n t e n jene Allgemeine Bildung zu vermitteln, die Teil der V o r p r ü f u n g f ü r Ingenieure war. I m 19. J a h r h u n d e r t glaubte man noch z u wissen, dass „Allgemeinbildung" die G r u n d lage für jede wissenschaftliche u n d berufliche Tätigkeit sei - u n d nebenbei e r h o f f t e m a n sich, dass durch solche Fächer das ö f f e n t l i c h e A n s e h e n einer „Technischen H o c h s c h u l e " g e h o b e n werde. Es gab P r o f e s s u r e n für deutsche, englische u n d romanische Literatur, allgemeine K u n s t geschichte, Geschichte, N a t i o n a l ö k o n o m i e , u n d auch die theoretischen G r u n d l a g e n f ä c h e r M a t h e m a t i k , P h y s i k u n d C h e m i e waren der „Allgemeinen Abteilung" z u g e o r d n e t . Diese Lehrstühle waren durchaus mit hochqualifizierten Wissenschaftlern besetzt; u n d v o n diesem A n g e b o t machte T h o m a s M a n n Gebrauch. Die Voraussetzungen erfüllte er: Er war „mindestens 17 J a h r e alt", hatte sich, so weit man wusste, „sittlich gut betragen" u n d verfügte, das w u r d e o h n e N a c h p r ü f u n g unterstellt, über die „Voraussetzungen f ü r das spezielle Fach, in welchem die A u s b i l d u n g angestrebt w u r d e " . Was er nicht hatte, war das Abitur, aber f ü r den Status eines „ Z u h ö r e r s " w u r d e das auch nicht verlangt. T h o m a s M a n n belegte Vorlesungen z u r m i t t e l h o c h d e u t s c h e n Literaturgeschichte, zu Shakespeare, z u r Ä s t h e t i k , z u r allgemeinen Kunstgeschichte u n d zur N a t i o n a l ö k o n o m i e , insgesamt sieben W o c h e n s t u n d e n ; im zweiten Semester k o m m t n o c h deutsche G e s c h i c h t e dazu. Sein „ C o l legheft" dieser J a h r e ist überliefert. Es zeigt ihn z u n ä c h s t als eifrigen u n d teilweise auch sehr kritischen H ö r e r , dessen Interesse im zweiten Semester jedoch deutlich erlahmte, sodass er im Juli m i t seinem B r u d e r H e i n r i c h nach Italien aufbrach. Aber diese Vorlesungen haben Spuren hinterlassen. A m deutlichsten sind sie sichtbar in sein e m zweiten R o m a n , „Königliche H o h e i t " . Hier setzt der K a u f m a n n s s o h n T h o m a s M a n n seine in den Vorlesungen Max H a u s h o f e r s erworbenen n a t i o n a l ö k o n o m i s c h e n Kenntnisse in literarische F o r m u m . N o c h reizvoller ist der Weg, den das v o m Literarhistoriker Wilhelm von H e r t z e r w o r b e n e Wissen in T h o m a s M a n n s Werk eingeschlagen hat: Bei H e r t z h ö r t e er erstmals die Geschichte v o m „Erwählten" Gregorius, die ihm, seine N o t i z e n bezeugen es, größtes Interesse erweckt hat u n d ihm den Stoff gab f ü r den fast f ü n f z i g Jahre später geschriebenen R o m a n „ D e r Erwählte", bei dessen A b f a s s u n g er sich aber offensichtlich nicht m e h r bewusst war, wer ihm d e n Stoff zugetragen hatte. Die ästhetischen Vorlesungen Rebers hingegen befriedigen ihn nicht. T h o m a s M a n n s h ö c h s t kritische K o m m e n t a r e zu den A u s f ü h r u n g e n des K u n s t p r o f e s s o r s zeigen jedoch, dass sie ihn
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dazu angeregt haben, sich systematisch mit den Problemen der Kunsttheorie zu beschäftigen und daraus ansatzweise eine eigene Kunstauffassung zu entwickeln. Eine halbgescheiterte Schullaufbahn und knappe zwei Semester an einer Technischen H o c h schule - das waren die formalen Bildungsvoraussetzungen, die T h o m a s Mann sich selbst auf seinen Bildungs- und Lebensweg mitgegeben hat. Im R ü c k b l i c k kann man sagen, dass es gereicht hat. Es hat gereicht für den Literaturnobelpreis und dafür, ihn zu einem der weltweit bekanntesten Schriftsteller deutscher Zunge zu machen.
Selbstdeutungen O b es ihm selbst gereicht hat, weiß man allerdings nicht. Es gibt hinreichend Anhaltspunkte dafür, dass es nicht so war. In seinen spärlichen autobiographischen, meist halb ironisch verdeckten Äußerungen zum T h e m a k o m m t T h o m a s Mann i m m e r wieder auf diese miseratene Bildungslaufbahn zurück. D e r durch die „Buddenbrooks" b e r ü h m t gewordene Autor schreibt 1904 auf Anfrage eine autobiographische N o t i z für die Zeitschrift „ N o r d und Süd" H i e r entwirft er das Muster seiner Selbstdeutung der Bildungsbiographie, das er später wiederholt in ähnlicher Form aufgreifen wird. „Ich begann an den M ü n c h e n e r H o c h s c h u l e n literarische, historische und kunstgeschichtliche Kollegien" zu hören. 1907, dreizehn J a h r e nach dem zähen Schulabschluss und dem kurzen I n t e r m e z z o an der Technischen H o c h s c h u l e , schreibt er eine etwas ausführlichere selbstbiographische N o t i z für die Zeitschrift „Im Spiegel". H i e r entwirft er das ironischkarikaturhaft verzerrte Klischee des gescheiterten Schülers, der zum erfolgreichen Künstler wurde: „so saß ich die J a h r e ab, bis man mir den Berechtigungsschein zum einjährigen Militärdienst ausstellte. [ . . . ] gab an, Journalist werden zu wollen, und hörte ein paar Semester lang an den Münchener H o c h s c h u l e n in buntem und unersprießlichem Durcheinander historische, volkswirtschaftliche und schönwissenschaftliche Vorlesungen." T h o m a s Mann selbst hat diese frühe und stark überzogene Selbstdarstellung in privaten Briefen als eine Karikatur bezeichnet, von der er nicht recht wusste, wie man sie aufnehmen und o b man sie als solche erkennen würde. A b e r noch einmal gute zwei Jahrzehnte später, im offiziösen ausführlichen „Lebensabriß" des gerade gekürten Nobelpreisträgers, baut er die Studienlegende sogar noch etwas aus: Danach ließ er sich „an den M ü n c h e n e r Hochschulen, der Universität und dem Polytechnikum, als H ö r e r eintragen". Auch danach k o m m t T h o m a s Mann mehrmals auf dieses verborgene, aber ihn offensichtlich umtreibende Problem der eigenen Bildungsbiographie zurück. Ins reine k o m m t er damit offensichtlich nicht. In den Zwanziger Jahren antwortet er mit einer längeren Ausführung auf eine Umfrage des „Berliner Tagblatts" vom D e z e m b e r 1917 nach dem Wert des Abiturs in der Gegenwart. Genau wie der ebenfalls befragte Albert Einstein wendet sich auch T h o m a s Mann „Gegen das Abiturientenexamen": „diese tagelange Schraubmarter, in der junge Leute, unter Anwendung schlafvertreibender Mittel, sich als wandelnde Enzyklopädien erweisen müssen, dieses Examen, bei dem die Mehrzahl der Examinatoren durchfallen würde, kann in seiner Inhumanität, sachlichen Schädlichkeit und ausgemachten Entbehrlichkeit nur aus Mangel an Sympathie mit der Jugend verteidigt werden." Das klingt so, als wüsste T h o m a s Mann aus eigener Erfahrung, worüber er spricht; aber er wusste es nicht. H i e r drängt sich Lafontaines Fabel vom Fuchs und den Weintrauben auf.
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Wenige Jahre später sieht er das wieder anders. In einem aus unbekannten Gründen unveröffentlicht gebliebenen Entwurf eines Schreibens von 1920 reagiert Thomas Mann auf die Initiative des Oberstudienrats J o s e f Brummer vom Münchener Luisengymnasium zur Stärkung des humanistischen Gymnasiums. Hier gibt sich der Autor Thomas Mann als Humanist der strikten Observanz. Man darf vermuten, dass die kurz zuvor, im Jahre 1919, erfolgte Verleihung des Ehrendoktortitels durch die Philosophische Fakultät der Universität in Bonn im Jahre 1919 einiges dazu beigetragen hat, Thomas Mann mit dem Bildungssystem zu versöhnen. Im „Lebenslauf" von 1930 zieht er dann wieder die Summe: „Die Promotion durch die philosophische Fakultät der Universität Bonn zum D o k t o r h. c. im Jahre 1919 ist ein Beispiel dafür; und um das deutsche Vergnügen an Titeln noch weiter zu befriedigen, fügte der Senat meiner Vaterstadt Lübeck einige Jahre später, gelegentlich eines städtischen Jubiläums, die Professor-Würde hinzu." Den Ehrendoktortitel wusste er gleich zu benutzen, wie er mit unverhohlenem, wenn auch ironischem Stolz berichtet. 17 Jahre später wird ihm der Titel vom Dekan der Philosophischen Fakultät in Bonn wieder aberkannt - nicht weil er ihn mit unlauteren Mitteln erworben hätte, sondern weil er als inzwischen ausgebürgerter deutscher Schriftsteller der Führung dieses Titels nicht mehr würdig sei. Zwischen der Ausbürgerung Thomas Manns am 2. Dezember 1936 und der Aberkennung des Titels ließ die Fakultät gerade einmal zwei Wochen verstreichen. Ein Jahrzehnt später wird sie ihm den Titel mit tiefen Bücklingen wieder zuerkennen, und Thomas Mann bedankt sich am 28. Januar 1947 artig und nicht ohne Ironie für die nicht erneute, sondern erneuerte Ehrung. Der weltberühmte Autor hat diesen Titel nicht mehr nötig, obwohl er ihn trotzdem wieder annimmt: Am Ende seines Lebens kann er auf neun Ehrendoktortitel verweisen, und es steht zu vermuten, dass diese akademischen Ehrungen ihm mehr bedeuteten als die „albernen .Literaturpreise'", über die er 1952 so abfällig im Tagebuch spricht. Mit dem letzten dieser Titel, dem Ehrendoktor der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich von 1954, nimmt die formale Bildungslaufbahn Thomas Manns ein Ende, mit dem nicht mehr zu rechnen war. Aus dem fast gescheiterten Schüler und dem Kurzzeitstudenten ist ein auch akademisch hochgeachteter und geehrter Schriftsteller geworden. Aber es lässt ihn nicht los. N o c h wenige Jahre vor seinem Tod kommt er, anlässlich eines Rückblicks auf die „Buddenbrooks", noch einmal selbstrechtfertigend auf seine fast gescheiterte Schullaufbahn zurück: „die öffentliche Schule, in der ich selbst mich wohl befunden und es zu etwas gebracht hätte, müsste, ich will es nur gestehen, noch erfunden werden; es gibt sie nicht und kann sie nicht geben, und bei meiner jugendlichen Kritik des deutschen Mittelschul-Betriebes, war ich mir dieser Tatsache still bewusst."
Erlesene Stoffe Ein Gelehrter und ein Bildungsbürger in einem formalen Sinne jedenfalls wurde er durch die vielen akademischen Ehrungen nicht. In seinem Werk holt er einiges nach von dem, was er als Schüler und Student versäumt hatte. Mehr und mehr führt er vor, was er gelernt hat. Bereits 1906 hat Thomas Mann aus gegebenem Anlass das Recht des Schriftstellers, sich der Wirklichkeit uneingeschränkt bedienen zu dürfen, aus gegebenem Anlass wortreich verteidigt, und er beruft sich dabei, belesen und gelehrt, auf eine unanfechtbare Ahnenreihe von Schriftstellern, die es ebenso
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gehalten hätten. In den „ B u d d e n b r o o k s " war es das L ü b e c k e r U m f e l d , das er als R o h s t o f f für sein e n R o m a n verwendet hat; in der „Königlichen H o h e i t " sind es die M ü n c h e n e r Verhältnisse sein e r Brautzeit; in etlichen E r z ä h l u n g e n , von „ W ä l s u n g e n b l u t " bis „ U n o r d n u n g und frühes Leid", bedient er sich bei seiner Schwiegerfamilie Pringsheim und bei seinen eigenen familiären L e b e n s verhältnissen. D e r T h o m a s - M a n n - B i o g r a p h H e r m a n n K u r z k e findet dafür die h ö c h s t treffende Charakterisierung: „Mit kaufmännisch-geiziger Resteverwertung nutzt er alles Lebensmaterial, das bisher noch nicht u n t e r g e k o m m e n war." A b e r dieser L e b e n s s t o f f e r s c h ö p f t sich, und spätestens im „ Z a u b e r b e r g " sind es dann die angelesenen Bildungs- und Wissensgüter, die das Füllmaterial für seine i m m e r stärker ausufernden R o m a n e und Erzählungen abgeben. D a s Modell hat er s c h o n in den „ B u d d e n b r o o k s " entwickelt. D i e berühmte T y p h u s - B e s c h r e i b u n g , mit der H a n n o s T o d eingeleitet wird, ist dem 17. Band v o n „Meyers C o n v e r s a t i o n s l e x i k o n " v o n 1 8 9 7 e n t n o m m e n . E i n knappes halbes J a h r h u n d e r t später k o m m t T h o m a s M a n n darauf zurück: I m „ D o k t o r F a u s t u s " hat er das gleiche Verfahren, sich fremden S t o f f anzueignen, in recht umfänglicher Weise verwendet. Von A d o r n o ließ er sich ausführlich mit I n f o r m a t i o n e n über die m o d e r n e Z w ö l f t o n m u s i k der W i e n e r Schule versorgen, die er dann ungeniert in seinen R o m a n übernahm. A d o r n o zeigte sich deutlich pikiert; und so musste T h o m a s M a n n seinem N a c h b a r n in Pacific Palisades einen B e s c h w i c h t i g u n g s - oder, wie er selbst solche Schreiben nannte, einen „Staatsbrief" schreiben. H i e r verwendet er die b e r ü h m t e Formulierung: „ A b e r ich weiß nur zu wohl, daß ich m i c h s c h o n früh in einer Art von h ö h e r e m A b s c h r e i b e n geübt h a b e " - dem K ü n s t l e r ist also erlaubt, was dem Wissenschaftler bis heute versagt bleiben muss. U n d in dieser Briefstelle beruft er sich auf sich selbst, indem er auf die „Budd e n b r o o k s " und den Typhus-Artikel verweist, um damit zu belegen, dass A d o r n o nicht der einzige war, bei dem er sich bedient habe. R e c h t zufrieden war A d o r n o damit bekanntlich nicht, und das zieht dann jenen langen „ R o m a n eines R o m a n s " über „ D i e E n t s t e h u n g des D o k t o r F a u s t u s " nach sich. Das T y p h u s - M o d e l l der „ B u d d e n b r o o k s " wird im Laufe der J a h r e und J a h r z e h n t e verfeinert u n d ausgeweitet. I n der „ K ö n i g l i c h e n H o h e i t " ist es n o c h die triviale Materie der beim T H - P r o f e s s o r M a x H a u s h o f e r flüchtig erworbenen
nationalökonomischen
Kenntnisse, die in den
R o m a n eingebracht werden. A b e r in der Folgezeit werden die S t o f f e i m m e r erlesener. Einen ersten H ö h e p u n k t stellt der „Tod in Venedig" von 1912 dar. H i e r bedient sich T h o m a s M a n n gleich beim heiligsten G u t des deutschen Bildungsbürgers, der antiken M y t h o l o g i e . D e r „Zauberberg" bietet neben allerlei Anspielungen wiederum auf die antike M y t h o l o g i e Ausflüge in das Reich der M e d i z i n und der N a t u r w i s s e n s c h a f t ; Settembrini steuert die Aufklärung bei, N a p h t a die lange Tradition des Irrationalismus; der O k k u l t i s m u s , zu d e m T h o m a s M a n n eine geheime N e i g u n g verspürte, ist gut vertreten; und auch die zeitgenössische Kultur- und Bildungslandschaft der mittleren J a h r e der Weimarer R e p u b l i k b e k o m m t hinreichend R a u m - und nicht zuletzt auch der Bildungsdünkel des Bildungsbürgers, der in Frau S t ö h r und ihrem misslingenden F r e m d w ö r t e r gebrauch ein dankbares O p f e r findet. Das alles ist flüchtig angelesen; verarbeitet und wieder liegen gelassen worden - T h o m a s M a n n hat nie einen H e h l aus dieser seiner A r b e i t s t e c h n i k gemacht. U n d so geht es weiter: für den „ J o s e p h " - R o m a n verschafft er sich gezielt I n f o r m a t i o n e n bei einschlägigen Spezialisten und bedient sich wieder bei einem g r o ß e n E r b e der M e n s c h h e i t , diesmal der alttestamentlichen und der altägyptischen G e s c h i c h t e . D e r nächste H ö h e p u n k t in dieser Linie ist dann der „ D o k t o r F a u s t u s " , der einen der fundamentalen M y t h e n der deutschen G e i s t e s g e s c h i c h t e verwertet.
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Zugleich zeigt sich Thomas Mann aber mit seinen allerdings etwas linkischen Ausgriffen in die aktuelle physikalische Diskussion schon im „Zauberberg" und dann im „Dr. Faustus" auf der H ö h e der Zeit. Ebenso wie im Eisenbahngespräch Felix Krulls mit Professor Kuckuck finden hier die Relativitätstheorie und die Urknalltheorie irgendwie ihren Platz in Thomas Manns Privatkosmologie. „Der Erwählte" greift schließlich wieder auf einen abgelegeneren Stoff aus der deutschen Literaturgeschichte zurück. Der 1954 endlich erscheinende, aber immer noch nicht fertig gestellte „Felix Krull" liest sich wie eine rückblickende ironische Selbstbespiegelung dieser Bildungsmarotte. Thomas Mann hat das gewusst und in den „Betrachtungen eines Unpolitischen" kommentiert, als er sich selbst bescheinigt, „den deutschen Bildungs- und Entwicklungsroman, die große deutsche Autobiographie als Memoiren eines Hochstaplers zu parodieren". Gleich auf der ersten Seite des Hochstapler- und Bekenntnisromans tritt Felix' Pate auf, der Kunstmaler Schimmelpreester, ein Professor mit zweifelhaften akademischen Legitimationen, dem seine soziale Umwelt seinen Titel doch in aller Gutmütigkeit zugesteht.
Die Wiedergeburt des poeta doctus in der Moderne Thomas Mann hatte mit dem „höheren Abschreiben" seine Formel gefunden, mit der er seinen laxen Umgang mit den Beständen der kanonischen Wissens- und Bildungstradition nicht nur rechtfertigen, sondern ihr auch die Gloriole höherer Kunstanstrengung verleihen konnte. Und allein stand er damit ja nicht. In den großen deutschsprachigen Romanen der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebt der poeta doctus eine merkwürdige Renaissance. Thomas Manns mehr oder weniger ungeliebte - und meist ignorierte - Kollegen Robert Musil, Alfred Döblin und Hermann Broch eignen sich auf ähnliche Weise fremde Stoffe aller Art an, ganz zu schweigen vom Dramatiker Bert Brecht, der die dann allerdings nicht ganz gerichtsfeste Formel von der „grundsätzlichen Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums" gefunden hatte. Insoweit bewegt sich Thomas Mann also auf den gebahnten Wegen der literarischen Moderne. Von den Kollegen unterscheidet ihn aber die Geschmeidigkeit, mit der er die angelesenen Stoffe dem eigenen Werk anverwandelt und sie mit ihm bis zur Unkenntlichkeit verschmilzt. Einen ähnlichen souveränen Umgang mit fremden Stoffen pflegte wohl nur noch Thomas Manns halber Zeitgenosse Karl May. Während es zu den charakterisierenden Verfahren der literarischen Moderne gehörte, das Verfahren der Aneignung offenzulegen und die dadurch entstehenden Brüche nicht zu glätten, spielt der Autor Thomas Mann den Bildungsbürger, der souverän über die Stoffe verfügt, so als ob hier nur Eigenes dem Eigenen hinzugefügt würde. Dass es nicht so war, hat er dann auch auf Befragen gerne zugegeben, und späterer Germanistenfleiß hat gezeigt, wie oberflächlich seine Kenntnis der Stoffe, die das Baumaterial für seine Werke bilden, meist war. Aber in seinen Romanen und Erzählungen erscheinen die angelesenen Wissensfragmente mit dem Glanz von Bildungsgütern.
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„Bildungsbürger" und „Bildungsphilister" von der „Bildung" zur „Halbbildung" D e r K a u f m a n n s s o h n mit seiner ziemlich dissonanten Bildungsbiographie inszeniert sich auf den ersten B l i c k als Bildungsbürger, der souverän aus dem B r u n n e n der Bildungsvergangenheit s c h ö p f e n kann. E i n e m strengen B e t r a c h t e r muss er damit als legitimer N a c h f a h r e einer illegitimen Tradition erscheinen. N a c h d e m sich im D e u t s c h l a n d des früheren 19. J a h r h u n d e r t s unter vager Berufung auf Wilhelm von H u m b o l d t jene spezifische Kulturtradition des „Bildungsbürgers" etabliert hatte, meldeten sich bald nach der J a h r h u n d e r t m i t t e die Kritiker zu Wort. Gustav Freytag, der 1855 mit seinem Kaufmanns roman „Soll und H a b e n " ein wenig gewürdigtes Vorbild für die „Buddenb r o o k s " publiziert hatte, veröffentlicht neun J a h r e später seinen Bildungsbürgerroman „Die verlorene H a n d s c h r i f t " . H i e r wird die sich langsam verdichtende Einsicht in die sich verbreiternde K l u f t zwischen „echter"und „falscher", nämlich nur „oberflächlicher" Bildung ausgiebig thematisiert - wie später Frau S t ö h r im „Zauberberg" und der A u t o r T h o m a s M a n n in den „Buddenb r o o k s " bezieht Freytags Frau O b e r a m t m a n n Rollmaus ihr Wissen aus einem C o n v e r s a t i o n s lexikon. I h r e n fulminanten H ö h e p u n k t erfährt die Kritik in N i e t z s c h e s R e d e n „ U b e r die Z u k u n f t unserer Bildungsanstalten" und seiner „Ersten U n z e i t g e m ä ß e n B e t r a c h t u n g " . N i e t z s c h e ist der „Bildungsbürger" zum „Bildungsphilister" mutiert, der irrtümlich
Für
„selber
M u s e n s o h n und K u l t u r m e n s c h zu s e i n " glaubt. D i e s e T e x t e aus der zweiten H ä l f t e des 19. J a h r h u n d e r t s sind ein k o m p r o m i s s l o s e r Abgesang auf den „Bildungsbürger", der sich allerdings davon hat wenig beeindrucken lassen und bis weit in die zweite H ä l f t e des 2 0 . J a h r h u n d e r t s hinein als soziologisches P h ä n o m e n überlebt hat. D e n schlüssigen B e g r i f f für diese E n t w i c k l u n g findet im selben Jahr, als T h o m a s M a n n sein Schulabgangszeugnis erhielt, der stark unterschätzte B i l d u n g s t h e o r e t i k e r und H i s t o r i k e r des höheren deutschen Bildungswesens Friedrich Paulsen. M i t dem Begriff der „ H a l b b i l d u n g " prägt er das Stigma, mit dem der ungebildet gewordene Bildungsbürger künftig behaftet sein wird: „Halbbildung ist eben das, was im gemeinen Sprachgebrauch Bildung heißt, die F r e m d w ö r t e r und das G e h ö r t h a b e n und das R e d e n k ö n n e n von allen D i n g e n . Halbbildung ist der B e s i t z v o n allerlei K e n n t n i s s e n , die nicht innerlich angeeignet und in lebendige Kraft umgewandelt sind." Viel später, einige J a h r e nach T h o m a s M a n n s Tod, greift dessen H a u s n a c h b a r in Pacific Palisades, T h e o d o r W A d o r n o , diese F o r m e l der „ H a l b b i l d u n g " auf oder erfindet sie neu - und dass dann n o c h m a l s ein halbes J a h r h u n d e r t später der „ T h e o r i e der H a l b b i l d u n g " eine „ T h e o r i e der U n b i l d u n g " folgen musste, ergibt sich aus der Entwicklungslogik unserer Bildungsanstalten. In A d o r n o s „ T h e o r i e der H a l b b i l d u n g " erhält der B e g r i f f eine geschichtspessimistische Wendung: „Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung sondern ihr Todfeind" — „Halbbildung" eben, und diese habe eine „totalitäre G e s t a l t " , denn mit ihr schwingt sich der K l e i n b ü r g e r zum illegitimen H e r r s c h e r im R e i c h des Geistes auf. D a s hat s c h o n Paulsen gewusst: „Halbbildung macht unduldsam und b r u t a l " , schreibt er 1893. U n d ganz ähnliche E i n s i c h t e n finden sich bald darauf bei T h o m a s M a n n . A u c h ihm ist die „ H a l b b i l d u n g " dem Begriff und der Sache nach nicht fremd. S c h o n 1 9 1 0 , in seinem ersten F o n tane-Essay, spricht er vom „Halbbildungsdünkel", der „den letzten R e s t v o n Autorität begraben" habe. „ H a l b b i l d u n g " , die sich selbst ernst n i m m t , sich gar mit der politischen M a c h t verbindet, ist gefährlich, das weiß T h o m a s M a n n : „die miserabel überreizte Halbbildung und pseudomysti-
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sehe Versumpfung dieser Gehirne wäre komisch genug, wenn sie nicht so grauenhaft und hemmungslos bedrohlich wäre", schreibt er 1934 in seinen Tagebuchblättern „Leiden an Deutschland" unter dem Eindruck der sich abzeichnenden historischen Entwicklungen; und in dem kurzen Artikel „Germany's Guilt and Mission" von 1941 spricht er geradezu vom „Orakelspruch Hitler'scher Halbbildung". Das ganz und gar unfaustische Bündnis zwischen Halbbildung und Barbarei steht Thomas Mann als einem genauen Beobachter der Zeitgeschichte nur zu deutlich vor Augen.
Ein versöhnliches Ende: Bildung und Humanität Das alles ist Thomas Mann also gut vertraut, und vertraut ist ihm auch die Einsicht, dass er selbst, mit seiner verschlungenen Bildungsbiographie, auf komplizierte Weise in diese Geschichte der Bildung und der Halbbildung hinein gehört. D e m Erzähler Thomas Mann ist die Bildung kein Machtinstrument. Er nutzt sie gerne; er stellt sie zur Schau und er schmückt sich und seine Romane mit ihr. Aber zu diesem seinen eigenen Verhältnis zur Bildung bewahrt er doch immer eine gebrochene Distanz, eben die Distanz des Ironikers, der er als Romancier in erster Linie und bleibt. Mit der Bildung geht er so virtuos um wie der Hochstapler Felix Krull mit dem geliehenen Marquis-Titel. Er spielt mit ihr, und er nimmt sie doch ernst; er zollt ihr Respekt und weiß doch, dass sie gefährdet ist, wenn nicht ohnehin ihre Zeit schon vorbei ist. Wie es mit seiner eigenen Bildung steht, lässt er offen: „wenn ich, als Künstler einer Generation von .Naturalisten' zugehörig, die auf positive Gelehrsamkeit nicht eben bedacht war, intellektuelle Bildung irgend in Anspruch nehmen darf", schreibt er mit kokettem Selbstzweifel in den „Betrachtungen eines Unpolitischen". Aber ernst nimmt er die Bildung doch. In seinen zahllosen Essays zur Literatur, Musik und Philosophie demonstriert er seine weitgefächerte Kennerschaft des Kanons der abendländischen Kultur. Was in den Romane und Erzählungen meist der spielerischen Ironie überantwortet wird, bieten die Essays und Vorträge nicht ohne studienrätliche gravitas dar. Ohne Bildung geht es nicht, das weiß er auch im Blick auf die eigene kulturelle Herkunft und Prägung: „ich bin der bewusste Abkömmling eines Bürgertums, das seine Uberlieferungen aus eben dieser Epoche empfing, ja, wie das keines anderen Landes das Produkt humaner Bildung ist". Die nationale Perspektive und Beschränkung dieser Selbstdeutung aus den „Betrachtungen eines Unpolitischen" wird später konsequent überschritten. Im Tagebucheintrag vom 23. August 1934 zeigt er, wie ernst es ihm ist mit der „abendländischen Bildung": „Sagt, was ihr wollt: das Christentum, diese Blüte des Judentums, bleibt einer der beiden Grundpfeiler, auf denen die abendländische Gesittung ruht, und von denen der andere die mediterrane Antike ist." „Bildung" ist eben doch mehr als abgelebter Philisterzierrat. Im Vortrag „Humaniora und Humanismus" von 1936 stellt er die Zusammenhänge noch einmal unzweideutig heraus. Die Bildungsgüter der griechischen und römischen Antike, die Humaniora, sind eng verbunden mit dem „Humanismus"; und deshalb kommt er zu dem Schluss: „für die Beibehaltung der Humaniora im offiziellen Unterrichtsprogramm spricht sehr vieles". Dabei wird es bleiben. Der fast gescheiterte Schüler und fulminante Kritiker des Schulsystems kommt unter den Eindruck der historischen Ereignisse zu der Einsicht, dass es am Ende ohne Bildung, den Rückgriff auf die Kulturgüter des Abendlandes nicht geht.
Udo Di Fabio
Europa in der Krise: Trägt die europäische Idee? I. Krise Europas
D
ie Staatsschuldenkrise hat es, einem Schlaglicht gleich, an den Tag gebracht: Die Euro-
päische Union verliert ihre Fraglosigkeit. Vor wenigen Jahren bezweifelte kaum jemand, dass die immer engere Union der Völker Europas, der größte Binnenmarkt der Welt, in
seiner Kompetenzausstattung und institutionellen Entwicklung im Vorhof der Bundesstaatlich-
keit angekommen und auf dem besten Weg war, mit den U S A auf Augenhöhe eine Bastion des Westens und eine der großen Mächte des 21. Jahrhunderts zu werden. In der ersten Phase der Weltfinanzkrise 2008 sah es sogar so aus, als müssten sich die strauchelnden U S A auf ihren europäischen Verbündeten stützen, als würde der Euro schon deshalb gebraucht, weil die Leitwährung der Welt seltsam weich wurde. Doch dann stand Griechenland vor der Insolvenz. Ein Mitglied des Eurowährungsraums. Es gab Tage im Frühjahr 2010, da kaufte der Markt mit Ausnahme von Bundesanleihen keine Staatsanleihe eines Euromitglieds mehr. Nur durch organisierte multilaterale Kreditvergaben, einschneidende fiskalische Sparmaßnahmen in Krisenländern, annoncierte und tatsächliche Anleihekäufe der EZB, die Nutzung ihres Targetsystems und durch eine extreme Erleichterung im Zugang zu Notenbankgeld konnte Schlimmeres abgewendet werden. Heute scheint für viele, die der ständigen Hiobsbotschaften müde sind, eine unbegriffene Schuldenkrise überwunden, während besser Eingeweihte auf einen gefährlichen Schwelbrand im ökonomischen und politischen Fundament der Union hinweisen. Fühlbar sind jedenfalls jetzt die Konsequenzen der Bremsung einer jahrzehntelangen Geldexpansion, sei es in verschuldeten Privathaushalten oder in aufgeblähten Immobiliensektoren, sei es in öffentlichen Budgets. Europa, der einst so vitale, jetzt aber sichtbar alternde Kontinent, tritt auf der Stelle. Stagnation und Rezession, hohe Arbeitslosigkeit, Unzufriedenheit, Perspektivlosigkeit herrschen in vielen Ländern von Griechenland und Spanien über Bulgarien bis nach Frankreich.
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Nach ihrer Bewertung der EU gefragt, äußert sich eine Mehrheit mittlerweile ablehnend, während im vergangenen Jahr in Umfragen noch rund 60 Prozent der EU als gemeinsames Projekt zustimmten. Einst europabegeisterte Spanier und Franzosen versagen laut Zeitungsberichten „Brüssel" ihre Unterstützung. Selbst in Deutschland verminderte sich die Quote der EU-Unterstützer von 68 auf 60 Prozent, in Frankreich aber sank sie von 60 auf 40 Prozent. In manchen Ländern werden Hassplakate gegen Deutschland gezeigt, es droht ein Vertragsverletzungsverfahren, wenn Deutschland weiterhin so hohe Handelsbilanzüberschüsse erwirtschaftet. Das Vereinigte Königreich verlangt den Rückbau von übertragenen Kompetenzen, droht mit einem Austrittsplebiszit. Die europäische Kommission, einst unbestritten Hüterin des Wettbewerbs und der Verträge, erteilt großzügig befristeten Dispens von der Einhaltung der Stabilitätskriterien, also von der Beachtung der Verträge; vielleicht, um noch mehr Abneigung oder gar Rebellion gegen Brüsseler Spardiktate zu verhindern. Wie man es auch dreht und wendet, es bleibt der Eindruck, dass die in den Verträgen beschworene immer engere Union der Völker Europas einer Union weicht, die es mit erheblichen Zentrifugalkräften zu tun bekommt.
II. Krise der Wirtschaft Die Krise scheint im Kern eine Krise von Wirtschaft und Finanzen zu sein; sie ist noch keine politisch oder kulturell fundierte Ablehnung der europäischen Vereinigung. Aus dieser richtigen Einsicht können allerdings zwei Irrtümer folgen: Man könnte meinen, es handele sich nur um Wirtschaft, alles andere und vor allem die europäische Idee aber würden tragen. Der andere Irrtum könnte darin liegen, es gebe sehr einfache wirtschafts- und fiskalpolitische Weichenstellungen, etwa mehr Geld in die Hand zu nehmen, die den Kurs in Richtung Wachstum und Prosperität lenken und damit die Auflösung aller Krisenphänomene herbeiführen würden. Der Zustand der Wirtschaft ist nicht nur in einer stark ökonomisierten und konsumtiv ausgerichteten Gesellschaft ein entscheidender Maßstab für die Akzeptanz des politischen Systems. Deutschlands Weg in den moralischen Abgrund der Naziherrschaft hatte auch etwas mit der gravierenden Rezession der Weltwirtschaftskrise zu tun, und diese Lektion hat nicht nur die junge Bundesrepublik, sondern die ganze westliche Welt gelernt. So ist denn Europa auch keineswegs zufällig als Wirtschaftsgemeinschaft entstanden, mit dem Versprechen von Mobilität und Prosperität. Die Europäische Union ist nicht aus gemeinsamem Kampf und einem großen Opfer hervorgegangen, sondern gerade aus der Abkehr von einem nationalistischen Schlachtfeldheroismus. Europa steht für den gutbürgerlichen, manchmal permissiven Konsens, sein Ansehen hat sich aus Friedensgewährleistung und vor allem den Wohlstandgewinnen gespeist, die ein offener Binnenmarkt, Grundfreiheiten und eine gemeinsame Handelspolitik maßgeblich mit ermöglicht haben. Europa ist auch heute nachweislich eine Win-Win-Situation. Nicht nur das exportabhängige Deutschland hat von der Wirtschaftsintegration profitiert. Allerdings schwindet heute diese Gewissheit zunehmend und man fürchtet - je nach Perspektive und Interessenlage - entweder das von Deutschland dominierte Europa oder einen bedenkenlosen „Club Med" oder eine seelenlose, alle Eigeninitiative erstickende Brüsseler Bürokratie. War die Idee der Vereinigung Europas also nur eine Schönwetterveranstaltung, von der alle ihren Benefit erhofften, für die aber
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niemand Opfer bringen will? Warum nur verstehen die Menschen nicht die Vorzüge Europas, warum sehen sie nicht die Unausweichlichkeit der Einheit?
III. Funktional erzielte Einheit Die europäische Idee, schon in der Zwischenkriegszeit politisch vertreten etwa durch Briand und Stresemann, wollte den kontinentalen Ausgleich Frankreichs und Deutschlands auch als Nukleus der Vereinigten Staaten von Europa, also ein Neo-Karolingisches Projekt, um die 1918 bereits eingebüßte Weltmachtrolle des alten Kontinents wiederzuerlangen. Nach 1945 zielten deshalb die ersten Versuche aus dem Europarat heraus auf eine Verfassung und eine Bundesstaatsgründung aus dem Pathos der Uberwindung von Krieg, Not und Zerstörung. Der europäische Staatenantagonismus, jener vor allem auch wirtschaftlich gespeiste Grundwiderspruch zwischen den europäischen Staaten, musste nach 1945 überwunden werden. Aber spätestens mit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in der französischen Nationalversammlung im August 1954 war der direkte politische Weg zum europäischen Bundesstaat blockiert. Im Grunde erwiesen sich die kulturellen Antriebskräfte für den Schritt in den Bundesstaat als zu schwach. Der europäische Staatenantagonismus sah die Staaten als abgeschlossene Machtgebilde im Wettkampf, als Machtstaaten, die sich selbst in wechselnden Bündniskonstellationen als politischen Höchstzweck definierten, die sich bei aller Offenheit für den Handel als prinzipiell geschlossene Wirtschaftssubjekte mit Protektionismus, mit Zöllen, voneinander abgrenzten und sich auf allen politischen wie wirtschaftlichen oder technologischen Feldern in darwinistischer Konkurrenz wähnten. Dass es dabei nach der Selbstzerstörung des alten Kontinents nicht bleiben konnte, war für die Zeitgenossen keine Frage. Europa ist nicht im ersten großen politischen Wurf entstanden, sondern auf der Grundlage der funktionalen Einigungsidee. Das klingt schon etwas technisch. Es wird nicht mit Pathos ein Bundesstaat gegründet, sondern es wird das Näherrücken der Völker Europas herbeigeführt, und zwar über die zusammenwachsende Wirtschaft: Interessen sollen sich grenzüberschreitend neu formieren. Es wird, wenn man so will, ein Umweg eingeschlagen oder aber dort der Weg gesunder Grundlegung gewählt, wo die kulturelle Homogenität zur Gemeinschaftsbildung nicht hinreicht. Nicht nur für Marxisten und Wirtschaftsliberale ist die Wirtschaft Grundlage einer Gesellschaft und entscheidende Bedingung für die Stabilität des politischen Systems. War es nicht so, dass die Völker Europas nicht zuletzt immer wieder aus wirtschaftlichen Gründen aufeinander eingeschlagen haben? Was lag näher, als diese Hauptursache im Kern zu entschärfen? Was lag näher, als die Potenziale für die Rüstungswirtschaft - damals Kohle und Stahl - zu vergemeinschaften und einer Hohen Behörde, einer supranationalen Behörde, zu unterstellen, sodass kein Staat, der daran beteiligt war, auf eigene Rechnung wieder aufrüsten konnte? Das war die erste Idee der Montanunion aus dem Jahre 1951. Aus jener Hohen Behörde wurde dann mit den Römischen Verträgen die Kommission. Funktionale Einigung sollte bedeuten, dass Europa, dass die zunächst sechs Staaten, die sich zusammenschlössen und die sich seit 1958 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft nannten, dass diese Gemeinschaft einen Gemeinsamen Markt bildet, der als Markt nur noch Außengrenzen kennt, der nur noch Außenzölle erhebt, der im Inneren aber jeden Protektionismus, jedes Han-
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delshemmnis verhindert. Das ist etwas, was sich die deutsche und auch die niederländische, die belgische oder französische Wirtschaft schon lange gewünscht hatten, weil sie sich in der Vorvergangenheit zwar selbst auch durch Zölle hatten schützen lassen, aber letztlich als Exportwirtschaften auf den freien Marktzugang warteten. Dabei ging es nicht nur um freien Marktzugang, sondern es ging auch um die Idee der Grundfreiheiten, nämlich dass sich die Bürger als Wirtschaftssubjekte frei über die Grenzen in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum bewegen können. Das hat in Europa zu Prosperität und zu einem ständigen Rückgang des Protektionismus untereinander geführt. Das heißt nicht, dass die Europäische Union dann nicht ihrerseits als Gemeinschaft, was etwa die Agrarpolitik angeht, protektionistische Tendenzen aufgewiesen hätte, aber eben nach außen und nicht mehr nach innen. Im Inneren der Gemeinschaft wurden die Konflikte, die Interessengegensätze, die seit den 50erJahren nicht plötzlich verschwunden waren, kooperativ behandelt, ausgehandelt und in die institutionelle Ordnung des Wettbewerbs überführt. Konflikte wurden ausgeglichen, sogar auf dem schwierigen und zunächst wenig wettbewerbsgerechten Feld der Agrarmarktordnungen. Das europäische System hat vor allen Dingen seine Innovation darin gefunden, dass die Staaten, die vorher gegeneinander finassiert und gerüstet oder Bündnisse geschlossen hatten, nunmehr verhandeln mussten. Die Europäische Union ist vom ersten Tag an ein permanenter Verhandlungsmarathon gewesen. Das hat sich bis heute nicht geändert. Es ist ein vernetztes Verhandlungssystem entstanden, und zwar auf verschiedenen Ebenen mit autonomen Akteuren: vor allen Dingen der Kommission, der Parlamentarischen Versammlung, dem Europaparlament, dem Europäischen Gerichtshof als unabhängigem Gericht in diesem Institutionensystem und natürlich dem Rat, der ein europäisches Organ ist, aber zugleich auch ganz genuin die Vertretung der Interessen der Mitgliedstaaten formuliert. Europa hat mit der Funktionalität des Marktes und den Kräften des Wettbewerbes ein Verhandlungssystem mit eigenem Gewicht und eigener Entscheidungsmacht geschaffen, das seine Interessen ausgleicht und so wirkungsvoll dem Frieden dient, wirtschaftliche Prosperität fördert u n d damit die Demokratie in ihren praktischen Voraussetzungen sichert. Zugleich allerdings ist das überstaatliche Regieren in Europa, je weiter es thematisch reichte u n d je intensiver die Regelungen wurden, auf das Problem der strukturellen Intransparenz gestoßen, das jedem verhandelnden N e t z w e r k anhaftet. Europa schleppt ein inhärentes Demokratieproblem mit sich herum. Damit ist nicht gesagt, dass die Kommissare oder EuGH-Richter nicht demokratisch ernannt wären. Die Legitimationsketten zum Volk, auf die das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung Wert legt, sind vielleicht lang, aber sie bestehen. Die Europäische Kommission, das Parlament als direkt gewählte Vertretung, und auch der Europäische Gerichtshof sind alle demokratisch legitimiert. Hier liegt nicht das Problem. Das Problem liegt darin, dass eine demokratische Öffentlichkeit Alternativen, Parteien und Personen auf einer Bühne des Meinungskampfes beobachten können muss, vor allem im Regierungs-OppositionsDualismus. Auf dieser Bühne werden politische Alternativen formuliert und zugeordnet, wer für welche Programmatik steht. Das kann man in einem komplexen Verhandlungssystem nicht in gleicher Weise erwarten. Auch wenn sich eine europäische Öffentlichkeit stärker formieren würde, könnte sie in Brüssel nicht das beobachten, was wir in den klassischen Demokratien, in Nationalstaaten, kennen. Deshalb hat Europa ein funktionsbedingtes Demokratiedefizit, das nicht einfach mit einer gut gemeinten Reform beseitigt werden kann, sondern aus der Genese u n d aus der Idee des supranationalen Interessenausgleichs selbst stammt.
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IV. Spill-Over-Effekte: Dynamik der Wirtschaft und Logik überstaatlicher Herrschaft Was ist aus der funktionalen Einigungsidee geworden? Wie hat sie sich entwickelt? Sie hat sich zunächst einmal genau so entwickelt, wie man sich das vorgestellt hat: Aus den Grundfragen, aus dem Gemeinsamen Markt wurde der Binnenmarkt, wuchs ein mächtiger wirtschaftspolitischer Akteur, entwickelte sich der größte Binnenmarkt der Welt, der auch multinationalen Firmen Bußgelder in Milliardenhöhe auferlegen kann. Das hätte kein einzelner Staat der Europäischen U n i o n geschafft; aber alle zusammen haben eine solche Organisationsmacht entwickelt, dass sie auf der weltpolitischen Bühne der Wirtschaft spielen können. Funktionale Einigung bedeutet aber auch, dass aus dem wirtschaftlichen Zusammenwachsen ein Bedarf nach mehr gemeinsamer Politik entsteht. Schon in den 50er-Jahren haben Politikwissenschaftler das als Spill-Over-Effekt bezeichnet, also als einen Mehrwert, der aus der wirtschaftlichen Vereinigung und ihren Zwängen resultiert, als ein D r u c k , der dazu führt, dass man auch politisch enger zusammenarbeiten muss. D e n n wer einmal Grundfreiheiten zulässt, der braucht auch eine Gesetzgebung, die bestimmte Sicherheitsstandards gemeinsam vorschreibt; denn sonst müsste man - weil die einzelnen Mitgliedstaaten keine Handelshemmnisse errichten dürfen - die Produkte ohne staatliche Eingriffsmöglichkeit am Markt zulassen. Also braucht man harmonisierende Richtlinien oder Verordnungen, die einen gemeinsamen
Produktsicherheitsstandard
festlegen. Wer Freizügigkeit erlaubt, der braucht auch eine Politik gemeinsamer Bildungsabschlüsse, und wer die gegenseitige Anerkennung von Bildungsabschlüssen unter den Staaten propagiert, der braucht bald auch gemeinsame N o r m e n , damit die Bildungsabschlüsse wirklich vergleichbar sind. D i e funktionale Einigungsidee wollte nicht nur einen Wirtschaftsraum organisieren. Sie wollte auch Europa politisch zusammenwachsen lassen, ganz wie es Artikel 1 Abs. 2 des Europäischen Unionsvertrages formuliert: eine immer engere U n i o n der V ö l k e r Europas, mit Hilfe dieser funktionalen Einigungsmethode. A b e r man sieht, es ist eine M e t h o d e des U m w e g s - nicht mit geöffnetem Visier, sondern funktionalistisch vorgehend. Was funktionalistisch ins Werk gesetzt wird, hat Vorteile, ist aber immer auch typischen Risiken ausgesetzt. Ein Risiko ist, dass dieser U m w e g nicht richtig kommuniziert und verstanden werden kann, wenn das Visier geschlossen bleibt. W o Politiker anfangen, in einer gestanzten, bedingungslos affirmativen Art über Europa zu reden, k ö n n e n auch Bürger, die der europäischen Friedens- und Wirtschaftsordnung wohlwollend zugetan sind, den
Eindruck
b e k o m m e n , es werde nicht die ganze Wahrheit gesprochen.
V. Der Spill-Over-Effekt der Währungsunion D e r Spill-Over-Effekt hat solchen Einwänden zum T r o t z zu einer gemeinsamen Wirtschaft und zu einem politischen Zusammenwachsen geführt. M i t der Einheitlichen Europäischen A k t e und vor allem dem Maastrichter Unionsvertrag wurde die politische Vereinigung auch vertraglich vereinbart. Gleichzeitig wurde mit dem Maastrichter Unionsvertrag auch der nächste Spill-OverEffekt auf das Gleis gesetzt, nämlich die Gemeinsame Europäische Währung. D i e Gemeinsame
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Europäische W ä h r u n g war ö k o n o m i s c h wohl keineswegs zwingend notwendig. D e n n E u r o p a hatte ja s c h o n lange, seit den K o n f l i k t e n mit der Europäischen Währungsschlange, gelernt, die Währungen aufeinander a b z u s t i m m e n . Die Idee der Europäischen Währungsschlange war so schlecht nicht, gewisse Schwankungsbreiten oder auch A u s t r i t t s m ö g l i c h k e i t e n v o r z u s e h e n , falls ein Staat in wirtschaftliche Schwierigkeiten k o m m t , um das elastische I n s t r u m e n t der W ä h r u n g s politik zu behalten. M a n hätte, mit ein wenig institutioneller Phantasie währungspolitisch Schritt für Schritt anders vorangehen k ö n n e n . A b e r man wollte politisch den nächsten S p i l l - O v e r - E f f e k t setzen, U n u m k e h r b a r k e i t d e m o n s t r i e r e n , einige wollten vielleicht auch einen mächtigen H e b e l schaffen, um auf dem Weg z u m Europäischen Bundesstaat voran zu k o m m e n . D i e G e m e i n s c h a f t s w ä h r u n g , der E u r o , hat dazu geführt, dass sich Mitgliedstaaten mit geliehen e m Geld versorgen k o n n t e n , wie sie das vorher jedenfalls in dieser A r t und G ü t e , zu diesem Zinsniveau nicht k o n n t e n . A u f Staaten, die wirtschaftlichen N a c h h o l b e d a r f hatten, wirkte der Beitritt zur W ä h r u n g s u n i o n wie die Aushändigung einer goldenen K r e d i t k a r t e mit den glänzenden Symbolen der Stabilität und W i r t s c h a f t s m a c h t Deutschlands, F r a n k r e i c h und der N i e d e r l a n de auf der Vorderseite und dem wichtigen, aber gerne überlesenen Warnhinweis, dass jeder B e s i t zer der gemeinsamen K r e d i t k a r t e für seine Verbindlichkeiten nur selbst einsteht. E s bestand die Gefahr, dass alle Beteiligten nur die glitzernde Schauseite sehen und bei der Beurteilung der Bonität von B a n k e n und Staatsanleihen vergessen, wer die Vertragspartner sind. Dass der E u r o als W ä h r u n g durch eine allzu forsche öffentliche und private Verschuldung leiden könnte, hat man von vornherein als Risiko gesehen und deshalb die Stabilitätskriterien in den Maastrichter U n i o n s v e r t r a g hineingeschrieben. J e d e r wusste von den Stabilitätskriterien, dass sie schwer zu kontrollieren sind. D i e Architekten des Maastrichter Unionsvertrages waren aber keine Anfänger und keine Träumer. Sie haben deshalb zwei S a n k t i o n s m e c h a n i s m e n vorgesehen. A u f der einen Seite steht ein Verletzungsverfahren durch die K o m m i s s i o n , indes mit starker B r e m s möglichkeit der Mitgliedstaaten und dem wenig überzeugenden S a n k t i o n s m i t t e l
auferlegter
Geldzahlungen. D a s heißt, wer die Stabilitätskriterien verletzt, verletzt die Verträge und muss sich deshalb einem Vertragsverletzungsverfahren unterziehen. A u f der anderen Seite wollte man aber auch eine S a n k t i o n i e r u n g durch die Märkte, durch die A n l e i h e n m ä r k t e . D e n n ein Staat, der schlecht wirtschaftet, der w o m ö g l i c h ein Insolvenzrisiko erzeugt, sollte durch h o h e Zinsen auf seine Staatsanleihen diszipliniert werden. Deshalb wollte Artikel 125 des A E U V mit dem Bailout-Verbot vor allen D i n g e n die M ä r k t e warnen, dass jeder Staat für sich steht, dass jeder Staat eigenverantwortlich ist, damit die M ä r k t e eine entsprechende R i s i k o b e w e r t u n g v o r n e h m e n . N u n haben die M ä r k t e das kaum getan, allerdings auch unter tätiger Mithilfe der europäischen Staaten; das sollte nicht verschwiegen werden. W e r hier von Marktversagen redet, der sollte nicht vergessen, dass es die europäischen Mitgliedstaaten waren, die in den Baseler A b k o m m e n hineingeschrieben haben, dass Staatsanleihen für B a n k e n „risikolos" sind. U n d von dem, was risikolos ist, kann man viel im Keller lagern, von dem eigenen Staat kann man viel kaufen. U n d man braucht kaum Eigenkapital als Sicherung dafür, wie das etwa bei den U n t e r n e h m e n s a n l e i h e n , etwa bei K r e d i t e n an den Mittelstand, der Fall wäre. Das h e i ß t , dieses Spiel der Unvorsichtigkeit und der U n t e r h ö h l u n g ihrer eigenen R e g e l n für die W ä h r u n g s u n i o n , das Risikospiel haben die Staaten als befangene Schiedsrichter mit auf den Weg gebracht, weil sie ein Interesse am Ausgang des Spiels hatten: sie wollten sich günstig refinanzieren. D i e V e r a n t w o r t u n g für die N o t w e n d i g k e i t von B a n k e n r e t t u n g s a k t i o n e n kann deshalb nicht o h n e weiteres allein den B a n k e n und dem in der Tat beklagenswerten Verlust von Solidität
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in diesem einst h o c h angesehen G e w e r b e in die S c h u h e g e s c h o b e n werden. Ü b e r F ü r und Wider eines T r e n n b a n k e n s y s t e m mag diskutiert werden, ungleich dringender ist aber die Trennung der „ G e s c h ä f t e " von staatlicher Fiskal- und Wirtschaftspolitik, dem Verhalten der N o t e n b a n k e n und dem privatem B a n k e n s e k t o r . Wenn N o t e n b a n k e n die Globalsteuerung der W i r t s c h a f t übernehmen und desolaten ö f f e n t l i c h e n Haushalten unter die A r m e greifen, entstehen Kurzschlüsse im S y s t e m ebenso wie ein verflochtenes S y s t e m v o n staatlicher Schuldenpolitik und einem privatem F i n a n z s e k t o r P r o b l e m e bereitet, der fortlaufend aufgefordert wird, riskante Staatsanleihen zu kaufen oder Kredite zu vergeben, o b w o h l Zweifel an der B o n i t ä t der Schuldner b e s t e h e n .
VI. Fortbestand des sozialen Rechtsstaats und der persönlichen Freiheit nur auf Grundlage einer neuen Stabilitätskultur A u c h die Staaten Europas werden - genau wie die großartige japanische W i r t s c h a f t - nur wieder gesund und k ö n n e n dann wieder die Verantwortung für vernünftige Regeln der W i r t s c h a f t übern e h m e n , wenn sie aufhören, den B ü r g e r n den Sand in die A u g e n zu streuen, man k ö n n e Wirtschaftswachstum u n b e g r e n z t monetär oder fiskalisch herbeiregulieren. Politisch instrumentalisierte N o t e n b a n k e n , allmähliche Strangulierung der M a r k t k r ä f t e und aus dem Gleichgewicht geratene Staatshaushalte gefährden inzwischen das politische P r o j e k t der Einigung Europas und untergraben die Stärke des Westens. Wenn dann aber - wie zu h o f f e n ist - das E n d e des Pumpkapitalismus ( D a h r e n d o r f ) g e k o m m e n sein wird und die Stabilität und gesunde Wettbewerbsfähigkeit wiedergewonnen sind, kann politisch neu geplant werden, auch was den Fortgang des europäischen P r o j e k t e s angeht. D i e europäischen Staaten müssen zuerst wieder zurückkehren zu ihrer konzeptionell durchaus stimmigen Vertragsgrundlage. F ö r d e r u n g der Wettbewerbsfähigkeit geschieht zwar politisch koordiniert, aber im Kern aus eigener Verantwortung. O h n e solide staatliche Politik und gute öffentliche Haushaltsführung und w e t t b e w e r b s o f f e n e soziale M a r k t w i r t s c h a f t ist jeder B r u n n e n , aus dem politische Projekte ihre K r a f t schöpfen, vergiftet. D i e europäische Integration hat ihre Erfolge erzielt, weil sie wirtschaftlich vernünftig war. W e n n europäische I n t e g r a t i o n etwa über eine Z u n a h m e planwirtschaftlicher Dirigismen oder ü b e r eine in den finanziellen A u s m a ß e n notwendigerweise gewaltige Transferunion wirtschaftlich unvernünftig werden sollte, dann kann die europäische Integration per se nicht gelingen; denn dazu fehlen ihr die H a l t e k r ä f t e im kulturellen F u n d a m e n t der Völker Europas. U m (vorübergehend) wirtschaftlich und politisch U n v e r n ü n f t i g e s tun zu k ö n n e n , o h n e dass die Grundlagen der G e m e i n s c h a f t aufs Spiel gesetzt wären, muss man - mit anderen Worten - viel enger z u s a m m e n s t e h e n . A b e r wir wollen in E u r o p a auch nichts U n v e r n ü n f t i g e s tun, sondern sollten uns besser an den b e s o n d e r e n C h a r m e der europäischen Einigungsidee erinnern, der doch darin liegt, Institutionen wie den M a r k t , den die Verträge inzwischen als soziale M a r k t w i r t s c h a f t definieren, sich entfalten zu lassen, um der Freiheit der Bürger willen und der d e m o k r a t i s c h e n S e l b s t b e s t i m m u n g der Staaten willen. E u r o p a hat davon profitiert, dass A r c h i t e k t e n wie Walter Hallstein o d e r J e a n M o n n e t die wirtschaftliche Vernunft in die I n s t i t u t i o n e n Europas - etwa in der B e i h i l f e k o n t r o l l e und der Wettbewerbsaufsicht - hineingearbeitet haben wie einen genetischen C o d e .
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VII. Bindung macht vieles erreichbar; aber das Leben nicht nur leichter Viele A k t e u r e auf der politischen B ü h n e erhofften sich von einer G e m e i n s c h a f t s w ä h r u n g eine Erleichterung. D a s aber ist ein I r r t u m , ein grundlegender Irrtum. W e r eine
Gemeinschaft
begründet, m a c h t sich nicht nur das L e b e n leichter, sondern er schafft sich andere L e b e n s u m stände, denen er sich anpassen muss. Aus der freiwillig begründeten G e m e i n s c h a f t wächst eine andere Lebensqualität und eine andere Qualität von Freiheit, aber n i c h t per se ein sorgenfreies leichtes L e b e n . E i n e G e m e i n s c h a f t ist i m m e r auch mit Lasten verbunden, und zwar v o r allen D i n g e n mit der Last, eigenverantwortlich für sich selbst zu stehen. D e n n wer in einer G e m e i n schaft nicht für sich sorgen kann, fällt den anderen zur Last. U n d wer gemeinschaftlich denkt, der will nicht selbst hilfebedürftig werden, gerade weil er selbst dem Bedürftigen gerne hilft. J e d e G e m e i n s c h a f t lebt mit dem P r o b l e m des „moral hazard", dem finsteren Kalkül also, das G u t e für sich selbst herauszuschlagen und die Lasten anderen zu überlassen. E i n e G e m e i n s c h a f t b r a u c h t den S t o l z und die durch Regeln gesicherte M o t i v a t i o n , eigenverantwortlich für sich selbst zu handeln, damit sie aus der Kraft der Vielen fähig wird, denjenigen zu helfen, die der H i l f e b e d ü r f tig sind. Das ist der universale, unhintergehbare G e m e i n s c h a f t s g e d a n k e . E s kann keine G e m e i n schaft gedeihen, in der sich eine M e h r h e i t als hilfsbedürftig definieren würde, in der zunächst stets nach den Leistungen gefragt wird, die man v o m A n d e r e n erwartet. Das Prinzip der haushaltspolitischen Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten ist d e m n a c h nicht nur ein P e t i t u m des Demokratieprinzips, wie das Bundesverfassungsgericht im L i s s a b o n U r t e i l und in den beiden nachfolgenden Urteilen zur Griechenlandhilfe und zum E S M deutlich gemacht hat, s o n d e r n es ist und bleibt auch eine praktische Voraussetzung für das G e l i n g e n der Europäischen U n i o n . Wenn wir in D e u t s c h l a n d , Griechenland, Spanien und Frankreich wieder zu einer dringend notwendigen n e u e n Mentalität soliden Wirtschaftens finden und damit zu den funktionellen Grundlagen der E u r o p ä i s c h e n U n i o n zurückkehren, dann kann sich die U n i o n wieder so entwickeln, wie das eigentlich der funktionalen Einigungsidee entspricht. D a n n wird sich erneut auch der politische M e h r w e r t einstellen, mit weiteren S c h r i t t e n der politischen Integration. D a n n ist es auch nicht ausgeschlossen, dass es durch die E r f o l g e dieses supranationalen P r o j e k t s irgendwann für die B ü r g e r Europas ganz folgerichtig, ganz plausibel, vielleicht sogar zwingend sein wird, einen europäischen Bundesstaat zu gründen. Es kann aber auch sein, dass sie darauf verzichten und sagen: D i e s e pragmatische Balance zwischen handlungsfähigen Staaten und einer starken U n i o n ist eigentlich die erstrebenswerte historische I n n o v a t i o n . A u c h das ist nicht ausgeschlossen.
VIII. Abkehr von einer sozialtechnischen Mentalität des „Easy-Going" und Wiedererfindung bürgerlicher Selbstverantwortung als Grundlage einer Solidarität in Freiheit H e u t e sind im G r u n d e g e n o m m e n beide Wege durch eine D y s f u n k t i o n a l i t ä t gefährdet, die aufgetreten ist, weil man mit der H e b e l w i r k u n g der W ä h r u n g s u n i o n , wie ich glaube, nicht richtig umgegangen ist. H i e r b e i verbieten sich vorschnelle und allzu einfache Schuldzuschreibungen. D i e Mentalität, die hier z u m Tragen k o m m t , hat auch ein Land wie D e u t s c h l a n d maßgeblich mit
Europa in der Krise: Trägt die europäische Idee?
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b e f ö r d e r t . Es ist eine Mentalität, die weit zurückgeht, die in den 60er- und 70er-Jahren dazu führte, dass man die Politik wirtschaftspolitisch i m m e r ehrgeiziger definiert hat, indem etwa die öffentliche Haushaltswirtschaft zur K o n j u n k t u r s t e u e r u n g , z u r Balancierung eines gesamtwirtschaftlichen G l e i c h g e w i c h t s eingesetzt wurde. D a b e i entwickelte sich eine Mentalität. Viele glaubten, mit D e f i c i t - s p e n d i n g im G r u n d e dauerhaft und nicht nur ausnahmsweise handeln zu k ö n n e n , d. h. auch dann, wenn keine Rezession in R e d e steht. D i e Mentalität des „ E a s y - g o i n g " ist gescheitert, eine Einstellung, die auch in Z e i t e n des Aufschwungs darauf verzichtete, die Schulden zu tilgen, die man zur R e z e s s i o n s b e k ä m p f u n g a u f g e n o m m e n hatte. D i e s e r „halbierte K e y n e s " , den alle Staaten des Westens praktizierten, gefährdet heute unser E u r o p a als wirtschaftliches und politisches P r o j e k t der Freiheit. Es ist eine Frage der Mentalität und nicht eine Frage der falschen Institutionen oder eines D e m o k r a t i e d e f i z i t s . E u r o p a braucht eine andere M e n t a l i t ä t und muss von dem Glauben w e g k o m m e n , dass man durch i m m e r neue Regeln und K o m p e t e n z e n , durch Verfassungen, durch R e c h t oder Geldflüsse maßgeblich W o h l stand generieren kann. D a s sind zwar alles F a k t o r e n , die zweifelsohne W i r k u n g e n für die W i r t schaft und G e s e l l s c h a f t haben, aber mit solchem K n o p f d r ü c k e n vermag man die Wirtschaft auf D a u e r nicht m a ß g e b l i c h kausal zu steuern. Jugendarbeitslosigkeit oder K o n j u n k t u r d e l l e n kann m a n nun mal nicht i m m e r wegregulieren. D i e W i r t s c h a f t zu steuern, ist ein sehr viel mühseligeres G e s c h ä f t , genauso wie der A u f b a u Europas ein im Kern mühseliges G e s c h ä f t ist. E s geht nicht nur u m den schnellen E r f o l g und u m die glanzvolle Darstellung des G e l u n g e n e n . E s geht um jenes beharrliche F o r t e n t w i c k e l n von vernünftigen I n s t i t u t i o n e n . D i e s e I n s t i t u t i o nen sind die soziale Marktwirtschaft, die parlamentarische D e m o k r a t i e und der Rechtsstaat. Z u diesen I n s t i t u t i o n e n gehört auch der für die europäische Integration geöffnete Verfassungsstaat, wie wir ihn in E u r o p a nach s c h m e r z l i c h e n Lernprozessen entwickelt haben. D i e europäische Integration b e f ö r d e r t man nicht durch falsche Visionen einfacher Zentralisierungsrezepte, s o n dern durch eine kluge Balance zwischen lebendigen Mitgliedstaaten und starken U n i o n s o r g a n e n aus dem Geist der K o o p e r a t i o n und w e t t b e w e r b s f ö r d e r n d e r Regelbildung. D i e V ö l k e r und B ü r ger Europas wollen sich nicht m e h r voneinander abschließen, sondern zusammenwachsen, aber v o r allem als M e n s c h e n in ihren privaten Freiheitsräumen und Kulturen, in ihren gewachsenen o f f e n e n Verfassungsstaaten und i m m e r m e h r auch in dem Bewusstsein, U n i o n s b ü r g e r zu sein, aber nicht winzige Teile in einem gesichtslosen bürokratisierten Zentralstaat. D i e Sachzwänge der europäischen Staatsschuldenkrise haben uns in E u r o p a ein S t ü c k auseinandergebracht. W i r alle sollten deshalb als gute E u r o p ä e r dafür streiten, dass sich die Mentalität ändert und dass wir in einem sehr guten Sinne, in einem Sinne, der nicht parteipolitisch gemeint ist, wieder bürgerlich werden: umsichtiger, prüfender, verantwortlicher. W i r müssen H a f t u n g s z u s a m m e n h ä n g e wieder herstellen. D e r j e n i g e , der Freiheit beansprucht, muss dann auch für die F o l g e n seines Tuns haften. A b e r dabei sollten wir nicht nur auf Spekulanten, B a n k e n und die Wallstreet s c h i m p f e n , sondern genau sehen, welche A n t e i l e die demokratischen Staaten an einem System der relativen Verantwortungslosigkeit hatten, damit wir uns als B ü r g e r auch selbstkritisch Fragen stellen k ö n n e n , nämlich o b wir die Politiker nicht allzu lange ermuntert haben, uns zu viel zu versprechen. Wussten wir nicht alle, dass die Politik einige ihrer Versprec h e n seriös gar nicht halten k o n n t e ? W i r haben sie aber t r o t z d e m gerne gehört. W e n n E u r o p a haushaltspolitisch, wirtschaftlich wieder gesunden soll, wenn die Kräfte des W e t t b e w e r b s sich wieder über Leistung, über Bildungsanstrengung und über I n n o v a t i o n e n und nicht primär durch D e f i c i t - s p e n d i n g und bürokratische Regulierung entfalten, dann wird unser
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Udo Di Fabio
Europa wieder ein Vorbild für die Welt werden. Das europäische Projekt hat gezeigt, wie man den Staatenantagonismus, wie man Kriege und Verheerungen überwinden kann, wie man durch Ideen, Leistung und kluge Institutionen etwas Gemeinsames schafft, das eine Eigendynamik und einen Eigenstand hat. Die kostbaren Früchte von Freiheit und Frieden, die in den letzten 60 Jahren gewachsen sind, dürfen wir heute nicht aufs Spiel setzen. Die Idee Europas bleibt die Idee der Vielfalt, der Personalität, der Subsidiarität, einer Solidarität als Frucht von eigenverantwortlicher, vernunftbegabter Freiheit, die sich bindet und versteht, dass der Andere eine Voraussetzung eigener Freiheit ist. Die Werte Europas sind keine vorgestanzten Begriffe in Rechtstexten, sondern lebendige Werte einer aktiven Zivilgesellschaft, in der sich der einzelne allein oder in frei gewählten Gemeinschaftsräumen entfaltet und nicht zum verwalteten Subjekt eines übermächtigen, bevormundenden politischen Gemeinwesens werden will. Europa wird wieder stark, wenn wir den Kontrakt der Gegenseitigkeit erneuern, der am Anfang der Neuzeit stand: Merkantilen Geist fördern, Eigensinn belohnen, Erfinden, Kalkulieren, Gestalten und Forschen als Tugenden wieder in den Vordergrund rücken, Technik und Kunst, Gründungs- und Bindungswillen als Formen der eigentlichen Selbstverwirklichung begreifen und vor allem der Uberschätzung einer allzu sozialtechnischen Weltsicht entsagen. Die Zukunft Europas liegt nicht in einem neuen Leviathan. Keine neue Nation wird hier mit Eisen geschmiedet, keine postmodernen Panzerkreuzer mit blauen Sternenbannern sind das Ziel, sondern der gekonnte und immer auch pragmatische Ausgleich zwischen Regionen und Nationen, Kulturen und Interessen in einem Klima der persönlichen Freiheit. Soziale Marktwirtschaft und rechtsstaatliche Konsistenz stehen auf der Agenda. Das kooperierende Europa wird sich dem zentralisierten Europa als überlegen erweisen, ebenso wie das liberal-soziale dem bürokratisch überregulierten überlegen ist. Europa braucht kaum neue Institutionen, keine Vermachtung und übermächtige Zentralität, sondern einen konstruktiven Streit um politische Wege und Mentalitäten.
Dieter
Freiburghaus
Im Gehäuse der Hörigkeit
A
n unserem Universitätsinstitut mussten wir jährlich einen Fragebogen dazu ausfüllen,
worauf wir unsere Zeit verwendeten: Forschung, Lehre, Verwaltung, Mittelbeschaffung, Medienkontakte, Mittelbaubetreuung. Jeder weiß, dass man das eigentlich nicht kann,
denn ein Mittagessen mit den Assistenten dient gleichzeitig mindestens der Hälfte dieser Zwecke. Aber man hat es eben getan, um des lieben Friedens willen. Doch einmal kam mein „Reporting" mit der Bemerkung zurück, ich hätte 30 Prozent für Forschung eingesetzt, ein Jahr zuvor jedoch 35 Prozent; dies sei zu begründen. Ich antwortete, ich hätte mich leider vertippt, der Prozentsatz sei derselbe geblieben. Damit war man zufrieden. Solche Zahlen werden dann „nach oben" weitergeleitet, aggregiert, ausgewertet und dienen fortan als Grundlage für die Wissenschaftspolitik.
Überhandnehmen des Papierkrams So wird der Professor zum Datenlieferanten für übergeordnete Stellen. Einen wachsenden Anteil seiner Zeit verbringt er damit, Statistiken zu erstellen, Anträge auszufüllen, Evaluationen durchzuführen, Mitarbeitergespräche zu protokollieren und gerichtsfeste Begründungen für schlechte Zensuren zu liefern. Was genau damit geschieht, bleibt ihm meist verborgen, er fühlt sich aber beobachtet und kontrolliert: „Die Daten können jederzeit gegen Sie verwendet werden!" Man ist an den Landvermesser K. in Kafkas „Schloss" erinnert. Doch der Professor ist damit nicht allein, denn aus allen Schulen, Forschungsinstituten, Spitälern, Kultur- und Sozialeinrichtungen tönt dieselbe Klage: das Uberhandnehmen des Papierkrams, das Wuchern der Bürokratie. An der Front, dort, wo die eigentliche Leistung erbracht wird, mangelt es an Personal, während es auf höherer Ebene üppig gedeiht, denn irgendjemand
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Dieter
Freiburghaus
muss ja die anschwellende Datenflut verarbeiten. Außerdem geht es darum, stets neue Instrumente des Monitorings, des Coachings, der Evaluation, des Assessments und des Controllings zu entwickeln und an den U n t e n s t e h e n d e n auszuprobieren. D i e Leute, die dies tun, haben meist kaum Praxiserfahrung und weder Talent noch Lust, Kinder zu erziehen, Patienten zu pflegen, Studenten zu bilden, Arbeitslose zu betreuen oder Sterbende zu begleiten. Nun, man kann sich daran gewöhnen, mit Zynismus reagieren, passiven Widerstand leisten, irgendwelche D a t e n liefern und so den Zeitaufwand für den Papierkram minimieren. Damit ist aber die Sache nicht abgetan, denn dieser Aufwand ist das geringste Ü b e l . Schlimmer ist, dass solche Kontrollen die Motivation dieser Berufsleute unterminieren. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich direkt auf Menschen beziehen, auf konkrete, individuelle, bedürftige, fordernde, schwierige, interessante Menschen. D i e Fähigkeit, mit ihnen in eine positive Beziehung zu treten, hängt nicht primär von erlernbaren Techniken ab, sondern von Persönlichkeit, Engagement, Empathie und Kreativität. Solche Persönlichkeiten gedeihen nur in einem Milieu von Eigenständigkeit und Selbstverantwortung. Deshalb galt in der Vergangenheit: Hatte sich jemand die nötigen Qualifikationen erworben und seine fachliche und persönliche Eignung nachgewiesen, wurde ihm Vertrauen geschenkt - solange er es nicht offensichtlich missbrauchte. Dies war nicht ein Privileg, sondern eben die C o n d i t i o sine qua non für gute Arbeit. Außerdem ersparte sich die Gesellschaft Kontrollaufwand. Werden solche Personen nun aber zu O b j e k t e n ständiger Eingriffe und Kontrollen, wird ihnen dauernd ins Handwerk gepfuscht, verlässt man sich nicht mehr auf ihr Urteilsvermögen, führt dies zu Frustrationen, zu Resignation, zu Dienst nach Vorschrift, zu Krankheit und oft zum Rückzug aus dem Beruf. Dabei erwischt es die Fähigsten zuerst. Es überleben diejenigen, die sich problemlos mit dem höheren Anstaltspersonal arrangieren - zum Schaden der Schutzbefohlenen und zum N u t z e n der Bürokratie. Man könnte nun annehmen, gegen dieses Unwesen gäbe es Widerstand, die Kontrolleure würden in die Schranken gewiesen, Vertrauen wieder in sein R e c h t gesetzt. D o c h dies geschieht nicht oder doch nur selten. Ein G r u n d mag sein, dass diese Berufsleute eher Individualisten sind, nicht gewohnt, sich zum Widerstand zu formieren. Sie orten die Ursachen für die Unannehmlichkeiten zuerst in den Personen, die über sie gesetzt sind, und hoffen, mittels vernünftiger Argumente das U n g e m a c h zu mildern. Sie verkennen den systematischen Charakter solcher bürokratischer Landnahme. D i e Reaktion oder eben Nichtreaktion der Professoren auf die über sie hereinbrechende U m k r e m p e l u n g des akademischen Betriebs ist dafür ein sprechendes Zeugnis.
Weich wie eine Gummizelle Eine individualistische Erklärung für den Mangel an Widerstand greift also zu kurz. M a x Weber hat in seiner Gesellschaftstheorie gezeigt, dass sich in der M o d e r n e eine rationale und legale Herrschaft gegen die früheren Formen der charismatischen und der traditionellen Herrschaft durchsetzt. Deren Kern ist die regel- und papiergebundene Bürokratie. Sie wird unausweichlich, wird zu einem „modernen Gehäuse der Hörigkeit". Rational ist sie insofern, als in systematischer und geplanter Weise Mittel auf Zwecke hin optimiert werden sollen. D a die Gesellschaft aber zu komplex ist, um analytisch durchdrungen zu werden, gelingt solche Optimierung nur spora-
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disch, „muddling t h r o u g h " heißt die praktische Devise. Was bleibt, ist die Bürokratie als Herrschaftsform von nie gekannter Wirksamkeit. Diese Transformation erfasst die ganze Gesellschaft. Während nun aber in der Wirtschaft bürokratischen Auswüchsen durch den Konkurrenzdruck G r e n z e n gesetzt sind und sich deshalb in den U n t e r n e h m e n eine Gegenbewegung mit flachen Hierarchien, relativ selbständigen, kleineren Einheiten und mit mehr Verantwortung der Mitarbeiter durchsetzt, werden der Staat und staatsnahe Bereiche zu den hauptsächlichen Tummelfeldern der Bürokratie. Die Mittel haben sich gewandelt: Bürovorsteher, strenge C h e f s und Patriarchen sind verschwunden, an ihre Stelle sind anonyme Datenverwerter getreten. Niemand mehr trägt persönliche Verantwortung, sondern Teams werden an diffusen Zielvorgaben gemessen. Harte Sanktionen sind selten, dafür wird Unsicherheit zum Disziplinierungsinstrument. Das Gehäuse ist nicht mehr „stahlhart", wie zu Webers Zeiten, sondern weich wie eine Gummizelle und klebrig wie ein Spinnennetz. - U n d nun wird deutlich: N i c h t das oben beklagte P h ä n o m e n ist neu, neu ist nur, dass die Bürokratie inzwischen Berufe erreicht hat, die sich länger als andere selbständig zu halten vermochten: der Lehrer in seiner Dorfschule, die Krankenschwester in ihrem Regionalspital, der Forscher in seinem bescheidenen Labor, der Gemeindeschreiber in der Siebenhundert-Seelen-Gemeinde, der Geisteswissenschafter mit seinen paar Büchern. Sie alle ließen sich schlecht kontrollieren. N u n aber ist alles größer und teurer geworden. Kinder werden in Zentralschulen verfrachtet, Gemeinden fusioniert, Kleinspitäler aufgehoben, Forscher brauchen internationale Vernetzung und G r o ß projekte. Das Geld k o m m t zum größten Teil vom Staat, und auf solch breiten monetären Strömen fährt dann die Bürokratie ein - unaufhaltsam.
Bürokratische Logik Wird die Erosion von Motivation und Engagement nicht zu einem Abfall der Leistungen und in der Folge zu einem Gesinnungswandel führen? N i c h t unbedingt, denn die Leistungen werden ja just von jenen gemessen und beurteilt, welche die Kontrollen ausüben. D e r Unterricht mag schlecht sein, wenn nur die Anzahl der Weiterbildungstage stimmt. D e r Patient mag sich unwohl fühlen, wenn nur jede Handreichung der Pflegefachfrau auf der Liste eingetragen wird. D i e Forschung mag irrelevant sein, wenn nur die Publikationsliste lang genug ist. Jedes Ranking kann jedes erwünschte Resultat liefern, denn die Zahlenbasis bleibt immer obskur. Das heißt, es ist Teil dieser in sich geschlossenen bürokratischen Logik, dass ein Systemversagen kaum mehr nachweisbar ist. Wahrlich ein Gehäuse der Hörigkeit! - Ist dagegen kein Kraut gewachsen? D o c h , alles eine N u m m e r kleiner, etwas weniger perfekt, bescheidener. D a z u eine Vielfalt von Schultypen, Ausbildungswegen, Lehrplänen, Institutionen, mehr Konkurrenz. Weniger Geld vom Staat, weniger Steuern, mehr Finanzierung durch die „Kundschaft", durch Stiftungen. M e h r Selbstverantwortung. Chancenlos? Man wird ja noch träumen dürfen!
Über Wahl Ein Gespräch mit dem Psychologen und Risikospezialisten Gerd Gigerenzer Süddeutsche Zeitung: Herr Gigerenzer, wie lange haben Sie heute morgen gebraucht, sich für dieses karierte Hemd zu entscheiden? Gerd Gigerenzer: Ich habe mich gar nicht entschieden. Es hing einfach da. Wenn man darüber forscht, wie Menschen Entscheidungen treffen, lernt man: In der Regel lohnt es nicht, lange zu grübeln. Zumal man die Welt sowieso nicht mit Sicherheit vorhersagen kann. Sobald Sie das akzeptieren, können Sie sich auf einmal viel entspannter entscheiden. SZ: Ihr aktueller Bestseller heißt,Risiko'. Und Sie fordern darin: ,Mehr Risikokompetenz!' Was genau verstehen Sie darunter? Gerd Gigerenzer: Nicht mehr nach der Art Sicherheit zu streben, wie sie sich Kinder wünschen, wie sie die Religion verspricht oder die Astrologie oder auch nur der Kauf von zu vielen Versicherungen. Denn diese Art von Sicherheit gibt es in unserer modernen Welt nicht. SZ: Sie nennen für Ihre These ganz praktische Beispiele. So haben Sie während der Ehec-Krise weiter Tomaten gegessen. Warum soll das sinnvoll sein? Gerd Gigerenzer: Warum nicht? Man wusste doch überhaupt nicht, woher der Erreger kam. Ich liebe Tomaten und habe sie in dieser Zeit gründlich gewaschen. Bei der Schweinegrippe-Krise habe ich die Menschen in meinem Institut zusammengetrommelt und erklärt, was man weiß und welche Unsicherheiten bestehen. Das hat die Leute entspannt. Die wirklichen Gefahren liegen
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Gerd Gigerenzer
ganz woanders: Deutschland hat ungefähr 10 000 Tote jährlich durch die saisonale Grippe. Damit verglichen ist die Zahl derjenigen, die bei der Schweinegrippe sterben, winzig. SZ: Das heißt, bei Impfungen sind Sie weniger entspannt? Gerd Gigerenzer: Teils, teils. Zuletzt habe ich mich impfen lassen, als ich nach Delhi flog, um meine Tochter zu besuchen, die dort ein Jahr mit den Dalits, den sogenannten Unberührbaren, arbeitete. Ich habe mich gegen Hepatitis A impfen lassen, nicht aber gegen Hepatitis B, da der Tropenarzt sagte, die Impfung würde das Risiko einer Infektion von 2 in 10 000 auf 1 in 10 000 senken. Ich sagte: Danke, das Risiko nehme ich in Kauf. SZ: Und, waren Sie dieses Jahr schon mal beim Check-up? Gerd Gigerenzer: Nein, aber ich lese die Untersuchungen über Menschen, die zu Check-ups gehen: Sterben die weniger an Herzleiden? Nein. Sterben die weniger an Krebs? Nein. Sterben die weniger insgesamt? Nein. SZ: Kennen Sie die Statistik der Verkehrstoten für Berlin? Gerd Gigerenzer: Für Berlin nicht. Aber in ganz Deutschland sterben etwa 3 500 bis 4 000 Menschen jedes Jahr auf der Straße. Hier liegt eine wirkliche Gefahr, deshalb fahre ich längere Strecken im Auto nur dann, wenn es wirklich gar nicht anders geht. Im Zug und im Flugzeug fühle ich mich dagegen sehr sicher. SZ: Welche Rolle spielen eigentlich die Ängste bei unserer Entscheidungsfindung? Gerd Gigerenzer: Bei wirklichen Katastrophen wie 9/11 oder möglichen Katastrophen wie der Vogelgrippe wird regelmäßig nach mehr Bürokratie, mehr Technologie und strengeren Gesetzen - einschließlich der Einschränkung der individuellen Freiheit - gerufen, nur nach einem nicht: nach risikokompetenten Bürgern. Wenn man Menschen klarmachen würde, dass Terroristen zweimal zuschlagen, erst mit Gewalt, dann in unseren Gehirnen, könnten sie sich besser wehren. SZ: Gerade seit 9/11 wissen wir: Es gibt auch handfeste wirtschaftliche Interessen, die Ängste der Bürger zu schüren. Gerd Gigerenzer: Natürlich gibt es die, aber man sollte den Bürger auch nicht aus der Verantwortung entlassen. Wir Deutsche beklagen uns gerne über die anderen und unsere Regierung; wir sind aber alle verantwortlich, selbst mitzudenken und zu entscheiden. Bei der nächsten Grippeviruswarnung kann man sich ja informieren und dann entscheiden: Soll ich mich impfen lassen oder nicht? Wie verhalte ich mich am vernünftigsten? Genauso bei der nächsten Terrorismuswarnung. SZ: Nach der letzten Finanzkrise wurden wieder strengere Vorschriften, kleinere Banken und bessere Berater gefordert. Wird unser Geld je wieder in sicheren Händen sein?
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Gerd Gigerenzer: Benjamin Franklin hat mal gesagt, in dieser Welt ist nichts sicher außer dem Tod und den Steuern. Ich sage: Es ist ein Fehler, nach Sicherheiten zu suchen. Wir leben immer noch in einer Gesellschaft, in der die Illusion der Sicherheit angeboten und verkauft wird. Und sie ist das größte Hindernis für Risikokompetenz. SZ: Ist das nicht zynisch, wenn Sie an die Kleinanleger denken, die ihr gesamtes Erspartes verloren haben? Gerd Gigerenzer: Auch der Kleinanleger sollte mitdenken und verstehen, dass der Bankberater ihm nicht das Beste raten kann, sondern von der Bank alle paar Wochen Vorgaben bekommt, was verkauft werden muss. Jeder ist selbst für sein Geld verantwortlich. Wir haben gerade in Italien Studien mit Bankkunden gemacht, von denen sich fast jeder Zweite im Monat nicht einmal eine Stunde mit seinen Finanzen und Versicherungen beschäftigt; aber für Fußball hat man endlos Zeit. SZ: Sie haben einmal die Bankberaterin gewechselt, weil sie nicht im Kopf ausrechnen konnte, wie viel 20 Prozent von 500 Euro sind. Was hat Kopfrechnen mit Ihren Anlagen zu tun? Gerd Gigerenzer: Stellen Sie sich das mal vor! Hier geht's um Abschätzen, nicht um Präzision. Wenn sie sich mal verrechnet, kann sie es gar nicht einschätzen. Man muss ungefähr wissen, mit welchen Zahlen man jongliert. Außerdem war der Rest der Beratung ganz ähnlich, und sie versuchte tatsächlich, mir Immobilienpapiere wieder zu verkaufen, die gerade eine Krise verursacht hatten. Da gehe ich halt weg. Es ist auch unsere Pflicht als Bürger, darauf zu reagieren. Wenn Sie der Meinung sind, dass sich Ihre Bank verzockt hat, dann sollten Sie austreten, statt sich zu beklagen. Dann gehen Sie zu einer kleinen Bank, die sich nicht verzockt hat. SZ: Schuld an der Finanzkrise ist die sogenannte Truthahn-Illusion, schreiben Sie. Das müssen Sie bitte erklären! Gerd Gigerenzer: Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Truthahn. A m ersten Tag Ihres Lebens kommt ein Mann. Sie fürchten, er wolle sie umbringen, aber er füttert sie. Am zweiten Tag kommt er wieder. Es ist schon etwas wahrscheinlicher, dass er Sie nicht umbringt. U n d tatsächlich, er füttert Sie wieder. Am Tag 100 ist es so sicher wie nie zuvor, dass er Sie füttert, aber es ist der Tag vor Thanksgiving und Sie sind unterm Beil... Dem Truthahn fehlte eine wesentliche Information, um die Risiken zu berechnen. Ein Teil der Bankenkrise verlief ganz ähnlich. Kurz vor der Krise waren die Gewinne so hoch wie nie zuvor und die Erwartungen riesig, und dann brach alles zusammen. Die mathematischen Modelle aber, die zur Risikoberechnung verwendet wurden, waren nicht die Lösung, sondern Teil des Problems. Sie werden übrigens immer noch verwendet. SZ: Wie legen Sie selbst Ihr Geld an? Gerd Gigerenzer: Ich halte mich an einfache Heuristiken, also Faustregeln, die in solchen Situationen hilfreich sind: ein Drittel in Immobilien, ein Drittel in Aktien, ein Drittel in fester angelegtem Geld, wie Staatsanleihen. Also diversifizieren. Kann natürlich auch schiefgehen. Aber
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Gerd Gigerenzer
man muss sich eingestehen, dass man die Zukunft nicht vorhersehen kann. Wir wissen auch nicht, wie das mit dem Goldpreis weitergeht. SZ: Sie behaupten: Keine Ahnung vom Thema zu haben, kann bei Entscheidungen nützen. Etwas ungewohnter Tipp von einem Wissenschaftler, finden Sie nicht? Gerd Gigerenzer: Halbwissen kann tatsächlich nützlich sein. Es hilft dabei, Innovationen zu ermöglichen. Das gilt für die Wissenschaft, wo große Erfolge oft zustande kommen, wenn Menschen von außen dazukommen, die die Dinge mit anderen Augen sehen. Das gilt genauso für die Politik. Der Fall der Berliner Mauer ist ein solches Beispiel. Erinnern Sie sich an Günter Schabowski, der die entsprechende Sitzung des ZK bezüglich der Reiseregelung für DDR-Bürger verpasst hatte, dann bei diesem berühmten Interview nicht so richtig wusste, was er sagen sollte, und sich missverständlich ausdrückte. Mithilfe der Presse, die daraufhin, von Wunschdenken getrieben, eine Fehlmeldung lancierte, kam eine Revolution zustande, die es sonst an diesem Tag nicht gegeben hätte. SZ: Früher zählte Unsicherheit zum Kerngeschäft des Glaubens. Kann man gleichzeitig religiös und risikokompetent sein? Gerd Gigerenzer: Klar, es gibt ja verschiedene Arten von Religiosität, zum Beispiel eine, die die Ungewissheit im Auge hat. Diese Haltung akzeptiert, dass wir nicht wissen, ob es einen Gott gibt oder nicht, und gesteht damit unsere eigenen Grenzen ein. SZ: Warum haben wir in unserer Gesellschaft so eine starke, Ihrer Terminologie nach ,defensive Entscheidungskultur'? Gerd Gigerenzer: Ein Beispiel: Eine Person hält A für die beste Option, schlägt aber die schlechtere Option Β vor, um sich selbst zu schützen, falls etwas schiefgeht. Ein großer Teil der Ärzte praktiziert in dieser Hinsicht defensive Medizin; aus Angst vor Klagen von Patienten. Dabei empfehlen die Mediziner mitunter Behandlungen, die sie ihrer eigenen Frau, ihrem Mann, ihren Kindern nicht empfehlen würden: unnötige Tests, unnötige Imaging-Prozeduren, unnötige Krebsfrüherkennungsprozeduren und manchmal sogar unnötige Herzkatheter. In den USA, schätzt man, gehen zwei Prozent aller Krebserkrankungen auf Computertomografien zurück, die häufig nur aus defensiven Gründen gemacht wurden: Weil der Patient ja klagen könnte, wenn man diese Röntgenuntersuchung nicht durchgeführt hätte. Oder aufgrund von Interessenkonflikten, weil die Klinik Geld verdienen muss. Ein Patient sollte verstehen, dass ein Arzt ihm nicht immer das Beste raten kann. Defensive Medizin treibt die Kosten unseres Gesundheitssystems nach oben und senkt die Qualität der Versorgung. Hier haben wir ein echtes Problem, aber wir streiten um die zehn Euro Praxisgebühr. SZ: Die Feldherren der Antike haben Brücken und Schiffe zerstört und so den Rückzug unmöglich gemacht, um die Risikofreude ihrer Soldaten zu steigern. Welche Strategie wählen die Feldherren der Moderne?
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Gerd Gigerenzer: Egal, wohin ich heute schaue - Politik, Management, Medizin: Alle sichern sich vornehmlich selbst ab. Nach meinen Untersuchungen werden ein Drittel aller wichtigen professionellen Entscheidungen von Topmanagern defensiv getroffen, das heißt, man wählt eine Option, mit der man sich selbst schützt, nicht aber die beste für die Firma. Beispielsweise stellen Vorgesetzte häufig den zweitbesten Bewerber ein. SZ: Weil sie die Konkurrenz fürchten? Gerd Gigerenzer: Genau, aus Angst werden Entscheidungskriterien durch Surrogat-Kriterien ersetzt, an die Stelle des Wohls der Firma tritt das eigene Gehalt oder der Bonus des Vorstands. In jeder Branche gibt es diese Tendenz. In der Wissenschaft begegnet einem häufiger, dass die wirklich innovativen Ideen durch Ersatzkriterien ersetzt werden, wie die Anzahl der Artikel, die jemand im Jahr publiziert. Und in so mancher Klinik wird das Wohl des Patienten durch die Zahl der durchgeführten Operationen kompensiert. SZ: Sie haben Ihre Frau, eine Amerikanerin, am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld getroffen und sich gleich verliebt. Wenn Sie unsicher gewesen wären: Wäre in diesem Fall ein Münzwurf angebracht gewesen? Gerd Gigerenzer: Den habe ich nicht gebraucht, aber das ist ein Rezept, das man jedem empfehlen kann, der seine innere Stimme nicht hören kann. Wenn Sie also eine schwierige Entscheidung haben zwischen zwei Personen, zwei Jobs, zwei Häusern, dann werfen Sie eine Münze. Während sich die Münze dreht, spüren Sie, was nicht kommen soll, und dann brauchen Sie nicht hinzuschauen, was das Ergebnis ist. SZ: Sie unterscheiden nicht zwischen Intuition und Bauchgefühl. Wo genau sitzt das Bauchgefühl, können Sie mal hindeuten? Gerd Gigerenzer: Das Bauchgefühl sitzt im ganzen Körper und im Wesentlichen im Gehirn. Die Assoziation zwischen Intuition und Bauch ist eine deutsche. Im Amerikanischen nennt man es „guts", das bedeutet Eingeweide, demnach liegt das Bauchgefühl dort etwas tiefer, im Französischen ist es das Herz, im Spanischen oder Kroatischen oder vielen anderen Sprachen gibt es diese Assoziation gar nicht. Daher kann die Idee, die einige Buchautoren vertreten, dass das große Nervensystem im Bauch unsere Intuitionen webt, nur von einem Deutschen kommen. SZ: Warum hören wir so oft unsere innere Stimme nicht? Gerd Gigerenzer: Wir leben in einer Gesellschaft, wo in vielen Bereichen Intuition als zweitklassig, minderwertig oder verdächtig gesehen wird. SZ: Oder weiblich, wie Darwin sagt. Gerd Gigerenzer: Wir Männer sind rational, und Sie als Frau sind intuitiv. Merken Sie, was da läuft? Das bedeutet, Sie sind zweitklassig, nicht zurechnungsfähig. Und so wurden und werden
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Frauen bis heute in vielen Kulturen behandelt. Und darum ist es wichtig, Intuition vom Weiblichen zu trennen, und auch von Willkür oder vom sechsten Sinn. Intuition ist eine Form von unbewusster Intelligenz. Die größten Teile des Gehirns sind unbewusst, nicht der Sprache mächtig. Intuition ist gefühltes Wissen, das man spürt, aber nicht begründen kann. SZ: Zeichnet sich die Zivilisation denn nicht gerade dadurch aus, dass wir uns solche Steinzeitreaktionen abgewöhnt haben? Gerd Gigerenzer: Wenn Sie meinen, dass man die größten Teile unseres Gehirns ausschalten sollte, dann viel Glück. Das hat mit Steinzeit nichts zu tun. Vor der Aufklärung war die Intuition eine der höchsten Formen von Erkenntnis, die nur Engel besaßen oder andere überirdische Wesen, und erst später fiel sie nach unten in den Bauch. Heute möchten Sie keinen Komponisten, der das, was er auf das Notenblatt schreibt, mittels Computersimulation berechnet hat. Aber das gilt eben nur für bestimmte Teile unserer Gesellschaft. Der Manager oder Politiker muss im Nachhinein Gründe erfinden, damit seine gute Intuition akzeptiert wird. Was wir brauchen, ist eine Gesellschaft, die analytisches Denken und Intuition auf dieselbe Ebene stellt. SZ: Und wie kommen wir da hin? Gerd Gigerenzer: Wir müssen die Schule revolutionieren. Wir brauchen dringend risikokompetente Kinder. Damit könnten wir einen Teil des Gesundheitsproblems lösen, weniger Alkohol und Rauchen, mehr Bewegung. Wir sollten endlich beginnen, Kinder den Umgang mit Geld zu lehren, also Finanzkompetenz. Und dann brauchen Jugendliche natürlich eine digitale Risikokompetenz, damit sie digitale Medien kontrollieren können, statt von ihnen kontrolliert zu werden. All das ist leider immer noch eine Vision. SZ: War es nach den Gesetzen der Stochastik richtig, dass Sie sich seinerzeit gegen die Karriere als Jazzgitarrist und für die Wissenschaft entschieden haben? Gerd Gigerenzer: Ja. Ich verdiente zwar genügend Geld als Musiker und konnte nicht wissen, ob ich in der Wissenschaft jemals Karriere machen und Professor werden würde. Aber mein schlimmster Gedanke war: Wenn ich nun alt werde, zurückblicke und dann feststellen muss - ich habe mich nur nicht getraut? Scheitern ist sehr viel besser als zögern. Wir leben nur einmal, und wer keine Risiken eingeht, lebt sein Leben gar nicht. Das Interview führte Kristin Rübesamen.
Valentin Groebner
Muss ich das lesen ? Ja, das hier schon Wissenschaftliches Publizieren im Netz und in der Uberproduktionskrise
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as N e t z ist eine mythische Fabel, die so oft wiederholt worden ist, dass sie ihre eigene Wirklichkeit geschaffen hat. Das ist die Erzählung vom Zusammenbruch aller Grenzen und Hierarchien, vom entfesselten Wildern und Sammeln, von der großen kreativen selbstbefruchtenden Unübersichtlichkeit. D e r Radartyp, der selbstgesteuert durch das unüberschaubar gewordene Angebot driftet: „Man erkennt ihn an seinem Lässigkeitskult und an seiner Medienobsession, an rastloser Informationssammlung und an fun-morality." Besorgte Beobachter mahnen, dass die Bildung dabei zur „austauschbaren Ware verkommt", aber andere feiern das endgültige Verschwinden des Autors, der in der „Geburt des Lesers" wiederauferstehe. Nicht etwas Fertiges abliefern, sondern selbst als Schreibender wahrnehmbar bleiben in einem Prozess ohne vorher ausgemachtem Ziel, in dem der Leser zusammen mit vielen anderen die Texte ständig über- und weiterschreibt. Hier geht es natürlich ums Bloggen, um Schreiben in den neuen sozialen N e t z w e r k e n - oder etwa nicht? Mein erstes Zitat vom rastlosen Informationssammeln und der lässigen Medienobsession stammt aus H e l m u t Lethens Studie über die späten 1920er Jahre, das zweite aus Hans Magnus Enzensbergers Polemik über Taschenbücher von 1962 und das dritte, vom Ende des Autors, von 1968. Es stammt von einem Professor f ü r Literaturwissenschaft, der mit seinem unverwechselbaren Sound dafür gesorgt hat, dass sein eigener N a m e sich eben nicht in der von ihm so gelobten vielstimmigen „écriture" aufgelöst hat: Er hieß Roland Barthes. Seither ist dieser wunderbare, vielseitig befähigte, polymorph-kollektive Autor-Leser überall, seit 45 Jahren. Es ist relativ einfach, in den programmatischen Texten zum Internet Konzepte zu
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Valentin Croebner
finden, die sehr viel älter sind als der Personalcomputer. Sie s t a m m e n aus der linken G e g e n k u l t u r der sechziger J a h r e u n d sind Weiterentwicklungen n o c h älterer Motive, die in den r o m a n t i schen J u g e n d b e w e g u n g e n um 1900 formuliert w o r d e n sind u n d bei den T h e o s o p h e n u n d E s o t e rikern der J a h r z e h n t e nach 1870, inklusive M a d a m e Blavatski und A n n i e Besant. Dieser weiche w a r m e H i p p i e - K i t s c h wird in d e n N e t z u t o p i e n u m s o unübersehbarer, je e n t h u siastischer sie sind. Sie versprechen nichts weniger als E r l ö s u n g d u r c h G e m e i n s c h a f t qua medialer Vernetzung. Das E n d e der Materialität, die Ü b e r s c h r e i t u n g aller G r e n z e n , die digitale Verflüssigung u n d Beschleunigung v o n allem, Körper, Zeit u n d Geld inbegriffen - w e n n wir n u r kreativ genug sind, aber hochdiszipliniert, u n d mit den n e u e n smarten tools vierundzwanzig S t u n d e n am Tag mit allen anderen online. W i r seien, so die B o t s c h a f t , gerade n u r noch zwei, drei technische Kleinigkeiten davon e n t f e r n t u n d sollen uns ganz o f f e n und locker d a f ü r machen u n d bereit zu allen A n s t r e n g u n g e n , weil sich die U t o p i e lohnen wird. Diese Erlösungsprophetie lese ich jetzt, in unterschiedlichen Varianten, seit 1993. Das N e t z ist 2013 also ein altes M e d i u m . Es ist die Z u k u n f t von gestern. Wenn etwas zwanzig J a h r e lang so intensiv angekündigt wird, dann kapiert man irgendwann, dass die A n k ü n d i g u n g die eigentliche B o t s c h a f t ist. A m allererfolgreichsten hat das N e t z die Idee verbreitet, dass es eine solche universale d e m o k r a t i s c h e Ideenverbreitung n u r durch das N e t z gäbe. Das ist natürlich Unsinn. Wenn man sich n u n nach den Folgen für das wissenschaftliche Schreiben fragt: Was heißt „wissenschaftlich" dann eigentlich genau? Erst einmal, dass I n f o r m a t i o n e n präsentiert w e r d e n , die vorher noch nicht verfügbar waren. A b e r die Neuigkeit muss n a c h p r ü f b a r sein, also auf die Frage „Woher k o m m t das?" a n t w o r t e n . (Dazu sind F u ß n o t e n , Bibliographien et cetera e r f u n d e n worden.) U n d schließlich ist ein Text dann wissenschaftlich, w e n n er ausreichend I n f o r m a t i o n e n darüber liefert, was man damit anfangen kann; w e n n er also die Frage b e a n t w o r t e t : „Wohin gehört das?" Wissenschaft ist deswegen ein kollektives U n t e r n e h m e n , das auf d e m P i n g p o n g von Veröffentlichung u n d K o m m e n t a r e n vieler Mitredner b e r u h t . Das ist f ü r alle Beteiligten m ü h sam, hat sich aber bewährt. W e n n einer U n f u g b e h a u p t e t , k o m m t das f r ü h e r oder später heraus. Das war bereits im 15. u n d 16. J a h r h u n d e r t so. W e n n ein H u m a n i s t einen vorher u n b e k a n n t e n antiken Text g e f u n d e n hatte, schickte er seine R e k o n s t r u k t i o n des Textes an möglichst viele Kollegen. Einerseits, damit die ihn auf mögliche Fehler a u f m e r k s a m machen u n d Verbesserungen anbringen k o n n t e n ; andererseits natürlich, um auf sich u n d seine E n t d e c k u n g a u f m e r k s a m zu machen. Diese Briefe gingen nicht n u r an Fachkollegen, s o n d e r n auch - als cc: - an reiche Patrons u n d M ä z e n e . Ein erfolgreicher Fund m a c h t e einen schlagartig in der c o m m u n i t y b e r ü h m t , und m a n b e k a m d a d u r c h möglicherweise einen lukrativen Job. G u t bezahlte J o b s f ü r H u m a n i s t e n waren damals k n a p p . D a s Mitspielen h a t t e aber auch Risiken. Wenn m a n auf einen Bluff oder eine Fälschung hereingefallen war o d e r einem peinliche U b e r s e t z u n g s f e h l e r aus d e m Lateinischen oder Griechischen unterliefen, k o n n t e m a n sich unsterblich blamieren: D e n n alle Kollegen waren gleichzeitig K o n k u r r e n t e n , u n d ü b e r wenig schrieben die H u m a n i s t e n so gern wie über die Blamagen ihrer Kollegen, mit cc: an alle. So f u n k t i o n i e r t e n auch die gelehrten Zeitschriften im 17. J a h r h u n d e r t . N e u e F u n d e u n d Ideen w u r d e n durch das Leser-Schreiber-Kollektiv getestet. Rezensionen im eigentlichen Sinn (inklusiver a n o n y m e r u n d teilweise sehr b o s h a f t e r K o m m e n t a r e ) kamen im 18. J a h r h u n d e r t dazu, als sich die Z e i t s c h r i f t e n i m m e r stärker auf einzelne F ä c h e r spezialisierten. Mitglieder eines losen
Muss ich das lesen? Ja, das hier
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Netzwerks, die gleichzeitig Leser und Autoren sind, nennt man heute „Prosumer", zusammengesetzt aus producer und consumer. Klingt wie ein brandneues Web-2.0-Phänomen, ist aber seit ziemlich langer Zeit die Organisationsform von Wissenschaft, je nach Standpunkt und Disziplin seit drei- oder fünfhundert Jahren. Wissenschaft ist ein Durchlauferhitzer für formulierte, getestete und dann eben als übertragbar oder für unnütz befundene Ideen. Der dauernde Druck zur Erneuerung wird also nicht durch das Medium erzeugt, sondern steckt im System Wissenschaft selbst. Bloggen und Rezensieren sind einfach die technische Fortsetzung der alten gelehrten Korrespondenz. Na, können wir sagen, dann ist ja alles in Ordnung: Wissenschaft als fröhliche selbstoptimierende Schwarmorganisation, in der sich die besten Ideen durchsetzen. Aber wieso nehme ich dann den Wissenschaftsbetrieb so oft als abgeschottet, unbeweglich, selbstzufrieden und ignorant wahr? In der Praxis ist die Wissenschaft in Disziplinen organisiert, und das sind strikt hierarchische Reputationsgemeinschaften. Sie sind um bestimmte Lieblingsprobleme herum organisiert (deswegen sind manche Themen „wissenschaftlicher" als andere) und sorgfältig durch Zugangsbarrieren abgeschirmt: durch besondere Spezialistenausbildungen und durch schwer verständliche Fachsprachen, in deren Beherrschung man ein paar Jahre investieren muss; und zwar dafür, damit nicht jeder mitreden kann. Heraus kommt ein double bind: M a n muss etwas N e u e s herausfinden; aber gleichzeitig muss man zeigen, dass die Disziplin diese neue Information - die eigene Idee, den eigenen Fund - notwendig braucht, um weitermachen zu können wie bisher. Sonst werden die Damen und Herren Professoren nur kalt bemerken, das sei ja interessant, aber nicht ihr Problem. Man muss das Neue deswegen in der alten Fachsprache formulieren und präsentieren. Sonst hört einem keiner zu. Man darf aber - und jetzt kommt die gute Nachricht - dabei möglichst kurz, möglichst unverschämt und möglichst witzig sein. U n d jetzt die unangenehme Seite der guten Nachricht: Man muss es sein. Mein eigenes Fach, die Geschichte, steckt, wie alle Kulturwissenschaften, im M o m e n t in einer Phase fetter Uberproduktion. Vervielfältigung der Publikationen, Aufsätze, Monographien: In jedem Feld, in das ich auch nur halbwegs Einblick habe, gibt es nicht zu wenig, sondern zu viele neue Texte. Es fehlt nicht an hochspezialisierten Anbietern, denn etwas anderes sind Kulturwissenschaftler nicht. Was wirklich fehlt, ist Publikum, und zwar solches, das freiwillig kommt und nicht ausschließlich aus Kolleginnen und Kollegen besteht. Die Zuschauerräume sind (wie hier) voll mit Produzenten. Obwohl sich diese Informationsflut sehr neu anfühlt, ist auch sie ein altes Problem. Die Menge des öffentlich verfügbaren Wissens ist zwischen 1820 und dem Ersten Weltkrieg buchstäblich explodiert; in den Jahren nach 1945 hat sich dieses Wachstum noch einmal beschleunigt. Die Wissenschaften produzieren viel mehr neue Informationen, als irgendjemand aufnehmen kann. Stanislaw Lem hat das in einem bis heute lesenswerten Buch von 1964 die „Megabit-Bombe" genannt. Seither hat niemand die Zeit, alle wichtigen Neuerscheinungen des eigenen Fachgebiets zu lesen. Was man braucht, sind deswegen Informationen zweiter Ordnung: abstracts, Best of, Tratsch - alles Mittel, die Frage „Muss ich das lesen?" beantwortet zu bekommen. Denn knapp ist nicht Speicherplatz, sondern Lesezeit. Wenn Sie während Ihrer wissenschaftlichen Ausbildung, also zwischen 20 und 35, jeden Tag 200 Seiten lesen, fünf Tage in der Woche, fünfzehn Jahre lang, kommen Sie auf 780 000 Seiten - das entspricht ungefähr 2 600 Büchern. In Deutschland erscheinen zurzeit jeden Tag etwas mehr als 240 neue Bücher. Jeden Tag.
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Dazu kommt die Konkurrenz. Es kommt eben darauf an, das Richtige, das wirklich Wichtige gelesen zu haben, das produktive coole Zeug, das die anderen noch nicht kennen, aber eigentlich brauchen. Und dann so darüber zu reden und zu schreiben, dass alle anderen das auch merken. Deswegen spielt Reden über neue Theorien in innerwissenschaftlichen Hackordnungen eine so große Rolle. Und deswegen ist es so bedrückend, all die Klassiker mit ihren vielen tausend Seiten gelesen haben zu sollen. Deswegen funktioniert das Netz als Traum von Erlösung durch Beschleunigung so gut. Denn das Netz verspricht, dass das Wissen der anderen (die Dreiviertelmillion Druckseiten, in die sie ihre fünfzehn Jahre Lesezeit zwischen 20 und 35 investiert haben) irrelevant geworden sein werden, und dass stattdessen die eigene Lektüreinvestitionen, das im Netz und über das N e t z erworbene Wissen, sich in einen uneinholbaren Vorsprung verwandelt haben werden. Fragt sich nur: Stimmt das? Wer sich durch Selbstdarstellungen von Wissenschaftlern auf dem Web klickt, merkt rasch, dass die meisten Blogs und persönlichen Websites sich nach Aufmerksamkeit von außen sehnen. An hochspezialisierten Inhalten herrscht kein Mangel. Knapp sind Leute, die eigene Zeit in Lektüre und Kommentare stecken. Wie viele Leser akademische Netzpublikationen wirklich haben, ist notorisch unklar; Kommentare sind Mangelware. Was diese Ich-Texte mit ihren links und postings erzeugen, sind Zugehörigkeitsfiktionen, die auf hoher Sendefrequenz beruhen: Wer nicht dauernd sendet, ist nicht lange dabei. Wer nicht verstärkt, verlinkt und kommentiert wird, wird unsichtbar (denn es geht ja um Aktualität) und versinkt in der Tiefe. Das Netz hat den Zwang zur Selbstdarstellung innerhalb der Wissenschaft unübersehbar gemacht und dramatisch beschleunigt. Es ist nicht nur unendlicher Informationsreichtum plus narzisstischem Geschwätz, sondern auch ein Paradebeispiel für das, was Gilles Deleuze die Kontrollgesellschaft genannt hat: „Man wird nie mit irgendetwas fertig." Wer seine Netzpräsenz ernst nimmt, ist zu beständiger Produktion und Erneuerung gezwungen - unaufhörliche unbezahlte Arbeit, nur um an einem Ort auffindbar und präsent bleiben zu können. Nirgendwo verschwindet man so schnell und so gründlich wie im Netz. Der Basler Historiker und Netzspezialist Peter Haber hat im letzten November auf einem Vortrag bemerkt, das Netz sei schon deswegen die akademische Zukunft, weil die Kommunikationsstrukturen auf Papier in den nächsten Jahren alle verschwinden würden. Dann werde es nur noch das große, rauhe Land Digitalien geben. Also, so Haber unsentimental, bereiten wir uns besser heute schon darauf vor. So ist das eben mit den Utopien: Zuerst sind sie Ort der Verheißung, Fernziel und gelobtes Land. Dann werden sie zur selbstauflegten Prüfung („Bin ich denn auch diszipliniert und smart genug dafür?"). Und dann verwandeln sie sich in Pflicht. So ist das mit den großen Versprechen: Vom Endlich-Dürfen zum Schließlich-Müssen. Das war mit anderen großen Utopien der letzten 250 Jahre - dem Ort der wahren Empfindsamkeit, dem Nationalstaat, den Kolonien, dem Sozialismus und der Konsumgesellschaft - auch schon so. Besser, wir nehmen das nicht persönlich. Teilen Sie die Vorhersage? Ich bin mir nicht so sicher. Das vermeintlich reibungslose Digital Age beruht auf sehr materiellen Voraussetzungen. Es beruht auf all den fleißigen Anbietern und Kommentatoren von content, die Gratisarbeit verrichten, um mit dem N e t z die elektronische Einsamkeit, die es so erst spürbar gemacht hat, ein bisschen erträglicher zu machen. In seinem Buch „The Master Switch" hat Tim Wu 2011 die Geschichte des Internets mit der Geschichte früherer Kommunikationsmedien verglichen, mit dem Telefon, dem Film und dem Radio, und
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deren zunehmender Monopolisierung durch einige wenige Infrastrukturkonzerne. Aus dieser Perspektive sieht das N e t z dann plötzlich gar nicht mehr universell und basisdemokratisch aus. Das Internet beruht auf Kabel- und WLAN-Infrastrukturen und hat in Amerika zu einem atemberaubenden Wiederaufstieg des ehemaligen Telefon-Monopolisten AT&T geführt, in neuer Gestalt und mit bislang ungekanntem Ausmaß an Zentralisierung und Überwachung von Datenströmen. U n d es beruht auf billiger Elektrizität. Server brauchen ziemlich viel Saft. Wenn die Strompreise steigen, wird sich die digitale Infrastruktur ziemlich rasch verändern. In den letzten zwanzig Jahren hat das N e t z das vervielfältigt, verstärkt und beschleunigt, was ohnehin schon da war. In dem Bereich, in dem ich selbst arbeite, der Geschichte des Mittelalters und der Renaissance, weiß ich von keiner wissenschaftlichen Idee und von keinem aufregenden Fund, der zuerst auf dem N e t z dagewesen wäre und sich wegen seines Erfolgs und wegen positiver feedback-loops dann von dort dann in anderen Medien - wissenschaftliche Zeitschriften und Bücher - durchgesetzt hätte. In den letzten zwanzig Jahren war es immer genau andersherum. Fazit? Auf den ersten Blick sieht das Netz mit seinen Rückkopplungsfunktionen und AutorLeser-Gemeinschaften aus wie die ideale Weiterentwicklung der alten gelehrten Korrespondenz. Aber nur auf den ersten Blick. Und vor allem dort, w o es um die unerfreulichen Seiten der Gelehrtenrepublik geht, nämlich um den Kult der narzisstischen Differenz und um Debatten, die ins Endlose verlängert werden. Das N e t z ist wunderbar für Unfertiges (und für wolkige U t o pien). Aber mit der Stabilisierung der dort produzierten Informationen, also mit konkreten Ergebnissen, hapert es dauerhaft. Die Geschwindigkeit und hohe Sendefrequenz macht das N e t z zum Medium für rasantes Vergessen. Fertiges, Konzentriertes, Abgeschlossenes geht darin unter. Was heißt das für wissenschaftliches Schreiben? Schreiben ist nichts anderes als der praktische Umgang mit der Zeit anderer Leute - nämlich die der Leserinnen und Leser. Wer rasch Informationen haben will, der sucht Ergebnisse. U n d zwar möglichst solche, die ein anständiges Haltbarkeitsdatum haben. Leserinnen und Leser scrollen deswegen nicht lange - das wissen Sie alle ebenso gut wie ich. Die lesen die ersten fünf Zeilen eines Textes. Wenn da nicht steht, warum man weiterlesen soll, dann klicken sie anderswohin. Weil alle Beteiligten nur begrenzte Zeit zum Lesen haben, setzen sich im N e t z (ebenso wie außerhalb) diejenigen Formate durch, die Übersicht verschaffen und Informationsgewinnungskosten reduzieren. Wenn Sie gerne an Erlösung durch Verschmelzung in Gemeinschaft glauben, in eine Gemeinschaft der Arbeit, in denen das N e t z Ihnen magischerweise Arbeit abnimmt, dann können Sie das gerne tun. Aber wenn Sie eine Idee haben, die vor ihnen noch keiner gehabt hat, dann müssen Sie sie selbst aufschreiben. U n d zwar möglichst kurz, griffig, witzig und überzeugend: Das tut niemand für Sie. Wenn Sie Ihren Beitrag - Blog, Rezension, Essay - wirksam machen wollen, dann gibt es zwei simple Kontrollfragen. Für wen ist meine Mitteilung bestimmt? Die zweite Kontrollfrage ist noch kürzer. Was müssen meine Leser nicht mehr lesen, weil sie mich gelesen haben? Denn Wissenschaft kann gar nichts anderes sein als Verdichtung von Information. Ästhetische Formen sind dabei nicht nebensächlich, weil sie Verdichtung erzwingen und Konzentration organisieren, auf wenige Hauptakteure, übersichtliche Zeitebenen, nachvollziehbare Kausalketten; man könnte sagen, auf elegante und durchschlagskräftige Rätsel. Man bekommt die eigene wissenschaftliche Qualifikation im Wesentlichen dafür, grosse Mengen komplexer Information zusammenzufassen und dadurch neue Informationen zu erzeugen. Man ist als Wissenschaftler selbst ein Filter, ganz persönlich.
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Valentin Groebner
Deswegen lässt sich die Brauchbarkeit eines Wikipedia-Eintrags sehr zuverlässig daran erkennen, wie sorgfältig und aktuell die Bibliographie am Ende des Artikels zusammengestellt ist und welche Hinweise auf wissenschaftliche Zeitschriften und Bücher aus bekannten Wissenschaftsverlagen dort auftauchen. N o c h mehr gilt das f ü r Bücher. Weil sie eben keine Korrektur-, updateund refresh-Funktion haben, sind sie - wenn sie gut gemacht sind - Ergebnis pur. N u r für Texte in Sammelbänden, fürchte ich, wird sich irgendwann wirklich niemand mehr interessieren. Nach zwanzig Jahren N e t z sind es weiterhin gedruckte Informationsspeicher, mit denen die digitalen Informationen verifiziert und stabilisiert werden. Das N e t z ist kein haltbarer Aufbewahrungsort f ü r Wissen, und es hat keine effizienten Filtermechanismen entwickelt. D e facto funktioniert es in Arbeitsteilung mit langsameren, aber haltbareren analogen Speichermedien. Deswegen geht es heute wohl darum, mit Hilfe des N e t z e s netzunabhängige Inhalte zu schaffen. U n d Netzunabhängigkeit ist das Kriterium für nachhaltige Wissenschaft, nicht nur wegen der N e t z m o n o p o l i s t e n und der Strompreise.
Stephan
Grünewald
Die umgekehrte Angst Zum Lebensgefühl von Jugendlichen zwischen '68 und heute
Forschung & Lehre: In vielen Ländern Europas finden Jugendliche selbst mit bester Ausbildung keine Arbeit, keine Perspektive für die Zukunft. In Deutschland sieht es ungleich besser aus. Da müsste es der Jugend hierzulande doch eigentlich sehr gut gehen. Stephan Grünewald: Materiell betrachtet geht es den Jugendlichen auch gut, allerdings ticken sie ganz anders als man sich das als Erwachsener vorstellt. Das Grund- und Lebensgefühl der Jugendlichen hat sich in den letzten Jahren fundamental gewandelt. Man kann sich das immer am besten vor Augen führen im Vergleich mit der 68'er Generation. Die hatte das Gefühl, in einer engen, bornierten Welt zu leben und war darauf erpicht, sich Freiheitsgrade zu erobern, also auszubrechen aus dieser gesellschaftlichen Starre. Bei den heutigen Jugendlichen ist es genau umgekehrt. Sie haben das Gefühl, in einer brüchigen und zerrissenen Welt zu leben, die wenig Verlässlichkeiten bietet. Da spielen Kindheitserfahrungen eine Rolle, wie instabile Familiengefüge mit allein erziehenden Müttern, Patchwork-Familien und desertierenden Vätern. F&L: Sie haben den Verlust fester Familiengefüge genannt. Ist das eine der Hauptursachen für die Verunsicherung der Jugendlichen? Stephan Grünewald: Die Jugendlichen wachsen nicht mehr in einer Welt großer oder unumstößlicher Verlässlichkeiten auf. Sie bekommen ständig mit, wo wieder eine Trennung ist und etwas auseinander bricht. Diese Zerrissenheit erleben die Jugendlichen auch in der Politik, zum Beispiel der Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler. Und dann der Nachfolger, der auch zurücktre-
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ten musste. Das hat es früher nie gegeben. Selbst der Heilige Vater, der seit 700 Jahren immer stabil im Amt war, hatte den Rückzug angetreten. Das Grundgefühl der Jugendlichen ist das einer großen Unsicherheit. Das führt dazu, dass bei den jungen Leuten eine sehr große Sehnsucht nach Verlässlichkeit entsteht. Sie setzen viel daran, ihr Leben zu stabilisieren. F&L: Sie haben einmal das Lied von Peter Fox „Haus am See" als die Hymne der heutigen Generation bezeichnet. Da heißt es „Alle komm'n vorbei, ich brauch nicht auszugehen". Das ist eine Rückzugsutopie ins Idyll... Stephan Grünewald: Ja, das Idyll taucht immer wieder auf. Die Jugendlichen beschreiben meist so ihre Wunschvorstellung. Es wird keine gesellschaftliche Utopie entwickelt, sondern ein kleinbürgerliches Ideal. Sie träumen da von ihrem Häuschen mit Garten, mit einer kleinen Familie, zwei Kindern. Verschiedene Personalverantwortliche von deutschen Unternehmen haben mir erzählt, dass Bewerber in den Auswahlgesprächen bei der Aufforderung etwas zu zeichnen immer wieder das Häuschen mit Garten darstellen. Das hat es vor zehn, fünfzehn Jahren in dem Maße noch nicht gegeben. F&L: Prägend für die Generation, über die wir sprechen, ist auch der intensive Gebrauch von Medien. Vor allem MP3-Player, Smart-Phones, zudem sind sie komplett vernetzt über Facebook und andere soziale Plattformen. Würden Sie das als eine Flucht aus der realen Welt sehen? Stephan Grünewald: Nein, es ist eher so, dass die Medien so etwas wie ein Ersatz für Mütterlichkeit sind. Die Mütter stehen für diese bedingungslose Liebe, für Stabilität, während die Väter mitunter eher skeptisch oder argwöhnisch betrachtet werden. Nur ist die Mutter nicht rund um die Uhr da, aber die Jugendlichen wollen die ganze Zeit Zuspruch und Umsorgtheit verspüren. Daher bauen sie einen mehrfachen medialen Kokon um sich auf. Für junge Leute ist die Vorstellung untragbar, allein in einem Raum zu sitzen, auf sich zurückgeworfen. Daher hat man immer das Handy dabei, der Computer läuft, man ist über Facebook angeschlossen, im Hintergrund läuft auch noch das Radio. Das sind alles Stabilisierungsmaßnahmen. F&L: Wie kommt es in der heutigen Generation, also der 17-plus-Jugendlichen, zu einer Entscheidung, ein Studium aufzunehmen? Welche Hoffnung verbinden die Jugendlichen heute damit? Stephan Grünewald: Die Jugendlichen haben häufig das Schreckgespenst vor Augen, den Halt zu verlieren und abzustürzen. Bei der Wahl des Studiums folgt man dann häufig nicht dem inneren Ruf, sondern richtet sich danach, was nützlich ist und was die Sicherheit eines stabilen Auskommens gibt. Das ist schon in der Schulzeit zu beobachten, wo eine Art „Kompetenzhamsterei" betrieben wird. Man stellt sich die Frage, welche Bescheinigungen sind nötig, um die nächste Stufe zu erreichen. In meiner Studienzeit war es noch so, dass man sich das ganze Lehrprogramm anschaute und dann auch mal in andere Fakultäten gegangen ist, weil da eine interessante Vorlesung war, die einen persönlich weiter brachte. Dieses Denken ist fast überhaupt nicht mehr vorhanden. Heute schauen die Studenten, wie sie den Plan optimal erfüllen können, was gefordert und gebraucht wird, was sich im Lebenslauf gut macht. Das bedeutet zum Beispiel, dass Studen-
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ten ein Praktikum im Ausland machen, weil das für den Beruf günstig ist, aber nicht weil sie eine Sehnsucht nach der Ferne entwickeln. F&L: Also spielt während des Studiums weniger die Suche nach Identität oder die Möglichkeit, noch einmal Freiräume auszuleben, eine Rolle? Stephan Grünewald: In einer Studie, die wir gemacht haben, wurde deutlich, dass die Studienzeit eine Art „doppelter Flur" ist. Es geht einerseits darum, diese ganzen Bescheinigungen zu machen, andererseits darum zu arbeiten. Die Maxime während des Studiums ist auch, es möglichst effizient und schnell durchzuziehen. Die Studienzeit als eine Zeit der Selbsterfahrung, des Experimentierens mit Liebens- oder Lebensformen („Ich zieh jetzt mal in die W G und guck mal, wie ich mit anderen klar komme" oder „Ich mache mal eine Reise nach Indien, um mich selbst zu finden") ist überhaupt kein Thema mehr. F&L: Wie wirkt sich diese Haltung auf den Alltag im Studium aus? Herrscht da eine emsige Arbeitshaltung vor? Stephan Grünewald: Unter den Studenten herrscht eine sehr, sehr disziplinierte Arbeitshaltung. Ich würde aber jetzt nicht sagen, dass sie sich übermäßig in die Arbeit stürzen, sondern das ist im Grunde genommen Studium nach Vorschrift. F&L: Was beeinflusst die Wahl des Studienfaches? Geht es in erster Linie darum, damit für einen „sicheren" Arbeitsplatz zu sorgen? Stephan Grünewald: Die Karriere spielt bei der Wahl des Studienfaches schon eine Rolle, ist aber nicht mehr die dominante Triebfeder. Vielen jungen Leuten geht es beruflich darum, verbindlich anzukommen. Sie wollen also nicht weiter kommen und flexibel sein, wie vor etwa zehn Jahren, wo man wegen der eigenen Vita alle vier Jahre den Arbeitgeber wechselte, um zu zeigen, dass man mobil ist. Die Sehnsucht heute geht dahin, „ultimativ" aufgehoben zu sein, einen Platz zu finden, wo man dann auch bleiben kann. F&L: In Ihrem neuen Buch „Die erschöpfte Gesellschaft" sagen Sie, dass die Gesellschaft träumen muss, um angstfreier zu werden... Stephan Grünewald: Ich plädiere in meinem Buch nicht für Angstfreiheit, da die Angst auch lebenswichtig und produktiv ist. Angst und Traum sind psychologisch betrachtet Geschwister. Was uns erschöpft, ist ja der Versuch, in einen Zustand besinnungsloser Betriebsamkeit zu geraten. Alles, was mich ängstigen könnte, was mir Probleme bereitet, was mich als Zukunftsungewissheit drücken könnte, das ist nicht mehr im Blickfeld, weil ich mich im Hamsterrad abplage. In dem Moment aber, wo wir zur Besinnung und zur Ruhe kommen, erwacht im Grunde genommen über das Träumen auch die Kreativität. Dann bekomme ich einen anderen Blick auf mich und die Wirklichkeit, dann bin ich auch wirklich in der Lage, andere Wege zu gehen, innovativ zu sein. Gleichzeitig packt mich aber auch das Unbehagen und die Angst, weil mir dann erst klar wird, wo die Probleme sitzen. Das ist der Grund für unsere Traumfeindlichkeit, denn die nächt-
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liehen Träume provozieren uns ja auch, die legen den Finger in die Tageswunde, sie rücken in den Blick, welche Sehnsüchte untergegangen sind, welche Probleme nicht bearbeitet wurden. F&L: Kann man denn sagen, dass Jugendliche heute weniger Ängste aushalten könnten? Stephan Grunewald: Die Vision einer angstfreien Gesellschaft ist ein verhängnisvoller Wunschtraum. Wenn wir die jetzigen Jugendlichen mit der 68er-Generation vergleichen, können wir nicht sagen, die 68er hatten weniger Angst. Die hatten Angst zu erstarren und das Gefühl, wenn sie jetzt nicht ausbrechen, dann sind sie so unbeweglich und so spießig wie ihre Eltern. Und die jetzige Generation hat die Angst, ins Bodenlose zu fallen, hat also genau die umgekehrte Angst. Der heutigen Jugend macht das Offene, das Unstrukturierte Kummer, während den 68ern gerade das Strukturierte, das Reglementierte ein Feindbild war. Was wir auch machen, wir kommen nicht umhin, dass wir uns ängstigen. Zu meiner Zeit war das Problem der Studenten, mit dem Studium fertig zu werden. Man wollte im Grunde genommen immer in diesem offenen vagen Traum haften bleiben. Ich hatte Kommilitonen, die haben 18, 20 oder 22 Semester studiert. Aktuell haben Studenten das Problem, dass sie sich nicht mehr dieses Offene und Vage, dieses Experimentelle gönnen, dass sie nur noch auf formale Effizienzerfüllung getrimmt sind.
Hans Ulrich Gumbrecht
Intellektuelle Leidenschaft in der Drittmittel-Welt? s gab eine Zeit - und sie liegt keineswegs in unsichtbarer Ferne - als die Identifikation mit intellektuellen Positionen (oder ihre Ablehnung), als die Begeisterung für ein Gedicht (oder seine Kritik) eine Sache der Leidenschaft war, weit über persönliche Beziehungen und Affinitäten hinaus. N o c h vor wenig mehr als einem Jahrzehnt schien zum Beispiel für viele Geisteswissenschaftler, aber auch für nicht-professionelle gebildete Leser das Heil und die Zukunft der Menschheit im ganz wörtlichen Sinn von einer Übernahme der „Dekonstruktivismus" genannten philosophischen Thesen und Gesten Jacques Derridas abzuhängen (oder auch von ihrer definitiven Zurückweisung). Daran zerbrachen damals Freundschaften und dafür wurden vielversprechende Karrieren aufs Spiel gesetzt — so wie wenig vorher in Deutschland für mehr oder weniger kritische Rückblicke auf die nationale Geschichte im „Historikerstreit"; für geschlechtspolitische Ziele; für Konzeptionen innerhalb des „Postkolonialismus"; oder, in der Zeit unmittelbar nach 1968, für die eine oder andere Variante innerhalb eines je verschiedene politische Zukunftsperspektiven eröffnenden, immer „neuen" Marxismus. Nicht die aus so vielfachen Wert- und Begründungssystemen enstandene, historisch spezifische Konfiguration des Denkens macht den Unterschied zwischen jener Vergangenheit und unserer Gegenwart aus, sondern die damals von allen denkbaren Antagonisten - stillschweigend oder explizit - geteilte Prämisse, dass es existentiell bedeutsamer sei als irgendeine andere Entscheidung, für welchen O r t an diesem Horizont intellektueller Möglichkeiten man sich engagiert. So harmlos das Thema auch sein mochte, selbst an den Reaktionen auf akademische Gastvorträge konnten sich im letzten Drittel der vergangenen Jahrhunderts die Geister nicht selten sehr heftig scheiden. Mittlerweile aber haben wir Intellektuellen uns in einer anscheinend grenzen- und horizontlosen Ebene der ängstlichen Selbstrelativierungen verloren, die wie eine Realisierung des Nietzsche-Bilds von der „Wüste" des „Nihilismus" wirkt. Gegnerische wie eigene Ansprüche des Denkens wollen wir als „Konstruktionen" auf mehr oder weniger evidente Interessen zurückführen,
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Gumbrecht
und jeder Schritt in diesem Sinn ist von der potenziell selbstvernichtenden Frage nach dem potenziellen „gesellschaftlichen Interesse" begleitet. Längst haben wir - nicht nur an den U n i versitäten - den Konkurrenzkampf um substantielle Bedeutung gegenüber den Natur-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften, vor allem aber neuerdings gegenüber den D e n k f o r m e n und Entdeckungen der verschiedenen Ingenieurs-Disziplinen mit ihren evident wirkenden Ansprüchen auf „Praxisrelevanz" aufgegeben - und fühlen uns in ewig sekundäre Positionen der D e f e n sive abgedrängt. Die international immer matter werdenden Bemühungen um Restbestände unserer Existenzberechtigung innerhalb von Bildungsinstitutionen
und Medienprogrammen
haben
sich in
Deutschland zu der besonders scharfen Variante eines Kampfes um die sogenannten „Drittmitt e l " verdichtet. Seine persönliche, aber auch die Bedeutung seiner Institution und seines Fachs stellt auf diesem Markt unter Beweis, wer innerhalb genau vorgegebener Wettbewerbsbedingungen finanzielle Förderung für möglichst breit angelegte „Forschungsprojekte" einwirbt. Dies impliziert auf der einen Seite, dass intellektuell wichtig nur sein kann, was solche Mittel beansprucht und tatsächlich erhält (die Einwerbung von Drittmitteln wirkt sich direkt gehaltssteigernd aus, viel deutlicher als Publikationen oder gar Erfolg in der Lehre); und das hat auf der anderen Seite - was durchaus grotesk ist - längst zu einer Abhängigkeit des D e n k e n s von den ins Auge gefassten institutionellen und finanziellen Ausmaßen seiner Realisierung geführt. Deshalb ist die Drittmittel-Trächtigkeit von zu verfolgenden Fragen und T h e m e n als Motivation an die Stelle ihrer intellektuellen Faszination getreten. Als Figur des Denkers für Gegenwart und Zukunft profiliert sich nun immer deutlicher der Typ eines ehemaligen Autors und Lehrers, dessen „Anträge" wiederholt zur Gründung von „Sonderforschungsbereichen" geführt und so möglichst viele jüngere Kollegen in ein eher hartes (und meist wie Brei schmeckendes) Brot gesetzt haben. Längst ist der paradoxale - aber weitgehend durch kollektives Schweigen isolierte - Effekt dieser Situation empirisch bekannt: jene angestrengten Projekte, deren Finanzierungs-Volumen ihre „gesellschaftliche Bedeutung" belegen soll, finden weit weniger Leser-Interesse als von individuellen Autoren geschriebene Bücher und D e n k - I n s t i t u t i o n e n im traditionellen Stil. Vielleicht sind wir also am Ende einer historischen Strecke angelangt, die mit einer Explosion intellektueller Leidenschaft in der Vorgeschichte der Universität als Institution eingesetzt hatte. I m frühen zwölften Jahrhundert fühlte sich Pierre Abélard, ein junger Adliger aus der Bretagne, der zu lesen und schreiben gelernt hatte (was in seinem Stand nicht die Regel war), unwiderstehlich von der Aura theologischer Vorlesungen und D e b a t t e n an der Kathedralschule von Paris angezogen, wo zum ersten Mal die Texte und D o g m e n der christlichen Tradition an den abstrakten Kriterien der Logik und der argumentativen Rhetorik gemessen wurden. Bald schon trat Abélard in Konkurrenz mit seinen Lehrern, wurde in über Jahrzehnte anhaltenden intellektuellen Machtkämpfen von der Seine-Insel der Kathedral-Schule auf das linke U f e r des Flusses und an die Peripherie der Stadt verdrängt; kehrte als der dominante Lehrer, den Hunderte neuer Schüler hören wollten, nach Paris zurück; geriet mit der Autorität des Vatikans in Konflikt und versöhnte sich - um schließlich in eine Episode erotischer Leidenschaft mit seiner Schülerin Heloïse verstrickt zu werden, welche beider N a m e n weit über die Geschichte der Theologie hinaus bis heute berühmt gemacht hat. Heloïse und Abélard glaubten zu wissen, dass in ihrer Existenz nicht Platz sein konnte für ein Nebeneinander von erotischer und intellektueller Passio n - und entschieden sich am Ende für voneinander getrennte Leben, was die Möglichkeit ihrer je individuellen intellektuellen Leidenschaften bewahren sollte.
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Leidenschaft
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Drittmittel-Welt?
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U n t e r mehreren Perspektiven wirkt diese Geschichte emblematisch wie eine Ouverture, die der G r ü n d u n g der Universität von Paris - wahrscheinlich der ältesten aller Universitäten vorausgeht. Ihr U r s p r u n g lag in der Intensität und der Ausstrahlung der Kathedralschule, welche von institutioneller N ü t z l i c h k e i t u n d ihrer Konsolidierung denkbar weit entfernt waren. Vielmehr verwirklichten sie sich in der Brillanz individueller Denker und in ihrer Rivalität, das heißt gerade nicht unter den Voraussetzungen von breit angelegter Komplementarität oder Konsensus. U n d diese in Paris konzentrierte Emergenz der Denk-Leidenschaft brachte ein Gefühl hervor, das nicht als kategorial verschieden von erotischer Leidenschaft erlebt wurde, ja mit ihr in Spannung trat und von Abélard und Heloïse am Ende im Sinne einer starken A f f i r m a t i o n (und nicht im Sinn von Enthaltsamkeit) der Erotik übergeordnet wurde. N a t ü r l i c h visiere ich keine Analogien zwischen der Intensität jenes historischen M o m e n t s und der Situation der Geisteswissenschaften im frühen einundzwanzigsten J a h r h u n d e r t an. Der genealogische Blick soll einfach suggerieren, w i e man maximalistisch die - eher lakonische B e m e r k u n g des R e k t o r s meiner Universität verstehen kann, nach der die auch heute institutionell bedingungslose Bedeutung der Geisteswissenschaften darin liegt, dass sie allein die Universitäten zu Orten des D e n k e n s , zu intellektuellen Orten, zu Orten einer spezifischen Form und einer besonderen Tonalität von Leidenschaft m a c h e n . Aber können w i r diese - inzwischen von verkrampfter Selbstreflexion weitgehend absorbierte - Leidenschaft denn noch wiederfinden? Ich glaube, dass die vielfältigen Bemühungen von Geisteswissenschaftlern, ihre S t i m m e in den verschiedensten Ethik-Diskussionen geltend zu machen, eine Spur solch gutgemeinter Bemühungen zeichnen. Doch zu oft geht es in diesen Debatten bloß um die nachträgliche Begründung von Präferenzen und Entscheidungen, die längst gefallen sind - zugunsten einer neuen Beziehung zwischen den Geschlechtern zum Beispiel oder zugunsten eines Alltagsverhaltens, das als ökologisch verantwortungsvoll gelten kann. Solche Nachträglichkeit des Denkens hält uns wohl gerade auf Distanz von der Leidenschaft. Eine g a n z andere, durch die Offenheit möglicher A n t w o r t e n bewegte Intensität spüre ich in Gesprächen, die weit entfernt sind von Zusammenhängen direkter Nützlichkeit und Praxisrelevanz. Etwa in den anhaltenden Reaktionen auf die von Heidegger vor einem halben Jahrhundert zuerst gestellte - und nun auf unsere digitale Welt zu beziehende - Frage, ob sich in den Technologien der Gegenwart das Potenzial eines „Wahrheitsereignisses" verberge, welches freizusetzen uns noch nicht gelungen ist. Oder in den D e b a t t e n um den evolutionären und funktionalen Stellenwert des menschlichen Bewusstseins innerhalb des Kosmos, zwischen einer Sackgasse von Exzentrizität und einer nicht mehr theologisch begründeten universalen Relevanz. Beeindruckend ist einfach die Kraft des Denkens, welche solche Themen auslösen - nicht irgendein zur Geltung gebrachter A n s p r u c h auf vorrangige Bedeutung. Zugleich kann niemand ausschließen, dass sich das Denken, dass sich die intellektuelle Leidenschaft, dass sich der „Geist", wie Hegel gesagt hätte, in institutionelle Dimensionen fortbewegt hat, welche die Geisteswissenschaften nie als die ihren beanspruchten: in die M u s i k vielleicht, in den Sport als funktionsfreie Welt körperlicher Höchstleistungen - oder in das „Schreiben" elektronischer Programme, welches eher denn ein Auf-Schreiben, ja möglicherweise das GegenwartsAquivalent des intensiven D e n k e n s geworden ist.
Vinzenz
Hediger
Einübung in paranoides Denken „The Wire", „Homeland" und die filmische Ästhetik des Uberwachungsstaats
A
ls die britische Tageszeitung The Guardian und die Washington Post vor einigen Wochen enthüllten, in welchem Ausmaß die National Security Agency (NSA) in den USA die eigenen Bürger, aber auch befreundete Nationen überwachte, meldete sich auch der erfolgreiche TV-Produzent David Simon mit einem Debattenbeitrag zu Wort. Simon wiegelte ab: Was die NSA da mache, unterscheide sich nur in quantitativer Hinsicht von einer Abhöraktion der Polizei in einem gewöhnlichen Ermittlungsverfahren. Zumindest was die polizeiliche Ermittlung angeht, wusste Simon, wovon er sprach. Er hatte lange Jahre als Polizeireporter für die Baltimore Sun gearbeitet und seine Erfahrungen dann in die Fernsehserie „The Wire" einfließen lassen. „The Wire" erzählt mit großem dramaturgischen Geschick und soziologischem Scharfblick, wie eine Sondereinheit der Polizei von Baltimore mit einer Abhöraktion einem DrogenhändlerRing das Handwerk zu legen versucht. „The Wire" gilt als eine der besten Serien im Bereich des sogenannten „Quality TV", der erzählerischen Langform, wie sie vor allem von Kabelsendern in den USA seit etwa fünfzehn Jahren mit Formaten wie der Mafia-Serie „The Sopranos" oder „Mad Men", einer Chronik der Werbeindustrie in den 1960er Jahren, erfolgreich gepflegt wird. „The Wire" galt überdies auch als die Lieblingsserie des US-Präsidenten Barack Obama. Was regt ihr euch auch auf, so könnte man David Simons Intervention paraphrasieren, die NSA macht auch nichts anderes als die Helden von „The Wire", deren Uberwachungsoperationen ihr fünf Staffeln lang so fasziniert verfolgt habt. Simon trifft damit einen wichtigen Punkt, wenn auch auf indirekte Weise. Erstaunlich ist an dem NSA-Skandal nicht nur das Ausmaß der Überwachung. Erstaunlich ist auch, mit wie viel
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Vinzenz Hediger
Gleichmut die amerikanische Öffentlichkeit die Enthüllung aufgenommen hat. Es scheint fast so, als wäre man schon darauf eingestellt gewesen, dass ein solches Regime der Überwachung besteht. So weit es eine solche Einstellung gibt, dürften Serien wie „The W i r e " oder die noch ungleich erfolgreichere Serie „Homeland", die derzeit das amerikanische Fernsehpublikum in ihren Bann zieht, ihren Beitrag dazu geleistet haben. „ H o m e l a n d " handelt von der C I A - A g e n t i n Carrie Mathison, gespielt von dem HollywoodStar Clare Danes, die von einem Einsatz im Irak mit der Information in die U S A zurückkommt, dass ein von A I - Q a e d a festgehaltener, aber mittlerweile freigekommener US-Soldat namens Nicholas Brody „umgedreht" wurde und nach seiner R ü c k k e h r in die U S A ein Attentat plane. Mathison lässt Brodys Haus mit Überwachungskameras und Wanzen verdrahten und verbringt danach Tage und Wochen damit, den nach acht Jahren Gefangenschaft zurückgekehrten Soldaten zu überwachen, stets auf der Suche nach Indizien, die den Verdacht bekräftigen könnten, dass der gefeierte H e l d doch ein Terrorist sei. Wie „The W i r e " bewegt sich „ H o m e l a n d " auf höchstem künstlerischen Niveau, und es entbehrt vielleicht nicht der Ironie, dass „Homeland" nach Auskunft der Unterhaltungspresse „The W i r e " als Lieblingsserie von Barack O b a m a abgelöst haben soll. Wie bei „The Wire" bildet die Figur, die für die Überwachung verantwortlich ist, einen, wenn nicht sogar den emotionalen Fokus der Dramaturgie. W o es aber bei „The Wire" nur um die üblichen Probleme der verwahrlosten amerikanischen Innenstädte geht, steht bei „ H o m e l a n d " gleich die Sicherheit und die Zukunft des ganzen Landes auf dem Spiel. Entsprechend umfassend ist der Verdacht, mit dem die Heldin der Serie ihre ganze Welt belegt. Jede Geste, jedes Wort, jede Handlung des vermeintlichen Terroristen hat von vornherein einen doppelten Sinn, muss als M i m i k r y und Tarnung gelesen werden oder meint gerade das Gegenteil dessen, was offen zutage liegt. Vollends ergreift diese paranoide Logik des verborgenen Gegensinns von der C I A - A g e n t i n Besitz, als sie B r o d y schließlich direkt konfrontiert, um der Sache auf den Grund zu gehen, und sich dabei auch noch in den Helden, der auch ein AI-Qaeda-Terrorist sein könnte, verliebt. Vor knapp fünfzig Jahren, während des Präsidentschaftswahlkampfs des Republikaners Barry Goldwater, der als Vorreiter und Wegbereiter des neuen „small government"-Konservatismus gelten kann, der schließlich mit Ronald Reagan Einzug ins Weiße Haus halten sollte, veröffentlichte der Historiker Richard H o f s t a d t e r einen Text mit dem Titel „The Paranoid Style in A m e rican Politics". In seinem Artikel, der auf einem Vortrag in O x f o r d basierte, reihte H o f s t a d t e r Goldwater in eine lange Tradition der Inverdachtnahme staatlicher Macht in den U S A ein, die bis zu Thomas J e f f e r s o n zurück reicht. Als „Paranoid Style" bezeichnete H o f s t a d t e r eine F o r m des D e n k e n s , die jegliches staatliches Handeln als Angriff auf die Freiheit des Individuums betrachtet und in der Regel auch dunkle, fremde Mächte am Werk sieht. Schaut man sich nun „ H o m e l a n d " an, diesen Thriller um Liebe in den Zeiten absoluter Paranoia, und bedenkt man, wie erfolgreich die Serie ist, so gewinnt man leicht den Eindruck, als wäre dieser paranoide Stil des D e n k e n s nunmehr zu einem tragenden Motiv der amerikanischen Kultur geworden, wenn auch in einer paradoxen Umwertung. D i e Amerikaner haben sich nach dem 11. September 2 0 0 1 geradezu eilfertig auf das Argument der Bush-Regierung eingelassen, demzufolge die Freiheit nur um den Preis ihrer Einschränkung zu erhalten sei. Die paranoide Vorstellung des übermächtigen Staats, der in alle Belange seiner Bürger eingreift, scheint im Zuge dessen zu einer ins Positive gewendeten kollektiven Rückzugsfantasie geworden zu sein, zu einer Fantasie von Sicherheit auch unter Bedingungen, in denen mit dem Feind in allen Lebenslagen
Einübung in paranoides
Denken
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zu rechnen ist. Mit ihrer Semantik des Allverdachts und des bedrohlichen Doppelsinns allen Handelns leisten Serien wie „Homeland", aber zuvor auch schon Kinofilme wie Steven Spielbergs futuristischer Überwachungsthriller „Minority Report" von 2002, ihren Beitrag zur Einübung in diesen neuen paranoiden Stil des Denkens. Natürlich durchdringt der Staat unser ganzes Leben, auch um den Preis unserer Freiheit, und klar leben wir in einem Überwachungsstaat, scheint der Tenor zu sein, aber das ist auch gut so, so lange die Uberwacher nur so intelligent, attraktiv und patriotisch sind wie Carrie Mathison in „Homeland" oder Tom Cruise als Uberwachungsspezialist John Anderton in „Minority Report". Vor diesem Hintergrund erstaunt vielleicht auch nicht mehr, dass der bei weitem erfolgreichste deutsche Film in den USA in den letzten zehn Jahren Florian Henkel von Donnersmarcks „Das Leben der anderen" war: In dem Drama über einen Stasi-Beamten, der Kulturschaffende in Ost-Berlin belauscht, erkannten die Amerikaner möglicherweise etwas von der Lage wieder, in die sie selbst nach dem 11. September 2001 geraten waren.
Jochen Hörisch
„Alle wollen ja nur unser Bestes" Uber Beobachter der Beobachter, Freiheit und Sicherheit
Forschung & Lehre: Die Welt ist voller Beobachter: Die amerikanischen und britischen Geheimdienste überwachen die Welt, sie werden von anderen Geheimdiensten beobachtet, von „Whistleblowern" entlarvt, von der Presse beobachtet, die wiederum wir beobachten. Was geschieht da? Jochen Hörisch: Etwas Eigentümliches, gewissermaßen die mediale Säkularisierung eines theologischen Modells. Der monotheistische Gott wurde traditionell als Letztbeobachter konzipiert, er sieht alles („wie unfein", bemerkte Nietzsche), lässt sich selbst aber nur bedingt in die Karten schauen. Theologen beobachten jedoch seit jeher den Letztbeobachter Gott, sind also die eigentlich unfrommen bis satanisch-hybriden Frevler. Sie zeigen (paradox = religionskritisch), dass es keinen finalen, seinerseits unbeobachtbaren Letztbeobachter gibt. Geheimdienste beobachten alles und müssen damit rechnen, dass sie ihrerseits besonders aufmerksam beobachtet werden (sei es von anderen Geheimdiensten, Filmregisseuren, Romane schreibenden Ex-Geheimdienstlern, kritischen Journalisten etc.). Diese Entwicklung folgt einem medienhistorischen Großtrend, von dem Dürrenmatts Roman „Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter" erzählt hat: der zunehmenden Symmetrisierung und Paradoxierung von Beobachtungsverhältnissen. F&L: Jeder Beobachter hat einen „blinden Fleck". Können Sie einen solchen benennen? Jochen Hörisch: Der ist leicht zu benennen, und dennoch streift diese Benennung ein Tabu. Sie verletzt nämlich. Denn es gibt nur drei Möglichkeiten - erstens: diejenigen, die sich jetzt empört
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Jochen Hörisch
zeigen, w a r e n nicht die hellsten, a u f m e r k s a m s t e n , kritischsten Köpfe. Ich akzeptiere den Vorwurf, a r r o g a n t zu sein, w e n n ich sage: mich haben die E n t h ü l l u n g e n der letzten Zeit nicht verblüfft, w o h l aber die allgemeine Verblüffung darüber. Zweite Möglichkeit: viele u n t e r denen, die jetzt als u n i n f o r m i e r t e u n d v e r b l ü f f t e N i c h t d u r c h b l i c k e r dastehen, die genau diese ihre Negativqualität u n b e o b a c h t e t u n d u n k o m m e n t i e r t lassen wollen u n d die n u n ihre K r ä n k u n g durch E m p ö r u n g k o m p e n s i e r e n , blickten doch durch u n d machten sich keine Illusionen, haben aber stillgehalten, nicht recherchiert oder ihrerseits nichts gesagt - auch keine gute O p t i o n . Was ist die dritte Möglichkeit? D e r blinde Fleck in meiner Beobachtung! F&L: Ist es nicht b e r u h i g e n d zu wissen, wenn j e m a n d darauf achtet, dass - kindlich gesprochen - uns „nichts Böses geschieht"? Wollen wir also geradezu beobachtet werden, u m A u f m e r k s a m keit u n d Sicherheit zu erlangen? Jochen Hörisch: Eindeutig ja! U n s e r Leben beginnt mit einem Schrei nach A u f m e r k s a m k e i t . N i c h t b e a c h t e t u n d b e o b a c h t e t zu werden zählt z u m Schlimmsten, was N e u g e b o r e n e n u n d H e r a n w a c h s e n d e n z u s t o ß e n kann. Auch f ü r Erwachsene gilt: Es gibt n u r eines, was schlimmer ist als systematisch b e o b a c h t e t zu w e r d e n - systematisch nicht beobachtet zu werden, uninteressant zu sein. Es adelt ungemein, wenn sich ein G e h e i m d i e n s t f ü r das interessiert, was m a n treibt. Ich f ü r c h t e , mit der K r ä n k u n g leben zu müssen, dass meine A r b e i t e n f ü r d e n N S A uninteressant sind. A b e r e r n s t h a f t : es beruhigt natürlich viele, fast alle, auch diejenigen, die das nicht so sagen, wenn wir wissen, dass d e r US-Geheimdienst etwa die Sauerland-Gruppe identifiziert u n d den deutschen B e h ö r d e n e n t s p r e c h e n d e Hinweise gegeben hat. U n d es e m p ö r t zu Recht, w e n n die deutschen B e h ö r d e n die N S U - T e r r o r i s t e n nicht auf dem Schirm hatten. Ich wäre nicht v e r b l ü f f t , w e n n herauskäme, dass nicht der Verfassungsschutz einen V-Mann beim N S U , s o n d e r n d e r N S U einen V-Mann beim Verfassungsschutz hatte. U n d ich freue mich, dass Telefonate u n d Mails von Bankstern wie N o t h e i ß u n d D r u m m abgefangen u n d publik gemacht w u r d e n . F&L: G e h t es so weit, dass wir unsere Uberwacher, den „ G r o ß e n Bruder", am E n d e n o c h lieben lernen? Jochen Hörisch: D a s ist eine Frage der Psychodisposition. Viele, w o h l allzuviele missverstehen ihr G e b o r g e n h e i t s b e d ü r f n i s u n d wollen im G e f ü h l leben, geschützt zu sein. Sie vertrauen etwa darauf, dass G o t t bei i h n e n ist alle Tage bis an der Welt E n d e - G o t t als Idealfigur des liebevollen U b e r w a c h e r s . D e r Priester oder der Leiter der O d e n w a l d s c h u l e kann dann dieses G e b o r g e n heitsbedürfnis missbrauchen - genau in dem M a ß e , in d e m wir die Einsicht verdrängen, dass Misstrauen eine P r o d u k t i v k r a f t sein kann. Schon rein f u n k t i o n a l geboten ist aber auch das Misstrauen in das Misstrauen - n u r mit Misstrauen (ist das Wasser aus der Leitung vergiftet?) lässt sich einfach nicht leben. F&L: F ü r die einen ist d e r Whistleblower Edward S n o w d e n ein H e l d , f ü r die anderen ein Verräter. Was m e i n e n Sie? Jochen Hörisch: Ich k e n n e Edward Snowden nicht persönlich, mir liegen auch keine G e h e i m d i e n s t i n f o r m a t i o n e n ü b e r ihn vor, u n d also zögere ich systematisch, ihn zu charakterisieren.
JKlle wollen ja nur unser Bestes"
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Wohl aber ist mir sein Typus kulturhistorisch vertraut: dreißigjährig (wie Jesus, als sein öffentliches Wirken beginnt), für viele eine Erlöserfigur, für andere ein seltsamer Heiliger, einer, der seine Sphäre (er war ja NSA-Mitarbeiter!) gewechselt hat, kurzum: ein Konvertit und interessant wie alle Konvertiten. Aber er kommt aus seiner Herkunftssphäre nicht recht heraus: Die chinesischen, russischen und ecuadorianischen Geheimdienste, die, darüber machen wir uns keine Illusionen, auch gerne so fit wären wie der US- und UK-Geheimdienst, dürften sich nun sehr für sein Wissen interessieren. Und Snowden wird alle Paradoxien der Geheimdienstwelt durchleiden, also einen Passionsweg beschreiten. F&L: Müssen wir zwangsläufig auf Freiheit verzichten, um sicher leben zu können? Jochen Hörisch: Ja, Freiheit und Sicherheit liegen im Streit. Wer die Freiheit und den Reiz des Alpinismus oder des Drachenfliegens genießt, muss (und will wohl auch!) um sein Leben fürchten. Die Briten, bekanntlich besonders freiheitssensibel, akzeptieren deutlich mehr Videoüberwachungen auf öffentlichen Plätzen als wir in Deutschland. Aber natürlich gilt auch die Umkehrung (und eben das macht die Diskussion so schwierig!): wer auf Freiheit verzichtet, kann die Unsicherheit steigern. Denn nur freie Kritik kann auf bedrohliche Defizite aufmerksam machen. Nordkorea ist wohl das unfreiste Land der Welt - und das mit der unsichersten Zukunft. F&L: Warum empören sich so wenige Bürger? Jochen Hörisch: Möglicherweise sind sie klüger als die Empörungsmedien. Sie wissen oder ahnen doch zumindest, dass die moralische Distinktion „gut-böse" analytisch nicht sehr produktiv, also keine „gute" Unterscheidung ist. Alle, die Geheimdienste wie ihre Kritiker, wollen ja nur das Gute - gar unser Bestes (sie bekommen das auch häufig). Und genau das ist das Problem. F&L: Was bleibt für den Einzelnen? Jochen Hörisch: Sehr konkret: man muss bei Facebook nicht mitmachen. Und für Professoren: niemand zwingt uns, auf die beobachtbaren Kennzahlen (Drittmitteleinwerbung, Ranking, Quotation-Index etc.) zu achten. Man kann auch auf die von Humboldt beschworene Einsamkeit des Forschers vertrauen - und gerade dann etwas leisten, was wert ist, beobachtet zu werden.
Nicola
Holzapfel
Fürs Leben verwöhnt Wie Babys und Kleinkinder eine sichere Bindung entwickeln
arl-Heinz Brisch hat schon viele wunde Kinderseelen gesehen. Seit 13 Jahren leitet er nun die Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie am Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität ( L M U ) München. Zu ihm kommen Kinder, die seelische Probleme haben und verhaltensauffällig sind. An die Leiden seiner kleinen Patienten sollte er eigentlich gewöhnt sein, doch er sagt: „Die Schwere an emotionalen Störungen, die wir bei Kindern sehen, ist oft erschreckend." Brisch ist spezialisiert auf die frühkindliche Entwicklung. Er erforscht, wie Bindungsprozesse bei Babys und Kleinkindern entstehen, wann es dabei zu Störungen kommt und welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt. Täglich sieht er, wie entscheidend die ersten Monate im Leben eines Menschen sind und wie viel in dieser - aufs ganze Leben gerechnet kurzen - Zeit schieflaufen kann.
Β indungstheorien In den 1940er-Jahren begann der amerikanische Arzt und Psychoanalytiker John Bowlby die Bindungstheorie zu entwickeln. Demnach haben Säuglinge das Bedürfnis, sich an eine Bezugsperson zu binden, was ihnen emotionale Sicherheit bietet. „Eine sichere Bindung schafft ein Fundament, das man nie verliert", sagt Brisch. Durch sie verinnerliche ein Kind Urvertrauen. O b ein Kind über eine sichere Bindung verfügt oder nicht, macht sich spätestens in der Krippe oder im Kindergarten bemerkbar. Kinder mit Bindungsproblemen sind nicht gruppenfähig
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Nicola Holzapfel
und fallen entweder durch aggressives Verhalten auf, sie beißen und schlagen zum Beispiel, oder sie zeigen sehr starke Ängstlichkeit. „Diese Kinder können ihre Gefühle nicht bewältigen und ihre Fähigkeit, Stress zu regulieren, ist minimal. Schon bei kleinen Anlässen flippen sie aus", sagt Karl-Heinz Brisch. Manchmal verweist das Personal des Kindergartens ein Kind an die psychotherapeutische Ambulanz in der LMU-Kinderklinik, manchmal suchen Eltern selbst Rat. „Die Sensibilität dafür, dass ein Kind Hilfe braucht, wächst." Wie ein psychischer Schutz begleitet eine sichere Bindung Menschen ein Leben lang. „Sie ist die Voraussetzung dafür, dass ein Kind seine kognitiven Fähigkeiten, sozialen Kompetenzen und seine Persönlichkeit entwickeln kann." Erst wenn ein Kind sicher gebunden ist, ist es bereit, seine Umwelt zu erkunden, und ist aufnahmefähig für das, was es erlebt und erfährt. „Bindung kommt vor Bildung", sagt Brisch. Längsschnittstudien, bei denen Kinder von der Geburt an über mehrere Jahre immer wieder untersucht wurden, zeigen, dass bindungssichere Kinder kreativer, sprachbegabter und aufgeschlossener sind als Gleichaltrige, die nicht sicher gebunden sind. Auch ihre Gedächtnisleistungen sind besser. Sie können zudem mit Stress besser umgehen, es fällt ihnen leichter, schwierige Situationen zu bewältigen. Und sie können sich leichter in andere einfühlen und haben erfüllendere Freundschaftsbeziehungen. Damit ist ein sicheres Bindungsmuster eine wichtige Voraussetzung für eine unbeschwerte und glückliche Kindheit. D o c h viele Eltern scheitern daran, diese Basis zu schaffen. Bindungsprobleme sind weit verbreitet, nur etwa 65 Prozent aller Kinder in Deutschland sind sicher gebunden, sagt Brisch. „Diese Zahl ist durch verschiedene Längsschnittstudien belegt und liegt in anderen europäischen Ländern ähnlich hoch." Eine sichere Bindung entwickelt sich, wenn Mutter und Vater angemessen auf die Bedürfnisse ihres Babys reagieren. Weint der Säugling, nehmen sie ihn auf den Arm und trösten ihn. Sie verhalten sich „feinfühlig", wie Brisch sagt. Der Bindungstheorie zufolge suchen Kinder eine Hauptbindungsperson, das können sowohl Vater als auch Mutter sein. Damit ein Kind eine sichere Bindung aufbauen kann, muss es das Verhalten der Eltern als verlässlich erleben. Eine Mutter, die ihr weinendes Kind mal tröstet, mal anschreit, sendet widersprüchliche Signale. Dadurch kann sie von ihm nicht als „sicherer Hafen" wahrgenommen werden, den es in Situationen der Angst oder N o t aufsuchen kann. „Ein sicher gebundenes Kind hat verinnerlicht, dass es bei seinen Eltern Schutz finden und sich Sicherheit holen kann, wenn es sich bedroht fühlt." Wenn das Kind größer wird, muss es diesen Schutz nicht real suchen. „Es reicht, sich daran zu erinnern, wie es wäre, wenn die Eltern da wären und es unterstützen würden", sagt Karl-Heinz Brisch. Das gibt dem Kind ein Gefühl von Ruhe, Gelassenheit und Sicherheit, durch das es schwierige und angstvolle Situationen auch alleine überstehen kann."
Problematische
Bindungsmuster
Neben der sicheren Bindung unterscheidet die Forschung drei problematische Bindungsmuster. Bei der unsicher-vermeidenden Bindung haben Kinder keinen verlässlichen Schutz von ihren Eltern erfahren, vielmehr wurden sie häufig zurückgewiesen. Sie wurden zum Beispiel nicht getröstet, wenn sie sich wehgetan hatten. Im Alter von einem Jahr reagieren sie kaum bei einer Trennung von ihrer Bezugsperson und scheinen dadurch unkompliziert und selbstständig. Kin-
Fürs Leben
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verwöhnt
der mit einer unsicher-zwiespältig-ängstlichen Bindung haben als Säugling erfahren, dass ihre Signale manchmal sehr feinfühlig beantwortet, manchmal aber auch zurückgewiesen wurden. Sie reagieren als Kleinkinder extrem ängstlich, wenn ihre Bezugsperson den Raum verlässt, lassen sich nach ihrer R ü c k k e h r aber nur sehr schwer beruhigen. Bei dem desorganisierten Muster entwickeln die Kinder sehr widersprüchliche Arbeitsmodelle von Bindung an ihre Bezugsperson, entweder weil die Eltern Traumatisches erlebt und nie verarbeitet haben oder das Kind selbst schon vernachlässigt oder missbraucht wurde. Diese Kinder, so zeigen die Analysen, haben ein sehr hohes Risiko, psychisch krank zu werden. Das Bindungsmuster holt die Kinder Jahre später ein, wenn sie selbst Eltern werden. Sie haben ein Risiko, dass sie ihr Muster dann unbewusst an ihre Kinder weitergeben. „Eltern können ihrem K i n d in der Regel nur dann eine sichere Bindung bieten, wenn sie diese in ihrer Kindheit selbst erlebt haben. Gerade, wenn die eigene Kindheitsgeschichte schwierig war, haben Eltern zwar den Wunsch, dass nun alles mit der Geburt des eigenen Kindes gut werden soll. D o c h ihre eigenen Erfahrungen wiederholen sich nicht selten mit ihrem Kind. Sie sind sehr unglücklich, wenn sie plötzlich ausrasten und ihre Kinder anschreien. Dann brauchen sie dringend unsere U n t e r s t ü t z u n g " , sagt Brisch. Eltern, deren Kinder an der L M U - K i n d e r k l i n i k wegen Bindungsproblemen behandelt werden, machen deswegen häufig selbst parallel eine eigene Therapie.
Das Präventionsprogramm
„SAFE"
Damit es nicht so weit kommt, hat Brisch das Präventionsprogramm „ S A F E " (Sichere Ausbildung für E l t e r n ) entwickelt. Es soll Eltern helfen, ihren Kindern eine sichere Bindung zu ermöglichen. Seit sieben Jahren lernen M ü t t e r und Väter in SAFE-Seminaren, die inzwischen weltweit von dafür fortgebildeten Ärzten, Therapeuten und Vertretern psychosozialer Berufsgruppen angeboten werden, wie sie die Signale ihres Kindes richtig verstehen und angemessen darauf reagieren. N a c h d e m eine Pilotstudie bereits die Wirksamkeit der Kurse bestätigt hat, untersucht die L M U - K i n d e r k l i n i k derzeit in einer größeren E r h e b u n g mit Eltern, die selbst schwierige Kindheitserfahrungen hatten, ob es ihnen gelingt, ihr eigenes Kind sicher an sich zu binden. Die Kurse richten sich an alle Eltern von der Schwangerschaft an. Brisch betont, Bindungsschwierigkeiten hingen nicht vom sozialen Status ab. „Es gibt Eltern mit Schwierigkeiten und Kindern in N o t in allen sozialen Schichten. Es gibt Kinder, die in einer sehr reichen Familie aufwachsen und denen es emotional nicht gut geht. U n d es gibt Kinder in bildungsfernen, armen Familien, die aber emotional gut versorgt sind."
Baby-Beobachtung im Kindergarten Auch die Beziehungserfahrungen, die Kinder in der Krippe und im Kindergarten machen, wirken sich auf ihre psychische Entwicklung aus. U m die Empathie von Kindergartenkindern zu stärken, hat Brisch das Programm B.A.S.E.-Babywatching entwickelt ( „ B . A . S . E . " steht für „BabyBeobachtung im Kindergarten und in der Schule gegen Aggression und Angst zur Förderung von Sensitivität und E m p a t h i e " ) . Einmal wöchentlich besucht eine M u t t e r mit ihrem Säugling eine Kindergartengruppe oder eine Schulklasse, eine eigens dafür geschulte Erzieherin spricht mit den
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Nicola Holzapfel
Kindern über die Signale des Säuglings und dessen Interaktion mit der Mutter. Eine erste wissenschaftliche Auswertung zeigt, dass Kindergartenkinder, die an B . A . S . E . teilnehmen, nach einem J a h r weniger aggressiv sind und weniger Ängste haben. Diese Ergebnisse k o n n t e n auch an Grundschulkindern bestätigt werden. An einem Pilotprojekt mit der Stadt Frankfurt, das im J a h r 2012 gestartet ist und wissenschaftlich begleitet wird, nehmen 700 Frankfurter Kitas teil. Das S A F E - P r o g r a m m wird inzwischen auch für Krippen angeboten. D e r z e i t
untersucht
Brischs Team, mit welcher Bindungsqualität Erzieherinnen und Erzieher arbeiten, wie sich das Bindungsmuster der Kinder zu ihrer Mutter durch den Krippenbesuch eventuell ändert und welches Bindungsmuster das Kind zu seiner Erzieherin während der ersten sechs M o n a t e der Eingewöhnung aufbaut, wenn die Erzieherin und die M u t t e r mit den bindungsspezifischen Inhalten des Programms geschult werden. Denn die Erfahrungen, die die pädagogischen Fachkräfte selbst in ihrer Kindheit gemacht haben, spielen für die Bindungsqualität, die sie den Kindern bieten können, eine große Rolle. Daneben ist der Betreuungsschlüssel entscheidend. „Eine gute Betreuungsqualität lässt sich in einer Krippe nur dann sicherstellen, wenn das Betreuungsverhältnis bei eins zu zwei, höchstens eins zu drei liegt, je nach Alter der Kinder, das sagen die internationalen Studien." Sonst können die Erzieherinnen nicht m e h r so gut feinfühlig auf die Kinder eingehen, weil sie etwa nicht ausreichend Zeit haben, um die Signale der Kinder individuell wahrzunehmen. Wenn zwölf und mehr Kinder im Alter zwischen null und drei Jahren von zwei Erzieherinnen betreut werden, was in den meisten Krippen eher die Regel ist, „bedeutet die Krippe Stress für die Kleinen", sagt Brisch. O f t sind die Kinder mit vielen verschiedenen Betreuungspersonen unter der W o c h e k o n f r o n tiert. Wie sie mit diesem Stress umgehen, hängt von ihrer emotionalen Entwicklung und ihrem Alter ab. „ K o m m e n die Kinder mit einem bindungssicheren M u s t e r im zweiten Lebensjahr in die Krippe, stecken sie auch nicht so gute Krippenbedingungen einigermaßen weg, o h n e dass sie auffällig werden oder ihre bereits etablierte Bindungssicherheit mit ihren Eltern verlieren. H a t das Kind keine sichere Bindung oder gar eine Bindung, die schon durch viel Stress und Vernachlässigung geschwächt ist, und k o m m t dann noch in eine schlechte Krippe, „dann wird es schwierig", sagt Brisch. „Und es besteht die Gefahr, dass diese Kinder S y m p t o m e entwickeln werden." Problematisch ist es Brisch zufolge, wenn die Kinder schon im ersten Lebensjahr in die Krippe gehen. „Sie sind dann bei den Eltern noch gar nicht angekommen und haben dieses Urvertrauen, das durch eine sichere Bindung entsteht, noch nicht innerlich emotional in sich verankert." Die Wahrscheinlichkeit, dass die Krippenerzieherin ihre Hauptbezugsperson wird, sei dann groß. Brisch erzählt von Anrufen verzweifelter Eltern, die ihr Baby in der Nacht nicht beruhigen können, weil es nach der Erzieherin ruft und weint. „Wenn Eltern selbst Bezugspersonen ihres Kindes werden wollen, müssen sie sich Zeit dafür nehmen, um dieses Fundament der Persönlichkeit mit ihrem Kind gemeinsam zu legen", sagt Brisch. „Das erste Lebensjahr k o m m t nie wieder."
Falsche Erziehungsmuster In Gesprächen mit Eltern hört Brisch häufig eine ganz andere Befürchtung. Eltern machen sich Sorgen, ihren Säugling zu verwöhnen. „Dass Eltern heute überlegen, wie sie anfangen sollten, ihr Baby möglichst früh zu erziehen, ist spezifisch deutsch", sagt Brisch. E r führt diese Angst unter
Fürs Leben
verwöhnt
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anderem auf den nachhaltigen Einfluss eines Erziehungsratgebers aus dem Dritten Reich zurück, der noch bis in die 1980er-Jahre hinein neu aufgelegt wurde. „Dieses Buch Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind von Johanna Haarer hat Generationen geprägt. Es ist eine Anleitung, wie ich mein Kind abhärten soll, um es nicht zu verwöhnen. Aber vor allem ist es eine Anleitung dafür, wie ich mein Kind schnell, dauerhaft und konsequent frustriere", sagt Brisch. Sprüche daraus wie „Schreien kräftigt die Lungen" haben sich bis heute gehalten. „Zum Beispiel wird darin empfohlen, während der gesamten Nacht keinesfalls in das Kinderzimmer zu gehen, selbst wenn das Baby schreit. Dagegen verhält es sich so: Ein Baby, das nachts aufwacht und merkt, dass es alleine ist, tut das, was ihm von der Evolution mitgegeben wurde: Es brüllt so laut es irgend kann, weil es alleine nachts den wilden Tieren ausgeliefert wäre und womöglich ohne die Hilfe einer Bindungsperson nicht überleben würde, und es hofft, dass sein Signal verstanden und beantwortet wird." Für Brisch ist völlig klar, wo das Baby am besten schlafen sollte: im Zimmer der Eltern. Und verwöhnen könne man einen Säugling überhaupt nicht. Auch der Bestseller Jedes Kind kann schlafen lernen schneidet unter bindungstheoretischen Gesichtspunkten schlecht ab: „Das ist ein verhaltensorientiertes Buch, das auf eine konsequente Verlängerung des Schreiintervalls setzt. Babys lernen schnell. Wenn niemand kommt, hören sie auf zu schreien. Man kann Babys alles Mögliche antrainieren. Aber die Frage ist doch, was es für ihre emotionale Entwicklung bedeutet. Babys, die lernen, dass ihre Gefühle nicht wahrgenommen werden, fehlt die empathische Resonanz. Empathische Fähigkeiten", sagt Brisch, „lernen Kinder durch die feinfühligen Verhaltensweisen ihrer Eltern und durch das, was sie in Beziehungen erfahren."
Empathiefähigkeit Einige der Kinder, die Brisch betreut, haben kaum Empathiefähigkeit. Aus einer kleinen Rauferei wird bei ihnen häufig eine Schlägerei bis aufs Blut. Sie haben wenig oder gar kein Mitgefühl und damit auch kein Gefühl dafür, wann Schluss ist. „Bei Kindern mit Bindungsstörungen sehen wir beide Spektren: Kinder, die nach außen gehen und bei kleinsten Anlässen extreme Aggressionsstörungen entwickeln, und Kinder, die sich vor lauter Angst immer mehr aus Beziehungen und in sich zurückziehen", sagt Brisch. Für schwer traumatisierte Kinder gibt es an der LMU-Kinderklinik eine kleine Intensivstation mit sechs Plätzen. „Massive Empathiestörungen bereiten in der Therapie große Probleme", sagt Brisch. Generell gilt: J e früher die Kinder behandelt werden können, desto besser und schneller kann das Team aus Ärzten, Psychologen, Pädagogen, Psychotherapeuten, Pflegekräften und Lehrern ihnen helfen. Es arbeitet mit den Kindern daran, ihr Bindungsmuster zu ändern. „Das Bindungssystem formiert sich im Säuglings- und Kleinkindalter, aber es bleibt ein offenes System, das neue Beziehungserfahrungen - gute wie schlechte - aufgreift." Wenn die Eltern dabei gut mitmachen, sind Fortschritte schneller erkennbar. Auch schwer traumatisierte Kinder zeigen durch die Therapie neue Verhaltensweisen, sodass sie etwa schließlich eingeschult werden können, weil sie auch erstmals in einer Gruppe besser zurechtkommen. Patienten, die stationär behandelt wurden, kommen danach alle sechs Monate zur Nachuntersuchung. So kann das Team ihre Entwicklung verfolgen. „Es ist schön zu sehen", sagt Brisch, „wenn sie trotz extrem schwierigen Startbedingungen ihren Weg gehen."
Jürgen
Kaube
Universität, Prestige, Organisation Soziologiekolumne
E
nde der Fünfziger Jahre studierte der amerikanische Organisationssoziologe Charles Per-
row, der später durch seine Forschungen über technologische Katastrophen berühmt werden sollte, im Rahmen seiner Doktorarbeit ein kleines Krankenhaus in Michigan. Das
Krankenhaus hatte sich damals gerade eine Public Relations-Abteilung zugelegt und ihr einen relativ großen Handlungsspielraum eingeräumt. Dem lag die Überlegung zugrunde, dass Krankenhäuser wie alle Organisationen auf die Unterstützung ihrer Umwelt angewiesen sind. Wenn sich keine fähigen Mediziner um Stellen bewerben, kann man keine fähigen Mediziner einstellen. Fehlen gute Patienten, zahlungskräftige oder solche mit interessanten Krankheiten, nützen die fähigsten Mediziner nichts. Wohlwollen seitens der lokalen Politik ist auch willkommen. Und so
weiter. Das Problem für manche Organisationen ist nun allerdings, dass sie ihre eigentliche Leistungsfähigkeit nur schwer kommunizieren können. Worauf erfolgreiche Therapien beruhen, ob die Arzte den Stand der Forschung kennen, wie gut das Krankenhaus organisiert ist und ob scheiternde Behandlungen auf Grenzen der Medizin oder auf mangelhafte Professionalität zurückgehen, das alles ist für Laien schwer einsehbar. Wenn Autos gut fahren, kann man vermuten, dass sich das herumspricht. Was aber ist, wenn Qualität von außen nur schwer durchschaut werden kann? Was, wenn es sogar unsicher ist, ob Produktion und Erfolg miteinander einhergehen? Manche Patienten sterben eben doch, und wenn sich die Organisation noch so anstrengt. Perrows These war, dass in einem solchen Fall der Versuch nahe liegt, die Umwelt durch, wie er formuliert „indirect indexes" zu beeindrucken, also durch den Aufbau von Prestige, das auf verständlichen, leicht kommunizierbaren Signalen beruht. Wenn die eigentlichen Leistungen der
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Klinik nicht verstehbar sind, dann kann m a n die Klienten i m m e r noch durch andere Leistungen b e e i n d r u c k e n . Aus Sicht der K r a n k e n b e h a n d l u n g sind das zwar Leistungssurrogate, die aber den Vorteil haben, dass man sie sehr viel stärker u n t e r Kontrolle hat als den Behandlungserfolg oder die Einsichtsfähigkeit der Klienten. D e r R u f einer Klinik, so der G e d a n k e der PR-Abteilung, steigt, w e n n sich die Patienten wohlfühlen. D a r u m k o n z e n t r i e r t e sie sich auf die H o t e l a s p e k t e des Krankenhauses. Es w u r d e den P a t i e n t e n erlaubt zu telefonieren, man installierte Fernsehgeräte an den Betten, Frisiersalons u n d Kioske w u r d e n eingerichtet, auf W u n s c h bekamen die Patienten jederzeit Kaffee u n d Tee gebracht, das F r ü h s t ü c k w u r d e verbessert. A u ß e r d e m w u r d e n die festen Besuchszeiten abgeschafft, v o n den Ä r z t e n hängte man im Eingangsbereich Fotografien auf, u n d es legte sich das K r a n k e n h a u s sogar ein kleines M e d i z i n - M u s e u m zu. Dies alles k a m d e m R e n o m m e e des Hospitals gleich doppelt zugute. D e n n viele dieser M a ß n a h m e n h a t t e n nicht nur den Vorzug, d e n Patienten und ihren A n g e h ö r i g e n zu gefallen. Sie stellt e n überdies f ü r die lokale Presse Ereignisse dar. Die Installation der Fernsehgeräte, die A b s c h a f f u n g d e r Besuchszeiten, das M u s e u m usw. f ü h r t e n zu Berichten. Das galt auch f ü r kostspieliges Diagnosegerät, das angeschafft u n d d e m P u b l i k u m gezeigt wurde. Das K r a n k e n h a u s erhielt Preise, für das beste Krankenhaus der Region u n d so. Das w i e d e r u m machte es f ü r Ä r z t e als p r o m i n e n t e r A r b e i t s o r t bekannt, der Spielraum der Personalauswahl w u r d e größer. Die lokale Politik w a r mit all d e m sehr zufrieden. Aber. In der Organisation selber begann man allmählich, alle diese E r r u n g e n s c h a f t e n , die das Prestige der Klinik e r h ö h t e n , mit gemischten G e f ü h l e n zu betrachten. I m m e r m e h r Ressourcen nämlich w a n d e r t e n von den zentralen A u f g a b e n in die peripheren. Das Geld, das im M u s e u m steckte, k o n n t e man nicht m e h r f ü r Behandlungen oder Personal ausgeben, die Frisiersalons u n d F e r n s e h g e r ä t e zogen eigene Verwaltungsstellen nach sich. A u ß e r d e m telefonierten die Patienten o d e r t r a n k e n Tee, w e n n die Ä r z t e sie gerade behandeln wollten. Besucher waren erlaubterweise z u ganz ungünstigen Zeiten präsent. D i e Ä r z t e wiederum w u r d e n auf dem G a n g ständig v o n A n g e h ö r i g e n angesprochen, die sie auf den Fotografien identifiziert hatten. Ihre N a m e n waren n u n überdies der Presse b e k a n n t , sie m u s s t e n abends mit A n r u f e n rechnen. D i e typische Abneigung v o n Professionen gegen Publizität meldete sich. D e r eigentliche Grenzfall aber war erreicht, als die PR-Abteilung, aus ihrer Perspektive völlig nachvollziehbar, darauf hinwies, dass die Klinik sich das g r ö ß t e Prestige durch human-interest-stories über Patienten u n d Ä r z t e sichern k ö n n t e . Von da an w u r d e der Einfluss des Prestigebüros wieder z u r ü c k g e f a h r e n .
Soziologie der
Universität
Es liegt auf der H a n d , weshalb dieser kleine A u s z u g aus Perrows organisationssoziologischer F e l d f o r s c h u n g f ü r die Soziologie der Universität einschlägig ist. Universitäten sind Organisation e n , f ü r die in noch h ö h e r e m M a ß e gilt, dass sich ihre Leistungen der Beurteilung v o n Laien e n t ziehen. Welcher Leser k ö n n t e beispielsweise sagen, was „wandnahe M e h r p h a s e n s t r ö m u n g e n " sind? O d e r w o z u man „ T h e t a f u n k t i o n e n auf M o d u l r ä u m e n v o n V e k t o r b ü n d e l n " braucht? O d e r die Frage b e a n t w o r t e n „Was kann das A f f o r d a n z - K o n z e p t f ü r eine M e t h o d o l o g i e der Populärk u l t u r f o r s c h u n g .leisten'?" U n d w e n n es einen Leser gibt, der sich da jeweils auskennt, s o gewiss d o c h keinen, der alle drei Fragen bejahen k ö n n t e . Die Wissenschaftler sind auch d a r u m ihr eige-
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nes P u b l i k u m , sie wenden sich primär an ihresgleichen, Kritik an ihrer Kerntätigkeit von außen verbitten sie sich. Sie stehen nicht zur Wahl, verkaufen in der Regel nichts am M a r k t , pochen auf Selbstverwaltung und Selbstrekrutierung. Zugleich hat die Universität einen i m m e n s e n Bedarf an A u ß e n u n t e r s t ü t z u n g . Sie ist kostspielig, und sie verlangt von jungen Leuten, sich J a h r e ihres Lebens an ihr aufzuhalten und hochspeziellen O r i e n t i e r u n g e n zu folgen, um am E n d e mit einem Zertifikat entlassen zu werden, das die A n f a n g s v o r a u s s e t z u n g eines u n b e k a n n t e n Berufslebens sein soll. D i e F o r s c h u n g wiederum verlangt R e s s o u r c e n nicht nur für E r k e n n t n i s s e , die allein sie selbst beurteilen kann. Sie verlangt diese R e s s o u r c e n auch ganz offensiv für E i n s i c h t e n , die nur innerhalb der Wissenschaft selbst verwendungsfähig sind und keinerlei t e c h n o l o g i s c h e Folgen haben, beispielsweise, weil sie sich auf Sachverhalte beziehen, die sich nicht ändern lassen: M i l c h s t r a ß e n , ferne E p o c h e n , Shakespeare, G o t t o d e r die Juristenausbildung. H i e und da ergeben sich N u t z f e r n w i r k u n g e n solcher kognitiven Insichgeschäfte, die dann mit entsprechenden Fanfaren gefeiert werden, v o m Teflon bis zu primzahlbedingten Verschlüsselungstechniken. D o c h mittels der U n t e r s c h e i d u n g von angew a n d t e r F o r s c h u n g und G r u n d l a g e n f o r s c h u n g hält man sich unter Hinweis auf langfristige Zeith o r i z o n t e und darauf, dass man bestenfalls findet, was man nicht gesucht hat ( R o b e r t K . M e r t o n und E l i n o r B a r b e r ) , R ü c k f r a g e n nach den Investitionsplänen der F o r s c h u n g und ihren Auszahlungserwartungen v o m Leib.
Der
Prestige-Investitions-Kreislauf
W i e also, lautet die Frage, sichert sich eine solche O r g a n i s a t i o n , die einerseits i m m e r spezialistis c h e r und insofern für die meisten i m m e r unverständlicher produziert und andererseits dafür i m m e r m e h r G e l d b e n ö t i g t , das Wohlwollen oder auch nur das Interesse ihrer U m w e l t ? D i e naheliegende A n t w o r t hält sich an das P u b l i k u m , das auch Wissenschaftler haben: die Studenten. Aufbau von Prestige würde dann ganz analog zur O r i e n t i e r u n g an den Patienten bedeuten, dass sich die Studenten an der Universität wohlfühlen müssen. Das ist ersichtlich nicht der deutsche Weg, aber beispielsweise der amerikanische, den dort leistungsfähige C o l l e g e s und Universitäten beschreiten, indem sie auch A s p e k t e des Studiums kultivieren, die das Leben und die Sozialisiat i o n der Studenten als Elite betreffen. D a s R e n o m m e e der H o c h s c h u l e n entsteht über den Ruf, den sie b e i denjenigen haben, die für Lehre an ihnen bezahlen oder mittels der Abschlüsse aufgrund j e n e s Rufes selber zahlungsfähig werden. D e n n neben der Bildung wird auch das Prestige a u f die S t u d e n t e n transferiert. D i e F i n a n z k r i s e seit 2 0 0 8 hat diesen Prestige-Investitions-Kreislauf empfindlich gestört, indem prestigebasierte E i n k o m m e n s e r w a r t u n g e n von Studenten enttäuscht w o r d e n sind, die zur A n e i g n u n g des Prestiges Kredite a u f g e n o m m e n hatten und von denen in dieser Lage viele fast natürlicherweise zu Mitgliedern der O c c u p y - B e w e g u n g wurden. Z u einer ganz anderen A n t w o r t k o m m t man, wenn man versucht, das Prestige der Universitäten über F o r s c h u n g s f ö r d e r u n g zu erhöhen. H i e r f ü r war in D e u t s c h l a n d zuletzt die Exzelleninitiative m i t ihrer weithin sichtbaren Verteilung erheblicher F i n a n z m i t t e l im R a h m e n eines Wettbewerbs einschlägig. Das erste nämlich, was einem soziologisch an ihr und der E p o c h e auffallen muss, der solche F ö r d e r u n g einleuchtet, ist die immense E r h ö h u n g an A u ß e n k o m m u n i k a t i o n , die in den vergangenen f ü n f z e h n J a h r e n seitens der Universitäten betrieben wurde. D i e s e neue M i t t e i l s a m k e i t ist kein E f f e k t der Exzellenzinitiative, s c h o n v o r h e r hatte sich so gut wie jede
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deutsche Hochschule ein eigenes Magazin zugelegt - gewissermaßen Firmenzeitschriften -, das Pressewesen ausgedehnt, hatte an Initiativen wie „Public Understanding of Sciences and Humanities" teilgenommen, sich an „Wissenschaftsjahren" beteiligt usw. Die Rektoren und Präsidenten sind Unternehmenssprecher geworden. Diese neue Mitteilsamkeit ist dabei kein Privileg des Wissenschaftssystems, wenn man an all die Podien, Talk-Shows, Foren und Internetauftritte denkt, die inzwischen die Öffentlichkeit intensiv bearbeiten. Insofern wäre es nur eine leichte Übertreibung zu sagen: Die Exzellenzinitiative ist ihrerseits ein Effekt jener neuen Mitteilsamkeit über die Grenzen von einander im Grunde schwer verständlichen Arbeitsbereichen hinweg. Von ihren Anfängen an war eine ihrer wichtigsten Aufgaben, die Universitäten als leistungsfähige Organisationen zu kommunizieren. Von ihren Anfängen an waren sie und die Wissenschaftspolitik, für die sie ein Instrument darstellte, den Massenmedien zugewandt. Das begann von Seiten der Politik, die das Spektakel der Versteigerung von UMTS-Lizenzen in eine prominente Zweckbindung der dabei erlösten Milliardenbeträge überführen wollte. Das setzte sich fort in dem heute schon wieder vergessenen Umstand, dass die SPD im Januar 2004 sich mit dem Gedanken einer „Spitzenuniversität" auch deshalb anfreunden konnte, weil das damals die Medienaufmerksamkeit vom Dreikönigstreffen der FDP ablenkte. Wir erinnern uns: Es war die Zeit, in der die Umfragewerte der Regierung Schröder kritisch wurden, zehn Wochen nach der Verkündigung des Projekts „Eliteuniversitäten" wurde Gerhard Schröder von Franz Müntefering als SPD-Vorsitzender abgelöst.
Rankings Doch das sind nur zeithistorische Fußnoten. Entscheidender ist der Wille, die Universitäten nicht nur mit Finanzmitteln auszustatten, sondern auch mit Prestige. Hierzu gehören die anfänglichen Erzählungen vom deutschen Harvard oder Stanford. Sie sind dann zwar recht bald wieder verblasst, weil es ja Leute gibt, die erzählen können, wie es in Harvard oder Stanford aussieht. Aber was von solchen Vergleichen geblieben ist, sind die internationalen Rangtabellen, die Universitäten inzwischen als informativ behandeln, obwohl jeder weiß und auch zugibt, dass sie es nicht sind. Das dabei verwendete Argument dokumentiert genau, was man der Abkürzung halber als Perrow-Effekt bezeichnen kann: Die zunehmende Akzeptanz von Gesichtspunkten, die nur der Außendarstellung dienen, intern aber bestenfalls Kostenfaktoren sind und schlimmstenfalls die Kommunikation verzerren. Und zwar Akzeptanz bei vollem Bewusstsein. Einer der häufigsten Sätze zu den Hochschulreformen der vergangenen Dekade, lautet: Gewiss, es ist eigentlich unsinnig, aber es muss sein, es geht nicht anders. Auch hier gilt, dass es Rankings natürlich schon vor der Exzellenzinitiative gegeben hat. Hochschulvergleiche sowieso. Rankings sind in Deutschland, nach einigen Vorläufern Mitte der achtziger Jahre, seit etwa zwanzig Jahren prominent. An der Exzellenzinitiative war jedoch von Beginn an bemerkenswert, dass sie das Tabellen-Bewusstsein - ähnlich übrigens wie das DFGFörderranking - nach innen getragen hat. Der Wettbewerb um den Titel „Exzellenzuniversität" also das Verfahren in der sogenannten dritten Förderlinie für „Zukunftskonzepte" - hatte genau so wie das Zählen der Exzellenzcluster und Graduiertenschulen von vornherein den Sinn, eine Konkurrenz um Plätze zu eröffnen.
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N u n , Sport ist ein populäres Feld, und auch wer nichts v o n W i s s e n s c h a f t oder Universitäten versteht, versteht doch, dass es G r ü n d e dafür geben muss, dass M ü n c h e n hier fast i m m e r auf P l a t z eins steht, D o r t m u n d aber nur dort und nicht hier. D i e P r o b l e m e dieser F o r m von A u ß e n orientierung liegen ebenso auf der H a n d . Wie g r o ß soll die Liga eigentlich sein? Muss es A b s t e i ger geben? M u s s es Aufsteiger geben? U n d wer sind die eigentlichen A b s t e i g e n solche, den Zugang zur E r s t e n Liga nicht erlangt haben, oder solche die einmal dabei waren und dann zurückgestuft wurden. M o n e t ä r wäre kurzfristige Teilhabe besser als nie dabei gewesen zu sein, was das Prestige und die innerorganisatorischen K o n f l i k t e angeht, in der P e r r o w - D i m e n s i o n also, scheint es umgekehrt zu sein. S o l c h e Fragen lassen sich jedenfalls herrlich diskutieren, auch in M e d i e n , deren Personal nicht in der Lage wäre, auch nur einen einzigen F o r s c h u n g s b e i t r a g eines beliebigen Exzellenzclusters kognitiv einzuordnen. D i e H ö h e der verausgabten M i t t e l dient in s o l c h e n K o n t e x t e n dann e b e n falls der G e s a m t b e l e u c h t u n g des Verfahrens als außerordentlich. Z u l e t z t wurde eine Wissenschaftsministerin darum als die beste jemals in D e u t s c h l a n d amtierende bezeichnet, weil sie der F o r s c h u n g zu viel G e l d verholfen hat. A u c h hier ist das G e l d in erster Linie ein S y m b o l für Prestige und weniger das M e d i u m ö k o n o m i s c h e r Rationalität. Schließlich existiert nicht einmal die G e g e n r e c h n u n g , die beispielsweise den 2 , 7 Milliarden E u r o der einstweilen letzten Vergaberunde eine S c h ä t z u n g der Personenstunden gegenüberstellt hat, die in die 3 7 0 Anträge ( P r o j e k t s k i z zen plus Vollanträge) eingegangen sind. Wenn man vorsichtig kalkuliert, dürfte man auf ungefähr 2,5 Millionen Arbeitsstunden allein für die Anträge k o m m e n ; das G e l d selbst war ja aber für die F o r s c h u n g vorgesehen. Was das an P e r r o w - E f f e k t e n , also an antragshalber entgangener F o r schungs- und Lehrzeit sowie Verwaltungsarbeit bedeutet, bleibt bislang ungeschätzt. Die U n i versität m a c h t sich mithin als wichtige und dynamische I n s t i t u t i o n verständlich, indem sie von dem, was sie eigentlich macht, absieht und sich für eine A r e n a einrichtet, deren Abläufe auf ein ebenso interessiertes wie ahnungsloses Publikum rechnen dürfen. N u r so kann man auch erklären, dass Selbstbeschreibungen wie „ A m b i t i o n e n und agil" (Universität B r e m e n ) oder „Die U n i versität der S y n e r g i e n " ( T U D r e s d e n ) z u s t a n d e g e k o m m e n sind. D e m g e g e n ü b e r ließe sich einwenden, dass der E x z e l l e n z w e t t b e w e r b d o c h einfach nur die tatsächlich existierenden Qualitätsunterschiede der F o r s c h u n g an deutschen Universitäten k o m m u niziert hat. D a s zugeschriebene Prestige entspräche, so gesehen, tatsächlichen Forschungsleistungen. E s handelte sich dann n i c h t um Reklame, sondern um die Beurteilung der P r o d u k t e selbst.
Arbeit an den Fassaden N u n , es handelt sich um Anträge. E i n e eigene Logik des Antragstellens hat sich etabliert, von der es gewagt wäre zu behaupten, dass sie die Logik der F o r s c h u n g selber ist. Es muss beispielsweise m e h r interdisziplinärer Z u s a m m e n h a n g dargestellt werden, als tatsächlich existiert. D e m „ G o t t und die W e l t - C l u s t e r " ( U l r i c h H e r b e r t ) entspricht o f t gar keine K o o p e r a t i o n diesseits der B e u t e g e m e i n s c h a f t . M o d e t h e m e n und Welträtsel bilden die Ü b e r s c h r i f t e n . Zwar kann man sich hier verteidigen, das alles seien d o c h nur die populären Fassaden, hinter denen nach wie vor E r k e n n t n i s g e w i n n stattfindet. D o c h die Arbeit an den Fassaden z e h r t an den R e s s o u r c e n ebenso wie sie auf die Einstellungen der Fassadenbauer abfärbt: Irgendwann glauben sie tatsächlich,
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sie forschten interdisziplinär in Großgruppen an innovativsten Fragestellungen. Die Spezialisierung auf Mittelbeschaffung konkurriert mit der Weiterbildung der Akteure im Sachbereich. Die Rücksicht auf Trends und das, was Gutachter repräsentieren, verstärkt sich. Der Wettbewerb schafft seine eigene Wirklichkeit, indem nicht einfach verglichen wird, was an Forschung vorliegt, sondern Forschung erwartungskonform und in Antizipation der zu liefernden Kennziffern (Promovendenzahl, Drittmittelhöhe, Publikationsfrequenz etc.) entworfen wird (Wendy Nelson Espeland und Michael Sauder). Ein anderer Einwand konzediert die „indirect indexes", fragt aber, ob nicht der Vergleich von Hochschulen untereinander auch intern eine sinnvolle Sache ist, genau so wie das „bench-marking", das in den Rangtabellen nur einen um der Popularisierung willen stark verkürzten Ausdruck findet, operativ aber den Hochschulen viel Erkenntnis über sich selbst bringt? Zu dieser Frage gehört eine andere oft gehörte Wendung, die, gewissermaßen mit einem Seufzer der Anstrengung verbunden, auch von vielen derjenigen zu hören ist, denen keine Ausschüttungen zuteil wurden: Es sei ein Ruck durch ihre Hochschule gegangen, Leute, die sich zuvor nichts zu sagen hatten, seien durch den Zwang, die Hochschule nach außen darzustellen und für den Wettbewerb einzurichten, erstmals miteinander ins Gespräch gekommen. Darin meldet sich ein tatsächliches Problem der Universität als Organisation. Denn der Grund dafür, dass viele deutsche Universitäten erst seit dem Bologna-Prozess und der Exzellenzinitiative wieder darüber nachgedacht haben, was sie sind und sein wollen, lag nicht nur im zuvor herrschenden Desinteresse der Organisationsmitglieder aneinander. Er liegt vermutlich viel mehr in einer organisationssoziologischen Besonderheit der Universität, auf die Peter M. Blau hingewiesen hat. Viele intern stark arbeitsteilige Organisationen können nämlich die Frage danach, was sie denn integriert, trivial beantworten: Die Arbeitsteilung ist die Integration. Denn da die einzelnen Tätigkeiten oder Abteilungen stark interdependent sind, insofern die Kurbelwellen irgendwie ins Gehäuse passen müssen, ergibt sich der Abstimmungsbedarf zwischen denen, die das eine, und denen, die das andere machen, von selbst. Es bedarf nur einer Instanz, die diesen Bedarf beobachtet und durchsetzt. Die von Blau festgehaltene Besonderheit der Universität ist demgegenüber, dass ihre wissenschaftlichen Spezialproduktionen eben nicht interdependent sind und es jedenfalls nicht innerhalb der Universität sind. Es hängen die Erkenntnisse des einen Toxikologen von denen anderer Toxikologen ab, aber das tun sie nur ganz zufälligerweise und eher selten an derselben Universität, sondern viel eher in überlokalen Netzwerken („epistemic communities"). Im Gegenteil besteht sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass zwei Shakespeareforscher, die zufälligerweise an derselben Universität tätig sind, dafür sorgen werden, dass sie nicht interdependent arbeiten.
Einsamkeit und Freiheit Das heißt allgemeiner formuliert, dass die Forschung selbst zumeist gar keinen Beitrag zur Integration der Universität leistet, sondern nur einen zur Perfektionierung ihrer Teile. Die klassische Pathosformel dafür war „Einsamkeit und Freiheit", was diesseits der Humboldtmelodien einen soziologischen Sinn in der Beschreibung von Prozessen behält, die sich weitgehend gleichgültig zu den Organisationsgrenzen der Hochschulen verhalten. Es ist also kein Zufall, dass man, wenn
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Prestige,
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man die Universität von der Forschungsseite aus betrachtet, ihre Identität gar nicht sieht. Insofern ist es aber auch eine vergebliche Anstrengung, primär und fast ausschließlich über die Pflege der Forschungsdimension die Identität, oder wie es inzwischen heißt: das Profil von Universitäten entwickeln zu wollen. Bleibt die Frage, ob es überhaupt möglich ist. Peter M. Blau hat sie bejaht. Integriert, so lautete seine These, sind die Universitäten nicht über Forschung, sondern über Lehre, insbesondere im Bereich der „undergraduates". Dort, im Bereich der ersten Studienjahre, müssen die Spezialisten nämlich eben doch kooperieren, von ihrem Spezialistentum absehen und entscheiden, was es heißen soll, an der jeweiligen Universität unterrichtet worden zu sein und dabei dieses oder jenes Fach studiert zu haben. Die bemühte Ergänzung des Exzellenzwettbewerbs um kleine Zusatzprogramme für gute Lehre dokumentiert die Unkenntnis der Wissenschaftspolitik davon. Denn es ist gute, d.h. anspruchsvolle Lehre nicht „auch wichtig", sondern aus strukturellen Gründen die notwendige Bedingung für all das, was man sich unter universitärer Exzellenz überhaupt vorstellen mag. Soziologische Studien zur amerikanischen Universität berichten, dass es auch im dortigen System, das dem Primat der Lehre an vielen Hochschulen und Colleges Rechnung trägt, Anzeichen für eine Aushöhlung der Leistungsfähigkeit gibt. (Richard A r u m und Josipa Roksa) Studenten und Professoren schlössen, heißt es, immer öfter einen „disengagement compact", dessen Inhalt in der Ubereinkunft über eine beiderseitige Präferenz für physische und geistige Abwesenheit bestehe. Wenn du mich in Ruhe lässt, lasse ich dich in Ruhe. Den Studenten würden gute Abschlüsse für mäßige Leistungen versprochen, was die bekannte Noteninflation nach sich zieht, worauf sie im Gegenzug nicht auf intensiver Betreuung und aufwendiger Lehre bestünden. Dieses Problem wird durch forcierte Forschungs- und Drittmittelorientierung erkennbar verschärft, weil sie Anreize zur Indifferenz gegenüber der universitären Kernaufgabe setzt, ja sie fast erzwingt, wenn man den Zeitbedarf für Anträge, Tagungsbesuche, also Netzwerkpflege, und Publikationen in Rechnung stellt. Es ist die Missachtung solcher Probleme, die einer Wissenschaftspolitik, die sich in erster Linie als Forschungspolitik versteht, vorgeworfen werden kann. Wobei unter „Wissenschaftspolitik" allerdings nicht nur Ministerien verstanden werden sollten. Auch die Funktionäre der Universitäten selbst sowie die Mitglieder ihrer Selbstverwaltung agieren zumeist soziologisch blind, was ihre eigene Organisation angeht. Die Neigung, dem Prestigewettbewerb die Alltagsaufgaben unterzuordnen, die mitunter beispielsweise so weit geht, dass man ganze Universitäten mit ihren Exzellenzclustern identifiziert, ist dabei ein erstaunlicher Fall von mangelnder Intelligenz in Organisationen, die eigentlich ihrer Kultivierung dienen.
Paul Kirchhof
Forschen heißt Hoffen Hoffen als Antrieb menschlichen Denkens
enn ich recht weiß, bin ich der jüngst ernannte Professor der Universität Heidelberg allerdings in der Kategorie des Seniorprofessors. Deswegen meint meine „Abschiedsvorlesung" keinen Abschied von der Universität, sondern einen Abschied zu mehr akademischer Freiheit, zu mehr Selbstbestimmtheit beim Forschen und Lehren. Ich bin „entpflichtet", aber die innere Bindung an Universität und Heidelberger Wissenschaft steigt. So blicke ich in eine neue akademische Zukunft und das erfüllt mich mit Hoffnung. Die griechische Sage erzählt von Prometheus, der damals Menschen begegnet sei, die noch die Fähigkeit hatten, ihre Zukunft vorauszusehen. In dieser Fähigkeit zur Voraussicht kannten die Menschen auch den Zeitpunkt ihres eigenen Todes. Das machte sie tiefbetroffen. Sie wurden lethargisch. Auf dem Marktplatz fanden keine Diskussionen mehr statt. Das Wirtschaftsleben erlahmte. Kunst und Wissenschaft verkümmerten. Die Familienkultur verödete. Als Prometheus die Menschen in diesem Jammer sah, nahm er ihnen die Fähigkeit, die Zukunft vorauszusehen, und gab ihnen die Hoffnung. Das Christentum gibt uns das hoffnungsvolle Menschenbild dessen, der nicht nur als kleiner Punkt im Universum um sein Überleben kämpft, sondern sich seiner selbst vergewissert, über sich selbst hinausdenkt, Gesetzmäßigkeiten der Welt und seines Lebens entdeckt. Der Mensch ist nicht nur eine der Natur unterworfene Kreatur, sondern zur Herrschaft über die Natur, zum inneren Erleben, zum Grenzbewusstsein und Grenzüberstieg, zur geistigen Weite in Endlichkeit und Unendlichkeit begabt und befähigt. Das christliche Bild von den drei Weisen verdeutlicht uns diese Hoffnung, die wir in Forscher und Forschung setzen. Die drei Weisen - Gelehrte - folgen ihrem Stern, treffen auf das Kind
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und widmen ihm ihre Gaben, ihre Begabungen. Sie haben eine Idee, suchen eine Verantwortlichkeit für andere Menschen nicht für den Herrscher, nicht für den Reichen, nicht für den Applaudierenden, sondern für das hilfsbedürftige, Zuwendung erwartende Kind, das eine neue Zukunft verheißt. U n d diese Wissenschaftler haben die Fähigkeiten, Methoden und Instrumente, um diese Welt zu beschenken. Wenn Sie vorhin dieses Hörsaalgebäude betreten haben, haben Sie den Leitsatz unserer U n i versität gelesen: „Semper
Apertus",
der Text des kleinen Rektoratssiegels, das der Kurfürst kurz
nach der Gründung der Universität Heidelberg 1386 in Auftrag gegeben hat, eine der Insignien der Academiae Palatinae, die in der frühen Neuzeit den Pfälzer Löwen mit einem aufgeschlagenen Buch zeigt, in dem Semper Apertus
geschrieben steht. Dieser Satz hofft auf das immer offe-
ne, aufgeschlagene Buch, meint nicht eine O f f e n h e i t zur Beliebigkeit, zum leichtfertigen Irrtum, zum eitlen Wort, zur Unverantwortlichkeit für die eigenen Forschungsergebnisse. D i e O f f e n h e i t weist auf das Buch, die Rationalität des Sprachlichen, die in der gemeinsamen Sprache übermittelte Kulturerfahrung, die für jedermann ersichtliche und kontrollierbare Aussage, die These, die Öffentlichkeit und Kritik sucht. F ü r das moderne Recht, das Regeln in der Schriftlichkeit des Buches vermittelt, fordert das Semper Apertus wissenschaftliche Aufmerksamkeit für das G e s e t z buch, die Bereitschaft, das im Buch Vorgeschriebene nachzudenken, weiterzuschreiben, die das B u c h bestimmende demokratische Legitimation anzuerkennen. Wenn ich nun versuchen möchte, Ihnen dieses Prinzip der H o f f n u n g als Grundmotiv wissenschaftlichen Forschens und Lehrens darzustellen, so greife ich auf Worte zurück, die in den H ö r sälen dieses Hauses schon einmal gesprochen, erprobt, verbessert worden sind, die aber jetzt zu einem Gesamtbild einer hoffnungsvollen und hoffnungsstiftenden Rechtswissenschaft zusammengefügt werden soll. I c h m ö c h t e versuchen, eine vertraute Melodie mit einem neuen T h e m a zum Klingen zu bringen.
1. Die im Freiheitsprinzip angelegte Hoffnung Forschen hofft auf Erkenntnis. Dabei ist Forschung stets unvollendet, unabgeschlossen, deshalb auf Freiheit angewiesen. Das verfassungsrechtliche Freiheitsangebot mentarhoffnung.
ist Ausdruck
rechtlicher
Ele-
Es setzt darauf, dass der Freiheitsberechtigte das A n g e b o t annehmen, zu seinem
individuellen N u t z e n ausüben und damit zum Gemeinwohl beitragen wird. Jeder darf als
Dioge-
nes in der Tonne leben. D o c h die freiheitliche Verfassung hofft darauf, dass die überwältigende Mehrheit sich am Erwerbsleben und an der Pflege des Eigentums beteilige. Jedermann kann das A n g e b o t der Ehe- und Familienfreiheit
ausschlagen. D o c h die Zukunft des Staates ist nur gesi-
chert, wenn die Menschen Familien gründen und ihre Kinder gut erziehen. D e r Kulturstaat
setzt
darauf, dass die M e n s c h e n sich wissenschaftlich um das Auffinden der Wahrheit bemühen, künstlerisch ihr D e n k e n und Empfinden in Formensprache ausdrücken, religiös immer wieder nach dem Unergründbaren fragen. Täten sie dieses nicht, hätte niemand das R e c h t verletzt. D e r freiheitliche Staat ginge aber an seiner eigenen Freiheitlichkeit zugrunde. Eine Elementarhoffnung des Rechts wäre verletzt. Freiheit
braucht
deshalb
einen
Rahmen,
der hoffen
lässt. D i e Verfassungen nach der Französi-
schen Revolution regeln die Freiheit deshalb im Gleichklang „Freiheit, Gleichheit, Sicherheit." Freiheit darf nicht in Orientierungslosigkeit, in nie endende Aufgeregtheit führen, die uns um
Forschen heißt Hoffen
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den Schlaf brächte, uns die Erholung raubte, die uns aus aller Rationalität, Verantwortlichkeit, Anstrengung und Bewährungsproben für ein Drittel des Tages entlässt. Solange der Forscher auf neue Erkenntnisse hofft, beansprucht er Wissenschaftsfreiheit. Forschung braucht diese Freiheit auch, weil fehlbare Menschen forschen, sich irren können, sich deshalb berichtigen müssen. Wenn wir die Entwicklung der Wissenschaft beobachten - von der Erde als Scheibe bis zu den modernen Erkenntnissen der Weltraum- und der Genforschung, von der Unterteilung der Menschen in Bürger, Barbaren und Sklaven bis zur Würde jedes Menschen in Freiheit und Gleichheit - , erscheint die Geschichte der Wissenschaft als eine Geschichte berichtigter Irrtümer. Wissenschaft stellt sich immer wieder in Frage, entfaltet so Kreativität, Originalität, Gedankenvielfalt, setzt Freiheit voraus. Freiheit ist das Recht zum Experiment, zum Denken und Untersuchen in Modellen, zur kühnen These, die Kritik erwartet. Würde man jeden, der einmal geirrt hat, aus der Universität vertreiben - oder modern gesprochen: von der Forschungsförderung ausnehmen - , so wären in unseren Instituten und Laboren keine Forscher mehr, jedenfalls nicht Forscher, die den Mut auch zu kühnen Gedanken, einem gewagten Experiment haben. Die Freiheit, das Thema der Forschung, ihre Methode, ihre Ergebnisse frei zu wählen, ist Bedingung der Forschung schlechthin, Grundlage von Versuch und Irrtum. Diese Freiheitshoffnung wiederholt sich im demokratischen Prinzip, der Gemeinschaft des Staatsvolkes und des von ihm legitimierten Staates. Das Staatsvolk wählt immer wieder unbeirrt neue Parlamente und Regierungen, damit diese bessere Gesetze und Gemeinwohlentscheidungen treffen. Solange diese Hoffnung wirkt, fühlt sich der Bürger seinem Staat zugehörig. Die Minderheiten von heute - die Opposition, die Parteien, die einzelnen Wähler - dürfen erwarten, morgen die Mehrheit bilden und deshalb die Geschicke des Gemeinwesens bestimmen zu können. Diese Hoffnung hält die Demokratie zusammen, bewahrt vor Aufruhr, Aufstand, Revolution. In vordemokratischer, in diesem Sinne hoffnungsloser Zeit gab es für eine Opposition nur die Gewaltmittel von Aufruhr, Aufstand, Krieg, Revolution, Tyrannenmord, Entmündigung des Herrschers, individuell auch das Asylrecht, das dem Verfolgten an bestimmten Orten Zuflucht gewährte. Demokratie setzt auf die rechtlich organisierte Hoffnung, in friedlichen Verfahren das Neue erreichen zu können.
2. Hoffen auf die Rationalität des Rechts Rechtswissenschaft hofft doppelt: Sie will die Gesetzmäßigkeiten menschlichen Zusammenlebens rational verstehen, dabei auch ein Recht stärken, das Hoffnung stiftet. Hoffnung prägt diese Wissenschaft und ihren Gegenstand. Die Rationalität gilt als Grundbedingung des Rechts im aufgeklärten Staat. Der Gleichheitssatz fordert für die Gesetzgebung - die Kunst des Unterscheidens - den „vernünftigen Grund", differenziert zwischen dem Willen des Gesetzgebers und gesetzlicher Willkür. Die Freiheitsrechte verlangen das für den jeweiligen legitimen Zweck geeignete und erforderliche Mittel. Die Schriftlichkeit der Gesetzgebung soll Rationalität sprachlich vermitteln, die Begründung von Verwaltungsakt und Urteil eine Entscheidung nach den Regeln von Vernunft und Einsicht nachvollziehbar machen. Die Interpretation unbestimmter Rechtsbegriffe oder die Ausübung eines Ermessens darf sich nicht von sachfremden Erwägungen leiten lassen. Rechtsakte, die nicht verständlich
92
Paul Kirchhof
sind, die Denkgesetzen widersprechen, die „schlechthin willkürlich" sind, haben rechtlich keinen Bestand. Andererseits ist ein Stück Irrationalität, Unverniinftigkeit Alltagserfahrung der Demokratie. Wenn der Abgeordnete bei Erlass des allgemeinen Gesetzes nur seinem Gewissen unterworfen ist (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG), so soll er nach seiner subjektiven Lebenssicht, Lebenserfahrung, Ethik, nach seinen Wert- und Zielvorstellungen über das richtige Recht entscheiden. Geltendes Recht ist nicht dank der Autorität des Gesetzgebers richtiges Recht, sondern - jenseits des unabänderlichen (Art. 79 Abs. 3 GG) und des gesetzeserschwerenden (Art. 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3 GG) Verfassungsrechts - veränderbares Recht, das durch einen späteren Gesetzgeber geändert oder aufgehoben werden kann. Doch die Gesetzgebung ist deswegen nicht offen, nicht zugänglich f ü r beliebige Torheiten, Bosheiten, Unrechtsvorstellungen, sondern sie ist stets auf einem verfassten Weg, stets ein „Recht auf Rädern", das sich in Erfahrung, Tradition, Verfassungsrecht, Wertebewusstsein, Standards der Hochkultur auf einem gesicherten Fundament bewegt, allerdings im Ziel, in der Geschwindigkeit, im Innehalten noch unbestimmt ist. Die H o f f n u n g , die in diesem für das bessere Gesetz offenen Gesetzgebungsverfahren angelegt ist, macht Demokratie erst möglich. Wenn das Grundgesetz das Hervorbringen von Recht nach dem Prinzip der repräsentativen Demokratie organisiert, der Wähler den Abgeordneten wählt und die Gewählten als Repräsentanten der Wähler die Gesetze erlassen, so stützt sich dieses Legitimations- und Qualifikationsverfahren auf eine erstaunliche, aber notwendige Hoffnung von besonderer Kühnheit. Wer ein Auto auf öffentlichen Straßen führen will, muss vorher durch den Führerschein nachweisen, dass er dazu qualifiziert ist. Bei der demokratischen Repräsentation vertrauen wir für die Qualifikation der Wählenden und der Gewählten auf das Naturtalent der Bürger. In dieser Grundentscheidung liegt ein beachtlicher Vertrauensvorschuss in die Freiheitsfähigkeit der Wähler, die Repräsentationsfähigkeit der Gewählten, eine fast naive Gleichheitshoffnung, eine fordernde Erwartung an Wissen und Gewissen der Abgeordneten und der die Kandidaten auswählenden Parteien, auch eine Grenze der gesetzgebenden Gewalt. Doch Recht ist nicht nur Wille des Gesetzgebers, sondern auch vorgefundener Wert, erprobte Rechtserfahrung, gesichertes Wissen von Institutionen. Das Entstehen von Recht zwischen Wissen und Wollen, zwischen Autorität und Verständigung, zwischen Erfahrung und Hoffnung wird in der Frage nach dem Geltungsgrund einer Verfassung besonders deutlich. Wenn Moses dem Volk Israel die 10 Gesetzestafeln übergeben hat; wenn fundamentale Interessen des Menschen in seiner N a t u r wurzeln und deshalb „unverbrüchlich" sind; wenn der vernünftige Mensch in einem Gesellschaftsvertrag einen Teil seiner Rechte aufgibt, damit der Staat als rechtlich gebundene Schutzmacht diese Rechte sichern möge; wenn die verfassunggebende - oder besser: die verfassungweitergebende - Gewalt des Staatsvolkes der Verfassung durch Rückbindung an den Willen der Bürger Anerkennung vermittelt; wenn die Erfahrung von Unterdrückung, Entwürdigung, Missachtung und Krieg auf Freiheit, Menschenwürde, Gleichheit und Frieden drängt, erweist sich die Verfassung als ein Erfahrungs- und als ein Hoffnungsbegriff. Die Begründungen der Verfassungsgeltung verweisen jeweils auf eine Autorität, die Recht setzt, aber auch auf Gründe, die dieses so gefertigte Recht rechtfertigen. Es bedürfte näherer Untersuchung, ob diese Begründungen für die Geltung von Recht nicht letztlich auf einem Gedanken beruhen. Wenn am Anfang der Logos, das Urwort steht, in dem wir den Menschen in seiner Welt, auch in seiner Gemeinschaftsgebundenheit verstehen; wenn wir in der Natur die den Menschen, sein Verhalten und sei-
Forschen heißt
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Hoffen
ne U m w e l t bestimmenden Gesetzmäßigkeiten lesen wollen; wenn der Gesellschaftsvertrag die Verständigung unter den Beteiligten nach den Gesetzmäßigkeiten der Vernunft erwartet; wenn die verfassunggebende Gewalt des Staatsvolkes schon ein Volk, eine Verfassungssprache, ein Initiativ- und Abstimmungsverfahren, bestimmte vorgegebene Werte, insbesondere Menschenrechte mit Universalitätsanspruch, voraussetzen; wenn Unrechtserfahrungen auf die unrechtsabwehrende A n t w o r t der Verfassung hoffen, klingt jeweils ein Rechtsverständnis an, das sich auf Gedächtnis und Zuversicht stützt. I m Kern ist Verfassung erfahrungsgestiitzte
Sie setzt
Hoffnung.
voraus, dass R e c h t im Buch der N a t u r gelesen werden kann, sich auf ein rationales Einvernehmen der Gesellschaft stützt, sich aus dem Willen eines Staatsvolkes legitimiert, auf die Lernfähigkeit aus Unrechtserfahrung baut. D o c h Rechtsstaat und Demokratie werden in diesen Rechtsquellen festgeschrieben. A u f der Grundlage dieser H o f f n u n g setzt dann der verfassungsändernde und der einfache Gesetzgeber positives R e c h t . Sprachwissenschaftler erklären die Sprache und ihre gemeinschaftsstiftende Verbindlichkeit durch die Konvention
im Sinne der Zusammenkunft,
die Menschen in der Zugehörigkeit zu einer
Sprachgemeinschaft zusammenführt, und im Sinne der Übereinkunft,
nach der die Menschen sich
untereinander verständigen, wie sie sich in Zukunft sprachlich begegnen wollen. Auch nach der Formalisierung der Rechtentstehensquelle in demokratischen Rechtsetzungsverfahren bleibt die Konvention eine Grundlage des friedlichen Zusammenlebens. Das Recht hofft darauf, dass M e n s c h e n in freiheitlicher Verantwortlichkeit für ihr Zusammenleben schriebene
Verhaltensregeln
unge-
entwickeln. Diese Konventionen entlasten den Gesetzgeber.
Wenn jeder weiß, was sich gehört -
er zum akademischen Festakt anders gekleidet erscheint
als in der Badeanstalt, er die auf dem Rugbyfeld nach den Regeln des Sports zulässigen körperlichen Attacken beim anschließenden Festbankett unterlässt, er am Stammtisch herb, als Diplomat durch die Blume, als A r z t in schönenden Euphemismen zu sprechen weiß - , braucht die Gemeinschaft insoweit kein G e s e t z . Gingen diese Konventionen verloren, wären R e c h t s h o f f nungen enttäuscht, der Gesetzgeber überfordert. Rechtswissenschaft
will das geltende Recht begrifflich-systematisch durchdringen, den Rechts-
stoff verständlich, möglichst auch vereinfachend strukturieren, die im Gesetzestext aufgenommenen oder anklingenden Leitgedanken und Rechtsideen bewusst machen, macht aber beim dog-
matischen Erschließen geltenden Rechts nicht halt, sondern hofft, auch einen Beitrag zum besseren Gesetz zu leisten. buches
Das ist vielfach Kärrnerarbeit. Ich habe den Entwurf eines
Bundessteuergesetz-
vorgelegt. Das bedeutet lange, auch nächtliche Lektüre von wissenschaftlichen Stellung-
nahmen und politischen Texten, Vortragsreisen mit Warten auf Bahnhöfen und Flughäfen, der Kampf gegen Ermüdung und für Gelassenheit, aber auch inspirierende Foren in Diskussionen und Arbeitskreisen zwischen Wissenschaft und Praxis, Vortrags- und Gesprächsbegegnungen mit M e n s c h e n unterschiedlicher Interessen, öffentliche Ermutigung und diskrete Anfeuerung. Auch hier gilt: Es besteht H o f f n u n g . Wissenschaft und Verfassungsstaat werden durch dasselbe E t h o s geprägt: die Idee meinheit.
der
Allge-
Forschung und Lehre suchen die verallgemeinerungsfähige Aussage. Die Allgemeinheit
leitet und legitimiert das G e s e t z des demokratischen Rechtsstaates. Das haben J o s e f Isensee und
ich im ersten Band des Handbuchs des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland 1987 gesagt, das Allgemeinprinzip bis heute, wenn wir am 11. Band der 3. Auflage dieses Handbuches arbeiten, als Grundmaxime dieses Gemeinschaftswerkes gehandhabt. Die klassische „Goldene Regel", der Kantsche kategorische Imperativ oder die Volksweisheit: „Was du nicht willst, das man dir
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Paul Kirchhof
tu', das füg' auch keinem andern zu", fordern die Verallgemeinerungsfähigkeit der Maßstäbe staatlichen Handelns (Recht) und individueller Selbstvergewisserung (Ethik). Für das staatliche Gesetz ist die Idee der Allgemeinheit Leitprinzip und Erneuerungsauftrag. Allgemeinheit des Gesetzes meint die Allgemeinverständlichkeit des Gesetzes für jedermann, die sachliche Allgemeinheit, die Gleichheit für jedermann garantiert und das Privileg vermeidet. Allgemeinheit meint auch die räumliche Allgemeinheit, die Geltung der Regel im gesamten Hoheitsbereich des Rechtsetzers, die Rechtsgeltung und Rechtsverantwortung klarstellen. Diese Allgemeinheit muss für das Verhältnis von Europarecht und staatlichem Recht neu definiert werden. Ein Gesetz soll sich im Regelungsziel auf das Allgemeine beschränken, das Grundlegende, das Grundsätzliche, das Notwendige, das Dauerhafte bestimmen, die Details und das Gegenwärtige aber Verordnungen und Verwaltungsvorschriften überlassen. Die „Wesentlichkeits"-These des Bundesverfassungsgerichts bedeutet heute, dass der Gesetzgeber das Wesentliche einer Gemeinschaft regeln, aber auch eine Regelung des Unwesentlichen unterlassen möge. In dieser Beschränkung blickt das allgemeine Gesetz auf das Ganze, ist insbesondere der Freiheit der Bürger verpflichtet und verbietet ein Ubermaß freiheitsbegrenzender Regelungen. Diese Allgemeinheit im Wesentlichen wird gegenwärtig oft gröblich verletzt, wenn der Deutsche Bundestag ein finanzmarkterhebliches Gesetz in 48 Stunden beschließt, der Europäische Rat im sogenannten A-Punkte-Verfahren binnen 60 Minuten 80 Gesetze erlässt. Hier weiß der Gesetzgeber nicht, was er tut, der Gesetzesadressat nicht, was er tun soll. Mein pragmatischer Vorschlag wäre, in jedem Gesetzesbereich - dem Zivilrecht, dem Strafrecht, dem Sozialrecht, dem Steuerrecht nur so viele Normen zu erlassen, als der zuständige Ministerialrat aktiv im Gedächtnis behalten kann. Der kluge Kopf des für die Gesetzesinitiative mitverantwortlichen Beamten ist die Mengenschleuse für Gesetzesrecht. Wir bleiben bei dem Grundsatz: „Was du nicht willst das man dir tu...". Sprichwörter sind wie Mückenstiche, sagt Seneca. Man merkt nicht, wenn jemand gestochen wird, aber nachher beginnt es zu jucken. Gelegentlich wünsche ich mir, dass ein Mückenschwarm nach Berlin und nach Brüssel ausschwärme, um dort immer wieder an eine Uridee des Rechts, die Allgemeinheit der Regel, zu erinnern und die Missachtung dieser Regel individuell spürbar zu sanktionieren. Diese Allgemeinheit wird ergänzt durch die Idee des Maßes und der Toleranz. Sichert der Staat als Garant der Freiheit Grundrechte, sind diese definiert, begrenzt in die Rechtsgemeinschaft eingebettet. Greift der Staat als potentieller Gegner der Freiheit in Freiheitsrechte ein, gilt das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Diese Kultur des Maßes erläutert eine schöne Geschichte von Michelangelo, der gefragt wurde, wie es ihm gelungen sei, seinen David aus einem Marmorblock künstlerisch zu gestalten. Seine Antwort lautete: Ich habe nur das zuviel an Marmor weggenommen. Toleranz ist die rechtliche Kunst, das Zuviel an Freiheitsbedrängnis wegzunehmen, dadurch die Figur des freiheitlichen Verfassungsstaates sichtbar zu machen. Toleranz meint nicht den Weichmut des Wohlmeinenden, der allen Wohlklang für Wahrheit hält, sondern fordert die intellektuelle Kraft, das Unverbrüchliche vom Verbrüchlichcn zu unterscheiden, das Unveräußerliche vom Veräußerlichen, das Unabstimmbare vom Mehrheitsfähigen. Diese Idee des Maßes und der Toleranz setzt vor allem auf einen Staat und ein Recht, das wesentliche Tragen des Menschen, insbesondere der Religion und Weltanschauung, offenlässt, damit den Menschen in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit Frieden und Zugehörigkeit sichert. Der Staat erwartet, dass Elementarfragen der Menschheit von anderen beantwortet werden:
Forschen heißt Hoffen
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- Was ist der Mensch? Eine mit individuellem Willen, mit der Kraft zur Freiheit und Verantwortlichkeit begabte Person oder ein gänzlich in Naturgesetzmäßigkeiten determiniertes Säugetier? - Was ist die Zeit? Die Phase unausweichlicher Vergänglichkeit oder der Weg in eine Ewigkeit? - Was ist die Naturi Eine Materie, die zerfällt und verwest, oder eine Gesetzmäßigkeit, die über ihren begreifbaren U r s p r u n g und ihr erkennbares Ziel hinausweist und den Menschen veranlasst, die Frage nach Transzendenz zu stellen? - Was ist Gerechtigkeit? Ein wegen der Unzulänglichkeit der Menschen unerreichbares, deswegen törichtes Ziel, oder aber der Auftrag, sich ständig der Achtung vor der Würde und Freiheit des anderen, der Verantwortlichkeit bei der Wahrnehmung der eigenen Freiheit, der Suche nach verallgemeinerungsfähigen Verantwortlichkeitsmaßstäben, der Kultur des Maßes anzunehmen? Viele unserer H o f f n u n g e n richten sich nicht auf den Staat, sondern auf gesellschaftliche Gruppen und freiheitsbewusste Bürger.
3.
Sprachoptimismus
D e r Verfassungsstaat beendet das Fehderecht, entwaffnet seine Bürger, begründet ein staatliches Gewaltmonopol, um Konflikte allein in sprachlicher Auseinandersetzung zu lösen. Er hofft, im Sprechen über das Recht zur Rationalität und Angemessenheit zu finden. Das Setzen und Durchsetzen von Recht ist stets ein Vorgang des Sprechens. Das Entstehen des Gesetzes hängt von öffentlicher Debatte im „Parlament" ab. D e r Abgeordnete gibt seine „Stimme" ab. D e r Bundesrat erhebt E i n s p r u c h " oder erklärt Z u s t i m m u n g " . Der „Wortlaut" des Gesetzes wird „verkündet". Die Exekutive handelt in Regierungserklärungen", „Verlautbarungen" und Verwaltungsakten. Der Betroffene ge„horcht" oder wehrt sich gegen Akte der „Spruch"körper durch einen „Widerspruch", eine „Klage". Er „ruft" die Gerichte an und geht in Be„rufung". Die R e c h t s p r e c h u n g " gewährt rechtliches Gehör, entscheidet über An„spruch" oder Frei„spruch", erwägt auch eine e n t s p r e c h e n d e " Gesetzesanwendung, „verkündet" nach „Stimm"abgabe eine Entscheidung, spricht im „Namen" des Volkes. „Rede" bedeutet ursprünglich „Rechenschaft" und (gerichtlicher) Parteivortrag; „Redner" ist anfangs der Wortführer vor Gericht. Die Begriffe Recht und Rede, N o m o s und Namen, Lex und Wort haben einen gemeinsamen Stamm. Recht lebt in der Sprache und durch die Sprache. Die Sprache vermittelt dem Recht Zeichen ähnlich denen der Uhr. Auf dem Ziffernblatt sind zwölf Zahlen im Kreis abgebildet. Zwei Zeiger zeigen auf eine Zahl, benennen die Stunde und die Minute. Wir kennen dieses Zähl- und Zeichensystem, wissen deshalb wie viel U h r es ist, richten unser Leben auf diese Zeitenordnung ein. U n d wir behalten im Bewusstsein, dass diese U h r von einem U h r w e r k betrieben wird, die Zeitzeichen also ebenso wenig voraussetzungslos sind wie die Rechtszeichen. Sie müssen bei der U h r von einer ständig zu erneuernden Mechanik oder Technik, beim Recht von einer sie tragenden und stützenden Kultur in Bewegung gehalten, aber auch in einer Kultur des richtigen Maßes gebunden werden. Wenn der Gesetzestext von „Freiheit", von „Parlament", von „Familie", von „Staat" spricht, so würde dieses Zeichen f ü r Recht allein bald an Aussagewert und Gestaltungskraft verlieren. Doch eine falschgehende und eine stehende U h r erinnert daran, die U h r neu in Gang zu setzen. Ebenso hat der Rechtsstaat seine Orga-
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ne, insbesondere die Rechtsprechung, um die Rechtssprache in der Kraft ihrer Zeichen lebendig zu halten. Wenn das Gesetz im Gesetzblatt verkündet ist, trägt allein der geschriebene Text die Last, den im Rechtssatz gemeinten Gedanken zu überbringen. Das Gesetz kann nicht, wie der Mensch im Gespräch, das Gesagte durch Gesten und Mimik betonen, formen, verdeutlichen und ergänzen, kann nicht mit den Augen zwinkern oder die Stirn runzeln, nicht die Arme einladend ausbreiten oder abwehrend entgegenhalten. Dennoch wird der Rechtsstaat mit Verkündung des Gesetzes nicht sprechunfähig. Vielmehr stellt er den Gesetzesadressaten eigene Organe, letztlich die RechtSprechung zur Verfügung, die mit den Betroffenen über die Bedeutung des Rechtssatzes im Einzelfall spricht, Streit über den Rechtssatz befriedet, die Härte einer generellen Regel durch individuelle Billigkeit mäßigen kann. Der Rechtsstaat hofft, ständig mit dem Bürger im Gespräch zu bleiben, in der Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Staatsgewalten die richtige Form der Ansprache zu finden.
4. Hoffnung auf Institutionen Kein Mensch kann seine Freiheit entfalten, in Würde leben, wenn ihn nicht Institutionen stützen. Wer morgens zur Arbeit fährt, braucht Straßen. Wer seine Wissenschaftsfreiheit in Forschung und Lehre wahrnehmen will, ist auf Universitäten angewiesen. Wer krank ist, fragt nach Krankenhäusern und einem Versicherungssystem. Wer hungert, braucht die Mildtätigkeit von Kirchen oder Sozialstaat. Zum menschlichen Leben jenseits des Einsiedlers in der Wüste gehört die Hoffnung auf Institutionen. Meine Erfahrung mit Institutionen sind erfüllte Hoffnungen. Und erfüllte Hoffnungen sind Anlass zu danken. Ich möchte vier Institutionen nennen, denen ich vieles verdanke: Die Familie, die Universität, das Bundesverfassungsgericht, den Staat. Die Bedeutung der Familie ist rechtlich besonders hervorgehoben. Das Grundgesetz kennt in seinem Grundrechtskatalog nur zwei ausdrückliche Schutzaufträge: den Schutz der Menschenwürde und den Schutz von Ehe und Familie. Das Recht gestaltet die Beziehung von Eltern und Kindern als einzige als Lebensgemeinschaft schlechthin aus, die nicht kündbar und nicht scheidbar ist. Die Familie gibt dem Staat im Staatsvolk seine Zukunft, gewährleistet im Elternrecht und in der Elternpflicht die besten Chancen zur geistigen, körperlichen und seelischen Entfaltung des Kindes. Im Regelfall bietet eine Erziehung durch Vater und Mutter dem Kind die natürliche Grundlage alternativer Begegnungen und Lebenssichten. Das Wachstum des Kindes in seiner Familie ist das Maß kultureller Zukunft, wirtschaftlicher Prosperität, demokratischer Entwicklung. Es übersteigt an Bedeutung weit das Wirtschaftswachstum, auf das wir unser Denken und Handeln gegenwärtig vor allem ausrichten. Persönlich habe ich allen Grund, meiner Familie zu danken. Das gilt für meine Eltern und die Familie, aus der ich stamme. Das gilt für meine Frau, die Faszination, Inspiration, Sicherheit und Vertrauen im Zusammenleben, Ermutigung und kritische Begleitung in mein Leben trägt. Das gilt für meine Kinder, die in der Generationenerfahrung den Vater beglücken und fordern, anregen und korrigieren, immer wieder das gelassene Bemühen um intellektuelle Erneuerung, auch zur Pflege rudimentärer Sportlichkeit anregen. Das gilt für die Schwiegerkinder, die diesen Erneuerungsprozess in der Erfahrung ihrer Familien- und Lebenssicht verstärken, vor allem die
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Familie d e r n ä c h s t e n G e n e r a t i o n leben. Dies gilt f ü r die E n k e l k i n d e r , die, w e n n sie mich anblic k e n u n d a n s p r e c h e n , der Z u k u n f t , auf die w i r h o f f e n u n d f ü r die w i r arbeiten, ein a n s p r e c h e n des Gesicht geben. Wenn ich h e u t e eine E r f a h r u n g an m e i n e S t u d e n t i n n e n u n d S t u d e n t e n w e i t e r g e b e n darf, dann ist es diese: Lassen Sie sich das G l ü c k einer Familie - in g u t e n u n d in schlechten Zeiten - nicht nehmen. D i e Universität hat m i c h gelehrt, aus R e c h t s h o f f n u n g e n R e c h t s w i s s e n zu m a c h e n , das Recht als w e r t e b a s i e r t e , stets d u r c h neue Fragen an das R e c h t sich e n t w i c k e l n d e , also ständig u n a b g e schlossene, aber nie o r i e n t i e r u n g s l o s e O r d n u n g zu v e r s t e h e n . W i s s e n s c h a f t ist n i c h t w e r t f r e i . Eine w e r t l o s e W i s s e n s c h a f t w ä r e h o f f n u n g s l o s . D e r A r z t soll den M e n s c h e n heilen, nicht schädigen. D e r J u r i s t hat den W e g zu einer w ü r d e - u n d freiheitsgerechten O r d n u n g , n i c h t zu D i k t a t u r u n d U n t e r d r ü c k u n g z u bahnen. D e r B i o l o g e hat M a ß s t ä b e u n d I n s t r u m e n t e z u r B e w a h r u n g , nicht z u r Z e r s t ö r u n g d e r U m w e l t zu e n t w i c k e l n . U n d W i s s e n s c h a f t ist nicht v o r a u s s e t z u n g s l o s . H ä t t e n w i r diese N e u e Aula, diese Universität nicht, k ö n n t e ich I h n e n h e u t e so nicht b e g e g n e n , so nicht z u Ihnen sprechen. H ä t t e n w i r nicht das G l ü c k , dass diese U n i v e r s i t ä t seit m e h r als 60 J a h r e n in e i n e m Friedensgebiet steht, nicht in e i n e m K r i e g s g e b i e t a r b e i t e n muss, hätte W i s s e n s c h a f t in H e i d e l b e r g sich nicht in dieser Weise entfalten k ö n n e n . H ä t t e n w i r u n s e r e R e c h t s o r d n u n g nicht, die W i s s e n s c h a f t s f r e i h e i t garantiert, N i c h t w i s s e n s c h a f t i e r z u r F i n a n z i e r u n g der W i s s e n s c h a f t v e r p f l i c h t e t , d u r c h den S c h u t z der Familie u n d s c h u l i s c h e A u s b i l d u n g der U n i v e r s i t ä t die A r b e i t mit q u a l i f i z i e r t e n j u n g e n M e n schen erlaubt, f e h l t e n der W i s s e n s c h a f t e l e m e n t a r e G r u n d l a g e n . D e s w e g e n m u s s d e r W i s s e n s c h a f t l e r erklären, w a s er tut u n d w a r u m er es tut. D e r Forscher lebt nicht als g e i s t i g e r E m i g r a n t in E i n s a m k e i t und F r e i h e i t in einer S t u d i e r s t u b e , die ihm die R e c h t s g e m e i n s c h a f t respektvoll bereitstellt, s o n d e r n er steht, w e i l F o r s c h u n g b e d e u t s a m ist, im d u n k l e r e n oder h e l l e r e n Licht der Ö f f e n t l i c h k e i t , in d e r S o n n e , die auf seine K u l t u r strahlt, oder in d e m R e g e n , der niederprasselt. W i s s e n s c h a f t ist v e r a n t w o r t e t e Freiheit. D a s Bundesverfassungsgericht ist die w o h l w i c h t i g s t e , a u c h e r f o l g r e i c h s t e I n s t i t u t i o n , die das G r u n d g e s e t z 1949 n e u e i n g e f ü h r t hat, u m der neuen V e r f a s s u n g Kraft zu verleihen und den verfassten Staat verlässlich auf die Ideen d e r F r i e d e n s g e m e i n s c h a f t des R e c h t s , d e r individuellen W ü r d e u n d Freiheit, d e r d e m o k r a t i s c h l e g i t i m i e r t e n M a c h t , d e r sozialen E x i s t e n z s i c h e r u n g , der B u n d e s s t a a t l i c h k e i t u n d R e p u b l i k zu v e r p f l i c h t e n . D a s B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t ist eine Instit u t i o n der H o f f n u n g u n d des Vertrauens. Seine U r t e i l e w e r d e n b e a c h t e t , weil sie aus d e r Verfass u n g abgeleitet, i m N a m e n des Volkes g e s p r o c h e n , in ö f f e n t l i c h e r Verhandlung u n d nach G e w ä h r u n g rechtlichen G e h ö r s g e f u n d e n , in z e i t l i c h e r G e l a s s e n h e i t beraten, in d e r R a t i o n a l i t ä t des R e c h t s u n d der R e c h t s k o n t i n u i t ä t b e g r ü n d e t w o r d e n sind. D e r V e r f a s s u n g s r i c h t e r hat nicht w i e jeder andere R i c h t e r - einen Gerichtsvollzieher, der seine U r t e i l e v o l l s t r e c k e n w ü r d e . Ihm steht k e i n e Polizei, s c h o n g a r nicht eine A r m e e zur V e r f ü g u n g , die den R i c h t e r s p r u c h d u r c h s e t zen sollte. Das V e r f a s s u n g s g e r i c h t w i r k t i m Kern allein d a n k des W i l l e n s der M e n s c h e n z u r Verfassung. A l s ich 1987 z u m V e r f a s s u n g s r i c h t e r g e w ä h l t w u r d e , habe ich mit e r f a h r e n e n R i c h t e r n gesprochen, u m an deren W i s s e n u n d H o f f e n t e i l z u h a b e n . Ein R i c h t e r gab m i r den a n f a n g s überras c h e n d e n , dann aber i n der richterlichen Praxis i m m e r m e h r e i n l e u c h t e n d e n R a t : Bleiben Sie ein
Menschenfreund!
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Paul Kirchhof
Mit dieser Empfehlung ist gemeint, dass der Richter sich jedem Antragsteller und jedem Antragsgegner wie einem Freund widmen möge, beim rechtlichen Gehör zunächst die Tatsachensicht und das Rechtsverständnis des Antragstellers versteht - ihm dabei vielleicht Recht gibt - , dann die Tatsachensicht und das Rechtsverständnis des Antragsgegners nachvollzieht - ihm dabei vielleicht Recht gibt - , um dann im Bewusstsein, dass nicht beide Recht haben können, die Sache zu entscheiden. Der Freund der Menschen gibt, wenn er morgens die Robe anzieht, an der Garderobe seine Freiheit ah, um der Freiheit anderer Menschen zu dienen, nimmt abends, wenn er seine Robe auszieht, ein Stück seiner Freiheit zurück. Er ist unparteilicher Richter, der sich von den Parteien fernhält, für das Recht Partei nimmt. Er ist unbefangener Richter, der frei ist in Geist und Gehabe, sich nicht einem Freundeskreis, einer Interessentengruppe, einem Netzwerk verbunden fühlt. Er ist unabhängiger Richter, der auf dem strengen Pfad des Rechts sich nicht in wirtschaftliche, intellektuelle oder persönliche Abhängigkeiten verwickeln lässt. Er kennt die Menschen so gut, dass er sich diese hohen Ideale täglich erneut vor Augen führt, auch wenn die strikte Befolgung dieser Prinzipien gelegentlich misslingt. Es beeindruckt mich immer wieder, wie hoch die Erwartungen der Bürger an das Verfassungsgericht sind. Das Gericht braucht Vertrauen und schafft Vertrauen. Dies gilt auch in einer Zeit großer öffentlicher Aufgeregtheit, Entlarvungs- und Skandalisierungsbereitschaft. Die Parole und das Büchlein lauteten „Empört Euch!". Bisher gab es einen Anlass, der den einen oder anderen empörte. Jetzt gibt es eine Grundgestimmtheit der Empörung, die ihren Anlass sucht. Immer wieder steht das Gericht vor der Aufgabe, seinen Auftrag, seine Autorität neu zu definieren. Der Staat sichert uns ein Leben in Frieden, gewährleistet Existenzgrundlagen und Freiheit, bietet uns Universität und Verfassungsgericht. Der Staat ist für das gemeinsame Wohl seiner Bürger allzuständig, aber nicht allein zuständig. Seine Souveränität war nie das Recht zur Willkür, nie gänzliche Autarkie gegenüber anderen Staaten, sondern stets als rechtlich gebundene Herrschaft gedacht. Jeder Staat ist auf Begegnung und Austausch mit den Nachbarstaaten und letztlich der ganzen Welt angewiesen, kann viele seiner Aufgaben - des Friedens, der Versorgung, des Umweltschutzes, der rechtlichen Begleitung des weltweiten Wirtschaftens und der grenzüberschreitenden Medien, der Fremden- und Asylpolitik - nicht allein erfüllen. Staatliche Souveränität ist deswegen die Letztverantwortung für die Staatsbürger und die im eigenen Staatsgebiet lebenden Menschen, ist demokratische Verantwortung gegenüber dem eigenen Staatsvolk, ist Garantie der in der eigenen Verfassung gewährleisteten Rechte und Pflichten. In dieser Verantwortlichkeit ist der Staat in Europa integrationsoffen, in der Welt kooperationsoffen.
5. Leitgedanken Semper Apertus - das offene Buch lässt die Frage unbeantwortet, welches Buch wir lesen wollen. Lassen Sie uns für die Rechtswissenschaft einmal träumen - von einem Buch, in dem sich die Spitzen unserer Wissenschaft versammeln, zu den Grundsatzfragen unseres Rechts Stellung nehmen, die Fülle ihres Denkens in sprachlicher Schönheit und ansprechender Kürze ausdrücken, sich aufeinander so abstimmen, dass ein Kosmos des Rechts entsteht, der die Gedanken leitet, die Leitgedanken des Rechts formuliert. Aus diesem Traum wurde eine Hoffnung, aus der Hoffnung Wirklichkeit. Ein solches Buch liegt vor: Die Leitgedanken des Rechts, eine Schrift, in
Forschen heißt Hoffen
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festlicher Absicht gewidmet, auf eine Festigung des Rechts angelegt. Ich habe es von vorne bis h i n t e n gelesen, auch den fast 200 A u t o r e n schon geschrieben, lasse mich jetzt auf diesem Gipfel I h r e r Wissenschaft nieder, der das Fortschreiten der wissenschaftlichen Wanderung nicht beendet, wohl aber eine Pause g ö n n t , in der ich d e n Blick in die Weite dieser in Worten wirkenden Wissenschaft, den Sonnenschein w ä r m e n d e r u n d erhellender Inspiration genieße, ein großes Werk, zu dem ich H e r a u s g e b e r n u n d A u t o r e n gratuliere. Ich bedauere n u r eines, dass ich nicht selbst habe mitschreiben d ü r f e n . Vor so viel Wissen, K r a f t des Begreifens, Sprachgewalt, vor so viel Wohlwollen, das Sie mir mit I h r e m K o m m e n entgegenbringen, bin ich n u r noch zu einem W o r t fähig: D a n k e !
Marianne
Kneuer
Stütze oder Hilfe zum Sturz? Das Potenzial des Internets in Autokratien
I
m Zuge des arabischen Frühlings 2011 erlangten das Internet und vor allem die sozialen
Medien eine herausgehobene Rolle. Schnell war die Bezeichnung „Twitter- oder FacebookRevolution" für die politischen Umbrüche in Tunesien und Ägypten zur Hand. Es entstand
nicht nur in der öffentlichen und politischen Debatte, sondern teilweise auch in der Politik-
wissenschaft eine hoffnungsvolle Erwartungshaltung, die den neuen Medien eine demokratieförderliche Wirkung zuschrieb. Davon zeugt der Begriff „Liberation technology", mit dem der amerikanische Demokratieforscher Larry Diamond jede Form von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) meint, die politische, wirtschaftliche oder soziale Freiheit erweitern kann. Solche optimistischen Annahmen basieren auf zwei potenziellen Wirkungen digitaler Medien: Zum einen die Befähigung von Bürgern, unabhängig von etablierten Medienstrukturen, die kontrolliert oder zensiert sind, zu kommunizieren und auf diese Weise eine entstehende Zivilgesellschaft zu stärken. Zum anderen würden Autokratien zunehmend durch die interaktive Echtzeit- und many-to-many-Kommunikation in sozialen Netzwerken und infolgedessen durch die effektiver und schneller umsetzbare Mobilisierung von Widerstand und Protest bedroht. Andere Stimmen dagegen bezweifeln diese befreiende Wirkung von Web 2.0. Der inzwischen auch über die U S A hinaus bekannte Blogger und Netzwissenschaftler Evgeny Morozov konstatiert, dass die Proteste in Tunesien auch ohne Twitter und Facebook stattgefunden hätten. Gleichwohl hätten die sozialen Medien eine wichtige Rolle bei dem Umbruch gespielt, insofern sie die Vorgänge außerhalb der Landesgrenzen publik gemacht hätten. Dies wiederum wurde aber vor allem durch die Verbreitung über die Fernsehsender al-Jazeera und France24 ermöglicht, die
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Marianne
Kneuer
Facebook-Quellen für ihre Nachrichten nutzten. Eine noch skeptischere Perspektive geht davon aus, dass Autokratien in gleichem M a ß e von den Möglichkeiten der neuen IKT profitieren können, indem sie sich diese zur Überwachung und Kontrolle der Bürger zunutze machen. Diese antagonistischen Positionen lassen sich in der Frage verdichten: Stellen die digitalen Medien ein Instrument dar, mit dem die Bürger in Autokratien in besonders effektiver Form befähigt werden, für Demokratie und Freiheit zu mobilisieren und damit den Fortbestand von Autokratien zu bedrohen? Oder stellen die digitalen Medien ein Instrument dar, mit dem die Autokratien befähigt werden, ihre Bürger besser zu kontrollieren und demokratischen Widerstand effektiver in den Griff zu bekommen? Zugespitzt formuliert: Liegt das Potenzial des Internets eher darin, Autokratien zu stürzen oder sie zu stützen? Anders als in Demokratien, w o Medienfreiheit garantiert ist, unabhängige und plurale Medienstrukturen vorherrschen und Journalisten unkontrolliert berichten können, spiegelt sich die Geschlossenheit autokratischer Regime in deren Mediensystemen wider. Diese kann variieren, fest steht aber, dass Fernsehen, Presse und Rundfunk nicht unabhängig sind und dass die Medienfreiheit vollends oder teilweise eingeschränkt ist. Internetbasierte Medien und insbesondere die interaktive many-to-many-Kommunikation sozialer Netzwerke eröffnen jenseits der Staatsmedien alternative Kanäle der Information und des Austausche, auch über politische Themen. Für demokratische Oppositionsgruppierungen oder unzufriedene Bürger bieten soziale Netzwerke sowohl Räume zur Artikulation individueller Kritik und des Protests als auch zur Mobilisierung zum öffentlichen Widerstand. Digitale Medien können daher ganz generell gesprochen dazu beitragen, dass dort, wo nur schwache Zivilgesellschaften vorhanden sind, sich diese leichter organisieren und so eine lebendige öffentliche Sphäre entsteht. Zudem lässt sich auf Grund des interaktiven Austausches für die N u t z e r sehr viel besser erfassen, wie das persönliche oder auch weitere Umfeld über bestimmte politische Themen denkt und was für Aktivitäten stattfinden. Web 2.0 - konkret: Facebook, Twitter und Blogs - bildet so Seismographen für das Meinungsklima und das Stimmungsbild in der autokratischen Öffentlichkeit. Dazu kommt, dass aufgrund der transnationalen Vernetzung Botschaften ins Ausland transportiert werden und somit regional oder international Aufmerksamkeit erzeugen. Insbesondere über Videoportale dokumentierte Ubergriffe autokratischer Machtapparate entfalten durch ihre Visualisierung intensivere Wirkungen und produzieren oft - wenn auch kurzfristige - Empörungswellen gegen bestimmte Regime. Solche Informationen können auch intendiert über Grenzen hinweg in Echtzeit an die oppositionelle Diaspora, an die Gesellschaften in der Nachbarschaft, ja an die globale Öffentlichkeit gerichtet werden. Die Verbreitung und Ansteckung in der regionalen Umgebung oder auch auf globaler Ebene spielen eine besondere Rolle, da so die autokratischen Machthaber zusätzlich unter Druck geraten können. Das Potenzial zum U m s t u r z oder Regimewechsel hat sich 2011 in Tunesien und Ä g y p t e n gezeigt. Betrachtet man jedoch den Iran oder auch Bahrain im Kontext des arabischen Frühlings, dann drängt sich unweigerlich die Frage auf, warum in dem einen Fall die Revolte erfolgreich war und in dem anderen nicht. Das deutet auf zwei Aspekte hin: Zum einen spielen für das Zustandekommen und den Erfolg einer anti-autokratischen Protestbewegung neben dem Einsatz sozialer Medien auch andere Faktoren eine Rolle. U n d zum anderen scheinen die unterschiedlichen Befunde bezüglich des Erfolgs die These zu stützen, dass Medien zuvorderst eine verstärkende Wirkung einer ohnehin vorhandenen Protestbereitschaft besitzen, dass aber der Einsatz von Medien allein keinen gesellschaftlichen Widerstand gegen diktatorische Regime mobilisieren
Stütze oder Hilfe zum Sturz?
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kann. Zu beobachten ist auch, dass innovative Online-Techniken und traditionelle Offline-Strategien des Widerstands und Protests ineinandergreifen. Kurzum: Wenn in der Öffentlichkeit eine hohe Protestbereitschaft erreicht ist, dann vermögen digitale Medien die mobilisierten Bürger schneller und effektiver zu vernetzen, die Organisation von Protesten zu beschleunigen oder zu vereinfachen und vor allem auch die Ergebnisse schneller und breiter bekannt zu machen. Das Internet ist jedoch ein neutrales Medium, das auch für Autokraten ein attraktives Potenzial bereithält. Die N e t z n u t z u n g in Autokratien wie China, Kuba, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Singapur unterstreicht, dass die dortigen Machthaber demokratisch gesinnten N e t z p r o f i s hinsichtlich des technischen Erfindungsreichtums in nichts nachstehen und das N e t z für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren. Autokraten haben entdeckt, wie sie die neuen I K T insbesondere in zwei Bereichen einsetzen können, die wesentlich sind für das Sichern von Stabilität und Fortdauer des Regimes: die Kontrolle und Repression der Bürger und Dissidenten einerseits und die Legitimation des eigenen Regimes andererseits. Zum einen nämlich machen Strukturen von „vernetztem Autoritarismus" extensive und effiziente Formen sozialer Kontrolle möglich. Autokratische Systeme sind dank der neuen technologischen Möglichkeiten in der Lage, subtile Filter- und Zensursysteme einzusetzen, können sich selbst an der N e t z k o m m u n i kation beteiligen und so digitale N e t z w e r k e zum Kontrollinstrument oder gar zur Fahndung nach Netzdissidenten ummünzen. N e b e n solchen kruden Methoden wie das Blockieren des Zugangs, Zensur oder gar (temporäres) Abschalten des N e t z e s gibt es längst auch „soft control", bei dem die Machthaber nicht direkt das Individuum kontrollieren, sondern das U m f e l d (etwa die privaten Internetgesellschaften). Z u m zweiten nutzen autokratische Regime das Internet in vielfältiger Weise zur Herstellung von Legitimität. Mit e-government-Programmen bieten sie Dienstleistungen für Bürger und steigern so ihr Image als effektiv und bürgernah. D e s Weiteren gehen Autokratien zunehmend dazu über, Responsivität zu simulieren, indem sie Bürgern neue Beteiligungsmöglichkeiten wie elektronische Petitionen (e-petitions) bieten oder Regierungsblogs schalten, in denen sich Bürger äußern oder Anfragen an die Regierungen richten können. Längst gehören Chats mit den Regierenden ebenso zum Instrumentenkasten der Autokraten wie gelenkte Internetforen. Auf diese Weise verstand es die chinesische Führung im K o n t e x t der Spannungen mit Japan um den Kauf einiger Inseln sehr gut, den Bürgern Raum für nationalistische Gefühle zu geben. N a c h dem U n i t e d Nations Ε - G o v e r n m e n t Survey 2 0 1 0 rangieren Autokratien wie Singapur und Bahrain sogar vor Deutschland in Bezug auf die Einrichtung von e-participation. D i e neuen I K T eröffnen daher sowohl Möglichkeiten für die Befreiung von Autokratien als auch für subtile F o r m e n sozialer Kontrolle und innovative Legitimationsmechanismen
durch
Autokratien. Eine netzrealistische Sicht unterstellt, dass das Internet nicht einem einzigen Ergebnis - entweder Befreiung oder Kontrolle - zugeordnet werden kann. Eine neue SoftwareAnwendung, so erfindungsreich sie sein mag, hält nicht per se eine Lösungskompetenz für soziale oder politische Probleme bereit. Die maßgeblichen Kräfte für die Beendigung von Autokratien und für das Initiieren von Demokratisierungsprozessen sind die Akteure, also die Bürger, zivilgesellschaftliche Organisationen und Bewegungen, Parteien und Interessengruppen, freie (!) Medien sowie die relevanten politischen Eliten. Was die neuen Medien somit schaffen können, sind alternative Opportunitätsstrukturen für diese Akteure. Unbestritten aber nehmen Autokratien die neuartige Bedrohung wahr, die ihnen durch das Internet zuwächst. In China, Iran oder Kuba lässt sich gut beobachten, wie ernst die Führungen
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Marianne
Kneuer
das Internet und sein Potenzial nehmen, geschlossene Autokratien zu durchlöchern, und wie sie daher entsprechend darauf reagieren. U n d es fragt sich tatsächlich, wie sich auf Dauer - auch von noch so gut durchorganisierten Autokratien - die Dezentralität, aber auch die Verbreitungsschnelligkeit und Quantität der Internetkommunikation überblicken und vollständig kontrollieren oder manipulieren lässt. Gleichzeitig ist zu vermuten, dass Diktaturen auch hier Anpassungsfähigkeit an den Tag legen werden, indem sie ihre Methoden verändern und subtiler gestalten. Die Kontrolle des N e t z e s besitzt aber nicht nur eine nationale Dimension. In den erkennbar angestiegenen Bemühungen autokratischer Regime, ihre Ideen, Politiken und Prinzipien vor allem im regionalen U m f e l d zu fördern, spielen digitale Medien eine wichtige Rolle. Das Internet dient dazu, Techniken und Praktiken der Kontrolle und Legitimitätserzeugung zu verbreiten, nicht zuletzt über regionale Foren wie der Shanghai Kooperationsorganisation. Darüber hinaus nutzen Autokratien offensiv internationale Foren, um ihre Positionen stark zu machen. Die letzte Weltkonferenz der Internationalen Telekommunikationsunion (ITU) von 2012 geriet so zu einem Kalten Kriegs-Szenario im Wettstreit zwischen der freien und der nicht-freien Welt um die Kontrolle des N e t z e s . Es stoßen hier zwei antagonistische Visionen über die künftige Rolle des Internets aufeinander, bei denen eine einfache Lösung nicht absehbar sein dürfte. Zweifelsohne stellen digitale Medien, vor allem soziale Netzwerke, ein Instrument dar, dessen Wirkkraft alle bisherigen medialen Informations-, Mobilisierungs- und Vernetzungsmöglichkeiten überschreitet. Auf diese Wirkkraft können demokratische Gruppen zur Uberwindung autokratischer Systeme ebenso zurückgreifen wie Autokratien, um Opposition und Protest zu kontrollieren, zu infiltrieren und unterminieren. Das Internet ist ein neutrales Medium, das per se weder demokratiefreundlich oder -förderlich ist noch autokratiefeindlich. Es hat zu einer Effizienzsteigerung beigetragen - sowohl im Kampf gegen Diktaturen als auch bei deren Kontrollund Legitimationsmechanismen. Das N e t z hat für alle Seiten die Waffenstärke erhöht. Entscheidend aber für das Abschütteln von Diktaturen und die Entwicklung von Demokratien bleiben die Kontexte, in denen sich Widerstand formiert, und die Akteure, die ihn tragen und dann auch in der Lage sein müssen, nach dem Sturz einer Diktatur den Prozess der Demokratisierung zu gestalten. Befreiung, Freiheit und Demokratie sind Konzepte, die mit gesellschaftlichen und politischen Mitteln gesichert werden müssen. Digitale Medien können etliche Funktionen effektiver erfüllen, wie die Organisation des Protests, Information, Austausch und (transnationale) Vernetzung der Protestbewegung, auch den Aufstand gegen Diktaturen. Es ist jedoch (und es war auch schon vor der digitalen Ära) ein Trugschluss, Medien ein alleiniges Potenzial zur Lösung politischer Probleme inklusive Regimewechsel zuzuschreiben und ihre Wirkungsmacht damit zu hypostasieren.
Laurenz Lütteken
Wie zeitgemäß ist das Konzert? Ein Plädoyer für das musikalische Kunstwerk
D
ie amerikanische Fluggesellschaft .United' r ü h m t sich, ihre Gäste auf interkontinentalen Flügen mit einem umfangreichen Video- und Tonangebot zu unterhalten. Ü b e r 30 Filme werden in der jeweils aktuellen Kundenzeitschrift vorgestellt, hinzu k o m m t ein Audio-Programm mit 19 hochdifferenzierten Kanälen: '60s, '70s, '80s, Ambient, Easy listening, J-Pop und vieles mehr. Auch Minderheiten finden dort Berücksichtigung. So gibt es einen Kanal mit der Uberschrift .Classical', „featuring", so der Untertitel in einer eigenartigen Urbanen Koppelung, „compositions performed by orchestras f r o m N e w York to Stuttgart". Das, was gemeinhin .klassische Musik' oder, noch etwas banaler, ,E-Musik' heißt (und der Tendenz nach einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten umfasst), macht in diesem Spektrum, reduziert auf eine minimale Schwundstufe, gerade einmal fünf Prozent aus, die reich aufgefächerte Popmusik der letzten 40 Jahre hingegen die anderen 95 Prozent. Man kann und darf diesen Zustand durchaus beklagen, denn eine kostenbewusste, effizienzorientierte und, wie würde man gegenwärtig sagen, .zeitgemäße' Fluggesellschaft wird diese Entscheidung gewiss nicht willkürlich getroffen, sondern durch eine endlose Reihe von jenen statistischen Instrumenten gestützt haben, welche die Marktforschung für diese und noch ganz andere Fragen bereithält. Kurzum: diese beliebig gewählte Momentaufnahme spiegelt eine gesellschaftliche Wirklichkeit, in der das, was in etwas hilfloser Verlegenheit .klassische Musik' genannt wird, eine marginale Rolle nicht nur in der Verbreitung, sondern auch im Ansehen spielt. In der gegenwärtigen, medial aufgeheizten Vernarrtheit in superlativische Erlebnisrhetorik, in der es immer gleich um den schönsten Tag im Leben, den besten Song des Jahrzehnts oder den größten Film aller Zeiten geht, spielt Musik allenfalls noch als Spiegel von Gefühlsbekundungen
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Laurenz
Lütteken
eine Rolle. Und diese Wirklichkeit hat die .klassische Musik' längst eingeholt, geht es auch dort, sofern sie überhaupt noch wahrgenommen wird, allenfalls noch um Launen, Gefühle, Stimmungen. Musik ist freilich mehr als ein Instrument affektiver Steuerungen, es ist eine der faszinierendsten Tätigkeiten des denkenden und handelnden Menschen. Dies wusste man schon in der Antike, doch in den gegenwärtigen, von einer merkwürdigen historischen Unschärfe oder sogar Gleichgültigkeit durchtränkten Zeiten ist genau dieses Wissen entrückt, ja, es gilt oftmals sogar als suspekt. Selbstverständlich berührt Musik die Seele des Menschen, auf eine, allen neurobiologischen Anstrengungen zum Trotz, noch immer weitgehend rätselhafte Weise. Aber sie bewegt, wie es Boethius zu Beginn des 6. Jahrhunderts erstmals zu systematisieren versucht hat, gleichzeitig den Verstand, weil sie nicht einfach nur eine Gefühlsbekundung ist, jedenfalls dann nicht, wenn sie reklamiert, Kunst zu sein. D o c h sogar das Reden vom musikalischen Kunstwerk steht heute unter Generalverdacht, es gilt in Kontexten medialer Ausweitungen als elitär, als abgehoben, als „verkopft". Wer sich heute öffentlich über musikalische Zusammenhänge etwa mit jenem Maß an Fachterminologie verständigt, wie es Wirtschaftsfachleute über ihren Gegenstand in jeder Nachrichtensendung oder dem Ressort sogar einer kleinen Tageszeitung ganz selbstverständlich tun, dem wird der Vorwurf heillosen Spezialistentums und rücksichtsloser Abgehobenheit gewiss sein.
Ende der klassischen Musik? Die Folgen sind erstaunlich. In jüngerer Zeit mehren sich die Stimmen, die das Ende der sogenannten .klassischen Musik' einläuten, mit der Begründung, ihr komme in der nächsten Generation das Publikum abhanden. Schuld daran sei auch, dies eine mehrfach wiederholte und in einem 2009 erschienenen Sammelband erstmals lautstark geäußerte These, die völlig unzeitgemäß gewordene Form des Konzerts, das sich nach 130 Jahren überlebt habe und demnach von einer jüngeren Generation abgelehnt werde. Dieser vermeintliche Befund, auf vielen kulturwissenschaftlichen Foren wiederholt und vertieft, erweist sich als folgenreich. Allenthalben werden, in zeittypisch sich überstürzender, hektischer Lust neue, wie es so schön heißt, .Vermittlungsformen' generiert, neue mediality concepts, interdisziplinäre Klang- und Geräusch-Events, neue Perspektiven multimedialer Musikvermittlung, innovative Formen des crossover, embodiments, performativ-experimentelle Neubestimmungen des akustischen Erlebens usw. Die leichtfertige Diagnose, Dinge hätten sich nun einmal überlebt, gehört indes zu den topographischen Fixpunkten des Zeitgeistes - es gibt also Anlass genug, innezuhalten und noch einmal darüber nachzudenken.
Konzentrierte
Hingabe
Schon die flotte Standortbestimmung sollte einen zögern lassen. Das Konzert als Veranstaltungsform ist selbstverständlich viel älter als 130 Jahre, und es hat, unter den Zeichen merkantiler und damit nur noch vermittelt sozialer Interessen, ältere Formen der Musikwahrnehmung ersetzt. Diese Wahrnehmung ist aber seit dem späten Mittelalter und unter den Auspizien einer elabo-
Wie zeitgemäß ist das Konzert?
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rierten Polyphonie geprägt von der k o n z e n t r i e r t e n H i n w e n d u n g zu einem M u s i k s t ü c k , produziert von einem k o n z e n t r i e r t e n , einem professionell agierenden Gegenüber. D i e s e H i n w e n d u n g ist geprägt von einem Z u h ö r e n , das sich nicht im einmaligen A k t e r s c h ö p f t , auch n i c h t im bloß e n A u s k o s t e n der zweifellos vorhandenen W i r k u n g e n eines Musikstückes; das gab es zwar auch, unterlag aber zuweilen der Kritik und fand jedenfalls nicht den Weg in das schriftliche G e d ä c h t n i s . Die m e h r f a c h e H i n w e n d u n g bedeutet eine Investition von Zeit und Energie, durchaus auch v o n Kapital, was j e d o c h nicht der Erfahrung eines Verlustes g l e i c h k o m m t , im G e g e n teil. D i e i m m e r wieder herbeigeführte B e g e g n u n g mit dem M u s i k w e r k bedeutete eine Steigerung des G e n u s s e s , was sich keineswegs allein auf die affektive E r s c h ü t t e r u n g erstreckt. D i e ritualisierte F o r m des Z u h ö r e n s ist ein lange zurückreichender zivilisatorischer P r o z e s s , weswegen das K o n z e r t nicht etwa N e u e s geschaffen, sondern lediglich Bestehendes auf spezifische Weise verändert hat. D i e s e G r u n d d i s p o s i t i o n , die k o n z e n t r i e r t e H i n g a b e an M u s i k , die nicht einfach nur gefühlsmäßiger Berauschung dient, steht inzwischen u n t e r Generalverdacht. Es gilt als fremd, dass aus der B e g e g n u n g mit einem M u s i k w e r k nicht nur affektiver G e w i n n gezogen werden kann - und dass dieser G e w i n n mit jeder weiteren, aktiven oder passiven B e g e g n u n g z u n i m m t und unaufhörlich neue D i m e n s i o n e n erlangen kann. I m Leistungssport, dessen bedingungsloser medialer Präsenz man sich nicht einmal dann entziehen kann, wenn man den festen Vorsatz dazu hat, gilt die - bei n ü c h t e r n e r B e t r a c h t u n g - ebenso absurde wie lächerliche, aber mit v e r b i t t e r t e m Gesichtsausdruck und zum Z e r r e i ß e n gespannten M u s k e l n erzwungene A n s t r e n g u n g um H u n d e r t s t e l s e kunden (also ein Z e i t m a ß , das sich der W a h r n e h m b a r k e i t sogar entzieht) als v o l l k o m m e n selbstverständlich und u n a n g e f o c h t e n . Wer allerdings einklagt, auch K u n s t , auch M u s i k sei nicht einfach nur ein emotionales M ö b e l s t ü c k , sondern stelle eine - wenn auch ganz anders geartete H e r a u s f o r d e r u n g an den denkenden M e n s c h e n dar, der gilt als unzeitgemäß. N a t ü r l i c h bereitet M u s i k Freude, sie bewegt die Seele, und selbstverständlich erzeugt sie W i r k u n g e n . A b e r ein Ereignis d e r so viel gescholtenen I n s t i t u t i o n K o n z e r t besteht in der D o m e s t i z i e r u n g dieser Wirkungen - allerdings nicht, u m sie zu leugnen, sondern um sie zu korrelieren mit dem, was Musik darüber hinaus dem Verstand zu bieten hat. D i e A n s t r e n g u n g , einer B e e t h o v e n - S o n a t e aufmerksam zu folgen, ist g r o ß . A b e r sie zeitigt G e w i n n , Bereicherung, vielleicht sogar E r k e n n t n i s . U n d sie bleibt bei jeder neuen Begegnung mit derselben S o n a t e erhalten, sie verschleißt sich nicht, sondern ereignet sich stets auf einer anderen E b e n e . D e r erste Eindruck einer M o t e t t e von Guillaume Dufay, einer Sinfonie von A n t o n B r u c k n e r oder eines O r c h e s t e r s t ü c k e s v o n B e r n d Alois Z i m m e r m a n n kann fremd sein. Diese F r e m d h e i t dürfte aber bei näherer B e s c h ä f t i g u n g , bei jeder weiteren B e g e g n u n g einer neuen, wenn auch niemals rückhaltlosen N ä h e w e i c h e n , einem stillen E i n v e r n e h m e n , das nicht nur ein sinnliches, sondern auch ein intellektuelles Vergnügen bereitet. In einer ausufernden Wohlfühl-Industrie, in der M u s i k angeblich nur zu sich selbst k o m m t , wenn D J s von Scharen kreischender G r o u p i e s angestachelt werden, gilt die E r f a h r u n g solcher N a c h d e n k l i c h k e i t als zweifelhaft. D i e würdelose Selbstentäußerung im A n g e s i c h t einer akustischen Überwältigung, die auch im Ä u ß e r e n - also in der E r z e u g u n g v o n L ä r m - stets neue R e k o r d e erreicht, ist gegenwärtig u n a n g e f o c h t e n , sie hat längst auch den Bereich der .klassis c h e n ' M u s i k erfasst. Sie steht in keinem Verhältnis m e h r zu dem A n s p r u c h , dass M u s i k viel m e h r leisten kann und soll - und dass dieses , M e h r ' für den M e n s c h e n keine E i n s c h r ä n k u n g , sondern die E n t f a l t u n g unendlichen R e i c h t u m s bedeuten kann. D a m i t allerdings ist es endlich an der Z e i t , sich von den unentwegten und mit akribischer Lust geführten D i s k u s s i o n e n um .Vermitt-
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Laurenz
Liitteken
lungsformen' ab- und endlich wieder den Inhalten selbst zuzuwenden. Die Krise des gegenwärtigen Musiklebens ist nicht eine Krise der Generationen oder überlebter Darbietungsformen, sondern resultiert aus der gesellschaftlichen Achtung eines Musikbegriffs, der sich nicht nur auf emotionale Entäußerung begrenzt. In keiner Phase der Geschichte war es dem Menschen so leicht möglich, sich klingende Musik verfügbar zu machen, sie zu vergegenwärtigen. Und zugleich war es ihm nie zuvor möglich, die unterschiedlichsten akustischen Erfahrungen aus weit entfernten Zeiträumen vergleichend wahrzunehmen, sie miteinander zu verbinden - und aus dieser kontrastiven Erfahrung Gewinn zu ziehen. D e m Konzert, das sich der technischen Reproduzierbarkeit schon in seiner ritualen Grunddisposition entzieht, kommt vor diesem Hintergrund jedoch eine besondere, eine neue Bedeutung zu: es ist der abgegrenzte Raum der konzentrierten, alltagsenthobenen Musikerfahrung, begrenzt auf den ritualisierten Moment der Hinwendung an ein Werk, an ein Repertoire, an einen Zusammenhang.
Der erfüllte Augenblick In Zeiten unentwegter Präsenz von Bild und Ton liegen jedoch gerade hier, in der neu gewonnenen Aussparung, die Wandlungen und Möglichkeiten der Form des Konzerts begründet. War es ursprünglich der Moment erfüllten Klangs in einer vergleichsweise .stillen' Umgebung, so repräsentiert es nun den Moment des konzentrierten, erfüllten Augenblicks, des Innehaltens in einer reizüberfluteten Alltagswelt. Es wäre folglich an der Zeit, die damit verbundene Form der musikalischen Erfahrung nicht mehr - simplen und nur vermeintlich logischen Marktgesetzen folgend - als antiquiert zu betrachten, sondern in einer großen, neuen Anstrengung als Chance der Gegenwart zu begreifen. Wenn es, dies mag verwegen klingen, gelingt, von der Diskussion über die .Vermittlungsformen' wieder zu den Inhalten selbst zurückzufinden, dann dürfte sich der Stellenwert auch der sogenannten .klassischen' Musik, auch der mit ihr verbundenen Darstellungsform wieder verändern. Die konzentrierte Hinwendung an Musik ist keine Strafe, kein Relikt, sondern ein menschliches Privileg, sie ist eine große, nie auszuschöpfende Bereicherung. Es wäre an der Zeit, nicht nach Ersatz zu suchen, sondern genau dafür wieder zu werben, nicht bloß in pädagogischen, sondern auch in gesellschaftlichen Kontexten: dass Musik nicht allein Gefühl ist, und dass die Auseinandersetzung mit Musik ein anstrengender, aber in seiner Unaufhörlichkeit unendlich bereichernder Prozess ist. Dessen eingedenk dürfte die Form des Konzerts wieder eine Zukunft finden, eine Zukunft, deren Privileg es ist, im klangvollen Augenblick die vollkommene, die erfüllte Gegenwart zu erzeugen. Das mag illusorisch erscheinen, weil es den gegenwärtigen Mechanismen der medialen Steuerung entgegensteht. Doch um so notwendiger ist es, diese Möglichkeit zu erwägen. Vielleicht gilt dann eines Tages sogar auf Flugreisen die konzentrierte Hinwendung zur Musik nicht mehr als Relikt einer rückständigen Minderheit, sondern als Möglichkeit, dem plötzlichen Überschuss an Zeit, den so eine Reise beschert, mit jenem erfüllten Augenblick zu begegnen, den die Erfahrung des musikalischen Kunstwerks bereithält.
Evgeny Morozov
Der wahre Geist in der Maschine Schwächen der Technologiekritik
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m Jahr 1981 veröffentlichte Raymond Carver einen Kurzgeschichtenband mit dem Titel „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden". Z u r Freude seiner Schriftstellerkollegen war seine A n t w o r t nicht besonders aufschlussreich. K o m m t man weiter, wenn man die gleiche Frage über Technologie stellt? Ist eine kritische Haltung zur Technologie überhaupt möglich, ohne nach einer A n t w o r t auf diese Frage zu suchen? U n d wovon reden wir wirklich, wenn wir von Technologie reden? Wenn man dem Silicon Valley und seinen Claqueuren glaubt, dann geht es bei Technologie um Innovation, Fortschritt und Emanzipation. Wer etwas gegen Technologie einwendet, hat sich offensichtlich einer reaktionären, anti-fortschrittlichen Weltsicht verschrieben, die den Geist der Aufklärung beleidigt. Die meiste Kritik an den Machtansprüchen des Silicon Valley läuft ja auch auf blutleere Strafpredigten hinaus, in denen das unvermeidliche Ende der Zivilisation prophezeit wird, das dann doch nicht k o m m t . Dabei geht es u m viel mehr als nur um Technik. Die Protagonisten des digitalen Strukturwandels haben sich selbst zu den wahren Erben der Aufklärung ernannt. Immerhin organisieren sie ja das gesamte Weltwissen. U n d Technologie an sich hat die Menschheit natürlich immer schon weitergebracht. Deswegen f ü h r t das Silicon Valley so ziemlich jede moderne Errungenschaft ins Feld, egal o b Impfungen oder Weltraumfahrt, um damit einen H a u f e n pseudorevolutionärer, moralisch zweifelhafter Projekte zu rechtfertigen. Das ist eine bizarre Argumentation, weil die Verallgemeinerung des Begriffs Technologie davon ablenkt, dass sich hier grobe Denkfehler einschleichen. Man kann Technologie an sich nicht entweder lieben oder hassen. Die Vorteile der Zahnheilkunde für die Zivilisation sagen uns nichts über die Wunder des Data-Mining. Aber weil die Medien so gerne Technikfeinde gegen Technophile ausspielen, verzerren sie die Debatte mit alarmistischen Schlagzeilen noch weiter.
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Evgeny Morozov
W i r b r a u c h e n a b e r eine realistische T e c h n o l o g i e k r i t i k . S e n s o r e n , A l g o r i t h m e n u n d D a t e n s p e i c h e r spielen in i m m e r m e h r Bereichen unseres L e b e n s eine i m m e r g r ö ß e r e Rolle. Es bringt n i e m a n d e n weiter, e i n e v o n M a s c h i n e n u n d Technik u n b e r ü h r t e V e r g a n g e n h e i t zu v e r k l ä r e n . D i e s e m y t h i s c h e , v o r t e c h n o l o g i s c h e Welt gibt es nicht mehr, u n d vielleicht w a r sie ja a u c h gar nicht so rein, g e r e c h t u n d w u n d e r b a r , w i e sich T e c h n o l o g i e g e g n e r das so vorstellen. Eine d u r c h t e c h n i s i e r t e M o d e r n e steht f o r t s c h r i t t l i c h e n u n d d e m o k r a t i s c h e n Idealen gar nicht a u t o m a t i s c h feindlich g e g e n ü b e r . W i r m ü s s e n n u r b e g r e i f e n , dass w i r das viel b e s c h w o r e n e b e f r e i e n d e P o t e n z i a l d i e s e r T e c h n o l o g i e n an diesem P u n k t der G e s c h i c h t e nicht a u s s c h ö p f e n u n d n u t z e n k ö n n e n . N i c h t , s o l a n g e das globale politische u n d ö k o n o m i s c h e K l i m a d e n Sozialstaat u n d d i e Idee der ö f f e n t l i c h e n G ü t e r i n f r a g e stellt u n d p o l i t i s c h e s F l i c k w e r k über S t r u k t u r r e f o r men triumphiert. W o v o n reden w i r also - und mit „wir" m e i n e ich f o r t s c h r i t t l i c h e Kritiker m i t w e n i g G e d u l d f ü r den R o m a n t i z i s m u s u n d K o n s e r v a t i s m u s der T e c h n o l o g i e - B a s h e r - , w e n n w i r ü b e r Technologie r e d e n ? Sicherlich n i c h t v o n d e r D i a l e k t i k von I n n o v a t i o n , F o r t s c h r i t t und A u f k l ä r u n g , w i e es das Silicon Valley gern hätte. N e i n , für jeden w i r k l i c h d e m o k r a t i s c h gesinnten K r i t i k e r ist „Technol o g i e " längst ein e n t p o l i t i s i e r t e r E u p h e m i s m u s f ü r das neoliberale R e g i m e selbst. Technologie h e u t e a n z u g r e i f e n , h e i ß t nicht, die A u f k l ä r u n g , s o n d e r n d e n N e o l i b e r a l i s m u s a n z u g r e i f e n . B e t r a c h t e n w i r das G r u n d m u s t e r einer digitalen Welt, die sich gerade s p r u n g h a f t w e i t e r e n t w i ckelt: A l l e E r r u n g e n s c h a f t e n d e r S o z i a l d e m o k r a t i e - G e s u n d h e i t s w e s e n , B i l d u n g , ö f f e n t l i c h e r Verkehr, die F ö r d e r u n g der K ü n s t e - w e r d e n von d e r Verbreitung hochpersonalisierter, A p p b a s i e r t e r L ö s u n g e n i n f r a g e gestellt und von e i n e m D e n k e n , das b ü r o k r a t i s c h e I n s t i t u t i o n e n losw e r d e n und d u r c h ein h o r i z o n t a l organisiertes M a r k t g e s c h e h e n ersetzen w i l l . U n t e r diesem n e u e n R e g i m e k ö n n e n w i r z u m Beispiel u n s e r e G e s u n d h e i t m i t S m a r t p h o n e s ü b e r w a c h e n - u n s e r e n Schlaf, unsere E r n ä h r u n g u n d u n s e r e B e w e g u n g s g e w o h n h e i t e n . A p p s k ö n n e n uns besser als d i e meisten Ä r z t e sagen, w i e w i r g e s u n d bleiben oder w e r d e n . Das hat alles noch k e i n e s i c h t b a r e n g e s e l l s c h a f t l i c h e n Folgen, aber trivial ist das nicht: D i e A p p i f i z i e r u n g v o n P r o b l e m l ö s u n g e n r e d u z i e r t G e s u n d h e i t v o m T h e m a f ü r P o l i t i k u n d Ö f f e n t l i c h k e i t zur P r i v a t a n g e l e g e n h e i t . A u s B ü r g e r n w e r d e n a n o n y m e K o n s u m e n t e n , die ihren Körper je n a c h e i g e n e n M i t teln u n d M ö g l i c h k e i t e n i n s t a n d halten k ö n n e n . Das A l l g e m e i n w o h l hat in so einem U m f e l d k e i n e n Platz. G e s u n d h e i t ist Sache des E i n z e l n e n , nicht d e r G e m e i n s c h a f t . U n d jetzt, da G o o g l e das g e s a m t e W e l t w i s s e n organisiert hat, lässt sich n u r n o c h s c h w e r r e c h t f e r t i g e n , dass m a n nicht w e i ß , w a s e i n e m gerade die B a u c h s c h m e r z e n v e r schafft. Sich in diesem Fall g e g e n „Technologie" zu w e h r e n , h e i ß t aber eben nicht, sich der W i s s e n schaft oder der A u f k l ä r u n g zu v e r w e i g e r n . Es h e i ß t g a n z e i n f a c h , sich gegen neoliberale L o g i k zu w e h r e n . Es h e i ß t auch a n z u e r k e n n e n , dass ein A n w a c h s e n verlässlicher I n f o r m a t i o n e n nicht z w a n g s l ä u f i g zu e i n e m A n s t i e g der L e b e n s q u a l i t ä t führt, s o n d e r n auch den g e g e n t e i l i g e n E f f e k t haben kann. G e n a u s o w e n i g hat die g e g e n w ä r t i g e Kritik an O n l i n e k u r s e n , den so g e n a n n t e n M a s s i v e O p e n O n l i n e C o u r s e s ( M O O C s ) e t w a s mit T e c h n o p h o b i e zu t u n . V i e l m e h r s t e c k t h i n t e r dieser Krit i k die Sorge u m eine Z u k u n f t , in der B i l d u n g noch als ö f f e n t l i c h e s Gut gilt, das nicht v o l l s t ä n dig auf M a r k t b e z i e h u n g e n r e d u z i e r b a r ist. Das Silicon Valley u n d viele N e o l i b e r a l e b e t r a c h t e n die U n i v e r s i t ä t als g r o ß e R e s s o u r c e n v e r s c h w e n d u n g . D i e A u s b i l d u n g dauert z u lang, sie ist zu t e u er u n d fördert alle m ö g l i c h e n gefährlichen (sprich: n u t z l o s e n ) Ideen, die auf d e m M a r k t nicht
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gebraucht werden. Die Fähigkeiten, die man für den Markt braucht, kann man sich online über Videos aneignen. Die meisten Universitäten, die sich in die etwas unklare M O O C - V i s i o n verrannt haben, werden erst einmal überleben. Aber wie lange? Man weiß, was die Begeisterung für Klickzahlen und Seitenaufrufe inzwischen für die Qualität des Journalismus bedeutet. Wollen wir, dass die Bildung vom selben Schicksal ereilt wird? Dann kann man sich bald von Lateinseminaren oder Kursen zur Astronomiegeschichte verabschieden. Die einzigen Wahlmöglichkeiten sind dann wahrscheinlich Jura, Maschinenbau und BWL. Was geschieht dann mit den Tausenden hochqualifizierten Akademikern, die nicht das Glück haben, am MIT, in Stanford oder an der Sorbonne zu unterrichten, und deren Kurse und Vorlesungen durch M O O C s von Superstar-Professoren ersetzt würden? U n d wichtiger noch, was passiert mit ihrer Forschung, wenn sie ihre Vollzeit-Lehrpositionen verlieren? N u r die Narren des Silicon Valley mit ihrem vulgären Utilitarismus, der nicht zwischen Disziplinen differenziert, können glauben, dass es immer ein Fortschritt ist, wenn man mehr Möglichkeiten zur Informationsverbreitung schafft. Aber wenn diese neuen Möglichkeiten dazu führen, dass andere Methoden, Wissen zu produzieren und zu fördern, zerstört werden, dann ist noch ein MaschinenbauOnlinekurs mehr vielleicht keine so gute Idee. Ähnlich fragwürdig sind all die Dienste wie Carsharing-Services oder die Zimmervermittlungswebseite „AirBnB", die sich unter das lächerliche Label der „Sharing Economy" drängen. Ihr Erfolg unterläuft die Regulierung und Kontrolle von Branchen wie dem Transport- und Hotelgewerbe. Denn mit den allgegenwärtigen Internetverbindungen und den Bewertungssystemen der sozialen Netzwerke sind Märkte für Informationen entstanden, mit denen man die öffentlichen Institutionen und ihre obskuren bürokratischen Regulierungen umgehen kann von Kurtaxen über Anti-Diskriminierungsgesetze bis hin zur Regulierung dynamischer Preissysteme. Die Propheten der „Sharing Economy" haben schon recht: Mit der Währung „Information" kann alles zu potenziell liquidem Kapital werden. Man kann damit Geld verdienen, dass man seine Autos vermietet, seine Wohnungen, Werkzeuge, Bücher, Träume. Was uns auch ständig daran erinnert, dass wir nur unserem eigenen Geldbeutel schaden, wenn wir uns weigern, das Spiel des Teilens mitzuspielen. So wird ein Smartphone zum klingelnden Echtzeitrechner, der den Kurswert unseres Lebens bestimmt und uns deutlich macht, wie viel es wert sein könnte, wenn wir zum richtigen Zeitpunkt das richtige Geschäft machen. Das hat aber zur Folge, dass sich die neoliberale Logik bis in die privatesten Ecken unseres Lebens drängt. Das ist das, was der Wirtschaftshistoriker Philip Mirowski „Alltags-Neoliberalismus" nennt. Das ist der Kern des Euphemismus „Technologie". Wenn Technologiekritik heute relevant bleiben will, muss sie mit den rhetorischen Spielchen aufhören, die das Silicon Valley schon lange gewonnen hat. Heute von Technologie zu reden, heißt nicht mehr, die Entfremdung der Menschen zu beklagen, den Niedergang des kritischen Denkens oder die Seichtigkeit von Kommentaren auf Twitter. Das ist ein müßiges, längst erledigtes Projekt, auch wenn miesepetrige Kulturkritiker auf beiden Seiten des Atlantiks immer noch versuchen, diese Debatte am Leben zu erhalten. Eine starke Technologiekritik sollte heute zuallererst eine Kritik des Neoliberalismus sein. Eine solche Neuausrichtung allein mag nicht viel bewirken, aber sie würde zumindest die ewigen Apologeten der digitalen U m w ä l z u n g dazu zwingen, sich klare Antworten für die Frage zu über-
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legen, w a r u m man nicht m e h r f ü r öffentliche G e s u n d h e i t s - u n d Bildungssysteme k ä m p f e n soll. U n d mit etwas Glück u n d P r o v o k a t i o n wird der Ö f f e n t l i c h k e i t nicht gefallen, was sie zu h ö r e n b e k o m m t , w e n n „ I n n o v a t i o n " u n d „ A u f k l ä r u n g " nicht m e h r die Schlüsselwörter der D e b a t t e sind.
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ie Philosophen waren sich in nichts so einig und zugleich uneinig wie in Bezug auf das Glück - ein Thema, das vor allem in ihren ethischen und politischen Schriften zur Sprache kam. Dabei fand der Satz „Alle Menschen streben nach Glück" allgemeine Zustimmung. Eine der wenigen Ausnahmen war Friedrich Nietzsche, der behauptete: „Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer tut das." (Götz; KSA 6, 61) Damit wandte sich Nietzsche spöttisch gegen die Utilitaristen und deren Spruch vom größten Glück der größten Zahl. Schaut man sich jedoch in Nietzsches Schriften um, ist auch bei ihm oft vom Glück die Rede, allerdings nicht vom Glück der Massen, das er als das Glück jenes Menschentypus beschreibt, den er als den „letzten Menschen" charakterisiert. Das Glück, das Nietzsche im Auge hat, ist etwas durch und durch Individuelles, dessen Erlebnis- und Gefühlsqualität in einem strikten Sinn subjektiv und daher nicht verallgemeinerbar ist. Mitteilbar ist dieses hoch emotionale Glück n u r lyrisch, so wie in Nietzsches „Gondellied" das beobachtende Ich eine N a c h t in Venedig „zitternd vor bunter Seligkeit" erlebt. Alle Menschen streben nach Glück - darin sind die Philosophen sich wie gesagt einig. Doch was genau es ist, das die Menschen unter dem N a m e n „Glück" erstreben, und wie sich dieses Ziel erreichen lässt, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. U m s o erstaunlicher ist es, dass das Glücksstreben als solches von philosophischer Seite nicht als sinnlos deklariert wird. Wie lässt sich dies erklären? H e u t e können sich die Glücksforscher auf Statistiken stützen, die auf repräsentativen Befragungen beruhende empirische Resultate liefern. Die klassischen Philosophen verfügten nicht über solches Material. Sie verließen sich auf den C o m m o n Sense, wie er sich auch in Sprichwörtern und Redewendungen artikuliert. „Glück gehabt" sagen wir im Deutschen, wenn einem unversehens etwas Gutes widerfährt oder man einer Gefahr entronnen ist. Das Glück-haben geht auf den alten Mythos zurück, dass die Göttin Fortuna im Besitz eines Füll-
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horns war, dessen Glücksgüter sie den Menschen zuteil werden ließ, allerdings nicht nach Absicht und Verdienst, sondern nach purem Zufall. Das Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied" bezieht sich hingegen auf ein machbares Glück. Im Unterschied zum Fortuna-Glück, auf das man meistens vergeblich hofft, ist das H u f eisenglück durch persönliche Anstrengungen erreichbar. Man muss nur seine Ziele unter Einsatz aller Kräfte beharrlich verfolgen, dann wird sich auch irgendwann der Erfolg einstellen - und damit der Stolz, ohne fremde Hilfe, allein aus eigener Kraft sein Glück gemacht zu haben. D e r einzige Beistand, der in der griechischen Antike gelegentlich bei riskanten Unternehmungen in Anspruch genommen wurde, war das Orakel, das befragt wurde, ob das, was man sich vorgenommen hat, glückt, oder ob man in sein Unglück rennt. Mundartlich, so kann man festhalten, wird zwischen einem kurzfristigen, durchaus heftigen, berauschenden Glück und einem dauerhaften Glück unterschieden, wobei das auf Dauer stabile Glück der Eigenleistung zugeschrieben wird. Die Frage ist nun, ob die alltagssprachlichen Redewendungen über das Glück ausreichen, um dem Satz „Alle Menschen streben nach Glück" eine solide Grundlage zu geben. Das ist ersichtlicherweise nicht der Fall, selbst wenn es gelänge, sämtliche Alltagsweisheiten über das Glück zu sammeln, reicht dies nicht zur Begründung des All-Satzes. Woher nahmen die Philosophen aber dann die Gewissheit, dass der Satz wahr ist, obwohl empirische All-Aussagen jederzeit falsifizierbar sind? Die Antwort auf diese Frage findet man in der klassischen Definition des Menschen, die besagt: homo est animal rationale, der Mensch ist ein vernunftbegabtes Lebewesen. Als Lebewesen sind wir, um zu überleben, darauf angewiesen, dass wir unsere elementaren Bedürfnisse befriedigen können. Der Körper muss ernährt und gehegt und gepflegt werden, um sich am Leben zu erhalten, und wenn dies gelingt, stellen sich Lustgefühle ein, die dazu beitragen, dass das Lebewesen Mensch mit sich zufrieden und glücklich ist. Nun wurde aber der Körper von den meisten klassischen Philosophen rigoros abgewertet. Als Lebewesen teilt der Mensch nämlich die Animalität mit anderen, tierischen und pflanzlichen Organismen, denen er als Mensch nur aufgrund seiner Rationalität, seiner geistigen Fähigkeiten überlegen ist. Das antike Menschenbild, das seine Fortsetzung im Christentum fand, ging von einer Zweiteilung aus: Auf der einen Seite der Körper als Inbegriff des Materiellen, auf der anderen Seite die Seele als Inbegriff des Geistigen. Die Seele konnte ihre Dominanz nur durch Unterwerfung des Körpers unter Beweis stellen, den sie als bloßes Bündel von Begierden, Trieben und Affekten unendlich verachtete. Für die menschliche Seele war es unerträglich, in einem vergänglichen Körper residieren zu müssen. Als geistige Instanz war sie zutiefst unglücklich über ihren Aufenthaltsort, sie empfand den Körper als Gefängnis, wie es die Pythagoreer auf die Kurzform brachten: soma - sema = der Körper ist das Grab der Seele. Um das Eingekerkertsein, die Inkorporation des Geistes ertragen zu können, musste der antike Mensch erstens einsehen, dass die Verkörperung der Seele eine lebenslängliche Strafe für schuldhafte Verfehlungen in einem voran gegangenen Leben war. Er hatte also aufgrund seiner Wertschätzung für materielle Dinge sein Unglück selbst verursacht. Zweitens konnte sich der Sträfling nur rehabilitieren, wenn es ihm gelang, die alten Fehler zu vermeiden, indem er in allem, was er dachte, fühlte, wollte und tat, dem Geistigen den Vorrang vor dem Sinnlich-Materiellen gab. Schaffte er dies, durfte seine Seele sich nach dem Tod des Körpers auf die Insel der Seligen oberhalb des Himmels begeben, um dort unbeschwert und immateriell wie der G o t t in alle Ewigkeit die Freuden des Geistes zu genießen.
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Das Christentum hat die Verachtung der Materie von den Griechen übernommen und wie diese den Aufenthalt des Geistes in einem sterblichen Körper als Folge einer Schuld, eines Sündenfalls gedeutet. Anstatt sich für das reine Geistprinzip des körperlosen, unsichtbaren Gottes zu entscheiden, hätten die ersten Menschen mit dem Biss in den Apfel als Repräsentant der ihnen von der Schlange verheißenen sinnlichen Freuden das Körperlich-Materielle vorgezogen. Konsequenterweise wurde die Bestrafung dann auch am Körper vollzogen, dessen U n g l ü c k sich darin manifestierte, dass er von nun an Krankheiten und Schmerzen erdulden, einen Prozess zunehmenden Verfalls durchlaufen und am Ende untergehen musste. Im griechisch-christlichen Körperbild stellt der Körper als opake schmutzige Masse und wertlose Materie einen äußersten Gegensatz zum reinen, transparenten Geist dar. All die über Jahrhunderte propagierten rituellen Waschungen und Selbstkasteiungen, die Züchtigungen und Geißelungen bis aufs Blut sind einerseits ein Indiz für die Geringschätzung der physischen N a t u r des Menschen und weisen andererseits den Weg, wie der Geist sein Glück findet, indem er den Makel des Körpers durch systematisch betriebene Reinigungsprozesse und Hygienemaßnahmen zur Beseitigung des Unreinen eliminiert. Francisco de Goyas berühmtes Bild „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer" macht anschaulich, was aus der Sicht der Philosophen der Körper an Schrecklichem beherbergt, das nur durch die Kontrolle der Vernunft im Zaum gehalten wird und ungehemmt aus ihm heraus kriecht, sobald diese Kontrolle nachlässt. Uber zweieinhalb Jahrtausende prägte das griechisch-christliche Körperbild die Moral. Das allseits gepriesene Glück der Seele musste mit dem Unglück des Körpers erkauft werden. Doch es gab auch Versuche, dem Körper mehr Gewicht zu verleihen, im Zuge des Hedonismus etwa, der um Ausgleich bemüht war zwischen den geistigen Ansprüchen der Seele und den körperlichen Bedürfnissen, aber er konnte sich nicht durchsetzen, seine Vertreter wurden gar als Lustpropagandisten verhöhnt. Erst in der Neuzeit, mit Descartes und den französischen Materialisten begann man sich für die Leistungen des Körpers zu interessieren, doch weniger um des Körpers willen als um eine Lösung auf die Frage zu finden, wie man sich eine Kooperation von Körper und Seele vorstellen kann. Schließlich musste der Körper als Lebens-, ja Uberlebensmaschine optimal gewartet werden, weil sonst die Aktivitäten der Seele litten, was mit einer Glückseinbuße einher ging. Wird die Seele zu sehr abgelenkt durch körperliche Beeinträchtigungen wie überschießende Emotionen oder starke Schmerzen, kann sie sich ihren geistigen Interessen nicht widmen. Daher richtet sie Kontrollmechanismen ein, mittels welcher sie den Körper überwacht und durch Unterdrückung der in ihm hausenden Ungeheuer im Gleichgewicht hält. Aber sie tut dies um ihretwillen und nicht um des Körpers willen, dessen Glücksempfindungen sie eher stören als beflügeln. Wenn wir einen Blick auf die heutige Zeit werfen, fällt auf, dass Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung nach wie vor als Glücksförderer gelten. Man muss sich in unserer komplexen Lebenswelt auf vielfältige Weise organisieren und die entsprechenden Tagesstrukturen festlegen, um den Anforderungen von Beruf, Familie und Eigeninteressen gerecht zu werden. Intensive Körperpflege und diverse Wellness-Angebote sollen die Maschine ebenso fit halten wie sportliche Betätigungen, die sich nicht in ein paar Kniebeugen oder Liegestützen erschöpfen, sondern bis zu paramilitärischen Übungen im Programm eines Ganzkörpertrainings gehen können. Die Devise lautet: N o body is perfect. Was gut für den Körper ist, bestimmt der Geist, der erstaunt zur Kenntnis nimmt, dass sein Knecht trotz aller Bemühungen um ihn manchmal schlapp macht und
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ausgebrannt seinen Dienst verweigert, weil auf seine Bedürfnisse keine Rücksicht genommen wird. D e m Unglück des Körpers versucht der verständnislose Geist durch kosmetische Eingriffe, Body Painting und genetische Optimierung („enhancement") abzuhelfen, die auf einen geformten, designten Körper abzielen, der intellektuellen und ästhetischen Ansprüchen genügt. Die Frage, ob dem Körper dies gefällt, wird gar nicht erst gestellt, er hat sich dem ihm übergestülpten Modell anzupassen. Vielleicht deutet die sich weltweit ausbreitende Fettleibigkeit als Indiz für ein überbordendes Glück des Bauches nicht nur auf ein falsches Konsumverhalten hin, sondern auch auf einen Protest des Körpers, der sich den Schablonen, in die er gepresst werden soll, eigensinnig widersetzt und auf sein eigenes Glück pocht. Dieser Eigen-Sinn, mit dem sich der Körper gegen die ihm einverleibten Körperbilder zur Wehr setzt, kann bis zum Exzess gehen, wie das monströs wuchernde, aufgequollene Fleisch der auf Francis Bacons Gemälden dargestellten Figuren es veranschaulichen. Man muss lernen, in seinen Körper hinein zu horchen, die Stimmen, mittels welcher Kopf, Herz, Bauch und Hand ihre Glücksansprüche anmelden, voneinander zu unterscheiden und miteinander in Einklang zu bringen. Wer sich auf diese Art von body talk versteht, wird sich mehr und mehr in jene Haltung einüben, die der oft missverstandene Hedonismus Epikurs und seiner Anhänger empfohlen hat: Er zielte keineswegs auf hemmungslosen Genuss um des Genusses willen. Vielmehr bezeichnete das griechische Wort hedoné - das meistens mit „Lust" übersetzt wird und uns Nachfreudianer gleich an Wollust denken lässt — , ein ganzheitliches Wohlbefinden, das einen Zustand beschreibt, in dem weder der Geist noch der Körper zu kurz kommt oder übermäßig privilegiert wird. Im Zentrum des Hedonismus stand daher der Begriff des Maßes. Das richtige Maß sorgt für die Balance zwischen einem Zuwenig und einem Zuviel, und wer es schafft, sein individuelles Maß zu finden, ohne ständig in der einen oder anderen Richtung über das Ziel hinauszuschießen, ist ein ausgeglichener Mensch, der in Kenntnis seiner Höhen und Tiefen um Ausgewogenheit kämpft und jedes Mal, wenn ihm dies gelingt, Freude empfindet, Glück, Zufriedenheit. Dass die meisten Philosophen dem Körper kein Mitspracherecht bei der Glücksproduktion zuerkannten, ist letztlich darauf zurück zu führen, dass für sie physisch empfundenes Glück flüchtig und vergänglich war wie alles Stoffliche, wohingegen ihnen das Glück der Seele ungleich erstrebenswerter schien, da deren Unsterblichkeit eine ewige Seligkeit versprach - ein alle Zeiten überdauerndes, immer währendes Glück. Die Glücksauffassung der Utilitaristen kann man zwischen den idealistischen Konzepten metaphysisch-christlicher Denker und den am Paradigma des Organismus abgelesenen Vorstellungen der Hedonisten ansiedeln. Die Utilitaristen waren Pragmatiker, sie wollten das Glück berechenbar machen, um ihre These zu stützen, dass unser Begehren erst dann befriedigt ist, wenn wir durch unser Handeln jene Ziele erreichen, die größtmögliche Befriedigung verheißen. Wie es ihr Name besagt, definierten die Utilitaristen - allen voran die englischen Philosophen Jeremy Bentham und J o h n Stuart Mill - Glück als Nutzen. Wenn wir etwas wollen, empfiehlt es sich, bevor wir zur Tat schreiten, einen Nutzenkalkül durchzuführen, in dem wir jeden Schritt so planen, dass am Ende ein maximaler Gewinn herausspringt. Auch die Utilitaristen setzen demnach auf die Ratio des animal rationale, um das Glück zu fördern, aber anders als ihre idealistischen Vorgänger bauen sie nicht auf das gesamte Vernunftvermögen, sondern ausschließlich auf den zweckrational überlegenden Verstand, der strategisch operiert, indem er Nutzenquanten optimiert.
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D e r N u t z e n k a l k ü l gehört zum Typus des machbaren G l ü c k s . Wie der S c h m i e d muss auch der G l ü c k s s c h m i e d sein Material genau kennen und sich die erforderlichen I n s t r u m e n t e zulegen, um ein symbolisches H u f e i s e n zustande zu bringen. A u ß e r d e m muss er über eine gewisse Kunstfertigkeit im U m g a n g mit dem Material verfügen, um an sein Ziel zu gelangen. D a s selbst gemachte, durch eigene Leistung produzierte G l ü c k ist ein materielles G u t , dessen Wert sich taxieren lässt. D e r Utilitarist begehrt das G l ü c k in Gestalt von G l ü c k s g ü t e r n , die sein Leben v o r allem in materieller H i n s i c h t bereichern sollen. Was diesem Ziel n ü t z t , trägt zu seinem Wohlstand bei, was ihm schadet, ist unbedingt zu vermeiden, da es dem G l ü c k abträglich ist. Zwar spielt der N u t z e n k a l k ü l zweifellos eine wichtige Rolle für ein gutes L e b e n . Allerdings haben die Bankencrashs in den letzten J a h r e n und die D e b a t t e n um die Spitzenlöhne der M a n a ger gezeigt, wohin es führt, wenn die N u t z e n m a x i m i e r u n g verabsolutiert wird. N i c h t von ungefähr wurde das G e b a r e n m a n c h e r der ö k o n o m i s t i s c h e n Ideologie Verfallenen mit der Spielsucht von Glücksspielern verglichen, die im C a s i n o riesige S u m m e n v e r z o c k e n , in der festen U b e r z e u gung, dass ein gewaltiger G e w i n n sie für ihren E i n s a t z belohnen wird. Sie haben das machbare G l ü c k mit dem F o r t u n a - G l ü c k verwechselt, indem sie sich selbst an den Schalthebeln der G l ü c k s p r o d u k t i o n wähnten, in Wirklichkeit aber dem Zufall das Steuer überließen. D i e von den G l ü c k s r i t t e r n als N e i d d e b a t t e verharmloste K r i t i k des entgleisten Utilitarismus hat zweierlei zutage gefördert. E r s t e n s , dass nicht die Verursacher des Schadens die Z e c h e bezahlen mussten, sondern die Steuerzahler, die dadurch erhebliche G l ü c k s e i n b u ß e n erlitten. Zweitens dass der Vorwurf der G i e r rasch mit dem G e g e n v o r w u r f des N e i d s gekontert wurde. Vergessen wurde dabei j e d o c h , dass man in einem fairen W e t t b e w e r b das G l ü c k nicht auf K o s ten des G l ü c k s anderer erstreben darf. S o n s t entsteht kein N e i d , sondern ein G e r e c h t i g k e i t s p r o blem, das dem Z u s a m m e n h a l t einer auf d e m o k r a t i s c h e n Prinzipien beruhenden Gesellschaft abträglich ist. H i e r k o m m t nun als Alternative eine Glücksauffassung ins Spiel, die von vielen P h i l o s o p h e n seit der A n t i k e favorisiert wurde: nämlich dass bei K o n f l i k t e n zwischen G l ü c k und Pflicht der Pflicht der Vorrang gebührt. Aristoteles hat diese T h e s e damit begründet, dass der M e n s c h ein z o o n politikon, ein soziales Wesen ist, das gegenüber dem Kollektiv, dessen Mitglied es ist, P f l i c h t e n zu erfüllen hat, die zur Erhaltung der G e m e i n s c h a f t unerlässlich sind. D i e s e Pflichten verankerte Aristoteles in jener H a l t u n g , die er als Tugend, griechisch areté bezeichnete. D u r c h E i n ü b u n g in Tugend wird das Individuum zum Staatsbürger, der sich um das kollektive G l ü c k verdient macht, auch wenn er dabei, zum Beispiel in Kriegshandlungen, auf sein persönliches G l ü c k verzichten muss. Zwar wünscht man sich, dass Tugend und G l ü c k H a n d in H a n d gehen, aber da es nicht in des M e n s c h e n M a c h t liegt, eine solche K o n g r u e n z jederzeit herzustellen, muss man im Konfliktfall das I c h - G l ü c k dem W i r - G l ü c k aufopfern und sich mit jenem Q u ä n t c h e n G l ü c k begnügen, das aus dem Tun des G u t e n resultiert und mit ö f f e n t l i c h e r A n e r k e n n u n g verbunden ist. D e r Tugendhafte wird geehrt, gerade weil er sein eigenes G l ü c k um des G l ü c k s der anderen willen hintan gestellt hat. Dies hat auch I m m a n u e l K a n t so gesehen. W i e Aristoteles gab er der Tugend den Vorrang vor dem G l ü c k , mit der Begründung, dass wir - o h n e dazu angehalten zu sein - von N a t u r aus unausweichlich nach G l ü c k streben: w o g e g e n nichts einzuwenden ist. I m G e g e n t e i l sind wir nach K a n t sogar dazu verpflichtet, die M i t m e n s c h e n bei ihrer G l ü c k s s u c h e nach Kräften zu unterstützen. Als Vernunftwesen sind wir j e d o c h dazu aufgerufen, unserem eigenen Streben nach G l ü c k dort G r e n z e n zu setzen, wo die Freiheit anderer b e d r o h t wird. H u m a n e Lebewesen orientieren sich bei der Verfolgung ihrer Eigeninteressen nicht am tierischen Rudelverhalten und der damit ver-
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bundenen Rangordnung physischer Stärke. Menschen erkennen einander unangesehen ihrer individuellen Fähigkeiten und Schwächen als gleichwertig an. Dadurch werden der persönlichen Freiheit G r e n z e n gesetzt. N i e m a n d ist berechtigt, seine Glücksansprüche zum Nachteil anderer M e n s c h e n durchzusetzen. Individuelles und kollektives Glück müssen sozial verträglich gemacht werden, damit Ich und Wir konfliktfrei miteinander auskommen. Beim Schmieden des großen demokratischen Hufeisens müssen deshalb alle das Ihre dazu beitragen, dass im B i o t o p der Freiheit genügend Platz ist für die kleinen Hufeisen, in denen jeder seine private Insel des Glücks einrichtet. Kurz zusammengefasst: G l ü c k wird meistens als etwas Ganzheitliches, durch und durch Erfüllendes erlebt. Kopf, Herz, Bauch und Hand führen keine Kriege gegeneinander, sondern sind rundum zufrieden - befriedet. Während die Philosophen überwiegend das intellektuelle Glück des Kopfes ins Zentrum rückten und dem Glücksbedürfnis von H e r z , Bauch und H a n d wenig Beachtung schenkten, gaben die D i c h t e r dem emotionalen G l ü c k des Herzens den Vorzug und beklagten die Kälte des Verstandes. Auf das affektive G l ü c k des Bauches zielen viele Werbeslogans, unterstützt durch utilitaristische Nutzenkalküle, die eine Mitwirkung von K o p f und H e r z nur vorgaukeln. Das manuelle G l ü c k , das in der Rede von der glücklichen Hand angesprochen ist, stellt sich unter Mithilfe des technischen Verstandes im M a c h e n des Machbaren ein. Erst wenn Kopf, H e r z , Bauch und H a n d bei der Verfolgung eines gemeinsamen Zieles gleichermaßen auf ihre K o s t e n k o m m e n , ist das G l ü c k vollkommen - sowohl im kleinen wie im großen O r g a nismus: I m individuellen und im kollektiven Körper.
Bernhard Pörksen, Wolfgang Krischke
Das große Unbehagen Am Rad der Geschichte s ist eine gespenstische Szene, die sich am 14. August des Jahres 1989 in Erfurt ereignet, kurz vor der endgültigen Auflösung der D D R . Der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker, im hellen Sommeranzug, besucht den V E B Kombinat Mikroelektronik „Karl Marx", wo ihm ein Musterexemplar des gerade serienreif entwickelten 32-Bit-Mikroprozessors überreicht wird. Dass das Halbleiter-Element etliche Jahre hinter dem internationalen Stand der Technik zurückliegt, ficht den SED-Generalsekretär nicht an. Mit Stolz in der Stimme verkündet er der Belegschaft seine Prognose: „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder O c h s noch Esel auf!" Nur wenige Monate später hat sich der real existierende Sozialismus totgelaufen. Honeckers Ausspruch, gespeichert im Kuriositätenkabinett von YouTube, ist seitdem immer wieder zitiert und karikiert worden als warnendes Beispiel für den realitätsblinden Glauben an eine determinierte Entwicklung der Gesellschaft, als Symptom für eine vernagelte Ideologie, deren Gläubige bis zuletzt nicht wahrhaben wollen, dass ihre Welt dabei ist zu versinken. D o c h ist der Spott berechtigt? Bestimmt nicht längst ein ähnlicher Glaube an die höhere Vernunft historischer Gesetzmäßigkeiten, der sich entgegenzustellen töricht ist, auch das Denken und die Argumentationen mancher Politiker in der Bundesrepublik? Gewiss, es ist eine andere Spielart des Hegelianismus, die sich gegenwärtig erleben lässt. Ihr Telos heißt nicht Kommunismus, sondern Europa, ihre Doktrin erklärt nicht die klassenlose Gesellschaft, sondern den gemeinsamen europäischen Staat zum ebenso erstrebenswerten wie letztlich unausweichlichen Fluchtpunkt der Politik. Gegenwärtig erhalten, so monierte kürzlich der Religionssoziologe Hans Joas, das Europa-Projekt und die Gemeinschaftswährung eine geradezu sakrale Aura, erscheint die Währungsunion als ein unvermeidlicher, zwingender Schritt auf dem welthistori-
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sehen Weg in eine lichtere Zukunft. Die Rechtsbeugungen und Vertragsbrüche, die schwindelerregenden Kreditsummen, die schweren ökonomischen und politischen Verwerfungen - sie werden zu Geburtswehen einer neuen, besseren Zeit erklärt, eines höheren Ziels, das auch die Abtretung von immer mehr Zuständigkeiten an europäische Institutionen von zweifelhafter demokratischer Legitimität rechtfertigt. Die Uberzeugung, das Rad der Geschichte vorwärts zu drehen, immunisiert offenkundig gegen Kritik, lässt den politischen Kurs altemativlos erscheinen. Wer dieser entwicklungsphilosophischen Logik, die manchmal pathetisch gepredigt, meistens aber einfach als Geschäftsgrundlage vorausgesetzt wird, nicht folgen will, wer ein Scheitern dieses Projekts für möglich hält und ein grundsätzliches Uberdenken des eingeschlagenen Weges fordert, spielt in den Augen vieler die Rolle von Ochs oder Esel, wagt er es doch, sich dem Unvermeidlichen und Notwendigen in den Weg zu stellen. Und ein Euro-Skeptiker wie der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach muss sich schon mal sagen lassen, dass man „seine Fresse nicht mehr sehen kann", wie er vom Chef des Bundeskanzleramts, Ronald Pofalla, zu hören bekam, weil er sich gegen die Aufstockung des Euro-Rettungsschirms stellte. Er mache, so lautete die Ansage an den geschockten Abweichler, „alle Leute verrückt" und rede „Scheiße". M a n könnte über einen solchen Ausraster einfach hinweggehen, ihn auf die Hochdruck-Verhältnisse momentaner Entscheidungsfindung schieben. Aber es steht doch mehr auf dem Spiel, weil es auch darum geht, wie Politik und Gesellschaft ihre eigene Ratlosigkeit und ihre Nervosität im Angesicht der Krise bewältigen, welche Debatten sie sich leisten - und wie eng und dogmatisch sie die Horizonte der möglichen Lösungssuche abstecken, nach welchen Narrativen und Erzählungen sie suchen - oder eben auch nicht. Natürlich, es geht nicht darum, die zum albernen Merkspruch heruntergewirtschaftete Ideologie eines Erich Honecker mit der europäischen Idee gleichzusetzen, die sich aus ökonomischen Interessen, aber eben auch aus der philosophischen Tradition der Aufklärung speist, aus Friedenssehnsucht und dem Wunsch, Krieg und nationalistische Ressentiments für immer zu bannen. Tatsächlich kritikwürdig ist indes die einengende, den Möglichkeitssinn abstumpfende Macht eines neuen Hegelianismus, der den Lauf der Zeit und ihr Fernziel schon zu kennen meint und aus dieser Tiefenschau die Berechtigung ableitet, stets zur Eile zu treiben, Entscheidungen im Akkord durchzupeitschen, Zweifler zu diffamieren. Eben deshalb muss man inzwischen daran erinnern, dass Repräsentationskrisen wieder in nationalistische Verbohrtheiten münden können - und es scheint, dass die gegenwärtigen europapolitischen Entwicklungen genau solchen Stimmungen in etlichen Ländern Vorschub leisten - und dass ein demokratisches Gemeinwesen seine paradoxe Identität und besondere Gestalt aus einem beständigen Ringen um endgültig vorläufige Lösungen gewinnt, die durch den permanenten Zweifel gestärkt werden und prinzipiell korrigierbar sein müssen. Demokratie ist, um ein genaues Wort des Juristen Adolf Arndt aufzugreifen, die „politische Lebensform der Alternative", eben und gerade weil sie „zu allem jeweils für richtig Erkannten selber Alternativen" entwickelt und diese eben nicht diskriminiert, verächtlich macht oder brachial attackiert. Das Basta-Denken der Gegenwart, die allgegenwärtige ΤΙΝΑ-Rhetorik („there is no alternative"), die Rede von unbedingter Notwendigkeit, der momentan grassierende Geschichtsdeterminismus - all dies ist bestenfalls intellektuell fahrlässig, im Extremfall aber schlicht demokratiefeindlich.
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Die herrschende Alternativlosigkeit Wie aber wird die Krise von denjenigen erlebt, die sie betrifft? Zumindest hierzulande, so muss man konstatieren, regiert bislang ein diffuses U n b e h a g e n , das noch keine eindeutige politische Gestalt oder A u s d r u c k s f o r m besitzt. Es ist ein d u r c h alle gesellschaftlichen Milieus u n d politischen Fraktionen d i f f u n d i e r e n d e s Vorgefühl, dass die immer neuen Anläufe z u r E u r o - und Bank e n r e t t u n g nicht greifen k ö n n e n , dass irgendwann die R e c h n u n g k o m m t u n d sich als unbezahlbar erweisen wird. W ä h r e n d die Bevölkerung in denjenigen europäischen Ländern, deren marode Staatshaushalte bereits von harten Einschnitten b e t r o f f e n sind, zwischen Protest u n d Verzweiflung schwankt, erlebt man die Krise in D e u t s c h l a n d eher als einen untergründigen Schwelbrand, dessen wirkliche Ausbreitung man nicht k e n n t u n d dessen Kontrollierbarkeit niemand einschätzen kann. Die A n g s t vor dem Crash, vor d e m ö k o n o m i s c h e n A b s t u r z wird noch selten o f f e n artikuliert, aber sie ist für die Bürger z u m Basso C o n t i n u o geworden, der alle anderen T h e m e n unterlegt. Das G e f ü h l der Unsicherheit wird verstärkt d u r c h den Verdacht, dass die M e h r heit der politischen Entscheidungsträger, befangen in einer M i s c h u n g aus vermeintlichen Sachzwängen, selbstgesetzten D o k t r i n e n u n d p e r m a n e n t e m Zeitdruck, zu e r n s t h a f t e n Korrekturen oder gar K u r s ä n d e r u n g e n weder bereit noch in der Lage ist, u n d dass mögliche Folgen verharmlost oder verschwiegen werden, u m „übergeordnete" Ziele nicht zu gefährden. I m parlamentarischen Raum selbst findet dieses ö f f e n t l i c h e U n b e h a g e n keinen Ausdruck, denn harte, grundsätzliche Kritik am bestehenden Kurs findet hier kaum statt. Es ist eine getriebene u n d gehetzte Politik, die den Verzicht auf die grundsätzliche, von scharfen D e b a t t e n begleitete Selbstverständigung offensichtlich f ü r situativ g e b o t e n hält. I m m e r wieder b e s t i m m e n die Kurse u n d Termine der Börsen, die Urteile v o n R a t i n g - A g e n t u r e n u n d Top-Bankern die politische Agenda der Parlamente, deren A b g e o r d n e t e u n t e r e n o r m e m Z e i t d r u c k über gigantische Finanztransaktionen entscheiden, deren Komplexität sie nicht oder z u m i n d e s t nicht bis ins Detail durchschauen u n d deren Folgewirkungen sie nicht u n b e d i n g t überblicken. Zeitdruck und K o m p e t e n z m a n g e l bedingen die schleichende Marginalisierung der Legislative u n d eine Ü b e r t r a gung von existenziellen Entscheidungen auf kleine Zirkel der Exekutive. A u c h der Diskurs u n d die D e b a t t e zwischen den Parteien verändern sich, weil G e g e n e n t w ü r f e fehlen - auch von Seiten der O p p o s i t i o n , die d o c h eigentlich f ü r die systematische P r o d u k t i o n konzeptioneller Alternativen zuständig wäre. U n d „es wird in d e r parlamentarischen A u s e i n a n d e r s e t z u n g nicht mehr so zugespitzt formuliert, wie wir das damals gemacht haben", bedauert H e i n e r Geißler. F ü r ihn liegt das an der Komplexität der gegenwärtigen Probleme, die sich nicht auf einfache Frontstellungen, wie sie es in den Zeiten des kalten Krieges gegeben habe („Freiheit statt Sozialismus"), reduzieren lasse u n d deshalb eine sprachliche K o m p e t e n z verlange, die vielen A b g e o r d n e t e n fehle. D o c h rhetorische Unfähigkeit, so verbreitet sie sein mag, ist lediglich ein S y m p t o m . D e r eigentliche G r u n d ist eine lagerübergreifende Weigerung, in Alternativen zu d e n k e n , diese in den gesellschaftlichen D e b a t t e n Sichtbarwerden zu lassen. Auch f ü r Angela Merkel gehört die Alternativlosigkeit der europäischen Integration z u r Geschäftsgrundlage; doch sie vermeidet hier wie in anderen Politikfeldern deutliche Festlegungen, scheut W e r t e - D e b a t t e n oder g r o ß e R e f o r m e r zählungen und b e m ü h t sich stattdessen darum, kontroverse T h e m e n in ihre geräuschlose Regierungsmechanik zu integrieren. M a n kann diesen Stil als pragmatisch goutieren o d e r ihn, wie Gert r u d Höhler, als illiberale Machtpolitik kritisieren - klar ist, dass das Parlament seine Rolle als F o r u m substanzieller Auseinandersetzungen, als O r t , an d e m die unterschiedlichen Strömungen
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der Gesellschaft repräsentiert sind, auch durch diese Art der Regierungspolitik einzubüßen droht. Ein Meisterwerk politischer Eingemeindung war - so gesehen - die Energiewende, mit der die Union, getrieben von ihrer Chefin, eines der grünen Kernthemen kaperte und damit für sich entschärfte. Die mediale Hintergrundkulisse für diesen abrupten Kurswechsel spielten die weltweit für Entsetzen sorgenden Katastrophen-Bilder aus Fukushima, die das Thema emblematisch verdichteten und mit emotionaler Wucht versahen. Sie allein aber hätten die Energiewende nicht in Gang gesetzt - schließlich blieben andere Länder ihrem Atomkurs treu. Entscheidend war die politische Konstellation in Deutschland, auf die die Nachrichten aus Japan trafen: Ein bereits seit langem bestehender, auch parteipolitisch verankerter Widerstand gegen die Atomkraft, den die Bilder und Meldungen aus Fukushima beträchtlich verstärken würden, sowie bevorstehende Wahlen, in denen die politische Konkurrenz diese Stimmung - so musste die Kanzlerin befürchten - in Stimmen gegen die Union ausmünzen würden. Schnelles Handeln war gefragt, und Angela Merkel - bis dahin eine Kernkraftbefürworterin - zeigte, in welchem Tempo politische Reiz-Reaktionsmechanismen im Zeitalter der beschleunigten medialen Kommunikation ablaufen können. Der Europa- und der Finanzkrise, obwohl ebenso schicksalhaft wie die Energie- und Klimapolitik, fehlt dieser Kontext; sie liefern keine emblematischen Bilder, sie lassen sich schwer auf massenwirksame Begriffe bringen. Politische Organisationen, die Ängste und Hoffnungen bündeln, artikulieren und in politische Macht umsetzen könnten, gibt es nicht. Das große Unbehagen bleibt politisch heimatlos.
In der Lobby Eine andere Ursache für die Krise der parlamentarischen Repräsentation ist der verbreitete Lobbyismus von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden, die vom legitimen Informationsaustausch längst zur massiven Einflussnahme auf die politische Willensbildung übergegangen sind. Seinen sichtbarsten Ausdruck findet der Lobbyismus im Seitenwechsel ehemaliger Spitzenpolitiker wie Gerhard Schröder, der aus dem Kanzleramt zur Nord Stream A G wechselte, in den Aufsichtsrat des Unternehmens also, dessen Pipeline-Bau er als Regierungschef befördert hatte. Problematischer als solche prominenten, aber dadurch auch deutlich identifizierbaren Fallbeispiele ist, so der Journalist und Lobbyismus-Experte Thomas Leif, die alltägliche Arbeit der vielen unauffälligen Lobbyisten in den europäischen Hauptstädten, ihre freundliche „Beratung" von Abgeordneten in „Sachfragen", ihre fachliche „Unterstützung" bei der Ausarbeitung von Gesetzesvorlagen. In Deutschland sind wirksame Maßnahmen der Kontrolle und Begrenzung des Lobbyeinflusses, dem in den Regierungsjahren der rot-grünen Koalition viele Türen geöffnet wurden, bislang nicht ergriffen worden. Solche Verquickungen sorgten hierzulande allenfalls für kurzfristige Aufreger, ein dauerhaftes Thema, das die Öffentlichkeit bewegt, seien sie nicht, stellt der VW-Cheflobbyist und ehemalige Regierungssprecher Thomas Steg im Gespräch fest. Unterhalb dieser Thematisierungsschwelle nährt der Lobbyismus jedoch ein latentes Misstrauen in die Politik, den Generalverdacht, dass die Republik - jedenfalls Teile von ihr - „gekauft" sei.
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Europapolitik, Finanzkrise, Lobbyismus, fehlende Grundsatzdebatten im Parlament - also die unterschiedlichen Aspekte, die eine spürbare Krise der Repräsentation ausmachen - werden von den Medien zwar durchaus thematisiert. Aber im öffentlichen Diskurs hinterlassen sie bislang nur wenige Spuren, an ihnen entzündet sich kaum Widerspruch, geschweige denn Widerstand. Was den deutschen Wutbürger auf die Barrikaden treibt, sind vielmehr regionale, sein Privatleben unmittelbar betreffende Angelegenheiten: Windkraftanlagen vor der eigenen Haustür, der Fluglärm, der Bau einer Umgehungsstraße. Der Inbegriff für diese Art des in der eigenen Nahwelt angesiedelten Protests ist Stuttgart 21. Und doch ist der Bahnhofsbau in der schwäbischen Metropole auch eine Chiffre des Zorns, Symbol des Unbehagens über eine durch „die da oben" vorenthaltene Partizipation. Die Verbundenheit mit der Arabellion, die manche Stuttgarter Demonstranten zur Schau stellten, die Selbststilisierung als Teil einer internationalen Bewegung können indes über den lokalen Charakter nicht hinwegtäuschen. Internationale Protestbewegungen wie Occupy oder Attac, die der jüngst verstorbene Bestsellerautor Stephané Hessel analysiert hat, nehmen länderübergreifende Oligarchien und Machtstrukturen ins Visier. Sie sind zwar auch in anderen Ländern mittlerweile wieder schwächer geworden, fanden aber in Deutschland von vornherein nur eine vergleichsweise geringe Resonanz. Stattdessen arbeitet sich die kollektive Empörungsbereitschaft, befeuert von einer entsprechenden Medienberichterstattung, an Skandalen und Affären ab, in deren Zentrum nicht Strukturen und Prozesse, sondern Individuen und ihre tatsächlichen oder vermeintlichen Verfehlungen stehen. Stilfragen und exzessive Debatten über die persönliche Integrität haben weltanschauliche und ideologische Konfrontationen abgelöst. Solche eher im Persönlichen angesiedelten Themen bieten den Vorteil der Überschaubarkeit und Eindeutigkeit, hier kann mit den vertrauten Maßstäben des Privatlebens geurteilt werden. Überdies kommt die Dauer-Moralisierung dem allgemein menschlichen Bedürfnis nach Einfachheit, der Orientierung am Konkreten, Punktuellen und Personalisierbaren entgegen. Und heute braucht es nur ein paar Klicks - und schon ist ein Zitat gefunden, ein Beitrag entdeckt, aus dem sich ein Widerspruch formen, der Vorwurf der persönlichen Inkonsequenz basteln lässt. - Peer Steinbrück will, so sagt er, die Banken stärker kontrollieren. Hat er nicht selbst hoch bezahlte Vorträge in diesen Kreisen gehalten? Annette Schavan verteidigt sich gegen den Plagiatsvorwurf. Hat sie nicht selbst die Betrügereien eines Karl-Theodor zu Guttenberg in besonderer Schärfe attackiert? Die Wasser-Wein-Entlarvung („predigt Wasser, trinkt aber Wein!"), eigentlich ein archaisches Erregungsprinzip, ist heute ein Gesellschaftsspiel geworden, an dem sich jeder ohne größere zeitliche oder intellektuelle Unkosten beteiligen kann. Die Folge für Politiker und alle, die in der Öffentlichkeit stehen: Die moralische Selbstfestlegung bedeutet womöglich einen gegenwärtigen Imagegewinn, stellt aber ein zukünftiges Reputationsrisiko dar. Vorsicht also beim ethics talk, so muss man warnend hinzufügen; die eigenen Sätze werden einem vielleicht morgen schon wieder um die Ohren gehauen. Welche Höhe- oder besser gesagt Tiefpunkte die allgemeine Moralisierung und Trivialisierung politischer Prozesse erreichen kann, zeigte sich beispielhaft an der Affäre um Ex-Bundespräsident Christian Wulff, als kurzzeitig ernsthaft erörtert wurde, ob man die Übernachtung bei Freunden bezahlen müsse und inwieweit ein geschenktes Bobbycar als Vorteilsnahme zu gelten habe. Betrachtet man allerdings den Hintergrund, in den diese Affären eingebettet sind, so erweisen sie sich ebenfalls als Symptome einer Krise der parlamentarischen Repräsentation,
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einer Krise, an der auch die „vierte Gewalt", als die die Medien gern apostrophiert werden, ihren Anteil hat.
Sehnsucht nach Charisma Die aufeinander folgenden Rücktritte zweier Bundespräsidenten sind ein in der Geschichte der Bundesrepublik einmaliger Vorgang. Zwar waren die Anlässe, deretwegen H o r s t Köhler und Christian Wulff das Amt aufgaben, völlig unterschiedlich, doch die Motivlage ihrer Wahl war dieselbe: Beide waren auch aus partei- und machtpolitischer Berechnung zu ihrem A m t gekommen, ein Amt, das - anders als der Thron einer Monarchie - nicht über ein jahrhundertelang angesammeltes symbolisches Kapital verfügt und das seine Würde deshalb aus der Stärke der Persönlichkeiten bezieht, die es bekleiden. Auch deshalb und vor dem Hintergrund der aus Parteiegoismus gespeisten Kandidatendebatten muss man festhalten: Ein taktisches Kalkül, das blind ist für diese Notwendigkeiten symbolisch vermittelter Repräsentation und Identifikation - und für das Bedürfnis nach ihnen - trägt dazu bei, die Bindekräfte der Gesellschaft zu lockern und ihre Fragmentierung zu verstärken. Dass es in Teilen der Gesellschaft eine latente Sehnsucht nach charismatischen Politikern gibt, nach einer Strahlkraft, deren Quellen jenseits der nüchternen Rationalität demokratischer Verfahren liegen, zeigte der rasante Aufstieg des Freiherren Karl-Theodor zu Guttenberg, der als perfekter Perönlichkeitsdarsteller den vordemokratischen Charme des Herrenreiters mit dem Talent des glamourösen Showstars verknüpfte und so dem Publikum suggerierte, über dem grauen parlamentarischen Alltag zu stehen. Allerdings sind die Präferenzen des Publikums nicht immer eindeutig und gehorchen offenkundig einer eigenen Dialektik: Mal steht der GlamourFaktor im Vordergrund, erscheint die Lichtgestalt eines Charismatikers am Horizont, dann wieder - in einem plötzlichen Umschwung der Präferenzen - wird die Figur des unscheinbaren, stillen Preußen und seriösen Sachpolitikers populär, der einfach seinen Dienst tut, ohne als Showtalent und Talkshowgast auffällig zu werden. Inszenierungsekel und Inszenierungsfaszination, die Glorifizierung und die Verachtung des Charismatikers existieren gleichermaßen, wechseln einander ab - je nach Person und konkreter Situation. Die dauerhaft hohen Sympathiewerte, die Angela Merkel in der Bevölkerung erreicht, zeigen eben, dass auch der Anti-Guttenberg-Typ ein beliebtes Rollenmodell darstellt und dass die wortkarge Glanzlosigkeit, mit der die Bundeskanzlerin auftritt, als Ausweis eines unprätentiösen Arbeitsethos wertgeschätzt wird.
Die Vitalität der alten Medien Die Affäre Christian Wulff illustriert auch, dass die „klassischen" Medien, denen häufig schon ihr baldiges Ende durch die Internet-Konkurrenz prophezeit wurde, immer noch eine beträchtliche Vitalität aufweisen. Nicht das Internet, sondern nach wie vor das Fernsehen „mit seiner brutalen Unmittelbarkeit" bezeichnet der Historiker Paul Nolte im Gespräch als das zentrale Angstmedium der Politiker. Das Live-Fernseh-Interview, das Christian Wulff kurz vor seinem Rücktritt gab, machte - auch wenn es verschiedentlich als zu staatstragend kritisiert wurde - die Härte dieser Unmittelbarkeit deutlich. „Das hatte schon etwas von einem Verhör", beschreibt Ulrich Dep-
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pendorf, einer der beiden Interviewer die Situation im Fernsehstudio. Doch das älteste aller Massenmedien, die Zeitung, steht in der Disziplin der publikumswirksamen Aufbereitung und Zuspitzung, die einem Thema erst öffentliche Schlagkraft und politische Wucht verleiht, nach wie vor an erster Stelle. Das musste der frühere Spitzenpolitiker der schleswig-holsteinischen C D U Christian von Boetticher erfahren. Ihm war sein Verhältnis mit einer 16-Jährigen zum Verhängnis geworden, das - von „Parteifreunden" instrumentalisiert - in die Schlagzeilen geriet und ihn und sein Umfeld über Wochen hinweg zum O b j e k t einer schonungslosen, häufig auch hämischen und verzerrenden Berichterstattung machte. Immerhin - das lernte von Boetticher in dieser Zeit — kann man als Opfer die Medien mit Hilfe von „Deals" bis zu einem gewissen Grad steuern, wenn man die von ihnen erhoffte Beute - Informationen, Zitate, Bilder, Interviews taktisch geschickt portioniert und zuteilt. Hamburgs ehemaliger Bürgermeister Ole von Beust musste zwar nicht so schlechte Erfahrungen wie sein schleswig-holsteinischer Parteifreund machen, er fühlte sich von den Medien meistens fair behandelt. Aber auch er berichtet, wie ihn die permanente Beobachtung und Beurteilung durch die Medien, die von Insidern mit Informationen oder auch nur Gerüchten gefüttert wurden, zunehmend hemmte, kontroverse Themen selbst im kleinen Kreis offensiv zu diskutieren. Es gibt im Zeitalter der digitalen Uberall-Medien und der barrierefreien Geheimnisvermarktung kaum noch interne Beratungen. Die Sphären des experimentellen Erkundens und Ausprobierens von Konzepten werden weniger - mit womöglich fatalen Konsequenzen. Eine Einengung der Diskursmöglichkeiten, Stromlinienförmigkeit im öffentlichen Auftreten, ein rundgeschliffenes Politdeutsch, so von Beust, seien die Folge. Der Politiker mit Ecken und Kanten, nach dem angeblich so große Sehnsucht besteht, wird unter den Bedingungen der Medienmoderne zu einer aussterbenden Spezies. „Wenn Sie sich heute den Gesundheitsminister, den Wirtschaftsminister, die Familienministerin anschauen, dann ist das eine Generation von Politikern, die doch sehr vorsichtig, sehr abgemessen agiert. Aber das politische Geschäft ist auch schwieriger geworden. Wenn man damit rechnen muss, dass Informationen aus Hintergrundgesprächen in die Welt hinaus getwittert werden, dann hält man sich zurück und wählt seine Worte mit viel Bedacht," konstatiert die ZDF-Moderatorin Marietta Slomka. Deutlich wird, dass das Internet sein meinungsbildendes Potenzial nicht im Alleingang, sondern vor allem im Verbund mit den klassischen Medien als Beschaffer, Beschleuniger und Verteiler von Informationen und Zitaten entfaltet. Nötig ist für die gesellschaftlich wirksame Erregung und Empörung nach wie vor der Medienmix. Niemand tritt zurück, nur weil ihn ein Shitstorm ereilt.
Vorn Verlust der Kontrolle Und wenn es noch eines Beweises bedarf für die aktive Rolle, die die Presse und insbesondere der Boulevard alter Schule in der Politik nach wie vor spielt, dann liefern ihn die Vorgänge um Christian Wulffs Rücktritt in mustergültiger Weise. Die erregte Tirade des Bundespräsidenten auf der Mailbox des 5 ¿/¿-Chefredakteurs Kai Diekmann ist das Dokument eines mentalen Kontrollverlusts, dem der politisch-mediale Kontrollverlust vorausging. Als Wulff, der der Bild seit seinen Zeiten als niedersächsischer Landespolitiker eng verbunden war, dann als Bundespräsident in Berlin versuchte, Distanz zum einstigen Medienpartner zu gewinnen, erfuhr er, wie der Satz des Axel-Springer-Chefs Mathias Döpfner — „Wer mit uns im Aufzug nach oben fährt, fährt auch mit uns im Aufzug nach unten" - zu verstehen ist.
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Allerdings hat der stellvertretende ¿¿/¿-Chefredakteur Nikolaus Blome recht, wenn er betont, dass Wulff am Ende nicht durch mediale Fallstricke, sondern über eigenes politisches Versagen stürzte: „Er hat bis zuletzt nicht geglaubt, dass wir die Geschichte drucken, weil ihm nicht klar war, dass es uns nicht um den Kredit als solchen ging, sondern darum, dass er den Kredit aufgenommen und dann in dieser Sache den Landtag in die Irre geführt hat. Diese Unterscheidung haben alle Medien von Anfang an gemacht. Aber Wulff hat den Unterschied - so kam es mir zumindest vor - nicht erkannt und war deshalb auch der Meinung, es handele sich um eine .private Geschichte'". Interessanterweise teilte Wulff diesen blinden Fleck mit vielen Bürgern, die meinten, dass die pausenlose Berichterstattung über doch eigentlich lässliche Sünden darauf zielte, einen im Grunde honorigen Mann aus reiner Sensationslust zur Strecke zu bringen. Nicht über den Präsidenten, sondern über die vermeintliche Hetzjagd der Medien auf ihn empörte sich ein großer Teil des Publikums. Sichtbar wurde hier eine gespaltene Öffentlichkeit, ein plötzliches Auseinanderklaffen von Medienempörung und Publikumsempörung und eine Wut über die Wut der jeweils anderen Seite, eine Erregung zweiter Ordnung, die zum kommunikativen Normalfall werden könnte. Ein ähnliches, aber doch in manchem abweichendes Muster zeigte der Fall des Plagiators KarlTheodor zu Guttenberg, der seine Dissertation wesentlich abgeschrieben und aus irgendwelchen Quellen zusammengestoppelt hatte. Hier teilte ein Riss sowohl die mediale als auch die öffentliche Bewertung: Auf der einen Seite stand die klare Verurteilung des Betrugs, begangen von einem Mann, der Ehrlichkeit zur politischen Primärtugend erklärt hatte. Dieser Position, die besonders nachdrücklich von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vertreten wurde, stand die bagatellisierende Betrachtung der 5/W-Zeitung gegenüber. Sie hatte den Aufstieg Guttenbergs massiv unterstützt und ließ jetzt ihren Kolumnisten Franz Josef Wagner die Parole „Scheiß auf den Doktor" (gemeint war der Titel) ausgeben, womit sie auf das anti-intellektuelle Ressentiment ihrer Leserschaft und eine entsprechend selektive Stammtisch-Moral zielte. Den Vulgärpopulismus beiseite gelassen, entsprach dies durchaus der Linie Angela Merkels, die erklärte, schließlich keinen Doktor, sondern einen Minister engagiert zu haben, und so die mittelalterliche Auffassung von den zwei Körpern des Königs im Geiste ihrer eigenen wertneutralen Funktionslogik wiederbelebte: auf der einen Seite die Person, der Mensch, der gefehlt haben mag, und auf der anderen Seite die Instanz, die das Amt verkörpert und in ihrer eigenen Besonderheit gar nicht von seinen eventuellen Verfehlungen in der menschlichen Hülle berührt werden kann. Aber wie dem auch sei: Auch der Fall Guttenberg zeigt, dass das Internet die klassischen Medien zwar nicht ablöst, aber die Geschwindigkeit, die Tiefe und die Intensität der Recherche deutlich erhöht. Innerhalb kürzester Zeit hatte ein entschlossener Schwärm von Plagiatsjägern alle kopierten Stellen in der mehrere hundert Seiten umfassenden Doktorarbeit aufgespürt. „Das hätte keine Redaktion der Welt so schnell hinbekommen, da hat das Netz echte journalistische Recherche und wissenschaftliche Arbeit geliefert", resümiert Nikolaus Blome. In der Hartnäckigkeit, der langfristigen Fokussierung und thematischen Spezialisierung der Blogs sieht auch der medienkritische Blogger und S/>zege/-Redakteur Stefan Niggemeier den entscheidenden Beitrag der Internetpublizistik. Wie stark die Kontroll- und Korrekturfunktion solcher OnlineGruppen werden können, demonstrierten die „Faktenchecker", die die Aussagen der Kandidaten im Präsidentenwahlkampf der U S A nahezu in Echtzeit auf ihre sachliche Richtigkeit überprüften.
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Netzpessimismus und Netzoptimismus Es könnte aber genau dieser Hang zur Spezialisierung, zur Errichtung partikularer Wissens- und Weltanschauungs-Welten mit ihrer je eigenen Gemeinde sein, der letzten Endes verhindert, dass das Internet die Rolle übernimmt, die die klassischen Medien lange Zeit hatten: die Bildung einer räsonnierenden, die res publica gestaltenden Öffentlichkeit. Dafür nämlich ist es nötig, T h e m e n und Meinungen zu bündeln, Gemeinsamkeiten und Gegnerschaften öffentlichkeitswirksam zu artikulieren und politische Lager zu definieren. D e r Philosoph Richard David Precht glaubt nicht, „dass das Internet da Gleiches leisten kann wie es die großen meinungsbildenden Zeitungen geleistet haben", und auch für Zeit-Chefredakteur Giovanni di L o r e n z o ist es, so konstatiert er mit Verweis auf den Soziologen Jürgen Habermas, vor allem die seriöse Presse, die das „Rückgrat des politischen Diskurses" bildet. Vielen Politikern hingegen erscheint das Internet als H o f f n u n g , gerade weil es den klassischen Medien ihre filternde, strukturierende und kommentierende Gatekeeper-Rolle streitig macht und per Twitter, C h a t und Videobotschaft den D i r e k t k o n t a k t zum Bürger erlaubt. F ü r Christian von B o e t t i c h e r ist klar, „dass Politik in Zukunft gar nicht anders kann, als stärker auf diesen D i r e k t k o n t a k t zurückzugreifen"; und auch Heiner Geißler sieht es als große Chance, dass „weder Politiker n o c h Bürger [...] mehr auf die klassischen Medien als Selektions- und Interpretationsinstanzen angewiesen" sind. Die Vorstellung, dass der Bürger sich seine Meinung im permanenten D i r e k t k o n t a k t mit Dutzenden von Politikern bildet, scheint allerdings nicht sehr realistisch: Sie überschätzt wenn nicht das Interesse so in jedem Fall das Zeitbudget - auf beiden Seiten. Gegenüber den dunklen Seiten des N e t z e s - dem Shitstorm, dem unbarmherzigen Gedächtnis, das womöglich jeden Fehler, jede Peinlichkeit abrufbereit speichert, sie eines Tages plötzlich weltweit sichtbar werden lässt - legen Politiker, so scheint es zumindest, Gelassenheit an den Tag. Wolfgang Schäuble verfolgt grundsätzlich nicht, was über ihn im Internet steht und auch O l e von Beust verzichtet darauf, den eigenen N a m e n zu googeln. Diese Abstinenz entspringt nicht nur dem Bewusstsein, sowieso keinen Einfluss auf das Netzgeschehen nehmen zu können, sondern auch dem beruhigenden Glauben, dass die I n f o r m a t i o n s s t r ö m e im N e t z desto irrelevanter werden, je stärker sie anschwellen. O l e von Beust meint gar: „Je mehr da k o m m t , desto schneller versendet es sich auch. [...] Das ist wie ein Medikament, das sich im Meer in eine homöopathische D o s i s auflöst."
Die digitale Volontée Générale D i e gerade skizzierte Vorstellung vom internetvermittelten D i r e k t k o n t a k t zwischen Politiker und Bürger folgt - o b realistisch oder nicht - einem konventionellen Verständnis von politischer Repräsentation. Letztlich handelt es sich hier nur um digitalisierte Bürgersprechstunden, die aber die hergebrachten Strukturen der parlamentarischen Stellvertreter-Demokratie unangetastet lassen. Viel weiter geht die von der Piratenpartei und anderen Netzaktivisten propagierte Forderung, das Internet zum Träger einer direkten Demokratie mit maximaler Transparenz der politischen Vorgänge und permanenter Partizipation der Bürger zu machen. „Ich glaube, all diese digitalen Phänomene, die momentan in Echtzeit aufpoppen und die Gesellschaft zum U m d e n k e n
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anregen, sind ganz kleine Facetten einer ganz großen Entwicklung, die im Moment vonstatten geht. Die Welt, wie wir sie heute kennen, ist ein Auslaufmodell. Ich glaube, dass wir uns zu einer viel horizontaleren Welt entwickeln werden, ohne starke Hierarchien", prognostiziert WikileaksMitbegründer Daniel Domscheit-Berg. Für den Alt-Kommunarden Rainer Langhans ist das Internet die Realisierung der Utopien von 1968: „Das Internet bringt nun die Communities der User hervor, die als neue Generation das weiterführen, was wir damals ein kurzes Jahr ekstatisch leben konnten." Shitstorm und Cybermobbing sind für Langhans nur eine notwendige Katharsis auf dem Weg in eine, wie er meint, Gesellschaft der Liebe. Zwingend ist eine solch geschichtsoptimistische Interpretation natürlich hier so wenig wie im Fall der europäischen Integration. Man könnte die Pöbelkultur des Internets auch als einen Rückfall in vorbürgerliche Zeiten ansehen, ähnlich den Jahren der Reformation, als dank der neuen Drucktechnik massenhaft Flugblätter kursierten, in denen konfessionelle Gegner einander mit gröbsten Anwürfen aller Art eindeckten. In jedem Fall sieht die Online-Demokratie als politisches Programm weit mehr vor als die Abstimmung per Mausklick. Die Piraten-Politikerin Marina Weisband wünscht sich, „dass die Bürger schon dabei helfen, die Fragestellung zu entwickeln. Die eigentliche Mitmach-Politik besteht nämlich nicht darin, auf vorgegebene Fragen nur mit >Ja!< oder >Nein!< zu antworten, sondern Alternativen, Lösungen oder Verbesserungsvorschläge einbringen zu können." Gefordert ist nichts Geringeres als der rundum informierte, urteilsstarke und dauerhaft engagierte homo politicus. Die alte Parole, das Private sei politisch, erscheint auch am Horizont der Internet-Demokratie. Man mag sie als Verheißung auffassen oder als eine Drohung, der die Gefahr innewohnt, ins Totalitäre abzugleiten.
Das überhitzte System Ob aus dem Internet tatsächlich die Infrastruktur einer neuen plebiszitären Demokratie erwächst, ist offen. Ein anderer Effekt ist hingegen jetzt schon sichtbar: Die Beschleunigung des medialen Informationsausstoßes, die Hektik der „Live-Ticker" in den miteinander konkurrierenden Online-Redaktionen setzen Journalisten und Politiker gleichermaßen unter Zugzwang. Dabei ist die repräsentative Demokratie mit ihrer Gewaltenteilung und dem Nebeneinander von Bundestag und Bundesrat eigentlich auf Langsamkeit, auf Uberprüfung und die Verhinderung vorschneller Entscheidungen ausgelegt. Oft genug suggeriert die rasche Abfolge von Stellungnahmen, Lageeinschätzungen und Kurzinterviews eine Hektik, die in bizarrem Gegensatz zur unvermeidlichen Behäbigkeit vieler politischer Entscheidungsprozesse steht. Man behauptet implizit ein Tempo, das es nicht geben kann. „Sobald eine Meldung veröffentlicht wurde, beginnen die Redakteure schon an der Folgemeldung zu arbeiten, die erste Reaktionen enthält, und bald muss schon die dritte Meldung folgen, die das Thema noch weiter dreht. Diese medial erzeugte Dynamik erhöht die Erwartung an die Politiker, sich dauernd zu erklären und Ergebnisse vorzuweisen", beschreibt Stefan Niggemeier die Situation und konstatiert: „Der permanente Rechtfertigungsdruck und die Schwierigkeit, ihm auch mal zu widerstehen, haben sich für die Politik eindeutig verstärkt." Auch für Richard David Precht sind es die Medien, die eine Uberhitzung der Atmosphäre verursacht und den Politikbetrieb in eine einzige „Kompetenzsimulierungsmaschine" verwandelt haben: „Politik besteht", so formuliert er gewohnt scharfzüngig, „heute zu fünf Prozent aus Entscheidungsfindung und zu 95 Prozent aus der Entscheidungsver-
Das große
Unbehagen
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marktung." Abzuwarten bleibt, in welcher Weise das Publikum auf die immer neuen Kapriolen eines Echtzeit-Journalismus und den allgemeinen Geschwindigkeitswettbewerb der Medienbranche reagiert. Man muss jedoch kein großer Prophet sein, um zu erkennen, dass die Krise der Repräsentation und das große Unbehagen sich auch durch den Wechsel auf die Beschleunigungsspur nicht auflösen lassen - eher im Gegenteil, wird doch der Eindruck der Atemlosigkeit, des Getriebenseins und einer letztlich planlosen Raserei verstärkt. Auch bleibt im Bann eines stets dramatischen, alle Reserven fordernden Weltgefühls schlicht keine Zeit und keine Kraft, sich eine politische Zukunft vorzustellen, die anders wäre als unsere gehetzte Gegenwart.
Josef H. Reichholf
Streiten Tiere fairer als Menschen? Der schwierige Weg zur Regelung von Konflikten
A
rterhaltend" sei sie, die innerartliche Aggression, und daher grundsätzlich „gut", so Konrad Lorenz, Nobelpreisträger von 1973, in seinem bekanntesten Buch „Das sogenannte Böse". D e n n innerartliche Auseinandersetzungen, wie Rivalität um Geschlechtspartner oder Kämpfe um (höhere) Positionen in der Rangordnung, werden in fairen Ritualen ausgetragen, wobei das Kräftemessen den Gegner nicht lebensgefährlich verletzt. Beschädigungskämpfe gibt es kaum. Sie könnten nicht im Interesse der Arterhaltung sein. Deshalb sei Streit bei Tieren nicht „böse" (gemeint), wie manches Tun u n d manche Absichten beim Menschen. Dank der Ritualisierung in Kommentkämpfen sondert die innerartliche Aggression vielmehr die Schwachen aus. Gemäß Darwins (von Herbert Spencer übernommenem) survival of the fittest gewinnen hierbei die Starken. Konrad Lorenz hielt daher die innerartliche Aggression für einen der „Großen Baumeister" der Evolution.
Sind die Tiere also weiter gekommen als wir Menschen? Sind sie fairer, wenn sie streiten? Von der Erlangung guter Ressourcen und von Möglichkeiten der Fortpflanzung hängt schließlich ihre (genetische) Z u k u n f t ab. Sich auf Kosten anderer Artgenossen durchzusetzen, gehört zu den zentralen Vorgängen im Leben wie auch im Prozess der Evolution. N u r höchst selten und wenn, dann bloß für kurze Zeit, gibt es fast unbegrenzte Möglichkeiten, gemäß der biblischen Aufforderung „zu wachsen und sich zu (ver) mehren". Sobald die Aufnahmefähigkeit der Umwelt, die ökologische Kapazität, erreicht wird, setzt zwangsläufig Konkurrenz ein. Sie wird umso heftiger, je knapper die Ressourcen werden. D a n n weitet sie sich auch auf andere, ökologisch ähnliche
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Josef H. Reichholf
Arten aus. Aber mit Abstand am stärksten wirkt sie artintern, weil die Artgenossen einander in ihren Lebensansprüchen am ähnlichsten sind.
Artinterne
Konkurrenz
Durch zwischenartliche Konkurrenz wird die schwächere Art ganz oder weitgehend verdrängt. Sie überlebt nur, wenn sie in einen Lebensbereich ausweichen kann, der für die konkurrenzstärkere nicht nutzbar ist. Das Ergebnis ist die so genannte Nischentrennung von Arten, also die Aufteilung der Lebensmöglichkeiten in unterschiedliche Nischen. Es gab sie nicht von vornherein. Vorhanden waren zunächst „offene Möglichkeiten" zu leben. Die Einnischung ist das Ergebnis von Konkurrenz. Nischentrennung und Verdrängung werden hier nicht weiter behandelt. Die innerartliche Konkurrenz liegt (uns) näher, weil sie das Verhalten von uns allen berührt. Konrad Lorenz pries sie als „arterhaltend". Wie die meisten Verhaltensforscher seiner Zeit war er von Kommentkämpfen beeindruckt, die es bei Säugetieren und Vögeln, aber auch bei anderen Tieren, ja sogar bei Insekten gibt. Wenn etwa die Männchen kleiner Stielaugenfliegen mit heftigem Hin und Her taxieren, wer den größten Augenabstand hat, so wirkt das zwar für den menschlichen Betrachter höchst belustigend, für die Weibchen der Stielaugenfliegen ist das aber ein zuverlässiges Fitnessmerkmal der Männchen. Darum geht es auch bei den Kommentkämpfen der Hirsche. D e r Platzhirsch als Sieger aus einer Vielzahl gewonnener Kämpfe wird sich schließlich nach dem Prinzip „the winner takes it all" mit (fast) allen Weibchen seines Rudels paaren. Die dadurch erzielte Menge an eigenem Nachwuchs lohnt beides, den Kräfte zehrenden Einsatz im Streit um die Spitzenposition wie auch das viele Jahre lange Warten, bis der Hirsch stark genug ist, die Nummer 1 zu werden. Die Hirsche töten einander dabei nicht. Auch wenn Schafböcke oder Büffel mit aller Wucht zusammenkrachen, bekommen sie dank der Struktur ihrer Hörner keinen Schädelbruch, aber als Sieger eben auch wieder den Fortpflanzungserfolg. Pfauenhähne zittern in höchster Erregung mit prächtig entfaltetem Rad, wenn sich eine scheinbar uninteressierte Henne nähert, und warten ab, ob sie sich zur Paarung entscheidet. Die Hähne unserer Haushühner gehen dagegen nach Wildhuhnart aufeinander los, dass Federn fliegen. Werden solchen Kampfhähnen messerscharfe metallene Spornkappen angelegt, kämpfen sie auf Leben und Tod. Darauf werden in Südostasien Wetten abgeschlossen. Auch bei Kampfhunden zeigen Tötungskämpfe, dass die von Konrad Lorenz erwartete Hemmung keineswegs immer automatisch funktioniert, wenn der Gegner unterlegen ist. Doch das lässt sich in solchen Fällen als Einflussnahme seitens des Menschen abtun.
Alles „im Sinne der Arterhaltung"? Bereits in den 1970er Jahren beobachteten Feldforscher in Afrika aber Verhaltensweisen, die nicht mehr zur Vorstellung vom „arterhaltend" fairen Streit passten. Bei Löwen kommt es zu „Kindesmord", wenn ein neues Männchen ein Weibchenrudel erfolgreich erobert, in dem noch kleine Junge vom Vorgänger vorhanden sind. Die Tötung dieser Jungen bringt die Löwinnen schneller wieder zur Fortpflanzungsfähigkeit; ein für den neuen Pascha zweifellos förderliches Verhalten, um zu eigenem Nachwuchs zu kommen. Denn seine Zeit im Rudel wird nicht lange
Streiten Tiere fairer als Menschen ?
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währen. Die Herausforderer stehen bereit. Diese kämpfen keineswegs immer fair, wie das etwa M a r k & Delia Owens in der Kalahari beobachteten. Der größere, im Einzelkampf stärkere Löwe „Satan" griff ein Brüderpaar von Löwen an, um sie vom Rudel zu verdrängen. Der Kampf endete für ihn mit dem Tod. Denn während er einen der beiden bereits dominierte, biss ihm der andere von hinten die Wirbelsäule durch. Solche und viele weitere Befunde, die sich aus der Feldforschung ergaben, stellten zwar nicht die Kommentkämpfe an sich in Frage, denn diese gibt es, und sie verlaufen auch weitestgehend fair, sondern die zugrunde liegende Interpretation, dass das „im Sinne der Arterhaltung" geschähe. Tatsächlich gibt es bei den Tieren kein Wissen um die Art als solche. Sie existiert nur bei uns Menschen als Mittel der Klassifikation. Dass die Konfliktsteuerung jedoch nicht annähernd so funktioniert, wie sie es sollte, wenn es um das Wohl der Art ginge, drückt nichts deutlicher aus als unser eigenes Verhalten. Menschen hatten nie massiv arterhaltend-moralische Probleme, einander als Nicht-Menschen, als Untermenschen oder expressis verbis als Tiere zu deklarieren und zu vernichten. U m diese Neigung zu überwinden, können wir uns am Verhalten von Tieren als „den besseren Menschen" gewiss nicht orientieren, erwiesen sich diese doch als nicht annähernd so fair und arterhaltend wie erwartet. Höchst egoistisch handeln sie selbst dann, wenn vordergründig Fairness praktiziert zu werden scheint. Zudem gibt es gerade bei den besonders sozialen Arten, wie Ameisen und Ratten, Gruppenkonflikte, die sich durchaus als Kriege beschreiben lassen. Manche Ameisenarten überfallen andere Arten, machen Sklaven und rotten ihre Konkurrenz flächendeckend aus. U n d nicht nur Ratten töten fremde Artgenossen in Gruppenkonflikten, sondern auch die Schimpansen, die uns als Primaten nächst verwandt sind, praktizieren territoriale Aggression mit Vernichtung ihrer Feinde. Verklärte Blicke „in die Tierwelt" liefern daher keine beispielhaften Vorgaben dafür, wie wir unsere Konflikte in verträgliche Formen bringen können. Wir brauchen eigene Regeln, um auch im Streit menschlich zu sein.
Heike Schmoll
Eine deutsche Bildungskatastrophe Die Geschichte von Hellmut Becker und Georg Picht ichts erschien beim Wiederaufbau der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg dringlicher als die Demokratisierung des Schulwesens. Während die einen die Lösung in einer Wiederbelebung des humanistischen Gymnasiums sahen, setzten andere, beeinflusst durch die amerikanischen Besatzungsmächte, auf Einheitsmodelle. Georg Picht (19131982), vor dem Krieg Schulleiter am Birklehof in Hinterzarten, glaubte unmittelbar nach 1945 noch, den Humanismus als Zukunftsmodell propagieren zu können, vollzog aber einen raschen Sinneswandel. Hellmut Becker (1913-1993), der später das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung gründen sollte, setzte auf das amerikanische Modell der Re-Education, auf ein egalisierendes Schulsystem und auf eine soziologisch orientierte Bildungsforschung. Picht und Becker, die beiden sendungsbewussten Vertreter einer kleinen, aber einflussreichen Nachkriegselite, wollten von Elitebildung im Schulwesen nichts wissen. Indem sie Bildung zu jener Massenware machten, die sie heute ist, hatten sie viel mehr Einfluss, als ihre Gegner in der Kultusministerkonferenz es für möglich hielten. Kennengelernt hatten sich die beiden, deren Geburtstag sich in diesem Jahr zum hundertsten Mal jährt, in ihrer Jugend. Becker erbte die Beziehung zu Georg Picht von seinem Vater, dem ehemaligen preußischen Kultusminister und Islamwissenschaftler Carl Heinrich Becker. Pichts Vater Werner wiederum leitete im Kultusministerium das Referat Erwachsenenbildung. Als Vater Picht beruflich nach Paris wechselte, zog seine Frau Greta, die Schwester des Romanisten Ernst Robert Curtius, mit ihrem asthmakranken Sohn Georg allein nach Hinterzarten und bewohnte eines der Häuser des späteren Birklehofs.
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Heike
Schmoll
Georg Picht lernte H e l l m u t Becker im Alter von 15 Jahren im H a u s seiner Eltern kennen. Er hatte zunächst keine Schule besucht, sondern w a r von einem Hauslehrer unterrichtet worden. Eigentlich planten die Eltern Picht und Becker, ihre beiden Söhne gemeinsam auf d e m Birklehof von einem Hauslehrer unterrichten zu lassen, d e m Altphilologen Josef Liegle, der d e m GeorgeKreis nahestand. Doch dazu kam es nicht, weil Becker auf den Plan mit einer schweren Krankheit reagierte. Z u m S t u d i u m in Freiburg fanden sich die beiden wieder. In seinen ersten Studentenjahren hat sich Becker, w i e er später berichtete, w e n i g um die Rechtswissenschaft g e k ü m m e r t u n d stattdessen mit seinem Freund Picht Stefan George gelesen und nächtelang diskutiert. Picht sei sehr viel gebildeter als er selbst, habe wunderbar Klavier gespielt u n d nur deshalb auf eine pianistische Karriere verzichtet, weil er glaubte, die Qualität seiner späteren Frau Edith A x e n f e l d nie erreichen zu können, so jedenfalls die Einschätzung Beckers. Selbstverständlich war es nicht, dass Picht seinen Freund H e l l m u t Becker in die Welt Stefan Georges einführte, die er sonst, „aus tiefen Gründen, auch im Kreis meiner Freunde mit einer dichten Schicht des Schweigens zu u m g e ben pflegte", wie er 1952 in einem Brief an den engen Vertrauten Georges, den Publizisten, U n t e r n e h m e r und Nachlassverwalter des Dichters, Robert Boehringer, schrieb. U b e r Picht hatte Becker auch dessen Vetter zweiten Grades, C a r l Friedrich von Weizsäcker, kennengelernt, ebenfalls ein George-Anhänger. Becker, der in Leipzig Assistent des Staatsrechtlers Ernst Rudolf H u b e r gewesen war, teilte an der 1941 gegründeten Reichsuniversität Straßburg das H a u s mit Carl Friedrich von Weizsäcker. Alles, was er jemals von Piaton begriffen habe, hat Weizsäcker einmal festgestellt, sei ihm von Picht vermittelt worden. Für Picht w a r die Beschäftigung mit Piaton eine Lebensaufgabe. A m Birklehof unterhielt er über J a h r z e h n t e das Platon-Archiv, das auf ein Schlagwortregister über das G e s a m t w e r k des Philosophen anwachsen sollte. Becker verdankte Picht nicht nur die Initiation in die George-Lektüre, sondern auch die Bekanntschaft seines „in späteren Jahren sicherlich ersten intellektuellen Gottes" (Ulrich R a u l f f ) , S i g m u n d Freud. Becker hatte mit Alexander Mitscherlich und M a x H o r k h e i m e r wesentlichen Anteil an der Wiedergründung des späteren Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt. Beckers Art des Weltzugangs w a r die eines Menschenforschers, der eifrig mit Freuds Theorien von der Ichbildung und der Triebentwicklung dilettierte und sie bei jeder Gelegenheit anzubringen suchte. Er liebte es, andere mit persönlich-hintergründigen Fragen in die Enge zu treiben. Das schloss nicht aus, dass er sich für Freunde und Ziehkinder, denen er sich besonders verbunden fühlte, einsetzte und ungeniert Briefe an höchste Stellen schrieb. Seine Korrespondenzordner sind überbordend, er muss mitunter mehr als hundert Briefe am Tag diktiert haben. Als D i r e k t o r des M a x - P l a n c k - I n s t i t u t s für Bildungsforschung soll er zwei Sekretärinnen im Schichtdienst beschäftigt haben. U n e r s c h r o c k e n schrieb er Ministerien an, um auf die Berufungspolitik von Universitäten und politischen Stellen Einfluss zu nehmen. Sein ungeheures Freundschaftsn e t z w e r k nutzend, hat er manchem, wie dem früheren Verwaltungsjuristen des Wissenschaftskollegs J o a c h i m Nettelbeck, die Karriere geebnet. A l s A n w a l t in Kreßbronn lebend, hatte Becker das bayerische u n d das baden-württembergische Schulsystem über seine Kinder und seine an einer Grundschule unterrichtende Frau kennengelernt. Das war offenbar abschreckend genug. Jedenfalls bemerkte ein späterer Generalsekretär der Kultusministerkonferenz treffend, dass Becker sich nie für Schule interessiert hätte,
Eine deutsche
Bildungskatastrophe
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w e n n er nicht das Pech gehabt hätte, an der bayerisch-württembergischen Landesgrenze zu leben. Sein Freund Picht, der zunächst in der Kirchenväterkommission der Berliner A k a d e m i e der Wissenschaften beschäftigt und wegen A s t h m a s v o m Kriegsdienst befreit war, unterrichtete am Birklehof alte Sprachen, bis die Nationalsozialisten im Jahr 1942 das Internat übernahmen. Picht zog als Lehrbeauftragter an das Institut für Altertumswissenschaft in Freiburg und w u r d e im selben Jahr promoviert. N a c h dem Krieg hatte er zunächst vor, den Birklehof, der 1932 als Ausgründung der von Kurt H a h n geleiteten Schule Schloss Salem entstanden war, als evangelisches G y m nasium wiederzueröffnen. Er hielt es für unmöglich, eine Schule im weltanschaulich leeren Raum zu eröffnen, und glaubte, eine Schule mit der „Magna Charta des N e u e n Testaments" führen zu können, so in einem Brief an seinen Freund Becker. Picht wollte sich als Direktor bewerben und nicht länger als zehn Jahre bleiben, weiterhin seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nachgehen und sich habilitieren. Er hegte einen tiefen Widerwillen gegen die „subalterne Existenz eines heutigen Universitätslehrers und gegen all die Kleinheit und Mittelbarkeit, aus der die Universität von der Universität aus nicht erlöst werden kann - vielleicht aber von einer solchen Schule aus. Da wäre ich in m e i n e m Bereich der König" - eine nicht gerade unbescheidene Vorstellung. Die Schule sollte eine Synthese von T ü b i n g e r Stift, Schulpforta und Salem sein, doch aus dem Plan w u r d e nichts. Die badische Landeskirche stellte Picht zu viele Bedingungen, der Direktor in spe fühlte seine Freiheit empfindlich eingeschränkt, so dass der Birklehof am 6. J a n u a r 1946 als humanistisches G y m n a s i u m wiedereröffnet wurde. Picht sah sich nun mit handfesten Alltagsfragen konfrontiert - von der Kartoffelbeschaffung bis zur Lehrersuche. N a c h d e m Zusammenbruch, den er als endgültige Bloßlegung unwahrhaftiger Autoritäten erlebte, erschien ihm die R ü c k k e h r zur humanistischen Bildung als einziger Weg in die Zukunft. Mit einer f ü r heutige O h r e n unvorstellbar pathetischen Rede, in der Wahrhaftigkeit, Ehrfurcht, Ritterlichkeit, Gehorsam u n d Glauben als Leittugenden ausgegeben wurden, eröffnete er die Schule wieder. Es war der hohe Ton, der im Hause Picht auch bei Tisch herrschte und manchen Gast befremdete. Mit seiner Idee von einer Schulbildung, die z u m selbstverständlichen U m g a n g mit antiken Texten im Original befähigen sollte, stand er schon damals auf verlorenem Posten. Auf die Landerziehungsheime mochte er seine H o f f n u n g allerdings auch nicht setzen. Entschieden w a n d t e er sich gegen deren jugendbewegte Tradition und die ihnen eigene Weltflucht in klösterliche Abgeschiedenheit. „Erziehung ist nicht dazu da, die Welt zu verbessern, im Gegenteil, sie soll auf die Welt, so miserabel, wie sie ist, recht vorbereiten", glaubte er. Erziehung hielt Picht eher für eine „Kunst des Geschehenlassens", nicht eine der Formung. Eine Pädagogik, die so vermessen sei, die Menschen auf ein Entwicklungsziel hin zu bilden, sei Selbstbetrug, der unheilvolle Folgen haben könne. Pichts Ehrlichkeitsrigorismus führte zu so absurden Gewohnheiten wie Klassengerichten, w e n n ein Schüler es gewagt hatte, bei einer Klassenarbeit abzuschreiben, bei der die Lehrer meist keine Aufsicht führten. „Ein Birklehofer lügt nicht" lautete die oberste Maxime. Pichts individualistische Art, die Schule zu leiten, führte schon bald zu Spannungen mit dem Kultusministerium des Landes Südbaden. Als er eine Schülerin, die an einer öffentlichen Schule zweimal in derselben Klasse sitzengeblieben war, als Gastschülerin aufnahm, kam es z u m offenen Konflikt. Sein Freund H e l l m u t Becker, einst Mitglied der NSDAP, verteidigte zu jener Zeit im Wilhelmstraßen-Prozess in N ü r n b e r g Ernst von Weizsäcker, SS-Brigadeführer und bis 1943 Staatssekretär im A u ß e n a m t . E m s t s Sohn Richard von Weizsäcker stand Becker beratend zur Seite. Der
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Heike Schmoll
Konflikt über die Gastschülerin am Birklehof, die das Kultusministerium nicht dulden wollte, war Becker eine Reise nach Hinterzarten wert. Picht wollte die freie Schülerwahl für die freien Schulen durchsetzen, tat sich mit dem Leiter des Jesuitenkollegs in St. Blasien zusammen und beauftragte den Freiburger Rechtswissenschaftler Wilhelm Grewe mit einem Gutachten zur Auslegung des Artikels 7 Absatz 4 des Grundgesetzes. Südbaden erließ als erstes Bundesland am 14. November 1950 ein Privatschulgesetz. Es sollte zum Vorbild aller späteren Privatschulgesetze in anderen Ländern werden. Hellmut Becker ging in den Vorstand der Schule, in dem auch der Salemer Schulleiter Kurt Hahn, Carl Friedrich von Weizsäcker und sein Ansprechpartner in juristischen Fragen Carlo Schmid, der Leiter der Zivilverwaltung Württemberg-Hohenzollern, wirkten. Es entstand die Idee, eine Arbeitsgemeinschaft der Privatschulen zu gründen, in der konfessionelle Schulen, Herrnhuter Gymnasien und Anthroposophen zusammenwirkten. Seinen Lebensunterhalt verdiente Becker mit der juristischen Beratung von Landerziehungsheimen und mit seiner Anwaltskanzlei, die während seiner Abwesenheit von seinem Adlatus Alexander Kluge geleitet wurde. Im Jahr 1956 übernahm Becker ehrenamtlich das Präsidentenamt des Volkshochschulverbandes. Anfang der sechziger Jahre gab es kaum ein bildungspolitisches Gremium in der Bundesrepublik ohne Hellmut Becker. Das gilt für seinen Frankfurter Stützpunkt, das Institut für Sozialforschung mit den Direktoren Adorno und Horkheimer, den Beirat des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, den Kulturbeirat des Auswärtigen Amtes, den Ettlinger Kreis mit Industriellen (auch Georg Picht und Richard von Weizsäcker waren Mitglieder) und den Deutschen Bildungsrat, dem er von 1966 bis 1975 angehörte. Auf Initiative der FDP-Politikerin Hildegard HammBrücher rief Hellmut Becker mit dem späteren Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft Adolf Butenandt, den Atomphysikern Otto Hahn und Werner Heisenberg Mitte der sechziger Jahre den Heuss-Preis ins Leben. Gemeinsam mit Frau Hamm-Brücher, die er zwecks Aufbaus der Gesamtschulen ins hessische Kultusministerium vermittelt hatte, wählte er die ersten Preisträger aus, die allesamt zu jenem wirkungsvollen Netz gehörten, das die bildungspolitische Elite in der frühen Bundesrepublik ausgespannt hatte. Der erste Preisträger war im Jahr 1965 Georg Picht. Im Jahr darauf war es Marion Gräfin Dönhoff, die als Chefredakteurin der Wochenzeitung „Die Zeit" eine willige Erfüllungsgehilfin von Beckers publizistischen Initiativen war. 1984 folgte Richard von Weizsäcker, 1989 auch noch Carl Friedrich von Weizsäcker. War Picht 1946 noch der Uberzeugung, dass das humanistische Gymnasium wieder zu der Vorschule für die akademischen Berufe werden könne, zeigte sich spätestens nach zehn Jahren, dass eine Renaissance des humanistischen Gymnasiums unmöglich war. Im Deutschen Ausschluss für das Erziehungs- und Bildungswesen, in dem Picht zehn Jahre lang mitarbeitete, sparte er nicht mit Kritik an dem altsprachlichen Gymnasium, das er mittlerweile als Relikt des 19. Jahrhunderts und des deutschen Idealismus betrachtete. Den sogenannten Rahmenplan des Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen aus dem Jahr 1959 bezeichnete er in einem Brief an Carl Friedrich von Weizsäcker als wirklichen Einschnitt in seiner Biographie: Das dreigliedrige Schulsystem solle beibehalten, die Klassen fünf und sechs in eine Förderstufe überführt und der Stoff in der Oberstufe durch ein Kurssystem entlastet werden. Der Rahmenplan war das erste große Reformkonzept der Nachkriegszeit, das Eingang in die Schulpolitik fand, etwa in der Verlängerung der Hauptschulzeit von acht auf neun Jahre und der Oberstufe der Gymnasien (Abitur nach 13 Jahren). Keine Beachtung fand zunächst der Vor-
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schlag, im fünften und sechsten Schuljahr des Gymnasiums eine „Förderstufe" einzurichten. Bis heute ist dieser Vorschlag nicht aus der Welt zu schaffen. Ausgangspunkt der Überlegungen war die Behauptung, „dass das deutsche Schulwesen den Umwälzungen nicht nachgekommen ist, die in den letzten 50 Jahren Gesellschaft und Staat verändert haben". Belegt wurde sie nicht. Keine Erwähnung fand auch, dass die Anzahl der Realschüler zwischen 1952 und 1960 allein um 43 Prozent, die der Gymnasiasten um 25 Prozent gewachsen war. Das k o n n t e oder wollte der Ausschuss offenbar nicht sehen, ihm erschien das Schulwesen rückständig. Mitglieder im Deutschen Ausschuss waren neben G e o r g Picht Adolf Butenandt, der katholische Publizist Walter Dirks sowie der G ö t t i n g e r Erziehungswissenschaftler Erich Weniger. J a h r e später konnte Picht nur noch das Scheitern seiner Pläne feststellen und machte dafür den hemmungslosen Egoismus der Kultusbürokratien der Länder verantwortlich. Auch in dieser Einschätzung wusste er sich mit seinem Freund Becker einig, dem der „hemmungslose Etatismus" der Länder schon längst ein D o r n im Auge war. Gemeinsam mit dem wissenschaftspolitisch ausgerichteten Deutschen Forschungsrat, der 1951 mit der N o t g e m e i n s c h a f t der Deutschen Wissenschaft zur D e u t s c h e n Forschungsgemeinschaft fusioniert werden sollte, betrieb Hellmut Becker die Einrichtung einer Koordinationsstelle für die Forschung im Bundeskanzleramt. Adenauer war dafür, nicht aber die Länder und der damalige Innenminister Gustav Heinemann, der seine Macht empfindlich beschnitten sah. Die Koordinierungsstelle sollte vor allem dafür sorgen, theoretische und angewandte Forschung enger zusammenzuhalten. 1950 wurde sie tatsächlich eingerichtet, B e c k e r sollte sie leiten. D o c h Becker entschied sich damals gegen die Politik und besann sich in einem Brief an Heisenberg, den Präsidenten des Deutschen Forschungsrats, auf die Vorzüge seiner freiberuflichen Tätigkeit, die er nicht für einen unsicheren Posten in B o n n aufzugeben trachtete. Picht witterte damals größere Einflussmöglichkeiten in der Bundespolitik und riet B e c k e r zu, nicht ohne in einem Brief hinzuzufügen, dass absolut sichergestellt sein müsse, dass B e c k e r nicht an den Kurs Adenauers gebunden wäre, der ihm „sehr schnell abzuwirtschaften" schien. D i e Landerziehungsheime würden, so Picht, doch erst in Kombination mit der B o n n e r Stelle richtig interessant. Aber B e c k e r wähnte sich in einer viel zu wichtigen Rolle, als dass er sich in das Korsett des politischen Beamtentums hätte begeben können. E r machte seinen Einfluss geltend, wo immer er konnte, obwohl er über keinerlei wissenschaftliche Reputation verfügte. E r bewegte sich mit dem Selbstbewusstsein eines von der H e r k u n f t Geadelten auf dem politischen Parkett, führte mit seiner französischstämmigen Frau ein großes Haus in Berlin und wurde schließlich auf Anregung Carl Friedrich von Weizsäckers im Jahre 1963 in die Max-Planck-Gesellschaft geholt und zum Gründungsdirektor des späteren Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung berufen. Das Institut bot ihm eine wesentlich freiere Basis für das geheime Bundeskultusministerium als jedwede Koordinationsstelle im politischen B o n n . M i t seiner vierteiligen Artikelserie „Die deutsche Bildungskatastrophe", die 1964 in der protestantischen Wochenzeitung „Christ und Welt" erschien, war seinem Freund Picht fast zur selben Zeit ein Paukenschlag gelungen. M i t einem Mal standen Bildungsfragen im Zentrum der öffentlichen Debatte. Es stehe ein Bildungsnotstand bevor, den sich kaum jemand vorstellen könne, ein wirtschaftlicher Notstand, der die ganze Gesellschaft in ihrem Bestand bedrohen könne, so die Kassandrarufe Pichts.
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Aus Studien der O E C D und der sogenannten Bedarfsfeststellung der Kultusministerkonferenz aus dem J a h r 1963 meinte der Heidegger-Schüler schließen zu können, dass das Erziehungsund Bildungswesen der Bundesrepublik bei weitem nicht in der Lage sein werde, den Bedarf an qualifizierten Nachwuchskräften zu decken. D i e Zahl der Abiturienten müsse mindestens verdoppelt, die der Akademiker erheblich gesteigert werden, „wenn Westdeutschland im Zuge der Entwicklung der wissenschaftlichen Zivilisation nicht unter die Räder k o m m e n soll". D i e Texte zur Bildungskatastrophe gingen selbst seinem Freund Hellmut Becker zu weit. E r warnte Picht in einem Brief Anfang 1965 davor, die Mischung von Journalismus und apokalyptischer Prophezeiung an anderer Stelle zu wiederholen. Die von Picht geforderte Expansion des Bildungswesens, die heute allenfalls n o c h die O E C D propagiert, hatte sich längst abgezeichnet, und die Verdoppelung der Abiturientenzahl innerhalb eines Jahrzehnts wurde tatsächlich erreicht. Während es im J a h r 1963 n o c h 61 000 Abiturienten waren, waren es 1973 schon 148 3 0 0 , darunter 39 000 Absolventen mit Fachhochschulreife. Picht ging es um eine Anklage und letzten Endes darum, den Kulturföderalismus unter U m g e h u n g des Grundgesetzes auszuhebein. Ein zentrales Bildungssystem nach französischem Vorbild schien ihm der geeignete Ausweg zu sein. Etwa ein J a h r z e h n t später sah sich Picht als Hauptschuldiger für ein U b e r m a ß von Abiturienten auf der Anklagebank. Bei einer Tagung 1973 rechnete Picht, der dem bildungspolitischen Treiben längst den R ü c k e n gekehrt hatte und den 1964 geschaffenen Lehrstuhl für Religionsphilosophie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg übernommen hatte und außerdem seit 1958 die Forschungsstätte der Evangelischen
Studiengemeinschaft
(Fest) in Heidelberg leitete, mit dem Bildungssystem ab. Längst war er zu der Erkenntnis gelangt, dass eine N e u o r d n u n g der Schulen und H o c h s c h u l e n erst möglich werde, wenn der Bund eine R a h m e n k o m p e t e n z erhalte, denn der Kulturföderalismus sei gescheitert. Die gesamte Struktur des Bildungssystems - sein dreigliedriger Aufbau, die Trennung von Berufs- und Allgemeinbildung, die Verknüpfung der Zeugnisse mit einem Berechtigungswesen - entspreche der geistigen Lage und der Realität des 20. Jahrhunderts längst nicht mehr. Picht war der Uberzeugung, dass sich schlechte Startbedingungen nur ausgleichen ließen, wenn die durch das Berechtigungswesen legitimierte bürokratische Reglementierung der Bildungsgänge abgeschafft werde. Was an die Stelle des Berechtigungswesens treten sollte, sagte Picht nicht, wie einer seiner schärfsten Kritiker, der langjährige Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (Dipf) C h r i s t o p h F ü h r damals bemerkte. D o c h solcher Realismus war damals unter Bildungsreformern so wenig gefragt wie heute.
Manfred
Schneider
Irrtümer der Weltliteratur ,Die Odyssee" mit GPS? or gut achtzig Jahren bemerkte Walter Benjamin: „Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung." D e r Gedanke ist nach wie vor aktuell, aber unsere Schulung reicht nicht mehr. Das Verirren, nämlich das Verlangen nach neuer Erfahrung, erfordert heute ein Studium. Zwar sind unsere Städte inzwischen unübersichtlicher, dennoch ist das Verirren dort schwerer geworden. Denn wo immer wir vom Weg abweichen, reichen uns die Navigationsgeräte tausend Hände und weisen uns die Richtung. Mit dem Niedergang der Verirrungskunst versinkt auch eine ganze literarische Welt des Fehlgehens und Verlaufens. Es sind nicht allein die Wälder der Märchen, durch die das Satellitenauge täuschungsfrei blickt, um Hansel und Gretel mit feinen Warntönen am Hexenofen vorbei zu geleiten. Wie das Hexenhäuschen aus Lebkuchen gebaut war, so setzten sich einmal die großen Erzählungen der Literatur aus Irren und Verirren zusammen; aber diese Geschichten werden unseren Kindern bald nichts mehr sagen. Heute könnte Homer aus dem nautischen Zickzack des Odysseus auf der Heimreise von Troja nach Ithaka eine knappe Seefahrerstory machen, die in ein paar Hexametern erzählt wäre. Alles Schwere und Abenteuerliche hätte der Fortschritt erspart, die erotische Fron des Helden bei Kalypso, den Verlust der Gefährten bei der Skylla, Kirkes Verwandlung der Freunde in Schweine, und vor allem hätte Penelope nicht unter den prinzlichen Stalkern leiden müssen.
Erkenntnis ohne Irrtum? Ist die Abschaffung des Verirrens nicht der ersehnte Triumph der technischen Rationalität? Wollten wir nicht schon immer die Irrtümer beseitigen? Immanuel Kant machte noch in seiner Logik
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Manfred Schneider
klar, dass das Irren nicht von der N a t u r k o m m t , sondern vom falschen Gebrauch der Urteilskraft. Irrtum und Fehltritt hießen die ältesten Feinde der Aufklärung! Unsere Navigationssysteme führen uns endgültig heraus aus dem geschulten Verirren. A b e r gibt es Erkenntnis o h n e Irrtum? H a t sich Kant niemals geirrt? War Einstein niemals auf dem H o l z w e g ? U n d die Helden der Literatur? Hätte sich der Erzähler der „Göttlichen K o m ö die" nicht am Karfreitag des Jahres 1300 in einem dunklen Wald verirrt, nie hätte er die drei J e n seitsreiche bereisen können, und nie wäre er der Erleuchtung in den obersten Himmelsregionen teilhaftig geworden. Gewiss ist die astronomische Karte des Ptolemäus längst überholt, aber die platonischen Sphären, die D a n t e auf seinem Weg durch das Jenseits durchmaß, lassen sich heute angeblich von jedem R e c h n e r aus ansteuern. Jedenfalls, wenn wir Julian Assange ernst nehmen, der das Internet als „unser platonisches R e i c h " feiert. Aber dass im Internet wie in Dantes 29. Paradiso-Gesang solche gewaltigen Engelschwärme auftauchen, „für deren Zahl niemals eine Sprache ward gefunden", wird man füglich bezweifeln.
Millionen ungeweinter Tränen Walter Benjamin hat von der „profanen Erleuchtung" gesprochen, die uns beim Verirren nicht im H i m m e l , sondern auf Erden bisweilen erwartet, wenn der Alltag die Schleusen seiner G e h e i m nisse öffnet. Eine solche biografische Erleuchtung erlebte der Erzähler der „Suche nach der verlorenen Z e i t " , als er über das Pflaster einer Hauseinfahrt stolperte und sich plötzlich von Bildern aus Venedig überflutet fühlte, wo sein F u ß auch einmal gestrauchelt war. A b e r die Zeiten, da sich Zeit verlieren und wiederfinden ließ, sind vorbei. In unser unbewusstes Gedächtnis sind Tausende digitalisierter Bilder aus jeder wachen Stunde unseres Lebens eingespeist, durch die es kein Geheimnis mehr schafft. Werden wir noch einmal ein mystisches Erlebnis der Zeit haben? Werden die Digitaluhren uns noch einmal in Zeit und Raum straucheln lassen wie T h o m a s Manns Hans Castorp im „Zauberberg" oder auch wie Leopold B l o o m in James J o y c e ' „Ulysses"? O d e r gar nicht wiederkehren lassen wie den Zeitreisenden in H e r b e r t G . Wells' „Time Machine"? M a n c h älterer Romanheld würde heute gar nicht erst geboren! Bedenkt man die Zeugungsumstände, die Laurence Sternes Tristram Shandy das Leben gaben, dann muss man das 18. Jahrhundert segnen, als die bürgerliche Welt ihren Alltag noch an den Signalen der Kirchenglocken und Standuhren ausrichtete. D e r Erzählerheld dieses Romans kann Tag und Stunde seiner Zeugung präzise angeben, weil er weiß, dass sein Vater zwei seiner lästigen häuslichen Obliegenheiten stets am ersten Sonntagabend eines jeden M o n a t s nacheinander zu erledigen pflegte, nämlich die große Hausuhr aufzuziehen und der ehelichen Pflicht nachzugehen. H e u t e lassen sich die jungen Frauen durch ihre elektronischen Geräte an die Einnahme der Kontrazeptiva erinnern. Damals war es umgekehrt. D a wir das Spontane anbeten, bleibt uns rätselhaft, wie aus der Arbeit am U h r w e r k und im E h e b e t t noch profane Erleuchtungen hervorgehen können. A b e r ist der Abriss dieser Zeiterfahrung wirklich ein Verlust? Wir haben ja auch das Verschwinden des Tragischen verkraftet. Die Verwandtschaft des Königs Ödipus wäre heute durch einen G e n t e s t ans Licht gelangt. D i e „Pille danach" unterbindet die bürgerlichen Tragödien der G r e t c h e n und Klaras. Erst recht hätte der Kurznachrichtendienst unserer Tage R o m e o und Julia ein glückliches Ende gesichert. A b e r Shakespeares Julia ahnte noch, dass nicht Familienfehden,
Irrtümer
der
Weltliteratur
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s o n d e r n l a h m e n d e B o t e n ihr U n g l ü c k v e r u r s a c h e n w ü r d e n . Sie k l a g t e daher: „ L e i c h t b e s c h w i n g te Tauben ziehn der Liebe W a g e n u n d C u p i d o hat w i n d s c h n e l l e F l ü g e l . " A b e r die r e t t e n d e N a c h richt bleibt später in einer P e s t - Q u a r a n t ä n e h ä n g e n . Eine S M S v o n B r u d e r L o r e n z o , u n d Millionen von Z u s c h a u e r t r ä n e n blieben u n g e w e i n t . L i e ß e sich heute n o c h das t r ä n e n r e i c h s t e B u c h d e u t s c h e r Sprache s c h r e i b e n ? In G o e t h e s „Leiden des j u n g e n W e r t h e r s " w i r d auf h u n d e r t Seiten s e c h z i g m a l g e w e i n t . Diese E m p f i n d s a m k e i t w ä r e u n m ö g l i c h , s c h i c k t e W e r t h e r s e i n e m F o l l o w e r W i l h e l m bei jeder Ü b e r s c h w e m m u n g der A u g e n eine T w i t t e r - N a c h r i c h t . A b e r in der P o s t k u t s c h e n - E p o c h e , als d e r B o t e allenfalls zweimal p r o W o c h e k a m , stapelten sich die Seufzer. Ins M i n u t e n w a r t e n bis z u r nächsten S M S passen nicht m e h r die S e h n s ü c h t e d e r U r a h n e n : „Diese B r i e f n o t , dieser H e i ß h u n g e r nach N a c h r i c h t e n ! " , so erinnert sich C o s i m a W a g n e r an die J a h r e , als sie noch von R i c h a r d W a g n e r e n t f e r n t lebte. Den L i e b e n d e n w o l l e n w i r z u g e s t e h e n , dass sie lieber K u r z n a c h r i c h t e n tauschen, als i m m e r n e u e Part i t u r e n i h r e r S e u f z e r aufs Papier zu b r i n g e n . A b e r w e l c h e E r l e u c h t u n g e n v e r d a n k e n w i r irrtumb e d ü r f t i g e n Leser d o c h j e n e n S e u f z e r n : aus den echten u n d g e f ä l s c h t e n Briefen d e r g r o ß e n Lieb e n d e n v o n H é l o ï s e ü b e r Elizabeth Barrett u n d R o b e r t B r o w n i n g bis F r a n z K a f k a ! U n d n i c h t nur Liebesseufzer. A u c h B ü c h e r s e u f z e r . M i t G o o g l e B o o k s u n d d e m unendlichen A n g e b o t an e l e k t r o n i s c h e n B ü c h e r n aus d e m I n t e r n e t v e r s c h w i n d e n auch jene d ü s t e r e n und heiteren G e s t a l t e n , die ihren u n m ä ß i g e n B ü c h e r h u n g e r auf e b e n s o g r a u s a m e w i e geniale Weise zu stillen s u c h t e n . U n m ö g l i c h g e m a c h t ist d e r M a g i s t e r Tinius, d e r zu B e g i n n des 19. J a h r h u n d e r t s s o g a r eine w o h l h a b e n d e W i t w e erschlug, u m ihr Geld f ü r seine b i b l i o m a n i s c h e n Verirrungen zu r a u b e n . S e c h z i g t a u s e n d B ü c h e r u m f a s s t e d e r A u k t i o n s k a t a l o g s e i n e r B i b l i o t h e k , die im A n s c h l u s s an seine V e r u r t e i l u n g u n t e r den H a m m e r k a m . U n d w o w i r d jemals J e a n Pauls verg n ü g t e r M a r i a W u t z w i e d e r a u f e r s t e h e n , das a r m e b ü c h e r l i e b e n d e S c h u l m e i s t e r l e i n ? N u r einmal jährlich leistete sich W u t z den Leipziger M e s s e k a t a l o g , u n d alle Bücher, die er nicht k a u f e n k o n n te, s c h r i e b er sich selbst, so dass von seiner H a n d nicht n u r Schillers „Räuber", s o n d e r n auch K a n t s „Kritik der reinen V e r n u n f t " und die T a g e b ü c h e r v o n C o o k s „Reise u m die W e l t " seinen B ü c h e r s c h r a n k zierten.
Menschenrecht auf Verirren N a t ü r l i c h ist es eine Trivialität, dass der F o r t s c h r i t t seit d e m 19. J a h r h u n d e r t alte R o m a n f i g u r e n u n d t r a g i s c h e V e r w i c k l u n g e n u n m ö g l i c h g e m a c h t hat: E i s e n b a h n u n d D a m p f m a s c h i n e trieben den r o m a n t i s c h e n K ü n s t l e r n u n d H a n d w e r k e r n das W a n d e r n aus, das b ü r g e r l i c h e R e c h t hat Ehre u n d D u e l l e a b g e s c h a f f t , u n d eine A r m e e von P l a y b o y s m a c h t die D o n J u a n s u n d C a s a n o v a s zu A l l e r w e l t s f i g u r e n . A b e r h a b e n w i r noch Z u g a n g zu diesen E r f a h r u n g e n ? U n s e r e S c h u l e n streic h e n die Literatur d e r V e r g a n g e n h e i t aus den Lehrplänen, weil u n s e r e Kinder m i t den N ö t e n e i n e r E m i l i a Galotti n i c h t s m e h r a n f a n g e n k ö n n e n . W a r u m bei p r i n z l i c h e m B e g e h r e n sich den D o l c h g e b e n ? Ihre N o t h e u t e ist ein a n s p r u c h s v o l l e s B u c h . O d e r den W i s s e n s d u r s t eines D o k tor F a u s t . Gibt es W i s s e n s d u r s t im Zeitalter von W i k i p e d i a ? Gibt es Verirrensdurst mit der Erleichterungsdidaktik? M i t d e m U n z e i t g e m ä ß - W e r d e n so vieler E r f a h r u n g e n , t r a g i s c h e r G r u n d g e f ü h l e , m y s t i s c h e r E r l e u c h t u n g e n , k l ö s t e r l i c h e r Einsamkeit, p i e t i s t i s c h e r G o t t s u c h e r - V e r z w e i f l u n g , revolutionärer B e g e i s t e r u n g , a n a r c h i s t i s c h e r L e i d e n s c h a f t , r o m a n t i s c h e r S e h n s u c h t , h e r o i s c h e r Selbstopfer
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wurden wir u m die C h a n c e des Erlebens von Irrwegen, Fehltritten und Erleuchtungen gebracht. D e r technische K o m f o r t und die Schmerzlosigkeit unserer Tage verschließen uns nach und nach den Zugang zu diesen Welten. Wir können sie aufrufen, aber wir können uns schwerlich darin noch verirren. D a r u m verlangen wir: Das Recht auf Verirren gehört in die Menschenrechtscharta!
Barbara Stollberg-Rilinger
Von der Schwierigkeit des Entscheidens ntscheiden ist i m m e r schwierig. I c h w e i ß beispielsweise nicht, welche Schwierigkeiten es der J u r y des H i s t o r i s c h e n Kollegs bereitet hat, ihre E n t s c h e i d u n g zu fällen, und ich m ö c h te j e t z t auch gar nicht Ihre kritische A u f m e r k s a m k e i t auf die Frage lenken, wie rational diese E n t s c h e i d u n g war. D i e Erfahrung lehrt ja, dass einer E n t s c h e i d u n g , wenn sie einmal f ö r m lich gefallen ist, im N a c h h i n e i n ihre eigene Rationalität gewissermaßen von selbst zuwächst. D a f ü r sorgen normalerweise s c h o n die institutionellen M e c h a n i s m e n , in die eine Entscheidung eingebettet ist, und die F o r m e n , in denen die E n t s c h e i d u n g präsentiert wird (zum Beispiel Zeremonien wie diese hier). A b e r darüber m ö c h t e ich naheliegenderweise jetzt gar nicht nachdenken. I c h m ö c h t e vielmehr ausdrücklich vorausschicken, dass meine Beschäftigung mit dem T h e m a „ E n t s c h e i d e n " älter ist als die E n t s c h e i d u n g des H i s t o r i s c h e n Kollegs, also nicht erst von dem heutigen Anlass inspiriert. Ich m ö c h t e vielmehr diese G e l e g e n h e i t nutzen, I h n e n ein paar Ü b e r l e g u n g e n vorzutragen, die ich gemeinsam m i t einigen M ü n s t e r a n e r Kollegen in den letzten M o n a t e n angestellt habe. D a b e i geht es darum, das Entscheiden als solches in einer etwas anderen Perspektive als üblich auf die Agenda der G e i s t e s - und Kulturwissenschaften zu setzen und damit das M o n o p o l der ö k o n o m i s c h und sozialpsychologisch geprägten Disziplinen auf dieses T h e m a zu brechen. D i e Ausgangsthese lautet: E n t s c h e i d e n ist nicht selbstverständlich - ja es ist nicht einmal wahrscheinlich. G e n a u e r gesagt: Es versteht sich nicht von selbst, dass H a n d e l n als E n t s c h e i dungshandeln gerahmt, geformt und w a h r g e n o m m e n wird. O b und inwiefern das der Fall ist, so die zweite T h e s e , ist vielmehr historisch variabel und d.h. kulturabhängig. M i t anderen Worten: D a s Entscheiden hat eine historische D i m e n s i o n . W e n n das aber so ist, dann muss man fragen, o b sich unterschiedliche Kulturen des E n t s c h e i d e n s - oder auch Kulturen des N i c h t - E n t s c h e i dens - rekonstruieren lassen. W i r m ö c h t e n in M ü n s t e r gemeinsam versuchen, eine G e s c h i c h t e des E n t s c h e i d e n s als einer A r t variabler Kulturtechnik zu entwerfen.
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Barbara
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Dazu möchte ich zunächst einen Schritt zurück tun und grundsätzlich fragen: Was ist das eigentlich - eine Entscheidung? Schon das ist keineswegs so klar, wie die alltagssprachliche Verwendung des Wortes suggeriert. Was genau meinen wir eigentlich, wenn wir sagen: Es wurde entschieden? Schon sprachlich zeichnen sich deutliche Unterschiede ab, je nachdem, ob wir sagen, eine Entscheidung wurde gefunden, oder eine Entscheidung wurde gefällt. N o c h deutlicher wird dies, wenn man sich verschiedene Hintergrundmetaphern ansieht: Denken Sie an Waage, Würfel oder Schwert. Es macht offensichtlich einen Unterschied, ob man sich den Vorgang des Entscheidens vorstellt wie einen Akt des Wägens, wie einen Akt des Würfeins oder wie einen Akt des Durchschlagens, Durchtrennens. Im ersten Fall senkt sich die Waagschale von allein, nur aufgrund des Gewichts - z.B. der guten oder bösen Taten eines Sünders - , die in die Waagschale geworfen werden. Das Urteil (etwa im Falle der Justitia, vor allem des Jüngsten Gerichts) folgt aus dem Gewicht der guten Gründe gleichsam von allein, ohne Zutun des Richters. Ganz anders verhält es sich mit den Würfeln, die so oder anders fallen: D a gibt es keinerlei Zusammenhang zwischen irgendwelchen Gründen und der Entscheidung, ganz im Gegenteil. Es ist vielmehr dem Wirken des blinden Zufalls überlassen (oder der transzendenten Mächte, die sich vielleicht dahinter verbergen), wie die Entscheidung - buchstäblich - fällt. Mit anderen Worten: Die Metapher des Würfels oder des Losens betont geradezu dramatisch die Kontingenz des Entscheidens, d.h. den Umstand, dass immer auch anders hätte entschieden werden können. Manche Theoretiker betonen den grundsätzlich aleatorischen Charakter allen Entscheidens, das Willkür-Moment, das allem Entscheiden innewohnt. Folgte die Entscheidung zwingend aus guten Gründen, dann handelte es um eine deterministische Ableitung und eben nicht um eine Entscheidung. Entscheiden heißt demnach gerade, „sich über den Mangel an guten Gründen hinwegzusetzen" (Günter Ortmann). Es gibt immer einen Sprung, einen Hiatus zwischen allen noch so rationalen Erwägungen und der Entscheidung. Das macht die Etymologie des Wortes Entscheidung sehr gut deutlich - de-cisio, Ent-scheidung. Damit sind wir bei der dritten der eingangs genannten Hintergrundmetaphern: dem Schnitt oder - etwas drastischer, dem Schwerthieb. Das Wort decisio deutet an, dass eine Entscheidung einen Einschnitt im Zeitverlauf, eine Diskontinuität erzeugt: Sie trennt das Vorher vom Nachher, nämlich die Vergangenheit, in der es noch mehrere Optionen gab, von der Zukunft, in der man sich bereits festgelegt hat und nun gemäß der einen ausgewählten Option handelt. Die Metapher des Zerschneidens, des Schwerthiebs suggeriert darüber hinaus ein Moment der Willkür: D e r Gordische Knoten, den Alexander mit seinem Schwert durchtrennt hat, steht für eine Situation, in der die Komplexität der Umstände ein rationales Abwägen aussichtslos macht, in der aber gleichwohl entschieden werden muss, für eine Situation also, in der es rationaler ist, überhaupt zu entscheiden - und sei es irrational - , als gar nicht zu handeln. D o c h : Das Treffen einer Entscheidung ist immer riskant, weil damit zukünftige Handlungsmöglichkeiten ausgeschlossen werden, ohne dass die .Richtigkeit' der Entscheidung im Moment des Entscheidens selbst gewährleistet wäre. Die verworfenen Optionen bleiben ja als denkbare Alternativen in Erinnerung. Deshalb sind Entscheidungen besonders anfällig für Widerspruch und einem hohen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. D e r Vorwurf, man hätte besser anders entschieden, steht immer im Raum. Die Kontingenz des Entscheidens ist deshalb immer eine Zumutung, und zu entscheiden ist - immer, auch heute - keineswegs die Regel, sondern die Ausnahme. Meist lässt man sich gar nicht erst darauf ein. Denn Entscheiden - im strengen Sinne, d.h. die explizite Erzeugung und Abwägung verschiedener Optionen und die ebenfalls explizite Fest-
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legung auf eine davon, hinter die es dann kein Zurück gibt - Entscheiden in diesem strengen Sinne ist aufwendiger als Nichtentscheiden. Es verursacht Kosten. Man könnte vom Segen der Ambiguität, von der Tugend der Unentschiedenheit sprechen. Sind Entscheidungen aber unvermeidbar, dann gibt es ein breites Spektrum von Arten, mit der K o n t i n g e n z des Entscheidens umzugehen. Das zeigen die eingangs erwähnten unterschiedlichen Metaphern: Das eine Extrem besteht darin, die Kontingenz offensiv als solche zu betonen und auf das Abwägen von Gründen völlig zu verzichten - etwa durch Techniken der Zufallsentscheidung oder durch autoritative Willkür im Sinne des Dezisionismus (auctoritas, non Veritas facit decisionem, um Thomas H o b bes abzuwandeln). Das andere E x t r e m besteht darin, die Kontingenz des Entscheidens so weit wie möglich zum Verschwinden zu bringen, etwa durch transzendente Entscheidungshilfen wie das Gottesurteil oder durch rationalistische Entscheidungsprogramme, die scheinbar automatisch die ,einzig richtige Entscheidung' hervorbringen (veritas, non auctoritas facit decisionem).
Inwiefern hat all das nun eine historische Dimension, inwiefern lohnt es sich, das zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft zu machen? Gehen wir von der heutigen Situation aus. Wir leben heute, sagt der Soziologe U w e Schimank, in einer Entscheidungsgesellschaft. D a m i t ist gemeint, dass in unserer Gesellschaft wesentlich m e h r als in traditional bestimmten Gesellschaften entschieden werden kann und entschieden werden muss. Einerseits wird immer mehr entscheidungsbedürftig und es wird immer schneller entschieden. W i r erleben immer mehr Situationen als Entscheidungssituationen, in denen entschieden werden muss, und wir haben dabei immer mehr Optionen, zwischen denen wir entscheiden müssen: von der alltäglichen Kaufentscheidung vor den endlosen Produktregalen im Supermarkt bis hin zu neuartigen Entscheidungszwängen in den existenziellsten Situationen: der Entscheidung, ob man ein Kind b e k o m m t oder nicht, oder der Entscheidung, ob ein Patient als t o t zu gelten hat oder nicht. Andererseits aber wird zugleich die Unsicherheit, wie man vernünftig entscheiden soll, immer größer, weil die Entscheidungsoptionen angesichts völlig unüberschaubarer Informationsmassen immer unabwägbarer und die Entscheidungsfolgen angesichts h o c h k o m p l e x e r Strukturzusammenhänge immer unabschätzbarer werden. Mit anderen Worten: Das Entscheiden ist eine wachsende Zumutung. Wir gehen widersprüchlich mit dieser Zumutung um. Einerseits vertrauen wir weitreichende Entscheidungen - zum Beispiel HochgeschwindigkeitsFinanztransaktionen - dem C o m p u t e r an, d.h. wir (oder jedenfalls die Wirtschafts- und Finanzexperten) vertrauen blind auf die rationalen Effekte automatisierter Abläufe gemäß mathematischen Algorithmen, die menschliches Entscheiden erübrigen. Politiker verkaufen ihre Entscheidungen gern als „alternativlos", was ein Widerspruch in sich ist: eine alternativlose Entscheidung ist eben gar keine. In beiden Fällen wird die Kontingenz des Entscheidens scheinbar zum Verschwinden gebracht; d.h. man hängt einem überaus optimistischen Glauben an die Möglichkeit der „einzig richtigen", einzig rationalen Entscheidung an. Andererseits ist genau dieses geradezu irrationale Zutrauen in die menschliche Rationalität m e h r und nachhaltiger irritiert denn je. Das alte rational-choice-Modell ist mittlerweile gründlich entzaubert worden, und zwar von Vertretern der „Entscheidungswissenschaften" selbst.
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Menschen, das weiß man mittlerweile, entscheiden keineswegs nach Abwägung aller verfügbaren Informationen und guten Gründe; sie entscheiden vielmehr oft auf der Grundlage weitgehender Ignoranz. Umgekehrt kann es dann auch durchaus vernünftig sein, gar nicht zu entscheiden. Soziologen und Politiker entdecken heute wieder mehr und mehr den Segen der Unentschiedenheit, sie singen das Lob der Routine, sie vertrauen aufs Durchwursteln, das unter der Bezeichnung Inkrementalismus salonfähig geworden ist. Auch die populäre Alltags-Ratgeberliteratur rät zum Aussitzen, Abwarten, Nicht-Handeln. Mehr noch: In manchen Fällen - wie etwa der pränatalen Medizin - kann es moralisch geboten erscheinen, geradezu ein Recht auf Nicht-Entscheiden geltend zu machen. Man sieht: Wir machen durchaus widersprüchliche Erfahrungen mit dem Entscheiden.
Diese Beobachtungen legen es nahe, einen Schritt zurück zu treten und das Phänomen des Entscheidens aus größerer historischer Distanz zu betrachten. Wie gingen Menschen vergangener Gesellschaften mit der Zumutung des Entscheidens um? Inwiefern modellierten sie ihr Handeln als Entscheidungshandeln - oder auch nicht? Und mit welchen Folgen? Das scheint auf den ersten Blick gar keine so neue Frage zu sein. Historiker befassen sich doch, könnte man meinen, seit jeher mit Entscheidungen, das ist geradezu ihr ureigenstes Thema. Historiker rekonstruieren vergangene Entscheidungsmotive und analysieren Entscheidungsfolgen. Damit betreiben sie meistens das Geschäft der Nachrationalisierung. Was tatsächlich vielleicht Routinehandeln oder spontanes Reagieren gewesen sein kann, wird nachträglich als (rational nachvollziehbares) Entscheidungshandeln ausgewiesen. Was dabei unausgesprochen unterstellt wird ist, dass überhaupt entschieden wurde. D.h. Historiker fragen gewöhnlich nicht danach, ob und auf welche Weise das Handeln der historischen Akteure überhaupt von diesen selbst als Entscheidungshandeln inszeniert und wahrgenommen wurde. Auch die sogenannten „Entscheidungswissenschaften" interessieren sich dafür, wie entschieden wird - rational oder weniger rational - , aber sie setzen dabei immer schon voraus, dass überhaupt entschieden wird. Ja, sie produzieren sogar - im Unterschied zu den Historikern - selbst durch ihre Experimente erst die Entscheidungssituation, deren Resultat sie dann untersuchen. In der sozialen Realität hingegen ist die Frage, ob es sich bei einem sozialen Geschehen um einen Entscheidungsvorgang handelt oder nicht, oftmals ganz uneindeutig, und das Geschehen wird oft erst im Nachhinein als Entscheidungshandeln ausgewiesen. Genau das aber - ob und wie ein soziales Geschehen als Entscheiden kommuniziert und inszeniert wird, lohnt eine größere Aufmerksamkeit der Historiker; genau das bedarf der Historisierung. Dazu muss man es aber anders fassen, als das gemeinhin getan wird: nämlich nicht als individuelles, mentales, kognitives Geschehen, so wie es Ökonomen oder Psychologen betrachten, sondern als kommunikatives, als soziales Geschehen. Damit komme ich zurück zu meiner Ausgangsthese: Entscheiden ist, was als Entscheiden gilt, was als solches gerahmt, modelliert, kommuniziert, wahrgenommen wird - und zwar, wie gesagt, oft erst nachträglich. Ob soziales Handeln in dieser Weise gestaltet und beobachtet wird oder nicht, unterliegt historischem Wandel. Ich möchte, wie gesagt, auch im Namen meiner Münsteraner Kollegen dafür plädieren und dazu anregen, auf diese Frage mehr historiographisches Augenmerk zu richten als bisher. Damit könnte auch ein Beitrag zu einer Reformulierung ver-
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trauter Modernisierungserzählungen u n d z u r E n t z a u b e r u n g ü b e r k o m m e n e r Rationalitätsmyt h e n geleistet werden. Es fragt sich ja: Wenn die heutige Gesellschaft tatsächlich eine „Entscheidungsgesellschaft" ist - wie ist sie dazu geworden? Wie verhielt es sich mit dem Entscheiden in v o r m o d e r n e n Gesellschaften? H a b e n wir es da mit Kulturen des N i c h t - E n t s c h e i d e n s zu tun?
Lassen Sie mich, w o r u m es mir geht, hier n u r an einem p r o m i n e n t e n Beispiel ganz skizzenhaft illustrieren: am P h ä n o m e n der H e r r s c h a f t s n a c h f o l g e im R ö m i s c h - d e u t s c h e n Reich. Seit dem Spätmittelalter wurde in d e n meisten europäischen Monarchien das T h r o n f o l g e r e c h t in schriftlichen Hausverträgen formalisiert u n d f ü r alle möglichen Fälle im Voraus b e s t i m m t . Dabei ging es darum, die H e r r s c h a f t s n a c h f o l g e in einen quasi-natürlichen A u t o m a t i s m u s zu verwandeln u n d mit der Aura des U n v e r f ü g b a r e n zu u m g e b e n . Selbst ein Konstruktivist wie T h o m a s H o b b e s n e n n t das Erstgeburtsrecht ein „natürliches Los" ( D e cive c.3, § 17f.). Mit anderen Worten: Es ging d a r u m , Entscheidungssituationen auszuschließen. Das Salische H a u s g e s e t z in Frankreich ist das w o h l p r o m i n e n t e s t e Beispiel. Auch w e n n es Konflikte in Einzelfällen keineswegs immer verhinderte, so galt doch als formale N o r m , dass der Tod des H e r r s c h e r s die T h r o n f o l g e des Erben quasi-automatisch auslöste, o h n e D a z w i s c h e n t r e t e n einer E n t s c h e i d u n g . I m Heiligen Römischen Reich deutscher N a t i o n war das anders. H i e r musste i m m e r wieder neu entschieden werden. Das schuf Probleme. Die D o m i n a n z des Wahlprinzips hatte im mittelalterlichen Reich (ähnlich wie im P a p s t t u m ) wiederholt zu Uneindeutigkeit u n d Spaltung g e f ü h r t . A m einen O r t k o n n t e der, am anderen jener König sein. D o c h es gab keine Person u n d keine Regel, die darüber letztgültig entscheiden k o n n t e . Eine solche doppeldeutige Lage k o n n t e n u r d u r c h Waffengewalt beendet werden (was dann als G o t t e s u r t e i l galt) - oder gar nicht, d.h. m a n musste mit einem Z u s t a n d dauerhafter Unausgetragenheit z u r e c h t k o m m e n . Die E r f a h r u n g solcher H e r r s c h a f t s k r i s e n a u f g r u n d von D o p p e l w a h l e n f ü h r t e im Reich zu einer (für die weltliche H e r r s c h a f t ) f r ü h e n Formalisierung des Entscheidens, nämlich d u r c h die b e r ü h m t e Goldene Bulle Karls IV. von 1356 - die zwar erst im Laufe der Zeit den Status eines unverfügbaren Reichsgrundgesetzes erwarb, die dann aber, ungeachtet faktischer Verstöße und Veränderungen im Detail, bis z u m Ende des Reiches von einer erstaunlichen normativen Beharrungskraft war. Was ä n d e r t e sich durch diese Formalisierung des Entscheidens? D i e G o l d e n e Bulle fixierte bekanntlich den Kreis d e r sieben Königswähler, deren Privilegien und den zeremoniellen U m g a n g untereinander, sie b e s t i m m t e O r t , D a u e r u n d Verfahren der Wahl u n d legte die Geltung der Mehrheitsregel fest. Wenn alle K u r f ü r s t e n oder die M e h r z a h l die Wahl vollzogen haben, so heißt es dort, dann ist diese Wahl so anzusehen, als ob sie von ihnen allen einhellig u n d ohne G e g e n s t i m m e vollzogen w o r d e n wäre. Die G o l d e n e Bulle unterwarf, so k ö n n t e m a n sagen, die Königswahl der Logik des klassischen D r a m a s , nämlich der Einheit v o n O r t , Zeit, Personen u n d H a n d l u n g . D a m i t sollte garantiert werden, u n d das ist der springende P u n k t , dass ü b e r h a u p t entschieden wurde. Die G o l d e n e Bulle sollte d a f ü r sorgen, dass der Prozess des Entscheidens sicher in G a n g gesetzt u n d mit Gewissheit zu E n d e g e f ü h r t wurde. Ahnlich wie bei der Papstwahl bereits ü b e r ein J a h r h u n d e r t zuvor, gingen dabei die E i n f ü h r u n g des Mehrheitsprinzips und A b s c h l i e ß u n g der Wahlkörperschaft H a n d in H a n d und bedingten einander. Es kennzeichnet formale Verfahren ganz allgemein, dass der Kreis der Beteiligten d u r c h Mitgliedschaftsregeln festgelegt wird, dass abstrakte Verfahrensschritte definiert werden, vor allem aber, dass die Betei-
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ligten sich der zu treffenden Entscheidung im Voraus, unabhängig von dem jeweiligen Ergebnis, unterwerfen. Das war bei der deutschen Königswahl in der frühen N e u z e i t der Fall. D i e Kurfürsten verpflichteten sich einzeln zu Beginn der förmlichen Wahlhandlung im Konklave, sich der Mehrheitsentscheidung zu unterwerfen. Das war ungewöhnlich. D e r Normalfall einer vormodernen politischen Versammlung sah ganz anders aus. Mehrere miteinander verbundene Strukturmerkmale vormoderner Gesellschaften standen normalerweise einem solchen klaren und eindeutigen Entscheidungsverfahren im Weg: der hohe Wert des Konsenses, das große Gewicht von Rang und Ehre und nicht zuletzt die geringen Erzwingungschancen gegenüber der Minderheit. C o m p o s i t i o , Einigung, war unter diesen Umständen angemessener als decisio, Entscheidung. Einmütigkeit, unanimitas, hatte zum einen eine hohe spirituelle Würde, denn Eintracht war ein Indiz göttlichen Wirkens, Zwietracht hingegen war des Teufels. Einhelligkeit war aber auch aus pragmatischen Gründen erstrebenswert. Denn Dissens konnte kaum öffentlich von Angesicht zu Angesicht artikuliert werden, ohne dass persönlicher Ehrverlust und damit gewaltsame E s k a lation drohten. Zudem vertrug sich das große Gewicht des hierarchischen Ranges schlecht mit dem Majoritätsprinzip, das ja Gleichheit der Stimmen voraussetzt bzw. selbst herstellt. U n t e r rangmäßig Ungleichen k o n n t e n die Stimmen nicht ohne weiteres gezählt, sie mussten gewogen werden. Wenn die maior pars (der größere Teil) nicht mit der sanior pars (dem besseren Teil) identisch war, hatte man ein Problem. Deshalb verfuhr man in der Regel so, dass man zuerst vertraulich und informell die Möglichkeiten einer einhelligen Entscheidung auslotete, und zwar hierarchisch von oben nach unten, bevor man in feierlich-formaler Sitzung aufeinandertraf. Deshalb auch funktionierten die meisten spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Versammlungen nach dem Prinzip der Umfrage: D.h., die Versammelten wurden in der Reihenfolge ihres Ranges um ihre Voten gebeten, und dabei wurde nicht formal zwischen Meinungsäußerung und A b s t i m mung unterschieden. N u r wenn sich aus den Voten eine ungefähre Mehrheitsmeinung oder ein vager Konsens herausschälte, hielt der Versammlungsleiter das als Ergebnis fest. D i e Versammlungen spielten sich tendenziell in einem Modus ab, den man Palavers nennen kann; das heißt, die Ubergänge zwischen Erwägen, Aushandeln und Entscheiden waren völlig fließend, und dass es überhaupt zu einer Entscheidung kam, war unsicher, ja eher unwahrscheinlich. D i e Verhandlungsweise des Palavers - der Begriff ist nicht pejorativ gemeint - ist auch heute noch kennzeichnend für Situationen mit hohem Harmoniedruck, starkem Bedürfnis nach persönlicher G e s i c h t s wahrung und geringen C h a n c e n , das Ergebnis auch gegen Dissens durchzusetzen. Ein solcher Modus des Aushandelns, der compositio, wie er unter vormodernen Bedingungen die Regel war, unterscheidet sich von einem formalisierten Entscheidungsverfahren, wie es die Goldene Bulle vorschrieb, auch insofern, als die Beteiligten wieder aussteigen können und sich dem Ergebnis am Ende nur dann unterwerfen, wenn es ihre Zustimmung findet oder wenn auf anderem G e b i e t für Ausgleich gesorgt wird. Das aber war in vormodernen Versammlungen
-
etwa H o f - , Reichs- oder anderen Ständetagen - immer eine latente Gefahr. D e n n tendenziell galt das Prinzip quod omnes tangit, ab omnibus approbetur: Was alle angeht, dem muss von allen zugestimmt werden. Dieses Prinzip hat aber auch eine Kehrseite, nämlich: Wer nicht zugestimmt hat, den geht die Sache eben auch nicht an, der steigt einfach aus und bestreitet für sich selbst die Verbindlichkeit der Entscheidung. Das erklärt die Tendenz zum In-der-Schwebe-Halten von Konflikten, zum Nebeneinander unausgetragener Gegensätze, zum Aushalten von Ambiguität und Unentschiedenheit. K o n f l i k -
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te müssen ja keineswegs, wie man aus heutiger Sicht erwarten k ö n n t e , unbedingt entschieden werden. E s kann auch mit einer doppeldeutigen Realität dauerhaft gelebt werden; konkurrierende Situationsdeutungen k ö n n e n unter U m s t ä n d e n auch langfristig nebeneinander bestehen, bis sie sich w o m ö g l i c h von selbst erledigen. S o war es beispielsweise mit vielen der notorischen R a n g k o n f l i k t e im R ö m i s c h - d e u t s c h e n R e i c h : Sie lösten sich manchmal erst dadurch, dass eine Familie ausstarb - oder eben dadurch, dass das Reich a u f h ö r t e zu existieren. Bei der Königswahl g e m ä ß der G o l d e n e n Bulle war das anders und mithin ungewöhnlich. Sie sorgte dafür, dass eine E n t s c h e i d u n g gefällt wurde, auch bei o f f e n e m D i s s e n s . W i e wurde nun aber die Legitimität einer solchen E n t s c h e i d u n g gesteigert, die A k z e p t a n z b e r e i t s c h a f t
der
B e t r o f f e n e n erhöht? A n dieser Stelle k o m m t die Inszenierung des Entscheidens in den Blick. D a s E n t s c h e i d e n hat - wie alles soziale H a n d e l n - stets auch eine symbolisch-expressive, darstellende D i m e n s i o n . A u c h eine Wahl ist niemals nur ein instrumentelles Verfahren, sondern i m m e r auch ein s y m b o l i s c h e r A k t , der einen sozialen Sinn erzeugt. Sie dient n i c h t allein dazu, eine Person für ein A m t auszuwählen, sondern i m m e r auch dazu, die Rolle der W ä h l e n d e n selbst zu demonstrieren und die gesamte O r d n u n g , die ihnen diese Rolle zuweist, als legitim zu bekräftigen. S o auch im Falle der deutschen Königswahl. Sie wurde demonstrativ als freie und exklusive E n t s c h e i d u n g der Kurfürsten und zugleich als göttlich inspiriertes G e s c h e h e n inszeniert. D i e Wahlstadt wurde für die Zeit der Wahl zu einem b e s o n d e r e n , rechtlich und räumlich abgeschlossenen R a u m . Alle F r e m d e n mussten die Stadt verlassen; die Stadttore wurden verschlossen, die Schlüssel dem M a i n z e r E r z b i s c h o f als dem r a n g h ö c h s t e n Kurfürsten anvertraut. D a n n ritten die W ä h l e r in feierlich-förmlicher P r o z e s s i o n z u r K i r c h e , feierten eine M e s s e zum Heiligen G e i s t , um dessen A n w e s e n h e i t bei der Wahl zu erbitten, und leisteten den v o n der G o l d e n e n Bulle vorgeschriebenen Eid auf das Evangelium. In der Wahlkapelle fand das Konklave statt. F ü r alle Kurfürsten standen dort gleichartige Sessel bereit, um zu symbolisieren, dass sie im A k t der Wahl - ausnahmsweise - als G l e i c h e handelten. In der F r ü h e n N e u z e i t wurde zudem die bereits vorher ausgehandelte Wahlkapitulation versiegelt und auf den A l t a r gelegt. N a c h d e m N o t a r e das alles protokolliert h a t t e n , verließen sie den R a u m , so dass allein die W ä h l e r zurückblieben. D a s Konklave war nun für den A k t der E n t s c h e i d u n g die v o l l k o m m e n abgeschlossene M i t t e einer abgeschlossenen Stadt, ein geheimer, sakraler R a u m , aus d e m nichts nach außen drang und auf den die A u f m e r k s a m k e i t aller Welt sich k o n z e n t r i e r t e . Was auf diese Weise als v o l l k o m m e n e s G e h e i m n i s zelebriert wurde, war die freie E n t s c h e i d u n g selbst, die allein den Kurfürsten zukam. N i e m a n d war u n t e r ihnen als der Heilige G e i s t . N a c h dem A k t der E n t s c h e i d u n g wurde die vorherige stufenweise A u s s c h l i e ß u n g des Publikums e b e n s o stufenweise wieder rückgängig g e m a c h t : Z u e r s t wurden die T ü r e n der Wahlkapelle g e ö f f n e t und der G e w ä h l t e in feierlicher F o r m auf den A l t a r gesetzt, während das Te D e u m gesungen, Pauken geschlagen und T r o m p e t e n geblasen, die G l o c k e n geläutet und K a n o n e n abgefeuert wurden, so dass es meilenweit hörbar war. Zuerst wurden die K i r c h e n t o r e , dann die Stadtt o r e wieder geöffnet, damit das „ganze V o l k " der Wahl in ritualisierter F o r m z u s t i m m e n k o n n t e . K u r z u m : D e r A k t des Konklave inszenierte das E n t s c h e i d e n selbst als sakrales Ereignis, und zwar u m s o wirkungsvoller, je unsichtbarer es war. D e r A k t d e m o n s t r i e r t e und bewirkte erstens, dass unzweifelhaft entschieden wurde, und zweitens, dass die Wahl im freien Willen der Kurfürsten stand und niemandes sonst. Das heißt: D i e Inszenierung diente nicht zuletzt dazu, das exklusive Wahlrecht der K u r f ü r s t e n (an dem all ihre Privilegien hingen) gegen die anderen Fürsten zu verteidigen.
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Das heißt nun allerdings nicht, dass informelles Aushandeln keine Rolle mehr gespielt hätte, ganz im Gegenteil. M a n weiß ja aus Erfahrung, dass jede Formalisierung stets ihrerseits neuen Bedarf an Informalität erzeugt, an Vorbereitung hinter den Kulissen. Schon Karl dem IV, der i m m e r h i n die Goldene Bulle erlassen hatte, warf man vor, er habe die Königswahl seines Sohnes Wenzel durch Gaben in nie dagewesener Höhe gekauft, und bei der Wahl Karls V. soll eine M i l lion Goldgulden im Spiel gewesen sein. Doch das waren nur extreme A u s w ü c h s e eines als solchen selbstverständlichen Aushandlungsprozesses im U m f e l d jeder Wahl. Gegenleistungen und Versprechungen waren selbstverständlich; schließlich wurden diese allgemeinen Austauschgeschäfte formalisiert in den Wahlkapitulationen, mit denen sich die Kurfürsten seit 1519 jedes M a l ihre eigenen Privilegien und die Grundgesetze des ganzen Reiches bestätigen und vermehren ließen. Indem sich in der frühen N e u z e i t die Königswahl vivente Imperatore, d.h. die Wahl des Nachfolgers noch zu Lebzeiten des Kaisers, mehr und mehr einbürgerte, hatten die amtierenden Kaiser die Regie über diese Aushandlungsprozesse oftmals selbst in der H a n d . Im Effekt führte das bekanntlich dazu, dass sich die dynastische N a c h f o l g e im Haus H a b s b u r g durchsetzte (mit der großen A u s n a h m e des Wittelsbachers Karl Albrecht, die in diesem R a h m e n hier natürlich nicht übergangen w e r d e n sollte). D o c h das heißt keineswegs, dass die „freie Wahl" der Kurfürsten nur ein leeres Ritual war, auf das man genauso gut hätte verzichten können. Sie hatte eben durchaus andere Funktionen, als einfach den rechten Kandidaten auszuwählen. Signifikant ist in diesem Zusammenhang das Schicksal eines Vorschlages, w i e die Wahl rationaler zu gestalten sei. D e r junge T h e o l o g e Nicolaus von C u e s hatte 1433 im U m f e l d des Basler Konzils ein Wahlverfahren entworfen, das dazu dienen sollte, die notorischen „Betrügereien und üblen M a c h e n s c h a f t e n " bei der Königswahl auszuschließen und „mit g r ö ß t m ö g l i c h e r Sicherheit" den besten Kandidaten zu ermitteln (De concordantia catholica, c.37). In einem streng geheimen, schriftlichen A b s t i m m u n g s v e r f a h r e n sollte jeder W ä h l e r alle Kandidaten miteinander vergleichen, in eine Reihenfolge bringen u n d mit entsprechenden Punktzahlen versehen. Die P u n k te sollten am Ende zusammenaddiert werden; der Kandidat mit der höchsten Punktzahl sollte gewinnen. Dieses ausgefeilte P u n k t e s y s t e m k a m indessen niemals zur A n w e n d u n g , ja es geriet sogar über J a h r h u n d e r t e vollständig in Vergessenheit. Erst gegen Ende des 18. J a h r h u n d e r t s wurde es neu entdeckt - auf den ersten Blick ganz erstaunlich, angesichts dessen, dass das Verfahren - w i e heutige M a t h e m a t i k e r i h m bescheinigen - außerordentlich rational war. Bei genauerem Hinsehen ist das aber überhaupt kein Wunder, sondern vielmehr signifikant. Es zeigt, dass der gelehrte T h e o loge einem rationalistischen Missverständnis unterlag, w e n n er unterstellte, dass es beim Verfahren der Königswahl um die größtmögliche, geradezu mathematisch ermittelbare Rationalität der Entscheidung gehe. C u s a n u s machte in gewisser Weise in seinem Rationalitätsoptimismus einen ähnlichen Fehler wie heutige Entscheidungstheoretiker: Bei allem Fragen nach der richtigen Entscheidung gerät aus den Augen, w o r u m es beim Entscheiden selbst eigentlich geht. In der politischen Realität ging es eben oft gar nicht oder jedenfalls nicht allein u m die exakte Ermittlung des einzig richtigen Kandidaten für die Stelle. Es ging, mit anderen Worten, oft nicht so sehr darum, wie entschieden wurde, sondern erstens darum, dass überhaupt entschieden w u r de, und zweitens darum, wer entscheiden durfte. Die Königswahl b e s t i m m t e nicht nur, w e r R ö m i s c h e r König w u r d e , sondern sie demonstrierte auch, wer allein wählen durfte und aus welchem Recht das geschah. Das nämlich w a r über die J a h r h u n d e r t e keineswegs unangefochten; es musste stets aufs N e u e demonstrativ verteidigt werden.
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Die Königswahl stellte z u s a m m e n mit der anschließenden K r ö n u n g die verfahrenstechnische u n d symbolische M i t t e der ganzen Reichsverfassung dar. W o r u m es ging bei der Formalisierung d e r Königswahl, war nichts weniger als die Herstellung u n d Wahrung politischer Einheit des Reiches. Daran zeigt sich exemplarisch, dass die Formalisierung des Entscheidens den Kern des Politischen b e t r i f f t . U n s e r Verständnis des Politischen ist ja ganz wesentlich d u r c h den Begriff des Entscheidens geprägt: Politisch ist ein Handeln, das auf die H e r s t e l l u n g kollektiv verbindlicher Entscheidungen ausgerichtet ist, so die gängige D e f i n i t i o n . Politische Gemeinwesen, o d e r überh a u p t Kollektivsubjekte, e n t s t e h e n u n d existieren ja gerade dadurch, dass Entscheidungen kollektiv zugerechnet w e r d e n u n d als kollektiv verbindlich gelten. Das aber versteht sich eben keineswegs von selbst. H i e r im Falle der Königswahl war die H e r a u s b i l d u n g der festen Wahlkörperschaft die Voraussetzung dafür, dass diese Handvoll K u r f ü r s t e n das Reich als Ganzes pars p r o t o t o repräsentierte. U n d dies t r u g wesentlich dazu bei, dass das Reich als politischer K ö r p e r über J a h r h u n d e r t e hinweg erstaunlicherweise alle Spaltungsgefahren überlebte.
Soweit mein historisches Beispiel. Es sollte zeigen, dass u n d wie Formalisierung das Entscheiden grundlegend verändert. Solche Formalisierungsprozesse k e n n z e i c h n e n den historischen Wandel v o m Spätmittelalter bis heute. Das heißt nicht, dass sich eine einfache, lineare Modernisierungsgeschichte erzählen ließe. Formale Entscheidungsverfahren gab es, wie gezeigt, bereits im M i t telalter, auch w e n n sie damals die A u s n a h m e waren. U m g e k e h r t k o m m e n uns auch heute Palaver, Entscheidungsvermeidung, D u r c h w u r s t e l n und nachträgliches Rationalisieren vollendeter Tatsachen durchaus b e k a n n t vor; ich d e n k e an akademische Evaluations- oder Berufungsverfahren. Jeder von I h n e n hat hier vermutlich seine eigenen Beispiele vor Augen. Aber: U n v e r k e n n b a r ist es doch ein struktureller Prozess, der in der M o d e r n e das Entscheiden z u n e h m e n d n o t w e n d i g e r u n d auch wahrscheinlicher gemacht hat. I m m e r m e h r wurde formal entscheidbar u n d e n t s c h e i d u n g s b e d ü r f t i g : Die R e f o r m a t i o n machte den Glauben (wenn auch zunächst n u r f ü r die O b r i g k e i t e n ) z u m G e g e n s t a n d der E n t s c h e i d u n g . Die Positivierung des Rechts gründete dieses auf die E n t s c h e i d u n g eines Gesetzgebers. Entscheidungen wurden erwartbarer, E n t s c h e i d u n g s v e r m e i d u n g zumindest schwieriger. M o d e r n e Organisationen sind vollends auf Entscheidungen gebaut: Behörden, Parteien, Betriebe, Staaten f u ß e n auf formalen G r ü n d u n g s e n t s c h e i d u n g e n , sie reproduzieren ihre eigene S t r u k t u r in F o r m von formalen E n t scheidungen, u n d w e n n sie abgeschafft werden sollen, dann bedarf es auch dazu einer formalen Entscheidung. Ü b e r die Rationalität all dieser E n t s c h e i d u n g e n ist damit wohlgemerkt noch nichts gesagt - das haben sie mit den Königswahlen in der F r ü h e n N e u z e i t gemein. U n d ebenso wenig ist damit ü b e r die informelle Kehrseite der formalen E n t s c h e i d u n g e n gesagt - auch das gilt hier ebenso wie f ü r die Königswahlen d e r Frühen N e u z e i t . D e n n f ü r Formalisierungsprozesse gilt gemeinhin, dass sie zugleich den Bedarf an informellen Schleich-, Aus- u n d U m w e g e n erhöhen. Was aber in der M o d e r n e zweifellos z u g e n o m m e n hat, das ist der O p t i m i s m u s , mit dem man an die Möglichkeit rationalen Entscheidens glaubt. Reinhart Koselleck hat beschrieben, wie in der Sattelzeit u m 1800 der Z e i t h o r i z o n t sich in eine u n b e g r e n z t e Z u k u n f t ö f f n e t e und einem bis dahin u n g e k a n n t e n O p t i m i s m u s rationaler Gestaltbarkeit R a u m gab. Man k ö n n t e vielleicht überspitzt sagen: Was im Mittelalter die religiöse E i n m ü t i g k e i t s f i k t i o n war, wenn es um die
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Bewältigung v o n K o n t i n g e n z ging, das ist in der M o d e r n e die Rationalitätsfiktion. „Rationale E n t s c h e i d u n g e n sind die heiligen K ü h e der M o d e r n e " , hat der Soziologe Ulrich Schimank gesagt. D a m i t h a b e n wir uns in ein D i l e m m a manövriert: Je geringer a u f g r u n d der steigenden Komplexität m o d e r n e r Gesellschaften die reale Aussicht auf rationales Entscheiden, desto h ö h e r zugleich die Erwartung, dass dies erforderlich u n d auch möglich sei. Das k a n n n u r zu E n t t ä u s c h u n g e n f ü h r e n . In dieser selbstgestellten Falle unerfüllbarer M a c h b a r k e i t s e r w a r t u n g e n sitzen die Politiker heute offensichtlich fest. Was bleibt ihnen anderes übrig als f o r t w ä h r e n d e N a c h r a tionalisierung? Das bewusster zu machen, dazu k a n n Geschichtswissenschaft beitragen. Die Geschichte sei eine Delegitimationswissenschaft, so h a t Wolfgang Reinhard an dieser Stelle v o r acht Jahren gesagt. Ich würde es etwas anders akzentuieren: Geschichte ist eine Distanzierungswissenschaft. I h r G e s c h ä f t besteht darin, kritische D i s t a n z gegenüber den vermeintlichen Selbstverständlichkeiten d e r Gegenwart zu schaffen, u n d das heißt eben auch: vor ü b e r z o g e n e n Rationalitätserwart u n g e n zu bewahren. Das f ü h r t mich z u r ü c k zu m e i n e m A u s g a n g s p u n k t , nämlich der gegenwärtigen Preisentscheid u n g . Lassen Sie mich sagen: Es ist m i r eine ü b e r g r o ß e Freude u n d eine unverdiente Ehre, diesen Preis zu erhalten. Ich danke der A l f r e d - u n d C l ä r e - P o t t - S t i f t u n g u n d den Mitgliedern d e r J u r y sehr, sehr herzlich dafür.
Heinrich
Zankl
„Speichellecker" und „sehr rohe TeppenK Wissenschaftliche Kontroversen und Feindschaften
S
achliche Auseinandersetzungen sind in der Wissenschaft nicht nur etwas ganz Normales, sondern sie leisten auch einen wichtigen Beitrag zur Lösung von Problemen. Nicht selten ufern solche Kontroversen aber aus und führen zu persönlichen Feindschaften. Die Kontra-
henten schrecken dann manchmal sogar vor üblen Beleidigungen und Verleumdungen nicht zurück. D e r wissenschaftliche Fortschritt kann dadurch erheblich in Mitleidenschaft gezogen
werden. Wie die folgenden Beispiele zeigen, können solche unproduktiven Streitereien in allen Bereichen der Wissenschaft entstehen, und auch geniale Forscher sind dagegen nicht gefeit.
Kontroverse um die Infinitesimalrechnung Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz stritten sich jahrelang um die Frage, wer als Begründer der Infinitesimalrechnung (Differential- und Integralrechnung) zu gelten habe. Newton schrieb bereits 1666 darüber einen Aufsatz, den er allerdings nicht veröffentlichte. Erst im Rahmen seines großen Werkes „Principia", das 1687 erschien, erwähnte Newton sein Rechenverfahren, das er Fluxionsrechnung nannte, kurz. Leibniz arbeitete seit etwa 1675 ebenfalls an der Infinitesimalrechnung und veröffentlichte 1684 seine erste Arbeit darüber. Zwei Jahre später folgte noch eine Publikation. In keiner der beiden Arbeiten wurde die Fluxionsmethode erwähnt. Newton beschuldigte daraufhin Leibniz öffentlich, ein Plagiat begangen zu haben. Vielleicht wäre der Streit nicht so ausgeartet, wenn sich nicht andere Wissenschaftler auf beiden Seiten eingemischt hätten. Insbesondere Johann Bernoulli heizte die Auseinandersetzung an, indem
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Heinrich Zankl
er Partei für Leibniz ergriff und Newton vorwarf, die neue Rechenmethode von Leibniz abgeschrieben zu haben. Den englischen Mathematiker J o h n Wallis, der auf Newtons Seite stand, bezeichnete Bernoulli als „Newtons Affe" und „Speichellecker". Leibniz, der sich keiner Schuld bewusst war, protestierte gegen den Plagiatsvorwurf bei der Royal Society in London. Das erwies sich als schwerer Fehler, denn Newton beherrschte die ehrwürdige Wissenschaftsgesellschaft damals weitgehend. Er besetzte den Ausschuss, der die Prioritätsfrage klären sollte, mit seinen Anhängern. Den Abschlussbericht schrieb Newton sogar weitgehend selbst, wodurch er natürlich für Leibniz sehr negativ ausfiel. Nach der Verurteilung als Plagiator wurde Leibniz dann auch noch auf Betreiben Newtons aus der Royal Society ausgeschlossen. Newton freute sich über seinen unfair errungenen Sieg und äußerte die Hoffnung, dass er Leibniz „mit dieser Antwort das Herz gebrochen" habe. Leibniz war von der unerwarteten Entscheidung sehr betroffen und enttäuscht. Vielleicht war es aber für ihn ein gewisser Trost, dass sich seine Differential- und Integralrechnung in Kontinentaleuropa schnell durchsetzte, während die wesentlich kompliziertere Fluxionsmethode von Newton fast nur noch in England angewandt wurde. Daraus erwuchs der englischen Mathematik für fast 100 Jahre ein deutlicher Nachteil.
Umstrittene
Heldenlieder
D i e Brüder Jakob und Wilhelm Grimm hatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine sehr heftige Kontroverse mit ihrem Kollegen Friedrich Heinrich von der Hagen. D e r Anlass war die „LiederEdda", eine alte nordische Götter- und Heldendichtung. Die Grimms hatten bereits die Herausgabe einer deutschen Fassung angekündigt, als es von der Hagen gelang, ihnen mit ziemlich unfeinen Mitteln zuvor zu kommen. Daraufhin publizierten die Grimmbrüder einen Artikel, in dem sie nicht nur das unkollegiale Verhalten ihres Konkurrenten scharf kritisierten, sondern auch seine Ubersetzung als „ganz unbrauchbar" bezeichneten. Von der Hagen wehrte sich mit einer ebenfalls sehr polemischen Publikation. Ihm gelang es auch, andere bekannte Persönlichkeiten zu teilweise sehr drastischen Stellungnahmen zu veranlassen. So schrieb beispielsweise der Philosoph und Literaturhistoriker Friedrich Schlegel: „...Dagegen scheinen mir die beiden Grimms samt ihrem Grimm ziemlich unwissende ... und besonders sehr rohe Teppen zu sein." Obwohl von der Hagen zeitweilig wie der Sieger aussah, setzten sich auf lange Sicht dann aber doch die Brüder Grimm mit ihren qualitätvolleren Arbeiten durch. Sie gelten heute als Gründungsväter der deutschen Philologie, während von der Hagen weitgehend in Vergessenheit geraten ist.
Kampf um Saurierknochen Zwischen den amerikanischen Saurierforschern Edward D. Cope und Othniel C. Marsh kam es im 19. Jahrhundert jahrelang zu üblen Auseinandersetzungen, über die nicht nur in den U S A ausführlich berichtet wurde. Die beiden Wissenschaftler arbeiteten zunächst bei Ausgrabungsarbeiten gut zusammen. Ihre Wertschätzung drückte sich vor allem auch durch die Namensgebung bei Fossilfunden aus. Cope benannte beispielsweise eine von ihm ausgegrabene prähistorische Ech-
,,Speichellecker" und „sehr rohe Teppen"
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se C o l o e s t u s marshii, Marsh revanchierte sich bei einem Saurier mit dem N a m e n Mesosaurus copeanus. Die Feindschaft dürfte 1872 bei einer gemeinsamen Grabung in Wyoming begonnen haben. D a s geht aus recht aggressiv formulierten Briefen hervor, die sie sich danach zuschickten. So schrieb Marsh beispielweise: „ U b e r die Nachrichten . . . war ich so wütend . . . , dass ich auf Sie losgehen wollte . . . " . I m Antwortbrief von C o p e stand: „... alle Exemplare, die Sie im August 1872 gesammelt haben, verdanken Sie mir." In den Folgejahren bekriegten sich die beiden Kampfhähne vor allem mit Artikeln. I m American Journal of Science publizierte Marsh die meisten seiner Arbeiten, die er oft auch für persönliche Angriffe auf C o p e nutzte. D i e Zeitschrift American Naturalist stand unter dem Einfluss von C o p e , weshalb er darin viele Attacken auf Marsh veröffentlichen konnte. N o c h heftiger wurde der Streit, nachdem 1877 in Wyoming ein neues Ausgrabungsgebiet entdeckt worden war. Beide Wissenschaftler starteten dort große Grabungskampagnen und bekämpften sich dabei mit allen Mitteln. Marsh ließ von seinen Männern große Mengen irreführender Fossilien in alten Grabungsbereichen ablagern, um C o p e die Arbeit zu erschweren. Manchmal führte Marsh sogar Sprengungen durch, damit sein Rivale keine Nachgrabungen mehr durchführen konnte. C o p e revanchierte sich, indem er einen ganzen Zug, den Marshs Leute mit Fossilienfunden beladen hatten, zu sich nach Philadelphia umleitete. D u r c h ihren Dauerstreit ruinierten sich die zwei wissenschaftlichen Rabauken gegenseitig. Während Marsh sich nur durch die Hilfe der Universität Yale finanziell einigermaßen über Wasser halten konnte, verlor C o p e sein ganzes Vermögen und starb einsam und verarmt. A b e r sogar am Ende seines Lebens wollte er sich noch mit seinem Rivalen messen. C o p e verfügte nämlich, dass nach seinem Tod G e w i c h t und Volumen seines Gehirns b e s t i m m t werden sollten, damit man die Werte später mit denen von Marsh vergleichen könnte. Zu diesem abstrusen Wettstreit kam es dann aber doch nicht, weil Marsh sich ihm verweigerte.
Transatlantischer Streit um Viren In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts entbrannte ein spektakulärer Streit um die Frage, wer als erster den Erreger der A I D S - E r k r a n k u n g entdeckt hatte. 1984 wurde in den U S A verkündet, dass dem Virologen R o b e r t Gallo mit seinem Team diese medizinisch äußerst wichtige Entdeckung gelungen sei. D i e meisten Fachleute waren über die Meldung sehr erstaunt, denn inzwischen galt die Forschungsgruppe des Franzosen Luc M o n t a g n i e r als der Entdecker dieses Virus, das heute die Bezeichnung H I V trägt. Nachuntersuchungen hatten nämlich ergeben, dass das von Gallo zuerst beschriebene Virus nicht der Verursacher von A I D S war. Das Pasteur-Institut, an dem Montagnier arbeitete, hatte inzwischen auch schon weltweit einen Patentantrag für ein Verfahren gestellt, mit dem das Virus im Blut nachgewiesen werden kann. Trotz dieser Sachlage beantragte auch das Institut von Gallo ein solches Patent, das in den U S A erstaunlich schnell erteilt wurde, während der früher gestellte Antrag aus Frankreich lange unbearbeitet liegen blieb. Gegen diese ungerechte Behandlung reichte das Pasteur-Institut Klage bei einem Gericht in den U S A ein. D a die U S - R e g i e r u n g wohl zu R e c h t befürchtete, dass bei einem Gerichtsverfahren vor allem der gute R u f des US-Patentamtes erheblich beschädigt würde, entschloss sie sich, die Angelegenheit auf höchster politischer E b e n e zu regeln. Bei einem Gespräch im Weißen Haus einigte sich 1987 der Präsident der U S A mit seinem Kollegen aus Frankreich auf eine Formulierung, wonach „die Forscher beider Länder unabhängig von einander bei der Isolierung des huma-
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n e n Retrovirus erfolgreich waren, das sich als ursächliches Agens f ü r A I D S erwies". Auf dieser Basis w u r d e n die N a m e n der französischen Wissenschaftler in die amerikanische Patentschrift mit a u f g e n o m m e n . F ü r die zu erwartenden sehr h o h e n L i z e n z e i n n a h m e n aus d e m AIDS-Test vereinbarte m a n eine gleichwertige Aufteilung. N a c h dieser außergerichtlichen Einigung k a m e n sich Gallo u n d M o n t a g n i e r auch persönlich wieder näher u n d verfassten einen gemeinsamen Artikel über die E n t d e c k u n g des AIDS-Erregers. 2008 erhielten dafür allerdings n u r M o n t a g n i e r u n d seine Mitarbeiterin Barré-Sinoussi den Nobelpreis.
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Zehnpfennig
Strukturlose Öffentlichkeit Warum mehr Transparenz per Internet zu weniger Demokratie führen kann
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eit sich das Prinzip der Öffentlichkeit als politische Forderung etablierte - also seit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft -, war es mit einem Paradox behaftet. Die Forderung, der politische Prozess solle sich öffentlich und damit für alle zugänglich vollziehen,
war gegen die Geheimpolitik des Hofes gerichtet; was sich im Geheimen vollzog, war schon als solches verdächtig. D o c h die Rechte, die das Bürgertum nun in Anspruch nahm, standen den eigenen Forderungen zum Teil entgegen: Das Recht auf Eigentum, das Recht auf geheime Wahl, die Religionsfreiheit und viele andere sind Rechte des Privatmanns, der über ihre Ausfüllung nicht unbedingt öffentlich Rechenschaft geben will. Was man der Politik verwehrte, nahm man für sich selbst also durchaus in Anspruch. Daran zeigte sich, dass Öffentlichkeit kein absoluter Wert sein konnte. Heute hingegen wird oft behauptet, Öffentlichkeit sei bereits ein Wert an sich. Weil man durch das Internet eine nie gekannte Dimension des Öffentlichen erreicht hat, wird mit dieser neuen Möglichkeit bürgerlicher Teilhabe eine Heilserwartung verbunden, die näherer Uberprüfung kaum standhält. Schon auf den ersten Blick wird erkennbar, dass sich das oben genannte Paradox auf neuer Ebene wiederholt. Im Medium Internet, das sich ganz und gar der Publizität verschrieben hat, ist ein erheblicher Teil der Nutzer anonym unterwegs. Für das, was man öffentlich macht, will man öffentlich nicht einstehen. Dafür mag es gute Gründe geben, wenn man in einer Diktatur lebt und die Inanspruchnahme von Freiheitsrechten Gefahr für Leib und Leben nach sich zieht. In einer Demokratie hingegen sieht die Sache anders aus. Hier muss man sich Freiheitsrechte nicht erkämpfen, hier sind sie ver-
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fassungsmäßig garantiert. Sie sind es deshalb, weil man im liberalen System davon ausgeht, dass die gewährleisteten Individualrechte auch von Individuen wahrgenommen werden. A n anonyme Schwärme, wie sie sich im Internet bewegen, hatte man nicht unbedingt gedacht. Natürlich gab es schon vor dem Internet Massenbewegungen, die eine Identifizierung des Einzelnen kaum möglich machten. Doch immerhin waren solche Massenbewegungen in der Regel mit der körperlichen Präsenz der Person verbunden. Jetzt könnte eine quasi personlose Präsenz, wie das Internet sie gewährt, zu einer Überstrapazierung von Rechten führen, die auf individuelle Identität und die Übernahme personaler Verantwortung hin konzipiert waren. Wie demokratieverträglich ist das Internet überhaupt? Nicht nur die Anhänger der Piratenpartei sind der Ansicht, dass mit dem Internet eine neue Ära demokratischer Teilhabe eingeleitet wurde. Informationen in unvorstellbarem Umfang sind allen und jederzeit zugänglich, unüberschaubar viele Foren bieten die Möglichkeit zur Meinungsäußerung und Diskussion, organisierte N u t z e r bilden eine Meinungsmacht, die das Handeln von Unternehmen, einzelnen Politikern und ganzen Regierungen massiv beeinflussen kann. Ist das nicht der Inbegriff des Demokratischen, die direkte Mitwirkung der Bürger auf allen denkbaren Ebenen? U n d ist die Transparenz, die mit der Offenlegung selbst bisher völlig unzugänglicher Daten einhergeht, nicht ein Faktor, der ungemein demokratisierend wirkt? Schon der letztgenannte Zusammenhang ist mehr als zweifelhaft. Öffentlichmachen ist nicht identisch mit Transparenz. Denn transparent werden Daten nur dem, der sie versteht. Wer kann kompetent beurteilen, was von Wikileaks veröffentlichtes geheimdienstliches Material tatsächlich bedeutet - außer den geschulten Mitarbeitern der Geheimdienste? Wer weiß, was das von irgendjemandem ins Internet gestellte Bild zeigt, auf dem ein Kind zu sehen ist, das in Syrien zu Tode kam? Wurde es von der syrischen Armee als menschlicher Schutzschild missbraucht, ist es das Opfer eines Angriffs der Aufständischen, starb es durch einen Unfall? Mit Bildern und Daten kann man manipulieren, mit einer Überfülle veröffentlichter Bilder und Daten kann man desinformieren. Öffentlichkeit als solche ist ambivalent. Ihr Wert liegt allein im vernünftigen Gebrauch. Weshalb ist der Begriff der Öffentlichkeit dennoch so uneingeschränkt positiv besetzt und wird immer als urdemokratisch betrachtet? Eine Antwort liefert ein kurzer Blick in die Ideengeschichte, auf die Klassiker der Theorie der Öffentlichkeit, nämlich Immanuel Kant und John Stuart Mill. Die Hoffnung, die beide Theoretiker in das Prinzip der Öffentlichkeit setzen, entspringt dem Impetus der Aufklärung. „Es werde Licht!" wäre die passende Formel, um den aufklärerischen Enthusiasmus in einen Satz zu fassen, und die Öffentlichkeit ist der Ort, aus dem die Dunkelheit des voraufklärerischen Zeitalters am sichtbarsten vertrieben wurde. Hier hat die Arkanpolitik der bisher Mächtigen ein Ende, durch welche die Bürger von der Mitbestimmung über ihr Schicksal ausgeschlossen wurden. Hier findet jener „öffentliche Vernunftgebrauch" statt, der M o t o r des Fortschritts sein soll. Hier ist der Ort des Austausche von Argument und Gegenargument, welcher den Prozess der Wahrheitsfindung vorantreiben wird. Erkennbar ist in dieser Sichtweise ein tiefer Glaube an die Macht des Wortes, an die Wirkung öffentlichen Räsonierens am Werke. Vernunft wird als eine sich selbst fortzeugende Wirklichkeit verstanden. Aber auch das Widervernünftige hat seine Funktion im Gesamtprozess, wie sich an Kants Geschichtsphilosophie zeigt. Eine Art List der Vernunft sorgt dafür, dass selbst derjenige, der vernunftloserweise nur sein Eigeninteresse verfolgt, unbewusst den Fortschritt vorantreibt,
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weil er die gegenstrebige Kraft herausfordert. So wird sich am Ende überall die republikanische Verfassung durchsetzen, weil die Völker, die ihre selbstverschuldete Unmündigkeit hinter sich gelassen haben, ihr Schicksal nicht mehr aus der H a n d geben werden. N u n sind für Kant Republik und Demokratie zwar nicht identisch. D o c h seine Begründung, weshalb etwa das Wahlrecht nur den Begüterten z u k o m m e n sollte, ist sichtlich zeitbedingt und hat nicht den theoretischen Rang seiner übrigen Ausführungen. Rein logisch steuert die Kantsche Republik auf die Demokratie zu, und den entscheidenden A n s t o ß zu dieser Entwicklung liefert die „Publizität". Auch Mill sieht in dem enthusiastisch begrüßten Prinzip der Öffentlichkeit das Movens des Fortschritts. U m der gemeinsamen Wahrheitssuche willen, welche mittels Öffentlichkeit betrieben werden soll, dürfe keine Meinung unterdrückt werden. Der Menschheit die richtige Meinung vorzuenthalten, beraubte sie einer wichtigen Einsicht. Ihr die falsche vorzuenthalten, führte zu dogmatischer Verhärtung auch der richtigen Auffassungen. Gerade die Konkurrenz der Meinungen ist ein entscheidender Faktor der allseitigen Fortentwicklung der Menschheit. Doch so flammend Mills Plädoyer für die Meinungsfreiheit erscheint - die Kehrseite uneingeschränkter Publizität hat er durchaus im Blick. Ähnlich wie Toqueville erkennt er in der drohenden Tyrannei der Mehrheit die Gefahr seiner Zeit. Deshalb bedarf es eines besonderen Schutzes der Individualität. Zudem darf in theoretischem Zusammenhang geäußert werden, was in politisch brisanter Lage tunlichst nicht geäußert werden sollte. Es empfiehlt sich nicht, vor einer erregten Menge, die sich protestierend vor einer Fabrik versammelt hat, die These vorzutragen, dass Eigentum Diebstahl sei. Mit den beiden letztgenannten Punkten hat Mill auf Probleme verwiesen, die sich gerade in Zeiten des Internets verstärkt stellen. Wenn sich der Schwärm im N e t z ein O p f e r auserkoren hat, etwa weil es gegen die „political correctness" verstoßen hat, bleiben diesem kaum angemessene Mittel der Gegenwehr. So kann man - anonym und daher für einen selbst völlig folgenlos - den Ruf einer Person ruinieren. U n d wenn man in einer Situation, in der - etwa bei der Verhandlung mit einem anderen Staat - seitens der Regierung größtes diplomatisches Geschick vonnöten ist, Fakten veröffentlicht, die das Regierungshandeln torpedieren, kann man sich zwar rühmen, Geschichte geschrieben zu haben. Aber vielleicht hat man damit den größten Schaden f ü r beide betroffenen N a t i o n e n angerichtet. Das emphatische Lob der Öffentlichkeit, das Kant und Mill im N a m e n der Aufklärung aussprechen, ist untrennbar mit dem Glauben an die Vernunft und die Idee des Fortschritts verbunden. Darin bestehen Sinn und Wert der Öffentlichkeit: dass sie als das Vehikel einer geistigen und in der Folge auch politischen Fortentwicklung der Menschheit verstanden wird. Bezeichnend ist, dass beide Theoretiker ein gebildetes Publikum vor Augen haben, wenn sie über den öffentlichen Vernunftgebrauch reden. U n d ebenfalls nicht übersehen werden darf, dass sie neben dem Prinzip „Öffentlichkeit" weitere Prinzipien für unentbehrlich halten, um das Fortschreiten der Menschheit zum Besseren zu ermöglichen. Dazu gehören Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung sowie ein Ernstnehmen des Repräsentativgedankens. So gesehen wird das egalitäre Moment, das in der allen zugänglichen Öffentlichkeit liegt, mehrfach gebrochen. Das Recht sichert die Grenzen, die den einen vor den Ubergriffen der anderen schützen. Die Gewaltenteilung ordnet die Öffentlichkeit in ein System des Equilibriums einander kontrollierender Kräfte ein. Die Repräsentation der Bürger im Parlament bedeutet Filterung u n d Läuterung des Volkswillens. Vor allem aber wird der Öffentlichkeit selbst die Aufga-
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be zuerkannt, Vernunft zu zeugen und der Vernunft zu dienen. Damit ist ihr potentiell eine Struktur eingeschrieben, so wie sie ihrerseits in eine äußere, politische Struktur eingebunden ist. Im klassischen Konzept der Öffentlichkeit gibt es demnach eine Reihe von Einschränkungen, was den Gebrauch und die Reichweite der Öffentlichkeit angeht. Langfristig wirkte sich die Forderung nach Publizität natürlich demokratisierend aus, weil Informationen nicht mehr ohne weiteres monopolisiert werden konnten und die öffentliche Diskussion die Ansprechbarkeit aller suggerierte. Doch die moderne liberale Demokratie baute ebenjene Hemmnisse, die schon im klassischen Öffentlichkeitskonzept genannt werden, in das System ein, um ein Gleichgewicht der Kräfte zu erreichen, das sich durch Öffentlichkeit allein nicht herstellt. Wie fügt sich in dieses so durchdachte und raffinierte demokratische System der Kontrolle und Balancen nun das neue M e d i u m Internet ein? Wenn die Demokratie eben wegen ihrer egalitären Ausrichtung auf Struktur und Differenz verwiesen ist, um funktionieren zu können, so finden sich beide Merkmale beim Internet gerade nicht. Kennzeichen des Internets ist die Entgrenzung. Raum und Zeit sind praktisch aufgehoben, Meinungen stehen gleichberechtigt - und oft ununterscheidbar - neben Fakten, Wertloses beansprucht dieselbe Aufmerksamkeit wie Wertvolles, der Laie äußert sich ebenso selbstgewiss wie der Experte. Zweifellos gibt es Grenzen, die zu Recht überschritten werden - wozu das Internet seinen Beitrag leistet. Soziale Grenzen, die Differenz nicht durch Leistung, sondern durch H e r k u n f t definieren, haben eine nur angemaßte Berechtigung. Der Laie, der sich durch eigene Anstrengung das Können des Fachmanns angeeignet hat, ist vielleicht produktiver als der saturierte Experte. Die Tabuisierung bestimmter Meinungen, die nicht dem Mainstream entsprechen, kann die Debatte wichtiger Anstöße berauben. Grenzen, die menschenrechtsverletzende Systeme setzen, haben als solche keinen Anspruch auf Beachtung. Das alles zugestanden, ist dennoch kaum bestreitbar, dass Grenzziehung oftmals ihren guten Sinn hat. Grenzen zu ziehen und Unterschiede zu machen, erlaubt es unter anderem, Differenzen in der Qualität festzustellen. Solche erkennbaren Qualitätsunterschiede ermöglichen Orientierung - ein hoher Wert in einer Zeit, die sich aus mehreren Gründen durch Orientierungslosigkeit auszeichnet. Erstens werden immer weniger Traditionen weitergegeben. Religiös vermittelte oder in den entsprechenden sozialen Milieus eingeübte Verhaltensweisen verlieren in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft an Bedeutung. Zweitens wirkt die uns umgebende Welt immer komplexer. Aufgrund der Globalisierung scheint alles mit allem verbunden zu sein, die Wechselwirkungen sind schwer zu durchschauen. Und drittens hat die Ökonomisierung aller Lebensbereiche die Tendenz verstärkt, dem Quantitativen den Vorrang vor dem Qualitativen zu geben. Der große Nivellierer Geld misst alles mit dem gleichen Maß, er kennt nur das Mehr oder Weniger. Angesichts dieser Lage hat ein Medium, das in sich keine Grenzen kennt und keine Unterschiede macht, potenzierende Wirkung. Im Internet findet nur der Orientierung, der sie in gewissem U m f a n g bereits mitbringt. Für alle anderen vergrößert der gigantische U m f a n g an Information und Desinformation, welche das Internet bietet, die Schwierigkeit, Brauchbares von Unbrauchbarem, Nützliches von Schädlichem zu sondern. Die Folgen jener Entgrenzung, die das Internet kennzeichnet, lassen sich aber noch präziser benennen. Beispielhaft seien drei Bereiche herausgegriffen, in denen die eigentümliche Struktur oder besser Strukturlosigkcit des Internets zu problematischen Konsequenzen zu führen scheint: in der Politik, im Journalismus und in der Bildung.
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In der Politik sind die E n t s t e h u n g u n d der E r f o l g der P i r a t e n p a r t e i Zeichen eines Einstellungsw a n d e l s . D a m i t ist nicht g e m e i n t , dass eine Partei u n t e r d e m N a m e n einer V e r b r e c h e r g r u p p e f i r m i e r t u n d damit g r o ß e n A n k l a n g findet, was als solches n a t ü r l i c h auch ein i n t e r e s s a n t e s P h ä n o m e n ist. G e m e i n t ist der n e u e Politikstil, der mit der P i r a t e n p a r t e i E i n z u g in die D e m o k r a t i e hielt: v o n der R e p r ä s e n t a t i o n z u r Präsenz. M i t t e l s des P r ä s e n z m e d i u m s Internet halten die Polit i k e r d e r Piratenpartei e i n e n f o r t w ä h r e n d e n K o n t a k t mit ihren W ä h l e r n , d e r die G r e n z e n z w i schen W ä h l e r n u n d G e w ä h l t e n v e r s c h w i m m e n lässt. Das p e r s o n a l e Prinzip, das in der r e p r ä s e n t a t i v e n D e m o k r a t i e mit g u t e m G r u n d die Wahl des A b g e o r d n e t e n b e s t i m m t , w i r d d a m i t g e r a d e z u a u s g e h e b e l t : D e r A b g e o r d n e t e ist das S p r a c h r o h r seiner - i m m e r w i e d e r w e c h s e l n d e n - Basis, jedenfalls d e r j e n i g e n , die gerade online ist. Wer in dieser Partei als Person b e s o n d e r s in E r s c h e i n u n g tritt, b e k o m m t den geballten U n m u t der N u t z e r zu s p ü r e n . H i e r soll es nicht u m Personen, s o n d e r n u m Verfahren gehen, w a s dazu führt, dass die Inhalte g e n a u s o f l u k t u i e r e n w i e die T e i l n e h m e r an d e m Verfahren. Bestenfalls k o m m t es zu M i n i m a l k o m p r o m i s s e n ; d e m Fehlen v o n P e r s ö n l i c h k e i t e n u n d p e r s o n a l e r V e r a n t w o r t u n g k o r r e s p o n d i e r t die inhaltliche B e l i e b i g k e i t . D o c h die W i r k u n g d e r s t ä n d i g e n m e d i a l e n P r ä s e n z bleibt nicht auf die Piratenpartei b e s c h r ä n k t . A u c h die e t a b l i e r t e n Parteien sehen sich z u n e h m e n d g e n ö t i g t , sich s t ä n d i g in den n e u e n M e d i e n zu p r ä s e n t i e r e n u n d so eine N ä h e z u m W ä h l e r zu s u g g e r i e r e n , die b l o ß e r Schein ist. Sie u n t e r w e r f e n sich d a m i t aber d e r K u r z a t m i g k e i t , O b e r f l ä c h l i c h k e i t u n d S t r o m l i n i e n f ö r m i g k e i t , die M i t t e i l u n g e n fast z w a n g s l ä u f i g a u f w e i s e n , w e n n sie in k ü r z e s t e r Zeit p r o d u z i e r t und k o n s u m i e r t w e r d e n sollen. I n d e m die P o l i t i k e r sich so d e m v e r m u t e t e n N i v e a u ihrer W ä h l e r a n g l e i c h e n , steigern sie n i c h t u n b e d i n g t die A c h t u n g vor i h r e m G e w e r b e . V i e l m e h r erzeugen sie den fatalen Schein, die D i n g e seien so einfach, w i e sie sie in den K u r z m i t t e i l u n g e n darstellen. G l e i c h e r m a ß e n fatal ist die Tatsache, dass die A u f w e r t u n g des O f f e n t l i c h m a c h e n s jede Form des G e h e i m h a l t e n s d e m G e n e r a l v e r d a c h t des U n r e c h t m ä ß i g e n a u s s e t z t . N u r das Böse scheut das Tageslicht; nach dieser e i n f a c h e n L o g i k ist alles, w a s in d e r Politik nicht ö f f e n t l i c h geschieht, i r g e n d w i e suspekt. N u n k o m m e n aber auch D e m o k r a t i e n nicht o h n e G e h e i m d i e n s t e , Verfass u n g s s c h u t z o d e r ( G e h e i m - ) D i p l o m a t i e aus. W ü r d e n sie sich d i e s e r M i t t e l begeben, wären sie d e u t l i c h w e n i g e r w e h r h a f t u n d d e u t l i c h w e n i g e r i n t e r n a t i o n a l k o n k u r r e n z f ä h i g . G e r a d e in letzter Zeit zeigt sich j e d o c h die Tendenz, dass P o l i t i k e r in R e c h t f e r t i g u n g s n o t geraten, w e n n sie auf G e h e i m h a l t u n g in b e s t i m m t e n Fragen d r i n g e n oder w e n n bisher G e h e i m g e h a l t e n e s d o c h an die Ö f f e n t l i c h k e i t gelangt. D e r D r u c k , der so auf sie a u s g e ü b t w i r d , tut ihnen nicht gut - und der D e m o k r a t i e m ö g l i c h e r w e i s e auch nicht. F ü r d e n J o u r n a l i s m u s k a n n die e n t g r e n z e n d e W i r k u n g des I n t e r n e t s g e r a d e z u z u r U b e r l e b e n s f r a g e w e r d e n . Wenn j e d e r m a n n z u m P r o d u z e n t e n von N a c h r i c h t e n w e r d e n kann, stellt sich die F r a g e n a c h der N o t w e n d i g k e i t eines e i g e n e n B e r u f s s t a n d s z u r E r f ü l l u n g dieser F u n k t i o n . Dass die Z e i t u n g e n von sich aus d a z u ü b e r g e g a n g e n sind, k o s t e n l o s e I n f o r m a t i o n e n i m Internet z u r V e r f ü g u n g zu stellen, ist z u g l e i c h A b w e h r m a ß n a h m e g e g e n ü b e r d e r n i c h t p r o f e s s i o n e l l e n Konk u r r e n z u n d G e f ä h r d u n g d e r e i g e n e n E x i s t e n z . M a n kann die K u n d s c h a f t daran g e w ö h n e n , dass sie f ü r d i e B e r e i t s t e l l u n g v o n Material, S a c h v e r s t a n d u n d K ö n n e n n i c h t s zu zahlen hat. M a n kann sie auch daran g e w ö h n e n , dass die im I n t e r n e t n o t w e n d i g e r m a ß e n v e r k n a p p t e D a r s t e l l u n g im G r u n d e g e n ü g t . Es gibt i n z w i s c h e n viele Leser, die sich mit d e m I n t e r n e t a u f t r i t t einer Tageszeitung begnügen.
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Natürlich verändert dies das Leseverhalten und -ergebnis. Hintergrundinformationen werden seltener angeboten und weniger nachgefragt. Der schnelle Rhythmus des Mediums überträgt sich auf seine N u t z e r ; die Geduld, sich mit längeren und schwierigeren Darlegungen auseinanderzusetzen, ist eine Tugend, die schon durch die Darbietungsform im Internet kaum gefordert wird. Hier überwiegt das Schnelle und Grelle, das Bunte und Vielfältige, das Unterhaltsame und Ablenkende. U n d w o das auf der angeklickten Seite selbst nicht geboten wird, kann es durch entsprechendes Herumsurfen vom N u t z e r herbeigeführt werden. Dies wissend, haben auch seriöse Zeitungen zum Teil schon Internetpräsentationen, die in ihrer Aufmachung an Boulevardzeitungen erinnern. Das Auge soll durch immer neue Reize an die Seite gefesselt werden; ob der Verstand mit der Vielzahl des Wahrgenommenen Schritt hält, lässt sich mit gutem Grund bezweifeln. Das führt zu der Frage, welche Auswirkungen das Internet auf die Bildung haben könnte. Dass ein sachhaltiger und die Tiefendimensionen des täglichen Geschehens auslotender Journalismus ein Instrument politischer Bildung ist, auf das gerade die Demokratie nicht verzichten kann, liegt auf der Hand. Insofern stellt die reduzierte Form des Journalismus, wie sie im Internet präsent ist, eine Einbuße dar. Auf der anderen Seite erreichen Internetzeitungen sicher sehr viele Leser, die sich niemals eine Zeitung gekauft hätten. Hier Vor- und Nachteil abzuwägen, ist schwierig. Weniger schwierig ist es allerdings festzustellen, dass der Gebrauch des Mediums Internet von diesem selbst nicht vorgegeben wird. Es liefert aber durch die beschriebene Präsentationsform Anreize, das Kurzweilige dem Gründlichen, das Unterhaltsame dem Anspruchsvollen vorzuziehen. Konzentrationsfördernd ist das nicht. Es ist im Übrigen auch nicht gedächtnisfördernd. M a n hat im Zusammenhang mit dem Internet schon von dem Phänomen des „ausgelagerten Gedächtnisses" gesprochen: Weil alle Informationen, die man braucht, ständig abrufbar sind, muss man sie nicht im hauseigenen Speicher des Gedächtnisses lagern. Man verlässt sich auf den P C und nicht auf den eigenen Kopf - im Grunde eine Selbstentmündigung durch fehlende Schulung des eigenen Vermögens und die Erzeugung eines Abhängigkeitsverhältnisses gegenüber einer Maschine. Da das Internet selbst keine Struktur bietet, muss diese Struktur vom N u t z e r an das Internet herangetragen werden. Das bedeutet: Bildend wirkt der Umgang mit dem Internet nur, wenn der Nutzer schon gewisse Bildungsvoraussetzungen mitbringt. Letztere erlauben es, Fakten zu ordnen und zu gewichten, in Zusammenhängen zu denken, Wissen in Verstehen zu überführen. N u n entwickelt sich unser Bildungssystem unglücklicherweise aber gerade in die Gegenrichtung. In einer Zeit, in der die Datenflut unübersehbar geworden ist, setzen Schulen und Universitäten immer mehr auf die bloße Vermittlung statt auf die geistige Verarbeitung von Fakten. Der Bologna-Prozess bedeutet schlicht die Kapitulation vor dem traditionellen Bildungsverständnis. U m immer mehr junge Menschen mit einem - in seinem Wert durchaus zweifelhaften Abschluss versehen zu können, werden allesamt mit Magerkost gefüttert. Ebendie Kompetenzen, die persönlichkeitsbildend wirken, werden kaum mehr vermittelt: das selbständige Studieren, die langfristige, eigenständige Beschäftigung mit einem Gegenstand oder das Verstehen der großen Zusammenhänge. Der Mangel an Persönlichkeitsbildung, der paradoxerweise mittlerweile gerade von unseren Bildungseinrichtungen befördert wird, macht sich aber auch in fehlendem Verantwortungsbewusstsein bemerkbar. Die Übernahme personaler Verantwortung setzt Person-Sein voraus. Wenn ein M e d i u m wie das Internet es ermöglicht, genau dieses Person-Sein durch Anonymität
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hinter sich zu lassen und trotzdem in einer Weise zu agieren, die gravierende Folgen in der nichtvirtuellen Wirklichkeit haben kann, dann leistet es einer Tendenz Vorschub, die auch politisch nicht erwünscht sein kann. Für den N u t z e r folgenloser Verbalradikalismus trägt nicht zur Ausbildung eines differenzierten politischen Urteils bei. Zweifellos bietet das Internet große C h a n c e n der Horizonterweiterung, des Gedankenaustauschs, ja sogar der Mitwirkung an der Uberwindung autoritärer Regime. D o c h ein per se demokratisches Medium ist es nicht - wenn denn die D e m o k r a t i e als Herrschaft der Gleichen in besonderem M a ß e auf Unterscheidung und Struktur angewiesen ist. N i c h t das Internet macht demokratisch, sondern nur ein U m g a n g mit ihm, der nach qualitativ gesicherten Maßstäben verfährt. Deshalb sollte demokratische Politik schon um der Selbsterhaltung des Systems willen in der Bildung ihre entscheidende Aufgabe sehen. In der D e m o k r a t i e sind die Bürger die maßgebliche Ressource. Ihnen müssen per Bildung die Mittel an die H a n d gegeben werden, sich auch in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt, wie sie sich exemplarisch im Internet widerspiegelt, eigenständig Pfade durch das Dickicht zu schlagen. Das klassische K o n z e p t der Öffentlichkeit setzte auf eine quasiautomatische Fortschrittsbewegung durch den öffentlichen Vernunftgebrauch. D o c h Vernunft ist nichts Gegebenes, sie ist etwas immer wieder neu Hervorzubringendes. Und da die Vernunft nicht in den Institutionen liegt, nicht in der Öffentlichkeit und auch nicht in einem Medium wie dem Internet, bleibt nur eines: durch entsprechende Bildungsanstrengungen dafür zu sorgen, dass es M e n s c h e n gibt, die Vernunft in das hineintragen, was in sich zunächst einmal o h n e Vernunft ist.
Die Autoren Altenmüller, Eckart, ist Professor und leitet das Institut für Musikphysiologie und MusikerMedizin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Baer, Susanne, Richterin des Bundesverfassungsgerichts, ist Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin. Brenner, Peter J., war von 1991 bis 2009 Universitätsprofessor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität zu Köln und ist seit 2010 an der Carl von Linde-Akademie der Technischen Universität München. Di Fabio, Udo, Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D., ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn. Freiburghaus, Dieter, ist emeritierter Professor für europäische Studien am Hochschulinstitut für öffentliche Verwaltung (IDHEAP) der Universität Lausanne. Gigerenzer, Gerd, ist Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin sowie des Harding Zentrums für Risikokompetenz. Groebner, Valentin, ist Professor für Geschichte an der Universität Luzern. Im Frühjahr 2014 erscheint sein neues Buch „Wissenschaftssprache digital", konstanz university press. Grünewald, Stephan, Dipl.-Psych., ist Mitbegründer des rheingold Instituts für qualitative Markt- und Medienanalysen in Köln. Jüngst erschien von ihm das Buch „Die erschöpfte Gesellschaft - Warum Deutschland neu träumen muss" bei Campus.
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Die Autoren
G u m b r e c h t , H a n s Ulrich, ist P r o f e s s o r f ü r Literatur an der S t a n f o r d University. Hediger, Vinzenz, ist P r o f e s s o r f ü r Filmwissenschaft an der G o e t h e - U n i v e r s i t ä t F r a n k f u r t . Er ist M i t b e g r ü n d e r des europäischen F o r s c h u n g s n e t z w e r k s N E C S - E u r o p e a n N e t w o r k f o r C i n e m a and Media Studies (www.necs.org). H ö r i s c h , J o c h e n , ist P r o f e s s o r f ü r N e u e r e deutsche Literatur u n d Medienanalyse an der Universität M a n n h e i m . H o l z a p f e l , Nicola, ist F o r s c h u n g s r e d a k t e u r i n an der L M U M ü n c h e n u n d A u t o r i n der Zeitschrift „Einsichten: D a s Forschungsmagazin". Kaube, J ü r g e n , ist R e d a k t e u r der F r a n k f u r t e r Allgemeinen Z e i t u n g f ü r Wissenschafts- u n d Bildungspolitik u n d Ressortleiter f ü r die „Geisteswissenschaften". Kirchhof, Paul, Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D., ist Professor f ü r Ö f f e n t l i c h e s Recht an der Universität Heidelberg. Kneuer, Marianne, ist Professorin f ü r Politikwissenschaft am I n s t i t u t f ü r Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim. Krischke, Wolfgang, ist p r o m o v i e r t e r Journalist, Buchautor u n d Lehrbeauftragter f ü r Sprachwissenschaft an der Universität H a m b u r g . L ü t t e k e n , Laurenz, ist P r o f e s s o r f ü r Musikwissenschaft an der Universität Zürich. Morozov, Evgeny, ist R e d a k t e u r bei der amerikanischen Zeitschrift „ N e w Republic". Pieper, A n n e m a r i e , ist Professorin (em.) f ü r Philosophie der Universität Basel. Pörksen, Bernhard, ist P r o f e s s o r f ü r Medienwissenschaft an der Universität T ü b i n g e n . Reichholf, Josef H., ist Z o o l o g e u n d Evolutionsbiologe. Er war Leiter der Wirbeltierabteilung der Z o o l o g i s c h e n S a m m l u n g u n d H o n o r a r p r o f e s s o r an der T U M ü n c h e n und ist seit Mai 2010 pensioniert u n d emeritiert. Schmoll, H e i k e , Dr. h.c., ist Redakteurin der F r a n k f u r t e r Allgemeinen Z e i t u n g f ü r Schul- und H o c h s c h u l p o l i t i k sowie Fragen der wissenschaftlichen Theologie u n d Trägerin des v o n der H e n n i n g - K a u f m a n n - S t i f t u n g im Stifterverband für die D e u t s c h e Wissenschaft vergebenen D e u t schen Sprachpreises. Schneider, M a n f r e d , ist P r o f e s s o r f ü r N e u g e r m a n i s t i k , Ä s t h e t i k u n d Medien an der Universität Bochum.
Die Autoren
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StoUberg-Rilinger, Barbara, ist Professorin f ü r Geschichte der Frühen Neuzeit am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 2013 erhielt sie den Preis des Historischen Kollegs. Zankl, Heinrich, ist emeritierter Professor für Humanbiologie an der Technischen Universität Kaiserslautern und A u t o r zahlreicher Sachbücher. Zehnpfennig, Barbara, ist Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau.
Quellennachweis Eckart Altenmüller: Warum bewegt uns Musik? Über die emotionale nären Ursprung Aus: Forschung & Lehre 3/2013, S. 190f.
Wirkung und ihren
evolutio-
Susanne Baer: Vertrauen in Recht und Wissenschaft. Zur Notwendigkeit von Vorgaben, Verfahren und Vielfalt D e r Beitrag erschien mit Nachweisen in der Reihe Göttinger Universitätsreden. Göttinger Universitätsrede - Wissenschaft verantworten, Bd. 2012 © Wallstein Verlag, Göttingen 2013. Peter J. Brenner: Thomas Mann - ein Virtuose der Aus: Universitas, N r . 803, Mai 2013, S. 5-17
Halbbildung
U d o Di Fabio: Europa in der Krise. Trägt die europäische Idee? Festvortrag zur Jahresfeier 2013 der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste am 15. Mai 2013 Dieter Freiburghaus: Im Gehäuse der Hörigkeit Nachdruck aus der N e u e n Zürcher Zeitung vom 17. September 2013. Mit freundlicher Genehmigung Gerd Gigerenzer: Uber Wahl. Ein Gespräch mit dem Psychologen und Risikospezialisten Gigerenzer Aus: Süddeutsche Zeitung vom 13./14. Juli 2013
Gerd
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Quellennachweis
Valentin Groebner: Muss ich das lesen ? Ja, das hier schon. Wissenschaftliches Publizieren im Netz und in der Uberproduktionskrise Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Februar 2013. „© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung G m b H , Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv". Stephan Grünewald: Die umgekehrte Angst. Zum Lebensgefühl von Jugendlichen zwischen '68 und heute Aus: Forschung & Lehre 9/2013, S. 708f. Hans Ulrich Gumbrecht: Intellektuelle Leidenschaft in der Drittmittel-Welt? Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Blog Digital/Pausen, vom 25. O k t o b e r 2013 Vinzenz Hediger: Einübung in paranoides Denken. „The Wire", „Homeland" Ästhetik des Überwachungsstaats Aus: Forschung & Lehre 8/2013, S. 618f.
und die filmische
Jochen Hörisch: „Alle wollen ja nur unser Bestes". Uber Beobachter der Beobachter, Freiheit und Sicherheit Aus: Forschung & Lehre 8/2013, S. 612f. Nicola Holzapfel: wickeln Aus: Einsichten 11/2013, S. 922 programm.de und
Fürs Leben verwöhnt:
Wie Babys und Kleinkinder
eine sichere Bindung
ent-
Das Forschungsmagazin der LMU, Nr. 1/2013 sowie Forschung & Lehre bis 924. Weiterführende I n f o r m a t i o n e n im Internet unter www.safewww.base-babywatching.de
Jürgen Kaube: Universität, Prestige, Organisation. Soziologiekolumne Aus: Forschung & Lehre 5/2013; Nachdruck aus der Zeitschrift Merkur, April 2013 Paul Kirchhof: Forschen heißt hoffen. Hoffen als Antrieb menschlichen Denkens Abschiedsvorlesung an der Universität Heidelberg am 7. Juni 2013 Marianne Kneuer: Stütze oder Hilfe zum Sturz? Das Potenzial des Internets in Aus: Forschung & Lehre 8/2013, S. 626ff.
Autokratien
Laurenz Lütteken: Wie zeitgemäß ist das Konzert? Ein Plädoyer für das musikalische Aus: Forschung & Lehre 3/2013, S. 180ff.
Kunstwerk
Evgeny Morozov: Der wahre Geist in der Maschine. Schwächen der Technologiekritik Aus: Süddeutsche Zeitung, 10. O k t o b e r 2013. Aus dem Englischen von Kathleen Hildebrand
Quellennachweis
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Annemarie Pieper: Glück aus philosophischer Perspektive Vortrag gehalten auf dem Symposion des Deutschen Hochschulverbandes „Was ist Glück?" am 16. Oktober 2013; Weiterführende Literatur von der Autorin: „Glückssache. Die Kunst gut zu leben, H o f f m a n und Campe: Hamburg 2001; dtv: München 2003ff. Bernhard Pörksen/Wolfgang Krischke: Das große Unbehagen Aus: Bernhard Pörksen/Wolfgang Krischke (Hg.): Die gehetzte Politik. Die neue Macht der Medien und Märkte. Herbert von Halem Verlag, Köln 2013 Josef H. Reichholf: Streiten Tiere fairer als Menschen? Der schwierige Weg zur Regelung von Konflikten Aus: Forschung & Lehre 6/2013, S. 452f. Heike Schmoll: Eine deutsche Bildungskatastrophe. Die Geschichte von Hellmut Becker und Georg Picht Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Juli 2013. „© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung G m b H , Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv". Manfred Schneider: „Die Odyssee" mit GPS? Aus: N e u e Zürcher Zeitung, 9. Oktober 2013 Barbara Stollberg-Rilinger: Von der Schwierigkeit des Entscheidens Vortrag anlässlich der Verleihung des Preises des Historischen Kollegs an die Autorin, 8. November 2013 Heinrich Zankl: „Speichellecker" und „sehr rohe Teppen". Wissenschaftliche Kontroversen und Feindschaften Aus: Forschung & Lehre 6/2013, S. 448f., zum Thema ist vom Autor das Buch „Kampfhähne der Wissenschaft. Kontroversen und Feindschaften" im Verlag Wiley-VCH erschienen. Barbara Zehnpfennig: Strukturlose Öffentlichkeit Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Januar 2013. „© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung G m b H , Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv".