Glanzlichter der Wissenschaft 2011: Ein Almanach 9783110504729, 9783828205529

Der Sammelband "Glanzlichter der Wissenschaft" vereinigt herausragende wissenschaftliche Veröffentlichungen un

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German Pages 163 [164] Year 2011

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Lässt sich die Bildung umverteilen?
Unsere Euphemismen
„Die Kartoffel ist der rote Faden“
Studieren bedeutete für mich Außruch
Die Ökologie des Menschen
Künstliche Inszenierung
Demokratisch, patriotisch, kulturell verankert
Die Deuter der Daten
Demut und Dolchstoß
Staat und Recht: Ewige Bindung oder flüchtige Liaison ?
Die Universität in Circes Bordell
Auf dem Weg zum gelingenden Leben
Heimat ist mehr als ein Ort
Für wen und warum eine Kriteriendiskussion?
Was treibt den Menschen?
Was vom Idealismus übrig blieb
„Sanfte Steuerung“ der Bildungsreformen
Von der Natur des Menschen und der kommerziellen Gesellschaft
Jeder sein eigener Gott
Entweder - oder?
Wettbewerb und Kooperation
Zeitgeist und kulturelle Identität
Die Würde des Patienten
Die nach uns bemessene Mitte
Uns fehlt ein Wort, ein einzig Wort
„ ... die praktische Seite der Philosophischen Fakultät“
Erziehung, Bildung, Ausbildung:
Die Autoren
Quellennachweis
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Glanzlichter der Wissenschaft 2011: Ein Almanach
 9783110504729, 9783828205529

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Glanzlichter der Wissenschaft Ein Almanack

herausgegeben vom Deutschen Hochschulverband

LUCIUS LUCIUS

®

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8282-0552-9 © Deutscher Hochschulverband 2011 Redaktion: Felix Grigat, M.A. (verantwortl.) Dr. Michael H a r t m e r Friederike Invernizzi, M.A. Ina Lohaus Vera Müller, M.A. Druck: Saarländische Druckerei und Verlag G m b H , 66793 Saarwellingen

Inhaltsverzeichn is Lässt sich die Bildung umverteilen ? Konrad Adam

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Unsere Euphemismen Der Jargon der Uneigentlichkeit Peter-André Alt

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„Die Kartoffel ist der rote Faden " Über Spezialitäten und Eigenheiten der Deutschen Prinz Asfa-Wossen Asserate

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Studieren bedeutete für mich Aufbruch Impressionen aus der alten und der neuen Universität Christiane Bender

25

Die Ökologie des Menschen Papst Benedikt XVI

31

Künstliche Inszenierung Uber Wettbewerbe in Forschung und Lehre Mathias Binswanger

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Demokratisch, patriotisch, kulturell verankert Die nationale Identität der Deutschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts Peter Brandt

41

Die Deuter der Daten Auch in den exakten Wissenschaften kommt es nicht nur auf Fakten, sondern auf deren Interpretation an Jochen Brüning

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Demut und Dolchstoß Beobachtungen zur Rhetorik Karl-Theodor zu Guttenbergs Heinrich Detering

49

Staat und Recht: Ewige Bindung oder flüchtige Liaison? Udo Di Fabio

53

4

Inhaltsverzeichnis

Die Universität in Circes Bordell Zwischen staatlicher Dauerreform und ineffizientem Alexander Dilger und Thomas Ehrmann

Pseudomarkt 61

Auf dem Weg zum gelingenden Leben Tugenderziehung und gesellschaftliche Ordnung Andreas Dörpinghaus

65

Heimat ist mehr als ein Ort „Heimat" und „Fremde" in Literatur, Geistesgeschichte und Gegenwart Wolfgang Frühwald

69

Für wen und warum eine Kriteriendiskussion? Zur Transparenz von Verteilungsentscheidungen Petra Gehring

75

Was treibt den Menschen? Die Sicht der Philosophie Volker Gerhardt

79

Was vom Idealismus übrig blieb Magnus Klaue

87

„Sanfte Steuerung" der Bildungsreformen Zu den Durchsetzungsstrategien von PISA, Bologna & Co. Jochen Krautz

91

Von der Natur des Menschen und der kommerziellen Gesellschaft David Hume zum 300. Geburtstag Heinz D. Kurz feder sein eigener Gott Pisa-Studie, Bachelor und die Folgen: Das alte Ideal vom unverwechselbaren Individuum Dieter Lenzen

97

ist in Gefahr. 103

Entweder - oder? Politik und Wissenschaft aus der Sicht Ciceros Arnd Morkel

107

Inhaltsverzeichnis

5

Wettbewerb und Kooperation Eine evolutionsbiologische Perspektive Josef H . Reichholf

113

Zeitgeist und kulturelle Identität Kurt Reumann

117

Die Würde des Patienten Hartmut Schiedermair

123

Die nach uns bemessene Mitte Über Archäologie und Aktualität der Tugenden Andreas Speer

131

Uns fehlt ein Wort, ein einzig Wort Botho Strauß

135

„... die praktische Seite der Philosophischen Fakultät" Status und Funktion universitärer Pädagogik Heinz-Elmar Tenorth

139

Erziehung, Bildung, Ausbildung: Das Kapital unserer Gesellschaft Eberhard v. Kuenheim

149

Die Autoren

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Quellennachweis

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Konrad Adam

Lässt sich die Bildung umverteilen?

N

ur die Alteren werden sich noch an jene Kunstfigur erinnern, die seinerzeit, vor dreißig oder vierzig Jahren, dazu diente, die Deutschen von der Dringlichkeit einer grundstürzenden Reform ihres hergebrachten Schulwesens zu überzeugen. Diese Figur war das

katholische Arbeitermädchen vom Lande. Als Inbegriff aller Benachteiligungen regionaler, sozialer, konfessioneller und sonstiger Natur prangerte es die Willkür an, mit der in Deutschland die Chance, durch Bildung aufzusteigen, vergeben oder vorenthalten wurde. Das war der eine Teil der allgemeinen Klage; er wurde ergänzt durch die Warnung vor den wirtschaftlichen Risiken, denen das Land entgegentrieb, wenn es an seinem gewohnten, horizontal und vertikal reich gegliederten Schulsystem festhalten würde: Risiken, die aber jetzt, im Zeichen des Aufbruchs in eine bessere und gerechtere Zukunft, nicht bloß überwunden, sondern ins Gegenteil, in Chancen für jeden und Wohlstand für alle verwandelt werden sollten. Die Schule der Nation sei die Schule, hatte Willy Brandt als Kanzler der sozial-liberalen Koalitionsregierung, die 1969 ins Amt gekommen war, im Deutschen Bundestag erklärt, und dieses Wort gab jetzt die Richtung vor. Georg Picht hatte die Abiturientenquote zum allein gültigen Maßstab für das Bildungsniveau eines Landes ausgerufen, und Hildegard Hamm-Brücher hatte noch eins draufgesetzt, als sie verkündete, im Grunde könne jeder studieren. Lernziele wurden aufgestellt, das Schulcurriculum einer gründlichen Revision unterzogen, ein großer Fachverlag kündigte an, in allernächster Zeit einen „Totalentwurf des für unsere Gesellschaft Lehr- und Lernwürdigen" vorzulegen: lauter hoffnungsvolle Signale einer auf grenzenlosen Fortschritt eingestimmten Zeit. „Gleiche Lernziele - gleiche Lernerfolge" hieß eine der vielen optimistischen Parolen, die damals in Umlauf kamen und die bis heute nicht vergessen sind. Das war ein ehrgeiziges, aber kein unrealistisches Programm. Es profitierte von dem Zeitpunkt, zu dem es entworfen und verkündet worden war: vom Geist einer Zeit, in der das Wünschen noch geholfen hatte, weil die Hoffnungen groß und die Kassen voll waren. Tatsächlich sind

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die Missstände, die anzuprangern das Landarbeitermädchen seinerzeit eingesetzt worden war, so gut wie vollständig beseitigt worden. D e r Abstand zwischen Stadt und Land hat sich verloren; die Mädchen haben mit den Jungen gleichgezogen, sie vielfach sogar überrundet; Arbeiterkinder können schon deshalb nicht länger diskriminiert werden, weil das Milieu, dem sie entstammen, ständig schrumpft. Zu schweigen von der Konfession als Schlüssel für den Wunsch, durch Bildung aufzusteigen, weil die Religion ihre unangefochtene Bedeutung als sozial beachtliches Kriterium schon damals längst verloren hatte. Soweit Statistik über den Umfang, in dem Bildungschancen angeboten oder wahrgenommen, verweigert oder ausgeschlagen werden, überhaupt Auskunft geben kann, ist der Aufbruch in eine Zeit, von der Georg Picht und viele andere geträumt haben, zweifellos gelungen. Aber der Fortschritt geht weiter. Was immer in seinem Namen geplant, getan oder erreicht worden sein mag: Es bleibt noch immer mehr zu tun, zumindest so lange, wie man die Definition von Chancengleichheit den Soziologen überlässt. Die nämlich wollen erst dann Ruhe geben, wenn, so die offiziöse Begriffsbestimmung, alle gesellschaftlich relevanten Gruppen in proportional gleichem Umfang in den Besitz der vielen schönen Dinge gekommen sind, die das Leben angenehm machen, deswegen aber auch knapp und meistens teuer sind; die Bildung gehört auch dazu. Sie ist das letzte in der Reihe jener Güter, die früher einmal einer Oberschicht vorbehalten waren, jetzt aber, in demokratischen Zeiten, ausgegeben werden sollten an alle. So definiert, ist das Ganze ein Fass ohne Boden, da sich die Art der Güter, um die es geht, die Zahl der Gruppen, die zu berücksichtigen sind, und das Ausmaß, in dem sie partizipieren können oder sollen, nie eindeutig bestimmen lässt; wissenschaftlich schon gar nicht. Trotzdem wird der Ruf, der uns daran erinnert, dass manche Missstände „immer noch" bestehen oder „immer noch nicht" beseitigt worden sind, so bald nicht verstummen; schließlich versorgt er Heerscharen von Soziologen mit Lohn und Brot. Wie üppig und verlässlich, zeigt das Wachstum der Gleichstellungsindustrie, die in dem Tempo vorankommt, wie die Unterschiede, gegen die sie ankämpft, langsam verschwinden. Nachdem das katholische Landarbeitermädchen in seiner Funktion als Menetekel der Schulreformer ausgedient hatte, musste ein Nachfolger her, um die Bewegung in Trab zu halten. D e r ist auch bald gefunden worden. Die Wahl fiel auf den Großstadtjugendlichen aus Hartz-IV-Milieu, männlichen Geschlechts, türkischer Herkunft und muslimischen Glaubens, „mit Migrationshintergrund" also, wie die inzwischen amtlich etablierte Formel lautet: ohne die lokalen, sozialen oder religiösen Wurzeln, die unsereinem Halt geben im Kampf ums Dasein. Er kultiviert bekanntlich seine eigenen Wertvorstellungen, verkehrt in seinen eigenen Kreisen und geht seine eigenen Wege, die sich von denen der Mehrheitsgesellschaft ostentativ unterscheiden; er verachtet die Deutschen, lässt sich von einer Frau nichts sagen und betrachtet es als eine Frage der Ehre, zum Unterricht bewaffnet zu erscheinen. Da er sich schwertut mit dem Lernen, aber gern zusticht, wenn ihm irgendetwas nicht passt, liegt er bei den Schulabschlüssen am unteren, in der Kriminalstatistik am oberen Ende der Skala: ein ziemlich hoffnungsloser Fall, aber gerade so, als mehrfach geschädigtes Opfer der Gesellschaft, der ideale Zuwendungsempfänger für die deutsche, pädagogisch hochambitionierte Betreuungsindustrie. Dass sie in Deutschland üppiger blüht als anderswo, hat wie so vieles seinen Grund in der jüngeren Geschichte des Landes. Aus ihr glauben die Deutschen gelernt zu haben. Schon die leiseste Vermutung, dass Erziehung und Bildung irgendwann an Grenzen stoßen könnten, die weder zu überspringen noch endlos zu verschieben sind, gilt als Biologismus: das neue Unwort der

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Epoche. Indem es die Erinnerung an die bekannten zwölf Jahre wachruft, mobilisiert es auch die damit verbundenen Affekte; und darauf kommt es schließlich an. Es braucht keine Argumente, wirkt schnell und meistens tödlich. Wie gut der Mechanismus greift, hat neulich erst die Empörung gezeigt, die Thilo Sarrazins polemisch zugespitzten Thesen über die Gefahr entgegenschlug, die das Land läuft, wenn es an seinem Sonderweg der ungeregelten Einwanderung festhält. Das ist ihm schlecht bekommen. Sarrazin wurde als Biologist angeschwärzt, als Halbfaschist, der die grenzenlose Formbarkeit des Menschen nur deshalb ignoriert, weil er aus der Vergangenheit nichts lernen will. In Deutschland darf man ja an allem zweifeln, nur nicht an der Möglichkeit, aus jedem Menschen, Zuwendung und Betreuung vorausgesetzt, alles machen zu können. John Broadus Watson, der Vater der radikalisierten Verhaltensforschung, hatte ähnlich gedacht. Wenn der Mensch das Produkt seiner Umwelt ist, dann lässt sich alles aus ihm machen. Gebt mir, so lautete sein berüchtigtes, bewusst provokativ vorgetragenes Anerbieten, gebt mir ein Dutzend gesunder, wohlgeratener Kinder, und ich verspreche euch, jedes einzelne von ihnen zur Meisterschaft in irgendeiner Tätigkeit zu erziehen, es zum Arzt oder zum Anwalt, zum Künstler oder U n ternehmer auszubilden, zum Bettler, Gauner, Totengräber oder Dieb, „ungeachtet seiner Talente, seiner Vorlieben, seiner Neigungen, seiner Anlagen und seiner Herkunft". Das war der Behaviorismus, der von Watsons Schüler Burrhus Frederic Skinner noch einmal vergröbert und popularisiert worden ist und in dieser reichlich brutalen Form im Nachkriegsdeutschland heimisch wurde. Die Folgen haben sich bis heute nicht verloren. Denn anders als in seinem Ursprungsland, das über den Behaviorismus längst hinaus ist und über die Schrullen dieser pseudowissenschaftlichen Weltanschauung nur noch lacht, hält man in Deutschland an dem Köhlerglauben fest, dass sich der Weg in die lernende, die Bildungs- oder Wissensgesellschaft, in der es jedermann nach ganz weit oben bringen kann, irgendwann und irgendwie doch noch finden lässt. Der 1968 von Heinrich Roth, dem damals führenden Pädagogen herausgegebene Sammelband mit dem harmlosen Titel Begabung und Lernen hat, begünstigt durch den Wunsch, aus der spezifisch deutschen Geschichte ein für alle Mal zu lernen, an den Schulen und Hochschulen des Landes tiefe Spuren hinterlassen und das Menschenbild einer ganzen Lehrergeneration geprägt, die jetzt erst abtritt. Der Streit über das relative Gewicht von Anlage und Umwelt sei immer noch im Gange, meinte Roth, und längst noch nicht entschieden, obwohl, wie er dann triumphierend fortfuhr, „über seinen Ausgang kein Zweifel mehr bestehen kann": Eine der vielen Voraussagen, mit denen diese Wissenschaft danebenlag. Die hohe Zeit der Reißbrettpädagogik, die aus dem Lehrer einen Programmierer, aus dem Schüler eine Maschine und aus dem Unterricht einen organisierten Lernprozess mit großer und kleiner Programmschleife, standardisierter Leistungsmessung und automatischer Fehlerkorrektur machen wollte, ist zwar vorbei. Kein Mensch würde heute noch wagen, den Lehrling als A u t o m a t e n anzusprechen, wie es Karl Steinbuch, eines der vielen großen Kinder, die in der Informatik d e n Ton angeben, seinerzeit getan hatte; inzwischen weiß man ja zu viel über den Unterschied zwischen dem einen und dem anderen. Dass man den Lernprozess aber nur früh genug beginnen und lange genug fortsetzen muss, um schließlich jeden auf das gehobene Niveau zu hieven, auf dem sich die Wissensgesellschaft entfalten kann, diese Fabel ist jedoch auch heute noch zu hören. Sie wird auch immer wieder Hörer finden, weil sie dem professionellen Ehrgeiz der Bildungsforscher schmeichelt und sie und ihresgleichen mit Arbeit versorgt. Die Chancen müssen nur erkannt, eröffnet und zugewiesen werden, dann werden sie auch angenommen und genutzt.

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Dass sie missachtet, vielleicht sogar bewusst ausgeschlagen werden, weil man das Lernen für überflüssig und den Aufstieg durch Bildung für zu anstrengend hält, ist im Berufsbild der wissenschaftlich vorgebildeten Pädagogen nicht vorgesehen. Sie glauben immer noch, dass dem Marsch in eine goldene Zukunft nichts im Wege steht, nichts außer der Trägheit der Menschen, dem Mangel an Mitteln und einer unzureichenden Methodik. Wenn nur die Lehr- und Lernforschung noch ein bisschen weiter wäre, wenn die eine Schule für alle Kinder endlich errichtet werden könnte und Lehrer, Eltern und Schüler unter Vorantritt der Wissenschaft gemeinsam planen wollten, dann würde, allen Rückschlägen zum Trotz, auch das Versprechen eingelöst, dem die Erziehungstheorie seit jeher nachjagt und das da lautet: „Alle Schüler schaffen es." Was soll das heißen? Was bedeutet „es"? Was ist sein Sinn und sein Gehalt? Die Wissenschaft war klug genug, bei aller Schwärmerei für das gelobte Land über seine Lage und sein Aussehen, vor allem aber über die Länge des Weges, der bis dahin noch zurückzulegen wäre, nichts zu sagen; über die Kosten natürlich auch nicht. Sie wollte Appetit machen, über den Speiseplan der Zukunft aber genauso wenig verraten wie ihr großer Ahnherr Karl Marx. Versprochen wurde immer alles, und alles zugleich: das Fördern und das Fordern, die große und die kleine Schule, das agonale und das kompensatorische Lernen, Unterschichtenpädagogik und Eliteförderung, der schülerzentrierte und der lehrerorientierte Unterricht, das Blaue vom Himmel und das Grüne vom Boden. Auf dem Höhepunkt der Euphorie fehlte nicht viel, und der bis dahin immer noch erfolgreichste Teil des deutschen Schulwesens, die Berufsschule, die den Unterricht auf Schulhaus und Betrieb verteilt, um die Schüler beizeiten mit den Anforderungen der Berufswelt vertraut zu machen, wäre ersatzlos abgeschafft worden. Oder, schlimmer noch, durch irgendein Experiment ersetzt worden, das sich ein paar Studenten in einer freien Stunde ausgedacht hatten. Heute wird das duale System als letztes Überbleibsel des ehemals mustergültigen deutschen Bildungswesens auch von denen hochgehalten, die es seinerzeit auf den Müllhaufen der Geschichte werfen wollten. Am Ende der Epoche, die mit so viel Elan begonnen worden war, stand eine doppelte Enttäuschung. Die eine kam von Pisa, dem „Programme for International Student Assessment", einer großen, breit angelegten Vergleichsstudie, bei der die deutschen Schüler auffällig schlecht abgeschnitten hatten. Die andere düpierte zwar nur den Einzelnen, den dafür aber umso gründlicher. Denn sie beraubte ihn der Ausrede, andere für seine Misserfolge und sein Scheitern verantwortlich zu machen. Wenn alle Instanzen, wenn der Staat, die Behörden, die Wissenschaft, die Schulaufsicht, die Lehrerbildung und so weiter alles unternommen haben, um jedem Kind die Chance zu geben, „es" zu erreichen, „es" aber immer noch in weiter Ferne liegt, dann konnte das nur noch am Schüler selbst liegen. Er hatte versagt, nicht „es": ein ziemlich trauriger Befund, der den Einzelnen auf jenen fragwürdigen Trost zurückwarf, der ihm schon im Mittelalter zugeflüstert worden war, wenn er sich übernommen und gepatzt hatte: dass ihm auch Salamanca nicht geben könne, was ihm von Gott, dem Schicksal, der Natur oder sonst einer höheren Macht verweigert worden war. So etwas war vorauszusehen, ist auch vorausgesehen worden, und zwar von Hellmut Becker, dem Bildungs-Becker. Um der Enttäuschung vorzubeugen, sie, besser noch, gar nicht erst aufkommen zu lassen, wollte er alle weiteren Reformvorhaben davon abhängig machen, dass in der Grundfrage der Begabung endlich Klarheit geschaffen wird. Das ist bis heute nicht gelungen, und wenig spricht dafür, dass es jemals gelingen könnte. Jede weitere Runde in der immer noch fio-

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rierenden Intelligenz- und Begabungsforschung bestätigt die alte, im Grunde überaus banale Feststellung, dass alles, was nicht der U m w e l t zuzurechnen ist, Erbe sein muss - und, selbstverständlich, umgekehrt. Die Quellen, aus denen sich der breite Begabungsstrom speist, mischen ihre Wasser so früh und so gründlich, dass der Beitrag der einen und der anderen nur um den Preis der Willkür auseinanderzuhalten wäre. Mehr als die Binsenweisheit, dass nicht nur Begabung Voraussetzung fürs Lernen, sondern auch Lernen Voraussetzung für die Begabung ist, hat der erwähnte, an die sechshundert Seiten starke Sammelband denn auch nicht erbracht. Warum die Auseinandersetzung zwischen den Anhängern der einen und der anderen Richtung dennoch nicht zur Ruhe kommt, ist schwer sagen. Tatsächlich gibt die Frage, wie viel von dem, was im Ergebnis als Talent, Intelligenz, Begabung oder was auch immer bezeichnet wird, auf angeborene oder erworbene Fähigkeiten zurückzuführen ist, für die Pädagogik nicht viel her. Denn anders als die Idiosynkrasien der Behavioristen das wollen, ist die Überzeugung, dass der Mensch als Tabula rasa zur Welt kommt, keineswegs Voraussetzung für den Einsatz als Lehrer und Erzieher. Auch wenn das Ererbte dominiert, wird seine Entwicklung ja alles andere als überflüssig. So oder so muss ein verantwortlicher Lehrer jedem seiner Schüler dabei behilflich sein, aus seinem Kapital, ob es nun groß ist oder klein, das Beste zu machen, mit seinem Pfund also zu wuchern. Uber den trivialen, schon von den Aufklärern vertretenen Grundsatz, dass wir alle das gleiche Recht auf die Entfaltung unserer höchst ungleichen Anlagen haben, sind auch die wildesten Reformer nicht hinausgekommen. Für die in Deutschland so beliebte Strukturdebatte - einheitlich, zwei- oder dreigeteilt, achtklassig oder neunklassig, vierjährig, fünfjährig oder sechsjährig ist aus der Sache ohnehin nichts zu lernen; nicht mehr jedenfalls als der Wunsch, der Vielfalt der Talente durch ein vielfältig gegliedertes Schulwesen so gut es geht gerecht zu werden. Ein wissenschaftlich ambitionierter Pädagoge würde sich aber eher in Stücke reißen lassen als zugeben, dass es seine Aufgabe sein könnte, Unterschiede zu entdecken, zu fördern und im Ergebnis dann auch zu vertiefen. Das widerspricht dem Gleichheitspathos, mit dem das Fach um Anerkennung, Geld und Stellen wirbt. Dass die Unterschiede am Ende der gemeinsam verbrachten Schulzeit nicht kleiner, sondern größer werden und umso deutlicher hervortreten, je gleicher die Bedingungen am Anfang waren, gilt als Skandal; obwohl es doch gerade dieser Befund ist, der als Ergebnis praktizierter Chancengleichheit zu erwarten war. Was hilft gegen ein solches Ärgernis? Wenn schon nicht Wissenschaft, dann doch vielleicht die wissenschaftlich aufgeputzte Legende. Denn darum handelt es sich ja, wenn behauptet wird, dass vom längeren gemeinsamen Lernen in der bewusst leistungsheterogen zusammengesetzten Gruppe am Ende alle Schüler profitieren, die stärkeren nicht weniger als die schwachen. So etwas wäre ein Wunder, das aller Erfahrung widerspricht. Es widerspricht allerdings auch dem, was alle halbwegs seriösen Untersuchungen zu diesem heiklen Thema herausgefunden haben. Sie kommen ausnahmslos zu dem Ergebnis, dass ein Schüler, der zu Beginn der Schulzeit an der Spitze lag, überdurchschnittlich gute Aussichten besitzt, auch am Ende gut, vielleicht sogar noch etwas besser dazustehen: eine Erkenntnis, der man in diesem Falle sogar trauen darf, weil sie bestätigt, was man über die Entwicklung von starken und schwachen Schülern ohnehin zu wissen glaubt. N u r dass sich auch aus dieser Einsicht für die leidige Strukturdebatte nichts gewinnen lässt, weil es ja unbestritten ist, dass die öffentliche Pflichtschule für alle neben manchen anderen Aufgaben auch diese hat: den Kindern zu gemeinsamen Erfahrungen zu verhelfen, um damit einen Beitrag zu leisten für den Zusammenhalt des Ganzen. Zu klären wäre dann nur

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noch, was für Erfahrungen das sein sollten, in welchem Alter sie zu machen wären, vor allem aber auch: zu welchem Preis. So gesehen, kann man die Frage, ob das längere gemeinsame Lernen tatsächlich jene Art von Leistungsgewinnen zustande bringt, die es verspricht, zunächst einmal auf sich beruhen lassen. Die Verpflichtung, mehr zu tun für diejenigen, die weniger mitbekommen haben als andere, gehört ja zum legitimen Auftrag einer Staatsschule für alle und jeden; solange sie nicht umschlägt in die höchst illegitime Absicht, weniger für die zu tun, die mehr mitbringen, ist gegen sie auch nicht viel einzuwenden. Die Grenze zwischen dem einen und dem anderen Verfahren ist allerdings nicht leicht zu bestimmen, wird auch recht gern verwischt, weil es nun einmal leichter ist, die Starken zu bremsen, als die Schwachen zu fördern: Ungleichheit, die gleich macht, ist ein gefährliches Rezept. Wenn wir, gibt der amerikanische Gleichheitstheoretiker Christopher Jencks zu bedenken, die Leistungen sämtlicher Schüler dem nationalen Durchschnitt annähern wollen, dann könnten wir die hochbegabten Kinder für ein bis zwei Jahre zur Schule schicken, die überdurchschnittlich talentierten sechs, die unterdurchschnittlich Begabten zwölf und die langsamsten Lerner achtzehn Jahre lang. Dass sich die Resultate auf diesem Weg annähern würden, mag sein; aber wäre es auch gerecht gegen diejenigen, die mehr wollen und können als die anderen? Was gegen den Werbefeldzug für das längere gemeinsame Lernen spricht, sind weniger pädagogische als sozialpsychologische Erwägungen. Der Glaube an die Überlegenheit der bewusst heterogen zusammengewürfelten Gruppe entstammt einer Bildungsideologie, die den Gedanken der Umverteilung aus der Beschäftigungs- in die Schulpolitik überträgt. Da der Gesamtvorrat an Fähigkeiten und Fertigkeiten, ähnlich wie der Bedarf an Arbeitskraft, als feste Größe angesehen wird, betreibt man Bildungspolitik als Nullsummenspiel, bei dem der eine gewinnt, was der andere verliert. Wenn jemand besser dasteht, mehr kann und mehr weiß als ein anderer, dann nur, weil er dem anderen etwas vorenthalten oder weggenommen, ihn um sein Bildungsrecht, wie es dann meistens heißt, betrogen hat. Bildung wird nicht versäumt oder ausgeschlagen, sondern vorenthalten und verweigert; und zwar von denen, die sich bewusst abschließen, um ihre Privilegien für sich zu behalten, für sich und ihre Kinder. Sie wollen nicht teilen - und eben das ist der Skandal, der von der Obrigkeit beendet werden muss. Die Bildungsdiebe müssen bestraft, die Bildungsopfer entschädigt, die Politiker endlich tätig werden. Damit steht der Staat wieder dort, wo er in Deutschland immer schon am liebsten stehen wollte, ganz weit oben nämlich. Was da zum Vorschein kommt, ist ein tiefsitzendes, nur halb bewusstes Ressentiment gegen die da oben, „eine spezifische Form des Neides, ganz losgelöst von Klassen, und viel elementarer als der soziale Neid zwischen diesen", wie Friedrich Tenbruck den Affekt vor Jahren schon in einer kritischen Bilanz über das Lebensgefühl in der Bundesrepublik beschrieben hat: als ob die Welt so eingerichtet wäre, „dass der Erfolg des einen den Misserfolg des anderen nach ich zieht, als ob das Glück eine feste Größe sei, die durch den Erfolg anderer stetig aufgezehrt wird". Nach diesem Muster ist die Auseinandersetzung zwischen Anhängern und Gegnern des längeren gemeinsamen Lernens von Anfang an geführt worden, am auffälligsten erst neulich wieder in Hamburg, w o das Ressentiment, hochgekitzelt von der C D U , auf die Bewohner der Elbvororte zielte, die ihre Kinder lieber aufs Gymnasium als auf eine der neu zu gründenden Primar-, Gemeinschafts- oder Stadtteilschulen schicken wollten. Die Rathausparteien hatten sich zu einem Kartell zusammengeschlossen, das den Wählern in dieser Sache keine Wahl mehr ließ. U m

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sie aufzuschrecken und im Kampf um die Bildungsgerechtigkeit zu mobilisieren, musste ein neuer Gegner her, der in Gestalt der „Bessergestellten" dann auch gefunden wurde. Der neue Feind, das sind die Eltern. In den Parteiprogrammen, auch denen der immer noch bürgerlich genannten Parteien, tauchen sie vornehmlich als Risikofaktoren auf, vor deren verderblichem Einfluss die Kinder so früh wie möglich bewahrt werden müssen. Sie gelten als Laien und Dilettanten, die erst einmal den von irgendwelchen Fachleuten ausgestellten Elternführerschein erwerben müssen, bevor man ihnen erlaubt, sich um die Erziehung ihrer Kinder zu kümmern. Heinz Buschkowsky, der resolute Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, hat es in aller Deutlichkeit ausgesprochen: „Ich will, dass diese Kinder eine Zukunft haben. Die Eltern sind mir schnuppe." Mit dieser Meinung steht er keineswegs allein; auch Ursula von der Leyen hält es ja für eine ausgemachte Sache, dass Eltern von dem Geld, das ihnen der Staat zum Wohle ihrer Kinder überweist, am liebsten Flachbildschirme kaufen. Um das zu verhindern, ist wieder einmal die Politik gefordert: diesmal, um Geld- durch Sachleistungen zu ersetzen und allerlei Bildungspakete zu schnüren, die das enthalten, was Kinder brauchen, von ihren Eltern aber nicht bekommen, wie etwa Nahrung, Kleidung, Bildung und so weiter. Dass es in einer großen und schnell wachsenden Zahl von Haushalten tatsächlich so zugeht, lässt sich wohl kaum bestreiten. Dass hier Abhilfe geboten ist und durch die Obrigkeit geschaffen werden muss, ebenfalls nicht; sich der Mühseligen und Beladenen anzunehmen, gilt ganz zu Recht als Aufgabe des Staates. Aber woher nimmt er das Recht, alle Eltern nach einem einheitlichen Muster zu bewerten, zu beurteilen und zu behandeln? Wie kommt er dazu, die Ausnahme zur Regel zu machen und sich auch dort als Nothelfer aufzuspielen, wo man ihn weder will noch braucht? Worauf stützt sich sein selbstgewisser Anspruch, das Elternhaus nicht nur ergänzen, sondern regelrecht ersetzen zu können? Auf die Ergebnisse von Pisa? Das Aufblühen der Alternativschulen, die der wachsenden Nachfrage nicht mehr Herr werden? Die florierende Nachhilfeindustrie, die mit dem Versagen der öffentlichen Schulen glänzende Geschäfte macht? Und worauf will die Kanzlerin hinaus, wenn sie darüber klagt, dass in Deutschland der Erfolg in Schule und Beruf „immer noch" von der sozialen Herkunft abhängt? Als ob Eltern ihren Kindern nichts mitzugeben hätten außer Handicaps und Hypotheken. Die Schule, heißt es bei Theodor Fontane in Meine Kinderjahre, liege draußen, Erziehung sei aber Innensache, „Sache des Hauses, und vieles, ja das Beste, kann man nur aus der Hand der Eltern empfangen". Um sich dann selbst ins Wort zu fallen und zu korrigieren: „aus der Hand der Eltern" sei nicht das richtige Wort: „wie die Eltern sind, wie sie durch ihr bloßes Dasein auf uns wirken - das entscheidet." In Zukunft will jedoch der Staat entscheiden. Er drängt sich an die Stelle der Eltern, wirft sich zu ihrem Vormund auf und führt ihnen die Hand, wenn es darum geht, Anträge zu stellen und Leistungen abzurufen - und versteht die Welt nicht mehr, wenn sie nicht tun, was er von ihnen erwartet, weil sie lethargisch, müde oder stumpf geworden sind. Dass er durch seine Bereitschaft, überall mit Tee und warmen Decken zur Stelle zu sein, diejenigen Eigenschaften zermürben und schließlich abtöten könnte, auf die er angewiesen ist, wenn er seine Bildungspakete an den Mann bringen will, kommt ihm nicht in den Sinn. Uberfordert vom Erziehungsgeschäft sind immer nur die Eltern, niemals der Staat. Nach seinem Selbstverständnis steht er am Ende, niemals am Anfang jenes abschüssigen Weges, auf dem sich ein Notfall an den anderen reiht: so lange, bis die Notfallbetreuung für alle angeordnet werden muss. „Das Volk hat einen Anspruch darauf, von

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seiner Führung gehegt und gepflegt zu werden": Von wem stammt das? Von Walter Arendt? Norbert Blüm? Ottmar Schreiner? Oder Robert Ley? Die Bildung in den sozialen Leistungskatalog des Staates aufzunehmen hat eine lange Tradition, die offenbar erst jetzt ihr Ziel erreicht. Die Richtung hatte der schwedische Weltenretter Torsten Husen in einem Buch vorgezeichnet, das er gegen Ende der siebziger Jahre unter dem irreführenden Titel The School in Question erscheinen ließ: irreführend deshalb, weil es ja nicht die Schule war, die Husén in Frage stellen wollte, sondern die Eltern. Alle paar Seiten kommt er auf die alles entscheidende Rolle zurück, die der von ihm so genannte „home-background" für das weitere Schicksal der Schüler spielt: so oder so. Die Forderung, ihren dominierenden Einfluss dadurch abzumildern, dass man die Schule stärkt und der Chancengleichheit, wie er sie verstand, endlich zum Durchbruch verhilft, lag zu nahe, als dass er sie noch eigens hätte aussprechen müssen. Das taten etwas später die in diesen Dingen weniger zimperlichen Amerikaner. Ohne die Bindungen zwischen Eltern und Kindern vollständig zu zerstören, werde die Ungleichheit der Eltern „ein gewisses Maß an Chancenungleichheit der Kinder" zur Folge haben, meinte Christopher Jencks. Zu fragen sei dann nur noch, wie viel an herkunftsbedingter Ungleichheit man dulden wolle. Wäre es da nicht angebracht, von der Erziehungswissenschaft eine zweite realistische Wende zu verlangen, diesmal rückwärts? U m wiedergutzumachen, was von der ersten, die Heinrich Roth vor mehr als vierzig Jahren ausgerufen hatte, angerichtet worden ist? Realismus hieße, Lehrer und Eltern in jene Rollen wieder einzusetzen, die ihnen von einer Koalition aus übergeschnappten Wissenschaftlern und machtbewussten Bürokraten streitig gemacht und weitgehend entwendet worden sind. Was spricht denn, abgesehen von der Selbstüberschätzung einer Disziplin, eigentlich dafür, den Fragebögen und Testbatterien der Spezialisten für dies und das mehr zuzutrauen als dem, was ein Lehrer in jahrelanger Beobachtung über die Stärken und Schwächen seiner Schüler herausgefunden zu haben glaubt? Denn das wird doch vorausgesetzt, wenn man auf irgendwelche Studien, Gutachten und Expertisen mehr gibt als auf das Urteil des Lehrers und den Willen der Eltern. Nicht neu, sondern bloß wiederzuentdecken wäre das Handwerkliche und das Handfeste des Erziehungsgeschäfts. Die zur Erziehungswissenschaft aufgeputzte Pädagogik hat ihre Chance gehabt; und schlecht genutzt. Von den Gesetzen der Pädagogik, die Hellmut Becker mit großer Geste in Aussicht gestellt hatte, ist kein einziges entdeckt worden, und es sieht auch nicht danach aus, als würde sich das demnächst ändern. Die Pädagogik ist eben keine Wissenschaft, nicht einmal eine Erfahrungswissenschaft, sondern das, was Piaton eine „tribé tis" nannte, eine gewisse Betriebsamkeit, Getrieben- und Durchtriebenheit, mehr nicht. Den großen Auftritt hatte sie immer dann, wenn es ums Wortemachen ging: Statt von der Allgemeinbildung sprach sie lieber von den extrafunktionalen Fähigkeiten, die dann der Reihe nach in Schlüsselqualifikationen, Bildungsstandards oder Basiskompetenzen umgetauft wurden. Was hat uns das gebracht? Hat es uns Kosten erspart, Pisa verhindert oder dem Bildungsschlaraffenland, das auszumalen die Berufspädagogen nie müde geworden sind, auch nur einen Schritt näher gebracht? Der Fortschritt zur Bildungsgesellschaft war ja doch immer an die restlose Entfesselung der Produktivkräfte gebunden: Erst der Uberfluss werde den Sprung ins Reich der Freiheit möglich machen und erlauben, „den bisherigen geistigen Besitz einer Minderheit endlich für alle Kinder des Volkes zu öffnen", so seinerzeit der Frankfurter Pädagogikprofessor HeinzJoachim Heydorn. Wer glaubt das noch?

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umverteilen?

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Wahrscheinlich hätte man sich den ganzen, gewaltig teuren Aufwand für eine Schulreform an Haupt und Gliedern sparen können, wenn man sich auf ein paar realistische Ziele beschränkt, die aber dann auch konsequent angesteuert hätte: die Lehrer gründlich auszubilden, genug von ihnen einzustellen und den laut Lehrplan vorgesehenen Unterricht tatsächlich auch zu erteilen - dem ärgerlichsten von allen Missständen also einfach dadurch abzuhelfen, dass man sich an die Vorschrift hält. So handfeste, theoretisch unattraktive Forderungen waren aber nichts für ein Fach, das den verrückten Ehrgeiz entwickelt hatte, die Schule immer wieder neu zu erfinden. Statt sich den Alltag in der Schule anzusehen und Lehrer, Eltern und Kinder bei ihrer Arbeit zu unterstützen, betrieb man eine Lehr- und Lernforschung, die in der Empfehlung gipfelte, den Kindern lieber sinnvolle als sinnlose Dinge beizubringen, weil, wie eines dieser Zauberbücher stolz verkündete, die Wissenschaft erwiesen habe, „dass das Lernen von bedeutungsvollen dem von sinnfreien Inhalten überlegen ist". O b man auf diese Art von wissenschaftlichem Fortschritt nicht doch ganz gut verzichten könnte? D i e Schule muss nicht ständig neu erfunden werden; das glauben nur die Modellbaumeister, die von ihrer Marotte leben. Was die Schule, die zwangsläufig in langen Fristen denkt, vor allem braucht, ist Ruhe und Verlässlichkeit; die ihr von den Innovationsoffensiven und ewig neuen, immerzu definitiven Lösungen der fortschrittsfixierten Bildungsplaner aber nicht gelassen wird. Wenn das Tamtam, das jeden ihrer Auftritte begleitet, vorbei ist, bleibt eine ziemlich alte Einsicht übrig: dass es in der Schule auf den Lehrer ankommt. Mehr hat man noch aus keiner dieser Studien erfahren. A m Lehrer hängt, ob die Erziehung glückt, der Unterricht etwas taugt und die Schüler eben nicht nur für die Schule, sondern auch fürs Leben lernen. D a s ist das einzige „Gesetz", das diese Wissenschaft herausgefunden hat; die meisten von uns kennen es schon lange. Erziehen heiße Vorbild sein, meinte Albert Einstein, „wenn's nicht anders geht, ein abschreckendes". H a t es von denen nicht genug gegeben?

Peter-André Alt

Unsere Euphemismen Der Jargon der Uneigentlichkeit

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or einigen Wochen saß der Vorstandssprecher eines großen bundesdeutschen Unternehmens bei mir im Büro. Es ging um einen einstündigen Erfahrungsaustausch, unverbindlich und ohne konkrete Zielsetzung. Rasch kam die Unterhaltung auf die Schwierigkeit, neugeschaffene Arbeitsbereiche gut mit alten Strukturen zu verbinden - ein Problem, das Firmen ebenso wie Universitäten trotz aller sonstigen Unterschiede ihrer internen Organisation gleichermaßen kennen, wie wir feststellten. Mein Gast hatte gerade ein wirtschaftlich marodes Finanzunternehmen aufgekauft, was mit weitreichenden Einschnitten in dessen Mitarbeiterstruktur einherging. Seinen kurzen Rückblick auf diese jüngere Periode der Firmengeschichte eröffnete er mit der Formulierung: „Ich habe ja einen Teil des Prozesses ein wenig begleiten dürfen." Ein Satz, der banal klang, aber Sprengstoff barg, wenn man ihn genau betrachtete. Denn er sagte im Grunde das Gegenteil dessen, was sachlich richtig war. Nicht „begleitet" hatte mein Gesprächspartner, sondern in höchster Verantwortungsstufe entschieden; er hatte nicht „gedurft", sondern „gemusst" oder „gewollt"; und nicht bloß „ein Teil" der Fusionsentscheidung", sondern der „Gesamtvorgang" lag wesentlich in seiner Hand. Was er schließlich sehr allgemein „Prozess" nannte, bedeutete für einige tausend Menschen konkret den Verlust des Arbeitsplatzes - in der Sprache des Marktes: „berufliche Neuorientierung". Der Satz meines Gastes formulierte also einen Euphemismus, der die eigentlichen Zuständigkeiten verschleierte und einen konfliktträchtigen Sachverhalt ins Vage, Harmlose verschob. Es gehörte zu den Spielregeln unserer Unterhaltung, dass ich den Widerspruch zwischen Aussage und Gegenstand nicht thematisierte, sondern die untertreibende Beschreibung individueller Entscheidungsverantwortung als Form der Koketterie verbuchte. Sowohl das Ritual verbergender Selbstdarstellung als

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Peter-André Alt

auch das D e s i n t e r e s s e g e g e n ü b e r seinen inneren P r i n z i p i e n z ä h l e n h e u t z u t a g e , so s c h e i n t es, zu einer G e s p r ä c h s k u l t u r , die sukzessive in den Bann der E u p h e m i s m e n g e r a t e n ist. „ E u p h e m i a " sind „ W ö r t e r von g u t e r V o r b e d e u t u n g " . Schon die politische R e d e k u n s t d e r A n t i ke n u t z t sie, u m negative B o t s c h a f t e n zu b e s c h ö n i g e n , U n e r f r e u l i c h e s a b z u s c h w ä c h e n oder so u m z u w e r t e n , dass i h m ein positiver Sinn e n t n o m m e n w e r d e n k a n n . In den S c h u l w e r k e n der klassischen R h e t o r i k g e h ö r e n die E u p h e m i s m e n zu d e n Tropen, die als S t i l m i t t e l der U n e i g e n t l i c h keit eine D i f f e r e n z z w i s c h e n A u s d r u c k u n d Sache e r z e u g e n . I h r e Sprache lebt aus einer inversen O r d n u n g , i n s o f e r n sie d e n Ereignissen eine verdrehte, stets das Beste s u g g e r i e r e n d e D e u t u n g verleiht. Sie v e r k e h r t das S c h e i t e r n z u r ersten S t a t i o n auf d e m W e g des Erfolgs u n d d e f i n i e r t die s c h l e c h t e E r f a h r u n g als B e d i n g u n g des Glücks. D e r E u p h e m i s m u s b e t r ü g t u m die W a h r h e i t des S c h r e c k e n s , des H ä s s l i c h e n u n d der Gewalt, i n d e m er nicht b e i m N a m e n n e n n t , w a s f ü r sich g e n o m m e n e i n z i g negativ i n t e r p r e t i e r t w e r d e n k a n n . U n s e r e Zeit ist reich an e u p h e m i s t i s c h e n R e d e w e n d u n g e n , die sich derart tief ins ö f f e n t l i c h e R e p e r t o i r e e i n g e s c h r i e b e n haben, dass n i e m a n d sie m e h r a n s t ö ß i g f i n d e t . W o i m m e r p e r s ö n l i c h V e r a n t w o r t u n g g e t r a g e n w i r d , tritt die Sprache des E u p h e m i s m u s auf: in Politik u n d M a n a g e ment, in S p o r t u n d A d m i n i s t r a t i o n , in Kreativindustrie u n d M e d i z i n . A u t o r i t ä t u n d G e l t u n g , E i n f l u s s u n d E n t s c h e i d u n g s b e f u g n i s h e i ß e n nicht, was sie sind. W e r M a c h t ausübt, sagt das nicht, s o n d e r n g r e i f t , m ö c h t e er seine T ä t i g k e i t beschreiben, zu W e n d u n g e n w i e : „einen Beitrag leisten", „sich in Prozesse e i n b r i n g e n " , „Ideen anregen", „ V e r ä n d e r u n g e n a n s t o ß e n " , „ U b e r g ä n g e b e f ö r d e r n " , „ W e i c h e n s t e l l u n g e n vorbereiten", „neue W e g e b a h n e n " , „ M a ß n a h m e n u n t e r s t ü t zen". W e r h a n d e l n d für klare Verhältnisse sorgt, redet z u m e i s t in b e s c h ö n i g e n d e n Vokabeln ü b e r das, w a s er t u t . In der S p r a c h e der E u p h e m i s m e n gibt es nur noch M e d i a t o r e n , k e i n e E n t s c h e i der. D e r M a n a g e r , der sich a m Ende seiner Vorstandszeit vor der A k t i o n ä r s v e r s a m m l u n g d a f ü r b e d a n k t , dass er „den W e g des U n t e r n e h m e n s ein S t ü c k weit b e g l e i t e n d u r f t e " , v e r d e c k t seine V e r a n t w o r t u n g e b e n s o w i e der Fußballtrainer, d e r eine bittere N i e d e r l a g e mit e i n e m „wir w i s s e n jetzt besser, w o w i r s t e h e n " zu k o m m e n t i e r e n p f l e g t . U n z ä h l b a r die E u p h e m i s m e n d e r Verlierer an e i n e m W a h l a b e n d , die v o m „erfreulichen M o b i l i s i e r u n g s e f f e k t " über „breite Z u s t i m m u n g " bis zu „ A u f t r a g w e i t g e h e n d u m g e s e t z t " reichen. Die B i l d s p e n d e r und Vergleichsfelder, auf die sich die R h e t o r i k der E u p h e m i s m e n s t ü t z t , s t a m m e n z u m e i s t aus der Welt d e r P s y c h o l o g i e , der W e r b u n g u n d der M e d i e n . Sie b e z e i c h n e n Vorg ä n g e d e r V e r m i t t l u n g , d e r V e r s t ä n d i g u n g , der g e w a l t l o s e n S c h ö p f u n g u n d d e r U b e r e i n k u n f t . G e m e i n s a m ist ihnen die T e n d e n z , individuelle V e r a n t w o r t l i c h k e i t f ü r s c h m e r z l i c h e Entscheid u n g e n h i n t e r a b s t r a k t e n K o n s t r u k t i o n e n k o l l e k t i v e r oder s t r u k t u r e l l e r H a n d l u n g s f l ü s s e zu vers t e c k e n . Z u g r u n d e liegt d e m die Perspektive einer Gesellschaft, die A n g s t hat v o r d e m Einges t ä n d n i s u n e r f r e u l i c h e r W a h r h e i t e n , weil sie glaubt, diese seien n i e m a n d e m z u m u t b a r . Im Kern verbirgt sich darin eine tiefe A r r o g a n z , die das eigentliche S k a n d a l o n des E u p h e m i s m u s ausm a c h t . W e r s e i n e m G e g e n ü b e r die Wahrheit nicht z u t r a u e n m ö c h t e , hält ihn f ü r u n f ä h i g , sie i n t e l l e k t u e l l o d e r m o r a l i s c h zu bewältigen. Der E u p h e m i s m u s b e t r ü g t den A n d e r e n u m den Kern der S a c h e u n d e r z e u g t d a m i t gerade k e i n e n hierarchiefreien R a u m , s o n d e r n eine d u r c h M a n i p u lation g e s c h a f f e n e S t u f e n w e l t . Einer der derzeit beliebtesten E u p h e m i s m e n , die F o r m e l v o m „ G e s p r ä c h auf A u g e n h ö h e " , liefert ein M u s t e r b e i s p i e l für das d i a l e k t i s c h e F u n k t i o n i e r e n der „ W ö r t e r mit g u t e r V o r b e d e u t u n g " . Wer eigens darauf h i n w e i s t , dass ein G e s p r ä c h auf „ A u g e n h ö he" s t a t t f a n d , w i r d G r ü n d e d a f ü r haben, diesen Sachverhalt z u b c s c h w ö r e n - u n d z u m e i s t nicht die W a h r h e i t sagen. D i e K o m m u n i q u é s , die eine solche F o r m u l i e r u n g bieten, b e z e i c h n e n dann

Unsere

Euphemismen

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auch meist Treffen zwischen ungleichen Partnern. D e r Euphemismus ist selbst eine Redeform, die „Augenhöhe" verhindert, weil sie dem Anderen die Einsicht in die wahren Verhältnisse vorenthält. A u f den ersten Blick könnte sich die Praxis des Euphemismus legitimieren aus der Furcht vor der Rede der Gewalt, wie sie der öffentliche Propaganda-Apparat des Dritten Reichs praktizierte. U n s e r e aktuelle Sprache der Konfliktvermeidung ist jedoch mit der R h e t o r i k der braunen Ideologen enger verwandt, als es diese Motivation sichtbar macht. D e n n auch Hitlers Regime kannte neben dem Tonfall des Hasses, der Brutalität und Ausgrenzung schon die Manipulationstechnik des Euphemismus. Begriffe wie „Anliegen", „Ausrichtung", „Betreuung", „Einsatz", „Gestaltung" oder „Vertreter" stehen in D o l f Sternbergers „Wörterbuch des U n m e n s c h e n " . „Betreutes D e u t s c h " , so lautete die Überschrift der Kurzanzeige, mit der „Der Spiegel" am 28. August 1957 auf die Publikation der bereits 1 9 4 5 - 1 9 4 8 entstandenen Texte Sternbergers verwies. N i c h t s dokumentiert das, was die Sprache der T ä t e r mit ihren Euphemismen versteckt, besser und erschreckender als die gewundene Rechtfertigungsrhetorik des Bürokraten Eichmann vor seinen Jerusalemer Richtern. D e n Begriffen aus Sternbergers Lexikon ist gemeinsam, dass sie die Brutalität einer menschenverachtenden Politik durch glatten Funktionalismus und U m d e u t u n g verschleiern. Diese Tendenz teilen sie mit den Euphemismen heutiger Prägung, die bevorzugt aus der Therapie- und Kommunikationsgesellschaft stammen. Ihr Programm zielt auf die ostentative Beschwörung eines positiven D e n k e n s und die Vermeidung schmerzlicher Wahrheiten. I h r Jargon der Uneigentlichkeit deutet das Hindernis zur Brücke, den Verlust zur Neuorientierung und das Scheitern zur ersten Stufe des Erfolgs. Die authentischen Sachverhalte aber verbleiben jenseits der Sprache in einem Raum, der offenbar für Kommunikation ungeeignet ist. Sie werden eingeschlossen in einen wortlosen Distrikt des Mythischen, der dem Zugriff der Rhetorik entzogen scheint. D e r Euphemismus verschiebt, was wahr ist, in eine Z o n e der Unvernunft, die er brandmarkt und dadurch ausgliedert. 1954 notierte Friedrich Dürrenmatt in einem Essay über die Frage, warum heute keine Tragödien geschrieben würden, dass in der „Wurstelei unseres Jahrhunderts ( . . . ) keine Verantwortlichen" mehr existierten: „Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. Es geht wirklich ohne jeden. Alles wird mitgerissen und bleibt in irgendeinem Rechen hängen." Aus Dürrenmatts „Wurstelei" ist heute das fade Gerede von „Qualitätssicherung", „Wegbegleitung" und „Zielunterstützung" geworden: eine Sprache kollektiver Verantwortungslosigkeit, die sich sämtlichen Bindungen und Verpflichtungen ins Wabernde entzieht. N i c h t die Sprache der Uneigentlichkeit selbst ist falsch; die Beziehung zwischen Sache und Ausdruck, die sie erzeugt, stimmt nicht. Sie gebiert eine R h e t o r i k der Verlogenheit, deren Mechanismen schon A d o r n o in den „Minima Moralia" am Beispiel der amerikanischen Kulturindustrie und ihrer Verheißungen ewiger Jugend angeprangert hat. Eine Gesellschaft, die euphemistische Rede im medialen Raum nicht nur zulässt, sondern als Spielregel ihrer Kommunikationsrituale definiert, macht sich schuldig an sich selbst. Sie betreibt eine Verschleierung jener persönlichen Verantwortung, deren bewusste Reflexion jeder öffentlichen Rede zu obliegen hat. Wenn wir nicht dem Jargon der Uneigentlichkeit ein Ende setzen und darauf achten, dass persönliche Verantwortung und Pflicht, moralische Selbstbindung und E t h o s ebenso wie Niederlage, Verlust und Scheitern beim N a m e n genannt werden, dann befördern wir die Entleerung authentischer Werte jenseits der Sprache. Aufzugeben wäre in diesem Zusammenhang auch die postmoderne Uberzeugung vom verbalen Konstruktionscharakter aller N o r m e n und Bedeutun-

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Peter-André Alt

gen. Die Wahrheit ist, anders als N i e t z s c h e glaubte, gerade kein „bewegliches H e e r v o n M e t a phern", s o n d e r n eine Universalie, die unsere Rede verschweigen o d e r b e n e n n e n kann. Wer das leugnet, befindet sich selbst s c h o n im Bann einer euphemistischen H a l t u n g , die den U n t e r s c h i e d zwischen Wahrheit u n d Schein kassiert, indem sie ihn z u einer b l o ß e n Frage des Stils erklärt.

Prinz Asfa-Wossen Asserate

„Die Kartoffel ist der rote Faden " Uber Spezialitäten und Eigenheiten der Deutschen

S

eit 1968 lebt der in Addis Abeba geborene Prinz Asfa-Wossen Asserate in Deutschland. Als deutscher Äthiopier blickt er zugleich aus einer Innen- und einer Außenperspektive auf Deutschland und die Deutschen und hat als teilnehmender Beobachter Fundsachen über ihre Eigenarten und Qualitäten gesammelt. Ein Interview mit einem „Zugereisten".

Forschung & Lehre: Was ist Ihnen in Deutschland lieb und teuer geworden? Asfa-Wossen Asserate: In diesen über 40 Jahren, die ich nun in Deutschland lebe, ist mir vieles sehr lieb und teuer geworden. Dazu gehört in allererster Linie die deutsche Kultur, die deutsche Musik, die deutsche Literatur und damit verbunden die deutsche Sprache. Und ich gebe ganz offen zu, auch die kulinarischen Aspekte, die ich in Deutschland vorgefunden habe. Alles in allem, das sind die großen sine qua nons, ohne die ich heutzutage wohl nicht mehr leben kann. F&L: Gibt es etwas, das Sie als „typisch deutsch" bezeichnen würden? Asfa-Wossen Asserate: Ja, ich glaube, wenn man einem nicht gebürtigen Deutschen diese Frage stellt, fallen ihm zwei besondere Punkte ein. Und zwar ist dies die Zuverlässigkeit und die Pünktlichkeit. Daneben gab es noch andere typisch deutsche Merkmale, die heute vielleicht nicht mehr von großer Bedeutung sind, aber Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit sind die Punkte, die ich immer wieder höre, gerade auch in der Wirtschaft. Made in Germany ist immer noch eine Qua-

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Prinz Asfa-Wossen Asserate

litätsbezeichnung. U n d bei den deutschen Geschäftsleuten sagt man, ein Handschlag wäre tatsächlich etwas wert. F&L:

Sie haben gerade von „kulinarischen Aspekten" gesprochen, die Sie mögen. Wollen Sie

damit sagen, dass es die typisch deutsche Küche gar nicht gibt? Asfa-Wossen

Asserate: Ja, die gibt es in dem Sinne nicht. Was Deutschland schon seit dem 19. Jahr-

hundert einmalig innerhalb Europas gemacht hat, ist die föderale Struktur - politisch gesehen. Man hat immer die Nase gerümpft über die verschiedenen deutschen Fürstentümer. Aber wenn Sie bedenken, im 19. Jahrhundert gab es 300 Theater in Deutschland, 200 Opernhäuser. Und schauen Sie sich England und Frankreich an. Das waren nur ein Dutzend, die es dort gab, weil alles zentralisiert war. Alles fand in Paris, in London statt. Das gleiche kann man auch von der Küche sagen. Deutschland ist durch seine regionalen Küchen, durch die Diversität dieser verschiedenen Küchen meiner Ansicht nach zu einem sehr interessanten kulinarischen Vorzeigeland geworden. Vielleicht kann man als verbindendes Glied ein Gemüse als typisch deutsch bezeichnen, und das ist die Kartoffel, die Sie in all den verschiedensten regionalen Küchen in Deutschland finden. Man könnte also sagen: Die Kartoffel ist der rote Faden der deutschen Kulinarik. Heute hat in den Restaurants die italienische oder asiatische Küche Einzug gehalten. Als ich 1972 nach Frankfurt kam, gab es in der Innenstadt fast nur deutsche Restaurants. Jetzt ist es sehr schwer, vor allem im Frankfurter Westend, überhaupt noch ein deutsches Lokal zu finden. Das bedauere ich zutiefst. Aber das macht natürlich auch diese Weltstadt Frankfurt aus, und das ist ja ein Positivum. F&L: Sie haben schon als Kind in Äthiopien die deutsche Sprache erlernt und fühlen sich in ihr heimisch. Schätzen Sie die deutsche Sprache mehr als so mancher Deutscher? Asfa-Wossen

Asserate:

Ja, das ist sehr typisch. Man hat mir vor einiger Zeit gesagt, dass einer der

besten Kenner Shakespeares nicht ein Engländer, sondern ein Japaner sei. Insofern kann es durchaus der Fall sein, dass man an einer Sprache, die man schon mit der Muttermilch bekommt, vieles als selbstverständlich ansieht. Aber wenn man eine Sprache, die nicht die Muttersprache ist, erst erlernen muss, kann das Interesse daran so groß sein, dass man sich sehr in die Sprache vertieft und eine lange Liebesverbindung mit dieser Sprache entsteht. F&L:

Hält diese Verbindung an, obwohl heute viele alte Worte ausgestorben sind und immer

mehr Anglizismen in die deutsche Sprache einfließen? Asfa-Wossen

Asserate:

Das ist natürlich ein Problem, das viele Sprachen in Europa haben. D a lobe

ich mir Frankreich, das wenigstens versucht zu verhindern, dass die Anglizismen Uberhand nehmen, und auch die Akademie sieht sich dort als Beschützerin der französischen Sprache. Es ist gut, dort aufzuräumen, nur darf es natürlich auch nicht übertrieben werden. In der wilhelminischen Zeit gab es diesen Trend, dass alles verdeutscht werden musste. Anstatt eine wunderbare Speise wie beispielsweise Tornedo Rossini avec sauce béarnaise auf der Speisekarte so zu lassen, stand dort auf deutsch übersetzt: das Beste vom Rind mit Eiertunke. So weit darf es also nicht gehen.

„Die Kartoffel ist der rote Faden"

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F&L: Sie haben in Ihrem Buch „Draußen nur K ä n n c h e n " geschrieben, dass diese Eigenheit der D e u t s c h e n I h n e n ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt. Ist diese Art von Geborgenheit heute nicht längst überholt? Asfa-Wossen Asserate:

Nein, dabei bleibe ich. Bei meinen Lesungen in Deutschland werde ich

immer wieder von Jugendlichen angesprochen: Verzeihen Sie, aber was bedeutet eigentlich dieser Satz? Ein Jugendlicher hat heute keine Ahnung davon. E r kennt halt Latte Macchiato, einen Espresso usw., denn es gibt gerade in den großen Städten sehr wenige Konditoreien, die heutzutage überhaupt Kännchen haben. Das ist generationsbedingt, und meine Generation versteht natürlich den W i t z dieses Satzes. A b e r ich meine, man sollte nicht nur in dieser Hinsicht N o s talgiker werden. Es gibt gewisse Sachen, die traditionsgemäß so waren und die in der heutigen Welt vielleicht keine Berechtigung mehr haben. A b e r dennoch: Warum soll man nicht an einem wunderschönen Morgen seine eine Tasse Kaffee draußen trinken? F&L:

Sie sprechen mit einer gewissen Zuneigung über Deutschland und die Deutschen und

heben auch die guten und schönen Seiten hervor. Müssen die Deutschen erst durch jemanden wie Sie daran erinnert werden? Asfa-Wossen Asserate: Wirklich nicht, und ich habe immer wieder betont, auch nach Erscheinen meines Buches „Manieren", dass ich mich nicht als der Lehrer der Deutschen bezeichne. Seit 3 5 Jahren lebe ich in Deutschland, und es sind mir viele Privilegien zuteil geworden. Ich habe die deutsche Kultur unter den verschiedensten Blickwinkeln kennengelernt und sehen dürfen, und ich bin fasziniert o b der großartigen Kultur, die die Deutschen haben. I c h bin hier und da der Meinung gewesen, dass wir diese Kultur und diese Zivilisation sowie einige Merkmale davon in den letzten 3 0 J a h r e n vergessen haben. Vielleicht haben sich die Deutschen nur nicht damit befasst. Deshalb zur Erinnerung: hier sind sie und ich persönlich bin davon begeistert und finde sie noch lebenswert und nachahmenswert. H i e r sind sie noch einmal, schaut euch das nochmal an und wenn es irgendwie geht, gebt es weiter an eure Kinder.

Christiane

Bender

Studieren bedeutete für mich Außruch Impressionen aus der alten und der neuen Universität

E

inmal in meinem Leben ein Jahr lang zu den Auserwählten der Universität zu gehören und

von Berufs wegen mit Forschen und Lehren, mit Wahrheit und Erkenntnis befasst zu sein, an diesen Traum, der meine Studentenzeit begleitete, der mir Glück und eine sinnvolle

Zukunft verhieß, erinnere ich mich noch gut. Dass er sich erfüllen würde, daran glaubte ich nicht ernsthaft. Alle Kommilitonen, mit denen ich befreundet war, träumten diesen Traum. D i e Uni-

versität erschien mir während meiner Studentenzeit in einem verklärten Licht. Vom ersten Tag an erfüllte mich das Gefühl von Freiheit und Privileg. Wissensdurstige, die gern lasen und ihre Eindrücke miteinander austauschten, fanden dort zusammen. Soziologie, Philosophie, Politikwissenschaften, die Fächer, in denen ich mich tummelte, boten Einsichten in die Gegenwart und halfen mir, meinen Standort zu bestimmen. Von manchen ideologischen Zumutungen konnte ich mich mit Hilfe eines Kurses in Wissenschaftstheorie für alle Zeit befreien. Faszinierend war vor allem die Gemeinschaft von Lehrenden und Studierenden, von Neugierigen, die miteinander und voneinander lernten und fair miteinander umgingen. Unter den Kommilitonen gab es einen Wettbewerb um das beste Argument, um gute Referate und um Anerkennung bei den Professoren. Natürlich spürten wir rasch unsere Wissenslücken, lasen viel, besuchten Kulturveranstaltungen, auch außerhalb der Universität, lernten Sprachen, reisten in die europäischen Hauptstädte, um uns weiterzubilden. Angeregt durch Seminare organisierten wir unsere Bildungsprozesse selbst, ohne Aufforderung und Zwang, aber auch ohne zusätzliche Belobigung. Bis in die Nacht hinein saßen wir zusammen, diskutierten und lachten über unsere Professoren. Studentenleben eben. D e r Geist der Universität strahlte in unseren gesamten Alltag hinein. Nirgendwo anders stimmten meine persönlichen Wünsche und die Erwartungen an Leistungen, die ich zu erbrin-

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Christiane

Bender

gen hatte, so sehr überein wie an der Universität. „Wissenschaft als B e r u f " (Max Weber) zu ergreifen, wurde mein Lebensthema.

Sozialer Aufstieg, Emanzipation, Studium Es waren die siebziger Jahre. Zwar entsprach ich nicht genau „der katholischen Arbeitertochter v o m Lande" (Ralf D a h r e n d o r f ) , die die Soziologen als Gewinnerin der Bildungsexpansion entdeckt haben, ein von N o n n e n geführtes katholisches Gymnasium in der Provinz hatte ich jedoch besucht und gehörte zu den Jahrgängen von jungen Frauen und Männern aus nicht bildungsbürgerlichen Schichten, die Zugang zu den Universitäten erhielten. Auch wenn ich damals wenig Klarheit über meine Situation hatte, wollte ich auf jeden Fall einem als eng empfundenen Familienleben entfliehen, in dem die vielbeschriebenen Zwänge der Nachkriegsgesellschaft spürbar waren: starre geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, Konformitätsdruck, Sprachlosigkeit, Angst vor Unordnung. Vor dem Studium hatte ich schon andere, durch akademische Bildung geprägte, kulturell inspirierte Milieus kennengelernt, mit freieren und großzügigeren Lebensformen. A b e r auch dort war die Freiheit zwischen den Geschlechtern ungleich verteilt, und Männer, nicht Frauen, führten das interessantere Leben. Zwar hatte der Begriff der Gleichberechtigung K o n junktur, die entsprechende Alltagspraxis ließ jedoch auf sich warten. Studieren bedeutete für mich Aufbruch aus dem angestammten Kontext, Suche nach einem intellektuell durchdrungenen, wenig konsumorientierten Lebensstil, vor allem Emanzipation von überkommenen Frauenrollen und Aussicht auf einen späteren Beruf, der mich ernährte und den ich liebte. Während meines Studiums konnte ich deutlich beobachten, dass die Kapazitätsgrenzen der Universität überschritten wurden. In hässlichen vernachlässigten Gebäuden fanden überfüllte Lehrveranstaltungen statt und gelegentlich protestierten wir dagegen. Neugewonnene Einsichten besprachen wir in der Mensa, im Café, in der Bibliothek oder in den kleinen Buchhandlungen, die heute alle verschwunden sind. Neben dem offiziellen Studium trafen wir uns in selbstorganisierten Arbeitskreisen. Wer diskussionsstark war und wer viel wusste, war als Freund begehrt. Frauen gehörten selbstverständlich dazu, hatten aber oft Schwierigkeiten, zu Wort zu k o m m e n . Sie interessierten sich vor allem für die pädagogischen, sozial-, sprach- und kulturwissenschaftlichen Fächer. N o c h gab es wenig Seminare von Mitarbeiterinnen oder von Professorinnen, dennoch wurden Frauen durchweg ermutigt, sich zu beteiligen und sich willkommen zu fühlen, auch wenn Professoren „alter Schule" bei attraktiven Studentinnen sichtlich Mühe aufwenden mussten, um sich auf die wissenschaftlichen Sachverhalte zu konzentrieren.

Von der Tutorin zur Professorin Nach langem und ausführlichem Studium, mit eiserner Konzentration, vielen Abstrichen im Privatleben, einer grenzenlosen Lektüre- und Diskursbesessenheit betrieb ich meinen Weg von der studentischen Tutorin und wissenschaftlichen Hilfskraft über die wissenschaftliche Mitarbeiterin und akademische Rätin bis hin zur Professorin, auf jeder Stufe dankbar und zufrieden, bestrebt, meinen Enthusiasmus an die Studenten weiterzugeben. Währenddessen fertigte ich diverse Qualifikationsschriften (Diplomarbeit, Dissertation und Habilitationsschrift) an, immer

Studieren bedeutete für mich

Auforuch

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begleitet von dem Problem, mich bei den Lehraufgaben nicht soweit zu verausgaben, dass noch Kraft blieb, Prüfungen und Bewerbungsverfahren erfolgreich zu bestehen. In dieser Phase lernte ich, nicht nur lust- und neigungsbetont, sondern ziel- und produktorientiert zu arbeiten. Gelegentlich hatte ich wissenschaftliche Projekte für Vorgesetzte zu bearbeiten, mit denen ich weniger zurecht kam und deren Wissenschaftsverständnis mir nicht behagte, aber der Wunsch, es künftig besser zu machen, beflügelte mich und ließ mich alle Konflikte mit gutem Ende überstehen. Allmählich lernte ich die inneruniversitären Hierarchien und Gremien kennen. Uber mehr als ein Jahrzehnt meines Lebens stand ich unter Druck, gleichzeitig in Projekten zu forschen, Prüfungen abzulegen und weiterführende Stellen zu finden. Außerdem mussten zusätzliche informelle Spielregeln der universitären Laufbahn befolgt werden wie regelmäßig zu publizieren, gelegentlich Vorträge zu halten, einige Tagungen zu besuchen, ein paar Leute mit Einfluss im Fach zu kennen, möglichst in einer Sektion der Scientific C o m m u n i t y mitzuarbeiten. Letztere waren Männerdomänen. Dort bemerkte ich als Newcomer, dass es nicht allein um leidenschaftliches Argumentieren ging, sondern auch um Machtspiele und um Machtkämpfe. Lange Zeit waren dort die männlichen Kollegen nicht bereit, Positionen und Einflusssphären mit ihren Kolleginnen zu teilen. Dem Rat, mich einem der einflussreichen „Lager" des Faches (heute nennen wir das N e t z w e r k e ) zuzuordnen, den mir, kurz vor seinem Tode, mein ehemaliger Chef auf den Weg gab, wollte ich auf keinen Fall folgen. Nach mehreren Vertretungen hatte ich es in meinem vierzigsten Lebensjahr geschafft und einen Ruf auf eine unbefristete Professur erhalten. Das war mehr, als ich jemals zu träumen gewagt hatte.

Vergiftetes Klima Inzwischen hat sich die Universität gravierend gewandelt. Neues logobetontes Styling, Internetauftritt, Tag der offenen Tür, Alumni-Treffen verleihen der altehrwürdigen Alma Mater ein modernes Antlitz. Zu den herausragenden universitären Verdiensten gehört der im Zuge des Generationenwechsels erfolgte kulturelle Wandel, Ressentiments gegenüber Frauen weitgehend überwunden und weibliche Organisationskulturen ausgebildet zu haben, unterstützt durch politische und wissenschaftliche Instrumente. In den Sozial- und Geisteswissenschaften demonstrieren Frauen eine beeindruckende Erfolgsgeschichte auf allen Ebenen der Hierarchie, die noch nicht an ihr Ende gelangt ist. Allerdings frage ich mich, ob der organisatorische Umbau im Zuge der Einführung neuer Studiengänge, ob die damit verbundene bürokratische Reglementierung und Regulierung des Studiums und des Personals, ob die Standardisierung von Abläufen und die Veräußerlichung von Inhalten und ob die Öffnung gegenüber nicht-wissenschaftlichen Interessen die akademischen Lern- und Arbeitskulturen nicht so erheblich umgestaltet haben, dass die Universität ihren C h a r m e verloren hat. Fühlen sich intrinsisch motivierte Frauen und Männer, die von ihrem Fach begeistert sind und ihren eigenen Erkenntnisinteressen folgen wollen, an der Universität überhaupt noch wohl? Auch wenn Universitäten sich heutzutage stark voneinander unterscheiden, in einer entscheidenden Hinsicht klagen Lernende wie Lehrende: An die Stelle intrinsischer Motive und Motivationen sind extrinsische Anreize und Vorgaben getreten, die vom Seminar- und Vorlesungsbetrieb bis hin zur Forschungsorganisation und der Karrieren die Verhaltensweisen der Studierenden und des universitären Personals steuern.

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Christiane

Bender

Dort, wo Freiheit herrschte, gelten nun Vorschriften, teilweise rigide. Erstsemester, die ihre vorgeschriebenen Stundenpläne abarbeiten, fühlen sich in die Schule zurückversetzt. In den siebziger Jahren hörten wir in überfüllten Räumen Vorlesungen, bei denen es unter didaktischen Gesichtspunkten einiges zu beanstanden gab, die Relevanz der entwickelten Thematik stach auch nicht auf Anhieb ins Auge, dennoch folgten wir den Vorträgen, die wir uns ausgesucht hatten, mit Hingabe. Wir schrieben mit, weil wir uns das Wissen eines Faches erarbeiten wollten und nicht, weil wir die Multiple-Choice-Klausur am Ende des Semesters bestehen mussten. Heutzutage locken wir Lehrende unsere Studierenden mit der Vergabe von Noten und Credit-Points, im Format genau vorgeschriebene Hausarbeiten zu erbringen und termingerecht „hochzuladen". Abweichungen vom definierten Standard können wir nicht akzeptieren, weil sie einen immensen bürokratischen Akt nach sich ziehen, vor dem sich alle Beteiligten ängstigen, weil er ihnen Zeit nimmt, sich auf Inhalte zu konzentrieren. Von „individualisierten Lernkulturen" keine Spur! Zu allen Zeiten entlud sich Unmut von Studierenden gegen Lehrende. Aber diesmal ist das Klima vergiftet, Lernende wie Lehrende leiden unter den Zwängen von Modulordnungen und Auflagen, Mogelpackungen mehr oder weniger, von denen jeder weiß, dass sie kaum einzuhalten sind. Den Studierenden stehen oft Lehrkräfte für besondere Aufgaben („Lehrknechte") gegenüber, die die im Modulhandbuch festgelegten Lehrveranstaltungen mit immensem Einsatz und mit letzter Kraft übers Podium bringen, immer in Angst, die Lehrevaluateure in den hinteren Reihen könnten den Daumen senken und damit die Verlängerung ihrer eh schon kurzen Vertragslaufzeiten gefährden. Erschöpft ins Büro zurückgekommen, warten Hunderte von Mails mit Anfragen von Kommilitonen, die an der komplizierten Struktur ihres Studiums scheitern oder Ausnahmegenehmigungen benötigen. Das Miteinander von Lehrenden und Lernenden, getragen von Neugier und von der Faszination am Erkenntnisprozess, kommt nicht zum Tragen. Ein Kollege erzählte mir, dass er in Adornos Vorlesungen „Denken im Vollzug" erfahren konnte. Heute haben sich die Stars des Faches, falls es sie noch gibt, vom Einsatz an der Studentenfront verabschiedet und denken woanders!

Das Glück der verklärten

Sicht

Die Eindrücke im Studium von Frauen und Männern sind also keinesfalls so, dass ihnen der Beruf zur Wissenschaft als Erfüllung ihrer kreativen Impulse vorkommen muss. Streben sie dennoch eine Berufstätigkeit in der Universität an, so erleben sie, dass es eine vernünftige Arbeitsteilung an der Universität nicht gibt. Statt sich auf die Vertiefung ihrer Kenntnisse zu konzentrieren, ihre Qualifikationsarbeiten voranzutreiben und zusätzlich pro Semester eine Lehrveranstaltung anzubieten, übernehmen wissenschaftliche Mitarbeiter Organisations-, Verwaltungsund Planungsaufgaben in einem mir bislang unbekannten Ausmaß. Meine verklärte Sicht auf die „alte" Universität hat dankenswerterweise mein Leben geprägt. Reformbedarf erkannte ich in all den Jahren genügend. Aber den Geist aus der Flasche entweichen zu lassen, das wäre nicht nötig gewesen! Wer trägt dafür überhaupt die Verantwortung? Ich fasse mich an die eigene Nase. Bologna-Bürokraten auf der europäischen Ebene? Nein. Wer sonst? Die Universität ist intransparent geworden. Wer mit wem welche Zielvereinbarungen abgeschlossen hat, weiß der Normalsterbliche an der Universität nicht. Soviel scheint mir dennoch sicher: Die Verantwortlichen stammen aus der Generation von Akademikern, die die freiStudieren bedeutete für mich Aufbruch 29

esten Studienbedingungen genießen durften, die es jemals in Deutschland gab. Was hat sie veranlasst, den nachfolgenden Generationen diese Freiheit derart zunichte zu machen?

Papst Benedikt XVI.

Die Ökologie des Menschen

E

s ist mir Ehre und Freude, vor diesem Hohen Haus zu sprechen - vor dem Parlament meines deutschen Vaterlandes, das als demokratisch gewählte Volksvertretung hier zusam-

menkommt, um zum Wohl der Bundesrepublik Deutschland zu arbeiten. Dem Herrn

Bundestagspräsidenten möchte ich für seine Einladung zu dieser Rede ebenso danken wie für die freundlichen Worte der Begrüßung und Wertschätzung, mit denen er mich empfangen hat. In

dieser Stunde wende ich mich an Sie, verehrte Damen und Herren - gewiss auch als Landsmann, der sich lebenslang seiner Herkunft verbunden weiß und die Geschicke der deutschen Heimat mit Anteilnahme verfolgt. Aber die Einladung zu dieser Rede gilt mir als Papst, als Bischof von Rom, der die oberste Verantwortung für die katholische Christenheit trägt. Sie anerkennen damit die Rolle, die dem Heiligen Stuhl als Partner innerhalb der Völker- und Staatengemeinschaft zukommt. Von dieser meiner internationalen Verantwortung her möchte ich Ihnen einige Gedanken über die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaats vorlegen Lassen Sie mich meine Überlegungen über die Grundlagen des Rechts mit einer kleinen Geschichte aus der Heiligen Schrift beginnen. Im ersten Buch der Könige wird erzählt, dass Gott dem jungen König Salomon bei seiner Thronbesteigung eine Bitte freistellte. Was wird sich der junge Herrscher in diesem Augenblick erbitten? Erfolg - Reichtum - langes Leben - Vernichtung der Feinde? Nicht um diese Dinge bittet er. Er bittet: „Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht" (1 Kön 3,9). Die Bibel will uns mit dieser Erzählung sagen, worauf es für einen Politiker letztlich ankommen muss. Sein letzter Maßstab und der Grund für seine Arbeit als Politiker darf nicht der Erfolg und schon gar nicht materieller Gewinn sein. Die Politik muss Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Frieden schaffen. Natürlich wird ein Politiker den Erfolg suchen, ohne den er überhaupt nicht die Möglichkeit politischer Gestaltung hätte. Aber der Erfolg ist dem Maßstab der Gerechtigkeit, dem Willen zum Recht und dem Verste-

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Benedikt XVI.

hen für das Recht untergeordnet. Erfolg kann auch Verführung sein und kann so den Weg auftun für die Verfälschung des Rechts, für die Zerstörung der Gerechtigkeit. „Nimm das Recht weg - was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande", hat der heilige Augustinus einmal gesagt. Wir Deutsche wissen es aus eigener Erfahrung, dass diese Worte nicht ein leeres Schreckgespenst sind. Wir haben erlebt, dass Macht von Recht getrennt wurde, dass Macht gegen Recht stand, das Recht zertreten hat und dass der Staat zum Instrument der Rechtszerstörung wurde - zu einer sehr gut organisierten Räuberbande, die die ganze Welt bedrohen und an den Rand des Abgrunds treiben konnte. Dem Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts zu wehren ist und bleibt die grundlegende Aufgabe des Politikers. In einer historischen Stunde, in der dem Menschen Macht zugefallen ist, die bisher nicht vorstellbar war, wird diese Aufgabe besonders dringlich. Der Mensch kann die Welt zerstören. Er kann sich selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom Menschsein ausschließen. Wie erkennen wir, was recht ist? Wie können wir zwischen Gut und Böse, zwischen wahrem Recht und Scheinrecht unterscheiden? Die salomonische Bitte bleibt die entscheidende Frage, vor der der Politiker und die Politik auch heute stehen. In einem Großteil der rechtlich zu regelnden Materien kann die Mehrheit ein genügendes Kriterium sein. Aber dass in den Grundfragen des Rechts, in denen es um die Würde des Menschen und der Menschheit geht, das Mehrheitsprinzip nicht ausreicht, ist offenkundig: Jeder Verantwortliche muss sich bei der Rechtsbildung die Kriterien seiner Orientierung suchen. Im 3. Jahrhundert hat der große Theologe Orígenes den Widerstand der Christen gegen bestimmte geltende Rechtsordnungen so begründet: „Wenn jemand sich bei den Skythen befände, die gottlose Gesetze haben, und gezwungen wäre, bei ihnen zu leben ..., dann würde er wohl sehr vernünftig handeln, wenn er im N a m e n des Gesetzes der Wahrheit, das bei den Skythen ja Gesetzwidrigkeit ist, zusammen mit Gleichgesinnten auch entgegen der bei jenen bestehenden Ordnung Vereinigungen bilden würde . . . " Von dieser Uberzeugung her haben die Widerstandskämpfer gegen das Naziregime und gegen andere totalitäre Regime gehandelt und so dem Recht und der Menschheit als ganzer einen Dienst erwiesen. F ü r diese Menschen war es unbestreitbar evident, dass geltendes Recht in Wirklichkeit Unrecht war. A b e r bei den Entscheidungen eines demokratischen Politikers ist die Frage, was nun dem Gesetz der Wahrheit entspreche, w a s wahrhaft recht sei und Gesetz werden könne, nicht ebenso evident. Was in bezug auf die grundlegenden anthropologischen Fragen das Rechte ist und geltendes Recht werden kann, liegt heute keineswegs einfach zutage. Die Frage, wie man das wahrhaft Rechte erkennen und so der Gerechtigkeit in der Gesetzgebung dienen kann, war nie einfach zu beantworten, und sie ist heute in der Fülle unseres Wissens und unseres Könnens noch sehr viel schwieriger geworden. Wie erkennt man, was recht ist? In der Geschichte sind Rechtsordnungen fast durchgehend religiös begründet worden: Vom Blick auf die Gottheit her wird entschieden, was unter M e n schen rechtens ist. Im Gegensatz zu anderen großen Religionen hat das Christentum dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, nie eine Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben. Es hat stattdessen auf Natur und Vernunft als die wahren Rechtsquellen verwiesen - auf den Zusammenklang von objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein beider Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt. Die christlichen Theologen haben sich damit einer philosophischen und juristischen Bewegung angeschlossen, die sich seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. gebildet hatte. In der ersten Hälfte des 2. vorchristlichen Jahrhun-

Die Ökologie des Menschen

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derts k a m es zu einer Begegnung zwischen d e m von stoischen Philosophen entwickelten sozialen N a t u r r e c h t u n d verantwortlichen Lehrern des römischen Rechts. In dieser B e r ü h r u n g ist die abendländische R e c h t s k u l t u r geboren w o r d e n , die f ü r die R e c h t s k u l t u r der M e n s c h h e i t von e n t scheidender B e d e u t u n g war u n d ist. Von dieser vorchristlichen Verbindung von Recht u n d Philosophie geht der Weg über das christliche Mittelalter in die R e c h t s e n t f a l t u n g der Aufklärungszeit bis hin z u r Erklärung der M e n s c h e n r e c h t e u n d bis zu unserem deutschen G r u n d g e s e t z , mit d e m sich unser Volk 1949 zu den „unverletzlichen u n d unveräußerlichen M e n s c h e n r e c h t e n als G r u n d l a g e jeder menschlichen G e m e i n s c h a f t , des Friedens u n d der Gerechtigkeit in d e r Welt" b e k a n n t hat. F ü r die Entwicklung des Rechts u n d f ü r die E n t w i c k l u n g der H u m a n i t ä t war es entscheidend, dass sich die christlichen T h e o l o g e n gegen das v o m G ö t t e r g l a u b e n geforderte religiöse Recht auf die Seite der Philosophie gestellt, Vernunft u n d N a t u r in ihrem Zueinander als die für alle gültige Rechtsquelle a n e r k a n n t haben. Diesen Entscheid h a t t e s c h o n Paulus im Brief an die R ö m e r vollzogen, wenn er sagt: „Wenn H e i d e n , die das G e s e t z (die Tora Israels) nicht haben, v o n N a t u r aus das t u n , was im G e s e t z gefordert ist, so sind sie... sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, dass ihnen die F o r d e r u n g des Gesetzes ins H e r z geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon a b . . . " ( R o m 2,14f). H i e r erscheinen die beiden G r u n d b e g r i f f e N a t u r u n d Gewissen, wobei Gewissen nichts anderes ist als das h ö r e n d e H e r z Salomons, als die der Sprache des Seins geöffnete V e r n u n f t . Wenn damit bis in die Zeit der A u f k l ä r u n g , der M e n s c h e n r e c h t s e r k l ä r u n g nach d e m Zweiten Weltkrieg u n d in der G e s t a l t u n g unseres G r u n d g e s e t z e s die Frage nach den G r u n d lagen der G e s e t z g e b u n g geklärt schien, so hat sich im letzten halben J a h r h u n d e r t eine dramatische Veränderung d e r Situation zugetragen. D e r G e d a n k e des N a t u r r e c h t s gilt h e u t e als eine katholische Sonderlehre, über die außerhalb des katholischen R a u m s zu diskutieren nicht lohnen würde, s o dass m a n sich schon beinahe schämt, das W o r t ü b e r h a u p t zu erwähnen. Ich m ö c h t e k u r z andeuten, wieso diese Situation e n t s t a n d e n ist. G r u n d l e g e n d ist zunächst die These, dass zwischen Sein u n d Sollen ein u n ü b e r b r ü c k b a r e r G r a b e n bestehe. Aus Sein k ö n n e kein Sollen folgen, weil es sich da u m zwei völlig verschiedene Bereiche handle. D e r G r u n d d a f ü r ist das inzwischen fast allgemein a n g e n o m m e n e positivistische Verständnis von N a t u r . Wenn man die N a t u r - mit den Worten v o n H . Kelsen - als „ein Aggregat von als U r s a c h e und W i r k u n g miteinander v e r b u n d e n e n Seinstatsachen" ansieht, dann kann aus ihr in der Tat keine irgendwie geartete ethische Weisung hervorgehen. Ein positivistischer N a t u r b e g r i f f , der die N a t u r rein f u n k t i o n a l versteht, so wie die N a t u r w i s s e n s c h a f t sie e r k e n n t , kann keine Brücke zu E t h o s u n d Recht herstellen, s o n d e r n wiederum n u r funktionale A n t w o r t e n h e r v o r r u f e n . Das gleiche gilt aber auch für die Vernunft in einem positivistischen, weithin als allein wissenschaftlich angesehenen Verständnis. Was nicht verifizierbar oder falsifizierbar ist, gehört danach nicht in den Bereich der Vernunft im strengen Sinn. D e s h a l b müssen Ethos u n d Religion dem R a u m des Subjektiven zugewiesen werden u n d fallen aus d e m Bereich der V e r n u n f t im strengen Sinn des Wortes heraus. Wo die alleinige H e r r s c h a f t der positivistischen Vernunft gilt - u n d das ist in unserem ö f f e n t l i c h e n Bewusstsein weithin der Fall - , da sind die klassischen Erkenntnisquellen f ü r E t h o s u n d Recht außer K r a f t gesetzt. Dies ist eine dramatische Situation, die alle angeht u n d über die eine öffentliche D i s k u s s i o n n o t w e n d i g ist, zu der dringend einzuladen eine wesentliche Absicht dieser Rede bildet. Das positivistische K o n z e p t v o n N a t u r u n d Vernunft, die positivistische Weltsicht als Ganze ist ein großartiger Teil menschlichen E r k e n n e n s u n d menschlichen K ö n n e n s , auf die wir keines-

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Benedikt XVI.

falls verzichten dürfen. Aber es ist nicht selbst als Ganzes eine dem Menschsein in seiner Weite entsprechende und genügende Kultur. Wo die positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht und alle anderen kulturellen Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den Menschen, ja sie bedroht seine Menschlichkeit. Ich sage das gerade im Hinblick auf Europa, in dem weite Kreise versuchen, nur den Positivismus als gemeinsame Kultur und als gemeinsame Grundlage für die Rechtsbildung anzuerkennen, alle übrigen Einsichten und Werte unserer Kultur in den Status einer Subkultur verweisen und damit Europa gegenüber den anderen Kulturen der Welt in einen Status der Kulturlosigkeit gerückt wird und zugleich extremistische und radikale Strömungen herausgefordert werden. Die sich exklusiv gebende positivistische Vernunft, die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen kann, gleicht den Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen. Und dabei können wir uns doch nicht verbergen, dass wir in dieser selbstgemachten Welt im stillen doch aus den Vorräten Gottes schöpfen, die wir zu unseren Produkten umgestalten. Die Fenster müssen wieder aufgerissen werden, wir müssen wieder die Weite der Welt, den Himmel und die Erde sehen und all dies recht zu gebrauchen lernen. Aber wie geht das? Wie finden wir in die Weite, ins Ganze? Wie kann die Vernunft wieder ihre Größe finden, ohne ins Irrationale abzugleiten? Wie kann die Natur wieder in ihrer wahren Tiefe, in ihrem Anspruch und mit ihrer Weisung erscheinen? Ich erinnere an einen Vorgang in der jüngeren politischen Geschichte, in der Hoffnung, nicht allzusehr missverstanden zu werden und nicht zu viele einseitige Polemiken hervorzurufen. Ich würde sagen, dass das Auftreten der ökologischen Bewegung in der deutschen Politik seit den 70er Jahren zwar wohl nicht Fenster aufgerissen hat, aber ein Schrei nach frischer Luft gewesen ist und bleibt, den man nicht überhören darf und nicht beiseite schieben kann, weil man zu viel Irrationales darin findet. Jungen Menschen war bewusst geworden, dass irgend etwas in unserem Umgang mit der Natur nicht stimmt, dass Materie nicht nur Material für unser Machen ist, sondern dass die Erde selbst ihre Würde in sich trägt und wir ihrer Weisung folgen müssen. Es ist wohl klar, dass ich hier nicht Propaganda für eine bestimmte politische Partei mache - nichts liegt mir ferner als dies. Wenn in unserem Umgang mit der Wirklichkeit etwas nicht stimmt, dann müssen wir alle ernstlich über das Ganze nachdenken und sind alle auf die Frage nach den Grundlagen unserer Kultur überhaupt verwiesen. Erlauben Sie mir, bitte, dass ich noch einen Augenblick bei diesem Punkt bleibe. Die Bedeutung der Ökologie ist inzwischen unbestritten. Wir müssen auf die Sprache der Natur hören und entsprechend antworten. Ich möchte aber nachdrücklich einen Punkt ansprechen, der nach wie vor - wie mir scheint - ausgeklammert wird: Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur achtet, sie hört und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit. Kehren wir zurück zu den Grundbegriffen Natur und Vernunft, von denen wir ausgegangen waren. Der große Theoretiker des Rechtspositivismus, Kelsen, hat im Alter von 84 Jahren - 1965 - den Dualismus von Sein und Sollen aufgegeben. (Es tröstet mich, dass man mit 84 Jahren offenbar noch etwas Vernünftiges denken kann.) Er hatte früher gesagt, dass Normen nur aus dem Willen kommen können. Die Natur könnte folglich Normen nur enthalten - so fügt er hin-

Die Ökologie des Menseben

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zu - , wenn ein Wille diese N o r m e n in sie hineingelegt hätte. Dies wiederum - sagt er - würde einen Schöpfergott voraussetzen, dessen Wille in die N a t u r miteingegangen ist. „ U b e r die Wahrheit dieses Glaubens zu diskutieren, ist völlig aussichtslos", bemerkt er dazu. Wirklich? - möchte ich fragen. Ist es wirklich sinnlos zu bedenken, ob die objektive Vernunft, die sich in der Natur zeigt, nicht eine schöpferische Vernunft, einen C r e a t o r Spiritus voraussetzt? A n dieser Stelle müsste uns das kulturelle E r b e Europas zu Hilfe kommen. Von der Uberzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller M e n s c h e n vor dem R e c h t , die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen M e n s c h e n und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden. Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden unser kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren oder als b l o ß e Vergangenheit zu betrachten, wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und würde sie ihrer Ganzheit berauben. Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und R o m - aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken R o m s entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie hat im Bewusstsein der Verantwortung des M e n s c h e n vor G o t t und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des M e n s c h e n , eines jeden Menschen, M a ß s t ä b e des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist. D e m jungen K ö n i g Salomon ist in der Stunde seiner Amtsübernahme eine Bitte freigestellt worden. Wie wäre es, wenn uns, den Gesetzgebern von heute, eine Bitte freigestellt würde? Was würden wir erbitten? I c h denke, auch heute könnten wir letztlich nichts anderes wünschen als ein hörendes H e r z - die Fähigkeit, G u t und B ö s e zu unterscheiden und so wahres R e c h t zu setzen, der Gerechtigkeit zu dienen und dem Frieden. I c h danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Mathias Binswanger

Künstliche Inszenierung Uber Wettbewerbe in Forschung und Lehre

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n vielen Bereichen der Wirtschaft gibt es keine oder nur unvollständig funktionierende

Märkte. Deshalb ist man im Zuge einer zunehmenden Wettbewerbsgläubigkeit über die letzten Jahrzehnte auf die fatale Idee gekommen, künstliche Wettbewerbe zu inszenieren, um so

die angeblich überlegene Effizienz der Marktwirtschaft bis in den hintersten Winkel jeder öffent-

lichen und privaten Institution voranzutreiben. Mit missionarischem Eifer werden überall Leistungsanreize gesetzt, doch was dabei als Leistung herauskommt, ist in Wirklichkeit ein gigantischer Unsinn. Ein Markt lässt sich nicht künstlich inszenieren. Künstlich inszenieren lassen sich nur Wettbewerbe, aber diese sorgen im Gegensatz zu einem funktionierenden Marktwettbewerb nicht dafür, dass die Produktion optimal auf die Bedürfnisse der Nachfrager angepasst ist. N u r wo Wettbewerb und Markt zusammenfallen und Marktwettbewerb herrscht, kann die von Adam Smith erstmals beschriebene „unsichtbare Hand" unter bestimmten Bedingungen über das Preissystem wirken und für Effizienz sorgen. Bei Wettbewerben ohne Markt ist das hingegen nicht der Fall. Statt an den Bedürfnissen der Nachfrager orientieren sich die Produzenten eines Produktes oder einer Leistung an irgendwelchen Kennzahlen oder Indikatoren, die für den Erfolg im Wettbewerb maßgebend sind. Die Ausrichtung an diesen Kennzahlen führt jedoch nicht zu Effizienz, sondern sorgt für perverse Anreize, die dann folgerichtig auch perverse Resultate ergeben. Da werden von Wissenschaftlern mit Fleiß und Akribie jedes Jahr in Tausenden von Fachzeitschriften über Hunderttausende von Seiten Fragen beantwortet, deren Antwort niemand wissen will. Immer mehr junge Menschen werden als Studenten in Hochschulen über lange Jahre ausgebildet, um irgendwelche Bachelors und Masters zu erwerben, die nichts zu ihrem Können in ihrem

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Mathias Binswanger

zukünftigen Berufsleben beitragen. U n d es werden immer mehr medizinische Untersuchungen und Tests für die Prävention von Krankheiten durchgeführt, die nie eintreten.

Je mehr, desto besser? Diese Entwicklungen sind aber, so wird uns gesagt, zentral für unseren Wohlstand und unser persönliches Wohlbefinden. J e mehr Fachartikel publiziert werden, je mehr Menschen studieren, je mehr medizinische Untersuchungen wir haben, desto besser gehe es uns. N u r leider ist das nicht der Fall. Die Produktion von Unsinn schafft zwar Arbeitsplätze, doch verhindert sie gleichzeitig die Produktion der qualitativ wertvollen Erzeugnisse, die tatsächlich benötigt werden. Sinn wird durch Unsinn verdrängt, Qualität durch Quantität und die Freude an einer Tätigkeit durch Zuckerbrot und Peitsche. Auf diese Weise ist eine neue Wettbewerbsbürokratie entstanden, welche die alte Beamtenbürokratie abgelöst hat. Doch die neue Bürokratie ist viel raffinierter, da sie unter dem Deckmantel von Markt, Wettbewerb und Effizienz daherkommt. Besonders gravierend sind die sinnlosen Wettbewerbe neben dem Gesundheitswesen in den Bereichen Wissenschaft und Bildung. Seit der Zeit der Aufklärung findet Forschung überwiegend an Universitäten bzw. an deren Instituten statt und der Staat beschränkte sich darauf, die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu erlassen. Was die wissenschaftliche Arbeit betraf, so übten sich die zuständigen staatlichen Gremien mit Ausnahme einiger unrühmlicher Zwischenepisoden (Nazizeit) in vornehmer Zurückhaltung. Man hatte das aus heutiger Sicht geradezu ungeheuer anmutende Vertrauen, dass die Forscher selbst am besten wissen, womit sie sich konkret beschäftigen sollen. Generell war man sich der Tatsache bewusst, dass man den besten wissenschaftlichen Köpfen eines Landes nicht von außen aufoktroyieren kann, wofür sie sich interessieren sollen und wie und wo sie Forschung betreiben müssen. Aus diesem Grund wurde die Tätigkeit von Professoren und anderen Forschenden kaum systematisch erfasst und bewertet, denn man ging davon aus, dass diese aus eigenem Antrieb heraus gute Arbeit leisten. In vielen Fällen stimmte das, manchmal aber auch nicht. Das Resultat waren gewaltige Qualitätsunterschiede zwischen den einzelnen Forschenden, die jedoch den Wissenschaftsbetrieb nicht weiter störten. Wissenschaftliche Genies und wissenschaftliche Nieten bevölkerten gemeinsam die Forschungslandschaft, wobei es längst nicht immer schon zu Lebzeiten der Forscher erkennbar war, wer die Niete und wer das Genie darstellte. „Das Außerordentliche ist das seltene Resultat durchschnittlicher Forschung und erst die breite Qualität, die aus dem Mittelmaße wächst, beschert uns am Schluss die große Leistung", meint dazu der Wissenschaftsphilosoph Jürgen Mittelstrass.

Quantitativ messbarer Unsinn Inzwischen hat der Staat seine Zurückhaltung gegenüber den Universitäten aufgegeben und aus einst stolzen Bastionen unabhängigen Denkens sind Umsetzungs- und Ausführungsorgane staatlicher Programme und Initiativen geworden. Es gilt wieder der Lenin zugeschriebene Ausspruch: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Damit die knappen Mittel „effizient" eingesetzt werden, zwingt der Staat die Universitäten und die zur „Wissensproduktion" und „Bildungs-

Künstliche

Inszenierung

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Produktion" angestellten Professoren mit ihrem wissenschaftlichen Anhang auch zur ständigen Teilnahme an künstlich inszenierten Wettbewerben. Und das gleich von zwei Seiten her. Universitäten müssen sich nämlich sowohl in Forschungswettbewerben als auch in Bildungswettbewerben bewähren, um so bei den immer weiter um sich greifenden Rankings vorne mit dabei zu sein. Universitäten, die sich nach außen als großartige Tempel der wissenschaftlichen Exzellenz darstellen, sind intern zu Kindergärten verkommen, wo Professoren sich gegenseitig mit Publikationslisten und der Menge eingeworbener Forschungsgelder zu übertrumpfen versuchen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit werden Projekt- und Publikationsolympiaden veranstaltet, wobei die Gewinner dann statt Medaillen mit Elite- und Exzellenzstatus, Befreiung von Lehrverpflichtungen und im „besten Fall" auch noch mit höheren Salären belohnt werden. Und das, obwohl viele Projekte und Publikationen für den Rest der Menschheit nicht die geringste Bedeutung besitzen und diese „Wissenschaftsolympiaden" auch nicht annähernd den Unterhaltungswert von Olympischen Spielen besitzen. Das Fazit aus diesen Überlegungen ist eindeutig: Schluss mit diesen künstlichen Wettbewerben. Sowohl in Wissenschaft, Bildung als auch im Gesundheitswesen entstehen qualitativ gute Arbeit und Höchstleistungen dadurch, dass man fähigen und motivierten Menschen die Chance gibt, sich in einer möglichst freien, stimulierenden Umgebung zu entfalten. Deshalb ist es kontraproduktiv, Wissenschaftler, Professoren, Lehrer oder Ärzte unter den Generalverdacht der Leistungsverweigerung zu stellen und in jedem ein potentiell schwarzes Schaf zu vermuten, aus dem man eine gute Leistung mit einem Zuckerbrot herauskitzeln oder mit der Peitsche herausprügeln muss. Auf diese Weise verdrängt man erstens die intrinsische Motivation der eigentlich begabten und motivierten Menschen, wodurch echte Höchstleistungen mehr und mehr ausbleiben. Und zweitens holt man aus unmotivierten und/oder wenig fähigen Menschen selbst mit noch so großen Zuckerbroten und drohend schwingenden Peitschen keine Höchstleistungen heraus. Was diese dann wirklich produzieren, ist quantitativ messbarer Unsinn, den niemand braucht, während die wahre Qualität immer mehr verdrängt wird.

Peter Brandt

Demokratisch, patriotisch, kulturell verankert Die nationale Identität der Deutschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts

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n unregelmäßigen Abständen werden die Deutschen von der Frage nach ihrem nationalen

Selbstverständnis eingeholt. Die Selbstverständlichkeit, mit der man in beiden deutschen Staaten und quer durch das gesamte politische Spektrum bis in die 60er und 70er Jahre von

der andauernden Bedeutung (für den Einzelnen wie für Gesellschaft und Staat) der Bindung an die Kommunikations-, Bewusstseins- und Schicksalsgemeinschaft „Nation" ausging, hat sich längst verflüchtigt. Die kritischen und selbstkritischen Reflexionen bezogen und beziehen sich großenteils auf die Geschichtskatastrophe des „Dritten Reiches" und seiner Massenverbrechen im Namen Deutschlands. Die Aufhebung der staatlichen Teilung hat einen weiteren wesentlichen Gesichtspunkt der deutschen Identitätsproblematik aktualisiert; paradoxerweise machte erst die Vereinigung das Ausmaß der mentalen Auseinanderentwicklung der beiden Teilvölker deutscher Nation zwischen 1945 und 1990 offenkundig. Während der kommenden Jahrzehnte werden zwei Aspekte im Zentrum stehen, die Deutschland mit den meisten anderen europäischen Staaten gemeinsam hat: die Relativierung des souveränen Nationalstaats durch die elementaren Prozesse der marktkapitalistischen „Globalisierung" und der Europäisierung einerseits sowie der Massenzuwanderung, namentlich aus rand- und außereuropäischen, kulturell deutlich verschiedenartigen Regionen andererseits. Was die Globalisierung betrifft, so gehen die meisten politik- und sozialwissenschaftlichen Analytiker davon aus, dass die Rolle der Staaten auch künftig keine unbedeutende sein wird, auch wenn ihre Handlungsfähigkeit in manchen Bereichen schon jetzt arg beeinträchtigt ist. Die europäische Einigung hat diesbezüglich einen ambivalenten Charakter: Einerseits fungiert sie als eine

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Peter Brandt

A r t Sub-Prozess der Globalisierung - die Masse des wirtschaftlichen Austauschs f i n d e t ja nach wie vor innerhalb Europas statt. Andererseits wird die E U von vielen ihrer B e f ü r w o r t e r als regionales Gegengewicht zur weltweiten E n t g r e n z u n g des Marktkapitalismus, insbesondere der F i n a n z m ä r k t e , in den vergangenen 30 Jahren u n d als diesbezügliches Gestaltungs- u n d Einheg u n g s i n s t r u m e n t , als Verteidigungsraum für den Typus der koordinierten M a r k t w i r t s c h a f t u n d der sozialstaatlich geprägten D e m o k r a t i e verstanden. D i e E U s t ü n d e somit ordnungspolitisch vor ähnlichen A u f g a b e n wie ihre Mitgliedsstaaten. Europa wird sich mit seiner national-kulturellen Vielfalt, seinen einmaligen historischen E r f a h rungen u n d seinem spezifischen Verständnis v o n D e m o k r a t i e k ü n f t i g n u r in festem Verbund in der Welt b e h a u p t e n k ö n n e n . D o c h je weiter der Einigungs- u n d Integrationsprozess voran getrieben wird, desto nachdrücklicher wird darauf zu achten sein, dass die heute im R a h m e n der Einzelstaaten verankerten politischen K o m p e t e n z e n , namentlich der Parlamente, d u r c h die Verlagerung auf die E U - E b e n e nicht gegenstandslos w e r d e n (auch w e n n v o n einem gänzlichen D e m o k r a t i e d e f i z i t der U n i o n s c h o n lange nicht m e h r gesprochen werden kann). Man darf dabei auch nicht übersehen, dass die Verfassungsstaatlichkeit, eine der g r o ß e n E r r u n genschaften der europäischen Geschichte, meist im nationalen R a h m e n u n d in V e r b i n d u n g mit der Nationalidee ins Leben trat u n d von dieser K o n n o t a t i o n nicht o h n e Weiteres zu lösen ist, sondern, u n t e r A n k n ü p f u n g daran, w o h l nur europäisch erweitert werden kann. Als politische B a u f o r m E u r o p a s wird der Nationalstaat noch eine ganze E p o c h e weiterleben, bevor er möglicherweise in einer größeren Einheit aufgeht. Es handelt sich darum, was m a n mit diesem I n s t r u ment tut. Wie kann neben militärischer auch wirtschaftliche M a c h t , vor allem F i n a n z m a c h t , auf europäischer u n d globaler Ebene kontrolliert u n d reguliert werden? Wie k ö n n e n das Agieren der Einzelstaaten u n d die verschiedenen europäischen Einigungsprozesse, die atlantischen u n d globalen Z u s a m m e n s c h l ü s s e nicht-imperial koordiniert u n d harmonisiert werden, u m Energien frei zu b e k o m m e n f ü r die existenziellen M e n s c h h e i t s p r o b l e m e des b e g o n n e n e n J a h r h u n d e r t s ? Was b e d e u t e t die M a s s e n z u w a n d e r u n g der letzten J a h r z e h n t e , insbesondere aus anderen Kulturkreisen, f ü r die Z u k u n f t der tradierten europäischen N a t i o n e n , namentlich der deutschen? G r u n d s ä t z l i c h lässt sich zunächst unterstreichen, dass das deutsche Volk, wie m e h r o d e r weniger alle Völker Europas u n d die meisten Völker der Welt, in ethnischer H i n s i c h t ein Mischvolk ist, zustande g e k o m m e n nicht zuletzt d u r c h demographische Wanderungsbewegungen. Zwei U n t e r schiede f r ü h e r e r Z u w a n d e r u n g e n gegenüber h e u t e liegen auf der H a n d : Erstens vollzogen sich die Vorgänge über längere Zeiträume u n d in quantitativ bescheidenerem U m f a n g u n d zweitens bedeutete Integration über k u r z oder lang Assimilation. Auch f ü r die J u d e n , die in der ständischen Gesellschaft der F r ü h e n N e u z e i t überwiegend separiert gelebt hatten, ging die H a u p t t e n denz vor 1933 hierzulande in R i c h t u n g Assimilation. H e u t e spricht nichts dafür, dass es möglich wäre (von der W ü n s c h b a r k e i t einmal abgesehen), die Z u w a n d e r u n g nach D e u t s c h l a n d zu beenden oder gar die hier lebenden Ausländer bzw. F r e m d s t ä m m i g e n wieder auszusiedeln, ohne die Liberalität unserer L e b e n s f o r m a u f z u g e b e n u n d andere Schäden in Kauf zu n e h m e n . Das macht die Frage nicht unzulässig, ob es G r e n z e n der A u f n a h m e f ä h i g k e i t eines gegebenen, relativ dicht besiedelten Territoriums und einer gegebenen Gesellschaft gibt. Die Existenz u n d ständige E r n e u e r u n g von nicht-deutschen, gettoisierten Parallelgesellschaften, in denen sich soziale Ausgrenzungs- u n d ethnisch-kulturelle A b s o n d e r u n g s t e n d e n z e n gegenseitig verstärken, ist jedenfalls mit dem G e d e i h e n eines demokratischen u n d sozialstaatli-

Demokratisch, patriotisch, kulturell verankert

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chen Gemeinwesens, das auf Inklusion angelegt ist, nicht vereinbar. Demokratie braucht nicht nur die Akzeptanz gewisser Grundregeln und gemeinsamer politisch-weltanschaulicher Werte (wie der M e n s c h e n r e c h t e ) , sondern auch ein Mindestmaß an kultureller und sozialer H o m o g e nität, damit das Volk im politischen Sinn des Wortes, der D e m o s , erkennbar und handlungsfähig bleibt. D e r Philosoph Jürgen Habermas hat, an D o l f Sternberger anknüpfend, in den 80er Jahren mit anderen für einen „Verfassungspatriotismus" anstelle eines traditionellen Nationalpatriotismus geworben. Ein solcher Verfassungs- oder, um das dynamische Element zu unterstreichen, demokratischer Patriotismus stützt sich auf universelle, sozusagen „westliche" Werte. D e m ist insofern zuzustimmen, als ein Nationsbegriff, der vermeintlich „objektive", nämlich ethnisch-kulturelle Kriterien einseitig in den Mittelpunkt stellt, für völkisch-nationalistische Entgleisungen stets offen ist. D o c h ein „Verfassungspatriotismus" ohne Verankerung in der Kultur und G e s c h i c h t e des betreffenden Landes müsste ein wirkungsloses Kunstprodukt bleiben. Tatsächlich setzt das demokratische Nationsverständnis auch des Westens, das um die politische Selbstbestimmung „der N a t i o n " zentriert ist, in der Regel die spezifischen nationalkulturellen und nationalgeschichtlichen Bedingungen voraus. Das gilt auch für die immer wieder zitierte, klassische Definition der Nation als einer „täglichen Volksabstimmung" durch den französischen Religionswissenschaftler Ernest Renan von 1882.

Jochen

Brüning

Die Deuter der Daten Auch in den exakten Wissenschaften kommt es nicht nur auf Fakten, sondern auf deren Interpretation an an könnte glauben, dass der Begriff „Interpretation" in allen Wissenschaften geläufig ist und ein Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit bezeichnet: eine wohlbegründete, aber durchaus individuelle „Deutung" eines Sachverhaltes. Das ist jedoch nicht der Fall. Während Geisteswissenschaftler diese Erklärung wohl als erste Annäherung akzeptieren würden, sieht es in den Naturwissenschaften anders aus. So sagte der Astrophysiker Harald Lesch: „Viele Geisteswissenschaftler beschäftigen sich mit Bereichen, wo die Interpretation einen großen Raum einnimmt. Ich als Astronom kann hingegen sagen: Das sind die Fakten; da gibt es nichts zu interpretieren." Hier die Fakten, dort die Interpretation: eine Zweiteilung, die eine lange Geschichte hat. „Interpretation" stammt aus dem Lateinischen und bezeichnet eine Tätigkeit, die nur von einem „Interpreten" ausgeführt werden konnte, beispielsweise die Auslegung des Götterwillens durch die Priester oder die Anwendung der Gesetze durch die Richter. In beiden Fällen ging es nicht um unverbindliche Meinungsäußerungen, sondern um Entscheidungen von großer praktischer Tragweite. Ein Orakel konnte über Krieg oder Frieden, ein Richterspruch über Tod oder Leben entscheiden. Die Römer kannten noch viele andere Interpreten, wie die Göttin Juno, Jupiters Gemahlin, die als „Interpretin der Liebessorgen" für die Ehe zuständig war. Eine weitere Funktion der Priester ist als „interpretado romana" bekannt. Die Götter tributpflichtiger Völker wurden mit römischen Göttern gleichgesetzt, etwa Zeus mit Jupiter oder Hermes mit Merkur. Dieses Verfahren führte im römischen Reich zu einem ansonsten seltenen Religionsfrieden, weshalb es gerade heute wieder auf großes Interesse stößt.

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Jochen

Brüning

Eine für die Wissenschaftsgeschichte wichtige Tätigkeit stellte die „Interpretation der Natur" dar, ihre Beobachtung und Beschreibung, um ihr Verhalten vorherzusagen und sie zu beherrschen. Diese Interpretation war keiner Gruppe zugeordnet, doch sie ging aus von den Betroffenen, wie Seefahrer oder Bauern, deren Erfolg wesentlich von zutreffenden Wettervorhersagen abhing. Interpretation meinte hier also das Verständnis der Naturvorgänge nach deren Gesetzen, die objektive Prognosen ermöglichten. Das antike Verständnis des Interpretierens unterscheidet sich also deutlich von heutigen Auffassungen: der Interpret vollbringt eine bedeutende Leistung, indem er zwischen verschiedenen, häufig gegensätzlichen Bestrebungen den richtigen Ausgleich schafft, der beide Seiten zufriedenstellt. „Richtig" meint hier „wahr". Diese Wahrheit erschloss sich nach antiker Auffassung nicht jedem, obwohl sie für den, der „sehen" konnte, offen zu Tage lag. Für die Aufgaben des Interpreten war nur der dafür Begabte geeignet. Für die Wissenschaftsgeschichte ist das Weiterwirken der antiken Tradition von Bedeutung, denn auf zweifache Weise wurde die subjektive Kreativität des Interpretierens zu bändigen versucht. An die Stelle des Götterwillens trat die Heilige Schrift, deren richtige Interpretation von den Theologen in Anspruch genommen wurde. Die Interpretation der Natur wollte gleichfalls einen Weg zur Wahrheit eröffnen, indem der Naturforscher „das große Buch liest, das vor seinen Augen liegt - das Universum" (Galilei), also dieses „Buch" in eindeutiges Wissen überträgt, durch vollständige, vorurteilsfreie und nachvollziehbare Anschauung der Natur. Damit diese zwei Wege Zwangsläufigkeit gewannen, mussten sie methodisch erlernbar sein; beide Ansätze führten so zu verschiedenen Ausprägungen von Wissenschaft. Ihre politische Intention richtete sich auch gegen Standesvorrechte, so wie Luthers Prinzip der „reinen Schrift" postulierte, dass der wahre Sinn der Bibel sich jedem Gläubigen erschließt, ganz ohne privilegierte Interpreten. Es wurde versucht, die Interpretationen der Theologen und Naturwissenschaftler als verschiedene Aspekte derselben Wahrheit zu beweisen, aber mit geringer Wirkung. In Berlin „bewies" der Mathematiker Leonhard Euler im Einklang mit der Kirche, dass die Erde rund 6 000 Jahre alt sei. Die Gründung der Berliner Universität 1810 war ein wichtiger Schritt hin zum heutigen Wissenschaftssystem, das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ausbildete. Die Naturwissenschaften, vor allem die Physik, gewannen dabei so große Bedeutung für Technik und Industrie, dass viele die vollständige Beherrschung der Natur zum Greifen nahe sahen. Dementsprechend nahm die Neigung zu ihrer Interpretation ab. Die bloßen Fakten und ihre Verwertung überzeugten, bedurften keiner weiteren Deutung. Die Geisteswissenschaften hingegen entwickelten im Gegenzug die Interpretationskunst als eigene Disziplin, Hermeneutik genannt, die das subjektive Erleben des Menschen aus seinen objektiven Spuren, vor allem aus Texten, methodisch erschließen sollte. Damit gewann das Interpretieren zwar seine alte Freiheit zurück, verlor aber den Anspruch auf Objektivität. Unterdessen arbeitete die 1887 in Berlin gegründete Physikalisch-Technische Reichsanstalt unter Führung von Hermann von Helmholtz an der Vollendung der Physik. Aus ihren Untersuchungen entstanden aber mit der Allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantenmechanik neuartige Theorien. Sie stellten das bewährte Wissen der Physik radikal infrage, zumindest, wenn es um kleine Abstände und große Geschwindigkeiten ging. Die Phänomene ließen sich mit dem bewährten Begriffsapparat nicht mehr fassen. Damit wurde, trotz einer gewaltigen Fülle von Fakten, eine

Die Deuter der Daten

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neue Interpretation der N a t u r notwendig, die 1925 als Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik nach großen Anstrengungen einen Ausgleich schuf zwischen neu geschaffenen Begriffen und Rechenmethoden und der älteren Sprache der Physik. So konnten die Anhänger der alten u n d der neuen Begriffswelt versöhnt und die Einheit der Physik gerettet werden. D e r dafür zu entrichtende Preis war das Eingeständnis, dass die vollständige Anschauung der N a t u r für immer ein Traum bleiben muss, dass wir den Anspruch auf Erkenntnis der Wahrheit eintauschen müssen gegen die überprüfbaren Ergebnisse von Versuchsanordnungen und Auswertungsvorschriften. Die aus den neuen theoretischen und experimentellen Konzepten hervorgegangene Technologie beherrscht die Welt von heute. Sie verdient nicht nur einen erheblichen Anteil unseres Bruttosozialproduktes, sie schafft auch einen produktiven gemeinsamen Raum für Interpretationen der neu entstehenden Widersprüche in unserem Weltverständnis. Dabei werden die Grenzen zwischen Fachkulturen und Disziplinen durchlässig, kühne Interpretationen folgen einander in rascher Folge, werden aber genauso rasch der Rückbindung an die Erfahrung unterworfen. Man darf deshalb gespannt sein, welche neue Formen der „Streit der Fakultäten" (Kant) finden wird.

Heinrich Detering

Demut und Dolchstoß Beobachtungen zur Rhetorik Karl-Theodor zu Guttenbergs

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er A u s k ü n f t e über Karl-Theodor zu Guttenberg suchte, konnte auf seiner Internetseite bis vor kurzem Bilder mit Begleittexten finden, die seine Wertvorstellungen resümierten: „Politik als Dienstleistung zu begreifen, ist für mich ein Grundverständnis." O d e r : „Richtschnur meines Handelns ist Prinzipienfestigkeit und Grundsatztreue." Seit seinem Rücktritt sind die Bilder dieselben geblieben, die Sätze aber sind nun verschwunden. Dabei lohnt es, sie mehrfach zu lesen, zum Beispiel den letzten Satz. D e n n was ist eigentlich „Prinzipienfestigkeit"? Dasselbe wie Grundsatztreue. U n d was ist Grundsatztreue? Guttenbergs Satz, vorgetragen im Bekenntniston eines .Hier stehe ich, ich kann nicht anders', besagt der Sache nach nicht viel mehr, als dass die Grundlage die Basis des Fundaments sei. Doch entscheidend ist, was er rhetorisch signalisiert: dass dieser Sprecher sich aufrichtig und geradlinig äußere, ohne Umschweife und rhetorische Mätzchen. Das ist ein wesentlicher Zug in Guttenbergs Rhetorik: dass sie sich selbst unsichtbar machen will. O f t sind es darum nur kleine Wendungen, in denen sich ihre Absicht verrät, das Kalkül der Unschärfe. Wer ihm auf die Spur k o m m e n will, muss ins Detail gehen. Man muss kleinlich werden, um hier die großen Linien zu entdecken.

Ins Detail gehen „Der Vorwurf, meine Doktorarbeit sei ein Plagiat, ist abstrus", hat Guttenberg in seiner ersten Stellungnahme erklärt, und: „Ich bin gerne bereit, zu prüfen, o b bei über 1 200 F u ß n o t e n und 475 Seiten vereinzelt F u ß n o t e n nicht oder nicht korrekt gesetzt sein sollten". D e n Vorwurf

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Heinrich Detering

n i m m t er auf, i n d e m er ihn z u r U n k e n n t l i c h k e i t verzerrt. N i c h t n u r ist das W o r t „vereinzelt" angesichts des Vorwurfs stark u n t e r t r i e b e n - es ist vor allem das „oder", das den U n t e r s c h i e d verschleiert, auf d e n doch alles a n k o m m t . D e n n b e s t e h t nicht zwischen F u ß n o t e n , die lediglich „falsch gesetzt" sind, u n d solchen, die „nicht gesetzt" sind, derselbe U n t e r s c h i e d wie zwischen dem Goldring, d e n der Juwelier in die falsche Schublade gelegt hat, u n d dem, den er stillschweigend mitgehen lässt? Als diese Ausweichstrategie wenige Tage später angesichts der e r d r ü c k e n d e n Textbelege nicht m e h r zu halten ist, ändert G u t t e n b e r g an ihr erstaunlicherweise nichts. „Ich stehe dazu", sagt er über seine A r b e i t , „aber ich stehe auch zu dem Blödsinn, den ich geschrieben habe." D a s überraschendste Wort ist wieder das unauffälligste: „aber". D i e Versicherung, er stehe zu seiner Arbeit, bezieht sich ja s c h o n auf alles, was sie enthält. D a s „aber" suggeriert dagegen, dass n u r einzelne Passagen in Rede stünden, Blödsinn halt, wie er jedem M e n s c h e n unterlaufen kann. Das aber war gar nicht gemeint; im Gegenteil ging es darum, dass die Arbeit durchaus vernünftige Texte enthalte - die n u r eben nicht G u t t e n b e r g s eigene waren. Dieses Verfahren zieht sich leitmotivisch durch seine Ä u ß e r u n g e n bis z u r R ü c k t r i t t s e r k l ä r u n g . E r habe Fehler gemacht, gesteht er ein ums andere Mal, u n d Schwächen gezeigt; auch als „allzu menschlich" zeigt er sich gern. Vor dem Bundestag bedauert er, dass „man eine offensichtlich sehr fehlerhafte D o k t o r a r b e i t geschrieben hat". D a ist nicht n u r das „man" gemogelt, weil es den Sprecher rhetorisch jener V e r a n t w o r t u n g entzieht, die er d o c h ü b e r n e h m e n will; zweideutig ist auch das „offensichtlich": M e i n t es , o f f e n k u n d i g ' oder .anscheinend'? N i c h t anders der Satz von den „gravierenden handwerklichen Fehlern" - als habe er seine eigentlich guten G e d a n k e n n u r u n b e h o l f e n präsentiert.

Kalkulierte

Unscharfe

D e n H ö h e p u n k t dieser R h e t o r i k der kalkulierten U n s c h ä r f e markiert die R ü c k t r i t t s e r k l ä r u n g v o m 1. M ä r z , die - i m m e r h i n handelt es sich u m einen schriftlich sorgsam vorbereiteten Text eine genaue L e k t ü r e erlaubt: „Ich gehe nicht alleine wegen meiner s o fehlerhaften D o k t o r a r b e i t " , erklärt G u t t e n b e r g , „wiewohl ich verstehe, dass dies f ü r große Teile der Wissenschaft ein Anlass wäre. D e r G r u n d liegt im Besonderen in der Frage, o b ich den h ö c h s t e n A n s p r ü c h e n , die ich selbst an meine V e r a n t w o r t u n g anlege, noch n a c h k o m m e n kann [...]." Auf das „nicht alleine" folgt hier nicht das zu erwartende .sondern auch', s o n d e r n die preziose W e n d u n g „im B e s o n d e ren". N i c h t zwei unterschiedliche G r ü n d e werden damit genannt, s o n d e r n eigentlich n u r ein einziger. Das Besondere, das den Minister z u m Rücktritt zwingt, folgt aus d e m h ö c h s t e n A n s p r u c h , den er an seine V e r a n t w o r t u n g anlegt. H i e r k o m m t die G r a m m a t i k gleich mehrfach ins Schlingern - u n d erweist sich gerade so als rhetorisch sehr wirksam. Der R e d n e r erhebt keine A n s p r ü che an sich selbst, sondern (mit einem Ausdruck, d e n es im D e u t s c h e n gar nicht gibt) er legt A n s p r ü c h e an sich an: als handle es sich um Maßstäbe. U n d nicht gerecht werden will er ihnen, sondern „ n a c h k o m m e n " . A u c h dieser A u s d r u c k ist ungrammatisch; aber er ü b e r b l e n d e t die A n s p r ü c h e suggestiv mit den A u f g a b e n . Das Ergebnis der zweifachen semantischen I n k o n g r u e n z ist die U n t e r s t e l l u n g , dass die Kritiker den R e d n e r nicht nur davon abhalten, seinen eigenen A n s p r ü c h e n gerecht zu werden, s o n d e r n auch davon, seinen Aufgaben n a c h z u k o m m e n ; A u f g a -

Demut und Dolchstoß

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ben, an deren W a h r n e h m u n g er strengste M a ß s t ä b e anlegt, w e n n es auch andere als die ,der Wiss e n s c h a f t ' sind. D a s ist vielleicht der k e n n z e i c h n e n d s t e Z u g dieses Textes: dass er wie v o n selbst aus der D e m u t s g e s t e in den Angriff übergeht, dass er noch die Selbstkritik ins Eigenlob umbiegt, aber im G e s t u s der Bescheidenheit, Treue u n d V e r a n t w o r t u n g - „mir war i m m e r wichtig", sagt er über seine „Schwächen u n d Fehler", „diese vor der Ö f f e n t l i c h k e i t nicht zu verbergen." Aber ist nicht das Plagiat ein einziger Versuch, b e f ü r c h t e t e Schwächen u n d Fehler zu verbergen? Er fährt f o r t : „Deswegen habe ich mich aufrichtig [...] entschuldigt". Schon in seiner Bundestagserklärung hat er sich selbst die angemessene „ D e m u t " attestiert. N i c h t m e h r das Vergehen steht im Mittelp u n k t solcher Sätze, s o n d e r n n u r noch die Aufrichtigkeit u n d D e m u t dessen, der sie sagt. Wer aber so vorbildlich a u f t r i t t , der hat nicht kritische N a c h f r a g e n u n d Vorhaltungen verdient, s o n dern mindestens Mitleid u n d Respekt. N i c h t s anderes besagt der wiederum verklausulierte Satz, der diese Worte enthält. Er dürfe keinen Respekt erwarten, sagt G u t t e n b e r g , u n d beim ersten H ö r e n klingt das so, wie seine Kritiker es in seiner R ü c k t r i t t s e r k l ä r u n g gern h ö r e n möchten: als habe er einen moralischen A n s p r u c h verwirkt. Tatsächlich aber, das zeigt sich auf den zweiten Blick, sagt er genau das Gegenteil: „Wer sich f ü r die Politik entscheidet, darf, w e n n d e m so ist, kein Mitleid erwarten. Das würde ich auch nicht in A n s p r u c h n e h m e n . Ich darf auch nicht den Respekt erwarten, mit dem R ü c k t r i t t s e n t s c h e i d u n g e n so häufig entgegen g e n o m m e n werden." Kein Zweifel, das „darf auch nicht" zielt hier auf die harte politische Welt, die d e m Ehrenhaften leider das ihm eigentlich Z u k o m m e n d e verweigert; n o c h in der stoischen H a l t u n g aber beweist sich seine moralische Überlegenheit.

Kritik der Kritiker Die Kritik hingegen lenkt der Redner vollständig auf seine Kritiker zurück. Mit E m p ö r u n g sieht er, dass „die ö f f e n t l i c h e u n d mediale B e t r a c h t u n g fast ausschließlich auf die Person G u t t e n b e r g und seine Dissertation statt beispielsweise auf den Tod u n d die Verwundung v o n 13 Soldaten abzielt". Diesmal steckt die U n t e r s t e l l u n g im „statt": als habe die Ö f f e n t l i c h k e i t nur die Wahl gehabt, e n t w e d e r ü b e r G u t t e n b e r g s Verfehlungen z u debattieren o d e r ü b e r die Soldaten in Afghanistan - wie d e n n auch „wochenlang meine M a ß n a h m e n bezüglich der , G o r c h F o c k ' die weltbewegenden Ereignisse in N o r d a f r i k a zu überlagern schienen". Es ist, als wiese ein ertappter D i e b darauf hin, dass der H u n g e r in der Welt doch ein viel ernsteres P r o b l e m sei als sein kleiner Diebstahl. M e h r n o c h , perfider n o c h : G u t t e n b e r g formuliert seine B e h a u p t u n g so, als habe darüber hinaus jeder Angriff auf ihn faktisch auch diejenigen geschwächt, die er „die mir Anvertrauten" n e n n t . Was hier suggeriert wird, ist kein Schuldbekenntnis, s o n d e r n eine D o l c h s t o ß l e g e n d e . Ihr zufolge hat nicht der Minister unanständig gehandelt, etwa weil er gelogen u n d b e t r o g e n hätte, o h n e A n s t a n d sind vielmehr diejenigen, die ihm das v o r w e r f e n . D e n n sie sind damit unweigerlich zugleich der k ä m p f e n d e n Truppe in den Rücken gefallen, diesen „großartigen Truppen, die mir engstens ans H e r z gewachsen sind" (es ist das „engstens", das hier die Pose decouvriert): „ N a c h d e m dieser Tage viel über A n s t a n d diskutiert wurde, war es für mich gerade eine Frage des A n s t a n d e s , zunächst die drei gefallenen Soldaten mit W ü r d e zu Grabe zu t r a g e n " - das ist die

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Heinrich Detering

Dolchstoßlegende in ihrer abgeschmacktesten Form. Ü b e r die Linguistik der Lüge hat der Sprachwissenschaftler Harald Weinrich 1966 ein berühmtes Buch geschrieben. Karl-Theodor zu Guttenbergs Äußerungen zur Plagiatsaffäre führen eine Sprache der Scheinheiligkeit.

Udo Di Fabio

Staat und Recht: Ewige Bindung oder flüchtige Liaison ?

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ie Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Verfas-

sungsstaat zu sein heißt, politische Herrschaft in Form zu bringen und notfalls zu zwingen, Zuständigkeiten und Verfahren zu achten, in Institutionen zu handeln und die

Grundrechte der Bürger als feste Grenzen zu akzeptieren. Das Recht gibt dem Staat seine Struktur, der Staat selbst ist eine institutionelle Erfindung, um politische Herrschaft zu konzentrieren und nach Vernunftmaßstäben zu rationalisieren. So etwas liest man in Einführungen zum Grundgesetz und sollte es als politisches Bildungsgut

pflegen. Aber im Zuge der großen Finanz- und Staatsschuldenkrisen, in der Zeit der Europäisierung und Internationalisierung klingen solche Worte doch eigenartig unangemessen, irgendwie gestrig. Was gilt denn noch das klassische Staatsrecht, das Recht überhaupt? Was gelten denn die Idyllen der territorial begrenzten Demokratie, wenn das gemeinsame Haus Europa Risse zeigt, wenn ein aus den Fugen geratenes System globaler Interdependenzen das politische Handeln unerbittlich diktiert? Es gibt Pragmatiker, die halten in der Tat die feste Bindung politischer Herrschaft an das Recht für einen Ladenhüter, einen Bremsklotz. Ist sie nicht eine typische Verstiegenheit des deutschen Michels, der davon träumt, dass auch in Zeiten des größten Umbruchs alles nach Regeln, alles nach Vorschrift geht? Die Betriebstechniker des politischen Systems dagegen haben weiß Gott andere Sorgen. Jahrzehnte ließen sie die Wirtschaft frei, um Weltoffenheit, friedliche Zusammenarbeit und vor allem Wohlstand zu fördern. Der allgemeine Beifall dafür war nicht unberechtigt. Denn mit Öffnung, Deregulierung und Globalisierung ist die einstige Enge nationalstaatlicher Politik erfolgreich gesprengt, sind Wohlstandsgewinne auch für Regionen erreicht worden, die seit Generationen in Armut lebten. Doch hat das Augenmaß gestimmt? Vieles deutet darauf hin,

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Udo Di Fabio

dass wir heute wie Goethes Zauberlehrling dastehen, ein Lehrling, der mit der Entfesselung der Finanz- und Devisenmärkte und auch mit dem Verzicht auf die Solidität staatlicher Haushaltswirtschaft Geister gerufen hat, die er nicht länger bändigen kann, und weit und breit kein Meister in Sicht. Die Techniker des dienenden Pragmatismus warten auf keinen Meister. Sie lassen das Unbegreifbare und Unentrinnbare der Sachzwänge einfach wirken, sie fügen sich in das Muster: reagieren statt regieren. Ihr Kalkül verdankt sich der politischen Erfahrung, dass es irgendwie immer weitergeht. Unweigerlich wird irgendwann hinter dem Rauch der Komplexität das Neue hervorkommen und dann sollte man es doch mit freien Händen, ohne Fesseln, ergreifen und gestalten können. Was soll hier die alte Verbindung von Staat und Recht eigentlich bringen? Staat und Recht stehen schon jeweils für sich genommen in einer kategorialen Kritik. Der Staat darf zwar als Realität expandieren und als Begriff fortexistieren, wobei wir gut europäisch dazu nur noch „Länder" sagen sollen, aber er wird zunehmend seiner Idee entkleidet. Auch das Recht nimmt in seiner Fülle zu, verliert aber hier und dort seine ernsthafte Qualität, jene Qualität, einen eigenen Logos der Rationalität zu entfalten. Die Meinungen über den Staat sind geteilt. Für alle groß vorausahnenden Meisterdenker des Kommenden hat Carl Schmitt die Epoche der Staatlichkeit kurzerhand abgewickelt, seltsamerweise erst nach dem Ende der nationalsozialistischen Staatsdementierung. Vor allem Europapolitiker machen sich über die Staatsfixiertheit deutscher Juristen namentlich des Bundesverfassungsgerichts lustig, dem sie vorwerfen, es verharre in der Denkwelt 19. Jahrhunderts. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama wirft denselben Deutschen allerdings vor, sie seien staatsvergessen und betrieben die europäische Integration verbissen als ein „Anti-Souveränitätsprojekt", merkwürdig fixiert auf die Lösung der Probleme des 20. und nicht der des 21. Jahrhunderts, die weltweit in dem Bau und der Erhaltung von demokratischen Rechtsstaaten lägen. Auffällig ist immerhin, wie schlecht man auf den Staat als zentrale Institution im politischen System verzichten kann. Nach den verschiedentlich erteilten Abschieden auf den Staat kommt es rezidivierend dann zu einer Wiederentdeckung desselben: Renaissance, Metamorphosen, Abdankungen, Abenddämmerung und Wiedererstarken werden ihm frank und frei in recht schneller Folge bescheinigt. Und will Europa vielleicht nicht doch Staat werden, wenn von Vereinigten Staaten die Rede ist? Die Staatstheorie richtet im Wirrwarr der Diagnosen nichts aus. Sie ist selbst in der Defensive. Ihre Legitimität changiert mit dem jeweiligen Blick auf den Gegenstand. Einige wollen sie allenfalls als Verfassungstheorie zulassen, aber auch das scheint angesichts der internationalen Vernetzung und Pragmatisierung politischer Herrschaft ein womöglich nur ephemerer Vorschlag. Während es vor einigen Jahren noch möglich schien, auf den Staat kategorial zu verzichten, wenn nur Recht herrsche, also aus dem europäischen Staatenverbund beispielsweise der Verfassungsverbund würde, so zeigen manche Beiträge heute, worum es wirklich geht. Auch das Recht gerät mit dem Staat ins Rutschen. Verliert der Verfassungsstaat seine Bedeutung, so schwindet auch jene Überzeugung des 19. Jahrhunderts, dass politische Macht nur rechtsförmlich ausgeübt werden dürfe. Intellektuell sehr reizvoll und klar hat diese Einstellung vor kurzem Karl Heinz Bohrer auf den Punkt gebracht, in der Zeitschrift Merkur: „Damit ist nun die eigentliche Crux des provinziellen, sich nicht verantwortlich fühlenden Bewusstseins genannt: die irrige Auffassung von einem Recht, das über der Politik schwebt, die entpolitisierte Interpretation des Völkerrechts. Es ist

Staat und Recht: Ewige Bindung

oder

flüchtige

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darüber hinaus aber eine spezifisch deutsche Tradition, das Recht als quasi metaphysisch begründete Instanz, als eine der Realität entfremdete, ,innerlich' gefasste, absolute N o r m zu verstehen u n d nicht als das, was das Recht in demokratieerfahrenen westlichen Zivilisationen i m m e r schon war: eine politisch fassbare und funktionierende relative Größe - w o h l g e m e r k t in Ländern mit einer langen politischen Rechtsordnung." Recht als relative Größe: Relativ w o z u ? Die Beispiele Bohrers richten sich mehr gegen das Völkerrecht, gegen Menschenrechtsrigorismus, er betont die Demokratie als Quelle eines Rechts, das eben relativ zur demokratischen Mehrheitsentscheidung stehe. Damit ist er dem G r u n d g e s e t z ganz nahe, aber sein Plädoyer für den Willen zur M a c h t ohne provinzielle Kleinlichkeit der Rechtsbewahrer, hat auch eine gefährliche Seite. Der Verfassungsstaat setzt den Willen zur politischen Einheit und die Fähigkeit zu konzeptionellem Handeln gewiss voraus; wenn es daran mangelt, geht ein der Machtentfaltung Form und Grenze setzendes Staatsrecht womöglich ins Leere, wird seinerseits dysfunktional. Doch gleichwohl steckt ein Fehler in vielen feuilletonistischen Analysen. Sie suggerieren, es müsse n u r eine Persönlichkeit wie sagen wir H e l m u t Schmidt wiederkehren, als Weltökonom deutsche Interessen mit kantischer Pflichtethik und weltstaatlichem Universalismus verbindend. A b e r die siebziger Jahre entsprechen nicht unserer Zeit. Sie haben zudem - häufig genug auch gegen den Willen des hanseatischen Kanzlers - einiges verursacht, was heute drückende Probleme bereitet. Die falsche Vorstellung, wonach die N a t i o n e n des Westens Wirtschaftswachstum durch Globalsteuerung, Ausgabenprogramme, Geldpolitik und Liberalisierung der M ä r k t e unbegrenzt fördern könnten, hat sie heute zu Getriebenen einer von ihnen selbst entfesselten Dynam i k gemacht. Vielleicht wäre diese D y n a m i k im Weltfinanzsystem noch mit einer neuen globalen Finanzordnung zu beherrschen, wäre der Westen, wären London und Frankfurt, N e w York u n d Tokio mit ihren öffentlichen Schuldenlasten nicht längst zu Abhängigen geworden, die vielleicht m o r g e n schon in Peking keine Menschenrechte mehr einfordern, sondern um Kauf einiger misstrauisch beäugter Staatsanleihen bitten. Viele Menschen sind heute überzeugt, dass die in Angriff genommene Lösung der europäischen Staatsschuldenkrise durch gemeinsame M a ß n a h m e n zur Verringerung der Refinanzierungskosten einzelner in der Bonität zweifelhafter Staaten des europäischen W ä h r u n g s r a u m e s gegen Buchstaben und Geist der europäischen Verträge verstößt. Das bestreiten andere und weisen darauf hin, dass die H i l f s m a ß n a h m e n jedenfalls für Portugal und Irland den Weg zurück zum Vertrag bedeuten. Solch ein Meinungsstreit k o m m t vor unter Juristen. Hellhörig muss man aber werden, wenn auf die Vorhaltung eines Vertragsbruchs entgegnet wird, dass die Einhaltung der Verträge praktisch nicht möglich sei, ohne dasjenige zum Einsturz zu bringen, was die Bestimm u n g e n zur W ä h r u n g s u n i o n erreichen wollen: einen gemeinsamen W ä h r u n g s r a u m . „Fällt der Euro, fällt Europa." Solche politischen Richtungsformeln sind völlig legitim. N u r was sollen eigentlich bei dieser Gleichung A r g u m e n t e des Rechts noch bewirken? In der zweiten Reihe wird der Ton deutlicher: Wer in der Stunde der N o t auf Juristen höre, Parlamente erst mühselig beteiligen müsse, der könne nicht entschlossen, der könne nicht zügig handeln, der sei politisch handlungsunfähig. M e h r noch. Wer sich von Rechtsprinzipien wie einem Verbot gesamtschuldnerischer H a f t u n g s ü b e r n a h m e oder der politischen, auch fiskalpolitischen U n a b h ä n g i g k e i t der Europäischen Zentralbank besonders beeindrucken lasse, entspreche nicht dem jetzt gefragten Typus von „European Leadership", der tauge nicht als weitsichtiger Staatsmann und kühner A r c h i t e k t Europas: Wer rechtlich denke, sei provinziell. Es gehe um die Bildung von Macht, so

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erläutert ein Diplomat, europäische Zentralmacht, damit wir in einer dynamischen Welt unseren „way of life" verteidigen können. Dies ist ein in den Zwischentönen unüberhörbar defensives, sich auf längere Sicht abschließendes Projekt. Die Rede ist vom sicheren Hafen Europa angesichts von Stürmen der globalen Dynamik. Das Projekt ist jedenfalls eines, das wie beim Bau einer Trutzburg die Generierung von Mächtigkeit zum vorherrschenden Prinzip macht und nicht etwa zentrale Werte der individuellen Freiheit, der lebendigen Demokratie, des sozialen Rechtsstaates, jener auf ewig geschworenen Bindung aller politischen Macht an das Recht. Zu solch politischen Erwägungen könnte man einiges sagen. Zum Beispiel zu der These, dass es heute an den großen Architekten fehle. Die medial gut darstellbaren Machtworte, die rhetorisch das Gemüt ergreifenden Visionen oder die Attitüde des entschlossenen Machers, gehören gewiss zum politischen Prozess wie Salz zur Suppe. Aber hat nicht das Regieren aus dem medial präsentierten Augenblick heraus zu genau den Krankheiten geführt, die jetzt mit demselben Wirkstoff wieder kuriert werden sollen? Deutschland hatte bereits seit den sechziger Jahren eine verfassungsrechtliche Schuldenbremse, die bei gebotener Auslegung den Bund verpflichtete, bei guter Konjunkturlage Kredite zurückzuführen und nicht nur die Neuverschuldung geringer ausfallen zu lassen als bislang. Nicht anders das europäische Vertragsrecht: Die Aufnahmekriterien zur Währungsunion und die Stabilitätskriterien wurden von Politikern lasch gehandhabt oder bewusst aufgeweicht, getragen von einem Selbstverständnis, das stolz darauf ist, sich allenfalls durch wirtschaftliche, gewiss aber nicht rechtliche Sachzwänge von der Durchsetzung des politisch Gewollten abhalten zu lassen. Aber solch schiefem Pragmatismus liegt ein Politikverständnis zugrunde, das sich zwar modern und streng sachlich geriert, aber längst nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist, das mehr Sachprobleme erzeugt als löst. Dahinter steht ein verzerrtes Bild von Gesellschaft, das auch die Leistung des Rechts falsch belichtet. Für manch einen hat das Recht nur noch eine instrumentelle Bedeutung. Wer politisch steuern will, erlässt Gesetze, Verordnungen, begründet damit Pflichten, Leistungsansprüche oder gibt Verhaltensanreize. Recht soll politische Gestaltung ermöglichen, nicht verhindern, lautet das Credo. Gesetzgeber, Verwaltungsbeamte oder Richter sind insofern nur Fachleute für Anwendungsfragen, nicht für Sinn- und Systemfragen. Daran ist einiges richtig, aber die Ausschließlichkeit irritiert. Mit dem Finger wird dabei auf eine Gegenposition gezeigt, die vermutlich ebenso falsch ist wie die eigene: auf diejenigen, die dem Recht eine geradezu mythische Richtigkeitsgewähr und tiefgründige Weisheit zutrauen, die aus Grundrechten oder Verfassungsprinzipien ermitteln wollen, was die Welt im Innersten zusammenhält und die das gesamte politische Geschehen nur noch als Konkretisierung von Grundrechten und Staatstrukturprinzipien deuten wollen. Derartige Uberschätzungen des Vernunftpotentials von speziellen Funktionsbereichen der Gesellschaft gibt es auch im Verhältnis von Politik zur Wirtschaft oder zur Wissenschaft. Die Wirtschaft wird von den meisten Politikern, angefeuert durch die öffentliche Meinung, als Instrument zur Durchsetzung politischer Ziele, vor allem zur Herstellung von Wohlstand betrachtet. Die Globalsteuerung der frühen Siebziger war im Grunde ein um Deficit-Spending erweiterter Neo-merkantilismus. Die Feindbilder waren und sind hier die Neoliberalen, die dem Markt fast alles an Weisheit und Wohltat zutrauen, in einem Ausmaß, das etwa dem entspricht, was ihm seine Gegner an Gemeinheiten und Ungerechtigkeiten unterstellen. Bei der Wissenschaft ist es entsprechend. Die Politik hat sich unter wissenschaftlicher Anleitung, deren Erkenntnisse sie allerdings auch immer zweckgerichtet kanalisierte, in eine finanzwirtschaftliche Malaise hineinmanövriert, so dass sie

Staat und Recht: Ewige Bindung oder flüchtige Liaison?

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jetzt womöglich gar nicht mehr auf Sachverstand hören will: Was interessieren denn die Statements führender Volkswirtschaftler oder der unabhängigen Bundesbank, wenn die Ö k o n o m e n noch nicht einmal die Weltfinanzkrise vorausgesehen haben? Das wahre Bild an der Schnittstelle der Funktionssysteme ist komplizierter. Es zeigt ein unwegsames Gelände für die üblichen Feldzüge der politischen Moral, die kognitiv so unglaublich entlasten. D i e moderne Gesellschaft ermöglicht individuelle Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz, weil sie die großen sozialen Funktionsbereiche wie Wirtschaft und Wissenschaft, Recht und Religion, aber eben auch die Politik frei sein lässt, nach ihren Gesetzmäßigkeiten und Regeln zu operieren. Keine Freiheit ist dabei unbegrenzt. Eigentum verpflichtet. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung. A b e r die Grundrechte zielen eben doch auch immer auf Wahrung von Funktionsgrenzen. D i e Wissenschaft, die Religionsgemeinschaften, die Marktwirtschaft, die politische Willensbildung und die Gründung von Parteien, all das muss große Freiräume genießen, weil erst dann eine Gesellschaft der Freien sich entfalten kann, weil durch diese und in diesen Funktionssphären sich der Einzelne - darauf k o m m t es an - in seiner Persönlichkeit zu entfalten vermag. O h n e freie Presse und freie Wissenschaft bleiben wir dumm, ohne Marktwirtschaft werden wir arm an materiellen Ressourcen, ohne Rechtsstaat und D e m o kratie werden wir geduckt und ängstlich, zu O b j e k t e n anonymer Mächte, ohne den Sozialstaat verzweifeln die Schwachen an der Idee von Marktwirtschaft und Freiheit. D i e Politik ist nur ein Funktionssystem der modernen Gesellschaft, auch wenn sie sich für das Ganze hält und nach allgemeinem Verständnis ihre Besonderheit darin findet, verantwortlich für das G a n z e zu zeichnen. Sie kann gleichwohl nicht das Ganze sein, weil sonst die Voraussetzung einer auf individuelle Freiheit und Ausdifferenzierung

in Funktionssystemen

gründenden

modernen Gesellschaft nicht mehr funktioniert, was vor allem auch die Politik als eigenes System zu spüren bekäme. Jede Diktatur der Neuzeit, die sich aus den Fesseln von Bürgerwillen, Markt und Recht befreit hat, wurde irgendwann von überlegenen Kräften hinweggefegt oder ist durch Auszehrung implodiert. Die D e m o k r a t i e n des Westens, die zu jenen überlegenen Kräften zählten und (wie Gaddafi spüren konnte) i m m e r noch zählen, sollten verstanden haben, dass die Bindung politischer Herrschaft an Wählerwillen, die Unterwerfung unter die G e b o t e kaufmännischer Solidität in Haushaltsfragen, die Bindung an das R e c h t , dass all das die Demokratien überlegen macht und sie länger, vielleicht ewig leben lässt, wenn sie nicht und sei es in der sanftesten F o r m den Sirenengesängen einer Totalität des Politischen folgen. Das alles wissen wir nicht erst seit Niklas Luhmann, sondern seit Paulskirchenverfassung und Grundgesetz. D e m o k r a t i s c h e Mehrheit darf nicht alles. Jede Freiheit, auch die demokratisch ausgeübte, braucht Grenzen. Sie werden vor allem durch kluge Selbsterkenntnis gezogen, aber auch durch äußere G r e n z e n , aus den Reaktionen anderer M e n s c h e n oder denen anderer Funktionssysteme wie Märkten oder R e c h t . Solche G r e n z e n erfährt das sich selbst verwirklichende Individuum, aber auch ganze selbstbestimmte Demokratien, wenn sie von Recht, Macht oder Markt mehr oder minder drastisch auf etwas hingewiesen werden. Eine verlorene Wahl ist ein solcher Hinweis, ein negativ ausfallendes Gerichtsurteil ein anderer oder steigende Zinsen für Anleihen oder die Herabstufung der Bonität eines Staates durch eine Ratingagentur. Wenn sich solche Grenzziehungen häufen, dringt machtbewusste Politik auf Lockerung der Fesseln, dann verlagert man Entscheidungen hinein in das System intergouvernementalen Regierens, um sie den Unwägbarkeiten des partikularen Populismus zu entwinden. D o c h lockern sich dadurch auch der Zugriff der öffentlichen Meinung und der des Wählers. In einem anderen Fall erwägt man vielleicht die

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Verfassung zu ändern, um ein störrisches Verfassungsgericht auf die politisch gewünschte Bahn zu bringen, oder man versucht, sich dem Würgegriff der Anleihemärkte und ihrer Ratingagenturen durch allerlei Maßnahmen wie Ankäufe der Staatsanleihen durch die eigene Notenbank oder eine neue gemeinsame Staatsfinanzagentur und eigene Ratingagenturen zu entziehen. Funktionssysteme wie die Wirtschaft oder eben auch die Politik stoßen an Grenzen und wollen sich damit nicht abfinden. Hier schlummert das Kernproblem des 21. Jahrhunderts für die Staaten des Westens. Wollen wir jetzt auch noch die Politik entgrenzen, nachdem wir bereits die allgemeine Handlungsfreiheit von sittlichen Bindungen, Teile des Marktes von der Ordnung staatlicher Hoheit und den Regeln sozialer Marktwirtschaft entbunden haben? Es kann durchaus so sein, wie ein Buchtitel zum sechzigjährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts suggeriert, dass auch die Rechtsprechung entgrenzt ist, obwohl das mehr auf andere und vor allem internationale Gerichte zutrifft, läuft doch Karlsruhe mit seinen Bindungen der öffentlichen Gewalt nur mühsam den Entgrenzungen politischer Herrschaft oder auch anderer Gerichte hinterher. Karlsruhe konterkariert, repariert oder (mit den Worten seiner Kritiker) rechtfertigt die hier und dort zu erkennenden Erosionen demokratischer und sozialer Rechtsstaatlichkeit. Das Problem der Entgrenzung von Teilfunktionen der modernen Gesellschaft ist entstanden, weil alles so wunderbar funktioniert hat und deshalb im modernen Linearitätsdenken des „Immer-mehr" und „Immer-weiter" wir fast alles überzogen haben, auch unsere Kreditlinien. Freiheit und Wohlstand, Frieden und Sicherheit entstanden durch die Entfaltung aller Potentiale des wirtschaftlichen, des politischen und des wissenschaftlichen Systems. Alle Teilfunktionen der Gesellschaft wurden zu Höchstleistungen getrieben, wobei in einem Klima indifferenten, ungebundenen Freiseins die intermediären gesellschaftlichen Kräfte wie Familien, Vereine, zivile und religiöse Gemeinschaften schrumpften und die Zweckrationalismen wirtschaftlicher und bürokratischer Denkweisen in Führung gegangen sind. Von der Wissenschaft wurden immer mehr Antworten verlangt, dem Recht immer größere Steuerungslasten aufgebürdet, die Wirtschaft muss wachsen um beinah jeden Preis. Die verselbständigten Funktionssysteme wurden immer selbstbezüglicher, immer gesteigerter in ihren Leistungen. Aber könnten sie nicht am guten Schluss versagen, überkandidelt, überfordert, losgelöst aus den gesellschaftlichen Kopplungen, viel zu weit entfernt von den Einsichten der Alltagsvernunft? Könnte nicht die westliche Welt mit ihrem rechtlichen und sozialtechnischen Paternalismus irgendwann wie der Markt für Finanzderivate enden? Steht die große Entdifferenzierung vor der Tür? Vielleicht geht es nicht um das Ende der Geschichte, sondern um das Ende der Neuzeit. M a n würde gerne glauben, dass die Raffgier junger Investmentbanker allein oder doch maßgeblich an der Weltfinanzkrise schuld war und alles nur geschieht, damit die Reichen immer reicher werden, was an vielen Stellen tatsächlich so sein mag. Mich besorgt es im Rückblick aber noch mehr, wenn von der Angst in den Augen der Banker berichtet wird, als sie bei Repräsentanten eines Staates, den sie gerade noch als Institution des 19. Jahrhunderts milde belächelt hatten, vorstellig wurden, weil ihr System zu kollabieren drohte, ein Renditesystem, das die Bodenhaftung kaufmännischer Kalkulierbarkeit verloren hatte und das von den Staaten des Westens nicht etwa nur hingenommen, sondern - seien wir doch ehrlich - befeuert worden war, um Wachstum und Wohlstand zu generieren. Könnte jetzt im Zuge einer allmählichen, aber tiefgreifenden Entdifferenzierung der modernen Gesellschaft auch das Recht seine Unabhängigkeit verlieren, so wie die Wissenschaft schon

Staat und Recht: Ewige Bindung oder

flüchtige

Liaison?

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in Drittmittelprojekten und Exzellenzinitiativen u m ein kleines Stück ihrer Eigenwilligkeit gebracht ist? Wird das Recht wieder stärker Diener einer Macht, die ebenfalls nur Getriebene ist? Europa, die Vereinigten Staaten und Japan, der Westen insgesamt steht am Scheideweg. Wenn heute gesagt wird, der Staat sei eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, wird viel zu kurz gegriffen. Die Vorstellung, politische Macht mit rechtlicher Form den Maßstäben der Vernunft zugänglich zu machen, ist mindestens ein halbes Jahrtausend alt. N i m m t man die Geburtsstunde der rationalistischen Neuzeit als Maß, ist diese Idee - denkt man an Thomas von Aquin, an Augustinus, Cicero oder Aristoteles - im Grunde so alt wie das rationale Denken selbst. Lösen wir Staat und Recht und Vernunft voneinander, dann fehlt uns jeder Kompass für die humane und kluge Gestaltung des 21. Jahrhunderts. Als vor geraumer Zeit die Frankfurter Allgemeine Zeitung ihre Seite „Staat und Recht" vorstellte, fand ich die Namensgebung etwas zu konservativ, waren wir doch alle in der rechtswissenschaftlichen C o m m u n i t y längst im vernetzten polyzentrischen Mehrebenensystem angelangt. Begriffsmoden kommen und gehen, klassische Fragestellungen wie die des Verhältnisses von Staat und Recht dagegen sind deshalb klassisch, weil sie über den Tag hinausweisen und Existenzfragen des Menschen in allgemein gültige Form fassen.

Alexander Dilger und Thomas Ehrmann

Die Universität in Circes Bordell Zwischen staatlicher Dauerreform und ineffizientem Pseudomarkt

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ie amerikanischen Organisationsforscher Dennis Gioia und Kevin Corley beschreiben f ü r nordamerikanische Business Schools, wie Ranglisten eine Transformation von Substanz zu Image beziehungsweise von wissenschaftlicher Forschung und Lehre zum Optimieren der eigenen Erscheinung und des Rangplatzes in populären Medien bewirken. Die Beschreibung dürfte beispielhaft für das dortige Hochschulsystem insgesamt sein. Die Wirkungskette ist klar. Schulen und Universitäten sichern über gute Rankingplätze ihre eigene Attraktivität für gute Studierende. Deshalb sind die Absolventen gut platzierter Institutionen für prestigereiche U n t e r n e h m e n bei ihrer Rekrutierung z u r Besetzung gutbezahlter Stellen interessant, was wiederum das Interesse von Studienplatzbewerbern erhöht und eine stärkere Selektion unter diesen erlaubt. Zugleich lassen sich über interessierte Firmen und gutverdienende sowie einflussreiche Alumni zusätzlich externe Finanzmittel erschließen. Gioia und Corley vergleichen die Wirkung von Rankings mit dem Einfluss von Circe, die ihre O p f e r erst umgarnt und dann in Tiere verwandelt. D e n n die Rankings versprechen zwar anfangs den Hochschulen, zumindest den erfolgreichen, große Vorteile und reizen sie damit zu ernsthaften Anstrengungen und sinnvollen Verbesserungen an. Auf mittlere Sicht verselbständigen sich die Rankings und verwandeln den Charakter von Hochschulen grundsätzlich und negativ, hinsichtlich ihrer Wissenschaftsorientierung oder auch nur, was den ehrlichen Umgang mit einfachen Wahrheiten angeht, die nicht optimal f ü r den eigenen Rangplatz in populären Medien sind, die ihrer eigenen Absatzlogik folgen. Diese Entwicklung hat in den Vereinigten Staaten etwas Tragisches, weil das Ranking-Marktmodell f ü r Hochschulen zu schwerwiegenden Problemen führt, die weder der Markt noch die

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Alexander Dilger und Thomas

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Rankings oder gar eine einzelne Hochschule für sich einfach korrigieren können. Hierzulande erleben wir den Versuch einer Nachahmung dieser Entwicklung hingegen als Farce. Denn der Staat will hier für das stark staatlich geprägte hiesige Hochschulsystem ohne Not einzelne Elemente des amerikanischen Systems, die schon dort problembehaftet sind und hierzulande kaum einen Sinn ergeben, mehr schlecht als recht kopieren. Zu den pseudomarktlichen Reformen zählen die Akkreditierungspflicht für Studiengänge, Befristung von Nachwuchsstellen auf maximal zwölf Jahre, Befristung für neu berufene Professoren, Diplomverbot bei Einführung von Bachelor und Master, Exzellenzuniversitäten, Hochschulpakte, Hochschulräte, leistungsorientierte Mittelvergabe, Studienbeiträge in Höhe von 500 Euro, W-Besoldung und Zielvereinbarungen und so weiter. Besonders einfach lässt sich die hiesige Fehlanwendung an der Drittmittelbelohnung und -bestrafung (bei fehlender Einwerbung) erläutern. Erstens belohnt sie nicht den Output, sondern den Input der Forschung. Zweitens wird in der Regel nicht nach den Quellen der Drittmittel unterschieden. Echte Forschungsförderung, zum Beispiel durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) wird nicht anders bewertet als kommerzielle Auftragsforschung, die in öffentlich subventionierter Konkurrenz zu privaten Anbietern stattfindet und deren Ergebnisse privat angeeignet werden oder sogar ganz geheim bleiben. Drittens soll die Betonung von Drittmitteln die Folgen der generellen Unterfinanzierung des Hochschulsystems kaschieren. Der Pseudomarkt droht die Hochschulen sowie ihre Erfolge in Forschung und Lehre stark zu beeinträchtigen. Die einzelnen Reformen, deren naive Motivation oft deutlich zu erkennen ist, passen nicht zusammen und schon gar nicht zu den bestehenden Hochschulstrukturen. In jedem Fall bleibt der große staatliche Einfluss einschließlich der überwiegenden Finanzierung durch den Staat ein konstitutives Element nicht nur des Hochschulsystems. Demgegenüber sollen die meisten Teilreformen inhaltlich und vor allem rhetorisch den Markt simulieren. In einem System, dessen Hauptfinanzierung cum grano salis auf der Durchschleusung von Studierendenmassen basiert, wird sich Leistung eher weniger lohnen, wie auch Nichtleistung nicht wirklich bestraft wird. Heute sind die hiesigen Veränderungen nur dem Image nach marktorientiert, tatsächlich sind sie jedoch in ihrer Ursache, Wirkung und Substanz staatlich. Sie sind dies jedoch in einem negativen Sinne, der die behaupteten Nachteile des Staates tatsächlich exemplifiziert, nur anders als behauptet. Die verantwortlichen Politiker könnten das Hochschulsystem substantiell verbessern, wenn sie nur wollten und vor allem dieses System bzw. die Funktionsweise von Wissenschaft verstehen (wollen) würden. Das ist jedoch offensichtlich nicht wirklich in ihrem Interesse, da die Logik des deutschen politischen Systems solche Politiker nicht belohnt und dafür qualifizierte Personen auch nicht (mehr) zu Politikern werden lässt. Verbesserungen oder auch Verschlechterungen der Hochschulen wirken nur mit einer erheblichen zeitlichen Verzögerung, die weit über eine Wahlperiode hinausgeht. Wenn sich endlich Wirkungen einstellen, erinnert sich kein Wähler mehr an einen der vielen Verantwortlichen. Ständige Reformankündigungen finden hingegen ein reges Medieninteresse, unabhängig von ihren realen Folgen oder auch nur der Realität ihrer Umsetzung. Dietrich Schwanitz hat dies einst für das Nachbargebiet der schulischen Bildung formuliert: „So wird die Schule, die langfristige Planungssicherheit braucht, durch ständige Phantomerfindungen in U n r u h e gehalten." Damit gibt der Staat aber auch keinen langfristig stabilen Rahmen vor und verkürzt die Frist seiner Finanzierungszusagen immer mehr. Investitionen, sei es in einen neuen Professor, dessen

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Forschungsprogramm, die Einstellung eines Doktoranden bis zur P r o m o t i o n oder auch die U m s e t z u n g der aktuellsten Reform, binden stets mittel- bis langfristig finanzielle Mittel und führen bestenfalls erst nach etlichen Jahren zu Erfolgen. Dies senkt die Attraktivität solcher Investitionen, die zugleich riskanter werden, so dass sie zunehmend unterbleiben oder selbst immer kurzfristiger angelegt sind. Dadurch verschwinden die Risiken jedoch nicht, sondern werden auf schwächere Gruppen abgewälzt, auf die Wissenschaftler mit befristeten Stellen oder nur semesterweise angestellte Doktoranden. Das wiederum macht diese Positionen weniger attraktiv, und die besten Wissenschaftler wenden sich entweder ganz von den H o c h s c h u l e n ab oder richten

sich ihrerseits auf kurzfristige Erfolge aus.

Zugleich aber stellt die immer kurzfristiger und damit auch kurzsichtiger agierende Politik mit ständig neuen R e f o r m e n für die H o c h s c h u l e n auch eine große Chance dar. D a die Politik nicht wirklich an Reformen der Hochschulen interessiert ist, lassen sich die vielen Verlautbarungen recht gut aussitzen, zumal die nächste Reformankündigung durchaus in der R ü c k n a h m e der letzten bestehen kann. Die behaupteten und zum Teil kurzfristig tatsächlich gesetzten Anreize lassen sich getrost ignorieren, da weder ihr Befolgen nachhaltig belohnt n o c h ihr Nichtbefolgen sanktioniert wird. Es k o m m t also darauf an, wie Odysseus den Kurs zu halten, im Falle der H o c h s c h u l e durch möglichst gute Forschung und Lehre in Richtung echter Erkenntnis. N e b e n C i r c e eignen sich als Metapher aus der „ O d y s s e e " dafür auch Skylla und Charybdis. Man muss sich zwischen zwei Ü b e l n hindurchlavieren, wobei Odysseus näher am Seeungeheuer Skylla, welches auch als Leviathan beziehungsweise der Staat gesehen werden kann, navigierte, selbst wenn es ihn manchen Gefährten kostete, um nicht mit dem ganzen Schiff in dem chaotischen Strudel von Charybdis unterzugehen, was hier für die pseudo-marktlichen Reformversprechen steht. Wer es sich leisten kann und listenreich genug ist, was auf die meisten Professoren zutreffen dürfte, sollte also einfach seinen J o b machen und seiner Berufung folgen, ernsthaft forschen und lehren sowie den N a c h w u c h s allein nach wissenschaftsimmanenten Gründen auswählen. D i e Reformen sollten einfach ausgesessen oder höchstens opportunistisch an passender Stelle genutzt werden. Wenn sich beispielsweise D o k t o r a n d e n nicht mehr sicher über die Dauer ihrer P r o m o t i o n hinweg finanzieren lassen, können trotzdem semesterweise die stets neuen T ö p f e für dies oder das angezapft werden. Außerdem bietet sich die Konzentration auf einige wenige besonders gute Nachwuchswissenschaftler an, was die Wissenschaft stärker befördern dürfte als die politisch propagierte quantitative Steigerung an P r o m o t i o n e n . Wie also ist der aktuellen farcehaften Bedrohung durch Circe zu begegnen? D i e passende Antwort des modernen Odysseus hat J a m e s J o y c e gegeben: Die Flucht aus dem Bordell.

Andreas

Dörpinghaus

Auf dem Weg zum gelingenden Leben Tugenderziehung und gesellschaftliche Ordnung

W

er Tugenden als Ziele von Erziehung fordert, geht in der Regel davon aus, dass Tugenden lehr- und lernbar seien bzw. eine richtige Erziehung zur Tugendhaftigkeit führen könne. Dabei ist auszumachen, dass bestimmte Eigenschaften von Menschen in einer

Kultur sowie Gesellschaft wünschenswert sind, diese Eigenschaften über den Begriff der Tugend

per se als gut erscheinen und gleichsam eine dauerhafte Verhaltensdisposition ausmachen sollen, eine quasi rechte Charaktererziehung. Was als erzieherisch tugendhaft gilt, war und ist jedoch nicht zu trennen von der gesellschaftlichen Ordnung und ihren erzieherischen Machtpraxen. Gegenwärtig hängt der Wunsch nach einer Tugenderziehung oft nur noch an der Disziplinierung der zu Erziehenden, so dass sie sich als die, die sie sein sollen, auch tatsächlich verstehen. Seit der Antike steht der traditionsreiche Begriff Tugend im Sinne des Gutseins (arete) für eine Weise, das Handeln der Menschen zu orientieren. Aristoteles bindet die Tugend an das Tun der Menschen sowie an Gewohnheit und Übung als zentrale Modi der Erziehung. Tugendhaft wird der Mensch nur, indem er tugendhaft handelt; so lernt er beispielsweise die Tugend der Tapferkeit nur durch tapferes Tun. Ein Mensch gilt als tapfer, wenn ihm die Tugend der Tapferkeit als dauerhafte Haltung seines Tuns zugeschrieben werden kann. O b jemand tatsächlich tugendhaft ist, zeigt sich nur am sichtbaren Handeln, an der „Selbstäußerlichkeit" (Blumenberg). Ziel der arete ist ein glückliches Leben (eudaimonia) in der Bestform des Menschseins und der Realisierung tugendhaften Handelns. Dieses Gutsein ist allerdings keine moralische Qualität im modernen Sinne, sondern eine Form der Sachangemessenheit mit Blick darauf, was das gute, treffliche

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Menschsein in seiner spezifischen Leistung bedeutet. Tugenden werden dann um ihrer selbst willen zum Modus des Handelns. Die vielen Tugenden, die Aristoteles ausmacht, sind Handlungstopoi, an denen sich die Bestform des M e n s c h e n bricht, der Mensch auf dem Spiel steht. Es geht in seiner Begründung gerade nicht um auf D a u e r gestellte Eigenschaften des Menschen, die sich eine Gesellschaft wünscht, sondern um übliche soziale Interpretations- und Handlungsspielräume, in denen sich entscheidet, wer man ist. D a h e r sind für Aristoteles neben den ethischen Charaktertugenden, die durch G e w ö h n u n g als Erziehung eingeübt werden, die dianoetischen Tugenden zentral. Mit anderen Worten: D i e ethischen Charaktertugenden sind ohne die einsichtigen auf das D e n k e n und U r t e i len bezogenen dianoetischen nicht zu haben. D e r dianoetischen Tugend der phronesis, der einsichtigen Klugheit und Überlegung, k o m m t dabei die Aufgabe zu, zu erkennen und zu beurteilen, was in einer Situation, in der der Mensch steht, zu tun ist, das heißt, welche Handlung angemessen ist. D a s tugendhaft-ethisch Richtige erscheint dann als das rechte M a ß (mesotes) zwischen den E x t r e m a zweier möglicher Handlungsdispositionen. Die phronesis ist gewissermaßen die Urteilskraft, dieses Angemessene zu sehen und zu erkennen. Die ethischen Charaktertugenden geben also selbst gar nicht an, was das jeweilige Richtige ist, sondern nur in welcher Weise es zu tun ist.

Tugendhaftigkeit durch Einsicht Aristoteles misst der erzieherischen G e w ö h n u n g an ethische Tugenden in der Entwicklung des M e n s c h e n eine große Bedeutung bei, da sie die Ausgangslage für die Möglichkeit einer späterhin habitualisierten Tugendhaftigkeit durch Einsicht bildet. Zu Beginn bedarf es also der gewöhnenden Einführung in die sittliche Ordnung durch „ L o b und Tadel", um eine charakterliche D i s p o sition grundzulegen. Diese sittliche O r d n u n g ist eine Lebensform, die erzieherisch eingeübt wird. B e s t e h t diese gemeinsame sittliche Lebensform nicht, bedarf es einer Erziehung durch den Einzelnen, der dann allerdings notwendigerweise Bescheid wissen muss, was tugendhaftes H a n deln bedeutet. Das tugendhafte Handeln wird dabei so eingewöhnt, dass es gerne und mit Lust ausgeübt wird. Es geht also im Anschluss an Aristoteles und antike Vorstellungen weder um eine Erziehung als Disziplinierung vermeintlicher Tugendangelegenheiten noch am Ende um die Vermittlung von Tugenden ohne Einsicht in die gelingende Lebensführung. D i e phronesis kann nicht wie die dianoetischen Tugenden insgesamt durch Gewöhnung anerzogen werden; sie wird vielmehr durch Belehrung und durch einsichtiges Tun mit der Zeit gebildet und macht das freiheitliche Tun aus. Sie macht in nuce das E t h o s des Einzelnen aus, in dem sich sein Menschsein, auch im U m g a n g mit seinen Affekten, Gefühlen und Leidenschaften zeigt. Das tugendhafte Handeln, will es etwas anderes sein als reaktives, eingeübtes Verhalten, bedarf also der Einsicht. Eine Tugenderziehung wäre lediglich eine „Abrichtung", einer Regel in einer bestimmten Weise zu folgen (Wittgenstein), wenn nicht die Einsicht in die Fragen, was jeweils das Richtige ist und wie ein endliches Leben vernünftig geführt werden kann, um dem M e n s c h sein in sachlicher H i n s i c h t gerecht zu werden, Priorität genösse. D e r Gedanke der Tugend ist also nicht von der Überlegung zu trennen, was das gute und darin glückliche Leben ausmacht. Sie bedarf eines Sich-Verstehens auf das Handeln.

Ist Tugend lehrbar? Immanuel Kant weist der Tugend im eigentlichen Verständnis der „Tauglichkeit" einen erzieherischen Platz im Rahmen der Disziplinierung, der Kultivierung und Zivilisierung zu. Jene Praktiken bleiben allerdings pädagogisch defizitär, wenn ihre Begründung nicht in der Moralisierung liegt, die ausschließlich Werk eines jeden Einzelnen sein müsse. Der Moralisierung als pädagogischer Aufgabe erteilt er eine Absage. Gegen Kant greift der Pädagoge Johann Friedrich Herbart zu Beginn des 19. Jahrhunderts den aristotelischen Gedanken der Tugenderziehung auf. Tugend sei, so wie letztlich bei Piaton und Aristoteles, nicht lehrbar, da es von ihr kein lehrbares Wissen geben könne. Ziel der Erziehung sei vielmehr, dass der „Zögling", wählend das Gute, sich selbst finde. Seine Argumentation ist luzidc wie originell und erinnert an das Diktum Ludwig Wittgensteins, Ethik und Ästhetik seien eins. Durch Einübung und Gewöhnung von gutem Handeln werde ein ästhetischer Geschmack gebildet, der den Heranwachsenden zunehmend in die Lage versetzt, schön zu handeln. Das gute Handeln wäre schlichtweg das schönere und erlangt so in der Wahl des zu Tuenden durch eine auch gleichsam sinnliche Vernunft, die das Richtige zu „vernehmen" weiß, den Vorzug. Das ist im Kern aristotelisches Denken (Uphoff). In seinem Vortrag über Ethik radikalisiert Ludwig Wittgenstein den aristotelischen Gedanken und markiert die pädagogische Grenze des Ethischen. Im Bereich des Ethischen gehe es um den Sinn des Lebens und um die rechte Art zu leben. „Das Ethische kann man nicht lehren. Wenn ich einem Anderen erst durch eine Theorie das Wesen des Ethischen erklären könnte, so hätte das Ethische gar keinen Wert. Ich habe in meinem Vortrag über Ethik zum Schluß in der ersten Person gesprochen. Ich glaube, daß das etwas ganz Wesentliches ist. Hier läßt sich nichts mehr konstatieren, ich kann nur als Persönlichkeit hervortreten und in der ersten Person sprechen." Oder Wittgenstein deutlicher in einem Brief an Engelmann: „... ich werde entweder ein Schweinehund bleiben oder mich bessern, und damit basta!"

Gesellschaftlich-kultureller Kontext von Tugenden Das ethisch Tugendhafte bleibt auf den gesellschaftlich-kulturellen Kontext normativ bezogen, das gilt selbst für das einsichtige Tun. Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach der Tugenderziehung keine, wie es den Anschein haben könnte, in erster Linie pädagogische (bei allen verständlichen Wünschen, gute, anständige, kluge usw. Menschen zu „schaffen"), sondern eine gesellschaftliche und politische. In der Moderne bis hin zur Gegenwart tritt der Gedanke einer gelingenden Lebensführung als tugendkonstituierend zunehmend zurück, was bleibt, ist eine mitunter pädagogisch ambitioniert naive Forderung nach einer Erziehung zur Tugend. Tugenderziehung ohne dianoetische Begründung bleibt disziplinierende Abrichtung. Die Tugenden sind dann nicht Selbstzweck, sondern sie dienen anderen Zwecken. Diese anderen gesellschaftlichen Zwecke lassen die Forderungen nach Tugenden mitunter dringlich und in ihrer Trivialität einsichtig erscheinen. D o c h bei Lichte betrachtet, stellt sich die Frage nach der Erziehung zur Tugend nicht, denn eine solche Erziehung besteht in der Eingewöhnung von Handlungsstilen, und auch das einsichtige Handeln bleibt an diese Grundierung verwiesen. Dass es gewünschte Handlungsstile gibt,

Andreas Dörpinghaus

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macht eine pädagogisch-kritische Reflexion auf die Tugenderziehung unerlässlich. Darin treffen beispielsweise Aristoteles, H e r b a r t , aber auch Bourdieu den entscheidenden Punkt: Haltungen reproduzieren gesellschaftliche Lebensstile, Weisen der Lebensführung, Entscheidungen hinsichtlich des Vorzüglichen. Anders gewendet: D i e Tugenden sind immer auch unsere Tugenden. Gefallen uns die Tugenden der Heranwachsenden nicht, müssen wir über uns nachdenken. D i e Heranwachsenden lernen unsere Lebensführungen, unsere Haltungen, unsere Weisen des Tuns, unsere O r d n u n g e n des Sittlichen. Tugenderziehung war und ist ein Machtgeschehen, das bestehende O r d n u n g e n Kindern und Jugendlichen einverleibt. D e r dianoetisch-reflexive Rückbezug der Tugend auf ihre U n t u g e n d offenbart darin nur ihren Problembestand der Unbestimmbarkeit, O f f e n h e i t und Lebensformbindung, die eines zu leisten hat: D i e Frage nach dem gelingenden Leben wachzuhalten. Tugenden sind der habitualisierte Spiegel gesellschaftlicher Ordnungen. Bevor wir uns die Frage stellen, was die ältere mit der jüngeren Generation (Schleiermacher) anfange, ist es vorrangiger, unser Verständnis einer B e s t f o r m des Menschlichen zu klären. Als könnte man ein richtiges Leben in einem falschen führen, wie Adorno einmal bemerkte. Vielleicht k o m m t es in diesen Zeiten darauf an, unzeitgemäß zu werden, also zur U n t u g e n d zu erziehen. Das pädagogische P r o jekt der Erziehung muss am E n d e ein kritisches Geschäft sein, das diese Machtpraxen (Foucault) versucht, transparent zu halten, anachronistisch zu sein und dianoetisch für Untugenden einzutreten. B e r t o l t Brecht (Flüchtlingsgespräche) mag das letzte Wort haben: „Ich höre, dass die Schulen oder wenigstens einige von ihnen heute auf anderen Prinzipien aufgebaut seien als zu meiner Schulzeit. Die Kinder würden in ihnen gerecht und verständig behandelt. Wenn dem so wäre, würde ich es sehr bedauern. Wir lernten noch in der Schule solche D i n ge wie Standesunterschiede, das gehörte zu den Lehrfächern. Die Kinder der besseren Leute wurden besser behandelt als die der Leute, welche arbeiteten. Sollte dieses Lehrfach aus den Schulplänen der heutigen Schulen entfernt worden sein, würden die jungen Menschen diesen U n t e r schied in der Behandlung, der so unendlich wichtig ist, also erst im Leben kennenlernen. Alles, was sie in der Schule, im Verkehr mit den Lehrern, gelernt hätten, müsste sie draußen im Leben, das so anders ist, zu den lächerlichsten Handlungen verleiten. Sie wären kunstvoll darüber getäuscht, wie sich die Welt ihnen gegenüber benehmen wird. Sie würden fair play, Wohlwollen, Interesse erwarten und ganz und gar unerzogen, ungerüstet, hilflos der Gesellschaft ausgeliefert sein. (...) Ich hatte, nachdem meine Erziehung einigermaßen abgeschlossen war, G r u n d zu der Erwartung, daß ich, mit einigen mittleren Untugenden ausgestattet und nicht allzu schwere Scheußlichkeiten noch erlernend, halbwegs passabel durchs Leben k o m m e n würde. Das war eine Täuschung. Eines Tages wurden plötzlich Tugenden verlangt."

Wolfgang Frühwald

Heimat ist mehr als ein Ort „Heimat" und „Fremde" in Literatur, Geistesgeschichte und Gegenwart Forschung & Lehre: „Wem G o t t will rechte Gunst erweisen, / Den schickt er in die weite Welt", heißt es in der Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts" von Joseph von Eichendorff; denn „Die Trägen, die zu Hause liegen, / Erquicket nicht das Morgenrot, / Sie wissen nur vom Kinderwiegen, / Von Sorgen, Last und N o t u m Brot." Ein Lockruf zum Aufbruch, zugleich eine Entscheidung gegen „Heimat"? Wolfgang Frühwald: Ein Lockruf zum A u f b r u c h ins Leben ist das zum Volkslied gewordene Lied des „Taugenichts" allemal, aber eine Entscheidung gegen „Heimat" ist daran nicht abzulesen. N u r die Kindheit ist vorüber, die dem Sohn des Müllers bisher Heimat war. So macht sich der Taugenichts auf in die Welt außerhalb des Vaterhauses, um eine neue „Heimat" zu suchen. Dass er sie am Ende findet, nicht an einem O r t oder in einem Land, sondern in einem Menschen und in dessen Liebe, macht diese Novelle zu einer der raren Glücksutopien in der deutschen Literatur. F&L: Welches ist f ü r Sie das eindrücklichste Beispiel von Fremdheitserleben, welches von Heimat in der deutschen Literatur oder bei einem Schriftsteller? Wolfgang Frühwald: Einer der wirkungsvollsten Texte über die Erfahrung von „Fremde" ist ohne Zweifel der Psalm 137 (in Luthers Zählung). Er beginnt bekanntlich mit dem Vers: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten." Da wir in dem von Hans

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Wolfgang Frühwald

Magnus Enzensberger so genannten Zeitalter der „Großen Wanderung" leben, in dem mehr als 2 1 4 Millionen Migranten auf der Suche nach einer neuen Heimat, mehr als eine Milliarde Menschen potentiell zur Wanderung bereit sind, ist es nicht verwunderlich, dass noch die unterschiedlichen Pop-Versionen dieses Psalms („By the rivers of Babylon...") seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu den weltweit meist gespielten Songs gehören. Komplizierter steht es um die Erfahrung von „Heimat", weil in deren Beschreibung immer sogleich die Ahnung des drohenden Verlustes mit enthalten ist. Inniger als in Heinrich Heines Gedicht „In der Fremde" (III) wurden „Heimat" und „Heimweh" in deutscher Sprache wohl kaum jemals besungen: „Ich hatte einst ein schönes Vaterland. Der Eichenbaum / Wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft. / Es war ein Traum. / / Das küsste mich auf deutsch, und sprach auf deutsch / (Man glaubt es kaum / Wie gut es klang) das Wort: ,ich liebe dich!' / Es war ein Traum." Als Prosatext könnte diesen wenigen Gedichtzeilen Klaus Manns Geburtstagsbrief an seinen Vater Thomas (vom 16. Mai 1945, abgedruckt in seinem Lebensbericht „Der Wendepunkt") zur Seite gestellt werden. Es ist der Bericht über die Wiederbegegnung mit dem geschändeten und zerstörten Vaterhaus in der Münchner Poschinger Straße, auch mit dem eigenen Zimmer, also mit der Kindheit: „wild-wildfremd: mit makabren Resten von Urvertrauen". F&L: Sind „Heimat" und „Fremde" demnach Kategorien, die über konkrete Raumerfahrungen hinausgehen, und anthropologisch zum Inventar des Menschen gehören? Wolfgang Frühwald: „Heimat" und „Fremde" sind mehr als bloße Erfahrungen eines vertrauten Lebensraumes, auch mehr als die Erfahrung von Geborgenheit in der Kindheit und deren Erinnerung. Dort nämlich, wo „Heimat" (und ihr Gegenbegriff die „Fremde") eine bloße Raumerfahrung bleibt, neigt sie zur Idylle oder zur Ideologie. Die Ubergänge sind fließend und im Kern ist die Ideologie schon in der falschen Idylle enthalten. Die Bildlichkeit des Paradieses, die in antiken Vorstellungen und in vielen Religionen (darunter allen monotheistischen) tief verwurzelt ist, die Bilder der Sehnsucht nach und die der Vertreibung aus dem Paradies, könnten darauf hindeuten, dass „Heimat" und „Fremde" anthropologische Konstanten sind. Möglich ist aber auch, dass „Heimat" und „Fremde" soziale Konstruktionen sind, die das Dasein des Menschen zwischen Geborgenheit und Gefährdung beschreiben und im Lauf der Entwicklung von Hochkulturen immer stärker differenziert wurden. Der moderne Heimatbegriff jedenfalls (und mit ihm seine Mythisierung) entstand in Deutschland an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, als die festgefügten Ordnungen Europas zerbrachen und der rapide voranschreitende Verlust von Heimat bewusst machte, was es bedeutet, Heimat zu haben. F&L: Braucht der Mensch immer wieder eine Dosis Fremde, um seine Heimat wieder schätzen zu können? Wolfgang Frühwald: Es gehört wohl zu den Bedingungen des Menschseins, dass sich alle Erfahrungen des Lebens an ihrem Gegensatz konturieren. Das Ich wird sich seiner selbst erst durch die Erkenntnis eines „Du" bewusst, die Heimat, das heißt der Ort, wo ich „gekannt" bin, wird als Ort der Geborgenheit erst voll bewusst durch die Erfahrung, nicht gekannt, vielleicht sogar auf der Flucht und verfolgt zu sein. Ein und derselbe O r t kann Geborgenheit und zugleich

Heimat ist mehr als ein Ort

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Todesgefahr bedeuten. Die Verwandlung meiner friedlichen, vertrauten Spielstraße in einen von Tieffliegern leicht einzusehenden und daher lebensgefährlichen Ort gehört zu den prägendsten Erfahrungen meiner Kindheit. F&L: Viele deutschsprachige Schriftsteller sind vor dem Nationalsozialismus ins Exil geflüchtet, viele in die Vereinigten Staaten. Nicht jeder hat dort reüssiert. Gibt es so etwas wie eine gemeinsame Exilerfahrung? Wolfgang Frühwald: Die in der Geschichte Europas beispiellose Vertreibung Hunderttausender Deutscher aus ihrem Vaterland, die schon vor 1933 begonnen, durch die Verfolgungswellen seit 1933 aber gewaltig zugenommen hat, umfasste etwa 500.000 Personen, darunter 25.000 Intellektuelle im weitesten Sinn (Schriftsteller, Künstler, Wissenschaftler, Politiker, Frauen und Männer, Einzelne und Familien). Nach relativ zuverlässigen Schätzungen gingen etwas mehr als 50 Prozent der Flüchtlinge in die USA, die im Aufwind der Reformen des New Deal von dem mit der europäischen Einwanderung verbundenen Wissenstransfer (das heißt dem Transfer von Kunstund Forschungswissen) profitierten. Eine allen - zumindest aber den exilierten Schriftstellern und Wissenschaftlern - gemeinsame Exilerfahrung war (und ist) dabei der schockartige Resonanzverlust der Muttersprache, der demütigende Zwang, in fremder Sprache zu stammeln, statt für die Beherrschung der eigenen Sprache gerühmt zu werden. Die vor der Naziherrschaft geflüchteten Dozenten der University in Exile (an der New Yorker New School for Social Research) haben (nach Arnold Brecht) ihr „New Schoolese" ironisch mit dem mangelhaften Englisch der ersten Hannoveraner auf dem britischen Thron verglichen: „At the New School we all speak the King's English ... that of George I, George II, George III ..."; Elias Canetti berichtet von „Wortanfällen", die ihn im britischen Exil, in panischer Angst vor dem Verlust der deutschen Sprache, ergriffen, Seite um Seite hat er dabei mit deutschen Worten vollgeschrieben, die nichts mit dem zu tun hatten, woran er eben arbeitete; Judith Kerr berichtet in ihrem Erinnerungsbuch „When Hitler stole pink rabbit" vom Entzücken des Kindes, das sich auf dem Schulhof eines Tages dabei ertappt, wie sich die Worte der fremden Sprache in ihr wie von selbst bilden, „es war, als hätte sie plötzlich herausgefunden, dass sie fliegen konnte, und sie erwartete jeden Augenblick, wieder auf die Erde zu stürzen". Da im Deutschen seit den Brüdern Grimm „Heimat" das durch die Muttersprache in der Kindheit grundgelegte Urvertrauen bedeutet, Deutsche jüdischer Herkunft im Schatten der nationalsozialistischen Vertreibung gar von einer „Mutter Sprache" träumten, ist es nicht verwunderlich, dass Thomas Mann, der Emigrant, 1949 verkündete, er sei „ein unabhängiger Schriftsteller, dessen wahre Heimat [...] die freie, von Besatzungen unberührte deutsche Sprache" sei. F&L: In seinem Epos „Hermann und Dorothea" beschreibt Goethe (1797) u.a., wie ein Flüchtlingsstrom die überkommene Ordnung einer Kleinstadt ins Wanken bringt. Von einem „traurigen Zug der armen Vertriebenen" „ordnungslos und verwirrt" ist die Rede, vom „Elend guter fliehender Menschen, die nun, mit geretteter Habe ... zu uns herüber kommen". Es geht um spontane Hilfe, um Spenden, aber auch um die neugierigen (touristischen) Gaffer, die sich am Elend der Menschen erfreuen. Beschreibt Goethe hier nicht präzise das, was Europa auch heute mit den Flüchtlingen vom afrikanischen Kontinent erlebt und wie es human damit umgehen sollte?

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Wolfgang Frühwald

Wolfgang Frühwald: Goethe berichtet von der Begegnung deutscher Emigranten (aus den linksrheinischen Gebieten auf der Flucht vor den Truppen der Französischen Revolution) mit deutschen Besitzbürgern (gleicher Religion). Die von ihm als Quelle benutzte ältere Anekdote erzählt von Salzburger Emigranten des 18. Jahrhunderts. Solche Begegnungen sind weit entfernt von der Situation afrikanischer Wirtschaftsflüchtlinge in Europa, auch von der aggressiven Integrationsdebatte in Deutschland auf dem ängstigenden Hintergrund eines internationalen Terrorismus, der die Religion politisch missbraucht. Wenn etwas aus Goethes „idyllischem Epos" auf die Gegenwart übertragen werden kann, dann vielleicht der Rat Dorotheas, den sie von ihrem im Krieg gefallenen Bräutigam erhalten hat und den sie nun als „Mitgift" an die besitzstolzen Bürger weitergibt. Er mahnt, auch dort, wo scheinbare Sicherheit herrscht, den schwankenden Grund zu bemerken und der immerwährenden Gefahr des Verlustes gewärtig zu sein: „Aber dann auch setze nur leicht den beweglichen Fuß auf; / Denn es lauert der doppelte Schmerz des neuen Verlustes." F&L: Die gegenwärtige Welt scheint vielfältig durch einen Angriff auf den konkreten Ort geprägt zu sein. Es geht überall um Entgrenzung, flexibilisierte Lebenswelten und das Schaffen von virtuellen Welten. Man ist überall und zugleich nirgendwo. Was bedeutet dies für die Raumgebundenheit von Kultur? Wolfgang Frühwald: Die Veränderung der Welt und ihrer Kulturen durch die sich rasant entwickelnde Informationstechnologie ist ein fast uferloses Thema der Spekulation. Die durch elektronische Medien fortschreitende Virtualisierung der Welt, die mit einer „Enträumlichung" von Kultur und Sozialkontakten einhergeht, ist die Welt der jungen Generation schon heute, und sie wird es in naher Zukunft vermehrt sein. Globalisierung bedeutet dabei auch Nivellierung, und wer in Facebook 500 Millionen potentielle Freunde hat, könnte plötzlich gewahr werden, dass er überhaupt keine (wirklichen) Freunde hat? So nimmt zugleich mit der Entgrenzung der Sozialräume die Sehnsucht nach dem überschaubaren Raum zu, in der Zeit der ins Unendliche gesteigerten Kontakte der Wille zur Bindung. Manchmal scheint mir, die jungen Menschen heute wissen dabei durchaus, was sie tun. Das Internet ist für sie oftmals nur ein großes Spiel, das es möglich macht, „bekannt" zu sein und „Bekannte" zu finden. Aber um „gekannt" zu sein (und das heißt mit Anna Seghers, aus dem Transitraum der Geschichte herauszutreten und Heimat zu finden), dazu braucht es mehr als einen Chatroom, eine LAN-Party und eine FacebookSeite. F&L: Ernst Bloch, selbst viele Jahre im Exil, schließt sein Werk „Prinzip Hoffnung" mit der erstaunlichen Verlagerung von „Heimat" in die Zukunft, also „Heimat" als Utopie. Heimat sei etwas, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war". Können Sie damit etwas anfangen? Wolfgang Frühwald: Blochs berühmtes Diktum über die Heimat als Nicht-Ort, als Utopie, die er ja in Zusammenhang mit dem „arbeitenden, schaffenden, die Gegebenheiten umbildenden und überholenden Menschen" bringt, der „das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet", ist vermutlich nichts anderes als die Säkularisierung des alten christlichen Gedankens vom Menschen, der aus Gottes Hand hervorgeht, durch das Elend (die Frem-

Heimat ist mehr als ein Ort

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de) der Welt wandert und zurückkehrt in Gottes Hand, w o erst wirklich Heimat ist. Für mich hat dieser Gedanke etwas zutiefst Tröstliches an sich.

Petra Gehring

Für wen und warum eine Kriteriendiskussion ? Zur Transparenz von Verteilungsentscheidungen

W

äre dies kein politisch-philosophischer, sondern ein ethischer Diskussionsbeitrag, könnte er etwa folgendermaßen beginnen: Man nehme an, auf einem Rettungsboot teilen sich zehn Schiffbrüchige das noch verbleibende Süßwasser zu gleichen Teilen auf -

ihre Sozialisation macht sie sicher, dass diese Vorgehensweise angebracht ist. Der Tod ereilt nicht alle zugleich, was die Beteiligten nicht überrascht. Man teilt verbliebene Wasserreste gleich auf, tritt sich hier und da mitfühlend einen Zusatzschluck ab. Das bittere Schicksal steht als gemeinsames vor Augen, man lindert das Leiden jedes einzelnen so gut es geht. So schrumpft die kleine Gemeinschaft. Die Frage einer Änderung des Rationierungsverfahrens spricht bis zum Schluss niemand an. Alternativ nehme man nun an, einer der Schiffbrüchigen stellt sich den anderen am zweiten oder dritten Tag als Verteilungsexperte vor. Er legt wortreich mögliche Priorisierungs- und Rationierungskriterien dar, die implizite Besserstellung der kleineren und leichteren (und daher nicht exakt in gleichem Maße wasserbedürftigen) Besatzungsmitglieder wird ebenso Thema wie die Frage, ob nicht die Jüngeren mehr Wasser erhalten sollten, die Alten hätten ihr Leben doch schon gelebt. Allerdings könne man auch Zusatzrationen gerade für die Kleinen und Schwachen erwägen. Wer zuhause eine Familie ernähre, sei ebenfalls möglicherweise besser zu stellen. Dazu erhöhe es die Chance auf Rettung zumindest einiger, versetze man zwei durch Zusatzrationen in die Lage, aktiv zu rudern, eventuell werde so doch noch ein rettendes Ufer erreicht. Letztlich gebe es in der Vielfalt rationaler Optionen zwar keine eindeutige Lösung. Dennoch gelte: Das Implizite müsse explizit werden, denn nur eine durch Kriteriendiskussion aufgeklärte Entscheidung sei prüfbar, legitim und daher im Ganzen vertretbar. Gerechtigkeit erfordere „Transparenz".

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Petra Gebring

Im zweiten Szenario zeichnet sich eine Niederlage der Ethik ab: Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es auf dem B o o t nicht akademisch abgeklärt zugeht, sondern schwerer Streit beginnt, der gewaltsam endet. Vielleicht setzen sich die Stärksten durch, vielleicht wirft man auch gemeinschaftlich den Ethiker über Bord. Aber auch wenn man schlichtweg im unbefriedeten Streit verdurstet, wird eine Problemstellung sichtbar, die den Rahmen der ethischen Transparenzforderung und vielleicht überhaupt der ethischen Modellbildung sprengt. Sie betrifft die politische Setzung des Ethikers, (a) das Wort zu ergreifen, (b) für eine Revision „impliziter" und akzeptierter Kriterien einzutreten, dabei (c) die Position eines Experten zu reklamieren, der einen solchen Revisionsprozess anleiten will, ohne für dessen Beendbarkeit einzustehen, wobei er (d) der Gemeinschaft zwar verdeckte Fraglichkeiten - „Ungerechtigkeiten" - im Inneren dessen eröffnen kann, womit sie zuvor gut lebte, jedoch die politische Vorfrage unterbleibt, warum man im gemeinsamen Boot die verbleibende Lebenszeit in Kontroversen über Verteilungsrationalitäten stecken sollte. Anstatt beispielsweise in die Kommunikation von Zuwendung, Innewerden, geteilter Gemeinschaft.

Wer will die Kriteriendiskussion? In beiden Szenarien herrscht trotz Mangel anfänglich Konsens - schon deshalb mag man sie für Zwecke angewandter Ethik verwerfen (Frieden ergibt keinen Ethikbedarf, daher unterstellt angewandte Ethik stets den Konfliktfall). Gleichwohl kommt die bestenfalls schleppende deutsche Debatte über die Notwendigkeit einer Priorisierung von Gesundheitsleistungen einem Konsens relativ nahe: Man weiß möglicherweise wenig über „verdeckte" Rationierung, die faktisch stattfinden mag - wobei selbst die, die solches vermuten, derzeit vor allem fehlende Empirie und also lediglich Nichtwissen beklagen. Deutlich ist aber auch, dass augenscheinlich viele - Bürger wie Mediziner - nicht wissen wollen und dass vor allem die Auseinandersetzung mit Fragen der medizinischen „Priorisierung" (Leistungsbegrenzung nach Wichtigkeit) oder „Rationierung" (kriteriengeleitete Leistungsbegrenzung generell) gemieden wird. Ist dies irrational? Wird wider besseres Wissen geleugnet, was nicht wahr sein darf? J a - sagen die Verfechter gesundheitsökonomischer Transparenz und expliziter Priorisierung. Sie sprechen von „Verdrängungsreflex", „Selbsttäuschung", „Denkverboten": Deutsche Politiker scheuen unpopuläre Debatten, Arzte und Pflegepersonal beklagen zwar Kostendruck, verteidigen aber ihre Entschcidungshoheit und machen sich nicht klar, wie oft sie Rationierungsentscheidungen treffen. Patienten, Bürger insgesamt scheinen naiv, wollen an das Gute glauben und verschließen in falschem Systemvertrauen die Augen. Auch im internationalen Vergleich erscheinen die Deutschen bequem: Trotz verschiedener Stellungnahmen einschlägiger Kommissionen „ließ sich" eine breite öffentliche Diskussion unter Beteiligung der Medien „nicht erreichen". D e r Sozialmediziner, der dies schreibt, scheut nicht die Wendung von der „verspäteten Nation". Wer will die Kriteriendiskussion? Die Antwort zerfällt in drei Teile. Da sind zum einen die gesundheitsökonomischen Prognostiker. Hier darf als Motiv ein gutgemeintes Reforminteresse unterstellt werden: Aus handwerklichem Wissen um Rationalisierungs- und Optimierungspotenziale folgt der Wunsch, den Status quo zu verbessern - zum Wohle bestimmter Patientengruppen, zugunsten von Prävention, zum Vor- oder Nachteil besonders teurer Forschungsmedizin. Dann gibt es Ärztevertreter, welche die mit Priorisierungsentscheidungen verbundene Verant-

Für wen und warum eine Kriteriendiskussion ?

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wortung thematisieren: Sollte in Deutschland Rationierung nötig werden, müssten zur Entlastung des Arztes klare Regeln her. D a Arzte Entscheidungsvorgaben ansonsten ablehnen, wird die Drohvokabel „Priorisierung" hier wohl nicht zuletzt genutzt, um der Politik in Sachen BudgetErhöhung Beine zu machen. Schließlich sind da die Ethiker selbst - eine Kaste von Kommunikatoren, die aus der Entfaltung des „impliziten" Konflikts und aus seiner öffentlichen Vermittlung Reputationsgewinne ziehen - die Vervielfältigung möglicher (jeweils unverbindlicher) Antworten inklusive. Beklagen die genannten drei Gruppen, mehrheitlich seien Ärzte, Patienten, Pflegende als Akteure auf der M i k r o e b e n e „leider" unwillig, sich dem gegebenen Problemdruck zu stellen, so fällt bislang zweierlei auf: Erstens bleiben Transparenzbefürworter den präzise errechneten Beleg für die Alternativlosigkeit prognostizierter Notwendigkeiten einer Rationierung schuldig. Die Empirie ist dünn, die Prognostik variiert stark. Zweitens wird die öffentliche Weigerung, Rationierung auf die Agenda zu setzen, als eine Art Unterlassung aus D u m m h e i t betrachtet, nicht aber als politisch rationale Entscheidung dagegen, eine breite Öffentlichkeit in eine diskursive Sackgasse zu schicken. Warum genau, fragen sich diejenigen, die im gemeinsamen B o o t sitzen, mutet man ausgerechnet denjenigen, unter denen - im Jargon gesprochen - Gewinner und Verlierer sein werden, explizite Priorisierung, also Kriteriendiskussionen zu? U n t e r dem Vorzeichen der „Transparenz" erhalten (a) Expertenkulturen, konkret: Gesundheitsökonomen und Ethiker, die Rolle des politischen Stichwortgebers, (b) werden die „impliziten" - und in dieser Form durchaus akzeptierten - Kriterien entwertet, mit deren Gebrauchswert man sich vor ihrer Abschaffung kaum auseinandersetzt, (c) lässt man sich in einem sensiblen Politikfeld auf ein Realexperiment ein, für dessen Ausgang niemand einsteht, und (d) geht die Frage verloren, o b die O p t i m i e r u n g der Erwirtschaftung eines Gutes, das im volkswirtschaftlichen M a k r o - M a ß s t a b „Gesundheit" heißt, Kontroversen über Verteilungsrationalitäten rechtfertigt, die im M i k r o - M a ß s t a b - wo uns im Zweifel nicht der globale Maßstab der Gesundheitsproduktion bewegt, sondern die A b w e h r von Krankheit und Tod hier und jetzt - zu Dissens und Entsolidarisierung der B e t r o f f e n e n führen kann.

Die Forderung nach „mehr Transparenz" Was besagt die Forderung nach „mehr Transparenz"? A u f den ersten Blick zielt sie lediglich auf Wissen, das man haben könnte, aber derzeit nicht hat. Im Zusammenhang mit „Priorisierung" geht es dennoch um mehr. Transparenzforderungen haben hier einen normativen Beiklang. Es geht um die Botschaft, es müsse endlich aufgeräumt werden und um ein verändertes Rechenschaftslegungsverfahren: Eine lediglich durch Konsens und nicht durch Diskussion möglicher Alternativen autorisierte Praxis soll sich künftig der Prüfung durch Experten unterziehen - und dabei soll sich auch die Ö f f e n t l i c h k e i t , die Betroffenen selbst, in möglichst analoger Weise als Experten verhalten. Die Leitvorstellung, zuvor diffuse Verantwortungsverhältnisse

würden

durch Transparenz irgendwie „ethischer", bleibt dabei ihrerseits diffus. G e h t es um Beteiligung möglichst aller? D i e üblichen Figuren rationaler Deliberation passen freilich schlecht auf E n t scheidungen, die man nicht nur nicht treffen will, sondern eigentlich - weil sie als inhuman gelten - auch nicht treffen wollen sollte. Geht es also um Akzeptabilität jenseits bloßer Akzeptanz? Wenn am Ende nur Interessenstandpunkte bleiben, werden Mehrheiten auf Minderheiten

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Petra Gehring

gehetzt. Dies findet nur akzeptabel, wer nichts anderes kennt. Und wo die Verantwortung wirklich landet, wenn Kriterienkataloge sie von der Entscheidung am Krankenbett auf die Makroebene verlagern, bleibt auch, wenn populäre Fürs und Widers zirkulieren, durchaus offen. „Transparenz" dürfte vor allem bedeuten, dass sich Wissenschaftler und Lobbygruppen weiter streiten, Massenmedien berichten und der Bürger lernt, dass er wohl selbst zum Experten werden soll. Dies alles geschieht im Vorhof einer Legislative, von der auch der Patient weiß, dass sie strukturell überfordert ist. Letztlich sind Rationierungsentscheidungen nicht Verteilungsentscheidungen, sondern Entscheidungen, die das Verhältnis zwischen Personen betreffen. Sie verändern die Art dieses Verhältnisses. Ahnt nicht das Publikum, das Priorisierungsdebatten verweigert, im Grunde genau das? Die Verteilung von medizinischen Leistungen, als seien sie Güter, läuft auf eine Friedloslegung der Beziehungen hinaus - jedenfalls dann, wenn es in der Behandlung ernsthafter Krankheiten um Existenz und Uberleben geht. Hier wollen wir nicht wie ein Ethiker oder gar wie ein Gesundheitsökonom denken. Denn diese Perspektive enthält Zumutungen, die man weiterhin als unanständig empfinden will.

Ein fragiles Feld Es gibt also gute Gründe, in der Frage der Eröffnung einer Debatte über „Priorisierung" zu zögern. Dies zu sagen, ergibt keine Lösung. Insofern ist mein Beitrag weder ein Plädoyer für Intransparenz, noch möchte ich für die Festschreibung eines Status quo optieren. Ich beschränke mich auf die Warnung vor dem Argument der Transparenz und vor der pauschalen Diskreditierung der Rationalität eingespielter „impliziter" Verfahren der aktuellen Konsenslage. Jeder wird zugeben, dass das deutsche Gesundheitswesen vom Standpunkt der individuellen Erwartungen, gesundheitswirtschaftlich gesehen und auch in seinen Entscheidungspfaden nicht perfekt ist. Insofern müssen sich Fachleute im Gestrüpp der Maßnahmen kontinuierlich um Verbesserungen bemühen. Eine Mathematik des „Nutzens" dürfte kaum für Verständigung sorgen. Aber auch Ethik wirkt nicht unbedingt segensreich. Gerade die einfachen Maximen - gleiche Zugangschancen zu dem, was da ist - gehen hier in „Werte"-Konflikten, dubioser Kasuistik und klappernder Theoriebildung unter. Vorfragen, die politisch sind, sofern sie darauf zielen, wie wir leben wollen, werden nicht gestellt. Stattdessen vervielfältigt Moderation durch Ethik allfällige Begründungsoptionen. Außerhalb des fachwissenschaftlichen Sprachspiels ersetzen diese den politischen Bürgerwillen und verschleiern die Verantworung von Politikerpolitik. Transparenz ist daher kein Wert an sich. Das Wort steht nicht für bloße Sichtbarmachung, sondern für einen Umbau, an dem wir uns beteiligen sollen. Wer umbauen will, sollte aber die Beweislast haben, dass er nicht mit offenem Ausgang experimentiert. Es geht um ein fragiles Feld. F ü r wen also und warum eine Kriteriendiskussion?

Volker Gerhardt

Was treibt den Menschen? Die Sicht der Philosophie

Der Mensch als Tier

W

enn man gefragt wird, was den Menschen steuert, empfiehlt es sich, von der Frage auszugehen, was ihn eigentlich antreibt. Man sieht dann bald, dass die Steuerung, die der Mensch letztlich als Selbststeuerung versteht, aus Antrieben erwächst, die er sich im Gang seiner Entwicklung angeeignet hat. Darin gehen Ursachen des Verhaltens in Motive über, die er sich in Entwurf, Absprache und Rechtfertigung seines Handelns in der Form von Gründen aneignen kann. Fragt man nach den Antrieben des Menschen, hat man zunächst in Rechnung zu stellen, dass er als ein in Gruppen lebendes Säugetier viele Antriebe hat, die er mit seinen evolutionären Weggenossen teilt: Er braucht Nahrung, Licht, Wärme und Schlaf sowie die zu seiner Konstitution gehörende Bewegung. Er ist auf seinesgleichen angewiesen, weil sie ihm Schutz und das Gefühl von Sicherheit gewähren. Er braucht sie, um gezeugt, geboren, erzogen zu werden und um in der Lage zu sein, selber Nachkommen zu haben. Er braucht sie aber auch, um vor seinesgleichen sicher zu sein. Die Ambivalenz der menschlichen Gemeinschaft, die Schutz bietet und zugleich die größten Lebensrisiken mit sich bringt, dürfte im Hintergrund aller Antriebe stehen, mit denen sich der Mensch von anderen Tieren unterscheidet. Von den zahlreichen Antrieben des Menschen, die sich bei seinen nahen wie auch bei entfernteren Verwandten im Reich der Tiere finden, muss jetzt nicht gesprochen werden. Ihre Entfaltung ist, wie die des Körpers selbst, eine conditio sine qua non. Wo die basalen Bedürfnisse nicht

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Volker Gerhardt

erfüllt werden, büßen alle anderen Antriebe ihre Wirksamkeit ein. Da kann man dann leicht Belege dafür finden, dass der Mensch gar nicht so moralisch ist, wie er gerne tut. Doch das ist trivial, mag es, frei nach Brecht, auch noch so oft wiederholt werden. Wie sich der Mensch verstehen ließe, wenn er keinen Körper, keinen Stoffwechsel, keine Antriebe und keines der sie anzeigenden Bedürfnisse hätte, ist zwar eine reizvolle Frage, sie verspricht aber keinen nennenswerten wissenschaftlichen Ertrag.

Die kulturelle Existenz des Menschen Die Philosophie geht seit Piaton davon aus, dass die Besonderheit des Menschen damit ihren Anfang nimmt, dass er für seine Lebensmittel selbst zu sorgen hat. Gewiss: Sogar die Auster muss etwas tun, um am Leben zu bleiben. Und für den Menschen hat Blumenberg gezeigt, dass nicht allein der aufrechte Gang, sondern bereits der aufrechte Stand eine besondere Leistung ist. Man muss nur einmal versuchen, ein paar Stunden auf der Stelle zu stehen, und schon weiß man von der singulären Schwierigkeit, Mensch zu sein. Beim Menschen genügt es aber nicht, nur die spezifische Beweglichkeit des Körpers und seiner Sinne zum Einsatz zu bringen. Dem Menschen reicht es auch nicht, sich Höhlen zu graben oder Nester einzurichten. Er begnügt sich nicht damit, gelegentlich herumliegende Stöckchen oder Steine als Werkzeug zu nutzen oder, wie es die Amazonas-Delphine tun, sich für die Zwecke der Brautwerbung mit dem Schwenken stattlicher Pflanzenbüschel aufzuwerten. Der Mensch ist in seiner Lebensweise auf planvoll und gemeinschaftlich genutzte Mittel angewiesen, die er für durchaus unterschiedliche Zwecke zu verwenden versteht. Was das bedeutet, ließe sich am Umgang mit dem Feuer illustrieren, das vom Menschen - und nur von ihm - im Gang von zwei Millionen Jahren eingehegt und dienstbar gemacht worden ist. Die Selbstdisziplin, die in der Überwindung der Furcht vor dem Feuer nötig war, der Grad an sozialer Kooperation, der die Nutzung des Feuers ermöglichte, und der Erfindungsreichtum, der in den unterschiedlichsten Verwendungsformen des Feuers zum Ausdruck kommt, erlaubt uns, das Spektrum kultureller Leistungen zu imaginieren, durch die sich der Mensch allererst zum Menschen entwickelt hat. Bei Piaton ist es Prometheus, der dem physiologisch entspezialisierten Menschen das Feuer aus der Waffenschmiede eines Gottes stiehlt und so dem ohne Fell, ohne Flossen, ohne Flügel und ohne Klauen oder Hauer ins Dasein gesetzten Menschen einen Aufstieg ermöglicht, der den Neid der Götter erregt. Dabei steht das Feuer für alles, was Wärme gibt, so dass unwirtliche Gegenden bewohnbar werden. Es erlaubt, dass sich der Mensch zum einzigen Lebewesen entwickelt, dass seine Nahrung kochen, schmoren, backen oder braten kann. Sein Speisezettel erweitert sich dadurch beträchtlich. Die erhöhte Kalorienzufuhr hat das Wachstum seines Großhirns begünstigt, das gefordert war, weil er (das Feuer versichernd im Rücken und vieles erhellend vor Augen) sich neuen Herausforderungen der Arbeitsteilung widmen konnte. Der Mensch ist also darauf angewiesen, seine arbeitsteilige Kultur zu bewahren, um die Lebenschancen zu haben, auf die es ihm selbst ankommt. Alles, was mit der Sicherung und Ausgestaltung seines kulturellen Lebensraums zusammenhängt, findet sein besonderes Interesse. Und da er in der Erhaltung und Entfaltung seiner Kultur stets über den Augenblick der eigenen Tat

Was treibt den Menschen ?

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hinausgeht, um die unerlässliche Kooperation mit seinesgleichen sicherzustellen, erweitert sich sein Wahrnehmungsfeld um Zukunft und Vergangenheit. Meine erste Antwort auf die Frage nach den Antrieben des Menschen liegt somit in der These, dass es ihm alles bedeuten kann, für seine Kultur zu leben. Zur Begründung braucht man nur daran zu erinnern, wie sehr sich die Politik bis in die Gegenwart auf diese Triebfeder stützt, ganz gleich, ob wir an das Militär, die Polizei, die Katastrophendienste oder die zahlreichen Protestbewegungen (bis hin zum Terror) denken. Der Vorrang der Lebensform zeigt sich aber nicht nur im Augenblick ihrer Gefährdung: In so gut wie allen Tätigkeiten geht es um die Erhaltung und Gestaltung individueller und kollektiver Lebensformen. In Erziehung und Unterricht, in Kunst und Wissenschaft, aber auch in Wohnen und Kleiden oder in der Sorge um die physische und psychische Gesundheit werden der Organisation und Demonstration einer Lebensweise die größten Opfer gebracht.

Technik als Instrumentarium der Kultur Die lebendige Natur die allemal aus Organismen besteht, die unter einander - und dies keineswegs nur im Kontext ihrer Gattung - in organisierten Zusammenhängen leben, lässt sich als eine Vielfalt von Organisationen begreifen, die in einander greifen, sich überlagern, überlappen und zugleich in dramatischer Weise gegen einander stehen. So können Organismen und Organisationen als Komplex von Mitteln und Zwecken beschrieben werden, die man auch als Gefüge von Techniken verstehen kann. Kultur entsteht mit und in der Verselbständigung einzelner Techniken, mit denen es gelingt, neue zu erfinden und sie mit anderen Techniken zu kombinieren. So wird die vom Menschen in Dienst genommene Technik zur Brücke, die aus der Natur in die Kultur hinüber führt. Durch den sich steigernden Eigenanteil des Menschen wird sie zu dem ihm selbst zugehörenden Faszinosum, in dem sich der Mensch in seinen eigenen Leistungen bewundert. Technik, so kann man auch sagen, ist die durch die Fähigkeiten des Menschen entfesselte Natur, die als Kultur erfahren wird und einer beständigen Pflege, Lenkung und Aufsicht bedarf. Als das über die Natur des Menschen entscheidende Lebensmittel ist es auch am stärksten in den Kampf um knappe Ressourcen und verlässliche Lebenschancen eingebunden. Das fordert den Preis einer unablässigen Verbesserung der Techniken, die ihm das Leben ermöglichen. Es ist die Technik, die dem Menschen berechenbare Sicherheiten bietet, und die zugleich die denkbar größte Unruhe in das Leben der Gattung bringt. Sie weitet den Radius seiner Lebenskreise aus, erhöht seine Wirksamkeit und exponiert ihn immer neuen Risiken. Die Perfektionierung, zu der die Technik selber nötigt, entscheidet darüber, wie hoch die Lebenschancen des Menschen unter dem sich mit der Technik zwangsläufig steigernden Risiko des kulturellen Daseins sind. Wer die Technik geringschätzt, lässt nicht nur den Sinn für Natur und Kultur vermissen; ihm fehlen nicht nur Auge und Ohr für die Kunst, sondern auch das Sensorium für sich selbst. Denn alles, was an ihm spezifisch menschlich ist - ganz gleich, ob es sich um die Sprache, das Denken, die Moral oder die Institutionen des Rechts, der Religion oder der Wissenschaft handelt - , ist Technik. Und zugleich vermag der Mensch zu glauben, er könne sich in der Distanz zu sich und seinen Lebensformen von allen Techniken befreien, um nur bei sich selbst zu sein.

Volker Gerhardt

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Meine zweite Antwort

auf die Frage, was den Menschen antreibt, lautet daher: Es ist die Tech-

nik, die ihn, einmal von ihm dienstbar gemacht, gleichermaßen von innen wie von außen zu eigenen Aktivitäten nötigt. Es ist ein wesentliches Moment seiner Funktions- und Lebenslust, sie zu gebrauchen und sich mit ihr zu verbessern. Zugleich ist es eine Notwendigkeit, dies mit Erfolg zu tun, wenn er in und mit seiner Kultur überleben will.

Wissen als internalisierte

Technik

Es gibt eine Technik, die der Mensch für sich erfindet und sich wie keine andere zu eigen macht. Das ist die Technik des Wissens. Sie ermöglicht es ihm individuell bei sich selbst und zugleich unmittelbar bei seinesgleichen zu sein - und dies durch nichts anderes als dadurch, dass er sich auf denselben

Sachverhalt

bezieht!

In der Natur gibt es nichts, dass sich im strengen Sinn des Wortes als „dasselbe" bezeichnen lässt. Alles ist individuell·,

auf seinem

Platz und zu seiner Zeit ist jedes Ding einmalig

- selbst

wenn es vom Fließband kommt. Zwar gleicht ein Ei dem anderen, aber keines ist mit dem anderen wirklich gleich. Erst die Organisation des Lebens führt zur Entsprechung von Funktionen, die es erlauben, Materialien, Konditionen, Prozesse und Effekte als gleich anzusehen. Es ist dies eine funktionale

Gleichheit

in Relation zu den vom Leben aufgebauten Strukturen.

Streng genommen ist jedoch auch hier kein Vorgang mit irgendeinem anderen identisch. mit der organisierenden

Erst

Leistung des Denkens, das im kommunikativen Zusammenhang mit

Anderen Wissen ermöglicht, kommt es, wie wir aus Mathematik und Logik wissen, zu Gleichungen im strikten Sinn. Dass sie im täglichen Leben nicht ohne Bedeutung sind, belegt ein Blick auf die Uhr: Jeder hat seine U h r an seinem Arm, die auf ihrem Zifferblatt ihre Zeiger hat, die in ständiger Bewegung sind. Wir betrachten sie gleichwohl so, als stünden sie für den Augenblick der Zeitansage still. Und so zeigen sie jedem,

vorausgesetzt, sie gehen richtig, dieselbe

Zeit.

Dass es Gleichheit nur unter jeweils ungleichen Umständen gibt, lässt sich nur mit Hilfe des Wissens einsichtig machen. Das unterstreicht die Erkenntnis, dass es das Wissen ist, in dem Individualität

und Universalität

verbunden werden.

Diese Leistung des Wissens ist auf das Engste mit den reproduktiven Effekten der Technik verknüpft. Auch unter diesem Aspekt erweist sich die Technik als die eigentliche Bedingung der kulturellen Lebensform des Menschen. Dass sie die Voraussetzung für die Leistungen der Sprache, der symbolischen Darstellung, der Schrift sowie der darauf gegründeten Manifestationen der Kunst, der Politik und der Wissenschaft ist, darf als selbstverständlich gelten. Also kann man das Wissen als die Technik bezeichnen, mit der sich der Mensch die Technik am stärksten einverleibt. Zugleich ist sie es, durch die er die Stabilität gewinnt, die ihm in seinen Instrumenten und Institutionen entgegentritt. Nur sofern er mit den technischen Leistungen eine - notwendig pragmatische - Bedeutung

verbindet, sich in ihnen versteht und wiedererkennt,

können sie ihm die Sicherheit geben, die sich mit der metaphorischen Vorstellung vom kulturellen „Gehäuse" verbindet. Da Wissen notwendig mit den Kriterien für Richtigkeit

oder Wahrheit

verbunden ist, ist es

eine essenzielle Feststellung, dass er nach Wissen strebt und dabei auf Wahrheit nicht verzichten kann.

Was treibt den

Menschen?

83

Der experimentelle Charakter der menschlichen Natur Das Wissen ist kultivierte Neugierde, die zu den elementaren Impulsen des sich entwickelnden Lebens gehört. Doch im Schutzraum seiner selbst geschaffenen Kultur kann der Mensch es sich leisten, juvenile Verhaltensformen auf Dauer zu stellen. Mit Blick auf seine individuelle Lebensspanne spielt er länger als jedes andere Lebewesen. Damit bewahrt er sich eine Beweglichkeit und Formbarkeit seiner Antriebsformen bis ins hohe Alter. Sie gewähren ihm die Lust, Erfahrungen zu machen, mitteilungsfähig zu bleiben und sein Wissen zu mehren. So wird der Mensch zu dem Lebewesen, das sich durch seine ganze Lebenszeit hindurch experimentell verhalten kann. Kein Zweifel, dass ihn sowohl sein Gefühl wie auch (bei reiflicher Überlegung) sein Verstand dazu tendieren lassen, das geringere Risiko einzugehen. Gleichwohl ist er das Wesen, das nicht nur in seiner Kindheit alles ausprobiert, sondern lebenslang den Reiz verspürt, „auf den Versuch hin zu leben" - wie Nietzsche dies mit Blick auf die experimentelle Existenz des Menschen formuliert. Zum „nicht festgestellten Wesen des Menschen" gehört, dass er sich als Experimentator seines eigenen Daseins begreift. Das aber heißt, dass er sich jederzeit auch selbst überraschen kann - böse Überraschungen eingeschlossen. Wenn wir auch hier die Entsprechung von Organismus und Umfeld in Rechnung stellen, müssen wir von einer Korrespondenz des individuellen und kollektiven Anspruchs zu lernen auf der einen und der Lebensnotwendigkeit unablässiger Überprüfung und Erweiterung des Wissens auf der anderen Seite ausgehen. Daraus folgt die selbsterzeugte Dynamik der Veränderung der menschlichen Welt. Das führt zum vierten Antrieb des Menschen: Es ist der Impuls zur Selbstverbesserung, der, wenn er nicht zum kultivierten Habitus der Individuen und ihrer Gesellschaften gehört, durch die experimentelle Selbstgefährdung des Menschen erzwungen wird. Der Mensch riskiert sich sehenden Auges selbst und hat die Folgen zu tragen. Deshalb gehören die Verträge und die Versicherungen zu den großen Errungenschaften der menschlichen Kultur.

Individuum als Institution Die aus der feudalen Verachtung der niederen Tätigkeiten entspringende intellektuelle Geringschätzung der Technik hat bis heute übersehen lassen, dass sie das zentrale Element der Selbststimulation wie auch der Selbststeuerung sozialen Verhaltens ist. Gewohnheiten sind teils korporale, teils intellektuelle Techniken, mit durchschnittlichen Lebenserfahrungen individuell entlastend umzugehen. Institutionen sind soziale Techniken zur einvernehmlichen Steuerung sozialen Verhaltens. Zu den mächtigsten Institutionen in menschlichen Gemeinschaften gehören die Moral und das Recht. Auch die Wissenschaft ist nur in Institutionen der Forschung und der Lehre möglich; man kann sie, trotz der Vielfalt ihrer Organisationen, selbst als Institution bezeichnen. Sie weitet den Erkenntnishorizont und lässt hoffen, dass sich das Handlungsfeld und der Handlungsrahmen des Menschen vergrößern. Damit können neue Lebenschancen und begründete Sicherheiten verbunden sein. Man muss aber hinzufügen, dass die wissenschaftliche Erkenntnis jederzeit zum Anlass weitreichender Verunsicherung des Menschen werden kann. Das hat sie mit allen anderen Techniken

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Volker Gerhardt

gemein. Es gibt daher nicht den geringsten Anlass, sie für verzichtbar zu halten. Denn nur das, was zu etwas gut ist, lässt sich auch missbrauchen. Darin sind Wissenschaft und Aufklärung nicht weniger dialektisch als das Leben selbst. Also: Techniken und Techniker, wohin man auch blickt. Dort, wo es ihnen gelingt, Kraft und Zeit zu sparen oder Ängste zu mindern, haben sie die Suche nach Verbesserungen zur Folge; dort aber, wo sie verunsichern und Ängste schüren, lassen sie nach anderen Techniken suchen. Allein die Tendenz zur Dynamisierung der Technik, die ihre Fortsetzung in der impliziten Progressivität des Wissens findet, verrät ihren Ursprung in der Natur. Er zeigt sich auch darin, dass sie den Menschen selbst jederzeit wie ein Rad im Räderwerk der Technik erscheinen lassen kann. Schon im Gattungsprozess erscheinen die Individuen wie Mittel, derer sich die Natur bedient, um der Spezies den Lebenserfolg zu sichern. Doch mit dem bewussten Aufbau von Institutionen, treten kulturelle Einrichtungen an die Stelle der Natur. Obgleich sie von Individuen geschaffen, erhalten und gesteuert werden und zahllose neue Belastungen der Individuen mit sich bringen, ermöglichen sie eine Entlastung der Einzelnen, die bis zur Freistellung von evolutionären Veränderungen gehen kann. Ihr bedeutendster Effekt aber besteht darin, dass sie die Individuen lehren, selbstständig zu werden und sich selbst nach Art einer Institution zu verstehen, so dass sie sich selbst nach dem Vorbild in sich vielfältiger gesellschaftlicher Einrichtungen lenken können. So lernen die Individuen, arbeitsteilig, kräfteschonend und situationsspezifisch mit sich selber umzugehen. Nach einem langen Prozess kultureller Selbsterziehung verstehen sie sich darauf, der Vielfalt ihrer nicht selten als widersprüchlich erlebten Antriebe Herr zu werden. Sie werden in Stand gesetzt, sich in Relation zu Anlass und Aufgabe zu disziplinieren. Der sich selbst nach dem Modell der von ihm selbst geschaffenen Institutionen begreifende Mensch nennt sich Person. Das ist meine fünfte Antwort auf die Frage nach den Antrieben des Menschen.

Öffentlichkeit Auch die Politik ist eine von Menschen erfundene Technik, mit deren Hilfe Gesellschaften versuchen, einen einheitlichen Willen zu exekutieren. Die Sicherheit und Berechenbarkeit, die sie verspricht, hat freilich immer auch zur gesteigerten Verunsicherung der politisch organisierten Gesellschaften geführt. Hier ist die erwähnte Dialektik wirksam, die zur selbstgeschaffenen Natur des Menschen gehört. Er fordert sich selbst heraus und kann bereits als ein auf seinem Eigensinn beharrender Einzelner das Gleichgewicht stören, von dem er als einziges Wesen weiß. Er weiß, dass er das Gleichgewicht in seinen Institutionen und zugleich auch als Person benötigt, und dennoch ist er gerade durch sein Wissen immer auf dem Sprung, die benötigte Harmonie zu verletzen. Die Politik rechnet auch diese Ambivalenz des Menschen ins Große: Sie schafft größtes Leid und gegen alle historische Wahrscheinlichkeit setzt sie das alternativlose Versprechen, dass es besser werden könne. Das Versprechen gibt sie als Institution, aber es muss, wenn es wirksam werden soll, von Einzelnen ernst genommen werden, die dabei aber niemals bloß an sich denken können. So verstärkt die Politik das bereits im Gattungsgeschehen angelegte und in der Gesellschaft zunehmend bewusst gesteigerte Zusammenspiel von Individuum und Kollektiv. In der

Was treibt den Menschen ?

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sich wechselseitig fordernden Leistung von Person und Institution kommt es zur gegenseitigen Profilierung von Individualität und kultureller Organisation. Mit Blick auf diese Lage gebe ich meine sechste Antwort, zu der es viel zu sagen gäbe. Doch ich lasse sie einfach so stehen, weil augenblicklich von denen verstanden wird, die erkennen, dass von ihnen die Rede ist: Zu den wichtigsten Antrieben des Menschen gehört, ein Individuum sein zu wollen, das sich vor Anderen in seiner Unverwechselbarkeit zeigt. In seinem kulturellen Umfeld und das heißt: mit allgemein geschätzten Eigenschaften möchte jeder als Einzelner sichtbar und anerkannt sein. Da der Einzelne dazu aber nichts dringlicher braucht als die Anderen (denn er will sich ja von ihnen unterscheiden und möchte in dieser Unterscheidung Beachtung finden), ist der Individualismus des Menschen alles andere als ruinös. Denn in der Menge der Menschen ist der Anspruch auf Besonderheit und Einzigartigkeit der beste Schutz vor doktrinärer Einseitigkeit. Er ist die sicherste Quelle für die unter den Bedingungen des Wissens lebensnotwendig gewordene Leistung der Kritik. Und sie sichert zugleich das Ganze, weil das auf sich selbst haltende Individuum nichts so sehr benötigt wie Öffentlichkeit, auf die alle zivilisatorischen Institutionen der Gemeinschaft - und nicht zuletzt die Wissenschaft - gegründet sind.

Homo publicus Der Mensch hat sich im Gang seiner kulturellen Entwicklung viele Titel gegeben. Die meisten, die in Erinnerung geblieben sind, sagen etwas Treffendes und benennen Merkmale, die seine Spezies mehr oder weniger scharf von anderen abgrenzen: zoon logon echón, zoon politikon, animal rationale, animal symbolicum, homo faber, polymorphes, nicht festgestelltes Tier. Die Formeln widersprechen den Aussagen jener Biologen nicht, die Kombinationen von Strukturmerkmalen bevorzugen, um den Menschen von anderen Tieren abzugrenzen. Einige gehen inzwischen mit guten Gründen wieder so weit, den Menschen erneut als Anwärter auf die „Krone der Schöpfung" anzusehen. Denn für sie steht der Mensch in der erdgeschichtlichen Frontlinie der Evolution, die mit dem Menschen in eine kulturelle Evolution übergeht. Ich ziehe es vor, noch eine Weile abzuwarten, ehe man dieses Urteil verbindlich macht, und begnüge mich mit dem Vorschlag einer weiteren Formel, die zugleich meine siebte und letzte Antwort auf die Frage nach den Antrieben des Menschen ist. Die Formel soll und kann die anderen nicht ersetzen, insbesondere nicht die des animal rationale, unter der ich das Tier verstehe, das seine eigenen Gründe hat. Nichts von der Leiblichkeit, Sinnlichkeit und Gestimmtheit des Menschen wird damit geleugnet. Gründe benötigen die physische, die physiologische und die psychische Dynamik des Lebens. Ohne sie wären sie bedeutungslos. Wer aber Gründe gibt und nach Gründen fragt, der bewegt sich im Medium der Öffentlichkeit, so dass man die zu engen Kriterien, die mit der Kennzeichnung als homo politicus, homo oeconomicus oder homo sociologicus verbunden sind, in ein nicht auf Disziplinen oder Rollen eingeschränktes Merkmal überführen kann. Deshalb spreche ich vom Menschen als homo publicus. Homo publicus ist das Wesen, das von seiner Sichtbarkeit durch Andere weiß und sich im Bewusstsein dieser Sichtbarkeit bewegt. Diese von Hans Blumenberg anschaulich entwickelte Besonderheit der Visibilität darf aber nicht allein auf die Sphäre äußerer Wahrnehmung bezogen werden. Denn sie schafft allererst den sozialen Raum wechselseitiger Beobachtung und Beurtei-

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Volker Gerhardt

lung. Sie ermöglicht nicht nur eine Distanz zu den Dingen, auch nicht allein zu seinesgleichen, sondern sie stellt die Distanz des Individuums zu sich selbst her. Erst der im Umgang mit anderen Menschen gewonnene Abstand zu sich selbst ermöglicht das Bewusstsein einer alle und alles verbindenden Welt. Sie bildet den öffentlichen Raum, in dem sich der Mensch bewegt und in dem er sich versteht. In diesem grundsätzlich als öffentlich vorgestellten Raum bewegt sich bereits das Bewusstsein des einzelnen Menschen, sobald er etwas im Medium des Wissens klären, prüfen oder mitteilen möchte. Öffentlichkeit ist der Raum der Gründe, in dem sich jeder Mensch bewegt, der Zweifel äußert oder Zweifel beheben möchte. Öffentlichkeit ist die ursprüngliche Sphäre gemeinsamer Erkenntnis und verständigen Handelns. Nur in ihr kann der Mensch ein Bewusstsein von seinen Zielen gewinnen. Nur unter den Bedingungen der Öffentlichkeit seines Bewusstseins kann er hoffen, Welt, Gesellschaft und Selbst in ein Gleichgewicht zu bringen, das ihm erlaubt, sich (mindestens in Duldung durch die Anderen) nach seinen eigenen Einsichten zu steuern. Erst im Bewusstsein seiner öffentlichen Existenz ist er fähig, das private Glück des individuellen Daseins zu genießen. Nur in Anerkennung der Instanz des öffentlichen Wissens kann er die Produktivität seines eigenen Zweifels als freien Ausdruck seiner Subjektivität erfahren. Allein unter den Bedingungen der Öffentlichkeit kommt der Mensch ganz zu sich selbst. Die Frage nach der Steuerung des Menschen hat ohne Öffentlichkeit gar keinen Sinn. Und jede mögliche Antwort, auch wenn sie allein auf die Selbststeuerung des Einzelnen bezogen wird, setzt voraus, dass sich der Mensch als homo publicus versteht.

Magnus Klaue

Was vom Idealismus übrig blieb

K

ünstlerischen Darstellungen des „Denkers" wohnt oft ein heroisches Moment inne, das der Tätigkeit des Denkens zutiefst widerspricht. O b Denken überhaupt eine Tätigkeit genannt werden kann, ist keineswegs ausgemacht. Obwohl es nicht auskommt ohne das

besondere Subjekt, das denkt, ist es, wo es substantiell wird, eher etwas, das dem Denkenden geschieht, als etwas, das dieser bloß täte. Deshalb werden wahrhafte Gedanken vom Denkenden als paradox erfahren. Zwar empfindet er sie stärker als sein Eigentum denn das Produkt irgendeiner anderen Arbeit, und doch scheinen sie dagewesen zu sein, bevor er sie dachte: eher Fundstücke als Schöpfungen. Im entrückten Blick, der den pragmatischen Lebenszusammenhang überschreitet, anders als der Blick des Träumers aber konzentriert und entschlossen ist, fasst die populäre Ikonographie dieses Paradox zusammen. Zugleich aber figuriert der Denker, exemplarisch in Rodins berühmter Skulptur, oft als nach innen gewendeter Heros. In sich versunken, blickt er, das Kinn auf den Handrücken gestützt, gleichsam seine Gedanken an, denen er sich eher konfrontiert, als ihnen nachzuhängen. Dieser um sich selbst ringende Charakter, der dem Denken nachgesagt wird, klingt auch in Humboldts Formel von der Einsamkeit und Freiheit des Wissenschaftlers an, die in ihrem Pathos auf mehr zielt als auf dessen Freistellung vom höfischen und klerikalen Dienst. Vielmehr ist die Beschwörung der Einsamkeit des Denkers auch als Kompensation seiner tatsächlichen Ohnmacht zu verstehen. Anders als das Alleinsein, das einen Zustand der Privation bezeichnet und wenig Heldenhaftes hat, wirft die Einsamkeit einen idealistischen Mehrwert ab: Wer einsam ist, ist im Grunde gar nicht allein, weil er dem Alleinsein einen höheren Sinn abtrotzt. So gewiss der Idealismus, der in diesem Pathos mitschwingt, die Anerkennung einer autonomen Sphäre des Geistes erst ermöglichte, so sehr deutet sich in ihm schon bei Humboldt eine

Magnus Klaue

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Ahnung von der Unvereinbarkeit solchen Denkens mit dem Begriff gesellschaftlich nützlicher Arbeit an. Da man den Denker nicht wirklich gebrauchen, aber auch nicht auf ihn verzichten kann, wird sein Außenseiterstatus ihm als Auszeichnung gutgeschrieben: Von den Meriten, die dabei abfallen, haben die Geisteswissenschaften lange Zeit gezehrt.

Einsamkeit und Freizeit D o c h je eklatanter unter dem Druck von Evaluierung und Drittmittelerwerb der Widerspruch zwischen der behaupteten Autonomie des Geistes und den Versuchen wird, dessen Nützlichkeit zu beweisen, desto mehr gerät die Formel von „Einsamkeit und Freiheit" zur Drohung. Wer als geistig arbeitender Mensch frei sein will, muss auf den Schutz durch die Institution verzichten und wird mit einer Einsamkeit bestraft, die nicht mehr zur Auszeichnung umgemünzt werden kann. Evident wird dies an den Verfallsformen eines Typus, in dessen Skurrilität immer auch ein Moment von Autonomie steckte: des Privatgelehrten. Seine akademischen Erben sind der Emeritus, der Privatdozent und der Lehrbeauftragte. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in der Institution, deren Sinn sie in gewisser Weise am reinsten verkörpern, doch nur Gäste sind. Besonders flagrant ist dieser Exotenstatus beim Privatgelehrten selbst, der stets im Ruch des Dilettantismus stand. N o c h heute stellt man ihn sich vor, wie er im Biedermeier porträtiert worden ist: als Privatier, der seine Tätigkeit entweder mit ökonomischen Entbehrungen erkauft oder aus seinem Vermögen finanziert und über keine zureichende akademische Qualifikation verfügt, obwohl er den akademisch Approbierten überlegen ist. Mögen die Universitäten seinem Denken auch mitunter eine Bühne bieten, ist er doch abgeschnitten vom ordentlichen Lehrbetrieb. Gleichzeitig ist er unfähig, aus seinem Dasein eine I c h - A G zu machen. Da es ihm bei allem, was er tut, zuerst um die Sache geht, hat er kein Talent zum Selbstmarketing. Weil er nicht taktieren kann und Wittgensteins Maxime teilt, wonach Ehrgeiz der Tod des Denkens ist, besitzt er weder Ambitionen noch Chancen, im wissenschaftlichen Betrieb Karriere zu machen. So ist er nicht erst im Rückblick eine anachronistische Figur. Von der Geschichte überholt worden zu sein gehört zu seiner geistigen Physiognomie. Sein Anachronismus rückt den Privatgelehrten sowohl in die Nähe zum Märtyrer wie zum Narren. Nietzsche, dessen freiwilliger Rückzug von seinen akademischen Ämtern als emphatisches Bekenntnis zur Einheit von Freiheit und Privation verstanden werden kann, hat in sich selbst beides zugleich gesehen. Andere, die der Typologie des Privatgelehrten in der Realität nahe gekommen sind, haben auf den Versuch verzichtet, die Einheit der Extreme zu verwirklichen, und sich in Selbstbescheidung geübt. Wittgenstein, ebenfalls Erbe und Privatier, arbeitete als Lehrer und Gärtner, bevor er sich ins Privatleben zurückzog. D e r Sprachphilosoph Fritz Mauthner, einer der mit größtem Unrecht Vergessenen des späten neunzehnten Jahrhunderts, war Romancier und Journalist. Den übrig gebliebenen Vertretern des Typus steht heute allein der Weg der Bescheidenheit offen: Entweder sie zehren von dem, was sie durch Herkunft, Glück oder Verdienst ansammeln konnten, um die Ergebnisse ihrer Arbeit einem Markt zur Verfügung zu stellen, der nichts honoriert, was nicht durch akademische oder mediale Weihen abgesegnet worden ist. Oder sie finanzieren sich durch eine Tätigkeit, die ihnen Kraft und Zeit nimmt, zu tun, was sie als ihre Bestim-

Was vom Idealismus übrig blieb

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mung empfinden, ihnen aber doch erlaubt, Fragmente davon zu verwirklichen. In beiden Fällen schrumpft das Wichtigste zur Freizeitbeschäftigung zusammen.

Lehrzwang des Titels halber Dass dieses Syndrom nicht mehr nur die ohnehin Abgehängten, sondern das universitäre Leben selbst betrifft, wissen die akademischen Nachfolger des Privatgelehrten, die Emeriti, Privatdozenten und Lehrbeauftragten, nur zu gut. Am besten geht es noch dem Emeritus, hat er doch eine Karriere hinter sich, die dem originären Privatgelehrten nie offenstand. Sein Privatgelehrtenstatus ist gleichsam der Lohn für den fast lebenslangen Verzicht darauf. N u n kann er verwirklichen, wofür Lchrroutine und Gremienarbeit ihm die Zeit genommen haben. D o c h die Institution, die ihm nach seinem Ausscheiden erlaubt, was sie während seiner Dienstzeit verhindert hat, dankt ihm seine nachgetragenen Leistungen nicht. Wie das Zeremoniell der Festschrift längst zur Textabladestelle heruntergekommen ist, hat auch der Emeritus im universitären Alltag kaum noch Platz. Die einzige Legitimation seiner Anwesenheit besteht in seiner Entlastungsfunktion. Sofern er weiterhin lehrt, reduziert er die Personalkosten, und sein N a m e vermag einem in Bürokratie und Routine erstarrten Betrieb eine Art postume Aura zu verleihen. Ansonsten aber hat er nicht viel zu melden. Sein Dienstzimmer muss er mit Schicksalsgenossen teilen, die Bibliotheksangestellten kennen weder sein Gesicht noch seine Schriften, und das modularisierte Studiensystem hat für seine obskuren Spezialitäten keinen O r t . So wird er zu dem Relikt gemacht, als das er dann bei Bedarf verspottet werden kann. Privatdozenten und Lehrbeauftragte sind im Grunde nichts anderes als Emeriti vor Dienstantritt. Beide können sich freuen, für ihre Arbeit überhaupt honoriert zu werden, und beide stehen unter ständigem institutionellen D r u c k . Wie die sogenannte Titellehre Habilitierte ohne ordentliche Professur in vielen Bundesländern zwecks Erhalts ihres akademischen Grads zur unentlohnten Lehre zwingt, müssen Promovierte, die keine Postdoktorandenstelle ergattern konnten, wegen des bei vielen Stellenausschreibungen erwünschten Nachweises von Lehrerfahrung gegebenenfalls unbezahlte Lehraufträge annehmen. Selbst die honorierten indes bringen hierzulande nicht mehr als 500 bis 1 500 Euro pro Semester ein. D e r Lebensunterhalt muss also durch Stellenvertretungen, Projektmitarbeit, außeruniversitäre Lohnarbeit, eigene Rücklagen oder das E i n k o m m e n des Partners gedeckt werden. So werden Habilitierte ohne Professur und Promovierte ohne Postdoc-Stelle in der Mitte ihres Lebens zu denselben Dinosauriern gemacht, als die sich die Emeriti nach Ende ihrer Dienstzeit fühlen ebenso überflüssig, nur mit weniger Geld. O h n e ihre im Grunde ehrenamtliche Tätigkeit könnte sich das ganze System nicht mehr finanzieren. D i e Emphase der Zweckfreiheit, die das akademische Milieu im Typus des skurrilen Gelehrten zwar verlacht, aber auch zu ihrem R e c h t gebracht hat, wird dabei nur noch als Störfaktor wahrgenommen. Wer mit vierzig nicht F u ß gefasst hat, mit dessen Lebensplanung kann etwas nicht stimmen. Alter gilt nicht mehr als möglicher Index von Erfahrung, sondern als Index von Wertverlust, während der Betrieb, der sich so viel auf seine E f f i z i e n z zugutehält, in sich selbst immer nutzloser wird. Was er vielleicht einmal wollte, verkörpern am ehesten diejenigen, denen er die T ü r weist und die in einer Zeit, die H u m b o l d t allenfalls als Floskellieferanten kennt, ihre Einsamkeit und Freiheit als Lebensnot erfahren.

Jochen

„Sanfte Steuerung

Krautz

der Bildungsreformen

Zu den Durchsetzungsstrategien von PISA, Bologna & Co.

L

angsam greift der Reform-Kater um sich. Nachdem man lange die frühen Warnungen aus Wissenschaft und Pädagogik in den Wind geschlagen hat, räumen zunehmend auch Stimmen aus Wirtschaft und Politik das längst offensichtliche Scheitern der Bildungsreformen

um Bologna, P I S A & C o . ein. Zu Recht machte Eberhard von Kuenheim unlängst die „ Ö k o n o misierung der Bildung" für die nun sichtbaren Schäden verantwortlich. Ex-Minister Frankenberg bemerkt spät, aber dennoch, dass viele BA-Absolventen nicht mehr denken können und die Wirtschaft anderes braucht. Wie aber sind dann PISA und Bologna gegen alle Vernunft, aber mit offenbarer Macht am Willen der meisten Beteiligten und der Bürger vorbei durchgesetzt worden?

Einflussnahme auf souveräne Staaten Darüber geben die globalen und europäischen Akteure des Bildungsumbaus selbst Auskunft. Die O E C D , als Wirtschaftsorganisation verantwortlich für den PISA-Test, sieht in ihren PeerReview-Verfahren den „effizientesten Weg, Einfluss auf das Verhalten souveräner Staaten zu nehmen". Dazu diene die „naming and shaming technique": Wer nicht dem PISA-Kodex entspricht, wird am medialen Pranger bloßgestellt. Obwohl die O E C D keine demokratische Legitimation hat, setzt sie die eigenen normativen Ansprüche politisch durch. PISA 2000 formulierte bereits, dass der Test keine Rücksicht auf nationale Lehrpläne nehme - also auf das, was unsere Schüler tatsächlich gelernt haben. Vielmehr

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Jochen Krautz

verfolge m a n ein eigenes „didaktisches u n d bildungstheoretisches K o n z e p t " , das „normativ" wirke. Z e n t r a l ist darin das K o m p e t e n z - K o n z e p t d e r O E C D : K o m p e t e n z ist d e m n a c h die rein f u n k tionale Fähigkeit, sich an die ö k o n o m i s c h e n Erfordernisse flexibel „anzupassen". A n p a s s u n g war allerdings noch nie das Ziel v o n Bildung - im Gegenteil! Schulische Richtlinien sind v o m Menschenbild des G r u n d g e s e t z e s getragen: H i e r gilt der M e n s c h als selbstbestimmte, v e r n ü n f t i g e u n d dem G e m e i n w o h l verpflichtete Person, nicht n u r als Träger funktionaler Kompetenzen. D o c h setzte n u n unter d e m inszenierten „PISA-Schock" das D e n k e n aus, u n d jede Bildungsr e f o r m w u r d e damit b e g r ü n d e t , beim nächsten Test besser abschneiden zu wollen. Lehrpläne, Standards u n d zentrale P r ü f u n g e n w u r d e n entsprechend zugeschnitten. Das O E C D - K o n z e p t w u r d e tatsächlich zum neuen M a ß s t a b f ü r Bildungserfolg. Die vermeintlich „objektiven" Vergleichstests setzten so per normativer Empirie ein verengtes, utilitaristisches Bildungsverständnis am demokratischen Souverän u n d an geltenden Richtlinien vorbei durch.

„Sanfte Steuerung' durch OECD und EU Wer nicht demokratisch legitimiert ist, n u t z t Mittel indirekter Einflussnahme. Diese Strategie s o g e n a n n t e r „soft governance" im Bildungswesen wurde mittlerweile von Wissenschaftlern des Sonderforschungsbereiches 597 der Universität Bremen empirisch verifiziert. E U u n d O E C D haben d e m n a c h das gerade nicht funktionalistisch ausgerichtete deutsche Bildungsdenken erfolgreich verdrängt, indem man mit einer Flut von G u t a c h t e n , Erklärungen u n d „semi-akademischer P r o s a " gezielt b e s t i m m t e Ideen in die öffentliche Diskussion einspeiste. Solche „discursive dissemination" diene dazu, n e u e D e n k w e i s e n zu etablieren, auf deren G r u n d l a g e R e f o r m e n erst d u r c h g e s e t z t werden k ö n n e n . D a z u gehört auch die K o o r d i n a t i o n u n d Ü b e r w a c h u n g der R e f o r m e n sowie das Aufstellen verhaltenssteuernder Standards. Dabei sei erstaunlich, wie leicht nationale Bildungsideen u m g e k r e m p e l t u n d sogenannte „Veto-Player" ausgeschaltet werden k o n n t e n - gemeint sind wohl jene Alt-Europäer, die das eigene D e n k e n nicht der „sanften Steuer u n g " u n t e r w e r f e n wollten. Dies gelang auch bei der H o c h s c h u l r e f o r m d u r c h jeweils national angepasste rhetorische Strategien. W ä h r e n d in D e u t s c h l a n d vor allem H u m b o l d t als personifizierte Bildungsidee immer wieder ins G r a b geredet wurde, hat man etwa in der Schweiz den rückständigen „Kantönli-Geist" v e r s p o t t e t , der den Anschluss an die fortschrittliche E U verhindere. So w u r d e n auch im Alpenland die R e f o r m e n t r o t z der d i r e k t - d e m o k r a t i s c h e n Einspruchsmöglichkeiten der Bürger und o b w o h l die Schweiz nicht Mitglied der E U ist, vollständig durchgesetzt.

Bertelsmann und die „Kunst des Reformierens" D i e Blaupause f ü r solche Governance-Strategien liefert eines der strategischen Z e n t r e n gerade des Bologna-Prozesses selbst. In einem Papier über die „Kunst des R e f o r m i e r e n s " gibt die Bert e l s m a n n - S t i f t u n g dezidierte Anleitung, wie m a n R e f o r m e n gegen den Willen der Bürger u n d B e t r o f f e n e n durchsetzt. Regierungen d ü r f t e n sich v o n „Vetospielern" nicht die Handlungsspielr ä u m e verengen lassen. D a h e r seien R e f o r m p r o g r a m m e „unter R e d u k t i o n der Beteiligung von

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„Sanfte Steuerung" der Bildungsreformen

Interessengruppen" zu entwickeln, sodann diese zwar anzuhören, nicht jedoch, um die Sache zu diskutieren, sondern um die „Legitimität der R e f o r m " zu steigern und „Widerstände" zu mindern. Ein einheitlicher „kommunikativer F r a m e " gibt die Schlagworte für die Öffentlichkeit vor. Besonderes Augenmerk gilt der Schwächung von „Widerstandspotenzial", das durch einen „geschickten Partizipationsstil" „aufzubrechen" sei. Man spaltet also die Opposition, indem man die einen beteiligt, die anderen benachteiligt, „um so eine potenziell geschlossene Abwehrfront zu verhindern": „Durch eine selektive Partizipation während der Entscheidungsphase können Vetospieler in ihrer Kohärenz geschwächt, sozusagen .gesplittet', und die Protestfähigkeit b e s t i m m t e r Interessengruppen gemindert werden." Diese Zersetzungsmaßnahmen gegenüber nicht zustimmungswilligen Bürgern und Beteiligten gilt als demokratietheoretisch „nur auf den ersten B l i c k " bedenklich. Schließlich müsse sich „eine Regierung im Zweifelsfall auch gegen den empirischen und kontingenten Volkswillen durchsetzen."

Gesteuerte Demokratie Eine solche von Experten gesteuerte Scheindemokratie, in der der Volkswille als zufällig und lenkbar gilt, streben auch klassische Modelle der Propaganda an: D i e „bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der M a s s e n " sei die „logische Folge der Struktur unserer D e m o k r a t i e : Wenn viele Menschen möglichst reibungslos in einer Gesellschaft zusammenleben sollen, sind Steuerungsprozesse dieser A r t unumgänglich", so Edward Bernays in seinem berühmten Buch „Propaganda" von 1928. Das gilt bis heute als Grundlage aller P R . Unsichtbare Herrschaft durch Eliten sei demnach nicht nur legitim, sondern notwendig, um „Konsens herzustellen", wie Bernays Lehrer Walter Lippmann meinte. Hierzu müsse man die weitgehend unbewussten Bilder in den Köpfen der Menschen verändern. Das jedoch nicht durch offene Werbung, deren U r h e b e r und Interesse sichtbar ist, sondern durch die Inszenierung vermeintlicher Wirklichkeiten. Propaganda, so Bernays, „ist das stetige, konsequente Bemühen, Ereignisse zu formen oder zu schaffen mit dem Zweck, die Haltung der Ö f f e n t l i c h keit zu einem U n t e r n e h m e n , einer Idee oder einer Gruppe zu beeinflussen." Auch kommunikative Großereignisse wie P I S A oder Bologna reagieren nur vordergründig auf eine Wirklichkeit. Vor allem stellen sie selbst eine neue Wirklichkeit her: Sie verändern nachhaltig die Vorstellung von Bildung und die Einstellung zu dem, was Ziel und Aufgabe von Schule und Universität ist.

„Reformkunstwerk" Bologna D e r Bologna-Prozess

zeigt wesentliche Züge eines solchen propagandistisch

inspirierten

„Reformkunstwerks": Eine Kerngruppe von Ministern und politischen Beamten unterzeichnete 1999 die Bologna-Erklärung, eine völkerrechtlich nicht verbindliche Absichtserklärung. Ziel war von Beginn an, Universitäten zum O r t „arbeitsmarktbezogener Qualifizierung" zu machen. D i e kommunikative Strategie war seit M i t t e der 90er Jahre vorbereitet: Aus E U , Lobbygruppen, Regierungen und wirtschaftsnahen Stiftungen wurde mit alarmistischer Rhetorik die Rückständigkeit der Universitäten im globalen ökonomischen Wettbewerb in dramatischen Farben

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Jochen Krautz

ausgemalt. D i e Lösungen zeichnete schon 1996 der damalige „Zukunftsminister" Jürgen R ü t t gers vor: Evaluationen von Lehre und Forschung, Qualitätssicherungsverfahren, ergebnisorientierte, effiziente Leitungs- und Managementstrukturen der Hochschulen, die Dienstleistungsbetriebe zu sein hätten. Die Bertelsmann-Stiftung gründete mit den Hochschulrektoren, die eine mögliche O p p o s i t i o n hätten darstellen können, das C e n t r u m für Hochschulentwicklung ( C H E ) . Dessen C h e f verkündete 2 0 0 0 , dass die R e f o r m nicht „ohne innere Konflikte und vielleicht auch .traumatische' Erfahrungen" vonstatten gehen würde. D e n n o c h sei sie „unausweichlich". Dabei knüpfte man geschickt an bestehende Probleme der Hochschulen an, um kritische Geister ins B o o t zu holen und Widerstand zu mindern. H i e r war für jeden etwas dabei: D e r Wirtschaft wurden mit ö k o n o m i s t i s c h e m Vokabular jüngere und dennoch besser qualifizierte A b s o l venten versprochen, auf Leistung bedachten Konservativen die Senkung der Abbrecherquoten, den Studenten studierbare Studiengänge und den Universitäten mehr A u t o n o m i e . Das A n e r k e n nungsstreben der Fachhochschulen spielte man gegen die Universitäten aus. Sozialdemokraten und gesellschaftskritische G r u p p e n erreichte man mit der Suggestion, die Bachelorisierung des Studiums sei die Verwirklichung einer „Bildung für alle" usw. Zugleich hielt das neoliberale Neusprech und Neudenk der C h i c a g o School o f E c o n o m i c s allerorten Einzug. Bildungs- und wissenschaftsferne betriebswirtschaftliche Steuerungsmuster wurden in neuen Hochschulgesetzgebungen verordnet. Beim „Hochschulfreiheitsgesetz" in N R W hat das C H E die wesentliche Inhalte gleich selbst vorformuliert. Universitäten wurden dadurch zu halbstaatlichen U n t e r n e h m e n , kontrolliert von Wirtschaftsvertretern in einem Aufsichtsrat. Ganz gemäß der zitierten Zersetzungs-Agenda wurden Kritiker als Ewiggestrige und ängstliche Blockierer dargestellt. M a n c h e r sich „emanzipatorisch" und „fortschrittlich" wähnende K o l lege sah sich unversehens zum Strukturkonservativen gestempelt, weil er nicht ohne weiteres alle Ideale über B o r d werfen wollte. Strategisch wurde die R e f o r m zu einem Zeitpunkt lanciert, als Scharen von Professoren emeritiert wurden, die im Zuge des Hochschulausbaus der 70er Jahre ins A m t gekommen waren. D i e wandten sich mit Schaudern ab: N a c h mir die Sintflut! U n d die nachwachsende Generation lehnte sich mit Kritik kaum aus dem Fenster, wollte man doch Aussichten auf Karriere nicht verderben. So erwuchs das, was die K ö l n e r Erklärung „Zum Selbstverständnis der Universität" von 2 0 0 9 scharfzüngig als „epistemische Säuberung" beschreibt: Anpassung an die als unvermeidlich inszenierte Selbstaufgabe der Universitäten. Das neue Bild von Bildung und Wissenschaft als Dienstleistungsfaktor, der primär Stakeholder-Interessen zu bedienen habe, wurde auch in der Öffentlichkeit selbstverständlich.

Perverse Effekte oder strategische Schwächung? Dass mehr P I S A - P u n k t e nicht bessere Bildung bedeuten, wird langsam einer breiteren Ö f f e n t lichkeit klar. Hans-Peter Klein hat an Abiturprüfungen, die von unvorbereiteten Neuntklässlern spielend bestanden wurden, gezeigt, dass die sogenannte „Kompetenzorientierung" faktisch die Nivellierung von Wissen und K ö n n e n bedeutet. Studenten protestieren gegen die geistige Kas-

,Sanfte Steuerung" der

Bildungsreformen

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tration in verschulten Studiengängen. G r o ß e K o n z e r n e schulen B A - A b s o l v e n t e n inzwischen stillschweigend nach. Kleinere U n t e r n e h m e n können das nicht und ringen die H ä n d e . Sind all das nur unbeabsichtigte N e b e n e f f e k t e gut gemeinter R e f o r m e n ? O d e r w o z u ruinieren wir mit vermeintlich anglo-amerikanischen Ideen unser Bildungswesen und lassen dabei die wirklichen Erziehungs- und Bildungsprobleme ungelöst? H i e r denkt inzwischen mancher weiter: D a s sind wohl eine Art verspätete Reparationszahlungen, bemerkte trocken ein B i l d u n g s ö k o n o m neulich in der K a f f e e p a u s e einer Tagung. D e n n was schwächt eine starke Volkswirtschaft, der man anders nicht b e i k o m m e n kann, mehr, als deren Bildungswesen zu torpedieren? Insofern bleibt zu hoffen, dass nicht nur Eltern, Lehrer und Hochschullehrende sich besinnen, sondern alle Bürger die H o h e i t über ihr Bildungswesen zurückfordern. U n d die Wirtschaft, in deren N a m e n all dies geschieht, müsste deutlich machen, o b es tatsächlich das ist, was sie will. O d e r m u s s der dahinratternde R e f o r m - Z u g erst u n g e b r e m s t an der harten Realität zerschellen, bevor ein U m d e n k e n einsetzt? D e n k e n konnte E u r o p a doch einmal.

Heinz D. Kurz

Von der Natur des Menschen und der kommerziellen Gesellschaft David Hume zum 300. Geburtstag

D

avid Hume, bedeutender Repräsentant der schottischen Aufklärung und Wegbereiter der modernen westlichen Philosophie, wird am 7. Mai 1711 (nach altem schottischen Kalender am 26. April) in Edinburgh geboren. Hume habe ihn aus „dogmatischem Schlummer" gerissen, lässt uns Immanuel Kant wissen. Für Adam Smith ist er der „bei weitem bedeutendste Philosoph und Historiker der Gegenwart". Seine ökonomischen Schriften nennt ein Hume-Biograph „Wiege der Politischen Ökonomie"; ein Smith-Biograph sekundiert: „Ohne Hume kein Smith". Sein Scharfsinn und seine Sprachgewalt beeindrucken François Quesnay, Haupt der „Physiokraten", ebenso wie Alexander Hamilton, Mitverfasser der Federalist Papers. Hume studiert Jura in Edinburgh, aber das Fach langweilt ihn. Er wendet sich der Philosophie zu, die ihn ein Leben lang nicht mehr loslässt. Er bleibt Junggeselle. 1734 geht er nach Frankreich, wo er mehr schlecht als recht von seinen Ersparnissen lebt und an seinem ersten großen Werk schreibt. Er schließt es im Alter von 28 Jahren ab. 1739-1740 erscheint in drei Bänden A Treatise of Human Nature, eine „Wissenschaft vom Menschen" - Grundlage aller Humanwissenschaften. Posthum als sein vielleicht wichtigstes Opus gerühmt, bleibt diesem der Erfolg zu Lebzeiten versagt. Der Versuch, es mittels einer anonym veröffentlichten Kurzfassung, dem Abstract, zu popularisieren, misslingt. Anfang der 1740er Jahre publiziert er einige seiner Essays, Moral and Political und bewirbt sich für eine Professur an der Universität von Edinburgh. Der ihm vorauseilende Ruf eines Atheisten vereitelt das Unterfangen. Während der Rebellion der Jacobiten (Anhänger der Stuarts) 1745/46 verdient er sich seinen Lebensunterhalt als Tutor, ab 1746 für drei Jahre als Privatsekretär. 1748 erscheint An Enquiry concerning Human Understanding.

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Heinz D. Kurz

Danach verfasst er mehrere Essays über ökonomische Themen, die 1752 als Political Discourses erscheinen. D e r Band ist sehr erfolgreich, erscheint in rascher Folge in zahlreichen weiteren Auflagen und wird schnell u.a. ins Französische und Deutsche übersetzt. Von 1752-1757 ist H u m e als Bibliothekar an der Juristischen Fakultät der Universität Edinburgh tätig. Er arbeitet fieberhaft an seiner History of England, die 1754-1761 in sechs Bänden erscheint und zum Bestseller wird. Einer Anklage wegen Ketzerei entgeht er n u r knapp. Auch der von ihm angestrebte Philosophielehrstuhl an der Universität Glasgow bleibt ihm verwehrt. Von 1763-1765 ist er Privatsekretär des britischen Botschafters in Paris. D o r t trifft er auf die Enzyklopädisten und lernt JeanJacques Rousseau kennen, mit dem er sich jedoch überwirft. Von 1767 an bekleidet er für ein Jahr die Position eines Unterstaatssekretärs in London. 1768 lässt er sich in seiner Heimatstadt Edinburgh nieder, w o er am 25. August 1776 stirbt. D e r Spruch auf seinem Grabstein stammt von ihm selbst: „Born 1711, Died [ - ] . Leaving it to posterity t o add the rest." In seinen 1779 erscheinenden Dialogues concerning Natural Religion verwirft er die Idee, die Existenz Gottes sei am intelligenten Design der Welt ablesbar. Die folgenden Zeilen gelten vor allem H u m e s Ö k o n o m i k . Er schreibt zu einer Zeit, in der die Entdeckung der Neuen Welten noch immer Spekulationen über die Ursachen ökonomischer und gesellschaftlicher Unterschiede und Entwicklungen beflügelt. Schottland und Britannien erleben nach dem Spanischen Erbfolgekrieg relativ friedliche Zeiten. Das Pro-Kopf-Realeinkommen wächst langsam, Außenhandel und Geldumlauf expandieren geschwind. Das technische Wissen entwickelt sich über Lerneffekte und die Imitation und Verfeinerung andernorts erzeugten Wissens. Zu größeren Innovationen k o m m t es zunächst aber nicht. Wir befinden uns im Vorhof zur Industriellen Revolution und des danach erfolgenden wirtschaftlichen Take-off großer Teile Europas und seiner westlichen Ableger und eines sich vergrößernden Wohlstandsgefälles zum Rest der Welt. Die genannten Themen kehren in H u m e s Schriften wieder, so die Frage nach den G r ü n d e n für wachsende Prosperität und speziell die Rolle des Außenhandels dabei sowie diejenige nach der Rolle des Geldes in arbeitsteiligen Ökonomien. Was sind die Ursachen und langfristigen Folgen des sich allmählich beschleunigenden Prozesses der Kommerzialisierung - national und weltweit? Befördert dieser das Glück der Menschen? Was ist falsch an der damals vorherrschenden Lehre der Merkantilisten? H u m e ist Empirist. Alle Wissenschaft basiere auf Erfahrung und Beobachtung bzw. Experiment. Als Aufklärer setzt er grundsätzlich auf Vernunft und Reflexion. Aber angeborene „natural beliefs" und Instinkte seien gelegentlich stärker als die Ratio. Hierauf bezieht sich sein b e r ü h m t e r Satz von der Vernunft als „Sklavin der Leidenschaften". Berühmt ist auch seine Stellung z u m Induktionsproblem. Es gebe keinen G r u n d zur Annahme, dass die Z u k u n f t der Vergangenheit ähnelt. Ein Versuch der Rechtfertigung dieser Annahme unterstelle bereits deren Gültigkeit. (Nassim Nicholas Talebs „black swan effect" in Bezug auf Finanzmärkte greift auf H u m e zurück.) H u m e s ökonomisches Werk durchdringt die Vorstellung von der Wirtschaft als einem sich aus sich selbst heraus ständig wandelnden Gebilde. In heutiger Diktion könnte man sagen, ihm geht es um die Enthüllung der endogenen Dynamik des Entwicklungsprozesses, der von Rückkopplungseffekten beherrscht wird. Dessen tieferes Verständnis, so H u m e , sei praktisch, wirtschaftspolitisch von unschätzbarem N u t z e n . Die neue Wissenschaft beansprucht einen hervorgehobenen Platz im Rund der alten.

Von der Natur des Menseben und der kommerziellen Gesellschaft

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Welche Motive bewegen den M e n s c h e n dazu, zu arbeiten, sich anzustrengen? Es sind dies 1. d e r Wunsch, zu k o n s u m i e r e n , 2. der Wunsch, zu handeln u n d sich H e r a u s f o r d e r u n g e n zu stellen, 3. der Wunsch, seinen Leidenschaften nachzugehen, u n d 4. der Wunsch, G e w i n n zu machen. Die relative B e d e u t u n g dieser Antriebe ist k o n t e x t a b h ä n g i g u n d ändert sich im Verlauf der Zivilisationsgeschichte. So spielten zunächst insbesondere der erste u n d dritte Antrieb eine herausragende Rolle, in späteren Stadien dann der zweite, u n d in der entfalteten kommerziellen Gesellschaft der vierte. W ä r e n alle Ressourcen im U b e r f l u s s vorhanden, so gäbe es kein Privateigent u m . Dieses resultiere aus der Knappheit an Ressourcen. D e r M e n s c h sei kein n u r auf ö k o n o m i s c h e Interessen reduzierbares Wesen, kein einfacher H e d o n i s t , sondern ein d u r c h multiple, dimensional verschiedenartige Motive gekennzeichneter Akteur. D e r b e r ü h m t e homo oeconomicus der späteren marginalistischen Ö k o n o m i k begegnet uns in H u m e s Werk n u r als Grenzfall. H u m e weiß u m die konfligierenden Motive des Menschen, der f ü r i h n nichts weiteres ist als „eine A n s a m m l u n g von Widersprüchen." Bei Kant liest man später: „Aus so k r u m m e m H o l z e , als woraus der M e n s c h gemacht ist, kann nichts ganz Gerades g e z i m m e r t werden." (In jüngerer Zeit w u r d e das Problem des „multiple seif" sowohl von Philosophen als auch von Ö k o n o m e n wieder aufgegriffen u n d hat zu einer Kritik überlieferter Lehren geführt.) Es gebe keinen G r u n d z u r A n n a h m e , der M e n s c h agiere immer zu seinem Besten. E r sei n o t w e n d i g ein rastloses Wesen, ein homo laborans. Einige der Ergebnisse der heutigen Verhalt e n s ö k o n o m i k hätten H u m e vermutlich n u r mäßig überrascht. Wie k o m m t es zu wirtschaftlicher u n d sozialer Entwicklung, zur H e r a u s b i l d u n g der m o d e r n e n „kommerziellen Gesellschaft"? N o t macht erfinderisch. Eine Ü b e r l e g u n g M o n t e s q u i e u s aufgreif e n d a r g u m e n t i e r t H u m e , dass ein günstiges Klima u n d f r u c h t b a r e Böden einen Typus von Menschen hervorbrächten, der die Verhältnisse genieße u n d keinen G r u n d sähe, sich anzustrengen. Karge Lebensbedingungen seien "der große A n s p o r n von Fleiß u n d E r f i n d u n g " , Zivilisation die F r u c h t eines dadurch g e f o r m t e n Milieus, in d e m M ü h e u n d harte Arbeit geehrt w ü r d e n . U n t e r solchen U m s t ä n d e n w e r d e der latent v o r h a n d e n e zweite A n t r i e b besonders aktiviert. Der M e n s c h n e h m e die H e r a u s f o r d e r u n g einer unwirtlichen Welt an u n d überwinde die widrigen U m s t ä n d e . Es ergäben sich Gelegenheiten zu G e w i n n , der ihn weiter motiviere. Ü b e r interregionalen u n d internationalen H a n d e l k o m m e er mit neuen G ü t e r n u n d G e n ü s s e n in Berührung. Diese weckten in ihm infolge einer Art D e m o n s t r a t i o n s e f f e k t zusätzlichen Bedarf u n d spornten Fleiß u n d G e s c h ä f t s s i n n neuerlich an. Es ergebe sich ein Prozess kumulativer Verursachung, eine sich aus sich selbst heraus speisende Entwicklung. Es verwundert nicht, dass H u m e der Ansicht ist, auch Steuern k ö n n t e n in gewissem U m f a n g stimulierend wirken. Zu h o c h seien sie erst, wenn sie d e n Geist d e r Betriebsamkeit lahmen. D e r Handelskapitalist („merchant") ist f ü r H u m e der eigentliche D e m i u r g der m o d e r n e n Gesellschaft, die H e f e im zivilisatorischen Gärungsprozess. Von Aristoteles u n d den Kanonisten in ihrer Kritik an der C h r e m a t i s t i k an den Pranger gestellt, gebühre ihm Lob u n d A n e r k e n n u n g . Z w a r sei er gewinnsüchtig, aber seine rastlose Suche nach profitablen Gelegenheiten gepaart mit Fleiß u n d E r f i n d u n g s r e i c h t u m seien die Voraussetzung f ü r Entwicklung und Wohlstand. (Der H ä n d l e r erfülle jedoch nicht das Kriterium eines moralischen M e n s c h e n , da es ihm an U n p a r t e i lichkeit mangele.) H u m e s H ä n d l e r ist ein Vorfahre v o n Schumpeters „ U n t e r n e h m e r " . U n d wie bei diesem, sind auch bei ihm nicht-intendierte Folgen zweck-gerichteten H a n d e l n s entscheidend - ein beherrschendes T h e m a der schottischen Aufklärung. Seinem Bestreben, den erworbenen R e i c h t u m zu sichern, sei die Etablierung von E i g e n t u m s r e c h t e n sowie eines J u s t i z - u n d Poli-

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Heinz D. Kurz

zeiwesens zu verdanken. Diese ebneten den Weg hin zum modernen Rechtsstaat mit individuellen Freiheitsrechten und schließlich zur parlamentarischen Regierungsform. Mit der Entwicklung der Gesellschaft gehe die zunehmende Monetarisierung wirtschaftlicher Transaktionen einher. Entgegen einer weitverbreiteten Meinung war H u m e kein Vertreter einer engen Version der Quantitätstheorie des Geldes, die jedwede realwirtschaftlichen E f f e k t e von Geldmengenänderungen leugnet. Dies gelte nur in den „ersten und unkultivierten Stadien eines Staatswesens". In ihnen ist die Mobilität der M e n s c h e n gering, es wird im wesentlichen nur für den Eigenbedarf produziert, Genüsse sind einfach und grob, der Austausch von Waren und Informationen unbedeutend, Fleiß und Geschäftssinn schwach ausgeprägt. D i e zum Warenumschlag benötigte Geldmenge ist gering. In solcherart stationären Ö k o n o m i e n bewirke eine E r h ö hung der Geldmenge nur eine annähernd proportionale Erhöhung des Preisniveaus. Anders in der sich entwickelnden Gesellschaft - „nachdem die Menschen begonnen haben, ihre Genüsse zu verfeinern", und ihre Mobilität zunimmt. Geänderte Ansprüche bewirkten eine zunehmende Partizipation am Marktgeschehen. Ein wachsender Teil der wirtschaftlichen Aktivität gerate in den Sog der geldvermittelten Logik der Warenproduktion. D e r Grad der Kommodifizierung nehme zu, die „Zirkulationssphäre" dehne sich aus. Während zusätzliches Geld in einer unkultivierten Gesellschaft auf Antriebe 1 und 3 treffe, seien es in der kultivierten dominant Antriebe 2 und 4. Geschäftssinn, Fleiß und Erfindungsreichtum würden weiter angespornt. Dies führe kurzfristig zur Beschäftigung bislang ungenutzter produktiver Ressourcen und langfristig zu deren schnellerem Wachstum. Unterschiedliche Umweltbedingungen aktivieren unterschiedliche Anlagen und Neigungen des Menschen. D i e unveränderliche menschliche N a t u r ist der Resonanzboden und die jeweilige Umwelt der Spieler, der gewisse Saiten der menschlichen Natur zum Schwingen bringt. Diese wirken auf die U m w e l t zurück und verändern sie - zunächst nur unmerklich, dann aber möglicherweise beträchtlich. Mensch und Umwelt interagieren und durchlaufen verschiedene Stadien der Entwicklung. H u m e zufolge ändert sich das Verhältnis von Geldmenge und Gesamtprodukt, bei dem das Preisniveau konstant bleibt, im Laufe der Entwicklung. So hätten die Edelmetallzuflüsse in Europa im 16. Jahrhundert nur zu einem weit unterproportionalen Anstieg der Warenpreise geführt. Hierfür gebe es nur „eine befriedigende Erklärung": D i e Geldmengenausweitung habe sich günstig auf die wirtschaftliche Aktivität ausgewirkt. Das Geld sei allenfalls unter besonderen U m s t ä n d e n kurzfristig neutral. Üblicherweise belebe es die Sinne der Akteure und führe zur Anspannung von Nerv, Muskel, H e r z und Hirn. D e r Außenhandel sei der eigentliche M o t o r von Wirtschaft und Gesellschaft. Ein zweifacher D e m o n s t r a t i o n s e f f e k t treibe die Entwicklung: im Konsum über neue in den Begehrkreis der K o n s u m e n t e n gelangende Güter, in der Produktion über das Kennenlernen neuer M e t h o d e n und die graduelle Verbesserung des technologischen Wissens. Als unbeabsichtigtes N e b e n p r o d u k t induziere der Handel einen Prozess der allmählichen Zivilisierung der Gesellschaft. Handel basiere auf Kommunikation, schaffe wechselseitige Abhängigkeiten und trage zum Abbau von Vorurteil, N e i d und Hass bei. Wer handelt, führt keine Kriege. Die kommerzielle Gesellschaft, so H u m e s Vision, verfeinere die Moral und erhöhe das wechselseitige Vertrauen unter den M e n schen, obgleich eigensüchtige und gewinnorientierte Neigungen an Einfluss gewönnen. H u m e ist gewiss einer der größten Fortschrittsoptimisten und glühendsten Verfechter des Freihandels sowie einer sich vertiefenden internationalen Arbeitsteilung. D i e Angst vor reichen Nachbarn sei unbegründet, da diese als zahlungskräftige Kunden der eigenen Wirtschaft zugute kämen. Auch

Von der Natur des Menschen und der kommerziellen

Gesellschaft

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deren technologische Überlegenheit sei kein Grund zur Besorgnis. Man könne von ihnen lernen, sie imitieren und bei zu hohem Konkurrenzdruck sich anders spezialisieren. Wichtig sei es, den „spirit of industry" wachzuhalten. Die merkantilistische Auffassung, einzelne Länder könnten nur auf Kosten anderer gewinnen, sei Unsinn: Außenhandel sei allseits von Vorteil. Die moderne Vorstellung eines sich selbst regulierenden ökonomischen Systems wird besonders deutlich am Beispiel von Humes „specie-flow mechanism". „Specie" ist die Menge an Silber (bzw. Gold), die als Geld zirkuliert. Ist die im Inland verfügbare Geldmenge größer (kleiner) als jene, bei der das Preisniveau konstant bleibt, dann steigen (sinken) die Preise. Die Handelsbilanz einer offenen Volkswirtschaft hängt von den Preisen im Inland relativ zu denjenigen im Ausland ab. Sind die Preise im Inland niedriger als im Ausland, so kommt es zu einem Handelsbilanzüberschuss, der Wert der Exporte übertrifft den der Importe. Dies führt zu einem Zufluss an Edelmetall und damit einer Ausweitung der Geldmenge im Inland. Die Geldmenge ist endogen.

Ihre

Ausweitung wirkt preiserhöhend, verringert so die Wettbewerbsfähigkeit des Inlands und lässt den Überschuss schrumpfen. Das System ist homöostatisch: Auftretende Störungen des internationalen Handelsgleichgewichts aktivieren Kräfte, die der Störung entgegenwirken. Die merkantilistische Vorstellung, ein Land könne nur durch Exportförderung und Importbeschränkung für einen Zufluss an Edelmetall sorgen, sei unhaltbar. Nationaler Reichtum sei Folge hoher Produktivität und Konkurrenzfähigkeit der inländischen Gewerbe. Die Koordinationsanforderungen an das von Hume untersuchte privat-dezentrale System sind beträchtlich. Auf interdependenten Märkten muss ein wachsendes Produkt bei sich ständig vergrößernder Produktvielfalt und einer national wie international immer tiefer gegliederten Arbeitsteilung umgeschlagen werden. Hume ist überaus optimistisch, dass das System den Anforderungen genügt. Aber er beharrt darauf, dass ein funktionierendes Geld- und Finanzwesen das Alpha und Omega der sich entfaltenden kommerziellen Gesellschaft ist. Geld, immer mehr Geld ist als „Schmiermittel" vonnöten, und spätestens wenn der Zuwachs an Edelmetallen nicht mehr Schritt hält mit dem Transaktionsvolumen, kommt es als Echo zu den Erfindungen im realen Sektor vermehrt zu solchen im monetären. Einige darunter stellen eine große Gefahr für das Alpha und Omega dar. Nicht alles, was neu ist, ist auch gut, und manches ist hochtoxisch. Während der Missbrauch in Bezug auf einzelne Güter, ob alt oder neu (z.B. Tabak), nur jenen Menschen schade, die Missbrauch treiben, betreffen Neuerungen im Geld- und Finanzwesen die Gesellschaft insgesamt. Hume spricht zwar nicht explizit von einem „öffentlichen Gut", aber der Sache nach geht es um nichts anderes. Das Geld- und Finanzwesen einer Nation sei zu wichtig, als dass man es „Abenteurern" überlassen dürfe. Gemeint ist der „waghalsige Pläneschmied" und „Doktor" John Law, der in Frankreich für eine gewaltige Aufblähung der Papiergeldmenge verantwortlich war, um die Staatsschuld zu tilgen. Seine Aktionen führten zu einer tiefen Krise des französischen Geld- und Finanzwesens. Auf diese Weise, so Hume trocken, „stirbt die Wirtschaft am D o k t o r " . Eine allzu leichte Verfügbarkeit von Kredit sei schädlich. Die größte Gefahr gehe von der Staatsverschuldung aus. Ein Land, so seine Überzeugung, müsse die Staatsschuld kontrollieren und gegebenenfalls „zerstören, um nicht von ihr zerstört zu werden". Eindringlich fordert er, dem „Einfluss populärer Verrücktheit und Verblendung" zu entsagen. Wie im Leben des Einzelnen auch komme es bei Papiergeld und Staatsschuld darauf an, die richtigen Proportionen zu finden und Mäßigung zu praktizieren. Zwar sind einige seiner Überlegungen aus Gründen ihrer Zeitbedingtheit überholt, gleichwohl können wir auch heute noch viel von Hume lernen, von seinem kritisch abwägenden Zugang zu

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den großen Problemen der Menschheit, seinem Wissen um unsere begrenzten Erkenntnismöglichkeiten, seinem Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft als einem Prozess kumulativer Verursachung, seiner Wachheit gegenüber der Rolle sozialer Institutionen und der Politik für das „Glück" des Menschen. Und wir können uns an seinem Scharfsinn und seiner Sprachgewalt erfreuen.

Dieter Lenzen

Jeder sein eigener Gott Pisa-Studie, Bachelor und die Folgen: Das alte Ideal vom unverwechselbaren Individuum ist in Gefahr. ach meinem Wechsel von der Leitung der F U in das Präsidentenamt der Universität Hamburg werde ich gelegentlich gefragt, ob ich ein anderer geworden sei, da ich doch jetzt auf Seiten der Studenten für ihre akademische Zukunft eintrete. Abgesehen davon, dass hier ein falscher Gegensatz aufgemacht wird, weil es epochal ganz verschiedene Formen gibt, für die nachwachsende Generation einzutreten, verrät die Frage eine Irritation. Jemand ist nicht mehr derselbe, ist er noch identisch mit dem, den wir kannten? Identität dient also offenbar den jeweils anderen, sich zurechtzufinden mit uns, Sicherheit zu schaffen. Auch werden wir so leichter zum Objekt von Zuschreibungen. Wir sind stark oder schwach, gerecht oder ungerecht, gut oder böse. Identität, dieses soziale Konstrukt, wird gebraucht von Seelsorgern und Kriminalbeamten, von Psychiatern und Pädagogen. N u r um eine mit sich identische Seele kann sich der Pfarrer kümmern, wenn er deren Sünden vergibt und nicht die eines anderen. Der Kripobeamte kann sich von einem Straftäter nicht sagen lassen, der Diebstahl sei gestern von einem anderen in demselben Körper begangen worden. Der Psychiater taucht mit dem Patienten in diese eine Lebensgeschichte ein. U n d Pädagogen sorgen dafür, dass bei den Jugendlichen überhaupt eine Identität entsteht. Das war nicht immer so und ist auch nicht in jeder Kultur der Fall. Neben einigen antiken Spuren ist das Christentum für das heute im Globalisierungsprozess sich verflüchtigende Identitätsdenken konstitutiv gewesen. D a läuft ein Wanderprediger namens Jesus umher und behauptet, er sei Gott. Arme und Kranke sind beeindruckt. Die Sachwalter der Uberlieferung, die Schriftgelehrten, sind dagegen alles andere als amüsiert. Schon als Zwölfjäh-

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Dieter

Lenzen

riger geht dieser J e s u s ihnen auf die N e r v e n , ihnen, die sie wissen, dass es nur eine heilige I d e n tität gibt: G o t t selbst, und er steht nicht vor ihnen, sondern in ihren B ü c h e r n . J e s u s zieht es vor, sich als dessen S o h n zu b e z e i c h n e n , rettet die Identitätsidee und verstärkt sie n o c h . Vater und S o h n seien ein und dasselbe, die Grundlage für das spätere Dreieinigkeitsdenken. Augustinus wird sich ein paar J a h r h u n d e r t e später zu dem Satz versteigen: „ I c h wäre also nicht, mein G o t t , wärest du nicht in mir." H i e r ö f f n e t sich der Weg zu einem D e n k e n , dass das A b e n d l a n d nicht m e h r loslassen wird. J e d e r von uns ist gewissermaßen G o t t : erstens, weil nach dem Bilde G o t t e s geschaffen ( I m a g o D e i ) . U n d zweitens, w e n n wir den Heilsweg C h r i s t i (nach) zu gehen uns b e m ü h e n ( I m i t a t i o C h r i s t i ) . Das bedeutet, Identität ist uns gegeben. Sie muss allerdings durch unser H a n d e l n stets abgesichert werden, denn wir tendieren dazu, uns in der Sünde zu verlieren. Wir Abendländler haben also gelernt, uns in I r r i t a t i o n e n unserer Identität zu bewähren, indem wir sie selbst infrage stellen. M i t dem K o n s t r u k t der Sünde haben wir uns eine A r t D o p p e l b e w e g u n g verschafft. W i r m ü s sen uns anpassen an w e c h s e l n d e Herausforderungen. Wenn wir das k ö n n e n , haben wir, historisch gesehen, gute C h a n c e n erfolgreich zu sein. U n s e r e Kultur rettet das Identitätsdenken über die Säkularisierung hinweg bis ins 20. J a h r h u n dert. M i t der Aufklärung wird der Heilsweg durch ein interessantes neues K o n s t r u k t ersetzt: B i l dung. In seinem B e m ü h e n , dem Bilde G o t t e s (Bildung!) zu entsprechen und zu sich selbst zu k o m m e n , bildet der M e n s c h sich unter Anleitung seiner L e h r e r selbst, denn er ist i m m e r s c h o n m i t sich identisch und muss nur zu sich gelangen. G o e t h e hat das in dem genialen Satz zusammengefasst: „Werde, der du bist." Klar, dass das eine Steilvorlage für die europäische Pädagogik ist. D e r Lehrer tritt an die Stelle des Priesters und ü b e r w a c h t den Bildungsprozess, steuert ihn und hat jede d e n k b a r e Legitimatio n dafür. D e n n es geht ja um nicht weniger als um das E b e n b i l d G o t t e s . D a m u s s man s c h o n streng sein und darf zuschlagen. M a n muss es sogar, denn wer wollte schon verantworten, dass der Zögling von der Sünde zerfressen wird, die s c h o n früh z u r Erbsünde erklärt wird, so dass s c h o n an den Kleinen reichlich zu tun ist. So wird dekretiert, dass das kleine Kind zunächst eine Identität (mit den E l t e r n ) besitze. D i e verliert es dann, u m in der Pubertät eine neue aufzubauen, die für solche G e s e l l s c h a f t e n produktiv wird, die auf F o r t s c h r i t t und W a c h s t u m setzen. Genau g e n o m m e n ist der L e b e n s p r o z e s s nichts anderes, als eine Identitätsbalance zu halten, gefeit gegen Irritationen jeder A r t , durch Standfestigkeit und Anpassungsfähigkeit gleichermaß e n . Daraus resultiert eine scheinbare Ü b e r l e g e n h e i t der „Western s o c i e t i e s " gegenüber anderen Kulturen, zumindest solange Expansion die M a x i m e dieser A r t von Gesellschaft ist. Das gilt aber eben n i c h t für außerchristliche Kulturen bis weit ins 2 0 . J a h r h u n d e r t hinein: F ü r Stammesgesellschaften nicht, soweit sie Verwandtschaft z u r organisierenden Kategorie machen. A u c h für viele asiatische G e s e l l s c h a f t e n gilt es nicht, soweit sie nicht m o n o t h e i s t i s c h denken und sich, wie Japan, über tausend J a h r e erfolgreich a b s c h o t t e n . D e s w e g e n ist es n o c h heute in Japan schwierig, eine blühende psychoanalytische Praxis zu betreiben. D e r G e d a n k e einer persönlichen seelsorgerischen B e z i e h u n g ist fremd. Kriminalität nicht das erste P r o b l e m einer Gesellschaft, die vor einer Verfehlung lieber die Augen schließt, um die H a r m o n i e („Wa") n i c h t zu stören. E r z i e h u n g hat dort absolut nicht die F u n k t i o n , eine unverwechselbare Identität des jungen M e n schen herauszubilden. D u r c h rigorose Anpassung an die gesellschaftlichen N o r m e n und durch härtestes Lernen werden vielmehr funktionale Gesellschaftsmitglieder entwickelt.

Jeder sein eigener Gott

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Diese Praxis findet sich in vielen asiatischen Ländern wie C h i n a oder Korea, weswegen diese in Pisa-Tests bestens abschneiden. Die Tests verstehen sich eben nicht als U n t e r s u c h u n g der Persönlichkeit, s o n d e r n als K o m p e t e n z m e s s u n g , die weltweit auf die gleichen Lernziele zurückgreifen müssen. Allein testbare Lernziele erscheinen sinnvoll. So hat sich die asiatische Lehr-LernWeise auch in D e u t s c h l a n d durchgesetzt, sekundiert v o n Erscheinungen wie d e m Bologna-Prozess in d e n H o c h s c h u l e n , der sich u m die charakterliche Reifung der nachwachsenden Generation wenig schert, geschweige denn u m deren musisch-ästhetisch-moralische Erziehung. Wir riskieren gegenwärtig, genau jene Kategorie der Bildung über Bord zu werfen, die das alteuropäische D e n k e n so h u m a n u n d t r o t z aller Rückschläge im Hinblick auf die M e n s c h e n r e c h t e wirksam gemacht hat. A b e r ist die Identität der Person noch eine Zielkategorie, die eine bessere Welt erwarten lässt? - Ich selbst bin in den letzten 20, 30 Jahren hinsichtlich dieser C h a n c e n skeptisch geworden. Es steht die Frage im Raum, o b ein als solches durchsichtiges historisches K o n s t r u k t seine Wirksamkeit n o c h entfalten kann. Wenn wir aber a n n e h m e n wollen, dass eine h u m a n e Welt o h n e Status u n d U b e r v o r t e i l u n g ein sinnvolles Ziel bleibt, dann benötigen wir die Vorstellung von M e n schen, die durch M e n s c h e n e r z i e h u n g fähig u n d bereit sind, auf Vorteile, Macht u n d Privilegien zu verzichten. U m g e k e h r t benötigt unsere Gesellschaft M e n s c h e n , die einer solchen Moral u n d ihren Trägern Respekt entgegenbringen. Identität ist also nicht etwas für eine O b e r s c h i c h t von Gebildeten. Sie muss alle erfassen. Deswegen muss Bildung im emphatischen Sinne (nicht n u r im Z u g a n g zu h ö h e r e n Bildungseinrichtungen) ein A n s p r u c h f ü r jeden sein. So gesehen ist Bildung eine regulative Idee wie Identität, m e h r also als ein bloßes K o n s t r u k t . Es wird nicht leicht sein, den Bildungsgedanken a u f r e c h t z u e r h a l t e n . Schon gar nicht in der K o n f r o n t a t i o n mit Kulturen, die teilweise in ihren Sprachen nicht einmal ein Wort f ü r „ich" besitzen, s o n d e r n in denen M e n s c h e n von sich in der dritten Person reden. Es wird dauern, bis das Ringen u m Identität weltweit als ein Prozess verstanden wird, der lohnend ist. O d e r bis verstanden wird, was Soren Kierkegaard meinte, als er schrieb: „Man will verzweifelt m a n selbst sein."

Arnd Morkel

Entweder - oder? Politik und Wissenschaft aus der Sicht Ciceros

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ine häufig erörterte Frage der griechischen Philosophie lautet: Welcher Lebensform gebührt der Vorrang, der praktischen oder der theoretischen? Die Antworten der Philosophen fallen unterschiedlich aus. Manche geben dem bios theoretikos den Vorzug. Cicero verweist auf das Diktum des Pythagoras, wonach die Erkenntnis der Dinge allen anderen Tätigkeiten vorzuziehen sei (Tusc.5,9). Uber Aristoteles und Theophrast schreibt er: „Was die Lebensführung angeht, so zogen sie das Leben in der Ruhe vor, beschäftigt mit der Betrachtung und Erforschung der Dinge. Da dieses Leben demjenigen der Götter am nächsten komme, sei es auch dasjenige, das des Weisen am würdigsten sei" (fin.5,11). Von Piaton zitiert er die Ansicht, „ein Staat werde erst dann glücklich sein, wenn gelehrte, weise Männer seine Regierung übernähmen oder seine Regenten sich mit allem Eifer der Gelehrsamkeit und Weisheit widmeten; nur diese Verbindung von Regierungsgewalt und Weisheit (potestas et sapientia) könne ... dem Gemeinwesen Heil bringen (Quint. 1,1,29). Zu Dikaiarch notiert er, dass er das Handeln über das Erkennen stelle (Att.2,16,3). Welcher Lebensform räumt Cicero die Priorität ein: der vita activa oder der vita contemplativai Die Antwort fällt nicht leicht, Ciceros Aussagen sind widersprüchlich. Mal betont er den Primat der Politik, mal den der Philosophie. Erklärt er in „De officiis": „Im Eifer [für die Philosophie] sich vom Handeln abbringen zu lassen, ist gegen die Pflicht. Alles Lob nämlich besteht im Handeln" (off. 1,19), so stellt er in „De finibus" fest, dass es nichts gebe, „was man eher zu pflegen hätte als die Philosophie" (fin.3,76). Im ersten Buch „De re publica" vertritt Cicero mit der gleichen Eindringlichkeit sogar beide Standpunkte nebeneinander. Heißt es am Anfang des Dialogs noch, dass diejenigen, die an der

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Spitze des Staates stünden, bei weitem jenen voranzustellen seien, die es ablehnten, sich der öffentlichen Angelegenheiten anzunehmen (rep.1,3), kann man wenig später lesen: „Welche Herrschaft (imperium), welches Amt (magistrates), welches Königtum (regnum) kann hervorragender sein, als alles Menschliche zu verachten ... und nichts je außer Ewigem und Göttlichem in seiner Seele zu treiben?" (rep.1,28). Wie lässt sich dieser Widerspruch erklären? Ist er Ciceros vielgerügter Unentschlossenheit und Inkonsequenz geschuldet? Das möchte ich nicht sagen. Eher scheint mir Ciceros Urteil über die Politik beziehungsweise über die Philosophie von der politischen Situation abzuhängen, in der er sich gerade befindet. Gilt sein Wort in der Politik etwas, betont er, im Eifer für die Philosophie sich vom Handeln abbringen zu lassen, sei gegen die Pflicht; der ganze Wert der Tugend bestehe im Handeln; nur so viel Zeit dürfe man für die Philosophie erübrigen, wie es die Politik erlaube (off. 1,19, 2,4). Ist sein politischer Einfluss jedoch geschwunden, wirft er sich der Philosophie in die Arme, von der er nunmehr behauptet, dass er sie niemals hätte verlassen sollen (Att.2,16,3). Aber auch damit scheint mir der Sachverhalt noch nicht vollständig geklärt zu sein. Im Grunde, denke ich, ist es Cicero nicht darum gegangen, eine Rangordnung zwischen den beiden Lebensformen festzulegen; sein Bestreben lief vielmehr darauf hinaus, das unversöhnliche EntwederOder von Politik und Philosophie, Handeln und Denken, vita activa und vita contemplativa zu überwinden und beiden Lebensformen ihr Recht zukommen zu lassen, sei es im Wechsel oder, im Idealfall, im Nebeneinander von philosophischer und politischer Betätigung. Im Folgenden soll versucht werden, das Verhältnis von Politik und Philosophie, wie Cicero es sieht, in vier Thesen zu verdeutlichen. Erstens: Die Politik ist unentbehrlich. Zweitens: Die Politik bedarf der Philosophie. Drittens: Die Philosophie bedarf der Politik. Viertens: Der Politik gebührt der Vorrang vor der Philosophie.

Die Politik ist unentbehrlich Für Cicero ist Politik unentbehrlich. Daran gab es für ihn keinen Zweifel. Auch wenn er oft in Versuchung war, sich auf sein Tusculum zurückzuziehen, „um mit ganzem Herzen und ganzer Seele [nur noch] zu philosophieren" (Att.2,5,2), so hat er dieser Versuchung immer nur vorübergehend nachgegeben. Er floh nicht aus der Politik in die Philosophie, wie dies ein Zeitgenosse, der Epikureer Lukrez getan hat (De rerum natura 2,7-13). Am Anfang seiner Schrift „Uber den Staat" verteidigt er denn auch die Politik gegenüber den Epikureern, die „zum Rückzug" aus dem Staate blasen (rep.1,3) und die Meinung vertreten: Halte dich von der Politik fern, nur so kannst du dein Leben in Ruhe und Lust genießen. Er erörtert fünf Argumente der Epikureer, sich nicht mit den öffentlichen Angelegenheiten zu befassen (rep. 1,12; vgl. zum Folgenden Büchner, Der Eingang von Ciceros Staat; Girardet, Die Ordnung der Welt). Erstens das Argument, Politik bringe viele Strapazen (labores) mit sich (rep. 1,4). Cicero kann dem nur beipflichten. Wer in die Politik gehe, sagt er in der Rede für Sestius, müsse „Schweiß für das gemeine Wohl vergießen, Feindschaften auf sich nehmen und oft um des Staates willen stürmische Tage bestehen" (Sest.139). Aber, so meint er, für einen „Wachen und Rührigen" fielen die Mühen nicht ins Gewicht; jede anspruchsvolle Tätigkeit, gleichgültig ob politischer oder geistiger Natur, sei mit „Sorgen, Unruhe und durchwachten Nächten" verbunden (rep. 1,4; fin.5,57). Was wäre aus Rom geworden, wenn es an seiner Spitze nicht immer wieder Männer gegeben hät-

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te, die die schlimmsten Mühen auf sich genommen und allen Widerständen getrotzt hätten? (rep.1,1). Als Vorbild preist er C a t o maior, der, anstatt seine wohlverdiente Ruhe zu genießen, sich bis ins höchste Greisenalter hinein mit den Stürmen des Staates herumgeschlagen habe (rep. M)· Zweitens das Argument, Politik sei ein lebensgefährliches Geschäft. Für die damalige Zeit war das sicher keine unrealistische Einschätzung. Gewalt auf den Straßen, Kriege, Bürgerkriege und Proskriptionen kosteten in Ciceros Jahrhundert beträchtlichen Teilen der Führungsschicht das Leben. „Wer eine Rolle auf der politischen Bühne spielte, befand sich dauernd in Lebensgefahr." (Kroll, Die Kultur der ciceronischen Zeit, S.218). Kein Wunder, dass viele Söhne von Senatoren es vorzogen, sich ins Privatleben, zu ihren Liebhabereien, den Fischteichen, zurückzuziehen. Aber, so war Ciceros Meinung, durch bloßes Sich-Heraushalten aus der Politik sei das sinnlose Gemetzel nicht zu beenden (vgl. Att.1,18,6). Wer die Res publica bewahren wolle, müsse bereit sein, sein Leben, das ohnehin der N a t u r zurückgegeben werden müsse, für das Vaterland hinzugeben (rep. 1,4). Drittens das Argument, Politik zahle sich nicht aus; ein Politiker könne nicht mit dem Dank seiner Mitbürger rechnen, selbst diejenigen, die das Vaterland aus großer Not gerettet hätten, seien von ihren Landsleuten häufig verjagt, eingekerkert oder hingerichtet worden (rep. 1,5-6). Aus eigener Erfahrung wusste Cicero nur zu gut, wie unstet und flüchtig der Ruhm ist, wie schnell Popularität in Verhasstheit umschlagen kann (Sest.141). Aber auch wenn er selbst unermüdlich nach Anerkennung trachtete, war er sich insgeheim doch bewusst, „dass unsere Befehlsstellen und Konsulate zu den notwendigen, nicht zu den begehrenswerten Dingen gehören, einer zu leistenden Aufgabe wegen zu übernehmen, nicht des Lohnes oder Ruhmes wegen zu erstreben" seien (rep. 1,27). Viertens das Argument, Politik sei ein schmutziges Geschäft, das vornehmlich solche Menschen anziehe, „die keiner guten Sache wert" seien; deshalb zieme es einem Weisen auch nicht, sich mit Politik zu befassen (rep. 1,9). Ciceros Antwort war eindeutig: Die einzige Möglichkeit, nicht von denen regiert zu werden, von denen man nicht regiert werden möchte, bestehe darin, selbst in die Politik zu gehen. Wer nicht zulassen wolle, dass das Gemeinwesen von Ruchlosen (iinprobi) zerrissen werde, dürfe die Politik nicht eben diesen Ruchlosen überlassen (rep. 1,9). Ahnlich hatte bereits Piaton argumentiert (rep.347c-d). Fünftens das Argument, nur in Zeiten äußerster N o t solle der Weise sich um das Gemeinwesen kümmern (rep. 1,10). Cicero hielt diese Vorstellung zu Recht für naiv. Wie könne jemand, der sich niemals um Politik gekümmert habe und deshalb auch über keinerlei politische Erfahrung verfüge, glauben, er könne der Res publica ausgerechnet in Zeiten höchster Gefahr von Vorteil sein? Helfen könne in einer solchen Situation nur jemand, der sich auf die Politik gründlich vorbereitet und in der Politik bereits bewährt habe und außerdem über den entsprechenden Einfluss verfüge. Was, so fragt er, hätte er denn gegen die Catilinarische Verschwörung tun können, wenn er damals nicht Konsul gewesen wäre? Wie aber konnte er Konsul sein, wenn er dieses A m t nicht von Jugend auf angestrebt hätte? (rep. 1,10-11). In „De officiis" streift Cicero die Frage, ob es denn Gründe gebe, sich aus der Politik herauszuhalten. Seiner Ansicht nach seien nur zwei Arten von Menschen von der Verpflichtung zur Politik befreit, einmal diejenigen, die sich auf Grund ihrer überragenden Bedeutung in der Wissenschaft als unersetzlich erwiesen hätten, zum andern diejenigen, die wegen ihrer schwachen Gesundheit oder aus einem anderen triftigen Grund den Anforderungen der Politik nicht

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Arnd Merkel

gewachsen seien. Wer aber von N a t u r aus die Fähigkeit besitze, politisch zu handeln, müsse alle Bedenken von sich weisen und politisch tätig sein; denn anders könne ein Staat nicht regiert werden (off.l,71f.). Selbst die Philosophen müssten sich politisch engagieren, und sei es auch n u r dadurch, dass sie die Politik zum Gegenstand ihrer Lehre machten und auf diese Weise versuchten, ihre H ö r e r und Leser zu besseren Bürgern zu erziehen (off.l, 155f.). Ciceros Haltung war lange Zeit selbstverständlich, so lange jedenfalls, wie die republikanischen Institutionen noch halbwegs intakt waren. Erst als der Staat aufhörte, die Angelegenheit aller zu sein und die Machthaber ihre Ehre (dignitas) höher stellten als das Schicksal der Republik, begann diese Selbstverständlichkeit zu bröckeln und fand die Aufforderung Epikurs, der vita activa abzuschwören und sich der vita contemplativa zu widmen, zunehmend Anklang.

Die Politik bedarf der Philosophie N a c h diesen Darlegungen könnte man annehmen, dass Cicero ohne Wenn und Aber der vita activa die Priorität einräumt. D o c h so einfach ist die Sache nicht: In dem Maße, in dem Cicero die Politik verteidigt, verteidigt er auch die Philosophie. D e r unter seinen Zeitgenossen weit verbreiteten Meinung, Philosophie sei nichts f ü r einen Politiker von Rang (fin. 1,1), hält er die Uberzeugung entgegen, die Beschäftigung mit der Philosophie sei „auch f ü r den besten und bedeutendsten Mann schicklich", er müsse nur darauf achten, dass seine philosophischen Studien nicht seine öffentliche Tätigkeit beeinträchtigten (Luc.6); im Eifer für die Philosophie sich vom politischen Handeln abbringen zu lassen, sei „gegen die Pflicht" (off. 1,19). Ciceros Leitbild ist der Staatsmann, der Politik und Philosophie miteinander verbindet. Was kann denn vortrefflicher sein, fragt er in „De re publica", als wenn die politische Tätigkeit mit den Bemühungen um die theoretischen Künste und ihre Erkenntnis verknüpft wird? (rep.3,5). Sicherlich denkt er dabei auch an sich selbst, denn auch er ist ja „erst nach einem gründlichen wissenschaftlichen Studium bei namhaften Gelehrten in die Politik gegangen" (off.l,155). In seiner Schrift „De oratore" führt er das Leitbild des philosophisch gebildeten Staatsmannes näher aus. Es liegt auf der H a n d , bei diesem Leitbild an Piatons Lehre von den Philosophenkönigen zu denken. Cicero selbst legt diesen Vergleich nahe. Im sogenannten „Statthalterspiegel" weist er seinen Bruder Q u i n t u s nachdrücklich auf Piatons Auffassung hin, allein die Verbindung von Macht und Weisheit (potestas et sapientia) könne den Staaten Segen bringen (Quint.1,1,29). Zwischen Piatons Idee der Philosophenherrschaft und Ciceros Idee vom philosophisch gebildeten Staatsmann gibt es in der Tat eine Gemeinsamkeit. Beide Vorstellungen sind A n t w o r t e n auf die fundamentale Krise der athenischen Polis beziehungsweise der römischen Republik, eine Krise, in der die ü b e r k o m m e n e n Werte, Ziele und Maßstäbe der Politik ihre Gültigkeit, die angestammten Sitten ihre Selbstverständlichkeit und die politischen und moralischen Begriffe ihren eindeutigen Sinn verloren haben. In dieser Situation gab es für Piaton wie f ü r Cicero nur einen Ausweg: die systematische Neubesinnung auf die Grundlagen des Staates. Dazu bedarf es aber der Philosophie. Abgesehen von diesem einen Punkt liegen zwischen Piatons Philosophenkönigen und Ciceros philosophischen Staatsmännern jedoch Welten. Mit einem Wort: Piaton sucht den idealen Staat u n d den idealen Staatsmann im Philosophenhimmel, Cicero sucht sie in der Wirklichkeit.

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Die Philosophie bedarf der Politik Nicht nur bedarf in den Augen Ciceros die Politik der Philosophie, auch das Umgekehrte gilt: Die Philosophie bedarf der Politik. Denn was nützen die besten Einsichten, wenn sie nicht realisiert werden? Und realisiert werden sie durch die Politiker, die das, was die Philosophen „in ihren Winkeln nur deklamieren" (in angulis personare), verwirklichen, und zwar verwirklichen „durch die Tat, nicht durch die Rede" (rep.1,2). Alles Erkennen „ist unzureichend und unvollkommen, wenn sich kein entsprechendes Handeln anschließt" (off. 1,153). Mit anderen Worten: Philosophen mögen noch so schöne Verfassungen entwerfen, noch so großartige Leitbilder vom vollkommenen Bürger und vollkommenen Staatsmann aufstellen, noch so eindrucksvolle Ideen über Frieden und Gerechtigkeit sich ausdenken und noch so hehre Pflichtenkodizes propagieren: ihre Lehren genügen nicht, um einen Staat in Ordnung zu bringen und in Ordnung zu halten. Verfassungen müssen verwirklicht, Leitbilder mit Leben erfüllt, Ideen durchgesetzt, Prinzipien in Gesetze gegossen werden. So wie wir Menschen nun einmal beschaffen sind, lernen wir gewöhnlich „nicht aus endlosen streiterfüllten Diskussionen, sondern durch den Wink und Willen der Gesetze, unsere Begierden im Zaum zu halten, alle Wünsche zu bezähmen, den eigenen Besitz zu wahren und die Gedanken, Blicke oder Hände nicht auf fremdes Eigentum zu richten" (de or. 1,194). Das heißt: So sehr sich die Philosophen auch anstrengen, die Menschen zur Tugend, zur Gerechtigkeit, zur Gemeinschaft und zur Verehrung der Götter zu erziehen, ihre Bemühungen bleiben ohne entsprechende Gesetze und Sanktionen wenig erfolgreich.

Der Politik gebührt der Vorrang vor der Philosophie Für Cicero sind Politik und Philosophie aufeinander angewiesen: Die Politik bedarf der Philosophie, die Philosophie bedarf der Politik. Was aber, wenn zwischen Politik und Philosophie (Praxis und Theorie, Handeln und Denken, vita activa und vita contemplativa) gewählt werden muss? Welche Lebensform hat dann den Vorrang? Cicero hat keinen Zweifel: Das beschauliche Leben mag zwar „glückverheißender" (beatior) scheinen, aber das politische Leben ist „löblicher und ruhmvoller" (laudabilior et inlustrior) (rep.3,6). Für seine Auffassung führt er drei Gründe an. Erstens: Wer sich die vita contemplativa zum Ziel setzt, versäumt leicht seine Pflichten gegenüber den Mitmenschen. In den Augen Ciceros hat Piaton dies nicht genügend beachtet. Piaton habe der philosophischen Lebensform den Vorrang vor der politischen in dem Glauben eingeräumt, Philosophen könnten um so gerechter sein, je mehr sie sich ausschließlich mit der Erforschung der Wahrheit beschäftigten „und alles, was die meisten Menschen so heftig begehrten und um das sie gewöhnlich in heftigen Streit miteinander gerieten, verachteten und für wertlos hielten". Da sie sich von der Politik fernhielten, gerieten sie nicht in die Gefahr, ihren Mitmenschen zu schaden und Unrecht zu tun. Cicero, der der politischen Lebensweise den Vorzug vor der philosophischen zubilligt, hält dem entgegen: Diejenigen, die sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten, nicht aber um die der Allgemeinheit kümmerten, schadeten zwar niemandem direkt, fielen aber in ein anderes Unrecht: durch ihren Lerneifer abgelenkt ließen sie diejenigen im Stich, die sie eigentlich schützen müssten.

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Zweitens: In Zeiten, in denen die Existenz des Gemeinwesens auf dem Spiel steht, ist der Rückzug auf die vita contemplativa nicht erlaubt. Wer wäre, meint Cicero, schon so versessen auf die Erforschung und Erkenntnis der Natur der Dinge, dass er nicht alles stehen und liegen ließe, wenn er von der Gefährdung und Bedrohung seines Vaterlandes erführe, selbst wenn er gerade dabei wäre, die Sterne zu zählen oder die Größe der Welt zu messen? Auch im Falle der Gefährdung seines Vaters oder eines Freundes würde er dasselbe tun. „Daraus ist ersichtlich, dass die Pflichten der Gerechtigkeit, die auf den Nutzen der Menschen zielen, gegenüber den pflichtgemäßen Bemühungen um wissenschaftliche Erkenntnis Vorrang haben müssen; denn es gibt für den Menschen nichts, was wichtiger ist als sein Nutzen." Vorbildliche Forscher würden diesen Gesichtspunkt selbst dann nicht aus dem Auge verlieren, wenn der Staat nicht in N o t sei. „Diejenigen, deren Studien und deren Leben vollständig in der Erforschung der Welt aufgingen, haben immer im Auge behalten, den Nutzen und den Vorteil der Menschen zu vermehren. Denn sie haben vielen Menschen die Bildung vermittelt, mit der diese zu besseren und nützlicheren Bürgern zum Wohle ihres Staates wurden." (off.l, 154f.). Schließlich der dritte und tiefste Grund: Der Vorrang der Politik wurzelt in der Natur des Menschen. „Dem Geschlecht der Menschen", heißt es in der Einleitung zum ersten Buch „De re publica", ist „von Natur" (a natura) „eine so große Notwendigkeit zu männlicher Bewährung" (necessitas virtutis) und eine so große Liebe, das allgemeine Wohl zu schützen, verliehen, dass diese Kraft alle Verlockungen der Lust und der Muße besiegt hat" (rep.1,1). In „De officiis", seiner letzten Schrift, bekräftigt Cicero den Primat der Politik noch einmal ausdrücklich: „Der ganze Wert der Tugend besteht im Tätigsein" (off. 1,19). „Pflichten, die auf die Gemeinschaft zurückzuführen sind, sind der Natur des Menschen angemessener als die, welche sich aus der Erkenntnis ableiten." Und: „Die Pflege der menschlichen Gemeinschaft und Geselligkeit hat einen höheren Rang als das Streben nach Erkenntnis." (off.l,153/ 157). Das heißt: Nicht in der Muße, nicht im Rückzug aus dem öffentlichen Leben, sondern im tätigen Dienst an der Gemeinschaft verwirklicht der Mensch sein Wesen.

Josef H. Reichholf

Wettbewerb und Kooperation Eine evolutionsbiologische Perspektive

it Konkurrenz fing unser Leben an. Spermien schwammen um die Wette zur Eizelle. Wir alle sind Kinder von Siegern und tun das auch gleich nach der Geburt lautstark kund, um im weiteren Wettbewerb um Muttermilch und Muttergunst zu bestehen. Kaum fähig, auf eigenen Beinen zu stehen, starten wir Wettläufe, bei denen es nur darum geht, „Erster" zu werden. In der Schule teilt uns das Notensystem die jeweils erreichten Plätze zu und legt die Anforderungen fest, nach deren Erfüllung die Konkurrenz weiter gehen kann. Sie erstreckt sich alsbald auf Partnerfindung und Berufspositionen. Den gesamten Lebenslauf durchzieht sie. Selbst für jenen seltenen Zustand, in dem es zum „Aussteigen" kommt, war sie die Voraussetzung. Kooperationen erweisen sich, näher betrachtet, als probate Mittel für ein „schnelleres Vorankommen" im allgemeinen Wettbewerb. Seilschaften und „Vitamin B " leisten ihren Beitrag, fördernd oder hemmend. Warnend sprach „Der Herr" zu Mephistopheles in Goethes Faust (Prolog im Himmel): „Es irrt der Mensch, so lang er strebt!" Doch das Streben geht unbeirrbar weiter. Ist es also ebenso „menschlich" wie das Irren? Menschentypisch ohne „natürliches" Vorbild? Bei den vielen unmenschlichen Zügen, die sich im Wettbewerb äußern, mag sich manche stille Hoffnung auf „die Natur" richten. Macht sie es besser, und könnten wir sie uns zum Vorbild nehmen? In einer Zeit, in der alles „Natur" zu sein hat, und „Mutter Natur" stets die Gute ist, drängt sich diese Frage auf. D o c h schon vor 150 Jahren stellte Darwin das allumfassende Wirken der Konkurrenz in der Natur fest und bediente sich mit dem „Survival of the fittest" einer knallharten Phrase von Herbert Spencer. Wettbewerb ist der Antrieb für die Evolution. Wer nicht schnell genug ist, dem wird genommen; wer nicht effizient genug lebt, stirbt aus. Und die größten Konkurrenten sind die

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Josef H. Reicbholf

Artgenossen. Verglichen mit Darwins Sicht, in der es ums Überleben geht, trägt der Wettbewerb in der Menschenwelt geradezu menschliche Züge, zumal wenn ihn gesellschaftliche N o r m e n einschränken. D i e Kontrolle wirkt zwar eher selten in der gewünschten Weise, weshalb sich das Leben im Wettbewerb nicht gerade „harmonisch" gestaltet. Aber immerhin drängt die Gesellschaft die übelsten Auswüchse zurück. Steckt also in der Kontrolle des Wettbewerbs der F o r t schritt, der die K o n k u r r e n z menschlich und sozial verträglich macht? Durchaus, aber m e h r aus Notwendigkeit denn aus Menschlichkeit. Das zeigen Kooperationen in der N a t u r und wie diese zustande k o m m e n .

Kooperationen in der Natur Unsere nächsten Verwandten, die beiden Arten von Schimpansen, sind uns genetisch recht ähnlich. Zu fast 99 P r o z e n t stimmen unsere G e n o m e mit ihren überein. Sie entwickeln Rangstrukturen, Koalitionen und persönliche Freundschaften. D e r Sex spielt dabei stets eine große Rolle. Es gibt D e s p o t e n und Underdogs, Konflikte bei der sozialen Fellpflege um die G u n s t des Gruppenchefs oder attraktiver Weibchen und überhaupt viel Allzumenschliches in ihrem Leben. Gruppen bekämpfen einander wie im Krieg. Dabei kann die schwächere Gruppe vernichtet werden. Was sich beim Menschen zumindest zeitweise nur verdeckt äußert, tritt bei der menschenäffischen Verwandtschaft offen zutage. Konkurrenz durchsetzt ihr ganzes Leben. „Ritterlicher" geht es bei Säugetieren wie H i r s c h e n und B ö c k e n zu. D i e Männchen liefern sich turnierartige Kämpfe, die selten wirklich verletzen. Die Weibchen wählen Sieger, nicht „Mörder". Beim Wettbewerb von Löwen um ein Weibchenrudel kann es hingegen auf Leben und Tod gehen; auch für die kleinen J u n g e n des (besiegten) Vorgängers. In der Vogelwelt äußern sich Wettbewerbe zumeist in zwei Grundformen, nämlich in der Zurschaustellung der M ä n n c h e n mit Prachtgefieder und Balztänzen oder in Gesängen, mitunter auch in beidem. D i e als Symbol des „Friedens" geltenden Tauben bringen einander jedoch hemmungslos um, wenn keine Fluchtmöglichkeit besteht. Rangordnungen gibt es unter Hühnern, und auf H ü h n e r h ö f e n wurden sie entdeckt. Fische werben in stark durchlichtetem Wasser mit plakativen Farben, sogar in „abstrakt" wirkenden Mustern. W o immer das Verhalten der Tiere genauer untersucht wird, k o m m e n P h ä n o m e n e des Wettbewerbs zutage; auch bei Pflanzen. A m heftigsten konkurrieren die Sämlinge beim A u f wachsen. A u f der Fläche, auf der schließlich ein einziger Baum übrig bleibt, keimen mehrere Hunderttausend in den Wettbewerb hinein. Es geht um Licht und, unsichtbar, dafür u m s o wirkungsvoller, um Wurzelraum mit mineralischen Nährstoffen. Mit „chemischer Kriegsführung" werden diese monopolisiert. Wettbewerb findet tatsächlich überall statt. E r gehört zu den zentralen Triebkräften der Evolution. Darin lag Darwin ganz richtig mit seiner Deutung. D o c h es gibt auch die unterschiedlichsten F o r m e n von Kooperation. In einem durch und durch egoistischen Wettbewerb fällt es nicht leicht, ihr Zustandekommen zu begründen. Betrachten wir dazu die Konkurrenz etwas genauer.

Konkurrenz und Ressourcen Sie tritt auf zwischen verschiedenen Arten (inter-spezifisch) und innerhalb derselben (intra-spezifisch) und zwar als „Ausnutzungs-Konkurrenz" (Exploitation) oder als direkte Verdrängung der Schwächeren durch Stärkere (Interferenz). Flinke Kleine können durchaus gegen starke

Wettbewerb und Kooperation

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G r o ß e gewinnen; ein häufiger Fall in der N a t u r . Die G e g e n r e a k t i o n e n reichen v o n loser Kooperation bis hin zu festen Symbiosen. Innerartlich e n t s t e h e n sie aus M u t t e r / E l t e r n - K i n d e r Bezieh u n g e n u n d „ F r e u n d s c h a f t e n " . Zwischenartlich aus der relativen W i r k u n g v o n Vor- u n d N a c h teilen in der N u t z u n g von Ressourcen. So lange diese reichlich v o r h a n d e n sind, herrscht Wettbew e r b . D e n n es gibt viel zu gewinnen. D e r Einsatz lohnt. Werden die Ressourcen knapp oder der äußere D r u c k d u r c h Feinde g r o ß , wird K o o p e r a t i o n lohnender. G i b t es k a u m noch nutzbare Uberschüsse, setzt sich eine feste, symbiosenartige Z u s a m m e n a r b e i t durch, u n d aus lockeren P a r t n e r n wird eine G e m e i n s c h a f t . D e r Wettbewerb ist abhängig von den Ressourcen u n d keine festgelegte N a t u r n o t w e n d i g k e i t . Deshalb setzt er innerhalb der A r t e n zuerst ein u n d verschärft sich, bis Kooperation die bessere Alternative wird. D e n n die A r t g e n o s s e n ähneln einander in der R e s s o u r c e n n u t z u n g am meisten. Sie weichen, falls möglich, auf eine S o n d e r u n g aus; auf eine interne „ N i s c h e n t r e n n u n g " der Geschlechter z u m Beispiel oder auf eine altersabhängig unterschiedliche U m w e l t n u t z u n g . Die Spezialisierung bringt Vorteile, ganz e n t s p r e c h e n d wie wir das v o n den „Berufen" k e n n e n . I n s o f e r n verteilen sich W e t t b e w e r b u n d K o o p e r a t i o n auch in der M e n s c h e n w e l t „ganz natürlich". Welche F o r m e n in der gegebenen Situation „ g u t " oder „schlecht" sind, lässt sich nicht „von der N a t u r " ableiten. Das hat die Gesellschaft festzulegen.

Kurt Reumann

Zeitgeist und kulturelle Identität

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arl Marx hat seine Doktorarbeit über Epikur auf Latein geschrieben. In seinen politischen Schriften warf er mit griechischen und lateinischen Brocken um sich, als habe jeder so wie er ein altsprachliches Gymnasium besucht (Groß). Aber schon Ende des 19. Jahrhun-

derts neigte sich das lateinische Jahrtausend dem Ende zu, und auch das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts gibt es nicht mehr (Conze u.a.). Das heißt nicht, dass es keine Bildungsbürger oder keine Gebildeten mehr gäbe. D e r Publizist Matthias Matussek, reuiger Bildungsbürger nach einer antibürgerlichen 68er Phase und von 2005-2007 Leiter des Kulturressorts beim „Spiegel", nennt drei Beispiele: Klaus von Dohnanyi, Joachim Fest und Wolf J o b s t Siedler (Matussek: Wir Deutschen). Wer wollte dem widersprechen? Dohnanyi, von 1972-1974 Bundesbildungsminister, danach Staatsminister im Auswärtigen Amt und von 1981-1988 Hamburgs Erster Bürgermeister, findet in der S P D , was Bildung und persönliche Souveränität angeht, nicht so leicht seinesgleichen, und Fest, von 1973-1993 Mitherausgeber der F.A.Z. und Regisseur unseres Feuilletons, überragte insoweit sogar seine Kollegen, die doch auch keine schlechten Bildungsbürger waren. Eigentlich hätte Siedler 1973 Karl Korn als Feuilleton-Herausgeber der F.A.Z. nachfolgen sollen; aber der zog es vor, Verleger zu werden, und schlug seinen Freund Fest vor. Als dritten in diesem Bunde der liberalen Konservativen darf man sich Johannes G r o ß vorstellen (Fest: Begegnungen). Sicher wird es immer wieder solche Leuchttürme geben, und man braucht nicht gleich so hell wie sie zu strahlen, um sich schmeicheln zu dürfen, ein Bildungsbürger zu sein. Das ist denn auch nicht der Punkt, der Schelsky umtrieb. Was er nüchtern analysierte, war, dass es schon vor 50, 60 Jahren an einer sozialen Schicht von „Gebildeten" mit Sozialansprüchen und -pflichten fehle, die sich nach ihrem Selbstverständnis aus höherer Bildung ergeben. Was immer man von dieser Schicht halten mochte: sie hatte den Maßstab dafür geboten, was Bildung sei. Das war zweifellos etwas arrogant, gab aber der Gesellschaft zumal vor den Weltkriegen einen gewissen Halt. Ein

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Kurt Reumann

ganzer Stand als kultureller Taktgeber - das ist Geschichte. Helmut Schelsky hielt daher 1956 dem Deutschen Ausschuss in einer Denkschrift vor, das erlauchte Gremium lasse bei seinen Vorschlägen zur Bildungsreform sträflich außer Acht, dass die Schichten- und Lebensstil-Nivellierung Bildung zu einem rein individuellen Tatbestand gemacht habe. Ebenso sei Unbildung inzwischen weitgehend schichtenunspezifisch (Schelsky: Soziologische Bemerkungen, S. 180). Dass diese Entwicklung nicht einmal an einer Institution wie der F.A.Z. vorbeigehe, schwante mir, als Nachrichtenagenturen 1984 meldeten, Alarichs Grab im Busento sei gefunden worden. Die politische Nachrichtenredaktion teilte sich in zwei Fraktionen: eine, die die Meldung auf der ersten Seite veröffentlicht sehen, und eine, die sie im Inneren des Blattes „verstecken" wollte. Die Seite-1-Befürworter waren diejenigen, die August Graf von Platens Gedicht vom „Grab im Busento" (1820) kannten, also die Bildungsbürger, und schon sprang der (damals noch junge!) Kollege Jürgen Busche auf, und in stolzer Begeisterung sagte er alle Strophen auf, während ich, wie so oft, nur die ersten Zeilen mitsprechen konnte: „Nächtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder..." Typisch deutsch, dass nicht etwa die Ruhmestaten des Westgotenkönigs Alarich, der 410 Rom erobert hatte, die Phantasie der bildungsbürgerlichen Fraktion entflammten, sondern träumerische Poesie und Legende: das Lied über die geheimnisumwitterte Grablegung des gotischen Heerführers im Bett des Busento bei Cosenza in Kalabrien. Dagegen pflegen Bildungsbürger unbesungene Helden zu vergessen (Joachim Fest: Im Gegenlicht, S. 204). Die andere Fraktion in der Nachrichtenredaktion der F.A.Z. verstand nicht, warum ihre Kollegen Luftsprünge machten: Sie blieb nüchtern, cool, weil sie Platens Gedicht nicht kannte. Die Meldung wurde dann nicht im politischen Teil, sondern im Feuilleton publiziert - mit einem höchst berechtigten Fragezeichen (Alarichs Grab?). Inzwischen ist die Entbildung selbst der Arrivierten weiter fortgeschritten. Die Zuordnung auf das statistische Kunstgebilde „Schichten" richtet sich nach Einkommen und Vermögen. Traditionelle Bildung ist nicht mehr Voraussetzung für einen höheren Status (Müller). Wie sonst soll man es sich erklären, dass eine Fernsehmoderatorin in einer Ratesendung nach dem Autor der „Ilias" fragt und unter verschiedenen Wahlmöglichkeiten Homer nennt (Betonung auf der ersten Silbe) und nicht etwa Horner} In der F.A.Z. wäre sie damit, wie ich hoffe, auch heute noch erledigt. Uber diese Entwicklung war niemand mehr schockiert als Hans Bauer, der sich drei Jahrzehnte lang als Pressesprecher des rheinland-pfälzischen Philologenverbands hervorgetan hatte. Nach der Lektüre von Schelsky schrieb er in Sorge darüber, dass mit der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Bildungsidee und ihrem Bildungskanon auch das innere Recht dieser „Klasse" entfallen sei, für das Ganze der Gesellschaft einzustehen, ein Buch mit dem Titel: „Das Ende des deutschen Gymnasiums" (1973). Anklageschrift wie Abgesang ohne Fragezeichen. Nach seiner Pensionierung (1993) als Leiter des Gymnasiums zu St. Katharinen in Oppenheim wiederholte er in der Verbandszeitschrift „Das Gymnasium in Rheinland-Pfalz", der er zu überregionalem Ansehen verholfen hatte, seine Warnung unter der Uberschrift: „Wahnsinn und Methode - Die Selbstzerstörung der westlichen Zivilgesellschaft beginnt in der Schule". Selbstzerstörung war wieder so ein Schlüsselwort von Schelsky (Die Wüste wächst). Bauer blieb bis zu seinem Tode ein Kämpfer ohne viel Hoffnung. Hatte sich Schelsky noch auf Theodor Adornos „Theorie der Halbbildung" (1959) bezogen, so macht der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann 50 Jahre nach Adorno mit seiner „Theorie der Unbildung" von sich reden. Setzt Halbbildung immerhin eine vage Idee von Bildung voraus, so erklärt Unbildung den Verzicht auf geistige Traditionen und jede normative Funktion von Bildung. An die Stelle der beseelten Auseinandersetzung mit sich und der Welt

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droht der Erwerb von Kompetenzen und die Verfügung über Wissen mit Verfallsdatum zu treten. Die Ungebildeten, die Verstand, aber keinen Geist besitzen, richten sich in einer Welt des Nutzens und der „Events" ein (Schulze; Kraus: Spaßpädagogik). Wer zynisch ist, wird allerdings nicht in die Totenklage für die Bildung einstimmen. Die Menschen feiern Weihnachten, auch wenn sie nicht mehr wissen, warum. Ebenso werden Eltern ihre Kinder ans Gymnasium schicken, solange es die Studienberechtigung vergibt. Umgekehrt muss registriert werden, dass Gymnasien jedem Staat die Führungselite liefern, die er braucht - unabhängig vom politischen System, von der Ideologie und den Gewissensbissen wenigstens einiger Lehrer u n d Absolventen. Das hat Hannah Ahlheim am Beispiel des Elite-Gymnasiums am Weinberg von Kleinmachnow (Berlin) demonstriert. Sie hätten mich aber wohl nicht eingeladen, Ihnen diesen „Leitartikel" für Ihre Festschrift zu schreiben, wenn ich glaubte, eine höhere Schule ohne beseelten Geist verdiene den Ehrennamen Gymnasium. Ein Gymnasium braucht Charakter. Das sah auch Schelsky so. Lebhaft erinnere ich mich daran, wie er in den siebziger Jahren zu uns in die Redaktion der F. A.Z. kam, um uns zu beschwören, wir möchten uns dem Zeitgeist nicht anpassen, sondern Widerstand leisten. Widerstand - das hieß für ihn Verteidigung des abendländischen Kanons. Im Blick auf die Schulen erwartete Schelsky von uns (d.h. von mir, der ich diese Aufgabe in der F.A.Z. übernommen hatte, obwohl man mit Bildungspolitik an einer Zeitung keine Karriere machen kann) unverdrossenen Einsatz für die Kernfächer Deutsch, Geschichte und Mathematik. Deutsch und Geschichte waren nach seiner (und nach meiner) Meinung die Uberlebensfächer, die die Auseinandersetzung zwischen Tradition und Moderne führen müssen, und Mathematik steht als geistige Grundlage der Naturwissenschaften für das Prinzip der analytischen Exaktheit. Je schneller eine Veränderung die andere jagt, desto atemloser drehen sich die Menschen auf dem Karussell der Beschleunigung. Wilhelm von Humboldt hatte eben doch recht mit seiner Befürchtung, in einer Zeit gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und technischer Umwälzungen sowie der „Maschinisierung" von Politik und Staat laufe der Mensch Gefahr, zur Funktion solcher Veränderungen zu werden, zum Spielball des Zufälligen. Es sei denn, er widerstehe dem Sog mit geistigen Kräften, die ihm Freiheit schenken, indem sie ihn zur Selbstständigkeit befähigen und im besten Fall aus einem Objekt der Entwicklung zu deren Subjekt machen. A b e r w o finden wir den Halt, der uns zum Widerstand ermutigt? In der Religion? In der Bildung? Die Verankerung in der Religion löst sich mehr und mehr. Von den über 60-Jährigen sind zwei Drittel in einem religiös geprägten Elternhaus aufgewachsen, von den 30- bis 44-Jährigen noch 40 Prozent, von den unter 30-Jährigen nur noch knapp jeder Dritte. Das hat dramatische Auswirkungen auf die Gesellschaft; denn die Mehrheit der religiös indifferenten jungen Menschen unterscheidet sich nachteilig von den religiös Stabilen: schwächere Familienbindung, weniger Aufgeschlossenheit, weniger Diskurs- und Streitbereitschaft, schwächeres soziales Verantwortungsgefühl, weniger Bildungsorientierung. Indifferente wirken auch öfter unsicher, ja ängstlich, wenn sie mit fundamentalistisch aggressiven Positionen konfrontiert werden (Renate Köcher, Institut für Demoskopie Allensbach). Mein Kollege Wilfried Wiegand klagte im Leitartikel der F.A.Z., der das Jahr 2001 einläutete, Traditionsverfall und Ziellosigkeit seien nicht nur eine Frage des Glaubens, sondern auch des Wissens. Immer weniger Menschen wüssten, was in der Bibel steht. Wer sich in der Bibel nicht auskennt, ist ein Bildungsidiot. Er findet sich nirgends zurecht, weder in einem M u s e u m noch in der aktuellen Diskussion über Ethik und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wie soll das enden?

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Es gibt nur eine Alternative: resignieren oder kämpfen! Während andere den Niedergang deprimiert verfolgten, schöpfte Joachim Fest seine Hoffnung aus der Erfahrung, dass sich in jeder D e kadenz der Anbruch einer vitaleren Epoche vorbereite - nur sei das nicht gleich zu erkennen (Im Gegenlicht). Oder etwa doch? Meine akademische Lehrerin Elisabeth Noelle war davon überzeugt, dass das von ihr verfeinerte Instrument der Demoskopie die Früherkennung heutzutage wesentlich erleichtere. In ihren letzten Jahren glaubte sie, das Tal der Bildungsverdrossenheit sei durchschritten, und in der F. A.Z. feierte sie optimistisch „Die Wiederentdeckung der Bildung". Im konkreten Fall verließ sich die Leiterin des Allensbacher Instituts auf Umfragezahlen, die offenbarten: Erfreulicherweise halten wieder mehr Eltern das Erziehungsziel, „Wissensdurst" zu wecken und „seinen Horizont ständig zu erweitern", für „besonders wichtig". Nur noch die Hälfte hatte sich 1995 dazu bekannt, aber schon 2002 ist der Anteil auf gut zwei Drittel (68 Prozent) gestiegen. Indes heißt es noch nicht, dass junge Menschen auch wirklich mehr lesen, wenn deren Eltern mehr Freude am Bücherlesen einfordern (1995: 39 Prozent; 2002: 48 Prozent). Leider deutet alles darauf hin, dass es sich anders verhält. Immerhin dürfen Gymnasien in dieser Hinsicht wieder mehr Unterstützung von den Eltern erwarten. Auch ein anderes Ergebnis des Allensbacher Instituts weckt auf den ersten Blick Hoffnung: das breite Bekenntnis zur Allgemeinbildung. Vier von fünf Deutschen halten es immer noch für „besonders wichtig", dass Schulen sie vermitteln. Auch das ist eine trügerische Hinterlassenschaft des Bildungsbürgertums. „Allgemeinbildung" droht zur leeren Hülse zu werden, weil sich die Inhalte verflüchtigen. Darüber sollten wir nicht länger lamentieren; vielmehr ruft uns auch dieser Befund zum Widerstand auf. O b uns Bildung, Bildung allein, aus der Misere retten kann, mag man bezweifeln; aber sie muss dabei helfen. Freilich wäre Bildung ohne ordnende Orientierung ein Widerspruch in sich. Die Richtschnur darf, wenn sie, wie es heute heißt, „nachhaltig" wirken soll, nicht oder doch nicht allein ökonomischen und technischen Interessen gehorchen; formale Perfektion genügt nicht. Bildung muss, wie man es auch dreht und wendet, geistig fundiert sein: religiös und/oder philosophisch. Nur so weist sie dem Leben eine Richtung, und diese Richtung gibt uns das abendländische Vermächtnis vor. Es ist falsch, unsere abendländische Kultur als Hinterlassenschaft einer sterbenden Schicht anzusehen. Unsere Mitgift löst sich nicht ebenso auf wie diese Schicht selbst. Vielmehr handelt es sich um ein Menschheitserbe, das alle Krisen überdauern wird. Daher war es auch richtig, dass die demokratische Führungselite nach dem Zusammenbruch von 1945 so entschieden an diese Tradition anknüpfte (Jaspers; Rudolf Alexander Schröder; Adenauers erste Regierungserklärung; Heuss; Carlo Schmid). Davon ist auch unser Grundgesetz bestimmt und beseelt. Das Abendland, so hat Theodor Heuss gesagt, sei von drei Hügeln ausgegangen: Akropolis, Kapitol, Golgatha (Reden an die Jugend). Hinzu kommen die Anhöhen der Aufklärung. Wir besitzen keinen anderen Kulturfahrplan durch dieses Hügelland als den abendländischen Kanon mit seinen jüdisch-christlichen und griechisch-römischen Stationen und seinen ständigen Renaissancen. Europa wird immer wieder neu erbaut; aber die wichtigsten Bausteine bleiben dieselben. Daran erinnern immer mehr Einsichtige das geschichts- und selbstvergessene Publikum. Hier seien nur Jacques Le Goffs Buchreihe „Europa bauen" und die Reihe des Beck-Verlags über die Geschichte Europas genannt, etwa Hartmut Leppins „Das Erbe der Antike" sowie Thomas A. Szlezáks „Was Europa den Griechen verdankt" (Mohr/Siebeck). Unser Bildungskanon ist der Goldgrund, vor dem sich unser Wissen und Gewissen entfalten. In der Auseinandersetzung mit „unseren" Klassikern, ob mit Homer oder Shakespeare, mit Goethe und Schiller oder Tolstoi, lernen wir, wer wir sind, wo wir stehen und wohin wir gehen.

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Am Gebäude Europa wirken alle Lebensbereiche mit, nicht zuletzt das Recht, das unsere Leitkultur mit seinem humanistischen Ethos untermauert (Grossi). Wie beschränkt, von deutscher Leitkultur zu reden! Wir sind stolz auf unsere europäische Leitkultur, nicht weil wir unsere deutsche Identität verleugneten oder weil wir unsere Muttersprache nicht über alles liebten, sondern weil sich ein Wertehimmel über das ganze Abendland wölbt. Wir dürfen auch stolz darauf sein, dass Deutsche so viel zur Abrundung der europäischen Kultur beigetragen haben. Niemand, außer den Deutschen selbst, hat die Deutschen so maßlos verlästert wie englische Journalisten, und deshalb registrieren wir mit Genugtuung und Humor, dass ausgerechnet ein britischer Journalist, Peter Watson, die Welt mit einem Buch über den deutschen Genius überrascht, das den Anteil deutscher Denker, Künstler, Pfarrer, Ärzte, Juristen und Ingenieure hervorhebt. Bei aller Eigenart vergessen wir jedoch den abendländischen Tenor nicht. Für die Literatur des Mittelalters hat das Ernst Robert Curtius demonstriert, auf den sich Umberto Eco „Im Namen der Rose" bezieht, für die Aufklärung Barbara Stollberg-Rilinger, für die bildende Kunst Erwin Panofsky, für die Universitäten Walter Rüegg. Vom Olymp der Oper aus beherrscht Zeus nach wie vor Europa, ja, den Globus, und die Literaten jagen Achill und Odysseus noch immer durch unsere Kulturlandschaften und über unsere Schlachtfelder - so wie gerade jetzt Mathias Enard in seinem Roman „Zone" (Berlin 2010). Antigone, seit Sophokles die faszinierendste Heldin auf den Bühnen der Welt, wird auch in Zukunft die Stichworte geben: individuelle Menschenwürde, allgemeine Menschenrechte, Gehorsam gegenüber einem ungeschriebenen göttlichen (sittlichen) Gebot und ziviler Ungehorsam, Mut zur Tugend, äußerstenfalls bis zur Selbsthingabe (Walther/Hayo; Steiner; Theurich; Szlezák). Fazit·. Unsere Leitkultur verschafft uns eine europäische Identität. Unsere Schulen sind daher Europaschulen, und das Gymnasium ist die Europaschule par excellence, was nicht heißt, dass es sich eurozentrisch abschottete. Im Gegenteil, unser Erbe wirkt offensiv. Um nur das wichtigste Beispiel zu nennen: Das Gymnasium vergegenwärtigt, wie sich die Menschenrechte aus abendländischen Wurzeln herleiten und speisen. Der juristische Humanismus beansprucht, über alle kulturellen Grenzen hinweg und trotz aller partikularen Moral, universelle Geltung. Insofern sind auch wir Fundamentalisten; denn wir glauben daran, dass „unsere" Menschenrechte, früher oder später, überall in der Welt als allgemeine Menschenrechte anerkannt werden (Donnelly; Lindholm; Ernst/Sellmaier). Kaum zu glauben: Das Theater an der Ruhr gastierte mit Sophokles' Antigone in Bagdad und sogar in Teheran. Außerdem gibt es neuerdings auch eine „Antigone von Bagdad", einen Dreiakter von Alexander Neumeyer, Berlin 2004. Und wer lacht nicht amüsiert, wenn er liest, der Pekinger Bildungsstratege Liu Xiaofeng rufe die Chinesen zum Studium Homers, Piatons und Ciceros auf: Nur wer die geistigen Wurzeln des Abendlandes kenne, könne es überholen. Ach, die zweckfreie Bildung als nützliche Waffe! (Der Spiegel).

Hartmut Schiedermair

Die Würde des Patienten

D

ie Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung

aller staatlichen Gewalt". Es dürfte, wenn überhaupt, nur wenige Staaten in der Welt geben, die sich in ihrer Verfassung so deutlich und mit so weit reichenden Folgen zu der

Würde des Menschen bekennen wie das Grundgesetz in seinem A r t . l . Folgenreich ist dieses Bekenntnis deshalb, weil die Garantie der Menschenwürde nicht nur ein jedem Menschen gewährleistetes, unantastbares Grundrecht enthält. Vielmehr ist die Menschenwürde nach den Worten des Bundesverfassungsgerichts als dem authentischen Interpreten der Verfassung darüber hinaus auch der „höchste Rechtswert" und sogar das „oberste Konstitutionsprinzip" in der Ordnung des Grundgesetzes, und als solches prägt sie maßgebend die gesamte Rechtsordnung und mit ihr das gesamte Leben in der Gesellschaft. Diese Vorgabe der Verfassung geht daher nicht nur den Juristen, sondern in gleicher Weise auch den Mediziner und Arzt etwas an. Die Beziehungen zwischen Juristen und Medizinern sind nicht selten von gegenseitigem Misstrauen geprägt und daher auch nicht frei von Spannungen. Nicht allein die vom Gesetzgeber verordnete und bis in die Praxis des niedergelassenen Arztes reichende Bürokratie, sondern auch und vor allem eine oftmals rigide Rechtsprechung, die darauf angelegt ist, den vermeintlichen „Göttern in Weiß" genau auf die Finger zu schauen, sind in der Tat durchaus dazu angetan, Argwohn und Misstrauen zu erzeugen. U m s o mehr aber lohnt es sich, an das gemeinsame Band zu erinnern, das Mediziner und Juristen im Ziel ihrer Tätigkeit miteinander vereint. I m Mittelpunkt all ihrer Bemühungen steht für den Juristen wie für den Mediziner der Mensch, für den nicht nur die widerfahrene Gerechtigkeit, sondern ebenso die Gesundheit ein wesentlicher Bestandteil seines Lebensglücks und in diesem Sinn ein hohes Gut ist. Jurisprudenz und Medizin gehören daher zu den Humanwissenschaften, die, wie sich noch erweisen wird, auf ihre eigene Weise der Menschenwürde verpflichtet sind.

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Hartmut

Schiedermair

Was den U m g a n g mit der Menschenwürde und ihrer verfassungsrechtlichen Garantie selbst für den Verfassungsjuristen so schwierig gestaltet, ist ihre Inhaltsarmut und damit, so will es wenigstens scheinen, ihre mangelnde Aussagekraft. Die Verfassung unterlässt es nämlich, wenn auch mit gutem Grund, die Garantie der Menschenwürde mit einem konkreten Inhalt auszufüllen und auf diese Weise den Menschen und seine Würde auf ein inhaltlich fixiertes Menschenbild festzulegen; denn dies würde notwendig zu einer Form der Fremdbestimmung führen, um die es gerade bei der Menschenwürde nicht gehen kann und darf. Daher überlässt es die Verfassung dem Menschen selbst, ohne jede Vorgabe von außen zu bestimmen, was ihn und seine Würde ausmacht, und genau das ist gemeint, wenn das Bundesverfassungsgericht bei der Menschenwürde von freier Selbstbestimmung spricht. Mit dieser Freiheit aber bewegt sich der Mensch in einem vom Bundesverfassungsgericht als „Intimsphäre" bezeichneten Raum der Privatheit, der nur ihm selbst gehört und zu niemandes Disposition steht. Hier gehört der Mensch mit seiner Individualität und Einmaligkeit im Sinn radikaler Einsamkeit weder dem Staat noch einer Partei oder der Gesellschaft, sondern eben nur sich selbst. Er ist es also, der - auf welche Weise auch immer mit den letztlich unausweichlichen Fragen nach dem Sinn seines endlichen Lebens, was er ist, woher er kommt und wohin er geht, zu sich selbst und zu seiner Identität findet. Die inhaltsarme, nur formal bestimmte Garantie der Menschenwürde ist ganz dazu angetan, selbst den im U m g a n g mit der Verfassung geübten Juristen in einige Verlegenheit zu bringen. So gibt es durchaus Stimmen in der wissenschaftlichen Literatur, die nicht in der Lage sind, diese Garantie mit Inhalt zu füllen, und ihr daher wenig abgewinnen können. Der Grund hierfür liegt auf der Hand. Juristen sind es gewohnt, konkrete Lebenssachverhalte unter eine inhaltlich bestimmte oder zumindest bestimmbare Rechtsnorm zu subsumieren, um so zu einer rechtlichen Entscheidung zu gelangen. Diese durchaus gängige Methode der Rechtsanwendung aber scheint ausgerechnet bei der Menschenwürde und ihrer verfassungsrechtlichen Garantie wegen ihrer Inhaltsarmut zu versagen. Geht es hier vielleicht nicht doch lediglich um einen juristisch nicht zu bewältigenden Fall negativer Metaphysik? U m diese Frage zu verneinen, genügt allein ein Blick in die reichhaltige Rechtsprechung zu Art. 1 GG, in der das Bundesverfassungsgericht mit dem Hinweis auf den „unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung" die Garantie der Menschenwürde mit der gebotenen Vorsicht, aber dennoch für die praktische Rechtsanwendung fruchtbar gemacht hat. Beispielhaft hierfür sind etwa die bedeutenden, von großer öffentlicher Aufmerksamkeit begleiteten Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch, zum lebenslangen Vollzug der Freiheitsstrafe oder zur Volkszählung. Dies konnte dem Bundesverfassungsgericht nur gelingen, weil es erkannt hat, dass mit der Garantie der Menschenwürde auch ohne eine unzulässige Festlegung ihres Inhalts eine Grenzlinie gezogen wird, von der wir nicht mehr, aber auch nicht weniger wissen, als dass ihre Überschreitung stets zu einer Verletzung der Menschenwürde, nämlich zu einem unzulässigen Einbruch in jenen Raum unantastbarer Privatheit führt, in dem der Mensch nur sich selbst gehört und daher frei bleiben muss von jeder verfremdenden Einwirkung von außen. Was aber ergibt sich aus diesem Befund für das soziale Leben, in das der Mensch, ob er will oder nicht, als , , ζ ώ ο ν π ο λ ί τ ΐ κ ό ν " von seiner Natur aus nun einmal eingebunden ist? Von Aristoteles stammt der berüchtigte Satz, dass es Menschen gebe, die von Natur aus Sklaven seien. Dieser Satz verliert allerdings seine offenkundige Anstößigkeit, wenn man ihn im Sinn eines empirisch soziologischen Befundes und dabei so interpretiert, dass mit jeder sozialen Kommunikation Bindungen entstehen, die sich zu einem Netzwerk wechselseitiger Abhängigkeiten in der menschlichen Ge-

Die Würde des Patienten

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sellschaft zusammenfügen, und dies gilt selbst für den Machthaber, der dem irrealen Glauben anhängt, dass ihm und seiner Souveränität niemand etwas anhaben könne. Schon von Plato ist die Frage überliefert, was denn der Tyrann ohne seine Leibwache wäre, auf die er zum Schutz seines Lebens angewiesen ist. Wo es aber soziale Abhängigkeiten gibt - und dies ist die andere Seite - gibt es auch Herrschaft, und zwar nicht nur für den Staat, sondern für das gesamte Leben in der Gesellschaft. In der Konfrontation mit diesem Lebenssachverhalt k o m m t es jedoch unausweichlich auch zu Konflikten mit dem unantastbaren Raum der Privatheit, in dem der Mensch seine Individualität und mit ihr den Kern seiner Würde verteidigt. In dieser Konfrontation aber hat sich die Garantie der Menschenwürde und damit jene Grenzlinie zu bewähren, die einen wirksamen Schutz des Raums der unantastbaren Privatheit zu gewährleisten hat. Daraus aber wird erhellt, was es mit dieser Garantie auf sich hat: es geht bei der Garantie der Menschenwürde um die Begrenzung der Ausübung sozialer M a c h t und konkret - auf eine Kurzformel gebracht - um das Verbot der totalen Herrschaft des Menschen über den M e n s c h e n . Dies ergibt sich zwingend aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde und des mit ihr verbürgten Raums der Privatheit. D i e F o r m e n totaler Herrschaftsansprüche in der Gesellschaft sind vielfältig. So ist es der menschlichen Erfindungsgabe zu verdanken, dass sich im Lauf der Menschheitsgeschichte stets neue, bis dahin unbekannte oder sogar unvorstellbare Formen derartiger Herrschaftsansprüche beobachten lassen. Von daher gesehen ist das Verbot der totalen Herrschaft des M e n s c h e n über den Menschen in einem steten Wandel begriffen und damit in der Rechtsanwendung auch für künftige Entwicklungen offen. Dieser Wandel betrifft zwar nicht das Verbot und seine unveränderliche Verbindlichkeit selbst, wohl aber die Lebenssachverhalte oder Tatbestände, die sich an diesem Verbot messen lassen müssen. Auf diese Weise aber bewahrt die Garantie der Menschenwürde eine ihr eigentümliche Beweglichkeit. Sie bleibt trotz ihrer unveränderlichen Verbindlichkeit mit ihrer Grenzlinie für die Zukunft offen, und sie erweist sich damit auch den Unabwägbarkeiten der menschlichen Erfindungsgabe gegenüber gewachsen. Was die menschliche Erfindungsgabe gerade in der Gegenwart zu leisten vermag, belegen allein die Errungenschaften, die wir vor allem der Wissenschaft und den ihr mit Recht zugeschriebenen neuen Technologien verdanken. E b e n diese Errungenschaften haben den Weg zu jener Wissensgesellschaft bereitet, die im ungebrochenen Selbstbewusstsein und im sicheren Wissen um die Bewältigung von Zukunft· in ihre virtuelle Welt aufgebrochen ist. In dieser Welt aber ist die Zukunft nur noch hochgerechnete Gegenwart und deshalb kein Rätsel mehr, sondern eine Frage, die sich mit ihrer technischen und überdies ö k o n o m i s c h e n Bewältigung von selbst erledigt, und hier gilt der alte Satz des Protagoras, dass der Mensch das M a ß aller Dinge ist. Es ist nun nicht zu bestreiten, dass wir den neuen Technologien und ihrer N u t z u n g Erfolge und Wohltaten verdanken, die ganz dazu angetan sind, dem Lebensglück des M e n s c h e n auf eine bislang unbekannte Weise Erhebliches hinzuzufügen. Niemand weiß dies besser als der Mediziner und A r z t in seinem U m g a n g mit dem leidenden M e n s c h e n , der in der Begegnung mit Krankheit, Alter und Tod der besonderen Hilfe und F ü r s o r g e bedarf. H i e r werden der Medizin ganz neue Wege zur Heilung, zumindest aber zur Linderung von körperlichen und seelischen Leiden gewiesen. Allein schon die Perfektionierung der mittlerweile farbcodierten bildgebenden Verfahren (Sonographie), die C o m p u t e r - und Kernspintomographie ( C T / M R T ) haben der medizinischen Diagnostik bis dahin unbekannte Möglichkeiten eröffnet. Erst recht gilt dies für die therapeutischen Erfolge, die wir abgesehen von dem weiten Feld der Schmerztherapie schon jetzt

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Schiedermair

vor allem der Gentechnologie und ihrem anscheinend unaufhaltsamen Fortschritt verdanken. So wird denn auch die Prognose eines ehemaligen Präsidenten der Bundesärztekammer verständlich, wenn er unter Hinweis allein auf die Möglichkeiten der Organtransplantation die Anhebung der durchschnittlichen Lebenserwartung des Menschen auf 100 Jahre vorausgesagt hat. All die ermutigenden Erfolge, die eine fortgeschrittene Medizin in der Nutzung der neuen Technologien bereits erzielt hat und auch weiterhin verheißt, dürfen und können allerdings nicht über die geradezu dramatische Ambivalenz hinwegtäuschen, die dieser Nutzung erkennbar zu eigen ist. Immerhin sind es doch gerade diese Technologien, die nicht nur Wohltat im Dienst der Gesundheit, sondern mit ihrem Missbrauch gleichzeitig Zugriffe auf den Menschen und seine Würde ermöglichen, die selbst die Vorstellungen eines Aldous Huxley und seiner „Brave N e w World" weit übersteigen. Hier wird in der Tat Wohltat Plage. Um diese Ambivalenz mit einem ersten Beispiel zu belegen, sei auf die Hirnforschung verwiesen, der es in einem Aufsehen erregenden Verfahren inzwischen gelungen ist, einen Mikrochip zu entwickeln, der in die Hirnrinde eingesetzt wird und es dem gelähmten Schwerstkranken überhaupt erst möglich macht, Kontakt mit seiner Umwelt aufzunehmen. Gleichzeitig aber ist es der gleiche Mikrochip, der die Gedanken des Menschen lesbar macht und damit dem Zugriff der Umwelt aussetzt. Der herkömmliche Satz „die Gedanken sind frei", der uns auf das Innerste im Menschen, seine Individualität und Privatheit hinweist, hat hier also seine Gültigkeit verloren. Die Dramatik dieses Vorgangs ist nach meinem Dafürhalten gar nicht zu überschätzen, zumal es hier um eine Wissenschaft geht, deren „Anwendung" nach den Worten des Hirnforschers Donoghue „keine Grenzen gesetzt sind" und die daher dem Satz des Protagoras vom Menschen als dem Maß aller Dinge in geradezu idealer Weise zu entsprechen scheint. Einem Beleg gleicher Brisanz begegnen wir auch in dem weiten Bereich der Gentechnologie, deren therapeutische Erfolge zwar unbestreitbar sind, die uns gleichzeitig aber auch auf die Gefahren für den Menschen und seine Würde verweisen. Nach der weitgehenden Entschlüsselung des menschlichen Genoms ist das Klonen von Menschen immerhin in den Bereich des Möglichen gerückt, wobei es nicht etwa nur um die körperliche Unversehrtheit oder das Leben des Opfers geht. Vielmehr wird mit dem manipulativen Eingriff in das genetische Programm des geklonten Menschen Zugriff auf seine intellektuelle, moralische sowie geistige Verfassung und damit notwendigerweise auch Zugriff auf seine Individualität und Personalität, also auf das genommen, was den Kern der Menschenwürde ausmacht. Dies aber ist eine Form der Herrschaft des Menschen über den Menschen, wie sie sich totaler nicht denken lässt. Auch jenseits aller, zumindest bislang noch theoretischen Möglichkeiten sind die Gefahren für den Menschen und seine Würde nicht zu unterschätzen, die sich aus der praktischen Anwendung der Gentechnologie schon heute ergeben. Bereits James D. Watson, der mit seiner Entdeckung der Doppelhelixstruktur des Erbguts durchaus als Vater der modernen Genetik bezeichnet werden kann, hat in seinem Glauben an die grenzenlosen Möglichkeiten der Molekularbiologie seine Wissenschaft in den Dienst eines Menschenbildes gestellt, bei dem sich der Verdacht eines neuen und subtilen Rassismus nicht von der Hand weisen lässt. Wie aber will man diesen Verdacht entkräften, wenn Watson ein „existentielles Recht", also das Recht auf die Existenz nur noch dem „gesunden und produktiven Leben" zugestehen will, das „Hoffnung auf Erfolge" gewährleistet. Unvermeidlich ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie es denn um das Leben der Menschen bestellt ist, die diese Hoffnung nicht erfüllen, weil ihnen nur eine „poor prognosis" zugestanden werden kann.

Die Würde des Patienten

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Eine Antwort auf diese Frage ist dem Bericht des „New England Journal of Medicine" aus dem Jahr 2008 zu entnehmen. Danach wurde zwei Neugeborenen, denen bei der Geburt wegen eines eingetretenen Herzstillstands nur eine „poor prognosis" bescheinigt worden war, im Wege der Transplantation das Herz entnommen, obwohl die Hirnfunktionen der Kinder noch nicht unwiederbringlich erloschen waren. Zumindest aus der Sicht der deutschen Rechtsordnung fand die Organentnahme in diesem Fall also vor der mit dem endgültigen Erlöschen der Hirnfunktionen getroffenen Feststellung des Todes statt. Begründet wurde dieser Vorgang vor allem mit dem Hinweis auf die große Knappheit von Säuglingsherzen sowie darauf, dass jeder Tag auf der Warteliste das Leben oder zumindest das Gehirn der Empfängerkinder gefährde. Was diesen Fall ebenso wie Watson mit seiner These vom produktiven Leben kennzeichnet, ist das Thema des Eingriffs in das menschliche Leben auf dem Weg der Selektion, und hier gerät der Jurist gleich in zweifacher Hinsicht in Schwierigkeiten. Er ist nämlich genötigt, zwischen Eingriffen in das Leben sowie dem rechtlich gebotenen Lebensschutz auf der einen Seite und dem unzulässigen Eingriff in die unantastbare Menschenwürde auf der anderen Seite exakt zu unterscheiden. Diese Unterscheidung, der selbst das Bundesverfassungsgericht nicht immer gerecht wird, ist schon deshalb unumgänglich, weil es Fälle des Eingriffs in das menschliche Leben, also der Tötung von Menschen gibt, die von der Rechtsordnung durchaus erlaubt sind. Dies gilt etwa für die Fälle der erlaubten Notwehr und Nothilfe oder aber für bestimmte, auch vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich anerkannte Formen des Schwangerschaftsabbruchs. Auch ist in diesem Zusammenhang mit zu bedenken, dass es der Staat selbst ist, der sich im Rahmen der, wenn auch zur Zeit außer Vollzug gesetzten, Wehrpflicht nach Art. 12a GG das Recht vorbehält, das Leben seiner männlichen Bürger im Ernstfall in Anspruch zu nehmen. Dies alles ist verfassungsrechtlich unbedenklich, weil das menschliche Leben zwar ein, wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert, „besonders hohes und schutzwürdiges Gut" ist, aber als solches dennoch nicht an der verfassungsrechtlichen Vorgabe der Unantastbarkeit teilhat, wie sie der Menschenwürde und ihrer Garantie nach Art.l Abs.l GG eigen ist. Deshalb hat das Grundgesetz das Recht auf Leben gemäß seines Art.2 Abs.2 auch ausdrücklich unter einen Gesetzesvorbehalt gestellt. Daraus aber ergibt sich, dass nicht jeder Zugriff auf fremdes Leben immer auch ein unzulässiger Eingriff in die unantastbare Menschenwürde ist. Wie aber steht es nun - und dies ist die zweite Schwierigkeit - mit dem Problem der Selektion, wenn es also darum geht, in der Abwägung von Leben gegen Leben mit dem Mittel der Selektion Zugriff auf fremdes Leben zu geben? Auch hier gibt es Situationen des Notstands, die zu einer Selektion zwingen und daher auch nicht von der Rechtsordnung beanstandet werden können. So kommt, um nur ein Beispiel zu bemühen, der klinische Mediziner nicht daran vorbei, in der Abwägung von Leben gegen Leben eine Entscheidung zu treffen, wenn die Ausstattung und Apparatur der Klinik oder aber der Vorrat an lebensnotwendigen Organen nicht ausreicht, um den Erwartungen aller Anwärter, die auf eine das Leben erhaltende Maßnahme angewiesen sind, zu entsprechen. Hier steht der Arzt oft genug vor einer ethischen Herausforderung, um die ihn niemand beneiden kann, während sich der Jurist mit der für Notsituationen typischen Antwort begnügen muss: Nemo obligatur ultra posse. Abgesehen von den aus der Not geborenen Ausnahmefällen gibt es allerdings auch Formen der Selektion, in denen der Zugriff auf fremdes menschliches Leben unter Bedingungen stattfindet, die nicht nur das Leben, sondern auch die Würde des Menschen offenkundig verletzen. Dabei geht es um Grenzüberschreitungen, bei denen sich die verfassungsrechtliche Garantie der unan-

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Hartmut

Schiedermair

tastbaren Menschenwürde einmal m e h r zu bewähren hat. U m Fällen derartiger Grenzüberschreitungen zu begegnen, genügt es nicht, darauf hinzuweisen, dass die Grauen erregende Praxis der Selektion im Alltag von Massenvernichtungslagern zumindest in unserem Land längst der Vergangenheit angehört und sogar zum Gegenstand einer Kultur des Erinnerns geworden ist. Vielmehr ist es die Gegenwart, die Anlass zur Sorge bereitet. Im

Deutschen

Bundestag wird

gegenwärtig

der E n t w u r f eines

Gesetzes

zur

Präim-

plantationsdiagnostik ( P I D ) beraten. In der dramatischen, höchst komplizierten und deshalb zu R e c h t mit g r o ß e m Ernst geführten Diskussion geht es dabei unvermeidlich um das Problem der Selektion und konkret um die Frage, in welchen Fällen diese Form der Diagnostik angesichts ihrer unter U m s t ä n d e n tödlichen Folgen für segensreich oder aber für verwerflich zu erachten ist. Dankenswerter Weise sind sich jedoch Befürworter und Gegner im Bundestag darüber einig, dass sie nicht einer neuen Eugenik das Wort reden wollen. In anderen Ländern ist die Lage jedoch anders. So wird in den Niederlanden die Präimplantationsdiagnostik selbst in Fällen der als F A P bezeichneten familiären Darmpolypenkrankheit empfohlen, die im Erwachsenenalter die operative Entfernung des Dickdarms erforderlich macht, dem

Betroffenen jedoch abgesehen

von dieser Einschränkung ein Leben mit einer statistisch normalen Lebenserwartung, mit beruflichem Erfolg und sogar mit sportlicher Betätigung ermöglicht. Hier wird also einer Eugenik das Wort geredet, deren Ziel ausschließlich darin besteht, mit dem Zugriff auf fremdes Leben dessen Erzeuger von einer N a c h k o m m e n s c h a f t zu befreien, die als unbequem oder lästig empfunden wird. N o c h weiter geht in diesem Zusammenhang die Forderung nach der Zulassung der Präimplantationsdiagnostik zum Zweck der geschlechtsspezifischen Selektion. Warum soll man nicht die Wünsche von Eltern honorieren und so nicht nur die Zahl, sondern auch das Geschlecht der N a c h k o m m e n im Sinn des „family balancing", also nach der Zahl von Jungen und Mädchen gezielt steuern? Immerhin wird diese Frage von der amerikanischen Wissenschaftlerin R u t h Macklin ohne Einschränkung bejaht. So aber nimmt es nicht Wunder, dass Professoren der U n i versitäten in M a n c h e s t e r und O x f o r d noch weiter gehen und unter der Devise der „procreative benificence" fordern, die gezielte Verbesserung der N a c h k o m m e n s c h a f t durch die genetische Manipulation an E m b r y o n e n sogar zur Pflicht zu machen. U n t e r diesen Umständen aber drängt sich die Frage eines kritischen Begleiters der aktuellen Diskussion geradezu auf, wie lang es denn noch dauern wird, dass angesichts der rasanten Fortschritte genetischer Diagnostik nicht nur und zunächst ein Rechtsanspruch auf diese Diagnostik, sondern darüber hinaus ganz allgemein die Verpflichtung zur Verbesserung der N a c h k o m m e n s c h a f t eingefordert werden wird. Abgesehen von dieser berechtigten Frage sollte nicht übersehen werden, dass die hier beschriebenen, von der Präimplantationsdiagnostik begünstigten Formen der Selektion in geradezu idealtypischer Weise den Vorstellungen einer Eugenik entsprechen, die sich, gar nicht so neu, in eine stattliche, teilweise auch von der Wissenschaft begleitete Tradition einfügt. Hierauf hat der australische Wissenschaftler R o b e r t Sparro in seiner Abhandlung unter dem bezeichnenden Titel „ A - N o t - S o - N e w - E u g e n i c s " zutreffend hingewiesen. Aus der Sicht der deutschen R e c h t s o r d nung aber ist diese Form der Eugenik nicht zu vertreten, weil sie mit ihren scheinbar gerechtfertigten F o r m e n der Selektion zu Grenzüberschreitungen führt, die nicht nur gegen die G e b o t e des verfassungsrechtlich begründeten Lebensschutzes, sondern darüber hinaus auch und vor allem gegen die Garantie der unantastbaren Menschenwürde verstoßen; denn mit diesen F o r m e n der Selektion wird der M e n s c h im Zugriff auf sein Leben als bloßer Gegenstand ohne Eigenwert den Bedürfnissen seiner Umwelt, der Gesellschaft und ihrem vermeintlichen Wohlergehen dienstbar

Die Würde des Patienten

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gemacht. Nichts macht dies auf geradezu bedrückende Weise so deutlich wie der bereits beschriebene Fall der Entnahme von Herzen der Neugeborenen, denen ein Lebenswert ganz im Sinn von James Watson wegen der „poor prognosis" nicht mehr zugestanden wird. Hier wird der Mensch als Individuum mit seinem ihm eigenen Schicksal nicht mehr zur Kenntnis genommen, sondern als bloßes Material oder wie in einer Reparaturwerkstatt als Ersatzteil, wenn auch zum Wohl anderer Menschen, genutzt und ausgewertet. Dies aber ist eine Form der totalen Herrschaft des Menschen über den Menschen, die mit der Menschenwürde und ihrer verfassungsrechtlichen Garantie nicht zu vereinbaren ist. Was aber soll man unter dieser Voraussetzung davon halten, dass es nach einem Bericht der Deutschen Gesellschaft f ü r Chirurgie in einem N e w Yorker Modellprojekt so genannte Doppelambulanzen, also spezielle Teams gibt, die bei einem Unfall den Notfallwagen begleiten, um die Unfallopfer gegebenenfalls f ü r die Zwecke einer eilbedürftigen Organentnahme zu konservieren? Wird nicht auch hier der Mensch im Zugriff auf das Leben des O p f e r s wie in einer Reparaturwerkstatt zum verwertbaren Ersatzteil herabgewürdigt? Die Gefahren, die sich aus der N u t z u n g der neuen Technologien jenseits all ihrer Wohltaten f ü r den Menschen mit dem drohenden Verlust seiner W ü r d e ergeben, sind nun kein besonderes Merkmal einer fortgeschrittenen Medizin. Sie entsprechen vielmehr einem allgemeinen Trend, der sich in der modernen Wissens- oder Informationsgesellschaft unaufhaltsam auszubreiten scheint. Sind wir nicht längst bei jenem gläsernen Menschen angelangt, der, ob er will oder nicht, mit der Aufdeckung seiner ganzen Persönlichkeit f ü r jeden Einfluss von außen und damit für jede Art der Fremdbestimmung offen ist und zu fremder Verfügung steht? Das Bundesverfassungsgericht hat noch im Jahr 1984 im so genannten Volkszählungsurteil versucht, mit dem „Recht auf informationelle Selbstbestimmung" unter ausdrücklicher Berufung auch auf die Garantie der Menschenwürde dieser Entwicklung vorzubeugen. Mit diesem Versuch dürfte das Bundesverfassungsgericht einigermaßen gescheitert sein, weil es bemerkenswerter Weise die Menschen selbst sind, die sich, wie es scheint, im allgemeinen Trend unter der Aufgabe der eigenen Persönlichkeit bereitwillig jeder Form von Fremdbestimmung unterwerfen. Hatte die vom Gesetzgeber 1983 angeordnete Volkszählung noch zu erheblichen Protesten und schließlich zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Volkszählungsurteil geführt, wird die gegenwärtig durchgeführte Volkszählung ohne jeden Widerspruch einfach hingenommen. Der G r u n d hierfür liegt auf der Hand. Die Menschen haben sich nicht nur in der N u t z u n g des Internets so an die gängig gewordene Praxis des „sich outens" gewöhnt, dass ihnen der Verlust ihrer Persönlichkeit in der Auslieferung an den Einfluss und die Lenkung von außen nichts oder nur noch wenig auszumachen scheint. O f t genug ist es die Flucht vor sich selbst, die die Menschen dazu bewegt, den Raum der Privatheit aufzugeben, nur um der mühseligen Suche nach sich selbst und der eigenen Identität aus dem Weg zu gehen. Was aber ist das f ü r eine Gesellschaft, in der dieser Raum und mit ihm die Menschenwürde im wechselseitigen sozialen Geflecht der Fremdbestimmung ihren Wert zu verlieren und unterzugehen drohen? Es macht nun keinen Sinn, angesichts dieses bedauerlichen Befundes in die wenig ergiebige Resignation pessimistischer Gesellschaftskritik zu verfallen. Vielmehr ist der Realist gehalten, die Dinge so, wie sie nun einmal sind, hinzunehmen, ohne jedoch den Kampf um den Menschen und seine Würde, der im Übrigen die Menschheitsgeschichte von jeher begleitet hat, aufzugeben. Wie aber wollen wir es, um zum Schluss zu k o m m e n , dabei mit Protagoras und seinem Satz halten, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist?

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Hartmut

Schiedermair

Diesem Satz wird man nichts abgewinnen können, wenn er mit seiner skeptischen Interpretation im Sinne der totalen Machbarkeit verstanden und zur Rechtfertigung jener Technokratie benutzt wird, die selbst vor dem Menschen und seiner Individualität, Einmaligkeit und Personalität, also vor der Menschenwürde nicht halt macht, und dies gilt in gleicher Weise für die totalitären Herrschaftsansprüche, denen wir auch und gerade in der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft begegnen. Ganz anders liegen die Dinge jedoch, wenn man Protagoras mit seinem Satz von dem Menschen als dem Maß aller Dinge so interpretiert, dass der Mensch und seine Würde der unverrückbare Maßstab sind, der alle Herrschaftsanprüche im Geflecht der sozialen Abhängigkeiten in ihre Grenzen weist. In dieser wertphilosophischen Interpretation aber gewinnt der Satz des Protagoras eine ganz neue und in ihren Folgen weitreichende Dimension. Ist doch der Respekt vor der Menschenwürde die notwendige und überdies einzige Bedingung für das, was wir als Humanität bezeichnen. Humanität ereignet sich nicht in wohltönenden Gesellschaftsentwürfen oder politischen Programmen, sie hat sich vielmehr in der Achtung eines jeden vor der Menschenwürde, auch im täglichen Umgang mit dem Mitmenschen, zu bewähren, und dies gilt selbstverständlich nicht nur, sondern ebenso für den Mediziner und Arzt, für den Juristen sowie für die gesamte Wissenschaft.

Andreas Speer

Die nach uns bemessene Mitte Uber Archäologie und Aktualität der Tugenden

V

on Tugenden zu reden, hat heutzutage einen anachronistischen Beigeschmack. Nicht nur die bekannte Invektive eines hochverdienten deutschen Elder Statesman gegen die vermeintlichen Sekundärtugenden, die moralisch blind jedem Herren dienstbar sein könnten, mögen als ein Hinweis dienen, dass den Tugenden im gegenwärtigen Ethikdiskurs eher eine sekundäre Rolle zugewiesen wird. Im Kontext normativer Ethikkonzeptionen erfahren die Tugenden zudem eine Einengung auf das moralisch Gebotene. Das lässt sich bereits bei Immanuel Kant beobachten, der in seiner Grundlegung der Metaphysik der Sitten unter Tugend eine „in der festen Gesinnung gegründete Ubereinstimmung des Willens mit jeder Pflicht sieht". Diese dürfe aber niemals zur bloßen Gewohnheit werden, sondern müsse „immer ganz neu und ursprünglich aus der Denkungsart hervorgehen"; gerade darin liege die moralische Stärke des Menschen in Befolgung seiner Pflicht. In einem Distichon, das bezeichnenderweise den Titel Gewissensscrupel trägt, hat Friedrich Schiller auf ironische Weise seine Kritik an einer formalistischen Pflichtenethik auf den Punkt gebracht: „Gern dien ich den Freunden, doch thu ich es leider mit Neigung, / Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin". Demgegenüber bestimmt Schiller selbst Tugend als die gleichsam natürliche Neigung des Menschen zur Pflicht. Hierbei kommt es nicht nur auf die einzelnen Handlungen, sondern auf den ganzen Charakter an, wozu Pflicht und Neigung in einer „schönen Seele" zusammenstimmen müssen. Hinter der poetischen Sprache Schillers scheint ein alternatives Verständnis von Ethik auf, das in Begriffen wie Harmonie und Maß, nach der rechten Ordnung von Teil und Ganzem, von Handlung und Lebensentwurf fragt, sowie nach dem Ineinander von Vernunft und Natur.

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Andreas Speer

Die Leitfrage der Tugendethik Im Unterschied zur Kantischen Leitfrage: „Was soll ich tun?" geht eine Tugendethik von der Leitfrage aus, wie ich leben soll. Dabei ist Tugend zunächst kein im engeren Sinne moralischer Begriff. Als substantivisches Äquivalent zu „agathos" (gut) bezeichnet die „arete" (gewöhnlich mit Tauglichkeit oder Tugend übersetzt) vielmehr das Gutsein eines jeden Dinges, gleich ob es sich um ein Messer, um ein Pferd, um einen Menschen oder eines seiner Körperteile oder Vermögen handelt. Hierbei wird das Gutsein stets ausgesagt von einer wesentlichen, nicht von einer beiläufigen Eigenschaft. So bemisst sich die „arete" des Steines an seiner Härte, die des Pferdes in seiner Schnelligkeit und Ausdauer, die des Auges an seiner Sehkraft - und die des Menschen? Die Frage nach der „arete" stellt uns vor die Aufgabe, danach zu fragen, was für den Menschen wesentlich ist. Ganz in diesem Sinne verstand die antike Ethik, auf die wir in unserer Tugendarchäologie gestoßen sind, die Frage, wie wir leben sollen, als Frage, welcher Art Mensch wir sein wollen. Worin aber besteht das Gutsein des Menschen, seine „arete"? Was ist seine spezifische Tätigkeit, die wir nicht ignorieren dürfen, wenn wir verstehen wollen, was ein Mensch ist? Dies ist für Aristoteles zunächst ein durchaus analytisches Argument, denn jedes definitorische Erfassen eines Gegenstandes geschieht durch die Angabe seiner spezifische Differenz gegenüber einem anderen, welche ihn von diesem unterscheidbar macht. Für Aristoteles liegt die Antwort auf die Frage nach der spezifisch menschlichen Tätigkeit in der Realisierung seiner Vernunftbegabung. Allgemein kann man daher sagen: Realisiert er diese Vernunftbegabung nicht nur auf irgendeine, sondern auf eine gute Weise, so lebt der Mensch entsprechend seiner „arete", ist er tugendhaft. Dies ist eine spefizisch ethische Aufgabe, die sich auf jene Klasse von Handlungen bezieht, die vernünftig und freiwillig sind. Denn weil die mit der Tugend verbundene Tätigkeit aufgrund einer Entscheidung und somit freiwillig erfolgt, steht die Tugend in unserer Macht. Aristoteles bestimmt daher die Tugend als einen „Habitus des Wählens, der die nach uns bemessene Mitte hält und durch die Vernunft bestimmt wird, und zwar so, wie ein kluger Mann ihn zu bestimmen pflegt". In dieser Definition des Aristoteles aus dem zweiten Buch seiner Nikomachischen Ethik ist vieles gesagt: Tugenden sind Habitus, Haltungen, die zwar auf Verhaltensdispositionen beruhen, aber erst durch ihre Realisierung wirklich erworben werden - wie etwa besondere Bewegungsabläufe, das Erlernen eines Musikinstruments oder einer Sprache. Doch Lernen im Modus der Tugend, d.h. der bestmöglichen Realisierung einer Disposition, erfolgt nicht nach dem Modell des operanten Konditionierens, wie es der Behaviorismus beschreibt, sondern ist nicht ohne ein Moment der Freiwilligkeit denkbar. Tugend besteht in einer Haltung, die von Entscheidung getragen ist, die ihrerseits durch die Vernunft bestimmt wird. Hierbei entspringt die Freiwilligkeit zunächst einer Indeterminiertheit, die durch das Moment des Vernünftigen hinzutritt und nicht naturkausal determiniert werden kann. Habitus sind demnach keine kausal festgelegten Verhaltensschemata, sondern gestaltungsoffene Dispositionen, die Alternativen zulassen. Deren Realisierung setzt beständige Übung voraus - je nach Talent mehr oder weniger - , und je besser man eine solche Tätigkeit realisiert, je stabiler der erworbene Habitus ist, desto mehr Handlungskompetenz hat man, desto müheloser erscheint der Gebrauch. Die Tugend ist dann nicht eine mühsam abgerungene Pflicht, sondern wird zur zweiten Natur, die man mit Leichtigkeit und wie ein Virtuose beinahe spielerisch auszuführen vermag. Im Gegensatz zu dem Kantischen Misstrauen gegenüber der Gewohnheit oder im Vergleich mit der Betonung der Entlastungsfunktion durch Habitualisierung in

Die nach uns bemessene Mitte

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der m o d e r n e n Anthropologie hebt Aristoteles den positiven A s p e k t der G e w ö h n u n g als Kompetenzzuwachs hervor, der seinerseits zu neuen Handlungsmöglichkeiten f ü h r t .

Fehler eingeschlossen Dies ist jedoch kein naturwüchsiger Prozess. Bei der Realisierung kann man Fehler machen: Ein U b e r m a ß ist ebenso abträglich wie ein Mangel. Es k o m m t darauf an, die rechte M i t t e zu finden. Tugend, s o Aristoteles, besteht in einer H a l t u n g , die v o n einer E n t s c h e i d u n g getragen ist und in einer M i t t e f ü r uns besteht. Diese M i t t e wird d u r c h die V e r n u n f t b e s t i m m t . Die E r m i t t l u n g des Richtigen ist allerdings kein arithmetisches Mittel, kein normativer Maßstab, d e r i m m e r und unter allen U m s t ä n d e n gilt, sondern muss sich am Einzelfall u n d an den K o n t e x t e n u n d U m s t ä n den orientieren. Es k o m m t auf die „nach u n s bemessene M i t t e " an. Was in einem Fall das rechte M a ß sein kann, ist in einem anderen Fall zuviel oder zuwenig. Ethik nämlich hat es weniger mit allgemeinen Regeln u n d N a t u r g e s e t z e n als mit d e m Einzelfall zu t u n . Was zu t u n u n d zu lassen ist, entscheidet sich in der jeweiligen Situation u n d ist durch die jeweiligen U m s t ä n d e mitbestimmt. Welche Regeln hier von N u t z e n sind u n d A n w e n d u n g finden k ö n n e n , das gilt es zu lernen und e i n z u ü b e n . Lernen ist zunächst eine intellektuelle Aufgabe, deren Realisierung uns in den Besitz der dianoetischen o d e r intellektuellen Tugenden bringt. H i e r z u zählt auch der epistemische H a b i t u s : das Wissen bzw. die Wissenschaft. F ü r vernünftige H a n d l u n g s e n t s c h e i d u n g e n aber bedarf es z u d e m eines Einklangs unserer Strebungen u n d A f f e k t e mit der V e r n u n f t . Dies ist Sache d e r ethischen Tugenden oder C h a r a k t e r t u g e n d e n : Besonnenheit, Standhaftigkeit, Mut. A u c h hier gilt es, das rechte M a ß zu finden: zwischen Zügellosigkeit u n d Empfindungslosigkeit, zwischen Tollkühnheit u n d Verzagtheit, zwischen Feigheit u n d U b e r m u t . Die rechte Mitte zu finden, h e i ß t allerdings nicht, in einem geradezu neutralen „lauen" M i t t e l m a ß zu leben. Der T u g e n d h a f t e vermag vielmehr die A f f e k t e in einem E n t s c h e i d u n g s k o n t e x t richtig zu gewichten. Hierbei heißt richtig, was die V e r n u n f t als richtig erkennt.

Klugheit Eine b e s o n d e r e B e d e u t u n g k o m m t in diesem Z u s a m m e n h a n g der Klugheit zu. Sie richtet sich nicht so sehr auf das Allgemeine als vielmehr auf das Einzelne. D e n n sie hat es mit d e m H a n d e l n zu tun; dieses aber bezieht sich auf das Einzelne u n d K o n k r e t e . Die Klugheit ist praktisch, d.h. sie leistet die Vermittlung des Allgemeinen u n d des Besonderen im Hinblick auf das, was zu tun ist. Sie s t e h t somit an der k o n k r e t e n Schnittstelle, w o sich die Fage nach dem, was ich t u n soll, stellt. H i e r b e i bezieht sich die prudentielle B e g r ü n d u n g des moralischen Lebens stets auf ein zu erreichendes G u t . D e r Kluge vermag durch gute Ü b e r l e g u n g u n d d u r c h N a c h d e n k e n das jeweils beste d u r c h H a n d e l n erreichbare menschliche G u t zu treffen. Vor allem aber vermag der Kluge die rechte E n t s c h e i d u n g zu treffen, weil er die Ü b e r l e g u n g , was f ü r ihn gut u n d nützlich ist, nicht n u r auf einen b e g r e n z t e n A s p e k t bezieht - etwa die Gesundheit, das Trainingsziel, die berufliche Karriere - , sondern auf das gute Leben insgesamt. D e r Kluge lebt nicht nur episodisch, sondern

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Andreas Speer

ist in der Lage zu erkennen, welche Handlungen für ein gelingendes Leben zuträglich sind und welche nicht.

Das Leben im Ganzen Damit tritt ein weiteres Merkmal einer Tugendethik in den Blick. Diese richtet sich nicht nur auf das Verständnis unseres Handelns vor dem Hintergrund einer komplexen Psychologie bestimmter dianoetischer und ethischer Handlungsdispositionen und ihrer Realisierung unter den gegebenen Bedingungen, sondern auch auf das Leben im Ganzen. Diese Frage ist wesentlich verknüpft mit derjenigen des gelingenden Lebens und führt uns noch einmal die ursprüngliche Bedeutung von „arete" als Substantiv zu „agathos" (gut) vor Augen: Als die Verwirklichung wesentlicher Eigenschaften sind die Tugenden konstitutiv für das Glück des Menschen, das Aristoteles im zehnten Buch der Nikomachischen Ethik als ein Tätigsein gemäß der vorzüglichsten „arete" bestimmt, als Tugend des Besten in uns.

Die komplexe Natur des Menschen Dies ist mehr als eine Frage der Lebenskunst, die ja derzeit wieder ein hohes Maß an Aktualität besitzt. Vielmehr basiert die spezifische Artikulation der Tugendethik auf der Vorstellung einer ebenso komplexen wie ungeteilten Natur des Menschen, welche die Moderierung der Affekte ebenso umfasst wie die Bestimmung des Handelns und die Ausbildung der intellektuellen Fertigkeiten im Horizont eines gelingenden Lebens. So jedenfalls exponiert Aristoteles - der Klassiker, auf den sich in der Gegenwartsdebatte etwa Elizabeth Anscombe, Philippa Foot, Martha Nussbaum und Alasdair Maclntyre berufen - die Frage der Ethik. Auch wenn man die Option für eine Ethik, die die Tugend in den Mittelpunkt stellt, nicht mit einer Kritik an der moralischen Krise der Gegenwart verbinden will wie Alasdair Maclntyre, die zwischen einem Universalismus, der moralisches Handeln von vorgängigen Regeln und Grundsätzen abhängig macht, und einem Emotivismus, der moralische Urteile lediglich als Ausdruck unserer eigenen emotionalen Einstellung begreift, gefangen ist, so lenkt die Frage nach der Tugend dennoch den Blick auf Themen und Fragestellungen, die im gegenwärtigen Ethikdiskurs zu verschwinden drohen. Vor allem hat sich eine auf der Tugend beruhende Ethikkonzeption als ein bis heute außerordentlich aussagekräftiges und tragfähiges Modell erwiesen, als eine Tradition, die, so Alasdair Maclntyre zum Abschluss von After Virtue, die Schrecken der Barbarei überstanden hat und uns gerade deshalb Grund zur Hoffnung bietet für die Schaffung lokaler Formen von Gemeinschaft, in denen die Zivilisation und das intellektuelle und moralische Leben Bestand haben.

Botho Strauß

Uns fehlt ein Wort, ein einzig Wort

D

ie bürgerliche Gesellschaft pflegt in der Krise hauptsächlich Affekte, Gefühle, Ratlosigkeiten. Dagegen hülfe nur: wahre Aufklärung! D e r Zusammenbruch der Finanzen und der Märkte, aller Sicherheiten und Gewissheiten ist auch eine Krise des Sprechens und

der Sprache - vor allem der Politik. D e r Souverän hat einen neuen Widersacher. Diesmal nicht die römische Kirche, nicht den Kommunismus, sondern „die Märkte". Sie zu beruhigen, unternehmen die Regierungen des Euro-Verbunds ganz altmodische diplomatische Manöver der Täuschung, Verschleierung und Falschaussage - bis hin zum (noch immer uneingestandenen) Bruch vertraglicher Vereinbarungen und institutioneller Regeln. Wie jeder ungreifbare und unangreifbare Feind werden deshalb nun die Märkte dämonisch entrückt. Dabei gilt nach dem Wort Friedrich von Hayeks der Markt eigentlich als ein „Entdeckungsverfahren", indem er seine Teilnehmer über Vor- und Nachteile ihrer Investitionen orientiert - aber eben auch wie gegenwärtig die desolate Finanzlage von kredithungrigen Staaten bloßstellt, die die nationale Politik mehr oder weniger geschickt zu verbergen sucht. Diese als schonungslos kapitalistisch empfundene „Aufklärung" durch die Märkte wird von den Betroffenen meist empört zurückgewiesen - gegenüber den Märkten reagiert jede Regierung spontan um einen Ruck linker, als sie es vielleicht ist, und sucht die sozialen Verpflichtungen, die sie gegenüber der Bevölkerung wahrzunehmen hat, gegen die Zumutungen der schnöden Zinswirtschaft - in Form der anmarschierenden schier endlosen Zahlenkolonnen der Refinanzierung - abzuschirmen. Das Volk interessiert sich nicht für Ökonomie (Wir benutzen hier - für den Schriftsteller gewöhnlich unerträgliche - begriffliche Großformate: der Staat, die Politik, die Märkte, der Souverän, also auch: das Volk). Geld ist, über die persönlichen Zuflüsse hinaus, kaum der näheren Erkundigung wert.

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Von Botho Strauß

Zwar werden alle unentwegt, unterstützt von grafischen Modellen, über die „Mechanismen" des Geschehens (was funktioniert eigentlich noch mechanisch im IT-Imperium?) aufgeklärt aber worüber sind wir nicht schon bis über den Rand unseres Verstands aufgeklärt, ohne dass es uns anhaltend beschäftigte? Wichtiger als aufklären wäre in diesem Fall vielleicht ein instruierendes Werben für die Materie selbst, die heute genau wie zu bürgerlich pietistischen Zeiten als anrüchig gilt, vielleicht nicht mehr aus Gründen asketischer Scham, sondern eher aus saturierter Verachtung. Die kurzfristigen, die Ad-hoc-Erläuterungen komplexer Marktvorgänge in den TVN a c h r i c h t e n treffen weitgehend auf ein volkswirtschaftlich unvorbereitetes Publikum. Gerade angesichts der Krisenkette zur Einleitung des neuen Jahrtausends wäre es ratsam, ein Pflichtfach Ö k o n o m i e für höhere Schulklassen einzurichten. N i c h t um noch gerissenere Marktteilnehmer zu erziehen, sondern um der gefährlichen Bequemlichkeit sich forterbender antikapitalistischer Affekte, der im Volk wahrscheinlich am weitesten verbreiteten intellektuellen Einschränkung, entgegenzuwirken. Das „ A n t i " in F o r m von streitbaren Antipoden und konkurrierenden Schulen versammelt das marktwirtschaftliche D e n k e n in sich zur Genüge. Es ist jedenfalls anregend und spannend, die verschiedenen Methodenlehren der N a t i o n a l ö k o n o m i e und Geldpolitik zu verfolgen - so weit zu verfolgen, bis man zur tieferen Unschlüssigkeit der gesamten Entwürfe v o r s t ö ß t und sich der Ablösbarkeit und Widerlegbarkeit so gut wie jeder Schule bewusst wird. Schumpeter, Eucken, Müller-Armack, von Mises, erst recht Keynes und Friedman gehören nicht nur zur T h e o r i e - G e s c h i c h t e des zwanzigsten Jahrhunderts, im Vergleich zu anderen Denkern, Historikern oder Philosophen nahmen nicht wenige auch einen erheblichen Einfluss auf die Politik und das soziale Leben. Wenig fruchtbar ist in der Folge allerdings die Aufteilung der gegensätzlichen Schulen auf politische Parteien und Parteiungen. D e r Liberale wird immer mit seinem ordnungspolitischen, der G r ü n - L i n k e immer mit seinem keynesianischen Derivat handeln (also für mehr Schulden zur Stimulierung des Arbeitsmarkts, des Konsums plädieren). Keiner weicht von seiner Linie ab, bei keinem reißt sie irgendwo oder verbindet sich mit der Gegenlinie. Wir haben es auf diesem Gebiet zu oft mit Ideologen zu tun, die gar nicht mehr merken, dass sie keine Ideologie mehr besitzen, da diese längst in ihre pro- oder antikapitalistischen Affekte diffundierte. U n d solche Ablagerungen sind oft störrischer und beständiger als dogmatische Prinzipien. Im Vorschlag, auf dem Wege von E u r o b o n d s die gegenwärtige Schuldenschwemme auf alle siebzehn Euro-Länder zu verteilen und dies als ein G e b o t der Solidarität auszugeben, versteckt sich eine Version des alten antinationalen Affekts der Linken und im Kern die sozialistische Aporie: A m Ende sind alle Habenichtse. Das Volk ist verwöhnt, bequem, leicht reizbar und hypochondrisch. Auf dem Gebiet, von dem sein Wohlergehen am meisten abhängt, ist das Volk ein Stümper. D i e Entscheidungsträger haben sich daran gewöhnt, zu ihm durch Gesetze und Regelwerke zu sprechen. Ein Wort, das vielleicht allgemein aufhorchen ließe, wurde von einem Politiker seit langem nicht v e r n o m m e n . Die A u t o rität, die er vielleicht kraft seines A m t e s noch besitzt, leidet in der Regel, sobald er den M u n d aufmacht. Jedermann ist des Gewäschs überdrüssig. Man will nie wieder etwas von einem Schritt in die richtige Richtung hören. Selbst wenn er getan würde, was offenbar nur selten der Fall ist, bliebe er in solcher Sprache ungetan für den Zuhörer, die Floskel isoliert ihn hermetisch vom Tatbestand. Prägnante, nicht etwa „gewählte" Sprache vermittelt Autorität. Wer seine Muttersprache beherrscht und nicht auf ihrer glatten Oberfläche dahinschlittert, dem traut man auch zu, das Sagen zu haben.

Uns fehlt ein Wort, ein einzig Wort

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Nun meint man leicht mit G o e t h e , der Handelnde sei immer gewissenlos, das ist modern: ohne Reflexion. Das mag zutreffen, wenn die geschichtliche Stunde einen Politiker zum Handeln erwählt. Die unzähligen Untätigen der Geschichte aber, die Abend für Abend in den TV-Studios herumlungern und ihre Fertigteil-Sprache absondern, erregen selbst beim breiten und doch feinhörigen Publikum den Verdacht, dass ihre mangelnde sprachliche Ausdruckskraft keinen guten Schluss auf ihre Handlungsstärke zulässt. Nichtbeherrschbarkeit in der Szenerie der Krise lässt sich natürlich nicht auf die rhetorische Schwäche der Verantwortlichen zurückführen, zumal sie womöglich nur teilhat an dem magisch-medialen Machtverlust, den Sprache an sich heute erleidet, im Bereich der Künste nicht anders als bei der öffentlichen Rede. Kommunikation schleift den Stil und gleicht die Zungen einander an. Die B ö r s e ist seit jeher ein O r t , an dem persönliche Autorität keine Rolle spielt, ausschlaggebend ist am Ende allein das Schwarmverhalten. Soll das in Zukunft auch - mit Rücksicht auf F a c e b o o k s Millionenschwärme - für die Politik gelten? Kein rhetorisch begnadeter Politiker, keine noch so unanfechtbare Autorität könnte die Nichtbeherrschbarkeit des derzeitigen Schuldendilemmas mit Worten durchdringen oder gar bannen. Gleichwohl: ein einziges nachdenkliches Wort! W ä r e jemand von A m t und Rang dazu imstande - es würde den Handelnden nicht nur Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, sondern das T h e m a , das Dilemma, die Katastrophe für einen bemerkenswerten Augenblick aus dem Schattenreich medialer Indifferenz herausgeführt haben. Stattdessen ist im Zusammenhang mit den Finanzstrategien der E Z B ein anderes einziges Wort wieder aufgetaucht, das noch aus Maggie Thatchers Zeiten stammt und Regierenden dazu diente, einer zu ihrem Vorteil gefällten Entscheidung den Anstrich der Unumgänglichkeit zu geben: „Tina!" (There is n o alternative!). D a gegenwärtig N o t und Notwendigkeit nicht mehr vorgegeben werden müssen und den Handelnden kaum eine Wahl bleibt, kann die Losung eigentlich nur mit knirschenden Zähnen als Fluch ausgestoßen werden. Die Kritiker dieser Losung, die einst die „Alternativen" hießen, was würden sie heute vorschlagen? Auflösung des gesamten Pakts, nördliche Kernzone für den Euro, staatliche Insolvenzen zulassen, niemals um jeden Preis etwas retten, das so nicht zu retten ist? Die Alternativen von heute sind die Ö k o n o m e n , die nicht in politischer Pflicht stehen. Vom Allgemeinen soll man gemeinverständlich reden. D o c h gehört es zu den verderblichen pädagogischen Usancen, das Niveau zu senken, um den Rezipienten dort abzuholen, wo er steht. E r braucht nicht abgeholt zu werden, sondern wird angezogen, nähert sich von selbst, wenn jemand von einer etwa zehn Z e n t i m e t e r höheren Warte zu ihm redet. Die Lektion von der Nichtbeherrschbarkeit erteilte als Erste die kernspaltende Reaktortechnik. D e r prometheische Karriereknick erfolgte, weil man bei einer hochentwickelten Technologie zuerst den N u t z e n abschirmend vor die Gefahr stellte (wie bei Prometheus üblich), dann aber in einem jähen Gefühlsumschwung - der Erkenntnisakt war längst vollzogen - die Priorität umkehrte. Es ist sicher - jedenfalls für deutsche Verhältnisse - ein N o v u m , mit einer erfolgreichen Industrie radikal zu brechen, ohne die Entwicklung einer kompensierenden Technologie der verstärkten Sicherheit und, im speziellen Fall, der Entschärfung des Endlagerproblems abzuwarten. Stattdessen beginnt man eine Operation mit völlig offenem Ausgang, auch wenn sie vermutlich herausfordernd genug wirkt, um eine Fülle von Initiativen und marktbelebenden Tätigkeiten zu befördern. Eine Operation, die freilich zur Hälfte lediglich aus Überzeugung, Gewissen und Gesinnung besteht.

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Von Botho Strauß

In den Stunden des japanischen S u p e r G A U s bildeten sich bei uns, fern der Bedrohung, M e n schenketten, und auf den Gesichtern schien manchmal unter dem Ernst der Anteilnahme auch das heimliche F r o h l o c k e n der Katastrophengewinnler hervor. D e r e n Interessen wurden bisher nicht mit Profitgier, dafür aber mit dem Eifer eines engstirnigen Sektierertums verfolgt. D i e Wolke eines pathetischen „Nie wieder wie zuvor" senkte sich über die ganze Republik, überwand rasch eine geistige Distanz, die die atomare gottlob nicht zurücklegte. H i e r interessiert nicht der umstrittene Gegenstand „friedliche N u t z u n g der Kernenergie" man würde bei uns auch den Teufel am Werk sehen, wenn statt der Kernspaltung die Kernfusion zur Energiegewinnung eingesetzt würde, obschon sie keine vergleichbaren Gefahren und Belastungen mit sich bringt, das „ A t o m " wird niemals entdämonisiert - , hier interessiert lediglich die plötzlich freie Bahn, auf der Gewissen jegliches Wissen überrennen konnte, dabei den sogenannten D r u c k der Straße aufbauend, dem die Regierung prompter, als es der politische Anstand erlaubt, sich beugte, möglicherweise, um nicht im Handumdrehen zum Volksfeind zu werden wie ein arabischer Autokrat, ganz sicher aber nach kommenden Wahlen schielend - und das verringert das verantwortungsvoll scheinende Handeln gegenüber der Tragweite des Beschlusses auf ein schäbiges Motiv. Tatsächlich hat die politische Szene mit einem Schlag den Antagonisten verloren. Es gibt keine Parteien mehr, es gibt nur noch Atomaussteiger. Tina! D a s „Positive", derart alleingelassen, wird wohl eine auffällige Spannungs- und Geistesminderung hinnehmen müssen. Es ist ja, als habe der D e u t s c h e seinen Faust, der ohne den Teufel sich nicht erweitern kann, gänzlich in sich ausgelöscht. A n Stelle der zwei Seelen ist der eine Hasenfuß getreten. So viel N e u e s ! Vielleicht ist das J a h r 2 0 1 1 so etwas wie ein zeitlicher St.-Andreas-Graben, in der die Platte der alten Gewissheiten sich gegen die Platte neuer Ungewissheit mit G e t ö s e verschiebt. Arabischer Tyrannensturz, E r d b e b e n

mit S u p e r G A U ,

Schuldenexuberanz,

nicht

beherrschbare Kommunikationssysteme, die hier eine Volksbefreiung befördern, dort ein M o n s ter hervorbringen, den eiskalten Massenmörder, Ausgeburt der weltweit vernetzten Isolation ... So viel N e u e s !

Heinz-Elmar

Tenorth

... die praktische Seite der Philosophischen Fakultät" Status und Funktion universitärer Pädagogik

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m Wintersemester 1810/11, vor 200 Jahren also und im Gründungssemester unserer Universität, wird der Vorlesungsbetrieb nicht allein mit den bis heute prominenten Großtheoretikern von Schleiermacher über Savigny zu Fichte, Boeckh und Wolf, Hufeland, Reil oder Lichtenstein eröffnet, sondern auch mit einer Vorlesung über Pädagogik. D e r königliche Zensor und Kriegsrat Johann Friedrich Wilhelm H i m l y - heute nur bei den Bildungshistorikern nicht vergessen - kündigt als Privatdozent eine Vorlesung zum Thema „de hodierno studii paedagogici statu" an, und man sieht, das Thema meiner heutigen Vorlesung ist von Beginn an in der Universität präsent: Status wie Funktion der pädagogischen Studien in der Universität sind ungeklärt, Pädagogen sind darüber beunruhigt und machen es zum Gegenstand ihrer Reflexion. Ich nehme also ein klassisches Thema der Selbstbeobachtung der Pädagogik auf, und, wie zu erwarten, ich kann das Thema nur historisch behandeln und vor diesem Hintergrund ein Angebot zur Diskussion unterbreiten - natürlich ohne das Problem endgültig auflösen zu können. Berlin ist 1810, das sieht man bei diesem historischen Blick, kein Ausnahmefall, wenn im ausgehenden 18., frühen 19. Jahrhundert über den Status der Pädagogik - „der nöthigsten aller Wissenschaften", wie Joachim Heinrich Campe 1785 geurteilt hatte - , gesprochen wird. Die erste Antrittsvorlesung eines Pädagogen an einer deutschen und zugleich preußischen Universität 1779 in Halle - galt dem Thema „Von der Notwendigkeit, Erziehen und Unterrichten als eine eigene Kunst zu begreifen", aber mehr als drei Jahre durfte Ernst Christian Trapp seinen „Ver-

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such einer Pädagogik" nicht universitär vortragen, dann hat ihn ,der Wolf gefressen', heißt: die Kollegenschaft, zumal die Philologie im Bunde mit der Theologie, haben ihn von der Universität vertrieben und das Feld wieder für lange Zeit den T h e o l o g e n überlassen. Auch in Berlin geht es mit und nach Himly nicht in einer Weise weiter, dass seine Frage „ U b e r den Zustand des jetzigen pädagogischen Studiums", wie er im Sommersemester 1811 - nun auch deutsch - ankündigt, zu einer klaren Antwort k o m m t . Auch sein spezielles Interesse, „besonders über die Frage" zu lesen, „ob es irgendeine allgemeine pädagogische Lehr-Methode gäbe", findet außer dem Verweis auf Pestalozzi keine eindeutige A n t w o r t (und, nebenbei, nur 12 Z u h ö r e r ) . Dafür liest - im Wintersemester 1811/12 - ein weiterer Privatdozent über Pädagogik, August Ferdinand Bernhardt, seit 1808 der Direktor des Friedrich-Werderschen Gymnasiums (an dem sich auch das von Gedike begründete „Seminar für gelehrte Schulen" befand, das u.a. Schleiermacher [1793] und Süvern [ 1 7 9 6 - 1 8 0 0 ] als Schulamtskandidaten besucht hatten). Bernhardis T h e ma ist die „Pädagogische Enzyklopädie", also das obligatorische Lehrstück, das über alle Wissenschaften vorgetragen werden musste; aber wir kennen seine Vorlesung nicht, und wir wissen auch nicht, wie viele Zuhörer er hatte, nur, dass er in der Pädagogik weniger Erfolg hatte als in seinem wissenschaftlichen Kerngebiet als Sprachwissenschaftler und in der Sprachphilosophie. Was wir wissen ist, dass H i m l y bis 1816 weiter ankündigt, aber nur liest, „wenn sich M u ß e finden sollte" (wie das Vorlesungsverzeichnis sagt), im Wesentlichen aber liest er nicht, weil sich neben der M u ß e offenbar auch keine Zuhörer finden (und H i m l y bald in Streit mit der Obrigkeit gerät). D i e Pädagogik k o m m t jedenfalls in andere Hände, die der Theologen und Philosophen. A b e r selbst Schleiermacher, der neben der Theologie ja auch die Ethik, die Politik und die Pädagogik in seinen Vorlesungen bedient, hat bei seinem ersten Versuch über „Die allgemeinen Grundsätze der Erziehungskunst" im Sommersemester 1813 wenig Glück, es ist nicht einmal sicher, ob die Veranstaltung wirklich stattgefunden hat. Im Wintersemester 1820/21 findet seine „Pädagogik" allerdings schon 49 Hörer, im Sommersemester 1826 sind es dann 121, die seine „Grundzüge der Erziehungskunst" anhören. Das weitere Schicksal der Pädagogik im 19. Jahrhundert zeigt jedenfalls nicht die Karriere eines ordentlichen Universitätsfaches. D e r Unterricht „im Fechten und Voltigieren" findet regelmäßig und bei konstanter Nachfrage statt, auch wenn Ritter (August Heinrich, der Philosoph, nicht Karl, der Geograph) „über G o t t und Welt" liest, z.B. 1828 hat er 162 Zuhörer, aber die Pädagogik dümpelt am Rande: Bis 1914 beteiligen sich mehr als 40 Lehrende an den Vorlesungen, Philosophen zumeist, meist auch nur die zweite Garnitur: Die Privatdozenten Stiedenroth und Keyserlingk haben es jedenfalls auch in unserem Fach nicht zu N a c h r u h m gebracht. B e n e k e kennen wir eher als Philosophen und Psychologen, der - bei einigen liberalen Volksschullehrern beliebt und von den „ärmeren Studenten" in der Lehre frequentiert - seines Empirismus wegen aber von Hegel und der staatlichen Kultusbehörde kritisch beobachtet und verfolgt wurde, Herrn Strauß kennen wir als T h e o l o g e n , und er trägt neben „Pädagogik", z.B. 1833, zumeist auch „die kirchliche Pädagogik" vor, Eugen Dühring als einen Privatdozenten, der sich wegen der Nähe zum Sozialismus verdächtig gemacht, aber weniger die Erziehungswissenschaft befruchtet hat und entsprechend auch nur einmal die Pädagogik lehren durfte. Sicherlich, von den bekannten philosophischen Ordinarien wird auch Pädagogik gelesen, Trendelenburg tut das von 1836 bis 1871/72 immer wieder, aber bis heute sind seine Ansichten selbst in der Erziehungsphilosophie nicht zur Kenntnis genommen worden; von Dilthey, der von 1884 bis 1893/94 gelegentlich auch die Pädagogik las, wissen wir, dass er die Pädagogik als Disziplin

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wenig achtete, sondern - in seiner berühmten A k a d e m i e - A b h a n d l u n g von 1888 - für eine „Anomalie unter den Wissenschaften" hielt. Er wird jedenfalls die Lehrverpflichtungen gern an Friedrich Paulsen abgetreten haben, der seit 1893 als Ordinarius Pädagogik in Personalunion mit der Philosophie anbietet - aber das Fach allein auch nicht an den Hochschulen sehen wollte, sondern nur von der Philosophie diszipliniert. Jedenfalls, es gibt bis 1918 keinen Ordinarius allein für Pädagogik, und auch Spranger, der 1919 k o m m t und die Disziplin etabliert, kennt sein Fach nur als „Philosophische", Baeumler, seit 1933, nur als „politische Pädagogik" - und als Doktrin des Erziehungsstaates.

II. Das alles, diese eigenartige Lehrtradition des Faches an unserer Universität, ich will es doch explizit in Erinnerung rufen, findet sich in einer Zeit, in der ebenfalls seit 1810 das examen pro facúltate docendi existierte, also die Staatsprüfung für das höhere Lehramt, und man hätte ja vielleicht v e r m u t e n dürfen, dass derart staatlich gestützt und professionell gefordert auch die Pädagogik - vielleicht sogar als die „Berufswissenschaft der Lehrer", wie ihr Status ja auch definiert wird - A n e r k e n n u n g und Vertretung in der Universität gefunden hätte, an der ja schließlich die Studierenden studiert haben, die sich dann der Prüfung unterziehen mussten. Die Pädagogik findet sich, anders als Theologie, J u r a oder Medizin, für ihr jeweiliges Berufsfeld allerdings nicht in einer zentralen Rolle bei der Qualifizierung der Lehrprofession. Deren Kenntnisse sind in der Prüfung als „mathematisch, linguistisch und historisch" definiert, also so, wie die Forschungsdisziplinen der neuen Philosophischen Fakultät heißen - die definieren die „Schulwissenschaften". Z u s a m m e n mit der Philosophie wird die Pädagogik erst in der neuen P r ü f u n g s o r d n u n g von 1831, dann auch bei den „Wissenschaften" genannt. Zwar soll auch das „Lehrgeschick" geprüft und eine „Probelektion" gehalten werden, aber Trendelenburg z.B., (seit 1832) 32 J a h r e lang Mitglied der Wissenschaftlichen Prüfungskommission, prüft Deutsche Sprache und Philosophie, nicht etwa Pädagogik; die Prüfung in Pädagogik scheint auch w e n i g den Charakter einer Prüfung gehabt zu haben, sondern wird - wie die Lehre - eher als „eine angemessene Plauderei" wahrgen o m m e n , wie z.B. Spranger sich an Paulsen erinnert. Die praktische Dimension - „Lehrgeschick" - ist so gut wie gar nicht prüfungsrelevant; u n d weil der Staat weiß, dass das - Praxiskompetenz - auch nicht gelehrt wird, jedenfalls w e d e r zuverlässig noch für den Berufsalltag hinreichend, richtet er bald - schon 1826 - ein „Probejahr" ein und verlässt sich lieber darauf, dass in den Seminaren an den höheren Schulen die Lehrprofession selbst - die „pädagogische Genossenschaft", die H u m b o l d t mit dem examen pro facúltate bilden wollte - auch die Lehrer bildet - und dafür auch ein eigenes Wissen ausbildet, das „Gymnasialpädagogik" heißt - und an der Universität (noch) nicht gelehrt wird. H a t man es hier mit preußischen oder sogar nur Berliner Sonderbedingungen zu tun? Man könnte der M e i n u n g sein, wird doch in Königsberg das Pädagogische Seminar mit der universitären Professur von Herbart selbst verbunden, aber bevor man jubelt: Herbart selbst zielte dort eher auf den Hauslehrer und sehr kleine Lerngruppen, nicht auf die öffentliche Schule; und man hat auch mit der Tatsache zu kämpfen, dass nach Herbarts Weggang sich das M i n i s t e r i u m und die Universität standhaft weigern, eine Professur für Pädagogik einzurichten und die praktische pädagogische Arbeit zu institutionalisieren, übrigens genauso w i e in Bonn, Breslau oder Berlin,

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wo die Universität mit Diesterweg nicht einmal einen Lehrauftrag verabreden will. In Königsberg wie in Berlin wird Pädagogik für die Philologen und als praktische Ausbildung nur außerhalb der Universität institutionalisiert, wie auch in Breslau oder Koblenz, Halle oder Münster. Außerhalb Preußens sieht es aber anders aus, werden die Herbartianer jetzt - so stolz wie leicht gekränkt - ausrufen und auf Heidelberg, Leipzig oder Jena verweisen, wo der Pädagogik an den Universitäten sowohl Seminare wie Übungsschulen eingerichtet werden; aber man darf doch nicht verkennen, dass diese Einrichtungen im Wesentlichen private, über Teilnahmegebühren der Studierenden finanzierte Unternehmungen von Privatdozenten bzw. Extraordinarien waren, die nicht selten auch zuerst an die Theologen als Adressaten dachten (wie bei Stoy in Jena), und dass es - selbst in Jena - bis 1920 dauert, bevor einer der berühmten Pädagogik-Professoren endlich Ordinarius wird, und auch dann nur persönlicher Ordinarius, sozusagen als Wiedergutmachung der Republik an einem verdienten Volkslehrer.

III. Kurz und schlecht: Die universitäre Karriere der Pädagogik ist bis ins 20. Jahrhundert keine Erfolgsgeschichte, sie wird von den Pädagogen, zuerst natürlich von denen, denen man die universitäre Karriere verweigert hat, deshalb auch entsprechend als eine systematische Kränkung codiert, zudem als eine unverständliche, werde doch so die Ausbildung der Lehrer unter dem an sich erforderlichen Niveau der Berufsanforderungen geleistet und auch jenseits der Erwartungen, die moderne Bildungssysteme an Beobachtung und Reflexion verlangen. Das ist — aus der Perspektive der statusinteressierten Pädagogen - eine verständliche Strategie: Defizitdiagnosen vortragen, gesellschaftlichen Bedarf reklamieren und immer neu öffentlich Kompetenz beanspruchen - und diese Strategie scheint ja letztlich sogar in Preußen erfolgreich: 1917 wird hier in einer berühmten Konferenz das „Heimatrecht" der Pädagogik an Universitäten ganz amtlich, vom Kultusminister und dann auch, innerwissenschaftlich, von führenden Universitätsvertretern, anerkannt und die Pädagogik universitär etabliert. Man könnte also zufrieden sein, wenn sich nicht die Unzufriedenheit über ihren Status als Wissenschaft und ihre Rolle in der Ausbildung der Lehrer bis heute fortzeugen würde. Nach wie vor gilt die Disziplin innerhalb und außerhalb der Universität als ein problematisches Fach, ihren Forschungsleistungen wird Anerkennung in der Breite nicht gezollt, jenseits von P I S A wird ihre Produktion wenig geachtet: „Auf dem durchschnittlichen Text in dieser Disziplin liegt kein Segen, es muss in ihr zumeist mehr geschrieben werden, als zu sagen ist oder gewusst wird." Das konnte man noch 2010 in einem Blatt für die gebildeten Stände unwidersprochen lesen; selbst für die moderne Variante der Pädagogik, die Bildungsforschung, habe ich erst jüngst aus dem Munde eines in der Bildungspolitik und -forschung gut vernetzten, leitenden Bundesbeamten gehört: „Bildungsforschung, das ist für mich vergiftet!" Ich will darüber nicht etwa klagen und wehleidig werden (das verbietet schon der heutige Anlass) oder, wie ein Kreis illustrer Fachkollegen erst 2007, die allseitige „Verachtung der Pädagogik", sogar „zwischen „Gleichgültigkeit und Hass" gesellschaftskritisch erklären, scharf verurteilen und Gerechtigkeit verlangen. Ich will vielmehr die Binnenperspektive der Pädagogik wie die Außenzuschreibungen selbst noch einmal distanziert betrachten, sie also historisieren, um zu sehen, ob und wie sich die eigentümliche Kontinuität der Klage wie die bei allem Wandel des

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Faches immer neue kritische Fremdbeurteilung vielleicht besser verstehen lassen (die sich ja auch, ohne dass ich das hier umfassend diskutieren kann, als Urteile über die Erziehungswissenschaft als Disziplin im internationalen Kontext immer neu finden lassen). Dann muss man natürlich zuerst die pädagogische Annahme betrachten, dass die Behandlung von Bildung und Erziehung in der Gesellschaft und auch die Ausbildung der Lehrer nur misslingen kann, jedenfalls nicht die Höhe der Erwartungen der modernen Welt erreicht, wenn die Pädagogik nicht als universitäre Disziplin institutionalisiert ist. Aber trifft das eigentlich zu, auch nur für das 19. Jahrhundert? Wurden Bildung und Erziehung in der Gesellschaft nicht hinreichend thematisiert oder nicht angemessen erforscht? Arbeitete, ferner, die pädagogische Profession ohne brauchbares Wissen und ohne kritische Betrachtung ihrer Praxis? Auf diese Fragen gibt der Wissenschaftshistoriker nicht nur Antworten, die den pädagogischen Diagnosen entsprechen. Im Blick auf die Thematisierung wird man zunächst sagen müssen: Ganz generell: Bildung und Erziehung sind in Wissenschaft und Gesellschaft ganz intensiv Thema im späten 18., im gesamten 19. und bis ins 20. Jahrhundert: - Das Thema ist auch universitär reflexiv und normativ präsent, z.B. in Philosophie und Theologie, nicht allein idealistisch, sondern - außerhalb Deutschlands - auch in der empirischen Philosophie der Nachfolger von Locke und Condillac, und nicht selten wird dabei, in Deutschland, auch die These vertreten, dass es einer eigenen Wissenschaft nicht bedarf, jedenfalls nicht für die Schulmeister, wie Schleiermacher lapidar notiert. - Auch empirisch werden die konkreten Erziehungsverhältnisse, seit Karl-Philipp Moritz und in der empirischen Psychologie bis ins frühe 20. Jahrhundert, breit erforscht - jetzt auch von den praktisch tätigen Pädagogen engagiert unterstützt und intensiv rezipiert, Bildung und Erziehung, Lehren und Lernen werden also kontinuierlich umfassend .anthropologisch' und .psychologisch' beobachtet (vor dem Hintergrund wechselnder psychologischer Theorien), aber keineswegs ignoriert. - Auch gesellschaftswissenschaftlich wird geforscht, und nicht nur in Hegels Rechtsphilosophie. Bei Dahlmann politikwissenschaftlich und bei Lorenz von Stein verwaltungswissenschaftlich, in der Soziologie von Bahrdt bis Simmel und Durkheim, selbst die Bildungsstatistik wird sowohl an den Universitäten, z.B. in der Nationalökonomie, als auch in den Verwaltungen kultiviert - und auch hier sind Schulmänner durchaus beteiligt, nicht nur Diesterweg oder Mager. Insgesamt: Weder ein Defizit an Thematisierung noch ein Defizit an Forschung noch die Absenz von Pädagogen oder zu wenig öffentliche Aufmerksamkeit wird man bis ins frühe 20. Jahrhundert konstatieren. Wird dabei denn auch, die zweite Frage, die pädagogische Praxis, die Orientierung der Profession gut bedient? Auch da würde ich ganz andere Tatsachen beobachten als die historisch gängige und innerhalb der Pädagogik fortgezeugte Klage: - Die „Schulmänner" des 19. Jahrhunderts, also die an höheren Schulen, gleich ob humanistisch oder realistisch oder gewerblich, haben einen Corpus des Wissens ausgebildet, mit dem sie ihre Praxis umfassend reflektieren und planend-orientierend begleiten konnten (auch mit Distanz gegenüber rein prinzipientheoretischer Denkweise und deshalb fortschrittsfähig); als Fachwissenschaftler kompetent, haben sie dabei auch ihre eigene Lehrbarkeit thematisiert und Fachdidaktiken ausgebildet und für die Probleme im beruflichen Handeln angesichts der Expansion der

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sen, ihr eigenes Berufsverständnis zu pädagogisieren - das geschieht erwartbar in den Grenzen, die professionelles Wissen charakterisieren: Dass z.B. ihre Institution und die Berufsaufgabe den Rahmen vorgeben, auf den sich ihre Reflexion bezieht, war f ü r sie selbstverständlich. - In diesem Rahmen, also angesichts einer konstant gehaltenen Auffassung der Berufsaufgabe, bewegen sich natürlich auch die Reflexionen und Debatten der Lehrer an den Volks- u n d Elementarschulen: Das „Kind" ist meist ein Grundschulkind, das Lernproblem das der grundlegenden Bildung, Integration aller in diese Phase des Lernens die zentrale Schwierigkeit, von der man sich auch U n t e r s t ü t z u n g durch empirische Forschung erwartet - und diese Forschung z.T. selbst organisiert, weil die Universität das nicht tut, auch für das Selektionsproblem, also die Auswahl nach der Grundbildungsstufe, die natürlich als Aufgabe unbestritten akzeptiert und mit Forschung rationalisiert und objektiviert werden soll. - Auch der durch die Reflexion der Lehrer - aller Schularten - dabei historisch entstehende Wissenskomplex, den man „Reformpädagogik" nennt und an dem nicht selten Modernisierungsbedarf und Modernisierung des pädagogischen Wissens zugleich diagnostiziert und dem Überlegenheit gegenüber dem Alten zugerechnet wird, entsteht innerhalb der Profession. Er ist im Übrigen nicht so radikal anders - gegenüber dem alten Wissen - , wie häufig behauptet wird (die historische Ehrenrettung des Herbartianismus hat das gezeigt), und auch nicht exklusiv einer der Lehrergruppen zuzuordnen, sondern insgesamt als System professioneller Selbstreflexion interpretierbar, und im Kern dann das semantische Korrelat einer anderen pädagogischen Praxis, technologisches Wissen also, professionsintern erzeugt und so, als Technologie zur Konstruktion einer Pädagogik und der Konstruktion eines professionellen pädagogischen Habitus, auch zu verstehen, zu nutzen und zu verbessern. Vor diesem Hintergrund - woher k o m m t dann der Bedarf f ü r Institutionalisierung, der sich in der Zäsur von 1917 manifestiert? Die alten Statusambitionen waren jedenfalls nicht stark genug, Lehrerbildung regional orientiert gut etabliert, die Problemlagen im Bildungssystem waren groß, aber offenkundig auch ohne eine universitäre Disziplin von klugen Pädagogen analytisch und praktisch beherrschbar, im Referenzwissen gestützt auf empirisch arbeitende Humanwissenschaften - warum dann die Zäsur, warum bedarf es einer universitären Erziehungswissenschaft, warum wird ein solcher Bedarf extern jetzt nicht nur akzeptiert, sondern sogar in Preußen und in Berlin disziplinär definiert?

IV. D e r Anlass, das verwundert nicht, ist im Wesentlichen politisch, der Kontext in Berlin und Preußen nicht zufällig der Erste Weltkrieg und die Politik der inneren Pazifizierung, das Ziel der Politik ist entsprechend, an der Universität eine Reflexion zu etablieren, mit der sich die Bildung der N a t i o n zu innerer Einheit bewerkstelligen, „die geistige Kultureinheit" (Troeltsch) erzeugen lässt, damit die Pädagogik - so Eduard Spranger als einer der Hauptakteure in diesen Beratungen - im Frieden die Funktion wahrnehmen soll, die im Kriege der Generalstab hat, das ist die Ursprungsintention. Die ganze Geschichte ist zu lang f ü r heute Nachmittag, hier will ich nur u n d vor allem die damit strukturell erzeugten Probleme f ü r die Pädagogik an Universitäten diskutieren. D e n n der Blick auf 1917 und Preußen erklärt

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- f ü r ihre historische Situation, wie die Pädagogik u n d welche Pädagogik einen eigenen Platz in der Universität findet, - f ü r ihre f o r t d a u e r n d e theoretische Problematik, dass sie sich dabei E r w a r t u n g e n einhandelt, an denen m a n nur scheitern kann, u n d - prospektiv stellt sich das Problem, wie die Pädagogik mit den damit a u f g e w o r f e n e n Schwierigkeiten umgegangen ist u n d bis heute u m g e h t . Z u n ä c h s t das historisch-politische Problem: Die Erwartung, dass die Einheit der N a t i o n pädagogisch konstruiert werde, die Erwartung, dass Gesellschaften im Prozess des Aufwachsens „Einheit" sichern k ö n n e n , u n d zwar durch „ E r z i e h u n g " - diese E r w a r t u n g b e s t i m m t die Konferenz v o n 1917, aber sie bleibt auch typisch f ü r die Weimarer Republik u n d die D i k t a t u r e n seit 1933. Bedeutsam ist diese E r w a r t u n g vor allem f ü r d e n O r t der Institutionalisierung, die Universität. Das Zitat in der A n k ü n d i g u n g meiner Vorlesung e n t s t a m m t diesem universitären Kontext, es s t a m m t von Ernst Troeltsch, u n d die Z u s c h r e i b u n g , die Troeltsch damit an die Wissenschaft der E r z i e h u n g macht, erhellt für die Pädagogik nicht n u r die G u n s t der Stunde, sondern auch die Folgeprobleme, an denen sie laboriert, seit u n d weil sie als Disziplin an der Universität etabliert wird. I m Einzelnen: Die Beratungen der K o n f e r e n z von 1917 w e r d e n von Leitsätzen e r ö f f n e t , einerseits v o m F r a n k f u r t e r Stadtschulrat Julius Ziehen (die ich hier ignoriere, weil sie folgenlos bleiben) u n d andererseits von d e m p r o m i n e n t e n T h e o l o g e n u n d Philosophen E r n s t Troeltsch, der Relevanz gewinnt. Troeltsch argumentiert nicht vordergründig politisch, sondern „vom Standp u n k t e o d e r der Gesamtidee der Philosophischen Fakultät aus" (Thesen, Ziff. 126), und die Pädagogik muss dann einen Bedarf decken, den er aktuell, in der gegebenen historischen Situation, nicht befriedigt sieht: D i e „praktische Seite der Philosophischen Fakultät" sei nicht sichtbar, aber anders als f r ü h e r muss die Universität diese „praktische", die „praktisch-kulturpolitische Seite der Fakultät" jetzt auch institutionell „zum A u s d r u c k " bringen. D e r N a m e d a f ü r ist „Pädagogik als Wissenschaft", u n d zwar als strikt „theoretische Wissenschaft". Diese Seite „des praktischen Zwecks der philosophischen Fakultät, an der es bisher gefehlt hat" (Leitsätze, Troeltsch), muss m a n bedienen, weil die Lage der Kultur den „Ausdruck einer einheitlichen Kulturgcsinn u n g " bzw. einer „relativ einheitlichen Kulturidee" (Ziff. 2) erfordert. Troeltsch bezieht die „praktische", also die historisch gesellschaftliche R e f e r e n z zwar auch und zuerst - auf das gesamte Bildungswesen u n d die Lehrer als die zentralen A k t e u r e , aber er erweitert im Blick auf die gesamte Fakultät die praktische D i m e n s i o n sogleich auf die Kultur insgesamt, nicht allein auf die k ü n f t i g e n „Volkserzieher", sondern auch auf die k ü n f t i g e n „Volksführer" (Ziff. 3). Spranger, der ebenfalls teilnahm, gibt diesem A n s p r u c h auf das gesamte Kulturleben den theoretischen U n t e r b a u ; denn der „Bildungsvorgang" sei eine „alle Gebiete der Kultur d u r c h z i e h e n d e E r s c h e i n u n g " (und man erinnert sich, dass Sprangers Lehrer, Friedrich Paulsen, Lehrer als „Kulturbeamte" bezeichnet hat). F ü r diese umfassende Aufgabe, jetzt wieder Troeltsch, sei die Philosophie nicht m e h r hinreichend, „eine positive K r a f t der Weltanschauungsbild u n g entfaltet die Philosophie selten u n d hält sie geradezu vielfach f ü r nicht zu ihrer Aufgabe gehörig" (Ziff. 3). D a f ü r sei Pädagogik v o n N ö t e n , u n d zwar in spezifischer M e t h o d i k , philosophisch ja, aber gleichzeitig „sowohl historisch-empirisch als spekulativ-normativ" - sie bündelt also das gesamte Wissen der Philosophischen Fakultät. Der Einheit der Bildung, der Einheit der „Volkserziehung" soll also eine disziplinare D e n k f o r m entsprechen, die auch disparate Wissensf o r m e n z u r Einheit bündelt: die philosophische, historische, empirische, spekulative u n d n o r m a -

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tive. Pragmatische Orientierung für die Lehrer sei damit nicht verbunden, allenfalls „Berufsethik", wie der Organisator im Hintergrund, Carl-Heinrich Becker, erläutert, auf jeden Fall sei die Pädagogik nicht die „technische Wissenschaft der Philosophischen Fakultät", wie der Philosoph Heinrich Maier zum Missfallen aller unterstellt, oder gar empirisch forschende Berufswissenschaft; schon gar nicht eine eigene Pädagogische Fakultät, wie alle Anwesenden die bekanten Forderungen der - am Tisch nicht präsenten - Lehrer oder des wenigstens f ü r ein „Seminar" plädierenden Philosophen Max Frischeisen-Köhler abwehren. Es ist diese politisch formulierte Einheitserwartung, die sich mit der Disziplinbildung der Pädagogik in der Universität verbindet und die nach 1918 zu ihrer Institutionalisierung führt. Politisch in den Erwartungen, universitär in der Form, nämlich als Einzelwissenschaft, konzipiert, allerdings ohne scharfe professionelle Referenz, sondern bezogen auf Kultur und Gesellschaft insgesamt. „Pädagogik an Universitäten" gewinnt so ihre Funktion gesellschaftspolitisch und ihren Status im Wesentlichen aus dem Verständnis der historisch-politischen Rolle der Universität heraus, wie Troeltsch in aller Klarheit sagt. D e n n diese Focussierung auf das gesamte Bildungssystem, auf die „Bildung der Nation" und die Kultivierung der Gesellschaft im Ganzen entspricht der Idee der Universität. Ihre Referenz ist die „moralische C u l t u r der Nation", wie H u m boldt schon 1809 formulierte. Anders als bei H u m b o l d t wird diese Referenz jetzt aber disziplinar zugerechnet und in einer Fakultät, der Philosophischen, nicht in der Universität insgesamt verankert. „Bildung" wird auf die Philosophische Fakultät zugeschnitten, im Leitbegriff der Kultur im Wesentlichen geisteswissenschaftlich definiert und, und das ist die im Anspruch so unglaubliche wie historisch radikal neue Form, in der sie Wirklichkeit werden soll: Die Planer die politisch Verantwortlichen und die Universität, Harnack war ebenso anwesend wie Troeltsch - erwarten die Realisierung von Bildung insgesamt durch disziplinare Ausdifferenzierung, letztlich also durch die Pädagogik - aber: wer hätte das gedacht, und mehr noch, wer kann erwarten, dass das jemand leisten kann? Es ist aber auch erst dann und exakt allein diese kulturphilosophische und universitätspolitische Konstruktion, die eine zunächst paradoxe Koinzidenz plausibel und rational erscheinen lässt: Einerseits - und das ist ja schon überraschend genug - wird in der Konferenz zu Pfingsten 1917 die Pädagogik in die Universität geholt und als Disziplin eingerichtet, andererseits - und das sieht in der Lehrerberufsgeschichte wie ein Versehen aus - wird die Pädagogik im H e r b s t 1917 aus der universitären P r ü f u n g der Lehrer gestrichen und an das Ende des Referendariats verlagert, also in die O b h u t und Kompetenz der Profession selbst gegeben. Berufswissenschaft aber, das war nicht die Funktion der Pädagogik in der Universität, nicht in den Ideen von 1917.

V Wie hat die Universitätspädagogik, wie die Pädagogik insgesamt in der Folgezeit mit diesen so umfassenden wie in sich spannungsreichen Vorgaben gelebt? Troeltsch wusste schon selbst, dass er keine einfachen Vorgaben gemacht hatte: „unter diesen Umständen ist die Schaffung pädagogischer Lehrstühle immerhin ein verwickeltes Experiment, das allerhand Voraussetzungen macht, die nicht ohne weiters als erfüllt gelten dürfen", sagte er schon 1917. Die Pädagogik ist mit solchen Erwartungen deshalb auch nicht allein zustimmend, sondern lernfähig und behutsam umgegangen:

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- Varianz, und damit Schutz vor einem Monopol der Zumutungen von 1917, wurde schon durch die M u s t e r der Institutionalisierung nach 1918 erzeugt, selbst in Preußen: der linksrheinische katholische Klüngel, zusammen mit Konrad Adenauer, sorgte dafür, dass es in Bonn und Köln eher lokale Lösungen gab, in Breslau, Halle, Königsberg oder Marburg sorgten die Universitäten dafür, dass es nicht zu viel Neues gab, aber Göttingen und Berlin folgten den Vorgaben - sie wurden auch insgesamt diskursprägend; in den anderen deutschen Universitäten konnte man zugunsten anderer Theorieoptionen und forschender Erziehungswissenschaften die heilsamen Folgen des Föderalismus beobachten und auch den N u t z e n der Armut: wenn Lehrerbildung schon aus Kostengründen mit Universitäten verbunden wurde, wurde breiter institutionalisiert. - Dennoch, die Philosophen waren führend, sie haben die überbordende Erwartung aufgenommen, Spranger verspricht „die Durchseelung des Staates und die Durchstaatlichung der Seele", Baeumlcr zeigt seit 1933, mit welchen Machtmitteln das versucht werden kann, reflektiert haben beide im Wesentlichen philosophisch, aber nicht zu ihrem Glück, weder politisch noch theoretisch. - In der D D R bleibt es bei dem Holismus, an die Stelle der Kultur tritt nur die Erziehung des Kommunisten, selbst in der Universität, und die pädagogische Formung von Staat und Gesellschaft durch alle akademischen Berufe - aber die Form ist nicht mehr disziplinär, sondern die einer Fakultät, auch hier: ohne große Fortune. - Im Westen wird der Weimarer Geist erst wiederbelebt, dann problematisiert, und zwar zugunsten neuer und anderer Formen der Integration des Wissens, schon angesichts der Erwartungen einer komplexen Praxis im Bildungssystem. Das Bildungssystem wird zum Thema, auch Bildung im gesamten Lebenslauf, aber die Kultur lässt man wieder den Geisteswissenschaften, die jetzt auch unabhängig von der Pädagogik über „Vermittlungswissenschaften" nachdenken, also ihr Praxiswerden selbst thematisieren (so wie das die „Hochschulpädagogik" als Hochschuldidaktik schon immer relativ unabhängig von der universitären Pädagogik getan hat, eher inspiriert von Fachwissenschaftlern wie den Historikern und Juristen), und die N o r m e n und Ziele bleiben sowieso den Philosophen. Uber Bildung insgesamt spricht man jetzt in der Bildungsforschung, „Interdisziplinarität" heißt das Stichwort für die Praxis ihrer Arbeit. Das ist schon beim Bildungsrat 1974/75 so, als er die Bildungsforschung plant, allerdings noch mit der für die universitäre Erziehungswissenschaft hohen Erwartung verbunden, „dass der notwendige Zusammenhang der Wissenschaften, die Bildungsforschung betreiben, am ehesten gewährleistet wird, wenn eine intensiv integrierende Erziehungswissenschaft sie immer wieder neu dazu nötigt". Diese so mutige wie listige Zuschreibung des Bildungsrates von 1974/75 hat keine Entsprechung in der Realität gefunden. In der Planung der empirischen Bildungsforschung wird heute, 2007, bei der „Förderung der empirischen Bildungsforschung" durch das BMBF, die zentrierende und zentrale Funktion der Erziehungswissenschaft auch nicht mehr behauptet - und von der beteiligten Erziehungswissenschaft auch nicht beansprucht (auch wenn sich hier und da noch ähnlich anspruchsvolle Sätze finden: „Konstitutiv für empirische Bildungsforschung ist zum einen der empirisch-analytische Zugriff auf erziehungswissenschaftliche Fragestellungen und zum anderen der Bezug zum Bildungssystem (auf den unterschiedlichen Ebenen) und seine Entwicklung im Kontext von Staat und Gesellschaft." Die universitäre Pädagogik, zur forschenden Sozialwissenschaft mutiert, arbeitet dann auch nicht mehr mit Einheitsansprüchen, sondern arbeitsteilig, mit allen Risiken, die entstehen, wenn

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man an die unterschiedlichen Adressaten denkt. Öffentlich und politisch wird dann doch erwartet, was Troeltsch versprochen hatte, und die Pädagogik wird problematisiert, weil sie nicht leistet, was 1917 gebündelt war: die Orientierungsleistung für die Profession, die Begründungsleistung für die Öffentlichkeit und die Beobachtung und Analyse für die Forschung. Die Pädagogik weiß inzwischen aber, dass sie es dann nur noch falsch machen kann, wenn sie sich diesen Erwartungen unterwirft, denn allen drei Imperativen zugleich zu folgen - dem ethischen, dem pragmatischen und dem Forschungsimperativ - ist unmöglich: - unterwirft sie sich dem Forschungsimperativ, bleibt ihre Orientierungsleistung unterentwickelt, spätestens seit wir erfahren haben, dass die mutigen technologischen Versprechen der alten Positivisten sich nicht halten lassen; - gehorcht sie dem Modell der Professions-Reflexion, muss sie die Grenzen anerkennen, die sich aus den praktischen Limitationen ergeben und kann mit dem entlastet-beobachtenden Denken der Forschung wenig anfangen; - reduziert sie sich auf Philosophie, Kritik und Reflexion der Bildung der Nation, wird das muntere „umso schlechter für die Wirklichkeit" zu einem erwartbar wiederkehrenden Topos - und wer will das noch hören? Wir wissen zwar, dass aktuell die Optionen unterschiedlich gewählt werden, aber insgesamt ist die Disziplin wohl klüger geworden, lernfähig angesichts ihrer fortdauernd-produktiven Ernüchterung hat sie offenbar mehrheitlich doch die Dominanz des Forschungsimperativs anerkannt und die Verführung der Politik und Lockrufe der gewerkschaftlichen Verbindungen eher gemieden: - die Regel sind heute immanente Lösungen innerhalb einer der Denkformen, nur noch gelegentlich übersteigert bis zum Holismus, wenn Philosophen oder Empiriker ihr Wissen als einzige Form von Pädagogik phantasieren; - professionelle Reflexion hat sich verselbstständigt und wird als Weisheit der Praxis auch anerkannt, relativ immun gegen die Forschung; - Integration gelingt nicht mehr theoretisch, sondern primär organisatorisch, wie schon in Marburg vor 1933, als das „Pädagogische Seminar" das wöchentliche Treffen aller an der Lehrerbildung Beteiligten war; heute sind das schools of education oder, wenn man forschen will, Zentren für Bildungsforschung. Kritische Selbstbeobachtung schließlich von Status und Funktion universitärer Pädagogik findet, zum Glück, nur noch sektoral oder gelegentlich statt, im Klassenkampf in der Theorie, wie ihn Erziehungsphilosophen zur ihrer Erheiterung und zur Ermüdung des Publikums betreiben, z.B. wenn sie über die „Verachtung" der Pädagogik klagen oder die „Erkenntnispolitik" thematisieren. Hier und da gibt es das Thema schließlich auch bei Bildungshistorikern, dann aber in großen Abständen, nicht jammernd, sondern mit dem Verweis auf erstaunliche Lernprozesse in der modernen Pädagogik. Insofern, in 200 Jahren, beim nächsten Jubiläum, mag man wieder nach dem „hodierno studii paedagogici statu" fragen - das reicht dann auch.

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Erziehung, Bildung, Ausbildung: Das Kapital unserer Gesellschaft

rfolg und Misserfolg unserer Unternehmen werden von Menschen bestimmt. Der überwiegende Teil der Erwerbstätigen - es sind etwa vier von fünf - erbringt seine Leistung in Produktion, Handel oder Dienstleistungen. In der Folge der Globalisierung stehen alle mit allen im Wettbewerb; es ist bekannt, welche Anstrengungen die Länder der Welt unternehmen, ihren Anteil zu sichern. Unsere Unternehmen müssen darum um so vieles besser sein, als ihre Produkte teurer sind. Die Chancen liegen in Innovation, in Eigenständigkeit, in Kompetenz. U m diese Chancen zu nutzen, bedarf es geeigneter Mitarbeiter und Führungskräfte. Auf ihr Wissen, ihr Können, ihren Charakter sind wir auf Gedeih und Verderb angewiesen. D i e Qualität unseres Bildungswesens ist essenzieller Parameter für die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft. D a stehen wir Unternehmen eigentlich vor einer traumhaften Situation. Millionen Menschen suchen Arbeit, und die Investitionen in Bildung sind gewaltig: mögen Sparwellen das Land überrollen - Bildung ist Zukunft, da spart man zuletzt. Das deutsche Bildungssystem ist so differenziert wie aufwendig; es genießt zumindest in Teilen immer noch weltweite Reputation. Wir investieren 20, oft 30 Jahre, um unsere Kinder auf das Leben und damit auch auf ihre berufliche Tätigkeit vorzubereiten. Schwerpunkt und anerkanntes Ziel ist es dabei, die Wirtschaft zu materieller Leistung zu befähigen. Auf sie ist man schließlich angewiesen, denn sie .erwirtschaftet', was verteilt werden kann. Man richtet deswegen das Bildungssystem auf das aus, was man für die Bedürfnisse der Wirtschaft hält. Bildung wird funktional verstanden und ökonomischem Nutzendenken untergeordnet. Mehr noch: Auf breiter Front und zunehmend unterwirft man sich Zwängen in der Folge einer allgemeinen Ökonomisierung des Lebens. Allenthalben - ob in Kultur, Politik, Wissen-

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schaft und Forschung, im Gesundheitswesen und selbst im gesamten Bereich der Bildung scheinen offenbar vergleichbare Anforderungen zu bestehen wie für Unternehmen der Wirtschaft. Allerdings fügt man sich diesen Umständen nur widerwillig und wehrt sich gegen diese Tendenzen. Man beklagt die Zwänge der Wirtschaft, denen man unterworfen zu sein meint; das Ubergreifen der Ökonomie auf alle Bereiche des Lebens gehört zu den Traumata unserer Zeit. Indizien dafür finden sich in der Sprache: Alle Welt fordert Investitionen in Bildung, um die Zukunft des Landes zu sichern - zugleich wird das Wort ,Humankapital' zum Unwort des Jahres erklärt. Ist diese Konstellation für die Wirtschaft tatsächlich traumhaft? In Deutschland zählt man hunderttausende Unternehmen - von der Arztpraxis über Modeboutiquen bis hin zu weltweiten Konzernen. Das Ziel materiellen Erfolges ist allen gemeinsam; dennoch ist dessen Spreizung gewaltig. Selbst benachbarte Tankstellen können höchst unterschiedlich geführt werden - sei auch nur der Tankwart besonders nett. Der Wettbewerb führt zu harter Auslese; da mag ein Handwerksbetrieb es nicht schaffen oder ein Start-up-Unternehmen hat sich euphorisch verhoben. Ganz anders wiegt es, wenn Missmanagement großer Konzerne tausende Mitarbeiter in den Abgrund zieht. Denn gerade sie sind stolz auf die Perfektion ihrer Systeme und zeigen das deutlich, solange es gut geht. Aber die angeblich so klare Logik zeigt Risse. Offenbar kommt es vor, dass man gegen eigene Interessen handelt, indem man sich nicht wirtschaftlich verhält. Es zeigen sich Diskrepanzen zwischen selbsterhobenem Anspruch und selbst zu verantwortender Wirklichkeit. Wir stoßen auf ein seltsames Phänomen. Zwar ist unser gesamtes Bildungswesen darauf gerichtet, für die Tätigkeit in der Wirtschaft zu rüsten. Dennoch sehen wir jeden Tag, dass Menschen trotz klarer Zielsetzung gegen ureigenste Interessen handeln, indem sie gegen deren Gesetze verstoßen. Denn stets hat ihr Handeln Effizienz zum Maßstab, und zwar unter der Maßgabe von Knappheit und Wettbewerb. Die Frage ist immer: Was bleibt unterm Strich? .Ökonomie' heißt darum nichts anderes, als mit knappen Mitteln vernünftig umzugehen, Ziele effizient zu erreichen. Geschieht das nicht, so verfehlt man das Ziel. Ich verwende dafür den Begriff .Ökonomisierung'. Man erliegt ihren Gefahren, wenn die Angemessenheit - das Haushälterische - aus dem Blick gerät. Derart kann Wirtschaft sich unwirtschaftlich verhalten. Wie kommt es dazu? Offensichtlich sind die Ursachen für Erfolg oder Misserfolg nicht in den Regeln zu finden, denn diese sind weltweit gleich: investiert wird, wo es sich lohnt - und produziert wird, wo es günstiger ist. Vielmehr steht zu vermuten, dass Menschen es nicht gelernt haben, die Gesetze der Ökonomie anzuwenden. Sie haben - oder es wurde - in den Prozess ihres Lebens nicht ausreichend früh und nicht angemessen investiert. Darum ist zu fragen, ob unser Bildungswesen den Anforderungen der Wirtschaft tatsächlich gerecht wird; und sehen wir auf die Wirklichkeit, so sind Zweifel angemessen. Schieflagen, gar Konkurse kommen als Warnzeichen viel zu spät; was sichtbar wird, und gar nach außen, wurde längst in der Führung versäumt. Jedes Unternehmen muss jederzeit zu den Besten gehören; Stillstand ist Rückstand: Weiß man denn, was die Konkurrenz in Indien oder China gerade erfindet, um besser zu sein als wir? Dies Handeln ist die Natur der Wirtschaft. Man missbilligt es als beständige Gier - doch unternehmerische Dynamik ist die Quelle von Wohlstand und Ausdruck der Lebenskraft einer Nation. Von daher ist nicht ausschlaggebend, dass man in Bildung viel investiert; entscheidend ist, wie das geschieht. Folgendes ist erkennbar. Die - vorgeblich durch die Zwänge der Wirtschaft erfor-

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derliche — Ö k o n o m i s i e r u n g der B i l d u n g ist d e r falsche W e g . I n d i z i e n b e l e g e n , dass eben sie die Schäden v e r u r s a c h t , die m a n b e k l a g t . D i e F r a g e ist d a r u m , w i e es zu dieser P a r a d o x i e k o m m t , w e r u n s e r B i l d u n g s a n g e b o t v e r a n t w o r t e t u n d w i e es s t r u k t u r i e r t ist. A n d e r e r s e i t s sind die B e d ü r f n i s se der W i r t s c h a f t zu b e l e u c h t e n : W i e m ü s s t e in M e n s c h e n investiert w e r d e n , u m sie zu ihren A u f gaben z u b e f ä h i g e n ? Vor allem aber: W i e stellt sich das g e s a m t h a f t dar; w a s m u s s geschehen, d a m i t B i l d u n g z u m t r a g e n d e n Kapital der G e s e l l s c h a f t w i r d ? A u f g a b e des B i l d u n g s w e s e n s ist es, M e n s c h e n auf ihren L e b e n s w e g u n d auf ihre R o l l e n in der G e s e l l s c h a f t v o r z u b e r e i t e n . Es ist a n e r k a n n t , dass B i l d u n g g l e i c h s a m a m A n f a n g der .Prozessk e t t e ' eines jeden Lebens steht; sie ist F u n d a m e n t d e r L e b e n s g e s t a l t u n g aller M e n s c h e n - ob sie sich nun in dessen Verlauf der Politik, W i r t s c h a f t , W i s s e n s c h a f t , M e d i e n o d e r Familie w i d m e n . Bildung ist G r u n d l a g e unseres G e m e i n w e s e n s . D a r u m steht - bei allen Q u e r e l e n - das B e k e n n t nis zu i h r an o b e r s t e r Stelle. Im B r e n n p u n k t steht u n s e r e J u g e n d ; ihre E r z i e h u n g , B i l d u n g u n d A u s b i l d u n g g e l t e n als Kapital u n s e r e r G e s e l l s c h a f t . D i e Einsicht, dass R i c h t u n g u n d M a ß n a h m e n als g r u n d l e g e n d e Investition in die Z u k u n f t nicht reversibel sind, verstärkt die allgemeine Besorgnis. D e r D r e i k l a n g v o n E r z i e h u n g , B i l d u n g u n d A u s b i l d u n g ist in der B i l d u n g s d i s k u s s i o n üblich. Ich b e h a u p t e : in der W i r k l i c h k e i t ist er u n v e r z i c h t b a r . Erst E r z i e h u n g u n d A u s b i l d u n g i m Verein mit B i l d u n g sichern i m J u n k t i m u n s e r e Z u k u n f t u n d e r m ö g l i c h e n so den M e h r w e r t , von d e m k ü n f t i g e G e n e r a t i o n e n leben. E r z i e h u n g ist v o r a l l e m A u f g a b e des E l t e r n h a u s e s . Sie soll Werte u n d R e g e l n v e r m i t t e l n u n d so den C h a r a k t e r f o r m e n ; i n s g e s a m t bereitet sie auf das Leben in der G e m e i n s c h a f t vor. A u s b i l d u n g q u a l i f i z i e r t f ü r den Beruf und w i r d von Schulen, B e t r i e b e n und H o c h s c h u l e n v e r m i t t e l t . D e r Begriff B i l d u n g ist a m w e n i g s t e n e i n d e u t i g d e f i n i e r t . H e u t e versteht man d a r u n t e r g e m e i n h i n n u r m e h r einen K a n o n , den man erlernen k a n n . Ich verstehe Bild u n g anders, n ä m l i c h als F ä h i g k e i t u m f a s s e n d e r O r i e n t i e r u n g in d e r W i r k l i c h k e i t . Bildung ist kein F a k t e n w i s s e n ; sie ist ein P r o z e s s l e b e n s l a n g e n B e m ü h e n s - auch u m H e r z e n s b i l d u n g , wie es die b a y e r i s c h e Verfassung f o r d e r t . W i e ist u n s e r B i l d u n g s w e s e n s t r u k t u r i e r t ? D e f a c t o steht d e m H a u p t k u n d e n , den h u n d e r t t a u senden U n t e r n e h m e n der W i r t s c h a f t , f ü r diese S c h l ü s s e l r e s s o u r c e vor allem ein A n b i e t e r gegenüber. Sie alle sind auf das a n g e w i e s e n , w a s ein g e w a l t i g e r A p p a r a t n a m e n s B i l d u n g s w e s e n p r o d u ziert. B i l d u n g ist bei uns z u m ü b e r w i e g e n d e n Teil A u f g a b e der Politik; das gilt i n s b e s o n d e r e f ü r die schulische A u s b i l d u n g - also den P r o z e s s v o m K i n d e r g a r t e n ü b e r die S c h u l e n bis hin zu Fachhochschulen und Universitäten. Das gesamte Produktprogramm namens Bildungssystem v e r a n t w o r t e t also die R e g i e r u n g - v e r g l e i c h b a r d e m Vorstand eines K o n z e r n s . D e r Staat v e r f ü g t d a m i t quasi ü b e r das M o n o p o l d e r w i c h t i g s t e n R e s s o u r c e z u r G e s t a l t u n g des Kapitals unserer G e s e l l s c h a f t . Sein A n g e b o t spiegelt das g e s e l l s c h a f t l i c h e Verständnis dafür, w a s z u k u n f t s s i c h e r n d sei. Die S t r a t e g i e n sind a b h ä n g i g v o n d e n j e w e i l i g e n P a r t e i p r o g r a m m e n ; die d u r c h den F ö d e r a l i s m u s b e d i n g t e n u n t e r s c h i e d l i c h e n u n d w e c h s e l n d e n A u s r i c h t u n g e n in den B u n d e s l ä n d e r n spiegeln I d e o l o g i e n u n d M e n s c h e n b i l d e r . Ein B i l d u n g s s y s t e m im Sinne des Z u s a m m e n w i r k e n s v o n E r z i e h u n g , B i l d u n g u n d A u s b i l d u n g ist allerdings nicht e r k e n n b a r . D i e g e w a l t i g e n A n s t r e n g u n g e n k o n z e n t r i e r e n sich auf ein einziges T e i l s y s t e m , n ä m l i c h die A u s b i l d u n g . A b e r auch die A u s b i l d u n g sieht m a n eng. I m G r u n d e w i r d S p e z i a l w i s s e n v e r m i t t e l t ; dabei u n t e r s t e l l t m a n W i s s e n als endliche M e n g e . A l s Ziel d e r A u s bildung gilt es, m ö g l i c h s t viel W i s s e n a n z u h ä u f e n , u n d g a n z k o n s e q u e n t b e m i s s t m a n die A n n ä h e r u n g an das Lernziel mit N o t e n . Es g e h t u m A u s l e r n e n , Fertigsein, u m Z e r t i f i k a t e u n d

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Qualifizierungsoffensiven. Wissen wird objektiviert, es wird als Instrument verstanden und in Portionen geteilt - und die füllt man mit Trichtern in Schubladen. Das zeigen die deutschen Bildungsinitiativen der vergangenen Jahre. Man will sofort ans R i s sen' gelangen. Ganze Schulen gehen ans Netz, um mit der Wissensgesellschaft Schritt halten zu können. Fremdsprachenunterricht erteilt man ab Klasse 1, um mit den Nachbarn leichter ins Geschäft zu kommen. Kinder werden möglichst früh eingeschult, um die besten Jahre nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Das Abitur wird nach Klasse 12 abgelegt, damit bald mit der Ausbildung begonnen werden kann - und nationale Bildungsstandards sollen befähigen, mit der Globalisierung mithalten zu können. Diese Verschulung durch Wissensanhäufung setzt sich im Verlaufe der höheren Ausbildungswege fort. Es ist erklärtes Ziel der Politik, die Qualität ihrer Bildungspolitik mit steigenden Abiturientenquoten zu zertifizieren. Da Kinder allein in der Folge politischer Entscheidungen nicht klüger werden, verschieben sich die Maßstäbe nach unten. Ein Zeugnisdurchschnitt von 2,0 oder sogar 1,0 mag Eltern, Schulabgänger, Lehrer und Politiker mit Stolz erfüllen; objektiv ist der Aufschluss gering, inwieweit das fürs ,richtige Leben' qualifiziert. Statt eines allgemeinen Bildungsniveaus ist das Ergebnis eine Aushöhlung der Haupt- und Realschulen und eine vordergründige Akademisierung. Dafür zahlen wir mit unseren Hochschulen einen hohen Preis. Wir haben die Massenuniversität mit allen Tendenzen zur Mittelmäßigkeit - und nimmt das wunder? So, wie Erziehung und Schulbildung auf das Studium vorbereiten, wird Wissen nicht wirklich verarbeitet, sondern vorwiegend konsumiert. Ein großer Teil unserer Jugend ist nicht ausreichend in der Lage, mit Wissen als Investition - also Kapital unserer Zukunft - umzugehen. Darüber hinaus gibt es bislang kein System, mit dem wachsenden Andrang marktgerecht - so unsere Sprache - umzugehen. In stark nachgefragten Fächern werden die Studierenden den Hochschulen weitgehend zugeteilt ein Indiz für die planwirtschaftlichen Züge des Bildungswesens. Einen Zug von Tragik zeigen die Bemühungen, das Hochschulsystem .wirtschaftlich' zu gestalten, und dies europaweit: Stichwort Bologna. Es ist letztlich ein beklagenswert deutlicher Beleg für ein ökonomisch unsinniges Verfahren, nämlich einer Bürokratisierung der Freiheit mit drastisch zunehmender Verschulung. Ein Hinweis auf Kollateralschäden derartiger Ökonomisierungen ist die Abschaffung des Diplomingenieurs. Diese Ausbildung galt als weltweites Markenzeichen unseres Landes. Der Ansatz der Wissensvermittlung solcher Art ist ein gefährlicher Irrweg. Wir wissen, dass die Halbwertzeit jedes Wissens abnimmt. Alle Indizien zeigen in diese Richtung: die Entwicklung des technischen Fortschritts, die globale Vernetzung und Kommunikation, um nur diese zu nennen. Darum sollte die Ausbildung gründliches Wissen vermitteln, sie sollte gleichsam den Acker einmal tief pflügen und damit den Boden für den Umgang mit Wissen bereiten, und zwar für ein ganzes Leben. Vor allem birgt eine Beschränkung auf das Konsumieren von Wissen die Gefahr, dass Erziehung und Bildung beschädigt werden. Eltern bemühen sich, Kinder vom Krabbelalter an auf den Weg vorzubereiten, den das Bildungswesen vorzeichnet. Frühzeitig will man mittels eines rein funktionalen Bildungsbegriffes jungen Menschen das Rüstzeug der Ökonomie vermitteln, ohne das der Prozess des Lebens offenbar nicht zu gestalten ist. Kinder müssen früh antreten, um im Wettbewerb zu bestehen. Gefordert sind Nachweise umfassenden Wissens in Form von Zeugnissen mit besten Noten. Also werden Ausbildungen aufeinandergetürmt; Lebensstil wird geübt

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mit komplett gemodelten Design-Auftritten - das falsche Handyklingeln kann bereits hinderlich sein. Lebensläufe werden so angelegt, dass unser Lebenslauf der spektakulärste ist. U n s e r Kind soll es gut haben im Leben; es soll vorankommen, an die Spitze gelangen, und dies möglichst schnell. D a f ü r bringt man gerne Opfer. Aber haben nicht Jugendliche und Erwachsene ihre ganz eigenen Rechte und Pflichten; müssen wir nicht der Jugend das Privileg sichern, zu reifen, Fehler zu machen, sich auf das Leben zu freuen? Wir müssen Perspektiven vorleben, Angebote machen, auch Kontemplation zulassen, um Jugendlichen die Fähigkeit zu Neugier und Visionen zu schaffen. Geschieht das nicht, so werden sie zwar älter - aber erwachsen werden sie nicht. Tatsächlich müssen wir sagen: die Probleme der Jugend sind unser Versagen. Wir haben es versäumt, mittels Erziehung auf den Lebensweg vorzubereiten. F ü h r e n wir uns vor Augen, was die Alternativen zur elterlichen Erziehung sind. Kinder brauchen Bindungen, sie wollen Vorbilder und Bezugspersonen. Jedes Versäumnis auf diesem Gebiet wird Folgen haben. Ist das Elternhaus nicht Vorbild und ist kein M e n t o r zur Stelle, so werden es andere: entweder das Fernsehen, Computerspiele oder die Straße. Wie in der Ausbildung, so wird die Aufgabe der Erziehung tendenziell gleichsam nach oben delegiert. D e r Kindergarten muss Beziehungen und Bindungen vermitteln; die Schule sieht sich gezwungen, Aufgaben der Eltern zu übernehmen. Sehr oft ist der Meister in unseren Betrieben für seine Lehrlinge die erste wirkliche Bezugsperson und glaubwürdiges Vorbild fürs Leben. Sollte das weltweit bewunderte duale System weiter verschult werden, dann nehmen auch diese spärlichen Möglichkeiten menschlicher Einflussnahme in Zukunft ab. U n s e r e Bildungswege sind auf eine ,Ich.Alles.Sofort'-Haltung angelegt, und diese nehmen die Jugendlichen mit in unsere U n t e r n e h m e n . D i e jüngste weltweite Finanzkrise hat eben diese Wurzeln. Bildung erlaubt Orientierung unter Unsicherheit, abwägendes Urteilen, ermöglicht M a ß und Mitte, Distanz, Reflexion, auch Widerstand, M u t und Standhaftigkeit und kritisches Gewichten. Bildung erschließt Wissen und bestimmt über den Wirkungsgrad. Gerade die Fülle von Informationen, die zunehmende Geschwindigkeit, der Zwang zu zugleich schnellen und weit reichenden Entscheidungen unter Unsicherheit kann darauf nicht verzichten. Bildung schützt gegen Verführung. Bildung wird - so das klassische Verständnis - zweckfrei erworben. Gerade darum ist sie hilfreich, ja sogar nützlich. Sehen wir nun, wie die Wirtschaft mit dieser Konstellation umgeht, um gemäß ihrem eigenen Regelwerk erfolgreich zu sein. Vergleichsweise hat sie Vorteile: Sie kann Ziele setzen, Menschen auswählen und entsprechend ihrer Leistung belohnen. Wie das geschieht, ist Schlüssel dafür, dass die einen besser sind als die anderen. Auf Dauer und nachhaltig sind nur jene erfolgreich, die im härtesten Wettbewerb am besten bestehen. D i e betriebliche Wirklichkeit zeigt, dass der Einserkandidat einer Hauptschule zu Beginn seiner Lehre wahrscheinlich die physikalischen Gesetze des Einschlagens von eisernen Nägeln kennt; in der Praxis kann er versagen. D e r Einserkandidat einer Managementschule mag Chancen haben, taktisch geschickt saubere Ausarbeitungen zu erstellen; aber wie sollen blutleere Vorlagen die Geschäftsführung überzeugen? U n d wird ein fleißiger Streber andere Menschen für gemeinsame Ziele begeistern können? O f f e n b a r sind unsere Schulnoten oder Zensuren - so wichtig sie sind - allein noch kein Maß dafür, was wir in der Wirtschaft brauchen. Was geschieht aber, wenn derart beschränkt ausgebildete M e n s c h e n Verantwortung übernehmen? D i e Dynamik

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der Wirtschaft bringt diejenigen schnell nach oben, von denen man sich erfolgreiches Handeln verspricht. Es ist menschlich, bei der Auswahl nach Maßstäben zu handeln, die man für den eigenen Erfolg für maßgeblich hält. Entsprechend wird man erziehen, belohnen, befördern. Mitarbeiter gelten dann als tüchtig, wenn sie so sind wie man selbst. Eben darin liegt die Gefahr; denn ist die Auswahl unangemessen, so werden sich die Besten immer weniger als die Besten erweisen. Derart können einstmals Erfolgreiche verstörende Schlagzeilen bieten. Dann heißt es, das Unternehmen habe wichtige Parameter aus den Augen verloren. Aber hat man sie wirklich aus den Augen verloren? Ich vermute vielmehr: Man hat sie niemals im Blickfeld gehabt. Uberall in der Gesellschaft, sichtbar jedoch in den Unternehmen der Wirtschaft, wird es sich rächen, dass die Prozessketten von Erziehung und Bildung zu oberflächlich angelegt sind. Der Verzicht auf das Schulen von Erkenntnisprozessen und auf das Einüben von Denken; der beständige Zwang zur Evaluation (die wiederum etwas evaluiert, was in seiner Relevanz von Ziel und Inhalt nicht gesichert ist) führen zu einem circulus vitiosus. Leistung soll unmittelbar verwertbar sein; Kompetenzen sieht man als formale Fähigkeiten, die messbar sein müssen. Entsprechend sind die .Produkte' dieser Bildungswege künstlich gereift; sie kennen nicht rechts oder links - sie kennen nur oben, und da wollen sie hin. Ihre Weltbilder sind von den Medien geprägt, und das gilt auch für ihre Vorstellungen von der Wirklichkeit der Wirtschaft. Wenn Bildungspolitik sich darauf beschränkt, vorwiegend Wissen anzuhäufen, und Orientierung hintanstellt, siegt Brillanz auf Kosten von Tiefe. Es zählen bestechende Zeugnisse, man schult zu Architekten des Wandels. Tiger-Mentalitäten werden gefragt. Man vertraut Fakten, aber in Wirklichkeit zählen die .weichen' Faktoren. Mit den Horizonten und ihren Unwägbarkeiten hat man sich niemals befasst, zum Abwägen, zum vergleichenden Werten hat niemand erzogen. Man ist stolz auf hunderte E-Mails am Tag und darauf, wie schnell man entscheidet. Unter Innovation versteht man Medienschlagzeilen, nicht das mühsame Tagesgeschäft der Optimierung komplexer Prozesse. Niemals hat man gleichsam unter Mühen die Skihänge selber erklommen - darum kann man die Risiken der Abfahrten nicht ermessen. Fassen wir die Folgen unseres Bildungssystems zusammen, so ist ein Ergebnis: seine .Produkte' werden nur unzureichend darauf vorbereitet, die gesellschaftlich zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen. Das betrifft nicht nur die Wirtschaft. Allerdings wirft man vor allem den Unternehmen Missbrauch vor, denn hier besteht ein besonderer Zwang zum Nachweis der Leistung. Es wird offensichtlich, wer sich ökonomisch verhält und wer hingegen der Ökonomisierung erliegt. Jedoch: ob Fehlverhalten nun Unvermögen ist, Skrupellosigkeit oder Gier - alles in allem hat es mit Bildung zu tun. Eine der Wurzeln der Ökonomisierung aller Lebensbereiche liegt in dem Messbarkeitswahn, der sich allgemein und auf breiter Ebene durchgesetzt hat und der auch unser Bildungswesen beherrscht. Fatalerweise und fälschlicherweise sieht man Wirtschaft als Synonym für Quantifizierbarkeit. Zwar ist Geld das Maß von Erfolg oder Misserfolg; stets ist zu fragen, was bleibt unterm Strich - jedes Jahr wieder und mehr als der Wettbewerb. Jedoch verhalten sich Input und Output weitgehend asymmetrisch zueinander; der Großteil der Leistungen, Abläufe, Prozesse ist nicht messbar. Der Wahn, alles und jedes in Kennzahlen pressen zu wollen, verkennt die Wirklichkeit und kann trügerische Sicherheit verleihen mit der Folge gravierender Fehlentwicklungen. Selbstverständlich müssen Prozesse, Projekte, Aufwände und Leistungen bewertet werden. Aber gerade diese Fähigkeiten vermittelt unser Bildungssystem nicht. Es wird nicht gelehrt, Unwägbarkeiten abzuwägen und zu gewichten - unter Zeitdruck, in Unkenntnis der Zukunft, bei

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Das Kapital unserer

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höchster Komplexität. Da ist der Horizont von Erziehung und Bildung hilfreich, der Lebenswelten vorstellbar macht. Für die Wirtschaft besteht der beständige Zwang zum Nachweis der Leistung. Uber kurz oder lang lässt sich niemals verbergen, wer sich ökonomisch verhält und wer der Okonomisierung erliegt. Wir sehen, wie begrenzt unser Bildungswesen in die Menschen investiert, die sich den Herausforderungen auf den Weltmärkten stellen. Da mag es durchaus überraschen, dass die überwiegende Zahl unserer Unternehmen weiter erfolgreich ist, wenn auch mehr oder minder. Es geht u m die Muster, nach denen Leistung entsteht und lohnend gelenkt wird, und das ist Aufgabe von Führung. Schlussendlich geht es darum, was Menschen zum Handeln bringt, also um die Anreize für Erfolg und Versagen. Die materielle Ausrichtung der Wirtschaft führt zu einer weiteren irrigen Annahme, dass nämlich materielle Belohnung die treibende Kraft für ihr Handeln sei. Auch hier lehrt die Wirklichkeit anderes, denn nicht selten sind die am wenigsten wert, die am höchsten bezahlt werden. Nach meiner Erfahrung liegt der wirkliche Ansporn für Menschen in ihrer Natur: Es ist die Freude an der Gestaltung. Es mag hier um ein menschliches Urbedürfnis gehen; vielleicht sucht ein jeder nach dem Beweis, dass mit seiner Anstrengung die Welt ein klein wenig anders ist, als sie es ohne ihn wäre. Die Wirtschaft nutzt diese verborgene Sehnsucht, weil sie der eigenen, egoistischen Zielsetzung unmittelbar, sichtbar und nachweislich dient. Dazu gehört auch, dass Leistung erkennbar bleibt. Jedoch verliert sich in einem von Kennzahlen dominierten Unternehmen persönlicher Ansporn im Meer der Anonymität. Das gilt besonders für solche Leistungen, die sich gleichsam vom Rande her durchzusetzen versuchen, wo Einzelne Chancen sehen, unternehmerisch zu gestalten. Gerade diese Haltung ist wichtig für unsere Gesellschaft. Uber Jahrzehnte war unser Land von Aufstiegswillen geprägt, und er war verbunden mit Ehrgeiz, Neugier und Fleiß. Man zeigte Hunger, ja Enthusiasmus nach Bildung. Man sah sich nicht ausgeliefert, man nahm das persönliche Schicksal nicht fatalistisch: Es war gestaltbar. Diese Haltung hat in Deutschland jahrzehntelang gewaltige Kräfte freigesetzt. Die heutige Wirklichkeit lässt erkennen, dass entsprechende Muster allenthalben vorhanden sind. Investieren wir nachhaltig in Erziehung, Bildung und Ausbildung, so werden sie ihre Möglichkeiten nachhaltig entfalten, und dies nicht nur in unseren Unternehmen.

Die Autoren Adam, Konrad, Dr. phil., ist Journalist und Publizist. Er war Redakteur im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und Chefkorrespondent der Zeitung „Die Welt". Alt, Peter-André, ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Präsident der Freien Universität Berlin. Asserate, Prinz Asfa-Wossen, Dr., ist als Unternehmensberater für Afrika und den Mittleren Osten, als Autor und politischer Analyst tätig. Bender, Christiane, ist Professorin für Soziologie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Papst Benedikt XVI., vor seinem Pontifikat als Benedikt XVI. war Kardinal Joseph Ratzinger Dekan des Kardinalskollegiums und Präfekt der Glaubenskongregation, davor von 1959 bis 1977 Professor der Theologie an den Universitäten Bonn, Münster, Tübingen und Regensburg. Binswanger, Mathias, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Ölten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Brandt, Peter, ist Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Fernuniversität Hagen. Brüning, Jochen, ist Professor am Institut für Mathematik und Geschäftsführender Direktor des Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Detering, Heinrich, ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen. Er ist Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

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Die Autoren

D i Fabio, Udo, ist Professor für Öffentliches Recht und Richter im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts. Dilger, Alexander, ist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Münster. Dörpinghaus, Andreas, ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Würzburg. Ehrmann, Thomas, ist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Münster. Frühwald, Wolfgang, ist emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Ludwig-Maximilians Universität München. Er war von 1992 bis 1997 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von 1999 bis 2007 Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung. Gehring, Petra, ist Professorin für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt. Gerhardt, Volker, ist Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und seit 2008 Mitglied des Deutschen Ethikrates. Klaue, Magnus, Dr., ist freier Autor u.a. für die F A Z und andere Zeitschriften. Krautz, Jochen, ist Professor am Fachbereich Bildungswissenschaft der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, Alfter/Bonn. Kurz, Heinz D., ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Graz und leitet das dortige Schumpeter Centre. Lenzen, Dieter, ist Professor für Erziehungswissenschaft

und Präsident der Universität

Hamburg. Morkel, Arnd, lehrte Politikwissenschaft an der Universität Trier, deren Präsident er von 1975 bis 1987 war. Reichholf, J o s e f H., ist Zoologe und Evolutionsbiologe. Er war Leiter der Wirbeltierabteilung der Zoologischen Sammlung und Honorarprofessor an der Technischen Universität München. Reumann, Kurt, Dr. phil., war von 1970 bis 2000 Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, zuständig für Analysen und Kommentare über Bildungs- und Hochschulpolitik. Schiedermair, Hartmut, ist emeritierter Professor für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Rechtsphilosophie an der Universität zu Köln und Lehrbeauftragter der Johannes-GutenbergUniversität Mainz. Er ist Ehrenpräsident des Deutschen Hochschulverbandes.

Die

Autoren

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Speer, Andreas, ist Professor f ü r Philosophie am Philosophischen Seminar der Universität zu Köln und Direktor des Thomas-Instituts sowie Sprecher der a.r.t.e.s. Forschungsschule. Strauß, Botho, ist Schriftsteller und Dramatiker. Tenorth, Heinz-Elmar, ist emeritierter Professor für historische Erziehungswissenschaften an der Humbolt-Universität zu Berlin. von Kuenheim, Eberhard, Dr.-Ing. E.h., war von 1970 bis 1993 Vorsitzender des Vorstands der BMW A G , von 1993 bis 1999 Vorsitzender des Aufsichtsrats und Vizepräsident der Max-PlanckGesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. H e u t e ist er Ehrenvorsitzender des Kuratoriums der von der BMW A G eingerichteten Eberhard von Kuenheim Stiftung.

Quellennachweis Konrad Adam: Lässt sich die Bildung umverteilen? Aus: Merkur, Nr. 747, August 2011. Peter-André Alt: Unsere Eupbemismen.Vom Jargon der Uneigentlichkeit Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. August 2011. „© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv". Prinz Asfa-Wossen Asserate: „Die Kartoffel ist der rote Faden". Über Spezialitäten und Eigenheiten der Deutschen Aus: Forschung & Lehre 10/2011, S. 752f. Christiane Bender: Studieren bedeutete für mich Aufbruch. Impressionen aus der alten und der neuen Universität Aus: Forschung & Lehre 3/2011, S. 206ff. Benedikt XVI.: Die Ökologie des Menschen Ansprache im Deutschen Bundestag am 22. September 2011 in der vom Vatikan bereitgestellten Fassung der Internetseite www.vatican.va Mathias Binswanger: Künstliche Inszenierung. Uber Wettbewerbe in Forschung und Lehre Aus: Forschung & Lehre 7/2011, S. 504f. Zu diesem Thema liegt vom Autor das im HerderVerlag 2010 erschienene Buch „Sinnlose Wettbewerbe - Warum wir immer mehr Unsinn produzieren" vor. Peter Brandt: Demokratisch, patriotisch, kulturell verankert: Die nationale Identität der Deutschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts Aus: Forschung & Lehre 10/2011, S. 754f.

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Quellennachweis

Jochen Brüning: Die Deuter der Daten. Auch in den exakten Wissenschaften kommt es nicht nur auf Fakten, sondern auf deren Interpretation an Aus: Der Tagesspiegel vom 31. März 2011. Heinrich Detering: Demut und Dolchstoß: Beobachtungen zur Rhetorik Karl-Theodor zu Guttenhergs Aus: Forschung & Lehre 4/2011, S. 272f.; wiederabgedruckt in: Oliver Lepsius, Reinhart MeyerKalkus (Hg.): Inszenierung als Beruf. Der Fall Guttenberg. Berlin: Suhrkamp 2011, S. 121-125. Udo Di Fabio: Staat und Recht: Ewige Bindung oder flüchtige Liaison? Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Oktober 2011, Nr. 232, S. 8. „© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv". Der Beitrag ist die leicht überarbeitete Fassung der Rede, die am 22. September bei der Vorstellung des Buches „Staat und Recht" gehalten wurde. Alexander Dilger / Thomas Ehrmann: Die Universität in Circes Bordell. Zwischen staatlicher Dauerreform und ineffizientem Pseudomarkt Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. März 2011. Andreas Dörpinghaus: Auf dem Weg zum gelingenden Leben: Tugenderziehung und Ordnung Aus: Forschung & Lehre 6/2011, S. 440ff.

gesellschaftliche

Wolfgang Frühwald: Heimat ist mehr als ein Ort: „Heimat" und „Fremde" in Literatur; geschichte und Gegenwart Aus: Forschung & Lehre 2/2011, S. 96ff.

Geistes-

Petra Gehring: Für wen und warum eine Kriteriendiskussion? Zur Transparenz von Verteilungsentscheidungen Aus: Forschung & Lehre 8/2011, S. 586ff. Von der Autorin liegt das Buch „Theorien des Todes: Zur Einführung", Hamburg (Junius-Verlag) 2010, 2. Aufl. 2011, vor. Volker Gerhardt: Was treibt den Menschen? Die Sicht der Philosophie Schriftliche Fassung eines Vortrags, gehalten am 19. Oktober 2011 auf dem Symposion des Deutschen Hochschulverbandes „Was lenkt den Menschen? Motivation, Antrieb, Belohnungs- und Bestrafungssysteme". In gekürzter Fassung erschienen in Forschung & Lehre 12/2011, S. 924. Magnus Klaue: Was vom Idealismus übrig blieb Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Januar 2011.,,© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv". Jochen Krautz: „Sanfte Steuerung" der Bildungsreformen: Zu den Durchsetzungsstrategien von PISA, Bologna & Co. Ausführliche Fassung eines Beitrags, zuerst erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. September 2011.

Quellennachweis

163

Heinz D . Kurz: Von der Natur des Menschen und der kommerziellen burtstag von David Hume

Gesellschaft.

Zum 300. Ge-

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15. April 2011. Dieter Lenzen: Jeder sein eigener Gott. Pisa-Studie, unverwechselbaren Individuum ist in Gefahr Aus: D e r Tagesspiegel vom 11. Juli 2011 Arnd Morkel: Entweder

Bachelor

und die Folgen: Das alte Ideal

- oder? Politik und Wissenschaft aus der Sicht

vom

Ciceros

Aus: Forschung & Lehre 4/2011, S. 268ff. Josef H. Reichholf: Wettbewerb und Kooperation.

Eine evolutionsbiologische

Perspektive

Aus: Forschung & Lehre 7/2011, S. 516f. Kurt Reumann: Zeitgeist und kulturelle Identität Auszug aus einem Beitrag für die Festschrift zum 450. Geburtstag des Friedrich-WilhelmGymnasiums zu Trier „Schule der Anpassung, Schule des Widerstands: Gibt es in 50 Jahren noch Gymnasien?" Hartmut Schiedermair: Die Würde des Patienten Vortrag gehalten anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock am 1. Juli 2011. Der Text wird mit Fußnoten und Literaturhinweisen im Rahmen der Publikationsreihe der Rostocker Universitätsreden veröffentlicht. Andreas Speer: Die nach uns bemessene Mitte. Uber Archäologie Aus: Forschung & Lehre 6/2011, S. 430ff.

und Aktualität

der Tugend

Botho Strauß: Uns fehlt ein Wort, ein einzig Wort Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. August 2011. „© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung G m b H , Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv". Heinz-Elmar Tenorth: „... die praktische Seite der Philosophischen Fakultät". Status und Funktion universitärer Pädagogik Die Abschiedsvorlesung, gehalten an der Humboldt-Universität zu Berlin am 10. Februar 2011, wurde zwischenzeitlich mit Literaturangaben veröffentlicht: Humboldt-Universität zu Berlin, Öffentliche Vorlesungen, 169, Berlin 2011. Eberhard von Kuenheim: Erziehung, Bildung, Ausbildung: Das Kapital unserer Gesellschaft Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. April 2011. „© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung G m b H , Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv".