Glanzlichter der Wissenschaft 1998: Ein Almanach 9783110504767, 9783828200968


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German Pages 154 [152] Year 1998

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Wenn die Kette des Nachmachens zerreißt
Die Begegnung zwischen Fremden
Der Professor als Held
Die Wiedererfindung der Universität
Athen aus Alexandrien zurückerobern
Ein großer Tag der deutschen Geschichte
Über Bildung, Elite und Bürokratie: die Hochschule in der öffentlichen Diskussion
Welche Eigenschaften braucht der Mensch?
Sind die Geisteswissenschaften ihren Preis wert?
Die Zukunft des Arbeitsmarktes
Einige osteuropäische Neurosen
Wozu noch Universitäten?
Von Dämonen verfolgt
Die Fußnote
Auf dem Weg nach innen
Die Autoren
Quellennachweis
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Glanzlichter der Wissenschaft 1998: Ein Almanach
 9783110504767, 9783828200968

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Glanzlichter der Wissenschaft Ein Almanach

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Glanzlichter der Wissenschaft: ein Almanach.../hrsg. vom Deutschen Hochschulverband Stuttgart: Lucius und Lucius Erscheint jährl. - Aufnahme nach 1998 Früher u.d.T.: Deutscher Hochschulverband: Almanach

ISBN 3-8282-0096-6 Redaktion: Felix Grigat, M.A. (verantwortl.) Friederike Invernizzi, M.A. Ina Lohaus Satz: Welker Satz KG, Bonn Druck: Paulinus-Druckerei, Trier

Inhaltsverzeichnis

Wenn die Kette des Nachmachens zerreißt Jan Assmann

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Die Begegnung zwischen Fremden Theodor Berchem

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Der Professor als Held. Gedanken über den Hochschullehrer der Zukunft Norbert Bolz

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Die Wiedererfindung der Universität Gerhard Casper

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Athen aus Alexandrien zurückerobern. Bildung im Informationszeitalter Wolfgang Frühwald

47

Ein großer Tag der deutschen Geschichte Lothar Gall

57

Uber Bildung, Elite und Bürokratie: die Hochschule in der öffentlichen Diskussion Jean K. Gregory

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Welche Eigenschaften braucht der Mensch? Überlegungen zur Tugendethik Norbert Hinske

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Sind die Geisteswissenschaften ihren Preis wert? Qtfried Höffe und Georg Wieland

:

81

Die Zukunft des Arbeitsmarktes Meinhard Miegel

.87

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Inhaltsverzeichnis

Einige osteuropäische Neurosen. Die Intellektuellen, die Übergangszeit und die europäische Integration Andrei Pleju

99

Wozu noch Universitäten? Zwerge auf den Schultern von Riesen Hartmut Schiedermair

111

Von Dämonen verfolgt. Max Weber, die Frauen und die Wissenschaft Gregor Schöllgen

119

Die Fußnote Dietrich Schwanitz

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Auf dem Weg nach innen Wolf Singer

131

Die Autoren

149

Quellennachweis

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Wenn die Kette des Nachmachens zerreißt Jan Assmann

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er Begriff der Tradition changiert zwischen den beiden Extremen der Erinnerung und der Schrift. Gegenüber der Erinnerung grenzt er sich ab als das soziale, normative, wenn auch nicht unbedingt vollständig sprachlich ausformulierte Wissen. Von

der Schrift unterscheidet er sich als das in weiten Bereichen implizite, außersprachliche Wissen, das über mimetisches Vor- und Nachmachen weitergegeben wird. Zugespitzt könnte man sagen, daß lebendige, verkörperte Erinnerung und Kommunikation ihren Tod in der Tradition finden und die lebendige, verkörperte Tradition ihren Tod in der normativen Schrift-

lichkeit. Traditionen werden normalerweise nicht verschriftet. Geschieht das doch, verweist das auf einen Traditionsbruch, zumindest eine Krise. Der natürliche Weg der Tradition fuhrt nicht zur Schrift, sondern zur Gewohnheit, nicht zur Explikation, sondern zum Implizit-Werden, zur Habitualisierung und Unbewußtmachung. Der Anstoß zur Verschriftlichung muß von außerhalb kommen, und wo dieser Anstoß kommt, verändert er die Tradition. Ich möchte das am Beispiel Israels untersuchen und fünf verschiedene solcher Anstöße namhaft machen, die hier nicht nur zur Verschriftlichung, sondern darüber hinaus zur Kanonisierung der Tradition gefuhrt haben. Kanonisierung bedeutet, daß alles, was der Text sagt, normative Geltung besitzt und daß alles, was normative Geltung beansprucht, sich als Sinn dieses Textes m u ß ausweisen können. Der Text kann also weder fortgeschrieben noch um weitere Texte ergänzt werden. Aller weitere Sinn muß vielmehr aus dem Text selbst gewonnen werden. Diese Schließung bedingt seine Gestalt, die nun in ihrem Wortlaut fixiert wird.

I. Die Exkarnation der Gesetze: die josianische Situation Der erste Schritt von der Tradition zur Schrift und darüber hinaus zum Kanon wird im Umkreis der Rechtskodifikation vollzogen. Darunter versteht man die Sammlung, Verschriftlichung und Veröffentlichung des geltenden Rechts. Den entscheidenden Durchbruch scheint hier die Regierungszeit des Königs Joschija (639-09) darzustellen, unter dem bei

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Restaurierungsarbeiten im Tempel das „Buch der Torah" oder „Buch des Bundes" gefunden wurde (2 Kg 22-23), ein Gesetzbuch, das sich als ein vergessenes Werk des Mose ausgibt und in dem man die Urfassung des Deuteronomiums erkennt: Auf der Basis dieses Gesetzbuchs wird vor allem der Kult reformiert, der von jetzt an nur noch im Tempel von Jerusalem vollzogen werden darf. Alle anderen, im Lande verstreuten Heiligtümer werden zerstört, um im Zeichen von Reinheit und Einheit die Vermischung mit lokalen Kultformen, den Baalen, Äscheren, Masseben auszumerzen. Die josianische Reform hat aber nicht nur kultischen, sondern auch politischen Charakter: den Charakter einer nationalen Erweckungsbewegung mit der für solche Bewegungen typischen Semantik der Erinnerung an ein vergessenes Eigenes und der sich aus solcher Erinnerung speisenden Ablehnung und Vertreibung des Fremden, in diesem Fall der fremden Götter und Kultformen. Im allgemeinen sieht man in der biblischen Kodifikation der Gesetze, dem „Buch der Torah", nicht viel anderes als die Übernahme mesopotamischer Formen der Rechtsverschriftung, die dort bis ins dritte Jahrtausend zurückreichen. Das scheint mir jedoch verfehlt. In Mesopotamien haben wir es mit Rechtsbüchern zu tun. Die Torah dagegen ist ein Gesetzbuch. Der Unterschied ist fundamental. Das Rechtsbuch ist eine Gattung der bürokratischen Wissensliteratur, aber kein Kodex, das heißt Gesetzbuch: Es hat keinen präskriptiven, absolut bindenden Charakter. Im einen Fall wird ein Gesetz aufgeschrieben, weil es gilt (und überdauert als Schrifttext die Zeit seiner Geltung, während sonst mit der Geltung auch die Erinnerung daran verschwinden würde), im anderen Fall gilt ein Gesetz, weil es geschrieben steht. Ein Gesetzbuch als Kodifikation geltenden Rechts gehört zur performativen Schriftlichkeit. Es stellt den Sachverhalt einer Rechtsordnung her, den es beschreibt. Das Rechtsbuch dagegen stellt die für die Formulierung von Gesetzen und Urteilen notwendige Wissenstradition bereit, aber gibt diese Gesetze und Urteile nicht in verbindlicher Weise vor. Die Legitimität der Gesetze entspringt hier nicht einer kodifizierten Tradition, sondern der jeweiligen königlichen Autorität. Die Gesetze müssen immer neu vom König in Kraft gesetzt oder verändert werden. Die Schriftlichkeit sichert ihnen weder Legitimität noch Autorität. Wo es einen König gibt, zu dessen Hauptaufgaben es gehört, Gesetze zu erlassen und in Kraft zu setzen, braucht man kein Gesetzbuch, im Gegenteil: das würde die legislative Kompetenz des Königs in ungebührlicher Weise einschränken. Der König verkörpert das Gesetz. Das Gesetzbuch ersetzt daher in gewisser Weise den König, indem es das in ihm verkörperte Gesetz „exkarniert" (Aleida Assmann) und in die Schrift auslagert. Und genau dies ist der Punkt. Die Torah tritt an die Stelle des altorientalischen Rechtskönigtums. Sie verschriftet nicht das juristische Wissen, sondern das königliche Machtwort, das aufgrund dieses autoritativen Anspruchs als Wort Gottes kodifiziert wird. Dadurch wird man von einem Königtum unabhängig. Dieser Schritt hat in den altorientalischen Schriftkulturen aus guten Gründen keine Parallele, wohl aber in einigen Stadtstaaten des archaischen Griechenlands, vor allem in Kreta sowie in unteritalischen Kolonien.

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II. Die Exkarnation der Tradition: die babylonische Situation Wenn wir den Begriff der Exkarnation auf den der Tradition anwenden, dann verstehen wir unter Tradition das gelebte, in Trägern verkörperte Wissen, das sowohl durch sprachliche Unterweisung als auch und vor allem durch sprachloses Vormachen und Nachmachen weitergegeben wird. Es ist in weiten Bereichen selbstverständlich, unbewußt und implizit geworden. Die typische Situation, in der solches Wissen aus der impliziten Sprachlosigkeit und der mündlichen Unterweisung herausgeholt und verschriftet wird, ist der Traditionsbruch, wenn die Kette des Vormachens und Nachmachens sowie der mündlichen Kommunikation abreißt. In solchen Situationen entstehen nicht nur Texte, sondern erhalten vor allem schon vorhandene Texte erhöhte Normativität. W o der Kontakt mit den lebendigen Vorbildern abreißt, beugt man sich über die Texte auf der Suche nach Orientierung. Diese Situation tritt ein mit der Deportation der Juden in die babylonische Gefangenschaft im 6. Jahrhundert. (Oder um ein modernes Beispiel zu nehmen: Viele Spielarten dessen, was heute als Fundamentalismus verbucht wird, erwuchsen aus den Traditionsbrüchen des Zweiten Weltkriegs, des Holocaust und der Kolonialisierung.) Das Deuteronomium beschreibt und kodifiziert diesen Übergang aus der gelebten in die gelernte Tradition als Übergang von der Augenzeugenschaft und lebendigen Erinnerung der Wüstengeneration in das kulturelle Gedächtnis Israels, das auf eine äußerst elaborierte Mnemotechnik gegründet wird. In diesem Übergang konstituiert sich Israel als Lern- und Erinnerungsgemeinschaft. Hier wird die Religion von einer Sache kultischer Reinheit zu einer Sache des Lernens und der Bildung. Das „weise und gebildete Volk" (Dtn 4,6) hat die verschriftete Torah gelernt, und zwar auswendig gelernt.

III Die Kodifizierung der Überlieferung: die persische Situation Nach der Rückkehr der Juden in ihre Heimat befestigte das Perserreich seine Herrschaft in den Provinzen, indem es sich zum besonderen Anwalt und Hüter der lokalen Traditionen, der „patrioi nomoi" machte. So wurde zum Beispiel Esra, der Schreiber, ein in Babylon verbliebener Angehöriger der israelitischen Priesteraristokratie, um 4 0 0 v. Chr. mit einem entsprechenden Auftrag in die Satrapie Transeuphratene geschickt, um das früher dort gültige Recht zu erfassen. Am Wassertor von Jerusalem läßt Esra die gesamte Torah vor allem Volk nicht nur vorlesen, sondern zugleich auch auslegen. Damit erreicht die Verschriftung der normativen Traditionen Israels eine weitere Stufe in Richtung auf den Kanon der hebräischen Bibel. Heiliger Text und Gesetzbuch sind hier zum ersten Mal eins geworden „Zum ersten Mal in der Geschichte hört ein heiliger Text auf, das exklusive Gut der Priester zu sein, und wird Gemeinbesitz des Volkes. Hier haben

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wir die Geburtsstunde der Schrift und zugleich die Geburtsstunde der Exegese" (Y. H. Yerushalmi). Das „Gesetzbuch" wurde jetzt zum Kanon ausgebaut. Vorbedingung des Kanons ist das Ende der Prophetie. Die Propheten reden im Auftrage Jahwes zu König und Volk; jetzt ist schon der persische Statthalter weit weg, wieviel weiter der König. An die Stelle des Propheten tritt der Schriftgelehrte, der die Uberlieferung kodifiziert, kanonisiert und auslegt. Der Prozeß einer Entpolitisierung der Kultur beginnt sich in der Perserzeit allgemein durchzusetzen. Aber nur in Israel hatte sich die Religion zu einer wirklichen Alternative kollektiver Identitätsfundierung verfestigt und ausdifferenziert. Nur hier war ein „Volk" entstanden, das seine Abgrenzung nach außen und seinen Zusammenschluß nach innen vollkommen unabhängig von politischen und territorialen Bindungen definierte, nämlich allein durch die Bindung an „das Gesetz und die Propheten".

IV. Der Zaun um die Wahrheit: die hellenistische

Situation

Alternative und dissidente Gruppierungen wie Orphiker, Pythagoräer, Gnostiker, Urchristen, Hermetiker und andere schließen sich im Hellenismus und in der Spätantike typischerweise auf der Basis eines Grundbestands normativer Literatur zu „textual communities" (B. Stock) zusammen. Sie konnten ihren Bruch mit der offiziellen Tradition und ihren Sonderweg nur legitimieren, indem sie auf einen Text verwiesen, dessen Autorität und normative Ansprüche als allen traditionellen und institutionellen Ansprüchen übergeordnet dargestellt werden konnte. Dissidenz setzt Literalität voraus. Philologische und politische Kompetenz fallen hier zusammen. Die Führung gebührt dem, der die umfassendste Kenntnis und die einleuchtendste Deutung der Texte besitzt. Die Funde von Qumran und Nag Hammadi geben uns Einblicke in die Überreste der Bibliotheken, auf die sich diese Textgemeinschaften stützten. Trotz ihres fragmentarischen Zustands lassen sie darauf schließen, daß solche Bibliotheken nicht auf möglichst große Fülle und Vielfalt angelegt waren, sondern sich auf die für die Gemeinschaft verbindliche Literatur beschränkten. Die hebräische Bibel zeigt alle Züge einer solchen Hand- und Arbeitsbibliothek. Sie ist viel eher eine Bibliothek als ein Buch. In der kanonischen Endgestalt beschränkt sie sich auf drei Abteilungen: Torah, Propheten und Schriften. Man hat den Eindruck, daß sich mit der hebräischen Bibel die Bibliothek einer Textgemeinschaft gegen die Bibliotheken anderer Textgemeinschaften durchgesetzt hat. Zwar wird der ursprüngliche Umfang der Bibliothek von Qumran auf ungefähr 1000 Schriftrollen geschätzt, was gewaltig anmutet, inhaltlich aber ist auch hier der Charakter der Arbeits- im Gegensatz zur Sammelbibliothek ziemlich deutlich. Ohne normative Texte ist die Ausbildung solcher kollektiver Sonderwege und alternativer Lebensformen nicht denkbar. Auch der ägyptische Tempel wird in der Spätzeit zum Gehäuse einer alternativen Lebensform, die durch Askese und Kontemplation gekennzeichnet ist. Die

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Priester sondern sich ab von der hellenisierten Kultur, aber auch von anderen Tempeln. Jeder Tempel entwickelt auf der Grundlage seiner eigenen Bibliothek seine eigene Lehre und sogar sein eigenes Schriftsystem. Ungleich schärfer verlaufen jedoch die Konfliktfronten in Judaea. Im antiken Judentum muß man zwischen inneren und äußeren Kontrastfronten unterscheiden. Auf der einen Seite haben wir die inneren Konflikte zwischen Gruppierungen wie Hasmonäern, Sadduzäern, Pharisäern, Essenern, Zeloten und anderen, auf der anderen Seite die äußere Konfrontation zwischen Judaismos und Hellenismos (2 Makk 2.21) oder zwischen Israel und den Völkern.

V. Die Abwehr der Idolatrie: die spätantike Situation Schließlich hat auch die Abwehr der Idolatrie, das Verbot, Gott bildlich darzustellen, die Kanonbildung entschieden gefördert. Das Verbot der Idolatrie bedeutet die Vertreibung des Göttlichen aus allen Formen innerweltlicher Repräsentation mit Ausnahme der Schrift. Es betrifft also in keiner Weise die luxurierenden Vermenschlichungen der biblischen Texte, die Gott als Bräutigam, als König, als Vater und Richter, Hirten und Gärtner ausmalen. Solange die anthropomorphen Bilder sprachlicher Art sind, ist nichts an ihnen auszusetzen. Die Sprache ist koscher. Das aber bedeutet, daß nun all das in die Sprache hineingenommen wird, was andere Völker in einem ganzen Spektrum kultureller Ausdrucksformen entfalten. Die schriftlich fixierte Sprache ersetzt jetzt nicht nur den König, sondern auch den Tempel. Der Kanon verwandelt den Tempel in Schrift. In den Synagogen vertritt die Torah-Rolle das Kultbild. Ebenso wird die Form der meditativ-mystischen Betrachtung, die „Kontemplation", vom Kultbild auf die Schrift übertragen. Die meditative oder kontemplative Lektüre entgrenzt den Sinnhaushalt des Textes und fuhrt zu einem unerschöpflichen Reichtum möglicher Auslegungen. In letzter Konsequenz ersetzt die Schrift die Welt, die als solche zum Gegenstand der Idolatrie erklärt wird. Die dem Schöpfer geschuldete Anbetung darf sich nicht im Geschaffenen verfangen. Daher erweist sich das Idolatrieverbot als die radikalste aller Exkarnationen. Idolatrie entwickelt sich im Hellenismus und in der Spätantike zu dem zentralen und definierenden religiösen Abscheu des Judentums. Aus der politischen Kategorie der Apostasie, des Abfalls zu fremden Göttern, wird jetzt die Verteufelung von Weltbeheimatung überhaupt. In der ikonoklastischen Engfiihrung, die alles auf die Schrift konzentriert, setzt sich ein monopolistischer Zug fort, der schon die josianische Reform kennzeichnete. Ein Gott, ein Volk, ein Buch, ein Tempel, ein Medium („keine Gestalt saht ihr, nur eine Stimme habt ihr gehört"): Dieser Weg ist wohl der am spezifischsten jüdische. Aber er hat eine Parallele im sprachlichen Ikonoklasmus der beginnenden Wissenschaft im 17. Jahrhundert, in den Versuchen, alle Bildlichkeit selbst aus der Sprache zu verbannen und sie zu einem eindeutigen Medium wissenschaftlicher Verständigung zu machen.

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Ein Kanon erzeugt Gleichzeitigkeit. Er bildet einen Ort eigener Zeitlichkeit. Im kanonischen „Chronotop" sind wir Zeitgenossen Homers und Piatons, Moses und Jesaias. Der Religionswissenschaftler Y. H. Yerushalmi illustriert das mit einer Geschichte aus dem Talmud: „In der Stunde, da Mose zur Höhe aufstieg (um die Torah in Empfang zu nehmen), fand er den Heiligen, gelobt sei er, wie er dasaß und taggin (kronenähnliche Schnörkel) anknüpfte. Er sagte vor ihm: Herr der Welt, wer hindert deine Hand? (D.h. fehlt in der Torah etwas, so daß derlei Ornamente nötig wären?) Er sprach zu ihm: Es ist ein Mensch, der zukünftig, am Ende vieler Generationen sein wird. Akiba, Josephs Sohn ist sein Name, der zukünftig über jedes einzelne Strichlein ganze Berge von Lebensregeln auslegen wird. Er sagte zu ihm: Herr der Welt! Laß mich ihn sehen. Er sprach zu ihm: Wende dich nach hinten! Moses ging (in Rabbi Akibas Akademie) und setzte sich am Schluß von acht Reihen hin. Er verstand aber nicht, was sie sagten. Da verlor er seine Fassung. Als er zu einer bestimmten Sache kam, da sagten seine Schüler zu ihm: Meister, woher hast du das? Er sagte zu ihnen: Es ist eine Lebensregel an Mose vom Sinai. Da beruhigte sich sein Sinn." Mose in der Erzählung von Rabbi Akiba: das ist Nietzsches Geistergespräch more talmudico, die Stillstellung und Verräumlichung der Zeit in einer kanonisierten Tradition.

Die Begegnung zwischen Fremden Theodor Berchem

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n der Kultur des Abendlandes gibt es einige Phänomene, deren lange Tradition die gei-

stige und geschichtliche Entwicklung Europas entscheidend beeinflußt hat. Zu diesen Phänomenen zählt das Reisen, und zwar sowohl in Gestalt physisch tatsächlich unter-

nommener Fahrten und Wanderungen als auch in Form von literarischen Streifzügen durch reale oder imaginäre Welten. So ist es kein Zufall, daß an der Wiege sowohl des Abendlandes als auch der europäischen Literatur ein Epos stand, dessen zentrales Motiv das Reisen ist: Homers Odyssee. Die wesent-

lichen Elemente der mit diesem Werk begründeten Gattung „Reiseliteratur" sind bei Homer schon vorhanden: die Entdeckung des Unbekannten und Fremdartigen, die Bewährung in so mancher Gefahr, die Herausforderung einer Heimkehr, die erst errungen und verdient sein will. D a ß Odysseus sich nicht freiwillig auf die Reise begibt und das Ziel seiner Irrfahrten nicht Entdeckung und Abenteuer, sondern Rückkehr in die Heimat ist, unterscheidet ihn freilich von den meisten Reisenden, die in späteren Jahrhunderten Epen, Tagebücher und Romane der abendländischen Literatur bevölkern. Von Chretien de Troyes bis Marco Polo und Vaz de Camoes, von J.G.A. Forster über Montesquieu und Goethe bis zu Wilhelm von Humboldt, von Madame de Stael bis Joseph Conrad und Cees Nooteboom bezieht die literarische Auseinandersetzung mit dem Reisen, sei sie dokumentarisch, fiktiv oder gar satirisch, ihren besonderen Reiz stets aus der Konfrontation mit dem Andersartigen, aus dem Spannungsfeld zwischen der notwendigerweise kulturell geprägten Sicht des Betrachters und dem neuen Umfeld, in das seine Reisen ihn führen, kurz, aus der Erfahrung und den Verwicklungen des Fremdseins. Das Erlebnis, Fremder zu sein, hat viele Dimensionen. Es kann verunsichern und stärken, eigene Wertmaßstäbe festigen oder relativieren, Denkanstöße geben und Kreativität freisetzen oder umgekehrt lähmen und verstören. In der Fremde zu leben heißt in erster Linie, die Selbstverständlichkeit des Alltags zu verlieren. Das beginnt bei der Sprache, die nicht mehr unreflektiertes Verständigungsmittel ist, sondern schlimmstenfalls eine unüberwindlich scheinende Barriere, auf jeden Fall jedoch ein Unsicherheitsfaktor. Es setzt sich fort mit den kleinen Verrichtungen des Alltags, mit Gerätschaften, Gepflogenheiten, Institutionen. Vor allem

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aber macht sich i m intensiven Umgang mit den Menschen ein Verlust von Selbstverständlichkeit bemerkbar, der den Fremden nachhaltig prägen kann. Wer als Fremder in ein anderes Land kommt, hat automatisch eine herausgehobene Stellung. Er ist nicht Gleicher unter Gleichen, sondern Anderer unter Einheimischen, oder, wie Karl Valentin sagt: „Fremd ist der Fremde immer nur in der Fremde." Fremdsein ist ein Attribut, das vom Aufenthaltsort abhängt, nicht von den Qualitäten der Person selbst. Das scheint auf den ersten Blick banal, hat aber weitreichende Konsequenzen: Der Fremde ist in der Wahrnehmung seiner Umgebung nicht einfach er selbst, ein Individuum mit bestimmten Eigenschaften. Seine ganze Person wird — mindestens solange, bis eine Vertrautheit zwischen ihm und den Einheimischen hergestellt ist - als ideal typischer Vertreter seines Volkes angesehen. Seine Individualität muß er sich erst zurückerobern. Ob ihm das gelingt, hängt entscheidend von der Haltung derer ab, zu denen er gereist ist. Mancherlei Vorurteile mögen dem entgegenstehen, und sie manifestieren sich vor allem in der Sprache selber. So zogen bereits die Griechen in der Antike eine Trennungslinie zwischen dem Volk der Hellenen und allen Nicht-Griechen, die sie Barbaren nannten, eine Tradition, die von den Römern fortgesetzt wurde. Die Worte „bärbaros/barbarus" und „balbulus" tragen lautmalerische Züge. Sie ahmen das Stammeln eines kleinen Kindes nach und ziehen die fremde, unverständliche Sprache damit in den Bereich des Kindlichen, d.h. noch nicht Fertigen, nicht ganz Ernstzunehmenden. Von dieser Interpretation fremden Sprechens bis zu einer gewissen Verachtung gegenüber dem, der so spricht, ist es nur ein kleiner Schritt. Die prinzipielle Ausgrenzung des Fremden erhält dadurch eine neue Qualität: Der Fremde ist nicht verdächtig, weil die Gruppe nichts über ihn weiß, sondern weil er sich durch bestimmte Merkmale — hier also seine Sprache — von ihr abhebt. Weitere Merkmale, die in dieser Art interpretiert werden, sind Aussehen, Kleidung, Verhaltensweisen. Sie machen den Fremden als Fremden kenntlich und versperren den Blick auf seine Persönlichkeit. Da sie aber zugleich Merkmale seiner Individualität, seiner kulturellen Prägung sind, wäre es unsinnig und kontraproduktiv, sie als bloße Äußerlichkeiten abzutun. In d e m Konfuzius-Wort „Die Menschen sind alle gleich. Es trennen sie bloß die Sitten", ist dieser Widerspruch eingefangen. Natürlich beeinflussen Ziel und Zweck einer Reise ihrerseits ganz entscheidend das Erleben des Reisenden wie des Einheimischen, mit dem er zusammentrifft. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob jemand als Forscher und Abenteurer die Neue Welt erkunden wollte oder ob er als Eroberer ausgeschickt wurde, ob er Handel treiben wollte, als Emigrant ins Exil ging oder als fahrender Schüler durch die Lande zog, ob er in heutiger Zeit als Flüchtling oder Austauschstudent, als Tourist oder Gastarbeiter ein fremdes Land erlebt. Eines freilich ist allen Reisenden gemeinsam, die mehr als nur ein paar flüchtige Urlaubswochen in einem fremden Land zubringen: Die Begegnung mit dem Fremden wird für sie selbst wie für die Einheimischen, mit denen sie in Kontakt kommen, nie ganz folgenlos bleiben. So hat die problematische und oft genug m i t Blut geschriebene Geschichte der Erobe-

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rung ganzer Erdteile durch die Völker Europas nicht nur Haß und Zerstörung hervorgebracht, sondern auch feste Bande kultureller Nähe, die keineswegs nur als Einbahnstraßen wirkten und noch heute wirken. Die Begegnung zwischen Fremden verändert beider Weltsicht in mehr oder weniger gravierendem Maße. Besonders stark ist die Tradition des Reisens und der Auslandsaufenthalte im akademischen Bereich. Die europäischen Universitäten können für sich in Anspruch nehmen, von Anfang an auf Mobilität gesetzt zu haben. Im „Chronicon" des Prager Domherrn Benes Krabice z Vaitmile heißt es über die Gründung der Universität Prag im Jahre 1348: „So wurde in der Stadt Prag eine Universität gegründet, die in allen Ländern Deutschlands nicht ihresgleichen fand, und es kamen aus fremden Ländern wie England, Frankreich, der Lombardei, Ungarn und Polen sowie aus benachbarten Ländern Studenten hierher (...)" Und in der Gründungsurkunde der Universität Freiburg aus dem Jahr 1457 verkündet Erzherzog Albrecht VI. seine Absicht, die Universität mit besonderen Privilegien auszustatten, um sie für Studenten aus der Fremde attraktiv zu machen: „Man wird um so mehr geneigt sein, von allen Landen zu unserer hohen Schule zu ziehen, wenn man sie mit großen Gnaden und Freiheiten freigebig begabt findet. Und wer wollte nicht denen Gnade und besondere Freiheiten erweisen, die in gutem Willen die eigenen Freunde und das Vaterland verlassen, als Pilger mancherlei Leid erdulden, um als Gäste bei uns in der Fremde zu weilen und dort das, was ihre Eltern mit großer Mühe, im Schweiße ihres Angesichts erworben, freundlich hergeben, um dafür bei den Unseren Belehrung, Vernunft und Weisheit zu empfangen." Was vor gut fünfhundert oder sechshundert Jahren also durchaus selbstverständlich war, nämlich - um es mit einem modernen Ausdruck zu sagen - die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen für das Ausländerstudium, gehört leider heute nicht mehr zu den Selbstverständlichkeiten am Bildungsstandort Deutschland. Doch dazu später mehr. Im Augenblick möchte ich noch bei der Frage nach der Tradition akademischer Mobilität an Europas Hochschulen verweilen. An ihrem Anfang stand ein Motiv, das bis heute einen Großteil internationaler Studentenströme bewegt: im Ausland etwas zu lernen, was man daheim mangels geeigneter Ausbildungsstätten oder auf Grund unzureichender Aufnahmekapazitäten nicht oder nicht so gut lernen konnte. Hinzu kam schon bald ein zweiter Beweggrund, der ebenfalls bis heute wirkt: Schon früh erwarben einzelne Universitäten in bestimmten Disziplinen einen besonders guten Ruf, zogen einzelne, weithin berühmte Wissenschaftler auch Scholaren an, die ihr wissenschaftliches Handwerk an anderen Universitäten gelernt hatten, versuchten schließlich die Universitäten selbst, solche Doktoren durch einen Ruf zu gewinnen. Auch noch zu Zeiten, als es schon eine recht große Zahl von Universitäten gab, zogen Studenten, die die niedere, die Artistenfakultät schon in ihren Heimatländern absolviert hatten, an ferne Universitäten, um sich dort in der Jurisprudenz, der Theologie oder der Medizin zu vervollkommnen. W i r alle kennen berühmte Beispiele! Was wäre beispielsweise Erasmus von Rotterdam ohne sein Studium an der Pariser Universität gewesen? Und wie hätte sich Otto von Guerickes Lebensweg entwickelt, wäre er nicht zur Vervollständigung seiner Ausbildung von Magdeburg nach Leiden gezogen?

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In gewisser Weise können wir in diesen wißbegierigen Gelehrten von einst Vorläufer der heutigen „mobilen" Postgraduierten und Nachwuchswissenschaftler erblicken. Die europaweite Gemeinschaft und Mobilität der Scholaren und Magister der vergangenen Jahrhunderte wurde natürlich begünstigt durch die allen gemeinsame Wissenschaftssprache Latein. Angesichts der damals ja sehr beschwerlichen, teilweise auch gefährlichen Reisewege kann uns Heutige die Mühelosigkeit der wissenschaftlichen Kommunikation nur erstaunen, eine Mühelosigkeit, von der wir mit dem „Küchenlatein der Moderne", dem „broken English" weit entfernt sind. Die erste deutschsprachige Vorlesung hielt Thomasius erst 1687 in Halle. Ebensowenig wie die Sprache machte auch die spätere Anerkennung der in der Fremde errungenen wissenschaftlichen Abschlußgrade in der Heimat Schwierigkeiten, waren diese doch über alle Grenzen hinweg einheitlich. Uber die Höhe der damaligen Mobilitätsquote kann man anhand alter Matrikelbücher nur vorsichtige Schätzungen anstellen. Man nimmt an, daß sie bei etwa 10 Prozent lag - und damit übrigens dem heutigen Idealziel der Mobilitätsquote der EU-Programme entsprechen würde. Eine interessante Untersuchung der belgischen Historikerin Hilde de Ridder-Symoens belegt diese geschätzte Zahl anhand eines Beispiels: Dort ist zu lesen, daß mindestens 10 Prozent aller Nordniederländer, die zwischen 1575 und 1814 promovierten, ihren Doktortitel an einer ausländischen Universität erwarben. Die Studenten absolvierten dabei zumeist in der Heimat ihre akademische Grundausbildung, bevor sie sich auf die sogenannte „Kavaliersreise" zur Erlangung des letzten wissenschaftlichen Schliffs begaben. Wie sieht es nun heute, zum Ende des 20. Jahrhunderts, mit der Internationalität speziell der deutschen Hochschulen aus? Die Beantwortung dreier Fragen soll uns dabei helfen, ein möglichst realitätsnahes Gesamtbild zu skizzieren. Sie lauten: • Was heißt Internationalität? • Wie sieht die akademische Mobilität derzeit aus? • Was können wir tun, um die Auslandsbeziehungen unserer Hochschulen voranzutreiben? Auf die Frage nach der Internationalität von Forschung und Lehre an unseren Hochschulen gibt es viele Antworten, je nachdem, welchen Teilaspekt des Ganzen man in den Blick nimmt. Völlig anders etwa sieht die Situation aus bei den Studierenden (und damit meine ich alle Hochschulangehörigen bis zur Promotion) als bei den Lehrenden, anders ist sie in der Forschung als in der Lehre, unterschiedlich bei den Deutschen und bei den Ausländern. Internationalität findet sich in unseren Hochschulen ebenso im Mikrokosmos eines einzelnen Curriculums wie im Großen der Institution als solcher. Das Umfeld der Gesellschaft und der staatlichen Rahmenbedingungen schließlich stellt das Klima bereit, in dem Internationalität gedeihen kann oder behindert wird. Will man den Grad an Internationalität einzelner Hochschulen beurteilen, so muß man dazu nicht nur die Komponenten Forschung, Lehre und Studentenmobilität berücksichtigen, sondern auch den Anteil der Ausländer, das Angebot international ausgerichteter Studiengänge oder Curricula sowie die Frage, inwiefern Internationalität zum Profil der jeweiligen Hochschule gehört und aktiv als strategisches Ziel verfolgt wird. Indikatoren für eine solche Zielsetzung sind einerseits eine größere Anzahl aktiver Partnerschaften, Netzwerke und Aus-

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tauschprogramme, andererseits die interne Organisation der internationalen Angelegenheiten, die Bereitstellung der notwendigen Ressourcen und Infrastrukturen etc. Wenn man Lernende und Lehrende einander gegenüberstellt, so kann man erkennen, daß Mobilität in der Ausbildung weit größer geschrieben wird als etwa im Lehrkörper, klammert man die Mobilität von Wissenschaftlern zu Forschungszwecken einmal aus. Ein Heer von Studenten und Graduierten setzt sich alljährlich nicht nur in Europa, sondern weltweit in Bewegung, u m jenseits der Grenzen des eigenen Landes kürzere Sprach- und Ferienkurse zu besuchen, Praktika zu absolvieren, für ein oder zwei Semester im Ausland zu studieren oder gar ein komplettes Studium mit Abschluß durchzuführen. Rund zwei Drittel der weltweit 1,4 Mio. Studierenden, die sich als Ausländer an einer Hochschule eingeschrieben haben, haben ihren ersten Abschluß noch vor sich. Nur ein Drittel geht als Postgraduierte ins Ausland, die große Mehrheit von ihnen als sogenannte „Selbstzahler". Auf Seiten der Gastländer dominieren zunehmend die englischsprachigen Anbieter, allen voran die USA, auf die allein in quantitativer Hinsicht ein Drittel dieses hochinteressanten „Marktes" entfallen — nach Qualitätsgesichtspunkten, also bei der Frage nach guten oder sogar sehr guten Studentinnen und Studenten sind es wohl sogar 50 Prozent. Bei den Herkunftsländern dominiert der asiatische und hier vor allem der südostasiatische Raum, und man kann davon ausgehen, daß sich gerade hier die Nachfrage nach attraktiven Studienmöglichkeiten im Ausland in den nächsten 20 Jahren noch verdoppeln wird. W i e aber steht Deutschland als Gast- und als Entsendeland da? Kein Zweifel, ihre einstmals führende Stellung hat die Bundesrepublik mittlerweile eingebüßt. Doch so schlecht, wie das Bild gerade in der jüngeren Vergangenheit gemalt wurde, sieht es mit der Internationalität der deutschen Hochschul- und Wissenschaftslandschaft nicht aus. Vergleicht man die absoluten Zahlen miteinander, so rangiert Deutschland immerhin noch auf Platz vier der Gastländer. Allerdings sind es nur rund zehn Prozent der internationalen Studierenden weltweit, also 140.000, die in Deutschland immatrikuliert sind. Wenn man zudem die sogenannten „Bildungsinländer" abzieht, dann verringert sich die Quote auf etwas mehr als sechs Prozent, also rund 80.000 bis 9 0 . 0 0 0 Köpfe. Nur zum Vergleich: Allein die Vereinigten Staaten können m i t etwa 4 5 0 . 0 0 0 Studierenden mehr als die fünffache Anzahl für sich verbuchen. Auch die Verteilung der ausländischen Gäste auf die verschiedenen Fächer und Disziplinen gibt Anlaß zu Bedenken. Denn während beispielsweise 580 Japaner an bundesdeutschen Musikhochschulen studieren (insgesamt sind es 1.750 Studierende), zieht der MBA-Nachwuchs in großer Zahl an Deutschland vorbei. Letzteres verwundert gerade dann, wenn man sich vor Augen führt, daß die Spitzenreiter unter den Gastländern — namentlich die Vereinigten Staaten - zumeist hohe Studiengebühren bis zur Erlangung eines „Master of Business Administration" verlangen, während das Studium der Volks- oder Wirtschaftswissenschaften in Deutschland nach wie vor gebührenfrei ist. Korrelierend zu dem stetigen Strom junger Asiaten, die sich auf den Weg in die anglophone Welt machen, ebbt der Zustrom aus dieser Weltregion nach Deutschland kontinuierlich ab. Es gibt eine Reihe von Faktoren außerhalb des universitären Bereichs, die hierfür maßgeblich

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sind: Denken Sie nur an die starken ethnischen Verbände wie Japaner oder Chinesen, die nicht erst seit einer Generation aus ihren Heimatländern aus- u n d beispielsweise nach Amerika eingewandert sind. Die Familien- oder Freundesbande, die auf diese Weise oft schon seit Jahrzehnten bestehen, bilden gerade für junge Menschen einen wichtigen Halt in der neuen Heimat, ein Faktor, der nicht unterschätzt werden darf. Den Verlust, den wir durch die verhältnismäßig wenigen Asiaten hier in der Bundesrepublik auf diese Weise ohne Zweifel erleiden, können wir teilweise durch unsere Nachbarn im Osten wieder ausgleichen: In den Ländern Mittel- und Osteuropas und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten stehen Deutschland u n d die deutsche Sprache nach wie vor hoch im Kurs, und diese positiven Verbindungen gilt es zu pflegen und auszubauen. Ich darf an dieser Stelle erwähnen, daß der Deutsche Akademische Austauschdienst schon vor Jahren die Chancen erkannte, die sich aus dieser endlich wieder zugänglichen Region ergaben, und so förderten wir allein im vergangenen Jahr rund 530 Partnerschaften zwischen deutschen und osteuropäischen Hochschulen. U m dem Gebot der Vollständigkeit Genüge zu tun, sei erwähnt, daß auch die sogenannten „Südpartnerschaften" — ein Programm, das der DAAD i m vergangenen Jahr aufgelegt hat — sehr erfolgreich angelaufen sind. 4 0 Projekte wurden 1997 bewilligt, in diesem Jahr werden 3 0 weitere in die Förderung einbezogen. Auch in umgekehrter Richtung, also in bezug auf die „Reiselust" junger deutscher Studierender, gibt es immer noch Nachbesserungsbedarf. Zu wenige nutzen die Chancen, die sich aus einem Auslandsaufenthalt ergeben. Wenn man durch eine leicht rosarot gefärbte Brille schaut, dann gibt es derzeit rund zehn Prozent deutsche Hochschulabsolventen, die wenigstens ein Semester im Ausland studiert haben — das entspricht in etwa der von der Europäischen Kommission für 1997 vorgegebenen Zielgröße. N i m m t man Praktika und Sprachkurse hinzu, kommt man auf rund 25 Prozent. Zwar sind diese Zahlen also im internationalen Vergleich nicht schlecht, jedoch für ein so exportorientiertes Land wie die Bundesrepublik gerade in Zeiten der vielfach beschworenen Globalisierung - noch lange nicht ausreichend. Meiner Meinung nach lassen sich nach wie vor zu viele Kommilitoninnen und Kommilitonen von den tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Schwierigkeiten eines Auslandsstudiums abschrecken, seien dies finanzielle Probleme, Sprachhürden oder die Fragen der Anerkennung von Studienleistungen und Abschlußgraden. Natürlich existieren all diese Probleme und können im einen Falle mehr, im anderen weniger hinderlich sein, wenn man sich seine Meriten auf fremdem Terrain erwerben will. Dennoch dürfen sie - gerade junge Menschen nicht endgültig davon abhalten, sich den W i n d um die Nase wehen zu lassen. Nur am Rande möchte ich an dieser Stelle eine weitere Gruppe Hochschulangehöriger ansprechen und nachdrücklich zu mehr Mobilitätsbereitschaft auffordern: Ich meine die Hochschullehrer und Dozenten. W i e vielleicht bekannt ist, fördert der DAAD rund 500 Lektoren in aller Welt; verschiedene andere Programme - so beispielsweise ein 1997 gemeinsam mit der brasilianischen Organisation CAPES eingerichtetes Programm - ermöglicht deutschen Dozenten einen Lehraufenthalt i m Ausland. Umgekehrt laden wir in jedem Jahr ausländische Gastdozenten ein, an deutschen Hochschulen zu unterrichten. Alleine i m vergangenen Jahr wurden 6 6 solcher Austauschmaßnahmen bewilligt, davon gut zwei Drittel zur

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Lehre an Universitäten, etwas weniger als ein Drittel zur Lehre an Fachhochschulen, u n d zwei sind derzeit an Kunst- oder Musikhochschulen tätig. Doch der DAAD hat hier keine Monopolstellung und will sie auch gar nicht haben; jede und jeder einzelne Kollege oder Kollegin ebenso wie alle Hochschulen sind dazu aufgefordert, in diesem Bereich nicht nur Phantasie, sondern auch Aktivitäten zu entfalten! Mein Plädoyer für eine verstärkte akademische Mobilität basiert natürlich nicht nur auf einer vom persönlichen Erleben und individuellen Vorlieben herrührenden Sicht der Dinge. Es gibt vielmehr zahllose Gründe, welche ganz objektiv den Nutzen des Austauschs und des Kennenlernens anderer, fremder Strukturen - sei es vor Ort, sei es durch Gäste im eigenen Land - belegen. Ein paar Stichworte dazu: • den wissenschaftlichen Nutzen • den wirtschaftlichen Nutzen • den persönlichen Nutzen. Wissenschaftlich gesehen hat der Wechsel zwischen in- und ausländischer alma mater durchaus zwei Seiten. Denn nicht selten wird das Studium durch einen Wechsel verlängert, und auch die Anerkennung im Ausland erbrachter Leistungen verläuft nicht immer so reibungslos, wie wir alle uns das wünschen und wie es schon längst im geeinten Europa Usus sein sollte. All dies ist ärgerlich, darf aber die grundsätzlich positiven Aspekte einer Auslandserfahrung nicht überdecken. Denn selbstverständlich ist die Bekanntschaft mit einem unbekannten Lehr- und Lernsystem für jeden Studenten und auch jeden Hochschullehrer eine wichtige Bereicherung, selbstverständlich schärft die Kenntnis andersartiger Forschungsansätze den Blick auf die vertrauten heimischen Methoden und zeigt Alternativen auf! Im übrigen gilt für mich der Grundsatz, daß ein wesentliches Merkmal der Wissenschaft ihr grenzüberschreitender Ansatz ist. Oder, anders gesagt: Wissenschaft, die nicht international ist, verdient ihren Namen nicht. An dieser Richtschnur müssen sich auch und gerade die ausübenden Wissenschaftler messen lassen. Etwas komplizierter sieht es mit dem wirtschaftlichen Nutzen aus, und zwar gerade dann, wenn der Hochschulabsolvent sich nicht auf den wissenschaftsinternen, sondern auf den öffentlichen Arbeitsmarkt begibt. Die Kernfrage lautet: Legen die Arbeitgeber — beispielsweise aus der Wirtschaft - bei Neueinstellungen Wert auf Auslandserfahrung? Hier ließe sich zunächst ganz einfach antworten: Natürlich träumen alle Personalchefs davon, unter einer Vielzahl 24jähriger promovierter Hochschulabgänger mit dreijähriger Berufserfahrung i m In- und Ausland sowie fließender Beherrschung von möglichst drei Fremdsprachen auswählen zu können. Aber wie sieht es mit dem etwas „durchschnittlicheren" Studenten aus? Kann er oder sie die Chancen für den Einstieg in eine Karriere verbessern, wenn der Lebenslauf einen Auslandsaufenthalt aufweist? Lassen wir die Vertreter der Wirtschaft selbst antworten. Bei einer Umfrage unter mehr als 100 deutschen Nachwuchsmanagern, die das Allensbacher Institut für Demoskopie i m Auftrag des Wirtschaftsmagazins „Capital" vor einiger Zeit durchführte, stellte sich heraus, daß die sogenannten „High-Potentials" folgende wichtige Merkmale aufweisen:

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fachliche Exzellenz, Persönlichkeitsstärke, soziale Kompetenz und Internationalität, die „als Schlüsselqualifikation der Zukunft" bezeichnet wurde. Capital zitierte Siemens-Chef Heinrich von Pierer mit der Äußerung, daß ohne internationalen Schliff künftig niemand mehr den Weg in den Vorstand schaffe - eine deutliche Aussage, wie ich meine. Ähnlich äußerte sich auf einer Tagung des DAAD Dr. Bernd Baasner von der Bayer AG in Leverkusen, der dort für das gesamte Personalmarketing verantwortlich ist. Er wies daraufhin, daß gerade bei der Einstellung ein Auslandsaufenthalt honoriert wird, und er belegte dies anhand einiger Zahlen: Von den etwa 160 Naturwissenschaftlern, die in einem Jahrgang bei Bayer eingestellt wurden, konnten etwa zwei Drittel Erfahrungen im Ausland nachweisen. Das spricht für sich. Auch wenn ich hier die Vertreter zweier „global players" zitiert habe, darf das nicht zum Trugschluß führen, nur diese seien auf internationale Erfahrungen und Kontakte ihrer Mitarbeiter angewiesen. Ganz im Gegenteil: Wer die Entwicklungen in der Wirtschaft aufmerksam beobachtet und die in aller Munde geführten Begriffe wie „Dezentralisierung", „Outsourcing" und „Globalisierung" verinnerlicht, der erkennt: Gerade kleinere, flexible und schlagkräftige Unternehmen mit einem begrenzten, aber hoch qualifizierten und hoch motivierten Mitarbeiterstamm werden den Markt zukünftig immer stärker beeinflussen. Dabei werden sie entweder auf eigene Faust oder im Auftrag großer Wirtschaftstanker Produkte entwickeln und Projekte durchfuhren. Dies bedeutet natürlich zugleich, daß der Mittelstand sein Augenmerk über kurz oder lang weg von der nationalen und hin auf die weltweite Bühne richten wird. Diese veränderte Wahrnehmung wird sich — in logischer Konsequenz - auch auf die Forderung nach internationaler Kompetenz der Angestellten auswirken. Auch in umgekehrter Richtung — also bei der Einladung ausländischer Nachwuchskräfte an unsere Hochschulen und Forschungseinrichtungen — kann ein wirtschaftlicher Nutzen leicht aufgezeigt werden. Die Rechnung ist einfach: Der junge Indonesier, der in Deutschland während seines Studiums im Labor mit Geräten deutscher Hersteller vertraut gemacht wurde, wird sich bei der Ausstattung seines heimatlichen Arbeitsplatzes eher für das bekannte Mikroskop oder die schon vielfach genutzte Zentrifuge entscheiden als für ein gänzlich unbekanntes Produkt aus einem anderen Land. Uberhaupt wird die Kenntnis und im besten Falle Freundschaft, die den einstigen Studenten auch nach der Rückkehr in sein Land mit Deutschland verbindet, viel dazu beitragen, die Brücken von hier nach dort zu festigen und auszubauen, sei es in der beschriebenen wirtschaftlichen Hinsicht, sei es aber auch in kulturellen oder politischen Belangen. Wie aber sieht die Frage nach dem Wert eines Auslandsstudiums aus, wenn man den dritten, den persönlichen Blickwinkel wählt? Der Gewinn eines Aufbruchs zu neuen Ufern ist für die persönliche Entwicklung, für die Flexibilität des Denkens und Handelns in seiner Art einzigartig und nicht ersetzbar. „Lernen

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fürs Leben", das ist die Überschrift, unter der man das ganze Bündel der Erlebnisse zusammenfassen kann. Man lernt • selbständig zu arbeiten • belastbarer zu sein • Offenheit und Toleranz gegenüber allem, was beim ersten Ansehen oder bei der ersten Begegnung fremd und vielleicht sogar merkwürdig erscheint. Man lernt • gerade auch als Nicht-Sprachwissenschaftler eine neue Sprache. Und man lernt vieles kennen: • neue Städte und Landstriche • neue Sitten, Gebräuche und Traditionen • fremde Gesellschaftssysteme und vielleicht auch Religionen • und vor allem die Menschen. Niemand kann den persönlichen Nutzen eines Auslandsaufenthaltes besser beschreiben als Johann Wolfgang von Goethe. In seiner „Italienischen Reise" schrieb er schon 1786 zwei Sätze nieder, die heute immer noch Gültigkeit haben. Ich zitiere: „Mit dem neuen Leben, das einem nachdenkenden Menschen die Betrachtung eines neuen Landes gewährt, ist nichts zu vergleichen. Ob ich gleich noch immer derselbe bin, so mein ich bis aufs Knochenmark verändert zu sein." Wenden wir uns der letzten, vielleicht entscheidenden Frage zu: Was können wir tun, um die Auslandsbeziehungen unserer Hochschulen voranzutreiben? „Wenn es dir gelingt, über dich selbst gut zu Gericht zu sitzen, dann bist du ein wirklich Weiser", sagte der König zum kleinen Prinzen. Um gut zu Gericht sitzen zu können, muß man einen Dreischritt leisten. Man muß: • das Problem erkennen, • das Problem analysieren, • und das Problem beseitigen. Die beiden ersten Schritte haben wir hier in der Bundesrepublik in den vergangenen Monaten und Jahren mit schon an Selbstzerfleischung grenzender Ernsthaftigkeit und Ausführlichkeit hinter uns gebracht. Wir haben eine Nabelschau betrieben, die einerseits notwendig und richtig war, andererseits schnell beendet werden muß, um uns in unserem Reformwillen nicht zu lähmen und vor allem unseren Ruf im Ausland nicht noch mehr zu schädigen, als es jetzt schon der Fall ist. Was jetzt dringend ansteht, ist die Bewältigung des dritten Schrittes: das Problem zu beseitigen. Eines ist klar: Wir werden nur erfolgreich sein, wenn wir alle — und damit meine ich die deutschen Hochschulen als Institutionen und als Gemeinschaften der Lehrenden, der Administratoren und der Studierenden — wenn wir alle uns dem globalen Wettbewerb stellen. Und wir müssen erkennen, daß dieser Wettbewerb nicht nur ungewohnte Anforderungen an uns

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stellt, sondern gleichzeitg ungeheure und bislang unbekannte, im besten Falle sogar ungeahnte Chancen bietet, die es wahrzunehmen und zu ergreifen gilt. W i e sieht nun das Rüstzeug aus, mit dem wir hier in Deutschland in den Ring der Globalisierung von Wissenschaft und Bildung steigen? In den letzten Wochen wurde — nicht zuletzt angesichts der beeindruckenden Streiks unserer Studierenden — immer wieder darüber berichtet, daß es der deutschen Wissenschaft, namentlich den deutschen Universitäten, am Geld fehle — eine Binsenweisheit. Ohne die nötigen finanziellen Mittel können wir selbstverständlich nicht im internationalen Wettbewerb mithalten — das gilt uneingeschränkt. An der materiellen Situation unserer Hochschulen ändert sich nichts durch Gesundbeten; und wenn man 25 bis 35 Prozent eines Altersjahrgangs studieren lassen will - und gegenwärtig haben wir in der Bundesrepublik mehr als 1,8 Millionen Studenten an rund 3 0 0 Hochschulen —, dann m u ß man bereit sein, dafür zu zahlen. Und zwar m u ß man zahlen nach dem Maßstab eines führenden Industriestaates und nicht nach Modellen von Entwicklungsländern, zumal alle Kriterien darauf hinweisen, d a ß dieser hohe Anteil akademisch Gebildeter für unsere Verhältnisse angemessen ist. Tatsache ist: Im Vergleich zu vielen anderen Ländern zahlen wir zu wenig für die Bildung und Ausbildung unseres akademischen Nachwuchses. Im OECD-Vergleich zum Anteil der öffentlichen und privaten Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt liegt Deutschland unter 19 betrachteten Staaten zwar an neunter Stelle. Vergleicht man aber nur die staatlichen Anteile der Bildungsausgaben a m Bruttoinlandsprodukt, so liegt die Bundesrepublik auf Platz 2 0 von 27 untersuchten Ländern. U n d noch ein paar Zahlen: Hierzulande werden pro Studierendem und Jahr 7 . 9 0 2 Dollar ausgegeben, während es in den U S A beispielsweise 14.607 Dollar und in Großbritannien 8.241 sind. Der Gerechtigkeit halber sollte gesagt werden, daß sich auch in manch anderem Land ein noch schlechteres Bild zeigt. So gibt Japan pro anno und Student 7 . 5 5 6 Dollar aus, Frankreich nur 6 . 0 3 3 Dollar, also deutlich weniger als in der Bundesrepublik. Insgesamt gesehen sind jedoch in Deutschland die staatlichen Mittel für Forschung und Lehre, die den westdeutschen Hochschulen — nur diese kann man in Langzeituntersuchungen einbeziehen — durchschnittlich je Student zur Verfügung stehen, seit 1980 u m nahezu ein Drittel gesunken; das ist eine erschreckende Bilanz. Nehmen wir einmal an, die Obergrenze der Zahlungsfähigkeit in Deutschland sei erreicht — dann m u ß man andere Konzepte entwickeln, um den Mißständen an deutschen Universitäten zu begegnen. Eine Möglichkeit wäre, nach vernünftigen Selektionskriterien zu suchen und den Flaschenhals ein wenig zu verengen. Unter Umständen bedeutet das, daß wir auch innerhalb der Universitäten um eine stärkere Auswahl und Gewichtung nicht herumkommen werden, wenn wir die Ausbildung einer großen Zahl junger Menschen verbinden wollen mit dem unverzichtbaren Anspruch, hochqualifizierte junge Menschen und wissenschaftliche Eliten heranzubilden. Übrigens: Eine kürzlich veröffentlichte Studie belegt, daß es sehr wohl möglich ist, „Klasse in der Masse" auszubilden, wie die Süddeutsche Zeitung Anfang des Jahres so treffend titelte. Eine Umfrage unter mehr als 2 . 0 0 0 deutschen Führungskräften ergab, daß die großen Universitäten in den Biographien der Eliten — aus den verschiedensten Bereichen wie Wirtschaft,

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Politik, Kirche und andere mehr - als Ausbildungsstätten deutlich überrepräsentiert sind. Dies ist ein guter-Beweis dafür, daß das deutsche Hochschulwesen in der jüngeren Vergangenheit sehr wohl mit den überaus zahlreichen, großen Anforderungen, denen es sich gegenübergestellt sah, fertig geworden ist. Damit dies auch in der Gegenwart und vor allem in der Zukunft so bleibt, müssen wir freilich gemeinsam aktiv werden. Jahrzehntelang hat das Ausland weltweit die Humboldtsche Universitätsidee bewundert und kopiert. Aber jetzt, glaube ich, haben wir Grund, am Beispiel des Auslands - nehmen wir England, Amerika, aber auch unsere Nachbarländer wie Holland, Schweden oder Finnland - am Beispiel des Auslands also zu lernen, unsere richtigen und nach wie vor gültigen Ideen über die völlig veränderten Rahmenbedingungen hinwegzuretten. Wenn wir den M u t zu neuen, zeitgerechten Lösungen aufbringen, dann hat auch Humboldts Universitätsidee als hoher geistiger Anspruch und ständig lockende Herausforderung in Zukunft noch eine Chance. Wenn wir diese Einsichten beherzigen, wird es uns auch gelingen, die internationale Attraktivität des Hochschul- und Wissenschaftsstandorts Deutschland aktiv zu verbessern - nicht zuletzt, um auch im 21. Jahrhundert konkurrenzfähig zu sein. Verschiedene Hebel müssen angesetzt werden: 1. Zunächst einmal müssen wir alles daran setzen, die Rahmenbedingungen, also die Bedingungen außerhalb des eigentlichen universitären Lebens, so neu zu strukturieren, daß ein Studium und ein Forschungsaufenthalt in Deutschland nach wie vor erstrebenswert erscheinen. Nach zugegeben mühsamem und oft ärgerlichem, ja sogar beängstigendem Hin und Her scheinen sich jetzt die Innenminister der Länder und des Bundes auf Neuregelungen des Ausländergesetzes zu einigen, die nicht von vornherein einer Abwehrhaltung gegenüber unseren ausländischen akademischen Gästen gleichzusetzen wäre. Das Übrige, das gesamtgesellschaftliche Umfeld, können Politiker und Gesetze freilich nur bedingt regeln. Hier ist jeder von uns aufgerufen, dazu beizutragen, das Klima an deutschen Hochschulen, aber auch in der gesamten Öffentlichkeit für unsere Freunde und Partner aus aller Welt so angenehm wie möglich zu gestalten. Tenor m u ß die Erkenntnis sein, daß nicht nur die Ausländer den Kontakt zu den Deutschen brauchen, sondern daß Deutschland ohne weltweite gute Beziehungen auf Dauer zur Provinz verkümmern würde. 2. Deutsche Hochschulen müssen die Möglichkeit bekommen, ihre Studienstruktur nach Wunsch auf das international Verkehrs- und transferfähige System der Bachelor-MasterDegrees umzubauen. Berauben wir uns doch nicht der großartigen Chancen, die drei verschiedene, im positiven Wettstreit miteinander stehende Modelle bedeuten. Während den Vorstellungen des einen Studierenden das klassische Zweistufensystem der Universitäten mit Magister- und Doktorgrad am nächsten kommt, so findet der zweite seine W ü n s c h e eher im praxisorientierten Curriculum der Fachhochschulen befriedigt. Der dritte aber will neue Wege beschreiten u n d hat eine internationale Karriere vor Augen - also schreibt er sich bei einem Bachelor- oder Masterstudiengang ein, wie sie dank der letzten HRK-Beschlüsse in Zukunft sicherlich immer häufiger an Hochschulen in Deutschland angeboten werden. Ich weiß, daß einige Kollegen gerade in dieser Neuerung eine Gefahr für die bewährten Werte und Errungenschaften unseres deutschen Bildungssystems sehen. Aber es geht doch

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nicht darum, aus einer Laune heraus eine liebgewonnene Tradition über Bord zu werfen! Nein, es geht vielmehr darum, international konkurrenzfähig zu bleiben, sowohl im Sinne unserer eigenen deutschen Kommilitoninnen und Kommilitonen als auch zugunsten der Studierenden und hier vor allem der besonders begabten Nachwuchskräfte aus dem Ausland. Ich bin sicher, daß gerade die Besten die Bandbreite des Angebotes zu schätzen wissen. Natürlich bedeutet Umbau auch Arbeit: Die Universitäten sollten einsehen, daß der erste Abschlußgrad eines Bachelors sehr wohl seine Berechtigung hat und zusätzlich zum Diplom, dem Magister und der Promotion in den Studienalltag eingebaut werden muß. Schließlich könnte die Einführung des Bachelors — ganz abgesehen von der internationalen Vergleichbarkeit - auch die Chance bergen, die Verweildauer an den Universitäten zu verkürzen und dabei gerade die Bedürfnisse derjenigen jungen Menschen zu befriedigen, die zwar eine universitäre Ausbildung anstreben, aber ihr Leben nicht als Wissenschaftler verbringen wollen. Ich möchte nochmals betonen: es gibt keine vereinheitlichende Generallösung für das, was wir brauchen. Vielmehr bin ich der festen Uberzeugung, daß mehrere Modelle nebeneinander bestehen können und sich dabei sogar gegenseitig befruchten. Und daß in deutschen Hochschulen ein großer Bedarf und eine sehr aktive Bereitschaft besteht, neue Anzüge überzustreifen und gegebenenfalls auf die eigene Figur zuzuschneidern, zeigen die Reaktionen auf eine Ausschreibung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes zur Einrichtung sogenannter „Auslandsorientierter Studiengänge", die Teil des Aktionsprogramms zur Steigerung der Attraktivität des Studien- und Wissenschaftsstandorts Deutschland sind. Allein für die zweite Tranche gingen mehr als 100 Bewerbungen ein, aus denen — auf Grund beschränkter Mittel — lediglich eine Handvoll Anträge ausgewählt und bewilligt werden konnte. Diese Auslandsorientierten Studiengänge beinhalten nicht nur eine möglichst 50prozentige Beteiligung ausländischer Studierender und einen deutlichen Anteil englischsprachiger Veranstaltungen, sondern sie bieten neben deutschen Abschlüssen auch die Verleihung von Bachelor- und Mastergraden. An dieser Stelle ein Wort zur Sprache: Es ist schon lange kein Geheimnis mehr, daß das Monopol des Deutschen als Unterrichtssprache den hiesigen Hochschulen im internationalen Vergleich vielfach zum Nachteil gereicht. Und es ist auch eine Tatsache, daß das Englische seine Vorreiterrolle als Weltsprache längst schon gefestigt hat. Dementsprechend wäre es nicht nur falsch verstandener Nationalstolz, sondern schlichte Dummheit, wenn man versuchen würde, sich diesem Faktum nach wie vor verzweifelt und mit dem Anspruch der Ausschließlichkeit entgegenzustemmen. Zwei Verfahrensweisen sind meiner Meinung nach das Gebot der Stunde: Zunächst einmal müssen wir uns auf die Bedürfnisse unserer „Kunden" einstellen und ihnen dort, wo es sinnvoll und möglich erscheint - wie zuvor beschrieben — englischsprachige Studienangebote unterbreiten. Um es einmal an einem krassen Beispiel deutlich zu machen: Es macht keinen Sinn, von einem Chinesen zunächst die Kenntnis und das Verständnis des „Nibelungenliedes" zu verlangen, um ihn anschließend zum Studium der Mathematik an der T U Dresden zuzulassen! Fängt er jedoch erst einmal an, im deutschen Umfeld - wenngleich überwiegend auf Englisch - zu studieren, so wird er über kurz oder lang doch Interesse und Gefallen an der

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Sprache seines Gastlandes finden und sie erlernen. Auch auf diese Weise wird es schließlich möglich sein, der unzweifelbaren Vormachtstellung des Englischen - zugegeben, mit ein wenig List - sanft, aber sicher erfolgreich die Bedeutung unserer eigenen Sprache entgegenzusetzen. Zum zweiten müssen wir dort, wo die deutsche Sprache unverzichtbar ist, die jetzigen hohen Eingangshürden ein wenig herabsetzen. Dabei gilt es einerseits, die Sprachanforderungen je nach Fach und Bewerberstatus zu differenzieren und andererseits einen Deutschtest zu entwickeln, der dem englischen TOEFL-Test entspricht. Gerade in bezug auf den letzten Punkt konnten in der jüngeren Vergangenheit und in Zusammenarbeit zwischen den maßgeblichen Einrichtungen — wie beispielsweise dem DAAD und dem Goethe-Institut — wichtige Schritte getan werden. 3. Die gegenseitige Anerkennung von Studienleistungen ist ein besonders wunder Punkt, der jedoch - ein schwacher Trost — nicht nur die deutschen Hochschulen betrifft. Ich möchte jetzt nicht über die zur Zeit noch sehr unbefriedigende Lage lamentieren, sondern vielmehr ein positives Beispiel zur Lösung dieser Probleme hervorheben: So hat das „European Community Course Credit Transfer System" (kurz: ECTS) zur Vergabe von Leistungspunkten bei der akademischen Anerkennung von im Ausland erbrachten Studienleistungen in den vergangenen zehn Jahren einen wahren Siegeszug durch die Hochschulen Europas hinter sich gebracht, und auch einige deutsche Universitäten haben seine Vorzüge erkannt. Mittlerweile empfiehlt die HRK die Einführung dieses Systems, mit dessen Hilfe sich eines der Hauptprobleme im Kontext der akademischen Mobilität in Europa wirkungsvoll lösen läßt. ECTS macht das Auslandsstudium für die Studierenden planbarer und trägt so erheblich zur Bereitschaft bei, für einige Zeit der vertrauten heimischen Alma mater den Rücken zu kehren und sein Glück an einer ausländischen Hochschule zu suchen. 4. Ein großes Defizit, das schon den deutschen Studienanfängern häufig schmerzlich bewußt wird, lastet ihren ausländischen Kommilitoninnen und Kommilitonen in doppeltem Maße auf der Seele: die mangelnde Betreuungskultur. Hier können wir uneingeschränkt von unseren englischen Nachbarn und den amerikanischen Freunden in Ubersee lernen, und erste Entwicklungen in die richtige Richtung sind zum Glück auch endlich zu erkennen. Denn das Deutsche Studentenwerk hat im vergangenen Jahr ein Betreuungspaket entwickelt, dessen intregraler Bestandteil - neben der Hilfe bei Zimmersuche, Einschreibung und Orientierung im neuen akademischen Umfeld - auch die Betreuung durch einen Tutor ist. Hier sehe ich also einen Standortnachteil, den auszugleichen wir aber sehr wohl selbst imstande sind. 5. Die deutschen Hochschulen müssen Werbung und Marketing in eigener Sache endlich als unverzichtbaren Bestandteil ganz oben auf ihre tägliche Agenda setzen. Als Präsident des DAAD biete ich an dieser Stelle unsere Kooperation auf jede gewünschte Weise an: sei es durch die Aufnahme in unsere zahlreichen Publikationen, sei es durch eine Verlinkung der InternetHomepages, sei es durch die Vertretung auf internationalen Bildungsmessen. Gerade bei letzteren ist es jedoch mehr als hilfreich, wenn neben deutsch- und englischsprachigen Informationsbroschüren auch solche in anderen Sprachen zur Verfügung stehen, also beispielsweise in Französisch, Russisch, Japanisch, Indonesisch oder sonstigen Sprachen mehr.

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Eine andere, etwas indirektere Art der Werbung sind Partnerschaften mit ausländischen Hochschulen. Jährlich reisen Delegationen von hüben nach drüben, besuchen sich die Wissenschaftler zu Forschungs- oder Weiterbildungszwecken, tauschen sich die Administratoren über verwaltungstechnische Fragen aus, werden Stipendien an Ausländer und Deutsche vergeben. Ich gebe zu: Nicht jede Partnerschaft läuft dabei so, wie man es sich idealtypisch vorstellen könnte. Einzelne Fakultäten sind bemühter als andere, oft sind die Aktivitäten stark von einer einzelnen Persönlichkeit abhängig, und gelegentlich können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, daß es den ausländischen Partnern weniger um den gegenseitigen Austausch als vielmehr um die Nähe zu eventuellen Geldquellen aufgrund des Renommes der deutschen Hochschule geht. Insgesamt jedoch sind Hochschul-Partnerschaften ein sehr geeignetes Mittel, um mit dem Ausland in einen engen, konstruktiven Kontakt zu treten und dabei zugleich auf Deutschland als attraktiven Studien- und Wissenschaftsstandort hinzuweisen.

„Deutschland: Für viele ein Fluchtziel aus dem Grauen vonKriegen und Folterungen,für andere immer noch das versprochene Land, eine Uberlebenschance, für mich eine Herausforderung. Genau...eine Herausforderung." Es war ein junger Italiener, Andrea Manfroi, der diese Zeilen an den Anfang seines Essays stellte, den er auf Anregung des DAAD zusammen mit rund 50 weiteren ausländischen DAAD-Preisträgern zum Thema „Mein Deutschlandbild" verfaßte. Eine Herausforderung ist dann, wenn man sie annimmt, in der Regel eine Bereicherung. Das Leben, das Studium, das wissenschaftliche Arbeiten in Deutschland zu einer Herausforderung und damit zugleich zu einer Bereicherung zu machen: Das wäre in meinen Augen ein gutes Ziel bei dem Bemühen, die Auslandskontakte deutscher Hochschulen in und für die Zukunft zu gestalten.

Der Professor als Held Gedanken über den Hochschullehrer der Zukunft Norbert Bolz

er Universitätsprofessor ist ein Held, denn er kämpft mit Ungeheuern: den Paradoxien der Bildung. Und auch alle anderen, die mit Erziehung und Bildung, Pädagogik und Didaktik zu tun haben, sind heute von Paradoxien umstellt. Das Grundparadoxon der modernen Erziehung ist der Zwang zur Freiheit. Jeder Lehrer, der „autonome" Menschen bilden will, muß das Unmögliche versuchen, kausal auf Freiheit einzuwirken. Das ist natürlich eine Variante der Sei-spontan-Paradoxie. Und jede Pädagogik der modernen Gesellschaft muß so tun, als ob es eine Technologie der Freiheit geben könne. Die intelligenteste „Lösung" liegt wohl darin, die Paradoxie der Erziehung als Paradoxie der Freiheit selbst zu reformulieren — daß nämlich Freiheit nur durch die Beschränkung der Freiheit möglich wird. Das engere Paradoxon der Pädagogik besteht darin, daß in jedem Unterricht historische Maschinen als Trivialmaschinen behandelt werden — man stellt eine Frage und lobt die „richtige" Antwort. So erstarren Bildungsprozesse in einem Input/Output-Schema. Heinz von Foerster hat den Preis genannt, den unsere Kultur hier entrichten muß: „Since our educational system is geared to generate predictable Citizens, its aim is to amputate the bothersome internal states which generate unpredictability and novelty." Aber könnte es denn überhaupt anders sein? Menschen in der Bildung nicht als triviale Maschinen zu behandeln würde ja heißen: es gibt keine Kriterien mehr für Lernerfolg - also „Verzicht auf Unverzichtbarkeiten" (N. Luhmann). Das kann man nicht wollen, wenn man erziehen will. Fazit: Wenn Bildungsprozesse Resultate erzielen wollen, müssen sie Menschen als Trivialmaschinen behandeln. „Gebildet" nennt man dann besonders komplexe, programmreiche Trivialmaschinen. Bildungsprozesse müssen sich an den Standards moderner Wissenschaft messen lassen; alles andere wäre ein Rückfall in die vormoderne „religiöse Erziehung". Doch moderne Wissenschaft liegt nicht in prästabilierter Harmonie mit „Bildung". Was wissenschaftlich wahr ist, ist nicht auch pädagogisch effektiv. Der wissenschaftliche Stil ist interaktionsfeindlich. Das ist das Grundproblem jedes Seminars. Mit anderen Worten: Die Humboldtsche Einheit von Lehre und Forschung verdeckt eine Paradoxie, die jeder Hochschullehrer entfalten muß —

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Erziehung ist gerade nicht Forschung. Doch auch diese Paradoxie läßt sich als Paradoxie der Freiheit reformulieren: Akademische Freiheit entsteht gerade aus dem Widerspruch von Lehre und Forschung. In The Education of Henry Adams heißt es sehr schön: „The more he was educated, the less he understood." Etwas positiver formuliert: Je mehr man gelernt hat, um so mehr muß man noch lernen. In der Moderne machen wir die enttäuschende Erfahrung, daß die Wissenschaft die Unwissenheit erweitert. Mit den präzisen Worten von Daniel Bell: „More and more we know less and less." Je mehr einige Leute wissen, desto ignoranter wird der Rest. Der Soziologe Niklas Luhmann hat deshalb eine „Berufsrisikobereitschaft bei der Aneignung von Wissen" gefordert. Wer Zukunftssicherheit will, muß hohe Fremdselektion akzeptieren — das Unternehmen, in dem er arbeiten möchte, kann vorschreiben, was er zu lernen hat. Individualität qua Selbstselektion heißt demgegenüber: Unsicherheit auf dem Markt — ich bestimme selbst, was ich lernen und wissen will, riskiere aber damit, mich am Markt vorbei zu qualifizieren. Noch nie wußte man so wenig von der Zukunft wie heute. U m das zu verstehen, muß man sich klarmachen, daß unsere Kultur mehr als jede andere zuvor auf Wissen basiert ist. Nun verhält es sich aber so, daß wir nichts von künftigem Wissen wissen können - sonst wüßten wir es ja schon heute. Und daraus folgt eben: J e mehr Zivilisation auf Wissen basiert, desto unvorhersehbarer wird sie. Mit anderen Worten, je mehr das Wissen die Zukunft prägt, desto weniger kann man von der Zukunft wissen. Wenn man wüßte, was in der Zeitung von morgen steht, würde es nicht geschehen. Dieses Nichtwissen von der Zukunft ist aber gerade kein Grund zur Resignation, sondern im Gegenteil der Ausdruck unserer Freiheit. Auch die Paradoxie des Nichtwissens aus Wissen läßt sich also auf Freiheit hin reformulieren. Die Evolution ist kurzsichtig — zum Glück. Denn deshalb gibt es Chancen und Innovationen. Daß wir Zukunft haben und kein Wissen von der Zukunft haben, sind Vorder- und Rückseite derselben Freiheit. Wir bewegen uns auf ein Ziel zu, das sich selbst bewegt. Deshalb gilt: Die Zukunft kann man nicht prognostizieren, sondern nur provozieren.

Dienst am Subjekt? Es gibt immer noch Professoren, die mit einer Art trotzigem Stolz darauf bestehen, von C o m putern keine Ahnung zu haben. Das kann als Kultmarketing des Geisteswissenschaftlers durchaus funktionieren: Er stilisiert seine technische Inkompetenz als philosophische Besonnenheit. Gegen Internet und Cyberspace bringt er Einsamkeit und Freiheit in Stellung. Und diese Attitüde ist in einer Gesellschaft, die wieder nach dem „Sinn" sucht, durchaus attraktiv. Dienst am Subjekt — das bietet das Serviceunternehmen „Geisteswissenschaften". Doch die heroische Nachdenklichkeit als Pfeiler im Datenstrom hat die Zeitlogik der modernen Gesellschaft gegen sich.

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Das ist rasch erklärt: Das einsame Nachdenken eilt nicht. Deshalb verliert es immer mehr an gesellschaftlichem Wert. Was nicht unbedingt jetzt gemacht werden muß, wird zurückgestellt. U n d das heißt letztlich: Was nicht dringlich ist, disqualifiziert sich selbst. Dagegen führt alles Dringliche eine Wertvermutung mit sich. Deshalb spricht alle Welt von Teamgeist und Vernetzung. Denn Kooperation impliziert Terminierung, diese erzeugt Dringlichkeit — und diese impliziert eben Wichtigkeit. Die terminbestimmte Zeitstückelung verunmöglicht Nachdenklichkeit. Gedacht wird nur noch, was in bestimmten Fristen zuendegedacht werden kann. Und dem entspricht, daß die Instantaneität der Datenprozesse uns keine Zeit des Nachdenkens mehr einräumt. M a n könnte sagen: Instantaneität entmutigt die Reflexivität. Technische Kommunikation eröffnet eine Optionsvielfalt, die in keinem Verhältnis mehr zu unseren Zeitressourcen steht. Die Datenflut der Multimedia-Welt macht folglich Aufmerksamkeit zur knappsten aller Ressourcen. Unter solchen Bedingungen setzt sich - ähnlich wie McDonalds beim Essen — eine Art Fast Food des Wissens durch. Längst spricht man ganz selbstverständlich von Info-Animation, ja von „Infomotion". Und auch Universitätsprofessoren vertrauen längst nicht mehr auf das von Aristoteles im ersten Satz seiner „Metaphysik" versprochene Streben nach Wissen, sondern arbeiten an Mischformen von Lehre und Unterhaltung. M a n kann diese Beobachtungen wohl so zusammenfassen: Unter Bedingungen der Beschleunigung wird Erziehung unmöglich, denn sie impliziert Allmählichkeit. Seit die Pathosformel von Einsamkeit und Freiheit nur noch für das Marketing der Geisteswissenschaften taugt, schreibt die Universität denn auch an ganz neuen Mythen: - Praxisnähe, also Fremdselektion. Und das heißt i m Klartext: Andere (vor allem natürlich aus der Wirtschaft) entscheiden, was wissenswert ist. - Teamgeist - statt Einsamkeit und Freiheit. Hier entfaltet sich der sanfte Wahn, irgendeine mysteriöse Eigenschaft der „Gruppe" könne beim Denken helfen oder „motivieren". Ich denke, Gegenindikationen wären leichter zu erbringen. - Betreuung, also Mensch-zu-Mensch-Pädagogik. Studenten und Politiker scheinen sich einig, d a ß es die Professoren an Beratung, Betreuung und persönlicher Zuwendung mangeln lassen. Das ist die wohl unausrottbare „Der Mensch i m Mittelpunkt"-Ideologie, mit der man Probleme der Technik, Selektion und Finanzierung unsichtbar macht. Dazu gleich mehr.

Dienstleistung

stattpeopleprocessing

Dieser letzte, jüngste Universitätsmythos verdient besondere Aufmerksamkeit. Der Lehrberuf wird heute ganz selbstverständlich als symbolanalytische Dienstleistung begriffen. Und rollenkomplementär dazu versteht sich der Student als König Kunde. So halten die zentralen Marktmaximen der Benutzerfreundlichkeit u n d Kundenorientierung Einzug in die Universität. Doch hinter diesen schönen Formeln verbirgt sich wieder eine handfeste Paradoxie: Eine Routine soll als Nicht-Routine erscheinen. Der Professor soll sich zum Studenten verhalten

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wie der Arzt zum Patienten und der Pfarrer z u m Sünder. W i e der studentische Wunsch nach „Betreuung" nährt das Selbstverständnis des Professors als Dienstleister die Illusion der persönlichen Zuwendung - als ob es keinen Zeitdruck gäbe; als ob es ein „Eingehen" auf den anderen geben könnte. Inkompetente honorieren eher Performanz als Kompetenz. Deshalb sind Professoren beliebt, deren Bürotür offensteht u n d um die der Duft frisch gebrühten Kaffees ist — körperlich präsent u n d stets zu einem Gespräch bereit. Doch die Universität ist keine große Familie. Menschenfreundlichkeit macht hier die Probleme unbenennbar - und letztlich unsichtbar. U n d eben deshalb ist ständig von Praxisnähe, Teamgeist, Betreuung und Service die Rede. All diese neuen Mythen verdunkeln das Selektionsproblem.

The Navigator

oflgnorance

In der Welt von Forschung und Lehre gibt es weder Technologie noch Erfolgskriterien. M a n weiß nicht, w a r u m nicht mehr Wahrheiten anfallen. Und man weiß auch nicht, warum Studenten keinen Bock haben. Ersatzrationalisierungen lauten dann: kein Geld, zu große Seminare, faule Professoren. Vor allem der periodisch wiederkehrende Vorwurf, Professoren seien faul, hätten fünf Monate Urlaub und müßten nur acht Stunden in der Woche arbeiten, macht ein Grundproblem intellektueller Arbeit deutlich: sie ist weitgehend unsichtbar. U n d gerade deshalb dreht sich in der akademischen Öffentlichkeit alles um Publikationsliste, Zitationsindex und Reputation. Man m u ß die eigene Rolle wirkungsvoll dramatisieren, um den sozialen Rang u n d die Unkosten der eigenen Leistung sichtbar zu machen. Vor allem Professoren, die eben heute als intellektuelle Dienstleister angesehen werden, haben das Grundproblem, daß der Kunde, also die Studenten, aber auch die Beobachter (Politiker und Journalisten) die laufenden Kosten des akademischen „Service" nicht sehen können. M a n m u ß also das, was man leistet, zusätzlich vorführen, dramatisieren. Ich werde zitiert, also bin ich. Nach dem zweiten Weltkrieg war vor allem ein akademischer Selbstdramatisierungsstil erfolgreich: M a n war „kritisches Bewußtsein", das in Studenten u n d Gesellschaft kritisches Bewußtsein „produzierte". Und das war durchaus eine Folgelast des Bildungsgedankens. Denn seit Parsons kennt man das Problem: Je mehr „Bildung", desto stärker stehen die Menschen i m Bann der unrealistischen Interaktionstypik des Unterrichts. Die Universität mit ihrem psychosozialen Moratorium war der Ort der unschuldigen Beobachtung von außen gegen Vater und Staat. An diesem archimedischen Ort konnte man „Entlarvung" trainieren. Rückblickend können wir heute sehen: Das war Beobachtung zweiter Ordnung ohne Selbstanwendung. Die unkritische Selbstbezeichnung als kritisches Bewußtsein verwandelte „Kritik" in ein Ornament der Jugendkultur und die wissenschaftliche Methode in ein Initiationsritual: „Welchen Ansatz hast du?", fragte m a n damals. Und gemeint war: Welcher Sekte gehörst du an?

Der Professor als Held

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Doch wie könnte es anders sein? Ich denke, es würde sich lohnen, einmal über Douglas Hagues Konzept einer neuen Universität nachzudenken. Dort gäbe es: • Star-Akademiker, die sich ganz auf die Forschung konzentrieren, aber allen Universitäten als Vortragende zur Verfügung stehen; • Medienberater, die für die jeweiligen Lehrinhalte und Lernprozesse die angemessene (heute natürlich: multimedial) technische Implementierung sicherstellen; • akademische Impressarios, deren Kompetenz in der Umsetzung von Forschungsergebnissen in lehrbares Wissen besteht; • „educational Consultants", die Studenten in allen Studienfragen beraten. Uber den Reflexionsstil, den eine solche Universität fördern würde, kann man natürlich nur Mutmaßungen anstellen. Schon organisatorisch stellt sie eine narzißtische Kränkung der Einen Vernunft dar. Auch die Universität muß lernen, daß es in einer hochkomplexen Gesellschaft nur arbeitsteilige Rationalität gibt. Das könnte zu einer Kultur der ironischen Vernunft führen. Ihr „Geist" wäre bestimmt von souveränem Eklektizismus und organisierter Ignoranz. Ich meine das im Sinne von Henry Adams, der sich am Ende seines Bildungsweges als „the navigator of ignorance" beschrieb. Organisierte Ignoranz navigiert mit der Technik der Intelligent Discrimination: was wird nicht erforscht? Ironische Intelligenz und organisierte Ignoranz als Januskopf des idealen Professors? Sie werden enttäuscht sein. Doch der Professor ist ja gerade deshalb ein Held, weil ihm jeder Weg zum Ideal durch Paradoxien verstellt ist, die er nach „außen" als auflösbar darstellen muß. Wer es gut meint mit der Universität, sollte deshalb nicht weitere Idealisierungen anhäufen (Reformdiskussion!), sondern Paradoxienbewußtsein anregen. Denn Unlösbarkeiten stimulieren die Evolution.

Die Wiedererfindung der Universität Gerhard Casper

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n der gegenwärtigen hochschulpolitischen Diskussion in Deutschland wird Amerika häufig zitiert und in Anspruch genommen. Da lobt etwa jemand das amerikanische Beispiel und jemand anders erwidert: „Aber Amerika hat Einrichtungen, die sich Universitäten nennen, denen wir dieses Attribut vorenthalten würden." Oder jemand sagt etwas Freundliches über Stanford, worauf die Entgegnung kommt: „Aber Stanford hat ja auch seine Probleme." Wozu man natürlich nur sagen kann: „Natürlich!" Obwohl ich mich auf Amerika beziehen werde, geht es mir nicht um Amerika als Vor- oder Schreckensbild. Systemvergleiche sind immer schwierig. Deutschland wird aus seinem Tief herauskommen, und das gegenwärtige relative amerikanische Hoch wird nicht auf immer wirken. Mir geht es um die Sache der Universität und Forschung als solcher. W i r müssen wieder von ersten Prinzipien aus denken und müssen frische Lösungen suchen, statt mehr Geld auf Flickwerk zu verwenden. Was die ersten Prinzipien betrifft, so gebe ich zu, daß ich ein Humboldtianer bin. Bedauerlicherweise löst ein solches Bekenntnis ausgerechnet in Deutschland meist ein mitleidiges Lächeln aus. Ich hoffe, daß ich Sie heute abend von der Frische und Relevanz humboldtscher Prinzipien überzeugen kann. Die Gründung der Berliner Universität durch Humboldt verfolgte bildungs- und staatspolitische Ziele, die mit den Formeln „Freiheit der Wissenschaft", „Einsamkeit und Freiheit", „Einheit von Forschung und Lehre" sowie „Bildung durch Wissenschaft" allzu abstrakt charakterisiert werden. Auch war es nicht allein die spezifische humboldtsche Universitätsidee, die die deutsche Universität im Laufe des 19. Jahrhunderts weltweit zum Vorbild machte, sondern, was häufig übersehen wird, die wissenschaftliche Energie und Vielfalt, die freigesetzt wurden durch den der Berliner Gründung folgenden Wettbewerb der Landesuniversitäten in der dezentralisierten deutschen Universitätslandschaft. Der lebhafte Wettbewerb gab den Wissenschaften auch außerhalb der von Humboldt favorisierten philosophischen Fakultäten einen Freiheitsraum, in dem die Forschung, auch die naturwissenschaftliche Forschung, in den entstehenden Universitätslabors blühen konnte.

Dennoch, Humboldts Erwägungen „über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin", knapp über 10 Seiten lang, sind wahrscheinlich das Prägnanteste, was je über die Universität als Institution geschrieben worden ist. Und ich emp-

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fehle Ihnen allen wärmstens, nach Hause zu gehen und sich Ihre Humboldt-Ausgabe vom Bücherbord zu nehmen und diese zehn Seiten zu lesen. Es ist sehr erfrischend, wenn man das Ganze liest, statt der Formeln, die ausgeschnitten werden. Die Formulierungen Humboldts haben wie Generalklauseln im Recht trotz der Veränderungen des Wissenschaftsbegriffs und der institutionellen Probleme der Universitäten ihre Relevanz nicht verloren. Was auch immer seine Nahziele gewesen sein mögen: Wilhelm von Humboldt hat die Institutionalisierung von Forschung u n d Lehre in der Universität dadurch stark gefördert, d a ß er die Konzeption des Idealtypus Universität verschärfte. Ich verwende den Begriff „Idealtypus" hier sowohl i m Weberschen Sinne als auch normativ auf ein Idealbild der Universität als Institution bezogen. Humboldts W i r k u n g war im wahrsten Sinne des Wortes grenzenlos. Ohne das Vorbild dieses Humboldtschen Idealtypus ist z.B. die Reformation der amerikanischen Universitäten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts nicht denkbar. Die Charakterisierung Reformation ist nicht zu hoch gegriffen. Das im engeren Sinne reformatorische deutsche Motto der Stanford University, Ulrich von Huttens „Die Luft der Freiheit weht", symbolisiert, daß es sich um mehr als bloße Universitätsreform handelte.

Die Verbindung von Forschung und Lehre Ich werde mich mit einigen wenigen Merkmalen des Typus Universität beschäftigen und danach fragen, welche Rolle diese Merkmale heute spielen. Und ich beginne mit denjenigen, die Humboldts Einsicht und Formulierungen viel zu verdanken haben, und da ist natürlich zunächst die Verbindung von Forschung und Lehre. Die bewußte Verknüpfung von Forschung und Lehre war Humboldts wichtigster Beitrag zur Universitätsidee. Die Verknüpfung bleibt vielerorts unerreicht oder löst sich durch die drastische Verminderung von Forschungsmitteln und die Verlagerung der Forschung aus den Universitäten wieder auf. Sie wird auch verneint, wenn in Universitäten die Lehre weitgehend von Kräften wahrgenommen wird, die nicht unmittelbar in der Forschung stehen. Die Lehruniversität hat als Fortsetzung der Schule oder als Stätte einer Fachausbildung ihre Funktion, nur eine Universität ist sie eben nicht. Humboldt hat klar verstanden, daß das Verhältnis von Forschung und Lehre dialektischer Natur ist. Er hat es in einer kräftigen Formulierung so ausgedrückt: „Der Universitätslehrer ist nicht für die Studenten, beide sind für die Wissenschaft da. Sein Geschäft hängt mit an ihrer Gegenwart. Das heißt, der Gegenwart der Studenten und würde ohne sie nicht gleich glücklich vonstatten gehen. Er würde, wenn sie sich nicht von selbst um ihn versammelten, sie aufsuchen, um seinem Ziel näherzukommen durch die Verbindung der geübten, aber eben darum leichter einseitigen und schon weniger lebhaften Kraft (damit meint er uns Professoren) mit der schwächeren und noch parteiloser nach allen Richtungen mutig hinstrebenden" (d.h. den Studenten).

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Was mir vielfach in den Diskussionen u m die Universitätsreform sowohl in Amerika wie auch in Deutschland übersehen zu werden scheint, ist die Tatsache, daß die Studenten fiir die Universität ebenso wichtig sind wie die Professoren u n d daß sie für die Professoren wichtig sind; und daß die ganze Diskussion über Lehre und Forschung an den Universitäten und ihr angeblich gegensätzliches Verhältnis eine Diskussion ist, die weit von Humboldt entfernt liegt, weil sie grundsätzlich davon ausgeht, daß Lehre ohne Forschung möglich ist. U n d Humboldt sagt: Nein. Aber Humboldt sagte auch, Forschung ist nicht möglich ohne Lehre. Die Studenten sind ebenso wichtig. Und ich kann das nur aus meiner eigenen Erfahrung bestätigen. Ich bin häufig von Erstsemestern angeregt worden, meine Meinung zu ändern. Gerade wegen der Naivität, die sie häufig an die Sache heranbringen. Nicht nur die Studenten haben einen Nutzen davon, werden durch Wissenschaft gebildet, wenn sie von Wissenschaftlern lernen, die selbst schöpferisch tätig sind, sondern die Forschung gewinnt, wenn die jüngere Generation sie bewußt, aber auch naiv in Frage stellt. Dies setzt allerdings Diskussion und Diskussionsbereitschaft in Vorlesung, Seminar und Labor voraus. Mir scheint, daß in den Universitäten der Welt, die sich von Massenbetrieb oder hierarchischen Strukturen überwältigen lassen, oder in den Ländern, in denen Forschung und Lehre grundsätzlich oder teilweise getrennt sind, viel schöpferische Kraft brach liegt. Man kann die besten Studenten haben und die besten Hochschullehrer, wenn das Verhältnis nicht offen und dialektisch ist, wird viel Talent verschwendet. M e i n Kollege, Steve Chu, der letztes Jahr den Nobelpreis in der Physik bekommen hat, erklärte letzte Woche einer Gruppe von Graduate Students in Stanford, warum er von Bell Laboratory in die Universität zurückgekehrt sei. Im industriellen Forschungslaboratorium fehlten die Studenten. Wenn man Studenten hat, dann gilt: „Everybody teaches everybody eise." Es gibt sehr viel schöpferische Kraft, die einfach nicht zum Ausdruck kommt, weil sie nicht in die Dialektik eingebracht wird. Auch — und dies ist sehr wichtig für die Diskussion um den Technologietransfer — besteht die erfolgreichste Methode des Wissens- und Technologietransfers in der Ausbildung von erstklassigen Studenten, von Männern und Frauen, die später einmal Führungsrollen in der Industrie und Wirtschaft einnehmen können. Studenten, die ihre Ausbildung in der Universitätsforschung erhalten, üben im ganzen gesehen vermutlich größeren Einfluß auf die Wirtschaft aus, als die patentierbaren Erfindungen von Hochschulwissenschaftlern. In der ganzen Diskussion sowohl in Washington wie auch in Bonn über Technologietransfer wird das häufig übersehen. Viele Politiker glauben, daß Technologietransfer etwas ist, das durch ein Fünfjahresprogramm ä la sozialistischer Planung geschaffen werden kann. Es kann nicht! U n d ich möchte es noch einmal betonen, weil es für mich eine wichtige Einsicht ist, vor allen Dingen aus meinen Erfahrungen mit den Ingenieurwissenschaften - in Stanford bin ich das erste M a l in meinem Leben an einer Universität mit Ingenieurwissenschaften: Die Hauptform des Technologietransfers sind die Studenten, nicht was die Professoren in der Wirtschaft anfangen. Davon gibt es natürlich auch viel, und ich k o m m e darauf zurück. Aber Silicon Valley blüht, weil die Studenten von Stanford und der University of California und von M I T usw. dort hingehen und den Technologietransfer betreiben. Oder wie wir manchmal auf Englisch sagen: Der Technologietransfer ist ein „bodily contact sport".

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Ich zitiere in diesem Zusammenhang den ehemaligen Dekan der School of Engineering von Stanford, Professor James Gibbons: „Was Studenten i m Rahmen ihrer Hochschulausbildung an den Universitäten lernen, die intensiv Grundlagenforschung betreiben, ist nichts Geringeres als die Fähigkeit von ersten Prinzipien aus zu denken und zu frischen Lösungen vorzustoßen." Gerade durch ihre intensive Mitarbeit in der Universitätsforschung, etwa in den deutschen Graduiertenkollegs, entwickeln Graduate Students jene Offenheit und Neugierde, die sie später zur Umsetzung neuesten Wissens in neuartige Produkte zur Innovation qualifizieren werden. Exzellent ausgebildete Studenten sind immer noch der entscheidendste Beitrag, den die Hochschulforschung zum Wissens- und Technologietransfer zu leisten hat. Auf den Transfer werde ich noch einmal zurückkommen.

Die Freiheit der Wissenschaft Die Freiheit der Wissenschaft ist natürlich eine „conditio sine qua non" der Universität. In der schönen Formulierung Humboldts: „Alles beruht darauf, das Prinzip zu erhalten, die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten und unablässig sie als solche zu suchen." Was den Staat betrifft (schreibt der Verfasser des Versuchs, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen), müsse er sich eben immer bewußt bleiben, daß die Sache an sich ohne ihn unendlich besser gehen würde. Die Feststellung erstreckt sich allerdings ausdrücklich nicht auf die Universitätsfinanzen. Was der ehemalige Präsident der Universität Tübingen, Adolf Theis, als das „Behördenmodell" der Hochschule bezeichnet — die Hochschule ganz und gar als staatliche Einrichtung verstanden- ist nicht das Humboldtsche Modell. Freiheit der Wissenschaft bedeutet vor allem Freiheit von der Politik. Soweit dies die Freiheit von den Politikern heißt, so geht es heute jedenfalls in westlichen Ländern, was die Lehrfreiheit betrifft, i m großen und ganzen besser als i m 19. Jahrhundert. Freilich, der Verwaltungsstaat und seine Bürokratie ersticken auch in den Universitäten einschließlich der amerikanischen Universitäten häufig die Initiative, lassen die frische Luft nicht herein. Es trifft dies auch auf die amerikanischen Privatuniversitäten zu, weil der Staat als Geldgeber für die Forschung die Tendenz hat, dem Idealtypus des Behördenmodells zu folgen. Eine Bedrohung der Freiheit der Wissenschaft ist heutzutage auch in den Beschränkungen der Forschungsfreiheit durch den Gesetzgeber zu finden, der allzu bereit ist, Wählerängste in Forschungsverbote oder in Erschwerungen umzusetzen. Freiheit von der Politik ist aber nicht nur die Beschränkung staatlicher Einflußnahme, sondern auch die Freiheit vom politischen Mißbrauch der Universität und des Katheders, die Freiheit von den Interessengruppen, es ist die Freiheit der Studenten und die Freiheit, die man den Kollegen läßt. Konformismus ist ein Phänomen, das sich in Universitäten je nach politischen Umständen sowohl auf der Linken wie auf der Rechten findet. Besonders gefährlich,

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weil weniger bemerkbar, ist die auf Mittelmäßigkeit eingeschworene Mitte. In allen Fällen ist das Phänomen des Konformismus ein Unding. Dies hat Humboldt bereits betont. Ich zitiere: „Der Freiheit droht aber nicht bloß Gefahr von dem Staat, sondern auch von den Anstalten selbst, die wie sie beginnen, einen gewissen Geist annehmen und gern das Aufkommen eines anderen ersticken". Es ist allerdings völlig fehl am Platz, wenn die Freiheit der Wissenschaft so interpretiert wird, als ob niemand das Recht oder die Verantwortung habe, Professoren für die Mängel ihrer Lehrtätigkeit zur Rechenschaft zu ziehen. Dies ist eine Verantwortung der Universität selbst. Universitäten müssen sich ständig um die Verbesserung ihrer Qualität bemühen. Es ist harte Arbeit, häufig unangenehm, und da es sich um menschliche Einrichtungen handelt, ist Vollkommenheit nicht zu erreichen. Von der Perfektibilität müssen wir aber ausgehen. Allerdings scheinen viele Universitäten der Welt den Gedanken, daß sie zur Vervollkommnung fähig sind, aufgegeben zu haben.

Freiheit von der Ablenkung Edward Shils hat die von Humboldt postulierte Einsamkeit als „Freiheit von der Ablenkung" definiert. Da die klösterliche Einsamkeit in hohen Schulen bereits im Paris des 12. Jahrhunderts abhanden gekommen war, ist dies eine handfestere, obwohl ebenfalls unerfüllte Formulierung des Postulats. In Wirklichkeit werden Professoren, Studenten und die Universitäten selbst ständig von ihren Hauptaufgaben abgelenkt, lassen sich ablenken und suchen gar die Ablenkung. Die Versuchungen sind endlos. Von Universitäten und Mitgliedern wird erwartet, daß sie Forschung betreiben, bilden und ausbilden, daß sie Beiträge zum öffentlichen Leben leisten, daß sie ihren Sachverstand der Wirtschaft zur Verfügung stellen, daß sie die Innovationsgeschwindigkeit erhöhen, d a ß sie zu Wirtschaftslokomotiven werden, daß sie an der Verbesserung gesellschaftlicher Zustände mitwirken, daß sie Beiträge zu einer höheren Lebensqualität leisten u n d daß sie Drittmittel für die Forschung einwerben. Wen wundert es da, daß die Universität als Institution höchst fraglich geworden ist. Der gegenwärtige Zustand ist nicht allein das Ergebnis von außen an die Universität gestellter Forderungen — vielmehr handelt es sich häufig u m einen Fall von „halb zog sie ihn, halb sank er hin". Den vielen Versuchungen zu erliegen, ist für viele Professoren, für die Universitäten selbst u n d gelegentlich auch für die Studenten R u h m oder Gewinn oder beides bringend und somit gar zu leicht zu rechtfertigen. W i e steht es im besonderen um die vieldiskutierte Rolle der Universitäten beim Technologietransfer? Von den Universitäten wird weltweit eine stärkere Verbindung zur Industrie gefordert, eine größere Partnerschaft. Dabei gelten das Massachussetts Institute of Technology mit der Route 128 und Stanford University mit Silicon Valley als Vorbilder für solche Partnerschaften. In der Tat steht es außer Frage, daß etwa Nord-Kalifornien der Präsenz und

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Bereitschaft seiner großen Universitäten zur Zusammenarbeit mit der Industrie viel zu verdanken hat. Z u m Beispiel sind in den 50er Jahren durch die Einrichtung des Stanford Research Parks Kontakte zwischen Universität u n d Wirtschaft stark erleichtert worden. W i r sind um Patente und die Vergabe von Lizenzen sehr bemüht. Sogenannte High-Tech-Firmen in Silicon Valley allein verbuchten i m Jahre 1994 Einkünfte von 85 M r d . Dollar. Nach einer Schätzung gingen 62 Prozent davon auf Firmen zurück, deren Gründer Verbindungen zu Stanford hatten. Sie haben Hunderttausende von Arbeitsplätzen geschaffen. Mit Einrichtungen wie etwa d e m Stanford Center for Integrated Systems haben wir ausdrücklich Partnerschaften zwischen Universitäten und Industrie hergestellt. Partnerschaften dieser Art erfordern allerdings ziemlich große Investitionen von finanziellen Mitteln und von Zeit. Die Aufgabe des Center for Integrated Systems, das der Universität gehört und seinen eigenen Gebäudekomplex auf dem Campus besitzt, ist die Integration von Hardware- und Software-Systemen. Die Teilnehmer sind 50 Professoren, 200 Studenten, vor allem Doktoranden, rund zehn Fachbereiche der Universität und etwa 15 Unternehmen der ElektronikIndustrie, einschließlich deutscher Unternehmen. Die Forschungsprioritäten des Zentrums gehen aus Konsultationen zwischen Universitäts- u n d Industrieforschern hervor. Industrieforscher hospitieren am Center, u n d Doktoranden hospitieren in den Unternehmen. Diese Art der Partnerschaft ist nicht,Ablenkung", sondern Bereicherung der Universitäten durch die industriellen Partner, da Universitäten von den industriellen Partnern lernen. Die Kontakte stärken auch das unternehmerische Element und die Einsicht, daß TechnologieTransfer ein „bodily contact sport" ist, das heißt, die Bereitschaft zum persönlichen Umgang voraussetzt. W i e im Fall der deutschen Sonderforschungsbereiche ist die relativ starke interdisziplinäre Kooperation ein besonders wichtiger Vorteil. Dennoch m u ß man sich vor allzu einfachen Erwartungen hüten. In Deutschland wird viel davon gesprochen, daß das forschungs- und technologiefreundliche Umfeld fehlt. Ahnliches macht uns Sorge, jedenfalls was die Forschungsfreundlichkeit betrifft. Und um Ihnen die Relevanz klarzumachen: Stanford bezieht 40 Prozent seiner Einnahmen aus Bundesforschungsmitteln: 4 0 Prozent! Jede Veränderung auf dem Gebiet bereitet dem Präsidenten der Universität schlaflose Nächte. Auch m u ß klar im Auge behalten werden, daß für amerikanische Universitäten die Unterstützung durch die Industrie zwar von sehr großer Bedeutung sein kann, staatliche Forschungsmittel aber ebensowenig wie in der Bundesrepublik ersetzen wird. Grundlagenforschung ist ein „public good", das die Wirtschaft, die am Gewinn orientiert ist, von sich aus nur in einem geringen M a ß erzeugen kann und wird. Und darüber sollten wir keine Illusionen haben. Dies wird häufig - sowohl in der amerikanischen wie in der deutschen Diskussion — übersehen. Japan hat das jetzt eingesehen und steigert seine staatliche Forschungsunterstützung für den Rest des Jahrhunderts seit zwei Jahren um jährlich 10 Prozent.

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Die „ Vielheit"der Universität Die Wahrheitssuche ist den Universitäten als ihre Hauptaufgabe geblieben. Aber der Gedanke, daß eine Allheit die verwirrende Vielheit durch Bildung kontrollieren könne, ist uns mehr oder minder völlig abhanden gekommen. Insofern sind wir keine Humboldtianer. Welche Fakultäten oder Fachbereiche die Vielheit einer Universität ausmachen, ist weitgehend eine Sache der Spezialisierung und des historischen Zufalls, aber auch der Erwartungen staatlicher und privater Geldgeber. Ich darf das an amerikanischen Beispielen erläutern. In Princeton, einer der besten amerikanischen Hochschulen, kann man weder Jura, noch Medizin, noch Betriebswirtschaft studieren. An der University of Chicago gibt es zwar alles das und sogar die Theologie, aber keine Ingenieurwissenschaften. Stanford scheint die Theologie nicht weiter zu vermissen, würde sich heutzutage aber ohne die Ingenieurwissenschaften und die Interdisziplinarität, die gerade sie ermöglichen, nicht als Volluniversität verstehen. M a n möchte zwar im Interesse der Kohärenz den Eklektizismus nicht ausufern lassen. Aber wir sind zur Vielheit verdammt, die die Vielheit der institutionellen Ausprägungen des Idealtypus Universität einschließt. U n d wir sollten damit nicht nur fertig werden, sondern Vielfältigkeit begrüßen, wie Bundespräsident Herzog in seiner Berliner Rede von November vergangenen Jahres gefordert hat. W i r müssen alle eine viel größere Bereitschaft haben - u n d wiederum gilt das für die amerikanischen Universitäten genau so wie für die deutschen, uns zu unterscheiden von unseren Nachbaruniversitäten, von unseren Schwesterinstitutionen. W i r müssen bereit sein, bestimmte Gebiete nicht zu verfolgen. Die Universität als eine Ansammlung einer kanonischen Zahl von Fachbereichen ist etwas, was weder in der Vergangenheit seine Rechtfertigung hat, noch in der Gegenwart möglich ist. Bildung durch Wissenschaft kann nicht mehr eine „Allheit" heraufbeschwören, aber vielleicht als auf Grenzen verweisender Topos dienen. Die größte Errungenschaft der westlichen Universität — vielleicht der westlichen Zivilisation - ist das an der Wahrheit orientierte wissenschaftliche Denken in Forschung und Lehre. U n d die Verknüpfung von Forschung und Lehre auch in der Ausbildung war immer ihr Gegenstand. N i m m t man dieses Kriterium ernst, so gibt es in der Welt viele Einrichtungen, die nur dem Namen nach Universitäten sind und viele Universitäten, die sich vielfach versündigen.

Die Massenuniversität Zu den Sünden gehört heute auch das weltweit bestehende Mißverhältnis von Universitätskapazitäten u n d Studentenzahlen. In der Tat wird es immer dringender, weiten Kreisen Erziehung zum Selbsterlernen, zum Verstehen als Denkgrundlage jeder Anwendung zugänglich zu machen, wobei Lernen — ich zitiere Heinz Maier-Leibniz — u m handeln und weiterlernen zu

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können, wichtiger ist, als Kenntnisse auf Vorrat zu sammeln und das besonders in unserem Zeitalter. Nur sind die Universitäten häufig nicht die effizientesten Einrichtungen, dies für alle zu bewerkstelligen. Am Ende leidet die Gesellschaft Schaden, weil unter den Bedingungen der Massenuniversität die Investitionen, in dem, was die Volkswirtschaftslehre „human capital" nennt, kaum als optimal bezeichnet werden können. Ihre Überlastung schwächt häufig die Fähigkeit der Universitäten, die Begabten zu fördern, und steht somit der Aufgabe im Wege, von denjenigen, die etwas können, viel zu verlangen. Gleichzeitig vernachlässigt die Universität die Ausbildung der weniger Begabten, weil sie auf diese Ausbildung gar nicht eingerichtet ist oder sich nicht einrichten will. Die Verantwortung für dieses Mißverhältnis von Nachfrage und Kapazität wird meistens den Politikern angelastet. Die sind es in der Tat, die Tür und Tor geöffnet haben, ohne das Finanzaufkommen der Universitäten entsprechend zu vergrößern. Die Politiker verhalten sich allerdings, was ihre Popularität betrifft, völlig rational. Sie bieten Wählern mehr oder minder zum Nulltarif etwas, das zwar viel Geld kostet, einen hohen Preis hat, aber dessen Last von allen Steuerzahlern — einschließlich der Armen - getragen wird. Bei gut organisierten, bessergestellten und einflußreichen Wählern kommt das natürlich gut an. Dies ist, was die öffentlichen Universitäten betrifft, in Amerika ebenso der Fall wie in Deutschland; obwohl in Amerika der Nulltarif zunehmend revidiert wird. Mir ist unklar, wie im Interesse der Zusatzfinanzierung der Universitäten, wenn ich etwas zum deutschen Thema sagen darf, angemessene Studiengebühren auf Dauer zu vermeiden sind. Auch ist dies nicht nur eine Frage der Finanzierung, sondern ebenso der Kapazitäten, da die Universität als Schulersatz oder Parkplatz zu teuer ist. Es handelt sich nicht nur um die Kosten pro Student, sondern auch - und das ist das Wichtigste für mich bei diesem Argument hier — um die „opportunity-costs", um das, was die Universität nicht leisten kann, weil sie anderweitig in Anspruch genommen wird. Allerdings würde mit Studiengebühren wenig erreicht werden, wenn sie nur zur Entlastung der Staatskassen dienen sollen. Der Deutsche Hochschulverband hat die Einführung von Studiengebühren strikt abgelehnt. In den Universitäten gehe es, ich zitiere, „nicht um Angebot und Nachfrage von Ware", die Universitäten hätten daher auch keinen Preis, „über den Zugang zur Universität sollen Fähigkeit und Eignung der jungen Menschen entscheiden, nicht deren Finanzen". Die Emotionalität dieser Formulierungen verhindert die sachliche Untersuchung des Tatbestandes. Universitäten haben einen Preis - die Frage ist nur, wer bezahlt — und es handelt sich nicht um ein Entweder-Oder. Universitätsgebühren lassen sich natürlich mit finanzieller Beihilfe für einkommenschwache Familien verbinden. Es muß nur von Anfang an darauf geachtet werden, daß die Chancengleichheit das Hauptziel der Ausbildungsförderung bleibt. In Ländern, in denen traditionell die Steuerzahler allein die Kosten zu tragen hatten, muß der Ubergang zu einem neuen System selbstverständlich dessen soziale Folgen berücksichtigen. Stanford hat sehr hohe Gebühren - etwa 20.000 Dollar im Jahr. Diese 20.000 Dollar Gebühren decken höchstens 60 Prozent unserer Kosten pro Student. Also jeder Student, auch der, der die vollen Gebühren bezahlt, wird subventioniert, von den Ehemaligen, dem Anla-

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gevermögen der Universität und so fort. Stanford bemüht sich, allen Studenten, die die Universität in einem sehr wettbewerbsorientierten Auswahlverfahren zugelassen hat, das Studium zu ermöglichen. Dieses Jahr haben wir 18.000 Bewerber für 1.600 Studienplätze. Der Zulassungsausschuß wird über die Einkommensverhältnisse eines Bewerbers nicht informiert. Diese müssen der Universität gesondert und i m einzelnen nachgewiesen werden, wenn der zugelassene Bewerber Beihilfe beantragt. 6 0 Prozent unserer Undergraduates erhalten finanzielle Unterstützung, die zu 80 Prozent aus Mitteln der Universität kommt. Der Rest sind vor allem Bundesdarlehen. Diese Unterstützung besteht aus einer Mischung von Stipendien und Darlehen, berücksichtigt sowohl die Gebühren wie den notwendigen Lebensunterhalt. 84 Prozent aller Graduate-Studenten werden aus Bundesmitteln und durch die Universität unterstützt. Nur Juristen, Betriebsräte und Mediziner bezahlen Gebühren so wie Undergraduates. Die Graduate-Studenten in den naturwissenschaftlichen Fachbereichen und die Doktoranden in den Ingenieurwissenschaften werden voll aus Forschungsmitteln unterstützt. So macht mir natürlich die Kürzung von Bundesmitteln besondere Sorgen, weil die Unterstützung der Graduate-Studenten in der Zukunft dadurch gefährdet ist. Und ich bemühe mich etwa im Augenblick darum, Endowments für diesen besonderen Zweck einzuwerben. Das amerikanische System erwartet freilich auch beträchtliche Opfer von vielen Familien, insbesondere des Mittelstandes. Hohe Hochschulkosten werden scharf kritisiert in Amerika. Universitäten können freilich die Gesetze der Volkswirtschaft ebenso wenig außer Kraft setzen wie der Staat. Die Frage ist nicht, ob jemand bezahlt, sondern wer wieviel warum bezahlt. Wenn im übrigen Universitäten, die einmal zugelassenen Studenten, wie das in der Bundesrepublik der Fall ist, nicht durch curriculare Verbindlichkeiten und Zwischenprüfungen dazu anhalten, notwendige Entscheidungen über ihren Lebensgang zu fällen, hat das Ganze entgegen dem Hochschulverband mit Fähigkeit und Eignung nur wenig zu tun. U m das Niveau zu erreichen und zu erhalten, das sich Universitäten alltäglich in der Forschung und Lehre abverlangen müssen, können wir uns aber nur wenige Kompromisse leisten. Nichts ist an einer Universität wichtiger als die Qualität der Wissenschaftler und Studenten, weil davon die Qualität des Zusammenwirkens abhängt. Deshalb ist eine lebenskräftige Universitätslandschaft, in der Zulassungen nicht beschränkt werden und die Universitäten sich nicht i m Wettbewerb miteinander ihre Studenten auswählen dürfen, können und müssen, auf lange Sicht schwer vorstellbar.

Die

Selbstverwaltung

Die Art und Weise, in der Universitäten organisiert sind, unterscheidet sich stark von Land zu Land. In angelsächsischen und deutschen Bereichen geht man grundsätzlich auch bei den öffentlichen Universitäten von der Selbstverwaltung der Universität aus, wobei freilich die

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Unterschiede in deren Ausgestaltung sehr groß sind. Was Deutschland angeht, so ist die akademische Selbstverwaltung als solche nicht auf Humboldt zurückzuführen, obwohl Humboldt, wie bereits angemerkt, staatliche Einmischung in die Freiheit der Wissenschaften im großen und ganzen als hinderlich ansah. Er bestand aber, im Interesse der Mannigfaltigkeit und Qualität der Wissenschaft, auf dem staatlichen Vorbehalt, die Ernennung der Universitätslehrer vorzunehmen. „Es ist gewiß keine gute Einrichtung, den Fakultäten darauf mehr Einfluß zu verschaffen", schrieb Humboldt, „als es ein verständiges und billiges Kuratorium von selbst tun wird. Denn auf der Universität ist Antagonismus und Reibung heilsam und notwendig, und die Kollision, die zwischen den Lehrern durch ihr Geschäft selbst entsteht, kann auch unwillkürlich ihren Gesichtspunkt verrücken." Der Hinweis auf ein verständiges und billiges Kuratorium ist nebenbei von großem Interesse. Humboldt scheint etwas anderes als Ministerialkontrolle im Auge gehabt zu haben. Humboldt hat mit seiner Skepsis zwar im großen und ganzen recht gehabt, aber dennoch und glücklicherweise hält sich der Staat meist heute von Einmischung in die Berufungen fern. Dagegen legt er in vielen Ländern der Welt von Studienplätzen zum Zulassungsverfahren und Prüfungsordnungen und Stellenplänen und Gehältern und Wettbewerbsbedingungen alle Rahmenbedingungen fest. Auch die Entscheidungsprozesse der Universitäten sind häufig im Detail staatlich geregelt, etwa in der Gremienuniversität. Angesichts der Vielfalt und der Komplexität ihrer Aufgaben sind wahrscheinlich die meisten Universitäten der Welt unzureichend strukturiert. Nehmen wir das Beispiel der amerikanischen Privatuniversitäten. Ihre Präsidenten haben grundsätzlich gegenüber den die Aufsicht ausübenden Kuratorien die volle Leitungsverantwortung, was sowohl die Finanzen wie die akademischen Angelegenheiten betrifft, sind aber de facto recht eingeschränkt. Innerhalb der Universität werden die wichtigsten Angelegenheiten — von Berufungsinitiativen zu den Lehrplänen und zur Auswahl der Studenten — grundsätzlich durch die Fachbereiche und Fakultäten entschieden. Dies muß auch so sein, denn den Präsidenten und ihren Verwaltungsspitzen fehlen in der Regel die fachlichen Q u a lifikationen, innerhalb der Disziplinen Prioritäten zu setzen. Die fehlen den Ministerien natürlich noch mehr. Wenn ich etwa auf die Lehrplangestaltung und auf Berufungsprioritäten Einfluß nehmen möchte, dann hängt viel, am Ende alles, von meiner Überzeugungskraft ab, nicht von meiner Zuständigkeit. Deshalb ist es so wichtig, daß die Universitätsleitung, selbst zur Wissenschaft gehörend, ernstgenommen wird. Ein deutscher Freund sagte mir kürzlich, die Universitäten seien Schreberkolonien mit vielen Schrebergärten. In Amerika würden viele Universitätskritiker dieser Charakterisierung zustimmen, wenn ihnen die Metapher verständlich wäre. Dennoch trifft sie im amerikanischen Fall nur beschränkt zu. Jedenfalls in den Privatuniversitäten. Zwar sind es auch hier die verschiedenen Schrebergärtner, die grundsätzlich bestimmen, welches Gemüse gepflanzt werden soll und welche Blumen man blühen sehen möchte. Die Mittel zum Ankauf der Pflanzen müssen aber vom Vorstand der Kolonie im einzelnen genehmigt werden, jedes Jahr neu. Auch wird im Vorstand der Kolonie beraten, welche Blumen wieviel Wasser, sprich Gehalt, bekommen. Mein Hauptlenkungsmittel ist die Haushaltskontrolle, insbesondere die Ein-

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Werbung und Verteilung neuer Mittel. Natürlich, wie in allen Haushalten, im Staatshaushalt wie in der Privatwirtschaft, ist vieles de jure und de facto von Jahr zu Jahr festgeschrieben. Aber unsere Globalhaushalte geben uns wirkungsorientierte Entscheidungsspielräume, ohne die wir nicht auskommen können. Rücklagen sind dabei ebenso wichtig wie neue Mittel. In der amerikanischen Hochschullandschaft glänzt bei weitem nicht alles und nicht alles, was glänzt, ist Gold. Das amerikanische Hochschulsystem ist ein hochdifferenziertes System, in dem der Idealtypus die verschiedensten Ausprägungen für die verschiedensten Erwartungen und Bedürfnisse gefunden hat. Es ist vor allem ein ohne das Profitmotiv auskommendes Wettbewerbssystem.

Die Universität

als Ort

Abschließend möchte ich mich der Zukunft und den Alternativen zuwenden und möchte etwas über die Universität als Ort sagen. Die Universität steht natürlich jeweils in einer konkreten organisatorischen Ausprägung der Institution in Raum und Zeit. Während der fast 1000jährigen Geschichte der Universität ist sie immer auch verwurzelt gewesen. Die AlbertLudwigs-Universität ist die Freiburger Universität, die University of Chicago definiert sich als einem Ort zugehörig. Die Universität als Ort hat ihre prägnanteste Ausprägung in der angelsächsischen Welt gefunden: Oxford, Cambridge, Yale, Harvard, Stanford sind Universitäten, wo Studenten für viele Jahre hingehen, und mit denen sie sich meistens für den Rest ihres Lebens verbunden fühlen. Diese Art der Identifizierung ist Deutschland relativ fremd geblieben. Vor allem in den Zeiten, in denen Studenten und Professoren leicht von Universität zu Universität, von Ort zu Ort wechselten. Relevanter noch, was die deutsche Situation betrifft, ist wahrscheinlich die Tatsache, daß diejenigen, die die formellen Voraussetzungen für den Zugang zur Universität vorweisen können, das Studium häufig als Erfüllung eines Dienstleistungsanspruchs an den Staat betrachten und nicht als eine Mitgliedschaft in einer besonderen Korporation. Dennoch, überall in der Welt sind die Universitäten derzeit noch „lokalisiert". Dieses kann sich nicht nur, sondern wird sich unter dem Einfluß der Informationstechnologie ändern. Die Kommunikationsgesellschaft wird anders kommunizieren als 400 Studenten in einem Hörsaal zu versammeln. Und ich möchte dies wirklich besonders betonen, weil mir immer wieder folgendes auffällt: Wenn ich das mit deutschen Kollegen bespreche, werde ich betrachtet, als ob ich über etwas spreche, was - auch nicht möglicherweise — überhaupt keine Realität haben wird; als ob ich von einem anderen Stern käme, und ich glaube nicht, daß ich von einem anderen Stern komme, obwohl Kalifornien manchmal auf einem anderen Stern zu liegen scheint. Der weltweiten Vernetzung der Wissenschaftler wird eine weltweite Vernetzung der Studenten folgen. Wollte ein Kölner im 12. Jahrhundert das Corpus Iuris Civilis studieren, so

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hatte er keine Wahl als zu Pferd zu steigen und nach Bologna oder Padua zu reiten. Heute sind Rechtsquellen ebenso im Internet zu finden wie lateinische Originaltexte von Virgil oder Shakespeares Werke. Jane Austen hat ihre eigene homepage, deren Inhalt — wie mir kürzlich ein Kollege sagte - ein Drittel seiner Vorlesungen überflüssig gemacht hat. In der Zukunft wird man Lehrstoff ebensogut, vielleicht besser als in manchem Hörsaal, elektronisch vermitteln. Die virtuelle Universität kennt keine Ländergrenzen und wird sich wahrscheinlich überwiegend des Englischen als lingua franca bedienen. Dies ist keine Zukunftsvision, sondern eine entstehende Gegenwart. Soweit die Universität vor allem Lehranstalt geworden ist, wird sie zum Teil ersetzbar sein und wird ersetzt werden. Was die nächsten Jahre angeht, kann diese Entwicklung überschätzt werden, langfristig wird sie derzeit vor allem hierzulande noch unterschätzt. Vier Aspekte der Informations technologie, die auf die Universität als Institution einen Einfluß bereits haben oder in der Zukunft haben werden, sind dabei von besonderer Bedeutung. Erstens ist da zunächst einmal das World Wide Web (WWW) als enzyklopädische Informationsquelle. Sie können viele Zeitungen der Welt jederzeit angehen und lesen in Volltext, Bibliothek und Archiv. Schon heute sind Datenbanken mit demographischen, wirtschaftlichen und politischen Informationen weltweit zugänglich. Alle Daten — fast alle Daten - des statistischen Bundesamtes der Vereinigten Staaten können heute über das W W W abgerufen werden. Ein Soziologe, ein Demograph braucht in keiner Weise nach Washington zu reisen, um die Daten dort zu studieren. Das kann er alles zu Hause an seinem Computer tun. Gerichtsentscheidungen - alle amerikanischen Gerichtsentscheidungen - sind heute auf Computer gespeichert und werden sowohl von Studenten wie Anwälten und Professoren praktisch nur noch in der Form gelesen. Und sie sind natürlich auch sofort zu haben. Das schafft Möglichkeiten, die uns in der Vergangenheit auch nicht annähernd zur Verfügung gestanden haben. Die Kataloge vieler Universitätsbibliotheken aus der ganzen Welt können eingesehen werden, ohne daß es einer Forschungsreise bedarf. Zunehmend sind Texte der Weltliteratur ebenso lesebereit wie wissenschaftliche Zeitschriften oder Vorveröffentlichungen. Bei naturwissenschaftlichen Zeitschriften insbesondere wirkt sich das jetzt sehr stark aus. Führende Zeitschriften werden jetzt voll elektronisch veröffentlicht. Ganze Archive entstehen weltweit, Regierungsdokumente sind im Wortlaut zu finden, Fotos können reproduziert, Film- und Tonmaterial abgerufen werden. Da diese Dokumente auf spezifische Inhalte hin befragt und Querverbindungen mit Leichtigkeit hergestellt werden können, gibt es schon heute Forschungskapazitäten, von denen man in der Vergangenheit nicht einmal träumen konnte. Und in der Vergangenheit heißt, als ich Student in Freiburg war. Davon hätte niemand träumen können. Das W W W als Quelle quillt bereits über in einer Weise, daß man dringend der Kanäle bedarf, die die Wasser in Bahnen lenken, oder um auf eine andere Metapher zurückzukommen, im Augenblick haben viele der homepages den Charakter von Schrebergärten mit Wildwuchs. Das Ganze ist wundervoll unbefangen, robust und weit offen. Von der Universität her gesehen, ist das entscheidende, daß das W W W als Informationsquelle, Bibliothek und Archiv keiner Präsenz an Ort und Stelle der Universität bedarf und auch der Rolle der Universität als Organisatorin von Wissen und Information zum Teil entraten wird.

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Zweitens, beginnt sich die Art der Lehre unter dem Einfluß der neuen Kommunikationsmittel und -formen bereits zu ändern. Was man in der Vergangenheit etwa in dem großen anatomischen Theater in Padua nur in den oberen Rängen stehend sehen konnte, wird allen in der Zukunft auf d e m Bildschirm zugänglich sein: Eine dreidimensionale Vorführung eines Körpers oder Experiments, die der Student ebenso wie Tabellen oder Bilder manipulieren kann, u m Zusammenhänge zu erforschen und zu erlernen. Das alles ist bereits eine beginnende Realität. Die interaktive Vorführung wird der Vorlesung als Art der Wissensvermittlung nicht selten überlegen sein, auch ist sie nicht an den Hörsaal gebunden. Der dritte Aspekt ist der wichtigste, die Universität zugleich befreiend und bedrohend. Für vieles, was in der Universitätslehre heute an Raum und Zeit gebunden ist, werden diese Beschränkungen wegfallen. Die Fernuniversität als Lehruniversität beginnt eine Realität zu erlangen, die alles andere als spekulativ ist. In Stanford erteilen wir zum Beispiel seit Jahren jetzt 1.200 hochbegabten Oberschülern in der ganzen Welt allein über das Internet mathematischen Unterricht, der so fortgeschritten ist, daß Schulen ihn nicht vermitteln können. Das Lehrangebot im W W W ist i m Augenblick noch schwach, aber wird größer. Jeder Student in der Welt, sofern er die Gebühren entrichtet, kann sich, ungeachtet der Ländergrenzen, an Universitäten einschreiben, die sich dieser neuen Kommunikationsarten statt des Präsenzunterrichts bedienen. Ich bekam neulich einen Brief von einer Mutter aus Singapur, die mir erzählte, daß ihre zwölfjährige Tochter in Stanford diesen Kurs mache über das Internet. Eine weltweite Konkurrenz ist im Entstehen begriffen, die Ausbildungs- und Prüfungsmonopole kaum eindämmen werden. Der vierte Aspekt ist die elektronische Verbindung von Wissenschaftlern und Studenten weltweit, die es schon jetzt ermöglicht, mit Hilfe von Video-Konferenzen zum Beispiel medizinische Ferndiagnosen zu stellen oder Seminare abzuhalten. Vor einiger Zeit sah ich ein ganzseitiges Inserat der Deutschen Telekom in der New York Times, in dem die Telekom ihre Kapazitäten auf dem Gebiet der „telemedicine" anpries. O b zu recht, weiß ich nicht, aber der Slogan interessierte mich: „Telemedicine gives Doctors a second oppinion. In seconds." Der institutionelle Charakter der Universität wird damit immer fragwürdiger, wobei selbst die Verbindung von Forschung und Lehre weniger ortsgebunden sein wird, als dies noch heute der Fall ist. W i r d es eine Welt ohne Universitäten geben? Nun, weitgehend fehlt die Universität bereits der Welt, wenn wir sie an dem Idealtypus messen. J e m a n d hat mich neulich als einen NeoHumboldtianer bezeichnet. Ich bin kein Neo-Humboldtianer. Ich bin ein Humboldtianer und ohne jede Scham. Die Verbindung von Forschung und Lehre ist vielerorts nicht annähernd so stark, wie sie sein sollte. Die Freiheit der Wissenschaft ist nicht so robust, wie wir es uns wünschen müßten. Freiheit von der Ablenkung wird von vielen nicht einmal gesucht. Interdisziplinäre Kooperation scheitert häufig an der mangelnden Konsenzfähigkeit. Die Wahrheitssuche als Hauptaufgabe der Universität wird geschwächt in dem Maße, in dem die Universität von ihren Mitgliedern oder der Gesellschaft politischen Zwecken gewidmet wird. Ihre Überlastung erschwert der Universität die Begabtenförderung, die eigentlich ein Schwerpunkt sein müßte.

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Die organisatorische Struktur der Universität behindert häufig das Überleben der Universität als Institution. Die Universität als Ort wird zunehmend ihren zwingenden Charakter verlieren. Die Universität als konkrete institutionelle Ausprägung des Idealtypus an einem bestimmten Ort und, im allgemeinen, als Organisationsform für die Verfolgung als kohärent verstandener Zwecke wird sich diesen Gegebenheiten stellen und ihre eigenen Zusammenhänge neu durchdenken müssen. Einzig eine Reformation jeder Universität - Reformation, nicht Reform — aus sich selbst heraus, eine Wiedererfindung der Universität kann ihr neue Stärke verleihen. Das gilt für Amerika genauso wie für Deutschland. W i e eine der Reformen, die aber eigentlich eine Reformation sind, die Stanford im Augenblick macht und die einen Humboldtianischen Geist - wenn Sie so wollen — reflektiert, ist die Tatsache, daß wir, beginnend mit diesem Herbst, versuchen werden, jedem unserer Erstjahres-Studenten unter den Undergraduates ein Seminar anzubieten, das von Professoren gelehrt wird u n d das auf 16 Studenten beschränkt ist. U n d in einer Umdenkung unserer gegenwärtigen Nutzung von Mitteln und der Einwerbung von Neumitteln sind wir im ersten Jahr dazu gekommen, daß wir 7 5 Prozent aller unserer 1.600 Erstjahr-Studenten ein solches Seminar angeboten haben. Das ist eine Reaktion auf das, was ich als die Bedingungen der Zukunft ansehe. Die Universität wird nur insofern überleben als sie unersetzbar ist. Aber was ist an der Universität unersetzbar? Wahrscheinlich nur die Verbindung von Forschung und Lehre i m Labor und Seminar, jene Arbeitsbedingungen für Professoren und Studenten, die „Geselligkeit" voraussetzen u n d wirklich ermöglichen. Das verlangt aber den persönlichen Umgang, ein akzeptables und daher teures Verhältnis von Kapazität und Studentenzahlen. Informationstechnologie als solche wird die Lehre zum Teil verbilligen und sogar verbessern. Paradoxerweise sehe ich aber keine wirkliche Kostensenkung für die Universität als Institution, eher umgekehrt. W i r investieren im Augenblick 40 Millionen Dollar in unsere informationstechnologische Infrastruktur, damit wir die Klassenräume so umgestalten können, daß, wenn die Studenten einen Klassenraum benutzen, sie auch ihre Laptops dort anschließen können und die elektronischen Möglichkeiten genutzt werden können. Goethe hat im Jahr 1791 einen kleinen Vortrag, der sehr viel kürzer war als meiner, über den Bedarf an Geselligkeit bei Künstlern und Wissenschaftlern gehalten. Und das möchte ich abschließend zitieren: „Die Freunde der Wissenschaften stehen oft sehr einzeln u n d allein, obgleich der ausgebreitete Bücherdruck und die schnelle Zirkulation aller Kenntnisse ihnen den Mangel von Geselligkeit unmerklich macht. W i r verdanken daher d e m Bücherdruck und der Freiheit desselben undenkbares Gute und einen unübersehbaren Nutzen; aber noch einen schönen Nutzen, der zugleich mit der größten Zufriedenheit verknüpft ist, verdanken wir dem lebendigen Umgang mit unterrichteten Menschen und der Freimütigkeit dieses Umgangs. Oft ist ein W i n k , ein Wort, eine Warnung, ein Beifall, ein Widerspruch zur rechten Zeit fähig, Epoche in uns zu machen." Was Goethe als die „schnelle Zirkulation aller Kenntnisse" durch den Bücherdruck bezeichnete, wird jetzt, mit Hilfe der Informationstechnologie eine unmittelbare Zirkulation. Auch diese Entwicklung wird „unübersehbaren Nutzen" bringen. Sie wird aber auch, so hoffe ich,

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den „lebendigen und freimütigen Umgang unterrichteter Menschen in der Universität" ebensowenig ersetzen, wie dies der Buchdruck getan hat. Freilich setzt dies voraus, daß wir die Bedingungen fiir diesen Umgang an den Universitäten wieder herstellen, damit der Mangel an Geselligkeit nicht „unmerklich" bleibt. Ohne Geselligkeit, ohne die Verbindung der „geübten" Kraft mit den „nach allen Richtungen mutig hinstrebenden Studenten" ist die Universität ersetzbar.

Athen aus Alexandrien zurückerobern Bildung im Informationszeitalter Wolfgang Frühwald

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ie Zeiten, in denen die Lektüre von Thomas Manns Roman „Der Zauberberg" ein Scheidungsgrund gewesen ist, sind vermutlich endgültig vorbei. Bekannt ist die

Geschichte, wonach sich die Filmschauspielerin Ava Gardner von einem ihrer

Ehemänner wegen seelischer Grausamkeit scheiden lassen wollte. Auf die Frage des Richters,

worin die seelische Grausamkeit denn bestehe, soll sie geantwortet haben: „He forced me to read this damned book!" Die Vorstellung, daß Mickey Rooney oder Artie Shaw oder Frank Sinatra - sie alle waren Ehemänner Ava Gardner's — die Ehefrau gezwungen haben sollen, Thomas Manns sehr deutschen Bildungsroman zu lesen, ist fast zu schön, um wahr zu sein. Offenkundig ist dies eine Anekdote vom Ende des Zeitalters jenes neuhumanistischen Bildungsideals, welches die bürgerliche Welt des Eurozentrismus geprägt hat, und das in der „political correctness" genannten Kulturrevolution - Symptom, nicht Ursache eines weltweiten Strukturwandels - zugrundegegangen ist. Die Bindestrichgesellschaften, die seither in bunter Folge die bürgerliche Gesellschaft zu ersetzen suchen, von der Wohlstandsgesellschaft über die Leistungsgesellschaft bis zur Informations- und Wissensgesellschaft, machen nur stets von neuem bewußt, welche Lücke der Untergang der bürgerlichen Gesellschaft hinterlassen hat. Ihr Bildungsideal, das freilich schon im 19. Jahrhundert ideologisiert wurde und damit den Satirikern anheimgefallen ist, war getragen vom Glauben an die Möglichkeit einer Selbstentfaltung des Individuums durch die persönlichkeitsbildende Suche nach Wahrheit in Wissenschaft und Kunst. Die dieses Ideal tragende und von ihr getragene Institution war die Universität, welcher der Brückenschlag zwischen dem Viel- und Spezialwissen und der identitätsstiftenden Allgemeinbildung anvertraut war. Er ist ihr nur selten gelungen. 1846 schon hat Jacob Burckhardt über die scheingebildeten Vielwisser gespottet und Humboldts Bildungsideal, das in der Beschränkung den Meister fand, in Gefahr gesehen. Humboldt nämlich, dessen Universitätsideal am reinsten in den viel bewunderten „Research Universities" der amerikanischen „Ivy League" realisiert ist, hat nicht auf Fülle und Breite der Information gesetzt, sondern vorgeschlagen, daß junge Menschen ihre „Kraft in einer möglichst geringen Anzahl von Gegenständen, an soviel möglich, allen Seiten üben (sollten) und alle Kenntnisse

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dem Gemüt nur so einpflanzen (sollten), daß das Verstehen, Wissen und geistige Schaffen nicht durch äußere Umstände, sondern durch seine innere Präzision, Harmonie und Schönheit Reiz gewinnt." Goethe brauchte in „Wilhelm Meisters Wanderjahren" diese grundlegende, vielleicht sogar zeitlose Maxime des neuhumanistischen Bildungsideals nur noch zu zitieren, um den Grundgedanken seiner „Pädagogischen Provinz" zu gewinnen:,»Allem Leben, allem Tun, aller Kunst m u ß das Handwerk vorausgehen, welches nur in der Beschränkung erworben wird. Eines recht wissen und ausüben gibt höhere Bildung als Halbheit im Hundertfältigen."

Information und Wissen Die Auseinandersetzung zwischen Information und Wissen also, zwischen der erdrückenden Gegenwart des Gegenständlichen und dem methodisch erschlossenen, gewichteten und gewerteten Wissen durchzieht die Geschichte der Universität von Beginn an und erreicht in heutigen Auseinandersetzungen nur deshalb einen Höhepunkt, weil die Information weltweit vernetzt, rasch verbreitet und allen zugänglich gemacht werden kann. Der Szientismus, das heißt der Glaube an die Allverfügbarkeit des Wissens, an seine die Welt restlos erklärende Kraft, ist dabei die stets gegenwärtige Gefahr moderner Wissens- und Wissenschaftswelten, in Nietzsches Figur des Bildungsphilisters hat sie Gestalt gewonnen. W i r sollten uns nicht täuschen: Solch scheinbar abstrakte Überlegungen zum Begriff der Bildung, zum Verhältnis von Wissen und polymathe (also bloßer Information) entfalten enorme politische Wirkungen (auch und gerade heute), denn Nietzsche hat sie 1873 aus der Beobachtung des chauvinistischen deutschen Uberlegenheitsgestus über das besiegte französische Nachbarvolk gewonnen, und Karl Löwith meinte zurecht, diesem Typus des Bildungsphilisters in den politisch formierten Menschen der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts wieder begegnet zu sein. Die verhängnisvolle Verwechslung von Bildung mit Belehrtheit, von der die deutsche Großmannssucht im Kaiserreich ihren Ausgang genommen hat, wurde von Nietzsche — aktuell genug auf den Verlust des reinen Begriffs der Kultur zurückgeführt: „Vieles Wissen und Gelernthaben i s t . . . weder ein notwendiges Mittel der Kultur, noch ein Zeichen derselben und verträgt sich nötigenfalls auf das beste mit dem Gegensatze der Kultur, der Barbarei..." Inmitten der technizistischen Effizienzausrichtung unserer Universitäten, die als der gemeinsame Grundzug scheinbar diffuser Reformbemühungen heute erkennbar ist, scheint mir die Auseinandersetzung um informatives oder orientierendes Wissen, u m den Zusammenhang von theorielosem Experiment und Barbarei (ich verweise nur auf die beschämende Debatte um die Humanklonierung), u m die bindende oder trennende W i r k u n g neuer (elektronischer) Kulturtechniken lediglich als eine Variante der Bildungsdebatten, wie sie späte Zeiten (oder besser: Zeiten, die sich selbst als späte Zeiten empfinden) häufig signieren. A m Ende des 19. Jahrhunderts war „Bildung" als Begriff derart denunziert, daß sie ganz auf die Seite

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bloßer „Belehrtheit" gerückt schien, heute könnte das Wort, neu definiert und mit Inhalt gefüllt, dem Innovations-, Informations- und Effizienzgerede ein Widerlager bilden. „Ich bin fast zu dem Satz gediehen:", schrieb Theodor Fontane, unter ausdrücklichem Bezug aufNietzsches Bildungskritik, vor rund 100 Jahren an seine Tochter, „ 'Bildung ist ein Weltunglück". Der Mensch muß klug sein, aber nicht gebildet. Da sich nun aber Bildung, wie Katarrh bei Ostwind kaum vermeiden läßt, so muß man beständig auf der Hut sein, daß aus der kleinen Affektion nicht die galoppierende Schwindsucht wird." Deutlicher kann der Begriff von Bildung gegen Scheinbildung, von kulturell fundiertem Wissen gegen die Aufschüttung des bloßen Informationsberges, von Universität gegen Ausbildungsbetriebe kaum noch beschrieben werden. Es ist der immer erneute und daher nicht veraltende Versuch, aus der Fülle des je verfügbaren und progredient (weil an den Universitäten ständig neu produzierten) wachsenden Wissens Weisheit zu gewinnen, in der klugen Beschränkung der Gegenstände die Fähigkeit zu erlangen, auf alle Wechselfälle des Lebens flexibel reagieren zu können, nicht nur zu lernen, sie zu ertragen, sondern sie zu gestalten.

Universität als gesellschaftlicher Lastesel Anders ausgedrückt: Die Universität ist kein Experimentierfeld für gesellschaftliche Demokratisierung; dazu wurde sie in den alten Bundesländern vor genau dreißig Jahren ausersehen, während ihr in der DDR die Heranbildung eines „sozialistischen Menschen" angesonnen wurde; ihre Aufgabe besteht nicht in der Strukturverbesserung wirtschaftlich schwacher Regionen - dies aber war der erklärte politische Wille der Gründungsphase in den siebziger Jahren; sie ist kein Parkplatz für Menschen, die im Beschäftigungssystem keine Aufnahme finden oder vorzeitig aus diesem System entlassen worden sind - als ein solcher aber wurde die Universität (nicht die Fachhochschulen) in den achtziger Jahren instrumentalisiert. Heute soll die Universität mit den ihr vorgeschlagenen Patentoffensiven und der Stärkung des Anwendungsbezugs der Forschung ersetzen, was an Industrieforschung abgebaut worden ist. Auch dieser Aufgabe wird sich die Universität unterziehen, wie sie sich seit jeher den politisch-gesellschaftlichen Forderungen erschlossen hat. Ihre Nachgiebigkeit wurde ihr - nach einer Frist von jeweils zehn Jahren — ausschließlich auf der Negativseite verbucht, weil erkennbar war, daß die als gesellschaftlicher Lastesel gebrauchte und mißbrauchte Universität zwar beladen und überladen werden, aber — o Wunder ! - dadurch nicht zum Innovationsgalopp angetrieben werden konnte, daß unter der Fülle der Aufgaben das Gesicht der Universität unkenntlich geworden ist. Als sich die berüchtigte „Überlast" abzeichnete und die Universitäten den Öffnungsbeschluß der Kultusministerkonferenz hingenommen haben, ernteten sie kurzfristig Bewunderung (auch Verwunderung), als die Überlast zur Normallast wurde, hat kaum noch jemand hingesehen; seit die Universitäten unter der Überlast zusammenzubrechen drohen, tönt es von allen Seiten, sie seien doch selbst an ihrer Misere schuld, und phantasielosen Bil-

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dungspolitikern, die akademischen Unterricht mit den ihnen allein in Erinnerung gebliebenen Repetitorien verwechseln, fällt nichts anderes ein, als die Pflichtstundenzahl der Professoren nochmals - auf Kosten der Qualität - zu erhöhen. Der Universität aber ist über all diesen Wandlungen und Wendungen der Begriff von sich selbst abhanden gekommen, so daß es fast reaktionär klingt, im Lärm der aufgefahrenen Blasorchester nochmals an den Kammerton zu erinnern. Ernst Robert Curtius hat ihn im Briefwechsel mit T. S. Eliot - A. Warburg zitierend - angeschlagen: „Athen w iH eben immer wieder neu aus Alexandrien zurückerobert werden." Dies scheint mir die prägnante Fassung der Idee der Universität.

Wie steht es um die Wissenschaft? Als M a x Planck 1880 mit 22 Jahren habilitiert wurde, gab es zwei Lehrstühle seines Faches, der Theoretischen Physik, in Deutschland. Er könne, meinte einer seiner Mentoren gönnerhaft, den von ihm eingeschlagenen Weg ruhig weitergehen, dürfe sich aber keine Karrierehoffnungen machen, da im Grunde alles Wissenswerte bereits erforscht sei. M i t M a x Planck aber hat die moderne Physik erst begonnen. M i c h hat diese Anekdote fatal an die Diskussion um Hogarths These erinnert, die am Ende des Jahres 1997 für Aufregung gesorgt hat, weil es wirklich Neues kaum noch zu erforschen gebe, die Forschung also zu viel, nicht zu wenig Geld erhalte. Ich bin in den letzten sechs Jahren viele tausend Meilen rings u m die Erde geflogen, um die immer gleiche Frage zu stellen: „Wie steht es u m die Wissenschaft?"- u m auf allen Kontinenten die immer gleiche Antwort zu bekommen: „Die Wissenschaft steht vor einem Aufbruch, wie er in einem halben Jahrtausend vielleicht einmal vorkommt." Die Vorstellung einer zum globalen Dorf geschrumpften Welt, die gesteigerte Mobilität, die staunenswerten, Kontinente überspannenden Kommunikationsmöglichkeiten, die weltweite Kompetition und die von uns benutzte wissenschaftliche Einheitssprache (BE = Bröken English) haben uns blind dagegen werden lassen, daß die Welt in Wahrheit nicht kleiner, sondern unendlich viel größer geworden ist, daß wir Wissenskontinente erschlossen haben, von denen unsere Vorfahren nur in Märchen und Mythen träumen konnten, das Innere der Materie, das Innere des Lebens, das Innere der Erde, das Innere des Weltraums. W i r mußten uns, bei unseren Entdeckungsreisen in fremde Wissenskontinente nicht so verhalten wie die Konquistadoren des 16. Jahrhunderts, die ihre Schiffe verbrannten, ehe sie sich an die Eroberung der neuen Welt machten, denn die Schiffe, die uns an die Ufer fremder Kontinente getragen haben, stehen nutzlos, aber gut gepflegt, im M u s e u m für moderne Wissenschaft und Technik. W a r u m also wundern wir uns, wenn sich unseren Entdeckungsreisen jetzt jene anzuschließen suchen, denen es nicht u m die Entdeckung neuer Dimensionen der Welt, sondern um die Schätze an Gold und Juwelen geht, die dabei zu finden sein sollen? Warum wundern wir uns, daß die Entdeckungsreisenden selbst das mythische Eldorado schon mit Besitzansprüchen überziehen und unter sich verteilt haben, noch ehe sie es entdeckt haben?

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Allüberall dringt der Erkenntniswille des Menschen derzeit in Räume vor, die sich als Welten eigener Art erweisen: in die Welt der Kausalität, der Komplexität, der Diversität. Wir sehen, daß das „dominium terrae", die Herrschaft der Bewußtseinswesen und ihres Sprachvermögens über die Erde, nur einen schmalen Pfad durch die Galaxien der Weltinnenräume und die Vielfalt der Lebensformen gelegt hat, daß zum Beispiel in bakteriellen Lebensformen ein früher Schöpfungstag nicht durch den sechsten Tag, den Tag des Menschen, abgelöst worden ist, sondern daß der zweite und der dritte Schöpfungstag gleichsam neben dem fünften und dem sechsten fortexistieren; und sollte es dem in seiner Natur komplexesten, daher leistungsfähigsten Wesen, das wir kennen, dem Menschen, tatsächlich gelingen, sich und seinesgleichen und die von ihm geschaffenen Kulturen von der Erde zu tilgen, wird es diese Bakterien nicht kümmern. Die neue Evolution, heißt es in dem von „cockroaches" geplagten Amerika, wird aus den Kakerlaken beginnen - und das ist mehr als ein Scherz.

Anerkennung neuer Wirklichkeiten Der Aufbruch der Wissenschaft, an dessen Saum wir stehen, wird, nach der Explosion des Experimentellen und inmitten der entstandenen Datengebirge, von der Theorie ausgehen und von der neben Experiment und Theorie dritten Methode wissenschaftlichen Erkennens, von der Visualisation des Abstrakten, der Computersimulation. Die Theoretische Biologie scheint mir derzeit in einer ähnlichen Situation zu sein wie die Theoretische Physik am Ende des 19. Jahrhunderts - in ihrer Infrastruktur als Disziplin und in der unterschätzten Sprengkraft ihrer Ideen. Daß der Entwurf einer allgemeinen Theorie des evolutiven Wandels und damit die systemische Annäherung weit voneinander entfernter Wissens- und Forschungsfelder heute in den Bereich des Möglichen gerückt ist, darin sind sich Kulturphilosophen (wie George Steiner) und Biologen (wie Rüdiger Wehner) inzwischen einig. Wie eine universelle Säure, heißt es, werde diese Theorie in alle Fächer und Disziplinen eindringen und die Bilder vom Menschen, von der Natur, von der Schöpfung zersetzen. Dann erst wird der „szientifische Schrecken", das Erschrecken der Menschheit vor den Fähigkeiten, den Möglichkeiten und den radikalen Fragen der Wissenschaft dem „kosmischen Erschrecken" des 19. Jahrhunderts vergleichbar sein, das uns von Jean Paul und Goethe bis Gottfried Benn, von Johann Heinrich Füssli bis Salvador Dali in der Kunst aufbewahrt ist. Uns stehe, meint Rüdiger Wehner, eine neue große Kränkung bevor. Nach der kopernikanischen Kränkung, welche den Menschen aus der Mitte des Weltalls katapultiert hat, nach dem kosmischen Erschrecken, das ihm ein leeres Weltall gezeigt, ihm seine Einsamkeit in den Wüsten des Kosmos bewußt gemacht hat, nach der freudianischen Kränkung, welche auch die erhabenen Gefühle des Menschen an seine Natur, an sein Triebleben zurückgebunden hat, stehe uns nun die darwinische Kränkung bevor, wonach der Mensch auf einer umfassenden Treppe der Natur letztlich sogar mit der Bäckerhefe verwandt ist.

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Offenkundig ist die Rede von „menschlichen Genen" irreführend, weil es keine pflanzlichen, tierischen, menschlichen Gene gibt, sondern nur Gene, in denen die archaische Erbsubstanz des Lebens hochkonserviert erhalten ist. Auch wenn eine konsistente Theorie der Evolution, hin orientiert auf Organismen, also komplexe Gebilde, bei denen das Ganze stets mehr ist als die S u m m e ihrer Teile, noch nicht die lange gesuchte Weltformel bringen wird, so wird sie doch die Gewichte von der Seite des Zufalls in Richtung auf die Notwendigkeit hin verrücken (R. Wehner), sie wird in das Problem der Ursächlichkeit eindringen und damit Anspruch auf die Definitionshoheit im Reich der Begriffe erheben können. Die Fülle der ihr zur Verfügung stehenden Daten u n d die elektronischen Werkzeuge zu deren Generierung und Bewältigung rufen nach einer solchen Theorie. Sie wird - das ist vorherzusehen — zunächst wohl kaum „erzählt" werden, sondern in nur schwer laisierbare mathematische Formeln gefaßt sein. Noch halten sich Theologie und Philosophie in dieser Debatte auffallend zurück, während Linguistik, Soziologie, Informatik u n d andere Grenzfächer der Geisteswissenschaften gleichsam mit fliegenden Fahnen in das Lager naturwissenschaftlicher Theoriebildung überlaufen. Daß sich aber bei solchen Grenzverschiebungen zusammen mit den Methoden auch die Inhalte der Fächer und die Umrisse ganzer Disziplinen, daß sich letztlich die Inhalte unserer Bildung ändern werden, steht für mich außer Zweifel. Es ist eben, als würde unter all den kulturellen, ästhetischen, philosophischen und wissenschaftlichen Überschreibungen, mit denen wir das Buch der Natur bedeckt haben, die ursprüngliche Schrift des Lebens sichtbar, die zu radikal neuen Denkformen, zu veränderten Welt- und Menschenbildern, zur Überprüfung unserer Ethikkonzepte, kurz: zur Anerkennung neuer Wirklichkeiten zwingt.

Perspektiven So eröffnen sich aus der Wissenschaft wenigstens drei Perspektiven in das neue Jahrhundert: 1. W i r sind den Kausalitäten des Lebens auf der Spur, seiner Entwicklung, seinen Entwicklungsgeschwindigkeiten, seinen Defekten, seinen für den Menschen oft katastrophalen oder verhängnisvollen Bewegungen. W i r sind auch den Ursachen von Naturkatastrophen und Erdbewegungen auf der Spur, welche die Fenster in die Vergangenheit des Planeten und damit in seine Zukunft weiter als je zuvor öffnen. Die Kontinuität des Lebens wird plausibler, ohne daß die monistische Hoffnung besteht, sie völlig zu entschleiern. Sie entrückt uns vielmehr mit jedem neuen Erkenntnisschritt weiter in das Dunkel der komplexen Funktionszusammenhänge. 2. W i r sehen uns in allen natürlichen, sozialen und kulturellen Systemen der komplexen Welt gegenüber, die (als Organismus) stets mehr ist als die S u m m e ihrer Teile und daher als ganze erforscht werden muß. Das aber meint Globalisierung in der Wissenschaft, ein Ansatz, der vorbildlich auch für ökonomische Zusammenhänge werden könnte. W i r können - meint Franz Xaver Kaufmann - die Welt als ganze nicht mehr denken. Aber wir können und müs-

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sen, vorsichtig und verantwortungsbewußt, uns Schritt für Schritt bewußt machen, was wir tun, welche Risiken und Chancen wir eröffnen oder verspielen. 3. Damit aber erwacht ein Begriff zum Leben, der seit dem 18. Jahrhundert in einer idealistisch-abstrakten Nische geschlummert hat: die Menschheit, die jetzt als ganze und in ganzer Vielfalt erstmals erfahren werden kann. Und hier ist der Ort der Geisteswissenschaften, da die Frage nach der Gesamtheit der mit Bewußtsein und Reflexionsvermögen ausgestatteten Wesen zugleich die Fragen nach dem kulturellen und sozialen Wandel auslöst. Noch immer ist das Verhältnis zwischen natürlicher Evolution und kulturellem Wandel (also zwischen qualitativ unterschiedenen Vorgängen) ideologieanfällig. Die historische Anthropologie, die zum Beispiel „nicht mehr nach unveränderlichen und unvergänglichen Mustern (nach Natur-in-Kultur), sondern nach spezifischen Weisen der Zurichtung, Disziplinierung und technischer Implementierung des (menschlichen) Körpers (nach Kultur-in-Natur)" fragt (A. Assmann), scheint im Zeichen des kulturellen Gedächtnisses, in dem wohltätiges Vergessen mit eingeschlossen ist, nicht nur ein neues, an die Natur- und Lebenswissenschaften anschlußfähiges Paradigma heraufzuführen, sondern auch einen neuen Bildungsbegriff zu formieren. Nur eine Skizze jenes großen Spieles habe ich hier gegeben, das in der Wissenschaft weltweit eröffnet ist. Es wäre reizvoll, die Position Europas und Deutschlands auf diesem Spielfeld zu bestimmen, so negativ wie die öffentliche Debatte glauben macht, fiele diese Ortsbestimmung nicht aus. Doch verweise ich auf zweierlei: 1. Wer dieses Spiel nicht mitspielt, wird schon in naher Zukunft auch von den anderen Spielfeldern, etwa dem der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit, gefegt werden. Wer der Neugier, dem freien Erkenntnisstreben keinen Raum gibt, braucht nach Profit nicht mehr zu fragen. 2. Es gibt - weltweit - nur einen prominenten Ort, an dem dieses freie Spiel der Grundlagenwissenschaft und ihres Aufbruchs in ein von ihr geprägtes Zeitalter gespielt wird und gespielt werden kann: die Universität. Das ist keine Anmaßung, sondern die Feststellung einer Differenzqualität, denn nur der Universität, die das Privileg hat, junge Menschen für grundlegende Fragen an Natur und Leben und Kultur zu begeistern, kann es gelingen, Athen aus Alexandrien zurückzuerobern.

Organisations-Dilettantismus Hartmut Schiedermair hat die fatale Analyse zitiert, wonach das Wort Provinz in Deutschland derzeit nicht mehr eine Landschaft, sondern einen Zustand beschreibe. Ich kann dieser Diagnose nicht widersprechen, meine nur, daß dies kein deutscher Sonderzustand ist, sondern den Zustand der westlichen Zivilisation beschreibt. Wenn die größte und bedeutendste Wissenschaftsnation der Welt - ihrer Berichterstattung nach - vom Penis ihres Präsidenten so fasziniert scheint, daß Eltern davor gewarnt werden, ihre Kinder abendliche Nachrichten-

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Sendungen sehen zu lassen, so ist dies ein so unwürdiges Schauspiel, daß „Provinz" dafür ein Euphemismus ist. Allein afrikanische Politiker scheinen den Skandal dieses Schauspiels noch zu empfinden, wenn sie sich über Fragen nach diesem Körperteil - gestellt auf der Pressekonferenz in einem der größten Elendsgebiete der Welt — empören. Die Schlammschlacht, die um seine Person eröffnet ist, hat Bill Clinton allerdings nicht davon abgehalten, eine vorzügliche Personalpolitik zu betreiben und den besten Mann, den er finden konnte, zum Wissenschaftsberater seiner Regierung zu machen: Neal Lane, den ehemaligen Direktor der National Science Foundation, einer Wissensagentur vor allem für die Grundlagenforschung. Er hat damit ein Zeichen dafür gesetzt, daß die USA ihre Stärken weiter stärken und jene Basis weiter ausbauen wollen, von der aus allein sich revolutionäre Erkenntnisgewinne machen lassen. Das nämlich unterscheidet die U S A von dem Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel, das bei uns gespielt wird, daß der Aufbruch der Wissenschaft in das 21. Jahrhundert dort auf sehr hohem Niveau auch politisch gefördert und mit angeleitet wird, daß dieses Land seine Kräfte zu bündeln und nicht separatistisch zu zerstreuen versteht. Wir in Deutschland stehen dagegen oft genug fassungslos vor Reformversuchen, in denen ja nicht die Wirtschaft, sondern Funktionäre der Wirtschaftsverbände den Ton anzugeben versuchen und eines immer wieder erstaunt: wie universitäts- und wissenschaftsfremd die nach allen Regeln der Finanz- und Organisationsberatung von großen Beratungsfirmen (im Auftrag der Wissenschaftsministerien und der Staatskanzleien) erstellten sogenannten Expertenberichte sind. Der Grund für den über uns hereingebrochenen Organisations-Dilettantismus ist wohl, daß die Universität als handelndes Subjekt aus der Reformdebatte ausgeschieden ist, daß wir uns zwar noch räsonierend, protestierend und resolutionierend, aber häufig nicht mehr praktisch handelnd an der Reformdebatte beteiligen, so daß einzelne mutige Reformschritte in ihrer Zerstreuung überregional kaum noch wahrgenommen werden. Es liegt an den Universitäten selbst, die Situation grundlegend zu verändern. Niemand hindert uns nämlich, nach intelligenten Organisationsmodellen für eine längst veränderte Wissenschaftslandschaft zu suchen (Modularisierung könnte ein Stichwort sein, Sandwich-Studien und -Abschlüsse in Kooperation mit ausländischen Universitäten ein anderes, Departmentbildung ein drittes). Niemand hindert uns, die Studierenden rechtzeitig in das Forschungsgeschehen miteinzubeziehen, was aber bedeutet, daß die Professorinnen und Professoren auch am Anfängerunterricht teilnehmen müssen, um frühzeitig jenen Nachwuchs zu identifizieren, den sie für dieses Forschungsgeschehen brauchen. Niemand hindert uns, Exzellenz-Zentren, Kompetenz-Zentren, Zentren für interdisziplinäres Forschen und Lernen zu bilden und das dafür nötige Personal durch interne Umschichtung zu gewinnen. Niemand hindert uns daran, die Europäisierung unserer Universitäten so voranzutreiben, daß die Systeme durchlässig werden und Auslandssemester nicht zwingend eine Verzögerung des Examens bedeuten. Wer hindert uns daran, den starken Forschungsstrukturen, die wir mit Sonderforschungsbereichen, Graduiertenkollegs, Innovationskollegs, Forschungskollegs, Forschergruppen etc. in unsere Universitäten eingezogen haben, endlich einen institutionellen Rahmen zu schaffen, der die Universitäten - jede für sich, an ihrem Platz — profilscharf nicht nur als lokale, sondern wieder als „cosmopolitan local institutions" kenntlich machen kann? Zu solchen Anstrengungen gehört

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in erster Linie auch die Sorge um das Fortkommen unserer Absolventinnen und Absolventen, um ihre Plazierung im Erwerbsleben, weil nur dadurch jene Alumni-Beziehungen entstehen können, von denen die amerikanischen Universitäten seit jeher leben.

Zeitgewinn durch Verweigerung Ich breche die Aufzählung dessen, was wir sofort tun können und tatsächlich auch tun sollten, hier ab, ehe sie sich in den Arbeits- und Aufgabenkatalog der Hochschulrektoren-Konferenz verwandelt, füge nur hinzu, daß wir, um all dies tun zu können, was wir der Universität und ihres Uberlebens wegen tun müssen, eines gewinnen müßten: Zeit. Zeit nicht im Sinne von Verzögerung, sondern von aufzuwendender kostbarer Lebenszeit des Einzelnen. Ich plädiere seit langem für Zeitgewinn durch Verweigerung. Für eine Verweigerung gegenüber der Mitarbeit in immer neuen Evaluationskommissionen, die ameisenartig und unkoordiniert das Land durchziehen. Für Verweigerung gegen unsinnige Gutachtenszumutungen, für vergleichende Gutachten über fünf und mehr Berufungskandidaten, welche die entschlußlosen Fachbereiche gleich mehrfach von unterschiedlichen Kollegen anfordern, für die Zumutung, Gutachten über Frauen und Männer schreiben zu müssen, mit denen begründet wird, warum sie nicht auf Berufungslisten erscheinen; für die Verweigerung gegen die zweihundertsiebenundfünfzigste Debatte um die Abschaffung des Latinums. Ich weiß, daß die Universität, weil in ihr kreative Menschen tätig sind, besonders anfällig ist für Intrige, Streit und Eitelkeit, aber sie ist nicht mehr länger ein Biotop, in dem sich - geschützt durch das Dienstrecht — leben läßt. Die rings um dieses Biotop aufgefahrenen Bagger haben längst zu graben begonnen.

Ein großer Tag der deutschen

Geschichte

Lothar Gall

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ecker und Struve haben das Land verraten nach dem Gesetz - das wäre Kleinigkeit; aber sie haben das Volk verraten durch ihre wahnsinnige Erhebung; es ist mitten im Siegeslauf aufgehalten; das ist ein entsetzliches Verbrechen." Der das Anfang Mai 1848 in einem Privatbrief schrieb, war der Führer der sächsischen Demokraten Robert Blum, der als Mitglied des sogenannten Vorparlaments und dann auch der Nationalversammlung zu den führenden Persönlichkeiten der Revolution gehörte und den die siegreiche Gegenrevolution in Wien im Herbst des Jahres standrechtlich erschießen ließ, was ihn zum Märtyrer der Revolution machte. Blums ebenso scharfes wie entschiedenes Urteil mag überraschend klingen vor dem Hintergrund des geradezu mystisch-verklärende Züge tragenden Hecker-Kultes, der in diesem Jubiläumsj ahr nicht nur in seiner badischen Heimat offenbar einen neuen Höhepunkt erreicht. In Hecker meint man den kompromißlosen, den gewaltsamen Aufstand und mithin die „eigentliche" Revolution zu feiern, ohne sich vielleicht immer mit aller Deutlichkeit vor Augen zu führen, daß damit ein entschiedener Gegner des Parlamentes und damit des Herzstückes eines demokratischen Verfassungsstaates auf den Schild gehoben wird.

Hecker hatte zu den Befürwortern eines Antrages gehört, der Anfang April 1848 das Vorparlament, zu dem sich Oppositionelle aus den verschiedenen Staaten des Deutschen Bundes in Frankfurt am Main versammelt hatten, aufforderte, sich für permanent zu erklären und als selbsternanntes Revolutionsparlament die Gestaltung der künftigen Verhältnisse sozusagen aus eigenem Recht in die Hand zu nehmen. Eine Mehrheit von annähernd drei Vierteln der Abgeordneten lehnte den Antrag ab. Hierfür seien sie nicht legitimiert, diese Aufgabe könne nur eine Nationalversammlung leisten, die aus den gewählten Vertretern des Volkes bestehe, lautete das Argument der Mehrheit. Sie sah ihre Aufgabe statt dessen darin, demokratische Wahlen zu einem solchen Parlament vorzubereiten und durchzuführen. Der Versuch der Antragsteller, daraufhin die Veranstaltung zu sprengen, mißlang, denn es waren schließlich nur vierzig Abgeordnete, die dem Aufruf zum demonstrativen Auszug aus dem Vorparlament folgten. Unter ihnen war der erwähnte Mannheimer Rechtsanwalt und badische Abgeordnete Friedrich Hecker, der sich dann nach Konstanz zurückzog und dort die „Deutsche Republik" proklamierte. Gemeinsam mit seinem Freund und Gesinnungsgenossen Georg von Struve versuchte er, einen Freischarenzug aufzustellen und einen allgemeinen

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Aufstand zu entfesseln. Knapp fünfhundert Personen schlössen sich seinem Marsch auf die badische Residenz Karlsruhe an, wo inzwischen auch ein liberales, mit der Frankfurter Mehrheit eng verbundenes Ministerium regierte. Es war ein abenteuerliches Unternehmen, gerichtet in dieser Situation vor allem gegen die Mehrheit der die Revolution tragenden Kräfte. Bei Kandern im Oberbadischen traten ihm unter dem Befehl der neuen, durch eben diese Revolution emporgetragenen Regierungen badische und hessen-darmstädtische Truppen entgegen, angeführt durch Max von Gagern, den Bruder des späteren Präsidenten der Frankfurter Nationalversammlung. Er kam bei dem kurzen Gefecht ums Leben, das den „Hecker-Marsch" genannten Aufstand beendete. Der schnell gescheiterte Versuch des gewaltsamen Aufstandes war, das wird beim Betrachten des Geschehens sehr rasch deutlich, der Putschversuch einer kleinen Minderheit. Er war nicht gegen die alte monarchische Obrigkeit gerichtet, sondern gegen die Repräsentanten und Wortführer der Revolution, die ungeachtet aller Meinungsunterschiede im einzelnen doch in einem zentralen Punkt einig waren: Nur ein Parlament konnte den neuen Nationalstaat aufbauen, das seine Legitimation aus demokratischen Wahlen bezog. Die unmittelbar darauf folgenden Wahlen zur ersten deutschen Nationalversammlung, die dann vom 18. Mai 1848 an in der Frankfurter Paulskirche tagte, bestätigte sie hierin und demonstrierte den Willen der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, seine Forderungen nicht mit Gewalt, sondern mit den Mitteln des Parlamentarismus durchzusetzen. Woher stammt demgegenüber die bis heute andauernde, ja offensichtlich noch anwachsende weitverbreitete Bewunderung und Verherrlichung der Urheber eines Unternehmens, das sich faktisch gegen Grundforderungen der Revolution - gegen die Durchsetzung und Achtung des demokratischen Mehrheitsprinzips - wandte und das damit zugleich den Gegnern der Revolution in die Hände arbeitete? Während der antirevolutionärer Absichten absolut unverdächtige Zeitzeuge Blum diesen Zusammenhang sehr deutlich sah und Heckers Unternehmen aus diesem Grund als geradezu „verbrecherisch" bezeichnete, wird Hecker heute häufig als der „eigentliche", der „wahre" Revolutionär angesehen. Die Sache ist lehrreich und zwar noch über den unmittelbaren Fall hinaus. Sie vermittelt ein Bild und einen Eindruck von dem gegenwärtigen Umgang mit Geschichte in diesem Lande, der zwar sicher nicht allgemein, aber weit verbreitet ist. Es besteht, so scheint es, ein immenses Bedürfnis nach Parteinahme, nach Identifikation mit dem Guten, dem Fortschrittlichen, dem Unbedingten gegen Halbheiten, Kompromisse, auch gegenüber dem Nachvollziehen, dem Verständnis gegenüber bestimmten Situationen und den in ihnen liegenden Zwängen. Vielerorts macht sich eine Neigung zu romantischer Überhöhung und auf der anderen Seite zu Dämonisierung geltend, dem die Wirklichkeiten vergangenen Lebens geradezu zuwider sind. Diejenigen, die auf sie hinweisen, geraten leicht in den Verdacht unlauterer Motive. Bei den Auseinandersetzungen um die sogenannte Wehrmachtsausstellung, um den Widerstand gegen Hitler, um die Verbreitung und die Wurzeln des Antisemitismus in Deutschland mag das alles noch psychologisch verständlich sein, auch wenn es vertieften historischen Einsichten sicher nur begrenzt dienlich ist. Es scheint nun aber, als ob die Neigung, die Welt der

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Vergangenheit säuberlich in gut und böse, in weiß und schwarz aufzuteilen, die eine Seite romantisch zu überhöhen und die andere zu dämonisieren, jetzt zunehmend auch Bereiche erfaßt, w o im Eifer rascher Parteinahme und selbstgewisser Begeisterungen auch manches unter die Räder zu geraten droht, was an geschichtlichen Traditionen für die Gegenwart und Zukunft dieses Landes unentbehrlich ist. 150 Jahre nach der Revolution von 1848 werden Verfassungsrichter und Minister, Schriftsteller, Journalisten wie Politiker aller Couleur nicht müde, einem das demokratische Mehrheitsprinzip und damit die Grundlage des Parlamentarismus mißachtenden Putschisten Kränze zu winden. Er verkörpere den Willen zur wirklichen, zum Äußersten entschlossenen revolutionären Tat und den wahren Volkswillen - mochte dieses Volk bei den Wahlen zur Nationalversammlung Anfang Mai 1848 in seiner Mehrheit auch etwas ganz anderes bekunden und der breiten liberalen Mitte seine Stimme geben. U n d nicht nur das. Diese liberale Mehrheit und mit ihr die Nationalversammlung insgesamt geraten aus dieser Perspektive ungeachtet der überwältigenden Zustimmung, die ihr am 18. M a i 1848 bei ihrem ersten Zusammentreten in der Frankfurter Paulskirche entgegenschlug, rückblickend von vornherein in ein schiefes Licht. Kompromißlertum, Unentschlossenheit, ja, Zögern und Feigheit hätten ihr schließliches Scheitern in vielem schon früh vorweggenommen. Eine Stimmung macht sich breit, die sich sehr gut in der Formel und in dem Urteil verdichten könnte: „Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen, sondern durch Eisen und Blut". — Glücklicherweise wissen immer noch viele, daß der Satz von Otto von Bismarck stammt und daß sich dahinter schroffer Antiparlamentarismus u n d die entschiedene Ablehnung des demokratischen Gedankens, des Prinzips der Volkssouveränität verbargen. Es war dies damals der gezielte, zu jenem Zeitpunkt allerdings noch weitgehend erfolglose Appell an den politischen Spießbürger, an seinen unausrottbaren Glauben an die große, befreiende, mit einem Schlag alles verändernde Tat, an seine Verachtung für den Kompromiß - der doch gemeinhin seine eigene Lebenspraxis ausmacht — und an seine Neigung zur Heroisierung des historischen Prozesses. Eine solche Neigung entrückt diesen Prozeß gleichsam aus seinem eigenen Daseinshorizont und entzieht ihn zugleich seiner Mitverantwortung. Geschichte wird von daher letztlich ein unverbindliches Schauspiel, dem nur Ubersteigerungen und Übertreibungen zumindest den Anschein von Leben und von Bedeutung und Verbindlichkeit für die eigene Existenz einzuhauchen vermögen. Für die große Mehrheit der unmittelbaren Zeitgenossen aber war 1848 eine Gestalt wie Hecker noch nicht in ein solches politisches Marionettentheater entrückt. Für sie war er ein gewalttätiger Sozialromantiker, der wie einst die Jakobiner seine Ideen auch gegen die Mehrheitsmeinung und einen durch Wahlen festgestellten Volkswillen durchzusetzen bereit war. Nicht auf ihn und seinesgleichen richteten sich die Hoffnungen u n d Erwartungen, die W ü n sche und Träume der politisch erwachenden Nation, sondern wie 1789 in Frankreich auf die konstituierende Nationalversammlung in Frankfurt. Was deren Aufgabe sei, darüber waren sich von rechts bis links sämtliche Abgeordnete mit ihren Wählern einig: einen Katalog unantastbarer, Rechtsprechung und Gesetzgebung sowie alle staatlichen Organe bindender Grund-

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rechte zu etablieren und eine moderne, rechtsstaatliche Verfassung für ganz Deutschland zu entwerfen und zu verabschieden. Sie sollte nicht nur die bisherigen deutschen Einzelstaaten zu einer festeren Einheit zusammenfassen und ihre Regierungen und Monarchen an die künftige Zentralgewalt binden, sondern auch die Nation als ganze politisch und sozial einen. Und auch über die Legitimationsgrundlage für eine solche weitgehende Neuordnung mit tiefen Eingriffen in fast alle bisherigen Lebensverhältnisse war man sich zunächst über alle Parteiund Fraktionsgrenzen hinweg einig. Der Wille der Nation, in demokratischen Wahlen geäußert, sollte den Staat und staatliche Herrschaft künftig legitimieren. Das hatte bereits den Kern der Französischen Revolution ausgemacht, und genau darauf hatte sich im Sommer 1789, am 23. Juni, der Graf Mirabeau berufen. „Sagen Sie denen, die Sie geschickt, daß wir hier sind durch den Willen der Nation und nur der Gewalt der Bajonette weichen werden", sind die immer wieder zitierten Worte, mit denen er an jenem Tag dem Vertreter des Königs entgegentrat, der die gewaltsame Auflösung der Versammlung des Dritten Standes, die sich kurz zuvor zur Nationalversammlung erklärt hatte, androhte, da nur der Monarch das Land und die Nation als ganze repräsentiere. Während die Monarchen des Ancien Régime sich durch göttlichen Willen und Auftrag zur Herrschaft berufen und berechtigt sahen, stellten die Revolutionäre 1848 wie bereits in Frankreich 1789 das Gottesgnadentum in Frage und beriefen sich auf den Willen der Nation. Wenn also auch die Monarchie von der Paulskirchenverfassung nicht abgeschafft wurde, so sollte sie doch fortan auf einer völlig anderen Grundlage stehen. Genau darauf war Friedrich Wilhelm IV. nicht bereit sich einzulassen, aus diesem Grunde lehnte er die ihm angebotene Kaiserkrone im März 1849 ab. Wenn er dies auch offiziell damit begründete, daß er die ihm angetragene Würde nur mit Zustimmung sämtlicher deutscher Regierungen annehmen könne, so hat er privat doch seine wahren Ansichten geäußert: Er, ein preußischer König „von Gottes Gnaden", denke gar nicht daran, künftig ein Monarch von Volkes Gnaden, von Gnaden von „Meister Schuster und Handschuhmacher" zu sein und eine Krone „aus Dreck und Letten gebacken" zu tragen. Volkssouveränität oder „monarchisches Prinzip", das war seit 1789, seit der Großen Revolution in Frankreich, die Devise, der Kern aller politischen Auseinandersetzungen. Leopold von Ranke, der preußische Historiker und strikte Anhänger des monarchischen Gedankens und der mit ihm verbundenen traditionellen politischen und gesellschaftlichen Ordnung, hat die Grundspannung zwischen, wie er sich ausdrückte, „Monarchie und Volkssouveränität" zum Signum der ganzen Epoche erklärt. So sah es auch die überwältigende Mehrheit der Paulskirchenabgeordneten, entgegen späteren Uminterpretationen, den Thesen vom Verrat an „der" Revolution. Unmittelbar nach seiner Wahl zum Präsidenten der Nationalversammlung am 19. Mai 1848 erklärte der Führer der liberalen Mehrheitsfraktion, Heinrich von Gagern, der bereits in den vorangegangenen Jahrzehnten eines der Häupter der Oppositionsbewegung gewesen war: „Wir haben die größte Aufgabe zu erfüllen. Wir sollen schaffen eine Verfassung für Deutschland, für das gesammte Reich. Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung, sie liegen in der Souveränität der Nation." Das Protokoll verzeichnete an dieser Stelle „stürmisches Bravo" der gesamten Versammlung. Und Gagern ließ keinen Zweifel daran, daß das Prinzip der Volkssouveränität nicht nur die Grundlage aller künftigen Ordnung bilden, son-

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d e m auch die politische Praxis, alles staatliche Handeln im künftigen Nationalstaat bestimmen und leiten müsse, wenn er fortfuhr: „Deutschland will eins sein, ein Reich, regiert vom Willen des Volkes, unter der Mitwirkung aller seiner Gliederungen." Die Grenze aller Kompromisse mit den alten Gewalten war damit klar vorgezeichnet, und die entschiedensten Gegner der Revolution und der Paulskirche wie der junge Otto von Bismarck haben das sehr viel deutlicher gesehen als ihre damaligen und späteren Kritiker im eigenen Lager, die darüber nur zu leicht zu faktischen Bundesgenossen eines sich aus ganz anderen Quellen nährenden Antiparlamentarismus wurden. Der Graf Mirabeau war in jener eben geschilderten, legendär gewordenen Szene vom 23. Juni 1789 den königlichen Soldaten und Offizieren gemeinsam mit anderen, darunter zwei veritablen Herzögen, mit gezücktem Degen entgegengetreten. Uber einen solchen Degen i m übertragenen Sinne, also über Machtmittel, mit denen die Drohung der Gegenreaktion beantwortet werden konnte, verfügte die Nationalversammlung nicht, und sie hat ihn sich auch nicht beschafft. Sie vertraute auf die einzelstaatlichen Regierungen, die seit dem März 1848 fast durchgängig ihre politische Farbe und Richtung angenommen hatten. Sie bedachte dabei zumindest in ihrer Mehrheit nicht, daß sie in der H a n d der Einzelstaaten sein würde, falls es dort zu einem Kurswechsel käme, den zu verhindern ihr gleichfalls die Mittel fehlten. Das war wahrscheinlich der größte Fehler und, aus ihm resultierend, die größte Schwäche der Nationalversammlung. Sie ließ sie am Ende zum Opfer der im Herbst 1848 zunächst in Osterreich und rasch darauf in Preußen erfolgreichen Gegenrevolution werden. Deren Truppen schlugen schließlich im M a i und Juni 1849 die Volkserhebung zugunsten der von der Nationalversammlung verabschiedeten Verfassung, die dann sogenannte Reichsverfassungskampagne, in Sachsen, in der Pfalz und in Baden blutig nieder. Daß die Nationalversammlung sich gleichzeitig wehrlos und dadurch natürlich auch widerstandslos auflöste, hat ihr den Stempel ihres Scheiterns noch sichtbarer aufgedrückt. Der Vorgang hat Bismarcks späterem Diktum noch mehr den Anschein historischer Wahrheit gegeben. Schaut man freilich genauer hin, so haben „Eisen u n d Blut" in Wahrheit keine der „großen Fragen der Zeit" entschieden, vor die sich die Nationalversammlung gestellt sah und die sie mit großem Ernst anging. Ihre zukunftsträchtige Lösung wurde dadurch höchstens, zum Schaden Deutschlands, vertagt. Eine dieser großen Fragen, der großen Aufgaben, die die Nationalversammlung auch als erste anging, war die der Grundrechte. M i t der dauerhaften Sicherung der individuellen Freiheitsrechte — einschließlich der Grundlagen politischer Mitwirkung über das Vereins- und Versammlungsrecht u n d die Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit — sollte eine ganz neue wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung etabliert werden. Freiheit und Sicherheit des persönlichen Eigentums, Gewerbefreiheit, Handelsfreiheit, Freiheit der Berufswahl, Rechts- und Chancengleichheit, all das eröffnete in Uberwindung der überlieferten „ständischen" Ordnung der modernen bürgerlichen Gesellschaft die Bahn. Daß das meiste dessen, was die Nationalversammlung i m Dezember 1848 unter d e m Titel „Die Grundrechte des Deutschen Volkes" endgültig verabschiedete und was dann Teil der Reichsverfassung vom März 1849 wurde, wörtlich Eingang in die Verfassung der Bundesrepublik von 1949 fand, zeigt, daß hier

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in der Tat die Basis für ein modernes liberales Gemeinwesen gelegt wurde, die Stabilität und erfolgreiche Entwicklung versprach. Die Aufhebung der Grundrechte nach dem Scheitern der Revolution und der Verzicht auf eine solche verbindliche Grundlage und Bindung allen staatlichen Handelns in der Verfassung des Reiches von 1871 dokumentieren in der Abkehr von offenkundig zukunftsträchtigen Lösungen, daß die „großen Fragen der Zeit" eben nicht entschieden, sondern in einer die Zukunft in fataler Weise belastenden Form vertagt wurden. Ahnliches gilt für die Lösung der Einheits- und der Verfassungsfrage, wie sie 1848/49 durch die Paulskirche entwickelt und von ihrer Mehrheit schließlich verabschiedet wurde. Bismarck hat sie, zur Überraschung von Freund und Feind, zu großen Teilen aufgegriffen, einschließlich des allgemeinen (Männer-) Wahlrechts, auf das sich große Teile der Mitte-Rechts-Koalition und der Linken der Paulskirche schließlich verständigt hatten. Aber er hat diese Lösung zugleich an entscheidenden Punkten umgebogen, ihr im Reich wie in den Einzelstaaten gleichsam das „monarchische Prinzip" aufgepfropft, das heißt, die Stellung der Regierung und der Krone entscheidend gestärkt und die des Parlaments entsprechend geschwächt und mit Gegengewichten versehen. Aus dem „Volksstaat" der Paulskirche wurde so ein monarchischer Obrigkeitsstaat. In ihm hatten die traditionellen Eliten, Aristokratie und Bürokratie, weiterhin das Sagen, und in ihm war die Regierung wenn nicht allein, so doch in erster Linie dem Monarchen verantwortlich und von ihm abhängig. Sicher darf man die Paulskirche und ihr Werk, das nie die Feuerprobe der politischen und gesellschaftlichen Praxis bestehen mußte, nicht nachträglich idealisieren. Der Wille ihrer Mehrheit, das Ganze am Ende auf eine möglichst breite Basis zu stellen, die „Mitwirkung auch der Staaten-Regierungen zu erwirken", wie Gagern sich in seiner Antrittsrede ausdrückte, hat sie zu Kompromissen mit den alten Gewalten geführt, die sich schließlich gegen sie auswirkten und das Scheitern mit herbeiführten. Sie lagen in diesem Ausmaß sicher nicht „in dem Beruf dieser Versammlung", wie Gagern meinte. Auch hat sie unter dem Eindruck der Entwicklung im Frankreich der Großen Revolution hin zur jakobinischen Terrorherrschaft die Gefahren von Seiten der äußersten Linken wohl dramatisiert und darüber die von rechts lange Zeit unterschätzt. Auch ist nicht zu übersehen, daß die Mehrheit allzu optimistisch auf die rasche und positive Wirkung der Entfesselung des Marktes und der ökonomischen Kräfte, die Begünstigung aller gesellschaftlichen Gruppen durch sie gesetzt hat. Ihr Vertrauen auf eine gleichsam automatische Lösung der sozialen Frage, der Probleme der Massenarmut, des „Pauperismus", hat zumindest einen Teil von ihr blind gemacht gegenüber den realen Nöten breiter Bevölkerungsschichten. Sie hat sie auch ihre dramatische Verschärfung durch den zunehmenden ökonomischen und sozialen Egoismus einer vor allem Erfolg und Leistung honorierenden Gesellschaft übersehen lassen. Die Grundprobleme des Verhältnisses von wirtschaftlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit sind zwar in der Paulskirche mit großem Ernst und mit zum Teil höchst aktuellen Thesen und Überlegungen diskutiert worden. Gerade auch diese Debatten bleiben bis heute lesenswert. Aber am Ende setzte sich doch ein unbedingter Fortschrittsgedanke durch, der in allen sozial motivierten Eingriffen in das Wirtschaftsleben eine Gefahr für einen raschen, allen zugute kommenden ökonomischen Fortschritt sah.

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Mit solchen Überlegungen verknüpfte sich bei einer nicht geringen Zahl der Abgeordneten die Warnung, zumindest beim damaligen Stand der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entwicklung und angesichts der nicht zu übersehenden Defizite an politischer Aufklärung, Bildung und Erfahrung mit der Forderung nach Demokratisierung und Mitbestimmung nicht zu weit zu gehen - daß man die Frauen hiervon jedenfalls zunächst ganz ausschließen müsse, verband fast die gesamte Versammlung. Schließlich ist nicht zu übersehen, daß das, was man poetisch-pathetisch das „Erwachen der Nation" nannte, auch der Ubersteigerung des nationalen Gedankens, und zwar rechts wie links, den Weg gebahnt hat. Das gilt vor allem für die Auseinandersetzungen mit den Ansprüchen anderer Nationen, der Dänen in Schleswig, der Polen in den östlichen Provinzen Preußens, der Tschechen in Böhmen, der Italiener in den habsburgischen Gebieten, auch der Franzosen hinsichtlich des Elsasses und Lothringens, auf die schon damals mancher begehrliche Blick fiel. Hoffmann von Fallerslebens „Deutschlandlied" von 1841, dessen Anfangszeile „Deutschland, Deutschland über alles" zunächst als Aufruf gemeint war, das Partikulare politisch, aber auch sozial zu überwinden und sich in nationaler Solidarität zusammenzufinden, begann zunehmend zugleich einen machtpolitischen Vorranganspruch zu formulieren. Aus solchem Anwachsen nationaler Ambitionen u n d Bestrebungen auch in außenpolitischer Hinsicht während des Jahres 1848 hat Bismarck dann im übrigen später gegenüber den europäischen Kabinetten das Argument gezogen, nur durch seine Politik eines begrenzten Entgegenkommens gegenüber der nationalen Bewegung bei gleichzeitiger Eind ä m m u n g weitergehender Forderungen — was nur durch eine Restriktionspolitik im Innern möglich sein werde - könne man Europa und die übrigen europäischen Mächte vor der Sprengwirkung des deutschen Nationalismus bewahren. In der Paulskirche freilich blieb der überzogene Nationalismus, der sich bereits mancherorts regte, bis zuletzt in der Minderheit. Der Waffenstillstand zwischen Preußen und Dänemark, zu dem insbesondere England und Rußland die Kontrahenten in dem Kampf um Schleswig-Holstein nötigten, fand Mitte September 1848 gegen ein zunächst anderslautendes Votum die Zustimmung einer knappen Mehrheit der Nationalversammlung. Das war von machtpolitischer Schwäche diktiert, aber doch auch Ergebnis nüchterner Einsicht in die Gegebenheiten und in die Tatsache, daß man nicht allein war in Europa. Ein Teil der Linken wollte sich damit nicht abfinden, sprach von Verrat an der nationalen Sache, der dem innenpolitischen Kompromißlertum der Paulskirchenmehrheit entspreche. Der Volksaufstand mit massiven Drohungen gegen die Nationalversammlung und der Ermordung zweier Abgeordneter zwang dann jene Mehrheit, erstmals Schutz bei den alten Gewalten, bei den Truppen des Deutschen Bundes zu suchen. Sie wurden mit der Eisenbahn aus der Bundesfestung Mainz herangeführt und schlugen den Frankfurter Aufstand binnen kurzem nieder. Trotz der Gefahr, zwischen alle Stühle zu geraten, hielt die Mehrheit der Abgeordneten auch weiterhin an der Linie fest, sich am realpolitisch Machbaren und Durchsetzbaren zu orientieren und sich weder auf einen Rechtskurs noch auf die Bahn linker Scharfmacher oder radikaler Nationalisten drängen zu lassen. Als klar wurde, daß Osterreich niemals in die Teilung seines Herrschaftsverbandes in die deutschen u n d die nichtdeutschen Gebiete einwilligen

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werde, wie sie die Paulskirche im Sinne des nationalstaatlichen Prinzips, aber auch mit Blick auf die übrigen europäischen Mächte forderte, entschloß sich auch eine Mehrheit der Linken, einem „kleindeutschen" Bundesstaat unter preußischer Führung zuzustimmen — wenn dessen parlamentarisch-demokratischer Charakter durch ein entsprechendes Wahlrecht gesichert werde. Darin dokumentierte sich die Fähigkeit zu Ausgleich und Kompromiß, ein Blick für das Mögliche und vielleicht noch Machbare in einer immer bedrohlicher werdenden Situation, die den Rang dieses ersten gesamtdeutschen Parlaments und die in ihm vorherrschende politische Vernunft charakterisieren. Sie haben in der öffentlichen Meinung der folgenden Jahrzehnte, teilweise bis heute, wenig Anerkennung gefunden. Auch die Historiker blieben in ihrer Mehrheit in dieser Hinsicht eher zurückhaltend. Sie haben sich zumeist auf die Gründe des Scheiterns der Revolution und dessen angebliche Unvermeidlichkeit konzentriert und waren dabei geneigt, dem Parlament daran einen großen, wenn nicht entscheidenden Anteil zuzusprechen - bis hin zu der These, die Vertreter der Mehrheit der Nationalversammlung hätten die Revolution zunächst nicht gewollt, dann monatelang in ihren Zielen und ihrem Verlauf maßgeblich bestimmt und getragen und sie schließlich zum Scheitern gebracht, wenn nicht verraten. Dabei ist ganz klar, was die große Mehrheit derjenigen, die sich seit Ende Februar 1848 zu der Revolution, nachdem sie einmal ausgebrochen war, bekannten und sie vorantrieben, von dieser Revolution, die ja kein Selbstzweck war, erwartete: einen nationalen Bundesstaat auf parlamentarischer Grundlage, der die Grundrechte seiner Bürger und ihre politischen Rechte garantierte und auf dem Weg zu einer sozial gerechteren Ordnung voranzuschreiten strebte. Das war schon der Kern der sogenannten Märzforderungen gewesen, und das war, wie das Ergebnis der Wahlen zur Nationalversammlung und vor allem auch der Grad der Beteiligung an ihnen zeigte, das, womit die Nation die gewählten Abgeordneten als Zielvorgabe ausstattete und worauf sie ihren mit jeder Wahl verbundenen Vertrauensvorschuß setzte. Diesem Wählerauftrag ist die große Mehrheit der Abgeordneten konsequent gefolgt und nicht den Erwartungen kleiner Gruppen - Erwartungen, die im nachhinein gelegentlich zu den eigentlichen Zielen „der" Revolution stilisiert worden sind und die in der Tat in solcher Form und mit derartigen Zielen von der Mehrheit nicht „gewollt" wurde. Diese Mehrheit hat sich, bei aller gelegentlichen Härte und Schärfe der Auseinandersetzungen, auf meist hohem Niveau und im Bewußtsein der Schwierigkeit der Aufgabe darum bemüht, das zu verwirklichen, was die Substanz des Parlamentarismus darstellt und was ihn zur unentbehrlichen Grundlage jedes modernen, freiheitlich verfaßten Gemeinwesens macht: in der freien Auseinandersetzung, in der Abwägung der Argumente und Gegenargumente einen tragfähigen, zukunftsorientierten Ausgleich der Interessen und Uberzeugungen der verschiedenen Gruppen und politisch-sozialen Kräfte zu vermitteln. Insofern markiert der 18. Mai 1848, der Tag des Zusammentretens eines ersten gesamtdeutschen Parlaments, einen großen, einen in hohem Maße erinnerungswürdigen Tag der deutschen Geschichte. Und man sollte gerade mit Blick auf die Substanz, auf das eigentlich Erinnerungswürdige am Wirken und am Werk der Nationalversammlung ihr Scheitern, das das Scheitern der Revolution mar-

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kiert, auch aus der Sicht des dem älteren Cato zugeschriebenen Satzes betrachten: „Victrix causa diis placuit, victa Catoni — die siegreiche Sache gefällt den Göttern, die (unglücklicherweise) besiegte dem Cato".

Über Bildung, Elite und Bürokratie: die Hochschule in der öffentlichen Diskussion Jean K. Gregory

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st man sich in den großen Zielen einig, erledigen sich die Details (fast) von selbst. Mit diesem Grundsatz habe ich bislang gute Erfahrungen gemacht. Derzeit wird in Deutschland über Details einer Hochschulreform diskutiert (wieviel Macht soll ein Dekan haben, sollen Strafgebühren nach dem 12. Semester erhoben werden, welche Befugnisse soll ein Hochschulbeirat haben, usw.), ohne daß sich die Beteiligten, nämlich Studenten, Professoren, Doktoranden, geschweige denn die breite Öffentlichkeit über die Aufgaben der Hochschule in der Gesellschaft auseinandergesetzt haben. Es ist an der Zeit, daß wir uns über die großen Ziele unterhalten, auch wenn wir uns nicht einigen.

Welche Erwartungen stellt die Gesellschaft an die Hochschulausbildung? Gerade diese Frage, die den eigentlichen Kern der Diskussion über eine Reform bildet, wird selten gestellt. Möglicherweise meint man, hier herrsche Einigkeit, weswegen wir oft aneinander vorbeireden. Im Zusammenhang mit einem Hochschulabschluß fällt häufig der Begriff „berufsqualifizierend". In der Tat wird in der Hochschulausbildung eine finanzielle Absicherung der Zukunft durch einen Zugang zu einem hochqualifizierten Arbeitsplatz gesehen. Die einfachste Interpretation lautet also: der Hochschulabschluß entspricht genau einer Berufsbezeichnung, z.B. der JuraStudent wird Anwalt, der Medizinstudent wird Arzt, der Theologiestudent wird Pfarrer. Da es bei einigen Studiengängen nicht eindeutig ist, gibt es eine weitere Interpretation, nämlich, daß ein Studium zwar berufsqualifizierend ist, aber der Beruf nicht genau dem Studium entsprechen muß. Also, der Philosphie-Student wird Personalchef, der Psychologie-Student wird Unternehmensberater. Über eine weitere Variante redet aber kaum jemand; obgleich Studenten des öfteren Bildungspolitiker mit Transparenten empfangen wie: Bildung für alle! Könnte

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es nicht die Aufgabe der Hochschule sein, ihre Absolventen auf ein bestimmtes Bildungsniveau zu bringen, ohne Rücksicht auf das Berufsleben? Also, der Kunstgeschichte-Student wird Taxifahrer, der Archäologie-Student wird Bankangestellter. Liegt eine solche Aufgabe im Interesse der Gesellschaft, u n d ist die Gesellschaft bereit, diese Aufgabe zu finanzieren? Eine gewagte Vorstellung angesichts der derzeitigen allgegenwärtigen Mittelknappheit. Verschwendung von Ressourcen, werden manche einwenden. Aber Vorsicht: Die Zeiten sind noch nicht so lange vorbei, als mit ähnlichen Argumenten Frauen eine Hochschulausbildung verwehrt blieb. Die wird ja sowieso (nur) Hausfrau und Mutter, sagten die Eltern und schickten nur die Söhne zur Uni. Welche Ausbildung, welche Bildung braucht der Mensch, u m den Herausforderungen in der komplexen Welt von morgen, mit ihren gewichtigen Entscheidungen zu Energiefragen, Medizin und Informationstechnik als Gymnasial- und Realschulabsolvent gewachsen zu sein? Die Diskussion über Aufgabe und Länge einer Hochschulausbildung setzt voraus, daß nicht nur über diese Frage Konsens herrscht. Angesichts des explosionsartigen Ausbaus der modernen Kommunikationsmöglichkeiten und der Verfügbarkeit von Informationen, m u ß die Rolle der Sekundärausbildungsstätten mit einbezogen werden.

Elite In Deutschland scheint der Begriff,,Elite" ein Reizwort zu sein, weswegen sich viele nicht offen dazu bekennen wollen. Möglicherweise steigen alte europäische Gespenster hoch, manche assoziieren damit die überwundene Adelsklasse. Unter dem bewußten Verzicht auf diese „Tradition" kann in den U S A etwas unverkrampfter mit dem Wort „Elite" umgegangen werden, vielleicht aber auch, weil etwas ganz anderes darunter verstanden wird als hierzulande. Günter und Peer Ederer beschreiben in ihrem Buch (Das Erbe der Egoisten) den Unterschied: „Amerika erhebt keinen lautstarken Anspruch, eine gerechte Gesellschaft zu sein — im Gegensatz zu Deutschland. W e r aber in die amerikanische Elite aufgenommen werden will, der m u ß sich in erster Linie d e m Wohl der Gesellschaft verpflichten — auch das im Gegensatz zu Deutschland. ... In Deutschland ... erhält m a n Zugang zur Elite mittels ... Noten. Soziales Engagement wird nicht gefragt. Und mit guten Noten verbindet diese Elite dann einen Anspruch auf Privilegien, anstatt ihre Leistungsfähigkeit als Pflicht zu erkennen, sich ftir das Wohl der Gemeinschaft um so mehr einzusetzen." Der lobenswerte Versuch, ein faires Kriterium für eine Studierfähigkeit zu finden, hat zu einer Fixierung auf Noten geführt, die die Wurzel des Problems darstellt. So objektiv das Kriterium der Abiturnoten ist, es ist auch unmenschlich und wird übrigens in den USA bei weitem nicht als Einzelkriterium für die Zulassung zum Studium verwendet. 3 7 Prozent der Studienanfänger am M I T im W S 96/97 waren Klassensprecher. Vermutlich hätten viele von ihnen bessere Noten erzielen können, wenn sie nicht diese zusätzliche Verpflichtung übernommen hätten. Die Eignungsprüfungen

Über Bildung, Elite und Bürokratie: die Hochschule in der öffentlichen Diskussion

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bzw. Bewerbungen um einen Studienplatz in den USA lassen sich aber nicht auf eine Formel reduzieren, die es z.B. einem Rechner ermöglichen würde, die Zulassungsbescheide zu verschicken. Auch wenn eine Beurteilung schwierig ist, geht das Kriterium „Mensch" mit ein. Die Gesellschaft, die es nicht schafft, begabte junge Menschen zu identifizieren und zu fördern, verbaut ihre eigene Zukunft. W o sind heute die Unternehmer von Morgen, die Bankpräsidenten, die Politiker, die Industrievorstandsmitglieder, sprich die Menschen, die in zwanzig Jahren die Verantwortung für diese Gesellschaft tragen werden? Teilweise an der Uni, mit Rucksack und Jeans, mit großen Hoffnungen und schmalem Geldbeutel und hoffentlich auch einem Sitzplatz. Nur dann erfüllen wir unseren Teil des Generationenvertrags, wenn wir denen die beste Ausbildung geben, zu der wir selbst fähig sind, und wenn wir deren Optimismus nicht mit Frustration verschleißen. Bei der Vergabe von Kindergartenplätzen ist man so ehrlich zuzugeben, daß wir zuwenige haben. Sind diese Kinder aber 20 Jahre älter, wird so getan, als gäbe es keine Einschränkungen. Stattdessen nuschelt man etwas von „Kapazitätsrechnungen", damit eine Diskussion gar nicht erst stattfindet. Außerdem ist es „effizient", wenn ein Dozent 1.000 Studenten statt nur 100 im Audimax gleichzeitig abfertigt. Daß die Betreuung von Studenten (als Menschen) durch die Hochschullehrer (als Menschen) unter der Anonymität der Massenveranstaltungen leidet, ist naheliegend. Doch die politische Lösung lautet leider oft: das Angestrebte anordnen, ohne die Randbedingungen zu ändern, die zu diesem Zustand geführt haben. Beispielsweise in der CSU-Landtagsfraktion: „Wenn die Arbeitsmöglichkeiten eines Professors - seine Sachmittel, seine Mitarbeiterstellen, seine Räume oder auch ein Forschungsfreisemester davon abhängen, daß „seine" Studenten ... in kürzerer Zeit bessere Abschlüsse erzielen — mit attraktiver Lehre, mit Unterricht in Kleingruppen, ... dann hat der Professor einen Anreiz, dies zu leisten!" Mit anderen Worten: dem Busfahrer geht es u m so besser, je weniger Leute mit seinem Bus fahren. W i e das aber mit den Kleingruppen funktionieren soll, habe ich nicht ganz verstanden. Vor einem Jahr hatte ich in meiner Vorlesung für Erstsemestler 330 Studenten, dieses Jahr sind es 440. Insgesamt sind wir ca. 30 Professoren an der Fakultät für Maschinenwesen. Nach wie vor sind Stellenkürzungen an der Tagesordnung. Auf eine einfache Gleichung reduziert ist also die politische Lösung: Steigende Studentenzahlen + Stellenkürzungen = Unterricht in Kleingruppen. (???) Um eine bessere Betreuung in Kleingruppen zu realisieren, müssen sich die Betreuungsverhältnisse drastisch verschieben. Eine Statistik zur Stanford University: 1996 haben sich 16.359 um einen Studienplatz beworben, 2.608 erhielten eine Zulassung. Hiervon haben (wegen mehrfacher Bewerbungen) 61,4 Prozent tatsächlich angefangen, also 1.601. Diese Anfänger verteilen sich später über 2 9 Studienrichtungen, in denen 1.488 Professoren lehren. M a n kann sich also ausrechnen, wie viele Studenten durchschnittlich auf einen Dozenten kommen. Stanford hat sich als Ziel gesetzt, jeden Erstsemestler in einem kleinen Seminar unterzubringen. U n d n u n stellen Sie sich vor, Stanford und vergleichbare Einrichtungen würden sich die Devise „verfassungsrechtliche freie Wahl der Ausbildungsstätte" zu eigen machen und die Tore für alle öffnen, die sich selber für qualifiziert halten. Mit der intensiven Betreuung der Studenten und mit dem guten Ruf wäre es schnell vorbei. Aber mit den Kleingrup-

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pen scheint es hier doch nicht so ernst gemeint zu sein. Bei der staatlichen Zuweisung an die Hochschulen soll „es maßgeblich auf die Zahl der Studenten ankommen, die in der Regelstudienzeit ...ihr Examen an dieser Hochschule mit gutem Ergebnis abgelegt haben." Also geht es dem Busunternehmen um so besser, je mehr Leute insgesamt mit dem Bus fahren. Wir können uns auf ein künftiges Hauen und Stechen unter Kollegen anstatt des begehrten Wettbewerbs freuen, wenn die geschickten Dozenten die weniger rentablen Massenveranstaltungen an Kollegen abwälzen. Die Strategie wird sein: mehr Busfahrgäste, aber nicht in meinem Bus. Wo wir in den ingenieur- und naturwissenschaftlichen Fächern aus Erfahrung wissen, daß nur ein Drittel der Studienanfänger einen Abschluß schafft, wäre eine Diskussion über eine Begrenzung der Studienanfängerzahlen sinnvoll. Es liegen schon Studien vor, die die Erfolgsquote vorhersagen. Viele Studenten fangen mit unrealistischen Vorstellungen an, und teilweise haben sie genau die Fächer abgewählt, die für ein solches Studium unabdingbar sind. Eine Beratung in der Orientierungsphase, wenn auch sinnvoll, löst dieses Problem nicht, weil sie zu spät einsetzt. Eignungsprüfungen gelten aber in manchen politischen Kreisen als unfein: „Für Sozialdemokraten ist und bleibt das Abitur die entscheidende Voraussetzung für die Zulassung zum Studium.... Bürokratische oder ins Belieben der Hochschule gestellte zusätzliche Zugangsbarrieren zum Studium lehnen wir ab. Für Sozialdemokraten steht in der Einführungsphase des Studiums das Prinzip Orientierung vor Kontrolle. Studienstandsnachweise als Selektionsbarrieren in der Einführungsphase halten wir für den falschen Weg." Mit dieser Einstellung wird der Eindruck erweckt, jeder Abiturient ist grundsätzlich für jedes Studium geeignet; wenn er während des Studiums in Schwierigkeiten gerät, sind die Professoren schuld daran. Offenbar daher rührt der besonders naive Versuch, eine Noteninflation anzuordnen. Von Politikern wird ernsthaft vorgeschlagen (und von manchen Studenten jubelnd aufgegriffen), Professoren nach den Noten für ihre Prüflinge zu beurteilen. Diese Überlegung ist realitätsfremd und kurzsichtig. Erstens ist es an einer deutschen Hochschule völlig normal, daß sich Studenten, die kein einziges Mal in der Vorlesung waren, für eine Prüfung anmelden (die könnten ja mit einem minimalen Arbeitsaufwand die Prüfung tatsächlich bestehen). Zweitens, und dies ist besorgniserregend, unter dem Druck der geringen Studentenzahlen und den damit (nach den berüchtigten Kapazitätsberechnungen) angemessenen Stellenkürzungen oder gar Schließungen prostituieren sich jetzt schon nicht wenige Fachbereiche gegenüber ihren Studenten. Damit gar kein Student auf die Idee kommt, sein Studium abzubrechen oder die Universität zu wechseln, werden sie von den Dozenten an der Nase durchs Studium geführt, und Einsernoten werden wie Gummibärchen verteilt. In Fachbereichssitzungen wird krampfhaft überlegt, welche Studiengänge aus dem Boden gestampft werden können, um junge Menschen zu ködern (wie wär's mit Öko-Werkstofftechnologie?). Die langfristige Perspektive, die Berufschancen der Absolventen, wird nicht hinterfragt. Leicht erkennbar sind die betroffenen Fachbereiche in den „Rankings" der populären Presse. Bestnoten werden von den Studenten vergeben, wenn sie von den Dozenten nett betreut werden. Personalchefs geben aber ein schlechtes Urteil ab, weil dieselben Studenten das selbständige Arbeiten nicht gelernt haben. Sie wundern sich, daß ihre Bewerbungen postwendend zurückgeschickt werden, hat-

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ten sie doch ausschließlich Supernoten. Leider kann die Privatwirtschaft Absolventen mit guten Zeugnissen nicht gebrauchen, wenn diese jeden Handgriff vom Vorgesetzten dreimal erklärt bekommen müssen. Die Praxis hat eben andere Kriterien als Noten. Die bewußte Verhinderung des Aufkommens einer Elite und staatlicher Einfluß haben dazu geführt, daß Hochschulen in Deutschland ungefähr gleich gut sind, was aber nicht heißt: sie sind gleich gut. Eine Konsequenz dieser Gleichmacherei ist der Ansturm der heranwachsenden Elite vieler Länder dieser Welt auf US-Universitäten. Aber es kommt noch schlimmer: führende Politiker beider großen Parteien dieses Landes schicken ihre Kinder zum Studium in die USA. Mein amerikanisches Herz lacht; bin ich doch überzeugt davon, daß die USA das großartigste Land dieser Erde ist. Als Hochschullehrer in Deutschland empfinde ich es aber als einen Schlag ins Gesicht, hat man uns doch deutlich gemacht, was von uns zu halten ist. Nach gängiger sozialer Lehre soll die Studiengebührenfreiheit für Chancengleichheit sorgen. Vergessen wir erstmal die Tatsache, daß Ausländer lieber ihre Ausbildung in den USA teuer kaufen, als das Angebot einer kostenlosen Ausbildung in Deutschland in Anspruch zu nehmen. Selbst junge Deutsche (bzw. deren Eltern) pfeifen auf die universitäre Ausbildung, die sie mit ihren Steuergeldern bereits bezahlt haben, und zahlen lieber den Preis einer Universitätsausbildung in den USA. Und da ist sie wieder: eine Chancenungleichheit, die den finanziell weniger Bemittelten benachteiligt. Die Bildung einer Elite kann eben nicht unterdrückt werden. Die globale Elite des nächsten Jahrhunderts bildet sich zur Zeit ohne Beteiligung deutscher Universitäten und damit ohne die breite deutsche Gesellschaft.

Bürokratie In dem Artikel „Willkommen im Labyrinth" (Der Spiegel) wurden Mißstände an der deutschen Universität beschrieben. „Hallo Student, halt die Ohren steif, du bist ganz auf dich gestellt" hieß es. Die Warnung trifft für Professoren genauso zu. Diplomvorprüfungsausschuß, Diplomhauptprüfungsausschuß, Arbeitsgruppe zur Novellierung der Studiengänge, Haushaltskommission, Raumplanungskommission, Lenkungssauschuß, Berufungsausschuß, Gremium hier, Sitzung da, die Woche ist schon vorbei, ehe man sich Gedanken über Forschung und Lehre gemacht hat, und alles läuft unter der Uberschrift „Selbstverwaltung". Um eine deutsche Universität am Laufen zu halten, ist die Mitwirkung in zahlreichen Gremien, Kommissionen, Arbeitsgruppen und Ausschüssen notwendig. Sich über Forschung und Lehre Gedanken zu machen, ist zu einem Luxus für einen Hochschullehrer in Deutschland geworden, den man sich nur außerhalb der Arbeits- oder Vorlesungszeit leistet. Diese Zeit wird allerdings für die darüber hinaus notwendigen ehrenamtlichen Tätigkeiten verwendet, damit das System der Forschungsförderung (Gutachtergruppen, Beiräte) nicht zusammenbricht. „Die Bürokratien wachsen von selber. ... Sie zurückzuschneiden, ist ein moralischer und intellektueller Kraftakt höchster Art. Dies so aufzubauen, daß wir nicht eine Situation kriegen, wo

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der Professor den ganzen Tag fleißig sein kann, ohne auch nur einmal an die Wissenschaft zu denken, ist schon ein Ziel. ... Also, haben wir bei der Max-Planck-Gesellschaft, bei der der Bund zuständig ist, und bei der Fraunhofer Gesellschaft, wo wir auch zuständig sind, alle drei Jahre gefragt, welche Vorschriften noch kratzen.." (Dr. M . Riesenhuber). Und wann wird bitte endlich an den Universitäten diese Frage gestellt? Wer an einer deutschen Hochschule z.B. versucht, eine Änderung im Stundenplan eines Studiums durchzusetzen, erlebt die Bürokratie des Systems in ihrer vollen Pracht. Erst erarbeitet ein Unterausschuß von fachkompetenten Kollegen einen Vorschlag, der einem Fachbereichsrat vorgelegt wird. In der Regel wird der Vorschlag dort zerredet, meist u m Besitzstände zu wahren. Falls der Vorschlag nach einer Überarbeitung durch den Unterausschuß diese Hürde besteht, kommt er in den Senat, w o fast ausschließlich fachfremde Personen darüber befinden sollen. Oft spielen hier sogar „Kulturunterschiede" zwischen Geistes-, Natur-, und Ingenieurwissenschaftlern eine Rolle, wodurch sachundienliche Diskussionen entbrennen. W e n n ein solcher Vorschlag den Senat passiert, geht er an das zuständige Ministerium, wo zwar meist keine Einwände erhoben werden, aber Zeit verloren geht. Durch diese „Selbstverwaltung", kombiniert mit dem Bestreben, auch an der Hochschule jeden rechtsfreien Fleck restlos zu beseitigen, ist ein Gebilde entstanden, an dem nur ein sich streng an alle Vorschriften haltender Volljurist Freude haben kann. Überlebenswichtig sind diverse Vorschriften des Haushaltsrechts, Arbeitsrechts, der Tarifgruppen des öffentlichen Dienstes, des Bundesreisekostengesetzes, Personalrechts, Ausländerrechts u.v.a.m., um so mehr, wenn Drittmittel eingeworben werden oder ein ausländischer Mitarbeiter eingestellt werden soll. Eigentlich ist es für eine Einzelperson nicht mehr zumutbar, alle relevanten Vorschriften zu kennen. Gesunder Menschenverstand reicht nicht aus, im Regelungsdschungel zurecht zu kommen. Macht man aber etwas falsch, dann meldet sich oft ein Vorschriftenexperte, der lediglich die Einhaltung „seiner" Vorschriften überwacht. In der Regel sagt er, was nicht geht, nicht aber, wie eine Lösung aussehen könnte. Vermeiden läßt sich der Arger nur dann, wenn man die Füße hochlegt. Die deutsche Presse wird nicht müde, den deutschen Hochschullehrer in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen, insbesondere verglichen mit seinem amerikanischen Kollegen. Leider wird es meist versäumt, den Leser durch wichtige Hintergrundinformationen aufzuklären. Beispielsweise die Aussage in der Süddeutschen Zeitung, es herrsche an einer bestimmten Universität in den U S A (Michigan State University) nicht „die Nonchalance gegenüber den Immatrikulierten, von denen an einer deutschen Massenuniversität niemand so recht weiß, ob sie tatsächlich im Hörsaal sitzen oder bloß im Computer stehen." W a r u m wird nicht berichtet, daß kaum eine deutsche Hochschule über eine zentrale Abteilung für Datenverarbeitung verfügt, die eine Erfassung des Fortschritts der Studenten ermöglicht? Warum wird verschwiegen, daß einem Dozenten in den USA Einsicht in die Akte eines Studenten ohne weiteres gewährt wird, während man in Deutschland noch nicht einmal in Erfahrung bringen kann, mit wie vielen Studenten m a n in der Vorlesung rechnen kann, geschweige denn, wie sie heißen? Soll das das Humboldtsche Ideal sein, oder ist das der Auswuchs eines übertriebenen Sinnes für Datenschutz? Der Satz von dem Amerikaner P. Levin: „Wenn ich in

Über Bildung, Elite und Bürokratie: die Hochschule in der öffentlichen Diskussion

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Deutschland Steuern zahlen müßte, bestünde ich darauf, daß jemand für 120.000 Mark im Jahr länger als acht Stunden in der Woche arbeitet" klingt (abgesehen von den zusätzlichen Verpflichtungen, die eine 60 Stunden-Woche trotz 8 Semesterwochenstunden zur Regel machen) fade, wenn man über das generell noch geringere Lehrdeputat in den USA Bescheid weiß. Sofern man in Deutschland neidisch über den großen Teich schaut und Rosinen aus dem amerikanischen Hochschulkuchen ins hiesige System einbetten will, sollte sorgfältig zwischen Polemik und vollständigen Fakten, zwischen Ursache und Wirkung unterschieden werden. Patentlösungen für die Probleme der deutschen Hochschule wird man ohnehin nicht finden, auch nicht an den Renommieruniversitäten in den USA. Mit Empörung wurde zur Kenntnis genommen, daß, als die F.W. Olin Stiftung die Ingenieurausbildung als zu spezialisiert, zu wenig interdisziplinär und zu wenig entrepeneurorientiert einschätzte, sie eine Reform mit einer Spende in Höhe von $ 200 Mio unterstützen will. Diese Spende ging aber nicht an das MIT, sondern an einen Nobody in der Szene (Babson College in Needham, Massachusetts) weil das „MIT zu sehr im alten Paradigma steckt...die haben eine Struktur und Professoren mit Anstellung auf Lebenszeit, die nach alten Methoden handeln." Starker Tobak für einen Laden, den viele weltweit für ein Vorbild halten. Nach diesem „Weckruf" haben die Verantwortlichen am MIT mit einer Umfrage unter Absolventen begonnen. Eine solche Umfrage könnte man hier auch durchfuhren, wenn der Verbleib der Absolventen nicht unter Datenschutz stünde. Das größte Hindernis der Funktionsfähigkeit der deutschen Universität in meinen Augen ist, daß Verantwortung und Entscheidungsgewalt nicht nur voneinander getrennt sind, sondern sie sind auch noch in anonymen Gremien so verdünnt, daß sie kaum auffindbar sind. Vieles läuft unbefriedigend, aber niemand ist dafür verantwortlich. Ferner werden viele Tätigkeiten von Hochschullehrern verlangt, für die ihre Qualifikation nicht zwingend notwendig ist. Mit dem neuen Hochschulrahmengesetz schreibt der Bund zu den Strukturen nichts mehr vor. Wenn die Ministerien der Länder klug sind, werden sie die Chance nutzen, verantwortungsfördernde Strukturen zu entwickeln und verantwortungsbewußten Menschen freien Raum zu lassen. Sie werden es auch vermeiden, Hochschullehrer mit Aufgaben zuzuschütten, die in einer ausgebauten Verwaltung besser aufgehoben wären. Als Kind hatte ich eine Wüstenrennmaus; diese Tiere gelten als intelligent. Einmal wollte ich wissen, wie schnell das Tier den Weg durch ein Labyrinth findet. Die Wüstenrennmaus kletterte aber über die Wände des Labyrinths, anstatt durch zu laufen. Vielleicht sollen wir nicht zu stolz sein, auch von einer Wüstenrennmaus etwas zu lernen.

Welche Eigenschaften braucht der Mensch? Überlegungen zur Tugendethik Norbert Hinske

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ei jedem Beruf, jeder Passion und jedem Hobby ist die Frage nach den Eigenschaften, die dafür verlangt werden, selbstverständlich. Anders steht es mit der Lebensführung. Welche Eigenschaften braucht der Mensch, um, wie immer seine Lebensumstände auch aussehen mögen, auf Dauer ein erfülltes Leben zu führen? Diese Frage wird heute kaum mehr gestellt. Fast sieht es so aus, als ob sich das Leben des Menschen von selbst lebte oder als ob es sich in Beruf und Hobby erschöpfte. Doch die Frage nach den Eigenschaften, die der Mensch jenseits von Beruf, Passion und Steckenpferd braucht, ist eine alte, in der europäischen Kultur seit der Antike immer wieder neu diskutierte Frage, deren Vernachlässigung am Ende so etwas wie ein Alarmsignal sein könnte. Ihre klassische Antwort hat sie in dem griechischen Begriff der arete gefunden, einem Begriff, der den Ubersetzern seit längerem nahezu unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet. Die weite Palette der Ubersetzungsversuche reicht von .Tüchtigkeit' über,Qualifiziertheit' bis hin zu der verzweifelten Wortbildung ,Tucht'. Denn die traditionelle Ubersetzung des Wortes mit,Tugend' weckt heute Assoziationen, die die Sache, um die es geht, eher verstellen als klären. Aus dem Modewort der Aufklärung ist eine Sottise geworden.

Tugend— was ist das eigentlich? Tugenden sind für die Antike zuerst und zunächst ganz einfach Eigenschaften, die jeder Mensch braucht, um seine spezifischen Möglichkeiten auf Dauer auszuschöpfen und so, allen Unberechenbarkeiten des Schicksals zum Trotz, ein erfülltes Leben zu fuhren. Es sind Eigenschaften, durch die man zu sich selbst findet. Da der Mensch keine einsame Insel ist, sind es aber zugleich auch diejenigen Eigenschaften, von denen das geglückte Zusammenleben mit anderen und damit das Gedeihen jedes Gemeinwesens abhängt.

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Norbert Hinske

Das griechische Ethos antwortete daher auf die Eingangsfrage mit der Nennung bestimmter Haupt- oder Primärtugenden, der sogenannten vier Kardinaltugenden. Für das fünfte vorchristliche Jahrhundert waren das Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit und Weisheit (bzw. Klugheit). Spätestens im ersten Jahrhundert vor Christus ist diese Vierergruppe dann auch im alexandrinischen Judentum zu finden (Weisheit 8.7). Diese Tugenden bilden Grundorientierungen des menschlichen Handelns und sind zugleich diejenigen Eigenschaften, die der Mensch braucht, um vor sich selbst bestehen zu können und nicht die Selbstachtung zu verlieren. An ihnen, nicht an Ansehen, Macht oder Besitz, entscheidet sich, wer einer ist. Tugenden sind demzufolge unabdingbare Voraussetzungen für das beständige Wohl des Einzelnen wie der Polis. Sie sind Bedingungen des geglückten Lebens, nicht des bloßen Uberlebens. Das brutale Erziehungsideal „hart wie Kruppstahl, flink wie W i n d h u n d e , zäh wie Leder" hat nur die letzteren im Auge. Härte, Zähigkeit, Schnelligkeit usw. sind gewiß wichtige Eigenschaften. Aber sie führen rasch ins Unheil, wenn sie nicht durch ganz andere Eigenschaften im Zaum gehalten werden. Auf der skizzierten Grundlage haben Piaton und Aristoteles dann in immer neuen philosophischen Reflexionsgängen eine eigene ethische Theorie, die sogenannte Tugendethik, entwickelt. Neben der Gesetzesethik, der Glückseligkeitsethik, der Pflichtethik u. a. bildet sie eine der Grundformen von Ethik. Daß sich diese verschiedenen Formen in Wahrheit nicht etwa ausschließen, sondern bei aller Konkurrenz eher ergänzen, sei hier nur am Rande hinzugefügt. Ethik ist eine so vielschichtige Angelegenheit, daß sie verschiedene Zugriffe verlangt. Die Frage, welche Eigenschaften der Mensch als Mensch braucht, ist nur eine Frage der Ethik neben anderen. Aber sie ist ohne Zweifel eine zentrale Frage. Jeder Ethikansatz bringt seine eigenen, genuinen Fragestellungen mit sich, die nur in eben diesem Kontext sinnvoll gestellt werden können. Die zentralen Fragen einer Tugendethik lauten vor allem: 1. Welches sind diejenigen Grundeigenschaften, auf die sich alle konkreten Qualifikationen des Menschen, und derer gibt es eine Menge, zurückführen lassen? 2. W i e lassen sich diese kardinalen Tugenden so definieren, daß man sie von ähnlichen oder scheinbar ähnlichen unterscheiden und davor bewahren kann, zur bloßen Karikatur ihrer selbst zu werden? Was unterscheidet z. B. Tapferkeit von bloßem Durchhaltevermögen, Tollkühnheit oder Donquichotterie, was Besonnenheit von Phlegma usw.? 3. Lassen sich die verschiedenen Tugenden voneinander trennen oder werden durch den Verlust einer einzelnen Tugend am Ende alle anderen mit beschädigt? Kann man z. B. gerecht sein ohne Tapferkeit, besonnen ohne Klugheit usw.? Von welcher Art ist das Verhältnis von Tugend und Tugenden? 4. Gibt es in dem Ensemble dieser Tugenden eine, die den Primat beanspruchen kann? 5. W i e gelangt man zu jenen Tugenden? Gründen sie sich auf Einsicht oder auf ständige Übung? Oder handelt es sich bei ihnen um so etwas wie Naturbegabungen, die man eben hat oder nicht hat? Oder ist Tugend am Ende gar, wie es in Piatons Menon heißt, ein „Geschenk des Himmels"? 6. Was wäre schließlich ein zureichender Begriff derTugend als solcher? Genannt sei an dieser Stelle nur, als ein Beispiel für zahllose andere, eine der Tugenddefinitionen der Horoi, jener

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teilweise höchst gedankenreichen Definitionssammlung der Platonischen Schule, die im Corpus Platonicum mit überliefert ist: „Tugend ist diejenige Verfassung eines sterblichen Wesens, die um ihrer selbst willen zu schätzen ist". Mit anderen Worten: Wer sich um Tugend oder um Tugenden bemüht, hat nicht irgendeinen Nutzeffekt im Auge. Tugend will man, wie man z. B. Gesundheit will; man will sie, um ganz Mensch zu sein. Die Definition macht aber auch deutlich, daß es bei der Frage nach der Tugend stets um das menschliche Leben als Ganzes geht. Tugend ist eine Antwort des Menschen auf das Wissen um seine Endlichkeit. Tugenden sind Eigenschaften für jede Jahreszeit. Alle jene Fragen stellen sich scheinbar mehr oder minder zwangsläufig, sobald sich das ethische Handeln an so etwas wie Grundeigenschaften zu orientieren sucht. Aber vielleicht sind sie in Wahrheit so selbstverständlich nicht. Die Gedankenlosigkeit, mit der heutzutage von Sekundärtugenden geredet wird (was sind denn eigentlich die Primärtugenden, vollständig und genau?), könnte einen Hinweis darauf abgeben, daß sich alle jene Fragen einer Tugendethik keinesfalls von selbst einstellen. Vielleicht war es vielmehr die Genialität des dreißigjährigen Piaton, sie aufgeworfen und damit die europäische Tugenddiskussion, deren vielfältige Wendungen und Wandlungen hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden können, auf den Weg gebracht zu haben.

Tugenden und Laster Die Frage nach den Eigenschaften, die der Mensch braucht, um auf Dauer ein erfülltes Leben zu führen, zieht eine Gegenfrage nach sich: Vor welchen Eigenschaften muß sich der Mensch hüten, wenn er sich nicht selbst unglücklich machen und das Gemeinwesen nicht ruinieren will? Werden die guten Eigenschaften des Menschen als ,Tugenden' bezeichnet, so nennt oder nannte man die schlechten ,Laster'. Laster sind Eigenschaften, die dem Menschen Lust und Befriedigung versprechen, ihn aber aufgrund ihrer Eigendynamik unweigerlich in Sackgassen führen. Ihre Analyse ist gleichfalls ein zentrales Thema der Tugendethik. De virtutibus et vitiis lautet dementsprechend ein Standardthema insbesondere der mittelalterlichen Ethik. Neben die Tugend- treten die Lasterkataloge. Neid, Habsucht, Haß, Zorn bzw. Wut gehören an prominenter Stelle in jene zweite Gruppe. Die Ächtung dieser schlechten Eigenschaften zählt gleichfalls zu den Grundpfeilern der europäischen Ethikgeschichte. Beides, die Tugend- wie die Lasterkataloge, bilden denn auch durch die Jahrhunderte hindurch ein ständiges Thema der Literatur und Kunst. Eine Sammlung auch nur der wichtigsten Zeugnisse ergäbe ein umfangreiches Buch. Eine der schönsten und sinnreichsten Darstellungen der Tugenden findet sich in Florenz am Südportal des Baptisteriums; sie stammt aus dem 14. Jahrhundert und geht auf Andrea Pisano zurück. Nicht weniger aussagekräftig ist die Darstellung der guten und der schlechten Regierung im Palazzo pubblico in Siena, an der so viele Touristen wie Joschka Fischer, ohne daraus zu lernen,

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acht- oder hilflos vorbeigehen. Das Buon Governo gründet sich auf die vier Kardinaltugenden der Antike, ergänzt durch die Tugend des Großmuts, sowie auf die neuen, christlichen Tugenden von Glaube, Liebe u n d Hoffnung, die verderbliche Regierung dagegen auf Laster wie Geiz, Hochmut, Eitelkeit, Grausamkeit, Betrug u. a. Das alles ist keine bloße Dekoration. Es ist eine ständig wiederholte Einschärfung der Maßstäbe, auf die jedes Gemeinwesen angewiesen ist. Wer sie mißachtet, ruiniert den Staat. Auch das ist im Palazzo pubblico eindrucksvoll dargestellt.

Der Streit um die Tugenden Spätestens der Hinweis auf die neuen, spezifisch christlichen Tugenden von Glaube, Liebe und Hoffnung, die sogenannten „göttlichen" oder „theologischen" Tugenden, zeigt, daß der Inhalt der Tugendkataloge nie endgültig feststand. Die Frage, welche Eigenschaften der Mensch als Mensch braucht, m u ß offenbar in jedem Zeitalter neu überlegt, die moralischen Meßinstrumente müssen immer wieder neu justiert werden. Zwar gab es in der europäischen Geschichte durch die Jahrhunderte hindurch so etwas wie einen festen Grundbestand. Uber den Wert einzelner Eigenschaften, z. B. der Hoffnung, aber wurde u n d wird nicht grundlos gestritten. Die wohl dramatischste Revolution in diesem Zusammenhang ist mit d e m Einbruch des Christentums in die antike Werteordnung verknüpft. Neben und über die vier Kardinaltugenden (deren Wert freilich auch jetzt nicht in Zweifel gezogen wird) treten nun die drei christlichen Tugenden, die nicht „erworben", sondern dem Menschen gewissermaßen „eingegossen" sind. Gründen die heidnischen Tugenden letzten Endes in dem Verlangen des Menschen nach Selbstachtung, so sind die christlichen dem Anderen zugewandt. Nur wer sich über die unterschiedliche Herkunft und Begründungsart der verschiedenen Tugenden i m klaren ist, begreift das Spannungsverhältnis, das zwischen ihnen besteht. Wer sie dagegen alle in einen Topf wirft, geht an den Problemen nichtsahnend vorbei. Auch jene Tugendrevolution hat auf dem Südportal des Baptisteriums in Florenz aufs geistvollste ihren Ausdruck gefunden (wobei der Tugend der Weisheit unter dem Zwang der Platzaufteilung höchst regelwidrig, aber vielleicht sachgerecht als Pendant die Tugend der Demut zugeordnet ist). Vergegenwärtigt man sich die Geschichte der europäischen Ethik, so ist es frappierend, welchen geringen Raum die genannten Fragen in der heutigen Diskussion einnehmen. Fast sieht es so aus, als arbeiteten Politik u n d Werbung Hand in Hand daran, die Lebenserfahrung und Ethik von zweieinhalb Jahrtausenden zu liquidieren und die Laster wieder salonfähig zu machen. ,Frech' ist ein Lieblingswort der Werbung, der Appell an den Neid eine Lieblingsstrategie der Politik im Kampf u m die Wählergunst. Auch ein Staatsoberhaupt, das bei jeder Gelegenheit versichert, daß es über dieses oder jenes „Wut" empfinde (und nicht etwa Abscheu oder was immer sonst), ist nicht gerade eine moralische Stütze. Beunruhigender noch ist jedoch die verbreitete Ausblendung der Fragestellung überhaupt. Eine Gesellschaft ist in

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Gefahr, wenn sie im Alltag erst lange überlegen muß, welche Eigenschaften der Mensch braucht, um sein Leben zu bestehen. Sie ist dem Untergang geweiht, wenn sie nicht einmal mehr die Frage stellt.

Sind die Geisteswissenschaften ihren Preis wert? Otfried Höffe - Georg Wieland

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ie Wertschätzung der Geisteswissenschaften ist ambivalent. Werden die Wissenschaften in Begriffen von „science" definiert, im Verständnis der Natur-Wissenschaft als der einzig wirklichen Wissenschaft, dann werden die Geisteswissenschaften zu bloßen „humanities" abgewertet zur Beschäftigung mit dem Humanen zwar, die aber auf Wissenschaftlichkeit keinen ernsthaften Anspruch erhebt. Und unter dem Gesichtspunkt des Nutzens zählt allein das Dreigestirn Naturwissenschaft-Medizin-Technik. Andererseits besteht ein nicht nachlassendes Interesse an der Geschichte und an klassischen Texten und zugleich das Interesse, diese und andere Zeugnisse menschlicher Kultur auf methodischem Weg, also denn doch wissenschaftlich zu erforschen. Außerdem verlangt die sich abzeichnende globale Zivilisation eine Zuwendung der verschiedenen Kulturen zueinander und dabei einen interkulturellen Diskurs. Deren Grundlagen erarbeiten die Geisteswissenschaften.

Vorab eine Bemerkung zur Bezeichnung. Die Geisteswissenschaften, auch Kultur- oder Humanwissenschaften genannt, umfassen im weiten Sinn außer der Philosophie, den Geschichts-, Sprach — und Literaturwissenschaften sowie den Musik- und Kunstwissenschaften auch die Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Nun klingt im Ausdruck „Geisteswissenschaften" der seit Descartes beliebte Dualismus von Natur und Geist an. Dieser wiederum leistet einem Verständnis Vorschub, das Geistes- und Naturwissenschaften zwei getrennten, sogar entgegengesetzten „Kulturen" zuordnet. Vor diesem Hintergrund konnten sich Theorien entwickeln, die den Geisteswissenschaften Kompensationsaufgaben zusprechen, derer die moderne Welt als Ausgleich der „Modernisierungsschäden", etwa dem Geschichtsund Traditionsverlust und der damit einhergehenden Überforderung des Individuums, bedarf. Diese Schäden - so heißt es - verdanken wir vor allem den naturwissenschaftlichen und technischen Prozessen. Die Grenzen dieser Zuordnung liegen auf der Hand. Erstens sind für die „Modernisierungsschäden" nicht nur Naturwissenschaft und Technik verantwortlich, sondern auch soziale Emanzipationsprozesse, deren unbestreitbarer Gewinn sich als nicht „kostenneutral" erweist. Zweitens sind die Geisteswissenschaften, wenn überhaupt, so doch weit mehr als eine „nachlaufende" Reparaturinstanz. Sie enthalten auch ein autonomes Potential: an Orientierung, Aufklärung, Interpretation und Erinnerung.

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Otfried Höffe — Georg Wieland

Die Erinnerungs- und Interpretationsleistungen verstehen sich von selbst. Zu erläutern bleiben ihre Orientierungs- und ihre Aufklärungsfunktion. Die Orientierung, die die Geisteswissenschaften bieten, besteht weder in einer unmittelbaren Handlungsanleitung noch in einer umfassenden theoretischen Wirklichkeitserklärung. Nicht nur setzt beides einheitliche und einvernehmliche Zielvorstellungen und Grundsätze voraus, über die die modernen, pluralistischen Gesellschaften nicht verfügen. Die konkrete Handlungsanleitung würde auch in die Autonomie der verantwortlichen Subjekte (Individuen, Wirtschaftsfiihrer, Politiker...) eingreifen. Und für eine umfassende Wirklichkeitserklärung ist im Rahmen der Wissenschaften allenfalls die Philosophie zuständig. Diese gibt sich aber nachdrücklich mit formalen (einschließlich analytischen) und transzendentalen Untersuchungen zufrieden. Verstehen läßt sich die Orientierungsleistung der Geisteswissenschaften als ein mittelbarer Prozeß, zu verdeutlichen am Beispiel von Landkarten. Jede Wissenschaft bedeutet einen Blick auf die Welt; er findet seine Darstellung in „Landkarten", die sich nach Ausschnitt, Maßstab, sachlichem Interesse usw. voneinander unterscheiden. So wie keine „Einheitslandkarte" existiert und die Suche nach ihr nicht sinnvoll ist, so gibt es auch keine Einheitswissenschaft, wohl aber einen Typ von Wissenschaften, nämlich die Geisteswissenschaften, die ihre je eigenen Karten zeichnen. Dank der ihnen eigentümlichen Selbstkritik ist ihnen zweierlei bewußt: daß ihre „Karten" keine absoluten, sondern relative Größen sind und daß es andere legitime „Karten" gibt, die sie selbst nicht entworfen haben. In den Geisteswissenschaften ist das Wissen der modernen Welt von sich selbst gegenwärtig, einschließlich der Welt der Naturwissenschaften, Medizin und Technik sowie der Wirtschaft und des Rechts. Geisteswissenschaften orientieren über die Heterogenität und die (latenten) Bezugsmöglichkeiten von „Landkarten". Sie klären darüber auf, daß zur Moderne eine Gesellschaft wachsender und doch aushaltbarer, produktiver Widersprüche gehört. Kurz: sie nehmen am Prozeß der Aufklärung und Modernisierung sowohl begleitend: kommentierend und kritisierend, als auch gestaltend teil. Zur Philosophie, verstanden als Theorie von Prinzipien, gehört es allerdings, über die Bedingungen der Möglichkeit von wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen „Landkarten" nachzudenken und insofern doch wieder Einheiten zu schaffen. Es sind freilich formale „Einheitslandkarten", die es überdies im Plural gibt.

Im Konzert der Wissenschaften Junge Menschen drängen in die Universitäten nach wie vor. Erstaunlicherweise ist dabei der Drang zu den Geisteswissenschaften ungebrochen, obwohl gerade sie von Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, namentlich dem Zusammenbruch des traditionellen Lehrerarbeitsmarktes, getroffen wurden. In dieser schwierigen Situation haben die Geisteswissenschaften - Lehrende ebenso wie Lernende - in den beiden vergangenen Jahrzehnten zwei für die gesamte Gesellschaft bedeutsame Leistungen vollbracht, eine sozialpolitische und eine kulturelle. Die

Sind die Geisteswissenschaften ihren Preis wert?

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sozialpolitische Leistung: Als Antwort auf den fehlenden Lehrerarbeitsmarkt, darüber hinaus um generell, nicht nur für Lehramtsfächer, einen Studienabschluß vor dem Doktorat anzubieten, haben sie das Magisterstudium etabliert. (In der Schweiz besteht schon des längeren das in etwa gleichwertige Lizentiat.) Seiner Anlage nach k o m m t es Grundanforderungen der modernen Berufswelt entgegen. Wenn hier Flexibilität, Problemlösungsfähigkeit und Kreativität verlangt werden, so sind es diese Qualitäten, die in den geisteswissenschaftlichen Studiengängen besonders eingeübt werden. Es ist daher nicht verwunderlich, daß nach wie vor exzellente Studenten angezogen werden. Die kulturelle Leistung: Trotz wachsender internationaler Konkurrenz haben die Geisteswissenschaften ihre Attraktivität im ganzen bewahren, zum Teil sogar ausweiten können. Es ist nach wie vor lohnenswert, i m deutschen Sprachraum etwa Philosophie, Geschichte, Literatur-, Musik- und Kunstwissenschaften zu studieren. Die Behauptung, die deutschen Geisteswissenschaften hätten ihre führende Rolle in den letzten Jahrzehnten eingebüßt, geht am Kern der Entwicklung vorbei: Die deutschen Gelehrten sind keineswegs schlechter geworden, doch ist die Forschung heute international breiter gestreut und das Niveau weltweit ausgeglichener als früher. Außerdem ist die Vielfalt der Ansätze und Methoden gewachsen. Zugleich sind die Anforderungen, die ein geisteswissenschaftliches Studium stellt, gestiegen. Gegenwärtige Magisterarbeiten lassen sich qualitativ vielfach mit Dissertationen früherer Jahrzehnte vergleichen oder übertreffen sie. Gewiß, Reformen, die eine Verkürzung der durchschnittlichen Studienzeit erreichen wollen, sind unerläßlich. Sie dürfen aber das hohe Leistungsniveau nicht gefährden; denn von ihm hängt die Fähigkeit geisteswissenschaftlicher Absolventen ab, sich auch in Zukunft neue Berufsfelder zu erschließen. Genau dieses ist nämlich in den vergangenen Jahrzehnten, von der Öffentlichkeit freilich unbemerkt, in hohem M a ß e gelungen. Welche Sozialgruppe ist denn so klaglos aus eigener Kraft in neue Berufe gegangen, nachdem die traditionellen Tätigkeitsbereiche binnen weniger Jahre nicht mehr hinreichend aufnahmefähig waren? Möglich war diese Flexibilität nur, weil das geisteswissenschaftliche Studium breite Kompetenzen und zugleich allgemeine Berufsfähigkeiten vermittelt. Wer die Rolle der Geisteswissenschaften im universitären Wissenschaftsverbund bestimmen will, beginnt mit ihrer autonomen Bedeutung für die Vergegenwärtigung der kulturellen Vielfalt menschlicher Lebensgestaltungen. Vergegenwärtigung heißt jedoch weit mehr als eine museale Präsentation, die auf ästhetischen Genuß abzielt. Es kommt auf Deutung und Erklärung, also auf eine rationale Vergegenwärtigung, an. Sie hilft, die moderne Welt in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen, auch in ihren naturwissenschaftlichen, medizinischen und technischen, darüber hinaus wirtschaftlichen Gestalten zu begreifen. Nur wer die Strukturen der modernen Gesellschaft versteht, kann vernünftig darüber nachdenken, wie sie weiter zu entwickeln ist, ohne dabei auf irrationale Muster zurückzugreifen. Dabei spielen die Geisteswissenschaften insofern eine besondere Rolle, als sie den mannigfachen Remythisierungstendenzen unserer Zeit entgegentreten, überdies den wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Möglichkeiten ein regulatives Wissen um Ziele und Grundsätze zur Seite stellen. Darüber hinaus halten sie einen Fundus von symbolischem und sprachlichem Wissen

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präsent, ohne welches eine technisch-ökonomisch dominierte Welt weder verständlich wäre noch sich mit humanem Leben erfüllen ließe. Nicht zuletzt sind sie fähig, das Neue, sowohl neue Erkenntnisse als auch neue gesellschaftliche Entwicklungen, verstehend zu begleiten. In diesem Sinn rufen etwa Vertreter der Bio- und der Ingenieurwissenschaften vermehrt nach Begleitung durch die Geisteswissenschaften und nach dem Gespräch mit ihnen.

Leistungen und Kosten der

Geisteswissenschaften

Es gibt verschiedene Maßstäbe, um die Leistungen von Wissenschaft zu messen. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten gewinnt der ökonomische Maßstab besonderes Gewicht: Was tragen Wissenschaften und wissenschaftliche Einrichtungen dazu bei, die Wirtschaftskraft eines Landes zu erhöhen und die Arbeitslosenzahl zu senken? Selbst an diesem Maßstab gemessen, darf man die Leistungen der Geisteswissenschaften nicht unterschätzen. Die für moderne Gesellschaften erforderlichen Kompetenzen ruhen auf Grundfertigkeiten, die vornehmlich geisteswissenschaftlich zu vermitteln sind, mag es dabei um die Analyse von Texten, um die Deutung kultureller Symbole, auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktionalisierung in Konflikten, oder um die Rekonstruktion komplizierter geschichtlicher Entwicklungen gehen. Man sagt zwar, die Geisteswissenschaften hätten ihr Definitionsmonopol an andere Disziplinen, etwa an die Lebens- und die Erkenntniswissenschaften (Bio- und Kognitionswissenschaften), verloren. Wahr ist jedoch, daß selbst in den Hoch-Zeiten der Philosophie, also in der Epoche von Piaton und Aristoteles oder von Kant und Hegel, andere „Definitions-Agenturen" ihr Recht behielten, etwa die attische Tragödie oder die deutsche Klassik. Um wieviel weniger kann es in der heutigen reichen Wissenschafts- und Kulturlandschaft ein Definitionsmonopol geben. Es gibt allenfalls (interdisziplinäre) Oligopole. Unter ihnen können sich die Geisteswissenschaften durchaus behaupten, nicht zuletzt auch die Philosophie, etwa als Wissenschaftstheorie, Ethik und Politische Philosophie. Aus den Fähigkeiten, die sie vermitteln, erwächst den Geisteswissenschaften ein Ausbildungsauftrag, der sich auf traditionelle Berufsfelder wie Schule und kulturelle Institutionen ebenso erstreckt wie auf neuartige, aus den Veränderungen der Moderne resultierende Tätigkeitsbereiche. Das Programm „Mit Kant und Kafka in die Wirtschaft" ist kein Werbegag der Geisteswissenschaften, sondern ein erfolgversprechendes Projekt. Darüber hinaus eröffnen der große Anteil jener nicht lohnorientierten Lebensgestaltung, die mehr als nur Freizeit bedeutet, und die hohe Lebenserwartung neue Möglichkeiten. Die schon jetzt existierende Nachfrage und die ihr entsprechenden Angebote bedürfen in zunehmendem Maße reflektierter Gestaltung, damit die Freizeitwelt nicht insgesamt zu einem riesigen Disneyland verkümmert. Mit diesem Aufgabenfeld hängt ein anderes eng zusammen: die Einübung in den sachgerechten Umgang mit den modernen Medien. Deren wachsende Leistungen dürfen den Blick dafür nicht verstellen, daß die moderne Welt in einem ebenso wachsenden Maße der Sprach-

Sind die Geisteswissenschaften ihren Preis wert?

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und Interpretationskompetenz bedarf. Deshalb greift zu kurz, wer den Umgang mit den neuen Medien auf technische Fertigkeiten beschränkt. Es bedarf vielmehr der anspruchsvollen Fähigkeit, die technischen Möglichkeiten auf eine humane Weise zu gebrauchen. Dafür bieten sich die Geisteswissenschaften mit ihrer Erfahrung in menschlichen Weltverhältnissen besonders an. Fernerhin tragen geisteswissenschaftliche Kompetenzen dazu bei, kulturelle Ungleichheiten, die mit der Demokratie in Spannung stehen, abzubauen, außerdem den Gefahren einer „Expertokratie" entgegenzuwirken u n d nicht zuletzt die politische Kultur einer Demokratie, den Diskurs unter freien und gleichen Bürgern, zu pflegen und durch diese Pflege vor dem Verfall zu bewahren. Noch ein weiteres Feld eröffnet sich mit der neueren Entwicklung. W i r werden darüber belehrt und die junge Generation macht zunehmend die Erfahrung, daß die moderne Arbeitswelt mit ihrer wachsenden Veränderungsgeschwindigkeit immer weniger auf ein starres Berufsbild mit fertigen Qualifikationen ausgerichtet ist. Immer mehr ist sie auf Kräfte mit der Fähigkeit zu Flexibilität, Anpassungsbereitschaft und Problemlösungskompetenz angewiesen. Auch wenn viele Unternehmen derartige Forderungen bislang nur im Munde führen, weil sie sich vor den damit verbundenen Innovationen fürchten, deuten doch alle Anzeichen auf einschneidende Veränderungen i m beruflichen Anforderungsprofil hin. Für diese neue Lage sind die Geisteswissenschaften insofern besonders geeignet, als sie schon lange nicht mehr auf starre Berufsfelder hin ausbilden, sondern i m Prinzip jene zukunftsfähigen Qualifikationen vermitteln, die den wachsenden Veränderungen entsprechen. Denn wenn es der Fähigkeit bedarf, an Probleme eigenständig heranzugehen und sie in umfassende Zusammenhänge einzuordnen, wenn es auf Teamgeist, Kommunikationsvermögen und jenes interdisziplinäre Denken ankommt, das sich aus einer Zweifach- oder sogar Dreifachkompetenz ergibt, wenn es um die Fähigkeit und Bereitschaft zum lebenslangen Lernen geht bis hin zu mehreren Berufswechseln in einem individuellen Arbeitsleben, so sind es diese Qualitäten, die vor allem die Geisteswissenschaften einüben. Schließlich sollte man bei aller Anerkennung ökonomischer Maßstäbe den Bildungssinn der Wissenschaften im allgemeinen und den der Geisteswissenschaften im besonderen nicht aus dem Auge lassen. Wenn man unter Bildung die Fähigkeit und Bereitschaft versteht, von sich und seinen subjektiven Interessen so weit Abstand zu nehmen, daß Anderes sich in seiner eigenen Bedeutung zur Geltung bringen kann, dann leisten die Wissenschaften insgesamt dazu einen entscheidenden Beitrag. Ihr Objektivitätsanspruch verlangt nämlich die Einschränkung der subjektiven Befangenheit. Im Fall der Geisteswissenschaften trägt der durch sie vermittelte Bildungs- und Kultursinn überdies zu jenem Gemeinsinn bei, der es - jenseits aller Expertenwelten - ermöglicht, uns als Teilhaber einer gemeinsamen Welt zu verstehen. In ihr werden nicht fremde, sondern unsere eigenen Angelegenheiten verhandelt. Neben diesen Leistungen liegt der spezielle Beitrag der Geisteswissenschaften in der Einsicht, daß es Felder und Bereiche menschlicher Tätigkeit gibt, die ihren Sinn in sich selber tragen. Die Geisteswissenschaften enthalten eine endogene Sperre gegen die universale Instrumentalisierung wissenschaftlicher Vollzüge und gegen das exklusive Verständnis menschlichen Lebens als eines bloßen Utilitätennetzes.

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Otfried Höffe - Georg Wieland

Die Leistungen der Geisteswissenschaften sind i m übrigen, vergleicht man sie mit den Kosten von Naturwissenschaften, Medizin und Technik, ausgesprochen preisgünstig. Selbst die führenden Forscher brauchen weit weniger Mitarbeiter, außerdem kaum kostenträchtige Labors und Apparate. Daß sie mit weniger Mitarbeitern auskommen, hat zudem einen glücklichen Nebeneffekt. M a n braucht geringere Drittmittel und kann sich, durch das Beschaffen von Geld nicht abgelenkt, stärker auf die eigene Forschung konzentrieren. Auf diese Weise vermag man noch, allein unter d e m eigenen Namen, Forschungsmonographien - und nicht etwa nur Lehrbücher — zu verfassen. (Im übrigen sollten wir über dem Zauberwort „Drittmittel" nicht vergessen, daß i m Wettlauf, der da Wissenschaft heißt, letztlich nicht die stolzen Kosten zählen, sondern der stolze Ertrag.) Das Ergebnis braucht den Vergleich nicht zu scheuen. Stellt man zusätzlich die Erfordernisse der modernen Welt in Rechnung, so sind die Leistungen der Geisteswissenschaften allemal ihren Preis wert.

Wenn die Geisteswissenschaften ihre Funktionen wahrnehmen wollen, müssen sie sich untereinander und zu allen Wissenschaftsformen hin öffnen. Stärkere Verknüpfungen zwischen den Disziplinen bis in die Naturwissenschaften, Medizin und Technik hinein sind erforderlich. Das Magisterstudium mit seinen vielfältigen Möglichkeiten, Fächer zu kombinieren, bietet dafür bessere Voraussetzungen als der staatlich regulierte Fächerkanon beim Staatsexamen. An der Kombination von mindestens zwei Fächern sollte festgehalten werden, weil es zu den Vorzügen geisteswissenschaftlicher Bildung gehört, die Welt aus mehr als nur einer Perspektive zu betrachten. Die Flexibilität des Magisterstudiengangs sollte aber genutzt werden, um auch Abschlüsse auf einer mittleren Ebene (Bakkalaureus bzw. Bachelor) zu erproben. Das genannte Reflexionspotential erlaubt den Geisteswissenschaften, den Graben zwischen den „zwei Kulturen" zu überbrücken. Darüber hinaus sind sie in der Lage, die der Naturforschung innewohnende humane Leistung an die Öffentlichkeit zu vermitteln. Und erst eine solche Vermittlung ermöglicht es der Gesellschaft, die wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Innovationsprozesse nicht als unabwendbares Schicksal zu erfahren. Nur wenn die Prozesse auf die dahinter stehenden Antriebskräfte befragt werden, können sie als reflektierte, vielleicht sogar kontrollierte Elemente in die Gesellschaft eingehen. Damit hängt eine weitere Eigenart der Geisteswissenschaften zusammen. Selbst dort, wo ihr „wissenschaftliches Gewissen" sie zu Aussagen zwingt, deren Verständnis Nichtfachleuten erhebliche M ü h e abverlangt, geht ihnen der Bezug zur Lebenswelt nie verloren. Auch auf diese Weise sind sie in besonderem M a ß e der Öffentlichkeit zugewandt. Diesen generellen Bezug verstärken Geisteswissenschaftler dort, wo sie sich grundlegenden Fragen der Zeit zuwenden. Die Behauptung, daß vor allem die Geisteswissenschaften das rationale Selbstbewußtsein der modernen Welt darstellen, verliert nämlich ihre Uberzeugungskraft, wenn sie sich nicht an den großen Debatten der Gegenwart maßgeblich beteiligen oder sie überhaupt erst in Gang bringen.

Die Zukunft des Arbeitsmarktes Meinhard Miegel

D

er Befund ist eindeutig. Die uns vertraute Organisation des Arbeitsmarktes geht ihrem Ende entgegen. Der Grund: Sie ruht auf einem Gesellschaftsmodell, dessen Tragkraft schwindet. Es ist das Modell einer kolonnenhaft formierten Arbeitnehmergesellschaft, in der eine kleine Minderheit - genannt Arbeitgeber - die Arbeitskraft der großen Mehrheit — genannt Arbeitnehmer - vermarktet und ihr dadurch ein Erwerbseinkommen verschafft. Der Staat ist für die lebensstandardsichernde Daseinsvorsorge zuständig.

Dieser Befund steht in einem weiten räumlichen und zeitlichen Zusammenhang. Räumlich trifft er auf alle frühindustrialisierten Länder zu, also die Länder der OECD einschließlich der Europäischen Union und Deutschlands. Zeitlich gehen die Veränderungen - wiederum die ganze frühindustrialisierte Welt umspannend - bis in die siebziger Jahre zurück. Ein wesentlicher Faktor dieses Wandels ist die dramatische Verschiebung im Bevölkerungsaufbau. Während im dritten Jahrhundertquartal in vielen frühindustrialisierten Ländern, vor allem aber in Deutschland, die Erwerbsfähigenanteile trotz breiter Zuwandererströme fielen, stiegen sie seit den siebziger Jahren kräftig an. Zwar bröckeln mittlerweile die Höchststände, die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre erreicht wurden, wieder etwas ab. Dennoch werden die Erwerbsfähigenanteile Deutschlands wie vieler anderer frühindustrialisierter Länder noch geraume Zeit im historischen Vergleich sehr hoch sein. Nicht minder bedeutsam ist eine zweite Veränderung: die Zunahme der Erwerbsbeteiligung. Wollten in den frühindustrialisierten Ländern in den siebziger Jahren nur etwa zwei Drittel der Erwerbsfähigen einer Erwerbsarbeit nachgehen, so sind es heute annähernd drei Viertel. Dieser Anstieg der Erwerbsbeteiligung hat in allen frühindustrialisierten Ländern nur einen Grund: die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen. Während die Erwerbsbeteiligung von jüngeren und älteren Männern fast überall deutlich zurückging - erstere befinden sich immer länger in Ausbildung, letztere immer früher im Ruhestand — stieg die Erwerbsbeteiligung von Frauen so steil an, daß sie den Rückgang der Männererwerbsbeteiligung erheblich überkompensierte. Diese Zunahme der Erwerbsbeteiligung ist von den Arbeitsmärkten der meisten frühindustrialisierten Länder nicht absorbiert worden. Zwar stieg — entgegen einer weit verbreiteten

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Meinung - der Anteil effektiv Erwerbstätiger zumindest bis Anfang der neunziger Jahre fast überall an. Doch reichte das größere Angebot an Arbeitsplätzen nicht aus, um die anschwellende Nachfrage nach Erwerbsarbeit zu befriedigen. Dabei hat sich zwischen den USA und einigen anderen frühindustrialisierten Ländern auf der einen und der Mehrzahl der frühindustrialisierten Länder Europas einschließlich Deutschlands auf der anderen Seite eine Schere geöffnet. In Nordamerika setzte sich der in den siebziger Jahren begonnene Trend wachsender Erwerbstätigkeit auch in den neunziger Jahren fort. In Europa brach er hingegen scharf ab. Deutschland verzeichnet heute, wie viele andere europäische Länder, den niedrigsten Erwerbstätigenanteil seit Ende des Zweiten Weltkriegs bzw. der Gründung der Bundesrepublik. Allerdings gibt es hier — wiederum entgegen einem verbreiteten Fehlurteil - kaum Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland. Letztere Aussage stößt vor allem in Ost-, nicht selten aber auch in Westdeutschland auf ungläubiges Staunen. Aber sie stimmt. Zumindest quantitativ ist der Anteil effektiv Beschäftigter an der Wohnbevölkerung in Ostdeutschland sogar etwas höher als in Westdeutschland. In Westdeutschland liegt er 1997 bei rund 41, in Ostdeutschland bei rund 42 v.H. Doch nicht nur quantitativ hat sich die west- und ostdeutsche Erwerbstätigkeit stark angenähert. Auch qualitativ ist sie recht ähnlich geworden. Wohl ist in Ostdeutschland der Selbständigenanteil noch etwas geringer und der Anteil abhängig Beschäftigter entsprechend höher als in Westdeutschland. Aber bei den abhängig Beschäftigten selbst gibt es nur mäßige Abweichungen. 1995 verfügten in Westdeutschland noch etwa 67 v.H. über einen dauerhaften Vollzeitarbeitsplatz, in Ostdeutschland noch knapp 70 v.H. Die übrigen gingen in West wie Ost - teils freiwillig, teils unfreiwillig - Teilzeitarbeit oder befristeten Tätigkeiten nach, geringfügigen Beschäftigungen oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Mit dieser Feststellung der quantitativen und qualitativen Annäherung der Erwerbstätigkeit in West- und Ostdeutschland soll allerdings nicht gesagt sein, daß die Beschäftigungslage gut sei. Zwar sitzen West und Ost in einem Boot. Doch das gemeinsame Boot hat ein Leck, wie zum einen der im historischen Vergleich sehr niedrige Erwerbstätigenanteil zeigt und zum anderen der rasche Schwund dauerhafter Vollzeitarbeitsplätze. In Westdeutschland — in Ostdeutschland wurde diese Entwicklung bei der Wiedervereinigung im Zeitraffer nachgeholt war in den sechziger Jahren erst jeder zehnte abhängig Beschäftigte nicht dauerhaft vollzeitbeschäftigt. In den siebziger Jahren war es bereits jeder fünfte, in den achtziger Jahren jeder vierte und nunmehr jeder dritte. Sollte sich dieser Trend fortsetzen - und hierfür gibt es verläßliche Hinweise —, würde in etwa zehn Jahren nur noch jeder zweite abhängig Beschäftigte einen dauerhaften Vollzeitarbeitsplatz haben. Die andere Hälfte würde mehr oder minder „flockigen" Beschäftigungen nachgehen. Dieser Rückgang von dauerhafter Erwerbstätigkeit, der nicht nur in Deutschland, sondern in allen frühindustrialisierten Ländern zu beobachten ist, hat schwerwiegende Folgen für Einkommen und Transferansprüche. In Deutschland beispielsweise steigen im wesentlichen nur noch die Erwerbseinkommen dauerhaft Vollzeitbeschäftigter im Gleichklang mit der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung. Ein großer Teil der flockig Beschäftigten verzeichnet hinge-

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gen Einkommenseinbußen, so daß die Arbeitseinkommen aller abhängig Beschäftigten zusammengenommen seit vielen Jahren praktisch stagnieren und seit einiger Zeit sogar rückläufig sind. Das gilt zumindest für Westdeutschland. In Ostdeutschland haben sich die Löhne der abhängig Beschäftigten seit der Wiedervereinigung vorerst real verdoppelt. Vor diesem Hintergrund ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland und anderen frühindustrialisierten Ländern zu sehen. Sie ist fast überall im historischen Vergleich hoch. Die Lage in Deutschland ist also keineswegs atypisch. Doch ist es wirklichkeitsfremd, sie hierzulande oder anderswo mit der Arbeitslosigkeit Anfang der dreißiger Jahre gleichzusetzen oder durch sie das Ende des sozialen Friedens oder gar der Demokratie heraufdämmern zu sehen. Das gilt wiederum ausdrücklich auch für Deutschland, vor allem, weil hier die Arbeitslosigkeit von drei Sonderfaktoren beeinflußt wird, ohne die sie im internationalen Vergleich eher mäßig wäre: Erstens ist die Erwerbsbeteiligung der ostdeutschen Bevölkerung im internationalen Vergleich abnorm hoch. Dies ist ein Relikt aus DDR-Zeiten. Zwar ist seit der Wiedervereinigung die ostdeutsche Erwerbsbeteiligung stark zurückgegangen. Doch wollen noch immer drei von vier ostdeutschen Erwerbsfähigen arbeiten gegenüber nur zwei von drei westdeutschen. Das heißt, wäre die Erwerbsbeteiligung in Ostdeutschland heute nicht höher als in Westdeutschland, wären nicht nur die Erwerbstätigenanteile, sondern auch die Arbeitslosenanteile in West und Ost gleich. Zweitens gingen in Deutschland, insbesondere in Ostdeutschland, im Zuge der Wiedervereinigung etwa 840.000 Arbeitsplätze verloren — beim Militär, in der Rüstungsindustrie, im Staatsapparat der DDR, bei der Stasi usw. Auch wenn den meisten dieser Arbeitsplätze keiner eine Träne nachweint, erlitt der deutsche Arbeitsmarkt durch den Verlust dieser Arbeitsplätze Erschütterungen, die anderen frühindustrialisierten Ländern erspart blieben. Drittens werden auf dem deutschen Arbeitsmarkt jährlich hunderttausende von offenen Stellen, allein im Jahre 1996 910.000, mit Arbeitskräften besetzt, für die sich weder Deutsche noch EU-Ausländer finden. Werden diese Besonderheiten bei der Berechnung des deutschen Arbeitslosenanteils berücksichtigt, verliert dieser einiges von seiner Brisanz. Das gilt in noch höherem Maße, wenn die deutsche Statistik den Rechenwerken anderer Länder angepaßt wird. So unterzog sich 1995 das Central Bureau of Labor Statistics in Washington der Mühe, den damaligen westdeutschen Arbeitslosenanteil auf amerikanische Art zu berechnen. Das bemerkenswerte Ergebnis: Der deutsche Anteil lag bei 6,5 v.H. im Vergleich zu 5,6 v.H. in den USA. Zu ähnlich überraschenden Erkenntnissen gelangt, wer die britische oder japanische Arbeitslosigkeit auf deutsche Art zu erfassen sucht, oder die schweizerische, niederländische oder dänische. Unbestreitbar gibt es Unterschiede. Aber sie nehmen sich eher bescheiden aus, wenn mit international vergleichbaren Daten gearbeitet wird. Mit dieser Feststellung soll nicht irgend etwas bagatellisiert werden. Doch ist niemandem mit dem fortdauernden Ruf gedient: Schaut hierhin oder dorthin, wenn ihr eure Probleme lösen wollt. Denn Tatsache ist, daß nicht nur West- und Ostdeutschland in einem Boot sitzen, sondern mit ihnen sitzen dort alle anderen frühindustrialisierten Länder, die einen weiter vorne, die anderen weiter hinten. Und alle haben ein gemeinsames Problem: Die Bedeu-

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tung der Erwerbsarbeit im Wertschöpfungsprozeß sinkt, und überall öffnen sich klaffende Risse im Sozialgefüge. Verschieden sind nur die Reaktionen auf diesen Befund: Amerikaner, Briten und einige andere antworten auf den Bedeutungsrückgang der Erwerbsarbeit mit sinkenden Löhnen, was für viele gleichbedeutend ist mit sinkendem Lebensstandard. Deutsche und Franzosen versuchen hingegen im Verein mit den meisten übrigen Europäern, ein Absinken des Lebensstandards wenigstens bei der Mehrheit zu vermeiden, was höhere Arbeitslosigkeit zur Folge hat. Damit stehen die Ursachen der Krise von Arbeitsmarkt und staatlicher Daseinsvorsorge zur Diskussion. Auf die hohe Erwerbsbeteiligung wurde bereits hingewiesen. Nachzutragen ist jedoch, daß die Erwerbsbevölkerung nicht nur viele Arbeitsplätze erwartet, sondern auch hochwertige. Daß eine Erwerbsarbeit in Deutschland gut bezahlt ist, wird als fast selbstverständlich vorausgesetzt. Doch gute Bezahlung allein reicht vielen nicht aus. D a eine stattliche Zahl von Erwerbstätigen in den frühindustrialisierten Ländern, namentlich aber in Deutschland, keineswegs nur dem schieren Broterwerb nachgeht, stellt sie neben hohen materiellen Ansprüchen auch hohe immaterielle Ansprüche an ihre Arbeitsplätze. Der Arbeitsplatz ist nicht nur Einkommensquelle, sondern zugleich auch und mitunter sogar vorrangig Quelle von Sozialprestige, Selbstbestätigung und -findung und eben auch Emanzipation. Hinzu kommt, daß die Erwerbsarbeit nach ebenfalls weit verbreiteter Auffassung nicht oder doch möglichst wenig mit der übrigen Lebensführung kollidieren darf. Idealiter möchte das Individuum seine Arbeitszeit, seinen Arbeitsort und seine Arbeitsinhalte selbst bestimmen. Wer möchte das nicht? Doch häufig steht dieser Wunsch im Widerspruch zu den realen Gegebenheiten. Kommt es zu Konflikten, werden diese nicht selten zugunsten privater Interessen gelöst. Nach außen tritt dies in Erscheinung als geringe räumliche Mobilität und zeitliche Flexibilität. Aber auch Tätigkeits- oder gar Berufswechseln steht der einzelne im allgemeinen zögerlich gegenüber. Vor allem wenn auch nicht nur in Deutschland werden darüber hinaus ganze Tätigkeitsbereiche als nur bedingt erwerbsarbeitstauglich angesehen. Z u ihnen zählen in erster Linie sogenannte kleine, personenbezogene Dienste, wie sie beispielsweise in den U S A millionenfach angeboten werden. Deutsche wie viele andere Europäer scheuen davor zurück, für Familienfremde die Schuhe zu putzen, die Koffer zu tragen oder das Frühstück zu bereiten. Die Gründe für diese Zurückhaltung von Deutschen und Europäern liegen keineswegs nur im Ökonomischen. Gewiß ist die Produktivität dieser Tätigkeiten oft gering, und entsprechend bescheiden ist ihre Bezahlung. Das gilt aber auch für den amerikanischen Arbeitsmarkt. Doch in den U S A fehlt eine Barriere, die für viele Europäer nur schwer überwindbar ist. Europäer haben generationenlang verinnerlicht, daß die Güterproduktion die eigentliche Erwerbsarbeit sei. Dienstleistungen, besonders jenen kleinen, personenbezogenen, hängt bis heute der Ruch des Feudalistischen an. Das Feudalistische aber galt es im Zuge der Industrialisierung zu überwinden. Der Bevölkerung wurde konsequent ihre angestammte agrarische Dienstleistungsprägung ausgetrieben. Niemand sollte und wollte noch irgendjemandes

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M a g d oder Knecht sein. Ausgenommen waren nur solche Diensdeistungen, die schon immer ein hohes gesellschaftliches Ansehen hatten - die freien Berufe i m weitesten Sinne - und solche, die nahe an der Güterproduktion angesiedelt waren. Fast tragisch an dieser Entwicklung ist, daß just jene Bereiche von Erwerbsarbeit, für die die Erwerbsbevölkerung generationenlang geprägt und qualifiziert wurde, auch jene Bereiche sind, in denen in allen frühindustrialisierten Ländern das Arbeitsvolumen - gemessen in effektiv geleisteten Arbeitsstunden - seit langem dahinschmilzt wie Schnee in der Sonne. In Deutschland verminderte es sich beispielsweise seit 1950 um rund 40 v.H. pro Kopf der Wohnbevölkerung, in allen übrigen frühindustrialisierten Ländern ist der Trend der gleiche. Der Grund: In den produktiveren Bereichen wird Erwerbsarbeit Zug um Zug durch Wissen und Kapital ersetzt. Lange Zeit war diese Ersetzung hoch willkommen. Sie war die Grundlage für bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne, kürzere Wochen-, Jahres- und Lebensarbeitszeiten, kurz: für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt, der nur allzu oft gleichgesetzt wurde mit Produktivitätsfortschritt. Dabei geriet aus dem Blick, daß die große Mehrheit der Erwerbstätigen nur einen recht bescheidenen Beitrag zu diesem Fortschritt leistete. Wohl verbesserte sich ihre Bildung und Ausbildung. Ungleich bedeutsamer war jedoch, daß ihre Arbeitsplätze fortwährend mit Wissen und Kapital angereichert wurden. Wissen im Sinne abstrakter und angewandter Erkenntnis ist heute der mit Abstand wichtigste Produktivfaktor zumindest in den Wirtschaftsbereichen, in denen hoch produktive, gut bezahlte Arbeitsplätze angesiedelt sind. Bereits 1993 war in den U S A der Wert des Anlagevermögens, das der Schaffung und Verbreitung von Wissen diente, größer als das gesamte industrielle Anlagevermögen einschließlich der natürlichen Ressourcen. Aber auch in Deutschland, dem Vereinigten Königreich oder Schweden machen Investitionen in Patente, Lizenzen oder Warenzeichen mittlerweile mehr als die Hälfte der Gesamtinvestitionen aus. Mit Beginn des vierten Jahrhundertquartals sind die frühindustrialisierten Länder hinübergeglitten vom Industriezeitalter in das Zeitalter des Wissens, und das Gleitmittel war das Kapital. In Deutschland steckt heute - im gleichen Geldwert - durchschnittlich doppelt so viel Kapital in einem Arbeitsplatz wie 1970 u n d weit mehr als dreimal so viel wie 1960 - fast eine halbe Million. A n sich könnte diese Entwicklung Anlaß zu großer Zufriedenheit sein. Die Bevölkerungen der frühindustrialisierten Länder könnten hoffen, sich der Erfüllung eines Menschheitstraums mit großen Schritten zu nähern. Dank des von Wissen und Kapital getragenen Produktivitätsfortschritts sinkt nämlich nicht nur das Arbeitsvolumen, zugleich steigt auch der materielle Wohlstand. In Westdeutschland beispielsweise erhöht sich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung seit Jahrzehnten — im Geldwert von heute — jährlich um durchschnittlich reichlich 800 D M . Pro Arbeitsstunde werden heute in Deutschland doppelt so viele Werte geschaffen wie vor einer Generation. W a r das nicht die Beschreibung des Schlaraffenlandes: Hoher Wohlstand bei wenig Arbeit? Doch Freude über das Erreichte will sich nicht einstellen.

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Die Gründe hierfür sind unterschiedlich. Da ist zum einen die Kränkung des Menschen, durch seine eigene Schöpfung, eben jenes abstrakte kaum faßbare Wissen, ersetzbar und schlimmer noch überflüssig geworden zu sein. Solange Wissen eindeutig diente, dem handelnden Menschen zu- und untergeordnet war, wurde es uneingeschränkt geschätzt. Jetzt, wo es vieles besser vermag als jener handelnde Mensch und in immer größeren Bereichen sehr gut ohne ihn auskommt, erscheint es bedrohlich. Der Schachweltmeister, der sich von einem Computer geschlagen geben muß, symbolisiert ein Schicksal. Denn viele Millionen machen täglich an ihrem Arbeitsplatz - nicht nur vor Computern - die gleiche, mitunter erniedrigende Erfahrung: Ich bin dem Ding nicht mehr gewachsen. Zum anderen spiegelt die Gleichung: hoher Wohlstand bei wenig Arbeit nur einen statistischen Durchschnitt wider, nicht aber die Wirklichkeit. In Wirklichkeit gilt: Wer hohen materiellen Wohlstand genießen will, m u ß entweder hart arbeiten (können) und/oder einen breiten Zugang zu Wissen und Kapital haben. Wer weder das eine noch das andere kann oder hat, steht a m Rande der Wohlstandsentwicklung. Konkret: Der Rückgang der Arbeitsmenge vollzieht sich zumindest in Deutschland u n d weiten Teilen Europas in der Weise, daß die einen hiervon nichts verspüren, während die anderen gar keine Arbeit mehr haben. Ein dritter Grund ist, daß der Produktivitätsfortschritt zwar neue, unter ihnen viele hoch attraktive, Arbeitsplätze hat entstehen lassen. Aber insgesamt hat er die Erwerbsarbeit auf eine abschüssige Bahn geschoben. Dort rutscht sie von Jahr zu Jahr weiter in den unattraktiven, niedrig produktiven Bereich, während sich im hoch produktiven Bereich Wissen und Kapital im Verbund mit wenigen hart arbeitenden Menschen positionieren. In Europa, namentlich auch in Deutschland, wurde diese Entwicklung lange Zeit verdeckt durch die immer feinere Fraktionierung hoch produktiver, wissens- und kapitalintensiver Erwerbsarbeit. Dadurch wurden die Deutschen, zusammen mit den Bevölkerungen von ein paar anderen frühindustrialisierten Ländern, zu Spitzenreitern nicht nur bei Einkommen, sondern auch bei Freizeit. Doch nun hat sich diese Strategie erschöpft. In Teilbereichen ist nicht mehr genügend hoch produktive Erwerbsarbeit vorhanden, u m sie fraktionieren zu können. In menschenleeren Fabriken gibt es nichts mehr zu fraktionieren. Zugleich dürfen mit der Fraktionierung Einkommensuntergrenzen nicht unterschritten werden - es sei denn, die Erwerbstätigen sind nicht nur durch Erwerbsarbeit, sondern auch durch Wissen und/oder Kapital am Wertschöpfungsprozeß beteiligt. Anderenfalls sind sie von der Wohlstandsmehrung ausgeschlossen oder verarmen sogar. Das Dilemma: Die große Mehrheit der Erwerbstätigen hat kaum über die Erwerbsarbeit hinausgehende Anbindungen an den Wertschöpfungsprozeß. Hätte sie sie, könnte sie die schwindende Erwerbsarbeit in den wissens- und kapitalintensiven Bereichen der Volkswirtschaft ohne Lohnausgleich weiter fraktionieren und sich zugleich ihrer nicht zuletzt deshalb steigenden Vermögenseinkommen erfreuen. Doch in der irrigen Annahme, die Arbeitskraft der vielen und nicht das Wissen verhältnismäßig weniger sei der Träger des Produktivitätsfortschritts und mithin seien die vielen dessen natürlicher Nutznießer, wurde versäumt, ihnen besseren Zugang zu Wissen, besonders aber Kapital zu verschaffen. Das war ein Fehler von historischer Dimension, dessen Tragweite noch

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gar nicht abzuschätzen ist. Statt die Bevölkerung zu substantieller Vermögensbildung anzuhalten — die Kapazität hierzu war und ist bei vielen vorhanden begnügten sich Tarifparteien und Staat mit einer Politik ständiger Lohnerhöhungen, hier und da mit etwas Mitbestimmung garniert. Hinzu kommt die verfehlte Organisation der sozialen Sicherungssysteme, vor allem der gesetzlichen Alterssicherung. Auch sie baut auf der irrigen Annahme auf, Erwerbsarbeit sei die einzige Quelle volkswirtschaftlichen Wohlstands. Deshalb werden der Erwerbsbevölkerung jährlich riesige Summen zur Finanzierung dieser Systeme entzogen. Könnte sie auch nur einen Teil dieser Summen für Zwecke der privaten Vermögensbildung verwenden - immerhin wendet ein Durchschnittsverdiener im Laufe eines 45jährigen Erwerbslebens eine runde Million allein für Zwecke seiner gesetzlichen Alterssicherung auf - , brauchte sie der Bedeutungsschwund der Erwerbsarbeit im Wertschöpfungsgefüge nicht zu ängstigen. So aber muß eine insgesamt recht kapitalschwache Erwerbsbevölkerung weitgehend hilflos mit ansehen, wie sich das Kapital langsam aber zielstrebig von der Erwerbsarbeit ablöst und dem Wissen zuwendet. Für das Kapital ist das eine rationale Strategie. Denn seine Verbindung mit Wissen ist produktiver und damit wohlstandssteigernder als seine bisherige Verbindung mit Arbeit. Kapital ist - die Bevölkerungen der frühindustrialisierten Länder erfahren das schmerzhaft - in einer noch nie dagewesenen Weise von der Erwerbsarbeit unabhängig geworden. Diese Unabhängigkeit wird noch verstärkt durch die neu gewonnene Freizügigkeit von Wissen und Kapital. Beide können sich in einer fast grenzenlosen Welt leichtfüßig bewegen. Sie stehen auf der Sonnenseite der Globalisierung. Anders ist die Lage fiir die Erwerbsbevölkerungen der frühindustrialisierten Länder. Sie müssen nicht nur hinnehmen, wie Wissen und Kapital sie zunehmend in die niedriger produktiven Bereiche der Volkswirtschaften schieben. Zugleich haben sie auch dem zunehmenden Konkurrenzdruck unter den Arbeitskräften selbst standzuhalten. Das gilt sowohl im Inland, wie die hohe Erwerbsbeteiligung zeigt, als auch im Verhältnis zum Ausland. Hier werden binnen eines Jahrzehnts dem Arbeitsmarkt rund eine Milliarde gut qualifizierter und motivierter Arbeitskräfte zusätzlich zur Verfügung stehen. Gewiß werden viele von ihnen von expandierenden Volkswirtschaften absorbiert werden. Dennoch dürfte das Angebot an Arbeitskräften zumindest vorübergehend weltweit deutlich steigen. Die Erwerbsbevölkerungen der frühindustrialisierten Länder befinden sich damit von zwei Seiten unter Druck. Auf der einen Seite drücken Wissen und Kapital auf der anderen ein wachsendes Heer tüchtiger und - vorerst - bescheidener Arbeitskräfte. Dazwischen stehen sie: erfolgsverwöhnt, anspruchsvoll und wählerisch. Diese Haltung ist ihnen nicht vorzuwerfen. Sie sind geprägt von den Bedingungen, unter denen sie bislang gelebt und gearbeitet haben. Das für sie Mißliche: Diese Bedingungen haben an Wirkkraft verloren. Die Zeiten haben sich verändert. Das heißt nicht, daß sie schlechter geworden sind. Vielmehr eröffnen sie ungeahnte Chancen für die materielle und immaterielle Entfaltung von weit mehr Menschen als jemals zuvor. Nur zwingen sie die Bevölkerungen der frühindustrialisierten Länder zu Veränderungen ihrer Sicht- und Verhaltensweisen sowie ihrer Leitbilder. Was ist zu tun?

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Soll die Arbeitslosigkeit in einem Zeitraum von etwa 5 Jahren spürbar sinken, gibt es nur drei Wege, die jedoch letztlich in einem münden. Alle drei sind unbequem. Der erste ist eine spürbare Senkung der Arbeitskosten, vor allem der Arbeitskosten der weniger Produktiven. Das kann geschehen durch eine Verminderung der gesetzlichen und/oder tariflichen Lohnzusatzkosten und/oder der Direktentgelte. Der zweite Weg ist eine deutliche Verminderung der individuellen Arbeitszeit, wiederum vor allem der weniger Produktiven, ohne jeden Lohnausgleich. Der dritte Weg ist die Erschließung jener ungeliebten, oft niedrig produktiven und folglich schlecht bezahlten kleinen Dienste. Alle diese Wege sind in dem einen oder anderen frühindustrialisierten Land gegangen worden. Deshalb wissen wir: Sie alle führen zu einer deutlichen Verminderung des Lebensstandards breiter Bevölkerungsschichten bei gleichzeitig nicht minder deutlichem Anstieg des Wohlstands einer Minderheit. Für uns Deutsche heißt das ganz konkret: W i r müßten uns daran gewöhnen, daß künftig Vollzeitbeschäftigte nicht selten eine geringere Kaufkraft hätten als heutige Sozialhilfeempfänger und diese mit merklich weniger vorlieb zu nehmen hätten als bisher. Das heißt weiter, daß auf Straßen und in Schulen A r m u t manifest und der eine oder andere Stadtteil verslumen würden. Das heißt schließlich, daß mit großer Wahrscheinlichkeit gesellschaftliche Spannungen verstärkt würden, die sich nicht zuletzt in höherer Kriminalität entladen könnten. Das kann in Ländern, die diese Wege gehen, ebenfalls beobachtet werden. In den USA beispielsweise sitzen pro Kopf der Bevölkerung achtmal so viele Menschen im Gefängnis wie in Deutschland. Um diese Folgen zu mildern, könnten Systeme einer sozialen Grundsicherung geschaffen werden. Diese Systeme könnten außerhalb von Erwerbsphasen vor allem im Alter wirksam werden und zumindest dann ein existenzsicherndes Einkommen gewährleisten. Sie könnten aber auch generell besonders niedrige Erwerbseinkommen aufbessern. Doch dann befürchten viele, die öffentlichen Haushalte würden dermaßen aufgebläht, daß dadurch etwaige positive Beschäftigungseffekte wieder zunichte gemacht würden. W i r d die Bevölkerung Deutschlands einen oder auch mehrere dieser Wege gehen? Erste Schritte hat sie bereits unternommen. Aber sie zögert, zügig voranzuschreiten. Dazu sind sie ihr doch zu heikel und zu m ü h sam. „Politisch nicht durchsetzbar", heißt es. Den Deutschen und vielen anderen Europäern brennen die Beschäftigungsprobleme offensichtlich noch nicht so auf den Nägeln, daß sie zum Abbau der Arbeitslosigkeit größeren Bevölkerungsteilen einen spürbaren Rückgang ihres Lebensstandards zumuteten. Niemand sollte sie dafür schelten. Doch sollen ihnen die Probleme nicht schon bald auf den Nägeln brennen, müssen sie unverzüglich eine andere Strategie verfolgen, die die Gesellschaft noch tiefer umpflügen wird als die genannten Wege und die kaum weniger mühsam, aber erheblich chancenreicher ist: Sie müssen die dynamischen Kräfte in Wirtschaft und Gesellschaft stärken. Dieser so harmlos klingende Appell beinhaltet nicht weniger als eine Revolution. Denn auch wenn sich viele dessen schmeicheln — die Deutschen und viele andere Europäer bilden schon lange keine dynamischen Gesellschaften mehr. Zwar gibt es noch immer Individuen, Grüpp-

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chen und Gruppen, die mit großem Können und Einsatz ihren Lebensbereich gestalten. Aber viele stehen auch abseits, sind bequem, träge und risikoscheu und laden ihre Lebenslast nur allzu bereitwillig bei anderen, vorzugsweise dem Staat, ab. Das hat objektive, vor allem aber subjektive Gründe. Ständig ist von Wettbewerb und Leistung die Rede. In Wirklichkeit sind wir weder eine Wettbewerbs- noch Leistungsgesellschaft. Diese Kategorien mögen vielleicht noch für Spitzensportler und Klaviervirtuosen Geltung haben, für die breite Masse sind sie bedeutungslos. Das gilt früh im Leben. W i e sonst ist es zu erklären, daß rund ein Drittel der Schulabgänger nicht mehr in der Lage ist, eine Ausbildung erfolgreich zu durchlaufen und die Hochschulen monieren, daß jeder Dritte Abiturient nicht wirklich für ein Studium geeignet sei? Gewiß hat das auch etwas mit natürlichen Begabungen zu tun, aber eben auch mit dem massenhaft verbreiteten Gefühl: Warum sollen wir uns anstrengen, soll doch das Gemeinwesen zusehen, wie es mit uns zurechtkommt. Dieses Gefühl hat sich nicht zufällig ausgebreitet. Es wurde generationenlang gepflegt und belohnt. Deshalb bedarf es erheblicher Anstrengungen, um es zu überwinden. Durch die Parlamente und Parteien, Verbände und Medien, Schulen und Universitäten, Betriebe und Kirchen m u ß ein Ruck gehen. Die Bevölkerung m u ß wieder begreifen, daß jeder Mensch Verantwortung trägt: für sich selbst, seine Familie und Nachbarschaft, aber auch seinen Arbeitsplatz und seine Daseinsvorsorge. Ihre Lebenslasten dürfen nur die wirklich Schwachen bei anderen abladen. So wie die wirklich Schwachen Anspruch auf die Hilfe des Gemeinwesens haben, haben die wirklich Starken Anspruch auf Förderung. Das mag zunächst paradox erscheinen und macht doch Sinn. Denn die Zahl derer, die in einer Bevölkerung klarer denkt, weiter blickt und zielstrebiger handelt ist begrenzt. Daher handelt eine Gesellschaft töricht, wenn sie diese nicht fördert. Sie beraubt sich ihrer Pfadfinder. Jahrzehntelang haben wir in der Frage der Eliten betreten geschwiegen. Sie war geradezu tabuisiert. Dieses Tabu können und dürfen wir uns nicht länger leisten. Hiermit verbunden ist die Förderung von Selbständigkeit und Unternehmertum. Dabei geht es nicht in erster Linie um die Weckung weiterer Freiberufler oder Förderungsfonds für Jungunternehmer. Vielmehr m u ß der große, gebildete und wohlhabende Bevölkerungsteil lernen, einen größeren Teil seiner Existenzsicherung in die eigene Hand zu nehmen. Sich auf die Straße zu stellen und einen Arbeitsplatz zu fordern ist einfach, ihn zu schaffen schwierig. Solange jedoch die einen immer nur fordern und von den anderen erwartet wird, daß sie diese Forderung erfüllen, wird es mit der Verwirklichung von Gleichheit in unserer Gesellschaft nicht weit her sein. Die Zukunft gehört dem Unternehmer seiner eigenen Arbeitskraft. Zwar wird auch in Zukunft die Mehrheit der Erwerbsbevölkerung in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen stehen. Wer aber seine Arbeitskraft nicht selbst in das Wertschöpfungsgefüge einzubringen vermag und sich hierfür Dritter bedienen m u ß , wird zu den Verlierern des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels zählen.

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Diese im weitesten Sinne unternehmerische Gesellschaft kann und wird innovativer und produktiver sein als die heutige. Damit ist nicht gesagt, daß die Erwerbsbevölkerung künftig oft nachts oder an Sonn- und Feiertagen arbeiten oder unentwegt durch das Land ziehen wird. Das sind wirklichkeitsferne Schreckensszenarien, die nur vom eigentlich Gebotenen ablenken. Geboten ist, daß die richtige Kraft zur richtigen Zeit am richtigen Ort zum Einsatz kommen kann. Projektbezogenes Arbeiten wird zur Regel werden. Das ist gut so. Denn die noch immer vorherrschende Arbeitsorganisation vergeudet viel Lebenskraft und -zeit. Für die Dynamisierung der Gesellschaft gänzlich unverzichtbar ist schließlich die Umgestaltung der Einkommens- und Vermögensstrukturen. Der historische Fehler, die Erwerbsbevölkerung fast ausschließlich durch Erwerbsarbeit am Wertschöpfungsprozeß zu beteiligen, muß dringend berichtigt werden. Dazu ist erstens das Bewußtsein zu wecken, daß die Bedeutung der Erwerbsarbeit bei der Wertschöpfung ab- und die von Wissen und Kapital zunimmt. Gemessen an anderen frühindustrialisierten Ländern sind die Deutschen vor allem an Produktivkapital zu wenig beteiligt. Sie müssen verstärkt sparen, Vermögen bilden und produktive Risiken eingehen. Und sage niemand, viele könnten das nicht. Sie müssen nur gefordert werden. Verbreiterung des Vermögensfundaments erfordert ferner, daß Geldwertstabilität — mit und ohne Euro — einen hohen Rang behält, besonders aber, daß die Bürger mehr ihres Erwirtschafteten in den eigenen Taschen behalten. In vielen frühindustrialisierten Ländern schnürt ein zu hoher Staatsverbrauch die Handlungs- und Gestaltungsräume der Bevölkerung übermäßig ein. Der Staatsverbrauch muß verringert, die Steuerlast gesenkt und das Sozialsystem umgebaut werden. Dabei hat der Umbau des Sozialsystems in einem Land wie Deutschland die größte Bedeutung. Seine derzeitige Organisation lähmt die dynamischen Kräfte der Gesellschaft gleich doppelt. Indem es staatliche Vollversorgung bei allen Lebensrisiken in Aussicht stellt, hemmt es die Menschen, zumindest einen Teil ihrer Daseinsvorsorge unternehmerisch initiativ in die eigenen Hände zu nehmen. Die meisten wissen heute gar nicht mehr, was für individuelle Gestaltungskräfte sie haben. Diese Organisation bindet aber auch den größten Teil der Vermögensbildungskapazität der Durchschnittshaushalte ohne je Vermögen entstehen zu lassen. Das kann gar nicht deutlich genug gesagt werden: Wer unter den sich ändernden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen an den tradierten sozialen Sicherungssystemen, vor allem der gesetzlichen Alterssicherung, festhält, trägt zur relativen Verarmung der Arbeitnehmer bei. Er kettet sie an den Faktor Erwerbsarbeit, anstatt ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, sich an dem zunehmend bedeutsamen Faktor Wissen und Kapital zu beteiligen. Damit sind die Konflikte angedeutet, die die Bevölkerungen der frühindustrialisierten Länder, namentlich Deutschlands, auszutragen haben. Hier sind Sicht- und Verhaltensweisen, die vom Wandel der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse überrollt wurden, zu Besitzständen erstarrt, die von mächtigen Interessengruppen zäh verteidigt werden. Hierunter leidet das Gemeinwohl. Die Symptome: Arbeitslosigkeit, wachsende Armut in bestimm-

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ten gesellschaftlichen Schichten, Politikerverdruß und anderes mehr. Um das zu überwinden, muß die Bevölkerung den Wandel annehmen. Jetzt sind die Weichen zu stellen: Die Bevölkerung muß sich entscheiden, ob sie das Bisherige befristet fortführen will, was immer auch bedeutet: Mangel an produktiver Beschäftigung, Sozialstaatskrisen und schleichende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, oder ob sie ihre Sicht- und Verhaltensweisen so verändert, daß bei möglicherweise größeren sozialen Unterschieden der Wohlstand für die große Mehrheit weiter wächst und der Einfallsreichtum sowie die Leistungs- und Verantwortungsbereitschaft des einzelnen eine deutlich größere, der Staat hingegen eine geringere Rolle spielen. Der Ubergang von der einen zur anderen Ordnung ist nicht konfliktfrei. Doch sind die Konflikte eines gleitenden Ubergangs von der tradierten Arbeitnehmer- zur unternehmerischen Gesellschaft ungleich geringer als die Konflikte einer Gesellschaft, die mit dem Wandel der Wirklichkeit nicht Schritt gehalten hat. Geben wir uns keinen Täuschungen hin: Im bestehenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Netzwerk können die uns belastenden Probleme allenfalls gemildert, nicht aber dauerhaft gelöst werden.

Einige osteuropäische Neurosen Die Intellektuellen, die Übergangszeit und die europäische Integration Andrei Pleju

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in Hobby der Intellektuellen ist die Neurose. Unter Neurose verstehe ich die Fähigkeit, in jeglicher Gegebenheit eine irritierende Komponente, einen toxischen Kern zu identifizieren. Jeder echte Intellektuelle hat den Hang zur Unzufriedenheit, das Talent, verdrießlich und mißgelaunt zu sein. Es macht keinen Sinn, uns jetzt zu fragen, ob das schon immer so war. Tatsache ist, daß dies der Stand der Dinge in der modernen Zeit ist. Und in den ehemals kommunistischen Ländern weist die intellektuelle Neurose eine spezifische Symptomatologie auf, über die ich mit gewisser Kompetenz sprechen kann, und zwar nicht als der über den Dingen stehende Analytiker, sondern als Patient in chronischem Zustand. Seltsam ist, daß die Wende von 1989 die Neurosen eher verstärkt hat, als sie zu heilen. Vorher waren die Fronten klar: auf der einen Seite die totalitäre Macht, auf der anderen der Widerstand leistende Intellektuelle. Auf der einen Seite das „sozialistische Lager" als weltliche Variante der Hölle, auf der anderen die „freie Welt" als weltliche Variante des Paradieses. Nuancen wurden gemieden, und wo es keine Nuancen gibt, ist die Neurose unter Kontrolle. Dann aber, nach 1989, wurden wir langsam von unzähligen Nuancen überschwemmt. Die errungenen Freiheiten haben den Sinn für das Notwendige betäubt, dafür aber die Euphorie des Möglichen stimuliert. Das Mögliche bedeutet, Gelegenheit haben, zu wählen. Wenn aber ein Intellektueller etwas wählen muß, ist die Neurose vorprogrammiert... Als erstes entdeckten wir, daß das totalitäre Universum zwar unser großes Pech, unser historisches Drama war, wir es aber geschafft hatten, uns anzupassen: Die totalitäre Welt war für uns zum Teil des Schicksals und zum Alltag geworden. Unser Schicksal, « w i r Alltag. Mit anderen Worten — wir identifizierten uns mit dem, was wir erlebten, so wie du dich mit deinen Zahnschmerzen, mit Schlaflosigkeit, mit deinem Überlebensinstinkt identifizierst. Das erklärt auch die Existenz der Nostalgiker, jener Menschen, die über die Erfahrungen der Diktatur so wie die Großväter über den Krieg sprechen, über die Gefangenschaft oder über die Hungerzeit: die unangenehmen Erinnerungen vermischen sich, fast zärdich, mit einer Art von heroischem Bewußtsein, mit der Genugtuung, überlebt zu haben. Hinzu kommt, daß sie Hintergrund und Substanz unserer Jugend sind. Wir bewegten uns freimütig in einem adstrin-

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gierenden Umfeld, und das stärkte unser Lebensgefuhl. Schließlich war unser mehr oder minder effizienter, unser mehr oder minder illusorischer „Widerstand" schon an sich ein Hochgenuß. Kurz gesagt - man konnte leben. Und man konnte in der Selbsttäuschung leben, ein schweres, aber interessantes Leben führen.

Vervielfachte Verlockungen Jetzt aber, nach der großen Wende, entdeckt man gezwungenermaßen die Halbschatten der Freiheit (Halbschatten, die gewöhnlich als Probleme der Ubergangszeit bezeichnet werden). Es handelt sich um die Langeweile, nicht mehr von der Zensur gepiesackt zu werden, um das Verschwinden des traditionellen „Feindes", um die Banalisierung des Reisens, um die Vervielfachung der Verlockungen bei gleichzeitiger Verringerung der Mittel. Mit einem Wort, um all jene Nachteile, die meist bei der Erfüllung von Träumen mit die Szene betreten. Die Normalisierung wirkt einschläfernd, enttäuschend. Was Timothy Garton Ash als „the uses of adversity", die Vorteile des Unglücks, bezeichnete, verschwindet in der Versenkung. Man ist eher angehalten, die Nachteile der freien Entscheidung und der Verantwortung entdecken zu müssen. Die Intellektuellen stehen vor einem neuen Dilemma, und das hat neue Neurosen zur Folge. Was sollen sie tun? Sollen sie die Freiheit nutzen und sich endlich an die Arbeit machen, oder sollen sie ihr Talent, ihre Bestimmung auf später vertrösten und mit Hand anlegen beim allgemeinen Bemühen um den Wiederaufbau? Selbstverständlich wird jegliche Entscheidung in kürzester Zeit als falsch, als bedauerlich empfunden. Der Intellektuelle, der sich abseits hält, wird bald von moralischen Schuldgefühlen geplagt, während jener, der sich „engagiert", die Promiskuität des Politischen und die Grenzen des eigenen, recht dürftigen Pragmatismus entdeckt. Beides bewirkt Schlaflosigkeit. Das bürgerliche Daimonion gerät mit dem geistigen Daimonion in Konflikt. Doch jeder Versuch, die beiden zu versöhnen, läuft Gefahr, naiv oder anmaßend zu wirken. Mit anderen Worten, wenn man die Notwendigkeit der moralischen Imprägnierung des Politischen beschwört oder die Pflicht der Intellektuellen gegenüber der Gesellschaft, wird man entweder der utopischen Unangemessenheit oder des scheinheiligen Ehrgeizes bezichtigt, als einer, der sich edle Alibis für seine Karrieresucht zurechtlegt. Was nun die „neue Welt" betrifft, die sich vor dem ehemaligen „sozialistischen Lager" auftut, so ist diese zweifelsohne voller verlockender Tugenden und Versprechungen. Aber sie ist grundlegend anders als das Modell in unserem Kopf. Es ist eine bessere Welt, aber sie ist auf eine andere Weise besser, als wir uns es vorgestellt haben. Und sie ist nicht - oder scheint uns nicht — in allen Punkten „besser". Wie dem auch sei, die Beziehung zwischen unserer Welt, die noch völlig verworren ist von den Plagen der fünfJahrzehnte Totalitarismus, und der wohlgefestigten Welt Westeuropas - einer Welt, in der Demokratie, Rechtsstaat und Wohlstand selbstverständlich und zum Alltag geworden sind - , diese Beziehung ist noch nicht optimal

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abgestimmt. Für jede der Welten ist die „andere" Welt eine Summe von Platitüden, ein Gemisch aus falschen Vorstellungen (darunter viele WunschVorstellungen), Vorurteilen und Ignoranz. Die Situation erinnert an den Anfang eines Prosatextes von Unamuno, in dem uns gesagt wird, daß — wenn Pedro und Juan sich unterhalten - sich mindestens sechs Personen unterhalten: Der wahre Pedro mit dem wahren Juan; das Bild, das Pedro von sich selbst hat, mit dem Bild, das seinerseits Juan von sich hat; und schließlich das Bild, das sich Pedro von Juan macht, mit dem Bild, das Juan sich von Pedro macht. Ungefähr so sieht es auch aus, wenn West- und Osteuropa sich gegenüberstehen. Wir neigen dazu zu glauben, daß der Westen die absolute Lösung für all unseren Frust ist, die wunderbare Inventurliste all dessen, was uns fehlt: Freiheit, Sicherheit, Justiz und Wohlstand. Wir geben eventuell sogar zu, daß es nirgendwo die absolute Perfektion gibt, daß demnach auch der Westen mit einigen Mißtönen aufzuwarten hat. Aber im allgemeinen wirkt jeglicher Versuch, den Erfolg des Kapitalismus herunterzuspielen oder zu relativieren, irritierend auf uns. Das erinnert uns nämlich an die aggressive und verformende Rhetorik der Parteiideologie, die unsere Urteilsfähigkeit jahrzehntelang verzerrt hat. Vor einem solchen Hintergrund katapultiert uns die kleinste Enttäuschung in das andere Extrem. Wenn das „Schlaraffenland" an Farbe einbüßt, Federn lassen muß, und wenn auf des Engels Antlitz Falten auftauchen, so wird der Träumer schnell wütend. Der Westen wird zum Dämon, zum reichen, unbarmherzigen Verwandten, zum entmenschlichten, satten Fettsack, zum Schuldigen par excellence. Der Westen begann seinerseits damit, daß er uns bemitleidete (zur Zeit, als wir noch Leiden und Dissidenz lieferten). Ende 1989 erlebte er dann eine sehr kurze Episode des brüderlichen und verbrüdernden Enthusiasmus (wir waren Helden, sprengten unsere Ketten, machten blutige oder samtene Revolutionen) und endete darin, gereizt — aber höflich - auf unser Schwanken, Unvermögen und Zögern zu reagieren. Der Osten ist der arme, mißratene Verwandte. Und, darüber hinaus, kommt er mit allerlei Ansprüchen daher. Also nicht einmal ein heruntergekommenes alter ego. Eher eine beschämende Mißgeburt. Wem geholfen werden muß, wird am Ende immer antipathisch. Mit leichter Besorgnis entdeckt der Bürger der „entwickelten" Länder, daß er für die Normalisierung der Lage in Osteuropa etwas von seiner eigenen Normalität aufgeben muß. Und warum sollte er? Zweifelsohne sind auch Utopie und Ressentiments, auch Mitleid und Verachtung unangemessene Reaktionen, die nur dazu führen, daß die Wahrheit beider Welten verfälscht und ihre harmonische Wiedervereinigung verhindert wird. Ich sprach vorhin von der Beziehung zwischen den Welten. Was brachte die Geschichte nach 1989 denn Neues in diese Beziehung? Um es zu vereinfachen und auf den Punkt zu bringen: den Übergang von der Inexistenz der Reisepässe zur Inexistenz der Visa. Früher war die „freie Welt" bereit, dich aufzunehmen, aber deine Welt, das „sozialistische Lager", weigerte sich, dich gehen zu lassen, oder tat es nur sehr schwer, auf schäbige Art und Weise und unter erniedrigenden Umständen. Heute läßt dich deine Welt wann immer gehen. Wir haben uns eines der grundlegenden Menschenrechte erobert: das Recht, nach Belieben zu reisen. Aber wir haben Probleme mit der freien Welt, denn die zögert plötzlich, uns zu empfangen. Der östliche Immigrant ist eine Plage.

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Ich möchte keineswegs den Eindruck erwecken, daß ich mich über irgend etwas beklage oder daß ich die Argumente der westlichen Botschaften und Konsulate nicht nachvollziehen kann. Ich möchte damit nur aufzeigen, daß der „große Umschwung", den wir durchmachten, manchmal - oberflächlich betrachtet zumindest - nichts weiter ist, als das Auswechseln der Blockade alten Typs mit einer Blockade neuen Typs. Mit einer besseren Blockade. Denn sie zensiert nur unseren Identitätsausweis nicht, aber die Identität selbst. Sie unterdrückt unsere Freiheit nicht - sie „dosiert" sie uns nur. Es gibt allerdings auch eine positive, stimulierende Variante der Beziehung zwischen Ost und West. Nicht die konsulare Zurückhaltung, sondern die Bemühung um die europäische Integration, das Wiederfinden gemeinsamer Standards. Wir sind infolge der kommunistischen Erstarrung vom allgemeinen Trend ausgeschlossen geblieben, und jetzt wird uns die Chance geboten aufzuholen. Uns wird der Ausblick, die Hoffnung auf den Wiedereintritt in die große Familie geboten, aus der wir willkürlich — politisch und wirtschaftlich - ausgegrenzt worden waren, von der wir uns aus historischer, geographischer und kultureller Sicht aber nie ausgeschlossen gefühlt haben. Das Problem unserer europäischen Integration wirft zwei große Fragen auf: „Wie schnell?" und „Nach welchen Kriterien?" Der Rhythmus hängt maßgeblich von uns ab. Aber die Kriterien? Die erste Frage betrifft und bezieht sich auf unsere Lebenskraft. Wir werden beweisen, oder auch nicht, daß wir leistungsstark sein können, daß wir - noch über regenerative Energien verfügen. Der einzige Nachteil dabei ist die ständige Bedrohung durch den Teufelskreis: Wir schaffen die Integration nicht, wenn uns nicht geholfen wird, uns aber kann nicht geholfen werden, solange wir nicht unter Beweis stellen, daß wir die Integration nahezu geschafft haben. Dies allerdings ist mehr oder weniger eine technische Angelegenheit.

Was ist Europa? Die zweite Frage jedoch — jene, die Kriterien betreffend - ist reine Metaphysik. Denn die Kriterien der Integration hängen vom Bild ab, das wir vom Raum haben, dem wir beitreten möchten. Die Frage, die sich stellt, ist nicht mehr und nicht weniger als: „Was ist Europa?" Ich hoffe, ich habe Ihre Neugier nicht in solchem Maße geweckt, daß Sie nun von mir auch eine Antwort erwarten. Ich kann Ihnen nicht sagen, was Europa ist, und ich nahm mir übrigens nicht vor, dies jetzt und hier zu versuchen. Ich kann Ihnen jedoch sagen, wie Europa heute jenen erscheint, die „reinwollen". Genauer gesagt, welches Bild uns als „Modell", als „Ziel", als letzte Anforderung gezeigt wird. Also — „von außen" gesehen, erscheint Europa in erster Reihe als ein Ort, wo sehr viel Englisch gesprochen wird: Der Zugang zu diesem Raum macht für den Kandidaten ein Screening erforderlich, und man möchte, daß der Integrationsprozeß ein follow-up haben und ein Prozeß all inclusive sein soll. Dem Kandidaten wird mit einigen catch-up facilities, mit Program-

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men vom Typ „Know-how" unter die Arme gegriffen. Auf diesem anglophonen Meer schwimmt jedoch prestigevoll auch ein französischer Terminus: aquis communautaire. Es geht darum, was die entwickelten Länder am Ende einer Jahrhunderte währenden wirtschaftlichen, juristischen, sozialen und politischen Entwicklung gemeinsam haben: das gemeinschaftliche Vermögen, die Quintessenz des menschlichen Fortschritts, der Grundstein der postmodernen Zivilisation. Von Gesetzen und Institutionen bis hin zur optimalen Größe der Eier und Tomaten. Dies ist der „Horizont", den jedes Land als „Beitrittskandidat" anstreben muß. Der Kandidat sieht sich folglich einer Vielzahl von Anforderungen gegenübergestellt, und davon sind einige von besonderer Relevanz: Umweltschutz, Menschenrechte, Respekt gegenüber Minderheiten, beziehungsweise die Einstellung ethnischer und sexueller Diskriminierung. Einmal umrissen, bewirkt diese bezaubernde Landschaft beim „nicht integrierten" Betrachter Träume, Frust und Ratlosigkeit. Erst einmal hat er ein Problem bezüglich der Geschwindigkeit: Wie kann man so viele Herrlichkeiten „anschaffen" - in kürzester Zeit, mit einem minimalen Instrumentarium und der Psychologie eines Konvaleszenten? Im Grunde genommen wird man mit zig Prioritäten pro Sekunde konfrontiert. Alles ist prioritär. Unter diesen Bedingungen ist es weiter nicht verwunderlich, daß man gelähmt ist und zögert. Gleichzeitig müssen gelöst werden: die Löcher in der Straßendecke, die Rechtsunsicherheit, die Verschmutzung der Gewässer, die Inflation, die Armut, die Rechte der Homosexuellen, das Verbot der Zigarettenwerbung, das Herrichten der Strafanstalten, die Verwaltung der öffentlichen Abfälle, der engstirnige Konfessionalismus, die Diskriminierung von Frauen, die Medikamentenkrise, die schwachen Dienstleistungen, die Polizeireform, das Saubermachen in den Zügen, die Sozialisierung der Rentner, die Einschulung der Romakinder, die Umbenennung von Straßen, die Finanzierung der Theater, der Tierschutz, der Druck neuer Reisepässe, die Modernisierung der öffentlichen Klos, die Privatisierung, die Umstrukturierung, die Ankurbelung der Volkswirtschaft, die moralische Reform, die Neudefinierung des Bildungswesens, das Auswechseln von Diplomaten, die Konsolidierung des Zivillebens, die Förderung der Non-governmental Organisations (NGOs), die Neuausstattung der Krankenhäuser, die ausgesetzten Kinder, die Aidskranken, die neuen Mafiastrukturen und -netze und so weiter und so fort. Alles ist Pflicht, alles ist dringend. Bei diesem Ansturm von Prioritäten, der keine Hierarchien, keine geduldige Staffelungen, kein Verschieben zuläßt, kommt es zwangsläufig zu einem mentalitätsbedingten Problem. Verwirrt durch all die Hürden, die er überwinden muß, macht Otto Normalverbraucher eine Art von „ideologischer Magenverstimmung" durch. Er versteht nicht mehr, was genau man von ihm will, er fühlt sich gepiesackt, mißverstanden und mißhandelt. Europa nimmt in seinem Kopf die terrorisierende Gestalt eines Obersturmbannführers an, und die europäische Integration erscheint ihm als ein erschöpfendes, auslaugendes Rennen. Ihm wird gesagt, Diskriminierung sei schlecht, und er fühlt sich diskriminiert. Ihm wird gesagt, Toleranz sei gut, er aber fühlt sich intolerant verurteilt. Er beginnt also, auf neurotische Weise disparate, verschiedenartige Prinzipien und Werte zu assoziieren. Die verallgemeinerte Exigenz führt zur Nivellierung der Kriterien. Alles ist gleich wichtig. Europäisch sein ist also gleichbedeutend mit der Akzeptierung eines bunten Gefieders, bei dem Ideen, die Währung, intimste Gepflogenhei-

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ten, religiöse Überzeugungen und Bierqualität auf derselben Ebene liegen. Es kommt zu unschuldig naiven und komischen Mißverständnissen. Als im Parlament Rumäniens die Diskussion über die Aufhebung der Gesetze lief, die die Homosexualität bestrafen, gab es nicht wenige Bauern, Pfarrer und Kleinstädter, die meinten, man würde jetzt die Legalisierung der Homosexualität vorschlagen, die Homosexualität sei also verpflichtend... W i e dem auch sei, es ist schwer, dem verwirrten Bürger dieser Ubergangszeit klar zu machen, daß der Beitritt zu Europa nicht in direktem Zusammenhang mit seinen sexuellen Praktiken steht. Der gebildete Bürger ist übrigens auch nicht gegen gewisse Mißverständnisse gefeit. Er dünkte sich von Tabus befreit und stellt fest, daß er neue Tabus auf sich nehmen muß. Ein Beispiel: Der rumänische Intellektuelle durfte bis nach 1989 Mircea Eliade nicht lesen, weil die kommunistische Zensur jegliche Lektüre mit religiösem Charakter verbot. Jetzt droht Mircea Eliade wieder leicht verdächtig, schwer zitierbar — wenn auch nicht schwer lesbar — zu werden, weil diesmal seine rechtsextreme Jugendzeit aufs Tapet gebracht wird.

Was ist das Schöne? Bei all den Anpassungsschwierigkeiten, von denen ich nur die naheliegendsten anführte, ist der Osteuropäer ständig von einer chronischen Depression bedroht. Was ist eigentlich Europa? W i e Hippias in einem von Piatons frühen Dialogen sucht der Osteuropäer tastend nach einer Definition, und zwar ausgehend davon, was ihm „Europa" selbst anbietet. „Was ist das Schöne?" fragt Piatons Held. „Das Schöne" ist ein schönes Mädchen, lautet die erste Antwort Hippias', der die individuelle Eigenschaft mit dem Begriff verwechselte. Solcherart kann sich auch der Europa-Bewerber irren: Er kann das Beispiel als Definition nehmen und sagen, „Europa ist ein europäisches Land, Frankreich beispielsweise, oder Deutschland, oder Italien". Von Sokrates angestachelt, tastet sich Hippias weiter: Das Schöne ist die Herrlichkeit einer Materie, des Goldes. Auf einer höheren Ebene ist das Schöne die Zweckentsprechung, die Funktionalität, die Erfüllung eines Schicksals, das Gute, oder das, was uneigennützige Lust bewirkt. Angestachelt von der Europäischen Union konnte unser Osteuropäer ebenfalls eine ansteigende Serie von Definitionen versuchen: Europa ist die einheitliche Währung, der Gemeinsame Markt, die Stabilität einer Lebensart, das Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten, das Teilen derselben Werte. Am Schluß des platonischen Dialogs stimmen die Gesprächspartner letztlich überein, daß es sehr schwer sei, das Schöne zu definieren. Die Angelegenheit endet aporetisch. In einer ähnlichen gedanklichen Ausweglosigkeit befinden wir uns heute alle: Es ist sehr schwierig, Europa zu definieren. Und für einige ist das Problem noch komplizierter: Sie müssen - bei nichtvorhandener Definition - den Weg der Integration finden. Trotz all dieser Komplikationen können wir darauf hoffen — und diesbezügliche Argumente werden uns geliefert —, daß wir irgendwann in der Zukunft, nicht zu früh, aber auch nicht

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allzu spät, in einige der großen „Clubs", denen wir angehören möchten, auch aufgenommen werden. Psychologisch gesehen aber treffen wir — bereits vor diesem Hoffnungsschimmer am Horizont - auf einige Schwierigkeiten. Die Länder i m Osten Europas haben ein schlechtes Verhältnis zur Zeit. W i r stehen schlecht mit der Vergangenheit - mit der jüngsten Vergangenheit vor allem, die sich auf 50 Jahre kommunistischer Diktatur zusammenfassen läßt. W i r stehen schlecht mit der Gegenwart — bei unseren Bemühungen, ein System durch ein anderes zu ersetzen, sehen wir uns mit allen Nachteilen und Hindernissen der Übergangsperioden konfrontiert: Instabilität, niedriger Lebensstand, Konfusion der Werte, radikaler Mentalitätswandel, und all das vor dem entmutigenden Hintergrund einer sozialen und administrativen Trägheit.

Anstrengungen, Geduld und blinde Hoffnung Was aber eher ungewöhnlich ist - schlechte Erfahrungen haben wir auch mit der Zukunft gemacht. Über Jahre hinweg bemühte sich die Rhetorik des totalitären Staates, das Fehlen von Lösungen für das Jetzt durch ein Überangebot an Lösungen auszugleichen, die in eine „goldene Zukunft" projiziert wurden, die ideologisch garantiert war, i m Grunde genommen aber Undefiniert blieb. Uns wurde gesagt, daß es heute zwar schwer sei, dafür morgen aber wundervoll sein werde, daß der R u h m unserer zeitgenössischen Generation in ihrer Entscheidung läge, sich für die künftigen Generationen zu opfern. M a n forderte von uns Anstrengungen, Geduld und blinde Hoffnung. Heutzutage werden jedesmal, wenn die Rede auf die Europäische Union oder die Euroatlantische Allianz kommt, all unsere Sehnsüchte ebenfalls in die Zukunft projiziert. Bemühen wir uns - wird uns gesagt - , würden wir unsere Ziele innerhalb eines ungewissen Zeitplans erreichen, der vom Jahre 2005 über 2 0 1 5 bis 2 0 2 0 hinaus reicht. Gefordert werden von uns - wieder einmal - Anstrengungen, Geduld und blinde Hoffnung. W i r sollen für das Glück unserer Enkel arbeiten, wird verlangt. Diesmal wendet man sich guten Glaubens an uns, und die Versprechungen, die uns gemacht werden, klingen realistischer. Doch jeder Vortrag über eine bessere Zukunft weckt unvermeidlich auch unbequeme „Erinnerungen" in uns... Zu den Neurosen, die ich bislang hier angesprochen habe, kommt in meinem Fall eine weitere hinzu. Denn in einem Land, das neuen Herausforderungen entsprechen muß, und in einer Periode des behutsamen Vortastens und der Identitätskrisen sah ich mich plötzlich in einer Rolle, für die ich mich niemals vorbereitet hatte: jene eines Ministers für Auswärtige Angelegenheiten. Und ich versichere Ihnen, es ist ungeheuer stimulierend, sich um eine gute Außenpolitik vor dem Hintergrund einer prekären internen Situation zu bemühen. Man ist wie ein Geschäftsmann, der Profit machen muß, aber nur virtuelle Waren anbieten kann. Aber jenseits dieser Erfahrung liegt eine andere, die Ihnen möglicherweise als die interessantere erscheinen wird. Und zwar geht es darum, was ein von außerhalb kommender Intel-

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lektueller über das diplomatische Leben der Welt erfährt — ein Dilettant also (noch...), aber frisch (ebenfalls noch). Frisch - eben weil er als Dilettant noch nicht von der Berufsroutine angesteckt wurde. Die Schlüsselworte, die ich benutzen möchte, um aus meiner Sicht die zeitgenössische Diplomatie zu charakterisieren, wären: Akzeleration, Kodifizierung, Banalisierung.

Akzeleration Der Arbeitstag eines Diplomaten ist, wenn er sich in Mission befindet, in der Regel nach einem schwindelerregenden Zeitplan organisiert. An einem einzigen Tag eines offiziellen Besuchs trifft der Außenminister einen Staatspräsidenten (oder einen Monarchen), einen Premierminister, eine Parlamentsfraktion, weitere zwei, drei Kabinettsmitglieder (einschließlich seinen Amtskollegen), Vertreter der Presse und der Diaspora im Gastland, Geschäftsleute, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens usw. Hinzu kommen das Arbeitsfrühstück, das protokollarische Mittagessen, ein Galadinner und manchmal — ein Vortrag... Solch ein Programm ist nicht nach menschlichen Maßstäben ausgearbeitet. Die Rhythmen eines normalen Menschen, seine geistige Leistung, seine physische Kondition können sich langfristig und in optimalen Bedingungen an eine solche Beanspruchung nicht anpassen. Die einzige Rettung liegt in der Stereotypie: Man verwendet hartnäckig dieselbe Botschaft, dasselbe Lächeln, dieselbe Gestik. Man wird Opfer eines „mechanischen Deliriums". Man durchquert — mit steigender Geschwindigkeit und sich mindernden Ressourcen — einen voraussehbaren und anonymen Korridor. Jede internationale Konferenz bewirkt eine andere, jedes Treffen öffnet ein kreisförmiges Ritual, in dem Themen, Termini und Entscheidungen bereits vorliegen. M i t anderen Worten - all das zusammen könnte als „Fast-Food-Diplomatie" bezeichnet werden. Talleyrand hätte das nie und nimmer überlebt - es sei denn mit einem Schlaganfall, oder aber er wäre in Melancholie versunken.

Kodifizierung Die Kodifizierung ist - wie bereits angedeutet — die rettende Krönung der Akzeleration. Zeit und Energie sparen ist nur möglich, wenn anstelle von realer Kommunikation Kode und Formalisierung treten. In Wirklichkeit geht der Konsensus den Debatten voraus. Die Schlußerklärung ist das erste Papier, das man vor Sitzungsbeginn bekommt. Man weiß, was man sagen wird (die Unterlagen wurden von Experten vorbereitet, die dann noch so taktvoll sind, sich Notizen zu machen, während man redet, obwohl sie die Autoren des Textes sind. Immerhin,

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auf die Urheberschaft des Textes, den ich Ihnen vortrage, erhebe ich voll und ganz Anspruch). M a n weiß, was einem geantwortet wird, ebenso — mit äußerst seltenen Ausnahmen - wie alles enden wird. Ist etwas auch nur halbwegs unvorhersehbar — so sind es die Kommentare der Journalisten am nächsten Tag... Da ich über Kodifizierung spreche, kann ich nicht umhin, die Unzahl an internationalen Organisationen und Körperschaften zu erwähnen, die ihren Ausdruck in einem Labyrinth sibyllinischer Initialen finden. De Gaulle war geradezu verzweifelt angesichts des Geheimnis der Initialen U N O (Qu'est-ce que c'est que ce machin la? - Was soll dies Dingsda?). Heute müßte er über OSCE, BSEC und CEI sprechen, über CEFTA, EAPC, M E R C O S U R , PREPC O M , SFOR, T R A C E C A , UNPREDEP usw. Jahr für Jahr vervielfältigt sich die Zahl der Organisationen und Kommissionen. Es kommt zu unvermeidlichen Überlappungen, Parallelismen und Konfusionen. Veranstaltungen verschiedenster Art füllen die Agenda der diplomatischen Kreise, was aber nicht zwangsläufig zu einem besseren Dialog führt. M a n sieht oft dieselben Leute, ohne daß dadurch die Chance steigt, sie wirklich kennenzulernen. Augenblicke echten „Kontakts" sind nur in den minimalen Lücken möglich, die das Protokoll freiläßt: der Cocktail, das gemeinsame Essen (wenn es nicht ein „Arbeitsessen" ist), das „Familienfoto". Doch selbst dann ist alles auf einen unbestimmbaren Blick reduziert, auf die knappe Herzlichkeit einer Erwiderung, auf kleine Gruppensolidaritäten. Ansonsten bleibt der Kode all- und übermächtig. M a n ist „wichtig" und gleichzeitig ist man nichts. Denn mehr als du selbst bist du das, was dir dein „Schild", das Stück Karton zugesteht, das deinen Platz am Verhandlungstisch markiert. Sogar die Sprache, in der du sprichst, wird zum Zeichen, zum Kode, der - mit politischen Konsequenzen - eine Vorliebe andeutet. Das gilt vor allem für ein Land wie Rumänien, das sich nur nach einem genauen Kalkül für die eine oder andere Sprache entscheiden darf. Sprichst du rumänisch, versteht dich niemand u n d du wirst nicht übersetzt. Sprichst du englisch, zeigen sich die Franzosen überrascht, daß der Vertreter eines francophonen Landes solch eine Entgleisung begeht. Sprichst d u französisch, stufen dich die Anglophonen sofort als altmodisch ein. U n d wenn du deutsch sprichst, so glaubt dir niemand, daß du aus Rumänien kommst. Das Dilemma ist auf den ersten Blick unbedeutend, doch kontextuell kann ihm eine unerwartete Rolle zukommen.

Die frühere Diplomatie lebte nicht aus der Häufigkeit der Begegnungen. Eine internationale Konferenz hatte alle Chancen zur „historischen" Konferenz zu werden, gerade weil sie in groben Zeitabständen und vor bedeutenden Ereignissen stattfand. Heutzutage gehören die Ministertreffen sozusagen zum alltäglichen Geschäft. Der Diplomat ist heutzutage kein Symbol der Pienipotenz mehr, kein hohes, feierliches Amt. Er ist ein höherer Beamter, der von einer linea-

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ren Arbeit voll in Anspruch genommen wird. Die Entscheidung liegt eher bei den Institutionen, die er vertritt (Präsident, Premierminister, Parlamente, Parteien), und die Ausführung bleibt den Expertengruppen überlassen, die ihn begleiten. Der Routine-Koeffizient und die konventionelle Komponente der diplomatischen Arbeit haben überhand genommen. Und wer aus dem engen Korsett der Vorschriften ausbricht - sei es aus Unüberlegtheit, aus temperamentalen Gründen oder „Dilettantismus" —, wer den Kanon übertritt — und sei es auch nur durch einen halben Satz — der bewirkt eine öffentliche Erschütterung mit unvorhersehbaren Folgen. Dein Gesprächspartner öffnet überrascht die Augen, nimmt dich wahr und gibt - falls du Glück hast - inoffiziell zu, daß du einen frischen Wind in die laufende Debatte gebracht hast. Hast du aber Pech, so wirst du unter dem Stichwort „exotisch" eingeordnet. Die Banalisierung des diplomatischen Lebens kommt auch daher, daß sich die internationalen Begegnungen in der Regel von einer auxiliaren Problematik prägen lassen. Sie lösen mehr oder minder technische Fragen, falls sie nicht einzig und allein deshalb stattfinden, weil sie wieder mal fällig waren. Wesentliche Themen werden nicht angeschnitten. Auf keiner Versammlung der Europäischen Union, an der ich teilnahm, wurde über die europäische „Identität" diskutiert, darüber, was die „Erweiterung" eines Zivilisationsraumes bedeutet, oder über die möglichen Modalitäten, die Unterschiede zu integrieren. Es wird über Normen und Prozente, über monetäre und ökonomische Wechselbeziehungen gesprochen, was zweifelsohne äußerst hilfreich sein mag. Das Wesen der Ereignisse aber, ihre Substanz, ich würde sogar sagen, die Vision, in deren Namen agiert wird, kommen nur äußerst selten zur Sprache. Man könnte mir entgegenhalten, die Diplomatie sei immerhin kein philosophisches Kolloquium. Das stimmt. Doch darf sie auch nicht nur einfache Bürokratie sein. Wir laufen Gefahr, schematisch zu denken und unsere Vorstellungskraft, unsere Ideen und unsere Begeisterung einzubüßen. Wir laufen Gefahr, eine farblose Sicherheit, einen schlaffen Wohlstand, eine amorphe Einheit zu schaffen. Was tun? Wäre ich in diesem Moment, da ich zu Ihnen spreche, nicht Minister (ich war es nicht, als ich eingeladen wurde, diesen Vortrag zu halten!), könnte ich den Abriß einer Antwort versuchen. Ich hätte Zeit und Muße gehabt, über eine Lösung nachzudenken, und die Freiheit, sie vorzuschlagen, ohne arrogant zu wirken. Doch als Minister befinde ich mich eher in der Rolle des Patienten als des Therapeuten. Ich bin Teil der Welt, die ich beschrieben habe. Und vorläufig gelingt es mir nicht, den rettenden Riß in dieser Welt zu finden. Daher ziehe ich es vor, Ihnen eine Parallelwelt vorzuschlagen, jene, in der ich lebte, bevor ich in diese Vorübergehende Lage geriet. In den ehemals kommunistischen Ländern wurde häufig durch Parallellösungen überlebt: eine zur offiziellen Kultur parallele Kultur, eine parallele UndergroundPolitik, eine parallele Wirtschaft. Mit dieser Erfahrung im Hinterkopf überlege ich jetzt die Möglichkeit einer parallelen Diplomatie. Wir müssen sie nicht erfinden. Es gibt sie bereits. Ich begegnete ihr 1992 beim Wissenschaftskolleg zu Berlin, und dann in anderen Instituten für fortgeschrittene Studien in Wassenaar, in Budapest, in Wien. Ich habe versucht, solch ein Institut auch in Bukarest ins Leben zu rufen, und ich gebe mich der Illusion hin, daß mir dies gelungen ist. In diesen Instituten, die keine „Schlußerklärungen" annehmen, die keine Kontrollausschüsse und Eingriffs-

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truppen ins Leben rufen und nicht die Grenzen der Welt ziehen und verschieben, in diesen Instituten erörtert und unterhält sich über die Welt und die Schicksale der Menschen eine erlesene u n d verantwortungsbewußte Elite vernunftbetont, ohne aber die Sachlichkeit zu übertreiben oder einer formalisierenden Ideologie untergeordnet zu sein. Sie kommen von überall und aus allen Bereichen - die Mitglieder dieser Institute - und sie haben - abgesehen von der geistigen und Fachbegabung — zwei Tugenden, die den Diplomaten fehlen: Sie haben die innere Freiheit und sie haben Zeit. Wenn sie sich treffen, findet eine echte Begegnung statt, wenn sie sich unterhalten, kommunizieren sie wirklich, und wenn sie sie sich streiten, wird keine Botschaft geschlossen. In diesen Instituten ist die Debatte noch eine effiziente Institution, und die Forschung kolloquial, mutig und nicht konjunkturbedingt, sondern auf die Grundlagen ausgerichtet. Diese Institute haben den Stil einer qualitativ hochwertigen Diplomatie — nicht aber deren Zwänge. Jean-Paul Sartre sagte einmal, eine gute Zeitschrift werde tanzend gemacht. Ich würde meinerseits behaupten, daß das, was ich auf dem Wissenschaftskolleg zu Berlin erlebt habe, die schlichte Euphorie des Tanzes war. Die Diplomatie sollte sich diese schlichte Euphorie zum Vorbild nehmen. Und die europäische und die planetarische Einheit könnten die ideale Gelegenheit für die Welt sein, wieder tanzen zu lernen ...

Wozu noch

Universitäten?

Zwerge auf den Schaltern von Riesen Hartmut Schiedermair

Bamberg

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er will dem historischen Glanz der altehrwürdigen Bischofsstadt Bamberg mit ihrer 350 Jahre alt gewordenen Universität widerstehen? Dieser Glanz fällt auf eine ruhmreiche und stolze Vergangenheit, zu deren Protagonisten allerdings auch ein Mann gehört, der sich kaum oder allenfalls durch seine exzentrische Lebensweise in das barocke Ambiente der Bischofsstadt einfügen läßt. E. T. A. Hoffmann lebte von 1808 bis 1813 in Bamberg. Hier war er am Theater als Dirigent, Maschinist, Dekorationsmaler und Compositeur tätig. Im Theater und nicht nur in der benachbarten „Rose" war Hoffmann zu Hause. Uber das Theater, das auch heute noch zu besichtigen ist, schreibt er: „Das Haus war ... geräumig, geschmackvoll verziert und glänzend erleuchtet". Erleuchtet war auch der reisende Enthusiast, den Hoffmann in seiner Novelle Don Juan als einsamen Theaterbesucher und zu nächtlicher Stunde in ein merkwürdiges, fabelhaftes Abenteuer verstrickt. Hier gelingt es dem reisenden Enthusiasten in der Begegnung mit Donna Anna „die wirkliche Welt, wo es recht gemütlich ist" von sich abzuschütteln, um in das „phantastische Land der Poesie" und in das „wunderbare romantische Reich" aufzubrechen, „wo die himmlischen Zauber der Töne wohnen".

Auforuch in die Welt des Geistes Die Nachricht von dieser Begebenheit muß um so mehr beeindrucken, als sie aus der Feder eines Mannes stammt, der sich nicht nur als Dichter, Komponist und Maler längst in das Buch

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der Geschichte eingetragen hat. Der spätere Kammergerichtsrat Hoffmann war als gelernter und überdies exzellenter Jurist von Jugend an auch daran gewöhnt, den Tatsachen, so wie sie sind, offen ins Auge zu sehen und ihnen mit der unbestechlichen Rationalität, mit der wissenschaftlichen Genauigkeit des Kriminalrichters zu begegnen. Kunst und Wissenschaft sind also in seiner Person ein faszinierendes Bündnis eingegangen. Dieses Bündnis ist — entgegen dem ersten Anschein - das natürlichste von der Welt. Auch wenn der Wissenschaft nur selten die Gelegenheit gegeben sein wird, sich des Mittels der romantisch phantastischen Formen zu bedienen, so hat sie doch mit der Kunst, ob Dichtung, Musik oder Malerei, eines gemein: Bei allem geht es u m den Aufbruch in die Welt des Geistes und damit um den Aufbruch in eine bessere Welt. In der romantisch verschlüsselten Sprache eines E.T.A. Hoffmann heißt dies: „Der Konflikt der göttlichen und der dämonischen Kräfte erzeugt den Begriff des irdischen, sowie der erfochtene Sieg den Begriff des überirdischen Lebens". Der Aufbruch in die Welt des Geistes ist für diejenigen, die von Berufs wegen mit der Wissenschaft umgehen, alles andere als ein ungewöhnliches Ereignis. Im Gegenteil, dieser Aufbruch gerät fernab von aller Dramatik geradewegs zum täglichen Erlebnis, wenn es darum geht, sich am Schreibtisch, in der Bibliothek, i m Labor oder am Krankenbett den Rätseln und Mühseligkeiten der menschlichen Existenz zu nähern und die dabei gewonnenen Erkenntnisse und Einsichten im Hörsaal an eine nachwachsende Generation weiterzugeben. Hier bewährt sich also die Einheit oder - genauer gesagt — die Unteilbarkeit von Forschung und Lehre, die in der gemeinsamen Suche nach Wahrheit der einzige Garant für das ist, was wir den wissenschaftlichen Fortschritt nennen. Der wissenschaftliche Fortschritt besteht nicht etwa darin, mit der Anhäufung und Vermehrung von Informationen jene Datenschutthalden zu vergrößern, vor denen schon vor vielen Jahren Ernst Becker in seinem wissenschaftlichen Vermächtnis so eindringlich gewarnt hat (s. Forum des Hochschulverbandes 32, 1983, S. 37 ff.). Diese Warnung ist deswegen so berechtigt und heute aktueller denn je, weil sie sich gegen die immer weiter u m sich greifende Ideologie der Technokraten wendet, die glauben, Zukunft als hochgerechnete Gegenwart begreifen und bewältigen zu können. Im Gegensatz zu diesem geradezu magischen Glauben an die Machbarkeit von Zukunft wissen diejenigen, die mit der Wissenschaft umgehen, daß ihre Suche nach Wahrheit eben immer nur Suche sein kann, weil das Rätsel Zukunft unlösbar ist und die Zukunft selbst daher stets Wagnis und Risiko bleibt. Alles, was Wissenschaft leisten kann u n d muß, ist daher nur Orientierung auf dem Weg in eine unsicher bleibende Zukunft, und sie hat damit die Funktion eines Kompasses, der die Entfernung zum Ziel niemals bewältigen, wohl aber die Richtung weisen kann.

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Bereitschaft zu Wagnis und Risiko Was täglich erfahren und erlebt wird, m u ß darum noch lange nicht alltäglich sein. So hat die Bereitschaft zu Wagnis und Risiko, zum Aufbruch in das Unversicherbare der Universität in der wechselvollen Geschichte dieses nunmehr zu Ende gehenden Jahrhunderts immer wieder die Kraft gegeben, selbst die schwersten Niederlagen zu überstehen und sich demgemäß von dem Zugriff und den Zumutungen des Zeitgeistes zu befreien, der im Bündnis mit der politischen Macht auch die Universitäten in den Abgrund der politischen und kulturellen Katastrophe gestürzt hatte. Hier war in der Tat Erneuerung geboten, und diese konnte nur eine Erneuerung des Geistes sein. Was die Erneuerung des Geistes bewirken kann, ist allen, die den Wiederaufbau der Universitäten in den neuen Bundesländern mitgestaltet haben, wohl vertraut. Es gibt — und man kann es gar nicht oft genug wiederholen — in der Bundesrepublik Deutschland keinen Ort, in dem der auch heute noch nicht abgeschlossene Prozeß der inneren, geistigen Einheit so weit fortgeschritten ist wie in den Universitäten. Diese Erkenntnis, die von den professionellen Protagonisten der Hochschulpolitik heute bedauerlicherweise allenfalls noch am Rande zur Kenntnis genommen wird, hat nicht zuletzt auf dem Hochschulverbandstag 1997 in Dresden in der Begegnung mit den Universitäten des östlichen Mitteleuropa eine eindrucksvolle Bestätigung erfahren. Was dort unter den Augen des Herrn Bundespräsidenten geschehen ist, war nichts anderes als ein Aufbruch, ein Aufbruch im Sinne der Erneuerung des Geistes. Niemand sollte allerdings dem vermessenen Glauben anhängen, daß das, was die Universitäten geleistet haben und immer noch leisten, nur deren eigenen Kräften zuzuschreiben sei. Vermessen und überdies ungerecht wäre dieser Glaube deshalb, weil den Universitäten bei der Bewältigung ihrer Aufgaben auch in den vergangenen zehn Jahren vielfältige Hilfe u n d Ermutigung von außen zuteil geworden ist. Gerade diese Ermutigung hatten und haben die Universitäten denn auch bitter nötig. So ist es ein einfaches Gebot der Dankbarkeit, in diesem Zusammenhang auch an den Hochschulverbandstag zu erinnern, der 1995 in Mannheim stattgefunden hat. Dort hat der Bundeskanzler unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die weiterhin gültige „Humboldt'sche Idee der Einheit von Forschung und Lehre" mit Nachdruck auf die „geistig-kulturelle Dimension" der Universität und ihrer Wissenschaften hingewiesen (vgl. F & L 5/95, S. 255-261). Dies geschah nicht nur im Blick auf den Prozeß der inneren, geistigen Einheit in Deutschland oder die Universitäten im östlichen Mitteleuropa. Auch der Gang in das Europa des kommenden Jahrhunderts hat Bundeskanzler Kohl zu der Feststellung bewogen, daß eine Gesellschaft, die sich „in ihrem Denken in Ökonomie und vordergründiger Zweckmäßigkeit" erschöpft, am Ende ihre „Kreativität, Vitalität und Menschlichkeit" verliert. N u r mit der Pflege „unseres kulturellen Erbes", so Helmut Kohl, werden wir daher « in die Lage versetzt, „daß wir den Aufbruch in das 21. Jahrhundert erfolgreich gestalten . Alles deutet d a r a u f h i n , daß die M a h n u n g des Bundeskanzlers auf dem Hochschulverbandstag in M a n n h e i m heute in der hochschulpolitischen Diskussion kein Gehör mehr findet. Was sich zur Zeit i m Bund und in den Ländern als Hochschulreform präsentiert, ist von der gei-

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stig-kulturellen Dimension der Universität ebenso weit entfernt wie von Europa oder gar dem oft beschworenen internationalen Wettbewerb. Schon das Vokabular der Reformer ist verräterisch. Effizienz und Management sind die Zauberformeln, auf die sich die Universitäten künftig einzurichten haben. Das ist die Sprache der Technokraten, in der Wissenschaft und Kultur nicht mehr vorkommen. Statt dessen vernimmt man bedrohliche Töne, die sich vor allem gegen den unbotmäßigen Verein der Professoren richten, die sowieso zu viele Freiheiten genießen und daher endlich unter Kontrolle und zur Raison zu bringen sind. Den Studierenden geht es ähnlich. So wird den Universitäten zugemutet, ihre Studiengänge auf eine Weise zu gestalten, die gewährleistet, daß eine möglichst große Zahl von Studierenden zu möglichst geringen Kosten und in möglichst kurzer Zeit ihr Studium auch wieder beendet. Auf Wissenschaft soll es dabei nicht so sehr ankommen. Die Hauptsache ist die Kürze des Studiums, und selbst der problematische Arbeitsmarkt darf daran nichts ändern. Schon dies ist alles andere als ermutigend. Seinen Höhepunkt hat das Thema Hochschulreform im Zusammenhang mit der Novellierung des Hochschulrahmengesetzes erfahren. Nicht wenige haben hier die Chance gesehen, daß den Universitäten nun endlich zu dem Mehr an Autonomie verholfen werde, auf das sie im internationalen Wettbewerb in der Tat angewiesen sind. Leider hat sich diese Hoffnung, wie inzwischen offenkundig geworden ist, als trügerisch erwiesen. Autonomie und Freiheit räumt das novellierte Hochschulrahmengesetz nicht den Universitäten, sondern statt dessen den Bundesländern ein. Nicht die Universitäten, sondern vielmehr die Länder sind also die großen Gewinner der Gesetzesnovelle.

Kompetitiver

Föderalismus

Wie aber gedenken die Länder mit der neuen Freiheit, die ihnen das Hochschulrahmengesetz einräumt, umzugehen? Skepsis und Zweifel stellen sich ein, wenn man berücksichtigt, daß es die Länder gewesen sind, die den in der Vergangenheit ohnehin nur holprig praktizierten kooperativen Föderalismus inzwischen gegen das ausgetauscht haben, was gegenwärtig als kompetitiver Föderalismus bezeichnet wird. Was aber soll der damit versprochene Wettbewerb zwischen den Ländern bedeuten? Wollen die Länder hier etwa nach dem Grundsatz „wir sind uns selbst genug" ihre eigenen Wege gehen und damit den Rückzug hinter die eigenen Landesgrenzen organisieren? Zwangsläufig ergibt sich daraus die Frage, wer denn in der Hochschul- und Bildungspolitik künftig noch das gesamtstaatliche Interesse wahrnehmen will. Hat nicht das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 35, 79 [114]) gerade im Blick auf die Universitäten die Bundesrepublik Deutschland als ein Gemeinwesen beschrieben, das sich auch in seiner gesamtstaatlichen Organisation als Kulturstaat versteht?

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Für die Universitäten ist diese Frage von existentieller Bedeutung. Sie sind bei aller Anerkennung notwendiger regionaler Verschiedenheit auf die gesamtstaatliche Klammer angewiesen, um sich als deutsche Universität nicht nur im Gang nach Europa, sondern auch im weltweiten Wettbewerb mit einem eigenen Profil behaupten zu können. Ein aufmerksamer und kritischer Beobachter der hochschul- und bildungspolitischen Szene hat vor einigen Tagen bemerkt: „In Deutschland beschreibt das Wort Provinz derzeit nicht mehr eine Landschaft, sondern einen Zustand". Die damit zum Ausdruck gebrachte Sorge ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen. Dies belegen die Aktivitäten, mit denen die Gesetzgeber in den Ländern teilweise im robusten Vorgriff auf ein künftiges Hochschulrahmengesetz ihre Hochschulgesetze umgestalten. In Brandenburg sind es mehr als zwanzig Verordnungsermächtigungen und die Einrichtung eines mit Entscheidungskompetenzen ausgestatteten Hochschulrates, die den ministeriellen und mithin staatlichen Einfluß auf die Geschicke der Universität stärken sollen. In Bayern gibt es diesen Hochschulrat auch, doch wird er hier von den Vertretern der Wirtschaft und der Industrie dominiert. Besonders ärgerlich ist dabei, daß dieses Musterbeispiel an Fremdbestimmung aus Gründen des besseren Verkaufs dann noch mit dem falschen Preisschild der Autonomie ausgestattet wird. Andere Länder, wie Nordrhein-Westfalen, lehnen Hochschulräte ab, weil sie nicht bereit sind, ihre Universitäten, wie es heißt, den Interessen der Wirtschaft auszuliefern. Sie setzen ohne Rücksicht auf verfassungsrechtliche Bedenken statt dessen auf den Ladenhüter der Drittelparität. Dabei wird allerdings übersehen, daß es den seit Jahren bei universitären Gremienwahlen notorisch abstinenten Studierenden heute um ganz etwas anderes geht. Ist denn schon vergessen, daß mehr als 30.000 Studierende im vergangenen Herbst nach Bonn gezogen sind, um nicht für mehr Mitbestimmung, sondern für bessere Studienbedingungen zu demonstrieren? Hochschulpolitik besonderer Art wird in Sachsen-Anhalt betrieben. Hier hat der Gesetzgeber ausgerechnet auf Druck der PDS den Fachhochschulen das Promotionsrecht eingeräumt. Weiter im Süden, in Baden-Württemberg, fasziniert das Modell der Privatuniversität. Zur Förderung eines vielfältigen Ausbildungsangebots ist es sicherlich zu begrüßen, wenn Großunternehmen wie SAP die Organisation ihrer betriebsorientierten Ausbildung selbst in die Hand nehmen und finanzieren. Was aber soll man davon halten, wenn solche Unternehmungen mit Billigung der Landesregierung Universität genannt werden? Ein besonderes Stichwort ist das der Internationalisierung. Hier hat der Bund mit der Vorgabe der akademischen Grade Bachelor und Master, von denen allerdings niemand weiß, wofür sie verliehen werden sollen, für die Zukunft vorgesorgt. Selbstverständlich haben die Universitäten mit der Einrichtung von englischsprachigen Lehrveranstaltungen dieser Vorgabe zu folgen. Nun ist nicht zu bestreiten, daß Lehrveranstaltungen in englischer Sprache heute das Ausbildungsangebot der Universitäten um eine interessante Variante bereichern können. Dennoch muß die Frage erlaubt sein, ob hier die Ambitionen nicht zu weit getrieben werden. Vom Alltag der Universitäten her gesehen wäre so mancher glücklich, wenn die Studierenden mit dem Erwerb der allgemeinen Hochschulreife auch die notwendigen Fertigkeiten im Umgang mit der eigenen Muttersprache erworben hätten. Die kläglichen Bemühungen der Kultusminister um die Rechtschreibreform können hier wohl auch nicht weiter helfen.

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Die Einheit der Universität wahren Schon dieser etwas grobe Überblick über die derzeitige Hochschulpolitik in den Ländern zeigt an, daß der zitierte Kritiker mit seiner Umdeutung des Begriffs Provinz vielleicht doch nicht ganz im Unrecht ist. Dies muß um so mehr bedauert werden, als es doch in der Hochschulpolitik stets auch darum gehen muß, die Einheit der deutschen Universität zu wahren. Die Universitäten brauchen die gesamtstaatliche Klammer nicht nur, um die akademische Freizügigkeit der Lehrenden und Lernenden zu bewahren. Vielmehr geht es auch um die europäische sowie weltweite Wettbewerbsfähigkeit der Universitäten und in diesem Sinne um Internationalität. Uber alledem darf allerdings nicht vergessen werden, daß es der Bundesgesetzgeber ist, der die politische Verantwortung für das novellierte Hochschulrahmengesetz zu tragen hat. Auch er muß sich daher die Frage gefallen lassen, ob der zu Lasten der Universitäten geleistete Verzicht auf die gesamtstaatliche Klammer ein geeignetes Mittel ist, um die Zukunft der Universität verantwortlich zu gestalten. Allein schon die oftmals allzu selbstbewußte Inanspruchnahme des Wortes Zukunft erregt in diesem Zusammenhang einigen Argwohn. So ist denn auch dem Juristen klar, was der zu Lasten der Universitäten geleistete Verzicht auf die organisatorischen Rahmenvorgaben des Bundes bedeutet. Das novellierte Hochschulrahmengesetz des Bundes weist nicht in die Zukunft, sondern es stellt insoweit exakt den Rechtszustand wieder her, wie er vor dem Inkrafttreten des ursprünglichen Hochschulrahmengesetzes bis zum Jahr 1976 bestanden hat. Dieser zuversichtliche Schritt in die Vergangenheit ist bedauerlich, weil die befriedende Wirkung, die das Hochschulrahmengesetz vor allem in seiner novellierten Fassung von 1985 auf die Universitäten ausgeübt hat, damit entfallen ist. Schneller als erwartet ist denn auch der alte Streit wieder aufgelebt, der in der Vergangenheit nur mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichtes in erträglichem Rahmen gehalten werden konnte. Was noch im vergangenen Sommer dem staunenden Publikum als Ergebnis der großen Einigkeit vorgeführt worden ist, ist heute zum Gegenstand des Streits zwischen dem Bund und den Ländern, in den Ländern und zwischen den politischen Parteien geworden. Nach den ersten konkreten Ankündigungen steht schon jetzt zu befürchten, daß auf die Verfassungsgerichte im Bund und in den Ländern viel Arbeit zukommen wird. Sieht so aber eine in die Zukunft weisende Hochschulreform aus? Das Wort Hochschulreform besitzt offenkundig eine magische Anziehungskraft. Bereits bei den ersten Diskussionen um die Novellierung des Hochschulrahmengesetzes in Bonn mußte dem aufmerksamen Beobachter allerdings auffallen, daß hier immer nur von den Hochschulen, nicht aber von der Universität die Rede war. Sollte etwa die mit dem Gesetz angestrebte Reform einer Hochschule gelten, in der Universität nicht mehr vorkommt? Was zunächst nur ein Verdacht war, geriet bald zur Gewißheit. Der vergebliche Versuch, den Gesetzgeber dazu zu bewegen, die Aufgaben der verschiedenen Hochschularten und damit auch die Aufgaben der Universität im Bundesrahmengesetz differenziert und verbindlich für alle Länder festzuschreiben, zeigt an, daß bei der Hochschulreform Universität nicht mehr gewünscht ist. Dem entspricht denn auch der verwegene, aber nichtsdestoweniger untaugliche Versuch, den unbe-

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streitbaren medizinischen Tatbestand, daß W i l h e l m von Humboldt schon Vorjahren das Zeitliche gesegnet hat, zum hochschulpolitischen Programmsatz zu erheben. Was aber bleibt dann noch von der Universität übrig? Sicher ist, daß es hier nicht um die historische Gestalt des Wilhelm von Humboldt geht. Es geht u m mehr, nämlich um den Abschied von der Idee der Universität. Hier eröffnet sich die günstige Gelegenheit, in grenzenlosem zivilisatorischen Eifer endlich Abschied von einer 600jährigen Universitätsgeschichte zu nehmen. Dieser Geschichte aber hat der Humanist Bernhard von Chartres (um 1120) schon im frühen Mittelalter den Weg gewiesen: Sub specie aeternitatis und i m Bewußtsein unseres begrenzten Erkenntnisvermögens sind wir alle Zwerge, aber auf den Schultern von Riesen können die Zwerge weit schauen. Nur in dieser Schau ereignet sich Zukunft.

Von Dämonen verfolgt Max Weber, die Frauen und die Wissenschaft Gregor Schöllgen

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ie Mutter ist in Sorge. Beunruhigt beobachtet sie bei ihrem Ältesten, Karl Emil Maximilian Weber „nervöse Sonderbarkeiten und Ängstlichkeiten"; die Ärzte sehen gar die „Gefahr der Verblödung" aufziehen. Das sind die Folgen einer Hirnhautentzündung, an der Max Weber, am 21. April 1864 im thüringischen Erfurt geboren, zwei Jahre nach der Geburt erkrankt. Wer hätte damals vorhersehen können, daß der kränkelnde Knabe Jahrzehnte später nicht nur den meisten als der bedeutendste deutsche Soziologe, sondern einigen, wie dem Philosophen Karl Jaspers, sogar als der „größte Deutsche unseres Zeitalters" gelten würde? Die gesundheitlichen Probleme sind noch nicht ausgestanden, als die Familie 1869 nach Berlin umzieht. Hier macht Max Weber die ihn prägenden Erfahrungen. Dazu gehören auch die erheblichen Spannungen zwischen den Eltern. Seine Sympathien gehören der zutiefst religiösen und im weitesten Sinne humanitär eingestellten Mutter. Ähnlich wie es später auch ihr ältester Sohn handhaben wird, vertraut sie ihre Seelenqualen dem Papier an. Aus diesen Aufzeichnungen, die Max Weber seinen Geschwistern während des Weltkrieges zugänglich macht und in einem Begleitschreiben kommentiert, geht nicht nur hervor, daß die Mutter mit Mühen der Vergewaltigung durch ihren „schwärmerisch" verehrten Lehrer, den Historiker Georg Gottfried Gervinus, entgangen ist und dieses Erlebnis ihr „ganzes späteres Empfinden gegenüber dem sinnlichen Leben" bestimmt hat. Die Aufzeichnungen lassen auch erkennen, wie schwer Helene Weber innerlich unter ihrem Mann, der für die Nationalliberalen im Reichstag sitzt, gelitten und sich ihm „schließlich vollständig" entfremdet hat.

Die Kehrseite der Karriere Während der Schulzeit, die ihn langweilt, liest Max Weber wie besessen die Autoren der antiken Klassik, der klassischen Philosophie und vor allem historische Werke. Während seine

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Altersgenossen die Tiefen u n d Höhen der Pubertät erleben, schreibt Weber Aufsätze zu geschichtlichen Themen, zeichnet historische Karten, erstellt genealogische Tafeln und sammelt antike Münzen; und wenn ihn einmal die „längliche Weile" beschleicht, greift der Fünfzehnjährige eben zum „äußersten Mittel" und lernt „Herrn von Varnbühlers Zolltarif auswendig". Unmittelbar nach dem Abitur 1882 nimmt M a x Weber das Studium der Jurisprudenz in Heidelberg auf, hört daneben aber auch Nationalökonomie, Philosophie, Geschichte und Theologie. Auf Anraten des Vaters tritt er in die Burschenschaft „Alemannia" ein. Später einmal darauf angesprochen, wie er sich davor habe retten können, ins Bordell mitgeschleift zu werden, gibt er die aufschlußreiche Antwort: „Ich focht sie alle an die Wand und soff sie alle unter den Tisch." Nach dem einjährigen Wehrdienst, den er in Straßburg ableistet, setzt Weber seine Studien in Berlin fort. Dort wohnt er bei den Eltern und m u ß fortan auf das ausufernde, ungebundene Studentenleben verzichten. Die Berliner Zeit wird lediglich durch militärische Übungen und durch die in Göttingen verbrachte Vorbereitungszeit auf das Referendarexamen unterbrochen. Letzteres legt er im M a i 1886 ab, um sich danach erneut der Wissenschaft zuzuwenden. In Berlin arbeitet Weber am Agrarhistorischen Seminar, besucht historische Kollegs bei Theodor Mommsen und Heinrich von Treitschke und hört vor allem Agrargeschichte bei August Meitzen und Handelsrecht bei Levin Goldschmidt, bei dem er dann auch 1889 promoviert. Die Dissertation ist ihrerseits lediglich Teil einer größeren Studie über die „Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter. Nach südeuropäischen Quellen", die er i m gleichen Jahr publiziert und mit der er sich als Autor der Öffentlichkeit vorstellt. Seit 1888 ist Max Weber auch Mitglied des „Vereins für Socialpolitik", für den er die ostelbischen Gebiete bearbeitet. Als diese voluminöse Studie 1892 erscheint, ist er schon habilitiert: 1891 hat er seine Arbeit über „Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht" eingereicht. Mit diesen drei Büchern Dissertation, Habilitationsschrift und, wenn man so will, d e m Enquete-Bericht - denen bis zu seinem Tode keine weitere abgeschlossene Monographie mehr folgen wird — sichert sich M a x Weber, gerade einmal achtundzwanzig Jahre alt, eine über den Berliner Raum hinausreichende wissenschaftliche Reputation. 1894 folgt der junge Nationalökonom einem Ruf auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft nach Freiburg im Breisgau. Damit verläßt er endgültig Berlin und das Elternhaus, in dem er immerhin bis 1893, bis zu seiner Heirat mit Marianne Schnitger, einer Großnichte des Vaters, gewohnt hat. Vor der Hochzeit m u ß Max Weber allerdings erst noch förmlich die Bindung zu seiner Cousine Emmy Baumgarten lösen, die von seiner Umgebung als „Verlöbnis" interpretiert wird. Marianne wird zur dominierenden Persönlichkeit im Leben des Gelehrten. Sie studiert bei Heinrich Rickert in Freiburg, tritt 1900 mit einer ersten wissenschaftlichen Arbeit über „Fichte's Sozialismus und sein Verhältnis zur Marx'schen Doktrin" an die Öffentlichkeit, macht sich einen Namen als Frauenrechtlerin und Schriftstellerin und organisiert im übrigen M a x Weber und dessen Leben. Die Ehe bleibt kinderlos, eine sexuelle Dimension hat sie nicht, wohl aber erheblichen Anteil an der schweren Krise, in die Weber wenige Jahre später stürzt.

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Im M a i 1895 hält Weber in Freiburg seine akademische Antrittsrede zum T h e m a „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik". Wortgewaltig gibt sich der einunddreißigjährige Nationalökonom hier als Nationalist und Chauvinist zu erkennen. Die ganze Analyse dient der Antwort auf die Frage, was getan werden muß, um dem deutschen Nationalstaat die Zukunft zu sichern. Nur aus dieser Perspektive interessiert ihn letzten Endes die soziale Frage. Am 7. Januar 1897 wird M a x Weber zum ordentlichen Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft in Heidelberg ernannt — damals eine der ersten Adressen in der deutschen Universitätslandschaft. Äußerlich betrachtet, hat er, gut 32 Jahre alt, eine atemberaubende Karriere hinter sich: W ä h r e n d die meisten jungen Gelehrten Jahre, mitunter Jahrzehnte auf eine Professur warten müssen, ohne die Sicherheit zu haben, tatsächlich einmal das unbefriedigende Privatdozentendasein verlassen zu können, befindet sich Max Weber scheinbar auf der Sonnenseite des Lebens. Das Interesse weiterer Fakultäten an seiner Person wird von einer beachtlichen schriftstellerischen Tätigkeit sowie zahlreichen wissenschaftlichen und politischen Aktivitäten flankiert. Weber ist ein gefragter M a n n . Die Kehrseite dieser Bilderbuchlaufbahn ist allerdings dramatisch. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß M a x Weber seine Karriere in sehr jungen Jahren gemacht hat, m u ß dieser Marathon doch enorme Energien und Kräfte gebunden und gekostet haben. Das fällt jetzt, am Ende der neunziger Jahre, auch deshalb besonders ins Gewicht, weil ganz offenkundig der Ausgleich gefehlt hat. Von dem kurzen Heidelberger Intermezzo abgesehen, das sich freilich im „Fechten" und „Saufen" erschöpfte, ist Max Weber stets einem gewaltigen Leistungsdruck ausgesetzt; seine Ehe ist eine Arbeitsgemeinschaft; und die Konflikte mit dem Vater bleiben ungelöst. Im Sommer 1898 erleidet Max Weber seinen ersten schweren Zusammenbruch; i m Wintersemester 1898/99 m u ß er seine Lehrtätigkeit reduzieren; im darauffolgenden Sommersemester wird er von allen Lehrverpflichtungen befreit. Im Juli 1900 begibt sich Weber in eine Nervenheilanstalt. Offenbar leidet er an einer schweren Neurose, die als „psychische Impotenz" diagnostiziert wird. Fast zwanzig Jahre lang m u ß Weber den Lehrbetrieb ruhen lassen; bis zu seinem Tode legt er keine abgeschlossene Monographie mehr vor. Die Kehrseite der Unfähigkeit beziehungsweise Unmöglichkeit kontinuierlicher Arbeit ist eine innere Rastlosigkeit, die ihresgleichen sucht. Sie zeigt sich nicht nur in einer enormen Streitsucht gegenüber Freunden, Kollegen, Redakteuren und Ministerialbeamten, die sogar einmal zu einer Duelldrohung Webers führt und mitunter donquichotteske Züge annimmt, sondern zum Beispiel auch in zahllosen Reisen, die er sowohl zum Zwecke der Erholung als auch aus beruflichen Motiven unternimmt, bei denen freilich der „Dämon . . . häufig . . . auf Besuch" ist. Darüber hinaus stürzt sich Weber in eine Fülle von organisatorischen Tätigkeiten, zum Beispiel seit 1904 als Mitherausgeber des ,Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" oder 1909 als Organisator des „Grundrisses der Sozialökonomik". Mit Ferdinand Tönnies und Georg Simmel bildet er den ersten Vorstand der im Januar 1909 auf seine maßgebliche Anregung hin gegründeten „Deutschen Gesellschaft für Soziologie". 1914 tritt er jedoch wieder aus der Gesellschaft aus, nachdem er sich schon zwei Jahre zuvor aus dem Vor-

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stand zurückgezogen hat — natürlich im Streit, in diesem Falle über das T h e m a Wertfreiheit beziehungsweise Werturteilsfreiheit der Wissenschaften. Schließlich dokumentiert sich Webers Rastlosigkeit in seiner wissenschaftlichen Betätigung. 1917, als er weitgehend von den Fesseln seiner Krankheit befreit ist, bezeichnet er nicht weniger als die „Soziologie, Geschichte, Nationalökonomie und Staatslehre" sowie jene .Arten von Kulturphilosophie, welche sich ihre Deutung zur Aufgabe machen", als die ihm „nächstliegenden Disziplinen". Tatsächlich wendet sich Weber mit der tiefen Krise der ausgehenden neunziger Jahre einer kaum mehr überschaubaren Fülle von Fragestellungen zu. Zu den Problemen, die ihn neben vielen anderen beschäftigen, zählen zum Beispiel die Folgen der protestantischen Ethik für die Ausbildung des okzidentalen Kapitalismus, die methodologische Grundlegung der modernen Sozial- beziehungsweise Kulturwissenschaften oder die Verfassungsfrage in der russischen Entwicklung seit der Revolution von 1905. Immer wieder werden neue Anläufe unternommen, kaum etwas wird konsequent bis zu einem Weber befriedigenden Ende gedacht.

Freie Geister und freie Liebe Schwer zu sagen, welche Umstände im einzelnen zu Webers allmählicher Genesung beigetragen haben. Sicher dürften dazu aber auch die Freiräume zählen, die er sich schafft. Daß er den Kontakt zu unabhängigen Köpfen unterschiedlichster Prägung und Richtung sucht, überrascht nicht. Zu ihnen gehören zum Beispiel Stefan George, mit dem er seit 1910 mehrfach zusammentrifft, die aufstrebenden jungen linken Philosophen Ernst Bloch und vor allem Georg Lukacs, die 1912 nach Heidelberg kommen u n d für einige Jahre an Webers sonntäglichen Jours teilnehmen, oder auch die Anarchisten Erich M ü h s a m und insbesondere Ernst Toller. Erich M ü h s a m ist einer der Begründer jener merkwürdigen Kommune in Ascona, die nicht nur Anarchisten wie Peter Kropotkin, sondern Künstler, Intellektuelle und überhaupt Freigeister jeder Art, darunter den Psychiater Otto Gross, anzieht u n d die auch Max Weber 1913 und 1914 für jeweils einige Wochen aufsucht. Von besonderer Bedeutung für seinen langen Weg aus der schweren Krise dürfte gewesen sein, daß Max Weber mit der Psychoanalyse in Berührung kommt. Ausgelöst wurde diese Auseinandersetzung durch die „erotische Bewegung" und dort insbesondere durch die Diskussion über die Sexualmoral. Es ist im übrigen auch die Zeit, in der Marianne Weber, nicht unwesentlich von M a x unterstützt, ihre voluminöse Darstellung „Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung" veröffentlicht und dort 1907 den frappierenden Beweis führt, daß die „freie Beziehung" letzten Endes auch nicht anders aussehe als „irgend eine Alltagsehe". Prominenter Verfechter der „freien" Beziehung und einer der Initiatoren der Debatte über die Sexualmoral ist Otto Gross, über den Weber unter anderem auch den Weg zu Sigmund Freud findet. Gross, Psychiater, Psychoanalytiker und Anarchist, der 1906 von Graz nach

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M ü n c h e n umzieht, ist eine der schillerndsten Figuren der Zeit. M a x Weber lernt Otto Gross Ende April 1907 in Heidelberg kennen, und zwar im Hause von Edgar und Else Jaffe. Engen Kontakt haben M a x und seine Frau Marianne zu Frieda Gross, die seit 1903 mit Otto verheiratet ist, sich aber bald wieder von ihm trennt und 1911 mit dem Maler und Anarchisten Ernst Frick in Ascona lebt. In den Prozessen, die Frieda zwischen 1913 und 1915 um das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn Peter Gross führt, unterstützt Max Weber sie mit juristischem Rat. Zu der Zeit, als Else Jaffe Otto Gross mit Max und Marianne Weber bekannt macht, haben sie und der exzentrische Psychiater ein Verhältnis, das jedoch bald darauf zerbricht. Otto Gross nähert sich nunmehr Elses Schwester, Frieda Weekeley, die seit 1899 mit dem Philologen Ernest Weekeley verheiratet ist, sich aber, nach dem Intermezzo mit Otto Gross, 1912 endgültig von ihrem M a n n ab- und dem Schriftsteller D. H . Lawrence zuwendet. Else Jaffe ihrerseits intensiviert nach der Trennung von Otto Gross ihre Beziehungen zu M a x Webers jüngerem Bruder Alfred, mit dem sie seit 1909 eng befreundet ist. Alfred Weber, der die Chance einer Prager Professur wahrgenommen hat, um sich dem dominanten Einfluß der Mutter zu entziehen, ist seit 1907 Ordinarius für Nationalökonomie in Heidelberg und damit, nach einer kurzen Ubergangszeit, der eigentliche Nachfolger seines Bruders Max, der 1903 endgültig vom Lehramt zurückgetreten ist. Gemeinsam mit Mutter Helene und Frau Marianne versucht Max Weber den Bruder von Else Jaffe zu lösen, die inzwischen vier Kinder hat, darunter eines von Otto Gross, dessen Taufpate Max Weber ist. Die Lösungsversuche führen zu einer dauerhaften Entfremdung zwischen Alfred Weber und Bruder Max. Der kennt die attraktive Frau seit Jahren. Else Jaffe, Jahrgang 1874, geborene Richthofen, ist als Studentin der Nationalökonomie in Freiburg, Berlin und Heidelberg mit Max Weber in Berührung gekommen und hat 1901 bei ihm promoviert. In den kommenden Jahren ist sie Mitarbeiterin von Marianne Weber im Verein für Frauenbildung und Frauenstudium in Heidelberg. 1902 heiratet Else den Nationalökonomen Edgar Jaffe, der nach dem Krieg als USPD-Mitglied Finanzminister der Regierung Kurt Eisners in Bayern sein wird. M a x Weber, den Else auf dem absoluten Tiefpunkt seines Lebens kennenlernt, übt auf die junge Frau eine beträchtliche Anziehungskraft aus. So wie es aussieht, hat Else ihrerseits Maxens Weg aus seiner Lebenskrise, der ja zugleich der Weg einer gewissen sexuellen Befreiung und Lösung von Marianne gewesen ist, intensiv begleitet. Spannungen zwischen Else Jaffe und Max Weber, die erstmals anläßlich einer Italienreise i m Frühjahr 1910 unter sich sind, nehmen zeitweilig und in d e m M a ß e zu, in dem Else ihre Beziehung zu Alfred intensiviert. Allerdings hat Max Weber vor einiger Zeit die Schweizer Pianistin MinaTobler kennengelernt, die ihn nicht nur in die Welt der Künste und vor allem der Musik, sondern seit 1911 auch in die Geheimnisse der körperlichen Liebe einführt. M a n kann sich vorstellen, was die erotischen Wechselspiele, die hinter der scheinbar intakten Fassade bürgerlicher Lebenswelt getrieben werden, anfänglich fiir einen Mann wie Max Weber bedeutet haben müssen: so sehr er, jedenfalls öffentlich, gegen diesen Bruch gesellschaftlicher Normen und zugunsten asketischer Selbstdisziplin und der Ehe als eines Rechtsinstituts Stellung beziehen muß, so sehr dürfte er sich nach dieser Art der Befreiung und

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Befriedigung gesehnt haben, obgleich Weber noch im M ä r z 1908 die Auffassung von Gross, daß das „Ausleben des Erotischen bzw. Sexuellen in einer Beziehung" nötig u n d die bloß platonische Beziehung „schmutzig" sei, solange ein „erotisches Gefühl" bestehe, eindeutig kommentiert: „... jeder auf diesem Gebiet psychologisch Erfahrene braucht nur die schöne Äußerung von der ,Schmutzigkeit' unausgelebter Erotik zu hören, um genau zu wissen, woran er ist, u n d wie tief ihr seelisches Niveau!" Es läßt sich erahnen, was in jener ausführlichen persönlichen Darstellung seiner Erkrankung zu lesen stand, die Max Weber vor dem Ersten Weltkrieg zu Papier bringt. Marianne Weber schenkt das Manuskript Karl Jaspers. Der kennt Weber, seit dieser Patient in der Klinik gewesen ist, in der er damals als Psychiater arbeitete. In den dreißiger Jahren gibt er Webers pathographische Selbstdarstellung, aus Angst vor einer Hausdurchsuchung durch die Nationalsozialisten, in einem verschlossenen Umschlag mit der Aufschrift „Nicht vor dem Jahr 2 0 0 0 zu öffnen" an Marianne zurück, die sie dann, von Jaspers darin bestärkt, „irgendwann vor 1945" vernichtet. M i t der Arbeit scheint es seit 1911 bergauf zu gehen. Jedenfalls ist bis 1913 der Hauptteil des Manuskripts von „Wirtschaft und Gesellschaft", Max Webers Beitrag zum „Grundriss der Sozialökonomik", abgeschlossen; vor allem die Partien zur Religions-, Herrschafts- und Rechtssoziologie, aber auch ein erster Entwurf der Musiksoziologie sind fertiggestellt. 1916 erscheint der erste Teil von Webers großangelegter „Wirtschaftsethik der Weltreligionen". Zum Abschluß wird er freilich keines seiner beiden Hauptwerke bringen. Die „Zwischenbetrachtung" zu seinen religionssoziologischen Studien verrät auch, welche Entwicklung Weber in den vorausgegangenen Jahren genommen hat: „ die innerweltliche rationale Askese (Berufsaskese)", so heißt es dort, „kann nur die rational reglementierte Ehe . . . akzeptieren, innerhalb deren es gilt, ihren rationalen Zwecken: Kindererzeugung und Erziehung und gegenseitige Förderung im Gnadenstande . . . nachzuleben. Jegliche Raffinierung zu einer Erotik m u ß sie . . . ablehnen." Das Sprengen dieser Ketten könnte mithin die ultimative Erfüllung bedeuten, erscheint doch das „ehefreie Geschlechtsleben" als das einzige Band, welches den Berufsmenschen „mit der Naturquelle alles Lebens" verbindet. So bietet diese „erotische Beziehung den „unüberbietbaren Gipfel der Erfüllung der Liebesforderung".

Ausgefällte Münchener Jahre Die beiden Werke, die Weber wissenschaftlich in seinem letzten Lebensjahrzehnt vor allem beschäftigen, können bis zu seinem plötzlichen Tod nicht fertiggestellt werden: Der Krieg sowie die revolutionären Umbrüche in Europa binden M a x Webers Energien. So stürzt er sich jetzt verstärkt in die publizistische Tätigkeit, insbesondere für die „Frankfurter Zeitung". Dort erscheinen während des Krieges u n d in der unmittelbaren Nachkriegszeit seine großen Arbeiten zur Außen- und Innenpolitik des kaiserlichen Deutschland, und Ende November 1918 geht er für einige Wochen nach Frankfurt, um die Redaktion des Blattes auf deren Wunsch

Von Dämonen

verfolgt

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politisch zu beraten. Nach Kriegsende kommt Weber dann mit dem politischen Geschäft in direkten Kontakt. So berät er die deutsche Friedensdelegation in Paris und nimmt an den ersten inoffiziellen Verfassungsberatungen i m Reichsamt des Innern teil. Es sieht so aus, als habe Weber nach fast zwei Jahrzehnten endgültig die schwere Lebenskrise beruflich überwunden und könne, so gesehen, erneut auf jenen Weg des Erfolges einschwenken, den er 1898 hatte aufgeben müssen. Dafür spricht auch, daß er sich 1918 wieder für eine hauptamtliche Stellung an der Universität interessiert. Angebote kommen aus Berlin, Bonn, Frankfurt am M a i n und München. Im Juni 1919 siedelt Weber nach M ü n c h e n über, um die Nachfolge Lujo Brentanos anzutreten. Obgleich er die Lehrtätigkeit alsbald als starke Belastung empfindet, scheint ihn die M ü n chener Zeit auszufüllen. Einmal widmet er sich wissenschaftlich ganz dem Abschluß der monumentalen Werke „Wirtschaft und Gesellschaft" und „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen". Dann aber zieht er jetzt offensichtlich die Konsequenzen aus der schweren Krise und läßt seiner Beziehung zu Else Jaffe freien Lauf: Die Spannungen, die sich wegen Elses Nähe zu Alfred Weber entwickelt haben, sind offenbar überwunden, und spätestens seit Max Webers Übersiedlung nach M ü n c h e n leben die beiden eine leidenschaftliche, intime Beziehung. M a x riskiert es sogar, seine Ehe zu Marianne zu gefährden. Als Karl Jaspers kurz vor seinem eigenen Tod Max Webers Briefe an Else Jaffe zu Gesicht bekommt, ist er entsetzt: „Max Weber hat einen Verrat begangen, an Marianne, an sich selbst, an uns allen, die sein Bild sahen." In der bayerischen Hauptstadt ereilt M a x Weber ein doppelter Schicksalsschlag: Mutter Helene und Schwester Lilli Schäfer, die beiden Frauen, die Weber in dieser Zeit als sein „unsagbares Glück" bezeichnet, sterben binnen eines halben Jahres, letztere am 7. April 1920 durch Selbstmord; die vier Kinder, die Lilli hinterläßt, wollen Max und seine Frau adoptieren. Wenige Wochen darauf, Anfang Juni 1920, erkrankt M a x Weber an einer Lungenentzündung, die zu spät erkannt und behandelt wird. Im Beisein seiner Geliebten Else Jaffe und seiner Frau Marianne stirbt Max Weber am 14. Juni 1920. Zuvor hat er noch festgelegt, w e m seine Hauptwerke gewidmet werden sollen: „Wirtschaft und Gesellschaft" seiner Mutter; der erste Band der „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie" seiner Frau Marianne, der zweite Mina Tobler und der dritte Else Jaffe.

Die Fußnote Dietrich Schwanitz

as ist Sinn und Zweck der Fußnote? Eine Frage, für deren Beantwortung wir wahrscheinlich eine vergessene Fußnote suchen müßten. Und eine Frage, die jeden Studienanfänger quält, wenn er zum ersten Mal in jene Unterwelt von Kurztexten eintaucht, aus der jeder wissenschaftliche Großtext wie durch ein Kanalisationssystem zugleich mit Belegen versorgt und von den abweichenden Lehrmeinungen unfähiger Kollegen entsorgt wird. Fußnoten sind also beides: Nahrungszufuhr und Verdauung, Bankett und Toilette, Gastmahl und Vomitorium. So wie ein modernes Haus erst durch Strom- und Wasserversorgung, Kanalisation und Müllabfuhr zu einem zivilisierten Habitat wird, wird ein Text erst durch die Fußnoten wissenschaftlich. Vielleicht ist diese Analogie der tiefere Grund dafür, daß erst heute - im Zeitalter geschärften Umweltbewußtseins - die erste umfassende Geschichte der Fußnote erschienen ist: Anthony Graftons ,Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote' (Anm.: Im englischen Original ,The Footnote' ist von ,der deutschen Fußnot' (sie!) die Rede, aber sicher handelt es sich dabei um einen Druckfehler). Dabei entspricht es der umweltfreundlichen Tendenz des Recycling, daß Graftons Buch wieder viele Fußnoten enthält. Fußnoten sind wie Soldaten: sie sehen irgendwie alle gleich aus: Aber der Schein trügt. Tatsächlich gibt es erhebliche Unterschiede in dem, was eine Kommission der Universität Bonn neulich .Zitierkultur' genannt hat. Der Anlaß für diese Wortschöpfung war die Erkenntnis gewesen, die Kölner Professorin Elisabeth Ströker habe aus ihren Schriften alle Fußnoten verbannt, die den Leser hätten erkennen lassen, daß es sich in Wirklichkeit um die Kopien von Texten anderer Autoren handelte. Der Extremwert der Zitierkultur ist also das Nicht-Zitieren. Da hat Gottlieb W. Rabener im 18. Jahrhundert die Abkürzung zum Ruhm in der entgegengesetzten Richtung gesucht: weil angeblich die Kommentierung eines fremden Textes mehr Prestige einbrachte als das Verfassen eines eigenen, veröffentlichte er eine Serie von Fußnoten ohne Text. War das auch als Satire auf die traditionelle Gelehrsamkeit gemeint, so gibt es doch bis heute so manches wissenschaftliche Opus, bei dem der Wasserstand der Fußnoten die Höhe eines mittleren Hochwassers erreicht und den Text gegen den oberen Rand der Buchseite quetscht.

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Dietrich Schwanitz

Natürlich ist die Fußnote zunächst einmal ein Beleg für die Richtigkeit der Aussagen des Textes. Sie zitiert Quellen, Dokumente und Urkunden. Sie beruft sich auf Vorgänger oder widerlegt sie. Sie ist das Äquivalent der Zeugenaussage vor Gericht und bietet zugleich die Möglichkeit zum Kreuzverhör. Und erst die Verhandlung in den Fußnoten ermöglicht den Urteilsspruch des Textes. Aber der eigentliche Schlüssel zum Verständnis der Fußnote liegt in dem, was Elisabeth Ströker zu einer Extremistin der Zitierkultur machte: die Ruhmsucht. In seinem Roman ,Small World' eröffnet David Lodge die Handlung mit einem Kongreß über Ritterromanzen: damit will er die Professoren mit fahrenden Rittern vergleichen, die um des Ruhmes willen von Turnier zu Turnier ziehen so wie die Professoren von Kongreß zu Kongreß, um sich mit ihren wissenschaftlichen Gegnern zu messen. Die Sucht nach Wahrheit ist vielleicht der wichtigste Antrieb zur Forschung. Aber danach kommt gleich die Anerkennung der anderen Forscher. Dem dient auch die Fußnote. Sie ist für den Wissenschaftler das, was für den Ritter das Wappen ist: sie weist ihn als Wissenschaftler aus, verleiht ihm Glaubwürdigkeit und die Berechtigung, am Turnier teilzunehmen. Zugleich ist sie — wie die Etymologie nahelegt — auch seine Waffe. Mit ihr mehrt er nicht nur seinen eigenen Ruhm, sondern mindert den seiner Rivalen. Dabei erweist sie sich als Mehrzweckwaffe von geradezu allseitiger Verwendbarkeit. Einige benutzen sie als Dolch, den man dem Gegner in den Rücken jagen kann, andere als Keule, um ihn niederzuschlagen, wieder andere als Florett, um elegante Duelle auszutragen. Für den Leser sind die Fußnoten deshalb häufig kurzweiliger als der Text. Insofern gleichen die Kontroversen in den Fußnoten den Kämpfen, für deren Austragung die Streithähne kurz die Bar verlassen, um sich auf der Straße zu prügeln. In der Fußnote darf deshalb der Autor die Maske der Respektabilität fallen lassen, die er im Haupttext trägt, und sein wahres Gesicht enthüllen. Darin ist die Fußnote auch wahrhaftiger als der Text. Sie erlaubt es ihm, es seinen Gegnern zu zeigen. Hierfür gibt es tückische Varianten. Eine besteht darin, den Feind überhaupt nicht zu zitieren; ihn einfach zu ignorieren, auch wenn sein Buch noch so einschlägig ist. Wer nicht zitiert wird, existiert nicht für die Wissenschaft, denn er hat keinen ,impact factor'. Dieser Faktor wird vom Science Citation Index des Institute of Scientific Information in Philadelphia aus der Häufigkeit ermittelt, in der eine Veröffentlichung zitiert wird. Wer also nicht zitiert wird, ist auf der Landkarte der Wissenschaft nicht vermerkt. Die Waffe des Ignorierens kann also schwere Wunden schlagen. Sie darf aber wie der Bogen des Odysseus nur von ausgewiesenen Kämpfern benutzt werden. Andere kämen in den Verdacht, die betreffenden Schriften aus Unkenntnis übersehen zu haben. Umgekehrt können Leichtgewichte auf sich aufmerksam machen, indem sie in ihren Fußnoten über Berühmtheiten herfallen. Diesen geht es wie den Revolverhelden des W i l d e n Westens: jeder will sich mit ihnen messen. Wer es überlebt, kann über Nacht berühmt sein. Dieser Möglichkeit bedienen sich vor allem parasitäre Talente, die aus Mangel an eigenen Leistungen ihre Reputation auf der Kritik an anderen begründen. Das heißt nicht, daß sie keine wichtige Funktion im Reich der Wissenschaft hätten: wie die Hyänen töten sie nur kranke Texte. Für sie gilt, was man im Tierfilm von den Geiern sagt: sie sind die Gesundheitspolizei der Texte und beseitigen die wissenschaftlichen Kadaver.

Die Fußnote

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Erweitert man das Szenario des Turniers zur offenen Schlacht, dient die Fußnote auch als Feldzeichen, an dem Freund und Feind die wissenschaftlichen Schulen und die Anhänger der gleichen Theorie erkennen. In seinen Fußnoten kann sich deshalb jeder einer Gruppe als Verbündeter andienen, indem er sich auf sie beruft. Damit verschafft er sich eine Eintrittskarte in einen wissenschaftlichen Club. Die Mitglieder einer Schule zitieren sich in der Regel gegenseitig. In der wissenschaftlichen Folklore spricht man deshalb von Zitierkartellen. Damit erhöhen die Mitglieder ihren 'impact factor'. Aus demselben Grund lassen sich in den Naturwissenschaften häufig Wissenschaftler als Autoren nennen, die mit der Abfassung des publizierten Textes so viel zu tun haben wie der Hersteller einer Bratpfanne mit dem Gericht, das darin gebraten wird: er ist Chef des Labors, in dem die beschriebenen Experimente gemacht wurden. Aber die Publikation erhöht seinen ,impact factor'. Bei Anthony Grafton kann man nachlesen, wie die Fußnote als Reaktion auf die Cartesianischen Anklagen gegen die historischen Wissenschaften entstand, sie seien nicht wissenschaftlich genug: als Verifikationsinstrument der Textwissenschaft wurde die Fußnote zum Äquivalent des naturwissenschaftlichen Experiments. Diese Entwicklung nahm ihren Ausgang bei Bayies ,Dictionnaire historique et critique von 1697 und wurde von Ranke abgeschlossen, indem er seine Begeisterung für die Archivarbeit in die Fußnoten einfließen ließ und das historische Seminar schuf, das sich auf die Quellenarbeit konzentrierte. Was Grafton nicht auffällt, ist, daß seine Geschichte eine Parallele bildet zur Entwicklung der Authentizitierungstechniken im modernen Roman. An ihr wird deutlich, daß die Fußnoten nicht nur den eigentlichen Text unterstützen, sondern auch mit ihm konkurrieren. Ein wissenschaftlicher historischer Text erzählt immer zwei Geschichten, die ganz verschieden sind: i m Text selbst lesen wir etwa die Geschichte Preußens. Aber in den Fußnoten lesen wir über die Entstehungsgeschichte dieses Textes. Das ist so, als wenn wir einen W i t z hören und ihn gleichzeitig erklärt bekommen. Oder, wie Noel Coward irgendwo sagte, als wenn man mitten i m Liebesakt zur Tür gehen muß, u m einen Besucher zu empfangen, und danach weitermacht. Es gibt n u n einen englischen Roman, der in seiner Parodie auf die Gelehrsamkeit just diesen Effekt ausnutzt: in Laurence Sternes ,Tristram Shandy' schreibt der Erzähler zugleich seine Autobiographie und beschreibt, wie er seine Autobiographie schreibt. Sein Stilprinzip ist daher die Unterbrechung: gleich zu Anfang n i m m t er Cowards W i t z vorweg und beginnt mit einem coitus interruptus; in einer Pause erinnert seine Mutter seinen Vater daran, die Standuhr aufzuziehen. In derselben Weise unterbricht der Erzähler ständig seine Geschichte, u m zu begründen, w a r u m er sie wie erzählt. Damit schafft er im Roman dieselbe Verwirrung wie später Pirandello im Theater: wir wissen nie, ob wir einem Theaterstück lauschen oder den Inszenierungsgesprächen der Schauspieler. In beiden Fällen geht es um eine Vermischung verschiedener logischer Ebenen. Damit wird uns vor Augen geführt, daß Text und Kommentar zwei verschiedenen Ordnungen angehören. Im Roman wird daraufhin die Erzählsituation aus der Geschichte eliminiert. In der Wissenschaft dagegen wird die strikte Trennung zwischen Text und Fußnote eingeführt. Der Text handelt vom Gegenstand, die Fußnote handelt von dem, was Kant die Bedingungen seiner Möglichkeit nennen würde. Der Text ist empirisch, die Fußnote transzendental. Der Text bietet eine kohärente, notwendig erschei-

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nende Geschichte, die Fußnoten lassen erkennen, daß man sich auch ganz andere Versionen vorstellen könnte. Die Fußnoten sind also ambivalent: sie stützen und untergraben den Text zugleich. Im heutigen Jargon heißt das: sie dekonstruieren ihn. Die beiden separaten Ordnungen sind also irgendwo verknüpft. Die Verbindung besteht darin, daß es jedem Text bestimmt ist, wieder zum Rohstoff von Fußnoten anderer Werke zu werden. Ihr Schicksal heißt: Buchstabe zu Buchstabe, Text zu Fußnote. Oder invers freudianisch: wo Text war, muß Fußnote werden. Jeder Text wächst auf einem Abfallhaufen von Texten, die zu Fußnoten kompostieren. Jeder neue Text degradiert seine Vorgänger zu einem Sperrmüllberg von Fußnoten, aus dem er sich das Geeignete herausfischt. An dieser Art des Basteins hat Lévi-Strauss die Logik des Mythos erkennen wollen. Danach wäre die Fußnote der mythologische Schleier der Wissenschaft, hinter dem sich eine endlose Metamorphose vollzieht. Und das Meer der Texte enthält den Genpool, aus dem die unendliche Kombinatorik der Fußnoten immer wieder neue Texte gewinnt. Deshalb irritiert die wissenschaftliche Gemeinschaft nichts mehr, als wenn man die Fußnoten wegläßt. Als der berühmte Ernst Kantorowicz sein Buch über Kaiser Friedrich II ohne Fußnoten publizierte, hielt man es für einen Roman. Ich habe das Experiment mit einer 'Englischen Kulturgeschichte' wiederholt — mit dem gleichen Ergebnis.

Auf dem Weg nach innen W o l f Singer

D

ie Erforschung des menschlichen Gehirns ist ein eigentümliches, weil letztlich zirkuläres Unterfangen. Ein kognitives System versucht sich selbst zu ergründen, indem es sich im Spiegel naturwissenschaftlicher Beschreibungen betrachtet.

Solange es nur um Erklärungsmodelle für sensorische oder motorische Leistungen geht, die sich auch an Tieren studieren lassen, gleichen die erkenntniskritischen Fragen denen der übri-

gen Wissensdisziplinen. Ganz anders jedoch, wenn es Ziel ist, Erklärungen fiir jene mentalen und psychischen Funktionen zu finden, die den Menschen ausmachen; wenn es um Erklärungsmodelle fiir die kognitiven Leistungen geht, die den Ubergang von der biologischen zur kulturellen Evolution ermöglichten; wenn die Frage beantwortet werden soll, ob wir erklären können, wie aus dem Zusammenspiel von Nervenzellen, von materiellen Bausteinen also, mentale Phänomene hervorgehen - Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Aufmerksamkeit und Intentionen —, kurzum, wenn erklärt werden soll, wie Bewußtsein in die Welt kommt. Die moderne Hirnforschung ist dabei, mit ihren analytischen Werkzeugen in diese innersten Sphären des Menschseins vorzudringen. Das Fortschreiten auf diesem Weg bewirkt tiefgreifende Veränderungen unseres Menschenbildes, folgenreichere vielleicht als die kopernikanische Wende und die Darwinsche Evolutionstheorie. Denn diesmal werden nicht mehr nur unser Ort im Kosmos und unsere biologische Bedingtheit hinterfragt, sondern die Begründung unserer Selbstwahrnehmung als freie, geistige Wesen. Dürfen wir diesen Weg weitergehen? Was gewinnen oder verlieren wir, wenn wir beschließen innezuhalten? Können wir überhaupt noch innehalten, und wie, überhaupt, sind wir soweit gekommen, uns dieser Frage stellen zu müssen? U m Antworten auf diese drängenden Fragen vorzubereiten, ist es nützlich, die Motive und Mechanismen zu benennen, die das Fortschreiten bewirkt haben. D a sich die Max-Planck-Gesellschaft als eine der institutionellen Verwalterinnen eben jenes Fortschreitens versteht, sollten Antworten in ihrer Geschichte zu finden sein — und da sie Geburtstag hat, will ich ihr die Lehren zum Geschenk machen, die ich als historischer Laie aus der Geschichte ihrer Hirnforschungsinstitute zu ziehen vermag. Bis vor wenigen Dekaden war die Hirnforschung fast ausschließlich Domäne der Medizin. Diese war es auch, die mit besonderer Eindringlichkeit auf die materielle Bedingtheit mentaler Phänomene verwies und die Gegenthese zu herrschenden, dualistischen Positionen ein-

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forderte. Die Beobachtung von Patienten lehrte, daß Verletzungen des Gehirns mit selektiven Funktionsausfällen einhergehen, welche die höchsten kognitiven Leistungen mit einschließen. Läsionen können blind, taub, vergeßlich, antriebs- oder sprachlos machen oder zum Verlust der Fähigkeit fuhren, den emotionalen Ausdruck von Gesichtern zu erkennen, Freude und Trauer zu empfinden oder zwischen diesen Emotionen zu unterscheiden. Hirnorganische Veränderungen können sogar die Symptome psychiatrischer Krankheitsbilder hervorrufen, tiefste Depressionen oder kognitive Störungen, die zuweilen bis zum wahnhaften Verkennen der Wirklichkeit und zum Zerfall der Selbstwahrnehmung führen. Auf die organische Verursachung psychischer Phänomene verwiesen auch die W i r k u n g von Rauschgiften und die Vererblichkeit psychiatrischer Erkrankungen. Die Mediziner waren also mit den engen Bezügen zwischen Gehirn und Psyche aufs beste vertraut, als sie sich zu Beginn dieses Jahrhunderts daran machten, das kranke Gehirn systematisch zu erforschen. O b sie diese Einsichten mit herrschenden philosophischen und religiösen Uberzeugungen in Konflikt sahen, geht aus den Quellen, die mir zur Verfugung standen, nicht hervor. Die Kollegen aus den geisteswissenschaftlichen Disziplinen schienen sich jedenfalls wenig mit diesen beunruhigenden Beobachtungen befaßt zu haben. Warum auch? Die Uberzeugung, d a ß mentale Phänomene einen anderen ontologischen Status beanspruchen als biologische, hat sich unangefochten in allen abendländischen Denkmodellen behauptet. Zudem entspricht sie voll und ganz unserer Selbsterfahrung. Die beobachtete Abhängigkeit psychischer Phänomene von Hirnprozessen vermochte diese Position nicht zu erschüttern, da nicht erklärbar war, wie das eine das andere hervorbringen könnte. Noch 1872 prognostizierte du Bois Reymond anläßlich einer Festrede auf der Tagung der Naturforscher und Arzte: „Ich werde jetzt, wie ich glaube, in sehr zwingender Weise dartun, daß nicht alleine bei dem heutigen Stand unserer Kenntnis das Bewußtsein aus seinen materiellen Bedingungen nicht erklärbar ist, was wohl jeder zugibt, sondern auch, daß es der Natur der Dinge nach aus diesen Bedingungen nie erklärbar sein wird." Sein berühmtes: „Ignorabimus". Doch in der Medizin dominierte damals wie heute die Pragmatik, und diese sollte auch das Programm der zukünftigen Hirnforschung diktieren. Emil Kraepelin, der Gründer der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, dem späteren M P I für Psychiatrie, formulierte das Programm so: „Unter den naturwissenschaftlich-medizinischen Aufgaben ... dürfte es nicht allzuviele geben, die für das Wohl und Wehe des Menschen eine ähnliche Tragweite besitzen wie die Erforschung der Ursachen und des Wesens der Geistesstörungen. Die Tatsache, daß wir als Träger der seelischen Leistungen das Gehirn anzusehen berechtigt sind,.. .würde an sich schon genügen, u m jedem Fortschritte in der Erkenntnis dieser Zusammenhänge größte Bedeutung zu sichern." Die Kühnheit dieser Vision läßt sich erst ermessen, wenn man die damals konkurrierenden Konzepte bedenkt u n d die aus unserer Sicht äußerst bescheidenen Werkzeuge in Betracht zieht. Breuer hatte durch den Erfolg seiner Gesprächstherapie, die er an Berta Pappenheim, alias Anna O., erprobte, den Nachweis erbracht, daß sich schwere psychische Störungen ohne Eingriffe in somatische Prozesse auflösen lassen. Es genügte offenbar, dem Patienten die verursa-

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chenden psychischen Verletzungen im Kontext bewußten Erlebens erfahrbar zu machen. Anna O . litt an Hysterie, einer damals häufigen neurotischen Erkrankung, die sich in dramatischen psychischen und körperlichen Symptomen äußert. Damit war die Antithese zu Kraepelin formuliert. Nicht organische Prozesse, so Freud, waren die Verursacher psychischer Erkrankungen, sondern seelische Traumata, nicht die biologischen Erblasten, sondern die psychischen Verletzungen, erlitten in der empfindlichen Phase der Ich-Konstitution — Psychosen und Neurosen als Fehlleistungen der kulturellen, nicht der biologischen Evolution. Folgerichtig suchten nicht wenige Psychiater, auch solche mit schulmedizinischer Ausbildung, ihre Rückbindung in den Geistes- und Kulturwissenschaften. In weiten Bereichen der Psychiatrie mutierte der medizinische Diskurs zu einem philosophischen. Umgekehrt griffen die Geisteswissenschaften die tiefenpsychologischen Denkfiguren mit Verve auf. Karl Jaspers und Jacques Lacan, beide Psychiater, aber auch Binswanger, Merleau-Ponty und sogar Martin Heidegger verdienen in diesem Kontext Erwähnung. Die Gegenposition zur biologischen Psychiatrie war aus mehreren Gründen attraktiv: Sie erwies sich als vereinbar mit philosophischen Traditionen, sie entsprach dem Bedürfnis, Psychisches nicht mit Stofflichem verbunden zu sehen — und sie wies offenbar den Weg zu therapeutischen Erfolgen. Für geraume Zeit, und dies schließt die Jahre nach dem 2. Weltkrieg, und damit die Geburtsstunde der M P G durchaus noch mit ein, war nicht entschieden, ob die Psyche samt ihren Erkrankungen den Geistes- oder den Naturwissenschaften zugeschrieben werden sollte. Was also wußten und konnten die Hirnforscher zu Beginn dieses Jahrhunderts, als Oskar Vogt das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch und Emil Kraepelin die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, die ersten Hirnforschungsinstitute der Welt, gründeten? Diese Institute waren die direkten Vorläufer der ersten eigenen Hirnforschungsinstitute der M P G . Das Kraepelinsche Institut war 1966 zum MPI ftir Psychiatrie geworden, das Berliner Himforschungsinstitut, vor dem Krieg das weltweit größte, wurde, als sich der Zusammenbruch ankündigte, abteilungsweise in den Westen verlagert. Keine Universität war in der Lage, dieses Institut insgesamt aufzunehmen, und so fanden die durch Krieg, Emigration und politische Verfolgung dezimierten Abteilungen Zuflucht in Göttingen, Marburg, Gießen, Dillenburg, Wuppertal und Köln. In ihrer Gesamtheit wurden sie dann zum MPI für Hirnforschung zusammengefaßt, blieben aber räumlich getrennt, bis eine erste Konzentration 1962 mit dem Neubau des MPI für Hirnforschung in Frankfurt erfolgte. Dieses und das später verselbständigte MPI für neurologische Forschung in Köln-Mehrheim sind also direkte Nachkommen des Berliner Instituts. Die Werkzeuge zur Erforschung des Gehirns beschränkten sich zu Beginn des Jahrhunderts auf das Seziermesser und das Lichtmikroskop. U n d das sollte bis in die frühen 50er Jahre, über die Gründung der ersten Max-Planck-Institute hinaus, so bleiben. Während dieser Zeit posieren Direktoren von Hirnforschungsinstituten für die Nachwelt über Mikroskope gebeugt. Erkennbar war also nur, was sich dem Auge post mortem rei erschließt: daß Nervenzellen höchst unterschiedliche, oft bizarre Formen annehmen können, daß sie spezifische Affinitäten für Farbstoffe aufweisen, daß sie miteinander auf verwirrend komplexe Weise vernetzt sind und

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daß Gehirne eine stereotype, hochdifferenzierte Organisation aufweisen, die der von Tieren auf frappierende Weise gleicht. Naturgemäß waren auch pathologische Veränderungen nur dann erkennbar, wenn sie sich über den Tod hinaus in Strukturänderungen manifestierten. Solange die Patienten lebten, mußten die Bezüge zwischen Läsionsart u n d Funktionsausfall hypothetisch bleiben. Zwar war bekannt, daß Nervenzellen elektrisch erregbar sind, und man vermutete zu Recht, daß Himleistungen auf der Verarbeitung von elektrischen Signalen beruhen, doch fehlten die elektronischen Techniken, u m die Aktivität von Nervenzellen i m intakten Gehirn zu registrieren. Bis diese Verfahren zur Verfügung standen — sie wurden erst in den 50er Jahren Routine und zu einer der wichtigsten Erkenntnisquellen in der Hirnforschung —, blieb der Weg zur Analyse neuronaler Verarbeitungsprozesse versperrt. Die einzig meßbaren Manifestationen der elektrischen Vorgänge im Gehirn waren die von Hans Berger in den 30er Jahren entdeckten Hirnströme, globale Potentialschwankungen, die von der Kopfhaut abgeleitet werden können. Doch die Messung dieser Ströme blieb unergiebig, da ihre Herkunft ungeklärt war. Alois Kornmüller, der mit seiner Abteilung von Berlin-Buch nach Göttingen umgezogen war, gilt als einer der Pioniere der Himstromregistrierung. Gemeinsam mit Schwarzer konstruierte er den ersten einsatzfähigen Elektroenzephalographen und konnte damit die Ströme fortlaufend registrieren. Sie zeigten eine frappierende Abhängigkeit von Aufmerksamkeitsschwankungen und vom Schlaf-Wach-Zyklus, hatten also offensichtlich mit den Verarbeitungsprozessen im Gehirn zu tun. M a n wußte sich auf der richtigen Fährte, doch solange die Herkunft dieser Signale unbekannt war, erklärten sie wenig mehr als die schlichte Verhaltensbeobachtung. Erst den Schülern von Alois Kornmüller, Manfred Klee am MPI in Frankfurt und Hans Dieter Lux, zusammen mit Otto Creutzfeldt am MPI für Psychiatrie, gelang es in den 60er Jahren mit Experimenten an narkotisierten Tieren, die Herkunft der Hirnströme zu klären: Sie gehen auf die Aktivität von Nervenzellen in der Großhirnrinde zurück. Jetzt waren die Signale interpretierbar, und die Elektroenzephalographie konnte sich zu einem für Forschung und Klinik gleichermaßen unverzichtbaren Meßinstrument fortentwickeln. Die methodischen Begrenzungen in der Vergangenheit verweisen auf ein Dilemma, das fiir die Hirnforschung zunehmend schmerzlicher wurde und ihre Befindlichkeit bis weit in die Gründerjahre der M P G hinein prägen sollte. Die Forscher erbrachten zwar einen Beweis nach dem anderen dafür, daß neurologische Erkrankungen und wohl auch die meisten psychischen Störungen auf pathologischen Vorgängen im Gehirn beruhen, scheiterten jedoch an der Herausforderung, kausale Erklärungsmodelle zu erarbeiten und auf deren Basis wirksame Therapien zu entwickeln. W i e bedrängend die Situation empfunden wurde, bezeugt der heroische Selbstversuch von Kornmüller: Er ließ sich von seinem Kollegen Wilhelm Tönnis, dem Leiter der neurochirurgischen Abteilung des MPI fiir Hirnforschung, ein Loch in die Schädeldecke bohren, um eine seiner Elektroden möglichst nahe ans Gehirn zu bringen. Uns ist solches Insistieren fremd, doch es mag symptomatisch gewesen sein für die Befindlichkeit einer sich überfordernden Wissensdisziplin. Sie hatte sich der Lösung dringlicher medizinischer Probleme verschrieben, eine Fülle wichtiger Entdeckungen vorzuweisen, aber sie vermochte das selbstverfügte Ziel nicht zu erreichen, direkt anwendbare Erkenntnisse zu generieren. Falls die Hypothese zutrifft, daß es frustrierte Wissensdisziplinen gibt und daß

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diese ihre Akteure zu extremen Taten drängen können, muß uns dies aus zwei ernsten Gründen interessieren. Zum einen, weil wir verpflichtet sind, soweit uns dies möglich ist, herauszufinden, wie es geschehen konnte, daß sich auch Hirnforscher aus Instituten der KWG aktiv an Eugenik- und Euthanasieprogrammen beteiligten, und warum diejenigen, die nicht daran teilnahmen, sich diesen Angriffen auf den Menschen und seine Würde nicht widersetzten; zum anderen, weil uns daran gelegen sein muß, das, was wir uns heute an Eingriffen zugestehen, im antizipierten Rückblick unserer Nachfolger zu reflektieren. Ich bin nicht kompetent, und es ist dies auch nicht der Ort, um im Einzelfall die notwendige Ausdeutung möglicher Motive vorzunehmen, zu unterscheiden zwischen korruptem Verhältnis zu Macht und Politik, dem Einfluß wahnhafter Rassenideologien, dem schleichenden Verfall der Achtung vor dem Mitmenschen und den medizinisch-wissenschaftlichen Ambitionen. Aber was letztere betrifft, so mag es lohnend sein, auch die forschungsimmanenten Bedingtheiten und die damit verbundene Selbstwahrnehmung der Hirnforscher zu untersuchen. Es wäre wichtig zu wissen, inwieweit sie die heute offensichtliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Vermögen bewußt erfahren oder verdrängt haben. Zu hinterfragen ist auch die unterschiedliche Bewertung des Kreatürlichen, hatte doch das gleiche Regime, das Menschenmord legitimierte, das weltweit erste Gesetz zum Schutz von Tieren erlassen. Ein kritischer historischer Zugriff wird auch dies aufzuarbeiten haben. Als Sprößlinge der KWG-Institute blieben die Hirnforschungsinstitute der jungen MPG zunächst den traditionellen Forschungsansätzen treu. Damit erfüllten sie zwar eine bedeutende Funktion als Statthalter der biologisch orientierten Psychiatrie - die meisten psychiatrischen Lehrstühle hatten damals Vertreter tiefenpsychologischer und Daseins-analytischer Ausrichtung inne —, blieben jedoch mit den gleichen Problemen konfrontiert wie die KWG-Institute. Die biologische Psychiatrie hatte empirische Argumente, aber nach wie vor keine überzeugenden Erklärungsmodelle. Der couragierte Versuch, das erkrankte menschliche Gehirn zum Forschungsgegenstand zu machen, um auf diesem direkten Wege möglichst schnell zu therapeutisch verwertbaren Erkenntnissen zu gelangen, erwies sich als zu schwierig. Dieser Weg führte zwar zu einer geradezu enzyklopädischen Sammlung pathologischer Befunde — jeder, der eines dieser Institute besucht hat, weiß, welchen zentralen Raum diese Präparatesammlungen einnahmen - , erlaubte aber nur in Ausnahmefällen die Aufklärung funktioneller Zusammenhänge. Erst seit wenigen Jahren, seit moderne molekularbiologische Ansätze zur Verfügung stehen, erbringen diese Sammlungen die Früchte, die die Neuropathologen seinerzeit nicht zu ernten vermochten. Ein Paradigmenwechsel war also notwendig, und eine bemerkenswerte Pioniertat von Horst Jatzkewitz in den 60er Jahren signalisierte, daß er bereits eingeleitet war. Jatzkewitz, Direktor am MPI für Psychiatrie, gelang es, die Ursache einer erblichen, zu Debilität fuhrenden degenerativen Erkrankung, der von Willibald Scholz am gleichen Institut entdeckten Form der metachromatischen Leukodystrophie, aufzuklären. Ein angeborener Enzymdefekt fuhrt hier zur Ansammlung von Lipidmolekülen, die sich im Gewebe anreichern und Nervenzellen abtöten.

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Was war das Neue? Ein Biochemiker, nicht ein Arzt oder Pathologe, hatte sich an die Erforschung des Schwachsinns gemacht. Als Modell wählte er ein Krankheitsbild, das äußerst selten, klinisch also wenig relevant ist, aber mit besonders auffälligen strukturellen Veränderungen einhergeht — er suchte also, wo Licht war, und nicht dort, wo die dringlichsten klinischen Probleme lagen. Und er suchte mit methodischem Rüstzeug, das in einer anderen Wissensdisziplin für gänzlich andere Fragestellungen entwickelt worden war. Es waren die in Tierversuchen gewonnenen Erkenntnisse über Enzyme des Fettstoffwechsels, die zur Aufklärung der Ursachen einer Form erblichen Schwachsinns beim Menschen führten. Dem Jatzkewitzschen Forschungsansatz folgend, ist es inzwischen gelungen, die Ursachen nahezu aller degenerativen Speicherkrankheiten des Nervensystems aufzuklären und fiir jene, die erblich sind, die verantwortlichen Gene zu identifizieren. Die Ursachen der Alzheimerschen Erkrankung wurden über eine ähnliche Forschungsstrategie geklärt, allerdings mit modernen, molekularbiologischen Verfahren. Auch hier fuhrt die Anreicherung von Stoffwechselprodukten, in diesem Fall von Eiweißmolekülen, zum Tod von Nervenzellen im Gehirn. Ich wählte dieses Beispiel aus dem MPI in München, weil es den Übergang in eine neue Epoche der Hirnforschung mit besonderer Klarheit markiert, den Übergang in eine Epoche, die ich wegen ihrer außerordentlichen Erkenntnisträchtigkeit als das goldene Zeitalter der Hirnforschung apostrophieren möchte. Helmut Kuhn folgend könnte man anführen, der Paradigmenwechsel habe sich vollzogen, weil die Gründerväter der Hirnforschung abtraten, jene Generation, die sich, der Kraepelinschen Vision verpflichtet, auf die Erforschung des kranken Gehirns konzentriert hatte. Dieser Generationenwechsel mag den Übergang erleichtert haben, greift als Erklärung aber zu kurz. Aufschlußreicher sind die Fachausrichtungen der Nachfolger und besonders die methodischen Entwicklungen. Nicht wenige der Neuberufenen kamen aus nicht-medizinischen Disziplinen oder hatten zumindest ihr Handwerkszeug von anderen Wissenschaftszweigen entlehnt. Die Neuropathologie war zwar nach wie vor tragende Säule der Institute in München und Frankfurt, aber sie hatte sich neue Aufgaben gestellt. In Berlin hatte Ruska das Elektronenmikroskop erfunden und am Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft für biologische Präparate tauglich gemacht. Damit eröffnete sich den Anatomen und Pathologen eine faszinierende, nie geschaute Welt. Nur - der Blick auf menschliches Hirngewebe blieb getrübt, weil es nicht möglich war, Gewebe von Verstorbenen so zu konservieren, daß die jetzt potentiell sichtbaren Feinstrukturen erhalten blieben. Folglich verlagerte sich das Interesse der anatomisch arbeitenden Hirnforscher auf die Untersuchung von Tiergehirnen. Die Forschung beschränkte sich also auf das Mögliche und klammerte die unlösbaren klinischen Probleme zunächst aus. Die experimentelle Neuroanatomie, eine primär am Gesunden interessierte Disziplin, zog wieder in die Hirnforschungsinstitute ein und ergänzte die Neuropathologie, nachdem sie von dieser 50 Jahre vorher verdrängt worden war. Zunächst das Normale zu ergründen, hatte sich auch die Neurophysiologie vorgenommen, ein neuer Zweig der Physiologie, der sich dank der Fortschritte im Bereich der Elektrotechnik rasch entwickeln konnte. In Frankfurt wurde Rolf Hassler berufen. Er war Neurologe und Psychiater, hatte aber bei Walter Heß in Zürich gelernt und mit Tieren experimentiert. Heß

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hatte bewiesen und dafür 1949 den Nobelpreis erhalten, daß sich durch elektrische Reizung ausgewählter Hirnstrukturen in hochselektiver Weise Verhaltensmuster auslösen ließen - und zwar nicht nur Bewegungsfragmente, sondern Vollbilder emotionaler Reaktionen wie Furcht und Flucht oder Aggression und Angriff. Hasslers Anliegen waren seit seiner Promotion bei Oskar Vogt die Bewegungsstörungen, Parkinson und Chorea Huntington, beides Erkrankungen mit erblicher Disposition. W i e die meisten Hirnforscher der zweiten Generation war er überzeugt, daß dem Verständnis von Störungen die Kenntnis des Normalen vorausgehen mußte, und er konnte sich diese Uberzeugung leisten, da ihm erstmals die erforderlichen Methoden zur Verfügung standen. Bastlern in aller Welt, so auch J.F. Tönnies, dem einstigen Elektronikingenieur von Kornmüller, war es inzwischen gelungen, Elektroden anzufertigen, mit denen sich die elektrische Aktivität einzelner Nervenzellen im Gehirn messen ließ. Der Signalaustausch zwischen Nervenzellen konnte verfolgt, die Sprache der Neuronen aufgezeichnet werden. Naturgemäß war auch diese neue Methode wegen der erforderlichen operativen Eingriffe nur im Tierversuch anwendbar. Diese Beschränkung wiederum zog die systematische Untersuchung der Anatomie tierischer Gehirne nach sich, weil die elektrophysiologischen Methoden ohne profunde Kenntnis der anatomischen Gegebenheiten nicht hätten genutzt werden können. A m MPI für Psychiatrie in München vollzog sich der gleiche Paradigmenwechsel. W i r befinden uns bereits tief in den 60er Jahren. Auch hier blieb die Neuropathologie unter Gerd Peters zunächst bestimmend, entwickelte sich aber unter dem Einfluß der Elektronenmikroskopie und der Biochemie - ich erwähnte das Beispiel Jatzkewitz — immer mehr zu einer experimentellen Disziplin. Die Klinik wurde Detlev Ploog übertragen; er war Psychiater, aber er hatte bei McLean in Bethesda in Tierversuchen über die zentralnervöse Steuerung sexueller bzw. reproduktiver Verhaltensweisen gearbeitet. Uberzeugt, daß psychiatrische Erkrankungen eng mit Störungen kommunikativen Verhaltens verbunden sind, nahm er sich vor, die neuronalen Grundlagen des Sozialverhaltens bei Primaten zu untersuchen. Zur gleichen Zeit kam Otto Creutzfeldt nach München. Auch er war Neurologe und Psychiater, hatte aber bei Richard Jung in Freiburg die kapriziöse Kunst erlernt, die Aktivität von Nervenzellen der Hirnrinde narkotisierter Tiere zu registrieren. Sein Plan war, die funktionelle Organisation jener Hirnstrukturen zu analysieren, die kognitiven Leistungen zugrunde liegen. W i e seinen charismatischen Lehrer, den Pionier der Elektrophysiologie in Deutschland, faszinierte ihn der Gesichtssinn. Doch er war, und wie wir heute wissen, zu Recht, davon überzeugt, daß aufgefundene Funktionsprinzipien auf alle anderen Sinnessysteme übertragbar sein würden. Die Zusammenführung dieser, von ihrer Ausrichtung her so verschiedenen Forscherpersönlichkeiten war damals eine richtungsweisende Pioniertat der M P G . U m so mehr, als dem Klinischen Institut zusätzlich eine psychologische Abteilung unter Brengelmann u n d sogar eine psychoanalytisch-tiefenpsychologisch ausgerichtete Forschungsstelle unter Paul Matussek angegliedert wurde. Die Fruchtbarkeit dieser Mischung klassischer medizinischer Fachrichtungen mit experimentellen Disziplinen der biologischen Grundlagenforschung belegen nicht nur die Forschungsergebnisse, deren Fülle und Vielfältigkeit wegen auf die Lektüre der Jahrbücher verwiesen sei. Ebenso aufschlußreich sind die Curricula von Forscherpersönlich-

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keiten, die in der Kraepelinstraße gelernt hatten. Mehr als 2 0 wissenschaftliche Mitglieder und Direktoren von Max-Planck-Instituten haben entscheidende Jahre vor ihrer Berufung am Institut in M ü n c h e n verbracht. Allein die Abteilung Creutzfeldts hat in den Jahren 1966 bis 1972 mindestens neun zukünftige Ordinarien ausgebrütet, ferner sieben Max-Planck-Direktoren, von denen zwei, Bert Sakmann und Erwin Neher, für die Arbeiten, die sie später am neugegründeten M P I für biophysikalische Chemie vollendeten, mit d e m Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Sie hatten eine Ableitetechnik erfunden, mit der es ihnen erstmals gelang, die Aktivität einzelner Ionenkanäle in der Membran von Nervenzellen sichtbar zu machen. Diese Methode hat die Zellbiologie revolutioniert. Die Gründe für die außerordentliche Erkenntnisträchtigkeit der neuen Ansätze lassen sich im Rückblick leicht ausmachen: Verzicht auf die Bearbeitung von Problemen, für die kein gangbarer Lösungsweg erkennbar ist, auch wenn sie noch so dringlich scheinen; geduldige Erforschung von Prinzipien, statt forcierter Suche nach therapie- bzw. anwendungsrelevanten Ergebnissen; und die Bearbeitung von Modellsystemen, an denen sich die vermuteten Prinzipien besonders leicht erforschen lassen, unabhängig davon, ob direkte Bezüge zu medizinischen Problemen erkennbar sind. Kurzum: Dort zu suchen, w o Erkenntnisse und Durchbrüche wahrscheinlich sind, und nicht dort, w o zwar drängende Probleme ihrer Lösung harren, aber keine bearbeitbaren Hypothesen formuliert werden können. Unschwer läßt sich feststellen, daß just dies die Merkmale von Grundlagenforschung sind: Das Eingeständnis von Nichtwissen, das Bekenntnis zum Eigenwert von Erkenntnis, und schließlich der Mut, Wege zu gehen, für die sich nicht angeben läßt, zu welchem Ziel sie führen. Dem für die Zukunft blinden Betrachter m u ß vieles von dem, was die Kollegen damals taten, als reines Spiel aus Neugier erschienen sein: die Untersuchung von Ionenkanälen an Nervenzellen von Schnecken (Lux), die Analyse der funktionellen Architektur der Hirnrinde von Katzen (Creutzfeldt), die Identifikation synaptischer Überträgerstoffe in entlegenen Bereichen des Gehirns von Ratten (Herz) und die Verfolgung des Transports von Eiweißmolekülen im überlangen Riechnerv des Hechtes (Kreutzberg). Nach dem Sinn des Tuns gefragt, hätten die Forscher k a u m anders antworten können als: weil sich mit der Klärung dieser oder jener Frage Hoffnungen für das Verständnis gewisser Funktionsprinzipien verbinden. Es wäre in der Tat vermessen gewesen, hätten die Antworten auf konkrete Anwendungen, wie etwa die Entwicklung therapeutischer Verfahren, verwiesen. Erst im Rückblick wird erkennbar, wozu die Suche gut war. Ein Beispiel soll genügen: Die weitgehende Aufklärung der Ursachen von epileptischen Anfällen und die daraus resultierenden medikamentösen und operativen Behandlungsmethoden verdanken sich den grundlegenden Erkenntnissen, die in Untersuchungen der oben geschilderten Art gewonnen wurden. Durch sie wurde einsichtig, warum die Erregung von Nervenzellen in Krämpfen eskalieren kann. Auch konnten jetzt erstmals präzise u n d testbare Hypothesen über die Funktionsabläufe im Gehirn formuliert werden. Die Neurophysiologen in der Kraepelinstraße folgten dem Fluß neuronaler Signale und drangen, von den Sinnesorganen ausgehend, in die inneren Hirnbereiche vor, wo sie das Substrat von Wahrnehmungsleistungen zu entschlüsseln hofften. Experimentatoren in Frankfurt, die sich für die Steuerung von Bewegungen interessierten, wähl-

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ten den umgekehrten Weg und arbeiteten sich von den motorischen Zentren im Rückenmark zu den Gehirnregionen zurück, in denen Bewegungen initiiert und programmiert werden. Inzwischen sind sich die beiden Forschungsansätze, die längst weltweit mit großer Intensität verfolgt werden, begegnet. Heute ist nachvollziehbar, wie sensorische und motorische Prozesse ineinandergreifen, wenn wir ein Objekt mit den Augen verfolgen oder nach ihm greifen. Entsprechend konkret sind auch die Vorstellungen darüber, auf welchen Fehlfunktionen Störungen dieser Koordinationsleistungen beruhen. Die operativen und medikamentösen Therapien von Bewegungsstörungen, etwa der Parkinsonschen Erkrankung, beruhen ebenso auf diesem Wissen wie die modernen Rehabilitationsverfahren. Heute bezieht dieser systemphysiologische Erklärungsansatz auch die höchsten kognitiven Leistungen wie Sprache, Gedächtnis und Aufmerksamkeit mit ein und wird in mehreren der jüngeren Max-Planck-Institute verfolgt. Ich werde auf die faszinierenden Entwicklungen in diesem zukunftsträchtigen Forschungsbereich zurückkommen, muß jedoch vorher einer Verzweigung nachgehen, die uns zunächst vom Verhalten fort und hinunter auf die molekulare Ebene führt. Katalysiert durch die Entwicklung molekularbiologischer Methoden, fusionierten die klassischen Disziplinen der Pharmakologie und Biochemie bald zu einer neuen Disziplin, der molekularen Neurobiologie. Genauso wie die lateinischen Buchstaben allen westeuropäischen Sprachen gemeinsam sind, gleichen sich die molekularen Grundlagen der verschiedenen Organfunktionen. Der Vorstoß auf die molekulare Analyseebene erschloß somit ein Beschreibungssystem, in dessen Sprache sich Pharmakologen, Immunologen, Biochemiker, Entwicklungs- und Zellbiologen, Neuropathologen und Genetiker erstmals direkt verständigen konnten. Die Folgen sind bekannt. Der Synergieeffekt dieser Begegnung war gewaltig und ist anhaltend. Kaum jemals zuvor förderte eine Wissensdisziplin in so kurzer Zeit so viele neue, oft grundlegende Fakten zu Tage. Die Hirnforschung profitierte von diesem Elan in hohem Maße. Zum einen verwies dieser neue, integrierte Ansatz auf eine ungeahnte Diversität der molekularen Kommunikationsprozesse: Es wurde deutlich, daß sich Nervenzellen nicht nur über elektrische, sondern auch ausgiebig über molekulare Signale austauschen. Damit war jeder vorschnelle Vergleich zwischen Nervenzellen und Transistoren oder natürlichen und elektronischen Gehirnen obsolet geworden. Zum anderen wurde aber auch erkennbar, daß sich Nervenzellen in ihren molekularen Bausteinen von anderen Zellen nicht grundlegend unterscheiden. Damit stand all das Wissen, das in Untersuchungen anderer Organe und Organismen gesammelt worden war, für die Erforschung des Gehirns zur Verfügung. Der molekulare Ansatz machte auch deutlich, wie konservativ die Evolution vorging, wie zäh sie an Bewährtem festhielt. Hinsichtlich der molekularen Zusammensetzung unterscheiden sich die Nervenzellen des menschlichen Gehirns kaum von denen anderer Spezies, Insekten und Schnecken eingeschlossen. Bemerkenswerte Unterschiede finden sich lediglich hinsichtlich des Entwurfs und der Komplexität der Verschaltungsmuster. Diese Erkenntnis legitimierte und stimulierte die Arbeit an niederen Organismen, an denen sich Prinzipien oft leichter aufdecken lassen als an komplexen Systemen — was den Erkenntnisgewinn weiter beschleunigte und zudem zu einer Reduktion von Versuchen mit höheren Wirbeltieren führte. Ein Großteil der anstehenden molekular- und zellbiologischen Probleme läßt sich heute dank

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methodischer Entwicklungen, die samt und sonders von der Grundlagenforschung getragen wurden, entweder an wirbellosen Tieren oder an kultiviertem Hirngewebe von Wirbeltieren untersuchen. Die Gründungsgeschichte neurobiologischer Max-Planck-Abteilungen dokumentiert, daß die Mitglieder der biologisch-medizinischen Sektion die Zeichen der Zeit frühzeitig erkannten. M i t Ausnahme des M P I für Biokybernetik, das ich später anspreche, verfugen inzwischen alle MPIs, die sich mit der Erforschung des Nervensystems befassen, über starke molekularbiologisch ausgerichtete Abteilungen. U m sich von der Erkenntnisträchtigkeit dieses durch Reduktion zur Generalisierung befähigenden Ansatzes zu überzeugen, genügt es, die Jahresberichte durchzublättern. Eine repräsentative W ü r d i g u n g verbietet sich des Umfangs wegen, und eine Auswahl, weil in der Grundlagenforschung das sehr Bedeutende vom nur Bedeutenden oft erst im nachhinein unterscheidbar wird. Aber auch, weil sich in der Regel große Durchbrüche dem Synergismus unzähligerTeilbeiträge verdanken, möchte ich hier keine Einzelleistungen hervorheben. Diese herauszustellen, bleibt der Weisheit von Fachbeiräten, Preiskomitees und forschungsfördernden Institutionen vorbehalten. Die auf diese Weise gewonnenen Minuten möchte ich für eine Prognose nutzen. Mir scheint, daß in den molekular orientierten Disziplinen der Neurobiologie die Frage nach der Erreichbarkeit der Forschungsziele nur mehr eine Frage der noch benötigten Zeit ist, nicht mehr ein grundsätzliches erkenntnistheoretisches Problem. Konzeptionell erscheinen die Wege als erschlossen. W e n n das Human-Genom-Projekt abgeschlossen ist, werden die molekularen Bausteine des menschlichen Organismus bekannt sein. Zwar bedarf es dann immer noch einer herkulischen Anstrengung, u m die Funktion der neu entdeckten Proteine ausfindig zu machen, aber die Suchstrategien sind bereits erprobt. Abzusehen ist auch, daß in nicht zu ferner Zukunft die molekularen Wechselwirkungen und Entscheidungsprozesse zumindest im Prinzip bekannt sein werden, die, von den Genen gesteuert, dafür sorgen, daß Nervenzellen während der Hirnentwicklung in der vorgesehenen Zahl gebildet werden, an die richtigen Stellen wandern, dort ihre spezifische Struktur und chemische Individualität ausbilden und dann mit den richtigen Partnern in Verbindung treten. Damit rücken kausale Therapien für genetisch bedingte Erkrankungen in greifbare Nähe. Für einige der erblichen neurologischen Erkrankungen, zum Beispiel der Myasthenia gravis und der Chorea Huntington, gelang bereits die lückenlose Rekonstruktion der molekularen Ursachen. Andere Erkrankungen werden auf gleiche Weise ihre molekulare Deutung erfahren, und so wird es auch mit Fehlfunktionen sein, die auf Entwicklungsstörungen zurückgehen. Die genaue Kenntnis der molekularen Krankheitsursachen erlaubt in vielen Fällen auch dann eine effektive Bekämpfung der Symptome, wenn die Ursachen nicht beseitigt werden können, wenn Eingriffe in das Genom der erkrankten Zellen nicht möglich sind. So berechtigt z.B. die fortgeschrittene Aufklärung der Kommunikation zwischen Immun- und Nervensystem zu der Hoffnung, entzündliche Erkrankungen, wie Multiple Sklerose, beherrschbar zu machen. Eine völlig überraschende und in ihrer therapeutischen Tragweite kaum zu überschätzende Konsequenz hatte die Identifikation der molekularen Mechanismen, die das Auswachsen von

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Nervenfasern während der Embryonalentwicklung kontrollieren. Experimente, die a m MPI für Neurobiologie begannen und später von Martin Schwab in Zürich weitergeführt wurden, erbrachten den Nachweis, daß eben jene Moleküle, die das erstmalige Auswachsen von Nervenfasern kontrollieren, auch die Regeneration verletzter Nervenzellen im ausgereiften Gehirn beeinflussen. Im Tierversuch ist es bereits gelungen, Querschnittslähmungen durch gezielten Einsatz dieser wachstumsregulierenden Eiweißmoleküle zu behandeln. Die Tiere gewannen die Kontrolle über die gelähmten Körperteile zurück, weil die durchtrennten Nervenbahnen zur Regeneration gebracht werden konnten. Was diese Entwicklung für die Klinik bedeutet, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Schließlich revolutionierten molekularbiologische Techniken auch die Neuropharmakologie. Die genaue Kenntnis der molekularen Struktur von Chemorezeptoren gestattet es heute, Pharmaka maßzuschneidern und damit die erwünschte W i r k u n g zu steigern, ohne Nebenwirkungen befürchten zu müssen. Dieses sind vorzeigbare Ergebnisse nicht nur fiir jene, die verstehen wollen, sondern auch für jene, die nach Anwendung fragen. Die fürwahr eindrucksvollen Erfolge des molekularen Ansatzes dürfen aber den Blick dafür nicht verstellen, daß es mit der lückenlosen Aufklärung der molekularen Komponenten des Gehirns und mit der erschöpfenden Charakterisierung der funktionellen Eigenschaften von Nervenzellen nicht getan ist. Selbst wenn dies alles gesichertes Wissen wäre, bliebe nach wie vor unverstanden, wie aus neuronalen Wechselwirkungen spezifisches Verhalten entsteht. Solange diese Erklärungslücke nicht geschlossen ist, kann aber das bereits angesammelte Wissen über molekulare und zelluläre Bedingtheiten neuronaler Verarbeitungsprozesse nicht für das Verständnis höherer Hirnleistungen und deren Störungen genutzt werden. Nach meinem Dafürhalten liegt im Versuch, diese Lücke zu schließen, die gegenwärtig größte Herausforderung der Hirnforschung. Denn immer noch können wir für die Hirnfunktionen, die den höchsten kognitiven Leistungen zugrundeliegen, und es sind dies die empfindlichsten, keine testbaren Erklärungsmodelle erdenken. Da jedem reduktionistischen Ansatz die Definition der Explananda vorausgehen muß, sind hier zunächst Verhaltensforschung und Psychologie gefordert. Keine dieser Disziplinen war in der K W G vertreten, und so fanden auch bei der Neuordnung der Hirnforschung in der M P G die Verhaltenswissenschaften zunächst keine institutionelle Heimat. An deutschen Universitäten gab es nach der Vertreibung namhafter jüdischer Vertreter der Gestaltpsychologie kaum noch experimentell arbeitende Psychologen. Der behaviouristische Ansatz, der mit dem Namen Skinner verbunden ist und in angelsächsischen Ländern zum Rückgrat der Experimentalpsychologie wurde, hatte in Deutschland keine institutionelle Basis, beeinflußte aber die Denkmodelle. Die Hypothese war, daß das Gehirn eine Reizbeantwortungsmaschine sei, die nur tätig werde, wenn sie von außen angeregt wird. W i e stark dieses Dogma wirkte, wird aus dem Erstaunen deutlich, das Kornmüller äußerte, als er beobachtete, daß die Hirnströme über den Sehzentren nicht verschwanden, wenn die Probanden die Augen schlössen. Die heutige, auch vom Konstruktivismus usurpierte Position, daß die Initiative beim Gehirn liegt, daß Wahrnehmungen, Empfindungen und Motivation das Ergebnis aktiver, konstruktiver Prozesse sind, war in den 50er Jahren nur wenigen vorstellbar. Aber es gab einige Vordenker, die

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das behaviouristische Dogma überwunden hatten und dem Gehirn mehr zutrauten: Carl von Frisch, Erich von Holst und Konrad Lorenz, charismatische Forscherpersönlichkeiten von hohem Rang. Von Frisch analysierte die Tanzsprache der Bienen. Von Holst war von den synthetischen Leistungen der Sinnessysteme fasziniert und von den koordinativen Fähigkeiten der Neuronenverbände, die sich mit der Steuerung von Bewegung befassen. Lorenz suchte nach Herkunft u n d Interaktion von Handlungsmotiven, Trieben und Verhaltensdispositionen. Auf die Hypothese, daß die Initiative beim Gehirn liegt, verwies auch die Evidenz, daß es sich seine eigene Zeit zumißt, daß es über eigene Uhren verfügt. Dies ging aus Experimenten des Ornithologen Kramer und des Chronobiologen Jürgen AschofF hervor. Der eine, Kramer, postulierte die Uhr, weil Zugvögel ohne sie den Sonnenkompaß nicht hätten lesen können, der andere, AschofF, brauchte sie, um zu erklären, daß Tiere ihren Schlaf-Wach-Rhythmus beibehalten, auch wenn ihnen alle äußeren Zeitgeber vorenthalten werden. Hier also waren Verhaltensforscher, die der Hypothese anhingen, d a ß Gehirne selbstbestimmte Produzenten von Verhalten sind und keine passiven Reflexmaschinen. Im Rückblick ist dieser konzeptionelle Bezug leicht zu erkennen, ihn damals gesehen und in das Gründungskonzept für das MaxPlanck-Intitut in Seewiesen umgesetzt zu haben, gleicht einem Geniestreich. Für die Protagonisten der neuen, verhaltensanalytischen Richtung wurde, weiterhin getreu dem Harnackschen Prinzip, ein großes Institut gegründet. W i e tragfähig und zukunftsweisend dieser Ansatz war, belegt der Umstand, daß Seewiesen sein integriertes Forschungsvorhaben durchzuhalten vermochte, obwohl Kramer noch in der Gründungsphase verunglückte und von Holst, viel zu jung, wenige Jahre später starb. Aus der Seewiesener Geschichte lassen sich mindestens zwei wissenschaftspolitisch bedeutsame Lehren ziehen. Die Gründungsphase belegt eindrucksvoll, daß Wissenschaft etwas sehr Persönliches ist; nicht die Verordnung eines Forschungszieles, sondern die geschickte Zusammenführung von herausragenden Forscherpersönlichkeiten war es, die Seewiesen zu Weltruhm verhalf und den Grundstein für eine moderne, den Behaviourismus überwindende, gehirnorientierte Verhaltensforschung legte. Seewiesen belegt auch, und ich greife hier auf Arbeiten von Dietrich Schneider und seinem Lehrer Butenandt zurück, daß Ergebnisse der Grundlagenforschung ihre Anwendung zwar erhoffen, aber meist auf verschlungenen Wegen finden. Wer hätte gedacht, daß die doch recht exotischen Studien über Pheromone, über Sexuallockstoffe, von Seidenspinnern zu einer der wirksamsten und ökologisch sanftesten Strategien der Schädlingsbekämpfung führen würden? Nach dem schmerzlichen Schließungsbeschluß des letzten Jahres bleibt uns im Augenblick nur die Hoffnung, daß der M P G alsbald noch einmal ein so genialer Wurf im Bereich der Ethologie gestattet sein möge wie damals mit Seewiesen. Jetzt, wo die Techniken zur Verfügung stehen, um auch höhere Hirnleistungen auf ihr neuronales Substrat zurückzuführen, ist es die Neuroethologie, der wir in Zukunft unsere Aufmerksamkeit zuwenden sollten, nicht zuletzt auch aus ökologischen Gründen. Eine Benennung der Quellen der modernen Hirnforschung wäre unvollständig, berücksichtigte sie nicht die starken Impulse, die aus der Physik und Informationstheorie kommen. Die Entwicklung des MPI fair Kybernetik in Tübingen dokumentiert, welch nachhaltigen Ein-

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fluß auch nichtbiologische Disziplinen auf die Hirnforschung haben. Die ausnehmend originelle Gründungsinitiative in den 60er Jahren reagierte mit bewundernswerter Sensibilität auf Signale aus Disziplinen, die später unter den Begriffen Informatik, künstliche Intelligenz und Robotik bekannt werden sollten. Sie legte damit den Grundstein für einen weiteren Zweig der Neurowissenschaften, die Neuroinformatik oder die „Computational Neurosciences", wie die Angelsachsen sagen. Shannons Informationstheorie machte „Information", also das, was in Nervensystemen rezipiert, umgewandelt und produziert wird, zur quantifizierbaren Größe. Norbert Wiener hatte mit seiner Theorie geregelter Prozesse auf die rudimentäre Intelligenz sich selbst stabilisierender technischer Systeme verwiesen und deren Organisationsprinzipien aufgezeigt. Turing war mit dem Beweis beschäftigt, daß sich beliebige logische Operationen auf die Addition und Substraktion binärer Zahlen zurückfuhren lassen, und John von Neumann hatte die prinzipielle Möglichkeit der Realisierung des Turing-Algorithmus in elektronischen Schaltkreisen erkannt. Der Beweis war erbracht, daß auch künstliche Systeme im Prinzip zu intelligenten Leistungen fähig sind und somit vermutlich gewisse Eigenschaften mit Nervensystemen gemein haben. Folglich sollten Organisationsprinzipien, die sich in technischen Systemen für die Informationsverarbeitung und Prozeßsteuerung bewährt haben, auf Gehirne übertragbar sein. Naturgemäß waren es mehr die Physiker als die Biologen, und später die Informatiker und Vertreter der künstlichen Intelligenz, die sich solchen Erwartungen hingaben. Einer der Protagonisten dieser Übernahme biologischen Territoriums durch Physiker war Werner Reichardt, ein Mitstreiter Hassensteins, der seinerseits Schüler von von Holst war. Reichardt, mit dem Aufbau des MPI für biologische Kybernetik beauftragt, umgab sich naheliegenderweise vorwiegend mit Physikern und wählte die Fliege als Modell. Seine Vision war es, das Navigat i o n - und Flugstabilisierungssystem der Fliege vom Facettenauge über die verschiedenen Stufen des miniaturisierten Gehirns hinweg bis hin zu den Flugmuskeln vollständig zu analysieren und in Begriffe der Systemtheorie zu fassen. Dieses Unternehmen wurde ein voller Erfolg. Aber noch blieb diesem Ansatz der Zugang zu höheren Hirnleistungen verwehrt. Die ungeheuere Komplexität der neuronalen Interaktionen im Gehirn von Wirbeltieren und vor allem deren nichtlineare Dynamik trotzte den analytischen Werkzeugen der linearen Systemtheorie. Erst als die Hirnforschung auf die Hilfe von Hochleistungsrechnern zurückgreifen konnte, ließ sich auch diese Schwelle überwinden. Jetzt war es möglich, die verwirrende Vielfalt neuronaler Wechselwirkungen in der Großhirnrinde zu ordnen, Verarbeitungsprinzipien aufzudecken und deren Stimmigkeit in Simulationsexperimenten zu überprüfen. Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, daß ohne diese Rechenknechte der Versuch aussichtslos geblieben wäre, die neuronalen Grundlagen höherer Hirnleistungen aufzuklären. Inzwischen fließt die Information aber auch in die andere Richtung. Der Wissenstransfer ist reziprok. Die Konstrukteure von Computern profitieren seit einigen Jahren auch ganz erheblich von den Ergebnissen der Hirnforschung, sie lernen von der Natur. Die neuen Rechnerarchitekturen, die sogenannten neuronalen Netze, basieren auf Verarbeitungsalgorithmen, die denen in der Hirnrinde ähneln, und sie bewähren sich überall dort, wo die klassischen von Neumann-Rech-

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ner Schwierigkeiten haben: bei der Mustererkennung, beim assoziativen Lernen und beim flexiblen Reagieren auf Unvorhersehbares. Die Verfügbarkeit gewaltiger Rechenkapazitäten war auch Voraussetzung ftir die Entwicklung der modernen, bildgebenden Verfahren, die gegenwärtig die kognitiven Neurowissenschaften und die Neuropsychologie revolutionieren. Es sind teure Geräte, deren Einzelpreis in die Millionen geht und deren Namen mit dem Suffix „graph" enden: Computertomograph, Magnetenzephalograph und Kernspintomograph. Gemeinsam ist diesen Methoden, daß sie nicht invasiv sind und deshalb am Menschen angewandt werden können. Die einen erlauben es, Struktur und metabolische Aktivität von Hirnregionen mit einer räumlichen Auflösung im Millimeterbereich darzustellen. Die anderen bilden elektrische Aktivität von Hirnzentren in Echtzeit ab. Diese neuen Verfahren machen sichtbar, welche Hirnregionen aktiviert werden, wenn sich Versuchspersonen bei geschlossenen Augen Gegenstände vorstellen, wenn sie stumm Sätze formulieren, wenn sie sich Aktionen vornehmen, aber auch wenn sie träumen oder Halluzinationen erleben. Der reduktionistische Erklärungsansatz kann damit zum ersten Mal in der Geschichte der Hirnforschung bis auf die höchsten kognitiven und mentalen Leistungen des menschlichen Gehirns ausgedehnt werden. Obgleich diese Geräte erst seit wenigen Jahren verfügbar sind, werden sie inzwischen in allen Max-Planck-Instituten, die sich mit dem Gehirn des Menschen befassen, eingesetzt, und dies ist andernorts genauso. Die direkte Erforschung des menschlichen Gehirns erfährt dadurch gegenwärtig eine gewaltige Renaissance. O b pathologische Prozesse im Vordergrund des Interesses stehen wie an den MaxPlanck-Instituten für Psychiatrie in München, Neuropsychologie in Leipzig und neurologische Forschung in Köln, oder ob es um Wahrnehmungsfunktionen geht, wie an den Instituten für Biokybernetik in Tübingen und Hirnforschung in Frankfurt, oder um die Sprache wie am MPI für Psycholinguistik in Nijmegen und am MPI für Neuropsychologie in Leipzig, immer kommen bildgebende Verfahren zum Einsatz, mit denen sich Funktionsmodelle am menschlichen Gehirn überprüfen lassen. Nun wird von Politik und Öffentlichkeit immer vernehmbarer eingefordert, die Hirnforschung solle hinfort aufTierversuche verzichten, da sie ihre Ziele jetzt auch über Computersimulationen und Untersuchungen am Menschen erreichen könne. Es steht Geburtstagsrednern an, nicht nur Würdigungen von Vergangenem, sondern auch Wünsche für die Zukunft zu formulieren. Und so wünsche ich unseren Instituten, daß es ihnen gelingen möge, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß sie hier irrt und daß auch die moderne Hirnforschung auf Tierversuche nicht verzichten kann. Die neuen Verfahren beweisen, daß auch höchste mentale Funktionen auf der Aktivität von Nervenzellen beruhen, aber sie vermögen nur zu sagen, wann welches Hirnareal aktiv wird. Sie geben wegen ihrer begrenzten räumlichen Auflösung keine Auskunft darüber, was in diesen Arealen geschieht. U m dies herauszufinden, müssen die raumzeitlichen Aktivitätsmuster der einzelnen Nervenzellen analysiert werden, und dies erfordert nach wie vor das Einbringen von Mikroelektroden. Solche Ableitungen werden zwar aus diagnostischen Gründen immer häufiger auch an wachen, nicht narkotisierten Patienten vorgenommen — dies ist möglich, weil das Gehirn nicht schmerzempfindlich ist —, verbieten sich aber an Versuchspersonen, da sie nach wie vor operative Eingriffe erfor-

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d e m . Messungen am Tier bleiben deshalb weiter unumgänglich, wenn Hirnforschung sein soll. Diese Versuche sind deshalb so wichtig, weil sich die vom menschlichen Gehirn ableitbaren Aktivitätsmuster nur dann interpretieren lassen, wenn sich klären läßt, welche Verarbeitungsprozesse ihnen zugrunde liegen. Weltweit werden aus diesen Gründen Mikroelektrodenableitungen an wachen, verhaltenstrainierten Primaten vorgenommen, so auch an den Max-Planck-Instituten für Biokybernetik und Hirnforschung. Die Techniken bei der Elektrodenimplantation gleichen denen, die beim Menschen angewandt werden. Sie sind schmerzfrei und ähneln den Verfahren zur Implantation von Herzschrittmachern. W o also stehen wir i m Augenblick mit unseren Bemühungen, auch höhere Hirnfunktionen verstehen zu wollen? Ähnlich wie vor zwei Jahrzehnten die Reduktion zellulärer Prozesse auf ihre molekulare Basis zu einer Verschmelzung bislang getrennter Disziplinen führte, bewirkt nun die Reduktion von kognitiven Phänomenen auf ihr neuronales Substrat unverhoffte Begegnungen zwischen den vormals eigenständigen psychologischen und neurobiologischen Forschungsrichtungen. Entsprechend kooperieren unsere geisteswissenschaftlichen und biomedizinischen Sektionen bei der Betreuung unserer Hirnforschungsinstitute. Jede der mit Hirnfunktionen befaßten Disziplinen — von denen alle mit den Namen von Max-PlanckInstituten verbunden sind, die Psychologie, die Neuropsychologie, die Psycholinguistik, die biologische Kybernetik, die Psychiatrie, die Neurologie und schließlich die system- und zellphysiologisch arbeitenden Abteilungen der Max-Planck-Institute für Neurobiologie, Hirnforschung und medizinische Forschung — sie alle verfügen inzwischen über konzeptionelle oder methodische Brückenköpfe, welche direkte Verbindungen zur nächst niedrigeren Analyseebene ermöglichen. W i e schon bei der molekularen Neurobiologie, so sind auch in diesem Bereich der Hirnforschung die synergistischen Effekte gewaltig, und dies ist der zweite Grund, weshalb ich eingangs vom Goldenen Zeitalter der Hirnforschung sprach. Weil es unmöglich ist, aus der Fülle neuer Erkenntnisse die bedeutendste herauszufinden, will ich mich darauf beschränken, Ihnen das verwirrendste der Probleme vorzustellen, die uns derzeit umtreiben. Entgegen der Vermutung Descartes', daß es irgendwo im Gehirn ein singuläres Zentrum geben müsse, in dem alle Informationen zusammenkommen und einer einheitlichen Interpretation zugeführt werden - einen Ort an der Spitze der Verarbeitungspyramide, wo das innere Auge die Welt und sich selbst betrachtet - , entgegen dieser plausiblen Annahme erbrachte die Hirnforschung den Beweis, daß ein solches Zentrum nicht existiert. Korbinian Brodmanns Vermutung hat sich bestätigt. Er folgerte schon zu Beginn dieses Jahrhunderts aus seiner Entdeckung funktionell und anatomisch abgrenzbarer Hirnrindenareale: „Wir müssen daher die Annahme, daß eine Verstandesleistung oder ein Gemütsvorgang ... in einem einzelnen umschriebenen Rindenteile zustande komme, mag man diesen nun »Assoziationszentrum' oder ,Denkorgan' oder ähnlich nennen, als eine ganz unmögliche psychologische Vorstellung ablehnen." Uns stellt sich heute das Gehirn als extrem distributiv organisiertes System dar, in dem zahllose Teilaspekte der einlaufenden Signale parzelliert und parallel abgearbeitet werden. Zwar stehen alle Zentren miteinander über mächtige und reziproke Bahnverbindungen in intensiver Wechselwirkung, aber es ist völlig unklar, wie ein derart parallel organisiertes System dazu kommt, das Bild einer kohärenten Wahrnehmungswelt zu entwerfen und

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sich insgesamt zielgerichtet zu verhalten. Ja, es ist noch nicht einmal klar, wie in diesen distributiven Architekturen einzelne Inhalte repräsentiert werden können, Wahrnehmungsobjekte, Worte, präzise Erinnerungen oder erlernte motorische Programme. W i r bezeichnen dieses faszinierende Rätsel als das Bindungsproblem und wissen, daß wir ohne seine Lösung keine geschlossene Hirntheorie formulieren können. Besonders spannend ist, daß sich bei der Bearbeitung dieses Problems überraschende Parallelen zu anderen komplexen Systemen ergeben, die ebenfalls distributiv organisiert sind, lenkender Konvergenzzentren entbehren u n d dennoch insgesamt koordiniertes, gerichtetes Verhalten zeigen, weil sie über mächtige Mechanismen der Selbstorganisation verfügen. Hierzu gehören die Superorganismen der Insektenstaaten ebenso wie unsere verflochtenen W i r t schafts- und Sozialsysteme. Es wäre lohnend, der epistemologischen Frage nachzugehen, ob es unsere postmoderne Weltsicht ist, die uns komplexe Systeme so sehen läßt, oder ob unsere gegenwärtige Weltsicht durch die Erfahrung mit solchen Systemen geprägt wird. Lassen Sie mich mit einer Prognose schließen. Wenn Verstehen meint, daß beobachtbare Phänomene durch Prozesse auf der jeweils nächst niedrigen Analyseebene erklärbar werden, dann deutet alles daraufhin, daß die Hirnforschung auf dem Weg ist, ihren reduktionistischen Ansatz auf alle relevanten Ebenen lückenlos auszudehnen. Sie wird die Phänomene neuronaler Kommunikation auf ihre molekularen und zellulären Grundlagen zurückfuhren und ist dabei, Verhaltensphänomene, einschließlich psychischer und mentaler Funktionen, durch neuronale Kommunikationsprozesse zu erklären. Diese Prognose hat weitreichende erkenntnistheoretische und ethische Implikationen, gehören doch zu den Explananda nicht nur Sinnesfunktionen und motorische Leistungen, sondern auch die unser Menschenbild prägenden Erfahrungen psychischen Erlebens: unsere Motivationen, Denkstrukturen, Wahrnehmungen und Empfindungen. W e n n sich der eingeschlagene reduktionistische Weg tatsächlich bis zum Ende als gangbar erweisen sollte, dann wird er uns mit völlig neuen Fragen konfrontieren, auf die wir uns schon jetzt vorbereiten sollten. W i e verhält es sich dann mit unserer Erfahrung, daß wir frei entscheiden können? W i e verhält es sich mit Schuldzuschreibungen und unserem Kulturgut der Verantwortlichkeit? W i e sollen wir mit der Erkenntnis umgehen, d a ß in unserem Gehirn kein Konvergenzzentrum auszumachen ist, wo allein Entscheidungen fallen, wo Handlungspläne entworfen werden und w o das Bewußtsein seinen Sitz hat? W i e sollen wir uns vorstellen, daß ein willentlicher Entschluß gefaßt wird, der dann auf unser Gehirn einwirkt, damit dieses, dem willentlichen Impuls gehorchend, diese oder jene Aktion ausführt? W o sollen wir das selbstbestimmte Ich verorten, das wir wahrnehmen, als sei es von Hirnfunktionen losgelöst und ihnen gegenübergestellt? Welche Veränderung wird der Erkenntnisbegriff erfahren, wenn wir erkennen können, welche neuronalen Prozesse unseren kognitiven Funktionen, unseren Werkzeugen der Erkenntnis, zugrunde liegen? U n d wie werden wir die als zwingend erfahrene Dichotomie von Geist und Körper, von Leib u n d Seele verteidigen wollen, wenn wir uns gleichzeitig anschicken, das eine auf das andere zurückzufuhren? W i e immer auch die Suche ausgehen wird, gleich, welchen Erscheinungen wir auf dem Weg in unser Innerstes begegnen werden, fest steht, daß die Hirnforschung unser Selbstverständ-

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nis tiefgreifend verändern wird. Erkennbar ist auch, daß die Hirnforschung dort, wo sie nach den höchsten Funktionen fragt, in angestammte Territorien der Geisteswissenschaften eindringt — mit der faszinierenden Konsequenz einer erneuten Annäherung von Natur- und Kulturwissenschaften. Und wir werden dieser Annäherung bedürfen, wenn wir die philosophischen, ethischen und moralischen Probleme bewältigen wollen, mit denen wir auf unserem Weg nach Innen mehr und mehr konfrontiert sein werden. Wir werden nicht innehalten können, sondern fortfahren müssen, verstehen zu wollen, wenn wir unsere Verantwortung für die Zukunft ernst nehmen.

Die Autoren

A s s m a n n , J a n , Dr. phil. Dr. theol. h.c., Univ.-Professor, Ägyptologie, Universität Heidelberg B e r c h e m , T h e o d o r , Dr. Dr. h.c. mult., Univ.-Professor, Romanische Philologie, Präsident der Universität Würzburg, Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdienstes Bolz, N o r b e r t , Dr. phil., Univ.-Professor, Philosophie, Universität Gesamthochschule Essen C a s p e r , G e r h a r d , Dr., Univ.-Professor, Präsident der Universität Stanford F r ü h w a l d , W o l f g a n g , Dr. phil., Univ.-Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Universität München, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 1992 bis 1997 G a l l , L o t h a r , Dr. phil., Univ.-Professor, Geschichtswissenschaften, Universität Frankfurt a. M., Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften G r e g o r y , J e a n K., Dr.-Ing., Univ.-Professor, Werkstoffe im Maschinenbau, Technische Universität München H i n s k e , N o r b e r t , Dr. phil. Lic. phil., Univ.-Professor, Philosophie, Universität Trier H ö f f e , O t f r i e d , Dr. phil., Univ.-Professor, Philosophie, Universität Tübingen M i e g e l , M e i n h a r d , Dr. iur., Univ.-Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Leipzig, Leiter des Zentrums für Internationale Wirtschaftsbeziehungen (ZIW) der Universität Leipzig, Wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft (IWG Bonn) Ple§u, A n d r e i , Dr., Univ.-Professor, Minister für Auswärtige Angelegenheiten in Rumänien S c h i e d e r m a i r , H a r t m u t , Dr. iur., Univ.-Professor fiir öffentliches Recht, Völkerrecht und Rechtsphilosophie an der Universität zu Köln, Präsident des Deutschen Hochschulverbandes S c h ö l l g e n , G r e g o r , Dr. phil., Univ.-Professor, Neuere und Neueste Geschichte, Universität Erlangen-Nürnberg

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Schwanitz,

Die Autoren

Dietrich,

Dr. phil. Univ.-Professor, Englische Sprache und Kultur, Universität

Hamburg bis 1 9 9 7 S i n g e r , W o l f , Dr. med., Univ.-Professor, Hirnforschung, Max-Planck-Gesellschaft W i e l a n d , G e o r g , Dr. phil., Univ.-Professor, Philosophische Grundlagen der Theologie, Universität T ü b i n g e n

Quellennachweis

Assmann, Jan: Wenn die Kette des Nachmachens zerreißt Aus: Berliner Zeitung, 3. Dezember 1997 Berchem, Theodor: Auslandskontakte der Hochschulen. Zielsetzungen und Fehlentwicklungen Aus: Beiträge zur Hochschulforschung, Heft 1, 1998, Seite 3-20 Bolz, Norbert: Der Professor als Held. Gedanken über den Hochschullehrer der Zukunft Aus: Forschung & Lehre, 7/98, S. 340-342 Casper, Gerhard: Die Wiedererfindung der Universität Aus: Wirtschaft & Wissenschaft, Mai 2/98, Seite 28-38 Frühwald, Wolfgang: Athen aus Alexandrien zurückerobern. Bildung im Informationszeitalter Aus: Forschung & Lehre, 5/98, Seite 228-232 Gall, Lothar: Ein großer Tag der tieutschen Geschichte Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Mai 1998 Gregory, Jean K.: Uber Bildung, Elite und Bürokratie: die Hochschule in der öffentlichen Diskussion Aus: Rheinischer Merkur, 6. Februar 1998 Hinske, Norbert: Welche Eigenschaften braucht der Mensch? Überlegungen zur Tugendethik Aus: Forschung & Lehre, 7/98, Seite 348-350 Höffe, Otfried und Wieland, Georg: Sind die Geisteswissenschaften ihren Preis wert? Aus: Frankfurter Rundschau, 6. Januar 1998 Miegel, Meinhard: Die Zukunft des Arbeitsmarktes Aus: Wirtschaft & Wissenschaft, Februar 1/1998, Seite 24-32 Pleju, Andrei: Einige osteuropäische Neurosen. Die Intellektuellen, die Übergangszeit und die europäische Integration Vortrag, gehalten auf der Mitgliederversammlung des Stifterverbandes in Essen im Juni 1998

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Quellennachweis

Schiedermair, Hartmut: Wozu noch Universitäten? Zwerge auf den Schultern von Riesen Aus: Forschung & Lehre, 5/98, Seite 233-236 Schöllgen, Gregor: Von Dämonen verfolgt. Max Weher, die Frauen und die Wissenschaft Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Februar 1998 Schwanitz, Dietrich: Die Fußnote Aus: Die Welt, 24. Januar 1998 Singer, Wolf: Auf dem Weg nach innen. 50 Jahre Hirnforschung in der Max-Planck-Gesellschaft Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Februar 1998