Glanzlichter der Wissenschaft 2010: Ein Almanach 9783110506280, 9783828205222

Der Sammelband "Glanzlichter der Wissenschaft" vereinigt herausragende wissenschaftliche Veröffentlichungen un

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German Pages 167 [168] Year 2010

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Zählen statt Urteilen
Gemeinschaftsschutz Glaubensfreiheit
Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten
Die Eine Million Dollar-Frage
Was ist Bildung?
Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin ?
Ob uns die Berliner Universitätsgeschichte eine Verpflichtung ist
Die Sekundenphilosophie
Bausteine der Republik
Byzantinistik heute: eine weltferne Wissenschaft?
Distanz und Nähe
Der Wissenschaftler als Bürger und Beamter
Durch den menschlichen Geist sieht die Natur sich selbst an
Ein Ort mit mehreren Zentren
Kreativer Umgang mit Molekülen
Göttliche Geistesblitze
Die Zukunft der Verantwortung
Aus Bildung wird Bologna: ein Zwischenruf aus den Naturwissenschaften
Von der Freiheit des Alters
Die Revolution der Lebenserwartung
Langeweile ist unverzeihlich
Celebrity-Kultur ist der Feind der Bildung
Über Lebens Qualität
Die Autoren
Quellennachweis
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Glanzlichter der Wissenschaft 2010: Ein Almanach
 9783110506280, 9783828205222

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Glanzlichter der Wissenschaft Ein Almanach

herausgegeben vom Deutschen Hochschulverband

LUCIUS 'LUCIUS

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8282-0522-2 © Deutscher Hochschulverband 2010 Redaktion: Felix Grigat, M.A. (verantwortl.) Dr. Michael Hartmer Friederike Invernizzi, M.A. Ina Lohaus Vera Müller, M.A. Druck: Saarländische Druckerei und Verlag G m b H , 66793 Saarwellingen

Inhaltsverzeichn is Zählen statt Urteilen Die Auflösung der Urteilskraft in die Zahlengläubigkeit Otto Depenheuer

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Gemeinschaftsschutz Glaubensfreiheit Udo Di Fabio

15

Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten Hochschulen in den USA zwischen Elite und Titelmühlen Frank Donoghue

23

Die Eine Million Dollar-Frage Über Kommunikation und Sprache bei Affen — Beobachtungen der kognitiven Ethologie Julia Fischer

29

Was ist Bildung? Vom inflationären Gebrauch eines Begriffs und dem Verschwinden seiner tatsächlichen Bedeutung Jürgen Fohrmann

33

Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin ? Universitäten am Scheideweg Wolfgang Frühwald

39

Ob uns die Berliner Universitätsgeschichte eine Verpflichtung ist Hans Ulrich Gumbrecht

45

Die Sekundenphilosophie Ein Gespräch mit Dieter Henrich

53

Bausteine der Republik Peter Graf Kielmansegg

65

Byzantinistik heute: eine weltferne Wissenschaftf Perspektiven eines „Orchideenfachs" Foteini Kolovou

71

4

Inhaltsverzeichnis

Distanz und Nähe Fragen einer kritischen

Islamwissenschaftlerin

Gudrun Krämer

75

Der Wissenschaftler als Bürger und Beamter Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik Jutta Limbach

81

Durch den menschlichen Geist sieht die Natur sich selbst an Charles Darwins Einsichten in die Evolution von Natur und Kultur Hubert Markl

91

Ein Ort mit mehreren

Zentren

Uber die Mitte der Gesellschaft Herfried Münkler

99

Kreativer Umgang mit Molekülen Was ist Synthetische Biologie? Michael Reth Göttliche

103

Geistesblitze

Wie Theologen zu Pionieren des Fortschritts wurden Eckart Roloff Die Zukunft der

107 Verantwortung

Bernhard Schlink

113

Aus Bildung wird Bologna: ein Zwischenruf aus den Ulrich Schollwöck

Naturwissenschaften 125

Von der Freiheit des Alters Unzeitgemäße Betrachtungen aus philosophischer Sicht Andreas Speer Die Revolution der

133 Lebenserwartung

Manfred Vasold

137

Langeweile ist unverzeihlich Uber das Arbeiten mit und an der Sprache - ein Gespräch Martin von Koppenfels

143

Inhaltsverzeichnis

5

Celebrity-Kultur ist der Feind der Bildung - ein Gespräch Peter Weibel

147

UberLebensQualität Kulturwissenschaft und Nachhaltigkeit Sigrid Weigel

153

Die Autoren

161

Quellennachweis

165

Otto

Depenheuer

Zählen statt Urteilen Die Auflösung der Urteilskraft in die Zahlengläubigkeit

I. Der Siegeszug der Zahlen

Z

ahlen faszinieren die Menschen seit jeher. In, über und durch Zahlen hoffen sie den Rätseln der Welt auf die Spur zu kommen. Religiöse und philosophische Uberlieferungen orientalischer und christlich-jüdischer Provenienz bezeugen einen Zahlenmystizismus, mit-

tels dessen die Menschen einen Weg zur Deutung der Welt, ihrer Stellung im Kosmos und zum Sinn des Lebens zu finden glauben. Wer meint, dieser Zahlenfetischismus sei wissenschaftlich nur ein T h e m a für Altertumshistoriker und Ethnologen, Numerologen und Esoteriker, der irrt.

Wenn nicht alle Anzeichen trügen, strebt der Siegeszug der quantitativen Welterfassung gegenwärtig seinem ultimativen Höhepunkt zu. Die Welt des 21. Jahrhunderts wird eine Welt der Zahlen sein. Dem unaufhaltsamen Siegeszug und der beginnenden Herrschaft der Zahlen begegnen wir überall: Was Ärzten das Budget und Krankenhäusern die Fallpauschale, das ist den Beamten die parametergestützte leistungsorientierte Besoldung; was den Börsen das Rating, das ist den U n i versitäten das Ranking; was den Intendanten die Quote, ist den Unternehmern der Umsatz und den Parteien die Zustimmungsrate; und was den Professoren Drittmitteleinwerbung, Zitationsindex und Zahl der Publikationen in zertifizierten Zeitschriften ist, das ist den Richtern das Personalbedarfsberechnungssystem PEBB§Y. Flankiert wird die moderne Verzählung der Welt von der digitalen Erfassung des Menschen. Softwaregestützt wird der Alltag der Bürger in immer umfassenderer Weise registriert, gespeichert, abgeglichen, auf dass - dem Algorithmus sei Dank -

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Otto Depenheuer

ihre H o f f n u n g e n , Verhaltenspräferenzen u n d wahren W ü n s c h e , die in der Regel ihre Warenwünsche sind, i m m e r treffsicherer p r o g n o s t i z i e r t werden k ö n n e n . In einer i m m e r unübersichtlicheren Welt vermittelt der A l g o r i t h m u s d e m m o d e r n e n M e n s c h e n wenigstens noch diese eine u n d vielleicht f ü r viele die letzte O r i e n t i e r u n g : seine auf dem A l g o r i t h m u s basierende statistische Wahrscheinlichkeit. Das Schwinden menschlicher Freiheitsräume z u g u n s t e n algorithmisch generierter H a n d l u n g s a n w e i s u n g e n k ö n n t e die nicht ö k o n o m i s c h e n gesellschaftlichen Systeme vor H e r a u s f o r d e r u n g e n stellen, v o n denen s c h o n fraglich ist, ob sie ü b e r h a u p t n o c h aus einer nichtdigitalen Position heraus e r k a n n t , bewertet u n d gesteuert w e r d e n k ö n n e n .

II. Der Segen des Zählens 1. Reduktion von

Komplexität

D e r Prozess der Verzählung d e r Welt folgt einer eigenen, zwingenden Logik: Die Zahlengläubigkeit ist eine F r u c h t aus d e m Geiste der abendländischen Wissenschaft. D e r M e n s c h will die Welt, in der er lebt, verstehen. I m Z e n t r u m des Verstandes aber steht die Zahl. In der H e r r s c h a f t der Zahlen manifestiert sich das Ideal wissenschaftlicher Weltbeherrschung, insoweit sie A b s t r a k t i o n e n ermöglichen u n d wissenschaftliche Wahrheit verbürgen: Wahr ist nur, was m a n messen u n d damit zählen kann. Diese W i r k u n g der Zahl verdankt sich deren Eigentümlichkeit, das „große Bindemittel" zu sein: Die Zahl vermag die ungleichartigsten Inhalte zu erfassen, sie z u r Einheit d e r Zahl u m z u b i l d e n u n d eine „ H o m o g e n i t ä t " des D e n k e n s zu ermöglichen.

2. Garant von

Objektivität

I n d e m die Zahl Schutz bietet gegen die Subjektivität des Meinens u n d Glaubens, verbürgt sie die O b j e k t i v i t ä t der E r k e n n t n i s u n d s c h ü t z t sie gegen subjektive Willkür. In dieser F u n k t i o n zeitigt die Zahl auch politischen wie rechtlichen M e h r w e r t : Die Idee des A m t e s u n d des G e m e i n w o h l s , des Staates u n d des Volkes, d e r Rechtsgleichheit u n d Unparteilichkeit der G e r i c h t e - sie alle zielen auf die Objektivität der zu t r e f f e n d e n E n t s c h e i d u n g „ o h n e A n s e h u n g der Person". Politisch wie rechtlich wirkt die H e r r s c h a f t der Zahlen konfliktlösend: G e g e n die O b j e k t i v i t ä t d e r Zahlen kann m a n sich subjektiv nicht wehren. Vor allem befreit die in einer Zahl kondensierte Leistung v o n Kandidaten v o n e m o t i o n a l e n Verzerrungen bei Bewertungs- u n d Auswahlentscheidungen. D e r Beste soll gewinnen. Wer wollte da widersprechen?

3. Basis für

Optimierungsentscheidungen

Allmählich geht aber die gesamte Persönlichkeit des M e n s c h e n in einer Zahl auf u n d selbst die Welt wird n u r noch in Z a h l e n erfasst. D a r i n liegt nicht n u r eine u n g e h e u r e Reduktionsleistung, s o n d e r n ein rational f u n d i e r t e r Weg z u r Beherrschung der Welt. Zahlen verbürgen Wahrheit, Präzision u n d Exaktheit, ermöglichen Vergleiche, schaffen O r i e n t i e r u n g u n d Anschlussfähigkeit, weisen Wirtschaftlichkeitsreserven aus u n d legen O p t i m i e r u n g s p o t e n z i a l e frei. N i c h t zufällig

Zählen statt Urteilen

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gelangte die Herrschaft der Zahlen schon im Mittelalter im Bereich der Wirtschaft zum Ziel. Doch seit einiger Zeit erstreckt sich die Zahlengläubigkeit auch auf nichtökonomische Funktionssysteme. Insbesondere der Bereich der Staatsaufgaben gerät unter Ökonomisierungsdruck. Selbst der Kernbereich jeder Herrschaft - die Gerichtsbarkeit - wird im Interesse der Optimierung und Leistungsstärke verzählt: Urteile werden zu Produkten, für deren Erstellung Eckwerte zur Verfügung stehen, die ein optimierendes Personalmanagement ermöglichen sollen. Die Idee des Rechtsstaats erreicht in den Zeiten von PEBB§Y mit dessen Ziel, maximale Gerechtigkeit zu minimalen Kosten bereitzustellen, scheinbar ihren Zenit.

4.

Suggestionskraft

Der Sogwirkung der Zahlen kann sich fast niemand widersetzen. Wie ein „schwarzes Loch" ziehen sie alles in ihr Kraftfeld, verschlingen das Leben in seiner Kontingenz und Komplexität und formen es zur einfachen Zahl um. Individuelle Persönlichkeiten und administrative Behördenleistungen, die Leistungskraft gesellschaftlicher Systeme und selbst die Welt wird in Zahlen erfasst und kann darin aufgehen: Die unübersichtliche Welt wird zur übersichtlichen Statistik. Wenn Probleme erst einmal in eine Zahl überführt und in einer Statistik abgebildet sind, können Entwicklungen interpoliert, Zielmarken gesetzt und Prognosen berechnet werden. Kaum ein Entscheidungsträger kann sich der Verführungswirkung der Zahlen entziehen. Dabei ist es nahezu unerheblich, ob die Zahlen nur „Orientierungen" geben wollen, sich als bloße „Entscheidungshilfen" verstehen oder ob sie influenzierende oder gar imperativ verpflichtende Leistungsparameter darstellen: Die Zahl wird zur allein maßgeblichen Größe, auf die alle fixiert sind. Zahlenindizierten Entscheidungen zu widersprechen, erfordert erhebliche Begründungslasten, für die aber in der Regel sowohl der Zugang zur Sache als auch die Zeit fehlt. Es ist ja gerade die große Leistung der Zahl, dass sie, einmal in der Welt, den Rückgriff auf die dahinterstehende Wirklichkeit in ihrer widersprüchlichen und sperrigen Komplexität ersetzt. In dieser Reduktionsleistung der Zahl liegt eine der Wurzeln für ihre politische Suggestionskraft. Wer beispielsweise die Zahl der Publikationen eines Wissenschaftlers zum Beurteilungsmaßstab erhebt, braucht diese nicht mehr selbst zu lesen und kann trotzdem urteilen: Die Zahl hat eben immer Recht, wenn die Zahl den Inhalt ersetzt.

III. Der Fluch des Zählens 1. Totalisierung und

Verabsolutierung

„Man kann die Ideen, wie sie in unserem Geiste und in der Natur sich kundgeben, sehr treffend durch Zahlen bezeichnen; aber die Zahl bleibt doch immer das Zeichen der Idee, nicht die Idee selbst. Der Meister bleibt sich dieses Unterschieds noch bewusst, der Schüler aber vergisst dessen und überliefert seinen Nachschülern nur eine Zahlenhieroglyphik, bloße Chiffren, deren lebendige Bedeutung niemand mehr kennt und die man mit Schulstolz nachplappert" (Heinrich Heine). In der Tat: Wer nur noch zählt, braucht nicht mehr zu denken und lässt es dann auch. Indem die Zahl von der Wirklichkeit distanziert, kann sie von dieser mehr und mehr absehen:

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Otto Depenheuer

Die Zahl ist die Welt. Die in Zahlen übersetzte Welt löst alles Konkrete aus seinen kontingenten Verflechtungen, überführt sie „mathematisch rein" in die Allgemeinheit der logischen Form. Mehr noch: Die Zahl erhält eine „universelle Funktion und eine allgemeingültige Bedeutung", der gegenüber die Wirklichkeit „sekundär" wird, nur noch stört: Die Wirklichkeit ist nichts, die Zahl alles. Oder frei nach Wittgenstein: „Die Welt ist alles, was die Zahl ist." Indem die Inhalte hinter den Zahlen verschwinden, wird die Herrschaft der Zahlen absolut. Zahlen verselbstständigen das quantitativ-statistische Denken mit der fatalen Folge: J e geringer ihre Aussagekraft wird, desto mehr Uberzeugungswirkung entfalten sie. Frei von störenden Inhalten geht es nur noch um Logik und Mathematik. Der inhaltliche Irrtum kann nicht mehr gedacht werden, weil nur noch gerechnet wird. Ein exemplarisches Beispiel für intellektuelle Selbsttäuschung und Hoffart professionalisierter Zahlengläubigkeit bietet die Finanzkrise 2008/09. Auf der Grundlage der verbreiteten, nobelpreisgekrönten und maximalmathematisierten „Theorie des effizienten Marktes" führte die computergetragene Verselbstständigung der Zahlen in eine Scheinwelt der Vollkommenheit: Zahlen verliehen selbstsuggestiven Fiktionen Realitätsstatus. Der zahlenbasierte Schein zerstob und eine ganze Wissenschaft blamierte sich, als sich die wirkliche Welt zurückmeldete, weil sie die von den Rechnern vorgegaukelten Renditen nicht mehr einzulösen vermochte und eine schmerzhafte Anpassung des Scheins an das Sein erzwang.

2. Herrschaft der Zahlen Die Verabsolutierung der Zahl führt über die Totalisierung der zahlengestützten theoretischen Vernunft zur Herrschaft der Zahlen: Die Wirklichkeit wird mit den Resultaten ihrer Rechenoperationen zwangsbeglückt, das „krumme H o l z des Menschen" (Kant) in das Prokrustesbett der abstrakten Zahl gepresst. In der anbrechenden Herrschaft der Zahlen liegt ein erst in Ansätzen erkennbares gesellschaftspolitisches Steuerungspotenzial bereit, das sich politischer Instrumentalisierung und Manipulierung geradezu anbietet. In der Realität haben die Rechner inzwischen erste Schritte hin zur Selbstständigkeit zurückgelegt: Computergestützte Börsengeschäfte orientieren sich nicht nur an Handelsdaten, sondern die Rechner entscheiden selbstständig über „ihre" Reaktionen. Aber auch im Justizwesen wird computergestützt optimiert: Man errechnet die durchschnittliche Bearbeitungszeit für typische Fallgruppen, gelangt derart zu Basiszahlen, über diese zu Aussagen über Effizienz, Personalauslastung, Wirtschaftlichkeitsreserven und Optimierungspotenzial, die jederzeitiges (Gegen-)Steuern und Feinjustieren erlauben. Im Ergebnis etabliert sich ein sich selbst generierendes, selbstreferenzielles und autopoietisches System, dessen professionelle Agenten - Controlling-, Evaluations- und Akkreditierungsagenturen - derart wenigstens ihre eigene Existenzberechtigung und Versorgungsinteressen sichern. Am Horizont dieser Entwicklung wird die Vision des modernen Menschen sichtbar, der zum Datensatz seiner selbst wird, dem die computergestützte Software zunehmend das Denken abnimmt und dem es als Richter das juristische Entscheidungsspektrum algorithmusgestützt erst freundlich empfiehlt, sodann ernsthaft nahelegt und schließlich imperativ vorschreibt: So könnte dem „Navigat o r " alsbald der „Judikator" folgen.

Zählen statt Urteilen

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IV. Der Preis der verzählten Welt 1. Verantwortungsauflösung Wer die Welt der Zahlen beherrscht, herrscht über die Wirklichkeit. Scheinbar bewirkt die Zahlengläubigkeit eine Entpolitisierung und sachorientierte Optimierung von Lebenssachverhalten. Tatsächlich aber führt sie zu einer Abhängigkeit von den Zahlen, den Parametererfindern, den Zahlenübersetzern und -verarbeitern sowie den professionellen Systemmanagern, Administratoren und EDV-Spezialisten. Es entwickelt sich neben der Sachhierarchie eine Expertokratie der Zahlendompteure, die - einmal ihrer Macht bewusst geworden - souverän darüber entscheidet, wer was wann wie erfahren kann: Die Sachverantwortung wandert unter der Hand aus an die Zahlenverantwortlichen. Erste gut gemeinte zensurgleiche Maßnahmen - anonyme Verbreitung unwahrer Wirklichkeiten, Manipulationen der Treffer in Suchmaschinen - sind derzeit noch wenig politisch instrumentalisierte Optionen. D a es aber keine andere Wirklichkeit mehr gibt als die zahlenbasierte und computergenerierte, wissen wir nicht einmal, was wir nicht wissen. U n d wer was wie zählt, verbirgt sich in der Anonymität des Internets: Wer ist Wikepedia? Der Glaube an die Zahlen kompensiert aber nicht nur den Zweifel an der Welt, sondern auch das Vertrauen in den Menschen. Wer dem Menschen und seinen Fähigkeiten strukturell nicht mehr vertraut, der wird diesen mit zahlenbasierten Kontrollmechanismen überziehen und ihn zur Befolgung der zahlenindizierten Vorgaben anhalten. Wenn Institutionen wie etwa das Gerichtswesen ihren Mitgliedern institutionell misstrauen, also nicht mehr davon ausgehen, dass jeder seinen Dienst verantwortungsvoll, unparteilich und im Dienste der Gerechtigkeit ausübt, dann müssen sie zu bürokratisierten und permanenten Effizienzbeweisen übergehen. Die jederzeitige Zertifizierung tritt dann an die Stelle tradierter Vertrauensbildung und disziplinär ausgewiesener Loyalität: Das manische Controlling ist ebenso Ausdruck wie Versuch der Kompensation dieses Vertrauens Verlustes. Die berufliche Leistung und Verantwortung der Betroffenen sucht sich kompensatorisch neue Betätigungsfelder, mutiert zu geschickter Parameterbildung und optimierender Parametererfüllung statt sachorientierter Aufgabenerfüllung.

2. Entprofessionalisierung Anders formuliert: Die durch und durch verzählte Wirklichkeit führt zu einer nicht gewollten, aber vorhersehbaren und systematischen Entprofessionalisierung der Berufstätigkeiten. Das hätte man schon aus der Geschichte des Taylorismus lernen können: Die optimierten Arbeitsabläufe ergaben nur rechnerisch eine Produktivitätssteigerung, den der korrespondierende Motivationsverlust der Arbeiter aber wieder zunichte machte. Allgemein gilt: Jede Organisation, die allein auf die Rationalisierung von Arbeitsabläufen durch Parameterbildung vertraut, verkürzt die Problemstellung um den Faktor „Mensch": Dieser ist mehr als seine betriebliche Funktionalität, und seine Arbeit etwas anderes als die Quantität seines Outputs. Wird er darauf reduziert, kommt es notwendig zu Störfällen, weil der Mensch eben keine Maschine ist. Wird der Mensch durch bürokratisierte und permanente Beweispflichtigkeit seiner Effizienz zur optimalen Funktionserfüllung angehalten, dann tritt an die Stelle des Vertrauens und der Loyalität die jederzeitige Zertifizierung. Zielvereinbarungen, Qualitätskontrollberichte

und

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Otto Depenheuer

Dokumentationspflichten überziehen diejenigen Berufe, in deren Zentrum einmal eine geschützte Vertrauensbeziehung gegenüber Bürgern, Klienten, Patienten oder Mandanten stand. Sie lassen den nicht quantifizierbaren Anteil des Dienstes - der Sorge und Anteilnahme

der als Ver-

sprechen dem Beruf einst zugrunde lag, auf ein Minimum schrumpfen. Diese entmotivierende Wirkung der vermessenen Arbeitsabläufe ist auch voraussehbar: Wenn sich die leistungsorientierte Besoldung im öffentlichen Dienst an parametergestützten Standards orientiert, werden diese Parameter erfüllt; die Lösung der Sachfragen wird dann sekundär. So wird eine P E B B § Y orientierte Rechtsprechung nach Maßgabe von Durchschnittswerten auch nur eine P E B B § Y angemessene und output-orientierte Gerechtigkeit produzieren können. Das Ergebnis ist eine Unterhöhlung des beruflichen Selbstverständnisses: Man muss an die Parameter denken, obwohl man doch Recht sprechen wollte.

3. Animation als Zahlenfrustkompensation Weil Arbeitsfreude durch Dokumentationslasten absorbiert wird und durch Controlling schwindet, wird das Arbeitsethos zum ersten Opfer des Motivationsverlustes: Die Berufung zum „Organ der Rechtspflege" mutiert zum J o b , das Selbstverständnis als Richter weicht einem verzweifelten Zynismus, PEBB§Y-Orientierung führt zu juristischem Frust. Dagegen muss Vorsorge getroffen werden: Tatsächlich treten den Kontrolleuren die Muntermacher zur Seite, der schwindenden Loyalität wird mit Motivationsprogrammen

entgegengearbeitet. So

zitieren

Großbanken ihre Mitarbeiter ins Kino, Betriebe bieten Fitnessprogramme an: Motivationsförderung durch Unterhaltung statt Arbeitsfreude durch Eigenverantwortung. Zertifizierung und Animation sind aber nur zwei Seiten derselben Medaille: Beide sind Ausdruck und Triebkräfte einer zahlenbesessenen Gesellschaft, die das Vertrauen in das Berufsethos ihrer Mitglieder verloren hat und das selbst geschaffene Problem mit Mätzchen zu lösen versucht.

4. Wachstum der Evaluationsindustrie Die Verzählung der Welt und die Kontrolle ihrer Einhaltung sind zu einem lukrativen, wachsenden Markt mit wissenschaftlicher Begleitung geworden. So entstehen parallel zur quantifizierenden Vermessung der Welt einschlägige Geschäftsmodelle, die sich in der Gründung zahlloser Rating-, Akkreditierungs-und Evaluierungsagenturen niederschlagen. Die einschlägigen Berufe und Organisationen, selbstredend ausdrückliche Befürworter der Entwicklung, verfolgen mit permanentem Tempodruck und institutionalisierter Dauerkontrolle nicht zuletzt eigene Versorgungsinteressen. Da sie ihre Leistungen bekanntlich nicht kostenlos anbieten, zehren ihre Kosten zumindest einen Teil der durch die Optimierung eingesparten Mittel wieder auf. Vor allem aber liegt es in der Struktur des Controlling, dass es niemals zufrieden sein kann. So wie ein Gesunder nur ein Kranker ist, der noch nicht hinreichend genau untersucht worden ist, so findet das Controlling immerzu neue „Optimierungspotenziale". Damit wird - erfreulicher Nebeneffekt - die eigene Existenz langfristig planbar. Damit wäre das politische Grundproblem der verzählten Welt angesprochen: Wer bezahlt die Evaluateure, wer evaluiert sie und wer schützt uns vor diesen?

Zählen statt Urteilen

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V. „Gebt Freiheit von den Zahlen" Die immer detailliertere Verzählung der komplexen Welt macht diese nur scheinbar zur sicheren Zahl: Das Leben ist viel bunter, als es die Zahlen glauben machen. Es gibt nicht nur Grenzen des Zählens, sondern auch Rückzugsoptionen der Menschen in nicht verzählbare Lebensbereiche. Auch in einer verzählten Welt hat das freie, selbstbewusste Individuum Zukunft. Spontanität, Kreativität und Produktivität machen den Kern menschlichen Handelns, den Reiz seiner Freiheit und die Substanz seiner Verantwortung aus. Wer aber in diesem Sinne frei sein und selbst verantwortlich bleiben will, wird sich gegen das Diktat der Zahlen wenden. Die Idee der Freiheit sperrt sich gegen ihre Auflösung in den Algorithmus, der Einzelfall wahrt seine Einzigartigkeit gegenüber dem Normalfall, die eigene Urteilskraft pocht auf ihr Recht gegenüber der Statistik, das richterliche Urteil votiert für Gerechtigkeit statt Zahlenuntertänigkeit, das Individuum will nicht in der algorithmischen Wahrscheinlichkeit aufgehen und wehrt sich gegen ein System, das „die persönliche Würde in den Zahlenwert auflöst . . . und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriglässt, als die gefühlslose Zahl" (in Anlehnung an Karl Marx). Tatsächlich mehren sich die Beispiele für ein Aufbegehren des Menschen gegen die Diktatur der Zahlen: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft will in Zukunft nicht mehr nur zählen, sondern auch wieder unter dem M o t t o „Qualität statt Quantität" - lesen und wägen, erste selbstbewusste Fakultäten verweigern sich den Zumutungen des C H E - R a n k i n g s der Bertelsmann-Stiftung, Arbeitnehmer wehren sich gegen das Zahlendiktat einer leistungsorientierten Besoldung, Ärzte entledigen sich Okonomisierungslasten und Dokumentationspflichten durch Auswanderung, und die Belegschaft der Nürnberger Arbeitsagentur meutert gegen einen „Zahlenfetischismus" und fordert: „Führungskultur statt Zahlenknechte". U n d auch Wissenschaftler könnten sich wieder verstärkt ihres speziellen Selbstverständnisses erinnern und Zahlendiktate zurückweisen. Juristen können sogar wissen, warum: iudex non calculat. Tatsächlich kann man die Antworten auf die Anfragen der Gerechtigkeit nur wägen und nicht zählen. Weder die Welt noch die Gerechtigkeit geht in Zahlen auf oder - in den Albert Einstein zugeschriebenen Worten: „Nicht alles, was zählt, kann man zählen, und nicht alles, was man zählen kann, zählt." Selbst wenn wir die Welt in Zahlen übersetzen könnten, verfügten wir dadurch nicht über Antworten auf ihre Probleme, sondern nur über Daten, auf deren Grundlage verantwortliches Entscheiden erst möglich und gegebenenfalls erforderlich ist. Das Problem ist also nicht, dass man zählt und rechnet, sondern dass man nur zählt und rechnet, dass man die skeptische Distanz zur Zahlenwelt aufgibt und die Zahl mit der Wirklichkeit verwechselt. Die Welt ist aber nicht alles, was die Zahl ist; es gibt noch eine Welt jenseits der Zahlen. Erst dort beginnen die wirklichen Herausforderungen des Lebens in der Welt und der rechten Ordnung des Gemeinwesens. Die Optimierung der Gerichtsbarkeit wird deshalb auch durch P E B B § Y nicht erreicht werden, weil die Rechtsprechung zwar Geld kostet, aber keinen Preis hat und haben darf. D e r Lebensbedarf der Justiz kann deshalb nicht nach ihren Leistungen, sondern nur nach dem bemessen werden, was der Gesellschaft die Gerechtigkeit wert ist. Bei dieser Entscheidung aber helfen keine Zahlen, sondern nur praktische Urteilskraft.

Udo Di Fabio

Gemeinschaftsschutz Glaubensfreiheit

D

ie Glaubensfreiheit ist ein Menschenrecht. D o c h wer sich auf dieses Recht beruft, der

betritt ein zunehmend kontrovers diskutiertes Feld. Menschen erregen sich darüber, dass im katholisch geprägten Rheinland die Kreuze aus Gerichtssälen entfernt werden,

während in Berlin ein Schüler vor dem Verwaltungsgericht ein tägliches Gebet in den Unterrichtspausen erstreitet und ihm dafür von der Schule ein Raum zur Verfügung gestellt wird. Gläubige sind verunsichert, weil in kirchlichen oder kirchennahen Einrichtungen sexueller Missbrauch ans Tageslicht kommt. Forderungen nach Abschaffung des Zölibats und sogar nach „Rücktritt" des Papstes lassen den Pulvergeruch eines Kulturkampfes in die Nase steigen. Aber das Spielfeld ist komplizierter geworden. Im 19. Jahrhundert stand einem als ultramontan etikettierten politischen Katholizismus noch ein Bündnis gegenüber, das aus aufgeklärten Liberalen und preußischen Etatisten bestand. Heute kommt man mit zwei Lagern nicht mehr aus. Antikirchliche Aufklärer und antiaufklärerische Glaubensauffassungen gibt es zwar noch. Aber zwei vielleicht noch wirkmächtigere Faktoren sind hinzugetreten. In den vergangenen 150 Jahren haben sich die Säkularisierung und Individualisierung der Gesellschaft enorm verbreitert. Die Staaten des Westens sind zweckrationale Wirtschaftsgesellschaften. O b diese Entwicklungsrichtung unumkehrbar ist, wäre schon ungewiss, wenn es die Einwanderung islamisch geprägter Menschen nach Europa nicht gäbe. Mit der Einwanderung aber ist etwas Seltsames geschehen. Bei vielen geht die Furcht um, eine ihrer Identität unsichere und demographisch schwächer werdende Gesellschaft könnte von einem selbstgewissen Islam herausgefordert und in die Defensive gedrängt werden. Dann stünde womöglich das Ergebnis des neuzeitlichen Säkularisierungsprozesses auf dem Spiel, namentlich die Trennung der politischen und religiösen Sphäre. Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. So steht es in Artikel 4 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die-

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Udo Di Fabio

ses vorbehaltlos gewährleistete Grundrecht ist stark formuliert und in der systematischen Stellung hervorgehoben. Es wurde durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Verwaltungsgerichte in Auslegung und Anwendung entsprechend entfaltet. Neuere Entscheidungen etwa über das rituelle Schächten, über die Zulässigkeit eines Kreuzes in öffentlichen Räumen, über eine kopftuchtragende Lehrerin oder über die Verletzung der Schulpflicht aus religiösen Gründen erregten Aufmerksamkeit. Im sogenannten „Homeschooling"-Fall führte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sogar dazu, dass die Vereinigten Staaten politisches Asyl gewährten, weil man dort der Auffassung ist, dass deutsche Behörden und Gerichte mit der Durchsetzung der Schulpflicht die Glaubensfreiheit einer Familie verletzen, die ihre Kinder überwiegend aus religiösen Gründen nicht in eine staatlich beaufsichtigte Schule geben wollten. Die eingangs erwähnte Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin lässt die rechtlichen Argumentationsmuster erkennen: Ein Schüler muslimischen Glaubens verlangt innerhalb der Schulzeit, aber außerhalb der Unterrichtszeit, einmal am Tag die Möglichkeit zu erhalten, ungestört sein ihm von der Glaubensgemeinschaft vorgeschriebenes Gebet verrichten zu können. Das Verwaltungsgericht hatte das diesen Anspruch stützende Grundrecht der Glaubensfreiheit ebenso zu würdigen wie die Ordnung des Schulbetriebes, den Schulfrieden und die verfassungsrechtliche Pflicht zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates. Die Entscheidung, der letztlich durch die Überlassung eines geeigneten Raums Rechnung getragen wurde, reiht sich ein in diejenigen Urteile, die der Glaubens- und Religionsfreiheit nicht nur einen weitbemessenen Schutzbereich einräumen, sondern sie auch in der Abwägung mit anderen Verfassungspositionen gebührend berücksichtigen, ihr im Zweifel vielleicht sogar einen Vorrang geben. Der Tenor dieser Entscheidungen passt zu der Liberalität und der Toleranz, die die vom Grundgesetz verfasste Gesellschaft auszeichnet, er trifft den Grundton unserer Verfassung. Allerdings hängt hier, wie stets im Recht, viel von den Umständen des Einzelfalls ab: Die Ordnung der Schule hat ihrerseits mit Artikel 7 des Grundgesetzes verfassungsrechtliches Gewicht. In solchen Fällen ernsthafter Glaubensanliegen äußert sich Liberalität in einem verständnisvollen Entgegenkommen im Rahmen des Organisationsgefüges der öffentlichen Einrichtung. Grundrechtsfreundliche Liberalität verlangt indes nicht, eine öffentliche Einrichtung zum Spielball individuell definierter Glaubensgebote zu machen: Droht ein Konflikt oder eine Störung, muss von demjenigen, der seine Freiheit bekundet, auch die Reife und die Einsicht verlangt werden, sich in den Zweck einer Institution oder einer Gemeinschaft konstruktiv einzuordnen und sie nicht in selbstherrlicher Verkennung rücksichtslos zu stören. Eine so verstandene grundrechtsfreundliche Auslegung der Glaubensfreiheit, die auch die selbstbegrenzende Einsichtsfähigkeit des Grundrechtsträgers in Rechnung stellt, ist keineswegs besonders oder gar atypisch. Auch andere Grundrechte, vor allem, wenn sie vorbehaltlos gewährleistet sind, haben eine enorme Wirkkraft entfaltet: die Kunstfreiheit, die Wissenschaftsfreiheit, die Meinungsfreiheit oder die Vereinigungsfreiheit stehen in der praktischen Anwendung und Bedeutung der Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit nicht nach. Was also könnte Artikel 4 Absatz 1 und Absatz 2 des Grundgesetzes zu einem besonderen Grundrecht machen? Sind es historische Erfahrungen von der Reformation und den Religionskriegen bis zum Kulturkampf der Bismarckschen Ära, die den Respekt vor der Glaubensfreiheit beflügeln? Oder sind es systematische Einsichten, dass das Menschenbild des Grundgesetzes mit seiner Idee von Würde und gleicher Freiheit auf die besondere Fähigkeit zur persönlichen Gewissensbildung aus Glauben heraus konstitutiv angewiesen ist? Verdankt die Glaubensfreiheit ihre

Gemeinschaftsschutz Glaubensfreiheit

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Prominenz den politischen und sozialpsychologischen Konfliktlagen einer sich stärker fragmentierenden Gesellschaft? Fallen manche Debatten so emotional aus, weil die Frage unbeantwortet ist, ob wir uns (noch) in einer Zeit immer weiter fortschreitender Säkularisierung der Gesellschaft befinden oder o b wir schon Zeugen eines postsäkularen Zeitalters werden? Seit einigen Jahrzehnten verändern sich die westlichen Gesellschaften in ihrem soziokulturellen Fundament. Vorherrschend ist immer noch die seit langem wirkmächtige Tendenz zu wachsender Individualisierung und einer Zweckrationalisierung und Ökonomisierung des Denkens. Intermediäre Gemeinschaften wie Familien, Vereinigungen, Nachbarschaftsräume oder Kirchen und Religionsgemeinschaften, die zwischen dem Einzelnen und dem Staat als politischer Gemeinschaft stehen, verlieren ihre Prägekraft, weil sie sich individuellen Präferenzen anpassen müssen. Dieser Tendenz entspricht die Vorstellung einer unaufhörlichen Säkularisierung, die eigentlich der Glaubensfreiheit ebenso kontinuierlich Bedeutung nehmen müsste; eine Freiheit, die dann wenn die Mehrheit der Bürger keinem Glauben mehr anhinge - vor allem als negatives, auf Abwehr religiöser Bekundungen gerichtetes Grundrecht fortbestünde. I m Grunde hatten es sich die Protagonisten der französischen Revolution und die antiklerikalen Aufklärer der ersten Stunde genau so gedacht. Ihnen hätte eigentlich der „Glaube" an humanistische und rationalistische Grundüberzeugungen, an die Werteordnung der freiheitlichen Grundrechte gereicht. Wer im 19. Jahrhundert, teilweise auch noch im 20. Jahrhundert, wirklich liberal und demokratisch dachte, der musste womöglich zu dem Ergebnis gelangen, dass ländliche Frömmigkeit, Glaubensinbrunst und kirchliche Organisationsmacht antiaufklärerische Bastionen seien, autoritäre Inseln in einer Gesellschaft, die sich von ü b e r k o m m e n e n Machtverhältnissen und repressiven Traditionen zu verabschieden im Begriff war. D i e abfällig als „Pfaffen" bezeichneten Priester wurden schon im späten 18. Jahrhundert von Aufklärern wie Voltaire verspottet und manchmal auch allerlei sittlicher Verfehlungen bezichtigt. Man muss derartige Vorhalte angesichts der sittlich mitunter desolaten Zustände schon der mittelalterlichen Kirche keineswegs als propagandistische Erfindung abtun; aber der antiklerikale kämpferische Tonfall fällt doch auf. Sind wir nicht heute allesamt Kinder der Aufklärung? Setzt sich demnach die kulturkämpferische Frontstellung nicht nur bei der Einhaltung der S o n n - und Feiertagsruhe, sondern auch in der öffentlichen Diskussion über zutage tretende Sexual- oder Gewaltdelikte in kirchlichen oder kirchennahen Einrichtungen fort? Wird nicht die alte Lagerbildung auch in wechselseitigen Steinwürfen aus Glashäusern sichtbar? Belege für klerikale Bigotterie und Schlimmeres zu finden ist für die einen durchaus nicht nur deprimierend. D a f ü r können die anderen, die derart unter Generalverdacht Gestellten, sich wieder etwas aufrichten, wenn eine Schule, die so deutlich in der Tradition pädagogischer Aufklärung steht wie die Odenwaldschule, plötzlich in einen entsprechenden Verdacht gerät. Natürlich wissen dabei beide Seiten, dass es kaum akzeptabel ist, wenn eine Gemeinschaft der Vielen allzu umstandslos in institutionelle H a f t u n g für moralisches Fehlverhalten oder handfeste Straftaten einiger Mitglieder genommen wird. A b e r war das nicht schon so, als der Missbrauch und die Misshandlung von Kindern in Familien sich zu einer Anklage der ganzen Institution ausweitete? Wer nicht sonderlich historisch denkt, wird hier nur abgeschmackte

Instrumentalisierung

sehen, wo doch die Würde der O p f e r und dann die rechtsstaatlich kühle Ermittlung zur gerechten Bestrafung überführter T ä t e r ganz im Vordergrund stehen sollte. U n d wer so denkt, der hat mit seinen moralischen Wertungen, die auf Schicksal und Verantwortung des einzelnen M e n schen pochen, zweifellos und einschränkungslos recht.

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Udo Di Fabio

Aber der fordernde Ton, die üble Konnotation einer Kollektivschuld von Kirchen, der kaum belegbare Hinweis auf die Ursache des Zölibats bei Sexualdelikten von Geistlichen lässt aufhorchen - genauso wie die seltsame Unfähigkeit mancher Repräsentanten der Kirche, glaubhaft und deutlich zu sagen, welches Maß an Sünde, Bigotterie, manchmal sogar bis hin zu moralischer Verwahrlosung, auch in ihren Reihen herrschen kann. Dass Menschen fehlbar sind, auch Priester, das wissen gerade Christen. Aber kommt das Leiden daran, das Mitgefühl mit den Opfern und die sittliche Erschütterung einer der ganz großen moralischen Autoritäten auch tatsächlich hinreichend zum Ausdruck? Haben seriöse Öffentlichkeit und die Gläubigen nicht einen Anspruch auf ein sichtbares Zeichen? Andererseits: Warum beharren manche partout auf Unernsthaftigkeit, wenn der höchste Vertreter der römisch-katholischen Kirche von Schmerz und Schande spricht? Wir sollten uns nicht blind machen für das, was subkutan auf beiden Seiten wirkt und gerade eine rationale und liberale Gesellschaft zu vergiften vermag: Jener alte und heute eigentlich intellektuell und alltagspraktisch überwunden geglaubte Kampf einfach gestrickter Aufklärer mit ihren stets mitlaufenden antiklerikalen Affekten und ihren manchmal ebenso wenig aufgeklärten Gegnern, die in jeder gesellschaftlichen Entwicklung hin zu Freiheit und Individualisierung einen Angriff auf die Chance sehen, ein Leben aus Glauben und in religiöser Gemeinschaft führen zu können, und die dann Verfehlungen in ihren Reihen etwas zu rasch der sittenlosen Kultur der Aufklärung zuschreiben. Dass diese alte Narbe des Abendlandes wieder aufbricht, hat auch etwas zu tun mit der kulturellen Fragmentierung der europäischen Gesellschaften: Es ist die Furcht vor einem Wiedererstarken religiöser Kräfte, die vom rationalen Standpunkt aus unberechenbar scheinen und die vermeintliche Harmonie der säkularisierten Wirtschaftsgesellschaft stören könnten. Ohne die Einwanderung islamisch geprägter Menschen, aber auch ohne die überraschende Resonanz von Weltjugend- oder Kirchentagen und ohne den hartnäckigen Eigensinn christlicher oder jüdischer Frömmigkeit würde der alte Konflikt wohl nicht derart Wiederaufflammen. Dabei hat das Grundgesetz schon 1949 diese alte Frontstellung überwunden und der Einsicht Platz geschaffen, dass Glaube und Gewissen, nach ihrer Öffnung für das rationale Weltverständnis, durchaus Fermente des freiheitlichen Verfassungsstaates sind; dass die Kirchen keine Gefahr, sondern Stützen einer Ordnung sind, die auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und ihre Einsichtsfähigkeit in die Bedingungen des Freiseins setzt. Damit kein Missverständnis entsteht: Klerikalität oder Frömmigkeit werden damit nicht zum Staatsziel oder zur Vorausssetzung von Demokratie. Der humanistische Agnostiker ist in seiner Weltanschauung - die vielleicht auch einiges mit dem religiösen Glauben gemein hat - genauso geschützt wie der Fromme. Derjenige, der jeden Gottesglauben ablehnt, kann genauso eine aktive Stütze der freiheitlichen Gesellschaft sein wie der Vorstand einer Kirchengemeinde oder die Presbyterin. Die Glaubens- und Religionsfreiheit wird aber gerade durch die staatskirchenrechtlichen Bestimmungen auch zu einem Gemeinschaftsschutz. Der freiheitliche Verfassungsstaat richtet seinen Blick mit wohlwollender Neutralität auf Religionsgemeinschaften und Kirchen, auf Glauben und Bekenntnis. Der Verfassungsstaat ist sich der Grenzen seiner Wirksamkeit bewusst, gerade im Hinblick auf die kulturellen Grundlagen der freiheitlichen Gesellschaft, die er nur eingeschränkt zu fördern vermag. Die Kirchen sind Teil jener unentbehrlichen Zivilgesellschaft, mit eigenen, manchmal schwer zu verstehenden, für manchen auch nur schwer zu billigenden Zugängen zu Wahrheit und Welt. Warum hält die Gesellschaft das so schlecht aus? Die großen Kirchen sind mit der freiheitlichen Werteordnung nach jahrhundertelanger, manchmal spannungsgeladener Ko-Evolution

Gemeinschaftsschutz

Glaubensfreiheit

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nicht nur versöhnt, sie fördern sie auch, indem sie dabei helfen, die vor allem rechtlich und politisch formulierte Werteordnung vor selbstbezüglicher Erstarrung und sozialtechnischer Deformation zu bewahren. Aber sie werden durch ihre Öffnung und ihr Wirken in der Welt nicht gleich zu Elementen des politischen Systems. Den Nutzen der Religionsgemeinschaften und des Glaubens aus einer weltlichen Perspektive auszusprechen heißt auch nicht, den Glauben zu funktionalisieren, sondern schlicht, seine Wirkungen zu erkennen. Die vom Grundgesetz gewollte wohlwollende Neutralität hat auch nichts mit ungerechtfertigter Privilegierung zu tun und kann nicht dazu führen, eine unüberwindliche Mauer zwischen Glaubensgemeinschaft und Rechtsstaat zu errichten: Rechtsfreie Inseln sind auch von wohlwollender Neutralität nicht garantiert. Die Autonomie der Religionsgesellschaften mit ihrem öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus wird geschützt, der Staat will nicht in innerkirchliche Organisationsfragen, in Dienst- und Arbeitsverhältnisse schauen. Es bestehen umgekehrt - gleichsam als Preis für die Autonomie auch keine über die Bestimmungen in den Paragraphen 138 und 139 des Strafgesetzbuches hinausgehenden Anzeigepflichten bei Verdacht gegen Mitglieder der Gemeinschaft. Doch der Preis jeder Freiheit und auch jeder verliehenen oder respektierten Autonomie ist ein höheres Maß an Eigenverantwortung - auch für die Einhaltung des Rechts innerhalb des eigenen Organisationsraums. Der Grundgedanke der sinnvollen Kooperation, der verfassungsrechtlich in der Idee und Ausgestaltung des Staatskirchenrechts Gestalt gefunden hat, ist freilich nicht der einzige Grund für die zur Kooperation geöffnete Neutralität. Auch für sich genommen wird die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des Bekenntnisses als Freiheitsrecht und als transzendenter menschlicher Weltzugang besonders geachtet. Zwar äußert sich die Suche nach Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Sinn etwa auch in der Freiheit der Wissenschaft und der Idee der Bildung. Aber sie beschränkt sich nicht auf diese Perspektive. Vernunft tut den ihr verschlossenen Bereich des Glaubens eben nicht pauschal als Aberglauben ab, wie noch Voltaire oder der große Preußenkönig, schon weil wahre Bildung ihre religionsgeschichtlichen Quellen kennt. Aus dieser grundlegenden Herleitung des Verhältnisses von Staat und Religion aus Menschenwürde und Vemunftaufklärung folgt der tiefere Sinngehalt der Glaubensfreiheit, die von der politischen Herrschaft Respekt vor jeder aufrichtigen Glaubensbekundung verlangt. Wer das Verhältnis des Staates zu den Religionsgemeinschaften nur nach Nützlichkeit bestimmt - obwohl deren Betonung gewiss nicht schadet -, könnte demnach einen kategorialen Fehler begehen. Die Achtung der Religionsfreiheit hat etwas mit der Achtung vor dem Menschen, vor dem, der sucht, zu tun. Deshalb ist das Grundgesetz ganz zu Recht sehr religionsfreundlich ausgelegt worden, wobei die Fähigkeit zu scharfer Grenzziehung beim Missbrauch der Freiheit und dem Angriff auf Würde, Freiheit und Gleichheit mitgemeint ist. Die Verfassung benachteiligt keine außerchristlichen Glaubensgemeinschaften wie den Islam oder den Buddhismus, nur weil ihre eigenen geistesgeschichtlichen Quellen in der griechisch-römischen Antike und im jüdisch-christlichen Gottesglauben liegen. Aber schon der Umgang mit den vielen Formen des christlichen Bekenntnisses zeigt die Differenzen: von privater Frömmigkeit bis zu evangelikalem Fundamentalismus, von kooperierender Kirche bis zu vollständiger Weitabgewandtheit. Wie viel Respekt ist vom Verfassungsstaat gefordert, wenn eine Glaubensgemeinschaft ihren anerkannten Eigensinn so betätigt, dass ihre lebensalltägliche Kultur dem jeweiligen freiheitlichen Verfassungsverständnis entgegenwirkt?

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Verlangt dann die Neutralität, auf Unterschiede zu reagieren, weil schließlich nicht Ungleiches willkürlich gleich behandelt werden darf? Wie viel kulturellen Wirkungsanspruch kann eine religiöse Gemeinschaft für sich reklamieren, wenn sie in Konflikt zum Kultur-, Bildungs- oder Erziehungsauftrag des demokratischen Rechtsstaates gerät? Andere als diese bekannten Konflikte entstehen beim Umgang mit Straftaten, die einen religiösen oder häufig damit verwobenen kulturellen Motivhintergrund haben wie die sogenannten Ehrenmorde. Gebietet es das Schuldprinzip, bei der Berücksichtigung von Tatumständen und Täterpersönlichkeit die kulturspezifischen Sozial- und Herrschaftsstrukturen einer betont traditionell oder vormodern geprägten Einwandererfamilie und ihre religiös bestimmten Werteauffassungen zu berücksichtigen, etwa bei der Frage nach Mordmerkmalen in Abgrenzung zum Totschlag oder bei der Festsetzung des Strafmaßes? Oder gebieten es die Würde des Opfers und die Selbstbehauptung der für alle geltenden grundrechtlichen Werteordnung, solche Umstände gerade nicht zu berücksichtigen? U n d wie kann man in solchen und anderen Fällen überhaupt das verfassungsrechtliche Grundrecht der Glaubensfreiheit im Schutzbereich identifizieren, wenn islamisches Denken Religion und Tradition, Diesseits und Jenseits, Staat und Glaubensgemeinschaft gerade nicht trennen will? Die Furcht, dass derart noch präsäkulare oder schon postsäkulare Ganzheitsanschauungen, die wir als fundamentalistisch bezeichnen, die Integration und die Einheit der freiheitlichen Gesellschaft gefährden, mündet leicht in die Forderung, das Grundrecht der Glaubensfreiheit abzustufen. O b die Privilegierung, der Schutz oder jedenfalls die Achtung von Gemeinschaften und ihrer Autonomie den Zusammenhalt einer Gesellschaft fördern oder diesen durch kulturelle Fragmentierung der Rechtsordnung sogar gefährden, bleibt insofern eine offene Frage. Uberall dort aber, wo das Grundgesetz den Gemeinschaften der Gesellschaft die Nähe und das Bündnis jener politischen Obergemeinschaft anbietet, die wir Staat nennen, häuft sich die Kritik; übrigens auch an Sozialpartnern, Sportorganisationen oder politischen Parteien. Wer allzu starke Aversionen gegen solche Gemeinschaften hegt und wer nicht zu unterscheiden versteht zwischen freiwilligen Gemeinschaften und fremdgesteuerten Zwangsgemeinschaften, der wird vielleicht überreagieren. Das Grundgesetz schützt jene in Freiheit begründeten, im Zutritt und Austritt offenen Vereinigungen als intermediäre Kräfte zwischen der einzelnen Person und dem Staat. Ein Verfassungsstaat ohne solche Gemeinschaften ist vielleicht als freiheitlicher gar nicht möglich. O b mit oder ohne Ehefundament: Kinder wachsen in Familien am besten auf. Wer die deutsche Wirtschaft kennt, der weiß: ohne Koalitionen keine erfolgreiche Wirtschaftsordnung. O h n e Parteien keine wirksame Demokratie. Insofern ist die deutsche Verfassung den Gemeinschaften zugewandt, in denen sie konstruktive und konstituierende Kräfte auch und gerade der individualisierten Gesellschaft sieht. Gemeinschaften stehen aber nur unter Schutz, solange sie ihrerseits das Primat persönlicher Freiheit und Selbstverantwortung achten. Es gibt Kriterien, deren Erfüllung den Grundrechtsschutz der Glaubensfreiheit in Zweifel zieht: Wo Glaubensprätentionen derart von wirtschaftlichen Zielen durchdrungen sind, wie das bei vereinzelten sogenannten „neuen Religionen" der Fall ist, ist genaues Hinschauen ebenso angebracht wie bei religiös sich darbietenden Weltanschauungen, die durch und durch politisiert sind, die jenen modernen Vorgang der Ausdifferenzierung sozialer Funktionssysteme und das Prinzip personaler Freiheit und Gleichheit ablehnen. Wo sogar Gewalt und Hass dominieren, gibt es keinen Schutz der Glaubensfreiheit; auch das Versammlungsrecht schützt nur die friedliche Versammlung, nicht den Aufruhr.

Gemeinschaftsschutz Glaubensfreiheit

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D i e Verantwortung des Einzelnen indes greift durch jede Gemeinschaftswand hindurch. H e r metisch abgeschottete Räume, der säkularen offenen Gesellschaft sich hermetisch verschließende Gemeinschaften, entsprechen nicht dem Bild des Verfassungsstaates. D i e meisten Kirchen und Religionsgemeinschaften freilich wollen ohnehin ihre Botschaft sichtbar in die Welt setzen, sie sind ganz überwiegend gesellschaftliche Haltekräfte und Partner des Sozialstaates. Sie sind aber auch Inseln des Eigensinns in einer instrumentalisierten Welt. Sie dürfen anders sein, sie sollen es vielleicht sogar. Eine Gesellschaft, die in ihrer Rationalitätsfixierung eindimensional und gemeinschaftsunfähig würde, riskierte nicht nur den Verlust individueller Freiheit bei wachsender politischer und rechtlicher Regulierung. Sie brächte auch weniger positiv gestaltende Kraft auf, um mit neuen oder fremden Gemeinschaften in Beziehung zu treten und integrativ zu sein. Wenn sich in manchen Stadtteilen Subkulturen bilden, wenn sich Einwandererfamilien nicht nur mit nostalgischer H e i matpflege begnügen, sondern in abgeschottete Kulturräume auf Ausgrenzung von der Mehrheitskultur aus sind, sei es, weil sie sich selbst nicht anerkannt fühlen, sei es, weil sie die Werte und N o r m e n der herrschenden Kultur dezidiert ablehnen, dann entsteht ein echtes Integrationsproblem, dem nicht allein mit einem guten Sprachkurs beizukommen ist. D i e Glaubensfreiheit ist ein besonderes Grundrecht, so, wie jedes andere Grundrecht auch seine Besonderheiten aufweist. I h r historischer und kultursoziologischer Hintergrund kann nicht dazu führen, die Glaubensfreiheit rechtlich anders zu behandeln als andere Freiheitsverbürgungen: Auch die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit s t ö ß t auf verfassungsimmanente Schranken eines Grundgesetzes, das sich in seinem Identitätskern nicht zur Disposition stellen will. U n d doch geben auch die staatskirchenrechtlichen Verfassungssätze einen Hinweis auf Besonderheiten. Das Grundgesetz ist eine reflektiert aufgeklärte Verfassung, sie versöhnt die alten Lager des Kulturkampfs und tritt der Glaubensfreiheit mit Sensibilität und Respekt gegenüber. D a s Grundgesetz ist für unser Land die beste Richtschnur für die Ko-Evolution von Säkularität und Transzendenz, aber auch für die Integration unterschiedlicher Religionen und Weltauffassungen.

Frank

Donoghue

Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten Hochschulen in den USA zwischen Elite und Titelmühlen

D

as Bildungswesen in den USA kann nur verstehen, wer die Vermögensverteilung im Lande bedenkt. In den letzten dreißig Jahren hat sich das private Volksvermögen auf eine immer kleinere Gruppe der Bevölkerung konzentriert. In Zahlen: Die oberen zehn Prozent der Bevölkerung verfügen über 71 Prozent des privaten Volksvermögens. Diese Kluft zwischen den sozioökonomischen Gruppen spiegelt sich im Bildungssystem des Landes. Was hier geschehen ist (und sich vermutlich weiter fortsetzen wird), lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Spitzenuniversitäten (.universities at the top") haben sich so weit von den Universitäten des unteren levels (.universities at the bottom") entfernt, dass man von einem .Universitätswesen" als einheitlicher sozialer Institution nicht länger sprechen kann. Die Spitzenuniversitäten vertreten andere Werte als die unteren, sie haben einen anderen Bildungsauftrag, anderes Lehrpersonal und eine andere Finanzierung; die Universitäten im Mittelfeld sind zwischen diesen Extremen hin- und hergerissen. Auf diese Unterschiede und ihre Implikationen möchte ich näher eingehen.

Die

Spitzenuniversitäten

Zunächst zu den Spitzenuniversitäten. Rasant steigende Studiengebühren haben seit den frühen achtziger Jahren die Eliteuniversitäten des Landes zur Domäne von Kindern aus reichen Familien gemacht, denn nur diese können die Studiengebühren noch bezahlen. Mehr noch, die Kinder der Reichen sehen ein Studium in Harvard, Yale oder Princeton beinahe als ihr Geburtsrecht an,

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Frank Donoghue

und in mancher Hinsicht haben sie damit recht: Immerhin vierzehn Prozent der Studenten in Yale sind Jegacies": Kinder von ehemaligen Yale-Absolventen. Wie zum Beispiel G e o r g e W Bush: Obgleich man ihm nicht die h ö c h s t e Intelligenz nachsagt, konnte er dennoch in Yale studieren wie vor ihm sein Vater und sein Großvater. Das „ C o m m i t t e e on University R e s o u r c e s " der U n i versität Harvard ist solchen Ehemaligen vorbehalten, die der Universität eine Million Dollar oder mehr gespendet haben; von den 3 4 0 Mitgliedern des Komitees, die Kinder im College-Alter haben, studieren die Kinder von 336 Mitgliedern wiederum in Harvard (Francis D o n o g h u e : T h e Last Professors. Fordham University Press 2 0 0 8 , S. 157). D i e Eliteuniversitäten sind zu Institutionen geworden, mit deren Hilfe sich die amerikanische Plutokratie repliziert. In seinem Buch T h e C h o s e n : T h e Hidden H i s t o r y of Admission and Exclusion at Harvard, Yale and Princeton stellt der Soziologe J e r e m y Karabell eine Studie vor, in der 146 Colleges und Universitäten mit Aufnahmeprüfungen untersucht wurden. Ergebnis der Studie: Studenten aus dem oberen Viertel der sozioökonomischen Hierarchie haben eine fünfundzwanzigmal höhere C h a n c e , an einer Spitzenhochschule aufgenommen zu werden, als Studenten aus dem unteren Viertel der sozioö k o n o m i s c h e n Hierarchie ( N e w York Times, September 24, 2 0 0 7 ) . D i e Eliteuniversitäten sind, wenn man so will, Konsumgüter, und zwar extrem teure K o n s u m güter, was ihre Exklusivität verstärkt. Die durchschnittliche H ö h e der Studiengebühren für ein einziges Studienjahr an einer amerikanischen Eliteuniversität ( U S D 35 000) ist höher als das durchschnittliche J a h r e s e i n k o m m e n ( U S D 2 9 000; vgl. Chris Hedges, Empire of Illusion. N a t i on B o o k s 2 0 0 9 , S. 165). Dabei sind die Studiengebühren ja nur die letzte in einer ganzen Reihe von Zahlungen, die geleistet werden müssen: Die sicherste A r t , dem Nachwuchs die Zulassung zu einer Eliteuniversität zu sichern, ist, ihn zuvor auf eine Eliteschule zu schicken. George W Bush beispielsweise besuchte die „Phillips Andover Academy", wo jährliche Gebühren, Kost und Logis höher sind als das durchschnittliche U S - J a h r e s e i n k o m m e n . Entscheidend für die Universitätszulassung eines Studenten ist sein Abschneiden im sogenannten S A T („Scholastic Assessment T e s t " ) . Von dem D r u c k auf die Studenten, im SAT gut abzuschneiden, lebt inzwischen eine kleine Industrie, die „test-preparation companies". Princeton Review, die beste unter diesen Agenturen, bietet ein Deluxe-Paket für U S D 7 0 0 0 an; dem Käufer wird ein exzellentes Resultat im SAT garantiert. Wenn Studenten in eine Eliteuniversität eintreten, sind sie häufig weniger am Erwerb von höherer Bildung interessiert als am schlussendlichen Erwerb einer exklusiven Ware, einer Ware, auf die ihr ganzer Bildungsweg ausgerichtet war. Seit 1983 erscheint der U.S. N e w s & World Report mit einer Rangliste der besten US-amerikanischen Universitäten; seither betrachten Amerikaner das jährliche Universitätsranking als biblische Wahrheit. Wer Wert darauf legt, eine hochrangig eingestufte Universität zu besuchen, hat sich schon einem System unterworfen, in dem gesellschaftliches Prestige zur Ware geworden und ein Universitätsabschluss mehr oder weniger wert ist - je nachdem, wo im Ranking die Universität steht, an der er erworben wurde. So wird der soziale und berufliche Stellenwert eines Studenten direkt mit der Universität verknüpft, die er besucht hat. Universitäten sind zu Markenartikeln verkommen, von denen die einen mehr, die anderen weniger gelten: Princeton wäre dann der Porsche unter den Universitäten, O h i o State der H o n d a . G e h t es aber den Studenten bei der Wahl ihrer Universität zunächst darum, an einem Markennamen teilzuhaben, wird ihnen Bildung zweitrangig. Freilich gibt es Ausnahmen: Präsident Barack O b a m a wuchs in relativ armen Verhältnissen auf, dennoch absolvierte er sein Studium an der C o l u m b i a University und der Harvard Law School. Wem es wich-

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tiger ist, etwas zu lernen, als sich um Prestigefragen zu kümmern, der kann in Harvard, Yale, Princeton oder Columbia eine exzellente Ausbildung erhalten. Doch die Regel ist, wie Karabell sagt, die umgekehrte Einstellung, und sie gilt vor allem für die Kinder der Reichen. Diese Entwicklung beruht freilich auf einer Reihe von zweifelhaften Annahmen, besonders was die Rangliste des U.S. News & World Report (oder jedes andere Universitätsranking) betrifft. Die Formel, nach der U.S. News das Ranking einer Universität ermittelt, beruht auf einer ganzen Reihe von Daten, wie Zulassungsquoten, Prozentzahl an Studenten, die zu den besten zehn Prozent der Schulabgänger gehörten, Anzahl der Studenten je Professor, Höhe der Spenden durch Alumni etc. Da die Rankingformel von U.S. News jeder Universität bekannt ist, lässt sich so manche verleiten, die eigenen Zahlen zu .optimieren" und dadurch einen besseren Platz zu erobern: Man lässt einfach etwas weniger Studenten zu, reduziert die Klassengröße o.ä. Die Clemson University hat in der Vergangenheit eine Reihe solcher Justierungen" vorgenommen. Die Verantwortliche für die Zulassung von Studenten, Catherine E. Watt, gab damals öffentlich zu, dass auf diese Weise die charakteristischen Daten der Universität auf die Kriterien von U.S. News abgestimmt werden sollten. Mit Erfolg: In nur einem Jahr rückte Clemson University von Platz 33 auf Platz 22 der staatlichen Universitäten (.public universities") vor - eine scheinbare ,Verbesserung", die freilich jeder, der ihre Hintergründe kannte, als geschmacklos empfinden musste (Inside Higher Education, June 9, 2009). Eine weitere Versuchung, das eigene Ranking zu manipulieren, bietet die Umfrage zum Ansehen der einzelnen amerikanischen Universitäten (.reputation survey"), die vom Präsidenten, Kanzler oder Dekan einer Universität abgegeben wird; die Ergebnisse dieser Umfrage werden mit fünfundzwanzig Prozent im Ranking von U.S. News gewichtet. Die Umfrage fordert die Verantwortlichen auf, die eigene Hochschule mit den anderen Hochschulen zu vergleichen. Die Antworten beinhalten zumeist mehr Meinungen als Informationen - und was liegt näher, als die konkurrierenden Hochschulen bei dieser Gelegenheit ein wenig schlechter darzustellen als sie eigentlich sind? Seit Jahren zirkulieren Berichte, wie manche Universitäten das Rankingsystem manipulieren - im Fall Clemson University sind die Methoden bestens dokumentiert. Als Reaktion auf diese Manipulationen forderte Lloyd Thacker, Gründer der .Education Conservancy" (einer Organisation, die sich für die Entkommerzialisierung der Universitätszulassungen einsetzt), die Hochschulpräsidenten nachdrücklich auf, die U.S. News-Umfrage zu boykottieren - mit großem Erfolg. Vor einigen Jahren beteiligten sich noch 67 Prozent der amerikanischen Universitäten an der Umfrage; im letzten Jahr waren es nur noch 46 Prozent. Man kann sagen, dass damit das wichtigste der amerikanischen Rankings seine Glaubwürdigkeit eingebüßt hat. Es ist schwer vorauszusagen, wo all das enden wird. Thacker und seine unermüdlichen Appelle haben sicherlich den Glauben an das Rankingsystem in der Universitätswelt, ja sogar in der Öffentlichkeit ins Wanken gebracht. Dennoch bleibt Amerika ein Land, das von Konkurrenzdenken - und folglich von Rankings - besessen ist. Robert Oden Jr., Präsident des Carleton College, der sich dem Boykott nicht anschloss, warnt: „Ich glaube, Rankings werden uns immer begleiten, jetzt und in der Zukunft. Den besten Fluss für Fliegenfischer und die beste Universität - die wird es immer geben".

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Frank Donoghue

Die anderen

Universitäten

Nun zu den anderen Universitäten. A m unteren Ende des US-amerikanischen Bildungssystems finden sich die Hochschulen, die sich nie an dem Kampf um Prestige oder einen guten Platz im nationalen Universitätsranking beteiligt haben. Dennoch sind gerade sie es, die von den steigenden Studiengebühren an den Eliteuniversitäten profitieren. Die Anziehungskraft dieser Hochschulen („post-secondary schools") - sei es der „Community Colleges", der Fachhochschulen („technical Colleges") oder der wachsenden Zahl der „for-profit universities" - verdankt sich einer Reihe von Pluspunkten, die die traditionellen Universitäten nicht bieten können: Sie sind betont praxis- und berufsorientiert - im Unterschied zu der ziemlich abstrakten Ausbildung an Amerikas Elitehochschulen. Sie sind - aus verschiedenen Gründen - auch viel billiger als diese: Einerseits dauern ihre Studiengänge nur zwei - nicht vier - Jahre; andererseits sind insbesondere die ,for-profit universities" sehr gut darin, ihren Studenten bei der (aller Erfahrung nach äußerst komplizierten) Einwerbung von Stipendien oder sonstigen Studiendarlehen zu helfen. Das byzantinische Stipendien- und Darlehenssystem gleicht nachgerade einem Krebsgeschwür, das nach und nach die Grundfesten des amerikanischen Hochschulsystems befällt und anfrisst. Während die Subventionen der Regierung immer weiter schrumpfen und das Bildungswesen zunehmend privatisiert wird, sind die Stipendien keineswegs mit den steigenden Studiengebühren gewachsen. So haben die sog. ,PELL Grants", das größte der Stipendienprogramme im Lande, im Jahr 1976 noch 84 Prozent der Gebühren eines vierjährigen Studiums an einer .public university" abgedeckt; im Jahre 2002 waren es nur noch 39 Prozent, mit weiter sinkender Tendenz (Advisory Committee on Student Financial Assistance, Washington, D.C., 2001). Studiendarlehen haben inzwischen das Stipendiensystem weitgehend ersetzt; zwei Drittel der Studenten finanzieren heute ihr Studium mit Hilfe eines Studiendarlehens (Jeffrey J. Williams, „Student Debt and the Spirit of Indenture" Dissent Magazine, February 5, 2009). Im Jahr 1984 hatte der durchschnittliche amerikanische Collegeabsolvent bei der Regierung Schulden aus Studiendarlehen in Höhe von USD 2 000, im Jahr 2004 sind diese Schulden durchschnittlich auf USD 19 200 angewachsen. Unterdessen haben sich private Firmen, die Studiendarlehen vergeben, auf dem Markt etabliert: Die Zahl der privaten Studiendarlehen hat sich seit 1996 verfünffacht. Das Besondere an diesen privaten Darlehen ist, dass sie von der Regierung garantiert sind: Können die Absolventen sie später nicht zurückzahlen, weil sie etwa arbeitslos sind, muss die Regierung zahlen. Die Geldgeber tragen also kein Risiko, selbst wenn sie Darlehen an schlecht qualifizierte Studenten geben. Sich in den USA um ein Studiendarlehen zu bewerben, ist ein mühsames und verwirrendes Unterfangen. Die ,for-profit universities" haben es aber verstanden, ihren Studenten dabei zu helfen und sich selbst damit ein risikoloses, konstantes Einkommen zu sichern. Sowohl die „Community Colleges" als auch die „for-profit universities" arbeiten beinahe ausschließlich mit Lehrbeauftragten („adjunct labor"), die für den einzelnen Kurs bezahlt und - je nach Studentenzahlen - weiterbeschäftigt oder gekündigt werden. Diese Hochschulen erwarten von ihrem Personal keine Forschung, und sie stellen auch keine Forschungsgelder zur Verfügung. Sie sparen all die Kosten ein, die üblicherweise mit einer Professur auf Lebenszeit („tenured professoriate") verbunden waren; sie geben ihrem Personal keine Zeit für die Forschung und zahlen weder in die Altersvorsorge noch die Krankenversicherung ein. Man könnte hier - mit Recht zu bedenken geben, dass diese Arbeitsbedingungen sich nachteilig auf die Qualität des Unterrichts auf der unteren Stufe auswirken müssen, zumal die Dozenten oft an drei oder mehr sol-

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eher Hochschulen gleichzeitig unterrichten. Dies gilt umso mehr, als die Studenten an diesen Institutionen oft nur schlecht auf ein Studium vorbereitet sind. Gleichwohl werden diese Institutionen weiter florieren. Zum einen sind also die Hochschulen auf der unteren Stufe billiger als die traditionellen Universitäten; zum anderen bieten sie ihren Studenten auch bequemere Studienbedingungen: Üblicherweise haben sie Abend- und Wochenendkurse im Programm, und - was noch wichtiger ist sie sind Pioniere auf dem neuen Gebiet des „online learning", wo die traditionellen Universitäten weit zurückgeblieben sind. Das .online learning" eignet sich bestens für den heutzutage typischen US-Studenten. Das ist keineswegs mehr der Achtzehn- bis Zweiundzwanzigjährige, der gerade die höhere Schule verlassen hat. Die steigenden Studiengebühren sind dafür verantwortlich, dass Studenten älter sind, wenn sie mit dem Studium beginnen, ihr Studium häufiger unterbrechen (um Geld fürs Studium zu verdienen) und auf diese Weise länger brauchen, bis sie ihr Studium abschließen. Der typische Student ist heute sechsundzwanzig Jahre alt, lebt in einer festen Beziehung und arbeitet dreißig Stunden in der Woche. Für viele dieser Studenten ist die Aussicht auf ein Studium, das vier Jahre dauert, alles andere als ermutigend. Daher die wachsende Zahl „alternativer" Hochschulen mit ihrem attraktiven Angebot von kürzeren Studienzeiten, online-Kursen etc. Da nur relativ wenige Studenten sich den Besuch einer Eliteuniversität leisten können, werden vermutlich die neuen, berufsorientierten Hochschulen (seien sie nun öffentlich oder privat) das US-Bildungssystem des 21. Jahrhunderts prägen. Auch die Eliteuniversitäten wird es weiterhin geben, und die intellektuelle Oberschicht des Landes - Ärzte, Rechtsanwälte, Professoren und seriöse Journalisten - werden hier ihre Ausbildung erhalten. Doch davon abgesehen wird wohl der traditionelle B.A. („Bachelor of Arts") und B.S. („Bachelor of Science") nach und nach ersetzt werden durch eine Art „Ausbildungspass", der alle hier und dort von einem Studenten erworbenen Zertifikate und Qualifikationen verzeichnet. Da ein rein berufsorientiertes Studium kein komplettes Baccalauréat umfassen muss, sondern auch in kürzerer Zeit absolviert werden kann, wird wohl die Zweijahres-Hochschule - oft als gewinnorientiertes Geschäftsunternehmen - die Institution der Massenausbildung werden.

Die Universitäten

im Mittelfeld

Zuletzt noch ein Wort zu den Universitäten im Mittelfeld zwischen den Spitzen- und den unteren Universitäten. Ihre Zahl nimmt nicht nur ab, sondern ihre Lage ist auch äußerst kritisch. Amerikas wichtige staatliche Universitäten, die früher durch öffentliche Mittel subventioniert wurden und das Herzstück des amerikanischen Bildungssystems bildeten, sehen sich in einem gefährlichen Dilemma. Sie beteiligen sich zwar an dem herrschenden Wettbewerb um das universitäre Prestige, aber die stark schrumpfenden staatlichen Subventionen verschlechtern ihre Chancen in diesem Wettbewerb. Es ist ihnen fast unmöglich, mit dem Kapital zu konkurrieren, das Harvard, Yale oder Princeton zur Verfügung steht. Allein der Versuch der staatlichen Universitäten, im Kampf ums Prestige mitzuhalten, ist daher zum Scheitern verurteilt. Freilich wollen die staatlichen Universitäten den Studenten auch eine berufspraktische Ausbildung anbieten; tatsächlich wurden viele staatliche Hochschulen gerade zu diesem Zweck gegründet. Es hat sich aber gezeigt, dass sie, was Praxisnähe des Studiums betrifft, hinter den „Community Colleges"

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Frank Donoghue

und den ,for-profit universities" zurückbleiben. So stehen die staatlichen Universitäten in der Mitte zwischen den Spitzenuniversitäten einerseits, den „Community Colleges" und „for-profit universities" andererseits und gehören so recht zu keiner. Gelingt es ihnen in den nächsten J a h ren nicht, ihre eigenen Ziele klar zu formulieren, dann werden sie wohl überflüssig werden. Welche Implikationen hat diese Zweiteilung des US-Bildungssystems in der Zukunft? D e r Trend zu einem kürzeren, rein berufsorientierten Studium schlägt sich natürlich in dem Ausbildungs- und Kenntnisstand von Amerikas arbeitender Bevölkerung nieder. Sieht man sich die untere Stufe des Bildungssektors an, die bald dominieren wird, so darf man wohl sagen, dass dort andere Ziele als an den Eliteuniversitäten verfolgt werden: Hier werden nicht Anwälte sondern Anwaltsgehilfen, nicht Radiologen sondern radiologische Assistenten - mit anderen Worten: Arbeitnehmer mit untergeordneter Qualifikation und Verantwortung ausgebildet werden. Sie lassen sich nach Robert Reich als „service workers" bezeichnen. Die U S A sind in zunehmenden Maße eine Dienstleistungsgesellschaft geworden. Sollten sich die Entwicklungen im US-Bildungswesen fortsetzen, die ich hier aufgezeichnet habe, so wird diese Dienstleistungsökonomie weiter wachsen. Das Berufsfeld für amerikanische Hochschulabsolventen wird sich verengen, weil dann ein Hochschulzeugnis nur ein zweijähriges Studium bedeutet. Diese Rückentwicklung des US-amerikanischen Bildungswesens war nicht unvermeidlich, aber durchaus vorhersehbar. Sie ist das Ergebnis einer Kehrtwende in der Einstellung zur höheren Bildung und folglich in der Bildungspolitik seit Anfang der achtziger Jahre. Die Jahre zwischen 1946 und 1976 werden als „Goldenes Zeitalter" in die Geschichte amerikanischer Bildung eingehen. Der „Serviceman's Readjustment A c t " (bekannt als „G.I. Bill") verschaffte Hunderttausenden von Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Koreakrieg freien Zugang zu den Universitäten. Die Folge davon war eine ehrgeizige Expansion der amerikanischen Universitäten, die durch das „space race" mit der Sowjetunion noch beschleunigt wurde. U m 1980, wenn nicht früher, hatten sich die Zeiten geändert, und die Amerikaner zogen sich auf ihre traditionelle Position zurück, derzufolge Bildung kein staatsbürgerliches Grundrecht ist. Die lange Geschichte dieser Ansicht hat Richard Hofstadter in seinem Buch Anti-intellectualism in America (1962) aufgerollt. Was folgte, waren Kürzungen in der öffentlichen Finanzierung der Hochschulen und bei den Unterstützungen für Studenten - und schließlich eine Explosion der Studiengebühren, die ich als die Wurzel des Dilemmas ansehe, in der sich das US-amerikanische Universitätssystem heute befindet. Beides hat letzten Endes zu einer Verminderung der Ausbildungsstandards und der Reichweite intellektueller Interessen geführt. D i e jüngste Entwicklung verheißt nichts Gutes für die U S A . D a Indien und China jetzt ihr Bildungswesen rapide ausbauen, kann es für Amerikaner kaum von Vorteil sein, schlecht ausgebildet zu werden.

(Ubersetzung: Sabine Rossbach)

Julia Fischer

Die Eine Million

Dollar-Frage

Uber Kommunikation und Sprache bei Affen Beobachtungen der kognitiven Ethologie mmer wieder ist die Verwunderung groß, vergleicht man das soziale Verhalten von Primaten mit dem von Menschen. Affen verstehen einander, streiten und vertragen sich und orientieren sich / in ihrer Umwelt. Sie kommunizieren, aber sprechen nicht mit- oder übereinander. Warum ist das so? Fragen an die kognitive Ethologie. Forschung & Lehre: Wie finden Sie heraus, wie Paviane kommunizieren? Sie müssen sehr geduldig und hartnäckig sein... Julia Fischer: Geduld und Hartnäckigkeit müssen wohl alle Wissenschaftler mitbringen. Aber bei der Feldforschung an Affen braucht man dann auch noch die Bereitschaft, sich bei 45 Grad im Schatten durchs Gestrüpp zu schlagen, Skorpione aus seinen Schuhen zu schütteln oder plötzlich einem Löwen gegenüber zu stehen. Eine gewisse Abenteuerlust ist da ganz hilfreich. Um herauszufinden, wie die Tiere kommunizieren, kombinieren wir Verhaltensbeobachtungen, Lautanalysen und so genannte Playbackexperimente. Dazu versteckt man einen Lautsprecher an einer geeigneten Stelle, spielt einen Laut vor und filmt die Reaktion der Tiere. F&L: Ein Beispiel? Julia Fischer: Ein Beispiel wäre, den Ruf eines unbekannten männlichen Tieres vorzuspielen. Damit simuliert man die Situation, dass ein neues Männchen in die Gruppe eingewandert ist. Der

30

Julia

Fischer

Ruf lässt sich so manipulieren, dass sich das Männchen besonders beeindruckend oder aber klein und schmächtig anhört. U n s interessiert, wie sich die anderen Tiere verhalten: ob sich Weibchen mit Kindern verstecken, die anderen aber nicht, oder ob die ranghohen Männchen versuchen, den vermeintlichen Eindringling zu vertreiben. Solche Experimente erfordern eine außerordentlich große Gelassenheit, da im Vorfeld fast immer irgendetwas passiert, was man nicht geplant hat. Auch die Lautanalysen erfordern hohe Sorgfalt und die Bereitschaft, sich mit technischen Details und komplexen statistischen Analysen auseinanderzusetzen. F&L: H u n d e z.B. können Laute mit Bedeutung verbinden. Wie ist das bei Pavianen? Julia Fischer: Paviane weisen wie alle anderen Affen auch Lauten Bedeutung zu, in dem Sinne, dass sie lernen können, w e r ruft, wie groß dieses Tier etwa ist, oder bei weiblichen Tieren, ob es gerade empfängnisbereit ist. Außerdem können sie lernen, was ein Ruf vorhersagt. Eine der ersten Studien, die sich mit dieser Frage experimentell befasste, wurde an Grünen Meerkatzen in Ostafrika durchgeführt. Den Affen wurden Alarmrufe vorgespielt, die als Reaktion auf verschiedene Raubfeinde geäußert worden waren. Auch wenn weit und breit kein Räuber zu sehen war, zeigten die Tiere die .richtige' Reaktion: nach dem Vorspiel eines ,Adler-Alarmrufs' flüchteten sie in die Büsche, nach Vorspiel eines ,Leopardenalarmrufes' in den Baum. Ich hatte das besondere Glück, bei den Autoren der Studie, Robert Seyfarth und Dorothy Cheney, zu arbeiten und auf ihrer Feldstation in Botswana eine Horde von Pavianen anderthalb Jahre zu beobachten. Inzwischen haben wir im Senegal eine eigene Feldstation, wo wir das Sozialverhalten und die Kommunikation von Guineapavianen, einer anderen Pavianart, studieren - und übrigens auch die Kommunikation der westafrikanischen Grünen Meerkatzen. Vergleiche zwischen verschiedenen Arten oder Unterarten erlauben uns, zu identifizieren, was .altes Pavianerbe' oder altes ,Meerkatzenerbe' ist, und in welcher Hinsicht sich die Tiere mit ihrem kommunikativen Verhalten ihrem gegenwärtigen Lebensraum anpassen und wie sich die Kommunikation in die soziale Organisation der Tiere einfügt. F&L: Sie haben einmal gesagt, Affen machten den ganzen Tag fast nichts anderes als ihre Artgenossen zu beobachten. Viele Menschen machen das auch und dann klatschen sie darüber, die Paviane nicht. Aber ziehen sie aus den Beobachtungen nicht Schlüsse für ihr Verhalten? Julia Fischer: Natürlich ziehen die Affen Schlüsse aus der Beobachtung von anderen. Das gibt es sogar bei Fischen: wenn ein Fisch beobachtet, dass ein anderer in einer Auseinandersetzung unterlegen ist, wird er sich eher mit diesem anlegen als mit dem Sieger. Bei Affen gehen wir auch davon aus, dass sie aufgrund der Beobachtung von Interaktionen zwischen Dritten gute Vorstellungen davon haben, wer hochrangig ist und wer nicht, wer mit wem verwandt ist, und wer sich gegenseitig unterstützt. Das experimentell zu belegen, ist aber nicht ganz simpel. F&L: Es gibt Tiere, auch Affen, die Werkzeuge entwickeln. Warum hapert es an der Sprache? Julia Fischer: Das ist die Eine Million Dollar-Frage. Die Forschung der letzten Jahre hat uns erlaubt, diese Frage etwas zu spezifizieren. Was hat sich im Gehirn getan, dass Menschen in der Lage sind, Laute und auch andere Handlungen zu imitieren, mit Symbolen zu operieren, und eine

Die Eine Million

Dollar-Frage

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Vorstellung davon zu entwickeln, was in den Köpfen anderer Menschen vor sich geht? Dazu gehört die Frage, welche Gene bei diesen Fähigkeiten eine Rolle spielen, aber natürlich auch, wie sich diese verschiedenen Aspekte gegenseitig bedingen. F&L: Irgendwie muss die menschliche Sprache einmal angefangen haben. Haben Sie dazu eine These oder wird hier nur spekuliert? Julia Fischer: Ich möchte mich hier lieber zurückhalten. Es gibt natürlich einen ganzen Strauß verschiedener Szenarien, und diese können auch sehr inspirierend sein. Andererseits sind solche Vermutungen schwer, oder auch gar nicht zu widerlegen. Das macht sie für ernsthafte wissenschaftliche Auseinandersetzungen wenig brauchbar. F&L: Aber es gibt doch auch testbare Hypothesen? Julia Fischer: Ja, sie beziehen sich aber eher auf spezifische Aspekte. Zum Beispiel gab es die Frage, welche Rolle ein spezifisches Gen, das berühmte FoxP2 Gen, bei der Evolution der Sprache spielt. Mäuse, die die menschliche Variante dieses Gens tragen, fangen aber nicht an zu sprechen. Das heißt, die Mutationen, die man beim Menschen findet, sind vielleicht eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für die Entwicklung der gesprochenen Sprache. F&L: Was möchten Sie in der Affenforschung noch besonders herausfinden? Was ist ihr nächstes Ziel? Julia Fischer: Unsere Arbeitsgruppe hat in den letzten drei Jahren eine Feldstation im Senegal aufgebaut - ohne den unermüdlichen Einsatz der Doktoranden und Forschungsassistenten wäre dies nicht möglich gewesen. Die dort lebenden Guineapaviane wurden bislang kaum erforscht. Inzwischen ist uns auch klar geworden, warum das so ist, denn die Tiere waren nur sehr schwer an die Beobachtung zu gewöhnen, und sie scheinen in einem sehr fluiden und komplexen Sozialsystem zu leben. Inzwischen kommen die ersten Daten herein zur genetischen Struktur der Population und die Doktoranden vor Ort können zumindest einen Teil der Tiere beobachten und ihre Laute aufzeichnen. Es sieht alles sehr viel versprechend aus. Wenn es uns gelingt, die soziale Organisation dieser Tiere zu beschreiben, dann werden wir in der Lage sein, spezifische Hypothesen zu formulieren, was die soziale Kognition dieser Tiere angeht, also was die Tiere übereinander wissen, aber auch, welche Signale sie einsetzen, um in diesem komplexen System zu manövrieren.

Jürgen

Fohrmann

Was ist Bildung? Vom inflationären Gebrauch eines Begriffs und dem Verschwinden seiner tatsächlichen Bedeutung

B

ildung ist ein reichhaltiges, sehr stark theologisch geprägtes Konzept. Von Anfang an hat der Begriff im Deutschen eine mehrfache Bedeutung: Bildung ist Bild, Ebenbild (imago) und Nachbildung (imitatio). Bildung ist auch innere Einbildung (imaginatio). Sie ist impressiv, geht von außen nach innen; sie ist dann expressiv, geht von innen nach außen zurück, indem sie etwas schafft, ein Werk, ein kulturelles Erzeugnis, eine Form (forma); und bei diesem Vorgang von außen nach innen, von innen nach außen zurück, bei der eine Form entsteht, bildet sich der Mensch selbst. Nur im Zusammenspiel aller drei Bewegungen kommt „Bildung" zustande. Dieses Konzept, dass im Gedenken und Wirken Gottes entwickelt worden ist, ist so allgemein auffassbar, dass es als formales Konzept auf fast alle Felder übertragen werden kann. Man kann auch sagen: man bildet das Vorgängige, die Tradition in sich ein; man bildet sie um; indem man darüber arbeitet, spricht, schreibt, stellt man etwas her und bildet sich selbst gerade, indem man dies tut. Es geht also um den Umgang mit Tradition, die Herstellung einer Form, eines Werkes und um individuelle Bildung. „Bildung" ist in diesem Sinne ein individueller Vorgang, bei dem etwas Objektiviertes entsteht, das wiederum Anlass zu weiteren individuellen Bemühungen gibt.

Vom theologischen hin zum säkularen Bildungsbegriff Es ist kein Zufall, dass ein nun nicht mehr theologischer, sondern eher säkularer Bildungsbegriff am Ende des 18. Jahrhunderts, also zur Zeit Alexander und Wilhelm von Humboldts, parallel zu

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Jürgen Fohrmann

einem neuen Begriff von Geschichte nen Möglichkeitsraum

(auch Naturgeschichte) entsteht, der die Geschichte als offe-

und die Vergangenheit

als immer

noch zu entschlüsselndes Feld versteht.

D a s Ergebnis der Auseinandersetzung mit Natur und Geschichte, die bildende Arbeit des Individuums galt von nun an als prinzipiell

offen. Der Bildungsgedanke hatte jetzt folglich zu tun mit

einem „Möglichkeitsdenken", und in dessen Horizont wurden die alten Begriffe „scientia" und „historia" dann neu gefasst. Dies löste auch - und das ist nicht die unwichtigste Veränderung - die alten Konzepte von Ausbildung zumindest programmatisch (natürlich nicht faktisch) ab. Die bildende Auseinandersetzung mit Natur und Geschichte zielt nicht mehr so sehr auf die Vermittlung von Fertigkeiten oder schematischer Vermögen. Diese Fertigkeiten wurden im Rahmen der artes über 2000 Jahre gelehrt. Nebenbei bemerkt: Vieles, was heute „Schlüsselqualifikationen" heißt, ist nichts anderes als eine oft verdünnte, zumeist im Gegenzug „aufgehübschte" Neufassung der Fertigkeiten der artes: der Logik (Schlussverfahren), der Rhetorik u.a. Das gesamte Schema des antiken Rhetors, die einzelnen Teile bei der Verfertigung und beim Vortragen der Rede kommen wieder vor, ohne dass man in der Regel an die über 2000-jährige Tradition der Rhetorik erinnerte: finden (inventio), ordnen („mind mapping", dispositio), erinnern (memoria, Gedächtnisliteratur in großer Zahl), vortragen (Performance, die angelsächsische Schwester der elocutio oder perlocutio). Ich empfehle im Gegenzug zu der heute inflationär vorkommenden Ratgeberliteratur immer, Quintilian, einen der ersten Summierer des antiken rhetorischen Wissens, zu lesen. Es ist wichtig festzuhalten, dass der Bildungsbegriff, im oben skizzierten Sinn, sich gegen dieses System von Fertigkeiten, sich gegen einseitige Schematisierungen entwickelt. Er akzentuiert sich auch gegen die Zuschreibung einseitiger Berufsbezüge. Bildung ist eben nicht die Finalisierung der Ausbildung auf die Erfordernisse eines Brotberufs. So definiert Wilhelm von Humboldt die Universität - wie wir noch sehen werden: ein Ort, der auch Bildung einübt - ausdrücklich gegen die Verfahren der Schule und ihre vermeintlichen Festlegungen. In „Uber die innere und äußere Organisation der höheren Wissenschaftlichen Anstalten in Berlin" heißt es: „Der Staat muss seine Universitäten weder als Gymnasien noch als Spezialschulen behandeln und sich seiner Akademie nicht als einer technischen oder wissenschaftlichen Deputation bedienen. Er muss im ganzen [...] von ihnen nichts fordern, was sich unmittelbar und geradezu auf ihn [den Staat] bezieht, sondern die innere Überzeugung hegen, dass wenn sie ihren Endzweck erreichen, sie auch seine Zwecke und zwar von einem viel höheren Gesichtspunkte aus erfüllen, von einem, von dem sich viel mehr zusammenfassen lässt und ganz andere Kräfte und Hebel angebracht werden können, als er in Bewegung zu setzen vermag. Auf der anderen Seite aber ist es hauptsächlich Pflicht des Staates, seine Schulen so anzuordnen, dass sie den höheren wissenschaftlichen Anstalten gehörig in die Hände arbeiten." Dies, also eine ausdrücklich nicht auf Berufsinteressen ausgerichtete Lehre, ist eine Hinsicht, die ja gerade in all den Diskussionen um den Berufsbezug universitärer Ausbildungsstufen, etwa der Bachelor-Konzeption des sog. Bologna-Prozesses, festgehalten werden muss. Die Bildung,

in

die die Universität einüben soll, dient nach Wilhelm von Humboldt keiner direkten Vorbereitung auf einen Beruf. Und dies schon oder gerade deswegen nicht, weil „Bildung" immer eine individuelle Dimension hat: ein Einzelner, eine Einzelne bildet sich auf prinzipiell nicht-vergleichbare Weise. Statistische Erhebungen, um zu funktionieren, wollen und müssen grundsätzlich von dieser individuellen Dimension absehen, aber deswegen tritt diese individuelle Dimension nicht außer Kraft.

Was ist Bildung?

35

Austausch und Geselligkeit Bildung und Universität sind für Wilhelm von Humboldt eng miteinander verzahnt. „Bildung" entsteht nicht nur, indem ein Individuum sich zum „Vorgängigen" verhält, zur Tradition; sie entsteht auch, indem dieses Individuum in Wechselwirkung mit den Zeitgenossen tritt. Damit kommt die Idee der Universität ins Spiel, denn Universität ist Interaktion; so heißt es in der eben schon zitierten Schrift Wilhelm von Humboldts: „Da aber auch das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, und zwar nicht bloß, damit einer ersetze, was dem anderen mangelt, sondern damit die gelingende Tätigkeit des einen den anderen begeistere und allen die allgemeine, ursprüngliche, in den Einzelnen nur einzeln oder abgeleitet hervorstrahlende Kraft sichtbar werde, so muss die innere Organisation dieser Anstalten ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten." Diese freie Wechselwirkung wird gedacht als Form eines Austauschs, der in Sprache der Romantik, etwa der Friedrich Schleiermachers, „Geselligkeit" heißt: „Wer nur zwischen den Sorgen des häuslichen und den Geschäften des bürgerlichen Lebens hin und her geworfen wird, nähert sich, je treuer er diesen Weg wiederholt, nur um desto langsamer dem höheren Ziele des menschlichen Daseins. Der Beruf bannt die Tätigkeit des Geistes in einen engen Kreis [...]. Das häusliche Leben setzt uns nur mit Wenigen, und immer mit denselben in Berührung [...]. Es muss also einen Zustand geben, der diese beiden ergänzt, der die Sphäre des Individui in die Lage bringt, dass sie von den Sphären Anderer so mannigfaltig als möglich durchschnitten werde, und jeder seiner eigenen Grenzpunkte ihm die Aussicht in eine andere und fremde Welt gewähre, so dass alle Erscheinungen der Menschheit ihm nach und nach bekannt, und auch die fremdesten Gemüter und Verhältnisse ihm befreundet und gleichsam nachbarlich werden können. Diese Aufgabe wird durch den freien Umgang vernünftiger sich untereinander bildender Menschen gelöst." Ubersetzt heißt das Ganze: Bilde Dich, indem Du mit interessierten und interessanten Individuen in Wechselwirkung trittst! Interagiere! Und entwickle in dieser Interaktion das Ganze gemeinsam zum Besseren. „Liebe bedarf der Gegenliebe", heißt es in diesem Sinne prägnant in einem wichtigen programmatischen romantischen Text, in Friedrich Schlegels „Gespräch über die Poesie" von 1800. Um solches Ziel zu realisieren, wurde in und mit der preußischen Bildungsreform ein neues Instrument geschaffen, das uns heute allen sehr vertraut ist, um 1800 aber eine geradezu revolutionäre Neuerung war: das Seminar. Es hat mit seiner Idee des wechselseitigen mündlichen Austauschs die alten Formen der Wissensvermittlung zumindest programmatisch abgelöst (Vorlesung als reine Stoffvermittlung oder Dogmatik) und hat an ihre Stelle die forschende Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden gesetzt. Natürlich ist dies nur Fluchtlinie gewesen, Programm; die Universität war zu keiner Zeit vollkommen symmetrisch, sie war immer auch Ausbildungsstätte, in der etwas eingeübt wurde. Dennoch macht es einen Unterschied, ob man in dieser Ausbildung die regulative Idee der Wechselseitigkeit verfolgt oder sie von vornherein als unrealisierbar abtut.

Jürgen Fohrmann

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Wissenschaft ist „Disziplin " Allerdings war das, was eingeübt wurde, kein zukünftiger Beruf; wenn die Universität seit der Humboldt'schen Bildungsreform .Abbildung war, dann war sie Ausbildung zur Wissenschaft.

Der

Bildungs- und der Wissenschaftsbegriff sind in der Humboldt'schen Universität aufeinander verwiesen. Allerdings nicht so, wie Wilhelm von Humboldt dies m.E. gedacht hat. Bildung bringt nicht, zumindest nicht umfassend, Wissenschaft hervor. Bildung und Wissenschaft entwickeln sich aufeinander bezogen parallel,

sie ko-evoluieren, sind aber in keiner Weise identisch. Objektives

Ziel der Universität ist Wissenschaft, wichtigstes Parallelergebnis ist, so lange man dies strukturell sicherstellt, Bildung. „Wissenschaft" ist immer in erster Linie Einübung in und Fortführung von Disziplinen, ist mithin im anderen Sinn des Worts „Disziplin"! Mittels solcher Disziplin wird man in die Disziplin, in das wissenschaftliche Fach, geleitet. Dies war schon seit dem frühen 19. Jahrhundert so, und es hat sich m. E. bis heute nicht geändert. Diese Einübung und Fortführung hat im wesentlichen drei Dimensionen: Sie vermittelt erstens kognitive

Muster, d.h. Konzeptwissen

und alles, was daraus folgt: methodi-

sche Vorgehensweisen, Kombinationsmöglichkeiten, Wissen um die Validität der Ergebnisse, Wissen um Entscheidungsoptionen, grundständige Zweifel usw. Die Einübung in eine Disziplin vermittelt zweitens Wissen über Gegenstände

und Sachverhalte

(ich sage gern: ein Archiv, ohne das ich

gar nicht kombinieren könnte), also eigentlich noch das (wie auch immer strukturierte Feld) der scientia naturalis oder der historia; und sie vermittelt drittens soziales Wissen über das Funktionieren des „Sozialsystems Wissenschaft", über Diskursregulierungen, ohne dessen Kenntnis man sich gar nicht in der Wissenschaft bewegen könnte. Einübung in und Fortführung von Wissenschaft bedeutet die Kombination dieser drei Dimensionen, jeweils auf unterschiedlichen Niveaus, mit je unterschiedlichem Komplexitätsgrad. Dies alles ist nicht Bildung, sondern es ko-evoluiert mit Bildung, und zwar so, dass sich eine produktive Verschränkung ergibt. U m diese produktive Verschränkung muss es auch in der gegenwärtigen Diskussion gehen.

Raum, für den

Zufall

Ich hatte behauptet, dass „Bildung" ein individuelles Resultat, eben die Bildung eines Subjekts ist. Diese Bildung ist zum einen an der Universität sicher auch eine fachwissenschaftliche Bildung. S o verstanden, wäre sie mit wissenschaftlicher Ausbildung identisch. Unsere gegenwärtigen Bemühungen um die Exzellenz der Ausbildung und des wissenschaftlichen Nachwuchses gehen in genau diese Richtung. Warum also sollte man dies ändern oder zumindest umakzentuieren? Man sollte dies, weil die Sozialisation von Subjekten, gerade in der modernen Gesellschaft, immer auf die Möglichkeit hin angelegt ist, an der Reichhaltigkeit

einer vielgestaltigen Welt teilzuha-

ben. Alle unsere gesamtgesellschaftlichen Bemühungen gehen ja in diese Richtung. ,Gebildetsein' in solchem Sinne wäre die Möglichkeit, mit Reichhaltigkeit produktiv umgehen zu können, sie nicht als überflüssig abzulehnen oder sie grundsätzlich einseitig zu akzentuieren. .Gebildetsein' bedeutet dann nicht, sich über einen Kanon

von Wissen und Werten zu definieren (dies mag auch

Was ist Bildung?

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sein, und wissen sollte man im Übrigen vieles, weil man sonst nichts miteinander in Beziehung setzen kann); es bedeutet, die Dimensionen von Vielseitigkeit einschätzen und umsetzen zu können (also auch wie in der Wissenschaft: ihre konzeptuellen Voraussetzungen, ein Wissen über ihre Gegenstände und über soziale Verkehrsformen). Weil Bildung in diesem Verständnis auf keinen Kanon reduzierbar ist, ja sein darf, muss sie notwendigerweise als freie Bewegung verstanden werden. Dies war im Kern auch das Anliegen des Humboldtschen Bildungsbegriffs, der Bildung ja wie eine ästhetische Kategorie zu fassen suchte (als eine „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" würde es bei Kant heißen). .Bildung' sollte in der Universität also auch bedeuten, unterschiedliche Wissensbereiche in den Blick zu bekommen und ihre Gegenstände, ihre Konzepte, ihr soziales Wissen (wie vollständig auch immer) kennenzulernen, ohne den Weg festzulegen, wie dies geschehen soll. Dafür muss strukturell ein Raum vorgesehen werden. Bildung ist daher nicht das Vermögen zu .Schlüsselkompetenzen' (diese ergeben sich in der Regel von selbst), ,getunneltem' Fachwissen und exemplarischem Lernen; Bildung ist die Schaffung von Unterscheidungsvermögen auf der Basis vielgestaltiger, auch weit über die Universität hinausgehender Lernvorgänge, ohne die ein solches Unterscheidungsvermögen nicht zustande kommen würde. Die Gegenstände der Bildung und die Möglichkeiten, mit ihnen produktiv umzugehen, sind konstitutiv aufeinander bezogen. Dabei ist sowohl die Kommunikationsaufforderung des Bildungsbegriffs von Bedeutung, sein „Interagiere, Kommuniziere", als auch die aneignende Hervorbringung von Neuem im Umgang mit der Vergangenheit. Nur diese freie Bewegung ermöglicht die eigentliche Leistung von Bildung sowohl in der Wissenschaft, den anderen Bereichen der Gesellschaft und im öffentlichen Raum: Bildung eröffnet den Raum für das zufällig gefundene Neue, eröffnet den Zufall, eröffnet Kontingenz. Und so könnte man sagen: Nur die Verbindung von Zufall, Bildung und Wissenschaft ermöglicht Kultur. Bei Heinrich von Kleist heißt es einmal: Er war so konzentriert, dass ihm nichts einfiel. Hier stellt .Bildung' das Gegenmittel dar.

Wolfgang Frühwald

Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin ? Universitäten am Scheideweg

1. Wo kommen wir her?

A

ls ich im November 1954 an der Universität München das Studium der Germanistik begann, gab es dort zwei Ordinarien für dieses Fach. Sie hatten, zusammen mit einigen Dozenten und drei Assistenten, 1 500 Studierende zu betreuen. Als ich im Herbst 2003 emeritiert wurde, gab es am gleichen Institut, an das ich 1974, nach einigen Umwegen, zurückgekehrt war, zwölf Lehrstühle und 8 000 Studierende, allerdings auch eine große Zahl von Nichtordinarien sowie von Mitarbeitern, so dass sich insgesamt die Betreuungsrelationen geringfügig verbessert hatten. Mein erstes Proseminar jedenfalls im Wintersemester 1954/55 besuchte ich zusammen mit rund 600 Kommilitonen. Es fand im Auditorium Maximum der Universität statt. Wir bekamen einen Teilnahmeschein, unterzeichnet mit dem Namensstempel des Professors. Bei meiner Immatrikulation im Wintersemester 1954/55 drängten sich mehr als 1 500 Studienanfänger in der Großen Aula der Universität, die für rund 800 Personen Platz bietet. Obwohl wir dicht an dicht gedrängt standen und saßen, musste jeder und jede von uns vom Rektor, der von vier Pedellen notdürftig gegen die bedrohlich auf ihn eindringende Studentenmenge geschützt war, einen Händedruck erhalten. Er war die Voraussetzung für den anschließend (im Schutz des Rednerpultes) erteilten Stempel, der den Studentenausweis gültig machte - gültig für das Mensaessen, die Bibliotheken, für die Krankenkasse, die Straßenbahn, die Rückmeldung, die Anmeldung zum Examen etc. Dass wir, das heißt meine Studiengeneration, eine derart überlaufene Universität so schnell wie möglich wieder verlassen wollten, dass wir die kürzest mögliche Studiendau-

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Wolfgang

Frühwald

er anstrebten, ist mir noch heute einsichtig. Später habe ich die kurze Studienzeit oft bereut, weil ich alles im Beruf nachholen musste, was im Grunde Stoff des Studiums gewesen wäre. Die Immatrikulationsschlacht allerdings, an der ich teilgenommen hatte, war die letzte ihrer Art. Von da an nämlich nahm die Zahl der Studierenden nochmals sprunghaft zu (von damals 5 Prozent eines Geburtenjahrgangs auf heute 40 Prozent), das heißt: die Rektoren setzten wegen einer Immatrikulation per Handschlag ihr Leben nicht mehr aufs Spiel. Die Immatrikulation wurde ein Verwaltungsakt, technisiert, mechanisiert, heute auf C o m p u t e r verlagert, aber auch objektiviert. Ich hatte Glück. Als ich 1958, nach acht Semestern Studium, in drei Lehramtsfächern das Examen bestanden hatte, brach über die Universität eine - so schien es jedenfalls - wunderbare Stellenvermehrung herein. Ich ergatterte eine der begehrten Assistentenstellen und wurde so nicht Oberstudienrat in einem bayerischen Kleinstadt-Gymnasium, was ich lange gewünscht und gehofft hatte, sondern Hochschullehrer und nach einer Dienstzeit von 45 Jahren emeritiert. Sie werden vermutlich denken: Was interessieren uns die Zustände vor einem halben Jahrhundert? Wir leben am Anfang des 21. Jahrhunderts und haben genügend Sorgen u m das, was ist und was kommen wird. Was kümmert uns die Vergangenheit? Die A n t w o r t darauf könnte lauten: Eben darum haben wir die Sorgen um das, was ist, weil niemand mehr versucht, Entwicklungen zu verstehen, so dass wir das Rad immer wieder und in immer kürzeren Abständen neu erfinden. M i r jedenfalls scheint die quantitative Aufblähung der Universitäten und Hochschulen, der der Ausbau und die Personalvermehrung (mit Ausnahme weniger Jahre um 1960) stets hinterdreinhinkte, der Basisprozess, der jede Reformanstrengung innerhalb der letzten 50 Jahre im Keim erstickte. Gewiss: wir brauchen eine große Menge gut ausgebildeter junger Menschen, aber die Qualität ihrer Ausbildung hängt vom entschlossenen und dem Entwicklungstempo angepassten, personellen und materiellen Ausbau der Hochschulen unseres Landes ab. J e mehr sich nämlich das Entwicklungstempo und damit auch der Erfahrungswandel beschleunigt, umso schneller entschwinden Vergangenheit, Gedächtnis und Erinnerung aus dem Horizont unserer Erfahrung. Die (von Reinhart Koselleck als modernisierungstypisch erkannte) Beschleunigung des Erfahrungswandels gleicht inzwischen einer Erfahrungsexplosion und hat unser Verhältnis zur Vergangenheit radikal verändert. Die Geschichte, so meinte Hans Magnus Enzensberger (2008), ist „wahrscheinlich der einzige exotische Ort, der uns geblieben ist. Sie können [sagte er] heute nach Thailand oder Indonesien fahren, aber Sie werden dort wenig entdecken, was Ihnen nicht bekannt vorkäme. Das einzig wahre Ausland ist die Vergangenheit". Der Kontrast, der sich zwischen einer derart fremd gewordenen Vergangenheit und der immer rascher auf uns zukommenden, völlig undurchsichtigen Zukunft herstellt, verweist nicht nur auf die von H e r m a n n Lübbe so genannte „Gegenwartsschrumpfung", das heißt auf die ungemein schnelle Alterung aller Informationen und Erfahrungen, auch und gerade der wissenschaftlich gewonnenen, sondern auch auf Phänomene mit enormen sozialen Folgen, wie etwa die Erfahrungsumkehr, verursacht durch Informationstechnologien, die jungen Menschen heute Erfahrungen schenken, die zu machen den Alten niemals möglich war, mit allen Folgen für Autorität und lebenslange Lernsituationen. Der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman hat „Ungeduld" als das herausragende Kennzeichen unserer Moderne benannt und verdeutlicht, dass der „Aufstieg in der sozialen Hierarchie [...] anhand der gesteigerten Fähigkeit gemessen [werde] , das, was man will (was immer es auch sein m a g ) jetzt gleich zu haben, ohne Verzögerung". Das M o t t o der Moderne laute: „Warten ist eine Schande." Auf die Wissenschaft übertragen, die

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Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin?

längst an der modernen Ungeduld teilhat, bedeutet dies (nach Hans J o n a s ) , dass mit der „Abkürzung der Zeit zu den großen Zielen" keine Zeit mehr zur Korrektur der unvermeidlichen und oftmals keineswegs kleinen Irrtümer bleibt. Die Entschleunigung des notwendig von Irrtümern begleiteten Prozesses der Wissenschaft ist eine Aufgabe geworden, die anderen Weltproblemen (dem Klimaproblem, dem Energieproblem, dem Wasserproblem, der Übervölkerung der Erde) in nichts mehr nachsteht.

2. Wo gehen wir hin? 2.1 Erfahrungsbeschleunigung und Urteilsfähigkeit Das also ist der erste mächtige Trend, dem wir alle und zumal die Produktionsstätten des neuen Wissens ausgesetzt sind: die rasante Beschleunigung des Erfahrungswandels, der wir Entschleunigung entgegenzusetzen haben. D i e Fülle des täglich und stündlich erarbeiteten Wissens und die F o r m seiner Bändigung sind damit zu Kernproblemen der Zentren geworden, die auch in unserer Zeit das Wissen zu organisieren, seine Gewinnung einzuüben, es verständlich zu machen, es zu bewerten und weiterzugeben haben: der Universitäten. I m Unterschied zu den außeruniversitären Forschungsinstitutionen nämlich begegnen sich in der Universität die unterschiedlichen Forschungskulturen ebenso wie unterschiedliche Lebensalter und Lebensentwürfe, Lehrende und Lernende, Senior- und Juniorforscher, angewandte und grundlagenorientierte Interessen, langsam und rasch expandierende Wissensgebiete, experimentelle und theoretische Fächer

-

jeweils auf Augenhöhe. Sie alle gruppieren sich um das Ziel, neues Wissen zu erarbeiten, es zu systematisieren und kritisch zu beurteilen. Neues Wissen kritisch und zweifelnd zu beurteilen aber heißt, es einer ersten universitätsinternen Kontrolle zu unterwerfen, nämlich dem Urteil der Kollegen und dem der Studierenden. Wenn es dabei nicht gelingen will, das Interesse der Studierenden an den vorgetragenen Gegenständen so zu wecken, dass sie aus eigener Neugier selbständig daran weiterdenken, ist dies ein Alarmzeichen. Es zeigt an, dass vermutlich die vorgetragenen Gedanken und Ergebnisse selbst, nicht nur die F o r m ihrer Darbietung, zu überprüfen sind. D o r t , w o heute N a t u r - und Kulturwissenschaften oder ein in sich so komplexer Betrieb wie eine medizinische Klinik mit theoretischen Grundlagenfächern

aufeinandertreffen, entsteht

ein

Organisationsmuster, in dem die Versuchung, Gestaltung durch bloße Verwaltung zu ersetzen, übermächtig wird. Eine menschenfreundliche Wissenschaft aber setzt Gestaltung voraus, setzt voraus, dass wir urteilsfähig bleiben und dem allgegenwärtigen Irrtum eine G r e n z e setzen.

2.2 Wissensfülle D i e Quantität des täglich und stündlich erarbeiteten Wissens überschreitet inzwischen das F a s sungsvermögen auch hoch spezialisierter Forscher bei weitem. Wir zählen derzeit weltweit rund 140 000 wissenschaftliche Zeitschriften; die Zahl der auf der Erde in wissenschaftlichen Berufen tätigen Personen wächst jährlich um etwa 350 000, mehr als 120 000 Dissertationen (auf P h . D . Niveau) werden pro J a h r weltweit abgeschlossen. D i e Summe der naturwissenschaftlichen F o r t schritte, meinte der O x f o r d e r Kulturkritiker George Steiner, übersteige „exponentiell ihre einzelnen Teile, und seien sie auch noch so sehr von persönlichem Genie inspiriert. Dieser F o r t -

42

Wolfgang

Frühwald

schritt [...] ist tatsächlich träge und ozeanisch". Zwar halte ich die Behauptung, dass Experimente, wie sie derzeit am Large Hadron Collider in Genf unter Beteiligung von mehreren tausend Physikern und Technikern durchgeführt werden, also die Simulation urknallähnlicher Zustände, ein kollektives Bewusstsein in einem kollektiven Denkprozess erforderten, nicht für beweisbar. Doch ist deutlich, dass die Figur des einsamen Denkers, die in allen Wissenschaften durchaus noch eine zentrale Funktion hat, „aus den Requisiten der naturwissenschaftlichen Kollektivität" zu entschwinden droht. Wissenschaft ist heute als ein Prozess, nicht so sehr als die Leistung von Einzelnen zu denken, ihre Vermittlungsformen sind entsprechend kompliziert. Allerdings scheint sich auch hier strukturell eine Wende anzubahnen. Horst Kern hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts „in vielen Wissenschaftssystemen die Zahl der großen Wissenschaftsdurchbrüche pro Zeiteinheit nur noch bescheiden, wenn überhaupt" v o r k o m m t . Das heißt, die Quantität des Wissens wird zwar immer größer, die Innovationsrate aber sinkt. Die Konsequenzen, die heute aus dieser Erkenntnis gezogen werden, sind dramatisch, auch wenn sie zunächst nicht so erscheinen mögen. Die Vorschrift der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Beispiel, bei Neuanträgen statt einer kompletten Publikationsliste nur noch wenige selbst gewählte Veröffentlichungen als Ausweis der wissenschaftlichen Qualifikation eines Antragstellers vorzulegen, entspringt nicht nur dem Wunsch der Gutachter, die sich einen raschen Uberblick über sehr viele Anträge verschaffen müssen, sie richtet sich vielmehr gegen einen Krebsschaden des wissenschaftlichen Publikationswesens, bei der Jagd nach hohen Impact-Faktoren, Hirschzahlen und anderen Leistungsindices stets auf die kleinste publizierbare Einheit zu setzen. Wer nur fünf Publikationen angeben darf, wird sich überlegen, ob er Ergebnisse in einer einzigen (dann aber aussagekräftigen) Publikation oder in einer Vielzahl von Publikationssplittern mitteilt. Die Behauptung, „dass eine gewöhnliche Veröffentlichung in einer gewöhnlichen geisteswissenschaftlichen Zeitschrift weniger als zwei Leser finde" (Th. Steinfeld), ist nicht gesichert, aber dem Anschein nach plausibel.

2.3 Personenförderung

statt

Programmförderung

Die Quantitätsbeschränkung ist nur eine Maßnahme, die versucht, die Innovationsrate der wissenschaftlichen Publikationen zu steigern und die Publikationsflut einzudämmen oder, anders ausgedrückt, aus der schreibenden (vor allem aus der Anträge schreibenden) Universität wieder eine lesende und damit eine lernende Universität zu machen. Eingreifender ist die international zu beobachtende Tendenz, die Forschungsförderung von der Programmförderung auf Personenförderung umzuleiten. Das ist eine sehr weitreichende strukturelle Maßnahme, die vom Dogma der „naturwissenschaftlichen Kollektivität" des Denkens und Arbeitens abweicht und wieder von der Person, von ihrer Phantasie, ihrem Können, ihrem sie von anderen unterscheidenden Zugriff, also von tacit knowledge, das heißt vom spezifisch eigenen Denken jene Innovationen erwartet, die das Programm nicht mehr liefert. Die prominenten Beispiele für diese Änderung des Trends liegen vor aller Augen. Von H e l m u t Schwarz weiß ich, dass der britische Wellcome-Trust zum Beispiel, mit einem Stiftungskapital von 13 Milliarden britischen Pfund und einer jährlichen Förderungssumme von über 600 Millionen Pfund für die bio-medizinische Forschung eine der großen Förderorganisationen der Welt, einen Großteil seiner Förderung auf Personenförderung

Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin?

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umstellen will. Auch die Europäische U n i o n sucht im 7. Rahmenprogramm (das mit einer G e s a m t s u m m e von 50 Milliarden Euro dotiert ist) die Partnerschaft nationaler Förderorganisationen, um die erfolgreichen europäischen Mobilitäts- und Stipendienprogramme auszubauen. Sie bietet unter bestimmten Auflagen eine Beteiligung von 25 P r o z e n t an den jeweiligen Stipendien. Auf die Universitäten angewandt bedeutet der Trend zur Personenförderung, die Prioritäten so zu setzen, dass im Zentrum ihrer Arbeit die gute, ja die sehr gute Ausbildung der Studierenden steht und der wissenschaftliche Nachwuchs in allen Fächern und Disziplinen mit großer Sorgfalt gefördert wird. Dabei zählt für Jungforscher aus dem Ausland, die bei uns lernen und mit uns zusammenarbeiten wollen, nicht nur eine angemessene D o t i e r u n g der Stipendien, sondern insbesondere die Familienbetreuung (Willkommenszentren, Gästehäuser, Kinderbetreuung, Förderung von Doppelkarrieren, Anreize für freundliche Ausländerbehörden u.v.a.m.). Dies jedenfalls ist die Erfahrung der Alexander von H u m b o l d t - S t i f t u n g , die seit mehr als 50 J a h ren internationale Forschungskooperationen fördert. Ihre Basis bilden heute 23 000 Stipendiaten aus 134 Ländern der Erde. N o c h hat Deutschland - u.a. durch Stiftungen wie die Alexander von H u m b o l d t - S t i f t u n g - im Wettbewerb um Personen die N a s e vorn, doch zeigt sich längst, dass es diesen Wettbewerb gegenüber Forschungsriesen, wie den U S A oder demnächst Indien und C h i na, nicht gewinnen kann. In der Türkei, einem Land, das sicher nicht im Zentrum der F o r schungsstatistiken steht, werden derzeit 15 neue Universitäten gegründet, und aus Indien weiß Hans N . Weiler zu berichten, dass dort ernsthaft ein Vorschlag der National Knowledge C o m mission geprüft wird, „die Zahl der Universitäten von [derzeit] 3 5 0 innerhalb der nächsten 2 0 J a h r e auf 1 500 zu erhöhen - nicht zuletzt, um dem rasant steigenden Bedarf an gut ausgebildeten Lehrern gerecht zu werden". Wir (in Europa) werden durch Qualität ersetzen müssen, was wir an Quantität nicht gewinnen können. U n d deshalb gibt es zu der Priorität für eine sehr gute Ausbildung der Studierenden und des wissenschaftlichen Nachwuchses, auch und gerade in den staatlichen Haushalten, keine Alternative.

2.4 Die „Bluffgesellschaft" D i e drei herausragenden Trends der Entwicklung unserer auf Wissen ausgerichteten Gesellschaften sind also (1.) die Beschleunigung des Erfahrungswandels, auf den wir mit Entschleunigung zu antworten haben, (2.) die Quantitätssteigerung des Wissens, der wir die Qualitätssteigerung gegenüberstellen müssen und (3.) die Programmwucherung, welcher heute bereits der Trend zur Personenförderung entgegensteht. Es gibt aber noch einen anderen, leider mächtigen gesellschaftlichen Trend, der zunehmend auf die Wissenschaft übergreift und dort schwere Schäden anrichtet. D u r c h den exzessiven Wettbewerb auf den Forschungs- und Bildungsmärkten der Welt nämlich haben die Performanzfaktoren in Forschung und Wissenschaft in einem fast unerträglichen Ausmaß zugenommen. Einfacher ausgedrückt: es geht in vielen Projekten, auch in sogenannten harten Forschungsbereichen, nicht mehr um die Substanz des neuen Wissens, sondern nur noch um dessen Sichtbarkeit. D i e propagandistische Verwertung von Forschungsergebnissen überschreitet oftmals deren tatsächlichen Ertrag bei weitem. Großspurige Anwendungsversprechen schon im Stadium der Grundlagenforschung sollen die in ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz gefährdeten Forschungsbereiche befördern, unerfüllbare Vorhersagen werden (zumal in den

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Wolfgang

Frühwald

Wirtschaftswissenschaften) als „Weisheit" verkauft, rasch gefertigte U m f r a g e n bestimmen angebliche Bedürfnisse der Menschen, obwohl diese Bedürfnisse durch die U m f r a g e n erst geweckt werden, von ganzen Fächern geschürte Katastrophenängste treten an die Stelle von Fakten. Der Grazer Soziologe Manfred Prisching hat 2008 eine Skizze dieses gesellschaftlichen Trends entworfen. Dabei zeichnet sich die von ihm so genannte „Bluffgesellschaft", welche Sichtbarkeit der Substanz überordnet, nicht dadurch aus, dass es viel Blendung, Schein und Täuschung gibt, als vielmehr dadurch, dass der Bluff „in die soziale Wirklichkeit als selbstverständliches Element eingesickert und allgegenwärtig geworden" ist. In einer solchen Gesellschaft kehren sich die Begründungszusammenhänge um: Leistung ist nicht mehr harte (zunächst kaum sichtbare) Arbeit, die zu mitteilbaren Ergebnissen führt, sondern schon im Ansatz nichts als „erfolgreiche Kommunikation, Unterhaltungsproduktion, Einfallsreichtum in Strategien und Umwegen, Argumentationen und Geschichten [...]. Die ganze Gesellschaft funktioniert wie ein Fernsehprogramm: entscheidend ist die Quote, alles andere ist eine ferne Erinnerung an vergangene Zeiten". In einer „Bluffgesellschaft" zählen Eindrücke mehr als Fakten, werden Eindrücke sogar zu Fakten, und den größten Erfolg hat der, dem es gelingt, „Bluff" als eine Leistung darzustellen. A n vielen Orten ist die Wissenschaft mehr oder weniger notgedrungen Mitspieler im Spiel von Design und Täuschung geworden, hinter dem die Angst lauert, sonst überhaupt nicht wahrgenommen zu werden. Die korrumpierende Rückwirkung eines durch Schein und bloße Sichtbarkeit bestimmten sozialen Systems, das an die Stelle der einstmals herrschenden Sinnstiftungssysteme getreten ist, auf die Wissenschaft ist offensichtlich. Schließlich haben es Wissenschaft und Forschung in allen ihren Teilen, trotz Heisenberg, Bohr und Wittgenstein, mit Fakten zu tun, auch wenn solche Fakten z u m Beispiel nicht besagen, was die Natur ist, sondern nur, was wir über die Natur sagen können. Die Einübung in die Wissenschaft ist ein hartes und entsagungsvolles Geschäft. Wir sollten der Öffentlichkeit und vor allem den Studierenden nicht vorgaukeln, neues Wissen sei leicht und vielleicht sogar billig zu haben. Mir scheint die verbreitete Minderwertung der Lehre gegenüber der Forschung, die aber mit sehr kurzen Reaktionszeiten auf die Forschung und zumal auf das dafür notwendige qualifizierte Personal zurückschlägt, auch eine Folge der Vernachlässigung der Kompetenz- gegenüber den Performanzfaktoren zu sein. Lehrerfolge bringen keinen kurzfristigen Gewinn und sind in der Bluffgesellschaft deshalb kaum gefragt. Wissenschaft und Forschung aber dürfen sich nicht in die Falle der Bluffgesellschaft begeben, sie dürfen nicht Mitspieler in dem Sinne werden, dass sie vielleicht Erreichbares vorausentwerfen, als sei es bereits Realität, dass sie Karrieren durch Schein und Selbstinszenierung garantieren, dass sie Forschungsmärkte dulden, auf denen Bedürfnisweckung betrieben wird, nicht die Lebensbedingungen des der Hilfe tatsächlich bedürftigen Menschen erleichtert werden. Dort nämlich, w o der Schein plötzlich durchschaut wird, grinst uns das bare Nichts an. Den Anspruch, Wahrheit, nicht nur Wirklichkeit, zu suchen und jede Position auf dem Weg dahin unter die Autorität des Zweifels zu stellen, kann und darf die Wissenschaft nicht aufgeben. Wenn sie diesen Weg konsequent verfolgt und junge Menschen auf diesen mit Steinen und Barrieren dicht besetzten Weg verlockt, dann handelt sie gegen einen übermächtigen Trend der Zeit. Sie könnte sich aber im Meer des Scheins als eine Insel der Verlässlichkeit behaupten und damit Vertrauen in einer Welt schaffen, in der Vertrauen zu einem raren und kostbaren Gut geworden ist.

Hans Ulrich Gumbrecht

Ob uns die Berliner Universitätsgeschichte eine Verpflichtung ist

A

m 6. Oktober 1810 immatrikulierten sich die ersten sechs Studenten an der zum Winter-

semester neu eröffneten Friedrich Wilhelms-Universität zu Berlin. Damit wurde sie zu einem O r t , der neues Wissen hervorbringen sollte und aus persönlichen Begegnungen

erwachsende intellektuelle Energie. Schon seit 1700 hatte die Kurfürstlich Brandenburgische Societät der Wissenschaft bestanden, die spätere Preußische Akademie, und seit 1710 das „Charité" genannte Krankenhaus, an dem Soldaten behandelt und junge Arzte ausgebildet wurden. D o c h erst mit der Gründung der Universität verwandelte sich die Geschichte der akademischen Institutionen von Berlin in eine singulare und zugleich exemplarische Geschichte. Mit genauerem und vielleicht auch kritischerem Blick, als man es von einer Geburtstagsrede

erwarten mag, will ich fragen, ob sich in den seither vergangenen zweihundert Jahren spezifische Merkmale einer Identität ausmachen lassen, die nicht zum vorhersehbaren Allgemeinen der akademischen Fest-Rhetorik gehören und so erklären können, warum Berlin im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert als das Zentrum und Vorbild moderner Wissenschaft galt. Vor allem aber geht es um das Verhältnis dieser großen Tradition zur Gegenwart der deutschen Universitäten: gibt es in dieser Gegenwart spezifische Probleme, die es nahelegen, das spezifische Profil der Berliner akademischen Geschichte als eine Verpflichtung zur Korrektur und Veränderung hervorzuheben? Ich stelle diese Fragen, obwohl ich weiß, dass es längst zum Standard geworden ist, jene Humboldtschen Ideale, an die uns der Name der Berliner Universität denken lässt, als unvereinbar mit der heutigen Wirklichkeit der Hochschulen abzutun.

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Hans Ulrich Gumbrecht

Was war die historische Konstellation von Bedingungen, unter denen es 1810 zur Gründung der Berliner Universität kam? Sie war vor allem motiviert durch die Niederlage Preußens gegen das napoleonische Heer im Jahr 1806 und den daraus folgenden Verlust der Universität Halle und der Universität Göttingen, die kurz unter preußischer Verwaltung gestanden war. Schon 1807 hatte eine Gruppe von Hallenser Professoren König Friedrich Wilhelm I I I . im ostpreußischen Memel aufgesucht und gedrängt, zum Ausgleich für diese Verluste in Berlin eine Universität ins Leben zu rufen. So kam das Projekt zu einer Zeit auf den Weg, da man zum ersten Mal akademische Erneuerung als Ergebnis institutioneller Strukturen verstand - und nicht allein als Folge gewandelter Inhalte in der Lehre. Die Form der Berliner Hochschule war abgestellt auf ein Ideal individueller Bildung, das eher aus der Intensität intellektueller Auseinandersetzung erwachsen sollte denn aus der Quantität vermittelten Wissens. Wie es Immanuel Kant 1798 in seiner Schrift über den Streit der Facultäten Concordia

gefordert hatte, wurde diese Universität deshalb als O r t der

discors geplant, das heißt: als O r t der paradoxalen Einheit zwischen einer auf Plurali-

sierung der Positionen ausgerichteten intellektuellen Kultur und der all diese Positionen einigenden Überzeugung, dass Auseinandersetzung - im wörtlichen Sinn — das machtvollste Medium der Wahrheitsfindung sei. Konvergenz-Dimension für alle Individualbildung war die Nation, doch sollte sich diese Beziehung „absichtslos" ergeben, das heißt: ohne dass die Universität „zu einer Veranstaltung im Gebrauch des Staates herabsinke," wie es Friedrich Schleiermacher 1808 in seinen Gelegentlichen

Gedanken

zu einer Universität

im deutschen

Sinn formuliert hatte. Aus

dem Nachwort dieser Broschüre erfahren wir auch, dass die Wahl Berlins zum Standort der neuen Universität keinesfalls selbstverständlich war. Unter den „nicht zu verkennenden Nachteilen" der preußischen Hauptstadt erwähnte Schleiermacher ihre „Weitläufigkeit," die „Teurung der Bedürfnisse," die „Leichtigkeit der Zerstreuungen," die „Mannigfaltigkeit andringender Versuchungen" und die „Ofensitzerei vieler Jünglinge, die hier schon auf Schulen erzogen, hier auch studieren und hier gleich in die Verwaltung treten würden." Dem stehe nur ein Vorteil gegenüber: Berlin sei „in den preußischen Staaten der reichste Sammelplatz von Gelehrsamkeit, von Talenten, von Kunstübungen aller Art, insofern es viele Institute in sich fasst, welche die Universität unterstützen und wiederum durch die Verbindung mit ihr neuen Glanz oder höhern Charakter bekommen könnten." Akademie und Charité waren die wichtigsten dieser Institute. Mit ihnen als Nachbarn nahmen zweihundertsechsundfünfzig junge Männer im Oktober 1810 an der Berliner Universität ihr Studium auf, „ganz unfeierlich, aber arbeitsam," wie es der Universitätshistoriker Rüdiger von Bruch beschrieben hat.

Drei intellektuelle Momente haben die Berliner Universitätsgeschichte über zweihundert Jahre zu einer besonderen Geschichte gemacht: die große Zeit der Philosophie in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts; die Entwicklung der vor allem in der Medizin - und das heißt: vor allem an der Charité - angewandten Naturwissenschaften im späten neunzehnten Jahrhundert; und die Herausbildung der theoretischen Physik zur Quantenphysik an der Universität und an der Akademie während der ersten drei Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Ob uns die Berliner Universitätsgeschichte eine Verpflichtung ist

47

Der Philosoph Johann Gottlieb Fichte und der Theologe Friedrich Schleiermacher waren unter den ersten Professoren, welche an die neue Hochschule berufen wurden. Hinzu kamen 1818 Hegel und später Schelling. Fichte, Schleiermacher und Hegel bekleideten je für ein Jahr das Amt des Rektors, doch das pädagogische Talent dieser Philosophen entsprach nur selten ihrer Bedeutung und ihrem institutionellen Ehrgeiz: „Hegel," erinnerte sich einer seiner Hörer, „sprach nicht glatt, nicht fließend, fast bei jedem Ausdruck krächzte er, räusperte sich, hustete, verbesserte sich ständig. Seine Vorlesung war eher ein Monolog, es schien, als vergäße er seine Hörer." Und doch gab es Augenblicke, wo sich Hegels Studenten in der Gegenwart des lebendigen Geistes fühlten: „ O f t jedoch, wenn er sich räusperte, hielt er in seinem Vortrag inne; es war zu erkennen, dass sein Gedanke untertauchte. In solchen Augenblicken sprach er glatt und seine Worte fügten sich zu einem Bild voller unvorhergesehenen Zaubers zusammen." Aber nicht nur die Bewusstseinsphilosophie des deutschen Idealismus entfaltete sich in Berlin, sondern auch jene individualisierende Kunst in der Interpretation der Vergangenheit, die wir heute „Historismus" nennen. Dafür standen das Werk des Rechtsphilosophen Carl von Savigny, die Arbeiten von August Böckh, der die Philologie in Deutschland zur Wissenschaft erhob, der große Historiker Leopold von Ranke und im späten neunzehnten Jahrhundert der Altphilologe WilamowitzMöllendorff und Theodor Mommsen, dessen Bücher zur Geschichte des antiken Rom 1902 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurden. Selbst für Arthur Schopenhauers Philosophie des Willens war Platz an der Berliner Universität, so sehr er auch unter Hegels übermächtiger Konkurrenz litt. Im wahrsten Sinn des Wortes war diese Berliner Philosophie also eine Enklave der Auseinandersetzung, wo die verschiedensten Positionen durch Kontrast und Spannung ihre Konturen ausbildeten. Deshalb brachte sie Schüler wie Heinrich Heine, Ludwig Feuerbach, der noch Hegels Vorlesungen folgte, Karl Marx, der von Feuerbach angeregt wurde, Friedrich Engels, Sören Kierkegaard und Jacob Burckhardt auf die intellektuelle Bahn - und leistete gewiss auch ihren Beitrag zum Anwachsen der Studentenzahl auf achtzehnhundert in Hegels Sterbejahr 1831. Der Weg der Naturwissenschaften hin zur Anwendung in der Medizin nach der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war von zwei Voraussetzungen geebnet worden. Einmal von einer nicht zu übersehenden Diskontinuität zwischen Forschung und praktischen Zielen, welche - und hier liegt nach der Concordia

discors ein zweites Paradox - den Erfolg der Naturwissenschaften

in der Medizin nur beförderte; zum anderen von einer neuen Konvergenz zwischen Naturbeobachtungen und ihrer mathematischen Bearbeitung, wie sie vor allem Hermann von Helmholtz vorgab. Von seinem Schüler Max Planck wissen wir allerdings, dass auch Helmholtz die Lehre kaum am Herzen lag: „Helmholtz hatte sich offenbar nie richtig vorbereitet, er sprach immer nur stockend, wobei er in einem kleinen Notizbuch sich die nötigen Daten heraussuchte, außerdem verrechnete er sich beständig an der Tafel, und wir hatten das Gefühl, dass er sich selber bei diesem Vortrag mindestens ebenso langweilte wie wir." Die doppelte Grundlage einer erneuerten naturwissenschaftlichen Forschung ermöglichte die Entdeckung der Zellstruktur des menschlichen Körpers durch Rudolf Virchow, der zugleich von der Charité das Gesundheitswesen in Berlin und in Preußen reformierte und zu einem von O t t o von Birmarcks großen innenpolitischen Antagonisten wurde. Als Direktor des Hygienischen Instituts der Charité identifizierte Robert Koch den Tuberkulose-Erreger und wurde dafür 1905 mit dem Nobelpreis für Medizin belohnt. D o c h noch eindrucksvoller als die siebenundzwanzig Nobelpreise in Medizin, Physik und Chemie, welche Berliner Wissenschaftler zwischen 1901 und 1956 gewannen, ist wohl noch einmal

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Hans Ulrich

Gumbrecht

die Phalanx ihrer Studenten. Max Planck gehörte, wie schon gesagt, zu ihnen und Robert Kochs Schüler Emil von Behring, der - schon in Marburg - ein Heilmittel für Diphterie entwickelte und dafür 1901, noch vor seinem Lehrer, mit dem Nobelpreis geehrt worden war. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs lag die Zahl der Studenten an der Friedrich Wilhelm-Universität bei zehntausend. Jene Ruhmeszeiten der Philosophie und der angewandten Naturwissenshaft überbot dann noch die Emergenz der Quantenphysik in Berlin am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihre Voraussetzung scheint erneut eine Berufungspolitik gewesen zu sein, die den produktiven Dissens förderte. Max Planck war 1913 Rektor seiner Universität, gewann 1918 den Nobelpreis und nahm entscheidenden Einfluss auf die Ernennung von Albert Einstein, seinen Nobel-Nachfolger von 1921, zum Akademie-Professor, ohne je ganz mit ihm einig zu sein. Zwischen Werner Heisenberg, dem Nobelpreisträger von 1932, und Erwin Schrödinger, seinem Nachfolger im nächsten Jahr, herrschte eine offene intellektuelle Rivalität, die freilich keinesfalls zu einem Hindernis für Schrödingers Berufung wurde. Allerdings war dieser einmalige Höhepunkt in der Eminenz der Berliner Wissenschaft zugleich ihr Ende: denn Schüler vom Kaliber eines Emil von Behring oder eines Max Planck brachte die Garde der Jahrhundertphysiker nicht mehr hervor.

Das hatte gewiss mit der politischen Geschichte der Berliner Universität seit 1932 zu tun. In jenem Jahr wählten fünfundsechzig Prozent ihrer Studenten die Kandidaten der nationalsozialistischen Partei zu ihren Vertretern. Während Albert Einstein und Erwin Schrödinger Deutschland verließen, arrangierten sich andere Größen, unter ihnen Max Planck, Werner Heisenberg und der berühmte Chirurg Ferdinand Sauerbruch, mit dem Dritten Reich. Die Spuren des Widerstands sind schwach und sollten die Nachwelt auch in einem Jubliäumsjahr nicht blenden. Umso deutlicher waren auf der anderen Seite die Initiativen der Anpassung an die neue politische Umwelt durch eine zum Beispiel auf Rassenhygiene oder Wehrwissenschaft umgepolte Forschung und Lehre. Zugleich wurde eine für ganz Deutschand geltende kulturpolitische Vorgabe durch die Verringerung der Studentenzahl auf sechstausend erfüllt. Obwohl mir eine Gleichsetzung zwischen dem Dritten Reich und der Deutschen Demokratischen Republik fernliegt, kann ich nicht umhin festzustellen, dass sich die 1949 in „Humboldt Universität" umbenannte Berliner Hochschule bis 1989 intellektuell nicht erholte. Trotz unbestreitbarer individueller Kompetenz und Bemühung konnte unter totalitären Bedingungen kein intensives geistiges Leben im institutionellen Rahmen entstehen. Als die Humboldt-Universität 1988 ihre Tagung zum zweihundertsten Jahrestag der Französischen Revolution organisierte, ein gutes Jahr im voraus, weil man - wohl zu Recht - davon ausging, 1989 mit anderen Zentren der historischen Forschung nicht konkurrieren zu können, nahm ich die Einladung an, einen Vortrag beizusteuern. An nicht viel mehr erinnere ich mich heute als an leere Flure ohne Studenten und den penetranten Geruch von Bohnerwachs.

Was sind nun die besonderen, vielleicht ja sogar die singulären Merkmale, welche wir in der Berliner akademischen Geschichte der vergangenen zweihundert Jahre identifizieren können? Ich möchte vier von ihnen benennen. Zum ersten fällt auf, wie erstaunlich viele unter ihren berühm-

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testen Wissenschaftlern R e k t o r e n der Universität wurden. D o c h am Beispiel von Max Planck wird deutlich, dass dies - im zwanzigsten Jahrhundert zumindest - weder der Universität noch den Wissenschaftlern gut b e k o m m e n ist. Auffällig und von 1810 bis 1933 konsistent war zweitens eine Berufungspolitik, die auf den nicht zum Konsensus verpflichteten Streit zwischen antagonistischen Positionen als Medium der Wahrheitsfindung setzte. Drittens verdankte sich die internationale E m i n e n z der Berliner Universität, der Charité und der Akademie vor allem einer Forschung, die kaum je auf praktische Anwendung ausgerichtet war. Das galt für die idealistische Philosophie, ohne deren Grundlage die heute zu einer weltgeschichtlichen Episode gewordene Welt des Kommunismus nicht hätte entstehen können - und vielleicht nicht einmal die Sozialdemokratie als weltanschauliche Realität; das galt für jene Entdeckungen, aus denen die moderne Medizin in Berlin entstand; und das galt in tragischer und irreversibler Weise auch für die Q u a n tenphysik, deren Erfinder nicht damit gerechnet hatten, dass sie der Herstellung nuklearer Waffen den Weg ebneten. Schließlich haben die Berliner Universität und die Charité bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert unvergleichlich bedeutende Generationen von Studenten hervorgebracht, weil sie an der institutionellen F o r m der N ä h e zwischen Lernen einerseits und aktivem D e n k e n und Forschen andererseits festhielten. U n t e r dieser Voraussetzung wirkten auch jene großen Wissenschaftler inspirierend, denen die Lehre - wie Hegel oder H e l m h o l t z - eine beständige M ü h e war. G i b t es nun für die drei zuletzt genannten Merkmale aus der akademischen Geschichte von Berlin eine spezifische Relevanz im Blick auf die heutige Situation der deutschen Universitäten - oder ist es naive und im schlechten Sinn „romantische" Festtagsrhetorik, sie im Status von O r i entierungen ins Feld zu führen? D i e Frage müsste ja gerade in Berlin legitim und vielleicht sogar willkommen sein, da es der Humboldt-Universität in den vergangenen zwei Jahrzehnten noch nicht gelungen ist, an ihre ganz große Tradition von vor hundert Jahren anzuschließen. Dabei beziehe ich mich nicht auf den Exzellenz-Wettbewerb unter den deutschen Universitäten, in deren ersten Runde sie nicht zu den Gewinnern gehörte - denn dies könnte durchaus ein verdecktes Symptom von Exzellenz gewesen sein. D o c h es ist erstens mein Eindruck, dass aufgrund des Stils akademischer Berufungen in Deutschland ein Streit der Fakultäten und Positionen als Quelle intellektueller Intensität heute nicht mehr entstehen kann. E h e r dominiert eine manchmal als „Interdisziplinarität" gepriesene, aber meist sterile Komplementarität und eine H o m o g e nität wissenschaftlicher Schulen, die das Feld der Forschung in eine Landschaft von Zäunen, Wällen und voreinander sicheren Burgen verwandelt hat. Positionen, die als grundlegend anders von der eigenen erfahren werden, ächtet man schnell mit dem Anathem der „Unwissenschaftlichkeit." Zweitens lässt sich die produktive Diskontinuität zwischen Forschung und ihrer praktischen Anwendung dort kaum durchhalten, wo die Qualität der Forscher vor allem an ihrem Erfolg bei der Drittmitteleinwerbung bemessen wird. D a m i t hat der deutsche Staat seine Universitäten auf eine problematische Fremdbestimmtheit verpflichtet. U n d drittens können die Bologna-Beschlüsse und die aus ihnen erwachsenden Verpflichtungen wohl nicht verwirklicht werden, ohne dass man Forschung und Lehre ganz offiziell voneinander entkoppelt, was „Freistellung von der L e h r e " mehr als je zuvor in einen akademisch-intellektuellen Ehrentitel verwandelt hat. Dies muss der G r u n d dafür sein, warum Universitätsgebäude heute oft - ganz entgegen den Hochschullehrer-Berichten von skandalöser Ueberbelastung - so eigenartig leer aussehen. Wer also die deutsche Universität in der spezifischen Situation ihrer Gegenwart als O r t intellektueller Lebhaftigkeit und Kraft erhalten möchte, der täte gut daran, den Streit der Positionen zu

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Hans Ulrich Gumbrecht

fördern, die Diskontinuität zwischen Forschung und Anwendung zuzulassen und an der Konvergenz von Forschung und Lehre festzuhalten. Ich verstehe solche Reaktionen als eine Verpflichtung, wie sie der akademischen Gegenwart aus der akademischen Geschichte von Berlin erwächst, als eine Verpflichtung, die man gegen die aus Drittmittel-Hysterie und Bologna-Schablonen entstehenden „Sachzwänge" kehren muss, mit unbeugsamer Leidenschaft.

Damit sind wir unversehens bei Wilhelm von Humboldt angelangt, dem klassischen Helden der Berliner Universitätsgeschichte. Als Direktor der Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts im preußischen Ministerium des Inneren war er es, der König Friedrich Wilhelm I I I . das offizielle Dokument zur Gründung einer Universität in Berlin vorlegte, wobei er - wie vor ihm schon Schleiermacher - besonders die potentielle wechselseitige Förderung zwischen den bestehenden akademischen Einrichtungen und einer zu gründenden Universität hervorhob. Berühmt geworden ist von Humboldts Memorandum Uber die innere und äußere der höheren

wissenschaftlichen

Anstalten

Organisation

in Berlin, das er allerdings nicht als offizielles Programm,

sondern allein für den privaten Gebrauch verfasst hatte und das erst 1910 wiederentdeckt und zuerst publiziert wurde. In diesem Text treten als Kern der modernen Universität drei miteinander verbundene Prinzipien hervor - Prinzipien, die uns allen vertraut sind, an die ich aber doch zur Verunsicherung des heute an den Universitäten vorherrschenden resignativen Pragmatismus erinnern möchte. Grundlegend ist die überraschend scharfe Unterscheidung zwischen dem Gymnasium, das alle Aufgaben der Wissensvermittlung übernehmen soll, und der Universität, wo „Wissenschaft immer als ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem" behandelt wird und die Wissenschaftler „immer im Forschen bleiben." Als Voraussetzung dafür fungiert die paradoxale Verpflichtung des Staates, seine Universitäten zu „alimentieren," ohne für sie jedoch Vorgaben oder gar Auflagen zu formulieren - weil eine an Orientierungen ausgerichtete Wissensproduktion nicht mehr im vollen Sinn innovativ sein kann. Vor allem beschreibt Wilhelm von Humboldt die Universität in vielfältigen Perspektiven und Tönen als O r t einer besonderen Form von Zusammenleben. „Einsamkeit und Freiheit" - wir können auch sagen: die Möglichkeit und die Fähigkeit zu strenger Konzentration - sind ihre Voraussetzung. In der Darstellung der akademischen Soziabilität selbst stehen erstaunlicherweise Worte wie „Gegenwart" und „Kraft," „begeisternd" und „absichtslos" im Vordergrund: „Da aber das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, und zwar nicht bloß, damit Einer ersetze, was dem Anderen mangelt, sondern damit die gelingende Tätigkeit des Einen den anderen begeistere und Allen die allgemeine, ursprüngliche, in dem Einzelnen nur einzeln oder angeleitet hervorstrahlende Kraft sichtbar werde, so muss die innere Organisation dieser Anstalten ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten. [...] Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler wird daher durchaus ein anderes als vorher. Der erstere ist nicht für die letzteren, Beide sind für die Wissenschaft da; sein Geschäft hängt mit an ihrer Gegenwart und würde, ohne sie, nicht gleich glücklich von statten gehen; er würde, wenn sie sich nicht von selbst um ihn versammelten, sie aufsuchen, um seinem Ziele näher zu kommen durch die Verbindung der geübten, aber eben darum auch leichter einseitigen Kraft mit der schwächeren und noch parteilos nach allen Richtungen mutig hinstrebenden."

Ob uns die Berliner Universitätsgeschichte

eine Verpflichtung ist

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Für das dritte Jahrhundert der Universität zu Berlin soll man den Berliner akademischen Einrichtungen wünschen, dass sie sich selbst neu entdecken als Orte gemeinsamer Gegenwart und belebender intellektueller Kraft.

Die Sekundenphilosophie Ein Gespräch mit Dieter Henrich

er Philosoph ! *

Dieter Henrich,

1 ken und Selbstsein S

blicke,

Genese philosophischer

ebenso wie für sein Leben prägend Philosophen, Herr Henrich,

einmal

Studien Uber Subjektivität

Denkender

interessieren

zu einer „Grundeinsicht"

wird. Darüber

Struktur, Ablauf

hinaus protokolliert

und Dauer philosophischer

die er unter das Stichwort „Sekundenphilosophie" wenn Sie von philosophischen

(zuletzt

2007), arbeitet derzeit an einer Untersuchung

Werke. In diesem Zusammenhang

in denen ein philosophisch

immer wieder

Verfasser mehrerer

Frankfurt/Main

Grundeinsichten

„Denüber die

ihn auch die Augen-

gelanget, die für sein Werk Henrich

Einfälle

seit vielen

Jahren

- Selbstversuche

eines

stellt. sprechen, was verstehen

Sie

darunter?

Zunächst einmal: Grundeinsichten, wie ich sie verstehe, sind in der Geschichte der Philosophie von großer Bedeutung. Sie finden sich bei ganz verschiedenen Philosophen und in sehr verschiedenen Zusammenhängen, so bei Wittgenstein, Husserl und Kant, so bei Nikolaus von Kues, Jakob Böhme und Pascal. Uberall treten solche Einsichtsmomente als Schlüssel für die gesamte Konzeption auf. Man muss sich natürlich fragen, wie es überhaupt verstehbar ist, dass Einsichten, die momentan oder in sehr kurzen Zeitperioden aufkommen und sich ausfalten und in diesem Moment immer schon in ihrer exzeptionellen Bedeutung erfahren werden, für die Philosophie, die doch Erkenntnis anstrebt, eine so große Bedeutung haben können. Übrigens stehen philosophische Grundeinsichten nicht für sich allein. Einsichten dieser Art treten auch in vielen anderen Zusammenhängen auf. So kann man eine distinguierte Folge von naturwissenschaftlichen Entdeckungseinsichten aufführen, die ebenfalls momentan erfolgt sind und durch die ein Problem gelöst wurde, das zuvor unlösbar schien. Archimedes mit seinem „Heureka!" ist der Namensgeber für diese Erfahrungen. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite haben wir das weite Feld der singulären Ereignisse im religiösen Leben: der Empfang einer Offenbarung oder

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Dieter

Henrich

einer Berufung, Paulus bei Damaskus, Mohammeds Bewusstsein, dass G o t t selbst ihm einen Text Stück um Stück diktiert hat, schließlich in den asiatischen Religionen die Erleuchtung als eigentliches Ziel eines kontemplativen Lebensweges. Man könnte ein ganzes Buch allein über diese religiösen Ereignisse schreiben. Und dann kann man noch die Künste hinzufügen, wo dann die Frage nach einer Art von Berufung auf den künstlerischen Weg noch zu unterscheiden ist von der Intuition, in der eine Werkidee gefasst wird. Nun haben Ernst Kris und Otto Kurz in ihrer „Legende vom Künstler" gezeigt, dass vieles davon auf späterer Zuschreibung oder Selbststilisierung beruht. Gibt es auch die Legende vom Philosophen? Die gibt es auch, sicherlich, und man kann davon ausgehen, dass beispielsweise Rousseau, in dessen Biographie ein solches Erlebnis eine ganz große Rolle spielt, dieses Ereignis literarisch stilisiert hat. Aber es gibt doch die anderen Fälle, in denen an der Authentizität kaum ein Zweifel sein kann. Ein Beispiel dafür ist Pascal. Pascal hat, nachdem er in zwei Nachtstunden aus dem Konflikt zwischen dem christlichen Glauben und der philosophischen Ordnung befreit worden ist, in fliegender Schrift sein so genanntes Mémorial auf ein Stück Papier geschrieben und dies in seinen Rock eingenäht, wo man es bei seinem Tod gefunden hat. Da kann man nun nicht sagen, dass es sich um eine Selbststilisierung handelte. Bei Augustinus andererseits liegt das nahe. In seinen Konfessionen spielt die Begründung einer Glaubenssicherheit, mit dem Nimm-und-Lies-Moment der Erfahrung in Mailand, eine große Rolle. Es ist ja auch begreiflich, dass ein Philosoph oder ein auf andere Weise kreativer Mensch seine Werkgenese mit einer solchen Beglaubigung versehen will. Aber man kann die Rätselfrage, wie sich solche Einsichten erklären, nicht allein auf diese einfache Weise beantworten. Fichte ist für mich ein anderes Beispiel, in dem literarische Stilisierung keine Rolle gespielt hat, weil Fichte das sein Werk prägende Ereignis nirgends öffentlich mitgeteilt hat. Trotzdem ist es dokumentiert, und ähnlich ist es bei Wittgenstein, wo von den Ereignissen, die bei ihm eine Rolle gespielt haben, diesen Aha-und Einsichtsereignissen, nur in gelegentlichen Erzählungen, nicht aber, wie bei Rousseau, in Selbstdarstellungen die Rede ist. Unter all diesen Aha-Erlebnissen, diesen fundamentalen Evidenzen, diesen Einsichtserlebnissen der Kunst bis in den religiösen Bereich - was ist das Spezifische der philosophischen Einsicht?

von

Ich meine, dass man unter diesen Einsichtsmomenten verschiedene Komponenten unterscheiden kann. Wir haben übrigens noch gar nicht von gewissen, auch sehr wichtigen Ausprägungen desselben Phänomens in ganz alltäglichen Zusammenhängen gesprochen. Einsicht ist ja auch ein Forschungsbereich der Psychologen. U n d dabei ist weder von der Kunst noch von der Religion, der Philosophie oder der Mathematik die Rede, sondern etwa wie man ein kompliziertes Werkzeug richtig einsetzt oder wie man eine kleine Denkaufgabe löst... ... das alltägliche Aha-Erlebnis, wie es jeder kennt... ... ja, die Einsicht, die die Psychologen auch experimentell untersuchen können. Aber zurück zur Philosophie: Ich bin der Meinung, dass die prägenden Einsichtserlebnisse der Philosophen zwei Elemente in innerer Verbindung enthalten, die man bei Archimedes und auf der anderen Seite in den religiösen Einsichts- und Offenbarungserfahrungen nur separat beobachten kann. Die Phi-

Die Sekundenphilosophie

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losophie ist eine begründende Wissenschaft. Sie steht vor einer Problemlage, die sie durchschauen, gliedern und dann auf einen Weg zur Lösung bringen muss. Insofern hat sie etwas mit der Einsicht gemein, die viele Naturwissenschaftler hatten. Aber zugleich ist in diesen philosophischen Einsichten immer die Eröffnung einer Lebensperspektive mit vollzogen. Natürlich gibt es auch Philosophen, die rein archimedische Einsichten hatten, wie etwa Carnap. Es gab bei ihm einen Moment, in dem ihm die logische Syntax der Sprache klar wurde. Aber das ist wie die Einsicht, die Poincaré hatte, als er eine bestimmte Klasse von Funktionen entdeckte... ... das wäre also eine epistemische oder rein kognitive

Einsicht...

... ja, da fehlt diese Perspektive f ü r den Lebensweg, die bei Wittgenstein, bei Husserl oder ganz deutlich bei Nietzsche gegeben ist. Es gibt philosophische Einsichten, die dem Religiösen sehr nahe kommen. N e h m e n Sie Pascal: Das ist eigentlich eine religiöse Konversion. Aber doch nicht nur, denn indem er in den zwei Mitternachtsstunden versteht, dass der Gott, dem die Philosophen nachdenken, nicht der Gott ist, von dem die Bibel spricht, dass dies ein ganz anderer Gott ist und dass man für diesen Gott keine andere Quelle der Gewissheit als die Bibel selbst hat. Das Philosophische darin ist diese Gegenposition zum G o t t der Philosophen. Eine ähnliche Konversionseinsicht findet sich bei Rousseau, bei dem allerdings die theoretische Komponente viel größer ist. Auch er sagt - wobei man nicht weiß, in wie weit das die historische Wahrheit ist - , dass er in jener halben Stunde in größerer Intensität als jemals danach den Gehalt seiner folgenden Werke vor sich gesehen habe. Anders gesagt, die philosophischen Einsichten können dem Religiösen näher stehen, oder sie können dem Archimedischen näher stehen, aber wenn sie für ein philosophisches Werk bedeutsam geworden sind, enthalten sie beide Komponenten in einer Einheit, die in dem Moment gar nicht durchschaubar ist. In dem Moment wird dem, der diese Einsicht hat, gleichzeitig, ohne dass dies reflektiert geschieht, etwas von dem, was seine Aufgabe als Philosoph ist, bewusst, nämlich eine Theorie und eine Lebensperspektive in einem Wurf und inneren Zusammenhang zu entwickeln. In einem Wurf und nicht auf zwei distinkten Linien ? Ist da nicht auf der einen Seite die epistemische oder kognitive Linie und auf der anderen Seite die existenzielle, auf der es heißt, du sollst dein Leben ändern? Nein, das ist eben nicht so. Man sieht das bei Descartes. Der hatte drei Träume in der Nacht, und im Traum spielt die Formel „Welchen Weg sollst du gehen?" eine dominante Rolle. Aber gleichzeitig ist der Weg, der da gemeint ist, der auf Wissenschaft begründete Weg - die Konzeption einer neuen Wissenschaft, die gegen den Zweifel immun ist und zu einer Gewissheit führt, die ihm vorher gefehlt hat. Er selbst deutet die Traumsequenz in diesem Zusammenhang. Also der Lebensweg ist mit dem theoretischen Projekt ganz unmittelbar verbunden, und das macht diese Einsichtsmomente so faszinierend und zu etwas für die Philosophie Charakteristischem. Man muss sich rückerinnern an Piaton, der schon wusste, dass die alles entscheidende Einsicht plötzlich kommt, aber auch nur nach Vorbereitung, nach angestrengter Vorbereitung, plötzlich aufleuchtet. Mir fällt auf, dass Sie dieses Moment des Plötzlichen sehr stark betonen, das Moment der Intuition oder der plötzlichen Erleuchtung, des Einblicks als Blitz, wie Heidegger formuliert hat. Während das

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Dieter Henrich

langsame Heraufdämmern einer Erkenntnis auf dem Weg der Ahnung, das Wolfram Hogrebe beschrieben hat, für Sie offenbar nicht so im Fokus steht. Man kann Ahnungen haben, die sich verdichten. Aber sie lösen kein Problem und führen nicht zu einer Werkidee. Was ich in diesem Punkt zur Einsicht sage, entspricht auch dem, was über die Einsicht allgemein als Phänomen unter Psychologen geläufige Annahme ist: dass man nicht im Stande ist, sie hervorzubringen, und dass man nicht wissen kann, ob sie kommt oder nicht kommt. Sie muss einen überkommen.

Für Ahnungen gilt ebenfalls, dass sie nicht selbst gemacht oder selbst hervorgebracht sind. Ja, auch Ahnungen können einem plötzlich aufkommen. Aber die Ahnung geht doch auf eine letzte, hintergründige Wahrheit, von der man erfährt, dass es sie geben muss, zu der man aber nun nicht gelangt, während für die Einsichten, von denen ich spreche, die kristalline Klarheit und Deutlichkeit charakteristisch ist. Dazu gehört auch, dass in dem Moment der Zweifel daran, ob diese Einsicht täuschend sei oder nicht, gar nicht aufkommt. Und weiterhin gehört zu diesen Einsichten, dass in demselben Moment schon die bindende Lebensbedeutung erfahren wird und zudem dies, dass, was man jetzt erlebt, nicht reproduzierbar sein wird. In der momentanen Erfahrung ist auch schon das Einmalige der Situation enthalten.

Es handelt sich also um eine Erfahrung sowohl der Erstmaligkeit als auch zugleich der Unwiederholbarkeit? D e r Moment der fundamentalen Einsicht ist nie wiederholbar. Diese Überraschung, dort, wo man vorher nur, oft hilflos, getastet hat, plötzlich in völliger Klarheit zu stehen, kann nicht noch einmal wiederholt werden, jedenfalls nicht, solange man den Augenblick in Erinnerung hat. U n d damit ist ein drittes Charakteristikum berührt: D e r Moment ist unvergesslich. Offensichtlich sind solche Momente nicht vom Vergessen bedroht, und wer sie erfährt, weiß das auch sogleich. Wittgenstein beispielsweise hat seine Erfahrung von der Möglichkeit unbedingter Sicherheit im Leben mit Anfang zwanzig gemacht und erst sehr viele Jahre später nebenbei darüber berichtet. Auch Fichte hat von seinem Einsichtsmoment, der sich 1793 ereignete, erst viel später in kleinen Kreisen erzählt.

Wenn dieser Augenblick so absolut unalltäglich ist, so querstehend 7.u den normalen Vorgängen des Bewusstseins, muss man dann von einem ekstatischen Augenblick im Sinn der Mystik sprechen? Es wird ja häufig von einer Lichterfahrung berichtet, insofern spielt das Wort „Licht" eine Rolle ebenso wie in der Mystik. Über Pascals Mémorial steht das Wort „feu", also Feuer. Auch Kant spricht, wenn er die lange Zeit des Nachdenkens und dann das Aufkommen einer Durchsicht beschreibt, von einem Mehr an Licht, also der Zusammenhang der Wortfelder Aufklärung und Erleuchtung ist ganz offensichtlich. U n d das hat auch etwas zu tun mit der Erfahrung außerordentlicher Intensität, die in diesen Momenten offenbar gewaltet hat. Auch im ganz normalen Leben der Menschen gibt es solche prägenden Erfahrungen, in denen eine Durchsicht sich einstellt, die dann unvergesslich ist. Das geht sogar bis in den Bereich der Entscheidungstheorie hinein - ein Zusammenhang, den ich erst vor kurzem gesehen habe. Es gibt Entscheidungen, die

Die Sekundenphilosophie

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unrevozierbar sind, und zwar nicht in dem Sinne, dass man sie nur schwer durch Änderung seines Vorsatzes aufgeben kann, sondern dass sie mit einem Moment des Entschiedenwerdens so verbunden sind, dass jeder Versuch einer Revision auf den massivsten inneren Widerstand stoßen würde. Das sind Entscheidungen, die nicht in Frage gestellt werden können, und ich könnte mir vorstellen, dass bei der Entscheidung zum Priesterberuf oder in vergleichbaren Situationen solche Folgen auch eintreten. Also das ist ein ganz weites Spektrum, in dem in unserem Lebensvollzug Festlegungen geschehen. U n d ich würde darüber nicht so reden können, wenn ich nicht selber auch solche Erfahrungen gemacht hätte.

Hat es für Sie auch einen solchen Augenblick gegeben, wo sich die Perspektive eröffnet hat, die alles entschieden hat, Ihren Weg als Forscher, aber auch Ihren Lebensweg? Nein, ich habe eine solche Einsicht, in der eine philosophische Perspektive allbezüglich aufging, nicht gehabt. Ich hatte solche Erfahrungen auf dem Lebensweg, aber sie waren nicht werkkonstitutiv, und sie sind sogar in Widerspruchsverhältnissen stehen geblieben. Nach dem bin ich also offensichtlich kein großer Philosoph. Ich würde nicht denken, dass mein Werk, wenn hier überhaupt von einem Werk gesprochen werden darf, von einer ursprünglichen Erfahrung her strukturiert ist. Ich bin immer noch dabei, Grunderfahrungen, die ich im Leben gemacht habe, zusammenzuführen. Und es ist durchaus möglich, dass mir ein eigentliches Hauptwerk, also etwa ein systematisches Werk über Selbstbewusstsein und Selbstsein, eben deshalb nicht gelingen kann. Dass mir keine neue Formidee, die gerade für dieses Thema die richtige wäre, kommt, weil sich jene Zusammenführung nicht in einer Evidenz ergibt, welche die Rücksicht auf gegenläufige Grundperspektiven überhöht und zugleich für mich wahrheitsfähig macht. Bei Kant, das lässt sich zeigen, hat sich eine solche Durchsicht ergeben, als er Rousseaus Emile gelesen hat. D a möchte zwar auch eine literarische Stilisierung im Spiel sein; aber immerhin steht dazu der Bericht in einer Biographie von einem Schüler Kants, die Kant selbst revidiert hat, und die entsprechenden Passagen hat er stehen gelassen. So hat er offenbar vorher einmal davon erzählt. Es gibt auch viele Hinweise dafür, so zum Beispiel, dass Kants Königsberger Haus frei war von Bildern, mit einer einzigen Ausnahme: einem Stich von Rousseau. Daneben gibt es Zeugnisse von ihm, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Es gibt in Notizen zu einem kleinen Werk von ihm eine Stelle, die zum Bewegendsten gehört, was Kant geschrieben hat, ein echtes Bekenntnis. Es hat mich schon als Student immer ergriffen, wenn er schreibt (ich zitiere nach dem Gedächtnis), ich selbst bin aus Neigung Forscher, ich kenne den ganzen Durst nach Erkenntnis und die Befriedigung bei jedem Fortschritt. Es gab eine Zeit, da glaubte ich, dies alles könne die Ehre der Menschheit ausmachen, und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß. Rousseau hat mich zurecht gebracht... So steht es da, er ist zurecht gebracht worden, er hatte ein Korrektionserlebnis.

Das sind ja Situationen, in denen das Individuum, mit Freud zu sprechen, nicht wirklich Herr im eigenen Denkhaus ist, sondern von anderer Seite heimgesucht wird, also von Gedanken aufgesucht wird, die es vermutlich in keinem Augenblick willentlich hätte hervorbringen können. Dennoch wäre das Phänomen mit Passivität allein vermutlich unzureichend beschrieben. Was da passiert, ist ein hochgradig produktiver Akt in einem Subjekt, der aber von ihm nicht kontrollierbar ist. Heute spricht man gern von Kreativität. Die Psychologen forschen dazu seit

58

Dieter Henrich

bald hundert Jahren. Die Gestaltpsychologen haben das zuerst als Thema aufgegriffen, als sie den Behaviorismus widerlegen wollten. Ihnen zufolge geschieht die eigenständige Bildung von Einsichten durch Umorganisation des gesamten Problemfeldes. Mittlerweile geht die Forschung dahin, den Vorgang, in dem die Einsicht zustande kommt, weiter zu differenzieren und die Operationen zu verstehen, die im Hintergrund laufen, wenn man versucht, ein Problem zu lösen und nicht erfolgreich ist - und dann plötzlich sieht, wie man es lösen kann. Das ist ein Ereignis, das auf Voraussetzungen basiert, aber nicht von ihnen herleitbar ist. Es gab eine Zeit, in der die Psychologie bestritt, dass es solche Einsichten überhaupt gibt. Inzwischen halten die Psychologen das für weitgehend ausgemacht und versuchen, zu neurologischen Erklärungen zu greifen und zu zeigen, dass das Gehirn einen Bereich von Verschaltungen hat, in dem verschiedene Problemlösungsbereiche aufgerufen und dann zusammengeführt werden. Das ist allerdings weitgehend hypothetisch und bezieht sich immer auf so einfache Fälle wie eine Denksportaufgabe oder ein Suchbild, während wir es hier mit ungleich komplexeren Situationen zu tun haben, bei denen es zudem nicht nur um einen Erkenntnisakt geht, sondern auch um den Erkennenden selbst und seinen Lebensweg. Diese anderen, die archimedischen Einsichten, die kann man auch wieder vergessen, und tatsächlich vergisst man sie zumeist. Wir haben ja täglich irgendwelche Einsichten, ganz banale, wie man eine Sache hinbekommt, nachdem man es zunächst nicht gekonnt hat. Wenn wir ein Tagebuch führen

oder ein Ideentagebuch,

stoßen, die wir eben erst mit Mühe wieder ersonnen ren schon einmal formuliert ihn aber wieder

denken,

passiert es uns ja auch, dass wir auf

haben, nachdem

hatten. Anders gesagt, wir hatten den Gedanken

weil wir ihn zwischenzeitlich

vergessen

Dinge

wir sie vor zwei oder drei schon einmal,

Jah-

mussten

hatten.

Ja, das kommt häufig vor. Aber bei diesen lebensprägenden Einsichten ist das nicht so; die ereignen sich einmal und nicht wieder und werden auch nicht wieder vergessen. Vielleicht gäbe es gar keine Religion, wenn es so etwas nicht gäbe. Wie verhalten

sich demgegenüber

die Phänomene,

von denen Sie mir einmal als

phien " erzählt haben ? Sind diese näher am Alltag und Alltagsgeschäft

„Sekundenphiloso-

des Philosophen

?

Sie haben nicht diese lebensprägende Bedeutung. Es sind Sonderphänomene im Bereich dessen, was man Einfall im Zusammenhang mit normalem Arbeiten nennt. Die Einsichten, von denen wir bis jetzt sprachen, sind etwas anderes, Singuläres, als Einfall nicht treffend Bezeichnetes. Einfälle hat man sehr viele. Auch für sie ist charakteristisch, dass sie plötzlich und ungerufen kommen, in der Regel sind sie auch nicht unvergesslich, ganz im Gegenteil. Ich bin überhaupt zum Niederschreiben von Gedanken gekommen, als mir - sehr spät - klar wurde, dass Einfälle zu philosophischen Problemverwicklungen nicht wiederkommen oder jedenfalls in der Regel nicht wiederkommen. Jedenfalls nicht in der jeweiligen Klarheit und Vielbezüglichkeit. Also grundlegende rakterisiert eigentlich tenf

und unvergessliche

Einsichten

nun die „Sekundenphilosophien nur aufgezeichnet,

einerseits, flüchtige Einfälle

", die Sie gelegentlich

aufgezeichnet

andererseits.

Was cha-

haben ? Haben

um sie nicht zu vergessen, oder weil sie Ihr Interesse als Forscher

Sie die weck-

Die

Sekundenphilosophie

59

G e m e i n s a m ist beiden, der E i n s i c h t v o n singulärer L e b e n s b e d e u t u n g und dem banalen E i n fall, der erledigt ist und vergessen wird, sobald ich gemacht habe, was mir einfiel, gemeinsam ist ihnen, dass sie stationär sind: E i n e m o m e n t a n e E i n s i c h t tritt ein, die mir eine Welt e r s c h l i e ß t . R o u s s e a u sagt, alle seine Werke habe er in einer halben Stunde, viel tiefer als er sie hätte schreiben k ö n n e n , v o r Augen gehabt. D a ereignet sich ein D u r c h b l i c k , der sich in der E r f a h r u n g auch irgendwie weiter entfaltet und vertieft, aber dabei vollzieht sich kein F o r t s c h r i t t in der E n t w i c k l u n g eines G e d a n k e n s . Im Einfall passiert etwas A h n l i c h e s , nur Banaleres: M i r fällt etwas h e i ß ein, und dann fällt mir dazu vielleicht n o c h weiter ein, was alles passieren k ö n n t e , wenn ich j e t z t nicht das und das gleich mache. A b e r der Einfall ist m o m e n t a n , stationär und isoliert, während das, was ich mir zur S e k u n d e n p h i l o s o p h i e getauft habe, wesentlich ein A b l a u f ist, eine S e q u e n z über manchmal ganz neue Stufen und A s p e k te. In einer Situation k o m m t m i r zunächst ein G e d a n k e , der auf diese Situation, sie auslotend, B e z u g hat. D a n n k o m m t mir sogleich ein Einwand: S o kann es gar nicht sein, denn das und das und das spricht dagegen, dann wird die erste T h e s e wieder a u f g e n o m m e n und dem E i n w u r f ein G e g e n z u g entgegengestellt, s c h l i e ß l i c h folgt wieder eine E i n w e n d u n g dagegen. A l s o , es gibt ein F ü r und W i d e r im M o m e n t , bis es zu einer S c h l u s s p o i n t e k o m m t , einer A r t S c h l u s s f o r m u l i e r u n g , die das G a n z e z u n ä c h s t einmal a b b r i c h t . D i e s e Sequenz, und das ist das eigentlich E r s t a u n l i c h e daran, ist aber nur sekundenlang: D a s , was man sich etwa als einen D i a l o g ausgearbeitet vorstellen k ö n n t e , einen D i a l o g zwischen einem Materialisten und einem T h e o s o p h e n zum Beispiel, das vollzieht sich hier in drei Sekunden. U n d der Verlauf ist auch nicht ausdehnbar: D e r Z u s t a n d , in dem so etwas intensiv und in so g r o ß e r Klarheit abläuft, ist auf eine ganz knappe Z e i t b e s c h r ä n k t . G e l e g e n t l i c h dauert es ein bisschen länger, aber i m m e r passiert es in rasanter G e s c h w i n d i g k e i t und zugleich im M o d u s distinkter Durchsicht.

Hat dieser Ablauf in jedem Fall die eben beschriebene rhetorische Struktur von Rede und Widerrede? Das ist jedenfalls die F o r m , die ich am auffälligsten finde. Es gibt auch andere Verlaufsformen, bei mir jedenfalls - ich habe ja noch nie mit jemandem darüber gesprochen, kann also jetzt nur über mich selber reden; ich vermute aber, dass, wenn man sie einmal darauf gebracht hat, sich viele andere finden werden, die solches auch bei sich beobachtet haben. - Vielleicht gibt es auch irgendwelche Zeugnisse dazu, mir sind bisher allerdings keine solchen bekannt geworden. Eine andere Möglichkeit für den Verlauf ist die Verzweigung des Einfalls nach dem Muster: Ah, darauf muss ich mich konzentrieren, und dann folgt das und das. U n d weiter: Wenn aber das folgt, dann folgt ja auch noch das und das, und auf einmal kann ich einen ganz neuen Zusammenhang erkennen, auf den ich gerade gekommen bin.

Also dialogisch-dialektisch dann...

oder sequenziert in Form eines Blitzbaums: und dann und dann und

J a , richtig, und das kann man sich auch kombiniert vorstellen. N u r passiert das derart schnell, dass es gar nicht sprachlich gefasst sein kann. Ich sollte besser sagen: das kann nur in Sprachskizzen geschehen. D i e notwendige Zeit, um auch nur einen komplexen Satz innerlich auszusprechen, wäre viel länger als ein solcher Sekundenverlauf.

60

Eine Art Skizze in Neurokurzschrift

Dieter Henrich

oder Neurostenof

Sehr schön, ja, irgendetwas in der Art. Das hängt wieder mit dem Problemkreis Sprache und Denken zusammen. Natürlich kann es sein, dass man sprachlich Artikuliertes in Blitzsekundendauer vollziehen kann, so dass es zwar sprachlich ist, aber nicht ausartikuliert. Gesprochen wäre es jedenfalls undenkbar. Wenn man sich das notieren will, muss man es erst einmal in dialogische Sprache übersetzen, so dass immer schon eine kleine Ubersetzungsleistung im Spiel ist. Trotzdem habe ich mir immer wieder einmal solche Abläufe aufgeschrieben, weil mir entweder der Gehalt wichtig war oder der Verlauf faszinierend erschien. Es ist eben auch ein extraordinärer Zustand. N u n kennt ja jeder, der Bücher schreibt oder komponiert, das Folgende genau: Die Alltagsgestimmtheit ist so ein bisschen konfus, erregt oder beruhigt, je nachdem, aber nicht fokussiert in einem tiefen Sinne. Man kann dabei sogar Mehreres zugleich erledigen. Wenn man aber in eine Passage des Schreibens hineingerät, in der auf einmal der Gedankenfluss einen trägt, dann kommt eine ganz andere Gestimmtheit auf. Und diese emotive Seite ist ja überhaupt in all diesen Phänomenen sehr schwer zu fassen. Es müssen nicht immer beglückende Gefühle sein, die einen Einfall begleiten. Es kann sein, dass man sich freut, weil es ein Einfall zum Thema ist, der einen weiterbringt. Aber es kann auch ein Einfall sein, der besagt, dass darüber ja der und der schon geschrieben habe und dass ich das jetzt besser erst einmal nachsehe. Panofsky hat einmal gesagt, alle sechs Wochen habe ich einen Einfall. Und zwischendurch arbeite ich. Er will wohl sagen, ich arbeite uninspiriert etwas ab oder aus. Das ist witzig, aber ich würde ihm nicht glauben, dass diese Arbeit sich fernab von jeglichem Einfall vollzieht. Denn eine Werkkonzeption, wie er sie sicher dabei im Auge hatte, beruht selbst auf einem Einfall. Wenn Sie Ihre „Sekundenphilosophien" aufgezeichnet haben, haben Sie dann sozusagen Ergebnisprotokolle geschrieben, oder haben Sie auch versucht, das Phänomen als Phänomen zu beschreiben? Nein, ich habe dann versucht, den Inhalt, also die Sequenz selbst festzuhalten. Also wenn die Sekunden vergangen waren und ich dachte, das war doch wahrlich interessant. Nicht etwa, weil ich dachte, es sei für irgendwen oder irgendetwas wichtig, sondern weil es als Verlauf in sich interessant war. U n d dann habe ich es aufgeschrieben, möglichst bald, denn sonst geht es ganz verloren, ähnlich wie Träume. Haben Sie auch zu grafischen Darstellungen gegriffen oder versucht, das Phänomen räumlich stellen?

darzu-

Nein, es ist eigentlich immer linear. Es gibt wohl auch Fälle, wo sich das aufschlüsselt, so dass die eine Sequenz noch eine andere auslöst und vielleicht in die andere überspringt. Das habe ich dann Sekundenkaskade genannt. All das kommt sehr schnell zum Erlöschen. Begrenztheit spielt dabei überhaupt eine große Rolle, man könnte sich ja sonst vorstellen, dass ein ganzes Buch in dieser Rapidität zustande kommt. Aber das geschieht nicht. Bestenfalls ergibt sich eine Werkidee, verbunden mit der Gewissheit, dass sie ausführbar ist, was freilich dann wirklich Arbeit nach sich zieht. Niemals gelangt ein ganzes Werk in Sekundenschnelle in Ubersicht, und niemals

Die Sekundenphilosophie

61

wird die Konzeptionssekunde oder Sequenzsekunde zu einer solchen Stunde, in der alles da ist und das ganze Werk sich wie ausgeführt schon zeigt. Mit welcher Zeitdauer haben wir es denn in der Regel zu tun? Sie ist noch viel kürzer als das, was man die Präsenzzeit nennt, also die Zeit, bei der wir uns nicht erinnern. Wenn wir eine kleine Melodie pfeifen, einen Satz sagen, dann ist der Satz für uns Gegenwart, obwohl er ein Verlauf ist. Jetzt muss ich mich schon an den Satz, den ich gerade eben zu Ihnen gesagt habe, erinnern, d. h., die Präsenzzeit ist zu Ende. Man hat ausgemessen, wie lange diese Präsenzzeit ist, es sind einige Sekunden. Die Sekundenphilosophie kann jedenfalls viel kürzer sein. Und sie durchläuft nicht nur einen, sondern sehr viele Satzgehalte. Als wir erstmals davon sprachen, sagten Sie, der Schnitt liege bei 1,7

Sekunden.

Ja, in sehr charakteristischen Fällen. Ich habe aber jetzt noch mal nachgeschaut, und bei einigen hatte ich die Dauer unten hingeschrieben. Es gibt eine von , und dann noch eine, die bei höchstens drei Sekunden liegt, die meisten anderen waren wohl kürzer. Das Interessante daran ist aber die stürzende Sequenz bei völliger Klarheit und Ruhe in sich. Liegt es an der notwendigen

Höhe der Intensität, dass die Sequenz nach wenigen Sekunden

abbricht?

Das weiß ich nicht. Es ist häufig so, dass man denkt: Hier hätte es jetzt eigentlich weitergehen müssen, aber es ist abgebrochen. Das habe ich sogar gelegentlich notiert: Hier müsste man weiterdenken, aber es ist nicht weitergelaufen. Tritt das Phänomen

zu bestimmten

Zeiten sehr hoher Konzentration

vermehrt

auf?

Auch das weiß ich nicht. Es ist sicher abhängig von einer gewissen Gesamtlebensintensität. Es kommt nicht, wenn man von irgendetwas Wichtigem oder auch diffus abgelenkt oder wenn man niedergeschlagen ist. Also nicht in der Zerstreuung, sondern in Phasen starker

Konzentration?

Ja, aber auch dann ist es nicht so, dass es kommt, während man angestrengt arbeitet, sondern ähnlich wie die Einsichten kommt es gerade nach einer Pause. Das ist auch in der Literatur und dann auch von den Psychologen immer betont worden, dass man, um eine Einsicht zu haben, ,abschalten' muss. Gibt es Unterschiede

in der

Deutlichkeitf

Ich würde sagen, nein. Die Luzidität des Verlaufs ist ein wesentliches Charakteristikum. Und sind solche Einfälle Phänomenef

ausschließlich

visuelle Phänomene,

oder kennen Sie sie auch als

akustische

62

Dieter Henrich

Nein, das Hören spielt keine Rolle. Ich habe allerdings einmal ein Berufungserlebnis gehabt. D a ich nun ein westlicher Wissenschaftsbürger in entzauberter Welt bin, habe ich dem keinen Glauben geschenkt. Aber ich bin sicher, wenn ich dieses Erlebnis in einer anderen Zeit gehabt hätte, wäre ich ihm gefolgt. Es wäre ebenso lebensprägend gewesen, wie es unvergesslich ist.

War das Ereignis religiöser Natur? Und hörten Sie oder sahen Sie etwas? Nein, nein, es war so, ich hörte eine Stimme. Deshalb komme ich jetzt auch darauf, weil Sie nach akustischen Aspekten fragten. Aber es war keine akustisch hörbare Stimme. Das gilt ja wohl auch für Paulus vor Damaskus. Man kann eine Stimme hören, die nicht eigentlich verlautet und sich nicht in Worten artikuliert und die doch etwas sagt. In meinem Fall ging es um eine Aufgabe, eine Art von Berufung, eine wichtige Lebensaufgabe zu erfüllen, und die Versicherung, dass gerade ich es könne und tun müsse. Aber es war nicht im eigentlichen Sinne religiös, keine Bekehrung oder Einweihung.

Ein Ruf, aber nicht in sprachlicher Form? Die Berufung muss nicht in formulierten Worten erfolgen. Jesus wird zu Saulus nicht wörtlich gesagt haben: „Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich?", sondern Saulus wird die Frage überfallen haben, warum eigentlich er die Christengemeinden bekämpft, und zwar so, dass dieser Uberfall nicht als aufkommend aus ihm selbst heraus erfahren wurde. Saulus muss sich hinsichtlich von Grund und Sinn seines Verhaltens schon längst unsicher gewesen sein. Wir leben ja alle in solchen Ambivalenzen, also ich jedenfalls tue das - auch philosophisch. Und ich denke, dass alle großen Philosophen einen solchen inneren Adversarius haben. Bei Wittgenstein ist das ganz deutlich. Immerfort redet ihm der Skeptiker herein, und selbstredend ist er dieser selbst. Dagegen wird dann die eigene Position immer subtiler formuliert, bei Kant etwa gegen „den Empiristen". Der Philosoph muss eben immer eine Wahrheit gegen eine Herausforderung geltend machen. Seit Ende des 18. Jahrhunderts gibt es dann die Philosophie, die in einer Doppelgestalt auftritt, wo also dieser Widerstreit im Leben selbst Thema wird oder wo der Philosoph eigentlich zwei Philosophien hat. Jacobi hat das als erster realisiert. Hegels Phänomenologie des Geistes ist im Grunde eine riesige Aufsteigerung dieses ständigen Sich-selber-Einreden-Machens. Bei mir ist es der mathematisch subtilisierte Materialismus der modernen Physik, der als herausfordernde Versuchung diese Rolle spielt.

Tritt diese Spaltung auch in den Sekundenphilosophien

aufi

Auch in den Sekundenphilosophien kommt das häufig vor, ja. Ich habe mich schon gefragt, ob die Sekundenphilosophien nicht überhaupt ihren Ursprung in Ambivalenz haben. Sie zeigen eine gewisse Entwicklung hin zu einer vorläufigen Klarheit, also eine Tendenz, die Ambivalenz entfallen zu lassen, aber es kommt nicht wirklich dazu. Anders in der Einsicht, von der man sagen könnte, dass sie auch das Wegfallen aller Ambivalenz zum Erfahrungsgehalt hat, und eben damit tritt jene vollkommene Gewissheit ein. Man könnte daran jetzt eine Anthropologie anschließen und sagen, dass eben das Menschenleben diese Ambivalenzkonstitution hat und dass von daher auch der Philosophie ihre singuläre Rolle zuwächst. Dann wäre möglicherweise in den kommen-

Die

Sekundenphilosophie

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den Jahrhunderten noch einmal eine Philosophie zu erwarten, welche die Ambivalenz stehen lässt und ausarbeitet und in ihrem Vollzug das Wesen des Endlichen, vielleicht auch die Präsenz eines Un-End-lichen aufweist, statt wie Jacobi oder Kierkegaard oder Wittgenstein, die ja allesamt Denker der Ambivalenz waren, einem Triumph über sie nachzustreben. Wie verhalten sich nun die Phänomene, die Sie als Sekundenphilosophie aufgezeichnet und beschrieben haben, zu dem, was wir gewohnt sind, als Gedanken zu beschreiben und zu erleben? Sie sind eine Aufgipfelung von Gedanken, und so natürlich ein Denken. Die Psychologen unterscheiden, wenn sie über Denken reden, zwischen Abstraktion, Problemlösen und Schlussfolgern. Was wir hier besprechen, gehört überwiegend in den Bereich des Problemlösens. Und für einen großen Bereich des Problemlösens ist auch diese Spontaneität, dieses Nichtsteuerbarsein charakteristisch. Sie sagten, um zu den Sekundenphilosophien zurückzukommen, rung von Gedanken, eine Art Superposition ...

es handele sich um eine Aufsteige-

... ja, aber auch in der Form eines Unterlaufens. Also: Ich habe einen Gedanken, den kann man, das sehe ich plötzlich, so und so begründen und einleuchtend machen. Es folgt der Einspruch: Gegen diese Fundierung lässt sich doch Folgendes sagen - also es ereignet sich ein Unterlaufen - und dann eventuell eine Restitution unter neuen Bedingungen. Die dialektische Situation kompliziert sich im selben Maß, wie sich der Pro- und Kontra-Ablauf der Sekundenphilosophie vollzieht. Es gibt in jedem Fall eine Entwicklung; man ist am Ende weiter, als man am Anfang abgesehen hat. Ist das der Arbeitsprozess des Denkens? Es ist kein Investment von Arbeitsenergie im Spiel. Es vollzieht sich einfach. Die Gedanken folgen einander so, sie ergeben sich. Ich muss mich nicht irgendwie anstrengen, wie das häufig im Gespräch oder in einer Debatte der Fall ist: Was sage ich jetzt darauf? Aber es kann ja auch in der Debatte vorkommen, dass sie sich schwebend weiterspinnt und man sofort weiß, was darauf jetzt zu sagen ist. Haben Ihre Aufzeichnungen darüber, wie Ihr Denken verläuft, haben diese Selbstversuche in irgendeiner Weise Einfluss auf Ihre Arbeit und Ihr Werk gehabt ? Also ich würde nicht sagen, dass diese Sekundenphilosophien mir die grundsätzliche Richtung, die ich nehmen sollte, gewiesen haben. Sie haben auch keine meiner Arbeiten bestimmt. Aber das, worüber ich nachdenke, wird in solchen Sekundenphilosophien in eine neue Beleuchtung gebracht und vielleicht auch in einen neuen Suspense, eine Unsicherheit, denn der Ausgang ist ja offen. Man kann sagen, man gewinnt dabei eine Ubersicht über einen Plafond, einen neuen Aspekt einer Problemlage. Sie haben mir erzählt, dass Sie auch Ihre Träume protokollieren. Wie hoch veranschlagen Sie im Vergleich zu den Sekundenphilosophien die Evidenzen, die der Traum verschafft?

64

Dieter Henrich

Die Traumprotokolle habe ich aufgegeben. Ich habe in Träumen wohl auch Philosophengespräche gehabt, die ich mir niemals hätte ausdenken können, und Begegnungen mit Philosophen, aus denen ich dann etwas gelernt habe. Lebenden und toten Philosophen ? Mit beiden. Ich diskutierte, um Beispiele zu nennen, oft mit Heidegger, und ich war bei Kant in der Vorlesung. Aber das hat keine tiefgehenden Einsichten, nicht solche momentanen Durchsichten erzeugt. Ich kann mich auch nicht erinnern, ein problemlösendes Aha-Erlebnis im Traum gehabt zu haben. Aber es wäre interessant, der Frage nachzugehen und sie an andere zu richten. Aber dieser Kant, den Sie da im Hörsaal erlebt haben, hat Ihnen der nicht eine stärkere KantEvidenz oder Kant-Präsenz vermittelt als Ihre Lektüren? Nein, dieses Zeugnis etwa, das ich zitiert habe, .Rousseau hat mich zurecht gebracht', das hat mich tiefer beeindruckt. Im Traum in der Vorlesung zu sitzen, das bedeutete, ihn selbst und sein ganzes Ambiente zu sehen, vermittelte auch die Freude, den großen Denker sehen zu können und zu hören, wie er redet. Aber Begegnungen mit Texten haben eine ungleich größere zündende Bedeutung, so jedenfalls scheint es mir.

Das Gespräch führte Professor Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach.

Peter Graf Kielmansegg

Bausteine der Republik

D

ie Zahlen, mit denen die Demoskopie uns versorgt, sind eindeutig, und sie sind niederschmetternd. Wann immer nach dem Vertrauen der Bürger in Institutionen und Organisationen des politischen Raumes gefragt wird, die Parteien rangieren an letzter Stelle. Sie

rangieren dort weit abgeschlagen, drei von vier, ja vier von fünf Bürgern bekunden, dass sie kein

Vertrauen zu den Parteien haben. Nicht nur in Deutschland ist das so. Das Verdikt über die Parteien ist fast überall das gleiche. Das ist der eine Ausgangsbefund. Der andere: Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist man sich in der Politikwissenschaft darüber einig, dass der demokratische politische Prozess auf Parteien angewiesen ist. In den Worten eines Großmeisters der empirischen Demokratieforschung des vergangenen halben Jahrhunderts, des amerikanischen Soziologen Seymour Martin Lipset: „Parteien bilden die zentrale Institution demokratischer Politik." Und, noch entschiedener: „Demokratie ist ohne Parteien nicht denkbar." Die zweihundertjährige Geschichte der modernen Demokratie scheint das zu bezeugen. Wir kennen keine Demokratie ohne Parteien. Was ist von dieser spannungsreichen Konstellation zu halten - hier deutliche Hinweise auf eine tiefe Kluft des Misstrauens, die Bürger und Parteien trennt, dort das Urteil derer, die es wissen sollten, ohne Parteien könne Demokratie nicht funktionieren? Beginnen wir mit der Frage: Wie gut begründet ist das Urteil, Demokratie sei ohne Parteien nicht denkbar? Ist es nicht vielleicht doch ein Zufall, dass in allen funktionsfähigen Demokratien Parteien eine Schlüsselrolle im politischen Prozess spielen? Es wäre ein erstaunlicher Zufall. Aber erstaunliche Zufälle gibt es. Erst der Nachweis, dass hier eine historische Logik am Werk war und eine systemische Logik weiterwirkt, kann diese Möglichkeit ausschließen. Er lässt sich in der Tat führen. Historische Logik meint: Der Prozess der Entwicklung der modernen Demokratie seit dem späten 18. Jahrhundert hat Parteien hervorgebracht, weil er ihrer zu seinem Fortgang bedurfte. So war es tatsächlich. Parteien formierten sich gemäß der Logik eines Regelsystems, das Politik

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Peter Graf

Kielmansegg

in der entstehenden repräsentativen Demokratie als friedlichen Wettkampf um Regierungsmacht organisierte, als einen Wettkampf, der durch Wahlen entschieden wird. Besonders anschaulich führt das die Geschichte der evolutionären angelsächsischen Demokratien Großbritannien und USA vor Augen. An ihrem Beispiel lässt sich eine dreifache Dynamik studieren. Parteien formieren sich, erstens, in den Repräsentativkörperschaften, weil die Bildung stabiler Gruppen sich zunächst als vorteilhaft und dann, sobald der Prozess einmal in Gang gekommen ist, als unabdingbar für die Ausübung von politischem Einfluss in der Institution Parlament erweist. In dem Maße, in dem Parlamente mächtiger werden - und es ist ein wesentlicher Aspekt des Demokratisierungsprozesses, dass Parlamente mächtiger werden - , entfaltet diese Logik ihre Wirkung. Man kann das in allen Parlamenten des 19. Jahrhunderts bis hin zur Paulskirche beobachten. Die Parlamente sind recht eigentlich der Ort, an dem Parteien entstehen. Die historische Logik der Parteienbildung wirkt aber, zweitens, auch aus den Parlamenten in die Gesellschaft hinein. Die Verleihung des Wahlrechts an einen immer größeren Kreis von Wählern ist hier der entscheidende Impuls. Die Fähigkeit, eine unüberschaubare Vielzahl von Wählern zu gewinnen und möglichst dauerhaft an sich zu binden, wurde entscheidend im Kampf um Regierungsmacht. Diese Fähigkeit konnte nur durch den Aufbau von Organisationen und die Sicherung von - für die Wähler wahrnehmbarer - Organisationsidentität über Zeit geschaffen werden. Parteien waren die Antwort. Drittens: Die Logik der Parteienbildung wirkte auch in der Gegenrichtung. Die politische Arena öffnete sich im Demokratisierungsprozess im Regelfall ja nicht gleichzeitig für alle. Diejenigen, die zunächst ganz ausgeschlossen blieben oder sich benachteiligt sahen, mussten sich formieren, um Rechte der Teilhabe zu erkämpfen. Sie mussten sich organisieren. Und das heißt nichts anderes als: Sie mussten Parteien bilden. Dieser dritte Impuls ist vor allem bei der Entstehung von Arbeiterparteien wirksam geworden. Mit einer gewissen Zwangsläufigkeit also lenkte die Logik des Machtwettbewerbs im Demokratisierungsprozess die Entwicklung in Richtung Parteienbildung. Aber historische Zwangsläufigkeiten, die sich für eine bestimmte Phase der Demokratieentwicklung feststellen lassen, sind nicht ohne weiteres mit dauerhaften systemischen Notwendigkeiten gleichzusetzen. Die Frage muss also noch einmal gestellt werden: Welche Leistungen erbringen Parteien im politischen Prozess der Demokratie, die gerade nur sie erbringen können? In der modernen Demokratie, die in der Hauptsache repräsentativ verfasst sein muss - auch direktdemokratische Interventionsverfahren setzen eine funktionierende repräsentative Demokratie voraus - , sind Wahlen der entscheidende Akt der Ausübung des bürgerschaftlichen Letztentscheidungsrechts. Unsere Frage kann deshalb so gefasst werden: Sind Wahlen als Modus der Beteiligung einer beliebigen Vielzahl von Bürgern an der Politik ohne Parteien denkbar? Starke Gründe sprechen dafür, dass die Antwort Nein lauten muss. Parteien, dies ist das grundlegende Argument, reduzieren in zwei Schritten politische Komplexität so weit, dass eine nicht blinde Massenbeteiligung an politischen Entscheidungen überhaupt erst möglich wird. Eine unorganisierte Vielzahl von Menschen - „das Volk" - kann, wenn sie Entscheidungen treffen soll, nur reagieren. Sie kann nur aus einer sehr begrenzten, überschaubaren Zahl von Entscheidungsoptionen, personellen oder sachlichen, auswählen. Diese Entscheidungsoptionen müssen dem Kollektiv präsentiert werden. Erst dadurch wird es entscheidungsfähig. Genau das leisten die Parteien im Wettbewerb miteinander. Das ist der erste Schritt der Reduktion von Komplexität.

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Theoretisch wäre denkbar, dass diese Reduktion immer wieder neu, von Wahl zu Wahl, von Ad-hoc-Organisationen geleistet wird, die auf die aktuellen Konstellationen reagieren. Aber das wäre für die Anbieter von Entscheidungsoptionen mit extrem hohen Organisationskosten und für die Wähler mit extrem hohen Informationskosten verbunden. Organisationskontinuität reduziert diese Kosten auf beiden Seiten drastisch. Organisationskontinuität aber heißt wiederum: Parteien. Das ist der zweite Schritt der Reduktion von Komplexität durch Parteien. Massenbeteiligung an der Politik, die, wie eben formuliert, nicht blind, nicht zufällig ist, durch Reduktion von Komplexität möglich zu machen ist nur die elementarste Funktion, die Parteien im demokratischen Prozess und für den demokratischen Prozess erfüllen. Diese erste, grundlegende Funktionsbestimmung lässt sich konkretisieren, ausweiten, ergänzen. U m das wenigstens in einigen Stichworten zu tun: Parteien sind wichtig für die Umsetzung von Wahlentscheidungen in Politik. Sie sind wichtig, um Entscheidungen Akteuren zurechnen zu können; sie sind wichtig, heißt das, für die Transparenz von Verantwortungsstrukturen. Parteien sind wichtig für die Institutionalisierung von Opposition, und sie sind wichtig für die Schaffung stabiler parlamentarischer Mehrheitsstrukturen, auf die zumindest parlamentarisch verfasste Demokratien angewiesen sind. In der Summe heißt das: Es ist nicht erkennbar, wie der demokratische politische Prozess ohne Parteien ablaufen könnte. Wenn es denn so ist, dass sowohl die Geschichte als auch die Funktionslogik der modernen Demokratie für die Unentbehrlichkeit von Parteien sprechen, dann ist der Prozess zunehmender Entfremdung zwischen Bürgern und Parteien, auf den die Umfragedaten so deutlich hinweisen, in hohem Maße beunruhigend. Dafür, dass diese Daten ernst zu nehmen sind, sprechen viele Indizien: Die Wahlbeteiligung sinkt. Bei den Bundestagswahlen 1972 lag sie bei 91 Prozent, 2009 noch bei knapp 71 Prozent. Dramatisch weniger Bürger als vor 20 oder 30 Jahren sind Mitglied einer Partei. Protestbewegungen, Protestparteien, die aus dem Stand Wähler in beträchtlicher Zahl mindestens vorübergehend für sich mobilisieren können, sind eine gewohnte Erscheinung geworden.Und was die Wahlforscher als zunehmende Volatilität der Wählerschaft beschreiben, ist sicher nicht nur Indiz wachsender Souveränität des Wählers, sondern auch Ausdruck seiner steigenden Ratlosigkeit. Wir haben keinen Grund, heißt das, die Zahlen schönzureden, die uns sagen: Vertrauen in die Parteien ist in dieser Republik wie in den meisten anderen Demokratien ein sehr rares Gut geworden. Warum diese tiefe Parteienskepsis? Natürlich gibt es Antworten, die sich unmittelbar aufdrängen. Spiegelt sich im Urteil der Bürger über die Parteien nicht vor allem die Überforderung der Politik durch die Wähler wider, die ein Grundproblem der Demokratie ist? Sind es überdies nicht die Parteien selbst, die den Bürgern unablässig einhämmern, der jeweilige Gegner verdiene kein Vertrauen, breche sein Wort, handle verantwortungslos, bediene allein seine Klientel? Dazu das Bild, das die Medien von den Parteien zeichnen - ein Bild, in dem die negativen Züge deutlich dominant sind. Aber die Antwort erschöpft sich nicht im Offensichtlichen. Eine weiterführende Spur verdient besondere Beachtung: Es gibt eine merkwürdige Korrespondenz zwischen der Stimmung der Bürger in der demokratischen Welt von heute und einer sehr grundsätzlichen Parteienskepsis, ja Parteienfeindlichkeit der klassischen republikanischen Theorie. Der ältere Republikanismus hat den organisierten Partikularismus zutiefst gefürchtet. Diese Furcht wurzelte in dem alten, aus den Erfahrungen der antiken Polis wie der mittelalterlichen Stadt genährten Axiom der republi-

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kanischen Theorie, dass Parteiungen in einem freiheitlichen Gemeinwesen immer potenzielle Bürgerkriegsparteien seien. D e r Bestand einer Republik, so lässt sich das A x i o m auf den Punkt bringen, setzt die E i n m ü tigkeit ihrer Bürger voraus. Es gehört zu den großen Leistungen der modernen Demokratie, dass sie dieses republikanische D o g m a dort, wo sie gelingt, außer Kraft setzt. Organisierter friedlicher Konflikt nicht als Vorstufe des Bürgerkriegs, sondern als Alternative zum Bürgerkrieg, als Wesenskern geradezu des demokratischen politischen Prozesses - mit dieser Versöhnung von politischem Konflikt und gesellschaftlichem Frieden hat die moderne Demokratie die Politik auf ein neues zivilisatorisches Niveau geführt. Aber die tiefe altrepublikanische Parteienskepsis wird damit nicht einfach obsolet. Diese Skepsis blickt nicht nur zurück. Sie antizipiert auch auf erstaunliche Weise Fehlentwicklungen der modernen D e m o k r a t i e . D i e organisierte Macht der Partikularismen gibt ja auch der modernen Demokratie P r o b l e m e auf. Parteien sind zwar idealtypisch, im Modell der pluralistischen D e m o kratie, nicht als organisierte Partikularismen, sondern als Agenten konkurrierender G e m e i n wohlkonzeptionen zu verstehen; das ist ein prinzipieller Unterschied. D o c h in der Realität sind sie immer auch Verfechter zumindest eines Partikularinteresses, ihres Interesses an sich selbst nämlich. U n d sie laufen Gefahr, in der Verfolgung ihres Interesses an sich selbst ihr eigener Z w e c k zu werden. Sie werden selbstbezüglich. Rousseau, vermutlich der wirkungsreichste Repräsentant des klassischen Republikanismus, hat es so formuliert: F ü r jedes organisierte Partikularinteresse wird das eigene Interesse zum Gemeinwohl. Selbstbezüglichkeit bedeutet vor allem: Wichtig wird der Besitz der Regierungsmacht in erster Linie deshalb, weil er eine h o h e Rendite für die Partei selbst, insbesondere ihre Führungsschicht, abwirft. U n d so wächst die Bereitschaft, fast jeden Preis für die Eroberung oder die Verteidigung von Regierungsmacht zu zahlen. Praktisch heißt das insbesondere: O b e r s t e Maxime der Politik wird es, jedes Risiko des Verlustes von Wählerstimmen zu vermeiden. Man tut das, indem man Problemen so lange wie irgend möglich ausweicht, sie vor sich herschiebt, Lasten auf die Zukunft überwälzt. Die D e m o s k o p i e wird zum Hauptkompass für die Politik. Parteien aber, die ganz und gar auf diesen Kompass fixiert sind, Parteien, so wäre in unserem Argumentationsduktus zu formulieren, die zu ihrem eigenen Zweck geworden sind, werden tendenziell gemeinwohlunfähig. Ist es, um zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren, das, was die Bürger -

vielleicht

undeutlich - empfinden, wenn sie auf die Fragen der D e m o s k o p e n ihre Meinung über Parteien kundtun? So einfach liegen die Dinge vermutlich nicht. D i e Bürger urteilen, ohne es zu wissen, indem sie über die Parteien urteilen, auch über sich selbst. In ihrem Urteil artikuliert sich, pointiert formuliert, eine Art von politischer Schizophrenie. Das Urteil der Bürger ist einerseits, abstrakt sozusagen, an Gemeinwohlmaßstäben festgemacht; die bestimmen beispielsweise den strengen K o d e x von Verhaltensregeln, an dem die Öffentlichkeit den einzelnen Politiker misst. Das Urteil

der Bürger ist zugleich aber auch, konkret, Ausdruck des

unreflektierten

Anspruchs, die Politik habe selbstverständlich seine, des jeweiligen Wählers, Interessen zu bedienen. Dahinter verbirgt sich, wiederum unreflektiert, die Vorstellung von einer Art von Arbeitsteilung. D i e Gemeinwohlverantwortung tragen die Politiker, die Wähler dürfen an sich selbst denken. D e m o k r a t i s c h e Politik aber funktioniert mit dieser Art von Arbeitsteilung nicht, schon gar nicht in Zeiten, in denen die Politik keine andere Wahl mehr hat, als den Bürgern etwas zuzumuten. Wähler bestimmen in der repräsentativen Demokratie in letzter Instanz die Handlungs-

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Spielräume der Politik. N u r wenn die Wähler die Gemeinwohlverantwortung der Politik zumindest respektieren, hat die Politik den Handlungsspielraum, diese Verantwortung auch wahrzunehmen. Wie kann die Demokratie mit diesem Dilemma leben, wie mit ihm umgehen? Demokratie gibt es als handelndes Subjekt natürlich nicht. Es gibt eine Vielzahl von Akteuren, die in unterschiedlichen Rollen den demokratischen politischen Prozess gestalten. Sie alle müssten sich diese Frage stellen. Wenn sie das täten, wäre schon viel gewonnen. U n d sie alle müssen die Einsicht ernst nehmen, dass es eine Garantie für das Gelingen von Demokratie nicht gibt. Das notwendige Minimum an Gemeinwohlorientierung gewährleisten nicht schon die Institutionen von sich aus. Sie bieten nur eine Chance, die Handelnden müssen das ihre dazu tun. Die wichtigste Voraussetzung dafür, dass sie es tun, ist, dass der politische Prozess immer auch, unermüdlich und unerbittlich, als Prozess der Aufklärung aller Beteiligten durch alle Beteiligten über die Verantwortung, die sie in einem freiheitlichen Gemeinwesen tragen, begriffen und betrieben wird.

Foteini Kolovou

Byzantinistik heute: eine weltferne Wissenschaft? Perspektiven eines „Orchideenfachs"

A

uf die Frage einer Studentin in Paris nach meinem Forschungsschwerpunkt habe ich das Stichwort Byzanz erwähnt in der, wie es sich herausgestellt hat, naiven Hoffnung, dass die junge Frau damit etwas anfangen könne. D e n n immerhin sind die Wörter „byzantin"

und „byzantinisme" fest, wenn auch negativ, in der französischen Sprache verankert, man denke etwa an „discussions byzantines", was so gut wie überflüssige verschnörkelte Diskussionen nach der Art der Byzantiner bedeutet. O d e r man denke an die Geschichte Frankreichs im 17. Jahrhundert, als Byzanz als politisches Vorbild fungierte und in Paris die ersten europäischen Ausgaben byzantinischer historiographischer Texte unter der Ägide König Ludwigs X I V entstanden. „Byzance, mais c'est un parfum!?" war die Reaktion meiner Gesprächspartnerin, die offensichtlich von meinem „Glück" überrascht war. Ich auch. Denn das betörend duftende edle Parfum existiert in der Tat. Nach diesem Gespräch habe ich ähnlich amüsante Erfahrungen in anderen europäischen Ländern, darunter auch in Griechenland - hélas!, aber auch in Deutschland gemacht. Hier bei uns gibt es „Byzantiner", verwandelt in sündhaft köstliche dunkle Pralinen für Genießer. Sollen etwa der Luxus- und der Innovationsgeist einiger Unternehmer die tausendjährige Geschichte des byzantinischen Reiches, welches Geschichte und Kultur Europas geprägt und geformt hat, der Vergessenheit entreißen? Gewiss sind auch nur wenige über die Existenz solcher Luxusartikel informiert, manche Kunst- und Geschichtsinteressierte kennen immerhin - den Kreuzfahrern sei gedankt! - einige Schwerpunkte des Faches Byzantinistik (warum denn auch mehr!?), und noch weniger wissen etwa, dass Schiller die Ubersetzung eines byzantinischen Meisterwerkes der Historiographie des 12. Jahrhunderts, der „Alexias" Anna Komnenes, herausgegeben hat. Kaum bekannt ist, dass

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Foteini

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Goethe als erster den Begriff „byzantinisch" für die Kunst geprägt hat oder dass Hegel in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte" von Byzanz gesprochen hat - allerdings, von dem byzanzfeindlichen Geist und den Ressentiments der Aufklärung beeinflusst, nicht besonders schmeichelhaft als „eine tausendjährige Reihe von fortwährenden Verbrechen, Schwächen, Niederträchtigkeiten und Charakterlosigkeit". N u r in Fachkreisen sind die byzantinischen Projekte Ludwigs II. von Bayern bekannt, der, einer politischen und religiösen Utopie folgend, die Schlösser Linderhof und Falkenstein neben dem Schloss Neuschwanstein nach byzantinischen Vorbildern gestalten wollte. Und nur schwer kann man heute erahnen, dass das Bundeswappen Deutschlands byzantinischer Herkunft sein könnte; der oströmische Doppeladler blickte nach Osten und nach Westen des seit 395 getrennten O s t - und Weströmischen Reiches, der Bundesadler blickt nur nach Westen.

Das Ansehen der Byzantinistik Das Fach mit dem exotischen Namen Byzantinistik, europaweit zum ersten Mal 1896/97 an der Universität München von Karl Krumbacher begründet und an der Universität Leipzig seit Anfang des 20. Jahrhunderts als eigenständiges Doppelfach „Byzantinische und Neugriechische Philologie" vertreten, gehört immer noch zu den so genannten „Orchideenfächern". Dadurch entsteht die aktuellste, verschönernde, jedoch nicht zutreffende Assoziation zwischen Byzanz, Byzantinistik und dekadentem Luxus. Denn die Wahrheit ist, dass das Fach heute immer noch sehr bescheiden und in die Defensive gedrängt vor sich hin lebt. Und gewiss ist es kein überzeugendes Argument in einer stark ökonomisierten Wissenschaftspolitik, ein kleines kulturwissenschaftliches Fach im Sinne des humanistischen humboldtschen Bildungsideals zu unterstützen, es vor dem Abschaffen zu retten oder gar es neu zu gründen, nur weil etwa, um einige wenige Beispiele zu nennen, Schiller, Goethe, Hegel und Ludwig II. von Bayern Byzanz in ihre Gedankenwelt integriert hatten, bzw. weil der Bundesadler einen byzantinischen Vorfahren hatte. Oder doch?

Bedeutung von Byzanz Es besteht Consensus darüber, dass nicht alle wissenschaftlichen Erkenntnisse ad hoc und einzeln nützlich sind oder sein sollen, sondern sie erst und wenn überhaupt in größeren Zusammenhängen allmählich erworbenen Wissens an Bedeutung gewinnen und zum Verständnis eines komplexen Phänomens beitragen können. Trotzdem ist einiges Byzantinische vielen modernen weltoffenen Europäern, welche Wissenschaftspolitik treiben, noch nicht bewusst - und beim Versuch eines Byzantinisten, historisch relevante Aspekte zu erläutern, besteht gleich der unbegründete Verdacht auf Beschönigung, Verklärung und Hochjubeln von Byzanz. D o c h es geht nicht darum, die Bedeutung der Byzantinistik überzubewerten; es wäre genauso falsch, wie der Byzantinistik den verdienten Wert abzusprechen. Es geht erst nur darum, die Bedeutung von Byzanz innerhalb der europäischen Geisteswelt zu verstehen. Denn Tatsache ist: O h n e die unermüdliche Kopiertätigkeit der Byzantiner bei Kerzenlicht in Klosterbibliotheken, Denkstübchen und Mönchszellen wären die Ideenlehre des Piaton und die Logik des Aristoteles verloren gegangen und die Originaltexte in griechischer Sprache dem modernen Europa verborgen geblieben - außer einigen

Byzantinistik beute: eine weltferne Wissenschaft?

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wenigen spätantiken Papyrusfragmenten sind alle Überlieferungsträger, Pergament- und Papierhandschriften, byzantinischer H e r k u n f t . D i e medizinischen Traktate von Hippokrates und Galen, die G e o m e t r i e des Eukleides oder das Archimedische Prinzip, um nur einige wenige Beispiele aus Wissenschaften außerhalb der Philologie und Philosophie zu nennen, hätten ohne die Kopier- und Kommentiertätigkeit der Byzantiner und ohne die leidenschaftliche O f f e n h e i t der arabischen Welt für Wissen und Wissenschaften das lateinischsprachige mittelalterliche Europa nie erreicht. O h n e Byzanz wäre die italienische Renaissance unvollendet geblieben, genauso wäre die O r g e l in der westlichen kirchlichen Musik undenkbar. Das römische R e c h t hätte ohne die Kodifizierung der Digesten durch die Rechtspolitik Justinians unter dem humanen Einfluss des Christentums und ohne intensive Erforschung des Pandektenrechts an deutschsprachigen U n i versitäten im 19. J h . nie die Basis für das moderne europäische Privatrecht bilden können. Dass der Rationalismus der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert ein Zerrbild von Byzanz geschaffen hat, in dem er eine Epoche des Niedergangs und der Dekadenz des oströmischen Reiches, eine Zeit des Absolutismus, des Obskurantismus und des Triumphes von Religion und Barbarei sah, erklärt bis zu einem gewissen Grad die Entwicklung der byzantinischen Studien in den europäischen Universitäten, oft betrieben von Byzantinisten wider Willen. D o c h nicht nur die Haltung der Aufklärung Byzanz gegenüber, auch die Bildungspolitik und die Selbstwahrnehmung der modernen Griechen, welche sich lieber mit ihren antiken glanzvollen A h n e n der Athener Demokratie als mit den unmittelbaren, im Schatten des Mittelalters blühenden und in höfische Skandale verstrickten Vorfahren identifiziert sahen, sind F a k t o r e n , die dazu geführt haben, dass der Begriff „Byzantinismus" in allen europäischen Sprachen, sogar im Griechischen, negativ geprägt ist und als Synonym für Kriecherei, Schmeichelei, Engstirnigkeit und unfruchtbaren Scholastizismus gilt. M i t dem Historismus des 19. und 20. Jahrhunderts und der Welle des Philhellenismus, der mehr an der A n t i k e orientiert war, kam auch die Wende für die byzantinistischen Studien.

Neue Perspektiven D o c h B y z a n z war nicht nur Religion, theologische Diskussionen, G e b e t und Furcht vor dem Jenseits. D e r von der Aufklärung vernachlässigte und verachtete weltliche Charakter von Byzanz ist vor allem vom Münchner Byzantinistik-Professor H a n s - G e o r g B e c k ( 1 9 1 0 - 1 9 9 9 ) angemessen und in gebührender Weise hervorgehoben worden. B e c k hat 1977 in seiner Schrift „Byzantinistik h e u t e " vor der Selbstzufriedenheit der Byzantinistik gewarnt und ihr das Streben nach neuen Ufern, nach neuen Perspektiven und M e t h o d e n als Ausweg aus der Isolation gezeigt. D e r B e c k ' s c h e n Souveränität verdanken wir eine kritische Revision des Phänomens Byzanz. Denn der Byzantiner (zumindest der Intellektuelle) liebte „Urbanität, W i t z und literarisches Spiel" zu sehr, u m ständig an das ewige Leben im H i m m e l und das Schwelgen im Paradies zu denken. Und er war als Bewunderer des homerischen Odysseus redegewandt und intelligent genug, die Grenzen der O r t h o d o x i e geschickt zu überschreiten, wenn sie ihm eng zu sein schienen. D e r Zweifelsweg führte immer durch die antike Philosophie, die zwar in Byzanz traditionell durch die Jahrhunderte zum Universitätsunterricht gehörte, von der Kirche jedoch stets als Gefahr für ihre dogmatische Integrität angesehen worden ist. In dieser weltlichen Literatur der Byzantiner, aber auch in Werken, in welchen Philosophie und T h e o l o g i e zusammenfließen, sind Schriften zu finden, die nach literarästhetischen Maßstäben zum K a n o n der Weltliteratur gehören, wie etwa

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Schriften von Romanos Melodos, Michael Psellos, Anna Komnene, Eustathios von Thessalonike und anderen. Doch eine Rechtfertigung der Byzantinistik, nur weil Byzanz im Mittelalter als Rezipient, Uberlieferungsträger und Nacheiferer antiken kulturellen Gutes fungierte, wäre ungenügend und der Sache gegenüber ungerecht. Byzanz, das Reich, das sich in seinen Blütezeiten von der nordafrikanischen Küste, Mauretanien, Italien, der Balkanhalbinsel, Griechenland, Kleinasien, Armenien, Mesopotamien bis Syrien, Libyen und zum Nil-Delta erstreckte, um sich nach etwa einem Jahrtausend in kleine freie Kerne politischer Macht wie Trapezunt, Mystras mitten im von Osmanen besetzten Territorium zurückzubilden, hat einen Wert für sich als erfolgreiches politisches und wirtschaftliches Modell einer polyglotten und multikulturellen Gesellschaft. In seiner unbezweifelten Alterität, in seinem „anders sein" vermittelt Byzanz heute noch eine erstaunliche Modernität. Das byzantinische Reich hat ohne Zweifel die Anfänge Europas mitgestaltet. Der Mythos Byzanz hat Literaten inspiriert und die moderne europäische Literatur bereichert. Am schönsten wird der Mythos Byzanz von W B. Yeats konzis in Versen dargestellt: Durch die Anspielung auf Kaiser Theophilos, dessen hydraulisch sich nach oben und unten bewegender und von brüllenden goldenen Löwen bewachter kaiserlicher Thron, bei dem ein mit zwitschernden goldenen Vögeln geschmückter goldener Baum stand, alle westlichen Abgesandten in Erstaunen versetzte. Doch der Minderwertigkeitskomplex und der Neid des mittelalterlichen Westens der prachtvollen Kultur des griechischen Mittelalters gegenüber ist Vergangenheit. Der moderne wissenschaftliche Blick kann das Phänomen Byzanz sachlich als eine nicht wegzudenkende Komponente der europäischen Kulturgeschichte betrachten. Die Vermittlung von Kontinuität und Wirkung der griechischen Sprache, Literatur und Kultur von der Antike über Byzanz bis in die Moderne, als ein neuer, deutschlandweit innovativer Studiengang in Kooperation der Byzantinischen und Neugriechischen mit der Klassischen Philologie und der Alten Geschichte ist zum ersten Mal 2006 in den Studienplan der Universität Leipzig eingeführt worden und wird bis heute erfolgreich geführt. Trotz des von einigen NichtByzantinisten oder Byzantinisten wider Willen geleisteten Widerstandes gegen diese Selbstverständlichkeit, oder besser gesagt gerade deshalb, blickt man als Byzantinist der Zukunft optimistisch entgegen, dass eines Tages etwa Fragen wie „gefällt Ihnen Bach?", „gefällt Ihnen Piaton?", „gefällt Ihnen Psellos?", genauso selbstverständlich wahrgenommen und beantwortet, wenn auch nicht immer bejaht werden können. Denn, um mit H.-G. Beck zu sprechen: „Wissenschaft gedeiht dort, wo sie provoziert wird und sich dieser Provokation stellt und bereit ist, daran zu scheitern". Once out of nature I shall never take My bodily form from any natural thing, But such a form as Grecian goldsmiths make Of hammered gold and gold enamelling To keep a drowsy Emperor awake; Or set upon a golden bough to sing To lords and ladies of Byzantium Of what is past, or passing, or to come. W.B. Yeats, Sailing to Byzantium (1928)

Gudrun

Krämer

Distanz und Nähe Fragen einer kritischen Islamwissenschaftlerin

D

ie Islamwissenschaft ist eine eigenartige Wissenschaft, die quer liegt zu den Kategorien der deutschen Hochschule und o f t auch den Erwartungen ihres Publikums - keine bloße Regionalwissenschaft f ü r den N a h e n und Mittleren Osten, als die sie oft verbucht wird, und keine reine Religionswissenschaft, die viele in ihr vermuten, aber auch keine anwendungsorientierte Disziplin zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Probleme von der Integration bis zur Förderung einer offenen Bürgergesellschaft. Vieles an ihr ist kontrovers, wenn nicht unter den Fachvertretern selbst, dann in den Augen anderer, Muslimen wie Nichtmuslimen, Freunden des Islam wie seinen Kritikern und Feinden. U n d derer gibt es, wie wir wissen, viele. Die Islamwissenschaft ist ein Fach voll Spannung - im doppelten Sinn des Wortes. Darin liegt ihr Reiz - und auch der ist doppeldeutig. Wie wenige Fächer fordert sie die stete Klärung des eigenen Standorts, der eigenen Perspektive. Ja, oft genug fordert sie regelrecht das Bekenntnis zu diesem Standort, dieser Perspektive. Diese Tendenz wird sich im Zuge der Etablierung bekenntnisgebundener „Islamischer Studien" an deutschen Hochschulen vermutlich noch verschärfen, die ja auf der Unterscheidung zwischen bekennenden und nicht-bekennenden Wissenschaftlern beruhen, die Grenze zwischen innen und außen bekräftigen und damit zugleich Distanz und N ä h e suggerieren.

Kulturi Religion,

Essentialismus

Die Islamwissenschaft ist - zumindest darüber herrscht, auch über die Unterscheidung von bekennend und nicht-bekennend hinweg, weitgehend Einigkeit - eine Kulturwissenschaft, deren Gegenstand sich durch den Bezug auf Religion konstituiert. Ü b e r den Kulturbegriff, der hier zum Tragen k o m m t , muss man seit dem cultural turn zum Glück nicht mehr streiten: Kultur

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Krämer

bezeichnet hier kein Subsystem mit einer eigenen Systemlogik, kein Feld menschlicher Tätigkeit neben anderen, das die Literatur, die Musik und die bildenden Künste umfasst, sondern ein über Zeit und Raum veränderbares Muster von Wahrnehmungen, Darstellungen und Handlungsweisen, das alle Lebensbereiche durchdringt und individuelles Handeln ebenso inspiriert und gestaltet wie die gesellschaftliche Ordnung. Das klingt anspruchsvoll und ist es auch, zumal wenn Kultur mit Bezug auf Religion definiert wird, mit all den Gefahren der Essentialisierung, vor der wir uns spätestens seit Edward Saids 1978 erstmals erschienener, fulminanter Kritik des Orientalismus zu Recht so fürchten. Die Beschäftigung mit dem Islam als Religion und Kultur und mit den durch den Islam in der einen oder anderen Weise „geprägten" Gesellschaften wirft Fragen auf, die den Wissenschaftler nicht zur Ruhe kommen lassen, zumindest dann nicht, wenn er oder sie an ihrem Tun gelegentlich auch zweifeln. Als Religion ist der Islam eine historische Größe, die - wie andere Weltreligionen - gewissermaßen a-historisch sein will, an einem Ort zu einer Zeit entstanden, aber an keinen Ort und keine Zeit gebunden, sondern für alle Orte und alle Zeiten gültig und verbindlich. Wir kennen, soweit wir keinen radikal-revisionistischen Thesen anhängen, seine Ursprünge: Westküste der Arabischen Halbinsel, ein Handelszentrum - Mekka - und eine Oasensiedlung - Medina; frühes 7. nachchristliches Jahrhundert und damit die Zeit der Spätantike; ein tatkräftiger Prophet von vierzig Jahren, der an die monotheistische Tradition offen anknüpft, sie in wichtigen Punkten aber anders deutet als die Juden und die Christen; eine ebenso tatkräftige Anhängerschaft, die für die Ausbreitung islamischer Herrschaft und die Ausarbeitung spezifisch islamischer Lehren in dem religiös und intellektuell so fruchtbaren Raum zwischen Bagdad, Damaskus und dem heutigen Kairo sorgt; als Ergebnis dieses Wirkens bis etwa 900 nach Christus, gut zweieinhalb Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten Muhammad, die Ausformung dessen, was man gemeinhin als klassischen Islam bezeichnet. Mit den anderen monotheistischen Offenbarungsreligionen teilt der Islam das Transferproblem vom Ursprungskontext auf die je eigene Gegenwart seiner Anhänger, allerdings in zugespitzter Weise: Natürlich haben auch die Juden und die Christen ihre heiligen Schriften. Aber im Islam ist der Status der Schrift doch ein besonderer: Der Koran ist nach islamischer Lehre Wort für Wort Gottes Wort, in „klarer arabischer Sprache" gehalten, von Menschen zwar niedergeschrieben, aber nicht von ihnen formuliert. Daraus folgt nun nicht, wie so häufig behauptet wird, dass der Koran nicht interpretiert werden könne oder dürfe. Das ist, mit Verlaub, manifester Unsinn: Jeder Text wird von seinen Rezipienten interpretiert, auch ein heiliger, und die Koranexegese (arab. tafsir) zählt zu den vornehmsten Feldern islamischer Wissenschaft, die heute ebenso gepflegt wird wie vor mehr als tausend Jahren. Die so genannte Prophetentradition (arab. Sünna), die in einzelnen Berichten (arab. Hadith) das Reden und Handeln des Propheten Muhammad übermittelt, verschärft das Transferproblem, denn Muhammad ist eine historische Gestalt, eingebettet in einen spätantiken arabischen Kontext. Wenn sein Reden und Handeln Muslimen auch in unserer eigenen Gegenwart als Rollenvorbild dienen soll, bedarf es erheblicher Anpassung - Anpassung entweder der Musliminnen und Muslime an das, was ihrer Uberzeugung nach Muhammad in konkreten Situationen gesagt und getan hat, oder Anpassung der Uberlieferung an die Bedürfnisse und Erwartungen heutiger Musliminnen und Muslime. Ohne Interpretation geht weder das eine noch das andere. Immer verlangt dies zugleich eine Zuweisung religiöser Autorität. Die einzelnen Stränge von Rückgriff, Aneignung, Umdeutung und Neugewichtung zu identifizieren gehört zu den spannendsten Auf-

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gaben der Islamwissenschaft. Islamische Reform, Modernisierung - vielleicht sogar Aufklärung? - rufen geradezu nach dieser Entwirrung der Stränge.

Islamische Reform Wie soll man als Muslim in der Moderne leben? (Ich sage mit Bedacht „soll", denn an dem „kann" kann kein Zweifel bestehen.) Die Frage steht nun schon seit mehr als einem Jahrhundert im Raum und hat ihre Aktualität, wie unsere eigene, bundesdeutsche Befindlichkeit zeigt, keineswegs verloren. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert impliziert islamische Reform, offen ausgesprochen oder nicht, immer auch die Auseinandersetzung mit dem Westen. Dass „der Westen" hier als Chiffre für die technologisch und machtpolitisch überlegenen industriellen und postindustriellen Gesellschaften Europas und Nordamerikas steht, sei als bekannt vorausgesetzt. Dass islamische Reform auch den Islamismus hervorgebracht hat, in diesem aber nicht aufgeht, und dass Islamismus mehr ist als Jihad und Scharia und patriarchalische Unterdrückung, könnte an sich ebenfalls bekannt sein, ist es aber nicht, jedenfalls nicht allgemein. Tatsächlich illustriert die islamische Reformbewegung einschließlich des politisch aktiven Islamismus geradezu mustergültig ein Phänomen, das in der Ethnologie und Sozialwissenschaft unter dem Stichwort „Tradition als Ressource" geführt wird. Ebenso mustergültig illustriert sie, was im Englischen so schön entanglement heißt - ein Ineinander-verhakt-sein, „Verwicklung", „Verwobenheit" oder mit dem aktuellen Modewort „Verflechtung" (nur mit Bezug auf den Nationalsozialismus ist immerzu von „Verstrickung" die Rede). Die Beziehungsgeschichte, um die es hier geht, zählt nach meinem Empfinden zu den reizvollsten Feldern der Geschichts- und Kulturwissenschaft. Ich hatte vor nicht allzu langer Zeit Gelegenheit, am Beispiel einer der Gründerfiguren des modernen Islamismus - des ägyptischen Muslimbruders Hasan al-Banna (1906 bis 1949) - das komplizierte Zusammenspiel unterschiedlicher Bezüge zu studieren, die in seinen Entwurf des modernen Muslims einflössen. Den Hintergrund bildet die koloniale Situation in seiner Heimat Ägypten und weiten Teilen der islamischen Welt. Eine Lehrschrift für die Jugendorganisation der Muslimbrüder aus den späten 1930er Jahren formuliert den Tugendkatalog, an dem sie sich orientieren sollten; auffällig dabei die Betonung der körperlichen und geistigen Disziplin und Selbstkontrolle nach dem Grundsatz des mens sana in corpore sano (ein gesunder Geist in einem gesunden Körper) und der Aufruf zum aktiven Einsatz für Nation und Gemeinschaft. Zur Begründung zitierte alBanna den Koran, der an einer Stelle den Grundsatz des „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott" andeutet; er berief sich auf die frühen Muslime als Rollenvorbilder, und er verwies auf Leitideen und Praktiken des Sufismus, der islamischen Mystik, in der er selbst groß geworden war. Sufismus und Islamismus gelten weithin als unversöhnliches Gegensatzpaar; das ist nicht ganz falsch, übersieht aber den Einfluss des Sufismus auf wichtige Varianten des Reformislam. Was dem distanzierten Betrachter allerdings ebenso auffällt wie die islamischen Bezüge, die alBanna benennt, sind die Referenzen, die er nicht nennt, aber eindeutig aufgenommen hat: An erster Stelle stehen hier die angelsächsischen Vertreter des self-help und moral improvement, die, zum Teil in arabischer Ubersetzung, seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nachweislich nicht nur in christlichen Missionsschulen, sondern auch in muslimischen Kreisen gelesen wurden. Ihren praktischen Niederschlag fanden self-help und moral betterment auf dem Feld von Bildung und Erziehung (einschließlich der Mädchenbildung), sozialer Fürsorge und zivilgesellschaftli-

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Krämer

chem Engagement, die gerade die islamischen Reformer nicht nur propagierten, sondern auch praktizierten. Die Verknüpfung unterschiedlicher Referenzen bei der Schaffung erkennbar moderner und zugleich als authentisch islamisch dargestellter Lebensentwürfe und Gesellschaftsmodelle muss jeden fesseln, der sich, an Weber und Bourdieu geschult, für die Beziehung zwischen religiös fundierten Werthaltungen, individueller Lebensführung, sozial vermitteltem Habitus und gesellschaftlicher Ordnung interessiert. Dabei interessieren zunächst die unterschiedlichen, zum Teil noch schlecht erforschten Kontexte, in die sich islamische Reformansätze einordnen - von Nordindien, Ägypten und Syrien im ausgehenden 19. Jahrhundert über das heutige Indonesien, Malaysia und Usbekistan im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bis zu den Gesellschaften Europas, Amerikas und Australiens des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Gewechselt haben mit den gewandelten globalen Machtverhältnissen auch die Referenzen: An die Stelle der britischen Fürsprecher des moral betterment sind vielfach amerikanische Propagandisten des seif management getreten. Zu den interessantesten Themen gehören heute Konzeptionen veränderter Gender-Rollen bis hin zu einem islamischen Feminismus oder auch die Propagierung von Effizienz, Leistung und happiness durch betont jugendlich auftretende islamische Prediger und Lebensberater.

Islam in der Möglichkeitsform Das alles ist nicht Aufklärung. Islamische Reform impliziert nur in seltenen Ausnahmen die radikale Infragestellung der islamischen Tradition samt einer historisch-kritischen Lektüre des Korans. Unterhalb dieser Schwelle aber eröffnet sie Perspektiven, als praktizierender, gläubiger Muslim in der Moderne nicht nur zu leben, sondern an ihr aktiv teilzunehmen, die zu beachten sich lohnt. Selbstbindung und Aktivierung, Disziplinierung und Individualisierung stehen - oft genug in einem irritierenden Spannungsverhältnis - nebeneinander. Das Engagement von Frauen in islamischen, ja selbst in islamistischen Vereinigungen verdeutlicht die Dynamik, die dabei entsteht und die emanzipierend wirken kann - aber nicht muss. Das ist der Punkt, der mir beim Umgang mit dem Islam und den Muslimen so wichtig erscheint: Die islamische Tradition bietet, wie jede andere Tradition auch, ein Reservoir, das unterschiedliche Möglichkeiten bereit hält. Wie das Judentum und das Christentum ist der Islam eine Religion der Möglichkeiten. Das ist kein Plädoyer für Apologetik und Schönfärberei. Eine kritische Betrachtung kann die Unduldsamkeit, nicht selten auch Gewalt gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen nicht ausblenden, die an unterschiedlichen Orten im Namen des Islam legitimiert und geübt wird. Aber anders als radikale Islamisten und ebenso radikale Islamkritiker - die beide den Islam als unwandelbare und homogene Größe definieren - versteht sie diese Phänomene nicht als einzig mögliche Form, den Koran zu lesen und den Islam zu leben, und tut andere Kräfte und Erscheinungen nicht als sekundär und irrelevant ab.

Zum Schluss J e länger man sich mit den aktuellen Debatten befasst, desto weniger fällt einem noch auf, wie schwer und lastend die Rede über den Islam geworden ist. Alles Leichte, Spielerische, Uneindeu-

Distanz und Nähe

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tige scheint sich zu verflüchtigen. Alles wird - und das spiegelt vielleicht eine spezifisch deutsche F o r m der öffentlichen Rede wider - zum Problem. Auch das ist ein Problem, denn „Leicht muss man sein, mit leichtem H e r z und leichten Händen halten und nehmen, halten und lassen. D i e nicht so sind, die straft das Leben, und G o t t erbarmt sich ihrer nicht." Es ist H u g o von Hofmannsthal, der seine Figur (die Feldmarschallin aus dem „Rosenkavalier") so leicht und so f r o m m sein lässt, kein muslimischer Autor, und doch ließen sich aus der muslimischen Tradition genügend Beispiele finden, die für das Leichte, Spielerische, Uneindeutige stehen, das gleichfalls zum kulturellen E r b e islamisch geprägter Gesellschaften zählt. Dies kann ich an dieser Stelle nun leider nicht mehr illustrieren. Ein Beispiel möge genügen. Lassen Sie mich mit einem Herbstgedicht aus dem Sehnsuchtsort nicht nur der Orientalisten schließen, al-Andalus, dem islamischen Spanien: „Es schreibt der H e r b s t mit seiner Regengüsse Tinte, der F e d e r seines Blitzes und der H a n d der Wolken, ein Schreiben auf des Gartens Himmelsblau und Purpur, wie es der Künstler Künste nie ersinnen könnten. So stickt die Erde, eifersüchtig auf den H i m m e l , auf ihrer Blumenbeete Leinwand seine Sterne." (Shelomo ibn Gebirol, 11. Jahrhundert, übersetzt von G e o r g Bossong)

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Limbach

Der Wissenschaftler als Bürger und Beamter Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik

D

ie Göttinger Universitätsrede steht unter dem M o t t o „Wissenschaft und Verantwortung". Historischer Bezugspunkt für diese Themenwahl ist das Protestschreiben der Göttinger Sieben im Jahre 1837. Die sieben Göttinger Professoren, so die Lesart der

Universität, „sind international zum Symbol geworden für das Aufbegehren des Gewissens gegen politische Macht". In der Tat ist dieser kleinen Professorenschar eine überwältigende Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Sie sind nicht nur in den Zeiten des Vormärz politisch und ideologisch vereinnahmt worden. Treitschke meinte gar, dass der Protest der Göttinger Sieben die politische Autorität des deutschen Professorentums begründet habe. D e m hielt Karl Jaspers entgegen, dass sich die Göttinger Sieben nicht wegen einer „politischen Gesinnung" vertreiben ließen, „sondern weil ihre Religion ihnen den geforderten Eidbruch verwehrte". Die Göttinger Sieben

verstanden sich zuvörderst als Wissenschaftler und Hochschullehrer. Ihr geistiges Domizil war zwar nicht der Elfenbeinturm im Sinne einer weitabgewandten Studierstube, aber sie sahen ihr Wirkungsfeld in der Universität, in Forschung und Lehre und nicht auf dem Gefechtsstand der öffentlichen Meinung. Was auch immer die Beweggründe der Göttinger Sieben gewesen sind, sie haben - gewollt oder ungewollt - die Frage herausgefordert, ob sich ein Wissenschaftler in politischen Angelegenheiten zu Wort melden sollte. Die Frage beschäftigt uns noch heute, wenngleich uns weniger das O b überhaupt als vielmehr das Wie Kopfschmerzen bereitet. Hängt die Antwort auf diese Frage davon ab, ob sich der Wissenschaftler als Hochschullehrer, als Beamter der Universität, als Experte oder als Privatgeschöpf äußert?

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Man muss kein Soziologe sein, um zu wissen, dass der heutige Mensch eine Vielzahl von Rollen innehat. Die Professoren und Professorinnen, auf die ich meine Aufmerksamkeit richten werde, sind Wissenschaftler und Hochschullehrerinnen. Sie sind überdies Mitglieder einer Fakultät oder eines Fachbereichs, Natur- oder Geisteswissenschaftler und haben möglicherweise ein weiteres Amt wie das der Präsidentin, des Institutsdirektors oder der Dekanin inne. Das Amt der Frauen- oder Gleichstellungsbeauftragten sei nicht vergessen, das auch dem männlichen Geschlecht offensteht. Die Liste ließe sich noch durch Amter und Aufgaben ergänzen, die der eine oder die andere in Organisationen jenseits der Universität wahrnimmt. Daneben sind die Wissenschaftler heute Bürger in einem demokratischen Staat. Das berechtigt sie nicht nur, in periodisch wiederkehrenden Wahlen einen Stimmzettel auszufüllen. Ihnen stehen wie jedem anderen auch die staatsbürgerlichen Freiheitsrechte wie die Rede-, Vereinigungsund Versammlungsfreiheit zu, die ein vielfältiges zivilgesellschaftliches Engagement erlauben. Sie können sich an Projekten, etwa an Volksentscheiden werbend beteiligen, also an Projekten mit politischem, etwa bildungspolitischem Bezug. Hier mag er sich als Vater oder sie sich als Mutter gefordert fühlen. Zwingt sie das zum Verzicht auf den Professorentitel im Rahmen einer solchen Aktion?

Das Recht auf freie

Meinungsäußerung

Die verschiedenen Zugehörigkeiten lassen sich in der Lebenswirklichkeit nicht säuberlich trennen. Mit dem Betreten der Universität begibt sich der Professor nicht seiner Eigenschaft als Bürger. Der Auftritt in der Öffentlichkeit zwingt ihn nicht, seine akademischen Titel zu verschweigen. Die Eigenschaft des Beamten und Hochschullehrers überlappen sich mit der des Bürgers. Den puren, nur der Wissenschaft verpflichteten Professor, dem jedes politische Denken fremd ist, gibt es nicht. Zwar entspricht es dem Leitbild des Beamten, dass er sine ira et studio, ohne Zorn und Voreingenommenheit, seines Amtes walten möge (Max Weber). Doch die Legende vom unpolitischen Beamtentum gehört der Vergangenheit an. Das Bundesverfassungsgericht hat dieser Legende in seinen Urteilen zu dem Erlöschen der Beamtenverhältnisse mit dem Untergang des Naziregimes den Boden entzogen. Grund seiner Entscheidung war die Einsicht, in welchem Maße das Beamtentum in der Nazi-Zeit zu einem Werkzeug der NSDAP degeneriert war (BVerfGE 3,58; 6,132). Ein Professor darf heute wie jeder andere Bürger auch unumwunden seine Meinung äußern. Die im Grundgesetz zudem gewährte Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre kennt jenseits der Verfassungstreue keine Schranken. Auch der beamtete Hochschullehrer darf sich frei in Wort und Schrift äußern. Der Beamtenstatus ist ihm gerade zu dem Zweck eingeräumt worden, seine Freiheit in Forschung und Lehre abzusichern. Sein wissenschaftliches Tun darf weder durch ein Gesetz noch durch den Dienstbefehl eines Vorgesetzten behindert oder gesteuert werden. Noch darf die Freiheit der akademischen Lehre durch die Vorgabe von Inhalten und Methoden eingeschränkt werden. Das alles gilt heute unbestritten, jedenfalls sofern es sich um rein wissenschaftliche Aussagen handelt. Ein kleiner Exkurs in die Vergangenheit lehrt, dass die Universitäten auch andere Zeiten erlebt haben. Das mögliche Vorbild der Hochschullehrer ist vor allem in Zeiten politischer Krisen immer wieder mit Argwohn betrachtet worden, und das übrigens nicht nur in der Epoche des

Der Wissenschaftler als Bürger und Beamter

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Obrigkeitsstaates. D i e G ö t t i n g e r Sieben betonten am Ende ihres Protestschreibens nicht ohne Grund, dass sie „bei treuer Wahrung" ihres A m t e s „die studierende Jugend stets vor politischen E x t r e m e n gewarnt" und ihre Anhänglichkeit an die Landesregierung unter Beweis gestellt hätten. Ihre Wirksamkeit als Professoren beruhe aber nicht nur auf der wissenschaftlichen Gediegenheit ihrer Lehre, sondern gründe sich auch auf ihre „persönliche U n b e s c h o l t e n h e i t " . „Sobald sie aber vor der studierenden Jugend als M ä n n e r " erschienen, die mit ihrem Eid „ein leichtfertiges Spiel" trieben, sei „der Segen ihrer Wirksamkeit dahin".

Die politische Loyalität des Hochschullehrers D i e Wissenschaftsfreiheit kennt keine Schranken. Allerdings wird die Lehre im Grundgesetz ausdrücklich an die Treue zur Verfassung gebunden. N i c h t erst in den Tagen des Deutschen Herbstes - also zu Zeiten des RAF-Terrorismus - ist die Loyalität des Hochschullehrers gegenüber dem herrschenden politischen System im heißen Streit diskutiert worden. Im 19. Jahrhundert waren es sozialdemokratische Politikentwürfe, die selbst liberale Geister von den Studenten fernhalten wollten, weil diese den Bestand der Gesellschaft untergraben könnten. Die preußische Unterrichtsverwaltung hatte es gar für unzulässig erklärt, „daß ein Sozialdemokrat Lehrer an einer preußischen H o c h s c h u l e sei". D e n n , so der preußische Unterrichtsminister, die Universitäten seien nicht nur Lehranstalten für die freie wissenschaftliche Forschung. Sie hätten auch die Aufgabe, „die Jugend mit der Liebe für König und Vaterland, mit dem Respekt vor der Monarchie und der Verfassung und mit der Achtung von unseren staatlichen Einrichtungen zu erfüllen". M i t dem Ubergang zur Demokratie und Republik haben sich diese Probleme nicht erledigt. Krisen, die das gesellschaftliche und politische Leben erschüttern, schüren immer wieder die Angst v o r Extremisten und Radikalen im öffentlichen Dienst. D i e bescheidene Kritikverträglichkeit der politisch Verantwortlichen während des Kalten Krieges und der Studentenbewegung legt ein Zeugnis dafür ab. Inzwischen waren es statt der Sozialdemokraten die Kommunisten und Mitglieder von extremistischen Organisationen, die der Politik das F ü r c h t e n lehrten. Aus Furcht vor dem Erstarken der D K P und weil sie sich nicht von der O p p o s i t i o n nachsagen lassen wollten, dass die Republik von Linken unterwandert werde, hatten die sozialliberale Bundesregierung und die Ministerpräsidenten im J a h r 1972 einen Beschluss über den Ausschluss von Radikalen aus dem öffentlichen Dienst erlassen. Das Land Schleswig-Holstein hatte bereits im J a h r 1971 sein Landesbeamtengesetz um eine Vorschrift ergänzt, laut der in das Beamtenverhältnis nur berufen werden darf, der die Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintritt. E i n e m erfolgreich geprüften Rechtskandidaten war kraft dieser Vorschrift die Aufnahme in den Referendardienst verweigert worden, weil er sich während seiner Studienzeit mehrfach an Veranstaltungen der „ R o t e n Zelle J u r a " beteiligt hatte. Das von diesem angerufene Verwaltungsgericht Hannover meinte, dass die schleswig-holsteinische Vorschrift gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit verstoße, und hat diese Frage dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorgelegt, das die N o r m im J a h r 1975 für verfassungsgemäß erklärt hat ( B V e r f G E 39, 334). Als Kern der politischen Treuepflicht betrachtete das Gericht nicht die Verpflichtung, sich mit den politischen Zielen der jeweiligen Regierung zu identifizieren. Vielmehr sei die Pflicht zur

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Bereitschaft gemeint, sich mit der Idee des Staates, dem der Beamte dienen soll, mit der freiheitlich demokratischen, rechts- und sozialstaatlichen Ordnung dieses Staates zu identifizieren. Was Kritik an Erscheinungen dieses Staates nicht ausschließe. So setzt das Gericht ausdrücklich hinzu. Die sich hierin niederschlagende Idee von der wehrbereiten Demokratie verdient Respekt. Doch so manche Passage des Urteils hat weniger Frieden gestiftet als vielmehr die öffentliche Debatte ein weiteres Mal angeheizt. Diese Entscheidung des Zweiten Senats - die nicht von allen Richtern geteilt wurde - ist heftig kritisiert und als ein Produkt des Zeitgeistes bezeichnet worden. Eine Passage zur Redensart vom Berufsverbot mag das verdeutlichen. Das politische Schlag- und Reizwort vom „Berufsverbot" für Radikale ist völlig fehl am Platz und soll offensichtlich nur politische Emotionen wecken. Die Verfassung und die sie konkretisierende Regelung des Beamtenrechts statuiert kein Berufsverbot. Sie stellt nur eine legitime Zulassungsvoraussetzung auf, die zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nötig ist und von jedem, der den Staatsdienst antritt, erfüllt werden kann, wenn er will. Wer dem Staat dienen will, darf nicht gegen den Staat und seine Verfassungsordnung aufbegehren und anrennen wollen. Diese Sätze der politischen Korrektheit haben den Begriff „Berufsverbot" nicht aus dem öffentlichen Sprachgebrauch vertrieben. Weniger die prinzipiellen Beweggründe als vielmehr die Einstellungspraxis mit der Regelanfrage beim Bundesamt für Verfassungsschutz haben den Erlass diskreditiert. Willy Brandt hat diesen später als den größten Fehler seiner Regierung bezeichnet. H a t doch die Regelanfrage einschüchternd gewirkt und einer Politik, die mehr Demokratie wagen wollte, entgegengewirkt. Nach einem Rückzug auf Raten gehört heute der so genannte Radikalenerlass der Vergangenheit an.

Tagespolitik auf dem

Katheder

W i e steht es heute, wenn ein Hochschullehrer seine Lehre mit Ansichten zur Tagespolitik würzt? M a x Weber hat in seinem Vortrag „Wissenschaft als Beruf" gemeint, dass Politik nicht in den Hörsaal gehöre. Gewiss ist ihm in der Ansicht zuzustimmen, dass ein Professor seinen studentischen Zuhörern nicht eine Meinung aufdrängen sollte. Er sei nicht Priester, sondern Lehrer, der seine Schüler in Methoden des Denkens unterweisen und ihnen zur Klarheit verhelfen sollte. In den Worten eines der großen Göttinger Gelehrten, nämlich Georg Christoph Lichtenbergs: Der Hochschullehrer soll die Studenten lehren, wie sie denken sollen, aber nicht, was sie denken sollen. Fühle dieser sich zum Eingreifen in die politischen Meinungskämpfe berufen, so Max Weber, dann „möge er das auf dem Markt des Lebens tun: in der Presse, in Versammlungen, in Vereinen, w o immer er will". Aber nicht auf dem Katheder. Max Webers Plädoyer für intellektuelle Redlichkeit verdient grundsätzlich Respekt; auch weil er darauf verzichtet, einem Objektivitätsideal das Wort zu reden. Doch ein Hochschullehrer, der sich peinlich bemüht, sich jeglicher persönlichen Stellungnahme zu seinem wissenschaftlichen Lehrstoff zu enthalten, dürfte sein jugendliches Auditorium bald aus dem Hörsaal vertreiben. Von einem Professor der Politikwissenschaft oder des Rechts darf man erwarten, dass er den M u t hat, die Strukturprinzipien unseres Staates kritisch zu beleuchten. Das Gebot der Zurückhaltung zwingt ihn nicht zur politischen Abstinenz auf dem Katheder. Politische Abstinenz bestätigt -

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ob gewollt oder ungewollt - den Status quo, die bestehenden Verhältnisse. Die Wissenschaft muss auf ihre Wandelbarkeit und Offenheit bedacht sein. „Es gibt nicht einfach die Wahrheit und die Wissenschaft, sondern die Wirklichkeit des menschlichen Kämpfens um Wahrheit und Wissenschaft." So Karl Jaspers. Vor allem in „staatsnahen Disziplinen", so treffend Thomas Oppermann - wie z.B. im Recht, in der Politischen und der Wirtschaftswissenschaft - ist Kritik auch an der Verfassung erlaubt. Gestattet doch das Grundgesetz jenseits des Bekenntnisses zur Menschenwürde und den Bauprinzipien eine Änderung der Verfassung. Nur muss der Hochschullehrer seine Werturteile und seinen gesellschaftlichen Standort deutlich machen und sorgfältig unterscheiden, was Wissenschaft und was praktische Wertung ist. Auch darf er andere Meinungen und Urteile, die den seinen zuwiderlaufen, nicht unerwähnt lassen. Wie sollen Studenten lernen, sich selbständig eine Meinung zu bilden, wenn ihr Hochschullehrer ihnen die seine beflissen vorenthält? Die für eine Demokratie lebenswichtige Meinungsfreude will auch im akademischen Unterricht erfahren werden. Mit Selbstkritik und Aufmerksamkeit für andere Ansichten wird der sich politisch äußernde Hochschullehrer die Jugend wohl kaum zu blinder Gefolgschaft verführen.

Das Politisieren

der

Professoren

Professoren und Professorinnen wirken heutzutage lebhaft an der Artikulation der öffentlichen Meinung mit. Das Politisieren von Professoren, so unverkennbar etwas abschätzig Karl Jaspers, sei eine alte Tradition. Und nicht ohne Bosheit setzt er hinzu, dass große Erscheinungen „eher selten und nicht typisch" seien. Das Beispiel der Göttinger Sieben schließt er - wie bereits berichtet - mit dem Hinweis aus, dass jene sich nicht wegen ihrer politischen, sondern wegen ihrer religiösen Gesinnung gegen den Eidbruch verwahrt hätten. Die Göttinger Sieben mag die öffentliche Wirkung ihres Protests erstaunt haben. Weniger die Presse als vielmehr private Briefe der Studenten und Bürger sollen die unerhörte Publizität zur Folge gehabt haben. Mit diesen habe sich das Bürgertum seiner selbst vergewissert und mitgeteilt (Albrecht Schöne). Der propagandistische Effekt erklärt sich aus der unruhigen Situation des Vormärz, in der professorale Kundgaben von Verfassungstreue auf einen fruchtbaren Boden fielen. Dass sieben Professoren der Verfassung mehr gehorchen wollten als der sterblichen Obrigkeit, deutete die öffentliche Meinung seinerzeit allzu gern als ein ermutigendes Signal auf dem Weg zu einer freiheitlichen Verfassung für ganz Deutschland. Die Rechtmäßigkeit des Aufbegehrens oder des zugemuteten Eidbruchs bekümmerte die öffentliche Meinung damals wenig. Die Freude an diesem professoralen Protest hatte in der Tat politische Gründe, die - so Albrecht Schöne - mit den konstitutionellen, liberalen und republikanischen Bestrebungen der damaligen Zeit untrennbar verbunden waren. Und zu Recht betont er, dass auch das heutige Urteil über die Göttinger Sieben nicht unabhängig von unserem modernen Verfassungsverständnis sei. Miriam Saage-Maaß hat auf der Spur dieser Einsicht über die Rezeption des Hannoverschen Verfassungskonflikts und die von dem Wandel der politischen, rechtlichen und kulturellen Verhältnisse der Gesellschaft abhängige Deutung der Göttinger Sieben eine lesenswerte historische Studie verfasst („Die Göttinger Sieben - demokratische Vorkämpfer oder nationale Helden?").

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Heutzutage hat das Politisieren von Professoren Konjunktur. In der sich durch eine Vielzahl von Medien auszeichnenden Demokratie sind Professoren und Professorinnen gern gesehene Teilnehmer an der politischen Debatte. Auch der Wissenschaftler mischt sich in die Politik ein und versucht, sich in den Medien Gehör zu verschaffen. Sind diese doch in einer lebendigen Demokratie Foren der öffentlichen Meinung. Die Medien referieren nicht nur die widerstreitenden Ansichten aus Gesellschaft und Wissenschaft und halten die politische Debatte in Gang. Die Journalisten adressieren die von ihnen kommentierten und kritisch aufbereiteten Forderungen an die Politik und erweisen sich des Öfteren auch als Geburtshelfer politischer Strategien. Wenn Professoren politisieren, ist weniger ihr sachkundiger Rat gemeint, den sie - von der Politik oder den Medien befragt - geben. Vielmehr geht es um ihre Teilhabe an der politischen Debatte als Bürger. Das schließt nicht aus, dass sie sich im Bewusstsein ihrer Vorzüglichkeit mit all ihren Titeln zu Wort melden. Dagegen ist nichts einzuwenden. Ist doch die Öffentlichkeit daran interessiert, was Leute denken und meinen, die in der Berufsprestige-Skala nach wie vor oben rangieren. Die akademischen Titel sind durch Leistungen erworben. Niemand findet etwas dabei, wenn sich jemand in der Öffentlichkeit als Direktor der Bundesbank oder als Vorsitzender eines großen Konzerns bezeichnen lässt, weil diese Funktionen auch etwas über persönliche Leistungen aussagen. Das Politisieren - hier nicht abschätzig gemeint - beschränkt sich nicht nur auf die kleinen Fragen des politischen Alltags. Wenn sich die großen Intellektuellen unter den Professoren - wie etwa Ulrich Beck, Jürgen Habermas oder Peter Sloterdijk - zu Wort melden, geht es zumeist um die großen Fragen der Republik, etwa um die europäische Integration. Das macht nach allgemeiner Meinung den Intellektuellen aus, dass er jenseits seines beruflichen Sachverstands, am Gemeinwohl interessiert, über langfristige politische Projekte mitdenkt und Orientierung zu bieten versucht.

Der Professor als Experte Die Wissenschaftler sind heutzutage als Berater und Sachverständige hoch willkommen. O b in Ausschüssen oder Kommissionen des Parlaments und der Regierung, ob in der Presse, dem Rundfunk oder Fernsehen, allerorten werden sie befragt. O b als Klima- oder Konjunkturforscher, als Genetiker oder Historiker äußern sie sich nicht nur zur aktuellen Tagespolitik, sondern auch zu langfristigen und nachhaltigen Strategien. Die heutigen politischen Konflikte sind mit der Mehrheitsregel allein nicht mehr zu lösen. Die vielschichtige Gesellschaft, die rasante wissenschaftliche Dynamik, die entgrenzte Wirtschaft und der dadurch bewirkte sozioökonomische Wandel machen sachverständigen Rat unverzichtbar. Viele der heutigen Entscheidungsaufgaben - denken wir nur an die Grüne Gentechnik - überfordern Parlament und Regierung. Sowohl die Abgeordneten, die Minister und ihre Bürokratien sind in einem zuvor nicht gekannten Maße auf das Mit- und Vorausdenken professioneller und das heißt zuvörderst professoraler Eliten angewiesen. Dabei können sie nicht einmal sicher davon ausgehen, dass sie das von den Experten Vorgetragene gänzlich zu durchschauen vermögen. Die vielen Kommissionen, die die politische Arbeit im Parlament und der Regierung unterstützen, werden von einigen als demokratiewidrig gescholten. Sind doch die Sachverständigen ernannt und nicht vom Volke gewählt worden. Diese Kritik verkennt, dass weder der einzelne

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Abgeordnete stets die Folgen moderner Technologie durchschaut noch die Minister sich allein auf den Sachverstand der Ministerialbeamten verlassen können. Die Vielzahl der im Parlament, in den Parteien und in der Regierung mit auswärtigen Experten besetzten Kommissionen ist nichts als eine Antwort auf die überforderte Problemlösungskapazität von Legislative und Exekutive. Die Kritik verkennt zweierlei: zum einen, dass die Zusammensetzung der Kommissionen in der Regel der Pluralität der Standpunkte Rechnung trägt. Zum anderen vernachlässigt die Kritik, dass die Kommissionen nichts verantworten und nichts zu entscheiden haben. Noch immer ist es die Regierung, die eine politische Entscheidung verantwortet. Noch immer ist es das Parlament, das letztlich zu entscheiden hat, ob ein Regelungsbedürfnis besteht und wie es - notfalls - gesetzlich zu befriedigen ist. Die Frage, in welcher Weise sich ein Professor als Fachmann in der Öffentlichkeit einlassen sollte, ist damit noch nicht beantwortet. Die Frage ist nicht moralisierend gemeint. Denn dass der Wissenschaftler nach bestem Wissen und Gewissen Auskunft geben und urteilen sollte, ist eine Selbstverständlichkeit. Auch hier bestätigen Ausnahmen die Regel, aber das soll hier nicht das Problem sein. Der Frage wert ist, ob überhaupt und wie weit sich ein Wissenschaftler auf den Prozess der Entscheidungsfindung und das gewünschte oder unerwünschte Ergebnis einlässt. Soll er seine Stellungnahme argumentativ zuspitzen und einer bestimmten Entscheidung das Wort reden, oder soll er in Alternativen denken und sich damit begnügen, Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen und deren jeweilige Folgen abzuschätzen?

Der Wissenschaftler als Streithelfer Zwei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit mögen die Fragwürdigkeit des Wie beleuchten. Im Herbst des Jahres 2009 haben sich 35 Staatsrechtslehrer in einem offenen, in einer überregionalen Tageszeitung veröffentlichten Brief an den Verwaltungsrat des ZDF gewandt und die Wiederwahl des ZDF-Chefredakteurs Brender als einen Prüfstein der Rundfunkfreiheit bezeichnet. Sie würzten ihren Appell, Brender wiederzuwählen, mit dem Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der im Rundfunkstaatsvertrag vorgesehenen Machtverteilung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Vertretern. Die Staatsrechtslehrer adressierten ihren Brief - wegen des erhofften öffentlichen Drucks mittels der Presse - direkt an das entscheidende Gremium, um auf einen bestimmten Beschluss hinzuwirken. Vergeblich, wie wir wissen. Bei einer politischen Angelegenheit, die hoch kontrovers diskutiert wird und bei der parteipolitische Gegensätze eine Rolle spielen, ist es treuherzig zu hoffen, dass ein „Macht"-Wort von Staatsrechtslehrern die politische Entscheidung in eine bestimmte Richtung lenken könnte. Nur am Rande sei erwähnt, dass die den offenen Brief als erste veröffentlichende Zeitung die Staatsrechtslehrer als nicht „dem gegnerischen politischen Lager" angehörig, als „hochrenommierte Staats- und Verfassungsrechtler" bezeichnete, bei denen es sich nicht um „die üblichen Meinungsproduzenten und Empörungsspezialisten" handele. Mit diesem Hinweis wollte man nicht nur die Bedeutsamkeit des offenen Briefes betonen, sondern diesen zugleich von den Erzeugnissen der Resolutionitis der siebziger Jahre abgrenzen, die allmählich zu einer Taubheit der Bürger und Bürgerinnen gegenüber professoraler Wortmächtigkeit geführt hatten. Als zweites Beispiel diene die Schweinegrippe, eine Pandemie, die - einer Auskunft der Weltgesundheitsorganisation ( W H O ) zufolge - inzwischen beendet ist. Die Wissenschaftler waren

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sich weder in der Brisanz des Problems noch hinsichtlich der Risiken der von der Politik empfohlenen Impfaktion einig. An ein und demselben Tag informierte uns ein durchaus angesehener, stets auskunftsfreudiger Professor über die Harmlosigkeit der Schweinegrippe, während eine Boulevardzeitung auf ihrer ersten Seite in Riesenlettern die Auskunft eines nicht weniger angesehenen Professors kolportierte, dass 35.000 Menschen in Deutschland an dieser Grippe sterben würden. Letztendlich sind, so die W H O im Sommer 2010, mehr als 18.400 Menschen in 200 Ländern der Pandemie zum Opfer gefallen. Die kontroversen Auskünfte der Wissenschaftler haben die Bevölkerung zutiefst verunsichert. Die Inanspruchnahme von Erkenntnissen der Wissenschaftler wirkt offenbar nur dann orientierend, wenn diese mit einer Stimme sprechen. Das ist aber heute nur begrenzt der Fall. Die neuen Technologien sind mit neuen Risiken und Unsicherheiten verbunden. Das Angebot eindeutiger und unstreitiger wissenschaftlicher Erkenntnisse ist rar. Die Kontroverse und der Zweifel charakterisieren häufig die Situation. Denken wir nur an die Auseinandersetzung der Klimaforscher. Die Vielfalt von Theorien, Methoden und Erkenntnissen der Forschung ist das Charakteristikum der modernen Wissenschaft, so treffend der Staatsrechtslehrer Helmuth Schulze-Fielitz. Auf der Seite der Politik ist zu bedenken, dass in einer Demokratie die Situation zusätzlich durch unterschiedliche, gegenläufige und miteinander konkurrierende Interessen gekennzeichnet ist. Darum spitzt sich die Frage einmal mehr zu, wie sich ein um Auskunft gebetener Wissenschaftler verhalten soll. J e mehr die Entscheidungsprobleme durch Wertkonflikte, Interessengegensätze und Unsicherheiten geprägt sind, desto mehr muss der Wissenschaftler seine Rolle reflektieren und überdenken, was und wie er zur Lösung des Entscheidungsproblems beitragen kann. Er wird sich dem Auskunftsverlangen von Gesellschaft und Politik kaum mehr entziehen können. Seine Mitbürgerinnen und die Politikerinnen, die sich in einer unüberschaubar vielschichtigen, multikulturellen und globalisierten Hightech-Gesellschaft zurechtfinden müssen, sind auf seinen Sachverstand angewiesen. Mag dieser auch noch so begrenzt und im wahren Sinne des Wortes fragwürdig sein. Er wird sich auch aus Klugheit nicht verweigern. Denn die Bedeutsamkeit seiner Disziplin für Politik und Gesellschaft hat einen Einfluss auf deren finanzielle Förderung. Aber dieses Kalkül ist zweitrangig gegenüber seiner ethischen und humanistischen Verantwortung, kraft derer er sich dem Wunsch der Politik nach einer durch wissenschaftlichen Sachverstand ausgewiesenen Entscheidung nicht verweigern kann.

Der Wissenschaftler als ehrlicher

Makler

Roger A. Pielke hat der Frage nach den möglichen Verhaltensweisen der Wissenschaftler in seinem Buch „The Honest Broker" besondere Aufmerksamkeit zugekehrt. In seiner Eigenschaft als Umweltforscher ist ihm gewiss bewusst, in welchem Maße Wissenschaft durch Kontroversen und Ungewissheiten geprägt sein kann. Nicht zuletzt dürfte er aus der Klimaforschung wissen, wie leicht Wissenschaftlern bei einem auch ihr Fach berührenden politischen Konflikt die Distanz abhandenkommen und die Wissenschaft politisiert werden kann. Pielke hat deutlich gemacht, dass das denkbare Rollenverhalten des Wissenschaftlers davon beeinflusst wird, ob das Politik und Wissenschaft beschäftigende Problem durch einen weitgehenden Wertekonsens und Gewissheit oder durch das Gegenteil charakterisiert ist.

Der Wissenschaftler als Bürger und Beamter

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Das Kriterium der Gewissheit oder Ungewissheit hat viele Facetten und ist nicht frei von Ambivalenzen. N i c h t in jedem Falle erschwert die Ungewissheit die politische Entscheidung. D i e von Pielke formulierte These: J e größer die Ungewissheit - o b wissenschaftlich oder politisch - , desto wichtiger sei es für die Wissenschaft, Handlungsoptionen aufzuzeigen, statt einfache wissenschaftliche Erkenntnisse zu präsentieren, kennt auch Ausnahmen. D i e Ungewissheit vermag in gewissen politischen K o n t e x t e n die Bereitschaft der Politiker zum Aushandeln zu stimulieren und größeren Spielraum für Kompromisse zu eröffnen. N u r drei der von Pielke herausgearbeiteten Rollenmuster seien kurz vorgestellt. Das ist zunächst der reine Wissenschaftler (pure scientist), der sich aus dem Prozess der Entscheidungsfindung völlig heraushält. D e m steht - gewissermaßen als Gegentyp - der Advokat (issue advocate) gegenüber, der sich das Anliegen einer Gruppe zu eigen macht und einem bestimmten Interesse oder einer bestimmten Strategie das W o r t redet. Während es der Advokat darauf anlegt, eine bestimmte Entscheidung zu erzwingen, klärt der ehrliche Makler (honest broker) über die Alternativen auf. E r unterrichtet den Entscheider über die Lösungsmöglichkeiten des Problems und deren Folgen. Das tut er in einer Weise, die es dem Politiker erlaubt, auf der Grundlage seiner Präferenzen und Wertvorstellungen die Entscheidung frei zu treffen. Mitunter trägt die Auskunft des ehrlichen Maklers dazu bei, die Vielschichtigkeit des Problems zu reduzieren, aber zumeist offenbart sie die Vielfalt der O p t i o n e n und deren jeweilige praktische Konsequenzen. Auch wenn Pielke betont, keine Rollen vorschreiben zu wollen, gibt er doch letztlich dem ehrlichen M a k l e r den Vorzug. Das beweist nicht nur der Buchtitel, der allein den „ H o n e s t Broker" herausstellt, sondern mehr noch die dem Text vorangestellte Aussage von Lord May: T h e role of the scientist is not to determine which risks are worth taking, or deciding what choices we should take, but the scientist must be involved in indicating what the possible choices, constraints and possibilities are . . . T h e role o f the scientist is not to decide between the possibilities but to determine what the possibilities are.

Wissenschaftliche Verantwortung in der Demokratie Wissenschaftler können den Politikern das Risiko der eigenständigen Entscheidung nicht abnehmen. Politische Deutungshoheit besitzen die Professoren nicht; denn sie können nicht in periodisch wiederkehrenden Wahlen zur Verantwortung gezogen werden. Selbst wenn eine Gruppe von Wissenschaftlern in einer institutionalisierten F o r m - wie etwa die F ü n f Wirtschaftsweisen - mit einem Gutachten von der Bundesregierung betraut worden ist, k o m m t deren Empfehlungen keine Verbindlichkeit für die Politik zu. Das M a ß ihres Einflusses hängt allein von ihrer Uberzeugungskraft ab. M e h r als eine sachverständige Auskunft können sie zumeist nicht geben. Sind die von der Politik erfragten Forschungsergebnisse in der Wissenschaft unumstritten, so wird der Wissenschaftler auch eine Empfehlung geben oder einen R a t erteilen können. Man denke allein an die Impfaktionen, die sich im Falle der Pocken, der Kinderlähmung und der Tuberkulose als erfolgreich erwiesen haben. J e umstrittener eine neue Technologie politisch oder wissenschaftlich ist, desto mehr muss sich der Wissenschaftler vor einfachen Antworten hüten. H i e r gilt es, mögliche Wertund Interessenkonflikte zu bedenken, was vorzugsweise Sache der Politik ist. Diese pflegt sich

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auch in diesem Falle gern der Kommissionen zu bedienen, um die verschiedenen Standpunkte zu Wort kommen zu lassen. Die so genannten Ethik-Kommissionen pflegen allerdings nicht allein mit Wissenschaftlern, sondern auch und vornehmlich mit Vertretern der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen besetzt zu sein. Soweit Streit und Zweifel in der Wissenschaft herrschen, ist eine Aufklärung über die widerstreitenden Standpunkte und Erkenntnisse Pflicht. Auch eine Reflexion des Für und Wider, vor allem eine Information über die praktischen Konsequenzen der einen oder anderen Lösungsmöglichkeit, darf die Politik von dem Wissenschaftler erwarten. Ein Rückzug ins Private oder in den Elfenbeinturm ist für den in einer Demokratie wirkenden Wissenschaftler keine Alternative. Ihm darf nicht gleichgültig sein, in welcher Staatsform er lebt und forscht. Auf den Spuren der Paulskirchen- und der Weimarer Verfassung hat das Grundgesetz die Wissenschaftsfreiheit in den Rang eines Grundrechtes gehoben. Dieses ist kein Standesprivileg. Zwar schützt das Grundrecht die freie Wissenschaft um ihrer selbst willen. Doch zugleich gewährleistet es die Freiheit wegen ihrer Wirksamkeit in einem freiheitlichen Gemeinwesen. Wie sagt es das Bundesverfassungsgericht so treffend: Die Freiheit ist dem Wissenschaftler „nicht für eine von Staat und Gesellschaft isolierte, sondern für eine letztlich dem Wohle des einzelnen und der Gemeinschaft dienende Wissenschaft verfassungsrechtlich garantiert" (BVerfGE 47,327,370). Die Glaubwürdigkeit eines Wissenschaftlers erschöpft sich nicht in seiner intellektuellen Redlichkeit. Gemeinsinn muss diese ergänzen.

Hubert Markl

Durch den menschlichen Geist sieht die Natur sich seihst an Charles Darwins Einsichten in die Evolution von Natur und Kultur harles Darwin konnte nur recht schlecht Deutsch, was unter anderem zur Folge hatte, dass er Gregor Mendels fundamentales Werk über die Pflanzenhybriden zwar besaß, aber kaum lesen konnte, weshalb er genetische Irrwege ging; vor allem aber, dass er die rasche Ubersetzung des Heidelberger Paläontologen Heinrich Georg Bronn seines Hauptwerkes über die Entstehung der Arten nicht selbst kontrollieren konnte, so dass sich gravierende Fehleinschätzungen einschlichen, die vor allem durch Ernst Haeckel und viele andere bis zur Nazizeit, ja sogar bis heute, weite Verbreitung fanden: „Kampf ums Dasein" zum Beispiel, statt „struggle for Life", also „Ringen ums Leben", wohlgemerkt nicht des Individuums, sondern seiner ganzen Abstammungslinie; oder „vervollkommnete Rassen" statt „favoured races", womit „begünstigte Sorten", nicht Rassen im Sinne der Rassenlehre gemeint waren. Vor allem „Rassen": Kaum einer war wohl weniger „Rassist" als Charles Darwin, den wir heute einen konservativen „Edelgrünen" nennen würden. Natürlich teilte er aber auch manche Vorurteile seiner Zeit und seiner Klasse. Ernst Haeckel wird heute oft zu Unrecht schlechtgemacht. Vor allem Stephen Jay Gould tat sich damit groß, obwohl er dem großen Biologen Haeckel das Wasser als Wissenschaftler nicht reichen konnte. Natürlich hatte und machte Haeckel auch Fehler - aber er erkannte das Genie Darwins und die Gültigkeit seiner Evolutionsvorstellungen. Heute wird ihm oft hochnäsig das „biogenetische Grundgesetz" vorgehalten, das er in der Embryonalentwicklung aller Organismen zu erkennen glaubte, die seiner Ansicht nach eine kurze und unvollständige Rekapitulation ihrer Phylogenese darstelle. Das stimmt so nicht - aber alle Naturforscher, auch Darwin, such-

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ten damals nach „Naturgesetzen", wie in Newtons Physik. Heute, nach Einsteins Relativitätstheorie und Plancks und Heisenbergs Quantenphysik, verwendet selbst die Physik diesen Begriff ganz anders, aber der „physics envy", um Ernst Mayrs Wort zu verwenden, ist bei manchen Biologen so groß, dass sie Ernst Haeckel und Charles Darwin den Glauben an „newtonische Naturgesetze" der Entwicklung der Lebewesen heute noch höhnisch vorhalten, anstatt anzuerkennen, dass diese damit den Zusammenhang von Evolution und Entwicklung erkannt und den Weg dazu geebnet hatten. Ich erwähne Ernst Haeckel noch aus einem anderen Grund: Haeckel war leider - wie die ganze deutsche Biologie des 19. Jahrhunderts - stark von der Philosophie des Deutschen Idealismus und bildungsbürgerlichem Goetheanismus geprägt; es fehlte an der realistischen Nüchternheit und dem „Populationsdenken" (Ernst Mayr) angelsächsischer Naturforschung. Schlimmer noch, Haeckel vermengte - nicht als Einziger und nicht als Erster oder Letzter - Wissenschaft und Religion, ja er versuchte gar einen Monismus zu lehren, der sich als evolutionäre Religion ausgab und auf Darwin berief, ohne freilich auf dessen Zustimmung rechnen zu können. Heute tritt Richard Dawkins so auf, der selbst schon wieder einen ganzen Rattenschwanz von Bewunderern und Gegnern lärmend hinter sich herzieht. Ich selbst bin nicht religiös, achte aber die religiösen Gefühle anderer Menschen, und ich finde diesen Weg von Dawkins daher sehr bedauerlich. Dawkins ist ein manchmal sehr scharfsinniger, oft auch scharfzüngiger Apologet der darwinischen Evolutionsbiologie. Es scheint mir nur, dass er und manche seiner Anhänger erstens Religion, deren Aussagen man kritisieren mag, und Religiosität, also das Bedürfnis nach Lebenssinn, Wertgefühl und Metaphysik, beharrlich verwechseln, und dass er zweitens die Wissenschaft von der Evolution der Organismen selbst zu einer Religion erklärt, was Unsinn ist und bleibt. Deshalb scheint mir ein Buchtitel wie Gott oder Darwin (2008) - willkürlich aus unendlich vielen Beiträgen herausgegriffen - auch wenig hilfreich; welche Kategorienverwechslung ist das doch! Religion geht es um das Individuum Mensch - Darwins Evolutionstheorie aber um die Entstehung der Spezies Homo sapiens. Gewiss kann Religion irren, zum Beispiel wenn sie in heiligen Schriften nach der Entstehung der Ameisen oder des Kosmos fahndet - aber ist dies denn immer noch unbekannt? Und sucht noch jemand Gott auf anderen Planeten? Meinen Studenten, die an der Evolution zweifelten, habe ich oft gesagt: Sie müssen nicht daran glauben, nur wissen, was für sie spricht und warum sie „plausibel", das heißt zustimmungsfähig!, ist. Wer allerdings mit „Intelligent Design" daherkommt, widerlegt sich sehr schnell selbst: Offenbar haben jene, die „Intelligent Design" bewundern, noch nie einer Menschengeburt beigewohnt, geschweige denn sie durchgestanden, oder einen Bandscheibenvorfall erlebt oder an Weisheitszahndurchbruch gelitten - gar nicht zu reden von einem außer Rand und Band geratenen Immunsystem in einer Autoimmunkrankheit; welcher Optiker würde wohl ausgerechnet einen blinden Fleck in die Augen gebaut haben? Es gibt so viele Konstruktionen von Lebewesen, die sich nur mit Darwin evolutionär erklären lassen - oder durch Schöpferwillkür, aber dann durch alles andere als durch „intelligenten Entwurf". Der Nobelpreisträger Sir Peter Medawar hat einmal gesagt: „The alternative to thinking in evolutionary terms is not to think at all!" Alexander von Humboldt wird der Satz zugeschrieben: „Am gefährlichsten ist die Weltanschauung der Leute, die die Welt gar nicht angeschaut haben". Darwin hat das Gleiche noch einfacher gesagt: „Theories will go. Facts will stand!" Die Evolution ist eine Tatsache, so sicher wie die Erddrehung (trotz der für jeden sichtbaren Sonnenauf- und Sonnenuntergänge) oder wie die Tatsache, dass die Welt aus den Atomen und Molekülen von 92 natürlichen Elementen des Peri-

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odensystems der Elemente und deren Isotopen besteht. Ü b e r das, was Evolutionstheorien behaupten, mag es dagegen noch lange Streit geben! Was macht „Darwin's dangerous idea" (Daniel C . Dennett), seine (nur scheinbar) verführerisch einfache Idee zur Erklärung der Evolution aus? Es steht in jedem Biologiebuch: „Nothing in biology makes sense except in the light of evolution", wie Theodosius Dobzhansky 1964 bemerkte - das Ehepaar Peter and Rosemary Grant fügte 2008 an: „Nothing in evolutionary biology makes sense except in the light of ecology." Erstens Erblichkeit: Nachkommen gleichen ihren biologischen Eltern mehr als dem Durchschnitt der Bevölkerung, weil sie die Erbanlagen von ihnen haben, die bei sexueller Fortpflanzung in ihnen von Vater und Mutter gemischt werden. Die Genetik hat die beteiligten Vorgänge, beginnend mit den Pflanzenhybriden Gregor Mendels bis zur modernen Molekularbiologie der Gene, aufgeklärt (und dafür viele Nobelpreise erhalten). Sie ist ein empirisch bewiesenes Faktum, und jede Mutter und jeder Vater weiß das; zugleich lehrt sie uns eine Grundtatsache der Natur und von Darwins Theorie: Anders als in der Physik erweist sich Natur (und Darwins Theorie) stets als vielfältig bei aller Einfachheit. Es gibt vielerlei Arten von Organismen; es gibt vielerlei Weisen der Vermehrung, darunter die Sexualität (aus molekularen Gründen, die wir heute zu verstehen meinen), und es gibt schließlich auch mancherlei verschiedenartige „Sexualitäten" („Normalos", Zwitter, Hermaphroditen, Homosexuelle usw.), auch den Verzicht darauf (asexuelle Vermehrung). Also Vorsicht, der Natur ausgerechnet im Namen Darwins eine „Norm" verschreiben zu wollen! Deshalb gleich an zweiter Stelle: Es gibt empirisch beobachtete Variabilität - der Gene, der Individuen, der Arten, der höheren taxonomischen Kategorien, des Zusammenlebens in Symbiosen, Biozönosen, Ökosystem - , wer hätte das wohl besser verstanden als Charles Darwin? Und es gibt nicht nur erbliche Variabilität - meist durch Gene vermittelt - , es gibt auch vielfältigste Formen entwicklungs- und umweltabhängiger Modifikationen, unter anderem genetisch oder umweltbedingte Sexualität, wer möchte da noch einmal behaupten, Biologen beachteten nur Gene und deren Wirkungen (etwa in der Soziobiologie): D e r kann wohl noch nie davon gehört haben, dass es ausgerechnet Biologen waren, die entdeckten, dass das Geschlecht der Reptilien temperaturabhängig ist! Wer die Wurzeln der Variabilität, also etwa des Verhaltens, in dessen darwinischer Entwicklung sucht, der möge nicht nur bei Darwin selbst nachlesen. Kommt drittens - und wieder empirisch überprüfbar - eine Idee hinzu, die Charles Darwin von Thomas Malthus übernommen hatte: Jedes Organismenpaar kann potentiell viel mehr, manchmal das Vieltausendfache, an Nachkommen hervorbringen, sich also übervermehren. Wir sprechen zwar heute vor allem in Deutschland gerne von vermehrungsunwilligen Leuten und von einer schrumpfenden Bevölkerung; aber Fakt ist, dass es, als ich geboren wurde, etwa zwei Milliarden Menschen auf dieser immer gleichen Biosphäre gab, von der wir alle leben müssen; als mein Großvater geboren wurde, knapp über eine Milliarde; 1975 vier Milliarden; 2009 fast sieben Milliarden; da rede noch jemand davon, dass es keine Uberproduktion von H o m o sapiens gebe! Da viertens als Grundtatsache des Lebens alle Lebewesen auf dieser Erde ihre Sterblichkeit (Mortalität), die zu Erblichkeit und Uberproduktion zwingend gehört, erleiden müssen, folgt aus den empirischen Tatsachen, dass jene Individuen am besten überleben und sich vermehren, die mit ihren Lebensumständen am besten - angepasstesten - zurechtkommen. Den Vorgang nannte Darwin „natural selection", „natürliche Zuchtwahl", und die unter bestehenden Wettbewerbsbedingungen um knappe Güter bestangepassten Individuen „the most fit".

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Wir verdanken William D. Hamilton und Lee Alan Dugatkin die Einsicht, dass es dabei auf ihre Gesamtfitness („inclusive fitness") in allen Individuen ankommt, in die ihre Gene „identical by descent" geraten sind und sich in einem „extended phenotype" (Dawkins) auswirken. Dies betrifft vor allem soziales Verhalten und die Evolution der Kultur. Angepasst und auf seine „fitness" bewertet wird der (möglicherweise erweiterte) Phänotyp des Individuums in der Umwelt seiner Entwicklung, Existenz und Vermehrung („nurture"), aber abgerechnet wird am Ende des Tages eben genetisch („nature"), weshalb auch populationsgenetische, mathematische Modelle viele Seiten der Evolution zutreffend erfassen - wobei leider oft so getan wird, als ob „nurture" (also die Umwelt) nicht zu „nature", also den biologischen Anlagen eines Lebewesens, gehörte. Diese Unterscheidung (vor allem der Ethologen) war zeitweise, als der Organismus von den Behavioristen als Tabula rasa missverstanden wurde, sicherlich vonnöten, ist aber im Zeitalter des besseren Verständnisses der Wirkung von Genen auf die Entwicklung eines Organismus eher hinderlich. Dazu kommen allerdings noch einige Feststellungen Darwins, die wir nicht vergessen sollten: Er war es, der in Origin of Species am nachdrücklichsten die Einheit allen Lebens begründete: „descent with modification" aller Spezies aus einem und nur einem einzigen Ursprung. Deshalb ist auch die menschliche Spezies - heute molekulargenetisch bewiesen - eine Verwandte der Primaten, aller Mammalier, aller Tiere, aller Lebewesen: gleichzeitig einzigartig, aber in aller Verschiedenheit mit allen anderen Lebewesen verbunden. Die Entwicklung der Organismen, aller Lebewesen, erfolgte immer gradualistisch, also in kleinen Schritten, allerdings mit unterschiedlicher Geschwindigkeit - Darwin hatte keineswegs behauptet, der gradualistische Evolutionsvorgang schreite mit der Zeit absolut gleichmäßig voran. Das wäre erneut ein Verstoß gegen seine Einsicht in die Variabilität, hier der Prozessgeschwindigkeit der Evolution! Engstens damit im Zusammenhang: Die Evolution geht zwar manchmal sehr schnell - die Entstehung neuer Arten kann wenige tausend Jahre, manchmal nur wenige hundert erfordern - , aber sie hat dennoch sehr viel Zeit: Vor mehr als vier Milliarden Jahren entstand das Leben auf der Erde, mehr als 4,5 Milliarden Jahre ist die Erde alt, wie Darwin gegen die Fehleinschätzung Lord Kelvins, des Papstes der britischen Physik, durchsetzte. Albert Einstein soll auf die Frage nach der mächtigsten Kraft im Universum geantwortet haben: der Zinseszins! Das eben ist die Auswirkung der langen Zeit, die der Evolution zur Verfügung stand. In dieser langen Zeit ereigneten sich auch gewaltige Umweltveränderungen und Umgestaltungen des Lebensraumes aller Organismen: Plattenverschiebungen der Erde, das Aufbrechen von Pangaea, die Bildung der Kontinente, Meere und Gebirge, Vulkanismus unvorstellbaren Ausmaßes, Klimaveränderungen, Eiszeiten - dagegen ist die heutige „Klimakatastrophe" geologisch fast nur klimapolitischer Pipifax. Und jede unvorhersagbar neue Umwelt, mit ihren unvorhersagbaren Bewohnern bildete eine neuerliche Herausforderung für die unvorhersagbare Innovationskraft, die Kreativität alles Lebendigen in immer neuen, unvorhersagbaren Arten - aber vergessen wir die über 99 Prozent nicht, die dabei ausstarben, weil es ihnen eben misslang. So entstand die Natur, wie wir sie kennen. Aber wie entstand daraus die Kultur, wie entstand daraus der Mensch, der anders ist, viel mehr als alle Natur, aus der er doch entsprang. Der amerikanische Psychologe David Premack soll diesen buchstäblich himmelweiten Unterschied zwischen Tier und Mensch — ohne auch nur einen Augenblick dessen natürliche Herkunft daraus durch darwinische Abstammung in Frage zu stellen - einmal scherzhaft so ausgedrückt haben:

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„Why is it that the biologist E. O. Wilson can spot the difference between two different kinds of ants at a hundred yards, but can't see the difference between an ant and a human?" Was hat Darwin uns mit seiner Theorie der natürlichen Selektion an Einsicht über die evolutionäre Entstehung der Kultur - also über Kulturevolution - zu sagen? Hier stellen sich die ganz offenen der noch zu beantwortenden Fragen der Evolutionsbiologie, aber auch die für uns Menschen wichtigsten. Wie erweist sich vor allem die Vielfalt und Kreativität alles Lebendigen - welche Widersprüche mögen sich hier noch auftun? Wer sich im Leben, also auch in der Evolution und ihrer Erklärung, niemals widerspräche, bewiese dadurch nur, dass er nichts hinzugelernt hat. Die Natur lernt aber immer hinzu! Und Kultur umso mehr. Denn während die Natur nur durch Vermischung der Gene und ihre zufällige Variation vor allem durch Mutation in den Rechenschritten der Generationen zulernen kann, ist ihr die Kultur darin weit voraus, indem sie den erreichten Wissensgewinn - vor allem durch Sprache und Schrift - bewahren und weitergeben und somit durch Zuwachs- und nicht nur Zufallseffekte lernen kann. Wenden wir uns also der Evolution in der (Menschen) Kultur zu. Die „Natur" hat oftmals versucht, ihr „Geschäftsmodell" höchst innovativ zu erweitern, um gleichsam aus dem „Genomkapital" mehr „Fitnessrendite" zu erwirtschaften. Man denke nur an die endosymbiotische Innovation, die die Euzyte hervorbrachte und dann in den Eukaryoten vielfältigst erblühte. Oder die Entdeckung der Sexualität zu molekularer Reparatur und Neudurchmischung des Erbgutes, durch arbeitsteiliges Zusammenwirken von Weibchen und Männchen in Fortpflanzung und Brutpflege, die eine erneute soziale Symbiose zur Folge haben kann. Oder an so viele Wirbeltiergruppen - von den neukaledonischen Krähen bis zu Walen oder Wölfen, bei denen die „Natur" zur „Kultur" vorzustoßen suchte. Bis der Vorstoß in der Gattung Homo endgültig gelang: Unsere Überlegenheit gegenüber der Natur, die wir durch unsere Hybris über Nacht, buchstäblich umnachtet, zu vernichten drohen, zeigt dies bedrückend eindeutig. Aber was ist eigentlich „Kultur"? Nur zu oft wird sie als Gegensatz zur „Natur" hingestellt und ist doch in Wirklichkeit deren Höherentwicklung. Als seien Kinder ein Gegensatz zu ihren Eltern, mit denen sie zwar manchmal im Widerstreit liegen mögen, aber auf deren Schultern sie doch selbst dabei stehen. Wohlgemerkt, über das Verhältnis von Natur und Kultur gibt es Bibliotheken von Büchern, mehr noch als über Darwins Evolutionsbiologie. Nicht nur von Biologen, sondern auch von Geisteswissenschaftlern: Anthropologen, Soziologen, Historikern, Ethnologen, Psychologen, natürlich Philosophen, die im Nachhinein alles besser zu wissen meinen. Was ist das also: „Kultur"? Anthropologen berufen sich gerne auf E. B. Tyler, der 1871 meinte: „Culture ... is the complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society". Diese Definition scheint allerdings dem Biologen allzu sehr auf unsere eigene Art zugeschnitten. In dem wundervollen kleinen Buch von John Tyler Bonner ist zu lesen: „By culture I mean the transfer of Information by behavioural means most particularly by the process of teaching and learning" - erlernte Tradition von Verhalten bei Tier und Mensch, die nicht nur auf Nachkommen übertragen wird, auf sie vor allem, sondern auf Verwandte, ja sogar Fremde. Die Kultur wurzelt jedenfalls viel tiefer in der Natur der tierischen Lebewesen, als dies meist gedacht wird. Man hat, seit Darwin dazu den Denkanstoß gab, immer mehr nach dem Tier im Menschen gesucht als nach dem Menschen in seinen Tiervorfahren. Nicht ohne dabei fündig zu werden: Man betrachte nur die Erfolge der Humanethologie, aber auch der „Evolutionären Psychologie", wie sich die Human-Soziobiologie heute gerne nennt, um dadurch altem ideologi-

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sehen Zank aus dem Weg zu gehen: soweit der Körper ohne das Vorderhirn mit allen seinen Funktionen bis hinauf zu den Gefühlsantrieben des Stammhirnes betroffen ist, ist leicht zu erkennen, dass hier die „menschliche" (oft nur allzu menschliche) Natur waltet. Oder man schalte einfach die Nachrichten ein: Der „dritte Schimpanse" (Jared Diamond) erweist sich als ein höchst lebendiger, geiler und oft bösartiger Menschenaffe - aber auch einer, der bis über alle (biologischen) Grenzen hinweg einfühlsam und gütig sein kann. Da reden zwar manche immer noch davon, es gebe eigentlich keine „menschliche Natur": Während doch Menschen gefoltert werden, weil sie von N a t u r aus sexuelle Neigungen erhalten haben, für die sie nichts können; während immer noch Menschen nur deshalb bevorzugt versklavt werden, weil ihre Hautfarbe angeborenermaßen zu dunkel ist, oder weil in vielen Regionen und Religionen Frauen offenbar immer die O p f e r sind, nicht nur, wie manche „Gender Studies" behaupten, weil sie durch Kultur zu Frauen gemacht worden sind, sondern allein deshalb, weil sie vorher, und zwar von N a t u r aus, als Mädchen geboren worden sind - also ein X-Chromosom mehr haben als die Buben! Da behaupten immer noch „Gelehrte", es gebe keine menschliche Natur; freilich, wer da versklavt oder totgeschlagen wird und ob er das in einer Gesellschaft wird, das mag ja gerne kulturell bedingt sein. Aber dass diese Mitmenschen zu Opfern werden, ist ein Beweis für unsere Primatennatur. Als Tier wäre der Mensch vielleicht harmloser, die Kultur erst macht ihn zum Ungeheuer guten Gewissens. Schon Thomas Hobbes sagte 1651 im Leviathan: „So liegen also in der menschlichen N a t u r drei hauptsächliche Konfliktursachen: erstens Konkurrenz, zweitens Misstrauen, drittens Ruhmsucht." Die Humanethologie und die Soziobiologie oder Evolutionäre Psychologie waren also schon sehr nötig, um all den Theoretikern das wahre, nämlich natürlich evoluierte Tier im Menschen nachzuweisen. Aber davon will ich jetzt nicht sprechen: Ich will zeigen, dass sich die „Natur" schon sehr lange und in vielen Versuchen darum bemühte, die Zwangsjacke genetischer Voranpassung, die „genetic constraints", ihrer Lebensgeschichte abzustreifen und die Leistungen des lernfähigen Vorderhirns zur Steigerung seiner Fitness voll zu nutzen durch Kultur, wenn auch manchmal in ihr ein biologischer Kern stecken mag, der uns zwar eher an „Unkultur" denken lässt, durch die sich aber die Natur am Ende mit dem forschenden Blick des Menschen selbst prüfend betrachten kann und sich dabei in ihrer Herkunft und in ihren Grenzen erkennt, die sie aber doch zugleich innovativ wie kreativ zu nützen weiß. Die Mammalia sind vor mehr als 200 Millionen Jahren vor allem als eine Gruppe nächtlicher, erst unscheinbarer, dann zu gewaltiger Körpergröße heranwachsender Wirbeltiere geworden, die mit der Steigerung ihrer Vorderhirngröße und der damit vergrößerten Lernfähigkeit im Sozialverband immer wieder den Durchbruch zum genetisch nur wenig festgelegten, doch besonders lernbedürftigen, aber auch lernfähigen Vertebraten geschafft haben. Dafür gibt es viele Belege. Auf die Gelegenheit zum Lernen von der Mutter und im Sozialverband der Verwandten und nicht verwandten Artgenossen muss dabei bei Säugetieren besonders hingewiesen werden: Sie schuf die wichtigste Voraussetzung, u m Kultur aus Natur hervorgehen zu lassen. Auf eines k o m m t es dabei vor allem an: Der am Ende beim Menschen fast 1,5 Kilogramm wiegende Berg von 100 mal 10^ Neuronen, die noch ein Vielfaches an synaptischen Verbindungen entwickeln konnten, fand sich im Laufe dieser langen Evolutionszeit eingebettet in einen immer ultrapräziseren Homöostaten, der zwar teuer ist - zwei Prozent Gehirn kosteten die Menschen am Ende mehr als 20 Prozent des Energieverbrauches und benötigten, um sich überhaupt richtig entfalten zu können, vor allem bei Jungtieren viel Eiweißnahrung, wie sie tierische Beute bie-

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tet. Aber dieser Computer arbeitet so gut, dass er das individuell erlernte und das sozial vermittelte Wissen viel besser, als genetische Programme dies je vermochten, an variable Lebensumstände, zumal bei langer Lebensdauer und bei größer werdendem Körper unumgänglich, anpassen konnte. Dazu mussten natürlich das endokrine System, das Immunsystem und der ganze Stoffwechsel die Grundlage liefern. Ein wesentlicher Umstand wurde schon am Rande erwähnt: sozial vermitteltes, am Ende gar durch Vorbild und Nachahmung gelerntes, also auf Vorhandenem aufbauendes Wissen - erst dies machte den Menschen wirklich vollauf kulturfähig! Es machte ihn auch erst in einer Gesellschaft lebensfähig, ja zum auch geistig befähigten das heißt vor allem kommunikationsfähigen Wesen. Wie „primeval kinship" und „baboon metaphysics" ausgerechnet den Weg des Primaten zum kulturfähigen Menschen ebneten, eröffnet den Blick auf zwei Fragen: Warum ausgerechnet Primaten, also Affen - warum nicht Wale oder Ratten oder Elefanten oder die so verständigen Hunde? Wodurch kam der endgültige Durchbruch zur vollen Humanität, der Schritt über den Rubikon zwischen Natur und Kultur? Mich verwundert an der nicht enden wollenden Suche nach dem „Stein der Weisen" der evolutiven Menschwerdung vor allem eines: Jeder Autor scheint mit Eifer nach eben diesem einen Steinchen zu suchen, das das Puzzle, das Mosaik vollenden soll. Dabei muss doch jedem klar sein, dass es viele zusammengehörige Bestandteile sein werden, die erst das ganze Bild des Menschen ergeben: nicht das Gebiss allein, nicht die Beine und deren aufrechter Gang allein, obwohl es das wichtigste Primatenerbe ist, zusammen mit dem Farbensehen und dem vogelgleichen Leben in den Wipfeln mit griffsicherer Hand, das uns auch die Fähigkeit zur Zeichen-, vielleicht sogar zur Vokalsprache gab. Vielleicht viel eher der begrenzte Sozialverband, in dem das Miteinanderreden die Fellpflege ersetzen musste, auch nicht allein „thumbs, toes and tears", obwohl sie mit anderen Eigenschaften alle dazu gehören. Gewiss, nur der Mensch kann wirklich sprechen, und es ist seit langem heiß umkämpft, wie er die Gabe dazu erwarb: vielleicht weil er seine Gruppe zum Großwildriss von Löwen oder Hyänen leiten musste, um sie dadurch - man denke an die Fleischnahrung - in Besitz nehmen und ausbeuten zu können. Vielleicht leiteten ihn auch Tanz und Musik zur Sprache. Gewiss, nur der Mensch hat moralische Normen - und so gibt es Tausenderlei, was uns von Natur aus zu Kulturmenschen gemacht hat, wobei die Beherrschung des Feuers zum Kochen der Nahrung keine geringe Bedeutung gehabt haben dürfte. Aber mir will scheinen, dass - außer den tiefen Wurzeln aller Menschenkultur in vielen Jahrmillionen dauernder Mammalier- und Primatengeschichte - zweierlei von überragender Bedeutung ist (natürlich neben der Menschensprache, die aber wohl erst jenseits des kulturellen Rubikons hinzukam): Erstens die von David und Ann Premack so benannte „Theory of Mind", die wir mit wenigen Säugetieren zu teilen scheinen (Menschenaffen und Hunden vielleicht), also die Fähigkeit, uns in die Absichten, Wünsche, Gefühle, Glaubensvorstellungen von Mitgeschöpfen, ja im übertragenen Sinne aller als belebt empfundener Naturerscheinungen oder sogar überirdisch vorgestellter Wesen einzufühlen, sie empathisch mitzuempfinden (wozu uns vielleicht Spiegelneurone verhelfen). Sowie zweitens unsere unbestreitbare Leidenschaft, für jede Erscheinung - mag sie uns betreffen oder auch nur vorgestellt sein - eine Ursache zu suchen und notfalls zu (er)finden, zumeist dabei aus der Korrelation eines „praeter hoc" ein „propter hoc" machend, wahre Kausalitätsfindungs- und -erfindungsmaschinen zu sein - wobei beide Tatsachen unserer Menschenkulturfä-

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higkeit eng zusammenhängen. Ich erwähne dazu das neue Werk Mothers and Others von Sarah Hrdy, in dem sie diese Fähigkeit, sich einzufühlen, in großartiger Weise mit der Gemeinschaftserziehung und der Bildung sozialer Netzwerke in Beziehung setzt und damit tiefer in den Vorgang der Menschwerdung (auch durch soziale Nachahmung, die nur selten bei Säugetieren erreicht und fälschlich als „Nachäffung" herabgesetzt wird) eingedrungen scheint, als dies den meisten bisher gelungen ist. Sie weist nach, dass erst solche Einfühlung sprachliche Kommunikation möglich machte und dass auch erst die Ursachensuche in der sozialen Gemeinschaft zum Gefühl des eigenen Wollens in Willensfreiheit führte. Willensfreiheit bedeutet dann eben nicht den Anspruch auf Akausalität, sondern in erster Linie die Übernahme sozialer Verantwortung des handelnden Menschen, verbunden mit dem Gefühl, Verursacher des Geschehens zu sein. Diese „Befreiung des Verhaltens" von der Engführung der Gene unter gleichzeitiger Auslieferung an soziale Manipulationen durch Bildung und wohl zugleich der Entstehung menschlichen Geistes aus dem der Tiere eröffnet den natürlichen, den evolutionären, den darwinischen Zugang zu einem Reich der Freiheit, das durch die - weitgehend philosophische und rechtliche - Frage nach der Willensfreiheit nur ganz ungenügend ausgeschöpft wird. Sie setzt nämlich die Freiheit der Phantasie frei, die viel wichtiger für menschliche Kreativität ist, nicht nur in der Kunst und in der Wissenschaft, wo sie durch empirische und theoretische, methodische Prinzipien gebändigt wird. Darwin hat dies wohl zuerst erkannt. Viele versuchen ihm seither dorthin in Literatur, Malerei, Bildnerei und Musik nachzufolgen, aber dadurch wird nichts „biologisch (weg) erklärt", was in Wirklichkeit biologisch erst erschlossen, ja eröffnet wird. So wie der Geist und seine Fähigkeit, sich kraft Sprache auch in die Vorstellungswelt anderer Wesen hineinzuversetzen, erst durch die Evolution des Gehirns der Säugetiere, vor allem der ebenso sehtüchtigen wie handgreiflichen und in den Wipfeln „frei" beweglichen Primaten möglich wurde, so eröffnete der Geist die Welt der Phantasie, die in der Technik ihre ganze Geschicklichkeit und in der Kunst ihren weitesten Ausdruck findet. Die Natur zähmt zwar den freien Flug des Geistes manchmal, der in sich kaum mehr Grenzen kennt, obwohl erst der Geist sie zu erkennen und zur Sprache zu bringen vermag. So ist es gemeint, wenn ich behaupte, dass wir durch Charles Darwin angeleitet besser begreifen können, wie die Natur sich durch Kultur selbst ins Auge blickt - obwohl wir noch weit davon entfernt sind, dies ganz zu verstehen.

Herfried

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Ein Ort mit mehreren Zentren Ü b e r die Mitte der Gesellschaft

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uf den ersten Blick scheint die Bestimmung der gesellschaftlichen Mitte eine eher einfache Angelegenheit zu sein: Man nimmt die Durchschnittswerte sozialstatistisch relevanter Faktoren, Einkommen und Vermögen etwa, und identifiziert bei gewissen Abweichungen nach oben und unten die Gruppen und Schichten, die diese Durchschnittswerte aufweisen. Sie sind die Mitte der Gesellschaft. Mit der politischen Mitte dürfte das freilich um einiges schwieriger werden, weil hier die Parameter unklar sind, mit deren Hilfe die Mitte bestimmt werden soll. Erst einmal stutzig geworden, kann man freilich auch bezweifeln, dass sich mit Hilfe von Durchschnittseinkommen die soziale Mitte bestimmen lässt; subjektive Faktoren sind bei der Selbstzurechnung zur Mitte mindestens ebenso wichtig wie sozialstatistische Daten. So ist die Vorstellung einer langfristigen sozialen Sicherheit typisch für diejenigen, die sich zur Mitte der Gesellschaft rechnen. Wer für eine begrenzte Zeit das gesellschaftliche Durchschnittseinkommen erzielt, aber nicht weiß, wie es in einigen Wochen oder Monaten weitergehen wird, wird sich kaum der Mitte zurechnen; eher dürfte er sich in jener diffusen Gruppe verorten, die seit geraumer Zeit als Prekariat bezeichnet wird. Die Bestimmung der gesellschaftlichen Mitte erweist sich um einiges schwieriger, als es zunächst den Anschein hat.

Mehrfache Kodierung Das hat schon damit zu tun, dass das, was als die Mitte der Gesellschaft bezeichnet wird, mehrfach kodiert ist: Neben den bereits erwähnten sozialstatistischen und politischen Faktoren spie-

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len auch moralische und habituelle Aspekte eine Rolle, daneben ästhetische Fragen sowie kollektive Sehnsüchte und Erinnerungen. D i e Mitte der Gesellschaft ist ein O r t mit mehreren Zentren, die sich obendrein permanent verlagern und verschieben. Wer nach der M i t t e sucht, kann schnell in Verwirrung geraten und meinen, es gebe sie gar nicht. Das dürfte auch der G r u n d sein, warum Bibliotheken von Büchern über Eliten und Außenseiter, O b e r - und U n t e r s c h i c h t , die politische R e c h t e wie die politische Linke geschrieben worden sind, während die Monographien zur Mitte eher in einen H a n d k o f f e r passen. U n d doch ist die Mitte der O r t , an dem sich entscheidet, o b eine sozio-politische Ordnung stabil oder labil ist. Die Weimarer Republik ist ein Beispiel für Labilität, die B o n n e r Republik eines für Stabilität. Wofür die Berliner Republik stehen wird, wenn sie ihre ersten größeren Jubiläen feiern kann, ist noch unausgemacht. Das vereinte Deutschland im Gleichgewicht zu halten, es sozial und politisch zu balancieren, dürfte die große politische Herausforderung der nächsten J a h r e und Jahrzehnte werden. Es lohnt sich also, darüber nachzudenken, was die Mitte ist, wie sie sich formiert, sich behauptet und wodurch sie gefährdet wird, vor allem aber, warum die D e u t s c h e n so sehr an der Mitte hängen und nichts mehr fürchten als deren Verlust. U m es zuzuspitzen: D i e durch eine dominante Mitte gesicherte Stabilität der Bonner Republik könnte sich als Achillesferse der Berliner Republik erweisen, denn die Bundesbürger sind an ein hohes M a ß an sozialer Stabilität und einen parteipolitischen Drang zur Mitte gewöhnt, die in historischer Perspektive jedoch eher eine Ausnahme als die Regel darstellen. Die Sehnsucht nach der Mitte kann die reale M i t t e überfordern. Eine überforderte Mitte aber entzieht oder verweigert sich den Aufgaben, die ihr z u k o m m e n . Panik in der M i t t e ist für den Zusammenhalt einer Gesellschaft sehr viel gefährlicher als n o c h so große Irritationen an den Rändern. Wenn große Teile der Mittelschichten plötzlich den Extremen zuneigen, gerät eine Gesellschaft aus dem Gleichgewicht. D e r Zusammenbruch der Weimarer Republik ist das fortbestehende Menetekel der deutschen Geschichte.

Bedrohung der sozialen Mitte? Dass die Mitte erodiere, die Mittelschicht ausgeplündert werde oder Teile von ihr ins Prekariat abzusinken drohten, sind Alarmmeldungen, die seit einiger Zeit mit unterschiedlicher Intensität in die politische Debatte eingespielt werden. Dabei geben die sozialstatistischen D a t e n der letzten zwei, drei Jahrzehnte eine wirkliche Bedrohung der Mittelschichten eigentlich nicht her. Was in Deutschland aber sehr wohl festzustellen ist, ist eine Stagnation des relativen E i n k o m m e n s in den mittleren Schichten; sieht man genauer hin, so sind in der oberen Mittelschicht durchaus relevante Einkommenszuwächse zu verzeichnen, die infolge der Steuerprogression jedoch zu einem erheblichen Teil vom Staat abgeschöpft werden, während in der unteren Mittelschicht teilweise Einkommensverluste zu beobachten sind und sich ein Gefühl der Unsicherheit und Bedrohtheit breit macht. Letzteres ist im Wesentlichen eine Folge der H a r t z - R e f o r m e n , mit denen der Wohlfahrtsstaat von Statussicherung auf Risikoabsicherung umgestellt worden ist. Die gesellschaftliche Mitte, die in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt durch wohlfahrtsstaatliche Transfers zusammengehalten wurde, steht in der Gefahr, sich in eine obere und eine untere Mitte zu spalten. Schon ist davon die Rede, dass die Zwiebel als Symbol der bundesdeutschen Sozialstruktur durch die Sanduhr abgelöst werde - jedenfalls, was die soziale M i t t e der Gesellschaft anbetrifft: Vom breitesten wird die Mitte der Mitte zum schmälsten Bereich.

Ein Ort mit mehreren Zentren

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Es waren im Wesentlichen zwei Faktoren, die den Trend zur „nivellierten Mittelstandsgesellschaft", wie Helmut Schelsky dies genannt hat, befördert haben: die Ausbildung der Industriegesellschaft und der Wohlfahrtsstaat. Wenn vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die frühen 1970er Jahre sich eine Tendenz zur Angleichung der Einkommen beobachten lässt, dann ist dies im Wesentlichen eine Folge der industriellen Beschäftigungsverhältnisse. In der großen Industrie wurden die Arbeitsprofile einander angeglichen, es entstanden Normalarbeitsverhältnisse und obendrein sorgten die Einheitsgewerkschaften mit ihren tarifpolitischen Abschlüssen dafür, dass sich die Einkommensspreizung der Beschäftigten in Grenzen hielt. Das ist in der Dienstleistungsgesellschaft, die seit den 1980er Jahren die Industriegesellschaft zwar nicht verdrängt, aber doch überlagert und durchzieht, ganz anders: auf der einen Seite Anwälte und Banker, auf der anderen Seite Reinigungspersonal und Friseusen. Hier sind die Verdienstunterschiede dramatisch, und so nimmt es nicht wunder, dass seit Mitte der 1970er Jahre eine sich verstärkende Tendenz zur Einkommensspreizung festzustellen ist. Natürlich greifen hier die Mechanismen des Wohlfahrtsstaates, die für entsprechende Umverteilungen sorgen, doch in Reaktion genau darauf breitet sich in der oberen Mittelschicht das Gefühl aus, Leistung lohne sich für sie nicht mehr, man zahle zuviel Steuern, man werde regelrecht ausgeplündert und der eigentliche Ausbeuter sei inzwischen der Staat, wie Peter Sloterdijk dies vor einiger Zeit formuliert hat. Angesichts wachsender Belastungen macht sich in der oberen Mittelschicht, die das Gros der staatlichen Einnahmen aufzubringen hat, eine Tendenz zur Entsolidarisierung mit der unteren Mittelschicht breit. In der unteren Mittelschicht, deren Mittezugehörigkeit teilweise durch staatliche Transfers gesichert wird, wird dies sehr genau registriert. Bei den für sie relevanten Transfers handelt es sich in der Regel nicht um direkte, sondern indirekte Transfers, wie die Subventionierung von Kindergartenplätzen, Studium, Pflegeleistungen oder ähnliches. - So manches, was lange nahezu selbstverständlich war, wird teurer oder schließlich unbezahlbar. Die Sorge wird zur Angst, und aus der Angst erwachsen Ressentiments gegen diejenigen, die man dafür verantwortlich macht, dass trotz eines nach wie vor üppigen Staatshaushalts nicht mehr soviel bei einem ankommt, wie man das für früher in Erinnerung hat. Und das wiederum sind die psychologischen Dispositionen, aus denen rechtspopulistische Parteien erwachsen. Die Erosion der gesellschaftlichen Mitte greift auf die politische Mitte über. Sie franst aus, und so werden politische Auffassungen gesellschaftsfähig, die man vor kurzem nur an den äußeren Rändern des politischen Spektrums vernommen hatte.

Das Ausfransen der politischen Mitte Das Ausfransen der politischen Mitte, für das es in Deutschland vorerst nur Vorboten gibt, während es in den kleineren Nachbarländern, Dänemark, den Niederlanden, Osterreich und der Schweiz, schon ziemlich deutlich zu beobachten ist, ist durch eine gegenläufige Entwicklung im parteipolitischen Spektrum begünstigt worden: die Neigung der politischen Parteien, sich in der Mitte anzusiedeln und dabei die Flügel, die sie ihrem Selbstverständnis als Volksparteien entsprechend lange Zeit in ihre Programmatik eingeschlossen hatten, abzustoßen oder verwaisen zu lassen. Natürlich tun die Parteien dies nicht aus purem Ubermut, sondern weil die programmatische Verbindung des Anspruchs auf die Mitte und einer klar artikulierten Besetzung des linken oder rechten Flügels immer schwieriger geworden ist. Die beiden klassischen Volksparteien in

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Herfried

Münkler

Deutschland repräsentierten bis vor kurzem noch ein politisches Spektrum rechts oder links der Mitte. In ihren besten Zeiten gewannen sie damit über 90 Prozent der bei Wahlen abgegebenen Stimmen. Inzwischen können sie froh sein, wenn sie auf 60 Prozent kommen. Das hat nicht zuletzt mit der Konkurrenz in der Mitte zu tun, die den Volksparteien erwachsen ist: durch die Partei der Grünen und die programmatisch neu aufgestellten Liberalen. U m dem zu begegnen, drängen sie zunehmend in die Mitte und geben dabei die Flügel auf, an denen jedoch ein Gutteil ihrer politischen Identität hängt. Und so entsteht Platz für links- wie rechtspopulistische Bewegungen. Im Sinne des politischen Farbenspiels ist die Mitte in den letzten zwei, drei Jahrzehnten bunter geworden. Ihrer politischen Integrationskraft hat das nicht gut getan. Es ist die wachgehaltene Erinnerung an das Scheitern der Weimarer Republik und dessen verhängnisvolle Folgen, die in Deutschland vorerst dafür sorgt, dass der Weg der kleinen Nachbarn in Europa noch nicht beschritten worden ist.

Die tatsächliche

Herausforderung

Die tatsächliche Herausforderung der sozialen und politischen Ordnung in Deutschland kommt gleichwohl nicht von den politischen Rändern, und wer sie dort sucht, läuft Gefahr, von ihr hinterrücks überrascht zu werden. Sie kommt aus der Mitte und besteht in einer Spaltung der Mitte zwischen oberer und unterer Mittelschicht. Aus der Zusammenfügung beider hat die Bundesrepublik nach dem Krieg ihre Stabilität und Stärke bezogen; dementsprechend ist sie hier auch am stärksten verwundbar. Gesellschaften mit einem anderen kollektiven Gedächtnis, Gesellschaften zumal, die den Charakter einer Klassengesellschaft nie wirklich abgestreift haben, mögen auf ein Auseinanderfallen der Mitte gelassener reagieren können. Sie kehren dann zu den früheren Konstellationen zurück, und die alten Gegensätze leben wieder auf. Dabei ist entscheidend, dass aus solchen Gegensätzen, wenn sie nur entsprechend institutionell gerahmt sind, durchaus eine stabile Ordnung entstehen kann. Alles hängt von einer lebendigen Erinnerung an die Konstellationen vor der Bildung einer breiten, mehr als die Hälfte der Bevölkerung inkludierenden Mitte ab. Eine solche Erinnerung gibt es in Deutschland nicht. Und eine von Deklassierung bedrohte untere Mittelschicht dürfte hierzulande kaum mit der Ausbildung eines Klassenbewusstseins und entsprechender Gegenwehr, sondern einfach panisch reagieren. Was Stärke war, schlägt unvermittelt in Schwäche um. Derlei zu verhindern, zumindest dafür gewappnet zu sein, ist die politische Herausforderung einer Politik, die auf die Mitte setzt und sich für sie verantwortlich fühlt.

Michael Reth

Kreativer Umgang mit Molekülen Was ist Synthetische Biologie?

ie Synthetische Biologie hat sich als neues biologisches Lehr- und Forschungsfach etabliert. Wie alles Neue wird sie mit vielen Hoffnungen und auch Besorgnis betrachtet. Dabei spielt die Synthetische Biologie nicht nur eine wachsende Rolle in der Biotechnologie, sondern sie könnte auch zu einem wichtigen Erkenntnisinstrument und somit unersetzlichen Teil der aktuellen Bioforschung werden. Mit einem gemeinsamen Positionspapier zu Chancen und Risiken der Synthetischen Biologie wiesen die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), acatech, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften und die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina im Juli 2009 auf das große Potential des neuen Forschungsfeldes hin und forderten zum Diskurs darüber auf. Wissenschaftler aus den Bereichen Biochemie, Molekularbiologie, Genetik, Mikrobiologie, Immunologie, Chemie und Physik, aus den Ingenieurwissenschaften und den Geistes- und Sozialwissenschaften sind dem Positionspapier zufolge mit der Synthetischen Biologie befasst. Die Anwendungsmöglichkeiten sehen die Verfasser mittelfristig in der Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten, aber auch Kraftstoffen und neuen Materialien.

Die Anfänge der Synthetischen Biologie sind eng mit der methodischen Entwicklung der Molekularbiologie verbunden. Am 3. Oktober 1979 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Artikel von Dr. Barbara Hobom mit dem Titel „An der Schwelle zur synthetischen Biologie.

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Michael Reib

Beliebige Koppelung von Erbanlagen im Reagenzglas/Evolution durch natürliche G e n - R e k o m bination". In ihrem Beitrag bezieht sich die Autorin auf die zur damaligen Zeit entdeckten Restriktionsenzyme. Damit sei es j e t z t möglich, D N A - M o l e k ü l e an einer ganz bestimmten Stelle aufzuschneiden und gezielt neue G e n k o m b i n a t i o n e n herzustellen. Barbara H o b o m war eine der ersten, die für diesen chirurgischen Schnitt ins Erbgut den Begriff Synthetische Biologie prägten. Es hat dann allerdings noch 3 0 J a h r e gedauert, bis ein biologisches Forschungsfeld diesen N a m e n übernahm. D i e genaue Definition des jungen Gebietes befindet sich noch im Fluss. Allgemein akzeptiert ist bisher, dass die Synthetische Biologie zum einen aus dem Wiederzusammenbau eines biologischen Systems aus einzelnen Teilen besteht, zum anderen auch die Entwicklung ganz neuartiger Moleküle umfasst, die so nicht in der N a t u r existieren. Dabei werden Strategien der Ingenieurwissenschaften verfolgt, wie z.B. die Zerlegung eines Systems in Funktionseinheiten und deren N e u k o m b i n a t i o n zu größeren Komplexen und dies alles im Nanobereich der zellulären K o m p o n e n t e n . Warum entwickelt sich die Synthetische Biologie nach langer Anlaufzeit gerade jetzt rasant? D i e s beruht zunächst auf den neuen Methoden, die vom Zerschneiden und N e u k o m b i n i e r e n zum Schreiben der D N A - M o l e k ü l e fortschritten. So sind erst in jüngster Zeit die K o s t e n für eine D N A - S y n t h e s e stark gefallen, und es gehört mittlerweile zum Standard, ganze Gensequenzen neu synthetisieren zu lassen. D i e steigende Attraktivität der Synthetischen Biologie gründet auch darin, dass sie alternative Wege zur Bearbeitung eines der Hauptprobleme der modernen Zellforschung aufzeigt, nämlich: „Wie gehen wir mit der enormen Komplexität lebender Systeme u m ? " . D i e Sequenzierung der G e n o m e vieler Organismen hat zwar eine Fülle von genetischen Informationen erbracht, aber die H o f f n u n g , dadurch zu einer umfassenden Beschreibung eines lebenden Systems zu gelangen, hat sich nicht erfüllt. Leben entsteht erst durch die U m s e t z u n g der genetischen Information und das Zusammenspiel der biologischen Moleküle untereinander und mit dem G e n o m . Dabei k o m m t es über vielfältige Modifikationen und Kopplungsreaktionen zu einer gewaltigen Komplexität. D e r modernen Biologie stellt sich nun die grundlegende Frage: „Wie lässt sich diese enorme Komplexität erfassen?"

Systembiologie oder Synthetische Biologie Vielversprechend sind die Ansätze der Systembiologie, die mittels moderner analytischer „highthrough-put" Verfahren und mit mathematischen Modellierungen zu einer fast vollständigen Beschreibung eines lebenden Systems kommen m ö c h t e . Die Synthetische Biologie setzt mehr auf menschliche Kreativität als auf teure analytische Maschinen. Bei ihrem Versuch, eine Zelle erst einmal in funktionelle Subsysteme zu unterteilen, gelten Stichworte wie: Vereinfachung, Entkopplung, funktionelle Beschreibung. D e r synthetische Biologe ist nun sowohl Systemingenieur als auch Moleküldesigner. Als ersterer geht er von der zugegebenermaßen ad h o c - A n n a h m e aus, dass sich biologische Moleküle wie Teile einer Maschine verhalten und entsprechend auch funktionell beschrieben werden können. Als letzterer leitet ihn ein spielerischer, kreativer U m g a n g mit biologischen Materialien. E r greift in den so vielseitigen und bunten Baukasten der N a t u r und bastelt aus den isolierten biologischen Komponenten, den „biobricks", neue biologische Maschinen. D i e synthetische Biologie folgt damit in ihren Forschungsansätzen teilweise den Entwicklungen der Chemie, die sich auch von der Naturchemie zur analytischen und dann syn-

Kreativer Umgang mit Molekülen

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thetischen Chemie entwickelt hat. Die Synthetische Chemie erwies sich historisch nicht nur als Methode zur Herstellung neuer Materialien und Stoffe, sondern auch als wesentliches Erkenntnisinstrument. Erst wenn der de novo-synthetisierte Stoff in seinem Verhalten identisch mit dem aus der Natur isolierten Material war, galt seine Strukturformel als bewiesen. D e r synthetische Biologe baut aus einzelnen „Biobricks" ein System wieder zusammen. Erst wenn dieses System sich wie vorgesehen verhält, kann jeder Komponente eine Rolle zugeordnet und damit die Funktionsweise der beteiligten Moleküle viel besser verstanden werden. Daher hat die Synthetische Biologie den Satz des Atomphysikers Richard Feynman adaptiert: „What I cannot create, I do not understand".

Zusammenbau einer Signalkette Jeder Molekularbiologe, der die Lebensprozesse in einer Zelle durch die Beschreibung der beteiligten Moleküle erklären möchte, hat ein Problem. Er kann diese Moleküle, z.B. Proteine, nie direkt sehen und in ihrem dynamischen Verhalten verfolgen. Moderne Lichtmikroskope erlauben zwar den Blick in die lebende Zelle, aber einzelne Moleküle kann man damit kaum auflösen. Es geht dem Forscher wie einem Reporter, der das Fußballfeld beobachtet, aber nicht die Spieler darauf sieht. Wie soll man so deren Spiel verstehen? Zum sehr populären Ansatz entwickelten sich in den letzten Jahren genetische K n o c k - O u t - oder Knock-Down-Techniken. Dabei werden einem Organismus einzelne oder mehrere Gene entfernt, und die darauf erfolgenden Defekte erlauben Rückschlüsse auf die Funktion bestimmter Komponenten im System. Der synthetische Biologe geht umgekehrt vor. Er sucht sich erst einmal ein geeignetes Fußballfeld und platziert dann einzelne Spieler auf dieser Fläche. Die Spielfläche ist entweder ein in vitro-System im Reagenzglas oder eine evolutionär entfernte Zelle, der die zu untersuchenden Spieler fehlen. Wichtig dabei ist, dass das zu erforschende Subsystem erst einmal weitgehend isoliert von den Einflüssen des Gesamtsystems aufgebaut und in seiner Funktion studiert werden kann. Die Synthetische Biologie nennt diese Entkopplung eines Subsystems Orthogonalität. So lassen sich etwa Komponenten der Signalkette einer Säugerzelle in einer Zelle des Modellorganismus Fruchtfliege Stück für Stück wieder aufbauen. Nehmen wir zur Illustration die Aktivierung von B Zellen, einem wichtigen Bestandteil unseres Immunsystems, durch Pathogene. Neben dem B Zell-Antigenrezeptor sind mindestens fünf verschiedene Signalwege und bis zu 200 verschiedene Moleküle an der Aktivierung dieser Zellen beteiligt. Wer soll das je verstehen? Der Forscher setzt zunächst einmal den Antigenrezeptor aus seinen vier bekannten funktionellen Komponenten wieder zusammen und stellt fest: In seinem gewählten System, einer Zelle der Fruchtfliege Drosophila, kann der Rezeptor allein keine Signale aussenden. N u n beginnt die Suche nach den Partnerproteinen. Dies sind oft Kinasen, also Enzyme, die eine Phosphatgruppe des Energieträgers A T P auf andere Proteine übertragen und durch diese Modifikation die Aktivität des Zielproteins verändern. Von den getesteten Kinasen ist nur eine in der Lage, zusammen mit dem Rezeptor Signale auszusenden. Allerdings erfolgen diese Signale konstitutiv und sind daher nicht richtig reguliert. Der Forscher sucht jetzt nach dem fehlenden Regulationsprinzip. Nun stellt er fest, es werden nicht nur Kinasen, sondern auch Phosphatasen, also Enzyme, die Phosphatgruppen von Proteinen abspalten, über den Rezeptor gesteuert. Dies geschieht durch einen so genannten negativen Feedback, der das Signal am

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Michael Reth

Rezeptor wieder abschaltet. Mittels einer solchen iterativen Strategie kann der Forscher nach und nach die essentiellen Spieler eines Signalsubsystems bestimmen. Ist der Wiederaufbau eines funktionellen Subsystems gelungen, so ist die Arbeit des synthetischen Biologen noch lange nicht zu Ende. Jetzt erst beginnt der kreative Teil, bei dem auch neuartige Moleküle hergestellt werden, die so in der Natur nicht vorkommen wie z.B. regulierbare Signalschalter oder Signaldetektoren. Hierzu greift der Forscher zu den „biobricks", um den Rezeptor und dessen Signalpartner mit neuen Funktionalitäten auszustatten. Dabei können Rezeptoren entstehen, die gelb leuchten, wenn sie in einer bestimmten Form vorliegen, oder rot leuchten, wenn sie ein Signal aussenden. Zu den aktuellen Ergebnissen dieses kreativen Forschens gehört die Erkenntnis, dass das Aktivierungsmodell des B Zell-Antigenrezeptors, wie es seit fünfzehn Jahren in allen Lehrbüchern der Welt erklärt wird, grundlegend falsch ist. Von der Synthetischen Biologie sind noch viele neue Einsichten, neue Methoden und Anwendungen zu erwarten. Werden bestimmte Signalsysteme einmal im Detail verstanden und sind Wege gefunden, sie über regulierbare Schalterproteine zu reprogrammieren, so können etwa bestimmte Zellen in unserem Körper neue Funktionen übernehmen. Unser Immunsystem verfügt über ein hochentwickeltes und ausgeklügeltes System, um eingedrungene Pathogene zu erkennen und zu eliminieren. Dieses System ist im Prinzip sehr gut dazu geeignet, auch entartete Tumorzellen zu entfernen. U b e r die Reprogrammierbarkeit mittels synthetischer Schalter und Detektoren lassen sich möglicherweise Immunzellen zu Anti-Tumor Killerzellen reprogrammieren und so neue Therapien gegen Tumore entwickeln. Dies wäre nicht das erste Mal, dass aus kreativem Forschen höchst nützliche Anwendungen entstehen. Auch die Natur nimmt das, was vorhanden ist und ,spielt' damit im Verlauf der Evolution.

Zum Thema erscheint ein Tagungsband, hg. v. ]. Boldt, G. Maio und O. Müller, mit einem Beitrag von Michael Reth.

Eckart Roloff

Göttliche Geistesblitze Wie Theologen zu Pionieren des Fortschritts wurden

u f etwas Neues, auf lange Gesuchtes stoßen, etwas erfinden oder entdecken - das gehört zum anregendsten und aufregendsten Tun des Menschen. Dazu gibt es viele Geschichten. So facettenreich, legendär oder realistisch sie auch sein mögen - wenn von Archimedes und Leonardo da Vinci, Heinrich Schliemann und Thomas Alva Edison die Rede ist, geht es immer um vorher nie Gesehenes, nie Vollbrachtes. Alles zielt dabei auf überwundene Grenzen, auf das Schnelle und Schlaue, das Elegante und Praktische, auf Geld und Ruhm, auf einen Namen für Jahrhunderte. Namen wie Peter Henlein, Johannes Gutenberg, Galilei und Kolumbus, Maria Sibylla Merian, James Watt, Marie Curie, Roald Amundsen und O t t o Lilienthal stehen für Menschen, die Rätsel lösten und Träume wahr werden ließen. Auch für Menschen, die zu Schöpfern wurden. Viele von ihnen kamen in Verruf oder gerieten in Konflikte, weil sie Bestehendes infrage stellten und auf Ungewohntes, gar Unheimliches und Revolutionäres stießen. Die Wege dahin waren vielgestaltig; es gab keine ausgefahrenen Bahnen, keine sicheren Rezepte. H o m o sapiens = H o m o faber. Auch um diese Gleichung geht es dabei, jedoch mit vielen Ungleichheiten. D e r eine kluge Kopf arbeitet planmäßig bis verbissen auf das Neue hin, dem nächsten hilft der pure Zufall, vielleicht auch schiere N o t . Die einen sehen sich gefeiert und umjubelt, andere werden verkannt, ja verfemt. Manche Erfinder waren ganz wild auf Patente, die Geld und Märkte sichern, während ihre Kollegen davon nichts wissen wollten. Die einen galten als genial, andere als verrückt. Manchmal war Lust, gar Sucht ein kreatives Motiv, manchmal der Kampf ums Uberleben. O h n e Belang ist, ob dahinter Reiche oder Arme stecken, Sprösslinge etablierter oder benachteiligter Familien: Das Erfinden kann jeden treffen, dazu muss er nicht

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Eckart Roloff

einmal in einer großen Stadt aufwachsen. Findige Köpfe stammen oft vom Land, aus Nestern. Wer sich das bewusst macht, wird sich abgewöhnen, über die Provinz zu lästern. Entscheidend waren die dort von klein auf wirkenden Impulse durch die Familie, die Schule, auch die Kirchen. Vorausschauende Lehrer und Pfarrer, gut in der Früherkennung von Talenten, beim Vermitteln von Studienchancen und Stipendien - sie haben viel beeinflusst und mitentwickelt. O h n e sie wäre vieles nicht ersonnen worden. Manchmal k o m m t das N e u e ganz schnell zustande, als Geistesblitz im wahrsten Sinne des Wortes. Meist aber dauert es Jahre und geht nicht ohne Fehler, Anfeindungen, Rückschläge, nicht ohne Scheitern und Schulden. Oft handelt es sich beim Neuen um epochale Durchbrüche, bisweilen nur um Nuancen - die Schöpfung soll noch besser werden. Mal finden Menschen in großen Gruppen zusammen, mal tüfteln Einzelkämpfer. Manche werden reich und leben wunderbar mit und von ihren Taten, andere erleiden trotz vorzüglicher Ideen Schiffbruch und gehen bankrott. Solide, ehrliche Arbeit mag beim Vordringen in eine Terra incognita überwiegen, doch die Geschichte der Erfindungen und Entdeckungen ist auch voller Kapitel aus Tricks und Fälschungen. Peter Burke sieht die Spannweite des wissenschaftlichen Tuns als „Interaktion zwischen Außenseitern und Establishments, zwischen Laien und Fachleuten, intellektuellen Unternehmern und intellektuellen Rentiers". In seinem Buch „Papier und Marktgeschrei" schreibt der englische Kulturhistoriker: „Es gibt ein Wechselspiel zwischen Innovation und Routine, Beweglichkeit und Erstarrung, inoffiziellem und offiziellem Wissen. Auf der einen Seite haben wir offene Zirkel und Netzwerke, auf der anderen Institutionen mit festem Mitgliederstamm und offiziell definierten Sphären der Zuständigkeit, die sich gegen ihre Rivalen, aber auch gegen Nichtfachleute durch dauerhafte Barrieren abschirmen." Nichtfachleute, Zuständigkeiten, Barrieren - hier wird die Sache besonders interessant. Gewiss, viele Innovatoren haben ihr Fach studiert. Darauf aufbauend haben sie etwas erfunden und entdeckt. Der Mathematiker einen eleganten, lange gesuchten Beweis, der Biochemiker einen Wirkstoff, der Astronom ferne Gestirne. Ein Ingenieur entwickelte einen noch effizienteren Motor, ein Optiker leichtere Linsen, ein Chirurg eine bessere Operationsmethode. So gehört sich das. Die Geschichte des Neuen ist jedoch auch voller Fälle, in denen nicht Spezialisten etwas in ihrem M e t i e r schufen und fanden, sondern Amateure, Angelernte, Außenseiter abseits ihrer ursprünglichen Ausbildung. So heißt es in „Buchers Illustrierter Geschichte der Erfindungen", dass ein Astronom eine Taucherglocke fabrizierte, ein Schauspieler den ersten Getreidemäher, ein Tierarzt den Luftreifen - Beispiele für die scheinbare Zufälligkeit, mit der sich Geistesblitze ereignen. Geistesblitze? Sind dafür nicht Leute zuständig, die das schillernde Wort Geist sogar in ihrer Berufsbezeichnung führen, also Geistliche? Sie sind doch sozusagen direkt vom Fach. Manche schufen Neues, aber nicht allzu Abwegiges: Martin Luther, Paul Gerhardt und Benjamin Schmolck etwa dichteten Kirchenlieder zuhauf. Der Hilfspriester Joseph Mohr schrieb den Text zu „Stille Nacht, heilige Nacht", der Theologe Christian Gloxin bastelte erfolgreich an Papporgeln. Sein Kollege Johann Hinrich Wichern erfand den Adventskranz, Pfarrer J o h a n n Friedrich Oberlin und Louise Scheppler bauten die ersten Kleinkinderschulen auf, Johannes Burckhardt die Anfänge der Bahnhofsmission, Friedrich von Bodelschwingh mit Bethel eine Stadt der Barmherzigkeit, aus deren Anstalten und Ablegern ein Konzern der Nächstenliebe erwuchs. All das

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war gut so - aber auch nicht sehr weit entfernt von ihrem täglichen Tun, vom Kerngeschäft, wie das heute heißt. Dann sind da noch die, die sich weiter hervorwagten, über die Ränder ihrer herkömmlichen Arbeit hinaus. „Göttliche Geistesblitze" hatten Mönche, Abte und Bischöfe, aber auch hochgelehrte Professoren der Theologie, einfache Landpfarrer, Abbés und Reverends - Lutheraner wie Katholiken. Die einen standen jahrzehntelang hauptamtlich im Dienst der Kirche, andere versahen dort eher nebenbei ein Amt. Manche fochten heftige Konflikte mit ihren Oberen aus, einige wurden „von oben" gefördert. Das Klischee von der wissenschaftsfeindlichen Kirche jedenfalls stimmt nur zum Teil. Gregor Mendel und Sebastian Kneipp sind bis heute berühmt. Andere hatten einmal einen großen Namen; heute aber erwähnt sie kein Schulbuch mehr, und nur selten erinnern Denkmäler, Straßennamen und Museen noch an sie. Hermann Braß, der den Leserbrief erfand, Jacob Christian Schäffer, der Pionier der Waschmaschine, August Musger, der mit Erfolg an der Zeitlupe tüftelte, sie alle sind heute fast vergessen. Etliche Gottesmänner befassten sich mit Logarithmen, Wurzelziehen, Rechengeräten und Kalenderkunde. Der Jesuit Christoph Scheiner, ein bedeutender Astronom, stieß auf die Sonnenflecken und entwickelte den Pantographen (oder Storchenschnabel), das erste Kopiergerät. Wie überhaupt viele seiner Ordensbrüder enorme Fortschritte erzielten und Neues entdeckten, an fernen Regionen, an Instrumenten wie an Erkenntnissen. Der französische Abbé Claude Chappe schuf eine Revolution in der Übermittlung von Nachrichten; seine optischen Telegrafen beeinflussten jahrzehntelang die Kriegsführung. Und wer weiß schon, dass auch der Champagner, das Grahambrot, der Zelluloidfilm und der Sterlingmotor von Theologen stammen? Sie verbindet trotz vieler Unterschiede, dass sie die biblische Schöpfungsgeschichte kannten und göttliche Schöpfungen bewunderten, selbst aber auch zu Schöpfern wurden. Und das bei aller Debatte über die Auslegung des Bibelverses „Macht euch die Erde Untertan" aus dem 1. Buch Mose, über menschliche Verantwortung, Auftrag und Sendung, Gestaltung und Grenzen. Eint diese Köpfe noch mehr? Gibt es Typisches, etwa an Prägungen, Anlagen, biografischen Stationen, günstigen Einflüssen? War es Zufall oder System, dass sie neben ihren beruflichen auch andere Ziele verfolgten? Steckte dahinter Unzufriedenheit, Protest, glühender Ehrgeiz, Ruhmsucht? Oder ist es nur kurios? Eine statistisch relevante Antwort auf diese Fragen lässt sich nicht geben, dafür ist die Menge der erfinderischen Geistlichen dann doch zu klein, gemessen an den Hunderttausenden von Theologen aus der Geschichte des Christentums. Auch sind innerhalb dieser Promille-Gruppe derart abweichende Lebenswege, Fächer und Orientierungen auszumachen, dass bestimmende Muster nicht zu greifen sind, wenigstens nicht über naheliegende Kriterien wie Neugier, Beharrlichkeit, Ideenreichtum und Offenheit hinaus. Gleichwohl liegt in der Frage nach allgemeingültigen Mustern eine Herausforderung, die Wissenschaftssoziologen und Innovationsforscher reizen müsste - und auch die Kirchenhistoriker. Die aber haben dieses Thema fast völlig ignoriert. Roger Bacon, der Franziskanermönch, der im 13. Jahrhundert viel bis dahin Unbekanntes dachte und schuf - in Verbindung gebracht wird er mit Schießpulver, Lupen, besseren Kalendern, Ballons, Luftschiffen und Visionen von Motoren schrieb über den Nutzen des Neuen: „Die Wohltaten der Erfinder fallen dem ganzen menschlichen Geschlechte zu, während die bürgerlichen Wohltaten nur bestimmten Ländern zugute kommen. Auch dauern diese nicht über einige Menschenalter hinaus; jene aber in alle Ewigkeit. Die Erfindungen gleichen neuen Schöpfungen

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Eckart Roloff

und sind Nachahmungen der göttlichen Werke" - eine selbstbewusste, theologisch durchaus umsichtige Standortbestimmung! Mit seinen Spekulationen über Ballons und Luftschiffe zielte Roger Bacon auf etwas, was nach ihm noch viele Kirchenleute umtreiben sollte. Auch der Bischof von ehester, John Wilkens (1614-1672), ein einfallsreicher Naturforscher, dachte über fliegende Objekte und atmosphärische Bedingungen nach. Von Bischof Francis Godwin erschien 1638 ein visionäres Buch zum Mann im Mond. Der Jesuit Francesco de Lana-Terzi entwickelte um 1663 eine Ballontheorie, bemühte sich um ein Luftschiff und stellte sogar eine Technikfolgenabschätzung an. Die ergab, dass solch ein Luftschiff zum militärischen Faktor werden könne, weil es Angriffe aus der Luft erlaube. So gab sich de Lana-Terzi selbst ein Haltsignal: „Gott wird es nicht billigen", meinte er, „dass eine solche Maschine in die Tat umgesetzt wird, um zu verhindern, dass Regierung und Politik umgewälzt wird" - ein Beispiel aus der noch ungeschriebenen Geschichte der durch den Glauben verhinderten Erfindungen. Nicht lange danach, 1709, ging Bartolomeu Lourengo de Gusmäo, ein aus Brasilien stammender Ordensbruder de Lana-Terzis, einen entscheidenden Schritt weiter: Er entwickelte ein Flugmodell und startete damit am Hof des portugiesischen Königs einen veritablen Kammer-Versuch. Der endete zwar, als der Flugapparat gegen einen Vorhang segelte, doch ein Anfang war gemacht. O b Otto Lilienthal davon gehört hatte? Ganz anders als Francesco de Lana-Terzi glaubte der Flugpionier um 1895, das Fliegen werde zum Wegbereiter dauerhaften Friedens. „Die Landesverteidigung, weil zur Unmöglichkeit geworden, würde aufhören, die besten Kräfte der Staaten zu verschlingen", schrieb er: „Das Ende blutiger Kämpfe um die imaginär gewordenen Grenzen würde uns den ewigen Frieden schaffen." So naiv war Bartolomeu Lourengo de Gusmäo nie gewesen. Das Fliegen faszinierte auch Pastor Friedrich von Bodelschwingh so sehr, dass er lenkbare Luftschiffe ohne Ballon entwarf und mehrfach skizzierte - 15 Jahre vor Zeppelin! Er war überzeugt, dass das die Gefährte der Zukunft seien. Politische, militärische oder theologische Uberlegungen hatte er dabei nicht, er glaubte nur an den aviatorischen Fortschritt. Was hat das alles mit dem Glauben zu tun? Hängt es überhaupt mit dem Beruf des Geistlichen zusammen? Eines ist klar: Man muss keineswegs ein Fach studiert haben, um in ihm Neues und Bedeutsames zu erreichen. Jenseits der religiösen Dokumente hinterließen die Mönche des Mittelalters ihre Handschriften, Karten und Glocken; sie bauten mit an Kapellen und Kathedralen, sie kelterten Wein, brauten Bier und verstanden sich auf heilsame Kräuter. Ihre Zeiten waren nicht finster und rückständig, auch wenn es unterschiedlich produktive Phasen gab. Und ein gutes Dutzend evangelischer und katholischer Geistlicher zählt zu den Wegbereitern der Mathematik. Sie waren fasziniert von Primzahlen und Quadratwurzeln, von magischen Quadraten und von dubiosen Berechnungen zum Weltuntergang. Hier deutet sich dann doch ein gemeinsames, durchgehendes Merkmal an: Seit Jahrhunderten gehören Geistliche zu den Bildungseliten. Sie kannten die Welt der Theologie und standen dabei zugleich mitten im Leben, sei es als Agrar-Pioniere wie die Mönche, sei es als Theorie-Avantgarde wie die mathematisch versierten Geistlichen. Für einen „göttlichen Geistesblitz" konnte es nur gut sein, über die rein empirischen Daten hinausdenken zu können - also in der Vita activa ebenso zu Hause zu sein wie in der Vita contemplativa. So verstanden, passen Erfindungen und Religionen dann doch sehr gut zusammen. Nicht zuletzt sind ja auch die Religionen mit ihren Regeln, Riten, Normen und Bildern Erfinder kom-

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plexer Realitäten. Nur eine Religion, meint jedenfalls der amerikanische Zukunftsforscher Stewart Brand, könne mit Recht als wichtigste Erfindung der letzten 2000 Jahre gelten. Und da in dieser Zeit bloß zwei bedeutende gestiftet worden seien, das Christentum und der Islam, nominiert er beide gleichberechtigt als wichtigste Erfindung dieser langen Spanne, denn, so Brand, „man stelle sich einmal die vergangenen 2000 Jahre - oder auch die unmittelbare Gegenwart ohne sie vor". Dagegen verweist der amerikanische Philosoph Jay Ogilvy bei der Frage nach der wichtigsten Erfindung der letzten 2000 Jahre auf die Säkularisation, die „Emanzipation von den Göttern". Erst mit dem Auftreten von Denkern wie „Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud wurde es vorstellbar (wenn auch nicht selbstverständlich), Atheismus zu predigen", glaubt Ogilvy: „Es waren Erfinder einer neuen Ordnung, die uns die Freiheit ließ, unseren eigenen Regeln zu folgen, befreit vom irrigen Glauben an den Willen der Götter und von der Furcht vor göttlicher Bestrafung. Ich für meinen Teil bin bestürzt darüber, wie zögerlich diese Erfindung akzeptiert wird." Mit göttlicher Inspiration hat solche Invention allerdings wohl weniger zu tun. „Wie schad, dass ich kein Pfaffe bin/ Das wäre so mein Fach./ Ich bummelte durchs Leben hin./ Und dächt' nicht weiter nach", reimte einst Wilhelm Busch. Dass es so beschaulich nicht zuging in der geistigen Welt der Theologen und Seelsorger, das zeigen all die Neuerungen, die sie ersonnen haben. „Göttliche Geistesblitze" sind die Funken, die dort entstehen, wo zwei Welten aufeinandertreffen. Ohne den Geist der Geistlichen wären sie undenkbar.

Bernhard Schlink

Die Zukunft der Verantwortung* l. ie Vergangenheit der Verantwortung ist kurz. Erst im 19. Jahrhundert tauchte der Begriff auf, erst im 20. wurde er geläufig. Er verdrängte den Begriff der Pflicht, der als Kennzeichnung dessen, was zu tun sei, nicht mehr angemessen erschien. Er verdrängte ihn in der theologischen und philosophischen Ethik, in der Politik und in der Wirtschaft. Was der Christ der Welt politisch und sozial schuldete, war über Jahrhunderte der Gehorsam gegenüber Gottes Gebot gewesen. Im 19. Jahrhundert wurde, was Gottes Gebot in der nicht mehr ständisch gefügten, sich industrialisierenden und demokratisierenden, unübersichtlich werdenden Welt bedeute, immer fraglicher. Das politische und soziale Engagement des Christen konnte nicht mehr einfach der Erhaltung der brüchig gewordenen alten, sondern musste der Gestaltung einer neuen Ordnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens gelten. An die Stelle der alten, engen Vorstellung von der Pflicht, Gottes Gebot zu gehorchen, trat die neue, offene Vorstellung von der Aufgabe der politischen und sozialen Gestaltung in Verantwortung vor Gott. Für den Atheisten säkularisierte sich die Verantwortung vor G o t t im 19. Jahrhundert zur Verantwortung vor der Geschichte, sei es einer Geschichte des Fortschritts, einer Geschichte der Klassenkämpfe oder einer Geschichte der Kämpfe der Rassen und Völker ums Uberleben. Heinrich Heine, bei dem der Begriff der Verantwortlichkeit erstmals auftauchte, forderte den Menschen zu einem Leben „im Gefühl seiner ernsthaften Pflichten, seiner Verantwortlichkeit gegen Mitwelt und Nachwelt" auf.

* Der Beitrag ist Dr. Renate Jäger zum siebzigsten Geburtstag gewidmet.

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Schlink

In die Politik fand die Verantwortung im 19. Jahrhundert als Ministerverantwortung Eingang. Wenn der Minister das Gesetz brach, konnte er bestraft werden. Er hatte eine Rechtspflicht verletzt. Wenn er handelte, wo Politik nicht vorausgesehen und nicht gesetzlich geregelt werden konnte, konnte er keine Rechtspflicht verletzen. Hier, w o es nicht um das Befolgen und Brechen von Gesetzen ging, wurde das Reden von Pflichten als unpassend empfunden. Das Reden von Verantwortung passte besser zu den Spielräumen politischer Selbständigkeit und Eigenmacht, in denen der Minister für sein ungerechtes, unbilliges oder auch nur unkluges Handeln nicht vor Gericht gezogen werden konnte, aber dem Parlament Rede und A n t w o r t zu stehen hatte oder, bei entsprechender Gestaltung der Verfassung und Stellung des Monarchen, sogar abgesetzt werden konnte. Sowohl in der theologischen und philosophischen Ethik als auch in der Politik begegnete der Begriff der Verantwortung zunächst als Begriff der prospektiven oder Ex-ante-Verantwortung. Dieser Begriff, bei dem es um die Wahrnehmung von Aufgaben geht, die vor einem liegen, wird vom Begriff der retrospektiven oder Ex-post-Verantwortung unterschieden, bei dem es um das Einstehen für Geschehnisse geht, die sich bereits ereignet haben. In diesem zweiten Sinn begegnete der Begriff der Verantwortung zuerst in Wirtschaft und Industrie. Hier war er die Antwort auf die grundlegende Veränderung der Arbeitswelt durch den Fortschritt der Technik und die Zunahme der Arbeitsteilung. Durch beides schoben sich zwischen das Handeln einer Person und das Eintreten einer Wirkung immer mehr vermittelnde Instanzen, Personen, Maschinen und Verfahren, die die Zurechnung der Wirkung zum Handeln der Person immer schwieriger machten. A n die Stelle von Schäden, die eine Person durch ihr pflichtwidriges Handeln einer anderen zugefügt hatte, traten Schäden, die das Resultat eines komplizierten Zusammenspiels von pflichtwidrigem und pflichtgemäßem menschlichem Handeln, technischem Funktionieren und Versagen und überdies natürlichen Faktoren waren. Die Bewältigung dieser Eisenbahn- und Bergwerksunglücke, Kesselexplosionen, Wasser- und Luftverseuchungen war nicht mehr über die Suche nach Einzelnen zu leisten, die die Schäden durch die Verletzung ihrer Pflichten verursacht hatten. Die Schäden mussten denen zugerechnet werden, die das komplizierte Zusammenspiel eingerichtet und überwacht beziehungsweise zu überwachen versäumt hatten, oder vielmehr dem Unternehmen, für das sie standen, und der Versicherung, die für das Unternehmen eintrat. Ähnlich wie der Minister konnten auch diese Verantwortlichen ihre Aufgabe nicht durch pünktliche Befolgung genauer Vorschriften erfüllen. Statt bürokratischer Pflichterfüllung waren Selbständigkeit und Eigenmacht, Kreativität und Initiative, Organisationsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft gefordert. Es versteht sich, dass die beiden Begriffe der prospektiven und der retrospektiven Verantwortung miteinander verknüpft sind. Die ethische Verantwortung des Christen oder auch Atheisten für die Welt wie die politische Verantwortung des Ministers wurden zwar zunächst prospektiv gedacht, sie verwandelten sich aber, wenn ihnen nicht genügt wurde, in eine retrospektive Verantwortung für das Ungenügen. Die Verantwortung derer, die das Zusammenspiel der Fabrik, der Eisenbahn oder des Bergwerks eingerichtet und überwacht hatten, kam zwar zunächst als retrospektive Verantwortung für das Unglück, das aus schlechtem Einrichten und Uberwachen resultierte, in den Blick, wurde damit aber auch zur Verantwortung für gutes Einrichten und Überwachen. Die vierstellige Relation, die den Verantwortungsbegriff kennzeichnet, ist ohnehin in allen Fällen die gleiche: J e m a n d (zum Beispiel der Minister) ist für etwas (prospektiv für die gerechte, bil-

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lige und kluge beziehungsweise retrospektiv für die ungerechte, unbillige und törichte Politik) vor jemandem (dem Parlament) nach Maßgabe von N o r m e n (dem G e b o t , Gerechtigkeit und Billigkeit zu befördern und Klugheit walten zu lassen) verantwortlich. Diese im 19. und 2 0 . Jahrhundert aufgekommenen Verantwortungsbegriffe und -themen prägen die Diskussion noch heute. Auch das heutige T h e m a der Verantwortungsüberforderung hat seinen Anfang im 19. Jahrhundert. Sören Kierkegaard hatte den Begriff der Verantwortung in die Philosophie eingeführt und den Menschen umfassend für sein Leben verantwortlich gemacht, das gelungene wie das misslungene, das selbst gewählte wie das nicht selbst gewählte. Friedrich N i e t z s c h e stellte zwar, um den M e n s c h e n von der ü b e r k o m m e n e n Moral zu befreien, die These von der Unverantwortlichkeit des M e n s c h e n auf, sprach ihm damit aber die nicht kleinere, sondern größere Verantwortung für das Leben in Freiheit zu. Es deutete sich an, dass eine U b e r f o r derung darin liegt, die Verantwortung des Menschen mit seinen im Zeitalter der Industrie und Demokratie wachsenden Einfluss- und Wirkungsmöglichkeiten einfach mitwachsen zu lassen.

2. D i e heutige Verantwortungsdiskussion steht zum einen im Zeichen der weiter gewachsenen und weiter wachsenden Wirkungsmöglichkeiten menschlichen Handelns, die Gefahren und Risiken freigesetzt haben und freisetzen, die über bisherige Gefahren und Risiken weit hinausgehen. D e r M e n s c h kann heute seine U m w e l t , sein Klima, seinen Planeten zerstören. D i e Diskussion steht zum anderen im Zeichen der Ausdifferenzierung und der Globalisierung der Gesellschaft und der veränderten Rolle des Staates. D i e gesellschaftlichen Systeme, zum Beispiel die Systeme der Wirtschaft, der Politik und der Wissenschaft, funktionieren derart nach ihren eigenen Logiken, der Logik des Geldes, der M a c h t oder der Wahrheit, dass das, was die Gesellschaft zusammenhält, zwischen den Systemen verlorenzugehen droht. D e r Verlust droht besonders, weil das System der Wirtschaft mehr als die anderen Systeme der Gesellschaft nicht mehr ein nationales System, sondern global geworden ist und weil der Staat, der traditionelle Sachwalter dessen, was die Gesellschaft zusammenhält, national beschränkt bleibt. Wer soll die Verantwortung tragen, wenn aus systeminternen Prozessen Schäden resultieren, die nicht nur das System selbst, sondern auch und vor allem andere Systeme oder die Gesellschaft als Ganze treffen? D i e Frage stellt sich, o b es sich u m große und größte anzunehmende Unfälle, U m w e l t - oder Klimaschäden, Wirtschafts- oder Finanzkrisen handelt. Ein Artikel im N e w Yorker verglich kürzlich die Erschütterung der Finanzmärkte mit der Erschütterung der Millennium Bridge in London am Tag ihrer Einweihung. Minuten nach ihrer Eröffnung begann die Brücke zu schwingen und zu schwanken und musste geschlossen werden. Die Untersuchung ergab, dass die Architekten und Ingenieure nicht bedacht hatten, dass der zufällige Gleichschritt einiger weniger Fußgänger die B r ü c k e leicht schwingen lässt und dass die anderen Fußgänger ihren Schritt auf dieses leichte Schwingen abstimmen, dadurch den Gleichschritt verstärken, die Brücke heftiger schwanken und letztlich bersten lassen. D i e Fußgänger handeln vernünftig, das Ergebnis ist unvernünftig - der Artikel wollte illustrieren, wie auch bei der Finanzmarktkrise rationales Verhalten Einzelner zur irrationalen Katastrophe führen konnte. Ein hübsches Bild, bei dem man geneigt ist, die Fußgänger für die Bankkunden zu nehmen, die verantwortlichen Architekten und Ingenieure für die verantwortlichen Banken und die Stadt

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London, die die Brücke schloss und umbauen ließ, für den Staat, der die Finanzmärkte retten musste. Aber nein, der Artikel sah die Banken in der Rolle der vernünftigen Fußgänger und den Staat in der Rolle der Architekten, Ingenieure und der Stadt London zugleich. Systemtheoretisch ist das auch richtig. Während Architekten und Ingenieure auf das Ganze von Statik, Ästhetik und Benutzbarkeit zu achten haben und der Staat Gefahren für die Benutzer wie für die Allgemeinheit abzuwehren hat, wollen Fußgänger lediglich vorankommen und setzen Fuß vor Fuß. Wie die Fußgänger daran interessiert sind, möglichst ungehindert Fuß vor Fuß zu setzen, sind die Banken daran interessiert, möglichst unreguliert Geschäft um Geschäft, Gewinn um Gewinn zu machen. Und wie die Fußgänger die Architekten, Ingenieure und die Stadt London verantwortlich machen, machen die Banken den Staat verantwortlich: Er hätte eben mehr regulieren müssen oder weniger deregulieren dürfen. In der systemfunktional ausdifferenzierten Gesellschaft gehorchen die Banken der Logik des Finanzsystems, wie andere der Logik ihres Systems gehorchen. Im Rechtssystem bearbeiten Richter, Staats- und Rechtsanwälte Fall um Fall so, dass dem Recht genügt wird; für die Herzinfarkte, Magengeschwüre und Depressionen, die jemand wegen eines Urteils erleidet, werden sie nicht verantwortlich gemacht. Im Wissenschaftssystem forschen Wissenschaftler, um das Wissen zu mehren; ob sie dafür verantwortlich sind, dass die Kernspaltung zum Bau der Atombombe und die Genforschung zur Manipulation von Genen benutzt wird, wurde zwar diskutiert, wird aber letztlich verneint. Der Schriftsteller wird nicht dafür verantwortlich gemacht, dass der Selbstmord in seinem Roman Teenager zum Selbstmord animiert, und der Filmregisseur nicht für den Amoklauf des Schülers, der seinen Film über einen amoklaufenden Schüler gesehen hat - das Kultursystem orientiert sich an der sinnstiftenden und kommunikationsfördernden Qualität seiner Produkte, nicht an deren sozialen Wirkungen. Das heißt nicht, dass es in der systemfunktional ausdifferenzierten Gesellschaft keine Verantwortung gäbe. Es gibt die Verantwortung für das Funktionieren im System, für die verlässliche Wahrnehmung der beruflichen Rolle, die jemand im System spielt. Der Richter ist dafür verantwortlich, dass seine Entscheidungen das Recht zur Geltung bringen, der Wissenschaftler für methodisch korrekte Forschung und der Künstler dafür, dass seine Werke, wenn nicht Sinn stiften und Kommunikation fördern, dann immerhin unterhalten. Wer seine berufliche Rolle im Finanzund Wirtschaftssystem spielt, ist für den ökonomischen Erfolg der Bank oder des Unternehmens verantwortlich. Um diese Kernverantwortungen legen sich Randverantwortungen; der Richter hat die Parteien, der Wissenschaftler die Mitarbeiter und der Künstler das Modell mit Respekt zu behandeln, und dem Banker und dem Unternehmer dürfen die Arbeitnehmer und die Kunden nicht gleichgültig sein. Aber diese Randverantwortungen stehen im Schatten der Kernverantwortungen; Erfolg misst sich daran, ob den Kern-, nicht ob den Randverantwortungen genügt wird. Es gibt in der systemfunktional ausdifferenzierten Gesellschaft noch eine andere Verantwortung, die mit außerberuflichen Engagements vielfacher Art einhergeht. Polizisten trainieren Hand- und Fußballjugendmannschaften, Apotheker dienen in der freiwilligen Feuerwehr, Handwerker und Lehrer sind Kirchengemeinderäte, Jugendliche unterstützen Dritte-Welt-Aktionen und Rentner helfen jungen Familien, denen die Großeltern fehlen. Reiche fördern bestehende oder gründen neue Stiftungen und unterstützen NGOs, die manchmal sogar Politik und Gesellschaft verändern. Es handelt sich um Verantwortung als Liebhaberei - mit der Verantwortung im System hat sie ebensowenig zu tun wie Golf- oder Tennisspielen. Sie kann denn auch mit einer ganz und gar ver-

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antwortungslosen Wahrnehmung der Rolle im System einhergehen. U n t e r n e h m e r haben als „robber barons" M e n s c h e n ruiniert und zugleich Museen und Institute gestiftet, und Bernard L. Madoff war ein verlässlicher Mäzen. N i c h t dass das die Verantwortung als Liebhaberei diskreditieren würde. D i e Beispiele der „robber barons" und Madoffs zeigen aber an, wie entfernt die Verantwortung als Liebhaberei von der Verantwortung im System ist. Auf die Frage, wer für die Schäden verantwortlich ist, die Krisen und Katastrophen eines Systems in anderen Systemen und in der Gesellschaft als Ganzer verursachen, ist die Verantwortung als Liebhaberei keine Antwort. Beides ist und schafft keine Verantwortung für das, was die Gesellschaft zusammenhält. A b e r eine Instanz für diese Verantwortung k o m m t in der Systemtheorie auch nicht vor. D i e Systemtheorie vertraut auf das M i t - und Gegeneinander der Systeme, deren Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit und einen evolutionären Prozess, in dem die Systeme, wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, sich auf die kommenden Herausforderungen einstellen. A b e r nicht nur in der Systemtheorie, sondern auch in der Wirklichkeit der Systeme k o m m t die Instanz für den Zusammenhalt nicht vor. D e r Staat ist überfordert, nicht nur als Nationalstaat durch globale Herausforderungen, sondern auch, weil er mehr und mehr Aufgaben der Daseinsvorsorge, der Infrastrukturgestaltung und -erhaltung, der Gewährleistung von Sicherheit und O r d n u n g abgibt und damit auch mehr und mehr an Steuerungskraft verliert. Mit der Entstaatlichung geht der Niedergang der Volksparteien einher; je punktueller die Verantwortung des Staats wird, desto punktueller wird auch die Wahrnehmung von Politik durch Parteien und Bürger. Bei der Jugend zeigt sich die Veränderung besonders deutlich. Sie ist nicht weniger bereit als früher, Verantwortung zu übernehmen. A b e r während ihr Interesse früher dem galt, was die Gesellschaft zusammenhält, und sie in die Parteien führte, gilt es heute diesem und jenem „Single issue". N i c h t einmal das, was ihre Lebens- und Ausbildungswelt zusammenhält, kann noch auf das frühere und schon früher nicht große Interesse rechnen; statt für Studenten- und H o c h schulpolitik übernehmen die Studenten lieber Verantwortung für eine originelle Liebhaberei.

3. Wer ist verantwortlich für die A b w e h r der Gefahren und Risiken beziehungsweise für die Schäden, die Krisen und Katastrophen eines Systems in anderen Systemen und in der Gesellschaft als Ganzer verursachen? Sind die Systeme verantwortlich? D e r Gedanke liegt nahe, weil eine solche Systemverantwortung dem Systemvertrauen korrespondieren würde, ohne das das Zusammenleben in der systemfunktional ausdifferenzierten Gesellschaft nicht gelingt. Keiner kann das Funktionieren der hochspezialisierten, hochkomplizierten Systeme, auf das er angewiesen ist, selbst kontrollieren. Dass es im Rechtssystem mit rechten Dingen zugeht, dass Wissenschaftler die Ergebnisse ihrer Forschungen korrekt gewinnen und berichten und dass Ärzte auf der H ö h e der medizinischen Wissenschaft und Technik behandeln - wer mit den Systemen zu tun hat, kann sich unter Bekannten umhören und im Internet recherchieren und statt dieses Rechtsanwalts jenen und statt des einen Arztes einen anderen wählen. A b e r die Wahl des richtigen Rechtsanwalts und Arztes, Architekten und Beraters bei der Bank bleibt Glückssache, und spätestens beim Gericht und beim Labor hört die Wahlfreiheit auf und kann nur noch vertraut werden. Es gibt auch Ansätze von Systemverantwortung. D e r Staat des 19. und 20. Jahrhunderts hat mit der Einführung der H a f t u n g von U n t e r n e h m e n plus Versicherungen und mit der Schaffung

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von Solidargemeinschaften Systemverantwortung institutionalisiert. Weitere Ansätze von Systemverantwortung realisieren sich in den Kammern der freien Berufe, den kassenärztlichen Vereinigungen, dem Einlagensicherungsfonds des Bundesverbandes der Deutschen Banken, der Selbstverwaltung der Universitäten, dem Deutschen Presserat und manchem anderen. Aber die Gefahren und Risiken, für die diese überkommenen Ansätze die Systeme in die Verantwortung nehmen, sind die Gefahren und Risiken von gestern, nicht von heute. Bleibt die Verantwortung für das, was die Gesellschaft zusammenhält, also an den Einzelnen hängen? Sie bleibt nicht an ihnen hängen, die Einzelnen können sie abwehren, und das empirisch untersuchte Arsenal der Strategien der Verantwortungsabwehr erweist sich als reich: So schlimm sind die Probleme unserer Gesellschaft nicht - es besteht kein Grund zur Aufregung; wenn jeder seine Aufgabe erfüllt (gemeint ist: wenn jeder in seinem System funktioniert), läuft die Gesellschaft - ich erfülle meine Aufgabe; in unserer Gesellschaft gibt es für alles Zuständigkeiten, auch für das, was die Gesellschaft zusammenhält - sie liegt bei der Politik und den Parteien und den Kirchen, aber nicht bei mir; wer anderen bei ihren Problemen hilft, hilft ihnen nur scheinbar sie müssen lernen, sich selbst zu helfen. Eine empirische Untersuchung der ethischen Einstellungen von Führungskräften in Wirtschaft und Verwaltung zeigt auf, wie diese grob skizzierten Strategien benutzt werden. Die befragten Führungskräfte sprachen viel über das Gewissen, dem sie sich in erster Linie verpflichtet fühlten, kennzeichneten es aber als eine subjektive Instanz, die auch nur einen subjektiven Maßstab für Gut und Böse biete - Gewissensentscheidungen seien Gefühlssache. In zweiter Linie fühlten sie sich der Rechtsordnung verpflichtet, die den objektiven Maßstab für Gut und Böse biete. Das Zusammenspiel dieser beiden Verpflichtungen bringt erstaunliche Resultate. Bei den moralisch besonders zu verurteilenden Handlungen, die aus einer Liste moralisch umstrittener Handlungen auszuwählen waren, führten Ladendiebstahl, kriegsrechtswidrige Gefangenenerschießung, Werksdiebstahl und Krankfeiern und galten Steuerverkürzungen und Preisabsprachen bei öffentlichen Ausschreibungen als moralisch akzeptabel. Neben der beruflichen Verantwortung wurde die Verantwortung für die Familie betont und dann auch für die Freunde; als im Leben besonders wichtig wurden Friede und Freiheit genannt, die Freiheit der persönlichen Lebensgestaltung und die Freiheit der Staats- und Gesellschaftsordnung. Konflikte zwischen den Anforderungen des Berufs und denen des Gewissens wurden selten und seltener als bei einer früheren Untersuchung empfunden, sei es, weil die berufliche Situation der persönlichen Gewissensentscheidung mehr R a u m gibt, sei es, weil das persönliche Gewissen opportunistischer geworden ist. Ubereinstimmung bestand, dass einem nichts geschenkt werde und dass man sich nach der Decke strecken müsse - als eigene Erfahrung und als Ermahnung für andere. Immer wieder machten sich Führungskräfte den Vorwurf, sie seien zu weich und ließen es an der nötigen Härte gegenüber ihren Untergebenen fehlen. Im Ergebnis sieht die Untersuchung weniger materialistische über nichtmaterialistische Orientierungen dominieren als vielmehr individuumsbezogene über individuumstranszendierende; sie spricht von einem neuen Egoismus gerade der jüngeren Führungskräfte. Das mag weder der beruflichen Verantwortung gerecht werden, die Führungskräfte im System haben, noch der, die sie gewissermaßen als Liebhaberei außerhalb des Systems wahrnehmen. Es zeigt aber an, dass die berufliche Verantwortung auf das Funktionieren im System und gemäß der Logik des Systems reduziert ist. Sie blickt nicht über die Grenze des eigenen Systems und gilt nicht dem, was die Gesellschaft zusammenhält und was das eigene System bei anderen Systemen

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und in der Gesellschaft anrichtet. Dass es um eine entsprechende übergreifende Verantwortung schlecht bestellt ist, zeigt noch ein weiteres Stück Empirie, die Berufsprestigeskala, die von Allensbach jährlich erstellt wird. An ihrem Ende finden sich Politiker, Gewerkschaftler, Journalisten und Manager - die Berufe, bei denen die Gesellschaft einen Sinn für das Ganze erwartet, aber vermisst. An ihrer Spitze stehen Ärzte, Pfarrer, Professoren, Grundschullehrer und Unternehmer - bei ihnen findet die Gesellschaft diesen Sinn eher. Dazu kommt, dass bei den Berufen am Ende nicht einmal für die berufliche Verantwortung gilt, was Arnold Gehlen treffend als Voraussetzung für Verantwortung benannt hat: dass jemand die Folgen seines Handelns öffentlich abgerechnet bekommt. Politiker stürzen vielleicht über Parteispenden, nicht sozialversicherte Putzfrauen und nicht gehörig sortierte Bonusmeilen, aber nicht über ihre Politik, und Manager kriegen ihren Bonus, auch wenn sie versagt haben, und begegnen alsbald als Manager des nächsten Unternehmens. Die übergreifende Verantwortung wird nicht nur dadurch abgewehrt, dass man sich ihr entzieht. Sie wird außerdem nach unten weitergereicht. Zu den Faktoren, die für den Zusammenhalt einer Gesellschaft sorgen, gehört zentral, dass Menschen Arbeit haben, von ihrer Arbeit leben können und in ihrer Arbeit ihre Würde erfahren. Wenn es hierfür eine übergreifende Verantwortung gibt, dann liegt sie gewiss nicht nur, aber auch bei Managern, Unternehmern und Aktionären. Tatsächlich hat sich im öffentlichen Diskurs aber der Konsens herausgebildet, der Wettbewerbsdruck sei nie zu groß, das Kostenmanagement nie zu radikal und der Gewinnanspruch nie zu hoch. Entsprechendes Wirtschaften gehorche nur den Sachzwängen der globalen Märkte; es sei ohne Alternative und entziehe sich damit einer moralischen Beurteilung unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung. Mäßigung könne nicht von Managern, Unternehmern und Aktionären, sondern müsse von Arbeitnehmern verlangt werden. Sie seien für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich, weil sie falsch oder schlecht qualifiziert, zu wenig flexibel, zu wenig mobil, nicht hinreichend leistungsorientiert, zu teuer seien. Weil sie, modern gesprochen, vor ihrer Verantwortung für das eigene Humankapital versagten und nicht verstünden, dass sie sich selbst besser managen und vermarkten müssten. Dasselbe Muster des Weiterreichens von Verantwortung findet sich bei der Diskussion der Finanzmarktkrise. Zu dem Argument, der Weg in die Krise sei nach immanenten Gesetzlichkeiten abgelaufen, denen die Akteure hätten gehorchen müssen, weshalb sie nicht verantwortlich zu machen und moralisch zu verurteilen seien, kam das andere Argument, die Hypothekenschuldner, Darlehensnehmer und Käufer schlechter Papiere seien selbst verantwortlich; wenn jemand gierig gewesen sei, dann seien sie es gewesen. Aber das Weiterreichen funktioniert nicht wirklich. Vielleicht lernt der Käufer schlechter Papiere, seiner Bank nicht mehr zu trauen und Bundesschatzbriefe zu kaufen. Was soll der Arbeitslose lernen, für den es keine Arbeit gibt? Nach einer Weile richtet er sich im System Hartz IV ein. In diesem System hat er seine Rolle und nimmt sie auch verlässlich wahr; er kommt mit dem aus, was er kriegt, und vielleicht verdient er, weil er keine Steuer zahlen muss und also auch keine Steuer hinterziehen kann, stattdessen ein paar Euro schwarz. Die übergreifende Verantwortung, die an ihn weitergereicht wird, kommt auch bei ihm nur noch als kleine Münze der Verantwortung für das Funktionieren im System an. Was er anrichtet, indem er sich auf diese Verantwortung beschränkt, interessiert ihn ebenso wenig wie die, die sie an ihn weitergereicht haben. Der HartzIV-Empfänger ist der Bruder des Managers, der nur seine berufliche Rolle verlässlich wahrnimmt. Auf treffende Weise hat mir das eine Bemerkung eines Arbeitslosen übers Schwarzarbeiten illus-

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triert: Der Staat müsse das Schwarzarbeiten eben schärfer kontrollieren, meinte er - wie die Banker, die zur Finanzkrise bemerken, der Staat müsse eben die Finanzmärkte stärker regulieren. 4. Vom Versagen vor der übergreifenden Verantwortung war bisher beim Wirtschaftssystem die Rede. Es zeigt sich nicht nur bei ihm. Das politische System erzeugt Akteure, bei denen als Ziel oft nur erkennbar ist, dass sie aufsteigen oder, einmal aufgestiegen, oben bleiben wollen; im Rechtssystem reüssieren Richter, deren arbeits- und zeitsparende Deals eine Variante von Korruption sind und das Vertrauen in Recht und Gerechtigkeit schwächen; an den Universitäten interessieren Professoren sich nur für die reputations- und gehaltsmehrende Forschung und nicht für die Lehre und schon gar nicht dafür, was aus den Studenten wird; und für das Fernsehen zählt nur noch die Quote - Beispiele des Versagens finden sich überall. Dennoch gibt es einen guten Grund, beim Wirtschaftssystem anzusetzen. Die Systemtheorie kennt unter den Systemen, aus denen sich die Gesellschaft konstituiert, ein jeweils führendes. Nicht dass dieses System die anderen Systeme hierarchisch beherrschen würde. Aber mit seiner Komplexität, Veränderungs- und Anpassungsfähigkeit sei es der Komplexität der Welt besser gewachsen als die anderen. Daher dominierten seine Probleme die Probleme der anderen Systeme, seine Möglichkeiten zeichneten den anderen Systemen ihre Möglichkeiten vor, an seiner Rationalität und Sprache orientierten die anderen Systeme ihre Rationalität und Sprache. In unserer Zeit identifiziert die Systemtheorie die Wirtschaft als das führende System; sie habe die Politik abgelöst, um vielleicht eines Tages von der Wissenschaft abgelöst zu werden. Die Probleme, die die Gesellschaft dominierten, seien in unserer Zeit die Probleme der Wirtschaft. Die prägende Kraft des Wirtschaftssystems ist vielfach sichtbar. Dass weder Wissenschaft noch Kultur noch Religion eine der Wirtschaft vergleichbare Lobby haben, ist nicht neu. Neu ist eine leise Okonomisierung der Gesellschaft. Wissenschaft muss heute für sich werben und sich verkaufen; wie beim Fernsehen auf die Quote wird beim Film auf den Blockbuster und beim Buch auf den Bestseller gesetzt; die Kirchen lernen, sich als Wettbewerber auf dem Markt der Lebenssinnangebote zu verstehen und zu verhalten. Die Einführung von Leistungsanreizen in Verwaltung und Justiz soll Engagement und Flexibilität erhöhen, unterstützt bei den Beschäftigten aber auch die Grundhaltung des Vorteilskalküls, die die Beschäftigten in der Wirtschaft geneigt macht, nicht den Nutzen des Kunden, sondern die eigene Provision und den eigenen Bonus zu maximieren. Wie der Arbeitnehmer sich zum Arbeitskraftunternehmer wandeln muss, muss jeder, der in der Arbeitswelt Erfolg haben will, unternehmerische Qualitäten zeigen. Er muss qualifiziert, kreativ, innovativ und initiativ sein, muss seine Ellenbogen benutzen und Netzwerke knüpfen, muss auf Enttäuschungen, Misserfolge und Ungerechtigkeiten geschmeidig reagieren. Zur Okonomisierung der Gesellschaft gehört auch, dass mit der Akzeptanz der Sachzwänge der globalen Märkte als Grund für die Alternativlosigkeit der heimischen Finanz- und Wirtschaftssituation auch der Rest der Gesellschaft als alternativlos gesehen und akzeptiert wird. Wo es keine Alternativen gibt, kann eine übergreifende Verantwortung auch nichts ausrichten; sie wird entbehrlich, und es bleibt nur die Verantwortung für das Funktionieren im System. Mit dem Wirtschaftssystem wird auch dessen Verantwortungskultur prägend. Sie hat eine Tradition, in der voraussehbare und vermeidbare schädigende Folgen des Handelns nicht negativ,

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sondern positiv zugerechnet werden. Unternehmer, die Investitionen wagen, dadurch Konkurrenten ruinieren und dadurch Arbeitnehmer in die Arbeitslosigkeit und Familien in die Armut treiben, handeln nicht verwerflich, sondern setzen sich erfolgreich durch. Das ist nicht selbstverständlich; die statische zünftische Wirtschaft des Mittelalters war so organisiert, dass Innovation und Konkurrenz verhindert und deren Gefahren und Schäden vermieden wurden. Es ist der Preis dafür, dass der Kapitalismus Innovation und Konkurrenz nicht wegen ihrer Gefahren und Schäden verhindert, sondern wegen ihrer Chancen fördert und dadurch eine enorme Dynamik und Produktivität freisetzt. Deren Nutzen ist unübersehbar. Unübersehbar ist aber auch, dass der Kapitalismus eine Verantwortungskultur erzeugt hat, in der voraussehbare und vermeidbare schädigende Folgen wirtschaftlichen Handelns von den Betroffenen zu ertragen oder von Staat und Gesellschaft zu lindern sind, eine Kultur der Verengung der Verantwortung auf die Wahrnehmung der eigenen Rolle. Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft hat versucht, diese Verantwortungskultur auf soziale Gerechtigkeit zu verpflichten. Aber seine Leuchtkraft hat abgenommen.

5. Die Gegenwart der Verantwortung ist gekennzeichnet durch eine große Bereitschaft zur Eigenverantwortung. Das Bewusstsein wächst, dass die Herausforderungen des Lebens aus eigener Kraft bewältigt werden müssen. Dies schlägt sich in der Berufs- wie in der Liebhabereiverantwortung nieder; es versteht sich für mehr und mehr Menschen, dass sie ihre beruflichen Rollen nicht mehr bürokratisch, sondern kreativ und initiativ ausfüllen und dass sie sich auch außerhalb des Berufs und ohne materielle Entlohnung engagieren müssen. Von alledem mag man sich noch mehr wünschen. Aber das Problem der heutigen Verantwortungskultur ist nicht, dass es zu wenig Eigenverantwortung gäbe. Es ist der Mangel der übergreifenden Verantwortung, die dem gilt, was die Gesellschaft zusammenhält. Es ist dies eine prospektive und retrospektive Verantwortung, eine Verantwortung dafür, dass die großen Krisen, die unserer Gesellschaft drohen, nicht eintreten, und dass, wenn sie doch eintreten, die Schäden beseitigt werden. Dabei sind die großen Krisen die, die in oder von einem System verursacht werden, sich aber nicht nur auf dieses System, sondern auch auf andere Systeme und die Gesellschaft als Ganze verhängnisvoll auswirken. Diese Krisen sind groß auch insofern, als der Staat die Verantwortung für sie nicht mehr schultern kann. Eine große Krise ist die Krise des Arbeitsmarkts, die nicht nur mal mehr und mal weniger Arbeitslose, sondern eine stetig wachsende Schicht von arbeits- und bildungsfernen und auch -unfähigen Familien hervorbringt, deren Reintegration in die Gesellschaft eine ebenso schwierige Krisenbewältigungsaufgabe ist wie die Integration integrationsunfähiger oder auch -unwilliger Migrantenfamilien. Eine große Krise ist die Bildungskrise, die zu viele falsch, schlecht oder nicht ausgebildete Absolventen hervorbringt. Eine große Krise wird in unserer alternden Gesellschaft vermutlich das Ansteigen der Krankheits- und Pflegekosten. Eine große Krise ist vielleicht schon die mediale Verwüstung von Kindern und Jugendlichen durch Fernsehfilme, Computerspiele und Internetangebote. Eine große Krise ist die Finanz- und Wirtschaftskrise.

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Krisenzeiten sind Zeiten der Appelle an die Einzelnen. D e r e n Problem ist das Problem der Predigten, die nur die Menschen erreichen, die ohnehin im Gottesdienst sitzen. D a r u m muss man die Appelle nicht verachten und mag sogar versuchen, sie zu verschärfen. D i e Kultur der Verantwortung, die fehlt, ist eine Kultur der Verantwortung in den Systemen, die nicht nur jeweils dem Funktionieren des Systems und im System gilt und nicht nur dem Funktionsmodus des Systems gehorcht, sondern die die Wirkungen des systemimmanenten Handelns auf andere Systeme und die Gesellschaft als G a n z e berücksichtigt - gewissermaßen eine Verantwortung, die den H o r i z o n t der Systemtheorie hinter sich lässt. Es ist eine Verantwortung, unter der U n t e r n e h m e r nicht nur Gewinn machen, Politiker nicht nur aufsteigen, Richter nicht nur ihre Fälle erledigen, Professoren nicht nur ihre Reputation mehren, Lehrer nicht nur ihre Stunden durchstehen und Fernsehredakteure nicht nur Q u o t e machen wollen. A b e r der Appell an die Unternehmer, sich um die Ausbildung Jugendlicher zu kümmern, statt sich über schlecht ausgebildete Jugendliche zu beschweren, braucht die Verstärkung durch andere Unternehmer. D i e öffentliche Entrüstung über absurde Managergehälter und - b o n i braucht die unterstützende Entrüstung von Managern. D i e Lehre an den Universitäten wird nicht besser werden, wenn nicht die Professoren die Kollegen ablehnen, die sich aus der Lehre nichts machen und sich nicht u m sie kümmern. Fernsehsendungen werden nicht an Niveau gewinnen, wenn unter den Redakteuren die Q u o t e ohne Niveau nicht ähnlicher Herablassung begegnet wie jetzt das Niveau ohne Q u o t e . Es gibt eine Kumpanei der Leistungsträger, bei der die, die vielleicht durchaus verantwortlich handeln, das unverantwortliche Handeln anderer als deren Privatsache ansehen. Also müsste der Appell an die unverantwortlich Handelnden zum Appell an die verantwortlich Handelnden verschärft werden. A b e r die Aufkündigung der Kumpanei fällt so schwer wie das verantwortliche Handeln. D i e Aufkündigung der Kumpanei durch individuelle Kollegenschelte bleibt erspart, wo es gelingt, übergreifende Verantwortung durch Festlegungen und Einrichtungen verbindlich zu machen. Es gibt Ethikräte in Krankenhäusern und ethische Regeln für Mediziner in Praxis und Forschung. Es gibt ethische Regeln für Ingenieure. Es gibt Initiativen von Studenten, „honor c o d e s " für das eigene Verhalten an der Universität auszuarbeiten, und wenn sie gelingen und nicht nur systemimmanente Verantwortung, sondern übergreifende Verantwortung zur Geltung bringen, werden sie auch Professoren in die Verantwortung entsprechender Selbstverständigungen und -festlegungen nehmen. Banken und U n t e r n e h m e n könnten Entsprechendes erarbeiten. D e r Einwand ist stets, dass die, die verantwortlich handeln, keine schriftlichen Festlegungen brauchen, und dass bei denen, die unverantwortlich handeln, auch schriftliche Festlegungen nicht helfen. A b e r Festlegungen und Einrichtungen setzen Maßstäbe und schaffen Verbindlichkeit; wenn die einen sie haben, fordert die Gesellschaft sie und das entsprechende Verhalten auch von den anderen. Das alles bleibt weit entfernt von dem, was für die Bewältigung der großen Krisen der heutigen Zeit erforderlich ist. Es bleibt davon so weit entfernt, wie es im 19. und 20. Jahrhundert die ü b e r k o m m e n e n Festlegungen auf das waren, was die Angehörigen eines Berufsstands nicht nur ihren Klienten, sondern auch der Allgemeinheit schuldeten. Z u r Bewältigung der großen Krisen seiner Zeit musste der Staat des 19. und 2 0 . Jahrhunderts übergreifende Verantwortung mit der Einführung der H a f t u n g von U n t e r n e h m e n plus Versicherungen und mit der Schaffung von Solidargemeinschaften institutionalisieren. E r musste die Systeme in die Verantwortung nehmen; statt die gefahrenträchtigen und risikoreichen Unternehmensabläufe zu steuern, machte er die

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U n t e r n e h m e n haftbar, statt für die wirtschaftenden Individuen das R e c h t und die Pflicht zum Schutz in individuellen Beziehungen zu regeln, organisierte er das Kollektiv der Wirtschaftenden als Solidargemeinschaft. Es mag sein, dass das Scheitern des Staates bei der Regulierung der Finanzmärkte, aber auch bei der Gestaltung von Wissenschaft, Bildung und Ausbildung oder bei der Organisation des Gesundheitswesens, das dem Fehlen nicht nur der Kraft, sondern auch der K o m p e t e n z zum Regulieren geschuldet ist, wieder nur durch die Institutionalisierung von Systemverantwortung überwunden werden kann. Das würde zum Beispiel bedeuten, der Wirtschaft Ausbildungs- und Arbeitsplatzkontingente zur internen Aufteilung zuzuweisen oder den Akteuren des Gesundheitssystems einschließlich der Pharmaunternehmen das Anhalten der Kostenspirale zu übertragen oder den Medien die Entwicklung und D u r c h f ü h r u n g von Projekten zur Erziehung der Kinder und Jugendlichen zur Gewaltfreiheit aufzugeben oder die Banken zahlen zu lassen, wenn die Finanzmärkte kollabieren. Neue F o r m e n der Systemverantwortung k ö n n t e n einzelne U n t e r n e h m e n oder Banken ebenso ungerecht treffen, wie die alten F o r m e n es tun, wenn sie den Gesunden für den Kranken und den Starken für den Schwachen eintreten lassen. Es läge an den Systemen, die Außenverantwortung in eine Innenverantwortung zu übertragen, bei der Ungerechtigkeiten vermieden oder akzeptiert werden, weil sie in solidarischer Gemeinschaft getragen werden. Es versteht sich, dass Systeme sich gegen die Institutionalisierung von Systemverantwortung wehren würden. D e r Staat braucht für sie zwar nicht mehr Kompetenz, aber mehr Kraft, als er heute hat. Vielleicht wächst ihm, wenn die Lage wirklich verzweifelt wird, die Kraft der Verzweiflung zu.

Ulrich Scbollwöck

Aus Bildung wird Bologna: ein Zwischenruf aus den Naturwissenschaften

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ls Naturwissenschaftler kann man es sich ja mit den vielfältigen Veränderungen, die sich gegenwärtig an den Hochschulen abspielen, recht bequem und einfach machen: die

Reformen sind ja nicht nur mit einer für die im Augenblick hochgeschätzten Naturwis-

senschaften wenig bedrohlich erscheinenden, manchmal vielleicht auch überschätzten O k o n o misierung der Hochschulen verbunden, sondern eben vor allem auch mit einer „Vernaturwissenschaftlichung", handelt es sich ja bei genauerer Betrachtung oft schlicht darum, Paradigmen des Forschens und Lehrens, die sich in den Naturwissenschaften durchaus bewährt haben, recht

schematisch und ohne große weitere Überlegung auf andere Bereiche universitären Lebens zu übertragen. Es wäre nun nur menschlich, allzu menschlich, feierten Naturwissenschaftler diesen vermeintlichen „Sieg" durch selbstzufriedenes Zurücklehnen, vielleicht gepaart mit ein wenig stiller Verachtung für die offensichtlich zurückgebliebenen, jetzt per Zwang zu ihrem Glück zu befördernden anderen Fächer. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, denen es ja um eine Beschreibung der Außenwelt zu tun ist, handeln die Geisteswissenschaften vom Menschen, beinhalten ein Bild vom Menschen - und dieses Bild schließt immer auch einen Begriff von Bildung ein, ohne dessen Reflexion eine gesellschaftliche und kulturelle Verortung der Universität - auch unter Einbeziehung der Naturwissenschaften - nicht stattfinden kann. Dementsprechend sollten sich gerade auch Naturwissenschaftler, die ja zumeist in den geisteswissenschaftlichen Diskussionen nicht ernstlich beheimatet sind, zunächst klassischer Positionen zum Bildungsbegriff vergewissern, um so zu einer Reflexion auch ihres eigenen Standorts zu gelangen. In der alltäglichen Praxis wird der Bildungsbegriff in den Naturwissenschaften eigentlich überhaupt nie thematisiert und zu Beginn des Nachdenkens mag es dann genauso scheinen wie im

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berühmten Satz Augustinus' über die Zeit: „Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es einem Fragenden erklären will, weiß ich es nicht." Bildung wäre also zuerst ein Begriff, den man leichter abgrenzen als definieren kann. Erinnert fühlt man sich dabei an eine Rahnersche negative Theologie, wobei vielleicht in Anbetracht an die Funktionalität, die der Begriff der „Bildung" in der deutschen Gesellschaft im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert gehabt hat, eine theologische Betrachtung fast angemessen erscheint - am besten gleich unter Thematisierung der Rolle des Nebengotts der Bildung, der „Wissenschaft" als Religionsersatz, und ihrer spannungsreichen Beziehung. Zunächst seien also die Abgrenzungen klar herausgearbeitet, was Bildung zumindest im deutschsprachigen Raum nicht ist, denn im Englischen und Französischen gibt es wohl keine Entsprechung dieses auch vor dem Hintergrund einer politischen Ohnmacht der deutschen Kleinstaaten im Allgemeinen und des Bürgertums im Speziellen gewachsenen Begriffs. Zunächst drängt sich die Abgrenzung zum angelsächsischen Bildungsideal des „well-educated gentleman" auf, ein humanes Ideal, das sich vor allem durch Verhaltensnormen auszeichnet und damit im Kontext einer ganzen europäischen geistesgeschichtlichen Tradition steht, angefangen mit Castigliones „Cortigiano", karikiert in Thorstein Vehlens „Theory of the leisure class" gegen Ende des 19. Jahrhunderts, überhöht in der „effortless superiority" des Balliol College, Oxford, in der edwardianischen Abenddämmerung des British Empire, bis hin zum Habitus eines Wissenschaftsstandes mit seinen „feinen Unterschieden", der uns dann zu Bourdieu bringt, ein Stand, der aber in Deutschland allerspätestens im Nachgang von 1968 nicht mehr existiert, womit die Geschichte dieses Ideals zumindest in Bezug auf unsere Frage nach der Abgrenzung einen Abschluss findet. Festzuhalten ist, dass der deutsche Bildungsbegriff traditionell wesentlich mehr auf Inhalte denn auf Verhaltensnormen abstellt. Trotzdem mag man sich fragen, ob der Bezug elitärer Statuspositionen nicht auch teilweise Bestandteil unseres deutschen Bildungsbegriffs ist. Hier sollte man ohne Illusion sein. Denkt man zum Beispiel an die musikalische Bildung in Form des eigenen instrumentellen Spiels, so ist dieses in Bezug auf andere intellektuelle Fähigkeiten und auf ökonomische Anwendbarkeit zumeist nutzfrei, wird aber durchaus nicht nur um seiner selbst willen betrieben, sondern auch zur sozialen Abgrenzung instrumentalisiert. Eine weitere Abgrenzung des Bildungsbegriffs, die im gerade Gesagten schon anklingt, ist die zu einem reinen Nützlichkeitsgedanken, zu einer unmittelbaren Zweckorientierung, wegen derer die Naturwissenschaften, insbesondere aber die Technikwissenschaften nach wie vor nicht wirklich als Teil der Bildung akzeptiert werden, was ich bedauerlich finde: ein Grundverständnis nicht nur humaner Gegebenheiten, sondern auch der Natur, deren Teil wir sind, schiene mir ebenso wichtig. Wie auch immer man das sehen mag, so ist das Klagen über eine zunehmende Zweckorientierung der Universitäten alt, wurde doch schon vor 100 Jahren der Vorwurf eröffnet, dass es bei der universitären Bildung nur noch um die Produktion unermüdlicher, selbstzufriedener Sklaven ginge. Heute würde man statt von Sklaven von passgenauem Firmenfutter samt Skills und Kompetenzen sprechen; aber womöglich reicht diese Klage bereits in die grauen Frühzeiten europäischer universitas' zurück. Aus diesen Abgrenzungen heraus entwickelt sich dann aber doch schemenhaft, und hier drängen sich problematische, aber vielleicht dann doch durch konkreten Inhalt füllbare Hochwertworte auf, ein Bild von Bildung als einer zur Selbstkritik und zur Reflexion befähigenden geistigen Handlung, ein Lernen für die andere Situation. Eine Brücke könnten wir damit vielleicht bauen zum viel verlangten kreativen unternehmerischen Handeln, wenn man es nicht auf rein

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ökonomisches Handeln verengt, das sein eigenes Primat setzt. Dass gerade der gebildete Mensch zur eigenständigen Problemdefinition und Problemlösung, zur Entfaltung, zur Regelüberwindung im Stande ist, und um Hans-Joachim Meyer zu zitieren, den Willen zu und die Freude am Wissen hat, zu freiheitlichem Handeln imstande ist, könnte man auch als unternehmerisches Handeln beschreiben. Man kann sich natürlich fragen, ob es schön und auch sinnvoll ist, den letztlich doch ökonomisch besetzten Begriff des unternehmerischen Handelns außer-ökonomischem Handeln überzustülpen - begriffliche Eigendynamiken sind da vorprogrammiert. Ebenso alt wie die Bildung ist ihre Krise, das Zitat vom unermüdlichen Sklaven lässt das ja bereits anklingen. Auch Nietzsche hat schon von Bildung als lebensfeindlichem Motiv gesprochen. Vielleicht sollte man aber statt der Krise des Bildungsbegriffs, die schon so alt und offensichtlich ebenso zäh ist wie die Bildung selbst, sodass man diese Krise vielleicht gar nicht mehr ernst nehmen sollte, eher die Krise des Bildungs(vermittlungs) prozesses in den Blick nehmen, wobei man jedoch unterscheiden muss, ob es dabei mehr um eine philosophische Problemstellung geht oder schlicht um eine finanzielle, denkt man an die auch in Zeiten der Exzellenzinitiative chronische Unterfinanzierung der deutschen Universitäten. Aber es gibt auch durchaus intrinsische Probleme des Bildungsbegriffs. Ein abstrakter Begriff von Bildung impliziert ein Risiko der Apathie und der pathologischen Selbstverhornung. Eine besondere Rolle der Universität kann hier nun genau darin bestehen, dass sie durch ihren permanent sich erneuernden Kontakt zur Gesellschaft und durch ihre spezifische Struktur eines Nebeneinanders von Kooperation und Konkurrenz pathologievermeidend wirken kann. Zu den intrinsischen Bedrohungen eines lebendigen Bildungsbegriffs treten natürlich auch äußere Bedrohungen, vor allem durch Nützlichkeitsideologien, sei es durch die Okonomisierung der Bildung, das Desiderat der Marktförmigkeit oder durch eine output-orientierte Bildungsideologie. Hier kommt nun eigentlich der Bereich, in dem die Rolle der Naturwissenschaften zu problematisieren ist. Naturwissenschaften zeichnen sich stark durch eine Algorithmisierung des Wissens aus, denn es ist natürlich in der Tat so, dass die Erstellung konnotationsfreier Codes und das soweit als möglich kontextfreie Argumentieren das zentrale Wesen mathematischen und naturwissenschaftlichen Denkens ist. Das macht seinen Erfolg in vielerlei Hinsicht aus, zeigt aber gleichzeitig auch seine Grenzen auf. Genau die Übertragung dieses naturwissenschaftlichen, im Anwendungsbereich sehr tauglichen, aber dann doch äußerst reduzierten Bildungsbegriffs in fremdes Terrain stellt ein zentrales Problem dar. Die Naturwissenschaften stellen auch insofern ein Einfallstor der Bedrohung dar, als sie den heute oft anstelle der Bildung gesetzten, hochgelobten Kompetenzbegriff in einer durchaus harmlosen Weise verwenden: es geht in ihnen schlicht und ergreifend darum, durch die Algorithmisierung des Wissens hochkomplexe theoretische oder experimentelle Fertigkeiten zu erwerben, und das zunächst völlig frei von jeder ökonomischen Anwendbarkeit oder sonstigen Finalität. Aber der Kompetenzbegriff ist janusköpfig, kann noch ganz andere Ausformungen und Inkarnationen finden und zum Beispiel zu der heute in den reformierten Studiengängen im Vormarsch befindlichen Wissensakkumulationsweise führen, die als Bildungsbulimie bezeichnet werden könnte. Der Rückschritt von den sittlichen sokratischen, platonischen oder auch aristotelischen aretai zu denen des frühen griechischen Adels ist dann nicht mehr fern: da geht es nicht mehr um unserem Bildungsbegriff, sondern die effiziente Abwicklung des Gegners, damals im Kriegerischen, jetzt gerne im Ökonomischen.

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Das problematische Wechselspiel zwischen geisteswissenschaftlich geprägtem Bildungsbegriff u n d Naturwissenschaft ist aber nur Teil eines größeren Problems, das sich seit Humboldt durch die Bildungsdiskussion zieht, nämlich des, wie schon angedeutet, doch recht spannungsreichen Verhältnisses zwischen Bildung und Wissenschaft. Geht es um Bildung durch Wissenschaft? Das ist ein weites Feld. Ich persönlich hätte zwar eine sehr präzise, wenn auch subjektive Vorstellung davon, was denn Wissenschaft sei, aber eine wesentlich unpräzisere Vorstellung von den Implikationen in Hinblick auf den Bildungsbegriff. Ich wäre überrascht, wenn es vielen anderen Fachwissenschaftlern nicht genauso erginge. Es ist also in der Wissenschaft überaus sinnvoll, über ihre Bildungsfunktion zu reflektieren und das heißt insbesondere natürlich jenseits der disziplinären Zwecke. Eine erste Brücke zum Bildungsbegriff könnte aus der Haltung gebaut werden, dass Erfolgsorientierung ebenfalls ein wissenschaftsfeindliches Ideal ist. Natürlich ist hier die Form des Erfolges zu differenzieren in inner-wissenschaftlichen und außen-wissenschaftlichen Erfolg; nur der letztere w a r ja als wissenschaftsfeindlich gemeint. Erfolg im Sinne der Gewinnung neuer Erkenntnis ist sicherlich nicht wissenschaftsfeindlich, sondern geradezu ihr Kern! Das Reflektieren jenseits der rein disziplinären Zwecke ist vielleicht der einfachste, aber sicher nicht weit genug reichende, auch nicht unproblematische Zugang zur Rolle der Wissenschaft im Bildungskontext. Es führt nämlich geradewegs zu einem momentan epidemischen Phänomen, das ich als Verleitung zur Interdisziplinarität bezeichnen würde. Während eine passgenaue Auswahl von Forschern aus verschiedenen Disziplinen zur Durchführung eines definierten Projekts wie etwa im C o l l e g i u m Helveticum funktionierende Interdisziplinarität im besten Sinne darstellen kann, gerät sie zu einem seichten Geplätscher ohne große Konsequenz, wenn man etwa Physikern Geschichte verabreicht und umgekehrt, und sich davon ein Heureka-Erlebnis durch Bewußtseinserweiterung erwartet - hier mögen Roß und Reiter ungenannt bleiben. Beispiele gibt es jedenfalls genug. Die Ausdifferenzierung der Wissenschaften in immer neu entstehende und auch vergehende Disziplinen hat zumeist ganz klare sachliche Gründe. Dabei entstehen neue Fächer und assoziierte Studiengänge auch durch Zusammenfassen von Teilbereichen „alter" Fächer, das ist wissenschaftsimmanent und weist einer organisch gewachsenen Interdisziplinarität als Trendsetter für neue Disziplinbildungen und unerwartete Innovationen eine bedeutende Rolle zu. Was man hingegen im M o m e n t nicht ohne Sorge beobachten kann, ist eine Art Interdisziplinaritätsschub par ordre de mufti. Deutsche Spezifika spielen hier eine Rolle: Die Exzellenzinitiative hat zu einer Art Interdisziplinarität ohne viel Nachdenken geführt, weil sie eben politisch gewünscht wurde. Auch der Bologna-Prozess hat, ohne dass es in der Bologna-Deklaration in irgendeiner Weise gefordert worden wäre, bei den Studiengängen zu einem vermeintlichen Innovationsschub geführt, der sich in angeblichen Interdisziplinaritäten manifestiert. Die allen geläufige Akkreditierungsindustrie hat durch die Auferlegung von oft sinnlosen Alleinstellungsmerkmalen dieses Phänomen gefördert: Jürgen Kaube berichtet von 11.000 deutschen Studiengängen, die sich im Wesentlichen durch eine gewisse Bindestrich-Kultur und dubiose Alleinstellungsmerkmale ausdifferenzieren. Das resultierende Chaos sollte man nicht durch eine Fehlinterpretation des Bildungsbegriffs noch befördern. Als Angehörige der Universitäten müssen wir natürlich auch diskutieren, inwieweit denn die Universität überhaupt der geographische Sitz der Bildung ist oder sein kann. Wie zahlreiche andere Hochschullehrer bin ich durch ein humanistisches Bildungsideal geprägt, das dazu neigt, Bildung sehr stark mit der gymnasialen Bildung und der Allgemeinbildung zu assoziieren, ohne

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sie, das sei betont, gleichzusetzen: viele der vorhin genannten Aspekte von Bildung wäre so viel zu wenig ausgeprägt. Die Rolle der Universität bestünde dann darin, diese einfach mit zunehmender persönlicher Reife noch weiter zu vertiefen und auf eigenständiges Denken und Schaffen hin zu erweitern, bei gleichzeitiger fachlicher Spezialisierung. Aber die wesentlichen Bildungselemente sind dabei doch schon im Gymnasium oder im Elternhaus angelegt worden. Hier drängt sich nun die Frage auf, inwieweit in diesem Gesamtprozess das Gymnasium seine ihm zugedachte Rolle noch leistet. Schon allein die ganz anderen Rekrutierungsgruppen des heutigen Gymnasiums lassen hier massive Zweifel aufkommen. Gleichzeitig kommt es zu der paradoxen Entwicklung, dass einer seit Jahrzehnten propagierten Verwissenschaftlichung der Schule auf der anderen Seite geradezu kompensatorisch eine Verschulung der Universität gegenüber steht, da sich die Universität zunehmend damit befasst, kulturelle Grundtechniken zu vermitteln, die man früher im Gymnasium verortet hätte. Man wagt dabei gar nicht mehr, überhaupt an Grundelemente der Bildung zu denken; dafür fehlen Zeit und Raum. U m diesem Phänomen entgegenzutreten, werden verschiedene Modelle diskutiert, etwa das eines universitär betriebenen Colleges anstatt der letzten Schuljahre oder Ausformungen einer Art von Studium generale. Hier erhebt sich die offensichtliche Frage nach der Durchsetzbarkeit im deutschen Schulsystem, denn insbesondere das College würde die inhaltliche Entwertung des Abiturs aktenkundig machen; stattgefunden hat sie ja bereits ohnehin. Aber wie genau könnte man ein solches Vorhaben umsetzen? Das Einzige, was zunächst möglich scheint, ohne die Gralshüter der bestenfalls sogenannten allgemeinen Hochschulreife völlig vor den Kopf zu stoßen, wäre die Umsetzung als ein Pilotprojekt für eine kleine Gruppe von Spitzenschülern. Dieser elitäre (besser: meritokratische) Zugang hat seine eigenen Schwächen und Schwierigkeiten, würde aber als Sonderweg im System etabliert, bevor er als allgemeiner Angriff aufgefasst würde. Er würde auch exzellente Hochschuldozenten anziehen, die dort sehr gerne unterrichten würden, weil sie in ihren Hörern ihre zukünftigen Mitarbeiter sehen, und somit die Besten früh an sich binden wollen, um später einmal hervorragende Diplomanden (oder: Gesellen - auf dem Weg zum Master?) und Doktoranden zu gewinnen; rein auf Altruismus zu setzen, wäre hier dann doch naiv. Eine Diskussion des Bildungsbegriffs bleibt wesentlich unvollständig, wenn sie nicht auf die Studienreformen der letzten Jahre, die mit dem Begriff „Bologna-Prozess" nur teilweise gefasst werden, eingeht. Es gibt wohl kaum jemanden, der die zentralen Ziele der Bologna-Reform wie höhere Mobilität und Senkung der Abbrecherzahlen in Frage stellen wollte. Was sich aber mittlerweile als zentrales Problem erweist, ist, dass im Kontext der Bologna-Reform keinerlei Diskussion zum Bildungsbegriff stattgefunden hat. Die Pädagogik, die da betrieben wird, würde ich als „vulgärpädagogisch" bezeichnen, konzeptionell oberflächlich und diffus, letztlich nur an ihren Taten identifizierbar. Betrachten wir dazu einen Begriff aus der deutschen Diskussion, die viel beschworene „employability". Von seiner Herkunft her ist dies ein Begriff ursprünglich aus Großbritannien, der dort eingesetzt wird, wenn es darum geht, wie man die Menschen, die auch den niedrigsten Schulabschluss nicht erlangt und im Wesentlichen keine Lese- und Schreibfähigkeiten haben, doch durch geeignete Nachqualifikationen dem Arbeitsmarkt zuführen kann, sie „employable" macht. Wir benutzen den Begriff im völligem Unverständnis seiner Provenienz, was sicher im Rahmen internationaler Bildungsdiskussionen zu fatalen Mißverständnissen führt. Das erinnert an das „public viewing" bei der Fußballweltmeisterschaft: im Englischen bezeichnet es die Leichenschau nach einem ungeklärten Todesfall und passte im WM-Kontext bestenfalls auf

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das Spiel der französischen Mannschaft. Der Punkt mag pedantisch erscheinen, wirft aber auf jeden Fall ein Schlaglicht auf begriffliche Schwammigkeiten aller Art. Natürlich gibt ein implizites Bildungsmodell in der Bologna-Reform, wobei dieses stark national variieren mag: die Umsetzung in verschiedenen europäischen Ländern, das muss man immer hinzufügen, ist ja radikal unterschiedlich. Im speziell deutschen Fall ist es das Modell des N ü r n berger Trichters oder des bulimischen Lernens, das sehr schön durch den „work load" mit seiner strukturellen Gleichheitsannahme und der Idee, dass im Prinzip Wissen beziehungsweise der Wissenserwerb aufgrund einer uniformen Geschwindigkeit in Stunden zusammengefasst werden kann, veranschaulicht wird. Das ist natürlich ein besonderer Auswuchs, aber wie so mancher Exzess instruktiv für die zugrundeliegende Denkweise. Wobei man vielleicht gar nicht beschönigend von Exzessen sprechen sollte: studentische Vertreter berichten von Uberstundenzetteln und der Taylorisierung des Studiums. M a n fragt sich, wie die enorme Regelhaftigkeit, die in der Reform eingeführt wird, dazu führen soll, unternehmerisches Denken, das vielleicht bei Studenten in Deutschland zu wenig ausgeprägt ist, wenn man sie etwa mit amerikanischen Studenten vergleicht, besonders zu fördern. Etwa in den soft skill-Modulen? Gerade wenn die passiv rezipierte Vorlesung als ineffiziente Bildungsform und echter Rückschritt gegenüber moderneren Formen des Lernens jetzt wieder durch Bachelor und Master in den Mittelpunkt des Studiums gestellt wird, bleibt Eigeninitiative auf der Strecke. Leider sind die sehr positiv zu wertenden Bologna-Ziele in Deutschland bis jetzt nicht erreicht worden, das wird gerade auch von studentischer Seite betont, lässt sich auch aus wissenschaftlichen Studien ablesen, sofern man sich bei deren Interpretation weniger verbiegen möchte als etwa das Bundesministerium für Bildung und Forschung oder die Hochschulrektorenkonferenz. Natürlich hat sich die Mobilität in den letzten Jahren verändert. O b sich die Mobilität der deutschen Studenten erhöht hat, sei dahingestellt, auch wenn es nicht so zu sein scheint. Wir haben aber auf jeden Fall mehr internationale Studenten, aber ob angesichts eines allgemeinen Trends, dass das Studium internationaler wird, der Zusammenhang mit der Einführung des Bachelor und Master Koinzidenz oder Kausalität ist, ist eine Frage, die man sich als quantitativer Wissenschaftler stellen sollte, wie immer, wenn Zahlen unvermittelt nebeneinander gesetzt werden. Der Blick aus der Ferne kann ja sehr erhellend sein, etwa der aus der chinesischen Perspektive. Dort scheinen sich die Studenten, so berichten zumindest Kenner der Szene, im Augenblick von einer Einstellung zu lösen, die im Westen gerne noch arrogant mit den „blauen Ameisen" in Verbindung gebracht wird, und mehr zu wollen als eine reine Fachausbildung. Das sollte uns sehr zu denken geben, wir ruhen uns bis jetzt ja gerne darauf aus, dass dort im Wesentlichen Roboter produziert würden, die alles nur kopieren, während die Kreativität quasi bei uns beheimatet sei. Nicht nur, weil sich unser Studium im Moment in die entgegengesetzte Richtung bewegt, könnte uns das alles noch böse auf die Füße fallen. Nach dieser doch eher düsteren Diagnose erhebt sich die Frage nach einer Lösung der Probleme, nach einer Reform der Reform, wie sie in manchen Ländern, etwa Italien, bereits stattgefunden hat. Nach zehn Jahren Bologna-Reform und seit Jahren offensichtlichen, weitgehend auch prognostizierten, aber politisch totgeschwiegenen Defiziten sind ja die ersten Hoffnungsschimmer am H o r i z o n t zu sehen, und ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass in diesem Zusammenhang auch eine Reflexion des Bildungsbegriffs in den Zeiten von Bologna nachgeholt wird. Es gibt aber zu denken, wenn politisch Agierende bis hin zur Ministerebene beklagen, dass leider die Vernunft des Arguments in diesem Prozess sehr kurz kommt. Mir k o m m t dabei ein Zitat

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des Büchnerpreisträgers Martin Mosebach in den Sinn, das er im Zusammenhang mit der Durchsetzung gröbster Auswüchse moderner Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg gebrauchte: „das schwatzte sich gegen den Augenschein Begriffsklumpen zusammen, die in Deutschland immer ein leichtes Spiel gegen die Evidenz haben." Man mag sich allerdings fragen, ob organisierter und konsequenter Widerstand mehr hätte erreichen können: In der Schweiz wurde zum Beispiel der Master zum Regelabschluß - ein Desiderat auch in Deutschland - aufgrund hartnäckigen Widerstands der Schweizer Universitätsprofessoren, die nicht in der bequemen Position der Verbeamtung sind, und somit höheren Pressionen ausgesetzt werden könnten; vielleicht sind aber die Schweizer wie so oft einfach pragmatischer. Allerdings kann in Deutschland immerhin der Hochschulverband darauf verweisen, dass viele seiner seit Jahren vorgebrachten Kritikpunkte, mit denen er lange allein auf weiter Flur stand und für die er als reaktionär und ewig gestrig beschimpft wurde, heute doch in vielen Teilen politischer main stream geworden sind, nicht zuletzt aufgrund der studentischen Proteste, die aufgezeigt haben, als wie gravierend die Defizite der Reform empfunden werden. Trotzdem sind zehn verlorene Jahre zu konstatieren. Die laufende Diskussion verweist darauf, dass hier die Dozierenden und Lernenden, und im Humboldtschen Sinne verstehe ich nicht nur die Studierenden, sondern auch die Dozierenden als Lernende, keine reine Binnendiskussion führen können, sondern natürlich auch Außenanforderungen ausgesetzt sind. Dagegen ist für die Universität als einer staatlich finanzierten und in der Gesellschaft verankerten Institution auch nichts einzuwenden. Auch unsere Möglichkeiten und Grenzen sind durch die Gesellschaft gegeben, wenn wir zum Beispiel risikofreudige Studenten generieren wollen in einer Gesellschaft, die in weiten Teilen risikoavers ist und meint, das Erreichte durch Besitzstandswahrung festschreiben zu können, während sich rundherum die Welt weiterentwickelt. Die Rolle der Politik ist es, zwischen dem gesellschaftlichen Interesse und dem universitären Eigeninteresse zu vermitteln. Was sind also diese Außenanforderungen? Es gibt da natürlich die schon angesprochene „employability". Von Seiten der Verfechter dieses Begriffs wurde da schon der erste Paragraph der Grundordnung zur Gründung der erzhumboldtianischen Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin hervorgehoben, in der - vermeintlich ganz entgegen dem Bildungsideal des Gründers - recht spezifische Berufsziele des öffentlichen Diensts als Daseinszweck der Universität genannt werden. Hier wäre viel zu diskutieren, inwieweit sich nicht gerade ein umfassend gebildeter Mensch für den Dienst an der Öffentlichkeit eignen würde; inwieweit der erste Paragraph nicht wie so oft eher deklamatorischen Charakter gehabt haben könnte: Das bayerische Schulgesetz etwa verankert als oberste Bildungsziele die Ehrfurcht vor Gott sowie die Erziehung zur Liebe zur Heimat. In der Praxis geht es dann aber doch vor allem um Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen, wie ja auch die PISA-Studie belegt. Vielleicht sollte hier vor allem erst einmal einem sparsamen Monarchen das Geld aus der Tasche gezogen werden? Honi soit qui mal y pense ... Als weitere Außenanforderungen treten aber solche hinzu, die gar nicht Bologna-spezifisch sind, sondern aus einer massiven Vermengung zwischen Bologna-spezifischen Anforderungen und speziell deutschen politischen Sonderwünschen resultieren. Hans-Joachim Meyer legt für mich sehr überzeugend dar, dass es in Deutschland ja gar nicht darum gehe, einen europäischen Wissenschaftsraum „per se" herzustellen, sondern schlicht und ergreifend einen englischsprachigen, am angelsächsischen Modell orientierten Wissenschaftsraum zu errichten, und bei der Gelegenheit vermeintlich massive Einsparungen zu erzielen, was diese Reform politisch parteiüber-

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greifend so attraktiv gemacht hat - und jetzt, als sich herausstellt, dass sie stattdessen höhere Kosten generiert, so unattraktiv. Natürlich k o m m e n n o c h weitere Außenwünsche hinzu, wie etwa die Erschließung neuer Studentengruppen, getragen von der Behauptung des Zusatzbedarfs an Akademikern, die auch von den ihre eigenen politischen Ziele verfolgenden „Bildungsexperten" der O E C D an uns herangetragen wird, die gerade eben wieder Länder mit einer Akademikerquote von bis zu 90 Prozent als vorbildlich hingestellt haben, wer auch immer da schon als Akademiker durchgehen mag. Wobei hinter vorgehaltener H a n d gerade, was die Erschließung neuer Studentengruppen angeht, große Zweifel angemeldet werden, o b wir denn finden werden, was wir wirklich suchen - die bisherigen Erschließungsaktionen haben ja vor allem Niveauabsenkung bewirkt, mit der man nebenbei auch n o c h die Abbrecherquoten verringert - und inwieweit der Zusatzbedarf nicht dadurch gegeben ist, dass man als Arbeitgeber sofort die Anforderungen hochschrauben kann, um sich irgendwie vor der Zahl der Bewerber zu retten, wenn Abschlüsse immer flächendeckender, aber auch immer inhaltsleerer vergeben werden. U m mit anekdotischer Evidenz abzuschließen, denke ich an viele meiner Studienfreunde, die die Physik mit Diplom, P r o m o t i o n oder gar Habilitation verlassen haben und in exzellenten Positionen tätig sind. Sie sagen jedoch unisono, dass sie eigentlich die spezielle Qualifikation, die sie jeweils erworben hatten, für die Stelle nie gebraucht hätten - „Abitur und Grundrechenarten hätten vollständig ausgereicht." A n e k d o t i s c h e Evidenz wird, wenn unangenehm, gerne dadurch gekontert, dass man sich gefälligst auf die „systemische E b e n e " zu begeben hätte. Das will ich gerne versuchen. K ö n n t e es nicht sein, dass meine Studienfreunde deswegen erfolgreich sind, nicht weil sie Quantenmechanik gelernt haben, sondern weil sie - sei es in der Schule oder an der Universität - anstelle einer vermeintlich passgenauen „employability" genau das mitbekommen hatten, was Bildung sein sollte: Reflexion, Lernen für die andere Situation, Befähigung zur Regelüberwindung? D a z u kann man gar nicht genug M e n s c h e n führen; o b die jetzt etablierten Abschlußtretmühlen das leisten werden, wage ich hingegen zu bezweifeln.

Andreas Speer

Von der Freiheit des Alters Unzeitgemäße Betrachtungen aus philosophischer Sicht

ürzlich sagte ich dir, ich befände mich im Angesicht des Alters. Jetzt, fürchte ich, bin ich schon darüber hinaus. Ein anderes Wort passt nun schon für diese Jahre, wenigstens für diesen meinen körperlichen Zustand; denn unter Alter versteht man eine Zeit der ermüdeten, nicht der gebrochenen Lebenskraft. Zähle mich zu den Altersschwachen, die das äußerste Ende berühren. Gleichwohl darf ich es wagen, mir vor dir Glück zu wünschen: Mein Geist fühlt sich frei von der Unbill des Alters, mit der mein Körper zu ringen hat. Nur meine Schwächen und die Werkzeuge meiner Schwächen sind alt geworden. Mein Geist ist frisch und freut sich, dass er nicht mehr viel mit dem Körper zu schaffen hat. Er hat sich eines großen Teils seiner Bürde entledigt. Er frohlockt und beginnt mit mir ein Streitgespräch über das Alter: Das, sagt er, sei seine Blütezeit. Glauben wir ihm; gönnen wir ihm den Genuss seines Glückes." Dieser Text über das Alter ist selbst alt - gefühlt und auch in Wahrheit. Er stammt aus der Feder Senecas, einem der großen römischen Philosophen aus dem ersten Jahrhundert nach Christus. Senecas Reflexionen über das Alter in einem seiner Briefe an Lucilius (Epistulae morales XXVI) mag dem heutigen Leser wahrscheinlich anachronistisch erscheinen, wenn er zugleich von den Erfolgen der Alternforschung liest, die inzwischen vollends von der Philosophie hin zur Zellbiologie und zur Sozialpsychologie abgewandert zu sein scheint. Aus der Sicht der Zellbiologie stellt sich Altern als ein degenerativer Prozess dar, der schließlich zum Absterben der Zelle führt. Soweit würde Seneca sicherlich zustimmen. Jedoch ist dieses degenerative Modell von Altern weit über die Zellbiologie hinaus zum Paradigma geworden: Altern erscheint - körperlich wie geistig - als Verfall, dem man mit allen Mitteln entgegenzuwir-

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ken habe. Folgerichtig bestimmt nicht das Alter, sondern die Jugend das gesellschaftliche Leitbild, obwohl doch demographisch die Entwicklung in die Gegenrichtung weist. Man würde sicherlich zu kurz springen, wenn man Senecas Auffassung vom Alter lediglich mit den Lebensumständen erklärte, die aufgrund der beschränkten medizinischen Möglichkeiten keine andere Wahl gelassen hätten, als sich mit den Folgen körperlichen Verfalls zu arrangieren und eine Ethik zu entwerfen, die diesen Lebensumständen Rechnung trägt. D o c h eben das trifft bei genauerem H i n s e h e n auf Senecas B r i e f nicht zu. D i e dortigen Überlegungen greifen tiefer. Kehren wir zurück zu dem Streitgespräch, das der Geist mit dem A u t o r Seneca über das Alter beginnt. Es enthält nämlich zahlreiche Argumente, die unseren heutigen Intuitionen vielfach entgegenstehen: etwa, dass das Verlassen der körperlichen Kräfte als C h a n c e für die Erweiterung des Geistes angesehen werden kann, der sich nun besser auf das Wesentliche zu konzentrieren vermag; dass dem bewussten und langsamen „Dahinschwinden" der Vorzug einzuräumen sei vor dem plötzlichen Ende; und dass es schließlich „eine großartige Sache ist, den Tod zu lernen", ja, dass man man beständig an den Tod denken müsse. „Wer das sagt", so schließt Seneca seinen Brief, „fordert zugleich dazu auf, an die Freiheit zu denken. D e n n wer zu sterben gelernt hat, hat verlernt, Sklave zu sein". Damit zitiert Seneca eine der ältesten Definitionen der Philosophie. Eine Frage philosophisch betrachten, heißt sie ein Stück weit der wissenschaftlichen Expertenkultur zu

entziehen.

Bekanntlich steht am Anfang der Philosophie eine Expertenkritik durch Sokrates, die aus ihrer bereichsbezogenen K o m p e t e n z den Anspruch ableiten, „auch im übrigen ganz ungeheuer weise zu sein" (Apologie 2 2 e ) . Auch die weitgehendste Aufklärung der Zusammenhänge zellulärer Alterungsprozesse wird uns nicht unsterblich machen, wird uns nicht von der Notwendigkeit entbinden, uns mit dem Alter, welches „das äußerste E n d e berührt", zu befassen. Philosophische Fragen sind nicht lösbar in dem gleichen Sinn, wie wir bestimmte Probleme wissenschaftlich oder alltagspraktisch lösen können. Sie fordern uns wie die Frage des Alters existentiell und ethisch heraus, indem und sofern wir uns zu ihnen verhalten müssen. Folgerichtig hat Seneca über das Alter auch in seinen „Briefen über E t h i k " nachgedacht. Seine A n t w o r t e n delegieren die Gestaltung des Alters nicht an eine Instanz des Enhancements mit der kaum verhüllten Erwartung, mit den biologischen Aiternsprozessen die Probleme des Alterns überhaupt lösen zu können. In der Konzentration darauf, das Altern biologisch und auch psychologisch immer weiter hinauszuschieben, ist uns eine andere, die Kulturen über einen langen Zeitraum prägende Sicht des Alters, die dieses nicht als D e f e k t , sondern als Erfüllung, ja als eigentliche Fülle des Lebens begreift, weithin abhanden gekommen. Anders dagegen bei Cicero, der in seiner Schrift über das Alter den alten C a t o zum Gewährsmann macht und ihn das Leitbild eines tätigen Alters entwerfen läßt: Die „tüchtigsten Waffen des Alters" seien die Wissenschaften und die praktische Ü b u n g in der Tugend. „Diese Übungen tragen, in jedem Alter gepflegt, wenn man viel und lange gelebt hat, herrliche Früchte, und zwar nicht nur aus dem Grund, dass sie uns nie, selbst nicht in der letzten Zeit des Lebens verlassen - und dies allein ist schon ein sehr großer Gewinn - , sondern auch deswegen, weil das Bewusstsein eines schon vollbrachten Lebens durch die Erinnerung an viele Handlungen höchst erfreulich ist" ( C a t o Maior 111,9). So führt das Alter in den Worten Ciceros das Leben wie ein Schauspiel zum Schluss ( X X I I I , 8 5 ) . U n d während jedes Lebensalter seine bestimmte Grenze hat, so gilt dies vom Alter nicht; man lebt in ihm so lange glücklich, als man seinen Aufgaben und Tätigkeiten noch nachgehen kann, ohne dabei Furcht vor dem Tod zu haben ( X X , 7 2 ) . J e weiser aber ein M e n s c h ist, eine desto größere Ruhe beweist er im Sterben ( X X I I I , 8 3 ) .

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Dass die Freiheit eines Menschen vor allem darin besteht, das eigene Leben zu Ende denken und es vom Ende her verstehen zu können, ist ein philosophische Einsicht, die anachronistisch bestenfalls im Sinne einer produktiven Widerständigkeit des Unzeitgemäßen ist, das in den Worten Nietzsches am Ende seiner zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung" als „rückwirkende Kraft" das künftige Denken bestimmt. Die philosophischen Fragen und Antworten der „Alten" lenken die Aufmerksamkeit auf die anthropologischen Fragen und Menschenbilder, die auch den Wissenschaften zugrunde liegen. Seneca und Cicero stehen stellvertretend für eine lange Tradition, die auch das Altern von der möglichst umfassenden Realisierung der dem Menschen zumeist eigentümlichen Tätigkeit her begreift: Das ist die Vernunfttätigkeit. Diese Leitvorstellung beweist ungeachtet postulierter Diskontinuitäten auch heute noch ihre Attraktivität und Gültigkeit, indem sie sich gerade in pragmatischer Hinsicht als eine tragfähige Leitidee einer Alterskultur vieler Orten bewährt: als eine integrative und vom Wechsel der gesellschaftlichen Leitbilder in einem hohen Maße unabhängige Idee eines sinnerfüllten Lebens.

Manfred Vasold

Die Revolution der Lebenserwartung ie Menschen in den Industrieländern erreichen heute ein hohes Alter, sie bleiben länger gesund, körperlich leistungsfähig und selbständig. Die mittlere Lebenserwartung ist im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts gewaltig gestiegen. In Deutschland hat sie sich seit 1880 verdoppelt, und bei jedem Jahrgang nimmt sie weiterhin um zwei bis drei Monate zu. Änderungen in der Lebensführung und die Fortschritte der Medizin sind die Hauptursachen. Immer weniger Menschen müssen körperlich schwer arbeiten, ihre Ernährung ist deutlich besser geworden, und die Zahl derer, die Sport treiben, ist ebenfalls stark angewachsen. Die Lebenserwartung für Neugeborene beträgt heute in Deutschland für Jungen 77,2 und für Mädchen 82,4 Jahre. Untersuchungen für ein Demographieprojekt der Vereinten Nationen kommen zu dem Ergebnis, dass die Lebenserwartung der Weltbevölkerung, beide Geschlechter zusammengenommen, von derzeit 68 auf 76 Jahre im Jahr 2050 steigen wird. Bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein galt, was der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) in seinem Buch „Leviathan" über das menschliche Leben geschrieben hatte: Es sei einsam, armselig, gemein, viehisch und kurz. Das Erwachsenenalter erreichte im achtzehnten Jahrhundert nur etwa jeder zweite, und von den jungen Erwachsenen starb wiederum jeder zweite vor dem Erreichen des sechzigsten Geburtstages. In der Stadt Wien zum Beispiel waren Mitte des achtzehnten Jahrhunderts nur wenig mehr als ein Fünftel aller Bestatteten älter als fünfzig Jahre. Auch den deutschen Herrschern, von Albrecht II. (1438-1440) bis zu Franz II. (17921806), erging es nicht viel anders: Die Kaiser standen nach dem statistischen Durchschnitt im 57. Lebensjahr, wenn sie das Zeitliche segneten. Bis 1880 war die Lebenserwartung niedrig. In Mitteleuropa lag sie zur Zeit der Reichsgründung (1871) im statistischen Durchschnitt bei 37 Lebensjahren. Selbst in Friedenszeiten war die Sterblichkeit meist höher als während der Weltkriege des zwanzigsten Jahrhunderts. J e höher aber die Sterblichkeit, desto geringer die mittlere Lebenserwartung. In Europa erhöhte sich die Lebens-

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Manfred Vasold

erwartung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst nur wenig, weil die Sterblichkeit in den Städten größer war als auf dem Lande und dies zugleich das Zeitalter einer raschen Verstädterung und Industrialisierung war. In Deutschland ging sie zeitweise sogar etwas zurück, weil die städtische Bevölkerung so rasch wuchs und immer wieder Epidemien das Land überzogen. In den großen Städten lebte man dicht zusammengepfercht beieinander, die Luft war von den Abgasen aus Industriebetrieben hochgradig verschmutzt, das Trinkwasser in den öffentlichen Brunnen mit Schadstoffen verunreinigt. D i e Städte waren „ungesund", ihre B e w o h n e r wurden nicht alt. „Eines der größten Verkürzungsmittel des menschlichen Lebens ist: das Zusammenleben der M e n s c h e n in großen Städten", schrieb der A r z t Christoph Wilhelm Hufeland ( 1 7 9 6 ) in seinem B u c h „Makrobiotik oder die Kunst das Leben zu verlängern". „Rousseau hat vollkommen recht, wenn er sagt: der M e n s c h ist unter allen Tieren am wenigsten dazu gemacht, in großen Haufen zusammen zu leben." G o e t h e s M u t t e r schenkte sechs Kindern das Leben, nur eines erlebte seinen dreißigsten Geburtstag. N o c h im neunzehnten Jahrhundert war die Säuglingssterblichkeit sehr hoch. In den Städten lag der Anteil von Säuglingen und Kleinkindern (bis fünf Jahre) unter den Verstorbenen mitunter bei 50 Prozent. D i e schwächsten Glieder der Gesellschaft zahlten den Preis für die industrielle Revolution. Wo es eine h o h e Säuglingssterblichkeit gibt, ist eine mittlere Lebenserwartung von m e h r als fünfzig Jahren kaum zu erreichen. In Deutschland war die Säuglingssterblichkeit höher als in anderen europäischen Staaten, und sie war in Süddeutschland höher als im Norden. N i c h t einmal die Pockenschutzimpfung - die erste massenwirksame Vorbeugungsmaßnahme, die während des neunzehnten Jahrhunderts in vielen Ländern des D e u t s c h e n Bundes eingeführt wurde - vermochte dies zu ändern. D i e meisten Säuglinge starben an Darminfektionen, weil sie nicht gestillt wurden. Statt der Muttermilch erhielten sie mit verseuchtem Wasser verdünnte Kuhmilch. Bei unehelich geborenen Kindern war die Sterblichkeit deutlich höher. Zwischen Säuglingssterblichkeit und Bildung besteht ein enger Zusammenhang. In der Zeit von 1 8 7 7 / 7 9 bis 1 9 1 2 / 1 3 fiel die Säuglingssterblichkeit im D e u t s c h e n Reich in den Familien von Beamten und Angestellten um mehr als 5 0 Prozent, beim Gesinde und in den Familien ungelernter Arbeiter aber nur um 24 beziehungsweise 16 Prozent. In den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zählte das D e u t s c h e Reich knapp zwei Millionen G e b u r t e n im Jahr, und noch immer starb eines von sechs N e u g e b o r e n e n im ersten Lebensjahr. A b e r von 1880 an nahm die allgemeine Sterblichkeit ab und gleichzeitig ging auch der Anteil der verstorbenen Kleinkinder an der Gesamtmortalität zurück. Zwischen der Reichsgründung und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges sank die rohe Sterblichkeitsziffer (crude death rate) vor allem in den Großstädten. Eine bessere H y g i e n e hat am meisten dazu beigetragen. A n erster Stelle sind die kommunale Versorgung mit sauberem Trinkwasser und die Beseitigung der Auswurfstoffe durch die Kanalisation zu nennen. Diese Installationen waren die größten öffentlichen Gesundheitsprojekte, die je verwirklicht wurden. Sie hoben die Lebenserwartung spürbar an. I m letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts begannen in den Industrieländern die Realeinkommen - und der Lebensstandard - zu steigen. Das hieß: weniger Arbeitsstunden pro Jahr, also mehr freie Zeit zur Erholung, bessere Ernährung, mehr und hygienisch einwandfreie Milch, geräumigere Wohnungen. Vor 1880 schuftete ein deutscher Industriearbeiter etwa 3 2 0 0 Stunden im Jahr, m e h r als doppelt so viel wie heute. U m 1900 verbrachte ein M e n s c h in Deutschland noch

Die Revolution der Lebenserwartung

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i m m e r ein D r i t t e l seines Lebens am Arbeitsplatz; achtzig J a h r e später war dieser Anteil auf ein Achtel o d e r etwas weniger gesunken. Die mittlere Lebenserwartung stieg; im ersten J a h r z e h n t des zwanzigsten J a h r h u n d e r t s lag sie f ü r M ä n n e r bei 44,8 u n d f ü r Frauen bei 48,3 J a h r e n . In der Vergangenheit waren die Todesursachen einförmiger als heute. In D e u t s c h l a n d starben n o c h am E n d e des n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t s J a h r f ü r Jahr m e h r als 100 000 M e n s c h e n an Tuberkulose. D o c h dann begann ein neues Stadium der „demographischen Transition". H e r z - u n d Kreislauferkrankungen u n d Krebs w u r d e n die häufigsten Todesursachen bei M e n s c h e n mittleren Alters. Bis 1939 hatten die Tuberkulose, die Bronchitis u n d andere E r k r a n k u n g e n der A t m u n g s organe bei Kindern ihre tödliche Kraft verloren. Das ist vor allem d e m medizinischen Fortschritt zu verdanken. Die ersten N o b e l p r e i s e f ü r Medizin an D e u t s c h e - an Emil v o n Behring (1901), R o b e r t Koch (1905) u n d Paul Ehrlich (1908) - w u r d e n f ü r Erkenntnisse vergeben, die eine bessere Bekämpf u n g v o n I n f e k t i o n s k r a n k h e i t e n ermöglicht hatten. Diese v o n belebten Erregern verursachten Krankheiten rissen im a c h t z e h n t e n u n d n o c h im n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t in der Regel weit m e h r als ein Drittel der Erwachsenen ins Grab. Zählt man die vielen Kleinkinder hinzu, die an I n f e k t i o n e n im M a g e n - D a r m - T r a k t starben, also gleichfalls an den A u s w i r k u n g e n von M i k r o o r ganismen, so wird w o h l in den meisten Jahren sogar mehr als die H ä l f t e aller Todesfälle Krankheitskeimen zuzuschreiben sein. Die Verbesserung der Wasserversorgung u n d die Kanalisation waren die w i r k s a m s t e n Mittel gegen im Trinkwasser übertragene Erreger. Mit der E i n f ü h r u n g der Kanalisation ging die Sterblichkeit a u f g r u n d von C h o l e r a o d e r Typhus schlagartig zurück. In vielen Fällen w u r d e eine Infekt i o n s k r a n k h e i t schon erfolgreich b e k ä m p f t , n o c h bevor ihr Erreger e n t d e c k t war, weil es genügte, den M e c h a n i s m u s der Ü b e r t r a g u n g zu durchschauen, u m die Ü b e r t r a g u n g zu verhindern. A m E n d e des n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t s e n t s t a n d e n neue wissenschaftliche Forschungszweige, die I m m u n o l o g i e u n d die Serologie. Diese junge Wissenschaften e r k a n n t e n bald, dass pathogene M i k r o o r g a n i s m e n Krankheiten verursachen, dass aber der K ö r p e r sich gegen diese Eindringlinge mit Hilfe seines I m m u n s y s t e m s zu w e h r e n vermag: D e r K ö r p e r der Wirbeltiere setzt sich gegen die Krankheitserreger zur Wehr, indem er spezifische A n t i k ö r p e r p r o d u z i e r t . Diese lassen sich in der Regel im Blutserum eines befallenen Tieres nachweisen. D a s I m m u n s y s t e m reagiert zielgerichtet auf den jeweiligen Eindringling. D a z u p r o d u z i e r t es besondere Eiweiße, die den Eindringling b e k ä m p f e n , die A n t i k ö r p e r . D i e Serologie identifizierte diese Antikörper. Somit e r ö f f n e t e n sich v o l l k o m m e n neue v o r b e u g e n d e u n d therapeutische Möglichkeiten durch Impfungen. H e u t e d e n k t m a n bei den Erfolgen gegen I n f e k t e u n d I n f e k t i o n s k r a n k h e i t e n gern an die Antibiotika. A b e r sie halfen meist n u r einzelnen erkrankten Personen. Wichtiger waren in der Vergangenheit vorbeugende Mittel wie die B e k ä m p f u n g der Schmutzes, die Verbesserung des Trinkwassers u n d die F ö r d e r u n g der I m m u n i t ä t d u r c h I m p f u n g . D e n n o c h sollten das Penicillin, das die H e i l k u n s t des zwanzigsten J a h r h u n d e r t s revolutionierte, u n d die neuen Antibiotika nicht geringgeschätzt werden. D a n k der erfolgreichen B e k ä m p f u n g der I n f e k t i o n s k r a n k h e i t e n u n d einer Reihe sozialhygienischer M a ß n a h m e n stieg die L e b e n s e r w a r t u n g in den Industrieländern zwar an, aber am Vorabend des Ersten Weltkrieges waren die M e n s c h e n noch i m m e r relativ jung, w e n n sie ins G r a b sanken. D a s Alter von achtzig Jahren erreichten n u r wenige. I m J a h r 1913 waren gerade einmal 14,2 P r o z e n t d e r auf den N ü r n b e r g e r F r i e d h ö f e n bestatteten Personen siebzig J a h r e oder älter

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(1867 waren es nicht einmal zehn Prozent). H e u t e macht diese Personengruppe in N ü r n b e r g mehr als siebzig Prozent aus. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erfuhr der Anstieg der Lebenserwartung noch einmal einen gewaltigen Schub - und trieb damit die Alterung der Gesellschaft voran. 1936 lebten im Deutschen Reich vier Hundertjährige, inzwischen sind es an die 15 000. Schweden und Japan haben die Sterblichkeit im Laufe des zwanzigsten Jahrhundert besonders erfolgreich zurückgedrängt. In beiden Ländern wird heute eine weit höhere Lebenserwartung erreicht, als man es aufgrund ihres Bruttosozialprodukts erwarten würde. Das Königreich Schweden übertraf erst kurz vor 1900 die wirtschaftliche Leistung Spaniens und Italiens, aber die Sterblichkeit war dort schon lange viel niedriger als in diesen beiden Ländern. Bis 1978 konnte es weltweit die höchste Lebenserwartung vorweisen, dann wurde es von Japan überholt. Japan gibt nur 6,5 Prozent seines Bruttosozialprodukts für Medizin aus, hat aber mit mehr als achtzig Jahren f ü r beide Geschlechter zusammen die höchste Lebenserwartung. Zwischen der Lebenserwartung und dem Wohlstand einer N a t i o n besteht eine positive Korrelation, aber sie ist nicht gleich hundert. Die Vereinigten Staaten von Amerika geben etwa 13 Prozent ihres Bruttosozialprodukts f ü r die medizinische Versorgung aus; sie können aber keine überragend hohe Lebenserwartung vorweisen, was sich vor allem durch die sozialen Unterschiede erklären lässt. Schwarze, die in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im N e w Yorker Stadtteil Harlem lebten, hatten eine geringere Aussicht, 65 Jahre alt zu werden als Männer in Bangladesch. In einigen weniger hoch entwickelten Ländern wie Zypern oder Griechenland ist die Lebenserwartung seit 1990 höher als in den Vereinigten Staaten. U n d in einigen D r i t t weltländern wie Jamaika und Belize ist sie mit etwa 75 Jahren fast so hoch wie dort, obwohl das Bruttosozialprodukt pro Kopf in den Vereinigten Staaten zehnmal höher liegt. In reichen Länder ist es leichter, alt zu werden, denn sie ermöglichen den Bürgern in der Regel eine gesunde Lebensweise, eine bessere Ernährung und eine effektive Gesundheitsvorsorge. Die Menschen müssen weniger lange und weniger hart arbeiten, sie haben sauberes Wasser, bessere Bildungschancen und vieles mehr. Wenn aber weniger reiche Länder ihre Aufmerksamkeit besonders darauf richten, das Leben ihrer Bürger zu verlängern, steigt auch dort die Lebenserwartung. Eine besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Bildung von Frauen. Sri Lanka, zum Beispiel, konnte in den neunziger Jahren eine viel höhere Lebenserwartung vorweisen als Saudi-Arabien: In Sri Lanka belief sich das Bruttosozialprodukt pro Kopf auf 320 Dollar, die Säuglingssterblichkeit lag bei 31 Promille und die Lebenserwartung bei 69 Jahren. In Saudi-Arabien hingegen gab es trotz eines Pro-Kopf-Einkommens von 16 000 Dollar eine Säuglingssterblichkeit von 108 Promille und eine Lebenserwartung von 56 Jahren. Auch einigen afrikanischen Staaten gelangen nach der Entkolonisierung große Fortschritte. In Nigeria stieg die Lebenserwartung von 36 (1963) auf 50 (1980) Jahre an, dann setzte ein Stillstand ein. Die Säuglingssterblichkeit ist in der Dritten Welt noch heute ein Problem. Die Aussicht, dass eine Mutter in Nigeria ohne jede Schulbildung ein Kind verliert, ist zweieinhalbmal so groß wie bei einer Mutter, die eine Schule besucht hat. Die Schulbildung der Mutter ist f ü r das Kind wichtiger als die des Vaters. In weiten Teilen Afrikas nahm in den letzten Jahrzehnten die Bildung rasch zu. Die Weltbank schätzt, dass die „Literacy rate" auf dem Kontinent im Durchschnitt von 16 Prozent (1960) auf 34 (1980) stieg, wobei einige Länder weitaus bessere Ergebnisse erzielten. In Indien stieg die Lese- und Schreibfähigkeit von fünf Prozent im Jahr 1900 auf siebzehn Prozent 1948. In Kerala, einer der ärmeren Staaten Indiens, waren 1991 schon 94 Prozent der Män-

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ner und 87 Prozent der Frauen lese- und schreibkundig, während in ganz Indien durchschnittlich nur 64 und 39 Prozent diese Fähigkeiten erlangt hatten. In Kerala sind mehr Frauen berufstätig als anderswo in Indien; sie heiraten später und betreiben früher Familienplanung. Ein weiteres Schuljahr für die Mutter senkt die Säuglingssterblichkeit um weitere sieben bis neun Prozent. Der zivilisatorische Fortschritt während des neunzehnten Jahrhunderts in Europa und in einigen anderen Teilen der Welt hat den Anstieg der mittleren Lebenserwartung begünstigt. Bis zur Jahrhundertmitte kam ein höherer Lebensstandard vor allem der Ernährung und einer Verbesserung der Wohnverhältnisse und der Kleidung zugute. Dann begannen sanitäre Reformen die mittlere Lebenserwartung anzuheben, und nach 1900 halfen das Wirtschaftswachstum, das öffentliche Gesundheitswesen und die Erfolge der Biomedizin, das Leben zu verlängern. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten vor allem jene Teile der Welt, die an den Segnungen der modernen Zivilisation am wenigsten teilgehabt hatten, Gewinn aus diesen Veränderungen ziehen. Bis zum Ende des letzten Jahrhunderts stieg die mittlere Lebenserwartung weltweit von 46,5 auf 65,4 Jahre an. In Asien nahm sie in diesem Zeitraum sogar um fünfundzwanzig Jahre zu (von 41,3 auf 66,3), in Afrika immerhin um knapp vierzehn (von 37,8 auf 51,4 Jahre). In Europa hingegen, wo die Menschen schon länger von den Fortschritten der Zivilisation und der Heilkunst profitiert hatten, wuchs die Lebenserwartung nur noch um gut sieben Jahre (von 66,2 auf 73,3). Für die vier Dezennien bis 2050 sagen Demographieexperten - für beide Geschlechter zusammen - weltweit eine weitere Zunahme der Lebenserwartung auf 76,3 Jahre voraus. In Asien soll sie auf durchschnittlich 77,2 und in Afrika auf 70,4 Jahre steigen - und in Europa um weitere sieben Jahre auf 80,3 Jahre. Die mittlere Lebenserwartung wächst, die Weltbevölkerung altert und nimmt gleichzeitig zu. U m 1800 machten die mehr als 65 Jahre alten Menschen, die das Erwerbsleben schon hinter sich hatten, in den meisten Bevölkerungen weniger als fünf Prozent aus. Zweihundert Jahre später sind es etwa fünfzehn Prozent, und in Deutschland noch viel mehr. In Deutschland hat sich die Lebenserwartung seit 1880 verdoppelt. Heute liegt der mediane Altersdurchschnitt bei 41 Jahren, das heißt, die Hälfte aller Deutschen ist jünger, die andere älter. Vor dem Ersten Weltkrieg lag dieser Wert bei 25 Jahren. Und der Anteil der Deutschen, die sechzig Jahre oder älter sind, soll bis 2040 von derzeit fünfundzwanzig auf fünfunddreißig Prozent steigen. Das ist für jeden Einzelnen ein Gewinn, hat aber erhebliche wirtschaftliche und soziale Folgen, zumal die deutsche Bevölkerung insgesamt schrumpft, so dass der Anteil der Alteren weiter steigt. Vor hundert und mehr Jahren geschah es in Deutschland sehr häufig, dass eine Mutter bei ihrem Tod ein paar unversorgte, unmündige Kinder zurückließ. Heute erleben die meisten deutschen Mütter ihre Enkelkinder noch im Erwachsenenalter. Im Jahr 1950 waren die Sechzigjährigen in Deutschland eine Minderheit (14,6 Prozent), in zwanzig Jahren werden sie mehr als ein Drittel der Bevölkerung (34,4 Prozent) stellen. Der Anteil der Senioren und der Hochbetagten nimmt rasch zu. Immer weniger Erwerbstätige müssen immer mehr Menschen im Ruhestand ernähren. Für die meisten von uns hat sich durch die Veränderungen in den letzten hundert Jahren die Spanne des Lebens deutlich verlängert. Und da der erste Lebensabschnitt, die Ausbildung, länger geworden ist, muss auch die zweite Phase, die Berufstätigkeit, länger andauern, damit die dritten Phase, der Ruhestand, finanziert werden kann. Angesichts einer rasch alternden und schrumpfenden Bevölkerung ist das eine unausweichliche Einsicht.

Martin von

Koppenfels

Langeweile ist unverzeihlich Über das Arbeiten mit und an der Sprache

Forschung & Lehre: Was bedeutet Ihnen das Arbeiten mit und an der Sprache? Martin von Koppenfels: Viel Mühe. Immer und immer wieder neu ansetzen. Dieser oft qualvolle, selten unmittelbar befriedigende Schreibprozess - das ist Arbeit an der Sprache. Wobei sehr die Frage ist, wer hier an wem arbeitet. Unsere Sprache ist eben kein Gegenstand, der vor uns liegt, und an dem wir herumklopfen können. Die Quälerei des Schreibens bildet einen Schutz gegen die Entstehung von Automatismen. Wenn es zu leicht geht, produziert man meist nur noch Routine. In dieser Hinsicht sind Wissenschaftler viel gefährdeter als freie Autoren: Institute, Tagungen, Sammelbände, Drittmittelanträge, Theoriekommissionen - das sind alles Brutstätten intellektueller Routine. Wenn Sie nicht aufpassen, finden Sie sich in der Lebensmitte (sagen wir: nach der Habilitation) mit einer gut geölten, aber starren Denk- und Schreibmaschine vor, durch die Sie „geistige Inhalte" nur noch hindurchschnurren lassen. Dabei entsteht dann etwas, das für Geisteswissenschaftler unverzeihlich ist: Langeweile. Ich bin nicht der Ansicht, dass Langeweile ein Kollateralschaden ist, den man, etwa auf dem Weg zu Seriosität und fachlicher Autorität, billigend in Kauf zu nehmen hat. Der Begriff „Geisteswissenschaft" impliziert, dass unsere Arbeit sich nicht in zwei getrennte Phasen aufspalten lässt: einerseits Forschung, andererseits sprachliche Ausarbeitung („Präsentation"). Beide Tätigkeiten greifen vielmehr ständig ineinander. Unsere Gegenstände liegen nicht stumm auf dem Objektträger, sie sind selbst kulturelle Hervorbringungen, die sich vernehmlich zu Wort melden. Wir sind also im Gespräch, sowohl mit dem Gegenstand als auch mit unserem Publikum. Und die Sprache hat in beiden Fällen das Sagen.

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Martin von Koppenfels

F&L: Warum ist bei wissenschaftlichen Werken in deutscher Sprache der Nominalstil so beliebt? Ist das eine deutsche Eigenart? Martin von Koppenfels: Die Leichtigkeit, mit der das Deutsche nominalisiert (und das heißt oft: abstrahiert), stellt eine der großen Chancen dieser Sprache dar - früher hätte man gesagt, ihre philosophische Veranlagung. Wie alle Geschenke kann auch dieses missbraucht werden. Dann wird aus der philosophischen eine bürokratische Begabung. Das ist dann aber nicht der Sprache anzulasten, sondern ihren Benutzern, in diesem Fall der fatalen Neigung der Deutschen zur Verrechtlichung aller Verhältnisse. Zwischen Theorie und Verwaltungsprosa liegt manchmal nur ein schmaler Grat. Einer der schamlosesten Nominalisierer der deutschen Literaturgeschichte ist übrigens Rilke („O reine Ubersteigung ... doch selbst in der Verschweigung..."). Aber würden Sie ihm diese Ungetüme herausredigieren? F&L: Wann ist für Sie ein wissenschaftlicher Text „rund"? Martin von Koppenfels: Wenn er mich langweilt. Die Aufmerksamkeit wird auch bei der Lektüre wissenschaftlicher Texte eher von den Ecken und Pointen angezogen. Die Wissenschaftssprache hat viele ästhetische Facetten. Wenn Mathematiker von der „Schönheit" oder „Eleganz" einer Beweisführung sprechen, dann beziehen sie sich damit auf eine dieser Facetten: die Rhetorik der Schlichtheit, die Ökonomie der Mittel. Es gibt aber noch ganz andere Register, zum Beispiel Pointe, Verdichtung, Paradox. In der Rhetorik geisteswissenschaftlicher Texte sollten sie die tragende Rolle spielen. F&L: Hat die Spezialisierung Folgen für die Sprache der Wissenschaft? Martin von Koppenfels: Nicht nur für die Sprache der Wissenschaft. „Unterschiedenes ist gut" schreibt Hölderlin: Spezialisierung ist Differenzgewinn. Dadurch wird die Sprache aller bereichert. Spezialsprachen können phantastische Fundgruben sein. Wenn Ihnen eine Terminologie völlig fremd ist, oder veraltet, so dass ihr fester Zugriff auf die Wirklichkeit sich schon gelockert hat, dann können die Begriffe geradezu poetische Mucken entwickeln. Fragen Sie Lyriker und literarische Übersetzer, die oft ein fetischistisches Verhältnis zu Spezialwörterbüchern unterhalten! Wer wäre nicht entzückt zu erfahren, dass Molekularbiologen eine bestimmte Reaktionskette als „sonic hedgehog pathway" bezeichnen? Ganz zu schweigen von den „red dwarves" und „dirty snowballs" der Astrophysiker. Die Welt der spezialisierten Wissenschaft stellt uns natürlich vor die Aufgabe, die auseinanderdriftenden Codes miteinander in Kontakt zu halten. Dafür wiederum braucht man Leute, die darauf spezialisiert sind, nicht spezialisiert zu sein: Ubersetzer, Vermittler - eben Geisteswissenschaftler. F&L: Kritiker beklagen mangelnde sprachliche Fähigkeiten vieler Studenten. Teilen Sie diese Kritik? Martin von Koppenfels: Das klingt, als würden Sie sagen: „Kritiker bemängeln das zunehmende Abschmelzen der Polkappen." .Kritik' ist vielleicht nicht die richtige Reaktion auf Verschiebungen dieses Ausmaßes. Was nicht heißt, dass man sich mit ihnen abfinden sollte. Es war ein erklär-

Langeweile ist unverzeihlich

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tes Ziel der deutschen Studienreform, deutlich mehr Absolventen pro Jahrgang mit einem Hochschulabschluss zu versorgen. Niemand, der auch nur halbwegs ehrlich ist, wird behaupten, dass man ein solches Ziel ohne Absenkung des Niveaus erreichen kann. Diese Absenkung betrifft natürlich auch das sprachliche Vermögen - und vielleicht ganz besonders dieses. Dazu kommt, dass die Studienreform - was oft verschwiegen wird - auch auf eine Krise des Abiturs reagiert. Die Hochschulreife garantiert nicht mehr, dass die Studienanfänger wirklich über jene Fähigkeiten des Lesens und Schreibens im intensiven Sinn verfügen, die wir Geisteswissenschaftler gerne bei ihnen sehen würden. Dies wiederum hat wohl nur zum Teil mit der Uberforderung der Schulen zu tun. Hier sind gesellschaftliche Verschiebungen im Spiel, durch die das Verhältnis des Einzelnen zum Buchstaben in einem grundsätzlichen Sinn verändert worden ist. U m Ihre sprachlichen Fähigkeiten zu entfalten, müssen Sie vor allem viel und gut gelesen haben. Sie müssen Identifikationen mit Texten durchgemacht haben wie Kinderkrankheiten. Es schadet auch nicht, wenn Sie wie D o n Quijote auf ihnen herumgeritten sind. Nur dabei kann die Leidenschaft für sprachlichen Ausdruck, das Gefühl für das Eigengewicht der Worte entstehen. Man wird nicht behaupten wollen, dass diese „learning outcomes" in unserem Bildungssystem einen besonders hohen Stellenwert einnehmen.

Peter Weibel

Celebrity-Kultur

ist der Feind der Bildung - ein Gespräch

Im Zeitalter des Internets ist es nicht allein die Bildung, die sozialen Aufstieg ermöglicht. Heute gelten andere Gesetze. WELT ONLINE:

Ich wette, Sie wohnen in einer Altbauwohnung mit vielen Büchern?

Peter Weibel: So ist es. Es ist aber keine Wohnung, wie ich erfuhr, denn ich habe keinen Fernseher und kein Radio. Bei einer staatlichen Gebühren-Inspektion sah man die vielen Bücher und Papiere und sagte lapidar: „Aha, ein Lager." Also lebe ich im Lager. WELT ONLINE: Das Klischee besagt, da sitzt ein Multi-Media-Maniak an einer Art Steuerungspult, die Videos laufen, die Bildschirme flimmern, das Licht ist grell. Weibel: Ich habe den ganzen Tag Medien um mich herum. Ich komme immer erst nach Mitternacht nach Hause und dann bin ich froh, dass ich sozial nicht erreichbar bin. Ich bin so wie die Hunde, die in archaischen Zeiten die Schlangen zertraten, bevor sie sich legten und sich heute noch einmal um sich drehen, bevor sie sich niederlassen. So bin ich auch, wenn ich das Telefon aushänge. Diese atavistischen Verhaltensweisen brauche ich, weil mich die soziale Kommunikation so erschöpft. WELT ONLINE:

Würden Sie sich wehren, wenn ich sagte, Sie seien ein antiquierter Mensch?

Peter Weibel

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Weibel: Ja, denn der bin ich nicht. Günter Anders hat dieses wunderbare Buch geschrieben. Das ist auch mein Thema: Die überforderte Gesellschaft. Wie überleben wir die Krisen, die Finanzkrise, die Bildungskrise, die Klimakrise, die Energiekrise. Die Menschen glauben immer, große Reiche gingen nur durch Angriffe von Außen zugrunde. Aber die Gesellschaft kann auch implodieren, weil sie immer komplexer wird, die Anforderungen steigen, und niemand mehr die K o m petenz hat, ein Problem wirklich zu lösen. Die Gesellschaft ist überfordert. Implodierende Systeme, Systemdefekte, kosten viel Geld, Menschenleben oder bewirken Gewalt. Ein wenig sah man das in Duisburg und nun in Stuttgart. WELT

ONLINE:

War früher alles besser?

Weibel: Nein, die Uberforderung war auch da. Eine überforderte Person oder Institution kann ihre Entscheidungen nicht sachlich begründen und setzt daher Entscheidungen autoritär durch. Auch unsere demokratischen Gesellschaften haben wieder autoritäre Züge. Wir sind in einer schweren Demokratie-Krise. Viele Theoretiker zweifeln gar, ob wir überhaupt noch demokratisch sind wegen all der staatlichen Patronage. WELT

ONLINE:

Sie stammen aus der Unterschicht, sind Kind einer alleinerziehenden Mutter:

Weil Sie sich selbst förderten, stiegen Sie auf. Woher kam die Kraft? Weibel: Meine Mutter war Stiegenputzerin. Ich war auf mich alleine gestellt, weil mir niemand half. Wenn ich ein Problem hatte, musste ich alles selbst lösen. Als Kind einer armen Mutter konnte ich nur in die Hauptschule gehen. Dort war mir langweilig. Ich hatte fast nur Einser. In der dritten Klasse sagte ich, ich wolle aufs Gymnasium gehen, Mutter sagte: geht nicht, Lehrer sagte, geht nicht. D a ging ich als Dreizehnjähriger zur staatlichen Fürsorge. Die wollten mich nur in die 1. Klasse Gymnasium gehen lassen, ich sagte nein, ich wolle in die 4. Klasse. U n d Mathematik und Latein? Kein Problem, sagte ich, das löse ich in den Ferien. Ich bestand die Prüfung. Ich lernte, alles selbst zu tun, wenn ich etwas wollte. Ich war immer von der Informationsarmut meiner Umgebung bedrückt. Ich wollte raus, drückte den „escape button". Und das war die Bildung. WELT

ONLINE:

Warum ist das heute nicht mehr vorhanden?

Weibel: D e r escape-button der Kinder heute ist das Internet.

WELT ONLINE: Was ist der Unterschied zur Bildung? Weibel: Bei uns im Museum in Karlsruhe haben wir eine Panorama-Projektion und ein semantisches Web. Immer wenn hier Jugendliche etwas eingeben, sind es sexuelle Sachen. N u r Sexuelles, das Wüsteste, was Sie sich vorstellen können. Wenn man sie erwischt, rennen sie weg. Es sind die falschen escape-buttons, die der Jugend angeboten werden und die sie drücken. WELT

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hunger geblieben?

Warum ist die Autorität verschwunden? Wo sind Bildungs- und Aufstiegs-

Celebrity-Kultur ist der Feind der Bildung

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Weibel: Bildung war in der Nachkriegszeit ein Aufstiegsmittel. H e u t e steigt m a n auch ohne Bild u n g auf: d u r c h P o p - M u s i k oder Casting-Shows, Filme oder Sport. Fußballer verdienten f r ü h e r nichts. A m E n d e waren sie vielleicht A u t o h ä n d l e r oder Tankstellenbesitzer. H e u t e sind sie M u l timillionäre, halten sich Frauen als T r o p h ä e n u n d sind ständig in den Medien. D i e Jugendlichen lernen, m a n k a n n reich u n d b e r ü h m t u n d geliebt u n d geehrt werden, auch o h n e Bildung. Celebrity-Kultur ist der Feind der Bildung. D e n n in der Celebrity-Kultur w e r d e n nicht K o m p e t e n z u n d Wissen, s o n d e r n Defizite u n d Fehlverhalten b e l o h n t . Wer D r o g e n n i m m t , betrunken a b s t ü r z t etc., der wird in den Medien gefeiert. Kein N o b e l p r e i s t r ä g e r der C h e m i e k o m m t auf das Spiegel-Cover, aber ein jugendlicher A m o k l ä u f e r . Die Jugendlichen lernen schnell. Sie sind ja nicht blöd, es zeigt ihre Intelligenz, dass sie auf Bildung verzichten. Je bizarrer und gaga, d e s t o besser u n d erfolgreicher - das lernen sie v o n der Pop-Kultur. Wie sagte n o c h Slatko vor zehn J a h ren im Big B r o t h e r : „Shakespeare? Kenne ich nicht!" U n d alle waren begeistert. Die Bildungskrise w e r d e n wir nicht durch Bildung lösen. WELT

ONLINE:

U n d durch was lösen wir sie?

Weibel: I n d e m wir den Fußballern, Schauspielern, T V - I k o n e n etc. nicht m e h r das viele Geld geben u n d nicht m e h r die massenmediale A u f m e r k s a m k e i t . WELT

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Glauben Sie das wirklich?

Weibel: Die Bildung ist auf verlorenem Posten, weil sie f ü r n i e m a n d e n m e h r ein Aufstiegsmediu m ist. WELT ONLINE: Sie sagten, wir seien m i t t e n in einer technischen Revolution. Was war revolutionärer: das A u t o , das Flugzeug o d e r der Film? Weibel: Das A u t o , weil es die physische Mobilität als Individuum garantierte. Das Flugzeug ist anders, man wird geflogen. Ähnlich Kino: Man ist n u r K o n s u m e n t . A b e r alle Technik hat das Ziel, die U m w e l t nach unseren persönlichen W ü n s c h e n zu gestalten. Wenn wir Wasser wollen, w a r t e n wir nicht auf den Regen, s o n d e r n drehen den Wasserhahn. Wenn wir Licht wollen, warten wir nicht auf die Sonne, s o n d e r n d r ü c k e n auf den Lichtschalter. U n d das A u t o erlaubt persönliche Mobilität, die physische Mobilität der Körper. D a h e r sind auch die Jugendlichen so besessen v o m A u t o . Deswegen rasen sie auch o f t in den Tod. Z u m ersten Mal sind sie souverän. Sie erleben sich „selbst", ihre Individualität, ihre individuelle Wunscherfüllung. A u t o - m o b i l heißt Selbst-beweglich. D a s ist die g r ö ß t e signifikante Souveränität f ü r die Masse d e r Menschen. Die Revolution davor war der mobile Buchstabe, d e n G u t e n b e r g erfand. D e r A u t o f a h r e r ist ein A u t o r auf vier Rädern. D e r A u t o r ist ein A u t o f a h r e r auf 26 Buchstaben. WELT

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U n d n u n haben wir das Internet.

Weibel: Ja. D a s ist die größte Mobilisierung der Zeichen, allerdings personalisiert. Ich bin nicht einer v o n Millionen Lesern, sondern einer von Millionen Schreibern. Ich kann mitschreiben am Buch der Welt, ich kann teilhaben, partizipieren. Ich bin Sender, nicht n u r E m p f ä n g e r . Ich bin

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Peter Weibel

selbst Radio, TV, Zeitung. Man muss das Wort Universe wie Youniverse schreiben. D u bist die Welt, heißt die B o t s c h a f t des Internets. J e d e r hat Zugang zu allem. WELT

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Wie wirkt es auf Kinder?

Weibel: Das Kind ist per se psychotisch. Es lebt in absoluten Angst- und Wunschwelten. Es schreit, wenn die M u t t e r weg ist vor Angst und wünscht die M u t t e r durch Schreien zurück. Das Kind lernt, sein Verhalten hat Wirkung auf die Welt. Es kann bewirken, dass sich die Welt so verhält, wie sich das Kind die Welt wünscht. Durch die Realität und durch die Erziehung erfährt das Kind, dass es nicht alles kann und nicht alles bekommt, was es sich wünscht, dass man auch verlieren kann. D o c h das Internet gibt immer ein Gewinnergefühl, es ist eine psychotische Welt. I m Leben muss der Mann etwas tun, um eine Frau für sich zu interessieren. I m Internet b e k o m m t man alles gratis. Die schrecklichsten Dinge. WELT

ONLINE:

Was wenn dies der Mehrheitston wird?

Weibel: Wir b e k o m m e n M e n s c h e n , bei denen der Unterschied zwischen Leistung und N i c h t Leistung verwischt ist. D e r Staat hat ja kein Geld, sondern gibt nur das Geld weiter, das er von den Leistungsträgern g e n o m m e n hat. Das nenne ich Doping: Leistung ohne Leistung. Leistung, die nicht durch Eigenmittel, sondern durch Fremdmittel erbracht wird. Wir leben in einer Doping-Gesellschaft, deren Spiegel der Sport ist. Celebrity Culture ist der circus maximus dieser Doping-Gesellschaft, in der jemand berühmt und reich werden kann ohne jede Leistung. WELT

ONLINE:

Wie wird man das E t h o s von Leistung aufrechterhalten?

Weibel: D u r c h Systemumschaltung. Wir konnten bisher eine Reihe von gewaltigen Systemumschaltungen beobachten, in der Hauptsache macht man dadurch aus minus plus. I m Sport, in der Finanzwirtschaft, in der J u s t i z werden Schulden, Schuld und Sühne abgeschafft. In Duisburg hat niemand Schuld, an der Finanzkrise hat niemand Schuld. Die Politik spricht von „systemisch" und „systemrelevant". D a s System schluckt die Schuld. E s ist der letzte R e s t des Christentums, der damit von uns geht. Bei der Aufdeckung von sexuellem Missbrauch sah man das ebenso. Viele wussten schon jahrelang Bescheid, profitierten aber vom System: die Lehrer, die Pfarrer, die Sozialpädagogen. W ä r e n die Missbrauchsfälle öffentlich geworden, wären die Systeme destabilisiert worden. Keiner ließ das zu, denn dies hätte auch ihre Position geschwächt. Alle machten mit. Die Systeme heute, im Finanzwesen, in der Justiz, im Sport erlauben Schulden ohne Schuld, Vergehen ohne Sühne, in vielen Fällen sogar Belohnung durch Boni. Systeme funktionieren als Täterschutz und dienen der Strafvereitelung. D i e O p f e r werden zur eigentlichen Bedrohung. Systemschutz und -Stabilisierung ist das oberste Anliegen der Politik. WELT

ONLINE:

H a b e n Sie immer schon so gedacht? Ich dachte, ich treffe einen Alt-68er,

einen Rebellen und Anhänger der Aktionskunst der späten 60er, der sich von seiner Lebensgefährtin an der Leine auf allen Vieren durch Wien ziehen ließ!

Celebrity-Knltur

Weibel:

ist der Feind der Bildung

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(lacht) M a n muss ja seine eigenen Positionen prüfen. Es zeigt meine Freiheit der Selbst-

kritik. WELT

ONLINE:

U n d wie sehen Sie mit diesen düsteren Augen Stuttgart 21?

Weibel:

Das passt doch genau zu meinen vorherigen Ausführungen. D i e Leute haben durch die

Technik gelernt, dass die Welt sich so verhalten soll, wie sie wollen. Alle wollen mitmachen, m i t bestimmen, mitgestalten. Demokratie ist eine Mitmachgesellschaft. D e r U n m u t der M e n s c h e n braucht einen konkreten Anlass: D i e D e u t s c h e n gehen nicht auf die Straße gegen die Gesundheits- oder die Steuerpolitik. Das können nur die Franzosen (lacht). D i e D e u t s c h e n brauchen ein konkretes Zeichen wie bei der Atomenergie, als man gegen den Bau von Atommeilern demonstrierte. N i c h t bauen, nicht abreißen, ist die Alternative. O h n e das Internet wäre das nicht denkbar.

WELT ONLINE: Ich bin User, also bin ich. Weibel:

I n der pragmatischen Philosophie gibt es den Begriff der „agency", der Handlungsfähig-

keit. M a n drückt auf den K n o p f in der technischen Welt und es tut sich was. Ich handle und das Internet reagiert. U n d in der wirklichen Welt tut sich nichts. D i e Bürger des Medienzeitalters wollen ihre Handlungsfähigkeit performativ durchsetzen, d.h. ihnen Worte und Taten folgen lassen. D i e Politiker wurden gewählt und machen vier Jahre, was sie wollen. D i e Partei war performativ, nicht der Wähler. Lange ging das gut. J e t z t nie wieder.

WELT ONLINE: Nie wieder? Weibel: N i e wieder. Das N e t z verspricht: D u kommunizierst, du handelst, du bestimmst. Es sind bürgerliche Wähler, Porschefahrer und Frauen mit H e r m e s - T ü c h e r n , die auf der Straße sind.

WELT ONLINE: Was passiert? Weibel:

I c h denke, eine Bauunterbrechung von einigen Wochen wäre richtig und dann ein Volks-

entscheid. D e n die Befürworter von Stuttgart 21 gewinnen könnten. A b e r das traut sich die Politik nicht. Sie m ö c h t e das M o n o p o l der Performativität behalten. WELT

ONLINE:

Wohin führt das?

Weibel:

Das Internet hat durchaus Gruppen des Bürgertums gestärkt. Wir sehen uns einer bür-

gerlichen A P O gegenüber. D e n k e n Sie an das Gesundheitswesen. Es gibt auf Patientenseite Vertreter, die m e h r wissen als die A r z t e selbst. D a hat eine enorme Professionalisierung stattgefunden. D a s Volk ist heute kein Volk mehr, sondern eine Ansammlung von Individuen. Was nicht heißt, dass es nicht Mehrheiten geben könne. M a n muss, wie im Falle Stuttgarts, aber eine Vision haben, die mehrheitsfähig ist. Wie wäre es mit dem Modell einer C 0 2 - f r e i e n Stadt? E i n e r Ö k o - S t a d t ? D e n Verkehr zu optimieren, den Transport, den Warenstrom - darüber könnte sich ein Gespräch ergeben. D e n k e n Sie an den Eiffelturm. D e n wollte zu Beginn auch niemand. J e t z t

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Peter Weibel

ist er die Ikone von Paris. Das Neue kommt immer in der Gestalt, die keiner kennt und ahnt und wird daher abgelehnt. Mein Lieblingsbeispiel ist Jesu. Jahrtausende warteten die Juden auf den Messias, und als er kam, tötete man ihn. Wie, dieser Einfaltspinsel auf dem Esel soll unser Messias sein? Niemals. Und doch setzt das Neue sich auf geheimnisvollem Wege durch. Deswegen bin ich optimistisch.

Sigrid

Weigel

ÜherLebens Qualität Kulturwissenschaft und Nachhaltigkeit

I

n dem Maße, wie die Nachhaltigkeit zur allgemein anerkannten Maxime des Handelns geworden ist, droht der Begriff abstrakt, leer und pragmatisch zu werden. Im Interesse einer Rückgewinnung seiner Tiefendimension kann man die beiden Schlüsselwörter aus dem Diskurs über die Nachhaltigkeit, das Uberleben des Planeten und die Lebensqualität der künftigen Generationen übereinander blenden, um die dabei zustande kommende Verdoppelung des Wortes Lebens als Einstieg in die historischen und kulturellen Schichten der Debatte zu verstehen.

Von der Nachhaltigkeit zur Generationengerechtigkeit

- und zurück

Als der Begriff der Nachhaltigkeit im Jahre 1972 im Bericht des Club of Rome die Bühne internationaler Politik betrat, entsprang er einer Verbindung von Krisenbewusstsein, globaler Perspektive und Zukunftsverantwortung. Vor dem Horizont der aus Bevölkerungswachstum, Rohstoffverbrauch, Zerstörung von Lebensraum und weiteren Faktoren errechneten Grenzen des Wachstums lautete die in die Zukunft gerichtete Sorge, „dass das künftige Schicksal der Menschheit, vielleicht das Uberleben der Menschheit, selbst davon abhängt, wie rasch und wie wirksam weltweit die beschriebenen Probleme gelöst werden können." Die kritischen Stimmen, die damals gegenüber der Diagnose laut wurden, hielten den Autoren vor, dass sie den weiteren Fortschritt von Wissenschaft und Technologie nicht ausreichend in Rechnung gestellt hätten. Von ihnen wurde die Rettung der Menschheit gewissermaßen der Forschung überantwortet. Wenn trotz solcher fortschrittsgewissen Einreden die Nachhaltigkeit in der Zwischenzeit allgemein als

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Sigrid Weigei

globale Richtschnur politischen Handelns anerkannt ist, - zumindest im und als Prinzip - dann vor allem deshalb, weil die Szenarien, mit denen vor 37 Jahren die globale Wachstumskrise beschworen wurde, zu deutlich mit den Fernsehbildern korrespondieren, die uns täglich von unterschiedlichsten Schauplätzen des Globus erreichen. Gegen die Bilder von schmelzenden Gletschern, verdorrten Feldern, hungernden Kindern oder einer alternden Gesellschaft können Wissenschaft und Technik heute nicht mehr so leicht in Stellung gebracht werden, ist zwischenzeitlich doch allzu deutlich geworden, dass nicht wenige der Probleme als ungewollte Nebeneffekte des Fortschritts selbst gelten müssen. Damit haben Forschung und Technologie ihre Sendung gleichsam zurückerhalten, so dass die Frage der Nachhaltigkeit sich nun auch an ihre eigene Adresse richtet: Welches Wissen ist in der Lage, den Anforderungen von Bestandssicherung und Lebensqualität zu genügen? Nicht nur die Zukunftsträchtigkeit einzelner Innovationen steht damit zur Debatte, sondern auch deren Nutzen, Nebenwirkungen und Folgekosten. Unter „zukunftsfähiger Entwicklung" wird seit dem Bericht der Weltkommissionfür Umwelt und Entwicklung 1983 verstanden, dass die gegenwärtige Generation ihre Bedürfnisse auf eine Weise befriedigt, durch die „die Fähigkeit der zukünftigen Generation, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen", nicht gefährdet wird. Im Nachhaltigkeitsdiskurs haben die Ideen von Generationengerechtigkeit bzw. Generationenvertrag damit die Pathosformel vom „Uberleben der Menschheit" überlagert und teils ersetzt. Mit der „zukünftigen Generation" ist eine Instanz auf den Plan getreten, in der das Überleben der Menschheit gleichsam ein Gesicht erhalten hat. Doch was ist das für ein Gesicht, was oder wer ist die zukünftige Generation? Da diese Frage nicht einfach mit dem Hinweis auf die 1996 gegründete Gesellschaft für die Rechte zukünftiger Generationen beantwortet werden kann - denn auch diese kann, selbst wenn ihre Vertreter jünger sein mögen als das Durchschnittsalter der Bundestagsabgeordneten, nur im Namen künftiger Generationen sprechen, - so bleibt zu fragen: Beginnt die künftige Generation, in deren Namen Nachhaltigkeit gefordert wird, bereits bei unseren Kindern oder erst bei unseren Enkelkindern? Wo überhaupt beginnt und wo endet eine Generation, und wie konkret ist ihr Gesicht? Lassen sich mit dieser Instanz präzisere Aussagen über die Zukunft machen? Und wie überhaupt kann man die Bedürfnisse künftiger Generationen ermitteln? Oder ist auch die künftige Generation eine bloße Pathosformel? Ein Blick in die Geschichte dieses Konzepts zeigt, dass der Begriff der zukünftigen Generation' keine Erfindung der Gegenwart ist. Vielmehr ist er vor zwei Jahrhunderten an der Schwelle zum 19. Jahrhundert entstanden, zusammen mit dem modernen Staat und der bürgerlichen Kleinfamilie, die bis heute die beiden wichtigsten Akteure des Sozialstaats darstellen: die Familie als Transformationsagentur, als Medium biologischer Reproduktion und ökonomischen Erbes, sekundiert durch gesamtgesellschaftliche Versicherungsregeln des Sozialstaates. Vor diesem Horizont erscheint die aktuelle Politik der .Nachhaltigkeit' als eine auf Zukunft gestellte Praxis des Erbens. Die Sorge um das Überdauern repräsentativer Bestände der Vergangenheit wirkt darin wie eine kontraphobische Politik, mit der die Vergangenheit gegen die Angriffe der Gegenwart abgesichert werden soll: als Uberleben der Dinge - während sich dieses Erbe doch zur gleichen Zeit in eine Anhäufung von Schulden verwandelt. Insofern lohnt sich z.B. ein Blick zurück vor die moderne Engführung von Erbe, Erbschaft und Vererbung. Nicht nur relativieren sich vor der Kontrastfolie historischer Unterschiede manche Krisenphänomene. Beispielsweise ist die sogenannte Patchwork-Familie früher eher die Regel gewesen, allein schon wegen der - durch kürzere Lebenszeiten und eine hohe Kindsbett-Sterb-

ÜberLebens Qualität

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lichkeit bedingten - Mehrfachheiraten. So war es eher die Verwandtschaft als die Familie, die die Verhandlungen über das Erbe bestimmte - wobei die Vorstellung von Verwandtschaft auch viele Beziehungen zuließ, die nicht blutsverwandt sind: wie Patenschaften, Adoptionen, Bruderschaften und andere Formen .geistlicher Verwandtschaft'. Und wo die Verwandtschaft nicht in der Lage war, Sorge und Fürsorge, Gedenken und Erhalten, Übertragung und Weitergabe zu sichern, traten Stiftungen an ihre Stelle. Eine historisch und kulturell vergleichende Untersuchung des Erbes verspricht also vormoderne Anregungen für Antworten auf post-moderne Fragen. Die moderne Vorstellung vom Erbe, in der Blutsverwandtschaft, Vererbung und Vermögenstransfer verkoppelt und einheitlichen Erbgesetzen unterstellt sind, entstammt weitreichenden wissenschaftlichen und politischen Umbrüchen um 1800: als die entstehende Wissenschaft der Biologie daran ging, die Vererbungsgesetze zu erforschen und als die bürgerliche Kleinfamilie zum Modell der sozialen Ordnung wurde. Seither werden viele soziale Praktiken zwischen zwei Generationen geregelt, zwischen der älteren und der jungen Generation. Dieser historische Moment war zugleich die Geburtsstunde der Jugend' und ihrer Rechte. In Gegenstellung zum Erbrecht des Ancien Régime hieß es in dem von Condorcet formulierten Artikel 30 der Deklaration der Menschenrechte (1793), keine Generation habe das Recht, „eine zukünftige Generation den eigenen Gesetzen zu unterstellen". Die Produktion von Zukunft, das Recht der Jugend und das Erbe, definiert als Eigentumserwerb der Nachkommen in der biologischen Reproduktionskette, entstammen ein und demselben Konzept: dem modernen Erbebegriff, mit dem die Geschichte als Generationenkette entworfen wird und das Volk als Population betrachtet: als Demos, dem Körper von Demokratie und Demographie. Während der Souverän des Ancien Régime seine Untertanen, zusammen mit Grund und Boden, Bodenschätzen, Ernte, Vieh, Manufakturen und anderem Bestand, als Besitz betrachtete und damit als Gegenstand von Zählung, Nutzung und Sorge behandelte, kamen mit der Geburt des modernen Staates die Generationen, die Zukunft und die Schulden ins Spiel. Und damit auch die Idee nachhaltigen Handelns, auch wenn dies um 1800 noch nicht so hieß. Am 24. Juli 1813, vier Jahre nach dem Ende seiner Amtszeit als dritter Präsident der Vereinigten Staaten, eröffnete Thomas Jefferson (1743-1826), der Vater der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776, einen Brief über Schulden, Steuern, Banken und Papiere an seinen Neffen und Schwiegersohn John Wayles Eppes, mit folgenden Worten: „Dear Sir, this letter will be on politics only." Tatsächlich entwirft Jefferson darin eine Finanzpolitik der Nachhaltigkeit, die erstaunlich aktuell klingt, obwohl - oder möglicherweise gerade weil - sie sich gleichermaßen auf Gott, die Naturgesetze und die Statistik stützt: „Die Erde gehört den Lebenden, nicht den Toten. Der Wille und die Macht des Menschen erlöschen mit seinem Leben, durch das Gesetz der Natur. ... Jede Generation hat die Nutznießung der Erde während der Zeit ihres Bestehens. Wenn sie aufhört zu existieren, geht die Nutznießung auf die nachfolgende Generation über, frei und ohne Verpflichtung, und so fort, aufeinanderfolgend, von einer Generation zur anderen für immer." In der weiteren Argumentation vergleicht Jefferson dies mit dem Fall einer Pacht, bei der das Land vom Pächter lebenslang genutzt, bei seinem Tod aber zurückgegeben werden muss, und zwar ohne Belastungen. Entsprechend kritisiert er die „moderne Theorie der Perpetuierung von Schulden". Es ist besonders interessant zu sehen, auf welche Weise er im Folgenden die Vorstellung, dass die Erde ein Geschenk Gottes an die jeweilig Lebenden darstellt, mit modernen demographischen Berechnungen verknüpft. So kalkuliert er auf der Grundlage der seinerzeit verfügbaren Geburts- und Sterbetafeln, dass von der zu einem bestimmten Zeitpunkt lebenden erwach-

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Sigrid Weigel

senen Bevölkerung nach 18 Jahren und acht Monaten jeweils die Hälfte nicht mehr leben würde, um daraus dann einen Grundsatz, wenn nicht ein Gebot für die Schuldenpolitik des Congresses abzuleiten. Dieser müsse für den aufgenommenen Kredit spezielle Steuern erheben, genug, um die jährlichen Zinsen und innerhalb von 19 Jahren die ganze Summe zurückzahlen zu können. Aus einer biblischen Haltung gegenüber der Natur - der Idee, dass wir nur Gast auf dieser Erde sind (Psalmen 119.19) - hat Jefferson vor zweihundert Jahren ein modernes Schuldenprinzip entwickelt, das den gegenwärtig diskutierten Nachhaltigkeitsforderungen an die Staats- und Steuerfinanzen in nichts nachsteht. Das Problem der Nachhaltigkeit ist also zusammen mit dem modernen Staat entstanden, als die .Untertanen' des Ancien Régimes durch die .Bevölkerung' abgelöst wurden und die Geldbeschaffungspolitik des Monarchen durch eine Schuldenpolitik ersetzt worden ist, die sich dadurch auszeichnet, dass das Volk bei sich selbst Schulden macht, allerdings bei sich selbst im status futurum. - W e n n es allein um eine nachhaltige Schuldenpolitik ginge, gäbe es in der Geschichte einiges zu lernen. Aber es geht um mehr.

Nachhaltige Erfahrung und Literatur „Die historischen Erfahrungen, die Baudelaire als einer der ersten machte - er gehört nicht umsonst zur Generation von Marx, dessen Hauptwerk im Jahre seines Todes erschienen ist sind seither nur allgemeiner und nachhaltiger geworden". Dieser Eintrag findet sich in den Notizen zum Passagen-Werk, dem gewaltigen Projekt einer Geschichte der Moderne, in der die Stadt Paris mit allen ihren kulturellen Erscheinungen - der Architektur, der Technik, der Mode, den Massen auf der Straße, den Passagen mit ihren Schaufenstern, den Kaufhäusern und den neuen, breiten Boulevards - als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts fungiert. Wenn man dies liest, sieht man den aus Berlin vertriebenen jüdischen Intellektuellen Walter Benjamin am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in der Pariser Bibliotheque Nationale sitzen und die schriftlichen Zeugnisse aus dem Paris des 19. Jahrhunderts studieren. Im Verlaufe seiner Studien hat sich die Figur des französischen Dichters Charles Baudelaire (1821-1867) zu einer Art Seismograph für die historische Entwicklung verdichtet; in dessen Gedichten und Essays sieht Benjamin die Spuren und das Echo seiner Zeit bis in die unscheinbarsten Erschütterungen aufgezeichnet. Seine Beobachtung, dass Baudelaires Erfahrungen „seither", d.h. zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, „nur allgemeiner und nachhaltiger geworden" seien, erinnert die Vorgeschichte des Nachhaltigkeitsbegriffs. Während sich damit heute zuvörderst das Handlungsprinzip einer auf die Zukunft ausgerichteten Bestandssicherung verbindet, die das Uberleben des Planeten und der Menschheit sichern soll, handelt Benjamins Eintrag von historischer Erfahrung. Zu beachten ist dabei allerdings, dass dieser erst aus dem Rückblick, aus der Perspektive kumulierter Erfahrung also, Nachhaltigkeit bescheinigt werden kann. „Um es in aller Kürze zu formulieren:", so fährt Benjamins Eintrag fort, „es ist an dieser Dichtung noch nichts veraltet." Mit dem Benjamin-Zitat sollte nun nicht nur die Literatur als „nicht veraltetes" Reservoire für das Studium nachhaltiger historischer Erfahrungen ins Spiel gebracht werden. Mit ihm soll auch daran erinnert werden, dass Nachhaltigkeit als Maxime des Handelns nur die eine Seite der

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Medaille ist. Sie hat keinen Wert, wenn sie nicht durch Erfahrung gedeckt ist. So wie die Zahlseite der Münze durch die Bildseite, die dem Prägestempel vorbehalten ist, gedeckt ist, bedarf Nachhaltigkeit als Handlungsprinzip der Prägung durch Erfahrung. Und diese Notwendigkeit betrifft zuallererst das Konzept der Nachhaltigkeit selbst. Der Beleg zeigt zugleich, dass die Vorstellung von Nachhaltigkeit nicht allein, wie gern kolportiert wird, der Landwirtschaft entstammt, jenem Prinzip, dass „nachhaltiger Ertrag nur erzielt werden" könne, „wenn der Boden in gutem Stand erhalten" werde, wie z.B. Webers Allgemeines deutsches terminologisches ökonomisches Lexikon (1838) formuliert, bzw. dem forstwirtschaftlichen Gesetz, dass eine vernünftige Nutzung der Wälder nur möglich ist, wenn jeweils nur soviel Holz gefällt wird, wie nachwachsen kann. Wäre es möglich und sinnvoll, das letztgenannte Prinzip auf Menschheit und Planeten zu übertragen, dann stünde die Sache relativ einfach, dann wäre Nachhaltigkeit weitgehend berechenbar. Genau so suggeriert es der von der Rürup-Kommission vorgeschlagene Nachhaltigkeitsfaktor, der 2004 mit dem „RV-Nachhaltigkeitsgesetz" („Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlage der gesetzlichen Rentenversicherung") in Form des sogenannten Rentenquotienten, der zahlenmäßigen Relation von Rentnern und Beitragszahlern, eingeführt wurde. Die Art und Weise, wie die Regierung bereits im darauffolgenden Jahr damit begonnen hat, die Wirkung dieses Faktors zu modifizieren, auszusetzen und aufzuschieben, zeigt allerdings, wie wenig nachhaltig allein rechnerische Nachhaltigkeitsinstrumente sind. Anders gesagt: Nachhaltigkeit ist kein Faktor, nachhaltiges Handeln kann nicht allein Gegenstand von Statistik, Berechnung und Kalkulation sein, denn es geht um strukturelle und qualitative Probleme. Während die Zukunft eine Kategorie der Zeit ist, betrifft die Frage, wie wir uns die Zukunft vorstellen, nicht die vierte Dimension, sondern eine Dimension, die aus den Parametern der empirischen Methoden herausführt. Nennen wir sie Dimension F: F wie Fiktion, Fantasie oder umfassender facultas fingendi, das menschliche Vermögen zur Vorstellung, Gestaltung und zum Wahrscheinlichkeitsdenken. Diese Dimension kann als Experimentierfeld für Nachhaltigkeitsforschung genutzt werden - weniger in der Gattung der Science Fiction Literatur und der Erfindung fantastischer Welten, als vielmehr in jener Literatur, die sich als Feld des Probehandelns versteht und in die imaginäre Zeit des Gewesen-Sein-Werdens führt, wo sie sich die Frage vorlegt, wie sich einzelne Innovationen von Wissenschaft und Technologie darstellen und anfühlen, wenn sie ihren Sitz im Leben erhalten haben werden. Oder auch in Filmen, die sich als Schauplatz von Experimenten in virtu verstehen, von Versuchen, die in vivo nicht möglich sind oder sich verbieten. In diesem Sinne wurden jüngst vor allem die Neuerungen der Bio- und Reproduktionsmedizin, wurden z.B. Klonierung und Organtransplantation, wurden Eingriffe ins Hirn, MenschMaschine-Schnittstellen und Roboter im Hinblick auf ihre biographischen, psychischen und sozialen Wirkungen hin befragt. So kreisen die meisten der Transplantationsromane und -filme z.B. um jene phantasmatischen Vorstellungen, die der Unmöglichkeit erwachsen, das transplantierte Organ gefühlsmäßig vollständig von der Person des Spenders abzutrennen. Wenn die Literatur dabei jene Dimensionen des medizinischen Fortschritts aufarbeitet, die in der Forschung, weil diese vor allem mit den immunologischen Problemen der Transplantation beschäftigt ist, keinen Ort haben, dann widmet sie sich der Kehr- und Unterseite der Wissenschaft. Ohne deren Berücksichtigung wird der wissenschaftliche Fortschritt nicht nachhaltig sein können. Wenn das Vermögen von Kunst, Literatur und Kulturwissenschaft nicht genutzt wird, werden wir die Nachhaltigkeit immer schon verpasst haben.

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Sigrid Weigel

Lassen Sie mich auf Goethes Wahlverwandtschaften etwas ausführlicher eingehen, einen Roman, der, obwohl vor genau zweihundert Jahren geschrieben, in der Literaturgeschichte der Experimente bisher unübertroffen geblieben ist. Entstanden zu einer Zeit, als sich die Etablierung der Chemie als Wissenschaft vollzog, imaginiert der Roman, was sich unter den Umständen ereignet haben würde, dass sich das menschliche Leben nach jenen reinen Naturgesetzen vollzieht, wie sie die Metapher der Wahlverwandtschaften in der Chemie nahelegen. Während nämlich die Übertragung vertrauten kulturellen Wissens auf die Erforschung der Naturgesetze zumeist kreative Wirkungen hervorbringt, wenn es darum geht, in bisher unbekanntes Neuland vorzudringen, zeitigt eine umgekehrte Übertragung zumeist ziemlich verheerende Folgen. Das hat Heinrich von Kleist in seinen Erzählungen gezeigt, in denen er die Charaktere nach den seinerzeit entdeckten Gesetzen der Experimentalphysik agieren lässt. Und das zeigt Goethes Roman mit den Opfern, die das Experiment herbeiführt, und zwar aufgrund jener Dynamik, die der Gleichsetzung von .Naturelementen' und .menschlicher Natur' innewohnt und die mit der Anwendung des chemischen Gesetzes von den „Naturen, die sich beim Zusammentreffen einander ergreifen und wechselseitig bestimmen", auf das Personal des Romans einsetzt. Indem das Naturgesetz der Wahlverwandtschaft die Handelnden ihres Vermögens beraubt, sich aufgrund von Entscheidungen zu verhalten und sittlich zu handeln, zerfallen sämtliche sozialen Strukturen. Eine der Schlüsselszenen des Romans ist eine Lektüreszene, in der die .Gleichnisrede' eingeführt und in einem dreistimmigen Gespräch (zwischen Charlotte, Eduard und dem Hauptmann) reflektiert wird. Wo Charlotte sich für den .Wortverstand' interessiert, tritt der Hauptmann als Fachmann auf, der nicht nur auf sein .chemisches Kabinett' und die damit möglichen Versuche verweist, sondern auch über die .schrecklichen Kunstworte' verfügt, die er der geselligen Runde jedoch ersparen möchte, während er von Eduard aufgefordert wird, sich einstweilen mit Buchstaben auszudrücken. Vom Hauptmann als .Zeichensprache' der Chemie tituliert, sind diese Buchstaben das Medium, über das das narrative Spiel eines mehrfachen Tausches in Gang gesetzt wird: Zirkulation der Buchstaben als Formeln und als Initialen, die die Personennamen ersetzen, und Tausch der Partner. Während die Handlung des Romans über eben diesen Tausch vorangetrieben wird, wird in der genannten Lese- und Gesprächsszene die Gleichnisrede durchaus kontrovers diskutiert und hinsichtlich der Differenzen reflektiert, die im je unterschiedlichen sprachlichen Register zum Ausdruck kommen: Gleichnis rede, Kunstworte, Zeichensprache. Damit wird im Medium eines Romans, der ein Gleichnis aus der seinerzeit avanciertesten Naturwissenschaft experimentell erprobt und am Menschen durchspielt, die Frage nach dem epistemologischen Status der Fachwissenschaft für das Wissen vom Menschen aufgeworfen und erörtert. Goethes Roman ist ebenso wenig veraltet wie Baudelaires Literatur; als Feld historisch nachhaltiger Erfahrung ist eine solche Literatur sogar unverzichtbar geworden.

Die Zukunft der Tradition Benjamins Bemerkung über das Nicht-veraltet-Sein von Baudelaires Dichtung erhält ihre wirkliche Bedeutung erst dadurch, dass Benjamin in seiner eigenen Epoche die Erfahrung grundsätzlich bedroht sah, - nicht eine bestimmte Erfahrung, sondern die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen überhaupt. Schon für die Generation des ersten Weltkriegs diagnostizierte er eine neue

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Erfahrungsarmut und behandelte die Erfahrung selbst als ein bedrohtes Erbe: „Arm sind wir geworden. Ein Stück des Menschheitserbes nach dem anderen haben wir dahingegeben, oft um ein Hunderstel des Wertes im Leihhaus hinterlegen müssen, um die kleine Münze des .Aktuellen' dafür vorgestreckt zu bekommen. In der Tür steht die Wirtschaftskrise, hinter ihr ein Schatten, der kommende Krieg." Zu lesen ist das in dem 1933 entstandenen Essay Erfahrung und Armut. In ihrem Beitrag zu Natur und Geschichte, in dem Hannah Arendt in den fünfziger Jahren die im 20. Jahrhundert fundamental veränderte Beziehung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften erörtert, begegnet dagegen eine auf den ersten Blick ganz unkatastrophische Semantik des Uberlebens, mit der die moderne, auf Kurzlebigkeit ausgerichtete Produktionsweise im technischen Zeitalter am Beispiel des Häuserbaus in den USA kommentiert wird: „Das Haus soll gar nicht mehr den Menschen, sondern der Mensch das Haus überleben." Diese unspektakuläre Feststellung verweist aber auf einen grundlegenden Wandel im Verhältnis zwischen biologischer, historischer Zeit und der Zeit der Dinge. Arendt beschreibt dies am Beispiel einer Art Kreislaufs von „bauen, verbrauchen, einreißen, und neubauen". Als Effekt der forcierten Entwicklung und Funktionserweiterung der Technik nennt sie die „Geschwindigkeit, mit der sich das äußere Bild der Welt verändert," - und kommentiert diese beschleunigte Veränderung mit dem mythischen Bild, „als sei die Welt in einen proteischen Verwandlungsprozess gerissen." Der Ausdruck „gerissen" signalisiert, dass hier eine technisch-ökonomische Bewegung in Gang gesetzt ist, deren Dynamik in mythische Zeit umschlägt, in das Gefühl, außerhistorischen Kräften ausgeliefert zu sein, mit der sich eine Angleichung der geschichtlichen an eine zyklische Zeit zu ereignen scheint. Denn der Verlust historischer Zeit versetzt die Menschen zurück in das Bewusstsein der Kreatur, das nurmehr Überleben, aber kein Leben kennt. Was ihm fehlt, ist Tradition. Als sie 1961 einige Beiträge zu Grundbegriffen des politischen Denkens - wie Natur, Geschichte, Freiheit, Politik, Wahrheit - zu dem Buch Between Past and Future zusammenfasst, beginnt sie ihr Vorwort mit einem Aphorismus des französischen Schriftstellers René Char: „,Notre héritage n'est précédé d'aucun testament' - .unsere Erbschaft ist keinerlei Testament vorausgegangen.'" Dieses Zitat ist Ausgangspunkt einer Reflexion über die Lücke, die das Verschwinden des Konzepts ,Tradition' für das Handeln hinterlassen hat: „Das Testament, das dem Erben sagt, was rechtmäßig sein eigen ist, verfügt über vergangenen Besitz für eine Zukunft. Ohne Testament oder, um die Metapher aufzulösen, ohne Tradition die auswählt und benennt, die übergibt und bewahrt, die anzeigt, wo die Schätze sind und was ihr Wert ist - scheint es keine gewollte zeitliche Kontinuität und also, menschlich gesprochen, keine Vergangenheit und Zukunft zu geben, nur immerwährenden Wandel der Welt und den biologischen Kreislauf der lebendigen Geschöpfe in ihr." D e r Traditionsverlust, von dem hier die Rede ist, handelt nicht von dem Verlust traditioneller Kulturbestände, sondern vom dem Verlust von Tradition überhaupt: von Traditon als Erfahrung, aus der sich erst qualitative Maximen für eine Politik der Nachhaltigkeit ableiten ließen. Im Fahrwasser eines solchen Verlusts wird Leben auf Uberleben reduziert und zum Ziel einer pragmatischen verengten Nachhaltigkeitspolitik.

Die Autoren Depenheuer, Otto, ist Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Di Fabio, Udo, ist Richter am Bundesverfassungsgericht und Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn. Donoghue, Frank, ist Associate Professor of English an der Ohio State University. Fischer, Julia, ist Professorin für Kognitive Ethologie an der Universität Göttingen. Sie leitet die Abteilung Kognitive Ethologie am Deutschen Primatenzentrum und ist Präsidentin der Europäischen Föderation für Primatologie. Fohrmann, Jürgen, ist Rektor der Universität Bonn und Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Allgemeine Literaturwissenschaft. Frühwald, Wolfgang, ist emeritierter Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er war von 1992 bis 1997 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von 1999 bis 2007 Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung. Gumbrecht, Hans Ulrich, ist Professor für Komparatistik an der Stanford University. Henrich, Dieter, ist emeritierter Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Kielmansegg, Peter Graf, ist emeritierter Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Mannheim. Er war u.a. Vorsitzender der Wissenschaftlichen Kommission des Wissenschafts-

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Die Autoren

rates, Vizepräsident der Studienstiftung und Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Kolovou, Foteini, ist Professorin für Byzantinische und Neugriechische Philologie an der U n i versität Leipzig. Krämer, Gudrun, ist Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Direktorin der Berlin Graduate S c h o o l Muslim Cultures and Societies. Limbach, J u t t a , ist emeritierte Professorin für Bürgerliches R e c h t , Handels- und Wirtschaftsrecht und Rechtssoziologie an der Freien Universität Berlin. Von 1994 bis 2 0 0 2 war sie Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts und von 2002 bis 2 0 0 8 Präsidentin des G o e t h e - I n s t i t u t s . Markl, H u b e r t , ist Professor für Biologie (im Ruhestand) an der Universität Konstanz. E r war von 1986 bis 1991 Präsident der D e u t s c h e n Forschungsgemeinschaft, v o n 1993 bis 1995 Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und von 1996 bis 2 0 0 2 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. Münkler, Herfried, ist Professor für T h e o r i e der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Reth, Michael, ist Professor für Molekulare Immunologie an der Universität Freiburg. E r ist Sprecher des Exzellenzclusters B I O S S (Centre for Biological Signalling Studies) der Universität Freiburg und des Max-Planck-Instituts für Immunbiologie in Freiburg. Roloff, Eckart, Dr., studierte Publizistik, Soziologie und Germanistik. Von 1988 bis 2 0 0 7 leitete er das Wissenschaftsressort des Rheinischen Merkurs. Lehraufträge an mehreren Universitäten und Joumalistenschulen. Schlink, Bernhard, ist emeritierter Professor für Ö f f e n t l i c h e s R e c h t und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und Autor. Schollwöck, Ulrich, ist Professor für Theoretische Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Speer, Andreas, ist Professor für Philosophie, Geschäftsführender D i r e k t o r des Philosophischen Seminars und D i r e k t o r des T h o m a s - I n s t i t u t s an der Universität zu K ö l n . Vasold, Manfred, Dr., ist H i s t o r i k e r und freier Autor. Von Koppenfels, Martin, ist Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität M ü n c h e n . Weibel, Peter, ist Professor für Medientheorie und Vorstand des Zentrums für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe.

Die Autoren

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Weigel, Sigrid, ist Direktorin des Zentrums für Literatur und Kulturforschung und Professorin an der Technischen Universität Berlin.

Quellennachweis O t t o Depenheuer: Zählen statt Urteilen. Die Auflösung der Urteilskraft in die Zahlengläubigkeit Aus: Sächsische Verwaltungsblätter, 8/2010, 1. August 2010, Stuttgart. Die im Manuskript enthaltenen Literaturhinweise wurden gestrichen. Udo Di Fabio: Gemeinschaftsschutz Glaubensfreiheit Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. April 2010; Vortrag vom 26. März 2010 anlässlich der Vorstellung des 68. Deutschen Juristentages in Berlin. "© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv". Frank Donoghue: Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten: Hochschulen in den USA zwischen Elite und Titelmühlen Aus: Forschung & Lehre 9/2010, S. 632ff. Von Frank Donoghue erschien 2008 das Buch „The Last Professors" in der Fordham University Press. Julia Fischer: Die eine Million Dollar-Frage: Uber Kommunikation kognitiven Ethologie Aus: Forschung & Lehre 6/2010, S. 396f.

bei Affen - Beobachtungen der

Jürgen Fohrmann: Was ist Bildung? Vom inflationären Gebrauch eines Begriffs und dem Verschwinden seiner tatsächlichen Bedeutung Aus: Forschung & Lehre 3/2010, S. 174ff. Der vorliegende Text ist eine gekürzte Fassung eines Vortrages, gehalten am 14. Januar 2010 anlässlich des 6. Bonner Bildungsempfangs im Alten Rathaus Bonn. Wolfgang Frühwald: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Universitäten am Scheideweg Aus: Forschung & Lehre 12/2010, S. 860ff. Veränderte Fassung eines Vortrages, zuerst gehalten am 16. April 2010 zur Amtseinführung von Babette Simon, der neuen Präsidentin der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg. Die im Manuskript enthaltenen Literaturhinweise wurden gestrichen.

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Quellennachweis

Hans Ulrich Gumbrecht: Ob uns die Berliner Universitätsgeschichte eine Verpflichtung ist Rede zur Eröffnung der akademischen Jubiläumsfestwoche am 6. Oktober 2010 anlässlich des 200-jährigen Bestehens der Humboldt-Universität zu Berlin. Dieter Henrich: Die Sekundenphilosophie: Ein Gespräch mit Dieter Henrich Aus: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft IV/3 Herbst 2010. Das Gespräch führte Ulrich Raulff. Von Dieter Henrich sind zuletzt erschienen: Endlichkeit und Sammlung des Lebens, Tübingen 2009 und Selbstbewusstsein und Gottesgedanke - ein Wiener Symposion mit Dieter Henrich über Philosophische Theologie, Hrsg. R. Langthaler; Wien 2010. Im Beck-Verlag, München, erscheint 2011 eine Monographie mit dem Titel „Werke im Werden - über die Genesis philosophischer Einsichten". Peter Graf Kielmansegg: Bausteine der Republik Aus: Rheinischer Merkur Nr. 39/2010. Foteini Kolovou: Byzantinistik heute: eine weltferne fachs" Aus: Forschung & Lehre 6/2010, S. 422ff.

Wissenschaftf

Perspektiven

eines

„Orchideen-

Gudrun Krämer: Distanz und Nähe. Fragen einer kritischen Islamwissenschaftlerin Uberarbeitete Fassung einer Rede anlässlich der Verleihung des Gerda Henkel Preises 2010 am 8. November 2010 in Düsseldorf. Jutta Limbach: Der Wissenschaftler als Bürger und Beamter. Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik Der Beitrag erschien im Erstdruck in der Reihe Göttinger Universitätsreden. Göttinger Universitätsrede 2009 - Wissenschaft verantworten. © Wallstein Verlag, Göttingen 2010. Die im Manuskript enthaltenen Literaturhinweise wurden gestrichen. Hubert Markl: Durch den menschlichen Geist sieht die Natur sich selbst an. Charles Darwins Einsichten in die Evolution von Natur und Kultur Aus: Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Nr. 733, Juni 2010. Die im Manuskript enthaltenen Literaturhinweise wurden gestrichen. Herfried Münkler: Ein Ort mit mehreren Zentren. Uber die Mitte der Gesellschaft Aus: Forschung & Lehre 11/2010, S. 784ff. Von Herfried Münkler ist im Rowohlt Verlag erschienen: Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, Berlin 2010. Michael Reth: Kreativer Umgang mit Molekülen: Was ist Synthetische Aus: Forschung & Lehre 8/2010, S. 552ff.

Biologie?

Eckart Roloff: Göttliche Geistesblitze. Wie Theologen zu Pionieren des Fortschritts wurden Aus: Rheinischer Merkur, Nr. 35/2010. Von Eckart Roloff ist das Buch „Göttliche Geistesblitze. Pfarrer und Priester als Erfinder und Entdecker", Wiley-VCH, Weinheim, erschienen.

Quellennachweis

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Bernhard Schlink: Die Zukunft der Verantwortung Aus: Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Nr. 738, November 2010. Ulrich Schollwöck: Aus Bildung wird Bologna: ein Zwischenruf aus den Naturwissenschaften Uberarbeitete Fassung eines Vortrags, der anlässlich einer hochschulpolitischen Tagung am 30. Juni 2010 in der Villa Vigoni gehalten wurde. Andreas Speer: Von der Freiheit des Alters: Unzeitgemäße Betrachtungen aus philosophischer Sicht Aus: Forschung & Lehre 1/2010, S. lOf. Manfred Vasold: Die Revolution der Lebenserwartung Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Juli 2010. "© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv". Martin von Koppenfels: Langeweile ist unverzeihlich. Uber das Arbeiten mit und an der Sprache ein Gespräch Aus: Forschung & Lehre 6/2010, S. 404f. Peter Weibel: Celebrity-Kultur ist der Feind der Bildung - ein Gespräch Aus: Die Welt, 18. Oktober 2010. Sigrid Weigel: UberLebens Qualität. Kulturwissenschaft und Nachhaltigkeit Langfassung eines Vortrags; eine Kurzfassung erschien in der Zeitung Der Tagesspiegel am 22. Juli 2010.