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German Pages 159 [160] Year 2005
Glanzlichter der Wissenschaft Ein Almanach
herausgegeben vom Deutschen Hochschulverband
LUCIUS LUCIUS
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
ISBN 3-8282-0346-9 Redaktion: Felix Grigat, M.A. (verantwortl.) Dr. Michael Hartmer Ina Lohaus Vera Müller, M.A. Druck: Saarländische Druckerei und Verlag GmbH, 66793 Saarwellingen
Inhaltsverzeichnis Zählen ohne Ende — Über die Magie der Zahlen Hörsaal öffne Dich: Wissenschaft für Kinder Albrecht Beutelspacher
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Das anthropologische Kreuz der Entscheidung Winfried Brugger
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Impulsprogramm für Lebenslust Warum Kultur im Fernsehen? Iso Camartin
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Versuchungen der Unfreiheit Erasmus-Intellektuelle im Zeitalter des Totalitarismus Ralf Dahrendorf
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Wo es gutgeht, da ist das Vaterland Alexander Demandt
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Witz komm raus Das Geheimnis des Lachens Kindern erklärt Eckart von Hirschhausen
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Spiegel- oder Zerrbild - was zeigt uns die Statistik? Walter Krämer
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Das Ich und seine Vergangenheit Wie funktioniert unser Gedächtnis? Hans J. Markowitsch
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Wird Deutsch eine Sprache der europäischen Gesellschaft sein ? Hans Joachim Meyer
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Ein Gespenst geht um in Europa Niedergang des Westens und asiatischer Aufstieg: Die Moral einer globalisierten Gesellschaft Meinhard Miegel
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Den Mitbürgern nützen Cicero — ein frühes Beispiel für Arnd Morkel
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Bildungspolitik?
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Inhaltsverzeichnis
Die Bewußtseinsfrage bei Tieren Eine Analyse aus neurobiologischer Sicht Henning Scheich
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Wissenschaft im Dienst der Menschenwürde Hartmut Schiedermair
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Die Platonische Akademie Die Akademie als philosophische Lebensgemeinschaft Arbogast Schmitt
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Schicksale der Höflichkeit Claudia Schmölders
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Freies Denken Andreas Speer
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Je früher, desto besser ? Über Lernstrategien von Vorschulkindern Elsbeth Stern
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Mit der Fackel der Erkenntnis voran oder Angeführte des Zeitgeistes? Politische Professoren in Deutschland seit 1800 Rüdiger vom Bruch
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Zur Inszenierung des Unternehmers in der Literatur Der Chef in der Krise Peter von Matt
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Alter und Weisheit Wilhelm Vossenkuhl
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Kalte Herzen Wie das Fernsehen den Charakter verändert Peter "Winterhoff-Spurk
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Die Autoren
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Quellennachweis
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Albrecht Beutelspacher
Zählen ohne Ende - Über die Magie der Zahlen Hörsaal öffne Dich: Wissenschaft für Kinder
ins, zwei, drei, vier, Eckstein - alles muß versteckt sein. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben - eine alte Frau kocht Rüben - eine alte Frau kocht Speck - und du bist weg. Zählen, Abzählen, das können wir doch. Das ist doch kinderleicht! Wirklich? Was uns heute so leicht fällt, ist überhaupt nicht selbstverständlich. Es hat in der Geschichte der Menschen lange gedauert, unglaublich lange, bis man zählen konnte, und noch viel länger, bis man mit den Zahlen richtig vernünftig umgehen konnte. Vor zigtausend Jahren haben die Menschen vielleicht nur „eins, zwei" gesagt, „ich und du", „ja und nein", „draußen und drinnen", „Tag und N a c h t " - „eins, zwei". Das wirkliche Zählen begann erst dann, als man „eins, zwei, viele" sagen konnte. Das waren immerhin schon drei Zahlen. Wie kamen denn die Menschen darauf, zählen zu wollen, zählen zu müssen? Man kann sich vorstellen, daß sie Dinge vergleichen wollten. Sie hatten Haustiere, z.B. fünf Ziegen, und wollten wissen, ob sie am nächsten Tag noch genauso viele hatten. Dazu mußten sie zählen. Aber ich glaube, noch viel wichtiger war die Zeiterfahrung. Die Menschen erfuhren, beobachteten den Wechsel der Tage und der Jahre. Aus einem Tag wird ein zweiter, nach einem J a h r kommt ein zweites; nach jeder N a c h t wird es wieder Tag, nach jedem Winter wird es wieder Frühling. Und sie begannen, sich zu erinnern: „Weißt du noch, im vorigen Winter ... und im Winter davor ...". Und dann begannen sie zu zählen: vor einem Jahr, vor zwei Jahren, vor drei Jahren. Sie zählten die Tage und die Jahre. Natürlich haben verschiedene Völker die Zahlen verschieden benannt. U n d vom Aufschreiben war zunächst kaum eine Rede. Aber alle haben eine Erfahrung gemacht: Mit den Zahlen kann man nicht nur in die Vergangenheit blicken, sondern auch in die Zukunft. Man kann nicht nur
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sagen: „Vor zwei Tagen haben wir ein Wildschwein erlegt", sondern man kann auch sagen: „Dieser Vorrat wird noch fünf Tage halten". Wenn man zählt, blickt man in die Zukunft. Zählen heißt zu erkennen, daß es prinzipiell immer weiter gehen könnte. Wer zählen kann, weiß schon, was unendlich ist. Das alles war in grauer Vorzeit. Im alten Griechenland, vor etwa 2.500 Jahren, waren schon Zahlen bekannt. Die ersten, die sich wirklich mit Mathematik beschäftigt haben, waren die Pythagoräer um den berühmten Pythagoras. Die Schule des Pythagoras, etwa 500 v. Chr., war eine verschworene Gemeinschaft. Man weiß nicht genau, ob es eine Universität war, ein Kloster oder eine Sekte - wahrscheinlich von allem etwas. Man weiß auch nicht genau, was die eigentlich wußten, denn die Pythagoräer hatten ein Gesetz: nichts nach außen zu erzählen. Deswegen wissen wir heute so wenig davon. Aber sie machten Mathematik und sie entdeckten etwas Unglaubliches: Sie entdeckten, wie die Zahlen, genauer das Verhältnis von Zahlen und Musik, die Klänge zusammenhingen. Es gab damals ein Musikinstrument, das hieß Monochord. Das bestand aus einer einzigen Saite, die gespannt war. Wenn man diese Saite anzupft oder anstreicht, gibt sie einen Ton. Das ist nichts Besonderes. Wenn man die Saite genau in der Mitte abdrückt wie bei einer Gitarre und dann noch mal anzupft oder anstreicht, gibt es wieder einen Ton, aber einen ganz besonderen Ton. D e r ist nämlich genau um eine Oktave höher als der ursprüngliche Ton. Also der reinste Klang entsteht dann, wenn man die Saite im Verhältnis eins zu eins teilt. Wenn man die Saite im Verhältnis eins zu zwei teilt, entsteht eine Quinte. Das ist auch noch ein einigermaßen klarer Klang so wie C - G. U n d wenn man es in irgendwelchen abstrusen Verhältnissen teilt, so wie sieben zu acht, neun zu dreizehn, dann entstehen schräge, interessante, wilde Klänge. Das war eine unglaubliche Erkenntnis für die Pythagoräer, daß sie erkannten, je einfacher das Verhältnis der Zahlen ist - eins zu eins, eins zu zwei - , desto reiner ist der Klang. J e komplizierter das Verhältnis ist, desto rauher, schräger, interessanter ist der Klang. Und so kamen sie zu ihrer Erkenntnis: Alles ist Zahl. Wenn die Zahlen etwas Wesentliches in einem so weit entfernten Gebiet wie der Musik erklären können, dann müssen die Zahlen wirklich der Schlüssel für alle Geheimnisse der Welt sein. Davon waren die Pythagoräer zutiefst überzeugt. Schon in dieser alten Zeit hat man angefangen, sich für besondere Zahlen zu interessieren. Die Menschen hatten Lieblingszahlen. Meine Lieblingszahl zur Zeit ist die Zahl 8. Ich mag sie deswegen, weil 2 x 2 x 2 ist 8. 2 ist schon die Zahl der Symmetrie, eine symmetrische Zahl, zwei gleiche Hälften. 4 ist die doppelte Symmetrie, und 8 ist nochmal eins draufgesetzt, also eine ganz in sich ruhende, vollkommene, besonders schöne Zahl. Viele Menschen haben die Zahl 7 als Lieblingszahl. Diese kommt auch an vielen Stellen vor, in Märchen z. B. die sieben Zwerge hinter den sieben Bergen, sieben auf einen Streich, über sieben Brücken mußt du gehen, die sieben Weltwunder, die sieben Tage der Woche usw. Ich mag auch die Zahl 5 sehr gerne. Fünf Finger hat eine Hand. Es gibt fünf Erdteile: Europa, Asien, Afrika, Amerika und Australien. Und daher gibt es auch fünf olympische Ringe. D i e Zahl 5 ist auch wichtig, weil sie zum Fünfeck gehört, und das Fünfeck ist etwas ganz Besonderes. Es ist eine der wichtigsten geometrischen Formen. Auch außerhalb der Mathematik spielt das Fünfeck aufgrund seiner interessanten, in sich stimmigen Symmetrie eine ganz wichtige Rolle. D a ß das Fünfeck mathematisch aus der Reihe von Dreieck, Quadrat und Sechseck herausfällt, kann man schon daran erkennen, daß es schwierig ist, ein Fünfeck zu zeichnen. Jeder kann ein Dreieck zeichnen, jeder kann ein Quadrat zeichnen, mit ein bißchen Übung kriegt man auch ein gutes Sechseck hin. Aber ein Fünfeck ist richtig schwer zu zeichnen. Wenn man innerhalb eines Fünfecks die Diago-
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nalen einzeichnet, entsteht ein Fünfstern und innerhalb dieses Fünfsterns nochmal ein kleines Fünfeck. Man könnte diese Konstruktion fortsetzen und erhält immer kleinere Fünfecke und Fünfsterne. Dieser Fünfstern, auch Pentagramm genannt, heißt in der Geschichte auch Drudenfuß. Er taucht z. B. in dem berühmten Text von Goethe „Faust" auf: Mephisto kann Fausts Studierstube nicht verlassen, da auf der Schwelle ein Pentagramm aufgemalt ist und das muß dann erst in einer dramatischen Szene von einer Ratte aufgefressen werden. In der Natur kommen fünfzählige Symmetrien erstaunlich häufig vor. An der Sternfrucht ist das überdeutlich. Auch wenn man einen Apfel quer aufschneidet, sieht man, daß die Kerne in Form eines Fünfsterns angeordnet sind. Ein ganz besonderes Beispiel für die Verwendung des Fünfecks ist das amerikanische Verteidigungsministerium, das nicht umsonst Pentagon heißt. Es hat als Grundriß ein ganz regelmäßiges Fünfeck. Auch sonst sieht man das Fünfeck oft in Form eines Pentagramms. Weihnachtssterne z. B. sind in der Regel Pentagramme, viele Flaggen, z. B. von den U.S.A. oder verschiedenen islamischen Staaten haben ein oder mehrere Pentagramme als Erkennungsmerkmal. Ich habe jetzt häufig das Wort Symmetrie benutzt. Was bedeutet das eigentlich? Zunächst denkt man bei Symmetrie an Achsensymmetrie: Zwei gleiche Hälften. Wenn man einen Menschen in der Mitte durchschneiden würde, würde er aus zwei gleichen Hälften bestehen. Das ist der Grundbegriff der Symmetrie. Es gibt auch den Begriff der Dreh-Symmetrie. Das bedeutet, wenn ich etwas um ein Drittel drehe, sieht es wieder gleich aus. Das ist auch etwas Symmetrisches. Wenn ihr z. B. mal die Felgen von Autorädern anschaut, das ist nie eine Vierer-Symmetrie, sondern oft eine Fünfer-, Siebener- oder gar Neuner-Symmetrie: neun, sieben oder fünf gleiche Teile, die, wenn man sie um den entsprechenden Winkel dreht, wieder gleich aussehen. Das versteht man auch unter Symmetrie. Ich finde, die herausragendste Zahl ist die Null. Die Null stellt nichts dar. Und eigentlich denkt man, ist es blöd, das Nichts durch ein Zeichen darzustellen. Wer zum ersten Mal die Null in unserem Sinne benutzt hat und wann das war, weiß man nicht. Sicher ist, daß die Null in Indien erfunden wurde. Die erste zweifelsfrei dokumentierte Null findet sich in einem Tempel in Gwalior, einer kleinen Stadt, etwa 400 km südlich von Delhi. Auf einer Steintafel aus dem Jahr 876 wird die Null gleich zweimal benutzt, und zwar zur Darstellung der Zahlen 270 und 50. Zweifellos ist die Null eine der genialsten Erfindungen der Menschheit. Eine, die das Rechnen einfach und weniger fehleranfällig macht, eine Erfindung, die uns heute vollkommen selbstverständlich erscheint, und eine Erfindung, die sich nur schwer gegen Widerstände durchgesetzt hat. Man braucht die Null, wenn man große Zahlen mit nur wenigen Zeichen darstellen will. Dann benutzt man ein Stellenwertsystem, etwa das uns vertraute Dezimalsystem. Eine Ziffer hat nicht nur einen Wert an sich, sondern es kommt darauf an, wo sie steht. Es ist etwas anderes, ob eine Eins an der letzten Stelle (der Einer-Stelle) oder an der viertletzten Stelle (der Tausender-Stelle) steht. Wenn die Eins an der Einer-Stelle steht, gilt sie als Eins. Wenn sie an der Tausender-Stelle steht, gilt sie als 1000. Unsere gewohnten Zahlen wie etwa 276 sind Abkürzungen. Wenn wir wissen wollen, was sie bedeuten, müssen wir sie ausschreiben. 276 ist 200 plus 70 plus 6, ist 2 mal 100 plus 7 mal 10 plus 6 mal 1. Wenn eine Stelle keinen Beitrag zu einer Zahl liefert, kann man versuchen, an dieser Stelle nichts zu schreiben. Wenn wir fünf Hunderter, keine Zehner und drei Einer haben, könnten wir 5 3 schreiben. Tatsächlich machten das manche Menschen so, etwa die Babylonier vor 5000
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Jahren. Aber man erkennt sofort, daß hier viele Fehler entstehen und dem Betrug Tür und Tor geöffnet wird. Denn wenn der Abstand zwischen 5 und 3 nur klein geschrieben wird, könnte jemand argumentieren, daß das gar kein Abstand sei und die Zahl in Wirklichkeit 53 sei und nicht 503. Irgendwann hatte irgendjemand die verrückte, aber geniale Idee, daß auch das Nichts ein Zeichen braucht, daß man die Tatsache, daß eine Stelle keinen Beitrag liefert, mit einem Symbol bezeichnen muß. Das war die Geburtsstunde der Null. Die Geburtsstunde war in Indien, und die 0 kam über die Araber auch nach Europa. Dort herrschte bis dahin das römische System in gewissen Abwandlungen. Zum Rechnen eignet sich das römische System praktisch nicht. Wenn wir uns eine römische Zahl vorstellen: MCXXVI, was ist das? Klar: I ist 1, V ist 5, X bedeutet 10, C ist hundert und M ist 1000. Damit ist die Zahl prinzipiell einfach zu lesen. MCXXVI = 1000, 100, 10, 10, 5, 1. Das muß man zusammenzählen und kann es dann darstellen. Die einzige merkwürdige Regel im römischen Zahlensystem ist: wenn eine kleinere Zahl vor einer größeren steht, wird sie von der größeren abgezogen. Das heißt: C M ist 900 (1000 - 100), IV ist 4 (5 - 1). Damit wird das römische Zahlensystem noch ein bißchen schwieriger. Es ist völlig ungeeignet zum Rechnen. Die römischen Zahlen eignen sich eigentlich nur dazu, als Jahreszahlen oder als Beutezahlen in Stein gemeißelt zu werden. Die Römer hatten im Prinzip auch keine Möglichkeit, Zahlen größer als 1000 darzustellen. Wenn sie 32.000 darstellen wollten, mußten sie 32mal ein M schreiben. Dieses komplizierte und für das Rechnen ungeeignete System herrschte in Europa. Zum Rechnen brauchte man Rechenmeister. Das war ein richtiger Beruf. Wenn man eine Rechnung auszuführen hatte, mußte man diese Rechenmeister anstellen und bezahlen. Und die lieferten dann das Ergebnis. Mit der 0 und dem Dezimalsystem wurde es einfacher. Jeder konnte im Prinzip rechnen. Als erster in Europa erkannt und propagiert hat das der berühmte Leonardo Fibonacci, ein Rechenmeister aus Venedig, der im Jahre 1202 ein Buch schrieb. Dieses Buch beginnt programmatisch mit einem Satz, der dem Leser ganz klar die Überlegenheit des indischen Systems vor Augen führt. Fibonacci schreibt: „Die neun indischen Figuren (Ziffern) sind 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1. Mit diesen neun Figuren und dem Zeichen 0, welches die Araber „Zefirum" nennen, läßt sich jede Zahl schreiben." Jede beliebige Zahl, auch große Zahlen wie 32.000.000 oder 32.000.000.000 usw. Die Interessantheit von Zahlen kann man auch daran erkennen, daß sie in Zahlenfolgen eingeordnet sind. Man sagt nicht, eine einzige Zahl ist interessant, sondern eine Abfolge von Zahlen. Das erinnert manchmal an Intelligenztests wie z. B.: „Wie geht es weiter? 2, 4, 6, 8, 10 ?" Kein besonders guter Intelligenztest, das weiß jeder. Das sind die geraden Zahlen. Genauso: 1, 3, 5, 7, 9, das sind die ungeraden Zahlen. Gerade und ungerade sind ganz wichtige Eigenschaften von Zahlen. Und diese Eigenschaften haben wie so oft zuerst die Pythagoräer untersucht, von denen wir vorher schon sprachen. Die Pythagoräer untersuchten Zahlen, noch mehr, sie untersuchten Eigenschaften von Zahlen. Und noch besser: sie untersuchten die Beziehungen zwischen diesen Eigenschaften. Z. B. definierten sie gerade und ungerade. Sie sagten, eine Zahl ist gerade, wenn sie durch 2 ohne Rest teilbar ist. 10 ist eine gerade Zahl, denn man kann 10 durch 2 teilen, es kommt 5 heraus, es bleibt kein Rest. Eine Zahl ist ungerade, wenn sie bei Division durch 2 einen Rest ergibt. 13 ist ungerade, denn 13 : 2 = 6, es bleibt der Rest 1. Und die Pythagoräer entdeckten Eigenschaften von gerade und
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ungerade. Wenn man zu einer geraden Zahl 1 addiert, ergibt sich eine ungerade Zahl (10 + 1 = 11, aus einer geraden Zahl wird eine ungerade Zahl). Wenn man zu einer ungeraden Zahl 1 addiert, ergibt sich eine gerade Zahl (11 + 1 = 12). Das ist nicht nur bei 10, 11 und 12 der Fall, sondern es ist immer so: Gerade + 1 = ungerade Ungerade + 1 = gerade. Und dann entdeckten die Pythagoräer noch solche Gesetze wie: Gerade + gerade = gerade (6 + 6 = 12) Gerade + ungerade = ungerade (6 + 5 = 11) Ungerade + ungerade = gerade (7 + 5 = 12). Wenn man nun bei diesen Gesetzen das Wort „Gerade" durch 0 ersetzt, und das Wort „Ungerade" durch die Zahl 1 abkürzt, dann lauten die letzten Beziehungen: 0 + 0 = 0 (gerade + gerade = gerade) 0 + 1 = 1 (gerade + ungerade = ungerade) 1 + 1 = 0 (ungerade + ungerade = gerade). In diesem Sinne kann man sagen, daß die Pythagoräer eigentlich die Erfinder der Bits waren, mit denen heute alle unsere Computer rechnen. 0 und 1 sind Bits (engl. Binary Digits = Binäre Zahlen). Unsere Computer benutzen intern nur diese beiden Zahlen. Aus ihnen setzt sich alles zusammen, was wir am Bildschirm sehen, alle Bilder, alle Töne, alle Texte. Natürlich hatten vor 2.500 Jahren die Pythagoräer noch keine Ahnung von unseren Computern. Aber die ersten Rechengesetze dafür haben sie damals schon aufgestellt. Eine andere, ganz spannende Zahlenfolge, die damals auch schon untersucht wurde, ist folgende: 1, 4, 9,16,.... Wie geht es weiter? Wenn man das nicht genau weiß, kann man versuchen, sich die Differenzen zwischen den Zahlen klarzumachen. Von 1 bis 4 sind es 3, von 4 bis 9 fehlen 5, von 9 bis 16 fehlen 7. Aha, die ungeraden Zahlen. Das heißt, die nächste Zahl müßte sein: 16 + 9 = 25. Und dann kommt 25 + 11 = 36 usw. Man kann diese Zahlenfolge 1, 4, 9, 16 auch anders darstellen. Das sind die sogenannten Quadratzahlen. 1 = 1x1 4 = 2x2 9 = 3x3 16 = 4 x 4 25 = 5 x 5 ...usw. Und diese beiden Darstellungsformen, einmal als Quadratzahl, einmal durch die Tatsache, daß die Differenzen jeweils ungerade Zahlen sind, zeigt einen ganz engen interessanten Zusammenhang zwischen den ungeraden Zahlen und den Quadratzahlen. Die spannendste Zahlenfolge überhaupt ist folgende: 2, 3, 5, 7, 11,13,17, 19 usw. Das sind die sogenannten Primzahlen. Primzahlen sind diejenigen natürlichen Zahlen größer als 1, die nur durch 1 und sich selbst teilbar sind. 2 ist die kleinste Primzahl, dann folgt die 3 usw. Primzahlen sind die wichtigsten natürlichen Zahlen, denn man kann jede Zahl als Produkt von Primzahlen darstellen. Z.B.: 6 = 2x3 8=2x2x2 12 = 2 x 2 x 3 ... usw.
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So kann man jede Zahl, so groß sie auch sein mag, als Produkt von Primzahlen schreiben. D . h. im Reich der Zahlen spielen die Primzahlen die Rolle wie in der C h e m i e die A t o m e . D i e Primzahlen sind sozusagen die A t o m e unter den Zahlen. D e r wichtigste Satz über die Primzahlen steht bereits in dem berühmten B u c h „Die E l e m e n t e " von Euklid. Euklid hat etwa 300 v. Chr. in Alexandria, der damaligen Welthauptstadt des Wissens, gelebt und hat dort Mathematik gelehrt. Sein B u c h „Die Elemente" ist das wichtigste Mathematikbuch der Welt und es prägt die M a t h e m a t i k bis heute. Euklid beweist darin - neben vielen geometrischen Sätzen - vieles über Zahlen, z. B. daß es unendlich viele Primzahlen gibt. D i e Reihe der Primzahlen hört nie auf, sie geht immer weiter, es gibt keine größte Primzahl. A b e r es ist unglaublich schwer, Primzahlen zu finden. Was k o m m t nach 19? D a müssen wir ein b i ß c h e n überlegen ... das ist 23. Was k o m m t nach 23? D a müssen wir schon m e h r überlegen ... 2 9 , dann 31. Es ist jedesmal ein Abenteuer, eine neue Primzahl herauszukriegen. U n d die M e n schen versuchen seit Euklid, also seit 2 . 5 0 0 Jahren, Primzahlen zu finden, immer größere Primzahlen. D i e heute größte Primzahl hat 7.816.230 Stellen. Die wird man nie ausgedruckt oder ausgeschrieben darstellen, sondern man stellt sie sich viel einfacher vor: sie ist 2 hoch 25.924.951 minus 1. Das bedeutet, man muß die Zwei 25.924.951 mal mit sich selbst multiplizieren und dann n o c h 1 abziehen, dann erhält man diese Primzahl. Diese Primzahl wurde dieses J a h r entdeckt von einem deutschen Augenarzt, der viele C o m p u t e r besitzt. E r hat seine C o m p u t e r einfach laufen lassen. Allerdings steckt in seinem C o m p u t e r p r o g r a m m schon ganz schön viel M a t h e m a t i k drin. Wenn man das einfach so ohne C o m p u t e r probiert, würde man nie auf eine solche Zahl k o m m e n . Für den Mathematiker sind die Primzahlen deswegen so spannend, weil zwischen dem, was uns über Primzahlen bekannt ist, und dem, was wir wissen wollen, noch ein tiefer Graben herrscht. Wir wissen, es gibt unendlich viele Primzahlen. A b e r wir können sie nicht konstruieren. Es gibt keine Formel für die Primzahlen. Deswegen müssen wir wirklich jede neue Primzahl suchen. U n d wir wollen noch viel viel m e h r über die Primzahlen wissen. D a s ist ein Ansporn, den die Mathematiker haben. Für die riesigen Primzahlen gibt es keine Anwendung. A b e r für die etwas kleineren, die vielleicht 100 oder 2 0 0 Stellen haben, gibt es sehr interessante Anwendungen, nämlich bei den Geheimcodes. Viele Geheimcodes basieren auf diesen Primzahlen. 100 oder 2 0 0 Stellen sind auch schon ganz schön viel, aber von ihnen gibt es viele, da k ö n n e n wir auch unglaublich viele finden. U n d benutzt werden sie, um z.B. ganz besonders gute Geheimcodes zu machen. Wir haben angefangen, über das Zählen nachzudenken: 1, 2, 3, 4, 5. Wir haben dann über Zahlenreihen gesprochen 2, 4, 6 oder die Quadratzahlen 1, 4, 9, 16 oder die Primzahlen 2, 3, 5, 7, 11, 13 usw. Das sind alles Zahlenreihen, bei denen am Ende sozusagen drei P u n k t e stehen, die andeuten, es geht immer weiter. Selbst nach der größten Primzahl geht es immer n o c h weiter. Es gibt keine größte Zahl, keine größte Primzahl, auch keine größte Quadratzahl, es geht immer noch weiter. Das finde ich einen der faszinierendsten Aspekte der Mathematik, daß man über das Unendliche Aussagen machen kann, und zwar ganz objektive Aussagen, nicht irgendwelche mystischen oder gefühlvollen, sondern richtig gute Aussagen, die wir gegenseitig nachprüfen k ö n n e n , von denen wir uns überzeugen können, es gibt unendlich viele Quadratzahlen, unendlich viele Primzahlen, es hört nie auf, es geht immer weiter. Ich weiß n o c h ganz genau, wie ich die Unendlichkeit der Zahlen entdeckt hatte. I c h habe einen Bruder. U n d als wir die Zahlen gelernt haben, haben wir miteinander das Spiel gespielt, wer kann die größte Zahl sagen. U n d ich habe gesagt: „ 2 5 . 7 3 8 . 9 2 5 " . D a n n hat sich mein Bruder ange-
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strengt und mit noch viel lauterer Stimme gesagt: „78.935.857.517". Und dann habe ich eine noch größere Zahl gesagt usw. Irgendwann hatten wir die Idee, wir brauchen uns gar nicht so anzustrengen, ich lasse meinen Bruder seine Zahl sagen, ich höre nicht mal zu, sondern sage dann einfach: „Plus 1", und dann weiß ich, meine Zahl ist größer. Dieses „Plus 1" symbolisiert das Immerweitergehen, es gibt keine größte Zahl. Das Spiel „Wer sagt die größte Zahl" ist eigentlich unsinnig, weil es keine größte Zahl gibt. Gerechnet haben wir mit den Zahlen bisher noch gar nicht. Das soll jetzt zum Schluß kommen. Man kann mit Zahlen viele Zauberkunststücke machen. Ein ganz einfaches zum Einstimmen: Man denkt sich irgendeine Zahl und merkt sie sich gut, denn man braucht sie später noch. Dann sage ich: „Diese Zahl plus 3, mal 2, das Ergebnis plus 8, und das Ganze jetzt geteilt durch 2 und davon jetzt die gedachte Zahl abziehen". Egal, mit welcher Zahl man begonnen hat, es kommt immer das Gleiche raus, nämlich immer die Zahl, die ihr jetzt auch ausgerechnet habt. Eine Aufgabe, die ich noch viel schöner finde: Ihr müßt euch zunächst etwas vorstellen, was ihr gerne macht. Vielleicht euren Freund oder eure Freundin besuchen. Das macht ihr an jedem Tag, also an sieben Tagen in der Woche, vielleicht auch nur an drei Tagen in der Woche oder an vier. Jedenfalls die Anzahl der Tage, an denen ihr das macht, müßt ihr euch merken. Diese Zahl multipliziert ihr mit 2. Dann werden 2 dazu addiert. Und jetzt diese Zahl mit 50 multipliziert. Das ist ein bißchen schwierig. Und jetzt wird es noch ein bißchen schwieriger: Falls ihr in diesem Jahr noch keinen Geburtstag gehabt habt, addiert ihr noch 4. Und diejenigen, die schon Geburtstag gehabt haben, die addieren 5. Jetzt kommt noch eine Operation, die schwerste vielleicht: Ihr müßt von der Zahl, die ihr jetzt erhalten habt, noch euer Geburtsjahr abziehen, d. h. wenn ihr im Jahr 1990 geboren seid, müßt ihr 90 abziehen. Das Ergebnis ist eine dreistellige Zahl, die vieles über euch verrät. Nämlich die erste Ziffer, die Hunderterstelle sagt, an wie vielen Tagen in der Woche ihr euren Freund, eure Freundin besuchen wollt, und die beiden letzten Ziffern geben euer Alter an. Damit ihr das alles gut versteht, nochmal zum Mitschreiben: Wir stellen uns vor, ihr wollt viermal in der Woche Eis essen: 4x2 = 8 8 + 2 = 10 10 x 50 = 500. Und jetzt, falls ihr noch nicht Geburtstag gehabt habt, plus 4. Falls ihr schon Geburtstag gehabt habt, plus 5. Und von dem Ergebnis euer Geburtsjahr abziehen. Diese Zahl verrät, daß ihr viermal in der Woche Eis essen wollt, und die letzten beiden Ziffern geben euer Alter an. Übrigens: Wie müßt Ihr diesen mathematischen Trick abändern, daß er im Jahr 2006 funktioniert? Irgendetwas muß sich daran ändern, da wir im nächsten Jahr ja alle ein Jahr älter werden! Dieser Zahlenzaubertrick gefällt mir so gut, weil er zeigt, wie faszinierend Zahlen sein können. Mathematiker beschäftigen sich mit Zahlen natürlich, weil sie nützlich sind, weil sie wichtig sind, weil man mit ihnen vieles ausrechnen kann. Aber nicht nur deswegen. Sie beschäftigen sich mit den Zahlen, weil die Zahlen an sich interessant und faszinierend sind, jede einzelne Zahl - es gibt keine uninteressante Zahl aber auch die Zahlenfolge und das Zählen, das von 1, 2, 3 bis in die Unendlichkeit führt. Und die Unendlichkeit ist etwas, was die Mathematiker und die Mathematik immer ganz besonders interessiert und was sie von jeher beschäftigt hat.
Das anthropologische Kreuz der Entscheidung Winfried, Brugger
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enn Sören Kierkegaard festhält, „Das Leben kann nur rückblickend verstanden werden. Es muß aber vorausschauend gelebt werden", dann ist das zentrale Merkmal von menschlichem Handeln getroffen. Handeln im emphatischen Sinn des Wortes ist zu
unterscheiden von routinemäßigen menschlichen Abläufen, die wir tagein, tagaus praktizieren, um zeitsparend unsere Alltagsprobleme zu bewältigen. Erst der Störungs- und Krisenfall transformiert die Gewohnheiten in Entscheidungslagen, die Aufmerksamkeit erwecken und bewußte Abwägungen erzwingen. Dies gilt insbesondere für moralisch diffizile, identitätsdefinierende oder besonders konsequenzenträchtige Entscheidungen: Welchen Beruf soll ich anstreben? Wel-
chen Partner soll ich heiraten? Sollen wir Kinder in die Welt setzen? Antworten auf diese Fragen zu geben und die entsprechenden Anstrengungen vorzunehmen und Entscheidungen zu treffen, kann quälend und mit schlaflosen Nächten verbunden sein. Warum? Weil wir es mit dem anthropologischen Kreuz der Entscheidung zu tun haben. Was ist damit gemeint? D e r Ausdruck bezieht sich auf die Redensart „Es ist ein Kreuz mit" einer Person oder einer Situation. Damit wird im engeren, religiösen Sinn das Kreuz Christi, Mühsal, Leid und Qual bezeichnet. Im alltagssprachlichen Gebrauch wird verwiesen auf „mit jemandem, etwas große Last, Mühe haben, schwer fertig werden". In dieser Redensart steckt nicht nur viel menschliche Einsicht, aus ihr heraus läßt sich mittels zweier Überlegungen auch eine systematische Anthropologie menschlichen Handelns entwickeln, die in individuellen Lebensplänen wie kollektiven Handlungsprogrammen nach Berücksichtigung verlangt. Ein Zitat von Friedrich Nietzsche führt in die erste Überlegung ein: „Betrachte die Herde, die an dir vorüber weidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks." Selbst wenn man die Lernfähigkeit und Kommunikationsmöglichkeiten höher entwickelter Tierarten berücksichtigt, stellt
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Winfried Brugger
sich die Lage für den Menschen doch anders dar. Nur der Mensch versteht sich, kommuniziert und handelt in der Zeitspanne von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er allein formuliert in den Kategorien von Perfekt, Präsens oder Futur, vom Konjunktiv ganz zu schweigen. Dies ist die Horizontale des Kreuzes der Entscheidung. Im Hier und Jetzt einer problematischen Entscheidung drängt „von hinten" die Vergangenheit und „von vorn" die Zukunft auf Berücksichtigung bei der Wahl eines Aktionsplans. Dabei sind sowohl Ziele auszuwählen als auch MittelZweck-Überlegungen anzustellen im Hinblick auf die Wertigkeit des Ziels wie dessen Erreichbarkeit angesichts der konkreten Umstände und der sozialen Randbedingungen. Ob überhaupt etwas entschieden oder was auch immer letztlich entschieden wird, hat Auswirkungen auf die Bestätigung, Korrektur oder den Abbruch bisheriger Kontinuitätslinien und biographischer Verständnisse oder auf die Aussichten auf Durchführung einer Option für die Zukunft. Die Vertikale des Kreuzes der Entscheidung kommt ins Spiel, weil der Mensch durch seine Instinkte nicht festgelegt ist. Er ist „sich selbst Aufgabe - er ist das stellungnehmende Wesen", er „macht sich zu etwas" (Arnold Gehlen). Zwar bedrängen den Menschen viele Grundbedürfnisse, von Essen und Trinken über sexuelle Befriedigung und Zeugung bis zu Anerkennung und Liebe, aber die genauen Wege und die Auswahl der geeigneten Objekte zur Befriedigung dieser Bedürfnisse sowie deren konkrete Wertigkeit sind in der Regel durch die genetische Ausstattung des Menschen nicht vorgegeben. Vielmehr hat die Natur für den Menschen die Wahl der Qual getroffen. Zunächst ist der Mensch konfrontiert mit der Qual der Wahl von Mitteln, Wegen und Zielen im äußeren Verhältnis zur Welt der Gegenstände, Mitmenschen und sozialen Verhältnisse. Damit verbunden ist die Qual der Wahl der inneren Lebensführung mit ihren undurchsichtig verwobenen Aspekten von Vitalantrieben, Emotionen und Idealen. All diese Komplikationen treten zwischen Antrieb und Vollzug, transformieren Verhalten in Handeln, machen das Charakteristikum des menschlichen Schicksals aus, das selbst bei der Verfolgung der „von unten" sich meldenden biophysischen Antriebe noch Deutungsaufgaben meistern muß. Immanuel Kant, vor allem als Erkenntnistheoretiker, Moral- und Rechtsphilosoph bekannt, war auch ein guter Anthropologe. Nach Kant ist der Mensch durch seine Antriebe affiziert, aber nicht nezessitiert, weswegen er für selbstgesetzte und selbstüberprüfbare Normen ansprechbar ist. So ergibt sich laut Kant für den Menschen die Aufgabe, seine Antriebe zu disziplinieren, zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren. Die Psychoanalyse ist einer der Wissenschaftszweige, der diese Hinweise systematisiert hat. Sigmund Freud spricht von der menschlichen Seelenausstattung in den Kategorien von Es, Ich und Uber-Ich. Das Es ist das sozusagen „von unten" das Ich bedrängende Naturpotential, dort melden sich die Grundbedürfnisse, die nach Befriedigung verlangen. „Von oben" melden sich bildlich die in dem jeweiligen Kulturkreis propagierten Normen und Ideale des Schönen, Guten, Gerechten und Transzendenten, die einem im Blick nach vorn Wege, Objekte und Ziele zur Befriedigung der Grundbedürfnisse anzeigen, vielleicht diese sogar transzendieren, etwa in der Vorstellung eines Gottes, der physische Bedürfnisse unwichtiger oder gar unwichtig werden läßt oder neue, geistige Bedürfnisse schafft. Solche Imaginationen „von oben" sind zum Teil gegenstands- und körperbezogen, reichen etwa von Askese bis zur Völlerei, zum Teil sind sie für sich stehende kreative Produkte des menschlichen Geistes, die die menschliche Bedürfnisstruktur zumindest partiell distanzieren oder neue Erfahrungswelten schaffen, etwa in der Liebe oder religiöser Sinngebung. Das Ich oder Selbst steht im Mittelpunkt dieser „von unten" und „von oben" einwirkenden Impulse, wenn es ein Kreuz mit einer schwierigen Entscheidung ist, womit das anthropologische
Das anthropologische Kreuz der Entscheidung
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K r e u z der E n t s c h e i d u n g als K r e u z u n g einer horizontalen u n d vertikalen Abwägungsschiene mit jeweils zwei in S p a n n u n g s t e h e n d e n Polen, also insgesamt vier Entscheidungsperspektiven, charakterisiert w e r d e n kann. G e n a u e r b e t r a c h t e t haben wir also nicht „zwei", s o n d e r n „vier Seelen in unserer Brust". Die vier F a k t o r e n wirken als I n f o r m a t i o n s s t r ö m e u n d M o t i v b ü n d e l in jede problematische H a n d l u n g hinein u n d sind d o r t in vier H a u p t v a r i a n t e n aufweisbar: (1) Sie k o m m e n in der b e w u ß t e n Reflexion des A k t e u r s selbst bei der A b w ä g u n g u n d E n t s c h e i d u n g s f i n d u n g z u m Vorschein. (2) D i e b e w u ß t e E n t s c h e i d u n g wird verstärkt oder im G r e n z f a l l ersetzt durch die H a n d l u n g s w a h l emotional anleitende Impulse von g r ü n e m Licht („Los!"), gelbem Licht („Los?") oder r o t e m Licht („Halt!"). (3) Eine v o r b e w u ß t e , s p o n t a n e E n t s c h e i d u n g etwa in Form der U b e r s p r u n g s h a n d l u n g , von der m a n w ü n s c h t , m a n k ö n n t e sie n o c h einmal rückgängig machen, wird nachträglich auf ihre „überspannte" Situation im R a h m e n der K r e u z u n g der Perspektiven reflexiv rekonstruiert. (4) Schließlich k ö n n e n die Spannungen zwischen den Perspektiven auch zu Verdrängungen bis hin zu Selbsttäuschungen f ü h r e n , etwa früher, wenn H o m o s e xuelle sich über ihre sexuellen P r ä f e r e n z e n täuschten oder, v o r ebenfalls nicht allzu langer Zeit u n d vielleicht bis in die G e g e n w a r t hinein wirkend, w e n n Stasi-Spitzel v o r sich selbst u n d damit auch vor anderen leugneten, Kollegen oder gar Familienmitglieder an die Regierung verraten zu haben. Als Beispiel einer vertikalen Reflexion, die horizontale Erwägungen einspeist, kann Sigmund Freuds F o r m u l i e r u n g der A u f g a b e des Ichs dienen, das in der K r e u z u n g der vier Reflexionspunkte agiert: Dieses „hat die A u f g a b e der Selbstbehauptung, erfüllt sie, indem es nach a u ß e n [also aus der Situation] die Reize k e n n e n l e r n t , E r f a h r u n g e n [aus der Vergangenheit] über sie aufspeichert (im Gedächtnis), überstarke Reize vermeidet (durch F l u c h t ) , mäßigen Reizen begegnet (durch Anpassung) u n d endlich lernt, die A u ß e n w e l t [in der Z u k u n f t ] in zweckmäßiger Weise zu seinem Vorteil zu verändern (Aktivität); nach innen gegen das Es, indem es die H e r r s c h a f t ü b e r die [von u n t e n sich meldenden] Triebansprüche gewinnt, entscheidet, o b sie zur Befriedig u n g zugelassen w e r d e n sollen ...". „Eine H a n d l u n g des Ichs ist" nach Freud „dann korrekt, w e n n sie gleichzeitig den A n f o r d e r u n g e n des Es, des U b e r - I c h s u n d der Realität genügt, also deren A n s p r ü c h e miteinander zu v e r s ö h n e n weiß." D i e F o r m u l i e r u n g erlaubt es, ja regt dazu an, das Ich als ein mit natürlicher Basis versehenes Bedürfnis-, E m o t i u n s - , Reflexions- u n d H a n d l u n g s z e n t r u m zu verstehen. D e s s e n Identität baut auf physiologischen Bedürfnissen u n d Anlagen auf. Sie bildet sich ü b e r soziale u n d symbolische I n t e r a k t i o n in d e n unterschiedlichsten Lebenslagen u n d zwischen d e n dabei beteiligten Bezugsp e r s o n e n heraus, w o b e i Kognition, E m o t i o n und Evaluation o f t u n t r e n n b a r v e r b u n d e n sind. Sie bildet sich weiter u n d baut sich u m , je nach den E r f o r d e r n i s s e n des persönlichen Entwicklungsstadiums oder der v o n a u ß e n das I n d i v i d u u m k o n f r o n t i e r e n d e n E n t s c h e i d u n g s n o t w e n d i g k e i t e n - „ego g r o w t h t h r o u g h crisis resolution". All dies geschieht in der Zeit, aber mit der zeitlosen Aufgabe, sich als ein jeweiliges, b e s t i m m t e s Ich m i t einem D a v o r u n d D a n a e h v o r den G r u n d b e d ü r f n i s s e n u n d den eigenen oder f r e m d b e s t i m m t e n Idealen zu b e h a u p t e n u n d sozial einzubringen. Die bildliche Vergegenwärtigung in d e r Vertikalen impliziert w e d e r einen Vorrang noch einen N a c h r a n g der „von u n t e n " sich meldenden Antriebe; diese sind w e d e r schlecht noch gut. A u c h mit der Bezeichnung „niedrig" sollte man vorsichtig sein, „vital" wäre besser, mit variablen G r a d e n v o n „schon o d e r noch nicht kulturalisiert". Sie v e r k ö r p e r n die A n t r i e b s a u s s t a t t u n g f ü r das Leben, o h n e diesem Leben ein zureichendes Verständnis oder präzise Anleitungen für die k o n k r e t e L e b e n s f ü h r u n g als Bauplan mitzuliefern.
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Winfried Brugger
Das anthropologische Kreuz der Entscheidung besitzt eine analytische und eine normative Dimension. Analytisch erlaubt es, den Input menschlicher Entscheidungen anhand der vier Perspektiven zu entschlüsseln. Es bietet sozusagen einen Atlas über die Tiefenstruktur menschlicher Entscheidungsbildung. D i e s e stellt keine „black b o x " dar, wenngleich zuzugeben ist, daß bei weitem nicht alle Details des Zusammenwirkens von Kognitionen, Evaluationen und E m o t i o n e n oder von neurologischen Prozessen und menschlicher Entscheidungswahl präzise aufgeklärt sind. Weniger stark entwickelt, aber trotzdem nicht trivial ist das normative Potential des Kreuzes der Entscheidung. E i n e „gute", „gelungene" Handlung ist eine solche unter Bezug auf alle vier Perspektiven, bevor dann der Handelnde sich für eine k o n k r e t e Richtung und Gewichtung entscheidet. Schlecht, jedenfalls höchst gefahrenträchtig sind demnach Entscheidungen, die auf Dauer eine oder mehrere der Perspektiven ausblenden, denn so k o m m t keine mehrdimensionale Verankerung menschlicher Handlungen zustande, die diesen mehr Halt und Verortung, wenngleich nicht Sicherheit in jeder Situation, geben kann als eine Tyrannei des einen Ziels oder Werts. Diese für individuelle Akteure entwickelten Erkenntnisleistungen des Kreuzes der Entscheidung gelten auch für Organisationen jeder Art, von Firmen über Staaten bis zu supranationalen Gebilden: Auch Kollektive agieren im Lichte ihrer Herkunft, Zukunftspläne, Ideale und der Grundbedürfnisse, zu deren Befriedigung der jeweilige Kollektivakteur aufgerufen ist. Sie sind, ebenso wie Individuen, gut beraten, wenn sie sich zur Bestimmung einer überzeugenden „corporate identity" oder eines gelingenden Verfassungsprofils im Lichte aller vier Perspektiven positionieAnlaß für Handlungen im Kreuz der Entscheidung k ö n n e n Störungssignale aus der Verfassung des Individual- oder Kollektivakteurs ohne Fremdanlaß sein; in der Regel jedoch wird sich die Notwendigkeit einer Entscheidung durch anvisierte oder vollzogene Handlungen mit Richtung auf - oder ausgehend von - Personen oder Institutionen im U m f e l d der Lebenswelt der A k t e u re ergeben: D e r Arbeitsplatz wird gekündigt, eine Entscheidung über Krieg oder Frieden steht an usw. All diese anderen Personen und Institutionen handeln ebenfalls im anthropologischen Kreuz der Entscheidung. Damit weitet sich der Blick v o n der individuellen Aktionsperspektive hin zur Interaktionsperspektive vieler Menschen und Organisationen, die wiederum alle über den B l i c k nach hinten und oben mit objektivierten Kulturgehalten konfrontiert sind, die in den unterschiedlichsten Gestalten und Verfestigungsgraden als Resultate früherer Interaktionen die Sprache und den Geist der jeweiligen Zeit prägen.
Sozialisation Interaktion Enkulturation
Persönliche Ideale, Werte; das ideale Ich, Selbst Aufwärts:
Sozialisation Interaktion Enkulturation
Rückwärts: Wo komme ich her? Vergangenheit
Entscheidung in der Gegenwart Das wahre, eigentliche Ich, Selbst
Vorwärts: Wer will ich sein? Zukunft
Sozialisation Interaktion Enkulturation
Abwärts: Antriebe, Bedürfnisse; das empirische Ich, Selbst
Sozialisation Interaktion Enkulturation
Schaubild: D e r A k t e u r i m anthropologischen Kreuz d e r E n t s c h e i d u n g
Das anthropologische
Kreuz der Entscheidung
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Anhand der vier anthropologischen Perspektiven lassen sich verschiedene Persönlichkeitstypen unterscheiden: Je nachdem, wo die Betonung liegt, haben wir im Blick nach unten eine stark antriebsbestimmte Persönlichkeit vor uns oder im Blick nach oben eine stark Idealen verpflichtete; so entsteht ein Gegenüber von Affekt- und Normbestimmtheit. Personen mit permanenter zukunftsbezogener Perspektive und entsprechendem Durchsetzungswillen sind „Macher"; was die Mittel erfolgreich bewirken, ist für sie meist deshalb schon ein gutes Ziel. Anders dagegen das stark vergangenheitsfixierte Individuum. Es bleibt mehr oder weniger der Sohn seiner Eltern oder die Tochter ihrer Zeit. Die kontinuierliche Nachahmung oder höchstens vorsichtige Fortschreibung der Tradition erscheint als Lebenszweck; die Last der Vergangenheit ist Lust, Zukunftsoffenheit Last. Damit entsteht in der Horizontalen ein Gegenüber von Charaktertypen, für die die Freiheit des Handelns entweder bedrohlich oder sinnstiftend ist; für die Sekurität entweder ein sicherer Hafen oder ein zu enges Korsett ist; für die Zukunft Bedrohung oder Chance darstellt. Je nach Ausrichtung wird eine solche Person, in nautischer Metaphorik gesprochen, am ruhigen Ufer verweilen und gebannt und gleichzeitig ängstlich auf das Meer schauen, oder aber sich auf das große Abenteuer auf stürmischer See einlassen. Für eine auf Dauer gelingende Lebensführung ist ein auf die einzelne Persönlichkeit abgestimmter Ausgleich der vier Perspektiven zu finden. Ausgleich meint dabei nicht Durchschnitt, sondern schließt eine große Vielfalt von Temperamenten und Charakteren ein, in denen sich unterschiedliche Vorrangverhältnisse und Deutungen der Herkunft, Zukunft, Idealität und Bedürfnisstruktur widerspiegeln. Ohne solchen Perspektivenreichtum wäre das menschliche Theater karg und armselig; die Literatur wäre der meisten ihrer Helden und Missetäter ledig. Die Grenze zur neurotischen Persönlichkeit oder jedenfalls zur Einbahnstraße als Lebensführungsprinzip wird aber dort überschritten, wo jemand von einer der vier Perspektiven beherrscht wird. Denn das Uber-Ich nach Freud kann die Triebstruktur eines Menschen so stark zügeln und unterjochen, einer Tyrannei des Sollens unterwerfen, daß zum Schluß nur noch Leiden und Depression mit der Gefahr der Selbstzerstörung oder der Fremdaggression übrig bleiben. Freuds bekannte Studie über „Das Unbehagen in der Kultur" von 1930 ist genau auf dieser für ihn zu strikten Verdrängung der Triebstruktur des Menschen aufgebaut. Genauso kann man Menschen als neurotisch ansehen, die es nicht schaffen, aus des Vaters oder der Mutter Fußstapfen zu treten, oder die den Absprung aus der Vergangenheit der elterlichen Erziehung nur durch die aggressive Negation des Blicks nach hinten schaffen; so entwickelt sich keine gesunde Zukunftsperspektive. Umgekehrt ist der einseitig erfolgsbesessene Mensch ein solcher, dem alle Mitmenschen potentiell oder aktuell zum Mittel für seine Karriere degenerieren. Alles spricht dafür, daß solche Erfolgsstorys auf die Dauer zu Mißerfolgsgeschichten werden, spätestens wenn die Ausgebeuteten sich als eigenständige Akteure wehren. Nicht nur Mißerfolgsgeschichten, sondern kriminelle Karrieren können sich entwickeln, wenn in der Zeithorizontalen das Elternhaus nicht in der Lage ist, dem Kind eine verläßliche Erziehung angedeihen zu lassen und zudem in der Vertikalen die Minimalregeln der Konventionalmoral und des Rechtsgehorsams zu vermitteln. Kommt dann noch dazu, daß die biophysische Konstitution der Person gestört ist oder zu dominant wird, so daß die Antriebe „von unten" keiner effektiven Kontrolle „von oben" mehr unterliegen, liegt eine kriminovalente Konstellation vor, die zwar nicht automatisch zu kriminellem Verhalten führt, aber doch ein deutliches Risiko in dieser Richtung mit sich bringt.
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Winfried Brugger
Verbindet sich die Dominanz des Blicks nach oben dagegen mit dem Blick nach hinten in die Vergangenheit, kann sich nach den Untersuchungen Theodor W Adornos ein „autoritärer Charakter" entwickeln: „Ich-Schwäche scheint mit Konventionalismus und Autoritarismus zusammenzugehen." Hier droht Aggression aus anderer Richtung, falls die traditionellen, über einschlägige soziale Werte vermittelten Mentalitäten zur Unterdrückung der individuellen Lebensund Gestaltungsinteressen führen und die daraus resultierende Frustration dann an isolierten und verhaßten Minderheiten als Feindbildern ausgelebt wird. Je nach Alter und Stadium der Persönlichkeitsentfaltung sind Kontinuität und Diskontinuität unterschiedlich bedeutsam. Für Kinder sind Kontinuität und Berechenbarkeit in der Normbildung überragend wichtig. Ab der Pubertät tritt der Wunsch nach Abgrenzung und zumindest vorübergehender Diskontinuität in den Vordergrund. Vom erwachsenen Menschen erwarten wir, daß er ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen seinen herkunftsbasierten Charakteranteilen und seinen Zukunftsvisionen gefunden hat. Der Erwachsene sollte Nachnamen und Vornamen miteinander versöhnt haben, denn der Nachname signalisiert seine Familienherkunft, der Vorname gibt die Chance zur Individualisierung. Für den alten Menschen, für den sich der Blick nach vorne in die Zukunft zunehmend verkürzt und der auch nicht mehr so viele identitätsbestimmende Entscheidungen zu treffen hat, wird der Blick nach hinten, in die eigene und familiäre Vergangenheit, wieder wichtig. A m Ende des Lebens steht der Mensch wieder in den physischen Abhängigkeiten, mit denen er „ganz vorn", als Baby und Kind, angefangen hat, während die Phase in der Mitte des Lebens idealerweise durch ein starkes Ich mit Umkreisverantwortung gekennzeichnet ist, auf das Junge und Alte im Familienkreis sich verlassen können. Nicht zufällig formulieren solche Zentrumspersonen in Zeiten drohender Verantwortungsüberwältigung oft: „Von allen Seiten wird an mir gezerrt!" Hinsichtlich Menschen, die in der Mitte des Lebens stehen, wissen wir, daß Erwachsene, die sich über lange Zeit an bestehende persönliche, soziale oder politische Verhältnisse gewöhnt haben, oft Schwierigkeiten haben, sich umzustellen. So bemerkte der Historiker Friedrich Meinecke, der in der Kaiserzeit aufgewachsen war und sich dann in der Weimarer Republik wiederfand, im Jahr 1918: „Ich bleibe, der Vergangenheit zugewandt, Herzensmonarchist und werde, der Zukunft zugewandt, Vernunftrepublikaner" Auch viele DDR-Bürger hatten nach der Wiedervereinigung Schwierigkeiten mit der Diskontinuität ihrer bisherigen Lebensgeschichte und dem Abbruch der vielen lieben großen und kleinen Gewohnheiten. Die Werthaltungen einzelner Individuen unterscheiden sich jedoch nicht nur nach Alter, Temperament und vorherrschendem Zeitgeist, es finden sich auch weitgehende Übereinstimmungen in den als wichtig angesehenen Grundhaltungen. So gibt es psychologische Forschungen von Shalom Schwanz und Wolfgang Bisky, die über einen Zeitraum von 15 Jahren 60 000 Menschen in 63 Ländern auf ihre Werthaltungen befragt haben. Als Ergebnis wurden über alle Länder und Kulturen hinweg zehn Kategorien von Werten auf den Schild gehoben: Macht, Leistung, Hedonismus, Stimulation, Selbstbestimmung, Universalismus, Wohltätigkeit, Konformität, Tradition und Sicherheit. Die beiden Forscher ordnen diese Werte in ein Viererschema von Offenheit für Veränderungen, Selbsttranszendenz, Bewahrung und Selbsterhöhung ein. Betrachtet man die Definitionen für die zehn Hauptwerte und die vier Ordnungswerte genauer, ergibt sich eine weitgehende Parallele zu den vier Perspektiven des Kreuzes der Entscheidung: Konformität, Tradition und Sicherheit sind Werte aus dem Blick in die Vergangenheit, während Hedonismus, Stimulation und Selbstbestimmung eine Zukunftsoffenheit für Veränderungen signalisieren, ver-
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bunden mit einem kräftigen Schuß von Antrieben „von unten". D a s nennen die Autoren auch „Selbstüberhöhung", verstanden als Selbstzentrierung. Ihr gegenüber, also „oben", stehen U n i versalismus und Wohltätigkeit, was „Selbsttranszendenz" genannt wird. Fassen wir zusammen: Das Kreuz der Entscheidung erlaubt deskriptiv, quasi in F o r m einer Landkarte, die unterschiedlichen Schwerpunkte von Lebensplänen zu analysieren. Normativ warnt es vor einer „Tyrannei der Werte" (Carl Schmitt), genauer: vor einer Tyrannei der einen, alles andere dominierenden Perspektive, die die drei anderen, genauso zur humanen Ausstattung aller Menschen gehörenden Leitpunkte eliminiert oder strukturell marginalisiert. Aus der Anweisung „Berücksichtige jedenfalls mittel- und langfristig sowohl H e r k u n f t , Zukunft, Bedürfnisstruktur und Idealität menschlichen Handelns" lassen sich keine detaillierten Anweisungen für Einzelfallprobleme ableiten, und es mag Forderungen des Tages geben, bei denen in der Tat einmal eine der Perspektiven dominieren muß. D o c h wenn auch das Kreuz der Entscheidung „nicht alles" löst, erhellt es doch weit mehr als „überhaupt nichts". Wer am Zügel nur eines der vier Leitpunkte gehalten und von ihm wie von einem D ä m o n beherrscht wird, dem fehlt es auf Dauer an Halt, an Vieldimensionalität. Ein solcher Mensch trägt letztlich die Sicht einer „verstümmelten M e n s c h h e i t " (Wilhelm Flitner) in sich.
Iso Camartin
Impulsprogramm für Lebenslust Warum Kultur im Fernsehen?
D
as Fernsehen hat unser Verständnis dessen, was Kultur ist, was sie sein könnte oder zu sein hätte, grundlegend verändert. Das Informations- und Unterhaltungsangebot des
Fernsehens hat den Umgang mit Kultur nicht nur partiell, sondern schichtenübergrei-
fend verwandelt. Selbst die Zeitstrukturen, in denen wir als Kulturverbraucher Kultur zu „konsumieren" pflegten, haben sich durch die Allgegenwärtigkeit des Mediums Fernsehen aufgelöst. Die vielleicht radikalste Veränderung der Kultur durch das Fernsehen ist darin zu sehen, daß sich die Grenzen der sogenannten „Spartenkulturen" aufgeweicht haben. Die konventionellen
Trennungen in Kategorien wie Kunstkultur, Trivialkultur und Volkskultur werden vom Medium tendenziell unterlaufen. Das Fernsehen versteht sich als Massenmedium zwar immer auch noch als Lieferant für spezifische Verbrauchergruppen. D o c h was das Fernsehen eigentlich auszeichnet, ist eine Angebotsstruktur von potentiell universellem Interesse. Wer das Fernsehen einschaltet, verläßt in gewissem Sinn seine spezifische Verbrauchernische, um an einer allgemeinen, das Lebensgefühl aller Zeitgenossen prägenden Erfahrung teilzuhaben. Insofern hat das Fernsehen die scharfen Grenzen traditioneller Kulturpraxis aufgelöst und dazu beigetragen, daß jene Bedürfnisse ins Zentrum rücken, die unsere eigentliche „Lebenskultur" ausmachen. Man darf sich fragen, ob dieser Verhaltens- und Bedürfniswandel im heutigen Kulturangebot des Fernsehens bereits seinen Niederschlag gefunden hat, oder ob die Möglichkeiten eines spezifisch fernsehgerechten Kulturangebots erst noch zu entdecken und zu entfalten wären. Es ist dringlich geworden, Kultur im Fernsehen neu zu positionieren und zu artikulieren, um die dem Medium eigenen Möglichkeiten der Uberwindung konventioneller Trennungen zu entwickeln. Es sind Brücken zu bauen und Ubergänge zu schaffen nicht nur zwischen den verschiedenen
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ho Camartin
Kultursparten, sondern vor allem zwischen den Angebotsformen von Information und U n t e r haltung, Anregung und Entspannung, Bildung und Spiel. Hier müssen für die Zukunft fernsehgenuine Eigenschöpfungen entworfen und erprobt werden. Fernsehkultur hat in ihrem Selbstverständnis etwas zu sein, was zugleich die Neugierde am Leben und die Verhaltenskompetenz i m Leben im Visier hat, ästhetisch originell und überraschend, ethisch offen und animierend. Das kulturelle Potential des Fernsehens m u ß zugleich in einem Erfahrungsgewinn und einem Lustwandel gesucht werden. Letztlich hat Kultur im Fernsehen eine Art Impulsprogramm für Lebenslust zu sein, ohne die dunklen Realitäten auszublenden, die unser Dasein mitbestimmen. Wo Kultur lebendig ist, ist sie im Grunde nichts anderes als eine Art Energiepaket für Leib und Seele, mit welchem man Lebensfragen besser, schöner und zuversichtlicher angeht. In den kommenden Jahren hat das M e d i u m Fernsehen diese Herausforderung und dieses Programm originell und auf dem Höchststand seiner Möglichkeiten umzusetzen. Zwischen der „Kulturshow", die die genuin exhibitionistischen Eigenschaften der Kultur ausschöpft, und der historischen Dokumentation, die mit ästhetischen Mitteln eine unverwechselbare Eindringlichkeit und Gedächtniskraft anpeilt, gilt es die vielen Stufen von kultureller Information und kulturellem Spiel zu entwickeln, zu verfeinern, im Glücksfall auch neu zu erfinden. Die Kulturerwartung an das Massenmedium Fernsehen war nie so groß wie heute. Darum ist eine ihrer Bedeutung entsprechende markante Positionierung im gesamten Fernsehangebot nicht nur gerechtfertigt, sondern dringlich. Es dürfte auch aus politischen Gründen nicht verfehlt sein, diesen „Service public"- Auftrag des Fernsehens im Kulturbereich institutionell zu markieren und zu verankern; gehören doch jene Arten von Grundversorgung zum Service public dazu, auf die eine Gesellschaft in einem entwickelten Staatswesen Anspruch hat. Die „Ware Kultur" m u ß im M a r k t der Meinungen und der Bedürfnisse zeitgemäß angeboten - allenfalls neu erstritten werden. Es gilt, für einen modernen und fernsehgerechten Kulturjournalismus einzustehen und gegen die verludernden Formen der Information und Unterhaltung im Medienbereich die innovativen und reichen Möglichkeiten kultureller Praxis ins Spiel zu bringen.
Die Sprengkraft der Kultur Das Wort „Service public" hat - wie alle Begriffe, die sich nicht ohne Verlust an Präzision in die eigene Sprache übersetzen lassen - einen Nimbus. Das bedeutet: es hat eine Bedeutungswolke um sich und gleichzeitig einen Glanz, ja geradezu jenen Schein, den man früher mit Heiligenschein bezeichnete. Wer in seiner Argumentation auf den Service public zurückgreift, wird dadurch irgendwie ethisch strahlender und staatsbürgerlich leuchtender. Das haben die großen W ö r t e r so an sich, daß sie ihre Benützer veredeln. Doch Nimbus heißt nicht nur Glanz, es heißt auch verhüllende Wolke. Zur Transparenz trägt dies jedenfalls nicht bei. M a n bleibt bei der leuchtenden Oberfläche und braucht die darunterliegenden Details nicht aufzudecken. So ist „Service public" eine A r t Schutzmantelwort, hinter das sich manches Unausgesprochene verkriecht und verborgen hält. Solche Wörter m u ß man von Zeit zu Zeit ausdeutschen. Was bedeutet zum Beispiel das Wort Kultur im Zusammenhang mit Service public?
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Die meisten werden sicher der Ansicht sein, Kultur gehöre wesentlich zum Gesamtleistungspaket eines Service public, ebenso legitim wie Information, Sport oder Unterhaltung. Eine Art Grundversorgung mit Werthaltungen und Orientierungen also, die in unserer Geschichte und unseren Traditionen begründet sind. Einige werden ergänzen, zur Kultur gehöre entscheidend auch die Rücksicht auf Minderheiten, die Sorgfalt im Umgang mit Nebenstimmen, die Beachtung der Vielfalt der Erscheinungsformen unseres Lebens. Und andere werden ergänzen, zur Kultur zähle die Hellhörigkeit für das Fremde, das Andere, das noch Unbekannte. Daran ist nichts falsch. Dennoch ist das Entscheidende damit noch nicht erfaßt. Denn Kultur ist in erster Linie Lebensenergie, Visionsenergie, Traumenergie. Eine Ressource, auf die alle Anspruch haben, die sich und die Welt erfahren und begreifen wollen. Nur zum geringsten Teil ist Kultur ein offenliegender Schatz an Erfahrungen, an Wünschen, an Möglichkeiten, das Leben zu gestalten. Man muß die Chance erhalten, sich auf diese Kraft einzulassen. Man muß mit dieser strömenden Energie in Berührung kommen. Denn nur dann entsteht eine Kultur, die bewegt, verändert, uns wach macht und auch noch beglückt. Wenn Kultur kein Wachrufen von verschütteten Möglichkeiten ist, ist ihre eigentliche Potenz noch nicht erkannt. Kultur ist zwar auch in verfestigten Formen da, um uns zu entlasten, zu beruhigen, zu entspannen. Ihre stärkste Möglichkeit liegt aber in einer Sprengkraft, das aufzubrechen, was uns einengt und unfrei macht. Das gilt für die sogenannte Künstler-Kultur ebenso wie für die Volkskultur. Wir haben ganz unterschiedliche Bedürfnisse nach Information, nach Ablenkung, nach Sicherheit. Kultur ist ein Klärungsfaktor für all diese Bedürfnisse. Hier gibt es unendlich viele Formen, die vom Einspuren in Rituale gehen bis zum Zerschlagen von Konventionen. Kultur muß aber immer auch Alternativen eröffnen, Nebenwege aufzeigen, Geheimgänge durch das Bestehende freilegen. Geglückte Augenblicke der Erfahrung, wie Künstler die Welt umzugestalten vermögen, versetzen uns wie an einen Scheideweg. Hier muß jeder für sich entscheiden, wie und wo es für sie und ihn weitergeht. Manchmal brauchen wir um weiterzukommen den Schock, manchmal auch nur die Erfahrung von Ruhe. Oft ist Kampf dabei, oft auch nur ein gewaltiges Bedürfnis nach Versöhnung. Kultur hat mit all dem entscheidend zu tun. Sie alarmiert unsere Leidenschaften und unser Engagement. Sie bündelt unsere Uberzeugungen und schärft unsere Ziele. Sie lenkt uns vor allem auch ab von falscher Verbissenheit. Darum gehört sie allen, nicht nur einer kleinen Schar von Eingeweihten. Zum Service public gehört es entscheidend, Kultur aus der Nische der Spezialisten und der Experten herauszuholen und sie zu einer Quelle für die Allgemeinheit zu machen. Nicht belehrend und einschüchternd, sondern verführend und befreiend. Schlimm ist es darum, wenn sie so daherkommt, als sei sie für Eingeweihte bestimmt und reserviert. Der Philosoph Schleiermacher hat einmal von der Religion gesagt, sie sei Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Darauf hat jeder Anrecht. Von der Kultur könnte man sagen, sie sei Sinn und Geschmack am Dasein: Lust am Leben, Neugierde für die Zukunft, Phantasie in der Deutung des Unabänderlichen. Auch das braucht jeder, der nicht in einer Welt leben und sterben will, in der wie bei Kafka Kurriere einander sinnlos gewordene Botschaften zurufen.
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Bildung als Proviant für die Lebensreise Es gab Epochen, die das ganze Leben als eine Reise betrachteten. H o m o viator: so hieß das Stichwort: D e r Mensch ist geschaffen, um unterwegs zu sein. Nicht das Häusliche und das Siedlerische zählt, sondern der Weg, den einer zurücklegt. „Dieselben Dinge täglich bringen langsam um. Neu zu begehren, dazu verhilft die Lust der Reise", schrieb Ernst Bloch. U m im Vertrauten nicht umzukommen, mußte man aufbrechen. Immer schon. Wer aber aufbricht, muß sich fragen, ob er alles dabei hat, was er für seine Reise braucht. Hans im Glück zog in die Welt, ohne sich der Güter bewußt zu sein, die er mit sich nahm. Er spürte nur ihre Last, und so war er - tauschend und sich täuschend - sein Hab und Gut bald wieder los. Die Römer nannten das, was für die Reise erforderlich und nützlich ist „viaticum": Wegverpflegung, es konnte auch Reisegeld gemeint sein. Uns ist das Wort „Proviant" vertrauter, das nichts anderes bezeichnet, als die zum Lebenserhalt notwendigen Dinge, um eine bestimmte Wegstrecke zurückzulegen. D o c h der Proviant-Gedanke trifft nicht nur auf Nahrungsmittel, ausreichende Flüssigkeit und Heftpflaster für wunde Füße zu. Es gibt auch so etwas wie Mental-Proviant. Eine Ausbildung ist ja nichts anderes als die Herstellung und Zubereitung von Mentalproviant für die berufliche Lebensreise. Ist unser Wissens- und Erfahrungsrucksack richtig gepackt für die Lebensreise, zu der wir aufzubrechen wünschen? Das ist die Frage, die wir uns zu stellen haben, wenn wir unterwegs nicht stekken bleiben oder gar umkommen wollen. Die historische Station, in welcher der Frage „Was ist Bildung und wozu soll sie uns befähigen?" ihre schärfste Ausprägung fand, war die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Namen der leuchtenden Beförderer dieses Beglückungsprojekts der Menschheit hiessen Herder und Lichtenberg einerseits, Schiller und Novalis andererseits. Man könnte es aber auch, nach Frankreich blickend, das „Projekt Diderot" nennen. Hinter diesen Namen steht die Vision eines Fühlens und Denkens, das die Menschen sowohl individualisiert wie sozialisiert in ihrer Suche nach Glück. Es befähigt sie zu einer Zuständigkeit in bezug auf das, was die Welt erst noch sein und werden könnte. Es waren dies Bildungsprojekte von einer Offenheit und einer Weite, die spätere Epochen - im Drang nach viel spezifischeren Leistungen und Bedürfnissen - so nicht mehr zuließen. Bildung ist die Frage, mit welchem Rucksack wir uns auf welche Expeditionen begeben wollen. Bildung ist Lebensreise-Proviant und darum auch eine Art mentale Ernährungskunde. Auch darf Bildung nicht zu den Luxusartikeln gehören, reserviert für einige Privilegierte. Sie gehört zu den Unerläßlichkeiten, sofern man den Anspruch nicht aufgibt, in einer Welt zu leben, in welcher gewisse Dinge nicht mehr vorkommen und andere erst möglich werden sollten. Zwischen der Leistungsgesellschaft einerseits und der Spaßgesellschaft andererseits braucht es Raum für etwas Drittes: eine Art Neugiergesellschaft, die eingedenk vergangener Optionen neue erkundet und ersinnt. Zu dieser gehört auch das, was über die hilfreichen Eindeutigkeiten hinaus uns das Ertragen von Mehrdeutigkeiten gestattet. Eine Lust für alternative Entwürfe, für Varianten im Denken und für Verwandlungen im Gefühl. Dabei bleibt Bildung das Bewußtsein eines lebenslangen Provisoriums: nie definitiv abschließbar, immer defizitär und - in einer die Weltgeschichte umgreifenden Betrachtung - immer rudimentär. aber auch anpaßbar und neu verwendbar. Bildung heißt wesentlich auch: Komplexität ertragen und mit Verlusten an Selbstverständlichkeit umgehen können. Wissen kann schnell veralten. Gefühle können stereotyp werden. Eine von Erfahrungslust genährte Phantasie treibt hin-
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gegen immer neu an. Wünsche wachsen und Zweifel wachsen. A b e r auch die Zuversicht, daß das Entscheidende noch zu entdecken bleibt. Diderot wollte zum Beispiel mit seinen Berichten aus den Pariser Kunstsalons seine Leser allmählich das entdecken lassen, was sie immer schon genauer gewünscht als gewußt haben. D e r Spur der eigenen Neugier entlang die Welt verständlicher und begehrlicher machen für sich und für die eigene U m g e b u n g : was für ein Bildungsprojekt! Bildung ist nicht alter Plunder, der in unseren Gehirnkammern verstaubt, weil wir es nirgends einsetzen und verwenden können. Bildung - wenn sie denn lebendig bleibt - ist Weltenträtselungshunger! Ziel der Bildung ist nicht die Gelehrtenrepublik, sondern die Gemeinschaft weltaufmerksamer Individuen. Aufmerksamkeit muß aber erst hergestellt werden. Sie ist beim Menschen nicht einfach da, so wie beim T i e r der Fluchtinstinkt. Sie wird erzeugt durch Anstachelung der Neugierde und durch geschicktes Ködern unseres Bedürfnisses nach Überraschungen. D a z u eine Geschichte. In seinem ersten Londoner S o m m e r - wir sind im J a h r 1791 - schrieb J o s e p h Haydn in der offenbar inspirierenden U m g e b u n g einer englischen Grafschaft eine Symphonie, die dort unter dem N a m e n „The Surprise", im deutschsprachigen R a u m als jene „Mit dem Paukenschlag" bekannt wurde. D a s Werk sollte eine der beliebtesten Symphonien unter den über hundert Werken dieser Gattung des alten Meisters werden. D i e beiden Namensbezeichnungen verdankt sie einem Einfall im Andante, wo nach einem kinderliedähnlichen und zurückhaltend scheu vorgetragenen idyllischen T h e m a plötzlich ein Fortissimo-Knall dazwischen fährt, der die genießenden Zuhörer mit Sicherheit blitzartig in die Realität des Konzertsaals zurückholt. D a ist das Wort „Paukenschlag" wirklich am Platz, auch wenn an diesem Knall nicht nur die Kesselpauke, sondern das gesamte O r c h e s t e r beteiligt ist. D i e wirklichen Experten haben schnell erkannt, daß nicht nur dieser vergnüglich grobe Einfall den Überraschungscharakter des Werkes ausmacht, sondern daß die ganze Symphonie ein Kunstgebilde aus unerwarteten musikalischen Elementen ist. Gerade deshalb ist der englische N a m e „Surprise" die bessere Bezeichnung für dieses Wunderwerk sprühender Einfälle als der deutsche Titel, der nur gerade den Knall markiert. In der Tat ist Haydn in der Sommerfrische Englands mit dieser Symphonie so etwas wie das künstlerische Prinzip der Überraschung gelungen, von einem glücklichen Einfall zum anderen, von einer witzigen Idee und hellen Freude zur nächsten. Überraschungen von Takt zu Takt, von Satz zu Satz, im Rhythmischen, im Thematischen, in Melodie und Harmonie. Ein Reichtum der Verwandlungen, Verschiebungen, Verfeinerungen. Ein spielerisches A n e c k e n gegen Erwartungen und Regeln und ein beinah unbremsbares Austoben des Spieltriebs. D a führt ein für damalige Verhältnisse schon alter Mann uns Staunenden vor, was das bedeutet, ein wahrer Meister der Überraschung zu sein, ein Surprise-Künstler par excellence! M ü ß t e man für journalistische Leistungen jenes Element suchen, das nie fehlen darf: ich wüßte kein genaueres als das der das Staunen erregenden „Surprise". M i t oder ohne Paukenschlag. In einer bestimmten A r t und Weise sind alle lohnenden Beschreibungen der Welt Überraschungscoups, oder sie verdienen unsere Aufmerksamkeit nicht. M i t Kopie und Imitation, mit Nachzeichnung und n o c h so gekonntem sich Anschmiegen an gewohnte Praktiken ist die Aufmerksamkeit längerfristig nicht zu retten. Irgendwo muß die Einbruchsteile für Unerwartetes, N e u es, bisher so nicht Gehörtes zu entdecken sein. Irgendwo m u ß man aufhorchen können ob der Dinge, die einem da vorgesetzt werden. N i c h t daß Vertrautes und gern Gehörtes verbannt und verboten werden m ü ß t e n ! D o c h ein unangenehmes G e f ü h l ist doch immer die Erfahrung: „Das habe ich doch anderswo schon gehört, und zwar besser!"
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Iso Camartin
Die Frage wäre demnach: Wo sind die Überraschungselemente einer Reportage, eines Berichtes, eines Kommentars versteckt? Wo hat der Text oder der Fernsehbericht sein Unerhörtes, seinen Paukenschlag, seine Surprise? Wo sind wir als Leser oder Zuschauer benommen (sur-pris), überwältigt, begeistert? Wenn es dafür einen Grund gibt, dann muß er doch in diesen manchmal nur winzig kleinen, manchmal auch beängstigend großen Sprengkapseln liegen, aus denen das N e u e herausschießt, das unser Staunen bewirkt. U m dem journalistischen Alltag Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, darf man keinen zu knalligen oder paukenschlagartigen Begriff des Neuen und Uberraschenden haben. Was journalistisch als neu gelten darf, kann sehr diskret, in großer Unauffälligkeit und geschickter Deckung daher kommen. Es kann ein einziges Detail betreffen, das durch die Art seiner Sonderbehandlung ins Auge springt. Es kann ein Aspekt des Themas sein oder eine Sache des Tones, ein Detail des Vordergrunds oder des Hintergrunds, eines der dramatischen Entwicklung oder der Stimmung. Reportagen und Berichte über die Vorfälle in unserer Welt sind oft komplexe sprachliche Gebilde, wo erst beim zweiten Gang durch die Zeilen das Besondere in die Augen springt. Gesagt oder halb verschwiegen, deutlich ausgesprochen oder vage markiert, die Möglichkeiten des Spiels mit Deutungen und Bedeutungen sind vielfältiger Natur. Etwas Lockendes muß uns in der berichteten Geschichte in Wort und Bild aber entgegen kommen, sonst verlieren wir das Interesse an ihr. Dafür müssen die Berichtenden selbst Spieler sein, die mit ihren Einsätzen umzugehen verstehen. Schaffen sie es, die Aufmerksamkeit der hörenden oder lesenden Mitspieler zu stacheln, haben sie mit Sicherheit gewonnenes Spiel! U n d wir, die erstaunten Leser und Zuschauer, sind die Beglückten. Ein Drittes sei hier noch angefügt. W i r alle beschäftigen uns mit Dingen, die einen gewaltigen Streuradius haben. Sie führen uns von Einem ins Tausendste. Manchmal stellen wir fest, daß wir beim Lösen unserer Aufgaben ganz unbemerkt ins Absonderliche, Beiläufige und Beliebige abdriften. So als sei uns die Hauptsache, der Kern des Ganzen, irgendwie abhanden gekommen, während wir uns mit der Sache abmühen. Wie jemand, der unterwegs ist, und dabei aus dem Kopf verliert, wohin er eigentlich will. Ich weiß, es gibt Leute, die darauf beharren, daß der Weg selbst das Ziel ist und daß Menschen, die unterwegs sind, keine weiteren Absichten und Zielvorstellungen brauchen. Dennoch wissen wir, was es bedeutet, wenn jemand sich verläuft und verliert. Ich denke, daß auch die Suche nach dem, was uns lockt und fasziniert, eine Art Zentrum braucht. Eine Orientierung an einem Ziel, das über alle zufälligen Tagesneugierden hinaus führt. Dazu noch eine Geschichte. „L'uomo universale": so nannte man einmal das Idealbild eines Menschen, der sein Dasein nicht versäumt und nicht verpaßt. Die Tradition zählte Figuren wie Leonardo da Vinci zu diesen Sondererscheinungen. Unter einem Universalgenie verstehen wir heutzutage eine ausgestorbene Gattung von Menschen, die über das Entscheidende in allen Bereichen des Lebens Bescheid wußte. Das war einmal. Die Welt ist zu komplex geworden, als daß ein einzelner sie noch zureichend zu überblicken vermöchte. Das neumodische Äquivalent z u m Universellen heißt „ganzheitlich". O f t aber sind ganzheitliche Menschen solche, die sich aus dem realen Weltgeschehen abgemeldet haben und sich auf esoterischem Egotrip befinden. Dies ist keine für uns brauchbare Neuausgabe des „uomo universale". Das Universale im Blick behaltende Menschen wird es aber immer noch geben. Vermutlich war Friedrich Dürrenmatt so ein Wesen. Als Denker und als Fabulierer wollte er alle Möglichkeiten ersinnen, die dem Wesen M e n s c h im Kosmos der Erscheinungen geblieben sind. Die besten und die schlimmsten.
Impulsprogramm
für Lebenslust
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U m aber zu erkennen, was es wirklich bedeutet, universell die eigene Welt zu begreifen, geht man mit Vorteil weiter zurück in die Geschichte. Kein anderes dichterisches Werk ist so weltumgreifend wie Dantes „La Divina Commedia". Himmel und Erde, Sichtbares und Unsichtbares, Gutes und Böses, Vergangenes und Künftiges: alles ist in Dantes hundert Gesängen mitbedacht und mitgestaltet. Das gesamte Wissen der Zeit ist verflochten mit den Erfahrungen, aber auch den Hoffnungen und Erwartungen der Menschen des 13. und 14. Jahrhunderts. Blicke in die Fernen des Kosmos, in die Tiefe der Erde, in das Dunkel der menschlichen Seele, ins leuchtende Geheimnis der Schönheit, in den Plan einer göttlichen Schöpfung: alles bietet Dante denjenigen, die ihn auf seiner Reise durch Hölle, Fegefeuer und Himmel begleiten wollen. Das Werk gilt als schwierig - und ist es in manchen Teilen auch, denn hier treffen sich Dichtung, Philosophie und Theologie zu einer glitzernden Dreieinigkeit. Aber die „Commedia" ist, wenn man sich Dante neugierig nähert, auch wieder ganz einfach, weil sie ein einladendes und aufmunterndes Werk ist, das uns nicht mit Wissen erschrecken, sondern mit Einsichten belohnen will. Dante ist ein großer Menschenfreund. Er weiß, daß man als einzelner in der Welt verloren ist, und daß man Begleitung der wohlwollenden Art braucht, um den Lebensweg gut zurücklegen zu können. Darum ist die „Commedia" auch kein Buch von gestern, sondern eines, das man auch heute öffnen kann, um weiter zu kommen. Wer will, daß alles so läuft, wie die Welt ohnehin so läuft, braucht keinen Dante. Wer aber den Wunsch nach einem Zentrum in seinem Leben hat, erfährt den Gewinn, wenn er dieses Buch in seinem Proviant-Rucksack hat. Die Legende will, daß sich Samuel Beckett in seinen allerletzten Tagen in einem Pariser Pflegeheim zurückgezogen habe mit nichts als einem Buch in seinem Gepäck: Dantes „Commedia". Manchmal stelle ich ihn mir vor, den knorrig-herben-listigen alten Beckett, wie er da auf seinem Eisengitterbett liegt und in seinem Dante blättert, kurz vor seinem letzten Atemzug. - Es muß keineswegs Dante sein, was jeder in seinem Rucksack für die Lebensreise mit dabei hat. Aber etwas im Gepäck zu haben, das den Sinn unseres Unterwegsseins nicht verdunkelt oder gar ausblendet, wäre doch von Vorteil. Das und nichts anderes ist der Sinn von „universell": die Suche nach dem, was am Ende wesentlich sein könnte.
Ralf
Dahrendorf
Versuchungen der Unfreiheit Erasmus-Intellektuelle im Zeitalter des Totalitarismus
aß der Kommunismus eine Versuchung war, ist seit langem geläufig. Aus gutem Grund gab der nachdenkliche britische Intellektuelle und Labour-Abgeordnete Richard Crossman seiner 1949 zuerst veröffentlichten Sammlung von Lebensbeichten bedeutender Ex-Kommunisten wie Arthur Koestler und Ignazio Silone den Titel „The G o d That Failed" oder - wie es dann in der deutschen Version heißt - „Der Gott, der keiner war". Vielen jungen Intellektuellen, insbesondere solchen, die den G o t t ihrer jüdischen oder christlichen Eltern verloren hatten, erschien die Hoffnung auf das sozialistische Paradies mehr als ein Ersatz, zumal es sich ja um ein Paradies auf Erden handelte. Manes Sperber, der große Romancier der Zeit, Autor und gelernter Psychologe, spricht einmal von dem „überpersönlichen Beziehungszwang", an dem er und seine kommunistischen Freunde litten. Am deutlichsten wird der Versuchungscharakter des Kommunismus wohl an den Schmerzen des Abschieds vom wahren Glauben, also der Entdeckung, daß der G o t t keiner ist. Die Ereignisse, die solche Einsichten, wenn nicht massenhaft, so doch für viele ausgelöst haben, sind ja samt und sonders Meilensteine der Geschichte des 20. Jahrhunderts: die ersten Schauprozesse des Stalinismus, der ukrainische „Harvest of Sorrow" der Kollektivierung (um mit Robert Conquest zu sprechen),
der Spanische
Bürgerkrieg,
der
Hitler-Stalin-Pakt,
dann
nach
dem
Krieg
Chruschtschows Enthüllungsrede von 1953, Solschenizyn und der Gulag, die brutale Unterdrückung der ungarischen Revolution 1956, das blutige Ende des Prager Frühlings 1968. Blieb da überhaupt noch ein Intellektueller Kommunist? Ja, einer blieb, der große Historiker Eric Hobsbawm, der nie ganz erklärt hat, warum ihm so viel daran lag, als letzter das mühsam flackernde Licht der (britischen) Kommunistischen Partei zu löschen.
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Daß auch der Nationalsozialismus eine Versuchung war, ist nicht ganz so evident. Er hatte ja, wie der italienische Faschismus schon vor ihm, weniger Visionen als Macht, so daß bei seinen Anhängern nie ganz deutlich wird, was Uberzeugung und was Opportunismus oder reines Mitläufertum ist. Fritz Stern hat jedoch in einem besonders schönen Essay unter dem Titel „Der Nationalsozialismus als Versuchung" gezeigt, daß auch hier ein „religiös-mystisches Element" nicht fehlte. Hitler war der „Erlöser", der die „nationale Wiedergeburt" bewerkstelligte. Er beschwor gerne „die Vorsehung". Vor allem aber versprach der Faschismus insbesondere in seiner nationalsozialistischen Variante etwas, wonach die Menschen der Zeit dürsteten, nämlich Bindung. Das war die Bindung der abstrakten Gemeinschaft, der Nation, es war die der konkreten Ordnung, der Aufmärsche und Speer'schen Masseninszenierungen, es war die der Gemeinschaft einschließlich der gerne beschworenen „Volksgemeinschaft". Wenige konnten sich dem Reiz solcher Versuchungen entziehen. Der Sommer 1933 bietet da ein besonders eindringliches und beunruhigendes Bild. Thomas Mann, schon im Exil, fand, daß das Nazi-Regime doch auch seine guten Seiten hat. Karl Mannheim, als Professor entlassen und zur Emigration gezwungen, sah dennoch einen Nutzen Hitlers für Deutschland. Im Gefängnis schrieb Julius Leber, der bedeutende Sozialdemokrat, Weimar habe ja wirklich keine Zukunft mehr verheißen. Da paßt dann Martin Heidegger sogar ins Bild mit seiner Selbstbehauptungsrede und Hannah Arendt, die ihm trotz allem die persönliche Sympathie nicht aufkündigte. Wie konnte das sein? Die Frage ist oft gestellt worden. Eine Generation, mittlerweile schon zwei Generationen deutscher Historiker haben zu ihrer Beantwortung ein ungewöhnliches Corpus von Materialien und Analysen beigesteuert. Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) ist in der glücklichen Lage, an seiner Spitze einen herausragenden Vertreter dieser Neuhistoriker in der Person von Jürgen Kocka zu haben. Seine Anwesenheit verbietet es mir zugleich, mich allzu weit in sein Gelände vorzuwagen. Ohnehin ist mein Ausgangspunkt ein anderer. Ich will nämlich die Frage, warum so viele bedeutende Intellektuelle den Versuchungen von Kommunismus und Faschismus erlegen sind, umkehren und fragen: Wer unter den Großen des geistigen Lebens der Zeit ist ihnen nicht erlegen? Wer war immun gegen die Versuchungen der Totalitarismen? Und was war es am geistigen Habitus der Unversuchbaren, das ihnen diese Kraft gab? Bei der Beantwortung dieser Frage habe ich mein besonderes Augenmerk denen gewidmet, die in der Hochzeit der Versuchungen, also in den frühen 1930er Jahren, in der Blüte ihrer Kräfte standen. Das sind durchweg Menschen, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geboren sind. Einige davon sind hier en passant schon erwähnt worden, Manes Sperber zum Beispiel (1905), der sich seine Immunität allerdings erst erkämpfen mußte, und Hannah Arendt (1906), die damit ganz persönliche Probleme hatte. Meine wichtigsten Helden sind drei Männer, die ich das Glück hatte, ziemlich gut zu kennen: Karl Popper (1902), Raymond Aron (1905) und Isaiah Berlin (1909). Alle drei waren Juden und daher sozusagen konstitutionell nicht versuchbar durch den Faschismus. Hier ist Norberto Bobbio (1909) mein wichtigster Zeuge, wobei es an anderen nicht fehlt. Wenn ich zu dem Thema etwas zu Papier bringe, werden die Biographien dieser und anderer Menschen eine Rolle spielen. Hier indes muß ich mich auf die generelle Frage konzentrieren: Was hatten die Immun-Menschen gemeinsam, das ihnen die Kraft gab, den Versuchungen der Zeit zu widerstehen? Meine Antwort lautet: Sie teilten gewisse Grundhaltungen, vielleicht auch geistige Charakterzüge. Diese sind keineswegs nur sympathisch, aber für das Bestehen in Zeiten der Prüfung entscheidend. Vier solcher Züge haben bisher meine besondere Auf-
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merksamkeit gefunden, vier Tugenden, wie ich sie einmal nennen will. Die erste dieser Tugenden läßt sich beschreiben als der Mut, die Sache der Freiheit in Einsamkeit zu vertreten. Vielleicht gibt es bessere Formulierungen, doch sollten die Begriffe Mut, Einsamkeit und Freiheit in ihnen nicht fehlen. Isaiah Berlin war zumindest in seinen späteren Jahren oft beunruhigt über seinen fehlenden Mut. „Ich bin ein Feigling", sagte er Mal um Mal und meinte damit, daß er es nicht gewagt hatte, sich einer der Bewegungen seiner Zeit anzuschließen. Er teilte die verbreiteten Leidenschaften nicht, wenngleich diese doch wohl eher Max Webers Etikett der „sterilen Aufgeregtheit" verdienen. Berlins Biograph Michael Ignatieff hat das Dilemma eindringlich beschrieben und ist dann zu dem klugen Schluß gekommen, daß „romantische Standards des Heroismus eine Form der moralischen Tyrannis sind": „Menschen sollten nicht daran gemessen werden, ob sie bereit sind, ihr Leben zu riskieren, sondern daran, ob sie einen klaren Kopf behalten haben, moralisch und politisch, wenn andere ihren Kopf verloren." Joachim Fest beschreibt Hannah Arendt in ganz ähnlichen Begriffen und kommt dann zu der knappen, dennoch vielsagenden Formulierung: „Doch hat sie die Isolierung, in die sie schon früh geriet, als Preis der Freiheit bereitwillig in Kauf genommen." Das ist die Tugend, die ich meine, und sie verlangt Mut in einer Welt, in der die Stärke der Bataillone mehr zählt als die der Argumente. Sie bedeutet die Abkehr von den Bataillonen - „Wo von geistigen Lagern die Rede ist", so Hannah Arendt, „herrscht meistens der Ungeist" - und die Fähigkeit, die Freiheit notfalls ganz allein zu vertreten. Die zweite Tugend derer, die immun bleiben gegenüber allen illiberalen Versuchungen, ist die Fähigkeit, mit Widersprüchen zu leben. Möglicherweise ist die größte Schwäche derer, die den Versuchungen des Totalitarismus erlegen sind, daß sie es nicht lassen konnten, einen Gott, zumindest aber eine Verheißung zu suchen, in der alle lästigen Widersprüche der Realität aufgehoben sind. Hier hat der hegelische Kern der Marx'schen Geschichtsphilosophie, die Aufhebung der Kämpfe in der endlichen Synthese der kommunistischen Gesellschaft, eine unheilvolle Rolle gespielt. Das gilt indes nicht minder, ja weit primitiver für Gemeinschaftssehnsucht und Führerkult im Faschismus nationalsozialistischer Prägung. Als Gegenbild könnte man wiederum Isaiah Berlin zitieren, für den ja Pluralismus nicht nur beliebige Vielfalt, sondern die Koexistenz des Unvereinbaren war. Noch schärfer kommt diese Position bei Karl Popper zur Geltung, der die Unvollkommenheiten der Welt geradezu zum Prinzip seiner offenen Gesellschaft erhob. Das Paradies ist verloren. „Es gibt keinen Weg zurück zu einem harmonischen Naturzustand." „Wenn wir Menschen bleiben wollen ..., müssen wir voranschreiten ins Unbekannte, Ungewisse und Ungesicherte." Mündigkeit, Aufklärung im kantischen Sinne, verlangt das Ertragen von Antinomien, nicht die Suche nach deren Auflösung oder Aufhebung - sei es im Sinne von Rousseau oder dem von Hegel. Die dritte nötige Tugend zur Immunisierung von Intellektuellen in Zeiten der Prüfung ist die des engagierten Beobachters. Das ist eine merkwürdige Gestalt, die der französische Philosoph und Soziologe Raymond Aron für sich erfunden hat. Im Verlauf seines langen Gesprächs mit zwei Studenten fragten diese ihn: „Waren Sie nicht ein Wegbereiter, indem Sie zu den Ereignissen Stellung nahmen und sie gleichzeitig analysierten?" Aron antwortete: „Ja. Mir scheint, ich habe bereits darauf hingewiesen, daß ich meine intellektuelle Marschroute beschloß, als ich [übrigens: im Jahr 1933, was der Aussage besonderes Gewicht verleiht] Assistent an der Universität Köln war. Ich beschloß damals, ein .engagierter Beobachter' zu sein." Er meinte damit, die sich vollziehende Geschichte so objektiv wie möglich zu beobachten, ohne doch völlig distanziert zu bleiben. Ob das in der Theorie geht, mag man bezweifeln. Es ist, als wolle man „Wissen-
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Schaft als Beruf" und „Politik als Beruf" zusammenzwingen, die doch so verschiedene Grundhaltungen verlangen. In der Praxis aber haben einige wenige das Kunststück zustande gebracht. Niemand wird Aron unterstellen, daß er neutral blieb gegenüber den verschiedenen Formen des „Opiums für Intellektuelle", und doch verfiel er nie den immer neuen Enthusiasmen seines petit camarade Jean-Paul Sartre (der übrigens zur gleichen Zeit in Deutschland war und Aron in seiner Berliner Position am Institut Français nachgefolgt war). Vielleicht ist das wichtigste Merkmal des engagierten Beobachters, daß er nicht zum Schweigen zu bringen ist; er beschreibt und analysiert und urteilt und schreibt und schreibt und schreibt, aber er handelt nicht. So ist er ganz und gar angewiesen auf die vierte Tugend, die Immunität gegen illiberale Versuchungen verleiht, die Passion der Vernunft. Die beiden Begriffe scheinen nicht zusammenzupassen. In aller Regel gilt die Vernunft als kühl und die Leidenschaft als Verlockung zur Unvernunft. D o c h sind die von mir ins Visier genommenen Intellektuellen allesamt leidenschaftlich vernünftig. Vielleicht muß man von einer leisen Passion sprechen: Sie gehen nicht auf die Straße, um „Rai-son" zu skandieren; die Göttin der Revolution gehört in ein anderes Kapitel. Die hier gemeinten Intellektuellen lassen sich aber auch nicht abbringen von der Insistenz auf Diskurs, Argumentation, rationaler Prüfung aller Behauptungen. Mut zur Freiheit in Einsamkeit, Leben mit Widersprüchen, engagiertes Beobachten, die Passion der Vernunft - läßt sich das auf einen Begriff bringen, mit dem die Position gleichsam handlich gefaßt werden kann? D e r Begriff ist wiederum eine Person. Er war ein Intellektueller, und zwar wie alle, von denen hier die Rede ist, ein öffentlicher Intellektueller. Er lebte in einer Zeit der Umbrüche, in der es fast unmöglich war, nicht Partei zu nehmen. Dennoch sagte er: „Ich liebe die Freiheit, und ich will nicht und kann nicht irgendeiner Partei dienen." Die Zeitgenossen hatten für diese Position nicht viel übrig; einer der bedeutendsten unter ihnen schrieb ihm: „Bleibe nur, wenn es dir beliebt, was du immer behauptetest, sein zu wollen: ein bloßer Zuschauer unserer Tragödie." Das war ein wenig ungerecht, denn der Zuschauer war immer auch engagiert, ja galt manchen als ideelle Quelle der Reformen. Dabei wurde er aber nicht dogmatisch. Einer seiner Biographen sagt von ihm, er liebe „die Welt gerade um ihrer Vielfalt willen, und ihre Gegensätze erschrecken ihn nicht. Nichts liegt ihm ferner, als ihre Gegensätze aufheben zu wollen nach Art des Fanatikers und Systematikers." Ein anderer Biograph resümiert besser als ich es hier konnte: „Als geistiger Typus gehört [er] zu der ziemlich seltenen Gruppe derjenigen, die unbedingte Idealisten und zugleich durchaus Gemäßigte sind." Die leise Passion der Vernunft. Zumal angesichts des Titels meines Beitrags werden Sie es erraten haben: Der mystery man ist Erasmus von Rotterdam. (Als „bloßen Zuschauer unserer Tragödie" beschimpfte ihn Martin Luther.) Die Anfechtungen der Zeit des Erasmus, also vor nun 500 Jahren, waren gänzlich andere als die des 20. Jahrhunderts. Zwar luden sie auf beiden Seiten, bei der umkämpften römischen Kirche und bei den evangelischen Protestanten, zum Fanatismus ein und wurden zum Anlaß und Medium von anderthalb Jahrhunderten kriegerischer Konflikte; aber als Versuchungen der Unfreiheit kann man sie nur durch unnötig gewagte Analogien beschreiben. D o c h repräsentiert Erasmus in seiner bewegten Zeit einen geistigen Habitus, der ziemlich genau jenem entspricht, um den es mir geht, das heißt, in dem ich die Antwort auf die Frage vermute, was denn immun macht gegen die Versuchungen des Totalitarismus. Darum spreche ich von Erasmus-Intellektuellen oder - einfacher - von Erasmiern. Erasmier sind - wie Erasmus selbst - nicht unbedingt sympathisch; sie sind sicherlich nicht allen sympathisch. Luther war nicht der einzige, dem der engagierte Beobachter auf die Nerven
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ging. Zeitgenossen fanden auch seine Distanzierung von dem jahrzehntelangen Freund Thomas More, als dieser im Tower gefangen gehalten und dann aufs Schafott geführt wurde, schwer verständlich. Die Vernunft ist zudem oft eine sehr leise Passion, die sich eher in Ironie, ja Zynismus als in sichtbarem Engagement äußert. Es war wahrhaftig nicht seine Wahl und doch kennzeichnend, daß Karl Popper seinen „Beitrag zur Kriegsanstrengung" (wie er selbst es nannte) - das Werk über „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" - im fernen Exil in Neuseeland schrieb. Isaiah Berlin war sich wohl bewußt, die entscheidende Zeit des Kriegs weitab vom Schuß, im Komfort der britischen Botschaft in Washington, erlebt zu haben. Auch Raymond Aron war im Exil. Seine jungen Gesprächspartner beschäftigte indes mehr, daß er 1968, als die événements de Mai mit der Solidarisierung von Studenten aus Nanterre und Arbeitern der Renault-Fabrik begannen, zu Vorträgen nach Amerika fuhr, so als habe all das nichts mit ihm zu tun. Die, die in faschistischen Ländern blieben, hatten mit anderen Zumutungen zu ringen. (Da gibt es übrigens eine gewisse Parallele zu manchen der erasmisch gesonnenen Protagonisten der „sanften Revolutionen" von 1989 und ihrer Lebensgeschichte im posttotalitären Nomenklatura-Kommunismus.) Norberto Bobbio liefert ein gutes Beispiel. Der unbestreitbar liberale Rechtsphilosoph und später auch politische Theoretiker geriet früh schon in Konflikt mit Mussolinis faschistischem Regime, wurde inhaftiert und nahm an Initiativen des intellektuellen Widerstands, dann an Gruppen zur Vorbereitung auf die liberale Ordnung nach Mussolini teil. Nach dem Krieg indes fand sich ein Brief, den der 26jährige 1935 zur Unterstützung seiner Bewerbung um die erste feste Anstellung als Dozent an den Duce geschrieben hatte. Darin war die Rede von der „patriotischen und faschistischen Familie", in der er aufgewachsen war, und er wehrt sich gegen „Vorwürfe" des Antifaschismus. Im Gegenteil hätten seine Studien ihm dabei geholfen, „meine politischen Meinungen zu konsolidieren und meine faschistischen Überzeugungen zu vertiefen". Nach der Veröffentlichung des Briefs 1992 war der Skandal groß, wenngleich Bobbio die Notwendigkeit eines solchen Scheinbekenntnisses durchaus begründen konnte. „Eine Diktatur korrumpiert die Seelen der Menschen", sagte er auch. Nicht einmal Erasmier sind dagegen ganz gefeit. Doch ich muß mich zügeln. Meine Absicht war es, ein Programm für zukünftige Arbeit vorzustellen, nicht ein fertiges Opus. Es bleibt allenfalls noch zweierlei anzudeuten: was ich selbst mit den Erasmiern zu tun gedenke, und inwiefern diese auch heute noch - oder wieder - für das Verständnis der Zeit und für die Zukunft der Freiheit wichtig sind. Das „kurze 20. Jahrhundert", das (um Hobsbawms Ansatz aufzunehmen und leicht zu variieren) von 1917 bis 1989 dauerte, war eine Zeit der Prüfung für Erasmier und damit für Liberale. Nicht viele bestanden sie ohne Makel. Ich habe schon daran gedacht, für Grade des Widerstehens gegenüber Versuchungen Punkte zu vergeben, sozusagen Erasmier-Punkte auf einer Skala von eins bis zehn. Um bei denen im ersten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts zu bleiben: zehn Punkte für Popper, Aron und Berlin; acht, vielleicht auch nur sieben Punkte für Theodor Eschenburg, der in seiner Autobiographie das bewußte und kontrollierte Mitläufertum verteidigt; eine ähnliche Zahl für Theodor W Adorno, den Beobachter ohne erkennbares Engagement, dem die Konfrontation mit der Realität immer peinlich blieb; fünf, höchstens sechs Punkte für die, die eine Zeitlang einer der Versuchungen erlagen, dann aber wie Manès Sperber zu überzeugten Erasmiern wurden; weniger noch für Arthur Koestler oder Arnold Gehlen, die zwar falschen Göttern abschworen, aber versuchbar blieben durch vernunftfremde, im Fall von Koestler geheimnisvolle Kräfte. Ein besonders reizvolles Thema in diesem Zusammenhang liefert meine Wahlheimat England. (Ich sage bewußt England, nicht Schottland - wenngleich es auch dort Erasmier gab, ja die eige-
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ne Aufklärung im 18. Jahrhundert ihnen geradezu die Theorie lieferte, und schon gar nicht Nordirland.) England war in der kritischen Zeit der Prüfungen des 20. Jahrhunderts geradezu ein Erasmus-Land: Es war selbst nicht versuchbar, als die liberale Ordnung fast überall sonst ins Wanken geriet. Ein paar rote Straßenkämpfer waren ebenso wie die Schwarzhemden Oswald Mosleys aus der Labour Party verdrängte Zeitgeistler ohne Wirkung für Staat und Gesellschaft in England. Nur in England konnten Erasmier sich ganz zu Hause fühlen. Raymond Aron genoß das während des Kriegs und blieb anglophil; Karl Popper und Isaiah Berlin machten England zu ihrem ständigen Domizil. Zur Erinnerung: Schon Erasmus von Rotterdam hatte elf Jahre seines Lebens in England verbracht, wenn er auch das Land nicht nur mit lobenden Worten bedachte. Für Engländer selbst war das Erasmus-Land oft eher zu fade. So begaben sie sich auf die Suche nach Versuchungen in ganz unenglischen sozialen oder geographischen Breiten. Nicht alle gingen in ihrem privaten Protest so weit wie die Schwestern Mitford, von denen eine, Unity, sich Hitler anschloß, eine andere, Diana, den Faschistenführer Mosley heiratete, wohingegen eine dritte, Decca, weglief, um unter Kommunisten den Spanischen Bürgerkrieg zu erleben, und lebenslang Kommunistin blieb, während nur die 1904 geborene Nancy Mitford ihren Kopf behielt und als Beobachterin ohne das Engagement, von dem sie eher zu viel in der Familie erlebte, ihre oft brillanten Romane schrieb. Der im tiefsten erasmische George Orwell (1903 geboren) ging immer wieder auf die Suche nach Objekten für seine ungestillten Leidenschaften und kam zurück - aus Burma, aus den Armenvierteln von London und Paris, dann aus Katalonien als einer, der sich nicht hinreißen ließ von den Versuchungen um ihn. Vielmehr enthüllte er deren groteske wie ihre grausame Seite in „Animal Farm" und „1984". Von derlei Erfahrungen wird zu reden sein, wenn ich den Weg der Erasmier durch das Jahrhundert der Versuchungen verfolge. Nun ist indes 1984 ohne besondere Ereignisse vorbeigegangen, und 1989 hat allen Versuchungen einstweilen ein Ende gesetzt. Ist das hier vorgestellte Interesse also vornehmlich historisch? Oder hat es eine aktuelle Bewandtnis? Im Laufe eines mittlerweile ziemlich langen Lebens habe ich gelernt, mich vor einer anderen Versuchung als den bisher genannten zu hüten. Gelegentlich haben Sozialwissenschaftler (zuweilen sogar Zeithistoriker) die unselige Neigung, das Ephemere zum Säkularen zu stilisieren, also in jeder aufgeregten Versammlung die Quelle der nächsten Revolution zu vermuten. Daraus folgen dann peinliche Irrtümer der Analyse, die nur darum erträglich werden, weil sie selbst ephemer und daher rasch vergessen sind. Es ist also Vorsicht am Platze bei der Frage, ob es neue Versuchungen gibt, die einmal mehr die Immunität der Intellektuellen gefährden und somit Erasmier auf den Plan rufen. Mit aller gebotenen Vorsicht sei daher nur erwähnt, daß es Zeichen gibt für die Ausbreitung einer neuen Gegenaufklärung. Der Verlust an Halt, an Bindungen, den manche schon 1933, ja 1917 konstatieren zu können glaubten, ist am Anfang des 21. Jahrhunderts evident und zudem global. Da bleibt in vielen ein ungestilltes Verlangen nach Sicherheit, das weder die alten Kirchen noch der alte Staat erfüllen. Neue Fundamentalismen treten an deren Stelle. Sie können islamisch sein, aber auch protestantisch, und sogar von einem Marktfundamentalismus sprechen manche nicht ganz zu Unrecht. Die Werte und Haltungen, von denen ich gesprochen habe, geraten einmal mehr unter Druck. Das mag eine vorübergehende Stimmung sein, sogar eine Mode. Indes gibt es Grund zur Wachsamkeit für diejenigen, denen aufgeklärtes Denken und liberale Ordnung lieb und teuer sind. Daran zu erinnern, daß es in früheren Zeiten der Prüfung Erasmier gab, kann in solcher Zeit nicht schaden.
Alexander
Demandi
Wo es gutgeht, da ist das Vaterland
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u allen Zeiten, in allen Regionen haben Menschen ihren Wohnsitz gewechselt. Die einen wurden mit Gewalt vertrieben, die anderen machten sich freiwillig auf die Suche nach einem besseren Leben, manche schufen sich mit Waffen Bahn und vernichteten, was sich ihnen in den Weg stellte, wiederum andere haben nichts als ihr nacktes Leben. Was mit der Vertreibung aus dem Paradies begann, kulminiert in der Gegenwart. Am Anfang der Geschichte steht eine Vertreibung. Die ersten Menschen übertraten das Gebot Gottes und wurden aus dem Paradies verwiesen. Damit ist ein Thema angeschlagen, das mit zahllosen Variationen die Zeiten durchzieht - um in der Gegenwart zu kulminieren. Vor drei oder vier Millionen Jahren in Afrika entstanden, hat sich der Mensch über die Erde ausgebreitet. Mithin ist er fast überall Zuwanderer, trotz des verbreiteten Glaubens an Bodenständigkeit. Diese konzedierte der römische Geschichtsschreiber Tacitus den Germanen. Denn - so seine unabweisbare Logik - wer käme schon auf die Idee, in ein derart unwirtliches Land einzuwandern? Der Ortswechsel grundsätzlich seßhafter Menschen war im Unterschied zu dem Leben der Nomaden, die ein Leben als Wanderhirten führten, ein periodisches Phänomen. Denn immer wieder waren Menschen mit den Existenzbedingungen ihrer Heimat unzufrieden und machten sich auf die Suche nach einem Gelobten Land, und immer wieder mußten kleinere oder größere Gruppen innen- oder außenpolitischer Gewalt weichen und ihr angestammtes Land verlassen. Die Bibel berichtet vom Auszug der Kinder Israel aus Ägyptenland, wo sie unter unwürdigen Bedingungen leben mußten. Der Vorgang ist archäologisch nicht bestätigt. Keine ägyptische Quelle weiß davon. Historisch gesichert ist hingegen die Landnahme in Kanaan, wo „Milch und Honig floß". Hier wurde im Namen Jahwes eine Stadt nach der anderen erobert, David entriß den Jebusitern die „hochgebaute" Stadt Jerusalem. Die Vorbewohner Kanaans mußten ihre BaalsReligion aufgeben und wurden tributpflichtig.
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Alexander Demandi
Im Konflikt mit den stärkeren Nachbarn im Norden wurden die Israeliten selbst Opfer einer Umsiedlungsaktion. Nach der Niederlage gegen die Assyrer wurde die Oberschicht des Nordreichs um Samaria deportiert, eine Erhebung gegen Nebukadnezar führte 587 vor Christus zur Eroberung Jerusalems und zur Verschleppung eines Großteils der Juden in die babylonische Gefangenschaft. „An den Wassern zu Babylon saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen hingen wir in die Weiden, die daselbst sind." Als zwei Generationen später der Perserkönig Kyros den Juden die Heimkehr erlaubte, begrüßte ihn der Prophet Jesaja als den Gesalbten des Herrn, als Messias. Zahlreiche Juden indes verblieben im Zweistromland, wo sie ein Auskommen gefunden hatten. Probleme hatten die Israeliten der Frühzeit mit den Philistern um Gaza, von denen der Name „Palästina" herstammt. Auch sie waren Einwanderer, Ausläufer der großen Völkerbewegung im östlichen Mittelmeer um 1200 vor Christus, mit der die Zerstörung des Hethiterreiches, die Dorische Wanderung und das Auftreten der Seevölker verbunden wird. Die Philister erreichten Ägypten, wurden aber von Ramses III. abgewehrt. Die Dorier kamen mit einer zweiten Einwanderungswelle nach Griechenland. Vorangegangen war die der mykenischen und ionischen Griechen. Letztere besetzten im neunten Jahrhundert die kleinasiatische Küste und bauten später Hafenstädte an der Schwarzmeerküste und im westlichen Mittelmeergebiet, soweit dies nicht die in Nordafrika seßhaft gewordenen Karthager - Phönizier aus Tyrus - okkupiert hatten. In den demokratischen Städten Griechenlands lebte die politische Opposition gewöhnlich im Exil. Das waren Tausende. Seit dem 12. Jahrhundert vor Christus besiedelten indogermanische Stämme aus dem Donauraum Italien, unter ihnen die Latiner, die sich in und um Rom niederließen. Die Römer führten sich auf Aeneas zurück, der aus dem brennenden Troja geflüchtet war. Das römische Nationalepos, Vergils „Aeneis" behandelt die Geschichte einer Flucht auf der Suche nach einer Heimat. Die Römer waren und blieben mobil. Als Händler saßen sie schon lange vor der politischen Expansion in Gallien, Kleinasien und Nordafrika, später wurden an neuralgischen Punkten Militärkolonien und Veteranensiedlungen angelegt. Die Etrusker waren laut Herodot während einer Hungersnot aus Kleinasien eingewandert. In Notjahren wurde ein „Ver Sacrum" gelobt und die Jungmannschaft außer Landes geschickt. Die Römer haben dann, wie die Assyrer zuvor, gewaltsame Umsiedlungen vorgenommen. Wiederholte Erhebung gegen ihre Herrschaft mußten die Etrusker von Volsinii 264 vor Christus mit der Aufgabe ihrer Bergstadt - dem heutigen Orvieto - büßen. Sie wurden in der Ebene - im heutigen Bolsena - angesiedelt. Man glaubte, der Heimatboden verleihe ihnen die Kraft, sich gegen Rom zu wehren, so wie der Riese Antaios von Herakles nicht zu bezwingen war, solange er den Boden der Mutter Erde berührte. Der Befehl an die 146 vor Christus unterlegenen Karthager, sich im Landesinneren niederzulassen, wurde von diesen verweigert. Scipio Africanus eroberte die Stadt und versklavte die Einwohner. Sklaverei war eine permanente Quelle gewaltsamen Ortswechsels. Die Griechen bezogen ihre Sklaven überwiegend aus den nördlichen und östlichen „Barbarenländern", das heißt aus dem Schwarzmeergebiet und aus Anatolien. Die römischen Sklaven waren großenteils kriegsgefangene Griechen oder Kelten. Spartacus kam aus Dalmatien; Pompeius beendete die Seeräuberplage, indem er die Piratendörfer Kleinasiens evakuierte und den Familien in Italien Land anwies. Vom sechsten bis zum dritten Jahrhundert vor Christus breiteten sich die Kelten aus. Sie gewannen
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Gallien, Britannien und Teile Spaniens, besetzten Oberitalien und drangen bis nach Zentral-Anatolien vor. Dort hatte der Apostel Paulus mit den „Galatern" zu tun. Eine noch expansivere Dynamik entfalteten die Germanen. Die Kimbern, die auf der Suche nach Land um 100 vor Christus sechs römische Heere schlugen, behaupteten, durch eine Sturmflut aus ihrer Heimat an der Nordsee vertrieben worden zu sein. Das war aber wohl nur ein Vorwand. Kriegsgeist, Wanderlust und Menschenreichtum machten die Germanen zu einer ständigen Gefahr für Rom. U m den Bevölkerungsdruck in Germanien zu mindern, haben die Römer wiederholt große Gruppen, ja ganze Stämme ins Reich aufgenommen, so unter Augustus die Sugambrer und die Ubier im Umland von Köln. In den Provinzen gab es Raum, und als Siedler wie als Söldner waren die Kerle mit den langen Beinen willkommen. In der zweiten Generation wurden sie zu Römern. Mitunter gab es indes auf römischer Seite Bedenken. Unter Nero, so berichtet Tacitus, wurden die Amsivarier von den benachbarten Chauken aus ihren Sitzen an der Ems verdrängt. Als ihre Bitte um einen Ödlandstreifen, aus dem die Römer die Friesen verjagt hatten, kein Gehör fand, erklärte ihr König, wie den Göttern der Himmel, so gehöre den Menschen die Erde, und wo sie leer stehe, sei sie Allgemeingut. Er beschwor die Sonne und die Gestirne und fragte, ob sie auf leeres Land blicken wollten - lieber solle das Meer es überfluten! Das imponierte den Römern nicht. Darauf der König: Land zum Leben könne man ihnen verweigern, Land zum Sterben aber nicht. Er rief zum Kampf, verlor und mußte zurückweichen. Nun baten die Heimatlosen um Aufnahme erst bei den Chatten, dann bei den Cheruskern. Bald als Gäste, bald als Bettler, bald als Feinde behandelt, gingen sie nach langer Irrfahrt in der Fremde zugrunde. Zwei Fälle von sozialer Revolution sind bekannt. Im ersten Jahrhundert vor Christus vertrieben die hessischen Chatten ihre Adligen, die sich als Bataver (die „Besseren") am Niederrhein ansiedelten. Im vierten Jahrhundert nach Christus verjagten die Limiganten an der Donau ihre Oberschicht, die sich gleichfalls als neuer Stamm konstituierte. Die Großwetterlage änderte sich in der Spätantike. Der Limes hielt dem Druck nicht mehr stand. Auf der Flucht vor den Hunnen erbaten und erhielten die Westgoten Aufnahme im Reich. Nach ihrem Sieg bei Adrianopel 378 über das römische Heer bot die Donaugrenze und seit dem Einbruch der Sweben, Vandalen und Alanen 406 der Rhein den Provinzen keinen Schutz mehr. Im Zuge der Völkerwanderung ergriffen die Germanen die Macht im Westreich, behaupteten diese jedoch nur in Gallien, Britannien und Oberitalien, wo 568 die Langobarden in die nach ihnen benannte Lombardei eingerückt waren. Jahrhundertelange Völkerverschiebungen kennzeichnen die Geschichte Ost- und Südosteuropas. Slawen besetzten die von den Germanen in der Völkerwanderung geräumten Gebiete, drangen nach Westen vor bis an den Oberen Main, nach Süden bis Griechenland und nach Osten über den Ural. Mehrfach kam es zu Völkereinbrüchen aus dem Inneren Asiens. Nach den Hunnen im fünften Jahrhundert erschienen im achten Jahrhundert die Awaren, die so wie jene sich assimilierten und verschwanden, während Bulgaren aus dem Wolgaraum, Magyaren aus Zentralrußland und Türken aus Innerasien sich in den neuen Räumen behaupteten. In allen genannten Fällen wurden die Vorbewohner nicht vertrieben, sondern überlagert. Ungarn und Türken bewahrten ihre Sprache, die Bulgaren slawisierten sich. Anders als die Antike sah das Mittelalter in Europa keine großen Völkerverschiebungen. Die aus Dänemark und Südskandinavien vordringenden Normannen oder Wikinger bildeten in der Normandie und in England, um Kiew und auf Sizilien nur eine kriegerische Oberschicht.
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Gewaltsame Umsiedlung praktizierte Karl der Große. Er „transferierte" 804 die aufständischen Sachsen aus Holstein mit Frauen und Kindern über die Elbe und überließ ihr Land den slawischen Obodriten. Später kehrte sich die Bewegung um. Seit dem 12. Jahrhundert gab es in die vergleichsweise dünnbesiedelten Gebiete östlich der Elbe Zuwanderung aus dem Westen. Bauern und Handwerker, Kaufleute und Mönche aus dem Reich ließen sich durch die slawischen Fürsten anwerben, um dort die Wirtschaft und die Zivilisation zu fördern. Die Umsiedlung wurde durch gewerbsmäßige Unternehmer, sogenannte Lokatoren, organisiert. Die Erinnerung an einen solchen lebt fort im „Rattenfänger von Hameln". Die überwiegend friedlich verlaufene deutsche Ostkolonisation führte zu zahlreichen Stadtgründungen und zur Ausbreitung des Lübecker und Magdeburger Stadtrechts bis Narwa und Nowgorod. Kriegerische Landnahme gab es in Preußen. Der von den polnischen Königen zur Mission ins Land gerufene Deutsche Orden machte Politik auf eigene Faust, bis er 1410 in der Schlacht bei Tannenberg unterlag. Seine Zeit war mit der Christianisierung vorbei: Das Interesse der Landesherren zeigt sich wiederum in der Anwerbung der Siebenbürger Sachsen seit dem 12. Jahrhundert, die im damals ungarischen Transsilvanien 250 Dörfer und Städte gründeten, und in der Ansiedlung der Wolgadeutschen durch Katharina die Große im 18. Jahrhundert. Man schätzte an den Deutschen ihren Gewerbefleiß. Im Unterschied zu diesen ökonomisch motivierten Völkerbewegungen beruht die Ausbreitung der Araber seit dem Tode Mohammeds auf religiösem Impuls und militärischer Schlagkraft. Sie eroberten Mesopotamien, die Levante, ganz Nordafrika und erschienen 711 im westgotischen Spanien. Als Karl Martell sie 732 zwischen Tours und Poitiers zurückschlug, waren sie mit Weib und Kind gekommen. Sie wollten siedeln. Die christliche Reconquista, ausgehend von Asturien im Norden der Iberischen Halbinsel, verdrängte die Araber wieder aus Spanien. Nach dem Fall von Granada wurden 1492 auch 300 000 Juden verjagt, sie gingen unter anderem in die Niederlande und ins Osmanische Reich. Die Türken hatten sich seit dem 11. Jahrhundert in Anatolien und danach im Donauraum ausgebreitet, konnten sich dort jedoch nur in Bulgarien in größerer Zahl behaupten. Der Mongolensturm unter Dschingis Khan und seinen Nachfolgern veränderte die Machtverhältnisse in Asien, kaum aber die Bevölkerungsstruktur. Infolge der Reformation kam es zum Phänomen der Glaubensflüchtlinge. Gemäß dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 bestimmte der Landesherr die Konfession, Andersgläubigen erlaubte man großmütig, die Heimat zu verlassen. Hunderttausende protestantischer Exulanten mußten im 17. und 18. Jahrhundert die Lande der Habsburger räumen. 30 000 Salzburger fanden 1732 Aufnahme in Preußen. In Frankreich wurden die Reformierten geduldet, bis Ludwig XIV. 1685 das Toleranzedikt von Nantes aufhob. Den Hugenotten wurde gleichwohl die Emigration bei Leibesstrafe verboten. Dennoch gelang etwa 200 000 der Grenzübertritt nach Deutschland und England, in die Niederlande und in die Schweiz. Die nächste Massenflucht löste die Französische Revolution aus. Große Teile des Adels verließen das Land, auf sie geht der Begriff „Emigranten" zurück. Wirtschaftliche und religiöse Motive bestimmten die Einwanderung nach Amerika seit dem 16. Jahrhundert. Puritaner, Herrnhuter und Mennoniten wollten im Norden ihren Glauben bewahren, Franziskaner und Jesuiten im Süden ihre Lehre verbreiten. Die Ureinwohner gingen zu einem erheblichen Teil an neuen Krankheiten zugrunde, wurden verdrängt oder versklavt. Als Arbeitskräfte importierten Spanier, Portugiesen und Engländer schwarzafrikanische Sklaven. Die Gesamtzahl der - großenteils von Arabern angelieferten - Verschleppten wird auf acht bis zehn
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Millionen geschätzt, dazu kommen etwa vier Millionen, die den Transport nicht überlebten. Menschenraub in großem Stil gab es innerhalb Amerikas in Brasilien, als die von den Jesuiten in Paraguay angelegten Indianerdörfer evakuiert wurden. Der Bevölkerungszuwachs in Europa während des 19. Jahrhunderts führte zur Auswanderung von etwa 60 Millionen nach Ubersee, größtenteils nach Nordamerika. Die Festsetzung der Europäer in Afrika beginnt mit der Gründung von Kapstadt durch die Portugiesen als Station auf dem Weg nach Indien. 1652 wurde die Station von den Holländern erobert. Die Einwanderung von Niederländern, Hugenotten und Deutschen war zunächst durch landwirtschaftliche Interessen bestimmt, bis Ende des 19. Jahrhunderts die Gold- und Diamantenfelder zahlreiche Briten ins Land lockten. U m ihrer Unabhängigkeit willen unternahmen die Buren auf der Flucht vor den militärisch überlegenen Briten 1835 den „Großen Trek" nach Norden, mußten sich aber 1902 unterwerfen. Aus dem Landesinneren kamen als Sklaven, später als Arbeiter Bantu-Neger nach Südafrika und bildeten dort schon im 19. Jahrhundert die Mehrheit der Bevölkerung. Engländer ließen sich zudem in Ostafrika nieder, Franzosen in West- und Nordafrika. Die deutschen Kolonisten mußten nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg überwiegend zurückwandern. Eine makabere Besiedlungsgeschichte hat das von den Briten okkupierte Australien. Es diente als Sträflingskolonie. Bis 1868 wurden dorthin Schwerverbrecher aller Art deportiert, ebenso nach Tasmanien. Die stark dezimierten Ureinwohner Australiens wurden in unfruchtbare Reservate verdrängt. Auch in Tasmanien hatten sie gegen die Weißen keine Chance. Soweit sie nicht ausgerottet wurden, hat man sie nach 1835 auf die Flindersinsel verbracht. Der letzte Urtasmanier starb 1876. Als das „Jahrhundert der Flüchtlinge" gilt das 20. Jahrhundert. Tatsächlich haben in so kurzer Zeit noch nie so viele Menschen ihre Heimat aufgegeben, nach Schätzungen wohl 200 Millionen. Neuartige politische Motive machten sich geltend, insbesondere Nationalismus und Totalitarismus. Mit der Ablösung dynastischer Loyalität durch demokratische Selbstbestimmung entstand die Ideologie des Volksstaates, in dem nichts zu suchen hat, wer „nicht dazugehört" und daher einer „ethnischen Säuberung" anheimfällt. 1894 begannen die Massaker an Hunderttausenden Armeniern durch die Türken bis zur Vertreibung der Uberlebenden in russisches Hoheitsgebiet während des Ersten Weltkriegs. 1923 bestimmte der Frieden von Lausanne die Aussiedlung der Griechen aus Anatolien, wo sie seit dreitausend Jahren ansässig waren, und die der Türken aus Griechenland. Gleichzeitig begann die Einwanderung von Juden nach Palästina. Kein Volk hat so oft den Wohnsitz wechseln müssen wie die Juden. Die Legende von Ahasver, dem zur Wanderschaft verfluchten Ewigen Juden, ist bereits 1223 bezeugt und wurde Thema in allen europäischen Literaturen; Goethe behandelte es 1774. Dahinter steht eine große Tragödie. 1290 wurden die Juden aus England vertrieben, 1394 aus Frankreich, 1492 aus Spanien, 1497 aus Portugal. Verfolgt in deutschen Städten, wanderten sie nach Osteuropa aus, wo 1881 die Pogrome einsetzten. Theodor Herzl, der Vater des Zionismus, träumte anfangs von einem „Judenstaat" mal auf Zypern, mal in Argentinien, mal in Uganda. Schließlich stimmte London einer „Heimstätte" für die Juden in Palästina zu. Bis 1939 verließen 750 000 Juden Deutschland und andere europäische Länder.
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Die Landnahme in Palästina wurde unter dem Eindruck des Holocausts forciert, die ansässigen Araber wurden teils vertrieben, teils entrechtet. Der Verdrängungspolitik durch die Militärsiedler ist durch Terrorakte nicht beizukommen. Die mit Abstand größte Zahl von Flüchtlingen, Umgesiedelten und Vertriebenen geht auf das Konto der totalitären Systeme, insbesondere des Sozialismus. Das beginnt mit den Emigranten nach der Oktoberrevolution und wurde im Umkreis des Zweiten Weltkriegs zum System. Während die zwischen Hitler und Mussolini 1939 vereinbarte Aussiedlung der Südtiroler zum Teil Makulatur blieb, erreichte Stalin 1940 von Hitler die Rückführung der Deutschen aus Bessarabien „heim ins Reich". Man verwandte sie zur „Germanisierung" des Warthegaus, aus dem sie 1945 abermals vertrieben wurden. Die Banat-Schwaben deportierte Stalin 1944 über den Ural, ebenso die Wolgadeutschen, die Krimtataren, Kalmücken, Tschetschenen und Inguschen. Sie alle galten als unzuverlässig. Die 7,6 Millionen Zwangsarbeiter, die 1944 im „Großdeutschen Reich" beschäftigt waren, wurden 1945 wieder frei. Sie ahnten nicht, was sie als „Kollaborateure" im Osten erwartete. Anders die im Potsdamer Abkommen verabredete Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa: Sie betraf zehn bis 15 Millionen, von denen zwei Millionen die Flucht und Vertreibung nicht überlebten. Die Einwohner der von Stalin annektierten Osthälfte Polens wurden ausgesiedelt und zur Polonisierung von Pommern, Westpreußen, Süd-Ostpreußen und Schlesien benutzt. Das nördliche Ostpreußen wurde flächendeckend russifiziert. Stalin „säuberte" die Ukraine und Weißrußland, deportierte Zehntausende baltischer und deutscher Zivilisten nach Sibirien und forcierte die Russifizierung namentlich von Estland. Dem Ungarn-Aufstand von 1956 und dem Ende des Prager Frühlings 1968 folgten Fluchtwellen in den Westen, aus der DDR flohen fast sechs Millionen in die Bundesrepublik. Bei Einmarsch der Sowjets nach Afghanistan gingen etwa fünf Millionen Flüchtlinge nach Pakistan und Iran. In ähnlichen Größenordnungen bewegen sich die Emigranten aus Nord- nach Südkorea, einschließlich der „Boat people" aus Mao-China nach Hongkong und Taiwan. Aus Laos, Kambodscha, Vietnam und Kuba flohen Hunderttausende vor den Kommunisten. Andererseits freilich hat sich nach dem politischen Ende des Sozialismus vielerorts ein patriotischer Fremdenhaß entwickelt, der nicht nur in den neu entstandenen Balkan-Staaten Massenmord und -flucht zur Folge hatte. In der Dritten Welt haben neben dem revolutionären Sozialismus namentlich religiöse und ethnische Motive zu Völkerverschiebungen geführt. Bei der Teilung von Britisch-Indien 1947 wechselten sieben Millionen Muslime und mehr als acht Millionen Hindus und Sikhs die Heimat, um unter ihresgleichen zu leben; während des Bürgerkriegs in Ostpakistan 1971 flohen zehn Millionen nach Indien. Sie sind allerdings später großenteils zurückgekehrt. Nach 1983 gab es einen Massenexodus von Tamilen aus Ceylon. Stammeskonflikte sind der Hauptgrund von Massenflucht und Völkermord in Afrika, doch gewinnen dort ökonomische Gründe, die Heimat zu verlassen, an Bedeutung. Fluchtbewegungen wie diese münden in den Industrieländern in Konflikte nicht nur zwischen Eingewanderten und Ansässigen, sondern ebenso zwischen zwei Parteien unter den letzteren, von denen die eine Abschottung, die andere Öffnung befürwortet. So haben die aus Mexiko in die Vereinigten Staaten eindringenden Latinos dort eine fünfte Kolonne, die ihnen gegen die Gesetzeswächter das Eindringen ermöglicht. Damit kehrt sich jener Vorgang um, der im 19. Jahrhundert zu einer Anglisierung der damals zu Mexiko gehörigen Südstaaten von Kalifornien bis
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Texas und schließlich 1848 zu deren Annexion durch die Vereinigten Staaten geführt hat. Völkerbewegungen haben ökonomische Ursachen und politische Folgen - es gibt Gewinner und Verlierer, es gibt Geschichte. Zu allen Zeiten, in allen Regionen haben Menschen ihren Wohnsitz gewechselt. Entweder wollten sie ihre Lebensumstände verbessern, dann gingen sie freiwillig. Oder sie wichen Unannehmlichkeiten aus, die naturgegeben oder politisch bedingt waren, dann gingen sie genötigt. Die Grenze zwischen freiwilligem und genötigtem Wohnortwechsel ist unscharf. Man bestimmt sie gemäß der Zumutbarkeit des Erträglichen, das meist schwer zu beurteilen ist. Sog- und Druckfaktoren kommen zusammen; die Ursachen der Migration verzahnen sich, doch die Absicht ist evident. Sowohl bei Landnahme wie bei Vertreibung geht es um Lebensraum für die eigene Gruppe, ein Vorgang, der Parallelen in der Biologie hat und üblicherweise mit Opfern und Gewalt verbunden ist. Das 1948 von den Vereinten Nationen verkündete Menschenrecht Vertriebener, in die Heimat zurückzukehren, war gut gemeint, ist aber illusorisch: nicht nur wegen der Macht der Vertreibenden, sondern auch wegen der Interessen der Vertriebenen selbst, soweit sie sich in der neuen Heimat verwurzelt haben. Von den Flüchtlingen und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten waren wohl nur wenige geneigt, unter die Herrschaft der russischen, polnischen oder tschechischen Kommunisten zurückzukehren, denn sie lebten bereits nach zehn Jahren im Westen besser, als sie es daheim hätten haben können. Ubi bene, ibi patria (Wo es gut geht, da ist das Vaterland) - das meinte schon Cicero in seinen „Tusculanen", schon Aristophanes in seinem „Ploutos". Europa gewährt Emigranten, die vor Repressalien fliehen, politisches Asyl, doch das kommt auch den repressiven Machthabern zugute, die lästige Opponenten los sind und deren Hinterlassenschaft kassieren. Außer den Asylbewerbern kommt im Jahr eine halbe Million illegaler Einwanderer nach Europa, die aus humanitären Gründen geduldet werden. Hochzivilisierte Länder waren zu allen Zeiten das Traumziel der ärmeren Nachbarn, und die Politiker sind aufgerufen, dieses Problem ungeschminkt zur Kenntnis zu nehmen und es friedlich zu lösen.
Eckart von Hirschhausen
Witz komm raus Das Geheimnis des Lachens Kindern erklärt
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ie Mutter klopft bei ihrem Sohn an die Tür: „Peter! Du mußt aufstehen!" Peter ruft zurück. „Ach nöö, laß mich noch ein bißchen schlafen." Fünf Minuten später wieder: „Peter, steh auf." - „Mutti, ich will heute nicht aufstehen, ich will heute nicht in die Schule. D i e Lehrer sind blöd und die Schüler ärgern mich, sag mir zwei Gründe, warum ich heute in die Schule muß." - „Peter, du bist 45 Jahre alt und du bist der Direktor."
Kennt ihr auch einen Witz? Typisch. Immer wenn man einen braucht, fällt einem keiner ein. Geht mir normalerweise auch so, aber ich hatte ja Zeit, mir für heute einen zu überlegen. Aber Witze ohne Zusammenhang sind selten richtig lustig. Habt ihr mal ein Witzbuch gelesen? Dabei lacht man selten richtig laut. Wenn wir einen Witz hören, ohne den Erzähler zu sehen, dann wirkt der gleiche Witz ein bißchen besser. U n d am stärksten müssen wir lachen, wenn wir beim Erzählen selbst dabei sind, in guter Laune, mit netten Leuten und uns dabei anschauen können. Dann steckt sich jeder gegenseitig mit dem Lachen an. Verdacht Nummer 1 Lachen ist viel mehr als Witze erzählen. U n d wir lachen mit anderen leichter als alleine. Es ist ein Gemeinschaftsphänomen. Ich bin sicher, viele von euch haben sich noch nie Gedanken übers Lachen gemacht. Wir lachen einfach, ganz selbstverständlich. Genauso wie wir laufen oder essen oder weinen. Säuglinge lächeln, Kleinkinder lachen, auch wenn sie nie andere haben lächeln sehen oder lachen hören. Blinde oder taube Kinder lächeln und lachen auch. Es steckt in jedem Menschen drin.
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Verdacht Nummer 2 Wenn etwas angeboren ist von unserem Verhalten, dann muß es ganz schön wichtig sein, dann brauchen es offensichtlich alle. Lachen ist eine echte Wissenschaft für sich. Das ist kein Witz, die Forscher nennen die Wissenschaft vom Lachen die „Gelotologie". Gelos heißt auf altgriechisch „lachen". Und immer wenn sich Forscher etwas Schlaues überlegen, erfinden sie einen lateinischen oder altgriechischen Namen dafür, damit jeder denkt, das ist noch viel schlauer. Das kennt ihr aus der Schule. Biologie, „Die Lehre des Lebens"; klingt viel wichtiger als: „Weißt du eigentlich, warum Pflanzen, Tiere und Menschen so sind, wie sie sind". In der ersten Klasse heißt es noch „Sachkunde". Und nicht: Sachkundologie. Warum gibt es eigentlich keinen Lachkunde-Unterricht? Also, das holen wir jetzt mal nach. Je erwachsener man wird, desto schicker ist es, sich unverständlich zu machen, um so seltener lacht man. Verdacht Nummer 3 Beim Lachen verstehen wir uns ohne viel Worte. Und es geht uns besser, als wenn wir nicht lachen. Sagt man ja immer so, Lachen ist die beste Medizin. Diesen drei Spuren, diesen drei Verdachtsmomenten möchte ich mit euch nachgehen, also das Lachen als Gruppenphänomen, das Lachen in der Entwicklung des Menschen vom Affen aus und die medizinische Wirkung auf unseren Körper und Geist. Kinder lachen bis zu 400 mal am Tag, Erwachsene sind viel schwieriger zum Lachen zu kriegen, die lachen im Schnitt nur noch 20 mal am Tag. Und Tote lachen gar nicht. Man muß gar kein Wissenschaftler sein, da erkennt jeder sofort die abnehmende Tendenz. Und die natürliche Schlußfolgerung: Wer öfter lacht, bleibt länger jung. Ich bin erst Arzt geworden, dann Komiker oder wie das modern heißt: Stand-up Comedian. Und heute verbinde ich die beiden Berufe, d. h. ich mache mir als Komiker Gedanken über die Ärzte und Patienten, und der Arzt in mir macht sich Gedanken über die heilsame Wirkung der Komik. Die Berufe haben übrigens viel gemeinsam! Du mußt in beiden Berufen genau hinschauen. Ein guter Arzt sieht mit einem Blick, was los ist. Zum Beispiel wenn jemand sagt: Herr Doktor, immer wenn ich mit dem Finger hier in den Bauch drücke, tut es weh. Und auch wenn ich auf der anderen Seite drücke, tut es weh, und selbst wenn ich am Rücken drücke, tut es weh. Klarer Fall: gebrochener Finger. Und als Komiker mußt du auch so um die Ecke denken. Als Komiker reicht oft ein Blick, und du weißt, irgendwas ist da komisch dran. Zum Beispiel: Ist Euch mal aufgefallen, Frauen können aus einem Badehandtuch einen Turban auf ihrem Kopf wickeln. Ich hab noch nie einen Mann gesehen, der das hinkriegt. Ich hab es mal versucht, es sah total bescheuert aus und hat auch nicht gehalten. Ich frage mich, wo lernen die Frauen das? In der Schule? „Achtung, Silke, heute nach der Schule: Turbanunterricht - aber sag es nicht den Jungs!" Worüber man lacht, ist ja sehr unterschiedlich. Was der eine komisch findet, findet ein anderer blöd. Und was ich früher lustig fand, finde ich heute peinlich. Ich erinnere mich noch. Mein Großvater war noch von der alten Schule und wollte immer, daß wir kurze Haare haben. Und wenn wir zu ihm hingefahren sind, dann begrüßten wir uns und sagten ganz brav: „Wir sind extra für dich zum Frisör gegangen, Großpapa". Und er sagte dann: „Und, hat der was angeklebt?" -
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Sehr komisch. Ich hab als Kind die Witze von meinem Großvater überhaupt nicht komisch gefunden, aber ich glaube, er meine auch nicht. Normalerweise entwickelt sich der Humor weiter. Bist du in der Schule und lernst die Tücke der deutschen Sprache, freuen uns Wortspiele, die wir als Vierjährige nie verstanden hätten: „Herr Ober, bringen Sie mir bitte einen Kirschkuchen ohne Kirschen. Das geht leider nicht. Dann ist es ja kein Kirschkuchen mehr! Warum nicht, im Hundekuchen sind doch auch keine Hunde!" In dem Alter fängt man auch an, anderen Streiche zu spielen. Wir finden es lustig, den Erwachsenen Knoten in die Kleider zu machen, gerade dann, wenn sie sich schnell anziehen wollen. Oder wir essen unser Frühstücksei und drehen dann die noch heile Eierschale so im Eierbecher um, daß es wie ein ganzes Ei aussieht; und wir freuen uns, wenn jemand darauf reinfällt. Wenn wir noch etwas älter werden, werden die Witze noch komplizierter, manchmal auch gereimt, Schüttelreime: „Wer andern eine Zange leiht, vermißt sie dann auf lange Zeit." Der Humor wird dann so um die Pubertät herum auch makaber, hat mit Skeletten und Tod zu tun. Kennt ihr den: Fahren zwei Skelette Motorrad. Sagt das eine: „Warum hast du eigentlich deinen Grabstein unterm Arm?" - „Du, ich fahr nie ohne meine Papiere!" Jede Altersgruppe hat ihre Lieblingswitze. Je mehr wir von der Welt verstehen, desto komplizierter wird auch der Anspruch an das, was uns zum Lachen bringt. Umgekehrt merkst du sehr gut, was jemand für einen Charakter hat und wie reif jemand im Kopf ist, je nachdem worüber er lacht. „Was ist der Unterschied zwischen einer Bierflasche und Gefühlen? Eine Bierflasche muß man aufmachen, Gefühle muß man zulassen." Und wenn ihr das nicht komisch findet, das ist total normal. Das ist von meinem Lieblingsdichter Robert Gernhardt. Aber den mag man meistens erst ab 30. So unterschiedlich die Witze in den Lebensphasen, sie haben eins gemeinsam. Sie führen unseren Verstand einmal um die Kurve und dann voll gegen die Wand. Nehmen wir mal einen Witz genauer unter die Lupe. Den Witz von Peter und der Mutter. Die Mutter ruft ihren Sohn, weil er in die Schule soll. „Nein, Mama, ich will heut nicht in die Schule. Die Lehrer sind blöd und die Kinder ärgern mich immer. Sag mir zwei Gründe, warum ich in die Schule soll." Die Mutter antwortet: „Du bist 45 und der Direktor." Warum lachen wir darüber? Wir sehen vor unserem geistigen Auge eine Mutter, die ihren kleinen Sohn weckt. So wie unsere Mutter uns auch immer geweckt hat, wenn wir zur Schule mußten. Und im letzten Satz, der Pointe, merken wir, daß unsere Vorstellung uns belogen hat, plötzlich müssen wir alles, was wir uns vorgestellt haben, über den Haufen werfen. Erst kommt ein Bild, dann entsteht ein zweites Bild, und die passen nicht zusammen. Erst stellen wir uns die Mutter mit einem kleinen Jungen vor, dann eine alte Mutter mit ihrem in die Jahre gekommenen Muttersöhnchen. Das Hirn weiß einen Moment nicht, welches Bild nun stimmt, springt hin und her und merkt, es hat sich getäuscht. Und diese ganze Verwirrung löst sich dann mit einem lauten Lachen. Im Lachen signalisieren wir eine ganze Menge. Wir sagen: „Ich hab' den Witz kapiert. Ich hab' die Verwirrung überlebt, meine Welt ist wieder in Ordnung." Lachen kann man vergleichen mit einem Klingelstreich für den Verstand. Beim Klingeln denken wir immer, da ist jemand vor der Tür. Wir haben ein klares Bild, was passiert, wenn wir die
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Tür aufmachen. Und wenn da keiner ist, schauen wir blöd aus der Wäsche. Und alle, die das hinter dem Gebüsch beobachten, finden das lustig. N u r wir selber nicht. Bis wir diejenigen sehen, die uns den Streich gespielt haben. U n d so funktioniert auch ein Witz. Er lenkt die Erwartung in eine Richtung, plötzlich ist alles anders. Anspannung. Blödes Gesicht. Entspannung. Lachen. Wenn wir nicht wissen, was stimmt und was nicht, kann das ja zunächst auch eine Verwirrung, eine Gefahr sein. Ist die Gefahr vorüber, dann lachen wir. So, wie wenn wir uns erschrecken und denken, wir sehen ein Gespenst! U n d dann merkst du, das Gespenst ist gar nicht echt, es ist nur unser Bruder mit einem Laken über dem Kopf. Und das tun Menschen schon seit Tausenden von Jahren. N o c h bevor wir überhaupt eine Sprache hatten, haben sich die Ur-Menschen so miteinander verständigt. Ein Knacksen im Gebüsch, womöglich ein Löwe? Im zweiten Moment wird klar, war kein Löwe, war nur ein Kind, das sich verlaufen hat, im dritten Moment lachen beide, und die Angst löst sich auf. Da lachen ja die Hühner - sagt man so. Habt ihr schon mal Hühner lachen sehen? O d e r habt ihr schon mal eurer Katze einen Witz erzählt? Und? Hat sie gelacht? O d e r habt ihr schon mal einen Pitbullterrier mit einem guten Sinn für Humor getroffen? Kampfhunde sind meiner Erfahrung nach so humorfrei wie ihre Besitzer. Aber Spaß beiseite. Es gibt tatsächlich Tiere, die lachen. Affen zum Beispiel. Die sind uns ja auch am ähnlichsten. Junge Schimpansen, die sich kitzeln, geben auch Laute von sich, die mit unserem Lachen Ähnlichkeit haben. Und auch einen ähnlichen Zweck erfüllen. Sie kommunizieren damit, unterhalten sich mit ihren Artgenossen. Das zeigt uns wieder, daß das Lachen etwas ganz Natürliches, ganz Ursprüngliches ist. Ratten kichern auch, wenn man sie kitzelt. Von anderen Tieren ist nicht bekannt, was sie „tierisch lustig" finden. Lachmöwen kreischen, Pferde wiehern, aber es ist nicht so klar, worüber. Lachen ist ansteckend. Wenn einer in der Klasse anfängt zu lachen, müssen andere automatisch mitlachen, manchmal sogar der Lehrer. Obwohl man vielleicht den Witz gar nicht gehört oder das Komische gar nicht gesehen hat, wir lachen nur, weil jemand anders lacht. Lachen ist anstekkend, genauso wie Gähnen uns ansteckt. Nur: Gähnen ist längst nicht so lustig. Wir leiden mit. Das ist das Wort Sympathie. Wenn sich jemand im Sport verletzt, zucken wir auch erst einmal zusammen und schreien „Aua", obwohl wir uns ja selber gar nicht wehgetan haben. Wir sind soziale Menschen. Dafür braucht es nicht immer Wörter. Lachen ist ansteckend, damit alle anderen in der Gruppe auch mitbekommen, uhps, da ist etwas passiert, kurze Gefahr und die ist vorüber. Wir geben das Lachen von einem an den anderen weiter. Das ist ursprünglich ein ganz tiefer Evolutionssinn. Aber das weiß man auch heute ganz modern beim Fernsehen. Wenn im Fernsehen eine komische Serie gezeigt wird, die nicht so wirklich komisch ist, dann mischen die Redakteure immer Lacher da drunter. Und automatisch schwups - mußt du mitlachen, findest du es komischer, als es eigentlich ist. Macht einfach mal am Fernseher den Ton leiser und guckt, ob das dann noch lustig ist. - Meistens gar nicht. Wir pegeln uns ja ständig in der Gruppe gefühlsmäßig aufeinander ein. Wir finden Menschen sympathisch, mit denen wir eine Wellenlänge haben, die z.B. lächeln, wenn wir lächeln, die uns trösten, wenn wir traurig sind; und die nicht genau dann loslachen. Miteinander lachen schafft Gemeinschaft, es verbindet uns. Ü b e r jemanden zu lachen macht das Gegenteil und grenzt jemanden aus. Lachen kann ja auch ganz schön fies und sogar dreckig sein. Wenn man Witze macht über Außenseiter, Ausländer, Schwache, Behinderte. „Darüber macht man keine Witze", heißt es dann. Aber was oft dahinter steckt, ist die Angst, die Bedrohung durch das Fremde,
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A n g s t , selber mal Außenseiter zu sein oder krank und behindert. U n d wenn man darüber lacht, m e r k t man die Angst nicht so. Lachen kann man viel leichter mit anderen als alleine. Wenn du mal hinhörst, wann Leute überhaupt jeden Tag lachen, dann merkst du, wir lachen ganz oft, ohne daß eine Situation irgendwie besonders witzig war. O f t lachen wir in peinlichen Situationen, wir kichern, wir lächeln, wir winden uns und hoffen, wenn wir lachen und lächeln, passiert uns schon nix. Das ist auch ganz schlau. Wenn wir nämlich den anderen mit unserem Lachen anstecken, ist er viel weniger aggressiv. Lachen hat also viele Funktionen - als Signal an andere: Gefahr erkannt, G e f a h r gebannt und auch: Ich lache - bitte schlag mich nicht. Ich will dir nichts Böses, laß uns Freunde sein. Wer H u m o r hat, k o m m t schlauer durchs Leben, der muß sich nicht h o c h b o x e n , sondern kann sich auch mit C h a r m e hoch-lachen. Lachen hat also viel damit zu tun, daß wir ohne Lachen uns ständig die K ö p f e einschlagen würden. H u m o r l o s e Leute sind entweder sehr langweilig und haben nie besonders originelle Ideen oder sie schlagen ins Gegenteil, sind völlig fanatisch, nur von einer Idee überzeugt. H u m o r hat damit zu tun, daß wir die Blickrichtung ändern können, die Perspektive, daß wir anerkennen, daß jemand anders die Welt anders sieht und erlebt und genauso viel oder wenig recht hat wie ich. Beispiel: Ein Wanderer hat sich verlaufen und k o m m t an einen F l u ß . Endlich sieht er am anderen U f e r einen Bauer und ruft rüber: „Hallo, können Sie mir sagen, wie ich auf die andere Seite k o m m e ? " Sagt der Bauer: „Wieso? Sie sind schon auf der anderen Seite." Wir lachen, weil der Bauer eben nicht die Perspektive wechselt. Weil er für sich festgelegt hat, hier ist die richtige Seite, da drüben, da sind die anderen. I m richtigen Leben ist das häufig nicht komisch, wenn Menschen ihre eigene Perspektive nicht mehr wechseln k ö n n e n und anscheinend wissen, was richtig und was falsch ist. Diktatoren, fanatisch Religiöse, super penible Bürokraten, Perfektionisten oder nur auf ihr Äußeres bedachte Super-Schönlinge und Beach-Girls sind meistens ziemlich humorlos und haben am meisten Angst davor, daß man sich über sie lustig macht. D e n n da sind sie verletzlich, daß man sie nicht ernst nimmt. Das geht! Das alte Prinzip von David und Goliath. David war viel kleiner als Goliath, konnte ihn aber mit seinem Geschick und mit seiner Steinschleuder an seiner empfindlichen Stelle treffen. U n d so können bis heute die Kleinen mit einem geschickten W i t z die G r o ß e n ganz schön schmerzhaft treffen und ärgern. Lachen ist ein Klingelstreich für den Kopf, aber was passiert da alles im Körper? Vor 2000 J a h ren dachten die Griechen, die Seele des Menschen sitzt in seinem Zwerchfell. Das Zwerchfell ist genau da, wo die Lunge und der Bauch, also Atmung und Verdauung, Luft und Leib aufeinandertreffen. Dazwischen liegt ein kleiner feiner Muskel, so eine Art Trampolin für die Seele. Mit dem Zwerchfell atmen wir, und damit lachen wir. Wenn ihr wollt, nehmt mal eure Hände an die Seite, da, wo die Rippen aufhören und manchmal sich eine kleine Bauchrolle zwischen die Finger schiebt. U n d jetzt ganz einfach mal: H O - H O - H O . Was da so zuckt, das ist das Zwerchfell. Das war kein echtes Lachen. Echtes Lachen erkennt man an vielen kleinen Details. Es fängt schnell an und hört langsam auf. Es wird nämlich am Ende leiser, wenn einem die Luft ausgeht. D a s ist auch der ansteckendste Teil, geht dem einen in der Gruppe die Luft aus, dann übernehmen die anderen. Das ist die Idee beim Anstecken. Andererseits kennt jeder ein falsches Lachen. Z. B . der C h e f macht einen W i t z und alle machen „ h o h o h o " . U n d plötzlich ist es zu Ende; und dann merkst du sofort, so richtig ehrlich war das nicht. Was alles beim Lachen passiert, ist richtig Arbeit für den Körper. 2 0 Sekunden Lachen entspricht etwa der körperlichen Leistung von drei Minuten schnellem Rudern. D i e Augenbrauen
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heben sich, die Nasenlöcher werden weit, der Jochbeinmuskel zieht die Mundwinkel nach oben, die Augen verengen sich zu Schlitzen, der Atem geht schneller, die Luft schießt mit bis zu 100 km/h durch die Lungen, die werden in Schwingungen versetzt. Der Mann lacht mit mindestens 280 Schwingungen pro Sekunde, bei einer Frau sind es sogar 500. Deswegen lachen auch Frauen höher als Männer. Das Zwerchfell zuckt rhythmisch. Die Muskeln in der Beinregion erschlaffen. Kennt ihr das, daß man sich kaum mehr auf den Beinen halten kann, wenn man so richtig gakkern muß. Du krümmst dich, Kinder werfen sich zu Boden vor lachen. Du kannst die Muskelspannung nicht aufrecht halten. Wir lachen uns schlapp. Probier mal, beim Lachen ein Klavier hochzuheben - es geht nicht. Lachen stärkt zudem die Funktion der Lungen. Wer viel lacht, trainiert auch seine Atmung, bekommt mehr frische Luft in die Lunge und damit auch ins Hirn. Die Griechen dachten ja noch, das Hirn ist nur ein Apparat, um das Blut zu kühlen. Und manchmal denke ich, bei einigen Leuten haben sie wohl recht behalten. Natürlich können wir lachen, wenn wir es uns vornehmen. Aber es wirkt dann auch künstlich und hört sich auch für die anderen nicht echt an. Es heißt ja auch, ein echtes Lachen kommt von Herzen, das kommt von innen. Kennt ihr das: Manchmal willst du gar nicht lachen, du darfst es eigentlich nicht, du versuchst es zu unterdrücken, aber das Gefühl ist so stark, daß es aus dir rausplatzt. So etwas passiert dann immer an peinlichen Orten, in wichtigen Situationen. Z.B. ist das dem Rock-and-Roll-Star Elvis Presley passiert bei einem seiner Konzerte. Er sang plötzlich einen falschen Text und versuchte, sich dann zusammenzureißen. Den härtesten Job hatten dabei die Background-Sängerinnen. Daß die nicht mitgelacht haben, das ist echte Professionalität. Nach ein paar Lachanfällen sind im Blut mehr Abwehrstoffe als sonst zu finden, sogenannte Killerzellen. Die schützen uns vor Viren, und deswegen sind gutgelaunte Menschen auch seltener erkältet als die Schnupfbacken. Killerzellen können auch Tumor- also Krebszellen vernichten. Es klingt makaber, aber es ist wirklich erwiesen: Wer trotz schwerer Krankheit gute Laune behält, hat die besseren Heilungschancen. Es gibt ja auch Streßhormone im Blut, vielleicht kennt ihr Adrenalin und Kortisol. Und die nehmen beim Lachen ab. Dafür entstehen Endorphine, sogenannte Glückshormone, und die helfen uns, daß wir entspannen. Durch die schnelle Atmung transportiert die Lunge viel mehr Sauerstoff, drei bis vier mal so viel. Der Puls rast, die Durchblutung wird angeregt und fördert die Verbrennung von Cholesterin. Die Blutgefäße werden weiter. Das alles zusammen genommen führt dazu, daß Menschen, die viel lachen, auch seltener einen Herzinfarkt bekommen. Also. Lachen ist die beste Medizin. Es gibt viele Gründe, jeden Tag viel, viel zu lachen. So viel, wie es geht. Lachen hält gesund und macht uns schneller wieder gesund, wenn wir mal krank sind. Es tut unserer Seele und unserem Körper gut. Das hat die Wissenschaft eindeutig gezeigt. Und deswegen gehen Erwachsene, denen das Lachen so ein bißchen vergangen ist, heute in Lachclubs! Ja, die gibt es wirklich. Das ist so eine Art Sportverein nur für das Zwerchfell. Ihr müßt euch das so vorstellen: Da trifft sich eine Gruppe Erwachsener in einer Turnhalle, und dann nimmt sie sich dieses Volkslied „Ein Jäger aus Kurpfalz" vor und lacht es. Und wenn man das eine ganze Weile macht, dann kommt aus dem künstlichen Lachen plötzlich ein echtes hervor. Ob man das nun lustig oder traurig findet, daß man Lachclubs braucht, das überlasse ich euch. Wenn Lachen so gesund ist, warum kann man sich dann nicht selber kitzeln? Das wäre doch schön, wenn wir uns selber kitzeln könnten? Denkste. Es wäre die Hölle. Kurz überlegt: Kitze-
Witz komm raus - Das Geheimnis
des Lachens Kindern
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lig sind wir dort, wo wir besonders empfindlich sind, unter dem A r m z. B. mehr als am Ellenbogen, am weichen Bauch mehr als am harten Schienbein, am Fuß mehr als am Rücken. Der Körper reagiert beim Kitzeln wie auf einen Mini-Schmerzreiz, indem er sich wegdreht. Er zuckt zurück. Wenn wir von jemandem gekitzelt werden, bei dem wir wissen, daß er uns nicht weh tun will, dann können wir es genießen. Aber von jemand gekitzelt zu werden, den man nicht kennt oder, noch schlimmer, nicht mag, ist doof, auf Dauer richtig quälend. In China wurden ja angeblich Leute mit Kitzeln richtig gefoltert. Beim Kitzeln ist die gleiche Folge wie beim Lachen zu beobachten: Mögliche Gefahr, Anspannung, Gefahr doch nicht so groß, Entspannung, Lachen. Werden w i r immer an derselben Stelle gekitzelt, ist es schnell langweilig. Das Gehirn gewöhnt sich daran und schaltet alle Reize, die immer wieder kommen, ab. Das ist gut so und sehr wichtig. Die Kleider, die wir auf der Haut tragen, die kitzeln uns ja auch. Aber nur in dem Moment, wo wir sie anziehen. Dann kitzeln sie immer an der gleichen Stelle, wir gewöhnen uns dran und merken es gar nicht mehr. Zum Glück! Denn stell dir vor, es wäre anders, dann würdest du mit jedem Schritt, bei dem sich die Klamotten auf deiner Haut bewegen, dich selber kitzeln, und wir würden alle rumlaufen wie die Augsburger Puppenkiste. Das wäre lustig, aber nicht für uns! Wenn wir jemand anderen versuchen zu kitzeln, wechseln wir automatisch ständig die Stelle, je schneller und überraschender, desto kitzeliger wird es. Wenn wir versuchen, uns selber zu kitzeln, fehlt uns dieser Überraschungseffekt. Der Befehl, den Finger an die Seite zu tun und hin und her zu bewegen, kommt ja aus dem Hirn. U n d wenn dann die Nerven wieder nach oben melden: „Du, da hat mich gerade was an der Seite gekitzelt", sagt das Hirn: „Entschuldigung, das weiß ich schon längst, den Befehl hab ich doch gerade gegeben." Keine Überraschung. Kein Lacher. Wie kann man, ohne sich selber kitzeln zu können, trotzdem so viel lachen, wie es geht? Man muß sich mit anderen zusammentun, die auch gerne lachen. Das passiert automatisch mit guten Freunden. Oder wenn man sich zusammen lustige Filme anschaut oder noch besser: selber lustige und alberne Sachen macht. Lachen kann man üben, je öfter man in guter Stimmung ist, desto leichter k o m m t man auch aus schlechter Stimmung wieder raus. Übrigens: Ein großer Irrtum ist, daß uns A l k o h o l hilft gegen schlechte Stimmung oder daß wir lustiger werden, wenn wir besoffen sind. Das mag einem manchmal so vorkommen, ist aber nicht so. U n d der nächste Tag erst recht nicht. Wer sich nur mit Alkohol lustig findet, hat ein ernstes Problem. Wer sich mit anderen ohne Alkohol am Lachen und am Spaß „berauschen" kann, darf davon ruhig „abhängig" werden. Lachen ist ansteckend und hat Suchtpotential! Aber es ist gesund. Ich hoffe, ihr versteht jetzt ein bißchen besser, daß Lachen eigentlich eins der spannendsten Phänomene des Menschen überhaupt ist. U n d daß wir erst am Anfang stehen, es wissenschaftlich zu untersuchen und zu begreifen. Aber um die heilsame Wirkung davon zu erfahren, muß man nicht viel wissen, man muß es nur öfter tun. U n d deshalb zum Schluß noch einer meiner Lieblingswitze: „Ein Fallschirmspringer zieht die Leine. Der Schirm öffnet sich nicht. Er zieht die Rettungsleine. Verdammt. Nichts passiert. Er fällt und fällt. Da plötzlich sieht er, wie jemand ihm entgegengeflogen kommt. Er denkt: der Mann ist meine Rettung und ruft: Können Sie vielleicht Fallschirme reparieren? Nein, schreit der im Vorbeifliegen. Ich repariere nur Gasöfen!" Wer zuletzt lacht, stirbt fröhlich. - Oder er hat den W i t z nicht verstanden. Lach und die Welt lacht mit dir. Schnarche und du schläfst allein! U n d wenn euch noch ein guter Witz einfällt, schickt mir eine E-Mail. Ich heiße Dr. Eckart von Hirschhausen und meine Homepage heißt: www.hirschhausen.com. Hirsch-Hausen so wie Reh-
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Hütte. N u r eben ganz anders. Und wenn ihr nicht alles komisch gefunden habt von den Beispielen, wartet mal bis heute nacht. Schließen möchte ich mit einem Gedicht von Christian Morgenstern: „Korff erfindet eine Art von Witzen, die erst viele Stunden später wirken. Jeder hört sie an mit Langeweile. Doch als hätt ein Zunder still geglommen. Wird man des nachts im Bette plötzlich munter. Selig lächelnd wie ein satter Säugling." Und das wünsche ich euch auch.
Walter Krämer
Spiegel- oder Zerrbild was zeigt uns die Statistik? an hat behauptet, die Welt werde durch Zahlen regiert," sagte Goethe einst zu Eckermann. „Das aber weiß ich, daß die Zahlen uns belehren, ob sie gut oder schlecht regiert werde.' Aber so einfach, wie Goethe dachte, ist das leider nicht. Wie viele Menschen kamen im Jahr 2004 in Deutschland im Straßenverkehr ums Leben? Die Statistik sagt: 5844. Nun wird jemand vom Bus überfahren und stirbt drei Wochen später an den Folgen der Verletzung. Verkehrstoter oder nicht? In der D D R mußte man binnen dreier Tage sterben, sonst trat man in der Statistik der Verkehrstoten nicht auf. In Westdeutschland dagegen hatte und hat man für das Sterben einen Monat Zeit. Und so ziehen sich die vieldeutigen Begriffe durch alle Zweige der beschreibenden Statistik. Wer kennt nicht die ewigen Debatten zur „wahren" Arbeitslosigkeit? J e nachdem, wen man als arbeitssuchend und verfügbar zählt, und je nach Definition des Nenners der Arbeitslosenquote (mit oder ohne Selbständige, Soldaten, Beamte, Bauern usw.), kommt man in Deutschland auf jede Quote zwischen neun und vierzehn Prozent. Hierzulande zählt als arbeitslos, wer (I) mindestens 15 Stunden in der Woche gegen Entgelt arbeiten will, (II) nicht nur vorübergehend Arbeit sucht, (III) älter als 15 und jünger als 66 Jahre ist, (IV) dem Arbeitsmarkt unmittelbar zur Verfügung steht, sowie (V) bei einem Arbeitsamt offiziell als arbeitssuchend gemeldet ist. Es ist also gar nicht so einfach, in Deutschland amtlich arbeitslos zu sein. Wer nur eine Teilzeitarbeit von weniger als 15 Stunden oder eine Ferienstelle sucht, wer wegen Krankheit oder Umschulung dem Arbeitsmarkt vorübergehend nicht zur Verfügung steht oder die Suche per Arbeitsamt ganz einfach aufgegeben hat, der oder die ist damit auch nicht arbeitslos. So gesehen sind die amtlichen Zahlen also viel zu klein.
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Walter Krämer
Anderswo ist man sogar noch restriktiver. In Frankreich zählen Teilzeitarbeitslose, die keine Vollzeitstelle suchen, überhaupt nicht mit, auch bei mehr als 15 gewünschten Wochenstunden nicht, und in England zählt man nur solche Menschen als arbeitslos, die auch Arbeitslosenunterstützung erhalten. Mit anderen Worten, wenn die Unterstützung ausläuft, ist auch die offizielle Arbeitslosigkeit vorbei. Aber auch weitergehende Definitionen kommen vor. In den USA z. B. ist auch ein 70jähriger Rentner, der vergeblich für einige Stunden in der Woche nach einer kleinen Hausmeisterstelle sucht, im Sinne der Statistik arbeitslos. Dort ist die Statistik also viel umfassender. Ein Begriff, der unserer intuitiven Vorstellung von „arbeitslos" vermutlich noch am nächsten kommt, ist die sogenannte „Erwerbslosigkeit". Er liegt z.B. den Zahlen von EUROSTAT (das Statistische Amt der Europäischen Gemeinschaft) oder der Internationalen Arbeitsorganisation ILO zugrunde. Erwerbslos im Sinne dieser Statistik ist jede Person im arbeitsfähigen Alter, die gegen Entgelt arbeiten will, ganz gleich wie lange und unabhängig davon, ob beim Arbeitsamt gemeldet oder nicht, und der oder die bei diesem Bemühen nicht erfolgreich ist. Auf den ersten Blick scheinen also die Erwerbslosen die Arbeitslosen zu umfassen. Denn für den Status der Erwerbslosigkeit ist es unerheblich, ob man als arbeitssuchend gemeldet ist; auch die Hausfrau/der Hausmann, der oder die gerne wieder ins Berufsleben zurückkehren möchte, Bummelstudenten, die nur mangels Berufsaussichten noch studieren, oder Langzeitarbeitslose, die aus Hoffnungslosigkeit oder wegen Wegfall ihrer Leistungsansprüche die Meldung beim Arbeitsamt zurückgezogen haben, gehören hier dazu. Die Gesamtheit dieser „heimlichen Arbeitslosen", auch „Stille Reserve" genannt, umfaßt in Deutschland je nach Zählweise zwischen einer und drei Millionen Menschen. Auf den zweiten Blick schließen aber die Erwerbslosen auch viele „offizielle" Arbeitslose aus, die heute noch in der Statistik erscheinen. Nämlich alle diejenigen, die in Wahrheit keine Arbeit suchen und nur zum Abschöpfen verschiedener Vergünstigungen beim Arbeitsamt als arbeitslos gemeldet sind. Auch davon gibt es mehr als genug - diese Menschen sind zwar amtlich arbeitslos, aber nicht erwerbslos, da an legal bezahlter Arbeit wenig interessiert. Nach einer Umfrage des Bonner infas-Instituts vom Frühjahr 2000 suchen nur die Hälfte aller beim Arbeitsamt gemeldeten Personen tatsächlich eine Stelle. Die wichtigsten wahren Gründe für den Gang zum Arbeitsamt waren (Mehrfachnennungen möglich): „Ich möchte sicherstellen, daß die Zeit der Arbeitslosigkeit später bei der Rentenberechnung berücksichtigt wird" (83 Prozent). „Ich bin auf Leistungen des Arbeitsamtes angewiesen" (76 Prozent). „Ich überbrücke die Zeit bis zum Beginn meiner neuen Stelle bzw. Ausbildung" (57 Prozent). „Ich überbrücke die Zeit bis zum Ruhestand" (21 Prozent), „Das Sozialamt verlangt, daß ich mich arbeitslos melde" (16 Prozent), „Ich muß mich arbeitslos melden, um ausreichend Unterhalt von meinem geschiedenen Ehepartner zu bekommen" (4 Prozent) und „Ich überbrücke die Zeit bis zum Zivil- oder Wehrdienst" (2 Prozent). Mit anderen Worten, das Arbeitsamt ist für viele eine Sozialbehörde und keine Arbeitsplatzvermittlungsstelle. Auf der anderen Seite fallen aber viele Menschen durch eine kreative Auslegung des Verfügbarkeitskriteriums aus der Arbeitslosenstatistik heraus, die sich selbst durchaus als arbeitssuchend sehen - Mutterschaftsurlaub, Umschulung, Krankheit, Scheinselbständigkeit und Frühverrentung lassen die Arbeitslosenzahlen schrumpfen. Unter anderem dadurch hat man in den Niederlanden die international bewunderte Arbeitslosenquote von derzeit 6 Prozent erreicht, die Hälfte der deutschen: Von einer Kündigung bedrohte Arbeitnehmer werden kurzerhand erwerbsun-
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fähig geschrieben, und die Arbeitslosenversicherung wird zur „Erwerbsunfähigkeitsversicherung" gemacht. Mittlerweile ist jeder zehnte Holländer im erwerbsfähigen Alter als erwerbsunfähig eingestuft und damit gegen Arbeitslosigkeit geimpft. Oder man steckt die Arbeitslosen ins Gefängnis. In den USA sitzen derzeit zwei Millionen Menschen hinter Gittern, die Hälfte davon jung und schwarz, die ansonsten die Arbeitslosenzahl vergrößern würden.
Meßlatte versus Gummiband Viele anscheinend objektive Meßlatten, mit denen wir die Welt in Zahlen fassen, gleichen also eher einem Gummiband. Aber nicht, weil die Statistiker des Messens wenig fähig wären, sondern weil die Wahrheit eben mehr als ein Gesicht besitzt. Wie viele Kranke oder Analphabeten gibt es in der Bundesrepublik? Auch vom reinen Abzählen und Erfassen abgesehen ist die Antwort alles andere als einfach, da grundsätzlich niemals eindeutig festzulegen. Zu Kaiser Wilhelms Zeiten war ein Analphabet, wer bei der Musterung statt mit seinem Namen mit einem Kreuz unterschrieb. Heute ist nach dem „Bericht zur Bekämpfung des Analphabetismus in der Bundesrepublik" bereits der- oder diejenige ein Analphabet, wer „sich nicht beteiligen kann an all den zielgerichteten Aktivitäten [seiner] Gruppe und ... Gemeinschaft, bei denen Lesen, Schreiben und Rechnen erforderlich" sind. Ein großer Teil der in letzter Zeit so beklagten Zunahme der Analphabeten in Deutschland auf heute angeblich über vier Millionen ist damit auch eine Folge einer Ausweitung der Definition. Dito Krankheit. Laut dem deutschen statistischen Bundesamt ist fast jeder zehnte Deutsche heute schwerbehindert. Aber nicht, weil die Deutschen wirklich immer kränker würden, sondern weil die Auffassung, was „schwerbehindert" eigentlich bedeutet, heute weiter greift als früher, vom Rest des Krankheitsspektrums ganz zu schweigen. Wenn man etwa die Weltgesundheitsorganisation beim Wort nimmt, die Gesundheit, also das Gegenteil von Krankheit, als einen „Zustand völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens" definiert, so ist wohl jeder Mensch auf Erden heute krank. Auch das soziale Umfeld beeinflußt unsere Auffassung von Krankheit und Gesundheit. Bäuerinnen z.B. kommen in der Regel nicht auf den Gedanken, Rückenschmerzen als Krankheit zu bewerten und deshalb zum Arzt zu gehen, während das Stadtfrauen viel öfter tun. Fortgesetztes Husten ist nach einer Untersuchung des Soziologen E. K. Koos für 77 Prozent der Oberschicht ein Grund für einen Arztbesuch, in der Unterschicht dagegen nur für 23 Prozent. Bei chronischer Müdigkeit ist das Verhältnis 80:19, bei Blut im Stuhl 98:60 und bei Schmerzen im Brustkorb 80:31. Wer als „krank" gilt, hängt also auch davon ab, wo man wohnt und wieviel Geld man hat. Daß selbst ein- und dieselben Personen bestimmte Begriffe einmal so und einmal anders auffassen, zeigt eine der letzten Volkszählungen in Kanada, die eine sprunghafte Zunahme der „Ureinwohner" ausgewiesen hatte. Aber nicht, weil diese wirklich zahlreicher geworden wären, sondern weil immer mehr Kanadier sich selbst als Ureinwohner sehen. Ein gestiegenes Selbstbewußtsein plus verschiedene soziale Vergünstigungen lassen diesen Status immer attraktiver werden, und so stuft sich ein Kanadier, der unter seinen 16 Ur-Ur-Urgroßvätern einen Indianer oder Eskimo besitzt, heute gern als Ureinwohner ein.
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Selbst auf den ersten Blick so harte Fakten wie Statistiken zu Mord und Totschlag oder Säuglingssterblichkeit sind auf den zweiten Blick alles andere als hart. Damit etwa ein Säugling sterben kann, muß er zunächst lebend geboren sein. Aber wann ist ein Säugling lebend geboren? In der Schweiz und in Deutschland gilt ein Säugling als lebend geboren, und kann demnach auch sterben, wenn das Herz schlägt oder die Atmung funktioniert. In der D D R dagegen galt ein Kind erst dann als lebend geboren, wenn das Herz schlug und die Atmung funktionierte. Und in manchen Ländern Südamerikas gilt ein Säugling erst dann als lebend geboren, und kann erst dann im Sinne der Statistik sterben, wenn er getauft ist. Alle vorher gestorbenen Kinder, und das sind nicht wenige, tauchen in der Statistik der Säuglingssterblichkeit nicht auf.
Arm durch falsche
Statistik
Die wohl dramatischsten Verzerrungen unseres Weltbildes erzeugen unterschiedliche Begriffsbestimmungen bei der Betrachtung von Reichtum und Armut in modernen Industrienationen. Die Vereinten Nationen nennen einen Menschen arm, der weniger als einen Dollar täglich zum Leben zur Verfügung hat. Nach einer Schätzung der Weltbank sind danach rund eine halbe Milliarde Menschen heute arm. Das ist nur noch die Hälfte der Zahl von 1980, aber schlimm genug. Die deutsche Bundesregierung dagegen, in ihrem vor wenigen Wochen vorgelegten zweiten Armuts- und Reichtumsbericht, definiert als arm, wer weniger als 60 Prozent des deutschen Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat. Diese Armutsgrenze lag im Jahr 2003 nach Abzug aller direkten Steuern und Sozialabgaben bei 938 Euro pro Kopf und Monat und trennt 13,5 Prozent der Bevölkerung als „arm" vom Rest der Deutschen ab. Ein Mensch mit 900 Euro im Monat oder 30 Euro am Tag zur freien Verfügung ist damit, obwohl in Kalkutta ein Krösus, in Hamburg arm. Natürlich muß man dabei auch die abweichenden Lebenshaltungskosten bedenken. Aber ein großer Teil der etwa vom DGB so sehr beklagten „Armut" in westlichen Industrienationen ist ein reines Artefakt einer völlig weltfremden und widersinnigen Begriffsbestimmung. Das fängt mit der ausschließlichen Fixierung auf das Einkommen an. Als die Menschen in Europa noch von Ackerbau und Viehzucht lebten, war das Vermögen und nicht das Einkommen, war Land- und Viehbesitz das Kriterium für arm und reich, und so ist das in vielen Entwicklungsländern dieser Welt noch heute. „Wer sechs Roß im Stall stehen hat, ist ein Bauer und sitzt im Wirtshaus beim Bürgermeister und beim Ausschuß," beschreibt Ludwig Thoma die Sozialstruktur im dörflichen Bayern des Jahres 1900. „Wenn er das Maul auftut und über die schlechten Zeiten schimpft, gibt man acht auf ihn ... Wer fünf Roß und weniger hat, ist ein Gütler und schimpft auch. Aber es hat nicht das Gewicht und ist nicht wert, daß man es weitergibt. Wer aber kein Roß hat und seinen Pflug von ein paar mageren Ochsen ziehen läßt, der ist ein Häusler und muß das Maul halten." Neben Kühen und Pferden gehört zum Vermögen auch das kürzlich zum Unwort des Jahres gewählte „Humankapital". Eine gute Hochschulausbildung etwa ist ein wertvoller Bestandteil unseres Vermögens; ein Diplomingenieur, auch wenn vorübergehend ohne Arbeit und von weniger als 938 Euro im Monat lebend, ist natürlich niemals arm, genausowenig wie die Hunderttausenden von Studenten, die nicht mehr zu Hause wohnen und mit Ihren BAföG-Sätzen statistisch zu den Armen unseres Landes zählen.
Spiegel- oder Zerrbild - was zeigt uns die Statistik?
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Aber auch das Einkommen selbst wird falsch gemessen. In Deutschland zählen etwa die sogenannten „Arbeitgeberbeiträge" zur Sozialversicherung, obwohl sachlich Teil des Bruttolohnes, nicht zum Einkommen der Arbeitnehmer. Das internationale LIS-Projekt dagegen („Luxembourg Income Study") rechnet sämtliche zu welchen Zwecken auch immer geleisteten „Arbeitgeberbeiträge" dem Einkommen des Arbeitnehmers zu. Bei einer Fixierung auf das verfügbare Einkommen ist das nicht so wichtig, bei einer Bruttobetrachtung aber schon. Ebenfalls im Einkommen nicht mitgerechnet werden in Deutschland viele monetäre und reale Staatstransfers. Die vermeintlich kostenlose Hochschulausbildung von zwei Kindern etwa, die anderswo von der Familie zu bezahlen wäre, würde, falls, wie es sich gehört, dem Einkommen der Familie zugeschlagen, jeden deutschen Armenhaushalt weit über jede Armutsgrenze tragen. Nach aktueller Praxis unberücksichtigt bleibt auch das Einkommen aus Schattenwirtschaft und Haushaltsproduktion. Wie man sich leicht durch einen Besuch in einem Baumarkt überzeugt, erzeugen moderne Haushalte viele früher am Markt gekaufte Dienstleistungen und Güter heute selbst; die so in deutschen Haushalten erwirtschafteten Einkommen belaufen sich inzwischen auf über 500 Milliarden Euro jährlich, aber nur rund 50 Milliarden davon, vor allem die hypothetischen Mieten bei selbstgenutztem Wohnraum, werden offiziell erfaßt. Würde man auch den Rest der Haushaltsproduktion sowie den Geldwert häuslicher Dienste wie Altenpflege, Kinderbetreuung, Kochen, Waschen, Bügeln usw. dem Einkommen zuschlagen, wie es die ökonomische Vernunft gebietet, wäre dieses im Durchschnitt über alle Haushalte um ein Drittel höher. U m weitere 15 Prozentpunkte höher wäre es bei Berücksichtigung aller illegalen Einkommen aus Schwarzarbeit. Wie die Schlagzeile „Mit dem Jaguar zum Sozialamt" aus einer deutschen Boulevardzeitung beweist, können sich viele nach offizieller Lesart „arme" Menschen in Deutschland heute einen Lebensstandard leisten, von dem neun Zehntel aller Menschen anderswo nur träumen können. Verschärft wird dieser Meßfehler beim Einkommen noch durch eine weitere Unschärfe bei der Berechnung der Armutsgrenzen für Familien. Selbst wenn man die 938 Euro pro Monat als Armutsgrenze für eine Einzelperson akzeptiert, bleibt unklar, wieviel ein Ehepaar, oder ein Ehepaar mit Kindern, zur Uberwindung der Armutsgrenze braucht. Die O E C D schlägt hier zwei Varianten vor. Nach der alten OECD-Skala brauchen zwei erwachsene Personen 170 Prozent der Mittel, um das gleiche Niveau der Bedürfnisbefriedigung zu erreichen wie eine Person mit 100 Prozent, und mit jedem Kind unter 15 Jahren steigt dieser Bedarf um weitere 50 Prozentpunkte an - die Fixkosten für Wohnung, Heizung, Fernsehzeitung usw. verteilen sich auf immer mehr Köpfe, der Bedarf pro Kopf nimmt ab. Nach der neuen Variante steigt der Bedarf für jede zusätzliche Person über 15 Jahren nur noch um 50 Prozentpunkte und für jede Person unter 15 Jahren nur noch um 30 Prozentpunkte an, und je nachdem, welche Skala man benutzt, ist eine kinderreiche Familie einmal arm und einmal nicht. Nach der alten Skala etwa hat eine Familie mit fünf Kindern und einem durchschnittlich verdienenden Ernährer kaum eine Chance, nicht statistisch arm zu sein - der ihr zugerechnete Minimalbedarf nimmt mit wachsender Zahl der Kinder so schnell zu, daß man selbst mit einem guten Einkommen bald darunter bleibt. Mit der neuen OECD-Skala dagegen wächst die Armutsgrenze nicht so schnell, und geht etwa die Armutsquote bei Kindern in Deutschland von 18,6 Prozent auf 15,0 Prozent zurück. Bei Menschen über 65 Jahren dagegen, die in der Regel keine Kinder mitversorgen müssen, steigt sie von 7,5 Prozent auf 11,4 Prozent an.
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Abseits all dieser Berechnungsprobleme sind die Armutsgrenze und die Armutsquote dann auch noch ohne Rücksicht auf ökonomische und statistische Vernunft am Durchschnittseinkommen aller Landesbürger festgemacht, und diese Fehlkonstruktion disqualifiziert diese Zahlen vollends für eine seriöse Armutsdiskussion. Denn dadurch wird man sehr schnell arm oder reich, nicht weil die persönlichen Umstände sich verändert hätten, sondern weil die Armutsgrenze sich verschiebt. Viele DDR-Haushalte, vor der deutschen Wiedervereinigung komfortabel über der DDR-Armutsgrenze liegend, wurden durch das freudige Ereignis von der neuen und höheren gesamtdeutschen Armutsgrenze quasi überrollt und lagen dann darunter - durch die Wiedervereinigung sind Hunderttausende Deutsche über Nacht statistisch gesehen verarmt. Aber auch viele ihrer Brüder und Schwestern im Westen bleiben durch die Definition der Armutsgrenze auf ewig unter dieser gefangen; wenn alle im Gleichschritt immer reicher werden, bleibt der Anteil derer, die weniger als 60 Prozent des Durchschnitts haben, immer gleich. Wie bei einem Schiff in einer Schleuse, dessen unter dem Wasser liegender Teil stets der gleiche bleibt, völlig unabhängig davon, wie hoch das Wasser in der Schleuse steigt, ist durch diese relative Armutsgrenze die Armut quasi im System verankert, die Armutsgrenze läuft wie ein Regenbogen auf ewig vor den Armen her. Was man mit der Quote derjenigen, die weniger als 60 Prozent des Durchschnitts haben, also wirklich mißt, ist weniger die Armut als die Ungleichheit. Auch die ist wohlfahrtsökonomisch schädlich, weil jede Umverteilung von reich zu arm unter sonst gleichen Umständen die gesellschaftliche Wohlfahrt steigert (der Reiche verliert in Nutzen gemessen weniger als was der Arme gewinnt), hat aber mit Armut nichts zu tun. Denn wahre Armut kann man nur verringern, indem man den Armen etwas gibt, nicht, indem man den Reichen etwas nimmt. Denn genau das wäre doch der schnellste Weg zur Beseitigung der DGB-Armut, in Deutschland und weltweit: Wir nehmen den Reichen ihre Mehrverdienste weg, dann haben alle das gleiche und die Armut ist verschwunden.
Hans J. Markowitsch
Das Ich und seine Vergangenheit Wie funktioniert unser Gedächtnis?
eginnen will ich mit einem Zitat von Ewald Hering, einem berühmten Physiologen, der 1870 feststellte: „Das Gedächtnis verbindet die zahllosen Einzelphänomene zu einem Ganzen. Und wie unser Leib in unzählige Atome zerstieben müßte, wenn nicht die Attraktion unserer Materie ihn zusammenhielte, so zerfiele ohne die bindende Macht des Gedächtnisses unser Bewußtsein in so viele Splitter, als es Augenblicke zählt." Ich denke, daß Hering damit sehr plastisch ausgedrückt hat, daß unser Gedächtnis wesentlich ist für uns als Persönlichkeit und als bewußte Individuen. Damit will ich auch die Frage stellen: Ist unser Gedächtnis, das uns zu selbstbewußten Menschen macht, vergleichbar mit dem Gedächtnis von Tieren? Wie hat Gedächtnis sich in der Evolution vermutlich entwickelt? In evolutionsbiologischer Sicht war es für das Uberleben des Individuums notwendig, sich beispielsweise über den Geruchssinn daran zu erinnern, welche Nahrung schmackhaft oder welche gar giftig ist. Ahnliches gilt für das Uberleben einer ganzen Gattung: Es war überaus wichtig, sich Aussehen und Geruch von Feinden zu merken oder den Geruch eines paarungsbereiten Partners, den wiederum auch unterscheiden zu können vom Geruch eines aggressiven Rivalen, um sich so gegen Verletzungen zu schützen und langfristig sein Leben zu erhalten. Diese Beispiele zeigen die evolutionsbiologische Bedeutung und Funktion des Gedächtnisses. Obwohl alle Tiere mehr oder minder über Gedächtnis in verschiedenen Varianten verfügen, sagen wir, daß unser menschliches Gedächtnis weit über das tierische „hinausgeht", es ist komplexer. Jeder von Ihnen hat schon mal Ausdrücke gehört wie „Kurzzeitgedächtnis" oder „Langzeitgedächtnis". Im Unterschied zur Alltagsmeinung jedoch ordnen wir in der Gedächtnisforschung das Kurzzeitgedächtnis dem Sekunden- bis Minutenbereich zu, all das, was darüber hin-
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ausgeht, dem Langzeitgedächtnis. Wir differenzieren weiterhin zwischen Neugedächtnis und Altgedächtnis. Neugedächtnis bedeutet, sich neue Informationen langfristig merken zu können, Altgedächtnis heißt, sich schon lange abgespeicherte Informationen wieder neu ins Bewußtsein zu rufen. Vielleicht noch bedeutender ist die Unterteilung des Gedächtnisses in Systeme, die in der Gedächtnisforschung seit etwa 10 bis 20 Jahren vorgenommen wird. Es werden fünf Langzeitgedächtnis-Systeme unterschieden: Das prozedurale Gedächtnis, „Priming", das perzeptuelle Gedächtnis, Wissenssystem und das episodische Gedächtnis. Alle fünf Systeme bauen aufeinander auf, wobei das „prozedurale" System am Anfang, das „episodische" am Ende der Hierarchie stehen. Auch entwicklungsgeschichtlich haben sich die Gedächtnissysteme in dieser Reihenfolge ausgebildet. D.h. also, Babys fangen an mit dem prozeduralen Gedächtnis. Das prozedurale Gedächtnis steht für motorische Fertigkeiten, die wir unbewußt abrufen, wie z. B. Fahrradfahren, Klavierspielen, Kartenspielen, Skifahren, Autofahren. Der Charakter des prozeduralen Gedächtnisses läßt sich gut am Beispiel des Autofahrens vergegenwärtigen. Auf die Frage: „Was müssen Sie beim Autofahren zuerst tun, wenn Sie vom zweiten in den dritten Gang schalten wollen?", antworten viele: „Kupplung drücken". Tatsächlich muß man aber zuerst mit dem rechten Fuß vom Gaspedal. Dieser Bewegungsablauf erfolgt also hochgradig automatisiert, wir denken gar nicht mehr darüber nach. Ähnlich unbewußt automatisiert verhält sich das zweite Gedächtnissystem, das PrimingGedächtnis. „Priming" steht für Prägung, Bahnung. Darunter ist eine höhere Wiedererkennwahrscheinlichkeit für Reize zu verstehen, denen man zuvor unbewußt begegnet ist. Beispiel: Sie hören Musik im Radio und Ihnen fällt zu der Melodie sofort der zugehörige Text ein. Ein weiteres Beispiel: Im Radio oder Fernsehen wirbt Firma A 20 Sekunden, danach Firma B und C jeweils 20 Sekunden, danach kommt wieder eine vielleicht kürzere Werbeeinblendung der Firma A mit dem Slogan: „Haben Sie schon gewählt für ...?". Die Werbestrategen gehen also davon aus, daß der erste Werbeblock unbewußt am Zuhörer bzw. Zuschauer vorbeizog, aber auf Hirnebene schon eine Art Prägung oder Bahnung hinterließ. In der Gedächtnisforschung nennen wir das: „einen Prime setzen". Die nachfolgende Werbe-Wiederholung soll dann dazu führen, die Werbung tatsächlich ins Bewußtsein zu holen, um den Konsumenten zum Kauf des Produktes zu bewegen. Das dritte System, das perzeptuelle Gedächtnis, steht für Bekanntheit, für Familiarität mit Objekten, also dafür, daß wir sicher unterscheiden können zwischen Apfel, Birne und Pfirsich, gleichgültig, ob der Apfel jetzt angebissen, rot oder grün ist; wir können ihn in jedem Fall sicher und damit auch schon bewußt von anderen Obstsorten unterscheiden. Die vierte Stufe enthält Wissen, also unser Allgemeinwissen, unser Weltwissen, d. h. Fakten, die kontextfrei eingespeichert sind, von denen wir wissen, daß sie sicher gelten. Beispiel: Paris ist die Hauptstadt von Frankreich, 2 hoch 3 ist 8 oder a^ + b^ = c^. Mit diesen vier Systemen finden wir uns schon gut im Alltagsleben zurecht. Die fünfte und letzte Stufe, das episodische oder episodisch-biografische Gedächtnis, ist etwas komplizierter. Darunter versteht man die Schnittmenge von subjektiver Zeit und dem sich erfahrenden Selbst. Das bezieht sich in erster Linie auf Erinnerung an autobiografische Erlebnisse, an Erlebnisse, die wir über eine geistige Zeitreise wieder in unser Gedächtnis zurückrufen, an Erlebnisse, bei denen wir im Regelfall auch eine Bewertung vornehmen; wir bewerten, ob die Erinne-
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rung einen freudigen oder traurigen Charakter hatte; es geht auch um Erlebnisse, bei denen wir genau die Umstände erinnern, also den Kontext, und bei denen unser Gedächtnis synchron - das ist wichtig - emotionale und kognitiv-rationale Anteile zusammenführen muß, um die Erinnerung repräsent zu machen. Damit ist das Gedächtnissystem gleichzeitig am anfälligsten für verschiedene Formen von Hirnschäden oder auch psychische Ausnahmesituationen, Streß, Traumatisierungen; in diesen Situationen kommt es dann zu einer Desynchronisierung, einem Auseinanderlaufen zwischen den emotionalen und den kognitiv-rationalen Anteilen. Wichtig ist auch festzuhalten: Gedächtnis und Gehirn sind nicht vergleichbar mit Information und Computer. Das Gedächtnis, insbesondere das menschliche Gedächtnis, ist hochgradig dynamisch, es ist zustandsabhängig; wir schaffen uns unsere Erinnerungen selbst, sie entsprechen nicht unbedingt dem, was zuvor in der Außenwelt, in der Umwelt abgelaufen ist. In einem depressiven Zustand beispielsweise rufen wir eher negative Erlebnisse ab oder färben diese negativ ein, in einem euphorischen Zustand dagegen die positiven. Gleichzeitig bedeutet die Zustandsabhängigkeit und Subjektivität von Erinnerung, daß sich unser Gedächtnis im Lauf des Lebens modifiziert, daß Erinnerungen mit jedem Abrufen auch wieder in dem gegenwärtigen Zustand neu eingespeichert werden und damit auch wieder den ursprünglichen Charakter verändern. Das kann im Extremfall dazu führen, daß es zu dem, was man in der Wissenschaft „False Memory Syndrom" nennt, kommen kann, also zu fehlerhaften falschen Erinnerungen, was insbesondere natürlich bedeutend ist in Situationen, wo es um Zeugenaussagen geht. Auch im Alltag kann ein „False Memory Syndrom" auftreten, wenn man beispielsweise stark ermüdet oder erschöpft ist, man bringt dann z. B. oft Ort, Zeit und Personen durcheinander. Für die Zustandsabhängigkeit der Erinnerung ist auch verantwortlich, daß wir als Erwachsene uns kaum mehr an Ereignisse aus unserer frühen Kindheit erinnern, d. h. die ersten zwei, drei Lebensjahre sind für uns eine „tabula rasa". Das hängt damit zusammen, daß das Einspeichern beim Kleinkind sich sehr massiv von dem Einspeichern beim Erwachsenen unterscheidet, und deswegen kann der Abruf im Erwachsenenalter auch nicht mehr in dem gleichen Zustand erfolgen, in dem man als Kleinkind die Erinnerung aufnahm. Hinzu kommen noch zwei weitere Faktoren: Kleine Kinder haben ihre Hirnentwicklung noch nicht abgeschlossen und besitzen nicht die Sprachfertigkeiten, die wir als Erwachsene haben. Unterm Strich bedeutet das, wir haben keine Erinnerung an die frühe Kindheit. Andererseits postulieren wir Gedächtnisforscher, daß wir sehr wenig vergessen. Wir können zwar nicht unbedingt jederzeit alles abrufen, aber wir haben dennoch das meiste, was wir im Laufe des Lebens langfristig eingespeichert haben, weiterhin irgendwo im Gehirn verfügbar. Kürzlich schrieb mir eine 93jährige Frau, daß sie jetzt im Alter von 93 auf einmal Gedichte wie „Des Sängers Fluch" von Ludwig Uhland oder „Die Bürgschaft" von Schiller lückenlos aufsagen könne, obwohl sie die letzten 80 Jahre nie an sie gedacht habe. Und sie wollte wissen, woher es kommt, daß sie jetzt auf einmal diese Gedichte Strophe für Strophe fehlerfrei aufsagen kann. Für mich zeigt dieser Brief zum einen: Wir vergessen wenig, wir können nur nicht zu jedem Zeitpunkt alles abrufen. Und zum anderen: In bezug auf die 93jährige Dame wäre meine Vermutung, daß in dem hohen Alter schon viele Nervenzellen verlorengegangen sind und daß deswegen Hemmprozesse, die sonst Informationen unterdrücken, nicht mehr in dem Maße stattfinden. Deshalb kehren Erinnerungen, die eigentlich wenig bedeutend für die Gegenwart sind, trotzdem wieder ins Bewußtsein zurück. Wir erleben Ähnliches im Alltag, wenn beispielsweise jemand im Urlaub in Hongkong an einen Ort kommt, wo er vor 20 Jahren schon einmal war, dort die Stra-
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ßen entlang läuft und plötzlich weiß, wenn ich jetzt noch 200 m weiterlaufe, dann kommt dahinten ein grüner Tempel. Wahrscheinlich hat man sich die letzten 20 Jahre überhaupt nicht an den grünen Tempel erinnert, wenn dann aber der Zustand bzw. die Situation ähnlich ist, dann kommt die Erinnerung wieder ins Bewußtsein zurück. Wir können in der experimentellen Psychologie über verschiedene Fragetechniken Erinnerungen abfragen. Die schwierigste Fragetechnik ist der freie Abruf ohne irgendwelche Hinweisreize. Wenn sich der Proband mithilfe dieser Fragetechnik nicht erinnert, kann man Hinweisreize geben, also wenn es etwa um Namen von Personen geht, dann kann man die ersten Buchstaben von Vor- oder Nachname vorsagen, dann kommt die Erinnerung schon leichter wieder. Die leichteste Form der Hilfestellung ist das Wiedererkennen: Man sucht nach einem Namen, gibt einfach sechs Namensbeispiele und kommt so sehr einfach auf die Lösung. D. h. man hatte den Namen gespeichert, auch wenn er zum gegebenen Zeitpunkt nicht ohne weiteres abrufbar war. Damit will ich auf die Hirnebene zu sprechen kommen, auf die Mechanismen, die in unserem Gehirn ablaufen, wenn wir Informationen einspeichern, ablegen und wieder abrufen. In der Hirnforschung herrschte lange die Tradition zu versuchen, Zuordnungen zwischen bestimmten Hirnregionen und bestimmten Funktionen zu treffen. Heute wissen wir, daß die Zusammenhänge sehr viel komplexer sind, wir sprechen demnach auch von Netzwerken, in denen die Information kreist, abgelagert, verbunden und auch wieder abgerufen wird. Ich will Ihnen im folgenden kurz darstellen, wie wir uns heute vorstellen, wie Information im Gehirn verarbeitet wird: Wir nehmen an, daß Information über unsere Sinnessysteme ins Gehirn kommt, dort erst einmal im Kurzzeitgedächtnis für Sekunden bis Minuten verbleibt und dann - das betrifft unser Wissens- und episodisches Gedächtnis - „runtergeleitet" wird in Strukturen, die wir das limbische System nennen. Das limbische System ist wichtig sowohl für die Emotions- als auch für die Gedächtnisverarbeitung. Zu diesem System gehören: der Hippocampus und der Mandelkern (Amygdala) sowie weitere Strukturen, die eher in der Hirnmitte angesiedelt sind und zu den älteren Strukturen zählen. Jede Information muß prinzipiell durch das limbische System durchgeschleust werden, sie wird hier assoziiert, verglichen; wenn der Vergleich erfolgreich ist, wird sie auch angebunden, in jedem Fall aber wird die Information bewertet hinsichtlich biologischer und sozialer Bedeutung. Was assoziiert, also angebunden werden kann, wird weitergeleitet auf die Hirnrindenebene, um dort endgültig abgelagert zu werden, wobei wir hier folgende Unterscheidung machen: Wir sagen, daß die rechte Hirnhälfte eher wichtig ist für das Abspeichern von persönlicher Information (episodisch-autobiografisches Gedächtnis), die linke eher für das Abspeichern von Fakten (Wissenssystem). Des weiteren nehmen wir an, daß, wenn Information wieder abgerufen werden soll, auch wieder hemisphären-spezifische Regionenkomplexe im vorderen und seitlichen Hirnrindenbereich (Teile des Stirnhirns und des vorderen Schläfenlappens) wichtig sind; es werden also diejenigen Netzwerke aktiviert, in denen die Information abgelagert ist; die rechte Hirnhälfte ist wichtig für unsere biografischen Erinnerungen, die linke für unser Faktenwissen. Ich will Ihnen jetzt ein paar Beispiele nennen, die verdeutlichen, wie wir zu diesen Annahmen kommen: Was die Einspeicherung angeht, sagen wir, sind Regionen im limbischen System wichtig. Wir haben einen Patienten gehabt, einen früheren Professor für Neurologie, der 1983 einen Schlaganfall erlitt, durch den links und rechts eine eigentlich recht kleine, symmetrisch gelegene Regi-
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on innerhalb des limbischen Systems „abgeschaltet" wurde. Als Konsequenz konnte der Patient keine neue Information mehr bleibend einspeichern, er blieb also im Zustand des Jahres 1983 stehen, hat durchaus alles abrufen können, was seine Kindheit und Jugend anging, erinnerte sich an seine Lehrer oder an die Straße, in der er als Kind gewohnt hat. Neue Informationen jedoch konnte er nicht mehr aufnehmen. Das zeigt, die Strukturen des limbischen Systems sind wichtig, um ähnlich wie Flaschenhälse Information aufzunehmen und dann nach Bewertung passieren zu lassen in Richtung Langzeitgedächtnis. Wenn die Flaschenhälse durch einen Schlaganfall unterbrochen oder durchtrennt sind, kann eben nichts Neues mehr auf der Ebene von Wissenssystem oder episodischem Gedächtnis eingespeichert werden. Eine andere wichtige Struktur innerhalb des limbischen Systems ist die Amygdala, wegen ihrer Form auch Mandelkern genannt. Diese Struktur bewertet Information, also extrahiert deren Bedeutungshaltigkeit. Wir haben Patienten untersuchen können, die an einer genetisch bedingten Krankheit, der Urbach-Wiethe-Krankheit, litten. Die Urbach-Wiethe-Krankheit führt zunächst zu Hautveränderungen, aber auch zu Veränderungen der Zahnstellung. Im Alter von etwa 20 bis 30 Jahren führt die Krankheit zu sehr spezifischen Ausfällen, Kalzifizierungen des Mandelkerns links und rechts. Als Konsequenz haben die Patienten massive Probleme zu differenzieren, was wichtig und was unwichtig ist. Ein Beispiel verdeutlicht das: Während der neuropsychologischen Untersuchung erzählen wir den Urbach-Wiethe-Patienten eine Geschichte, die zusammengefaßt etwa so lautet: „Ein Frau im schwarz-gelb-geblümten Kleid betritt einen Raum, im weiteren Verlauf kommt ein Mann von hinten an sie heran und erdolcht sie." Nachdem wir die Geschichte erzählt haben, schließen wir eine halbe Stunde weitere Tests an; dann bitten wir die Patienten, uns die Geschichte nochmals zu erzählen. Die Patienten berichten uns dann eher über das gelb-schwarz-geblümte Kleid der Frau und eben nicht darüber, daß sie ermordet wurde. Das zeigt, wie bedeutend einzelne Hirnstrukturen sind, um Informationen auch zu differenzieren, um sie im Hinblick auf Kategorien wie „wichtig", „weniger wichtig" zu unterscheiden. Damit kann man sich auch erklären, warum das episodische Gedächtnis nach Hirnschäden besonders anfällig ist, weil etwa auf komplexe Weise die emotionale mit der rationalen, kognitiven, faktischen Ebene synchron zusammenarbeiten muß, um ein Ereignis in seiner Gänze später repräsent zu halten. Bei der Ablagerung und Abspeicherung von Information ist, darüber sprach ich schon, vor allem die Hirnrinde wichtig. Das können wir an Patienten sehen, die beispielsweise an Demenz leiden. Wir wissen, bei Demenz ist im Grunde die gesamte Hirnrinde betroffen, d. h. es sterben sehr viele Nervenzellen ab. Das Absterben bedeutet, daß die Netzwerke sehr löcherig werden und Information, die schon abgelagert ist, so zerfällt, daß sie nicht mehr abgerufen werden kann. Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine Reihe von Patienten, die noch ihr Wissen und ihre Erinnerungen irgendwo im Gehirn gespeichert haben, die aber den Zugang verloren haben. Damit komme ich zum Abruf und Abrufstörungen. Wir haben Patienten gefunden, die insbesondere nach Schäden, die Teile des Stirnhirns vorne seitlich und Teile des Schläfenlappens betreffen, nicht mehr in der Lage sind, ihre Vergangenheit abzurufen, d. h. sie können sich zwar noch weiter sozial adäquat benehmen, können lesen, schreiben, rechnen, wissen auch, wer der Bundeskanzler oder irgendein berühmter Schauspieler oder Sportler ist, aber sie haben Details über ihre eigene Biografie entweder teilweise oder gänzlich vergessen. Wir nehmen deshalb an, daß diese Hirnstrukturen, die ich eben erwähnte, den Zugang zu abgelagerten Informationen blockieren. Wir haben das auch untersucht, indem wir einige Bielefelder Studenten gebeten
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haben, wichtige Ereignisse aus ihrem Leben zu erzählen. Diese Erzählungen haben wir auf Band aufgenommen. Anschließend haben wir die Studenten in einen Tomographen gelegt. Ein Tomograph ist ein Gerät, mit dem man das Gehirn durchleuchten und die Stoffwechselaktivität im Gehirn sichtbar machen kann. Stoffwechselveränderungen im Gehirn, das wissen wir, gehen mit Veränderungen in der Nervenzellaktivität einher. Wir konnten also mittels des Tomographen sehen, was im Hirnstoffwechsel aktiviert wird, wenn die Studenten sich an Ereignisse in ihrem Leben erinnern; wir konnten erkennen, daß die gleichen Regionen vorne seitlich bei den Studenten aktiv waren, die bei den Patienten mit Erinnerungsstörungen zerstört waren. Offensichtlich dienen also diese Regionen im Stirnhirn dazu, abgespeicherte Informationen wieder bereitzustellen. In einem weiteren Versuch haben wir eine andere Gruppe von Studenten gebeten, uns ihre Lebenserinnerungen zu schildern. Wir haben ihnen aber zusätzlich gesagt, sie sollten Erinnerungen auch hinzuerfinden. Z. B. könnte ein Student erzählen, er sei nach dem Abitur mit seiner Freundin nach Australien geflogen, habe in Melbourne einen Jeep gemietet und sei dann zum Kakadu National Park gefahren. Dort hatte der Jeep einen Achsenbruch gehabt usw. Diese Geschichte hätte sich so zutragen können, ist aber in diesem Fall erlogen. Wenn wir dann schauen, was beim Erfinden auf Hirnebene aktiviert wird, dann sehen wir, bei der wahren Erinnerung wird wieder die Hirnregion vorne seitlich aktiviert, bei den erlogenen Erzählungen findet eine Aktivierung ausschließlich hinten in der Mitte statt. Das ist eine Region, die auch für das bildhafte Vorstellen zuständig ist, und das bildhafte Vorstellen ist ja prinzipiell für das kreative Erfinden von Geschichten notwendig. Mit diesem Stichwort komme ich jetzt zur psychiatrischen Ebene, wo wir unter dem Stichwort „Dissoziative Amnesie" Patienten untersuchen, die sich auch nicht mehr an Erlebnisse, Ereignisse aus ihrem Leben erinnern, und zwar weil es offensichtlich - wie es der Ausdruck „dissoziativ" schon sagt - zu einem Auseinanderlaufen kommt zwischen den reinen Fakten und deren emotionaler Bewertung. Bei diesen Menschen verändert sich ebenfalls der Hirnstoffwechsel. Ähnlich wie bei den neurologisch geschädigten Patienten kommt es zu einer Stoffwechselverminderung in den Bereichen, die für den Gedächtnisabruf wichtig sind. Diese Bereiche haben auch besonders viele Rezeptoren für Streßhormone. Streßhormone verhindern, daß die Regionen weiterhin aktiv in den Abrufprozeß eingebunden werden können. Menschen, die beispielsweise durch ein traumatisches Erlebnis ihre Erinnerungen nicht mehr ins Bewußtsein rufen können, zeigen sowohl eine globale Verminderung des Hirnstoffwechsels, insbesondere auch in den Regionen, die mit Gedächtnis und Emotionen bzw. Affekt verbunden sind. Ein Beispiel: Ein 23jähriger Bankkaufmann erlebte, wie im Keller seines Hauses ein Feuer ausbrach. Er rannte unmittelbar aus dem Haus, hatte sich nur ganz kurz das Feuer angesehen, rief: „Feuer! Feuer!". Sein Freund, der im Haus geblieben war, rief die Feuerwehr und das Feuer wurde rasch gelöscht. Am nächsten Morgen war der 23jährige verwirrt, er meinte, er ei 17 Jahre alt, er konnte sich keine neuen Informationen mehr merken und wurde deswegen in eine Uniklinik überwiesen. Dort blieb er über Wochen, weil sich sein Zustand nicht besserte. Durch Gespräche fand man allerdings heraus, daß er im Alter von vier Jahren mit ansehen mußte, wie ein Mann in seinem Auto verbrannte. Er sah, wie die Person im Auto gegen die Scheiben hämmerte und schrie, aber niemand konnte dem Mann helfen. Seither war für den Patienten offenes Feuer unmittelbar lebensbedrohlich, und die Feuersituation jetzt in seinem eigenen Haus hat, wie wir meinen, auf Hirnebene eine Kaskade von Streßhormonen ausgelöst, die den Abruf der letzten Jahre blockierte. Immer dann, wenn der Patient an persönliche Informationen herankommen wollte, wurden die Streßhormone wieder
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aktiviert. So konnte er sich über Monate hinweg nicht an sein Leben der letzten Jahre erinnern. Durch therapeutische Maßnahmen gelang es aber im Laufe eines Jahres, ihn wieder langsam an seine Erinnerungen heranzuführen. Wir haben eine Reihe von ähnlichen Fällen, wobei bei vielen die Gedächtnisblockaden über Jahre bestehen bleiben und damit einhergehend auch die Veränderungen auf Hirnebene. Wir schließen daraus: Im Grunde ist es gleichgültig, ob jemand einen manifesten Gewebsschaden hat, also z. B. durch Schlaganfall oder einen Unfall, oder ob durch Umwelteinflüsse, also traumatische streßhafte Erlebnisse, Streßhormone freigesetzt werden und sich dadurch die Biochemie auf Hirnebene ändert. In beiden Fällen kommt es zum Ausfall des autobiografischen Altgedächtnisses. Damit, denke ich, kann man auch zeigen, wie bedeutend eine Zusammenarbeit von Neuropsychologic und Neurowissenschaft mit ihren neuen bildgebenden Verfahren ist, um das menschliche Gedächtnis besser verstehen zu können.
Hans Joachim Meyer
Wird Deutsch eine Sprache der europäischen Gesellschaft sein f
D
ie Frage, der ich nachgehen will, geht von zwei Voraussetzungen aus. Die erste Voraussetzung ist der Charakter einer Gesellschaft als Ort des öffentlichen Diskurses über das,
was für den Zusammenhalt einer Gesellschaft wesentlich ist, also über ethische Werte
und Haltungen, kulturelle Ideale und Normen, wirtschaftliche Interessen und politische Zielvorstellungen. U m die Gesellschaft als eine solche thematische und argumentative Kommunikationsgemeinschaft zu verwirklichen, ist eine gemeinsame Sprache zweifellos sehr hilfreich. Freilich gibt es unter den westlichen Ländern auch Gegenbeispiele, die trotz gewisser interner Spannungen gelingen, wie z. B. die Schweiz und Kanada. Unabhängig von der Zahl der genutzten Sprachen kann jedenfalls eine freiheitlich verfaßte Gesellschaft auf Dauer nur bestehen, wenn sie sich im öffentlichen Diskurs wie in ihrem kulturellen Leben ständig neu konstituiert. Entscheidend scheint dafür das integrierende kommunikative Interesse und nicht die sprachliche Homogenität. Die zweite Voraussetzung meiner Frage ist, daß es gegenwärtig in diesem Sinne noch keine europäische Gesellschaft gibt, obwohl die Europäische Union bereits eine mehr als fünfzigjährige Integrationsgeschichte hinter sich hat. Gewiß ist das Bewußtsein der geschichtlich gewachsenen geistig-kulturellen Gemeinsamkeit Europas weit verbreitet. Die politische Absicht, eine Markt- und Währungsgemeinschaft zu einem handlungsfähigen politischen Gebilde zu entwikkeln, basiert für viele sogar ganz wesentlich auf der Uberzeugung, daß eine solche Gemeinsamkeit besteht. Auch ist die wechselseitige Wahrnehmung des politischen Geschehens und des kulturellen Lebens in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im Wachsen begriffen. Gleichwohl werden politische Entscheidungen von europaweiter Relevanz ganz überwiegend nicht in einem europäischen Diskurszusammenhang debattiert, sondern vor allem im jeweiligen nationa-
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Hans Joachim
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len R a h m e n vor dem Hintergrund der je eigenen geschichtlichen Erfahrung, in den Kategorien des jeweils vorherrschenden politischen Denkens und unter dem Aspekt der eigenen Interessenlage. Erst dann wird die europaweite Diskussion durch regierungsamtliches Handeln zu einem europäischen Konsens zusammengefügt. Dafür war die Diskussion des europäischen Verfassungsvertrages ein ebenso eindringliches wie schockierendes Beispiel. O b w o h l in Gestalt von Konventen spezielle europäische Diskussions- und Entscheidungsgremien geschaffen wurden, kam es kaum zu einer wirklich europäischen D e b a t t e . Derzeit gibt es also fraglos wesentliche Bausteine einer europäischen Gesellschaft, doch fehlt dieser noch die integrierende Wirkung einer grenzüberschreitenden Kommunikationsgemeinschaft. O h n e einen solchen O r t europäischer D e b a t t e n wird es j e d o c h keine europäische Demokratie geben. D a m i t stellt sich die Frage, in welcher Sprache oder in welchen Sprachen die künftige europäische D e m o k r a t i e kommunizieren kann. Die gegenwärtige offizielle Sprachensituation der Europäischen U n i o n folgt einem rechtlichen Grundsatz, der zugleich einer elementaren politischen Notwendigkeit entspricht, damit ein solcher Staatenverbund überhaupt entsteht, nämlich dem Prinzip der Gleichberechtigung. D a h e r sind die 23 Amtssprachen der 25 Mitgliedsstaaten zugleich Amtssprachen der U n i o n . Es ist wohl evident, daß dies entweder die Handlungsfähigkeit der U n i o n ernsthaft beeinträchtigt oder in der Realität zu einer reinen Fiktion wird. In der Tat ist einerseits Europa gegenwärtig kein Raum des gemeinsamen öffentlichen Diskurses und andererseits hebt jetzt schon die kommunikative Realität Europas den Anspruch aller Sprachen auf Gleichberechtigung faktisch auf. Was aber k ö n n t e die Perspektive der europäischen Sprachwirklichkeit sein? Vielen - jedenfalls in Deutschland - scheint die Frage müßig, weil sie die Antwort schon zu wissen meinen. F ü r sie ist selbstverständlich Englisch die künftige europäische Gemeinsprache, wobei nicht wenige dann gern hinzufügen, heute sei Englisch nun einmal wie Latein im Mittelalter die Lingua franca. I n diesem wirklich grotesken Mißverständnis ist im Grunde das ganze Problem bereits enthalten. D e n n in einer solchen Behauptung werden zwei Sachverhalte zusammengedacht, die nicht nur geschichtlich nichts miteinander zu tun haben, sondern die auch aus linguistischen Gründen deutlich auseinander gehalten werden müssen. In der Tat war Latein im Mittelalter die Sprache, in der gedacht und formuliert wurde. Latein war die Sprache der Kirche, der Gelehrten, der Gerichte und der Politik. Latein war die europäische Sprache der Erkenntnis und des geistigen Fortschritts. J e n e s zu dieser Zeit im östlichen Mittelmeerraum verwendete Idiom hingegen, für welches damals die Bezeichnung Lingua franca geprägt wurde, war ein mit griechischen und arabischen Elementen versetztes Italienisch, das von Seeleuten und Kaufleuten zur Verständigung bei Geschäften und gemeinsamen Arbeitshandlungen verwendet wurde. In der Dürftigkeit seines lexikalischen Materials und in der Schlichtheit seiner Strukturen wird es dem heute weltweit benutzten Bad Simple English oder B S E durchaus oft vergleichbar gewesen sein. Jedenfalls lieferte sein N a m e den linguistischen Begriff für jenen weltweit zu findenden Typ grenzüberschreitender Verkehrssprachen, die durch zwei wesentliche Merkmale charakterisiert sind: Sie sind, erstens, auf die kommunikativen Zwecke des Informationsaustausches eingeschränkt, und für diesen k o m m t , zweitens, ein im Vergleich zur Ausgangssprache reduziertes Sprachinventar zum Einsatz. Freilich würden wir es uns zu einfach machen, diese beiden Merkmale per se umgekehrt mit einem geringen Anspruchs- und Leistungsniveau gleichzusetzen. Ein heute besonders wichtiger Fall der Verwendung des Englischen als einer Lingua franca ist nämlich die internationale K o m -
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munikation der Naturwissenschaften, die sich bekanntlich ganz überwiegend des Englischen bedient. Dennoch treffen auch hier die beiden Charakteristika zu, die für eine Lingua franca wesentlich sind. Für die wiederkehrenden Textarten der mündlichen wie der schriftlichen Kommunikation der Naturwissenschaften erweist nämlich ein Vergleich mit kommunikativen Vorgängen, die während der eigentlichen Forschungsprozesse stattfinden, daß die konkreten Texte im Gegensatz dazu, erstens, eine weithin standardisierte Form und Abfolge der Informationsweitergabe einhalten und daß sie sich, zweitens, in hohem Maße wiederkehrender sprachlicher Mittel und Muster bedienen. Besonders gut ist dieser Sachverhalt analysiert für den sogenannten research article, der insbesondere von Tom Huckin und John Swales untersucht worden ist. Naturgemäß fallen in der naturwissenschaftlichen Kommunikation zunächst die international gültige Terminologie und die in den mathematisierten Wissenschaften häufig verwendeten Formeln ins Auge. In der Tat wird man sagen können, daß Formeln die Höchstform einer internationalen Lingua franca darstellen. Die angemessene Beherrschung des naturwissenschaftlichen Englisch zur adressatenorientierten Informationsweitergabe erweist sich jedoch erst durch den wirkungsvollen Einsatz der rhetorischen Strategien und ihres sprachlichen Mittel- und Formenbestandes. Auch der relativ hohe Standardisierungsgrad dieser Textarten hebt den kommunikativen Anspruch, der an die Textautoren gestellt wird, keinesfalls auf. Es ist dies allerdings ein Anspruch, der sich nicht aus dem Englischen als naturwissenschaftlicher Lingua franca ergibt, sondern aus der geschichtlich gewachsenen Rhetorik des akademischen Englisch. Anders gesagt, obwohl das naturwissenschaftliche Englisch in dem Sinne eine Lingua franca ist, daß es als internationale Verkehrssprache auf den kommunikativen Zweck der Informationsweitergabe begrenzt ist und sich dafür eines begrenzten Formen- und Mittelinventars bedient, unterwirft sie den Nutzer gleichwohl dem rhetorischen Leistungsanspruch einer bestimmten Kultur. Wer diesen Leistungsanspruch nicht beherrscht oder sich ihm verweigert, wird, wie Michael Clyne gezeigt hat, kulturell diskriminiert. Damit stellt sich schon für den Bereich des für eine Lingua franca typischerweise eingeschränkten Kommunikationszwecks die Frage, ob es ein International English gibt, das sich von seinen geschichtlich-kulturellen Wurzeln so weit gelöst hat, daß es keiner bestimmten Nationalvarietät des Englischen zugeordnet werden kann. Michael Clyne hat entschieden und mit guten Gründen bestritten, daß ein solches Konstrukt der Realität entspricht: „Wie viele Menschen auch zum Englischen als Mittel zur interkulturellen Verständigung greifen - die Normsetzer sind und bleiben die Mitglieder des inneren Kreises mit der einen oder anderen Existenzform des Englischen (Britisch, Amerikanisch usw.), denen letztendlich die Sprache gehört. Von Nichtmuttersprachlern wird weiterhin erwartet, daß sie die englische Sprache so verwenden wie die Englischsprachigen aus dem inneren Kreis. Das gilt nicht nur für die grammatische Ebene, sondern auch, und vielleicht noch mehr, für die Pragmatik und die Diskursregeln." Es geht aber nicht nur darum, daß auch eine Lingua franca sich nie ganz von ihrer sprachlichkulturellen Herkunft lösen kann, weil es eben keine Kommunikation ohne Pragmatik und Rhetorik gibt. Entscheidend ist vielmehr, daß eine lebendige Sprache Teil einer geschichtlich gewachsenen Kultur ist, weil in dieser Sprache gedacht wird und weil nur im Zusammenhang mit einer Sprache gedacht werden kann. Sprache dient eben nicht nur der Übermittlung und Klärung von Informationen und Handlungsanweisungen. Sprache ist vielmehr aktive Teilhabe am geistigen Leben einer Gesellschaft, an deren Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Jedes individuelle Den-
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ken steht in einem dynamischen Kontinuum, in dem die Sprache als vorgefundenes und bereits vielfach vorgeprägtes Mittel zum Ausdruck von Inhalt und Absicht dient und sie zugleich das Material für kreative Neuformulierungen bietet. In diesem Sinne ist jede Sprache nicht nur aufbewahrte Kultur, sondern auch Möglichkeit zur Teilhabe am fortdauernden kulturellen Wandel. Wer eine Sprache nicht nur zur Weitergabe von Informationen und zur Organisation von Handlungen nutzen will, sondern als intellektuelles Potential, der kann Sprache nicht nur wie ein Kleid überziehen, sondern sie muß seine zweite Haut werden. Gewiß ist es möglich, daß jemand eine andere Sprache wirklich zu beherrschen lernt. Aber gerade wer sich dieses Ziel setzt, wird sich um so mehr mühen, jene Normen zu verinnerlichen und getreulich zu befolgen, die ihm die neue Sprachgemeinschaft aufgibt. Und diese Sprachgemeinschaft ist immer zugleich eine Kulturgemeinschaft. Will der Nichtmuttersprachler aber nicht nur Gast sein, sondern an der ständigen Weiterentwicklung dieser Sprache selbst teilhaben, dann muß er sich auch voll für die neue Sprache entscheiden. Denn nur wenige - so zeigt die Erfahrung - können tatsächlich und nicht nur wie begabte Schauspieler in ihren verschiedenen Rollen mit ihrer ganzen Persönlichkeit in mehr als einer Sprache voll und gleichberechtigt zu Hause sein. Daher führen auch die Überlegungen von Marco Modiano und David Graddol nicht weiter, neben den britischen und amerikanischen Varianten des Englischen die Existenz einer eigenen, als „Euro-English" oder „Mid-Atlantic English" bezeichneten Variante für nichtmuttersprachliche europäische Englischsprecher anzunehmen, nur weil diese dazu neigen, Elemente aus dem britischen und dem amerikanischen Englisch zu kombinieren und lexikalische Internationalismen aus ihren eigenen Sprachen zu anglisieren (wie z. B. problematize) oder auch semantisch zu verändern (wie z. B. bei actual oder eventual). Für den Sprachunterricht mag ein solches „EuroEnglish" ein realitätsgemäßes Ziel sein. Modianos Hoffnung jedoch, ein kulturneutrales EuroEnglish würde Europäern helfen, „to retain their divergent cultural distinctiveness" und sogar „to counteract the impact of Anglo-American cultural, linguistic, and ontological imperialism" ist leider nichts anderes als eine sympathische Illusion. Wie einflussreich allerdings gerade in Deutschland die Vorstellung ist, man könne den Kommunikationsproblemen einer europäischen Demokratie durch den Ausweg entgehen, Englisch zur europäischen Gemeinsprache zu machen, ist erst unlängst durch den entsprechenden Vorschlag des langjährigen Verfassungsrichters und angesehenen Rechtsgelehrten Paul Kirchhof deutlich geworden. Bemerkenswert an seiner Argumentation ist, daß Kirchhof mit großem Nachdruck den Zusammenhang zwischen der „kulturelle(n) Eigenart eines Staatsvolkes" und seiner Sprache herausarbeitet und darin geradezu eine Voraussetzung nicht nur für „Einheit und Zusammenhalt", sondern auch für die Begründung von Demokratie und für den Ausdruck von Freiheit erkennt. In der Tat widmet er etwa zwei Drittel seines Vortrages „Nationalsprachen und Demokratie in Europa" dem Zusammenhang zwischen Sprache und politischem Handeln, wie er sich in den europäischen Gesellschaften vollzieht und den er in eindrucksvoller Weise auf die enge Beziehung zwischen Sprache und Gedanken und zwischen Sprache und Geschichte gründet. Kirchhof betont denn auch, angesichts des „Gebrauch (s) von Englisch als Verkehrssprache in vielen Lebensbereichen", daß der Mensch „seinen Anspruch auf demokratische Teilhabe durch Beteiligung am öffentlichen Leben in der ihm vertrauten Muttersprache" vollzieht und „den Zugang zur eigenen Kultur und damit zur europäischen Identität in der eigenen Sprache, ihrer Sichtweise und Begrifflichkeit, ihrer Dichtung und Kultur" erfährt. Gleichwohl plädiert er in
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einer überraschenden Wendung dafür, Englisch in den Rang einer gemeineuropäischen Sprache zu erheben, weil nur so die Öffentlichkeit als „Sauerstoff der Demokratie" die europäische Demokratie zum Atmen bringe. Ich gestehe, daß für mich dieser argumentative Sprung nicht nachvollziehbar ist. In welcher Sprache denkt denn nun die europäische Demokratie und wie verhält sich dies zum geistigen Hintergrund der europäischen Demokratien? Kirchhof erörtert das Konfliktpotential seines Vorschlags explizit nicht, scheint es aber zu ahnen, wenn er abschließend versucht, Bögen zu schlagen zwischen der Pflege der eigenen Sprache und dem Hinwirken „auf eine Staaten übergreifende Verständigung in einer Sprache" und ganz generell zwischen „kulturelle (r) Verwurzelung" und „entwicklungsoffene (r) Beweglichkeit". Bei allem Respekt vor einem verdienstvollen und mit Recht hochgeachteten Juristen scheint mir auch dieser Vorschlag dem unauflösbaren Zusammenhang zwischen dem geistigen Leben einer Gesellschaft und ihrer Sprache nicht gerecht zu werden. Im Unterschied zu den linguistischen Konstrukten eines Euro-English oder eines International English glaube ich allerdings, daß man diesen Vorstoß politisch ernst nehmen muß. Denn zweifellos entspricht die Idee, Englisch als europäische Gemeinsprache einzuführen, maßgeblichen Tendenzen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, jedenfalls in Deutschland, aber natürlich auch in den USA. Machen wir uns also klar, was dieser Vorschlag - und zwar ganz offensichtlich entgegen Kirchhofs Absicht - in der Realität bedeutete. Erstens wäre völlig unvermeidlich, daß Englisch als europäische Gemeinsprache die anderen europäischen Sprachen in einen inferioren Status bringen würde - zunächst in der Politik und in der Wirtschaft, dann in der Wissenschaft und in der Kultur. Denn in diesem amtlich privilegierten Medium würde mehr und mehr von dem verhandelt, was für das Leben einer Gesellschaft bedeutsam ist. Die Folgen für die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften und damit für das Niveau des europäischen Diskurses wären verheerend. Eben auf jenen Gebieten, auf denen die Einheit von Sprache und Denken im Erkenntnisprozeß besonders eng ist, würde Englisch durch das zunehmende Gewicht der Europäischen Union immer stärker an Einfluß gewinnen und das kulturelle Erbe der anderen Sprachen immer bedeutungsloser und unbekannter werden. Es muß daher befürchtet werden, daß durch eine solche Entwicklung die Lebenskraft der europäischen Demokratie nicht gestärkt, sondern im Gegenteil langfristig geschwächt würde, weil sie ihre geschichtlichen Wurzeln verlöre. Zweitens hätte die Europäische Union auf diese Weise ihre Chance verspielt, ein eigenes geistiges und politisches Profil zu entwickeln. Denn das Englisch, das die künftige europäische Gesellschaft dominierte, wäre ja - wie weltweit zu sehen ist - nicht eine europäische Variante des Englischen, also nicht das britische Englisch, sondern das amerikanische Englisch. Auch dieses existiert zwar in mehreren Varianten, steht aber insgesamt für den American way of life. Europa würde also in jeder Hinsicht zu einer Dependance der USA. Daß dies der Wunsch maßgeblicher Kreise in den USA ist, kann man schwerlich übersehen. In der amerikanischen Zeitschrift „Foreign Policy" war schon 1997 von David Rothkopf unter der Uberschrift „In Praise of Cultural Imperialism?" zu lesen: „It is in the general interest of the United States to encourage the development of a world in which the fault lines separating nations are shared by bridged interests. And it is in the economic and political interests of the United States to ensure that if the world is moving toward a common language, it be English; that if the world is moving toward common telecommunication, safety, and quality standards, they be American; and that if common values are being developed, they be values with which Americans are comfortable."
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Es ist der alte Traum von der einen Sprache und der einen Macht, die dadurch Frieden schafft, daß alle das Gleiche denken, wünschen und sagen. Nur daß es jetzt nicht durch den Turmbau zu Babel oder durch den Klassenkampf, sondern durch den Wettbewerb erreicht werden soll - und zwar durch einen Wettbewerb unter ungleichen Bedingungen und mit zerstörerischen Konsequenzen. Allerdings gilt, wie in der Geschichte überhaupt, so auch in der Sprachgeschichte, daß Niemandes Bäume in den Himmel wachsen. In diesem Sinne beschreibt die Geschichte vom Turmbau zu Babel eine uralte und sich - bisher jedenfalls - stets wiederholende Menschheitserfahrung. Daß diese Wirklichkeit durch Entscheid irgendeines europäischen Beschlußgremiums für eine einzige europäische Gemeinsprache korrigiert oder gar aufgehoben werden könnte, ist mehr als unwahrscheinlich. Die schlichte Wahrheit ist, daß in keinem anderen Land des nichtenglischsprechenden Europas dieser Vorschlag irgendeine Aussicht hätte, mit solcher Autorität vorgetragen zu werden, wie in Deutschland. Welcher Weg führt nun aber in der europäischen Sprachwirklichkeit zu einer europäischen Diskursgemeinschaft als notwendigem Element einer europäischen Gesellschaft und einer europäischen Demokratie? Seit der Verdrängung des Latein durch die europäischen Nationalsprachen gehört zum kulturellen Bild Europas die Mehrsprachigkeit. Diese bedeutete selbstverständlich niemals Gleichrangigkeit der Sprachen in ihrer Bedeutung, aber auch nicht einfach Unterscheidung zwischen großen und kleinen Sprachen in bezug auf die Zahl ihrer Sprecher. Vielmehr errangen große Sprachen durch die hinter ihnen stehende politische und wirtschaftliche Macht und durch die in ihnen zum Ausdruck kommende kulturelle Vitalität zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedlichen Gebieten eine grenzüberschreitende Bedeutung in Europa. Erinnert sei hier an die lange Dominanz des Französischen in der europäischen Führungsschicht oder an die Bedeutung des Italienischen in der Musik oder an die Rolle des Deutschen in der Wissenschaft. Zur europäischen Mehrsprachigkeit gehört ferner, daß die kleineren Sprachgemeinschaften lernten, ein hohes M a ß von kulturellem Selbstbewußtsein und sprachlichem Selbstbehauptungswillen mit der Zuwendung zu einer oder zu zwei der großen europäischen Sprachen zu verbinden und sich so am geistigen und politischen Leben Europas zu beteiligen. Diese Geschichte der europäischen Sprachwirklichkeit läßt die Annahme zu, daß es mit einem höheren Maß an europäischer Gemeinsamkeit auch zu einer praktischen Akzeptanz der Rolle vom mehr als einer großen Sprache für das Entstehen einer europäischen Gesellschaft kommen wird. Diese Rolle wird in bezug auf die kommunikativen Funktionen dieser Sprachen nicht einheitlich sein. Kirchhofs Vorschlag läuft im Grunde auf Englisch als eine europäische Lingua franca hinaus. Für einen europäischen Diskurs auf hohem Niveau ist jedoch die Verwendung einer Sprache als Lingua franca relativ unwichtig. Von großer Bedeutung ist dagegen eine weit verbreitete zuverlässige Kompetenz im Lesen und verstehenden Hören anspruchsvoller Texte in anderen Sprachen, was bekanntlich ohne Verständnis deren geistiger Hintergründe und Voraussetzungen nicht zu leisten ist. Verfügten die Teilnehmer eines Diskurses, sei er mündlich oder schriftlich, über eine solche Kompetenz in zwei oder drei Sprachen, dann könnte dieser Diskurs auch in diesen Sprachen gleichzeitig geführt werden. Gelegentlich geschieht dies ja auch schon. D e r Wille zur verstehenden Kompetenz in zwei oder drei weitverbreiteten und geschichtlich bedeutsamen europäischen Sprachen müßte mithin wesentliches Element eines europäischen Bewußtseins sein, da nur so ein europäischer Diskurs und mithin eine europäische Demokratie entstehen kann. Ein solcher Wille kann allerdings weder von oben erzwungen werden, noch sollte man darauf vertrauen, daß er ausschließlich von selbst entsteht und sich durchsetzt. Mit
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Sicherheit hängt viel von der geistigen Attraktivität der einzelnen großen Sprachgemeinschaften ab, von ihrem Selbstbewußtsein und von ihrem Willen zur grenzüberschreitenden Ausstrahlung. Ein solcher Prozeß ist daher gewiß nicht planbar, noch wird er in der ganzen Union zum gleichen Ergebnis führen. Dennoch wäre der wesentliche Gewinn ein höheres Maß unmittelbaren sprachlich-geistigen Verstehens als Voraussetzung für die Teilnahme an europäischen Debatten. Das könnte wiederum die Notwendigkeit von Ubersetzungs- und Dolmetscherleistungen in der Europäischen Union erheblich reduzieren. Welche Sprachen in der Europäischen Union wären denn nun die Anwärter auf eine solche primär diskursorientierte Rolle als Sprache der entstehenden europäischen Gesellschaft und was wären ihre jeweiligen Aussichten? Die vier Sprachen mit den meisten muttersprachlichen Sprechern in der Union sind bekanntlich Deutsch mit knapp 100 Millionen Sprechern sowie Italienisch, Französisch und Englisch mit jeweils etwa 60 Millionen Sprechern. Mit etwa 40 Millionen Sprechern folgt das Spanische, das als Sprache auf dem amerikanischen Kontinent derzeit sogar das Englische in seiner wichtigsten Basis, den USA, erfolgreich herausfordert, dessen nationaler Anspruch aber andererseits in Spanien selbst von erstarkenden Regionalsprachen bestritten wird. Welche Bedeutung jedoch die Rolle hat, die eine Sprache in der weiten Welt spielt, zeigt das Englische, das zwar bei der Zahl seiner muttersprachlichen Sprecher in der Europäischen Union nach Deutsch, Italienisch und Französisch rangiert, gleichwohl jedoch wegen seiner globalen Stellung zweifellos auch in einer europäischen Mehrsprachigkeit den ersten Platz einnehmen wird. Erster Platz heißt freilich keineswegs Dominanz und Monopol. Die Vorstellung, die romanischen Sprachgemeinschaften, in Sonderheit die Franzosen, wären bereit, sich durch das Englische auf den Status europäischer Regionalfolklore herabdrücken zu lassen, während das wirklich Entscheidende in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und moderner Kultur auf Englisch verhandelt wird, ist fern jeder Realität. Und daß sich die slawischen Sprachgemeinschaften in der Union auf Dauer ausschließlich dem Englischen als übergreifender Sprache zuwenden, ist ebenfalls eher unwahrscheinlich. Aber auch wenn, wie die bisherige Geschichte nahe legt, die Europäische Union der Tradition der europäischen Mehrsprachigkeit folgt, bleibt völlig offen, ob Deutsch zu den Sprachen der europäischen Gesellschaft und ihres demokratischen Diskurses gehören wird oder nicht. Für die Antwort auf diese Frage ist es jedenfalls nicht wesentlich, daß Deutsch in der Europäischen Union die am meisten verbreitete Muttersprache ist. Viel bedeutsamer ist dagegen, daß Deutsch als Fremdsprache in Europa insgesamt, wenn auch mit erheblichem Abstand, noch an zweiter Stelle steht. Entscheidend scheint mir nämlich, wie attraktiv geistige Leistungen in Deutsch sind, wie sich die Deutschen selbst zu Deutsch als einer Sprache der geistigen Kreativität verhalten und wie wichtig ihnen diese Kreativität für das gemeinsame europäische Projekt ist. Das Bild, das die offizielle Bundesrepublik seit Jahrzehnten in bezug auf die internationale Rolle des Deutschen bietet, ist jedoch schlicht jammervoll. Das gilt insbesondere für ihr Verhalten innerhalb der Europäischen Union. Zwar war es 1958 durch eine Verordnung des europäischen Ministerrates möglich geworden, einzelne Amtsprachen der Europäischen Gemeinschaft zu Arbeitssprachen der europäischen Organe zu machen. Ohne entsprechende Festlegung der Kommission wurden in der Praxis Französisch und Deutsch zu solchen europäischen Arbeitssprachen. Nach dem Beitritt Großbritanniens kam das Englische als dritte Arbeitssprache hinzu. Während jedoch Frankreich darauf drang, daß die britischen Mitglieder der europäischen Organe auch Französisch zu beherrschen hätten, gaben in der Folgezeit die deutschen Kommissions-
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Hans Joachim
Meyer
miiglieder in Brüssel und die deutschen Beamten der Gemeinschaft von sich aus die Stellung von Deutsch als Arbeitssprache auf. Dies war durchaus im Einklang mit einer sich immer stärker ausprägenden Politik der Bundesregierung, die durch Zurückhaltung in Sprachfragen eine Absage an nationale Interessenpolitik bekunden und so Europafreundlichkeit und Weltoffenheit beweisen wollte. In der Praxis hatte und hat dies für deutsche Interessen in Wirtschaft und Wissenschaft äußerst nachteilige Folgen. Die Entwicklung gegen die deutsche Sprache in den europäischen Institutionen erreichte 1999 ihren vorläufigen Gipfelpunkt, als die finnische Ratspräsidentschaft auch noch Deutsch als eine der drei informellen Arbeitssprachen bei den informellen Ministerratstreffen der E U abschaffen wollte. Dies konnten Deutschland und Osterreich nur durch Sitzungsboykott abwenden, was übrigens durchaus nicht den ungeteilten Beifall der deutschen Medienkommentatoren fand. Wie wenig Wert die Bundesrepublik auf eine europäische Rolle der deutschen Sprache legt, konnte man insbesondere nach 1990 in Mittelost-, Südost- und Osteuropa beobachten. In diesen Ländern, in denen Deutsch seit Jahrhunderten eine relativ starke Stellung gehabt hatte, gab es gerade nach der revolutionären Wende ein großes Interesse an dieser Sprache. Mein Eindruck ist, daß nicht wenige in der bundesdeutschen Elite diesem Phänomen mit ähnlicher Fassungslosigkeit gegenüberstanden wie dem Wunsch der Deutschen in der D D R nach nationaler Einheit. Daß Menschen Deutsche und Deutsches nicht nur kritisch bis ablehnend sehen könnten, war in ihrem Weltbild nicht vorgesehen. U n d wenn eine Wirklichkeit der vorgefaßten Meinung nicht entspricht, muß man die Wirklichkeit eben ändern. So wurde denn auch bei der Fusion der früheren östlichen Intervision mit der Europäischen Rundfunkunion unter bundesdeutscher Präsidentschaft beschlossen, deren Arbeitssprache Deutsch abzuschaffen. Und als 1992 der Kommissionspräsident Jacques Delors den ersten Ministerpräsidenten des freien Polen, Tadeusz Mazowiecki, bei einer gemeinsamen Pressekonferenz daran hinderte, Deutsch zu sprechen, gab es aus Deutschland betretenes Schweigen. Wie konnte der Mann aus Polen auch so weltfremd sein! Wie heute an fast jedem beliebigen Ort in Deutschland unübersehbar und unüberhörbar, sind einflußreiche Kräfte am Werk, die in dieser Gesellschaft Englisch zum bevorzugten Ausdruck von Modernität, Innovation und Kreativität machen und damit Deutsch auf den Platz des Engen, Altmodischen und Uberholten verweisen, letztlich also auf den Status einer Kinder- und Küchensprache herunterdrücken wollen. Offenbar meinen sie, nur dies sichere ihnen einen angemessenen Platz in einer amerikanisch globalisierten Welt. Der militanten Aggressivität einiger entspricht, wie so häufig, der Opportunismus der vielen. Inzwischen mehren sich die englischen Uberschriften politischer Programme, die englischen Namen von Messen und Konferenzen, die englischen Titel von Kunstwerken, die englischen Bezeichnungen von Produkten. In Berlin sind Tankstellen, Friseure und Verkaufsbuden schon eine Seltenheit, die meinen, ohne irgendein Pseudoenglisch auskommen zu können. Hätte es noch des i-Tüpfelchens in meiner Philippika bedurft, so liefert ihn die neueste Meldung, die beiden Münchner Universitäten, die zu den angesehensten in Deutschland gehören, als „University of Munich" fusionieren zu wollen. Alles dies mag man für modische Narretei halten, die auch wieder vergeht, wenn die Leute diese Art von Werbung satt haben. Dennoch halte ich es für linguistisches Appeasement, wenn man entgegen der überall ins Auge springenden Realität sich auf das Argument zurückzieht, Fremdwörter seien seit eh und je ins Deutsche importiert worden und man könne und dürfe in solche sprachgeschichtlichen Prozesse nicht eingreifen. Erstens handelt es sich bei den Anglizismen meist gar nicht um Fremdwörter im Sinne von Fachtermini (wie etwa Appeasement) und zwei-
Wird Deutsch eine Sprache der europäischen
Gesellschaft
sein?
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tens wäre die Auseinandersetzung in Deutschland zwischen dem Französischen und dem Deutschen im 17. und 18. Jahrhundert nicht letztlich zugunsten des Deutschen ausgegangen, wenn sich jene, die unsere kulturelle Tradition entscheidend geprägt haben, nicht deutlich und notfalls auch streitbar für das Deutsche entschieden hätten. Wäre es nach Friedrich II. von Preußen gegangen, so sprächen wir heute französisch. Es ging aber nicht nach ihm, sondern nach Lessing, für den er in Berlin keine Verwendung hatte, und nach Goethe, von dem er bekanntlich nicht viel hielt. Geistige Vitalität und sprachliches Selbstbewußtsein sind nun einmal die Voraussetzungen für die kulturelle und politische Attraktivität einer Sprache. Wahrhaft gravierend und möglicherweise irreparabel wären deshalb die Folgen, wenn sich jene durchsetzen sollten, die nach dem Beispiel der Naturwissenschaften Englisch zur Sprache der gesamten wissenschaftlichen Kommunikation machen wollen. Das spannungsvolle, aber für die künftige Entwicklung besonders wichtige Gespräch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft würde dadurch noch mehr erschwert, wenn nicht blockiert. Und in absehbarer Zeit würde sich der Kontakt zu unserer Geschichte und geistigen Tradition nur noch auf wenige Spezialisten beschränken. Leider wird eine solche Gefahr nicht unwesentlich durch die fixe Idee der deutschen Hochschulpolitik befördert, flächendeckend die Grade Bachelor und Master einzuführen. Die dafür jetzt meist angeführte Begründung, der Bologna-Prozeß erfordere dies, ist schlicht falsch, denn dieser favorisiert zwar die Einführung eines zweistufigen Studienmodells, bindet dieses aber keineswegs an englischsprachige Gradbezeichnungen. Und die oft zu hörende Behauptung, dies seien eben die internationalen Grade, ist doppelt abwegig, denn, erstens, gibt es keine internationalen Grade, und sollte man, zweitens, mit „international" die englischsprachige Welt meinen, so unterscheiden sich die dort angebotenen Grade in ihren Anforderungen und Merkmalen zwischen den englischsprachigen Ländern und innerhalb dieser Länder ganz erheblich. Ein in Deutschland funktionierendes zweistufiges Studienmodell kann also keine Kopie sein, sondern es bedarf dafür eines selbst neu zu schaffenden Systems. Mithin bleibt also nur ein Grund für die Vergabe des Bachelor und des Master durch deutsche Universitäten, nämlich die Demonstration von Gleichgültigkeit, wenn nicht von Nichtachtung gegenüber der eigenen Sprache und der eigenen Geschichte. Die Antwort auf die Frage, ob Deutsch eine Sprache der europäischen Gesellschaft sein wird, kann also nur lauten: Die Aussichten dafür sind derzeit denkbar gering. Und zwar nicht deshalb, weil das Englische gegenwärtig so stark ist. Und schon gar nicht, weil Englisch - wie linguistische Ignoranten meinen - dafür besonders geeignet wäre. Sondern weil sich viele Deutsche selbst von ihrer Sprache abwenden, sie wie ein ungeliebtes und abgetragenes Kleid behandeln, das man, wann immer man kann, gegen das modische Kleid der Weltoffenheit vertauscht. Zwar gibt es keine Weltoffenheit per se, aber wer englisch und weltoffen für identisch hält, dem fällt das nicht weiter auf. Wenn sich also Deutsche sogar im eigenen Land von ihrer Sprache distanzieren und wenn sie in der Europäischen Union ihren europäischen Mitbürgern signalisieren, daß ihnen ihre eigene Sprache nicht viel bedeutet, warum sollte dann die europäische Gesellschaft, auch wenn sie Mehrsprachigkeit zur Grundlage ihres Diskurses macht, Deutsch als eine ihrer Sprachen akzeptieren?
Meinhard Miegel
Ein Gespenst geht um in Europa Niedergang des Westens und asiatischer Aufstieg: Die Moral einer globalisierten Gesellschaft
D
ie Menschen in den frühindustrialisierten Ländern sind verstört. Auf der Welt ereignen sich Dinge, die sie nicht recht einzuordnen vermögen. Oder genauer: Sie versuchen erfolglos, das, was um sie herum geschieht, mit ihren überkommenen Denk- und
Begriffsschemata zu erfassen. So sehen sie - ähnlich wie dies Karl Marx für das sich industrialisierende Europa des 19. Jahrhunderts getan hat - in der Globalisierung das zerstörerische Wirken entfesselten Kapitals. Der einzige größere Unterschied: Was damals nur einen Kontinent betraf (mit ersten schwachen Echos in der Neuen Welt), betrifft heute den ganzen Globus. Derweil schwärmen andere von den wohlstandsmehrenden Segnungen globaler Arbeitsteilung, ganz so, als ginge es wie bisher darum, daß jeder das macht, was er am besten kann. Die Wirklichkeit sieht anders aus. In den frühindustrialisierten Ländern sieht man nicht oder will nicht sehen, daß gegenwärtig jedes Jahr weltweit etwa 63 Millionen Erwerbspersonen neu in den Arbeitsmarkt eintreten, ihn aber nur rund 25 Millionen - zumeist altersbedingt - verlassen. Die Erwerbsbevölkerung der Erde wächst damit jährlich um recht genau die Zahl von Menschen, die in einem Land wie Deutschland einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Und diese Zahl erhöht sich ständig. Allein von 2 0 0 0 bis 2005 nahm sie um zwei Millionen zu, mit weiter steigender Tendenz. Heute stehen dem Weltarbeitsmarkt schätzungsweise 2,7 Milliarden Erwerbspersonen zur Verfügung. In einer Generation werden es voraussichtlich mehr als 3,5 Milliarden sein. N o c h bedeutsamer als die zahlenmäßige Zunahme der Welterwerbsbevölkerung ist allerdings ihre immer bessere Qualifikation. Während unter jenen 25 Millionen, die den Weltarbeitsmarkt
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Meinhard Miegel
verlassen, viele nicht oder nur mäßig Qualifizierte sowie zahlreiche Analphabeten sind, hat die große Mehrheit der 63 Millionen, die neu auf den Arbeitsmarkt drängen, nicht nur Lesen und Schreiben gelernt, sondern eine solide Schul- und zunehmend auch Hochschulausbildung erhalten. Erheblich verbessert hat sich darüber hinaus ihre berufliche Qualifikation. Uber Generationen hinweg war es die große Stärke der Erwerbsbevölkerungen frühindustrialisierter Länder, daß nur sie eine breite schulische und häufig berufliche Ausbildung hatten und stattliche Anteile über Spitzenqualifikationen verfügten. Was Menschen zum jeweiligen Zeitpunkt können konnten, das konnten sie. Ob das noch immer gilt, darf bezweifelt werden. Nicht zu bezweifeln ist jedoch, daß dieser Vorsprung schwindet, sofern er nicht schon geschwunden ist. Das Qualifikationsprofil der Welterwerbsbevölkerung wird dem Profil der Erwerbsbevölkerungen frühindustrialisierter Länder von Tag zu Tag ähnlicher. Die unfrohe Botschaft für die Völker des Westens lautet: Ihr wart einmal etwas Besonderes. Ihr seid es nicht mehr. Was ihr könnt, das können Hunderte von Millionen auf der ganzen Welt. Diese Feststellung trifft uneingeschränkt auf alle zu, die in den westlichen Ländern unterdurchschnittlich oder allenfalls durchschnittlich qualifiziert sind. Zunehmend trifft sie aber auch auf die überdurchschnittlich und selbst die weit überdurchschnittlich Qualifizierten zu. Lernen, lernen und nochmals lernen - dieser Appell der europäischen Aufklärer und diese Forderung Lenins an seine stoischen Landsleute wurde von den aufstrebenden Völkern namentlich Asiens beherzigt. Die einstmals großen Unterschiede in Wissen und Können nehmen ab. In ihrem Wissen und Können werden die arbeitenden Menschen dieser Welt einander immer ähnlicher. Das wäre nicht nur unproblematisch, sondern für alle von großem Vorteil, wenn die vielen tüchtigen Chinesen, US-Amerikaner, Deutschen oder Inder im Wesentlichen für ihren eigenen Markt produzierten und nur das weltweit austauschten, was jeder von ihnen am besten kann. Das wäre die bewährte, wohlstandssteigernde Arbeitsteilung. Diese Arbeitsteilung gibt es und wird es auch künftig geben. Denn auch künftig werden Volkswirtschaften unterschiedliche Stärken und Schwächen haben. Aber seit Beginn dessen, was heute als Globalisierung bezeichnet wird, wird sie zunehmend von etwas Andersartigem überlagert, mit dem sie nur den Begriff teilt, das aber ansonsten mit der klassischen Arbeitsteilung nichts mehr gemein hat. Segen und Fluch der Globalisierung ist nämlich, daß die Palette dessen, was der eine besser beherrscht als der andere und was Volkswirtschaften unterschiedlich effizient hervorbringen, schmal geworden ist und täglich schmaler wird. Im Grunde ist sie auf wenige Spezialitäten zusammengeschrumpft. Was links und rechts davon liegt, können viele - nicht besser und nicht schlechter als viele andere auch. Denn viele haben nicht nur die gleiche schulische und berufliche Qualifikation. Sie haben auch einen ähnlichen Zugang zu Wissen und Kapital. Die moderne Informationstechnik hat hierzu einen wichtigen Beitrag geleistet. Auf Knopfdruck erscheint auf den Bildschirmen der Computer in Bogota oder Colombo das Gleiche wie auf denen in London oder Rom. Die Informationen, aus denen sich Wissen destillieren läßt, unterscheiden sich nicht mehr. Deshalb erfährt auch das Kapital in Sekundenschnelle, wo es am profitabelsten andocken kann. Dorthin eilt es dann. Größere Unterschiede gibt es allenfalls noch beim Zugang zu Rohstoffen und bei der Geographie. Mit sinkenden Transportkosten nimmt aber auch die Bedeutung dieser Faktoren ab. Die Unterschiede zwischen Volkswirtschaften beschränken sich damit mehr und mehr auf den Bereich sogenannter weicher Faktoren: Sicht- und Verhaltensweisen der Bevölkerung sowie deren politische und soziale Ordnung.
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N o c h sind die Bedingungen für die Teilnahme am globalen Wettbewerb nicht für alle gleich. A b e r sie sind einander ähnlicher als jemals zuvor in der modernen Wirtschaftsgeschichte, und sie gleichen sich einander weiter an. F ü r die Westeuropäer und alle anderen Erwerbsbevölkerungen der frühindustrialisierten Länder heißt das, daß sie Zug um Zug ihre bisherigen Privilegien auf den M ä r k t e n - dem G ü t e r - , W i s s e n s - , Kapital- und nicht zuletzt dem Arbeitsmarkt - verlieren. Hieraus die Konsequenzen zu ziehen fällt vielen offensichtlich schwer. Zu tief haben sie ihre privilegierte Stellung verinnerlicht, als zu naturgegeben haben sie sie angesehen. D e r Lernprozeß wird schmerzhaft sein. Weltweit sind i m m e r mehr M e n s c h e n ähnlich qualifiziert. Sie haben einen ähnlichen Zugang zu Informationen, Wissen und Kapital. Ihre Produktivität nähert sich untereinander an. D i e von ihnen angebotenen G ü t e r und Dienste werden einander immer ähnlicher. N u r in einem unterscheiden sie sich nach wie vor beträchtlich: in ihrem Lebensstandard. W ä h r e n d in den frühindustrialisierten Ländern breiteste Bevölkerungsschichten im U b e r f l u ß schwelgen und selbst die ärmsten unter ihnen materiell auskömmlich versorgt sind, ringen in den aufstrebenden, sich erst entwickelnden Ländern die Massen noch um das Existenzminimum, und nur kleine Minderheiten erfreuen sich des westlichen Konsumniveaus. Was bedeutet das für die Arbeitsteilung, insbesondere die internationale, die globale? Zunächst einmal bedeutet es, daß diese radikal neu, radikal anders definiert werden m u ß . D i e Frage »Was kannst du besser, was kann ich besser, und was lohnt sich am Ende des Tages auszutauschen?« ist dabei, ihren Sinn zu verlieren. I m 2 1 . Jahrhundert wird sie ersetzt durch die Frage: »Wer von uns beiden ist bereit, den niedrigeren Lebensstandard hinzunehmen, da keiner v o n uns etwas besser kann als der andere?« Wer hier » I c h ! « ruft, der b e k o m m t den Zuschlag, der hat im internationalen Wettbewerb die Nase vorn. D e r andere hat das Nachsehen. D a ß das mit dem klassischen K o n z e p t der Arbeitsteilung nichts mehr zu tun hat, liegt auf der Hand. Es geht nicht mehr darum, o b jemand etwas besser kann oder eine höhere Leistung erbringt. Entscheidend ist, daß er es billiger kann, und zwar einzig und allein, weil er genügsamer, weil er bescheidener ist. Wohl haben auch die D e u t s c h e n , als sie im 19. Jahrhundert gegen Briten und Franzosen antraten, nicht nur mit der h o h e n Qualität ihrer Erzeugnisse auf dem Weltmarkt gepunktet. Sie konnten ihre Produkte oft auch billiger anbieten, weil sie ebenfalls wie heute die sich entwickelnden Länder - genügsamer, bescheidener waren als ihre Nachbarn. A b e r die Unterschiede waren gering, gemessen an den heute bestehenden Gefällen bei Lebensstandards und Arbeitskosten. I m D u r c h s c h n i t t der elf wichtigsten Niedriglohnländer, von Indonesien und China über Thailand und Malaysia bis hin zu Ungarn und Tschechien, kostete 2 0 0 3 ein Industriearbeiter 1,75 E u r o in der Stunde - 33 C e n t in Indonesien und 3,03 E u r o in Tschechien. Zur gleichen Zeit kostete ein Industriearbeiter in Japan, den U S A und Deutschland im Durchschnitt 20,32 Euro in der Stunde - 17,23 E u r o in Japan und 2 5 , 5 0 E u r o in Deutschland. In einem der hochentwickelten, frühindustrialisierten Länder war ein Industriearbeiter damit annähernd zwölfmal so teuer wie in einer der derzeit aufstrebenden Wirtschaftsnationen. W ü r d e n die K o s t e n pro Industriearbeiterstunde in den elf wichtigsten Niedriglohnländern von 2 0 0 3 bis 2 0 0 9 um jährlich 6,5 P r o z e n t steigen, erhöhten sie sich bis gegen E n d e dieses Jahrzehnts von durchschnittlich 1,75 auf 2,55 E u r o - auf 5 8 C e n t in Indonesien, wo aufgrund des großen Rückstands ein jährlicher Zuwachs von zehn P r o z e n t unterstellt wird, auf 4,56 E u r o in Tschechien, was einem jährlichen Zuwachs von sieben Prozent entspricht. I m Gegensatz dazu sei für
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Meinhard
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Hochlohnländer wie Japan, die USA oder Deutschland unterstellt, daß dort die Arbeitskosten nur um zwei Prozent im Jahr steigen. Dann würden sie dort im gleichen Zeitraum von reichlich 20 auf etwa 23 Euro zulegen - rund 19 Euro in Japan und knapp 29 Euro in Deutschland. Die Industriearbeiterstunde wäre damit in einem dieser Länder noch immer mehr als neunmal so teuer wie im Durchschnitt der wichtigsten Niedriglohnländer. Setzt man dieses Zahlenspiel fort und läßt die Arbeitskosten in den Niedriglohnländern dreißig Jahre lang jährlich um stattliche 6,5 Prozent, in den Hochlohnländern aber nur um mäßige zwei Prozent steigen, wäre die Arbeit in den Hochlohnländern gegen Mitte der 2030er Jahre noch immer mehr als dreimal so teuer. Selbst wenn im Westen ab sofort nur noch Nullrunden gedreht würden, während sich die Arbeit in den Niedriglohnländern wie bisher verteuerte, würde sie dort auch in dreißig Jahren nur etwa halb so viel kosten wie in den USA oder Deutschland. Diese Zahlen müssen die Erwerbstätigen im Westen tief beunruhigen. Und beunruhigen muß sie auch, daß im laufenden Jahrzehnt allein der Anstieg der Arbeitskosten pro Stunde in einigen Hochlohnländern größer sein wird als die gesamten Arbeitskosten in wichtigen Niedriglohnländern. Nun steht außer Frage, daß die Produktivität, insbesondere die Wertschöpfung pro Arbeitsstunde, in Niedriglohnländern im Allgemeinen beträchtlich geringer ist als in frühindustrialisierten Ländern. Aber auch das ist für den Westen nur ein schwacher und sehr flüchtiger Trost. Denn zum einen steigt die Produktivität in zahlreichen Niedriglohnländern steil an. In China beispielsweise erhöht sie sich in einigen Schlüsselbereichen zwischen zehn und fünfzehn Prozent im Jahr. Zum anderen hinken in diesen Ländern die Löhne der Produktivitätsentwicklung oft hinterher. So sollen unter Berücksichtigung der Produktivitätsunterschiede westeuropäische Unternehmen, namentlich in Ländern Asiens und in Osteuropa, bis zu zwei Drittel ihrer Arbeitskosten einsparen können. Als Deutschland 1990 wiedervereinigt wurde, war das Lohnkostengefälle zwischen West und Ost ähnlich steil. Die ostdeutschen Löhne lagen bei etwa einem Drittel der westdeutschen. Das ließ bei den (west-) deutschen Gewerkschaften die Alarmglocken schrillen. Unter Mißachtung der Marktgegebenheiten setzten sie alles daran, das ostdeutsche Lohnniveau so schnell wie möglich dem westdeutschen anzunähern. Daß dies zu einer großflächigen Deindustrialisierung Ostdeutschlands und anhaltend hoher Arbeitslosigkeit beitragen würde, nahmen sie in Kauf. Sie wußten, daß die ostdeutschen Löhne bei einer marktgemäßen Entwicklung geraume Zeit erheblich unter den westdeutschen geblieben wären und diese so unter Druck gesetzt hätten. Das mußte aus Sicht der Gewerkschaften vermieden werden. Mit der Osterweiterung der Europäischen Union wiederholte sich das Szenario. Doch nun war der Arm der Gewerkschaften nicht mehr lang genug, die hohen, mittlerweile gesamtdeutschen Löhne gegen die niedrigeren mittel- und osteuropäischen abzuschirmen. Noch versucht die Politik - diesmal der Westeuropäer - , sich mit Hilfe von allerlei Sonderregelungen gegen den Sog zu stemmen. Aber ihr Widerstand kann und wird nicht von Dauer sein. Die hohen westeuropäischen Löhne stehen bereits jetzt unter dem Druck der niedrigeren osteuropäischen, und ein baldiges Ende dieses Drucks ist nicht zu erwarten. Doch Deutschland und Europa sind nur Nebenbühnen. Die Hauptbühne ist die Welt. Hier sind die aufstrebenden Völker dabei, die Erwerbsbevölkerungen der frühindustrialisierten Länder in große Verlegenheit zu stürzen. Zwar sind sie nicht innovativer, effektiver oder produktiver als diese. Aber geschickt verwickeln sie den Westen dort in Auseinandersetzungen, wo sie
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ihm turmhoch überlegen sind: auf dem Feld von Genügsamkeit, Bescheidenheit, Zurückhaltung und Selbstbeschränkung. Auf diesem Feld hat der Westen keine Erfahrung mehr. Die Disziplinen, die hier gefragt sind, hat er seit Generationen nicht mehr geübt. Das macht ihn hilflos. Die Menschen in den frühindustrialisierten Ländern befinden sich in der Defensive. Sie können den aufstrebenden Völkern kaum vorhalten, daß diese sich mit Löhnen begnügen, die, gemessen an ihrer Produktivität, weit unterhalb dessen liegen, was Westeuropäer, US-Amerikaner oder Japaner erwarten und fordern. Denn es sind nicht zuletzt diese niedrigen Löhne, die den Westen in materiellem Uberfluß schwelgen lassen. Darüber hinaus verdanken ihnen ungezählte Millionen Erwerbstätiger in den frühindustrialisierten Ländern ihre noch immer gut bezahlten Arbeitsplätze. Sie gibt es nur deshalb noch, weil sie von Chinesen, Indern und anderen armen Völkern faktisch subventioniert werden. Ohne deren Bescheidenheit, ohne deren Bereitschaft, vorerst einen niedrigen Lebensstandard hinzunehmen, wären sie längst wegrationalisiert. In gewisser Weise sind die im Vergleich reichen Erwerbstätigen des Westens Kostgänger der armen, aufstrebenden Völker. Man mag das für unethisch halten - es ist der nüchterne Befund. Die Lohnzurückhaltung, mit der die aufstrebenden Länder den Westen ausstechen, ist nicht Ausdruck edler Gesinnung. Vielmehr haben sie erkannt, daß sie sich auf diese Weise am ehesten dem Ziel nähern, das sie gemeinsam mit dem Westen anstreben: bessere materielle Lebensbedingungen. Der Weg dorthin ist für niemanden leicht. Die aufstrebenden Länder gehen ihn jedoch beflügelt von ihren Erfolgen. Solche Erfolge gibt es für sie reichlich. Denn sie kommen von ganz unten. Der Westen hingegen hat schon eine weite Strecke dieses Weges zurückgelegt. Da sind die Fortschritte kaum noch wahrnehmbar. Für ihn geht es um den Schinken auf dem Butterbrot, für die anderen um das Brot selbst. Für ihn geht es um Komfort und Luxus, für die anderen um Lebensnotwendiges. Und Lebensnotwendiges treibt stärker an als Luxus. Man muß sie gesehen haben, die Männer, Frauen und Kinder in Indonesien, Malaysia, Sri Lanka oder wo auch immer. Wie sie leben in ihren kleinen Häuschen mit einem Wasseranschluß und einer Toilettenanlage, die jeweils für vier Familien bestimmt sind, mit dem Gemüsebeet und dem Federvieh. Endlich bleiben sie bei den tropischen Regengüssen trocken, ist das Trinkwasser meistens sauber, sind die hygienischen Verhältnisse erträglich und halten sich Säuglingssterblichkeit und Krankheiten in Grenzen. Vor allem aber werden endlich alle satt. Man muß sie gesehen haben, die ordentlich gekleideten Männer und Frauen, die barfuß auf steinigen Wegen zur Arbeit gehen, um ihre Schuhe zu schonen. Man muß sie gesehen haben, die Jungen und Mädchen in ihren frisch gewaschenen Blusen, wie sie fröhlich schnatternd den Schulbus besteigen. Sie können die Schule kaum erwarten. Das alles ist keine Idylle. Die Menschen des Westens würden dieses Leben kaum ertragen. Es wäre ihnen viel zu mühselig. Doch diejenigen, die es leben, spüren: Es ist besser geworden, und es bessert sich weiter. Das spüren sie geistig und körperlich. Die Arbeit ist schwer und wird nur gering entlohnt. Aber sie wird entlohnt, und das ermöglicht einen Lebensstandard, der höher ist als zuvor. Auch wenn die Einkommen nur einen Bruchteil dessen betragen, was im Westen als absolutes Minimum angesehen wird, ist von Hungerlöhnen nur vereinzelt die Rede. Der Weg nach oben macht vieles leichter und läßt manche Entbehrung vergessen. Zwar fehlt noch immer der Anschluß an das Stromnetz. Aber an der Uberlandleitung wird schon gebaut. Und das gibt Hoffnung. Die Zukunft wird strahlender sein als die Gegenwart. Irgendwie geht jeden Morgen die Sonne auf.
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Die Europäer, namentlich jene in den zerstörten Gebieten, machten ähnliche Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Diejenigen, die dabei waren, erinnern sich noch heute zumeist gerne an die damalige Zeit. An sich waren die Verhältnisse armselig. Aber sie wurden verklärt durch den Aufstieg aus Ruinen. Er begeisterte und entschädigte für vieles. Die Menschen waren zukunftsfroher, nicht selten sogar glücklicher als heute. Dieses Grundgefühl, verbunden mit existentiellen Zwängen, war der Wurzelgrund für einen Aufschwung, den Experten für unmöglich gehalten hatten. Derartig mitreißende Erfahrungen machen die Europäer schon lange nicht mehr - jedenfalls nicht diejenigen im Westen. Die Mühsal des Aufstiegs liegt hinter ihnen, allerdings auch seine Faszination. Wehmütig blicken sie zurück auf das Vergangene. Der Gedanke an das Kommende erfüllt sie eher mit Unbehagen. Viele fühlen sich der Zukunft nicht gewachsen. Deshalb treten sie auf der Stelle, zänkisch und verdrießlich, und sträuben sich gegen jede Veränderung. Kann nicht alles bleiben, wie es ist? Sie erleben kaum noch, wie die Sonne aufgeht. Sie geht nur jeden Abend unter. Wie im Europa des 19. Jahrhunderts das Gespenst des Kommunismus umging, so geht heute, nach einem Jahrhundert kräftezehrender Kriege, aber - zumindest in Westeuropa - auch einer historisch einzigartigen Wohlstandsmehrung, das Gespenst des Niedergangs um. A m häufigsten erscheint es in den wohlhabenden Regionen, und viele meinen, ihm schon begegnet zu sein. Ganz unbegründet ist diese Meinung nicht. Auch wenn das Gespenst noch nicht recht dingfest zu machen ist - Spuren hinterläßt es zur Genüge. Da stehen sie nun. Hier: viele hundert Millionen Menschen, mehrheitlich jung, arm, gut ausgebildet, lebenshungrig und begierig, zum Gipfel aufzusteigen. Dort: wenige hundert Millionen Menschen, mehrheitlich alt, reich, ebenfalls gut ausgebildet, aber ein wenig lebensmatt und von einem langen Aufstieg zum Gipfel ermüdet. Der Gipfelsturm wird spannend werden. Wer laut über die Möglichkeit materieller Sättigung in den frühindustrialisierten Ländern nachdenkt, muß sich auf Kopfschütteln, Hohngelächter oder auch Verbalattacken einstellen. Wie kann man nur so weltfremd sein! Gibt es nicht auch in Westeuropa - von Mittel- und Osteuropa und der übrigen Welt ganz zu schweigen - noch genügend Menschen, die nur allzu gerne einen höheren Lebensstandard genießen würden? Steigt nicht die Zahl der Kinder, die als arm gelten, selbst in so reichen Ländern wie Deutschland? Fehlen nicht an allen Ecken und Enden die finanziellen Mittel, die für die Erfüllung dringender öffentlicher Aufgaben benötigt werden? Wie kann da von Sättigung die Rede sein? Die Antwort auf diese und ähnliche Fragen ist ein bedingungsloses Ja. Ja, von der materiellen Sättigung aller Bevölkerungsschichten sind auch die frühindustrialisierten Länder noch ein gutes Stück entfernt. Ja, auch hier kann die Nachfrage nach Gütern und Diensten noch beträchtlich ausgeweitet werden. Doch so zweifelsfrei diese Befunde sind - auf die künftige Wachstumsdynamik und expansive Entwicklungen haben sie nur geringen Einfluß. Ob nämlich ein Hase gejagt wird, hängt nicht davon ab, ob irgendjemand Appetit auf Hasenbraten hat, sondern davon, ob jemand Appetit hat, der einen Hasen zu jagen vermag. Jemanden dazu zu bringen, zugunsten eines anderen zu jagen, ist eine ganz besondere Leistung, zu der nur Menschen fähig sind. In der übrigen Natur wird sie außerhalb der Brutpflege nicht erbracht. Die menschliche Gesellschaft steht immer wieder vor der Aufgabe, die Stärkeren, die Fähigeren zu bewegen, für die Schwächeren, die Unfähigeren in kleinerem oder größerem Maße mit zu sorgen. Selbstverständlich ist das keineswegs. Wäre es selbstverständlich, hätte die Natur nicht
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so trickreich vorgehen müssen, um Menschen und Tiere zu veranlassen, sich wenigstens um ihren Nachwuchs zu kümmern. Erst mit Hilfe niedlicher Gesichtszüge und Körperformen, befeuert von Hormonen und - im Falle des Menschen - gedrängt von Sozialzwängen, gelingt in der Regel das Kunststück, daß sich die starken Eltern um ihre schwachen Kinder kümmern. Umgekehrt funktioniert dieser Mechanismus bereits weniger zuverlässig. Sind die Eltern schwach geworden und ihre Kinder erstarkt, bedarf es großer Anreize, um die gegebenenfalls erforderliche Zuwendung zu gewährleisten. Nicht zufällig wird unter den Zehn Geboten, die Moses seinem Volk überbrachte, einzig bei der geforderten Elternliebe irdischer Lohn in Aussicht gestellt. Die allgemeinen Glücksverheißungen reichten offenbar nicht aus, die Jungen zu motivieren, für die Alten zu sorgen. Die Versorgung Hilfsbedürftiger, Kranker, Siecher und Alter war für die menschliche Gesellschaft stets eine besondere Herausforderung. Die Natur hat für deren Bewältigung keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen. Das gilt noch weit mehr für die Teilhabe der generell Schwächeren am großen Kuchen - der Langsameren, Schwerfälligeren, Ungeschickteren, Ideenloseren oder Beziehungsärmeren. Sie zu beteiligen bereitete vermutlich seit Anbeginn erhebliche Schwierigkeiten. Warum sollte der tüchtigere Jäger, die tüchtigere Sammlerin mit den weniger Tüchtigen teilen? War es nicht vernünftiger, sich mit anderen Tüchtigen zusammenzuschließen und die weniger Tüchtigen sich selbst zu überlassen? Acker zu Acker, Geld zu Geld, Herrschaft zu Herrschaft. Und die Schwächeren schön unter sich! Nicht selten wurde genau nach dieser Maxime verfahren. D o c h zugleich fürchtete sich die Gesellschaft davor, das materielle Gefälle zwischen Stärkeren und Schwächeren zu steil werden zu lassen. Das war gefährlich. Die Stärkeren mußten damit rechnen, von den Schwächeren eines Nachts im Schlafe erschlagen zu werden. Diese Betrachtungen sind nicht weit hergeholt. Sie reflektieren die Grundbedingungen menschlicher Gesellschaft und menschlicher Existenz. Sollte es richtig sein - und viele Anzeichen sprechen dafür - , daß die Zahl der Stärkeren wächst, die sich zurücklehnen und sagen: «Wir haben genug, uns reicht es!», obwohl die Bedürfnisse der Schwächeren noch längst nicht befriedigt sind, dann hat die Gesellschaft ein Problem. Entweder sie nimmt hin, daß die Stärkeren satt und die Schwächeren hungrig sind - ein global weit verbreitetes Modell - , oder sie schafft Anreize, die die Stärkeren veranlassen, sich der Schwächeren anzunehmen. In Europa wurde den Stärkeren viele Jahrhunderte lang das seinerzeit glaubwürdige Versprechen gegeben, ihre Hinwendung zu den Schwächeren werde dereinst im Himmelreich belohnt. Das funktionierte nicht immer, aber es funktionierte leidlich. Für die Heiligen der katholischen Kirche war es geradezu konstitutiv, daß sie sich durch Mildtätigkeit und gute Werke hervorgetan hatten. Manche hatten kaum etwas anderes vorzuweisen. D o c h Mildtätigkeit deckte ihre Sünden zu. D e r heutigen Gesellschaft ist dieser elegante Weg versperrt. U m ihn zu gehen, müßte sie die großen Leistungsunterschiede, die zwischen Menschen bestehen, anerkennen. Das aber verbietet das Selbstverständnis dieser Gesellschaft. Nach geltendem Wertekanon sind alle Menschen nicht nur in ihrer Würde und vor dem Gesetz gleich. Sie sollen auch in allem anderen gleich sein. Eliten dürfen nicht in Erscheinung treten. Wer offensichtlich nicht mithalten kann, ist ganz einfach Opfer seiner Umwelt. D a ß dies nicht nur eine wirklichkeitsfremde, sondern geradezu menschenfeindliche Ideologie ist, wird langsam deutlich. Ihre Folgen sind jedoch noch längst nicht überwunden. Den Stärkeren wurde gründlich abgewöhnt, sich um die Schwächeren zu kümmern. Das tat der Staat. Er übernahm die Funktion der Eltern gegenüber ihren Kindern, der Kinder gegenüber ihren Eltern, der Fähigeren gegenüber den Unfähigeren, der Wohlhabenden gegen-
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über den Bedürftigen. Die Mittel, die er dafür benötigte, wurden den Stärkeren kraft Gesetzes ungefragt weggenommen. Eine Weile ging das recht gut. Die Stärkeren spielten mit. Seit einiger Zeit weigert sich jedoch eine wachsende Zahl Stärkerer, zum Wohle der Schwächeren zu jagen. Sie selbst sind mittlerweile satt. Warum also sollen sie sich länger abmühen? Jeder für sich, der Staat für alle. Nach dieser Devise wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten verfahren. Die Stärkeren wurden aus ihrer mitmenschlichen Verantwortung für die Schwächeren nicht nur entlassen, sondern geradezu gedrängt. Sie brauchten und sollten sich in nichts einmischen, was der Staat übernommen hatte. Und das war viel. Die Stärkeren jetzt wieder zu bewegen, für die Schwächeren einzustehen und unter Umständen sogar deren Kaufkraft zu heben, wird schwierig sein.
Arnd
Morkel
Den Mitbürgern nützen Cicero - ein frühes Beispiel für Bildungspolitik?
C
icero war „mit Leib und Seele Politiker" gewesen (Christian Habicht), freilich einer, der sich von frühester Jugend an auch zur Philosophie hingezogen fühlte. Nach eigenem Bekunden hat ihn die Liebe zur Philosophie, neben der Leidenschaft für die Politik, zu
dem gemacht, der er war. Was erwartete er von der Philosophie? E r nennt mehrere Beweggründe, die bezeichnenderweise alle irgendwie mit der Politik zusammenhängen. Philosophie bedeutete für ihn Erholung von der Politik, Nachdenken über die Grundlagen der res publica, Zuflucht in politisch trostlosen Zeiten und nicht zuletzt: Bildungsprogramm und Bildungspolitik. Letzteres rückt gegen Ende seines Lebens mehr und mehr in den Vordergrund seiner philosophischen Bemühungen. I m Frühjahr 45 v. Chr., im Alter von sechzig Jahren, faßt er den ehrgeizigen Plan, „die gesamte Philosophie zu bearbeiten" und den Römern bekannt zu machen. Künftig solle es „keinen Bereich der Philosophie geben, der nicht in lateinischer Darstellung erhellt und zugänglich sei". Die Werke, die er in rascher Folge schrieb - darunter den „Hortensius", der „zur Beschäftigung mit der Philosophie anspornen" sollte, die „Akademischen Untersuchungen", die „Gespräche in Tusculum", die Abhandlungen „Uber die höchsten Güter und Übel", „Vom Wesen der Götter", „Uber die Wahrsagung" und „Über die Pflichten" - , dienten ihm ohne Zweifel auch zur Entspannung, zur Besinnung oder zum Trost, ihr Hauptziel aber war es, die damals bekannte Philosophie, das heißt die griechische Philosophie, nach einer glücklichen Formulierung von Richard Härder in R o m „einzubürgern". Was bewog ihn zu diesem beispiellosen Unternehmen? Bei einem Vergleich Roms mit Griechenland kam Cicero zu dem Schluß: Hinsichtlich der Sitten und Lebensformen, der Organisationen des Staates, der Einrichtungen des Rechts und der militärischen Leistungen seien die
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R ö m e r den Griechen zweifellos überlegen. Was aber die Bildung und die Literatur angehe, so gebühre Griechenland eindeutig der Vorrang. Namentlich die Philosophie sei bis in die G e g e n wart hinein vernachlässigt, ja verachtet worden, „und w o eine Kunst verachtet werde, da werde sie sich auch niemals entfalten k ö n n e n " . Zwar hätten sich in der Vergangenheit viele R ö m e r für Philosophie interessiert, aber geschrieben hätten sie meist über andere Gegenstände. Ciceros A b s i c h t war es, diesen Zustand zu ändern und dafür zu sorgen, „daß so ernste und bedeutende D i n g e " , wie die griechische Philosophie sie behandle, auch in lateinischer Sprache zu lesen seien. H a t t e er als Politiker resigniert? War die Philosophie für ihn „an die Stelle der Sorge für den Staat getreten"? N i c h t wirklich. Nachdrücklich betont er, daß er seinen D i e n s t am Staat nicht unterbreche, vielmehr in seinen Bildungsbemühungen die C h a n c e sehe, auch weiterhin politisch tätig zu sein, wenn auch nicht im herkömmlichen Sinne des Wortes. Ausgeschlossen von der I n n e n - und Außenpolitik, entdeckt er eine andere F o r m der Politik, fast m ö c h t e man sagen: E r entdeckt - als erster Staatsmann der Antike? - die Bildungspolitik. Traditionellerweise überließ der römische Staat die Bildung und Erziehung seiner Kinder „der Initiative und Tätigkeit von Privatleuten" (Henri Irenee Marrou). Das gilt auch für die Vermittlung der Philosophie. Selbst dort, wo sie „zum gehobenen Lebensstil des Adels" gehörte und als „nützliches Geistestraining" für die Jugend geschätzt wurde, blieb sie eine private Angelegenheit. Sie „wirkte in dem adligen Freundeskreis, formte dort die Gespräche und das L e b e n " , aber niemand empfand diese A r t der Erziehung als eine „öffentliche" Aufgabe (Richard Härder). C i c e ros A b s i c h t war es, die philosophische Bildung zu einer solchen öffentlichen Sache zu machen. I m Gegensatz zu seinen Zeitgenossen glaubte er, „im Interesse des Staates die Philosophie unseren R ö m e r n vorführen zu müssen". Das Vorhaben hatte zweifellos einen patriotischen Beigeschmack. C i c e r o machte keinen H e h l daraus, daß ihm daran lag, „dem schon ermatteten Griechenland den R u h m " auch in Sachen Philosophie zu entreißen. Dies, behauptete er, läge sogar im Interesse der Philosophie selbst. Auch sie k ö n n e nur gewinnen, wenn sie von Griechenland nach R o m verpflanzt werde. M i t R e c h t wittert der C i c e r o - K e n n e r O l o f Gigon darin eine Instrumentalisierung der Bildungsidee. A b e r das ist nur die eine Seite. M e h r als das Ansehen des römischen Staates zu vermehren, ging es C i c e r o darum, den Bürgern nützlich zu sein. Wiederholt sagt er: I c h will meinen Mitbürgern nützen, dadurch, daß ich ihnen die Denkweisen und Resultate der wichtigsten Disziplinen der Philosophie zugänglich mache und sie anhalte, darüber nachzudenken. Wen wollte Cicero hauptsächlich ansprechen? Wer Bildung verbreiten will, muß versuchen, die junge Generation zu erreichen, die noch lernfähig ist und in deren Händen später die maßgebenden Entscheidungen liegen. Das war auch Ciceros Auffassung. „ D e n n welchen größeren oder besseren Dienst können wir dem Staat erweisen, als wenn wir die Jugend unterrichten und bilden, zumal bei dem sittlichen Zustand unserer Zeit, da sie derart auf die abschüssige Bahn geraten ist, daß man sie mit allen denkbaren Mitteln zügeln und zurückhalten m u ß ? " C i c e r o war Realist genug, um den Erfolg seiner Bemühungen nicht allzu optimistisch einzuschätzen. „Freilich bilde ich mir nicht ein, es könne erreicht werden (ja man soll es nicht einmal fordern), daß alle jungen Leute sich solchen geistigen Bemühungen zuwenden. M ö g e n es aber zumindest einige wenige sein! Sie werden im Staat ein weites Betätigungsfeld finden". Was erhoffte sich C i c e r o von der Jugend? E r hoffte, daß den Jüngeren, wenn sie erst einmal in der Politik tätig sind, die Philosophie nicht allein zur Erholung dient, sondern daß es ihnen gelingt, sie ein Stück weit auch in die Praxis umzusetzen, sprich: „auf das F o r u m zu bringen".
Den Mitbürgern nützen
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Philosophie, so lautet seine Grundüberzeugung, darf sich nicht nur im Kopf abspielen, sondern muß sich auch im Handeln bewähren, und die größte Bewährung besteht in der Lenkung des Staates. Sicher wird man Ciceros „Bildungspolitik" nicht ohne weiteres auf die heutigen Verhältnisse übertragen können. Dagegen spricht schon, daß sich Bildung im modernen Sinne nicht kurzerhand auf Philosophie reduzieren läßt. Aber zum mindesten fünf Merkmale der Ciceronischen Bildungsvorstellung scheinen mir auch heute noch bedenkenswert zu sein. Zunächst: Bilden heißt, die Persönlichkeit des Menschen zu formen und nicht: spezielle berufliche Fertigkeiten zu trainieren. Bildung hat es mit „Fragen, die das ganze Leben angehen" zu tun und, sofern es sich um philosophische Bildung handelt, nicht zuletzt mit der Frage: „Was ist das Ziel, das Äußerste und Letzte, auf das alle Anweisungen zu einem tugendhaften Leben und richtigen Handeln bezogen werden müssen?" Bilden heißt sodann, den geistigen Horizont zu erweitern. Wir wären arm dran, wenn wir in unserem Denken und Handeln allein auf unsere eigenen Einsichten und Erfahrungen oder die unserer Umgebung angewiesen wären. Cicero macht seine Landsleute mit dem vertraut, was sie nicht oder nicht genügend kennen, aber doch kennen sollten. Er führt ihnen Einstellungen und Denkweisen vor, die von ihren gängigen Einstellungen und Denkweisen abweichen. Er versetzt sie dadurch in die Lage, die Probleme, vor denen sie stehen, unter umfassenderen, weniger beschränkten Gesichtspunkten zu beurteilen. Caesar scheint dies an Cicero geschätzt zu haben. Der ältere Plinius schreibt ihm jedenfalls die Äußerung zu, Cicero habe mehr Lorbeeren verdient als ein Feldherr, denn es sei eine größere Leistung, die Grenzen des römischen Geistes als die des Römischen Reiches erweitert zu haben. Bilden heißt ferner, das geistige Erbe zu bewahren. Cicero ist überzeugt: „Nicht zu wissen, was vor unserer Geburt geschehen ist, das heißt sein Leben lang infantil zu bleiben". Das gilt nicht nur für die Geschichte der politischen Ereignisse, das gilt auch für die Geschichte des Geistes. Mag das, was frühere Generationen gedacht haben, in vielem auch überholt sein, in vielem hat es an Aktualität nichts eingebüßt. Namentlich die großen Philosophen, Piaton und Aristoteles an der Spitze, „haben in so vielen verschiedenen Wissenschaften gearbeitet, daß niemand, ohne ihre Leistungen zu benutzen, irgendeine bedeutendere Aufgabe wird in Angriff nehmen können". Häufig hätten ihre Einsichten „nur keinen überzeugenden Vertreter" gefunden und seien deshalb vergessen worden - zum Schaden von uns allen. In seinen Schriften versucht Cicero, den Vorrat an Gedanken, den die philosophische Uberlieferung enthält, sei es auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie, der Politik, des Rechts, der Rhetorik, der Ethik oder der Theologie, dem Vergessen zu entreißen und an die nachfolgende Generation weiterzugeben. Das erspart uns, das Rad immer von neuem zu erfinden und bewahrt uns davor, hinter den Wissensstand der Vergangenheit zurückzufallen. Bilden heißt des weiteren, die Uberlieferung nicht einfach hinzunehmen, im Gedächtnis zu speichern und wiederzukäuen, sondern nach Möglichkeit weiterzuentwickeln, soll heißen: „durch Zinsen zu vermehren". U n t e r Berufung auf einen Vers des Hesiod erklärt Cicero, „man solle mit gleichem Maße, wie man empfangen habe, wiedergeben und sogar mit gehäufterem, so man es vermag". Bildung ist kein rein rezeptiver, sondern ein produktiver Vorgang. Bilden heißt schließlich, die geistige Selbständigkeit zu fördern. Cicero stellt Fragen, aber er gibt keine fertigen Antworten. Er weist auf Probleme hin, führt unterschiedliche Ansichten vor, erörtert deren Für und Wider, läßt manchmal mehr, manchmal weniger deutlich seine eigene
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Amd Morkel
Meinung durchblicken, aber er beansprucht nicht, das letzte Wort zu haben. Er indoktriniert nicht, er fordert vielmehr seine Leser zum Selbstdenken auf. Unaufhörlich scheint er ihnen zuzurufen: Fragen, Argumente und Fakten kann ich euch liefern, aber das Denken kann ich euch nicht abnehmen. Bildung läßt sich nicht eintrichtern. Bildung ist das Gegenteil von Abrichtung. Bildung bedeutet Selbstbildung.
Henning Scheich
Die Bewußtseinsfrage
bei Tieren
Eine Analyse aus neurobiologischer Sicht
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ie Analyse des Bewußtseinsproblems, lange eine Domäne von Philosophie und introspektiver Psychologie, hat im Laufe der Zeit durch Ansätze der vergleichenden Verhaltens- und Hirnforschung (d.h. durch Vergleiche von Tieren und Mensch) Erweiterungen erfahren, die sich als sehr fruchtbar erweisen. Dies betrifft zunächst die Frage, wie Bewußtsein zustande kommt und nur z.T. philosophische Annahmen, was Bewußtsein ist. Anhand der Klinik menschlicher Hirnstörungen ist der Blick dafür geschärft worden, daß Bewußtsein kein einheitliches Phänomen ist, weil verschiedene Komponenten selektiv gestört sein können. Ich meine hier nicht eine quantitative Abstufung von Bewußtseinsgraden, wie z.B. bei Koma, Narkose, kurzen Absencen bei Epilepsie, verschiedenen Schlafstadien und Variation der allgemeinen Aufmerksamkeit. Es geht vielmehr um spezifische Defizite, die bei lokalisierten oder verteilten funktionellen Störungen des Großhirns auftreten können. Besonders interessant sind sog. Neglect-Phänomene, bei denen Objekte in Teilen des Gesichtsfeldes für bewußte Wahrnehmung nicht zur Verfügung stehen, obwohl sie auf Hinweis durchaus gesehen werden können. Solche Patienten - zumeist nach Schlaganfall - rasieren sich auf einer Gesichtshälfte nicht oder lassen beim Abzeichnen Figuren auf einem Teil eines Blattes unvollständig. Ebenso sind semantische Verwechslungen bei visuellen Wahrnehmungen, Wirklichkeitsverlust bei Halluzinationen, Konfabulationen und bestimmte Gedächtnisstörungen aussagekräftig für selektive Bewußtseinsstörungen. Experimentelle Verhaltensstudien an Wirbeltieren verschiedener Organisationshöhe (aber mit prinzipiell derselben Hirnorganisation wie der Mensch) zeigen andererseits, daß bestimmte kognitive Leistungen durchaus vorhanden sein können, die aus subjektiv menschlicher Sicht zum
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Henning Scheich
Inventar von Bewußtsein gehören. Dazu gehört Kategorisierung von Wahrnehmungsobjekten, d. h. die Fähigkeit, verschiedene O b j e k t e in eine Bedeutungsklasse zu sortieren. Hierbei werden klassenrelevante Merkmale unter Vernachlässigung anderer variabler Eigenschaften der O b j e k t e herangezogen und abstrahiert. Eine solche Klassenbildung tritt selbst bei Nagetieren als spontanes Phänomen auf, nachdem verschiedene Objekte durch Lernen dieselbe Bedeutung erlangt haben. Sie können z.B. wie Kleinkinder lernen, Vokale wie | a | und | i | von verschiedensten Sprechern, die sehr verschieden klingen, korrekt zwei Bedeutungsklassen zuzuordnen. Tiere können auch Konzepte bilden, d.h. Zusammenhänge zwischen Ereignissen bzw. Handlungen und ihren Konsequenzen als regelhaft erkennen. Bewußtseinsrelevante Abstraktionsleistungen wie Kategorisieren und Konzeptbildung sind bei Tieren auf artspezifisches Verhalten beschränkt oder von ihm abgeleitet, liegen also in weniger generalisierbarer Form als beim Menschen vor. Man könnte von Inselbegabungen in Analogie zu menschlichen Leistungsvariationen reden. Besonders begabte Spezies finden sich unregelmäßig über verschiedene Gruppen von Vögeln und Säugetieren verteilt. Trotzdem gibt es einen Trend zur Höherentwicklung mit der Hirngröße. Dies legt nahe, daß Abstraktionsfähigkeit einer allmählichen Evolution unterworfen war. D e r offensichtlich dramatische Qualitätssprung der Möglichkeiten von unseren heute lebenden Primaten-Verwandten zum rezenten Mensch kann wahrscheinlich durch das Aussterben unserer primitiveren Ubergangsformen erklärt werden.
„Wahrnehmen ah Etwas" Zur Einordnung der folgenden Befunde vom Tier ist es zunächst notwendig, das Phänomen Bewußtsein genauer zu charakterisieren, wie es sich aus der subjektiven menschlichen Perspektive darstellt. Dabei soll allerdings keine Definition versucht werden. Bewußtwerden von Etwas ist offenbar eine hoch geordnete Form subjektiver Erfahrung, in der primäre Empfindungen, wie z.B. Schmerz, oder globale visuelle oder akustische Wahrnehmungen ebenso wie vage Vorstellungen, Erinnerungen und Absichten sozusagen auskristallisieren. Damit ist gemeint, daß solche „Rohinformationen" plötzlich gedankenzugänglich werden und einen breiten Zugriff auf Vorwissen im Gedächtnis bekommen. Dies ist nicht gleichzusetzen mit selektiver Aufmerksamkeit. Wie Edelmann es treffend für visuelle Wahrnehmungen ausgedrückt hat: „Wir nehmen etwas nicht nur wahr, sondern bewußtes Wahrnehmen ist Wahrnehmen als Etwas." Dieses als-EtwasAuffassen ist also von zentraler Bedeutung für Bewußtsein. Unabhängig von den wechselnden Inhalten des Bewußtseins scheinen deshalb die Formen, in denen solche Inhalte vorliegen, die genannten abstrakten Kategorien und Konzepte zu sein. Diese sind eben gleichzeitig auch Interpretationsprinzipien im Sinne von „als Etwas", wie man anhand von Sprache leicht sehen kann. Wenn wir etwas Konkretes als Baum oder als Schwimmen bezeichnen, greifen wir damit auf die Bedeutungskategorie „Baum" bzw. das Bedeutungskonzept „Schwimmen" zurück. Dieses eher abstrakte Format scheint auch für das Bewußtwerden von primären Empfindungen und Emotionen zu gelten. Der Formaspekt könnte eine weitere interessante Eigenschaft von Bewußtsein erklären. Ein zu einem jeweiligen Zeitpunkt „durchdachtes T h e m a " hat subjektiv gesehen eine starke Exklusivität, d. h. es schließt die Parallelverarbeitung anderer Themen aus. Dies entspricht der formalen Struktur von Kategorie- und Konzeptbildung, für die inhaltliche Verallgemeinerungen, aber nur innerhalb scharfer Grenzen, typisch sind.
Die Bewußtseinsfrage bei Tieren
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Ich will nunmehr drei Beispiele von bewußtseinsrelevanten kognitiven Leistungen von Tieren besprechen, auch um zu zeigen, wie schwierig die genaue Standortbestimmung in Bezug zum Menschen ist, weil wir Tiere mangels Sprache nicht direkt fragen können.
Der Spiegelversuch Zunächst zum berühmten Spiegelversuch, den Schimpansen bestehen können, aber anscheinend nicht tiefer stehende Affen. Schimpansen, denen man unbemerkt auf der Stirn eine Farbmarkierung angebracht hat, bemerken dies im Spiegelbild und beginnen unverzüglich, die entsprechende Körperstelle bei sich zu untersuchen. Dieses Resultat wird als Hinweis genommen, daß erst Tiere dieser Evolutionshöhe ein Bewußtsein ihres Selbst entwickelt haben. Trotz verschiedener möglicher Einwände zeigen diese Versuche, daß die Selbsterforschung und das Selbst als kognitives Konzept bei Menschenaffen eine hohe Bedeutung erlangt. Das individuelle Selbst als immanentes Funktionsprinzip des Gehirns ist dagegen trivial. Alle Tiere verhalten sich automatisch selbstreferentiell, d. h. sie beziehen jedes Verhalten auf den eigenen Organismus und verwechseln normalerweise nicht eigene Aktionen mit Aktionen, denen ihr Organismus passiv ausgesetzt wird. Vergleichende Spiegelversuche sind im Hinblick auf Bewußtsein generell sehr aussagekräftig. Viele Fische und Vögel tendieren dazu, ihre Spiegelbilder territorial zu bekämpfen oder anzubalzen, d.h. sie erkennen sich offenbar nicht, sondern nehmen diese Spiegelbilder als Artgenossen. Im Gegensatz dazu werden z.B. Katzen oder Hunde nach anfänglich starkem Interesse ihre Spiegelbilder auf die Dauer völlig ignorieren. Diese repräsentieren für sie also auf keinen Fall Artgenossen, weil das Verhalten sonst andere Züge hätte. Hunde und Katzen lassen echte Artgenossen niemals unbeachtet. Für diese Tiere könnte bei Spiegelbildern nach kurzer Untersuchung die mangelnde Realität, in etwa vergleichbar einer Attrappe, im Vordergrund stehen und den Aspekt der Ähnlichkeit mit ihnen selbst völlig uninteressant machen. Damit wäre nicht entscheidbar, ob sie sich im Spiegelbild wiedererkennen oder nicht. Es könnte bei Tieren, die nicht eindeutig reagieren, also durchaus eine unspezifische Einordnung unter „merkwürdige O b j e k t e " vorliegen, die weder den Holzweg „Artgenosse" noch den Weg „Interesse am eigenen Körper" von Schimpansen beschreitet.
Imitationslernen Imitationslernen ist eine weitere Domäne, in der evolutive Schritte der Konzeptbildung bis zum Menschen untersucht werden. Sie haben neuen Auftrieb erhalten, weil bei Affen Nervenzellen in Kortexarealen gefunden wurden, die sowohl bei eigenen Handbewegungen wie auch beim Anschauen derselben Handbewegungen, ausgeführt von Artgenossen oder auch Menschen, selektiv reagieren. Insgesamt läßt sich Imitationsverhalten bei bestimmten hoch entwickelten Vögeln und Säugetieren bis Menschenaffen nach dem heutigen Stand wie folgt zusammenfassen. Solche Tiere imitieren angefangen von artspezifischen Lauten (nur Vögel) bis zum Werkzeuggebrauch (Vögel und Säugetiere) interessierende Vorbilder von Artgenossen. Dies gilt aber nicht generell, sondern betrifft meist nur ganz bestimmte Handlungen in ganz bestimmten Zusam-
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Henning Scheich
menhängen. Versuche testen z.B. das Öffnen von mehrfach gesicherten durchsichtigen Behältnissen mit Futter, das nur durch eine Sequenz von Betätigungen von Klappen, Riegeln oder Seilzügen gelingt. Dabei wird im „Anschauungsunterricht" das Ziel der Handlungskette sofort erfaßt, welches das Motiv für die Imitation bildet (Futter) und dann der Anfang der Handlung imitiert. Dies gilt nicht für die Gesamtheit der Abläufe, die ineinander greifend zum Ziel führen. D i e weiteren notwendigen Handlungen laufen meist über individuelle Strategien und führen oft zu eigenen „Erfindungen", die dann keine Imitationen darstellen. Raben und Affen lösen dies ähnlich, zunächst durch Imitation, aber im weiteren höchst individuell. Vieles erinnert an Kleinkinder und ihre Lösungsansätze. Insgesamt zeigen solche Versuche, daß Konzepteinsicht vorhanden ist, die aber initial nicht die gesamten komplexen Handlungssequenzen überstreicht.
Theory of Mind? Das dritte Beispiel betrifft das Vorhandensein einer sog. Theory o f Mind. Darunter versteht man die Fähigkeit, sich eine Vorstellung davon zu machen, was ein anderes Individuum wissen kann. Beobachtet z.B. ein Schimpanse, wie Futter für ihn unerreichbar versteckt wurde, so wird er nur Personen anbetteln, die dies ebenfalls beobachten konnten, also z.B. nicht Personen, die zu dem Zeitpunkt gar nicht im Raum waren. Experimente dieses Typs gibt es in vielen Variationen, z.B. auch im Hinblick auf Strategien, bei „unerlaubtem Verhalten" in der Hierarchie einer sozialen Gruppe nicht erwischt zu werden. Ahnliche Versuche bei Kleinkindern zeigen, daß die Fähigkeit zur Theory of Mind altersabhängig ist. Es ist bisher keineswegs ausgeschlossen, daß z.B. Hunde auch über diese Fähigkeit verfügen. Insgesamt zeigt diese kleine Auswahl kognitiver Experimente bei Tieren, daß hinsichtlich der Annahme einer völligen Sonderstellung des Menschen Vorsicht angebracht ist. Zumindest Vögel und Säugetiere je nach Organisationshöhe bilden offenbar Kategorien und Konzepte, spontan oder durch Lernerfahrungen, die als Einsichten in komplexe Zusammenhänge interpretiert werden können. Dies wäre gleichbedeutend mit einem gewissen Grad von Bewußtsein. Diese Einsichten betreffen allerdings weitgehend artspezifische Interessen und inselartig bestimmte Verhaltenweisen und sind kaum zu verallgemeinern. Eine spezifisch menschliche Erweiterung scheint zu sein, daß wir jede Art von Erfahrung systematisch kategorisieren und konzeptualisieren können. Sprache erscheint als ein universelles Mittel der Erschließung solcher Möglichkeiten, insbesondere in den abstrakten Bereich. U.a. dadurch kann beim geneigten Leser Bewußtsein als Bewußtseinsinhalt auftauchen, bevor er sich möglicherweise fragt, ob Bewußtsein eine Kategorie oder ein Konzept ist. Ein kleiner Nachtrag: Tiere scheinen normalerweise kein Konzept für die Belange einer anderen Tierart zu entwickeln. Wir sind die einzige Art, die dies tut, mit einer äußerst interessanten Konsequenz. Tiere, mit denen wir uns intensiv persönlich auseinandersetzen, insbesondere domestizierte, scheinen auch ein erhebliches Verständnis für uns zu entwickeln. Viele Anekdoten von Tierbesitzern sind sicher übertrieben. Aber allein die Tatsache, daß es Blindenhunde gibt, ist doch sehr überzeugend.
Hartmut
Schiedermair
Wissenschaft im Dienst der
Menschenwürde
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n den Monatsberichten der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, der berühmten Leibniz'schen Gründung, erscheint im Jahr 1874 die Antrittsrede eines Mannes, der soeben zum Mitglied dieser - dem Sprachgebrauch der Zeit gemäß - ehrwürdigen Gelehrtenversammlung gewählt worden war. Der Name des neuen Mitglieds ist Werner von Siemens, damals noch schlicht Werner Siemens. Er ist, obwohl bereits von der Berliner Universität mit dem Ehrendoktor ausgezeichnet, nach seinem eigenen Bekunden als ein der Technik ergebener Unternehmer im Kreis der Gelehrten, denen, wie er sagt, die Wissenschaft „Lebensberuf" ist, ein Neuling und Außenseiter. Dieses bemerkenswerte Beispiel eines gelungenen, im 19. Jahrhundert offenkundig noch unproblematischen Transfers zwischen Wirtschaft und Wissenschaft ist in vieler Hinsicht des Nachdenkens wert. Nur mit Erstaunen und Bewunderung nimmt der Leser der Antrittsrede zur Kenntnis, mit welcher Sensibilität und Klugheit sich Werner von Siemens, der Außenseiter, in der Welt der Wissenschaft bewegt. Das neue Mitglied der Berliner Akademie weiß sehr wohl, daß die deutsche Wissenschaft, wie es in der Antrittsrede heißt, ihren weltweiten Ruf nur der „Gediegenheit ihrer Leistung, der Tiefe ihrer Forschungen" und „ganz wesentlich der gründlichen und planmäßigen Vorbildung für den wissenschaftlichen Beruf" verdankt. Die Qualität der in der Forschung erzielten Leistungen sowie die Pflege des wissenschaftlichen Nachwuchses begründen also das, was wir heute im modernen Trend sprachlicher Verschwommenheit als Internationalität bezeichnen. So hat denn bereits die Vorbereitung auf den wissenschaftlichen Beruf in der Pflege des wissenschaftlichen Nachwuchses für Werner von Siemens jene leidenschaftliche und selbstlose Hingabe an die Wissenschaft zu gewährleisten, die den Forscher nicht danach fragen läßt, „ob das Problem, dessen Lösung er unternehmen, ob die Untersuchung, der er sich hingeben will, ihm selbst oder anderen unmittelbaren Nutzen bringen wird". Der Forscher empfängt seinen „Lohn" vielmehr in dem „Bewußtsein", den „Wissensschätz der Menschheit" vermehrt zu haben, und sein ganzer „Ehr-
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Hartmut
Schiedermair
geiz" ist, daß sein „Name mit der Auffindung einer neuen Wahrheit" auf Dauer „verknüpft" sein wird. Was an diesen Sätzen beeindruckt, ist das uneingeschränkte Bekenntnis zu jener Suche nach Wahrheit, zu jenem geistigen Unternehmertum, auf das der Wissenschaftler in der Tat angewiesen ist, wenn es darum geht, die in der Forschung gewonnenen Erkenntnisse in einer sich stets erneuernden Lehre an die nachwachsende Generation weiterzugeben und gleichzeitig die Allgemeinheit in den unmittelbaren Genuß dessen zu bringen, was wir den wissenschaftlichen Fortschritt nennen. Klingt aber nicht dieses Bekenntnis zumal aus dem M u n d eines bis heute mit Recht hochgeachteten und berühmten Wirtschaftsunternehmers wie die Botschaft aus einer anderen, fernen, zumindest aber in ihrer Existenz bedrohten Welt? Wer heute in der Universität mit der Wissenschaft umgeht, weiß nur allzu gut, wie berechtigt diese Frage ist. Der nun schon seit Jahren nur mit Sorge zu beobachtende Prozeß der vollständigen Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse schreitet auch in den Universitäten anscheinend unaufhaltsam fort. Vor allem die staatlichen Träger der Universitäten scheinen vergessen zu haben, daß sie, wie es das deutsche Bundesverfassungsgericht formuliert, von Verfassungs wegen dazu verpflichtet sind, im Sinne des „Kulturstaats" für die „Idee einer freien Wissenschaft" und demgemäß „schützend und fördernd" für deren Pflege einzustehen. Statt dessen werden die Universitäten dazu angehalten, sich endlich wie ein ordentlicher Wirtschaftsbetrieb den Gesetzmäßigkeiten des Marktes zu unterwerfen. Diese dringende, offenkundig aus der Finanznot der öffentlichen Kassen geborene Empfehlung verrät schon einiges Geschick, öffnet sie doch den staatlichen Trägern der Universität einen passablen Weg, um sich, ohne öffentlich Anstoß zu erregen, ihrer rechtlichen ebenso wie ihrer politischen Verantwortung für die Pflege der Wissenschaft in den Universitäten zu entziehen. Anstößig wird dieser Weg allerdings, wenn den U n i versitäten von ihren Trägern die Erledigung immer neuer Aufgaben zugewiesen und gleichzeitig die hierfür erforderlichen finanziellen Mittel schlicht entzogen werden. Allein der Satz „mehr Studierende an die Universitäten und weniger Professoren" kennzeichnet, um nur eines von vielen Beispielen zu bemühen, den gegenwärtigen Stand der deutschen und hier vor allem der Hochschulpolitik des Bundes. Da kann auch nicht der beschwichtigend gemeinte Hinweis auf die Einwerbung von Drittmitteln oder aber die Aussicht auf die Erhebung von Studiengebühren beruhigen. Immerhin werden die deutschen Universitäten in der gegenwärtigen Diskussion u m die Studiengebühren doch mit der geradezu skandalösen Praxis konfrontiert, daß ihnen Studiengebühren als Einnahmequellen zwar verheißen, diese aber gleichzeitig zur Sanierung des notleidenden Staatshaushalts wieder eingezogen werden. Müssen sich die Universitäten die mit einem solchen Inkassoverfahren öffentlich zur Schau gestellte Geringschätzung ihrer Bedeutung für das Gemeinwesen wirklich gefallen lassen? Eines steht auf jeden Fall fest: Diese Praxis hat weder mit den Gesetzmäßigkeiten des Marktes noch mit einem geordneten Wirtschaftsbetrieb irgend etwas zu tun. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß die Situation der Forschung in den Universitäten unter den gegebenen Umständen mehr denn je prekär geworden ist. So hat denn auch allein die fortschreitende Ausgliederung der Forschung aus der Universität inzwischen ein besorgniserregendes M a ß angenommen. Erst vor wenigen Wochen hat es der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft als eine „Katastrophe" bezeichnet, daß die Ströme der ohnehin knapp gewordenen staatlichen Forschungsmittel immer stärker in die außeruniversitäre Forschung gelenkt werden, während sich die Universitäten in der Bewältigung der Ausbildungslasten zunehmend zu reinen Lehranstalten entwickeln sollen. Nicht von ungefähr erfährt gerade zur Zeit die alte, längst für
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überholt gehaltene Diskussion über den reinen Lehrprofessor in Deutschland wieder eine bemerkenswerte Neubelebung. Auch sieht die Praxis der staatlichen Forschungsförderung immer häufiger so aus, daß finanzielle Zuwendungen nur noch projektbezogen erfolgen oder unter dem Hinweis auf den Markt der Drittmittel einfach vorenthalten werden. In beiden Fällen aber droht die Gefahr einer Fremdsteuerung, die Forschung, zumal wenn es um die Grundfragen ohne einen unmittelbaren Anwendungsbezug geht, nicht eben fördert. Allein diese wenigen Beispiele genügen, um zu belegen, daß die Universitäten unter dem Diktat ihrer fortschreitenden Ökonomisierung Veränderungen hinzunehmen haben, die nicht nur sie selbst, sondern auch und vor allem diejenigen etwas angeht, die sich in der Universität der Wissenschaft von Berufs wegen verschrieben haben. Was diese Veränderungen bewirken, zeichnet sich mit dem allmählichen Rückzug der Forschung aus der Universität heute erst in groben Umrissen ab. Ist der Prozeß der Ökonomisierung jedoch erst einmal abgeschlossen, wird die Wissenschaft als Beruf künftig nur noch denjenigen offenstehen, die sich nach den Vorstellungen ihrer Dienstherren als Lehrer oder Forscher marktgerecht verhalten und auf diese Weise das Geschäft der Wissenschaft gewinnbringend betreiben. Für die mittlerweile fast vollständig in die Privatisierung entlassenen Universitäten in Osterreich dürfte im übrigen das gleiche gelten. Gibt es aber unter dieser Voraussetzung notwendiger Fremdbestimmung noch einen Platz für jene leidenschaftliche und selbstlose Hingabe an die Wissenschaft, für jenes geistige Unternehmertum, das Werner von Siemens als die Quelle des wissenschaftlichen Fortschritts ausgewiesen hat? Mit der Frage nach dem wissenschaftlichen Fortschritt betreten wir ein weites Feld, auf dem sich, wie so oft, die Geister scheiden. Die Traditionalisten werden sich wie selbstverständlich hier an Werner von Siemens halten wollen und darauf hinweisen, daß die Wissenschaft ebensowenig wie der wissenschaftliche Fortschritt auch in Zeiten der konjunkturellen Talfahrt niemals den schlechten Nerven einer vom Wohlstand verwöhnten Gesellschaft und ihrer politischen Verwalter geopfert werden dürften. Demgegenüber werden diejenigen, die sich im Blick auf die Zukunft viel auf ihre Modernität zu Gute halten, eher geneigt sein, Werner von Siemens mit dem Hinweis den Abschied zu geben, daß die nostalgische Erinnerung an längst versunkene Welten keinen nützlichen und zeitgemäßen Beitrag leisten könne, um den Aufbruch ins 21. Jahrhundert angemessen zu bewältigen. Wie dem auch sei, auf keinen Fall können und dürfen wir uns der Frage entziehen, ob und inwieweit wir uns eine vom geistigen Unternehmertum inspirierte Wissenschaft so, wie sie uns Werner von Siemens beschreibt, in der Gegenwart überhaupt noch leisten können. Bei dieser Frage geht es um nicht weniger als um die Zukunft der Universität und ihrer Wissenschaft. Mit dem Rückgriff auf die gängig gewordenen Vokabeln wie Effizienz und Wettbewerb, Autonomie oder Internationalität und Globalisierung wird man dem Ernst dieser Frage allerdings nicht gerecht. Ebensowenig kann in diesem Zusammenhang das neuerdings aufgekommene, bedenkliche Wort von der „kreativen Zerstörung" befriedigen, mit dem den Universitäten der Weg in ihre Zukunft gewiesen werden soll. Gibt uns doch die wechselvolle Geschichte des soeben vergangenen Jahrhunderts hinreichend Kunde von der zerstörerischen Kraft geistloser Ideologien, die es an Kreativität, wenn auch im negativen Sinn, nicht haben fehlen lassen, und davon waren die Universitäten mit ihrer Wissenschaft wahrlich nicht ausgenommen. Die dringende Empfehlung, die Wissenschaft um ihrer Zukunft willen endlich nach den Grundsätzen der geordneten Betriebswirtschaft zu organisieren, ist jedenfalls kein geeignetes Mittel, die Universitäten vor dem Zugriff geistloser Ideologien zu bewahren.
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Wer den Universitäten und ihrer Wissenschaft den Weg in die Zukunft weisen will, kommt deshalb nicht daran vorbei, jenseits aller Probleme der organisatorischen und technischen Bewältigung des Wissenschaftsbetriebs auch die inhaltliche Frage nach dem zu stellen, was denn die Universitäten und ihre Wissenschaft in der Erfüllung ihrer Aufgabe überhaupt leisten und vor allem leisten sollen. Uberraschenderweise leistet uns auch bei der Antwort auf diese Frage kein geringerer als Werner von Siemens, der Außenseiter, mit seiner Antrittsrede vor der Berliner Akademie wertvollste Hilfe. Die Wissenschaft, so heißt es in der Antrittsrede, besteht „nicht ihrer selbst wegen", sie ist auch nicht dazu da, den „Wissensdrang der beschränkten Zahl ihrer Bekenner" zu befriedigen. Ihre Aufgabe ist vielmehr, „den Schatz des Wissens und Könnens des ganzen Menschengeschlechts" zu erhöhen und „dasselbe damit einer höheren Kulturstufe zuzuführen". So ist die Wissenschaft für Werner von Siemens „gleichsam das Nervennetz, welches den Organismus menschlicher Kultur durchzieht" und als solches frisches Leben erzeugt, um nicht nur das „materielle Dasein", sondern darüber hinaus auch die „idealen Güter der Menschheit" zu vermehren. Was an diesen wenigen Sätzen beeindruckt, ist nicht nur die deutliche Absage, die Werner von Siemens jenem fatalen und in seinen Folgen geradezu verhängnisvollen Glauben an eine angeblich zweckfreie Wissenschaft erteilt. Mehr noch beeindruckt die hier zum Ausdruck gebrachte klare Erkenntnis, was die Wissenschaft und der wissenschaftliche Fortschritt für den Menschen und seine Zukunft bedeuten. Es geht um die Kultur, also um die geistige Bewältigung der menschlichen Existenz, um Zukunft verantworten zu können, und hier erfährt denn auch das geistige Unternehmertum, auf das der Wissenschaftler verpflichtet ist, seinen Sinn und seinen Wert. Was hat denn dieses Unternehmertum nicht bereits geleistet, um allein das materielle Dasein des Menschen zu erleichtern? Bemerkenswerterweise wird vieles, was wir der Wissenschaft und nur der Wissenschaft verdanken, als solches gar nicht mehr zur Kenntnis genommen, weil es zur Selbstverständlichkeit im täglichen Leben geworden ist. Dies gilt etwa für den Genuß eines einwandfreien, sauberen Trinkwassers ebenso wie für das elektrische Licht oder aber für die Wohltaten einer fortgeschrittenen Medizin, die wir gegenwärtig allenfalls noch unter dem Gesichtspunkt ihrer Finanzierbarkeit zur Kenntnis nehmen wollen. Wem ist denn bewußt, daß die in der Wissenschaft entwickelte Informations- und Kommunikationstechnologie nicht nur die Reiselust einer begüterten Wohlstandsgesellschaft befriedigt, sondern darüber hinaus sogar ein ganzes Weltreich zum Einsturz gebracht hat, weil sich die Menschen heute nicht mehr im Tal der Ahnungslosen um ihre Freizügigkeit bringen lassen wollen? Der Mensch lebt allerdings nicht vom Brot allein. Daher beeindruckt es schon, mit welcher Behutsamkeit Werner von Siemens, der Wirtschaftsunternehmer, in seiner Botschaft an die Wissenschaft sich davor hütet, das menschliche Dasein allein auf seine materiellen oder gar nur ö k o nomischen Bedingungen zu reduzieren. Vielmehr geht es ihm, wie er sagt, auch und nicht zuletzt um die Vermehrung der idealen Güter der Menschheit, ohne die Kultur in der Tat nicht denkbar ist. Damit aber ist die Frage nach der Wissenschaft und dem wissenschaftlichen Fortschritt in ihrem Kern getroffen. Den wissenschaftlichen Fortschritt kann und wird es nur geben, wenn und solange die Wissenschaft daran festhält, mit ihrer Suche nach Wahrheit in eine bessere, durch ihren Geist geordnete Welt aufzubrechen, in der der Mensch zu sich selbst und damit zu seinem Glück findet. O h n e die Frage nach dem Glück des Menschen ist Wissenschaft nicht zu verantworten.
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Das Glück gehört zu den großen und ungelösten Rätseln, mit denen die menschliche Existenz - man ist versucht zu sagen: dankenswerterweise - ausgestattet ist. Ein jeder strebt nach dem Glück, ohne jedoch zu wissen, was es denn eigentlich ist. So sind denn auch die Versuche, dieses Rätsel zu lösen, zahlreich und kaum überschaubar. Sie reichen von den platten Lustkalkülen der Spaßgesellschaft bis zu den sublimen philosophischen Entwürfen der „vita beata", des gelungenen Lebens, von denen uns die europäische Philosophie reichhaltige Kunde gibt. Dennoch ist und bleibt das Glück für den Menschen ein Rätsel, so daß wir auch weiter darauf angewiesen sind, uns bei der Frage nach dem Glück mit der Suche zu bescheiden. Damit aber betritt der Wissenschaftler mit seiner Wissenschaft - so überraschend dies klingen mag - ein ihm wohlvertrautes Terrain, ist doch für ihn der Gegenstand all seiner Bemühungen, nämlich die Wahrheit in der Annäherung stets auch nur Suche nach Wahrheit. Niemand hat dies in einer für die Entwicklung der Wissenschaften so folgenreichen Eindringlichkeit beschrieben wie Wilhelm von Humboldt, dessen bleibende Verdienste auch nicht durch die überhebliche Ignoranz geschmälert werden können, mit der er heute vor allem in der deutschen Hochschulpolitik so häufig bedacht wird. Alle Wissenschaft und mit ihr die Wahrheit sind für Humboldt stets als „ein noch nicht ganz aufgelöstes Problem" zu behandeln, so daß sie, die Wahrheit, auch „als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes und unablässig als solche zu suchen" ist. Mit der in diesem Sinne niemals abgeschlossenen Suche nach Wahrheit bewahrt Humboldt die Wissenschaft vor dem Abgleiten in die bloße Ideologie, die sich gerade dadurch auszeichnet, daß sie sich mit Halbwahrheiten begnügt, diese aber im trügerisch legitimierenden Schein der halben Wahrheit für die ganze Wahrheit ausgibt und damit das verschweigt, worauf es Humboldt ankommt: Wenn die Suche nach Wahrheit niemals zum Abschluß gebracht werden kann, kann auch die im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß aufgefundene Wahrheit niemals eine endgültige sein. Eben diese Endgültigkeit aber ist das trügerische Markenzeichen aller Ideologien. Hier ist die Suche nach Wahrheit ebenso zum Abschluß gebracht wie die Offenheit und Freiheit des Denkens im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß; denn vor der Endgültigkeit der Wahrheit gibt es kein Entweichen, sondern nur die Unterwerfung im Sinne der Parteinahme. Gerade die im Geist Humboldts organisierten Universitäten haben im 20. Jahrhundert erfahren müssen, welche Folgen es hat, wenn sich die Ideologien ihrer bemächtigen wollen. Allein in Deutschland haben zwölf Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft ebenso wie die über vierzig Jahre währende Herrschaft des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik gezeigt, wie die Wissenschaft im Zugriff ideologisch begründeter Parteilichkeit an den Rand ihrer Existenz und zuweilen sogar weit darüber hinaus gedrängt worden ist. Die Erinnerung an diese unselige Erfahrung sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß selbst die in Deutschland gegenwärtig betriebene Bildungs- und Hochschulpolitik hier einigen Anlaß zur Sorge geben. Zu deutlich sind die Hinweise auf das Aufkommen der neuen Ideologie, die im sicheren Wissen der ökonomischen Bewältigung von Zukunft nach der vollständigen Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse und daher auch der Wissenschaft strebt. Damit aber begegnen wir einmal mehr jenen Protagonisten eines vermeintlich unaufhaltsamen Globalisierungsprozesses, die im Aufbruch in die virtuelle Welt der zur Wissensgesellschaft umdefinierten Informationsgesellschaft zu einer neuen Form der Welteroberung gefunden haben. In dieser Welt aber ist die Zukunft nur noch hochgerechnete Gegenwart und deshalb kein Rätsel mehr, sondern vielmehr eine Frage, die sich mit ihrer technischen Bewältigung von selbst erledigt, und hier gilt der alte Satz des Protagoras, daß der Mensch das Maß aller Dinge ist.
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Diesem Satz wird man nichts abgewinnen können, wenn er im Sinne der totalen Machbarkeit interpretiert und zur Rechtfertigung jener Technokratie benutzt wird, die selbst vor dem Menschen nicht halt macht. Deshalb ist auch und gerade die Wissenschaft gehalten, sorgfältig zu erwägen, in welche Dienste sie sich mit ihren neuen Erkenntnissen und Errungenschaften begibt. Wir wissen, daß etwa, um ein aktuelles Beispiel zu bemühen, die Genforschung mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms - etwa 99 Prozent des menschlichen Genoms sind mittlerweile entschlüsselt - inzwischen schon Erfolge erzielt hat, die durchaus dazu angetan sind, der Medizin ganz neue Wege zur Heilung von körperlichen und seelischen Leiden zu weisen. Wir wissen aber auch, daß gerade mit den neuen Erkenntnissen in der Genetik Gefahren heraufbeschworen werden, deren Ausmaße heute nur zu erahnen sind. Soll sich etwa der Mensch in der Vernichtung menschlichen Lebens zu Zwecken der Embryonenforschung zum Herrn über Leben und Tod aufschwingen, und wie steht es mit dem immerhin in den Bereich des Möglichen gerückten Klonen von Menschen? Dies alles sind bisher ungelöste Fragen, doch ist eines jetzt schon sicher. Niemand kann ausschließen, daß die Erkenntnisse und Errungenschaften der Genetik, wie allein das Beispiel des Klonens von Menschen belegt, dazu mißbraucht werden können, in der Fremdsteuerung menschlicher Existenz eine Herrschaft des Menschen über den Menschen zu begründen, wie sie sich totaler nicht denken läßt. Die Totalität dieser Herrschaft ist durch nichts zu überbieten, geht es doch bei den manipulativen Eingriffen in das genetische Programm des geklonten Menschen nicht etwa nur um die körperliche Unversehrtheit oder das Leben des Opfers. Vielmehr wird hier im Zugriff auf die intellektuelle, moralische und geistige Verfassung des Menschen notwendigerweise zugleich auch Zugriff auf seine Individualität und Personalität, also auf seine Menschenwürde genommen. Zum Kern der Menschenwürde und ihrer Gewährleistung aber gehört das Verbot der totalen Herrschaft des Menschen über den Menschen. U m so bedauerlicher aber sind unter diesem Aspekt die bisher vergeblichen Versuche der Vereinten Nationen, ein weltweites Verbot des Klonens von Menschen in der Staatengemeinschaft durchzusetzen. Um das Verbot der totalen Herrschaft des Menschen über den Menschen geht es auch in einem anderen Fall. Erst in jüngster Zeit ist es, wie berichtet wird, der Hirnforschung gelungen, einen Neurochip zu entwickeln, der in die menschliche Hirnrinde eingepflanzt werden und dort Nervensignale messen sowie in konkrete Aktionen umwandeln kann. Auf diese Weise wird es Patienten, die an schweren Lähmungserkrankungen leiden, ermöglicht, ihre Gedanken unmittelbar auf den Computer zu übertragen und so in die Tat umzusetzen. Dies ist jedoch nur die eine Seite einer neuen Technik, deren „Anwendung", wie die Experten (John Donoghue, FAZ 25. Oktober 2004) bekunden, „keine Grenzen gesetzt sind". Immerhin bewirkt der in die Hirnrinde eingepflanzte Neurochip auch, daß die Gedanken des Menschen technisch einwandfrei lesbar werden. Der Satz „die Gedanken sind frei" gilt hier also nicht mehr. Man braucht noch nicht einmal an Andersens Märchen von den Galoschen des Glücks zu erinnern, um die Menschen verachtenden Folgen zu erahnen, die sich ergeben, wenn der Mensch dazu gezwungen werden kann, sich mit seiner Gedankenwelt fremder Einsichtnahme auszuliefern. Um die Herrschaft des Menschen über den Menschen geht es aber auch in einem mangels öffentlicher Aufmerksamkeit allerdings weniger spektakulären Fall, nämlich bei der Perfektionierung technischer Überwachungssysteme, die schon heute in ihrer praktischen Anwendung etwa in den USA oder in Großbritannien Verhältnisse geschaffen haben, die selbst die Vorstellungskraft eines Aldous Huxley weit übersteigen. Beim Endspiel um die sogenannte Super Bowl, in den USA die begehrteste Trophäe im American Football, hatte die Polizei keine Mühe, unter
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den 65.000 Zuschauern fünfzehn Personen beim Verlassen des Stadions festzunehmen, die wegen des Verdachts strafbarer Handlungen von den Ermittlungsbehörden gesucht wurden. Diese Personen waren während des Spiels mit den neuen Techniken der visuellen Überwachung eindeutig identifiziert worden. In der C i t y von London gerät jeder Fußgänger im Durchschnitt alle acht Minuten in das Blickfeld einer Überwachungskamera. Es bereitet keine technischen Schwierigkeiten, die Schritte eines Menschen sogar rund um die U h r aus der Ferne zu überwachen und zu verfolgen. Begünstigt von dieser neuen Technik der visuellen Identifikation (visual identification) werden aber nicht etwa nur mißtrauische Ehefrauen. Geradezu dramatisch wird der Fall vielmehr, wenn sich der Staat mit dem Hinweis auf die Bedürfnisse der inneren Sicherheit sogar in einer glaubwürdigen Form des Menschen und seiner Lebensführung durch die totale Überwachung bemächtigt. Die Erfolge, die Scotland Yard mit Hilfe der Überwachungssysteme bei der Fahndung nach den Tätern der grauenerregenden Londoner Anschläge in diesen Tagen erzielt hat ( vgl. hierzu: B. Heimrich, Vier junge Männer mit Rucksäcken, FAZ vom 14. Juli 2005) und erwartungsgemäß noch erzielen wird, sind durchaus geeignet, diese Dramatik, aber ebenso auch die Sorge um den totalen Verlust der Privatheit (privacy), nur noch zu steigern. Was soll man, um ein letztes Beispiel zu bemühen, von der Ankündigung halten, daß wegen der Möglichkeiten der modernen Medizin vor allem mit der Organtransplantation die durchschnittliche Lebenserwartung noch in diesem Jahrhundert auf einhundert Jahre gesteigert werden könne? Sehen wir etwa einer Gesellschaft von Greisinnen und Greisen entgegen, die das Problem ihres Lebens und Überlebens nur noch durch die Kontingentierung und Selektion ihrer Nachkommenschaft lösen kann? Wird man sich aber unter diesen Umständen den Glauben an den Satz vom Menschen als dem Maß aller Dinge in seiner technokratischen Interpretation um des Überlebens der Menschen willen überhaupt noch leisten können? Welche Antwort sollen nun die Universitäten mit ihrer Wissenschaft auf diese Frage geben? Erinnern wir uns. Es ist noch nicht lange her, daß der Bonner Neuropathologe Brüstle den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen dazu bewogen hat, just in der Woche, in der der nordrhein-westfälische Landtag die Aufnahme des Tierschutzes in die Landesverfassung beschlossen hat, nach Israel zu reisen, um embryonale Stammzellen für Forschungszwecke zu besorgen. Dieser bemerkenswerte Vorgang fiel zeitlich mitten in die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen, die seit der Veröffentlichung des entschlüsselten menschlichen Genoms in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Universitäten mit ihren Genetikern, Biologen, Medizinern, Philosophen, Theologen oder Juristen bewegt haben und immer noch bewegen. Patrick Bahners sprach hier sogar von einem akademischen Bürgerkrieg. Dieser Bürgerkrieg, wenn man ihn dann so nennen will, ist durchaus nicht zu mißbilligen, geht es doch im Zusammenhang mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms um eine der Sache nach zwar alte, unter den gegebenen Verhältnissen jetzt aber völlig neu zu stellende Frage: Was ist der Mensch, und welche Folgen ergeben sich aus der Beantwortung dieser Frage für den Menschen? Dabei bedarf es schon des im freien Austausch der Argumente geführten offenen Dialogs, der nicht daran vorbeigehen kann, daß es hier auch um den humanen Einsatz von Wissenschaft und mithin um die Menschenwürde geht. Die Offenheit dieses Dialogs darf allerdings nicht durch unangemessene und überzogene Herrschaftsansprüche einzelner wissenschaftlicher Disziplinen gestört werden. Die Gefahr einer solchen Störung ist schon deswegen nicht von der Hand zu weisen, weil sich in der Tradition der Universität immer wieder einzelne wissenschaftliche Disziplinen dazu berufen wähnten, in der Bewältigung von Zukunft als maßgebliche Autorität die Richtung zu weisen. Leitwissenschaften
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in diesem Sinne waren im Mittelalter die Theologie, im Zeitalter der Aufklärung die Jurisprudenz und in der Reformuniversität Wilhelm von H u m b o l d t s die F ä c h e r der Philosophischen Fakultät und v o r allem die Philosophie selbst. Deren alles beherrschende Stellung ist im Laufe des 20. Jahrhunderts durch die Emanzipation der Naturwissenschaften und der Technik sowie durch den, wenn auch im Ergebnis erfolglosen Versuch gebrochen worden, nach dem E n d e des Zweiten Weltkriegs mit der Frankfurter Schule die Soziologie zur neuen Leitwissenschaft zu erheben. Auch und gerade in der Gegenwart lassen sich deutliche Tendenzen beobachten, in der Universität neue Leitwissenschaften zu etablieren. So sollen die Universitäten, wenn es nach den Erwartungen ihrer staatlichen Träger geht, unter teilweise erheblichem politischen D r u c k dazu angehalten werden, mit der Bevorzugung der marktgängigen Fächer vor allem der Betriebswirtschaft eine führende Rolle zuzuweisen. Wie weit diese Erwartungshaltung geht, belegt die verwegene, aber ebenso weltfremde wie törichte Maßnahme eines Wissenschaftsministers, die Volkswirtschaft zugunsten der Betriebswirtschaft aus den Universitäten zu eliminieren. Inzwischen hat sich die Situation jedoch grundlegend gewandelt. M i t der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts haben nicht nur die Genetik, sondern die gesamten, bis zur Medizin reichenden Biowissenschaften eine Aufwertung erfahren, die befürchten läßt, daß wir uns in der Universität sehr bald mit dem Problem der Leitwissenschaft erneut auseinanderzusetzen haben. Diese Befürchtung ist deswegen ernstzunehmen, weil uns schon die Universitätsgeschichte darüber belehrt, daß die mit der Leitwissenschaft begründete H e g e m o n i e einzelner wissenschaftlicher Disziplinen zu Einseitigkeiten und zu einer geistigen Verengung führt, die den Universitäten, ihrer Wissenschaft und nicht zuletzt der Kultur Schaden zufügen. D i e in der Vermittlung des „nützlichen Wissens" erstarrten und zu den sogenannten „Schulen" verkommenen Universitäten des späten 18. Jahrhunderts sind hierfür ein ebenso abstoßender Beleg wie die Huldigungen einer der Philosophie ergebenen Universität an eine vermeintlich „zweckfreie Wissenschaft". Seit wann ist die Wissenschaft jemals zweckfrei gewesen? Schwerer noch als die Tendenz zur Einseitigkeit und geistigen Verengung, die den Leitwissenschaften nun einmal eigen ist, wiegt in diesem Zusammenhang die G e f a h r der Selbstüberschätzung. Leitwissenschaften neigen, wie derzeit nicht nur die Hirnforschung belegt, im Bewußtsein ihrer hegemonialen Stellung zu Grenzüberschreitungen, ohne wahrzunehmen, daß sie damit selbst an ihren eigenen Herrschaftsanspruch H a n d anlegen. Auch und gerade in der gegenwärtigen Diskussion über die Entschlüsselung des menschlichen G e n o m s lassen sich solche Grenzüberschreitungen leicht ausmachen. So überschreitet der Nobelpreisträger James D . Watson, der mit seiner E n t d e c k u n g der Doppelhelixstruktur des Erbguts durchaus als Vater der modernen Genetik bezeichnet werden kann, erkennbar die G r e n z e n seines Fachs der Molekularbiologie, wenn er unter offenkundiger Anlehnung an die naturalistische Philosophie eines T h o m a s H o b b e s die Wissenschaft in den Dienst eines M e n schenbildes gestellt wissen will, bei dem sich der Verdacht eines neuen und subtilen Rassismus nicht v o n der H a n d weisen läßt. Wie will man diesen Verdacht entkräften, wenn Watson (Die E t h i k des G e n o m s , F A Z 2 6 . 9 . 2 0 0 0 ) ein „existenzielles R e c h t " , also das R e c h t auf die Existenz nur n o c h dem „gesunden und produktiven L e b e n " zugestehen will, das „ H o f f n u n g auf Erfolge" gewährleistet? H i e r ist die Wissenschaft mit all ihren Disziplinen dazu angehalten, Einspruch zu erheben und jenen offenen Dialog einzufordern, der verhindert, daß die Fragen nach der M e n schenwürde und nach dem humanen Einsatz von Wissenschaft dem Diktat der Molekularbiologie unterworfen werden. D e r M e n s c h mit seiner Existenz und seiner Würde ist eben mehr als der Vollzug seines genetischen Programms.
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Mit dem humanen Einsatz von Wissenschaft und der Menschenwürde aber werden Themen berührt, die nicht nur die Wissenschaftler im Austausch ihrer Argumente etwas angehen. Vielmehr haben die Universitäten zu gewährleisten, daß beide Themen auch in der wissenschaftlichen Ausbildung eine ihnen angemessene Berücksichtigung finden. Es kann doch nicht angehen, daß etwa Mediziner die Universität verlassen, die als Arzte im Berufsleben die Gesundheit ihrer Patienten oder aber die neue Frage nach dem Menschen lediglich als technisches Problem begreifen. Das gleiche gilt auch für den Juristen, der sich zwar in allen Finessen des Steuerrechts auskennen mag, aber in seinem Studium an der Frage der Menschenwürde vorbeigegangen ist. Mit der Verpflichtung auf die Menschenwürde reiht sich die Universität als Einrichtung der Wissenschaft nahtlos in das Gefüge des freiheitlichen Verfassungsstaats ein, der in der Gewährleistung von Demokratie und Rechtsstaat zu seiner politischen Lebensform gefunden hat. Die rechtsstaatliche Demokratie zeichnet sich durch den ihr eigentümlichen und einzigartigen Vorzug aus, daß sie die Rechtsordnung und damit das gesamte öffentliche Leben im Staat in den Dienst der Menschenwürde stellt. Deswegen bezeichnet das Bundesverfassungsgericht die Menschenwürde auch als das oberste Konstitutionsprinzip. Mit der Menschenwürde aber werden wir nicht auf den biologischen Tatbestand der „Gattung" Mensch, sondern statt dessen auf die Individualität oder Personalität, also auf das verwiesen, was nur dem Menschen selbst, nicht aber dem Staat, einer Partei oder der Gesellschaft gehört. Insoweit ist der Mensch in seiner Würde jeder Definition und damit auch jeder Art von Fremdbestimmung oder Herrschaft entzogen. Mehr wissen wir von der Menschenwürde und ihrer Unantastbarkeit nicht, und das ist auch gut so. Was wir allerdings wissen, ist, daß es einen eigentümlichen Zusammenhang gibt zwischen der Menschenwürde, der Freiheit, der Verantwortung, dem Glück und der Kultur. Bei jedem dieser Begriffe geht es um die individuelle Lebensentscheidung, also um die Entscheidung eines jeden Menschen, sein Leben und seine Zukunft im Sinne des Geistes zu bewältigen und zu verantworten. Ohne die Gewährleistung der Menschenwürde ist dies alles nicht möglich. Im freiheitlichen Verfassungsstaat sind daher auch die Universität und ihre Wissenschaften auf den Dienst an der Menschenwürde verpflichtet. Der Jurist denkt ebenso wie der Philosoph und der Theologe über die Menschenwürde nach. Der Historiker wird im Kommen und Gehen der Kulturen auch die Geschichte der Menschenwürde entdecken müssen. In den Naturwissenschaften und der Technik geht es um die Beherrschung einer Natur, deren friedliche und - wie wir heute besser denn je wissen - auch maßvolle Nutzung dem Menschen ein sinnvolles und mithin menschenwürdiges Leben erst ermöglicht. Um die Menschenwürde geht es auch in der Medizin. Die Gesundheit ist ein kostbares Gut, das dem Menschen, wie jedermann weiß, Freiheit und Glück beschert. Es gibt aber auch eine Würde des noch nicht geborenen Lebens, eine Würde des Kranken und eine Würde des Alters. Allein die Diskussion um die Grenzen der Gentechnologie, die Apparatemedizin und das Recht auf den natürlichen Tod sowie nicht zuletzt die versicherungstechnisch einwandfreie, medizinisch saubere Bewältigung des Altenproblems in der Heimunterbringung zeigen an, daß es hier noch viel zu tun gibt. So sind denn alle Wissenschaften mit der Menschenwürde auf eine Idee verpflichtet, die nicht nur die Einheit des Geistes in der Vielfalt der Wissenschaften bewahrt. Diese Idee wird sich darüber hinaus auch und gerade dann zu bewähren haben, wenn es um den Aufbruch in die virtuelle Welt der globalisierten Wissensgesellschaft geht. Darauf sind wir nach der Katastrophe des 11. September 2001 mehr denn je angewiesen.
Arbogast Schmitt
Die Platonische Akademie Die Akademie als philosophische Lebensgemeinschaft iele antike Philosophenschulen haben ihren Namen von dem O r t , an dem der Unterricht stattfand. So ist es auch bei Piaton: In einem Park des Heros .Akädemos' gründete er in den 80er Jahren des 4. Jahrhunderts v. Chr. seine Schule. Aus heutiger Sicht kann sie am ehesten als eine Art College bezeichnet werden. Hier studierten Schüler aus der ganzen damals bekannten Welt unentgeltlich in einer philosophischen Lebensgemeinschaft. Ziel war eine breite, systematisch entwickelte Fachbildung, für die eine Vielzahl von Forschern und Lehrern zuständig war, aber zugleich auch die Einübung in die praktischen Bedingungen eines guten, glücklichen Lebens. Wie erhaltene Zeugnisse über die Unterrichtscurricula zeigen, war die Ausbildung ganz auf die Vervollkommnung der besonderen Fähigkeiten der einzelnen ausgerichtet. Die optimale Verwirklichung dessen, was jeder von sich her kann, galt als die eigentliche Voraussetzung eines glücklichen Lebens. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, sollte der Schüler nicht gleich zu spontanen Eigenbeiträgen erzogen werden. Erst kam eine lange Phase des Lernens und Hörens, bevor er mit dem eigenen kritischen Urteil hervortreten durfte. Auf die Einübung des Gelernten wurde besonderer Wert gelegt. An jedem Abend und jedem Morgen sollte jeder alles am Vortag Gelernte und Besprochene vor sich rekapitulieren und im Gedächtnis festhalten. Gemeinsames Essen, gemeinsame Feste sorgten zugleich für Erholung von der Anspannung und für die Festigung der Freundschaft untereinander. Mit manchen Wandlungen und Unterbrechungen erhielt sich die platonische Akademie in Athen über fast ein Jahrtausend. 529 n. Chr. mußte sie auf Betreiben des Kaisers Justinian geschlossen werden.
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Die Akademie und ihr Weiterwirken Uber das konkrete Schicksal der Akademie im Lauf der Jahrhunderte wissen wir verhältnismäßig wenig. Anders steht es mit dem Wissenschafts- und Bildungsprogramm, das Piaton in seiner Schule verwirklichen wollte. Auch an ihm hat die Akademie in Athen nicht immer festgehalten, das Programm selbst aber wurde weitergetragen und weiterentwickelt, in der Zeit des Neuplatonismus (ab etwa 200 n.Chr.) mit besonders strengem Rückgriff auf Piaton (und a m Ort seiner Schule) selbst. Dieses Programm, das immer zugleich ein Wissenschafts- und Erziehungsprogramm war, endete auch keineswegs mit der geschichtlichen Schließung der Akademie in Athen. Die Gründung des Klosters Montecassino durch Benedikt im Jahr 529 bedeutete nicht einen Paradigmenwechsel, wie oft behauptet wird, in dem die platonische Zeit der Antike vom Christentum abgelöst wurde. Im Gegenteil: der Auszug der Platoniker aus der Akademie bewirkte eine immense Verbreitung ihres auf Piaton (und zur Einführung auf Aristoteles) gestützten Wissenschaftskonzepts in syrisch-persisch-arabisch-jüdische Kulturkreise, über die viel verlorenes Lehrgut später in den lateinischen Westen zurückfloß. Diese enorme Verbreitung .akademischen' Gedankenguts über ganz verschiedene Kulturräume und über Geschichtsepochen, die durch Brüche und große Divergenzen voneinander unterschieden waren, verweist auf eine erstaunliche innere Elastizität dieser .Schule'. Diese Offenheit zeigt sich auch daran, daß sie nicht nur über mindestens tausend Jahre (von 200 bis 1300 n.Chr.) den Aristotelismus integrieren konnte (der Aristotelismus der Spätantike und des Mittelalters ist ein neuplatonischer Aristotelismus), sie bildete auch innerhalb der einzelnen Kulturen das verbindende und die Einheit erklärende Band ihres geordneten Zusammenhalts. Außerdem ermöglichte sie auch über Jahrhunderte eine Religionsbrücke zwischen Antike, Christentum, Islam und Judentum, die erst mit der beginnenden Neuzeit und der Radikalisierung der Trennung von Verstand und Gefühl einbrach.
,Kein mathematisch Ungebildeter soll hier eintreten' Die Frage ist also durchaus interessant und einer akademischen Neugierde wert, was denn die Grundlagen dieses Schulprogramms waren. Piaton hat es zuerst im siebten Buch seiner .Politeia' entwickelt. Es geht ihm an dieser für sein Bildungskonzept zentralen Stelle um die Frage, ob es bei allem, was man erkennend, handelnd oder technisch produzierend tut, Kriterien gibt, die ausmachen, daß man dabei rational und nicht mehr oder weniger beliebig verfährt. Solche Kriterien wenden alle ständig irgendwie an, wie Piaton sagt, nur wenige aber wissen, worin eigentlich das Rationale an einem rationalen Handeln besteht, und können diese Kriterien daher nicht methodisch selbständig, sondern nur in zufälliger Intuition gebrauchen. Ein solches Wissen, in dem sich die Vernunft über ihre eigenen Akte aufklärt, nennt Piaton an dieser Stelle ein .koinón mäthema', ein allen gemeinsames Wissen und die Disziplin, die dieses Wissen reflexiv ermittelt, eine .koiné mathematiké epistéme', eine, wie die Lateiner übersetzt haben, .communis mathematica scientia' oder eine ,mathesis universalis'. .Mathematiké' heißt auf Griechisch ,zum Wissen gehörig' und nicht nur .mathematisch'. Piaton war aber in der Tat überzeugt, daß die Grundwissenschaft, die er suchte, eine mathematische Wissenschaft war. Uber
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Akademie
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dem Eingang der Akademie soll deshalb gestanden haben: .Keiner, der nicht mathematisch gebildet ist, soll hier eintreten'. Die Mathematik, die Piaton meint, ist freilich nicht eine Wissenschaft von homogenen Quantitäten. Dieses Mathematikverständnis ist selbst ein geschichtliches Produkt, dessen Entstehung (v.a. bei Vieta, Stevin und Descartes) unmittelbar mit der Destruktion des platonischen Rationalitätsbegriffs zu Beginn der Neuzeit verbunden ist. Die platonische Mathematik ist aber auch keine Zahlenmystik, auch wenn dieses Vorurteil immer noch weite Verbreitung hat. Piaton beruft sich vielmehr auch an dieser Stelle der ,Politeia' auf den von ihm vielfach geführten Nachweis, daß man etwas nicht denken kann, wenn es nicht mit sich identisch und von anderem unterschieden ist. Identifizierbarkeit und Unterscheidbarkeit sind für ihn daher Grundforderungen des Denkens an seine (nicht die äußeren) Gegenstände, Denken ist seinem primären Akt nach ein Unterscheiden (.krinein').
Mathematik als Erkenntnistheorie Die großartige und folgenreiche Entdeckung Piatons war, daß man durch die Reflexion auf die Bedingungen, die es dem Denken möglich machen, seine ihm eigene Leistung, das Unterscheiden, auszuführen, ein ganzes, in sich strukturiertes und hoch differenziertes Wissenschaftssystem erschließen kann, und daß dabei zuerst die Begriffsbedingungen mathematischer Gegenstände aufgedeckt werden. Wenn man fragt, an welchen Kriterien man prüft, ob sich etwas unterscheiden läßt, dann wird nach Piaton klar, daß man etwas nicht unterscheiden kann, wenn es nicht ein Eines ist, das mit sich identisch, von anderen verschieden ist, das ein Ganzes ist, das Teile hat, die alle als Teile dieses Ganzen einander gleich, gegeneinander aber verschieden, also ähnlich sind, usw., usw.. Einheit, Identität, Verschiedenheit, Ganzheit, Teil, Gleichheit, Ähnlichkeit, Diskretheit, Kontinuität, Anfang, Mitte, Ende usw. sind also Kriterien, an denen man sich unbemerkt oder ausdrücklich bei jedem Erkennen orientiert. Wer einen Ton hören will, muß bemerken, wodurch er ein Ton ist, d.h. er muß ihn in seiner Identität gegen von ihm verschiedene Töne abgrenzen, muß darauf achten, wann er anfängt, wie lange er gleich bleibt, wann er aufhört, usw. In der Mathematik tut man grundsätzlich das gleiche, aber man untersucht nicht, ob irgendetwas identisch ist, sondern was Identität, Gleichheit, Ähnlichkeit usw. sind, d.h., was zu ihrem Begriff gehört. Die platonische Mathematik ist daher sowohl eine besondere wie ein allgemeine Wissenschaft. Für sich besteht sie in einer Analyse der Begriffsbedingungen möglicher Einheiten überhaupt, als allgemeine Wissenschaft ist sie Anwendung dieser Einheitskriterien auf alle möglichen Erkenntnisgegenstände. Entgegen einem immer noch verbreiteten Vorurteil ist das Zentrum der platonischen Philosophie nicht eine Schau jenseitiger Ideen, sondern eine Reflexion des Denkens auf sich selbst. Auf dieses Ziel hin war der Unterricht in der Akademie von Anfang an ausgerichtet. Er begann mit einer Interpretation des Dialogs .Alkibiades', durch die der Studierende einen ersten Begriff von Selbsterkenntnis gewinnen sollte, und endete (v.a. bei der Interpretation der Dialoge .Parmenides' und .Timaios') mit der Frage nach der einen (göttlichen) Vernunft, die als Ermöglichungsgrund der menschlichen Vernunft erschlossen werden sollte. Im Kreis der Wissenschaften der sogenannten sieben .Freien Künste' (.artes liberales') bildeten die Inhalte dieses Unterrichts die
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Grundlage des Universitätsstudiums bis ins ausgehende Mittelalter und, wenn auch mit gewichtigen Änderungen, partiell sogar noch bis ins 18. Jahrhundert.
Zum Untergang der Platonischen
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Zu Beginn der Neuzeit entwickelten sich philosophische Ansätze mit einem radikal neuen Begriff von Denken. Denken wurde als Repräsentation der (äußeren) Wirklichkeit verstanden. Die Gliederung des Wissens kam jetzt von den Bereichen, auf die das Denken angewendet wurde - mit der Folge immer neuer ,Ausdifferenzierungen' und Spezialisierungen. Ein systematisches Band der Wissenschaften untereinander erscheint bis heute als Relikt einer dogmatisch naiven (.mittelalterlichen') Philosophie. Die Frage kann aber gestellt werden und sie muß auch gestellt werden, weshalb von diesem neuen Begriff von Denken aus die platonische Philosophie als eine spekulative Seinsphilosophie beurteilt wurde, die eine Reflexion des Denkens auf sich selbst (als auf die Bedingung der Möglichkeit jeder Art von Erkenntnis) noch gar nicht als Aufgabe erkannt hatte. Die Antwort (die ein langjähriges Forschungsprojekt nahelegt) scheint zu sein: Es handelt sich um zwei so verschiedene Begriffe vom Denken selbst, daß im Horizont des einen der andere nur als Vorform oder Fehlform von Denken verstanden werden kann. Geht man von Piaton aus, ist die Grundhandlung, die das Denken ausführt, ein Unterscheidungsakt. Man sucht mit Hilfe der reflexiv ermittelten Kriterien des Unterscheidens etwas zu erfassen, was zu einer einheitlich unterscheidbaren Sache zusammengehört. Daraus ergibt sich eine Kritik an einem Denken, das sich allein auf die Empirie stützen will. Keine Gegenstandseinheit, die man beobachten oder mit den anderen Wahrnehmungen erfassen kann, läßt sich als eine für sich unterscheidbare Sacheinheit festhalten. Piatons beliebtes, weil sehr einfaches, aber aussagekräftiges Beispiel ist der Kreis. Das, was man von einem Kreis im Sand, auf der Wachstafel, aus Erz mit Sinn und Verstand erkennen kann, läßt sich nicht in einem Begriff vereinen. Man braucht mindestens zwei Begriffe, etwa einen Begriff von Sand und einen von Kreis, um dem einen Begriff die braune Farbe, die vielen kleinen Körner, dem anderen die geschlossene, einförmige Linie, usw. zuzuordnen. Und man versteht das Ganze nur als Verbindung, als Zusammensetzung, Synthese aus beiden für sich unterschiedenen Sacheinheiten. Tut man dies nicht, sondern nimmt die gegebene Gegenstandseinheit als Sacheinheit, gerät man in Widersprüche, weil dann ein und dieselbe ,Sache' sowohl aus vielen kleinen Teilen wie aus einer kontinuierlichen Linie gebildet erscheint, usw. In seinem Dialog ,Theätet' versucht Piaton zu zeigen, daß alle grundsätzlichen skeptischen Einwände (v.a. des Sophisten Protagoras) gegen die Möglichkeit von Erkenntnis auf der Verwechslung von Vorstellung und Wahrnehmung bzw. begrifflichem Denken beruhen, und Aristoteles pflichtet ihm in seiner Metaphysik bei. Denn mit der Vorstellung bezieht man sich auf den ganzen, der Wahrnehmung gegebenen Gegenstand. Die Richtigkeit der Erkenntnis scheint dann von der möglichst vollständigen und unverfälschten Repräsentation des äußeren Gegenstands in der inneren Welt der Vorstellung abzuhängen. Die um 300 vor Christus sich entwickelnde Philosophenschule der Stoa vertrat genau dieses Erkenntnisideal: ein Gegenstand galt ihr dann als objektiv erkannt, wenn er in der Vorstellung genauso, wie er real existiert, klar und deutlich wie-
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dergegeben war. Die Widersprüche und Ausweglosigkeiten, in die man mit dieser Position gerät, hat die beinahe zugleich mit der Stoa entstehende Skepsis an einer Unzahl von Beispielen demonstriert und die alte Position des Protagoras erneuert: Wir stellen die Welt nicht vor, wie sie ist, sondern auch mit den klarsten und deutlichsten Vorstellungen nur so, wie sie uns - unter bestimmten Umständen, in bestimmter subjektiver Verfassung, usw. - erscheint. Schon die antike, v.a. skeptisch beeinflußte Philosophiegeschichtsschreibung hat die platonischen Ideen mit den klaren und deutlichen (.kataleptischen') Vorstellungsbildern der Stoa gleichgesetzt und Piaton mit der Stoa eines naiven Dogmatismus bezichtigt. Die Philosophie der Frühen Neuzeit hat sich nach einer mehr als tausendjährigen Phase neuplatonisch-aristotelischen Denkens ausdrücklich auf die hellenistischen Philosophenschulen zurückbezogen und mit ihnen die Vorstellung (die auch nach Aristoteles alle unsere Denkakte begleite, so etwa Pomponazzi) wieder zum führenden und primären Erkenntnisorgan erklärt. Aus den klaren und deutlichen Vorstellungen wurde in der Aufklärungsphilosophie bei Christian Wolff ,das Bewußtsein'. Reflektiert man vom Standpunkt des Bewußtseins aus auf den Grundakt des .Denkens', dann sind es die ,Modi des Bewußtseins', die Art und Weise, wie uns auf Grund der Bedingungen der Vorstellungskraft die Dinge erscheinen, die diesen Akt ausmachen. Diesen Bedingungen hat Piaton keine reflexiv kritische Analyse gewidmet. So entstand auch in der Neuzeit der Eindruck einer gleichen naiven Dogmatik bei Piaton wie bei den Stoikern. Auch er schien es nicht für nötig gehalten zu haben, vor der Erkenntnis der Gegenstände des Denkens erst einmal das Denken selbst, das Werkzeug, mit dem wir uns die Welt erschließen, kritisch zu analysieren. Wenigstens darauf aufmerksam zu machen, daß der Begriff von Denken, der bei diesem (Vor-) Urteil zur Grundlage gemacht wird, nicht einfach enthält, was ,das Denken' ist, sondern von ganz bestimmten geschichtlichen Entwicklungen abhängig und durch sie auch begrenzt ist, ja, daß er auch von der Sache her kein absoluter, jeder Kritik enthobener Begriff ist, war ein Anliegen dieses Beitrags: Wir finden bei Piaton nicht etwa keine Reflexion auf das Denken und seine Akte, sondern lediglich eine Reflexion auf einen mit bedenkenswerten Gründen anders ausgelegten Begriff des Denkens.
Claudia
Schmölders
Schicksale der Höflichkeit
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ie anschwellende Höflichkeitslernbewegung, die vor rund fünfhundert Jahren in der Renaissance begann, hat den Aufstieg neuer sozialer Schichten begleitet. Das Buch des Freiherrn von Knigge wurde ganz gegen seine Ambition zum Inbegriff der bürgerlichen Tendenz nach oben, zur Schicht der Herrschenden, womöglich zum Adel. Nun ist der Adel heute nicht mehr die wirklich gesellschaftsbestimmende Instanz, auch wenn es in Deutschland seit der Wiedervereinigung mit den hingebungsvollen Pflegediensten an alten Schlössern, den Preußenbällen und den wachsenden Familienverbänden so aussehen könnte. Es gibt, nach Auskunft des letzten Luhmann-Schülers und Assistenten André Kieserling, nicht einmal mehr jene sogenannte „gute Gesellschaft", auf die man sich noch nach 1945 bezog. Adelige Figuren des öffentlichen Lebens aus dieser Zeit wie Marie Luise von Kaschnitz oder die Gräfin Dönhoff sind als Berufsfiguren vorbildhaft, nicht ihrer Herkunft wegen. Also nicht um in adelige Kreise, sondern um in der ökonomischen Leistungsgesellschaft nach oben zu kommen, werden Höflichkeits-Kurse und -Bücher und -Websites heutzutage in Anspruch genommen. Was wird aber nun gelehrt? Zu wissen, 1. was man, 2. warum, 3. wie, 4. wann und 5. wo, und 6. vor wem oder für wen zu tun oder zu lassen hat, das ist in Kürze der Inhalt solcher Wissensvermittlung. Sie stellt uns, etwas erschreckend, das Leben als eine Sache vor, die rundum erlernt werden muß. Man kann es auch empirischer ausdrücken, zum Beispiel so: Zu wissen, wie man sich wann anzieht; wie man welches Besteck zu welcher Speise benutzt; wie viele Gläser auf dem Tisch pro Platz stehen müssen, wenn man selber einlädt. Wie man kondoliert, glückwünscht, grüßt und verabschiedet, wann mündlich und wann schriftlich, und wenn schriftlich auf welchem Briefpapier und innerhalb welcher Frist - dies alles und noch viel mehr muß und kann erlernt werden, wenn es um das Verhalten in den oberen Etagen des Sozialgefüges geht. Es sind Regeln für Aufsteiger in Wirtschaft, Politik und Medienwelt.
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Claudia Schmölders
U n d hier oben taucht dann eben doch der Adel wieder auf, einfach als Habitus einer europäischen Herrschaftsschicht, deren Alter, Exklusivität und internationale Verwandtschaft w o m ö g lich Unsterblichkeit garantieren. I h r bekanntester deutschsprachiger Soziologe wurde seit 1939 N o r b e r t Elias mit seinen Studien über das Benehmen beim französischen H o f und den „Prozeß der Zivilisation"; so der Titel seines Buches. I h r momentan bekanntester Propagandist ist der äthiopische Prinz Asfa-Wossen Asserate, dessen - auf deutsch verfaßtes - Manierenbuch aus dem J a h r 2 0 0 3 allein im deutschen Sprachraum hunderttausendfach verkauft wurde. D a s Buch kam zur rechten Zeit, um den gleichfalls Hunderttausenden von Manager- und Lifestyleratgebern den nötigen adligen Stammbaum zu verschaffen. Das Buch des Prinzen, der 1968 nach Deutschland kam, gehört in die Geldgesellschaft nicht nur aber auch deshalb, weil diese immer globaler agiert. Zwar nennt der Prinz seinen größten Konkurrenten Knigge an keiner Stelle beim N a m e n , aber dessen berühmte Feststellung teilt er vollauf: die Beobachtung nämlich, wonach keine Gesellschaft in ihren Einstellungen und Verhaltensweisen so zersplittert und vielfältig ist wie eben die deutsche. Das sogenannte Ausland ist viel einheitlich altmodischer als wir. Schon hört man, daß die Osterweiterung in Brüssel unter anderem deshalb begrüßt wird, weil die osteuropäischen Frauen sich angeblich gerne in den Mantel helfen lassen.... Auch wenn es nicht stimmt, ist das doch gut erfunden. D e r Eindruck wird aber bestätigt, wenn man das Wort „manners", zu deutsch Manieren, beim englischen G o o g l e aufruft. N i c h t eine Million, nein fünf Millionen Einträge tauchen auf und sind offenbar nicht dem viel größeren englischsprachigen R a u m zu verdanken, denn das Wort „politeness", zu deutsch H ö f l i c h k e i t , zeigt nämlich auch nur sechshunderttausend. D a ß es im englischen Sprachraum altmodischer zugeht, mag auch der Begriff „Etiquette" belegen, der mit neun Millionen zu B u c h e schlägt, und im Deutschen nur mit 450 000. M a n m u ß nur den einen oder andern Link im englischen G o o g l e aufrufen, um den sehr anderen Stil des Argumentierens zu erfassen. Zahlreiche Hinweise gelten hier Websites aus dem Geist des C o m m o n w e a l t h , die sich wirklich um einen c o m m o n wealth, einen allgemeinen Reichtum an Manieren und den Respekt v o r anderen Gesellschaften kümmern. Das ist die Website für Studenten, die im Ausland studieren oder eben für Handlungsreisende, die im Ausland Geschäfte tätigen wollen, und die alle hier nun genaue Handlungs- und Sprechvorschriften finden können, die sogenannten „ D o s and D o n ' t s " , zu deutsch sinnigerweise mit dem französischen „comme il faut" zu übersetzen oder eben richtig mit: „Das was man tut und was man läßt". D e r Handel mit „Multikulti-Manieren" gilt auch für Touristen, aber noch mehr in der Welt der Manager, denn wer kann schon in Japan, dem U r - L a n d der Höflichkeit, Geschäfte machen, wenn er nicht weiß, was ein Lächeln bedeutet oder wie man eine W o h n u n g betritt. I m Vergleich dazu wirkt die Auskunft des deutschen Wikipedia-Lexikons geradezu kindlich, nämlich in erster Linie angstbehebend und mitleidbefördernd. D e r Leser soll vor den Zumutungen der großen fremden Welt mit ihren abschreckenden Differenzen und auch vor der Mühe des sozialen Rangkampfes geschützt werden. Lieber wird der Blick auf die sozial Schwächeren eingeübt. Tendenziell, meint der A u t o r in Wikipedia beruhigend, würden die Umgangsformen ohnehin lockerer und glichen sich auch international bis zu einem gewissen Grad an. Gleichzeitig bewirkten Erscheinungen wie Einwanderung oder höhere Arbeitslosigkeit neue Unterschiede. D e m A u t o r angeblich ungewohnte Fragen tauchen auf: soll man im Autobus aufstehen, wenn jemand wesentlich Älterer einsteigt oder gar eine Frau? Soll man zu einem Bewerbungsgespräch in Schale erscheinen oder mit legerer Kleidung einen lockeren Eindruck hinterlassen? Sollte ich
Schicksale der Höflichkeit
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ohne weiteres jemanden duzen? Zugegeben: Keine dieser Fragen hat etwas mit der Einwanderung zu tun oder mit den Arbeitslosen, aber sie stehen unvermittelt neben diesbezüglichen wie etwa: soll man Arbeitslose nach ihrem Befinden fragen? oder soll man auf muslimische Kleidung reagieren? und so fort. Nicht der Prinz, wohl aber die Auskunft des deutschen Wikipedia steht in einer sehr deutschen, eher antihöfischen als antihöflichen Tradition. Fast zweihundert Jahre nach Knigge schließt Wikipedia an den fundamentalen Manierenverdruß der 1970er Jahre an. Tatsächlich ist für die Geschichte der deutschen Höflichkeit das Jahr 1970 ein ungemein vielsagendes Schlüsseljahr. Einerseits gab es damals das erste Manifest des sogenannten „Fachausschusses für Umgangsformen", hinter dem sich der Deutsche Tanzschulenverband verbarg. Tino Schneider, ein Tanzlehrer, hatte den Ausschuß 1956 ins Leben gerufen; es war eine Parallelaktion zwecks Verbesserung der deutschen Manieren pünktlich zum Erscheinen des damaligen Standardwerkes der berühmten Erika Pappritz, ihres Zeichens Protokollchefin unter Adenauer. Die Tanzschulen ihrerseits verbreiteten kleine Heftchen mit den nötigsten Informationen. Damals konnte man noch glauben oder jedenfalls schreiben, daß die Tanzstunde für junge Menschen „der erste Schauplatz für das Auftreten in einem größeren Kreise" sei! In diese Höflichkeitsszene hinein publizierten die linken Intellektuellen 1970 einen Sammelband unter dem Titel „Das Ende der Höflichkeit". In der Einleitung hieß es ausdrücklich: „Die Autoren dieses Buches haben ein gemeinsames Interesse. Sie wollen eine Problematik in die öffentliche Diskussion ziehen, die bisher von der pädagogisch-politischen Kritik weitgehend verschont wurde: die der Anstandserziehung, der Unterweisung in den Normen des guten Benehmens, der Initiation in die Rituale der Höflichkeit. Sie haben beobachtet, daß in diesem Bereich, weitab aller erziehungswissenschaftlichen Reflexion, reaktionäre Inhalte und Verhaltensmaßregeln ungestört weiter vermittelt werden. Sie haben festgestellt, daß die bürgerlichen Konventionen heute wie eh und je dazu dienen, denen, die sich ihnen unterwerfen, Interessen einzureden, die sie nicht haben, und denen, die davon profitieren, bei der Verschleierung ihrer Interessen behilflich zu sein." Gleich der erste Beitrag setzt mit der rhetorischen Frage ein, „ob es in einer Gesellschaft wie der unseren überhaupt sinnvoll sei, zum Anstand und zur Anständigkeit, zum sittsamen Benehmen und zum sittlichen Handeln zu erziehen." Nein, war die Antwort; vielmehr müsse es doch um die Aufdeckung der Unanständigkeit eben jener Gesellschaft gehen, die im gleichen Atemzug nach Anstand, Sauberkeit und Ordnung verlange, in dem sie Völkermord und Folter gutheiße. Mit der Verschiebung von Höflichkeit zu Anstand hatten die Autoren in der Tat einen berüchtigten Schlüsselbegriff in der Hand. Man hätte an das hunderttausendfach verkaufte Pamphlet „Schafft anständige Kerle!" aus dem Jahr 1939 erinnern können; aber man brauchte nur den Schreckensausspruch von Himmler zu zitieren, aus Posen 1943: „Ein Grundsatz muss für den SS-Mann absolut gelten: ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir nur zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemandem. Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht, ist mir total gleichgültig. Wir Deutsche, die wir als einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen, aber es ist ein Verbrechen gegen unser eigenes Blut, uns um sie Sorge zu machen." So also Himmler im Jahr 1943. Natürlich wurde im empörten Sammelband von 1970 auch ein Stück Klassenkampf aufgeführt, wenn auch unter den bekannten deutschen Vorzeichen. Zum Schluß hörte es sich dann so an:
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Claudia
Scbmölders
„Politisch kann man das meiste von dem, was hierzulande unter dem Titel Anstandserziehung angeboten wird, nur als Augenwischerei und Volksverdummung bezeichnen. In den Tanzstunden werden die Jugendlichen der Mittelschichten mit den Einschüchterungsritualen vertraut gemacht, die die Oberschichten für alle die bereithalten, die sich etwa anschicken wollen, es ihnen - wenigstens im äußeren Umgang - gleich zu tun." Dieser Meinung waren freilich längst nicht alle linken Denker und erst recht nicht die älteren Jahrgänge. Im selben Jahr 1970 bewunderte Jean Amery im Jahrbuch für kritische Aufklärung den Begriff der Toleranz in der revolutionären Tradition der Franzosen. Man habe ihn der Höflichkeit zugeordnet und diese wiederum ganz zum sozialen Alltag geschlagen. „Jedermann wurde zum > Herrn Monsieur