Gewissen und moderne Kultur [Reprint 2018 ed.] 9783111657578, 9783111273334


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Inhalt
Einleitung
I. Abschnitt. Das Gewissen
II. Abschnitt. Die moderne Kultur
III. Abschnitt. Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart
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Gewissen und moderne Kultur [Reprint 2018 ed.]
 9783111657578, 9783111273334

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Gewissen und

moderne Kultur.

Hugo Sommer.

Berlin. Druck und Verlag von Georg Reimer.

1884.

Inhalt. Seite

Einleitung

1

I. Abschnitt.

Das Gewissen. II. Abschnitt.

Die moderne Kultur. Erstes Kapitel. Der Aufschwung der Naturforschung. Die Neugestaltung des wirthschaftlichen, politischen und socialen Lebens in der Gegenwart. Positivismus. Materialismus...............................................................30 Zweites Kapitel. Der Kriticismus Kants.

Der Idealismus. Der moderne Pessimismus

in.

Abschnitt.

Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart. Erstes Kapitel. Die Haltlosigkeit des Materialismus..........................................................55 Zweites Kapitel. Die Vereinbarkeit der Ergebnisse der neueren Naturfvrschung mit der sittlich-religiösen Weltansicht

42

IV

Inhalt.

Seite

Drittes Kapitel. Tie Gestaltung einer gesunden volksthümlichen Philosophie

....

103

Viertes K'apitel. Die sittlichen Fragen des socialen, politischen und wirthschaftlichen Lebens der Gegenwart............................................................................ 110

Einleitung. Der Begriff der Sittlichkeit findet seinen Ursprung und seine Erklärung in der Thatsache des Gewissens.

Das Gewissen ist

einem jeden unmittelbar bekannt, weil ein jeder es unmittelbar in sich erlebt, und dieses Erlebniß in der Erinnerung zu reproduciren und vorzustellen vermag.

Statt aller weiteren Definition verweise

ich auf dieses Erlebniß, und fordere meine Leser auf, sich den Thatbestand desselben während

der nachfolgenden Betrachtungen

im Geiste zu vergegenwärtigen. Ich verfolge dabei den doppelten Zweck, einmal, meine Untersuchungen aus eine allgemeinverständ­ liche Basis zu stellen, und sodann, die Einseitigkeiten und Mängel auszuschließen, welche jede begriffliche Formulirung eines that­ sächlich gegebenen Inhalts mit sich bringt. Ueberdies ist das Ge­ wissen einzig in seiner Art, so daß dasselbe weder durch Unter­ ordnung unter irgend welche noch verständlichere Allgemeinbegriffe, noch durch Vergleichung oder Verknüpfung mit anderen bekannteren Thatsachen eine inhaltliche Erläuterung oder Bereicherung erfahren könnte.

Der Versuch einer begrifflichen Definition würde daher

nur zu einer Verflachung oder Verkürzung dessen führen, was wir im Gewissen unmittelbar in seiner vollen lebendigen Wirklich­ keit erleben.

Durch solche Verweisung wird zugleich der Weg der

Sommer, Gewissen und moderne Kultur.

1

2

Einleitung.

nachfolgenden Untersuchung in seinen Grundzügcn bestimmt und festgelegt.

Derselbe beginnt mit der Anerkennung der Gewissens­

thatsache und besteht in seinem grundlegenden Theile nur in einer Verdeutlichung, Ueberlegung und Würdigung derselben. sorgfältiger Selbstprüfung die Thatsache

Wer bei

des Gewissens leugnet,

der lege das Buch bei Seite; dem Gewissenlosen kann das Wesen des Gewissens ebenso wenig klar gemacht werden, wie dem Blind­ geborenen das Wesen der rothen oder grünen Farbe, oder dem Tauben das Wesen der Tonempfindnng.

Für einen solchen giebt

es wohl Maximen der Selbstsucht, der Klugheit oder der Nützlich­ keit, aber weder Sittlichkeit noch sittliches Leben. Die Anerkennung der Thatsache des Gewissens ist die unabweisliche Vorfrage des sittlichen Lebens. Die einfache Verweisung auf das Gewissen führt jedoch zu einem

Bedenken,

das

wir uns

nicht

verhehlen dürfen.

Man

kann nicht ohne einigen Anschein von Berechtigung einwenden, daß es der Thatsache des Gewissens an der nöthigen Klarheit und Bestimmtheit mangele, welche das erste Erfordcrniß eines jeden Principes der Untersuchung bilden müsse. Allerdings ist das Gewissen kein so einfaches Erlebniß wie die einzelnen Arten der sinnlichen Empfindung, welche in allen Menschen

so

gleichartig und

übereinstimmend

zum Bewußtsein

kommen, daß in Betreff ihrer keine Mißverständnisse möglich sind. Der Inhalt dessen, was das Wesen des Gewissens ausmacht, was das Gewissen gebietet und voraussetzt, Untersuchung nicht so zweifellos fest,

steht beim Beginn der

wie die Einzelnheiten der

sinnlichen Erscheinungen oder die mathematischen Axiome.

Die

Ethik ist keine exacte Wissenschaft im Sinne der Mathematik oder der reinen Mechanik.

Das Gewissen umfaßt vielmehr einen viel

complicirteren Thatbestand, der überdies nicht in allen Menschen von Anfang an seinem ganzen fertigen Inhalte nach in voller Klarheit gegeben ist.

Es umfaßt einen Thatbestand, der sich in

Einleitung.

3

den einzelnen Menschen erst im Laufe des Lebens, und unter dessen erziehende» Einflüssen, aus einer allen gemeinsamen Natur­ anlage allmählig zur Reife entfaltet, der daher iit den verschie­ denen Menschen der verschiedenen Zeiten und Länder, je nach deren besonderen Lebensumständen, nach deren individueller Ver­ anlagung, nach deren verschiedenen Entwicklungs- und Bildnngsstadien mehr oder weniger klar, mehr oder weniger vollständig, niemals aber ohne alle Beimischung individueller Eigenthümlich­ keiten, zum Bewußtsein kommt. Dieser Sachverhalt darf uns nicht beirren. Man muß nur dem jetzt leider landläufigen Vorurtheile entsagen, daß alle Wissen­ schaften, wenn sie überhaupt Anspruch auf diese Bezeichnung er­ heben wollen, nothwendig dem Muster der Mathematik oder reinen Mechanik entsprechen müßten. Aufgabe der Ethik ist nicht: rech­ nungsmäßige Entwickelung aus einfachen Axiomen, sondern Ver­ deutlichung und Klarstellung der Principien des sittlichen Lebens. Hier ist Endziel der Untersuchung, was bei den mathematischen Wissenschaften Voraussetzung deren Bestandes ist: die Klar­ heit des Princips. Trotz aller individueller Verschiedenheiten in der Auffassung der Gewissensthatsache stimmen doch alle in dem überein, was man mit der Bezeichnung des Gewissens meint, also in dem Gegenstände der Untersuchung, und der Ver­ lauf der letzteren wird demnächst zeigen, daß der wesentliche In­ halt jener Meinung sich in allen um so schärfer deckt, je mehr es gelingt, der Vielfältigkeit der individuellen Erscheinungsformen des Gewissens gegenüber den inhaltlichen Kern dessen zu klarem Be­ wußtsein zu bringen, was das wahre Wesen des Gewissens aus­ macht. Die grundlegende Bedeutung einer solchen Selbst­ besinnung des Menschen über den centralen Inhalt und Zweck seines Lebens leuchtet von selbst ein. Sie erscheint jetzt besonders zeitgemäß und gradezu als die HauptV

4

Einleitung.

frage des sittlichen Lebens der Gegenwart,

denn keine

Zeit hat mit gleich rücksichtsloser Energie wie die Gegenwart in unermüdlicher Erschöpfung aller Denkmöglichkeiten an den Grund­ lagen des sittlichen Lebens gerüttelt; niemals sind diese Grund­ lagen, sei es durch theoretische Bedenken, sei cs durch einseitige Verfolgung anderer, die Aufmerksamkeit und das Interesse aus­ schließlich

absorbirender Ziele,

mehr gefährdet als in unserem

kritischen, leichtlebigen Zeitalter der Dampfmaschinen und Tele­ graphen. Die Anknüpfung an das thatsächlich Gegebene ist jetzt das Loosuugswort aller Wissenschaften.

Wir acceptiren diese

zeitgemäße Parole, welche sich auf allen anderen Wissensgebieten so fruchtbar und segensreich erwiesen hat, indem wir auch das sittliche Leben auf seine natürliche Grundlage zurückzuführen suchen,

und in

der Klarstellung dieser die sicherste Bürgschaft

ihrer gesunden Entwickelung und ihres endlichen Sieges über alle andrängenden Zweifel erblicken. Indem wir zuerst diese Haupt- und Vorfrage des sittlichen Lebens erörtern, gewinnen wir zugleich einen festen Maßstab zur Beurtheilung dernen Kultur

des sittlichen Charakters

und

der

Specialfragen des

der

mo­

sittlichen

Lebens, welche sich aus den besonderen Verhältnissen der modernen Kultur ergeben. Die Annahme

des Bestehens solcher besonderer Fragen

des sittlichen Lebens der Gegenwart kann principielle Bedenken erregen, welche eine kurze Erläuterung wünschenswerth machen. Man kann nicht ohne Grund einwenden, daß die Grundsätze des sittlichen Lebens wegen des nothwendigen Charakters ihrer Allge­ meinheit für alle Zeiten und Völker stets dieselben sein müssen. Es ist jedoch wohl zu erwägen, daß diese Grundsätze nicht starre Formeln oder Etiquettevorschriften sein sollen, in deren Befolgung sich das sittliche Leben erschöpfte, sondern vielmehr der selbstver-

Einleitung.

5

stündliche Ausdruck einer sittlichen Gesinnung, welche kein höheres Interesse kennt als die Erfüllung der sittlichen Bestimmung des Menschen. Diese umfaßt aber das ganze Leben nach allen Richtungen hin. Die sittliche Bestimmung des Menschen er­ weitert und vertieft sich daher mit der Weite und Tiefe des individuellen Gesichtskreises und der individuellen Lebensauffassung. Es ist klar, daß die Einzelsragen des sittlichen Lebens insofern, trotz der principiellen Gleichheit der sittlichen Grundsätze, bei den verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten doch verschiedene sein, und in ihrer Verschiedenheit zum Gegen­ stände besonderer Prüfung gemacht werden können. Wie die in­ dividuelle Lebensauffassung mehr oder weniger bedingt ist durch die geographischen, politischen, socialen und commerciellen Verhält­ nisse, welche das Leben der Einzelindividuen und ganzer Völker­ schaften beeinflussen, wie sie sich verschiedenartig gestaltet nach Maßgabe der besonderen Richtungen, welche die Entwickelung des geistigen Lebens in den verschiedenen Zeitperioden vorwiegend einschlägt oder begünstigt, so ändern sich auch die besonderen Fragen des sittlichen Lebens nach Ort, Zeit und den sonstigen Umständen, welche den jeweiligen Gesichts- und Jdeenkreis der Menschen be­ stimmen. Je mehr alle diese Verhältnisse sich in größerem Um­ fange consolidiren und gleichartig gestalten, um so schärfer treten gewisse besondere Fragen des sittlichen Lebens hervor, welche ein allgemeineres Interesse beanspruchen. Das Leben der Gegenwart gestaltet sich in allen diesen Be­ ziehungen für die Untersuchung weit günstiger als dasjenige der meisten früheren Perioden der Geschichtsentwicklung. Man redet mit Recht von einer modernen Lebensauffassung und einer mo­ dernen Kultur. In allen gegenwärtigen Kulturstaaten haben sich Recht und Sitte, alle Einrichtungen des öffentlichen und privaten Lebens in weiterem Umfange ziemlich gleichartig und einheitlich gestaltet. Der ganze gesellige und geschäftliche Ver-

6

Einleitung.

kehr, die Production und Verarbeitung der Güter, Handel und Industrie

haben sich

überall in praktischen und zweckmäßigen

VerfahrungSweisen, Regeln und Usancen verfestigt, und bieten in den verschiedenen Ländern eine so ähnliche Physiognomie, daß der äußere Verlauf des Lebens der einzelnen Menschen in den ver­ schiedenen Berufsarten und Lebenslagen

überall wesentlich die­

selben Phasen

der Entwickelung auf­

weist.

und

denselben Rhythmus

Trotz der nationale» Unterschiede und der verschiedenen

Gütervertheilung bildet die Menschheit aller

modernen Kultur­

staaten gleichsam eine große Erwerbs- und Verkehrsgemeinschaft, deren Gesammttypus den wirthschaftlichen und geselligen Lebens­ horizont der Einzelnen bestimmt und beeinflußt.

Ja, die Gemein­

samkeit erstreckt sich nicht bloß auf diese äußerlichen Lebensver­ hältnisse.

Auch das geistige Leben der modernen Menschen zeigt

vermöge der gleichartigen Erziehung und der gemeinsamen Pflege der Wissenschaften eine

größere Verwandtschaft.

Alle wichtigen

Entdeckungen in allen Wissenschaften, alle irgendwie bemerkenswcrthen oder auffallenden Ereignisse, werden in der Tagespresse und einer stets wachsenden Litteratur nach allen Seiten hin be­ leuchtet und besprochen. geistigen Atmosphäre,

Wir alle leben in einer gemeinsamen

in der unser Denken und Fühlen wächst

und sich entfaltet, welche uns empfänglich macht für alle in der Richtung der modernen Geistesentwicklung belegenen neuen Theorieen und Auffassnngsweisen.

Diese Pflegen auf die Gestaltung

der individuellen Weltansicht der Einzelnen um so allgemeiner, tiefgreifender und umgestaltender zu wirken, je mehr die Stützen des alten Glaubens, in dem sich die sittlichen und religiösen Ideen verfestigt haben,

vor

dem

Lichte

einer

neuen

Aufklärung zu

wanken beginnen. Diese wachsende Gemeinsamkeit des Lebens und der Interessen hat neben unleugbaren Vorzügen ihre augenfälligen Mängel.

Es

bilden sich über die höchsten Fragen des sittlichen und religiösen

7

Einleitung.

Lebens vielfach absprechende Tagcsmeinungen, welche, in leichtfaßlichen Bildern und Schlagworten fixirt, sich lawinenartig ver­ breiten und, durch Masfenwirkung verstärkt, auch widerstrebende Geister in ihre Bahnen zwingen.

In

diesen Tagesmeinungen

mischen sich die fruchtbaren Keime, welche durch das erweiterte Wissen der Gegenwart gelegt

sind

und

gleichsam

in

der Luft

schweben, mit vcrhängnißvollen Irrthümern und Vorurtheilen zu einer geistigen Gesammtbewegung, sich nur Wenige ganz stellungen

Viele

deren bestimmendem Einflüsse

entziehen können, in deren Lieblingsvor­

die maßgebenden Regulative ihrer Welt- und

Lebensauffassung finden. Diese Erwägungen lassen unschwer erkennen,

daß es aller­

dings einige höchst bedeutsame Fragen giebt, deren Eigenthüm­ lichkeit durch die besonderen Verhältnisse der

modernen Kultur

bedingt ist, und welche wir geradezu als die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart bezeichnen können. Angesichts dieser einleitenden Bemerkungen gliedert sich unsere Aufgabe in drei Abschnitte. In dem ersten soll das Princip der Thatsache des Gewissens entwickelt,

Sittenlehre aus

der

in dem zweiten sollen

die

Haupteigenthümlichkeiten der modernen Kultur dargestellt, in dem dritten endlich sollen die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart erörtert werden, welche sich aus der Consrontation des Gewissens und der modernen Kultur ergeben.

I. Abschnitt.

Aas Gewissen. Wie wir trotz der unzähligen Irrthümer, denen die Wahr­ heitsforschung von jeher verfallen ist und noch stets verfällt, doch unentwegt an dem Glauben festhalten, daß es nichtsdestoweniger eine Wahrheit giebt,

welche

das

unerschütterliche Ziel

des

menschlichen Erkennens bildet, so waren die Menschen von jeher, und so sind wir alle noch jetzt im Gewissen überzeugt,

daß es

auch ein allgemeinverbindliches Sollen giebt, welches die unverrückbare Norm des menschlichen Handelns bildet, wenn auch die Menschen über den Inhalt dessen, irrten und noch immer irren.

was sie sollen, vielfach

Diese Ueberzeugung,

daß der

Mensch nicht bloß zur eigenen Selbsterhaltung, zum Genuß des Lebens und zur Abweidung der Natur geschaffen sei, sondern daß er durch sein Leben eine Bestimmung zu erfüllen habe,

ver­

möge deren er zur Mitarbeit an dem Ganzen des Weltproceffes berufen sei, und durch welche seine Existenz in diesem Ganzen erst gerechtfertigt werde, dieses mit unmittelbarer Evidenz erlebte Bewußtsein einer sittlichen Lebensbestimmung bildet

den

charakteristischen

Inhalt

der

Gewissens-

9

Das Gewissen.

thatsache und den specifischen K-ern des wahren Mensch­ wesens überhaupt;

cs

verleiht

dem

Menschen

die

sittliche

Würde und Selbstachtung, welche ihn über alle anderen irdischen Geschöpfe erhebt.

Dieses sittliche Bewußtsein gründet sich auf

eine ursprüngliche Anlage der menschlichen Natur und bleibt als solche principiell wirksam und lebendig, wenn auch die Versuche der Verdeutlichung seines Inhalts mitunter zu einseitigen oder gar falschen Ergebnissen führen.

Es verhält sich mit der Ver­

deutlichung dieses Sollens nicht anders wie mit der Wahrheits­ forschung.

Wie die Menschen erst allmählich in fortschreitender

Geistesarbeit zur Erkenntniß kommen, und

die Ergebnisse der

Wahrheitsforschung stets noch viele und weite Lücken aufzuweisen haben, so schreitet auch die Selbstbesinnung des Menschen über das Ziel seiner sittlichen Bestimmung nur in einer stufenweisen Entwickelung fort, und in engem Zusammenhang mit der Er­ weiterung seines Wissens und seiner sonstigen Interessen. Sachverhalt entspricht auch

durchaus

Dieser

dem allgemeinen for­

malen Grundcharacter der menschlichen Natur, vermöge dessen das ganze Leben des Menschen auf das Princip freier Selbstentfaltung und Selbstarbeit gegründet ist. Dieses Princip schließt seinem Wesen nach die Möglichkeit der Täuschung und des Fehlgriffs in sich,

aber es hat ein aus­

reichendes Correctiv auf sittlichem Gebiete in dem Gefühle der Verantwortlichkeit und der Reue, indem ersteres zur Ueber* legung vor der That,

letzteres zur Einsicht des Verkehrten nach

der That anleitet, und damit jedem Einzelnen die Mittel zur Erkenntniß des Rechten an die Hand giebt.

Die sittlichen. Ver­

kehrtheiten Einzelner und ganzer Völkerschaften, welche mitunter Unsittliches zur Sitte stempelten und oft lange Zeit als solche bestehen ließen, liefern daher keinen Gegenbeweis gegen die prin­ cipielle Unfehlbarkeit des Gewissens; sie machen es vielmehr nur zur ernsten Gewissenspflicht, den wahren Inhalt dessen, was wir

10

I. Abschnitt.

sollen, stets um so gewissenhafter zu erwägen.

In der That ver­

schwinden diese Verirrungen, welche zumeist der Kindheitsperiode der Menschheit angehören, zusehends mit dem Fortschritte der Kultur und der allgemeinen Geistesbildung, um allmählich immer höheren

und

reineren

Auffassungen

des

Sittlichen Platz

zu

machen. Ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung der sittlichen Vorstellungen und deren gegenwärtigen Stand überzeugt uns, daß jene ebenso wenig resultatlos geblieben ist wie die Arbeit des wissenschaftlichen Erkennens. Wie diese zur Feststellung gewisser unumstößlicher theoretischer Grundwahrheiten

und zu einer

unabsehbaren Fülle

nützlicher

Kenntnisse führte, mit deren Hülfe sich das Leben nach vielen Nichtuugen hin zweckentsprechender und reicher gestaltet hat, so führte auch die fortschreitende Arbeit der sittlichen Selbstbesinnung zur allgemeinen Anerkennung gewisser unumstößlicher Grundsätze der Moral, welche im Recht und der herrschenden Sitte, wie in den

bestehenden

politischen

und

socialen

Einrichtungen

ihren

zutreffenden Ausdruck gefunden und sich dauernd verfestigt haben. Dieser

eiserne Bestand zweifelloser

moralischer Grundsätze

giebt dem Begriffe des Gewissens, dessen wesentlicher Inhalt in ihm zur sichtbaren Erscheinung kommt, jetzt eine alle Mißver­ ständnisse ausschließende Bestimmtheit.

Er diene auch den nach­

folgenden Betrachtungen als allgemeinverständliche Grundlage, denn es liegt mir ferne, die Ethik neu begründen zu wollen. Zweck dieses Abschnitts ist nur, Bewußtseins

der

Der

den Inhalt des sittlichen

Menschheit

in

dem

gegenwärtigen

Stadium seiner Entwickelung auf's Neue, und im engen Anschluß an die thatsächliche Grundlage des Gewissens, in einer prinzipiellen Erörterung zu verdeutlichen. Es sind im Wesentlichen drei Voraussetzungen, ohne welche das allgemein verbindliche Sollen nicht gedacht werden sann,

Das Gewissen.

11

und bereit thatsächliche Erfüllung wir im Gewissen mit unmittel­ barer Evidenz erleben. 1. Das Sollen setzt ein Wollen voraus. Moralische Vor­ schriften haben nur Sinn und Bedeutung für ein Wesen, welches ihnen Folge zu leisten vermag, welches daher nicht in allen seinen Lebensäußerungen nur dem Zwange äußerer Einwirkungen oder einer unabänderlich vorausbestimmten Wesensnatur blind gehorchen muß, sondern welches ganz allgemein die Fähigkeit hat, sich in seinen Entschlüssen und Handlungen selbst zu bestimmen, d. h. etwas Bestimmtes zu wollen. 2. Das Sollen kann seiner Natur nach nur in dem Be­ wußtwerden einer solchen Norm bestehen, welche den Willen zu erregen vermag. 3. Diese Norm muß sich vor allen anderen Erregungs­ mitteln des Willens durch einen specifischen Charakter aus­ zeichnen, der den Grund ihrer verbindlichen Kraft in sich trägt. Daß wir wollende Wesen sind, erleben wir unmittelbar. Fast kein Augenblick unseres wachen Geisteslebens verrinnt, ohne daß wir dieses oder jenes wollen. Das Wollen ist, wie alle ur­ sprünglichen Erlebnisse, etwas Thatsächliches, welches in seiner vollen Wirklichkeit nur erlebt und in der Erinnerung als vorge­ stelltes Erlebniß reproducirt, nicht aber erschöpfend definirt und ohne Rest in Begriffe übersetzt werden kann. Auch hier verweise ich statt aller weiteren Definition auf diesen Thatbestand, den sich jeder meiner Leser jeden Augenblick vergegenwärtigen kann. Die nachfolgende Untersuchung macht es jedoch wünschenswerth, daß wir uns der einzelnen Momente, welche wir in dem Thatbestände des Wollens unterscheiden können, speciell und klar bewußt werden. Jeder Willensact wird durch die Vorstellung des Werthes angeregt, welchen wir dem gewollten Ziele beilegen. Die Vor-

I. Abschnitt.

12

stellnng irgend eines Lustgefühls, welches das Gewollte wollenswerth macht, ist ganz allgemein das einzige denkbare Erregungs­ mittel des Wollens. Die Vorstellung des Gleichgültigen reizt uns nicht,

sondern

läßt

uns

kalt.

uns Lust macht, regt uns an,

Die

Vorstellung dessen,

es für uns zu erlangen,

was es zu

wollen. Lust, im weitesten Sinne des Worts genommen, ist, wie das Wollen selbst, eine lebendige Bewegung des Geistes, deren Inhalt wir

gleichfalls

können.

nur

erleben

aber

nicht

erschöpfend

definiren

Auch hier müssen wir daher auf den gegebenen That­

bestand verweisen, der einem jeden unmittelbar erlebbar ist. Nur über den Grund dessen, was uns Lust erregt, können wir eine allgemeine begriffliche Formel aufstellen, indem wir sagen, daß uns Lust erweckt, was unserer Wesensnatur entspricht oder förderlich ist; Unlust dagegen, was derselben wider­ streitet. Wollen kann daher nur ein Wesen,

welches nicht blos für

sich ist, sondern dessen Fürsichsein in einer bestimmten Natur­ anlage fixirt ist, vermöge deren es durch die wechselnden Zustände seines Lebens entweder fördernd oder hemmend berührt wird, ein Wesen mithin, dem die wechselnden Zustände seines Lebens wohl oder wehe thun. Aber die bloße Erregung der Lebensthätigkeit in bestimmter Richtung ist noch kein Wollen,

denn unter den Begriff solcher

Erregung fällt auch das Determinirtwerden eines Wesens durch äußere oder innere Nöthigungen.

Es ist die Vorstellung des

Werthes des Gewollten, welche den Willen erregt.

Zum Wollen

gehört daher nicht blos die Fähigkeit eines Wesens, Wohl oder Wehe zu fühlen, sondern außerdem noch die weitere Fähigkeit, sich Vorstellungen über künftige Ereignisse zu bilden, und das Wohl oder Wehe, welches mit den verschiedenen Mög­ lichkeiten des Wollens voraussichtlich verknüpft ist, im Voraus

DaS Gewissen.

13

zu erwägen; es gehört dazu endlich und vor Allem noch die Fähigkeit, sich nach dem Ergebnisse solcher Vorerwägungen für die eine oder die andere der sich darbietenden Even­ tualitäten des Wollens zu entscheiden. Diese letztere Fähigkeit ist das eigentliche Characteristicnm des Willens, sie besteht in der Freiheit der Wahlentschei­ dung zwischen mehreren sich dem Bewußtsein gleich­ zeitig darbietenden Motiven. So eng ist der Begriff der Freiheit mit demjenigen des Willens verknüpft, daß man ganz allgemein sagen kann: Freiheit ist die Fähigkeit eines Wesens, etwas Bestimmtes zu wollen. In der freien Wahlentscheidung offenbart sich der specifische Character des Willens. Wie der Wille selbst, so ist auch die Fähigkeit der freien Wahlentscheidung ein unmittelbares Erlebniß, dessen Wirk­ lichkeit ebenso zweifellos thatsächlich gegeben ist, wie die Fähigkeit des Wollens überhaupt. Wie diese, ist auch die Fähigkeit der freien Wahlentscheidung eine unabweisliche Vorbe­ dingung des Sollens; eine Vorbedingung, deren thatsächliche Erfüllung durch das Gefühl der Verantwortlichkeit und der Reue so evident bewiesen und beglaubigt ist, daß nur eine wissenschaft­ lich nicht mehr in Betracht kommende Skepsis an ihr zu zweifeln vermag. Diese Skepsis findet, wie ich beiläufig bemerke, ihren haupt­ sächlichsten Anhaltspunkt in einer falschen Fiction, durch welche man hier in die Auffassung des unmittelbar gegebenen Thatbe­ standes den Keim ganz ungerechtfertigter theoretischer Bedenken gepflanzt hat. Während der wirkliche Wille stets durch den vor­ gestellten Werth des Gewollten motivirt ist, hat man daneben die ganz ungegründete Fiction eines völlig unmotivirten und unbe­ rechenbaren Willens aufgestellt, und diesem eine sogenannte un­ bedingte Freiheit zugeschrieben. Einen solchen Willen giebt es nicht, und kann es nicht geben, da zum Wesen des Willens ge-

14

I. Abschnitt.

hört, daß er auf ein Object gerichtet ist, dessen vorgestellter Werth ihn selbst erst in's Leben rufen kann. Die an sich zweifellose Beobachtung, daß die Menschen sich in ihrem Wollen oft durch unsittliche Motive sinnlicher Lust und dergleichen bestimmen lassen, hat in Verein mit der Erwägung, daß die Befreiung von solchen Motiven für das sittliche Leben gefordert werden müsse, sogar zu dem Wahne verleitet, daß eine Freiheit von allen Motiven, also jene fingirte unbedingte Freiheit, unabweisliche Vorbedingung des sittlichen Handelns sei, während doch sittlich nur ein Wille ge­ nannt werden kann, der durch die Werthschätzung des Guten, also durch ein verständliches Motiv, zum Wollen des Guten be­ stimmt wird. Sehen wir von dieser falschen Fiction einer unbedingten Willensfreiheit ab, so fällt auch der Einwand dahin, daß das freie Wollen dem Causalgesetz widerstreite. Der Wille setzt vielmehr seinem Wesen und Begriffe nach grade umgekehrt die Geltung des Causalgesetzes voraus, da er stets durch den Werth des vorgestellten Objects motivirt, und seine Wirksamkeit lediglich durch die Möglichkeit bedingt ist, die Cousequenzen der verschiedenen sich ihm darbietenden Motive vorauszusehen und vorauszuerwägen. Die freie Wahlentscheidung zwischen mehreren sich dem Bewußtsein gleichzeitig darbietenden Motiven bildet nur einen eigenthümlich qualificirten Fall der Anwendung des Cau­ salgesetzes, welcher sich dadurch von allen in der äußeren Natur beobachteten Vorgängen unterscheidet, daß hier eine Reihe psychi­ scher Ereignisse im wollenden Wesen als Zwischenglieder zwischen Ursache und Wirkung eingeschaltet ist, welche sich, da Niemand seinem Mitmenschen in die Seele sehen kann, der Beobachtung durch Dritte entziehen. Diese im Innern des wollenden Sub­ jectes mitwirkenden und den Erfolg mitbedingenden psychischen Factoren enthalten aber an sich, nichts Räthselhaftes oder Unbe­ rechenbares. Sie bestehen in dem Vewußtwerden der verschiedenen

15

DaS Gewissen.

Eventualitäten des Wollens, in der Vorstellung und Abschätzung des verschiedenen Werthes derselben, und in der schließlichen Be­ vorzugung derjenigen Eventualität,

welche den Ausschlag

und die Entscheidung der Wahl herbeiführt.

giebt

Characteristisch ist

dabei insbesondere die stete Möglichkeit des Anderskönnens und das Gefühl der Verantwortlichkeit für den fchließlichen Ausfall der Wahl.

Erstere widerstreitet nicht dem Causalgesetz, denn alle

Eventualitäten des Wollens unterliegen diesem. Gefühl der Verantwortlichkeit, Spontaneität

des wollenden

fähiger Factor.

Letzteres,

ist ein variabeler,

Subjectes

das

durch innere

einer steten Steigerung

Selbst diese innere Spontaneität ist nicht un-

motivirt, sondern ihre Kraft und Wirksamkeit ist die Frucht des sittlichen Characters und der sittlichen Erziehung des betreffenden Individuums.

In dem Maße der Intensität, mit welcher hier

das Gefühl der Verantwortlichkeit die Entscheidung int Sinne des Gewissens herbeizuführen strebt,

giebt der Wille sich in seinem

sittlichen Wollen selbst das Gesetz.

Sind wir auch gewohnt, in

der äußeren Natur meist constante oder in gesetzlichen Grenzen veränderliche Kräfte wirksam zu finden, so widerstreitet doch die Variabilität jenes psychischen Willensfactors

nicht dem

Gesetze

der Causalität; um so weniger, als uns nichts in der Annahme hindert,

daß

der

Spielraum

aller

Eventualitäten

des

freien

Wollens aller willensfähigen Wesen, ebenso wie die ihnen inne­ wohnende Macht des LZollbringens, in dem Ganzen des Weltprocesses vorgesehen, und in den Umfang der allgemeinen Gesetz­ lichkeit mit aufgenommen seien,

so daß der Wollende als freier

Mitarbeiter an jenem Ganzen,

und doch in all seinem Wollen

dessen Gesetzen Unterthan, erscheint. Nach

diesen

Erwägungen ist wohl zweifellos,

daß es stets

und allein nur die Werthgefühle sind, welche den Willen be­ stimmen. Soll es daher eine wirksame sittliche Norm geben,

16

I. Abschnitt.

so kann die verbindliche Kraft derselben nur in dem ge­ fühlten Werthe dessen liegen, was sie gebietet. Sie kann eben deshalb nur in der Naturanlage des wollenden We­ sens

selbst begründet sein,

scheiden,

denn diese allein kann über das ent­

was von dem wollenden

Wesen als

Wohl oder Wehe

gefühlt wird. Nun sind die ihrer

Menschen, wie sie gehen und stehen,

Erziehung,

nach

den

besonderen Lebensumständen,

denen sie aufgewachsen sind, sehr verschieden. je nach den Umständen von ihnen als den.

je nach unter

Verschiedenes wird

Wohl oder Wehe empfun­

Selbst eine Verständigung darüber, was als werthvoll zu

betrachten ist, kann nur insoweit zwischen ihnen stattfinden, als ihre Naturen gleichartig veranlagt sind.

Eine allgemeinverbindliche

Norm des Wollens kann daher nur in denjenigen Grundzügen der menschlichen Natur begründet sein, Inhalt einer kann

nur

sein,

gemeinsamer

welche allen gemeinsam sind.

allgemeinverbindlichen was

von allen

Naturanlage

trotz

sittlichen

Menschen aller

nach

Norm deren

individueller

Unterschiede als werthvoll geschätzt wird. Solche Schätzung genügt jedoch in ihrer Allgemeinheit noch nicht, um das Wesen der sittlichen Norm hinreichend zu characterisiren. Der Begriff des Werthes oder der Lust ist in dieser Allge­ meinheit noch ein ganz unvollständiger.

Es giebt unendlich viele

Arten oder Grade des Wohl oder Wehe, und nicht alle genügen den Anforderungen, welche wir an den Werth der sittlichen Norm stellen müssen.

Die sinnliche Lust, die sonstigen Annehmlichkeiten

des Lebens in ihrer unabsehbaren Vielfältigkeit, die Freude über den Eintritt förderlicher oder nützlicher Ereignisse, die Gefühle der Liebe und Freundschaft, die Befriedigung des Ehrgeizes und der Kunstgenuß in seinen verschiedenen Formen liefern unzählige Bei­ spiele besonderer Gefühle, welche sich doch alle von dem unter-

17

Das Gewissen.

scheiden,

was das Wesen

der sittlichen Werthschätzung

aus­

macht. Worin besteht nun der specifische Character der letzteren; wo­ rin der besondere Werth, welcher dem Sittengesetze die verbind­ liche Kraft giebt? In den meisten jener vorangeführten besonderen Werthgefühle stimmen die

Menschen überein, weil sie auf einer gleichartigen

Naturanlage aller beruhen, am allermeisten in den sinnlichen Ge­ nüssen, weil alle Menschen bis auf gewisse Einzelheiten körperlich gleich organisirt sind, aber doch wird Niemand behaupten, das

Wesen des

Sittlichen auf

sinnlichen

Die gemeinsame Empfänglichkeit der

daß

Genuß gegründet sei.

Menschen entscheidet daher

für sich allein noch nicht über den sittlichen Character der in Frage kommenden Werthe.

Neben der Allgemeinheit muß vielmehr

eine allen unbedingt imponirende Bedeutung derselben verlangt werden. In Betreff solcher Bedeutung gilt im Allgemeinen die Regel, daß die Befriedigung eines Interesses um so tiefer, reiner

und

erquickender gefühlt wird, von je größerer Wichtigkeit dasselbe für den ganzen

Verlauf des Lebens,

treffenden zum Bewußtsein

und je mehr dieses dem Be­

gekommen ist.

Unbedingt werthvoll,

und in Folge dessen unbedingt verpflichtend für alle, kann daher nur das sein,

was dem specifischen Kerne und

der menschlichen Natur entspricht.

innersten Wesen

Die unbedingt verpflich­

tende Kraft der sittlichen Gebote ist nur daraus erklär­ lich,

daß der ganze Mensch auf seine sittliche

Bestim­

mung hin veranlagt ist, daßmithindas centrale Lebensinteresse des Menschen auf die Erfüllung seiner sittlichen richtet ist.

Bestimmung ge­

Dieses centrale Lebensinteresse wird dem Menschen in

dem Maße offenbar, als er seiner wahren Bestimmung inne wird. Dem sittlichen

Menschen erscheint das Gute,

was das

Gewissen

gebietet, als höchstes Gut, weil es dem Grundinteresseseiner Sommer, Gewissen unb moderne Kultur.

2

18

I. Abschnitt.

Natur entspricht; es erscheint ihm erhaben über alle anderen Arten der Lust, welche nur der Befriedigung irgend welcher be­ sonderer untergeordneter Lebensinteressen entspringen. Weil die Erfüllung der sittlichen Bestimmung die gedeihliche Entfaltung des Lebens überhaupt nach allen Richtungen hin bedingt und bestimmt, weil das Wohl aller Menschen davon abhängt, daß alle den Ge­ boten des Gewissens genügen, weil es ohne dieses Erforderniß keine wahre Befriedigung und kein wahres Glück giebt, so sind jene Gebote für alle verbindlich, und der unbedingte Werth des Sittlichen ist der wahre und alleinige Grund jener Allgemeinverbindlichkeit der sittlichen Gebote. Die Gewißheit dieses unbedingten Werthes des Sittlichen ist der specifische inhaltliche Kern der Gewissensthatsache. Diese Ge­ wißheit beruht nun allerdings auf subjektiver gefühlsmäßiger Schätzung, und kann ihrer Natur nach nur auf solcher beruhen, aber der entscheidende Gesichtspunkt ist hier, daß solche subjective Schätzung des Sittlichen unabhängig ist von dem Belieben und der Willkür des Subjectes, daß dieselbe vielmehr eine nothwendige Consequenz der Wesensnatur des Subjec­ tes ist, welche dieses sich nicht selbst gegeben hat, sondern welche ihm anerschaffen ist. Wie das Leben selbst, so empfängt der Mensch auch die Bestimmung seiner Wesensnatur aus der Hand des schöpferischen Grundes aller Wirklichkeit. Der Grundcharacter der dem Menschen anerschaffenen Wesensnatur bestimmt die Form und Richtung seines Denkens, Fühlens und Wollens, entscheidet mithin auch über das, was von dem Menschen für werthvoll oder unwerth gehalten wird. Wie die logischen Gesetze des Den­ kens und die angeborenen Grundsätze der Vernunft, so ist auch die höchste Kategorie der Werthschätzung des Sittlichen ein Geschenk oder eine Offenbarung jenes letzten Weltgrundes, dem der Mensch selbst seine Ent­ stehung verdankt.

Das Gewissen.

19

Diese Selbstoffenbarung der Wesensnatur des Menschen greift in ihrer Unbedingtheit weit über den empirischen Gesichtskreis hinaus, und gründet sich auf eine Reihe höchst bedeutsamer Vor­ aussetzungen über das Ganze der Welt und die Stellung des Menschen in diesem Ganzen,'mit deren Gewißheit die Unbedingtheit der sittlichen Werthschätzung selbst steht und fällt, deren Gewißheit daher einen integrirenden Theil der Gewissens­ thatsache selbst bildet.

Wollen wir den Sinn und

Inhalt der

Gewissensthatsache richtig und ganz verstehen, so müssen wir uns jene Voraussetzungen im Zusammenhange verdeutlichen. 1. Unbedingt kann die sittliche Werthschätzung nur dann sein, wenn der schöpferische Grund, der den Keim dazu in unsere Wesensnatur gelegt hat, selbst unbedingt, wenn er der gemeinsame allumfassende Urgrund aller Dinge

substantielle

ist, der nicht nur den Menschen und

das Sittengesetz, sondern alle Weltwirklichkeit überhaupt aus sich hervorgebracht hat. 2. Unbedingt werth voll kann nur sein, was jener schöpfe­ rische Grund als werthvoll gesetzt hat, was er als werthvoll in sich selbst fühlt und erlebt.

Werthe sind nur lebendige Erregungen

eines lebendigen fürsichseienden Wesens.

Jener

schöpferische

Grund alles Wirklichen muß daher nicht nur unbedingt, sondern er muß ein fürsichseiendes l ebendiges Wesen sein. 3. Diese Bestimmung genügt jedoch den sittlichen

Anforde­

rungen an den Begriff des höchsten Wesens noch nicht. Dasselbe muß nicht uur als fürsichseiendes, sondern zugleich als einheitliches persönliches Wesen gedacht werden. Persönlichkeit ist, wie ich im letzten Abschnitte noch näher darlegen werde, nach vorurtheilsfreien metaphysischen Erwägungen die denkbar höchste Form des Begriffes der Wesenhaftigkeit über­ haupt.

Der Kern des Persöulichkeitsbegriffs ist

die Einheit

2

*

des Bewußtseins, in der das persönliche Wesen die wechselnden Zustände seines Lebens zur dauernden, im Wechsel sich erhalten­ den einheitlichen Wesenhaftigkeit zusammenfaßt. Einheit und Veränderlichkeit constituiren in unauflöslicher Gemeinschaft den Begriff der substantiellen Wesenhaftigkeit. Wo das eine oder das andere dieser beiden Hauptrequisite des Wesensbegriffes fehlt, können wir nicht mehr von einem Wesen reden, sondern nur allenfalls von einem leblosen Dinge oder einem Principlosen Wechsel der Ereignisse. Beide Seiten des Wesensbegriffes können nur durch das verknüpfende Band des beziehenden und zugleich sich selbst erfassenden Bewußtseins mit einander vereinigt werden. Es ist keine andere Form erdenkbar, die Veränderlichkeit des Lebendigen zur Einheit zusammenzufassen, als diejenige der be­ wußten persönlichen Existenz. Alle anderen Existenzformen, welche die Metaphysik ersonnen hat, um sich die Natur eines letzten all­ umfassenden einheitlichen Weltgrundes zu verdeutlichen, die „be­ harrliche Substanz", die „wirksame Idee", der verschwommene und unklare Begriff eines „Absoluten", sie alle sind einseitige und haltlose Abstractionen, welche in ihrer einseitigen Tendenz den lebendigen Einheitspunct des Wesens, das Bewußtsein, nicht erfassen. Indem wir die Natur des Wesens begrifflich zu fixiren suchen, müssen wir uns jenes alten Vorurtheils der philosophi­ schen Schulen entschlagen, welches die lebendige Wirklichkeit aus einem überkommenen Vorrathe üblicher Allgemeinbegriffe reconstruiren möchte. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Wirklichkeit reicher ist als unser Denken, und daß dieses all seine Inhalte aus der lebendigen Erfahrung schöpfen muß. In unserem eigenen Selbstbewußtsein erleben wir unmittelbar ein Bei­ spiel lebendiger einheitlicher Existenz, welches trotz seiner End­ lichkeit und Beschränktheit alle jene einseitigen Abstractionen des metaphysischen Nachdenkens an Reichhaltigkeit und Wirkungsfähig­ keit des Inhalts und der Form weit überragt. Wollen wir

Das Gewissen.

21

unsere Speculationen über die Wesensnatur des vorausgesetzten unbedingten Weltgrundes auf den festen Boden der Erfahrung stellen, so müssen wir an jenen wunderbaren, durch keine Begriffsconstruction zu überbietenden Thatbestand des eigenen Selbstbe­ wußtseins anknüpfe», und durch sachgemäße und analoge Erwei­ terung des in uns selbst erlebten Beispiels persönlicher Existenz zu dem Begriffe des höchsten Wesens als vollkommener und ab­ soluter Persönlichkeit aufsteigen. Soll die ganze in stetem Wechsel sich verändernde und entwickelnde Welt mit allen darin befind­ lichen Geschöpfen einem einheitlichen Grunde entspringen, so kann dieser nicht anders als in der höchsten und im Anschluß an die Erfahrung allein denkbaren Form des Wesensbegriffs, so kann er nur als selbstbewußte absolute Persönlichkeit gedacht werden. Der ganze Weltproceß erscheint nach dieser Auffassung, trotz und unbeschadet der relativen Selbständigkeit aller Einzelgeschöpfe, im Ganzen als das Leben jenes einen höchsten Wesens. 4. Soll es unbedingte Werthe geben, so sind sie zunächst nur denkbar als Erregungen jenes einen höchsten Weltwesens. Aber auch als solche sind sie nur unter der weiteren Voraussetzung denkbar, daß das ganze Leben jenes höchsten Wesens, daß der ganze Weltproceß ein einheitlicher zweck­ bestimmter Gesammtproceß ist, denn nur als Inhalt eines einheitlichen Weltzwecks kann ein unbedingter Werth gedacht werden. Nur wenn der ganze Weltproceß mit Rücksicht auf den durch ihn zu realisirenden Werth, als gesetzten Endzweck, einheitlich veranlagt ist, kann dieser selbst unbedingt sein, denn gäbe es außerdem irgend welche davon ganz unabhängige Anfangs- und Zielpuncte eines unberechenbaren Wirkens, welche den Lauf des Weltprocesses zweckwidrig durchkreuzen und seine Richtung ver­ ändern könnten, so wäre der Werth des höchsten Ziels, wie dieses selbst, von unberechenbaren Zufälligkeiten abhängig und mithin

nicht unbedingt. Auch unter dieser Voraussetzung trägt das Endziel allein seinen Werth in sich selbst; alle anderen Werthe sind jenem in der teleologischen Gesammtbewegung des Ganzen untergeordnet, und participiren nur insoweit an dem Character der Unbedingtheit, als sie direct in der Richtung auf das höchste Endziel belegen sind. 5. Soll'daher der Werth der sittlichen Bestimmung des Menschen ein unbedingter sein, so muß deren Er­ füllung einen integrirenden Theil des Weltzwecks selbst bilden, so muß der Weltzweck, wenigstens theilweise, auf das nur in steter fortschreitender sittlicher Selbstarbeit zu erringende Glück der geschaffenen Wesen gerichtet fein. 6. Eine solche freie Entwickelung und Selbstarbeit der end­ lichen Wesen kann wiederum, wie wir schon erwähnt haben, nur dann stattfinden, wenn für alle ein gleiches Recht gilt, wenn eine allgemeine ausnahmslose Gesetzlichkeit alles Ge­ schehens obwaltet, vermöge deren jeder die Folgen feines Handelns voraussehen, und einem jeden der Eintritt dieser Folgen zugerechnet werden kann. 7. Alle bisher entwickelten Voraussetzungen des Gewissens sind im Wesentlichen noch formaler Natur. Selbst die voraus­ gesetzte Unbedingtheit des Werthes der sittlichen Bestimmung trägt noch diesen formalen Character. Selbst der Character der Unbedingtheit erhält seine inhaltliche Erfüllung und Bedeutung, seine Weihe und Vollendung erst durch die hier nicht sowohl vor­ ausgesetzte als vielmehr im Gewissen unmittelbar als wirklich er­ lebte Heiligkeit und Güte dessen, was wir sollen, und was wir solgeweise als Ziel der Weltentwickelung voraussetzen müssen. Die höchste Principale inhaltliche Voraussetzung des Ge­ wissens, welche uns den Schlüssel zum Verständniß aller übrigen liefert und den Sinn aller in das rechte Licht stellt, ist daher die, daß jener vorausgesetzte einheitliche

23

Das Gewissen.

Weltgrnnd

ein

guter,

unbedingt

verehrungswürdiger

Grund, daß er mit einem Worte Gott ist. Der unbedingte Werth des Sittlichen ist nur verständlich als Ausfluß der Güte und Heiligkeit eines alle Weltwirklichkeit aus sich hervorbringenden allmächtigen, allweisen und allgütigen per­ sönlichen Gottes.

Die Idee Gottes bildet den Schlußstein,

der

allen Voraussetzungen des Gewissens Halt und inneren Zusam­ menhang giebt. als

Nur Gott können wir als unbedingtes Wesen,

vollkommene Persönlichkeit und

Wirklichen denken. und

einheitlichen Grund alles

Nur wenn wir den Weltproceß, einschließlich

unbeschadet des relativen Fürsichseins und der

Selbständigkeit der endlichen Geschöpfe,

als

das

relativen

allumfassende

Leben Gottes betrachten, in dem wir alle leben, weben und sind, verstehen wir die Einheitlichkeit und Zweckbestimmtheit des Welt­ ganzen.

Nur als innere Folgerichtigkeit und Beständigkeit des

göttlichen Alllebens ist die vorausgesetzte allgemeine Gesetzlichkeit alles Geschehens denkbar. Nur die Liebe Gottes ist das verständ­ liche Motiv einer Weltschöpfung,

deren Zweck aus die durch sitt­

liche Selbstarbeit zu erwerbende Seligkeit der Geschöpfe gerichtet ist.

Das Gute, Heilige und Verehrungswürdige können wir nur

als Eigenschaften eines vollkommen persönlichen Wesens denken, welches von sich selbst und seiner Herrlichkeit weiß,

nicht als ab-

stracte, in irgend welcher anderen räthselhaften Weise verwirklichte Thatbestände

an sich,

oder als Prädicate eines unpersönlichen

Absoluten.

Nur einem lebendigen persönlichen Wesen können wir

Verehrung

und

Liebe

göttlichen Willens,

entgegenbringen.

göttlicher Macht,

Nur

göttlicher

als

Satzung

Weisheit

und

Liebe kann das Sittengesetz seine zwingende Autorität entfalten und behaupten. So bildet die Vorstellung des lebendigen persönlichen Gottes

die höchste abschließende Idee, welche alle jene

voran geführten

unabweislichen

Voraussetzungen

des

24

I. Abschnitt.

Sittengesetzes zu dem Ganzen einer sittlich-religiösen Weltansicht vereinigt, in der wir den gedankenmäßigen Ausdruck dessen finden, was wir im Gewissen unmittel­ bar als wirklich erleben, und dessen wir uns schon durch die bloße Verdeutlichung dieses gegebenen Thatbestandes bewußt zu werden vermögen. Ihre sachgemäße inhaltliche Erfüllung erhält diese bislang nur in ihren formalen Grundzügen entwickelteWeltansicht jedoch,wiewirnicht eindringlich genug hervorheben können, erst durch das religiöse Ge­ fühl, welches gleich dem Gewissen aus einer ursprünglichen Veranla­ gung des menschlichen Geistes beruht, und wie dieses einen Grundcharacterzug der menschlichenWesensnatur bildet. Erleben wir im Ge­ wissen den unbedingten Werth der sittlichen Gebote, so eröffnet sich uns im religiösen Gefühl erst das rechte Verständniß dieses Werths, indem uns hier unser persönliches Verhältniß zu Gott zum Bewußtsein kommt. Erleben wir im Gewissen, daß wir sittliche Wesen sind, so erleben wir im religiösen Gefühl, daß wir göttlichen Wesens sind, daß wir mit unserem ganzen Wesen in Gott gegründet sind, ohne in ihm aufzugehen. Wir erleben im religiösen Gefühl gleichsam den Pulsschlag des göttlichen Alllebens in uns. In diesem Erlebniß kommt uns unmittelbar zum Bewußtsein, daß unser ganzes Fürsichsein eine Modalität des göttlichen Fürsichseins ist, daß wir Kinder Gottes und zur Mit­ arbeit an den göttlichen Zielen bestimmt sind. Dieses Bewußtsein begründet das Gefühl der Erhabenheit der uns gesetzten Bestim­ mung, die Majestät des Sittengesetzes, die Würde und Selbst­ achtung des Menschen. Ist unser Fürsichsein von Gott gesetztes Fürsichsein so können wir der Hoheit und Heiligkeit Gottes unmittelbar inne werden, so giebt uns das religiöse Ge­ fühl die Zuversicht, daß das, was wir sollen, von Gott, dem höchsten Grunde alles Seienden, gewollt und gebilligt ist, so erwärmt uns hier ein Strahl des göttlichen Alllebens, der

uns

eine Ahnung

schließt,

und uns

des

Allerheiligsten

mit der

aller Weltwirklichkeit er­

beseligenden Gewißheit erfüllt,

unser Leben auf dieses Allerheiligste gegründet ist. Gefühl erfüllt jene ganze Weltansicht,

deren

Grundlinien in den

Voraussetzungen des Sittengesetzes vorgezeichnet sind, centralen Lichte eines höheren Verständnisses, ren

Sinn

des

Sittengesetzes

und

dessen

mit dem

das erst den wah­

Voraussetzungen sach­

gemäß und vollständig hervortreten läßt.

Das

religiöse Gefühl

enthält somit den Grund und die Sanction des Sittlichen, giebt ihm die höhere Weihe und Sittliche,

und

doch in höherem

daß

Das religiöse

Vollendung.

es

Aehnlich wie das

und umfassenderen

Sinne als

dieses, enthält das religiöse Gefühl eine unmittelbare Offenbarung über Sinn und

Bedeutung des Weltganzen,

welche uns von der

thatsächlichen Erfüllung der Voraussetzungen des Gewissens,

und

von der concreten Art solcher Erfüllung überzeugt. Lotze*) hat diesen Sinn in den nachstehenden drei Sätzen sehr treffend

zusammengefaßt,

Ueberzeugungen

welche

wir

als

die

jeder religiösen Auffassung,

characteristischen im

Gegensatz zu

bloßer Verstandes-Weltansicht betrachten können: 1. Die sittlichen

Gesetze bezeichnen

wir

als

den Willen

Gottes; 2. Die einzelnen endlichen Geister nicht als Naturproducte, sondern als Kinder Gottes; 3. Die Wirklichkeit nicht als bloßen Weltlauf,

sondern als

ein Reich Gottes. Das Ganze dieser im Gewissen und im religiösen Gefühl sich offenbarenden Ueberzeugungen hat bislang seinen zutreffendsten Ausdruck in gefunden.

den

Grundwahrheiten der

Darin beruht

dieser Religion,

christlichen Religion

die befreiende und beseligende Macht

daß sie in ihren Vorstellungen über das Wesen

*) Grundzüge der Religionsphilosophie. Dictate aus den Vorlesungen von Hermann Lotze. Leipzig S. Hirzel 1882 § 89.

Gottes und das Verhältniß des Menschen zu Gott den Kern der­ jenigen Glaubenssähe zum Ausdruck brächte, in denen die den specifischen Character der menschlichen Naturanlage bildenden Voraussetzungen der Vernunft, des Gewissens und des religiösen Gefühls beruhen. Die Offenbarungen der christlichen Religion erwecken diesen Keim der göttlichen Wesensnatur im Menschen, sie klären den Menschen über sich selbst und seine göttliche Be­ stimmung auf und befriedigen durch solche Aufklärung unmittel­ bar das Hauptinteresse des menschlichen Lebens. Sie geben, ungehemmt durch die Schwerfälligkeit des metaphysischen Den­ kens, und ungebunden an den langsamen Gang der Entwickelung des menschlichen Wissens, eine unmittelbare Aufklärung über den Sinn aller Weltwirklichkeit, welche das Gemüth beseligt, und die sittliche Energie zur Begeisterung steigert, indem sie eine dem Sinne des Sittengesetzes entsprechende Verheißung über die Stellung und Aufgabe des Menschen in der Welt verkünden. Sie be­ stätigen die in der Vernunft, im Gewissen und religiösen Gefühl ahnungsvoll voransgefühlte Gewißheit, daß der letzte substantielle Grund aller Wirklichkeit der Gott ist, den das Gemüth ersehnt, ein Gott von unbedingter Güte, Hoheit und Heiligkeit, daß die ganze Welt der göttlichen Liebe ihren Ursprung verdankt und in allen ihren Einzelheiten und Wandlungen durch den Geist dieser Liebe bestimmt ist, daß der Mensch den festen Halt seines Wesens nur in dem unbedingten Vertrauen auf Gott findet und in der Erfüllung dessen im Gewissen sich kundgebender Gebote seine Be­ stimmung hat. Darin liegt die überzeugende Kraft und der aus­ zeichnende Character des Christenthums, daß es in seinen Grund­ lehren mit den centralen Voraussetzungen und Anforderungen des wahren Menschwesens zusammentrifft, daß es sich auf innere That­ sachen gründet, welche den apriorischen Kern der menschlichen Naturanlage bilden und in ihrer unmittelbar erlebten Thatsächkeit nnerschüttert bleiben durch die stets dem Wechsel und Irrthum

Das Gewissen.

27

unterworfenen Ansichten über die Entstehung, die Entwickelung und die physikalische Beschaffenheit des Universums. Das Christen­ thum enthält sich weislich aller bestimmten Vorstellungen über diese metaphysischen und kosmologischen Fragen; Mythologie, von der es die Wahrheit und Lehren abhängig macht.

es hat keine

den Inhalt seiner

Es überläßt die Lösung jener Fragen

dem langsamen Fortschritte der wissenschaftlichen Forschung, und beschränkt sich darauf, höchste leitende Gesichtspunkte über Sinn und Zweck des Weltprocesies aufzustellen, denen die äußere Natur nur als Mittel der Verwirklichung dient.

Es fordert den Glau­

ben an die Wahrheit seiner Offenbarungen als sittliche Pflicht, weil dieser Glaube

die Voraussetzung

des

sittlich-religiösen Le­

bens ist. In der That hat erst das Christenthum die Gewissen der Menschen befreit und zu voller Wirksamkeit entfaltet; erst in der christlichen Weltansicht haben die Gebote des Gewissens und die Grundsätze des sittlichen Lebens sich zu größerer Klarheit und Reife entwickelt. Das Christenthum hat, wenn auch viele Kämpfe, Irrungen und rückläufige Bewegungen den Weg seiner allmähligen Ausbreitung und Entwickelung verzögert haben, doch schließlich die Herrschaft über alle Culturstaaten errungen und das Zeitalter der Humanität begründet, dessen Segnungen wir jetzt genießen.

Un­

sere Cultur ist in der Hauptsache eine christliche. Die Grundsätze der durch das Christenthum befreiten Moral sind im Wesentlichen maßgebend

geworden für alle Gesetzgebungen, für alle öffent­

lichen Einrichtungen, für die herrschenden Sitten und Gebräuche. Das Christenthum hat das Leben aller

seiner aufrichtigen Be­

kenner zu einem Gute von unschätzbarem Werthe erhoben, es hat jene Achtung vor der menschlichen Natur und deren sittlicher Be­ stimmung begründet, welche das Grundprincip der Humanität ist. Alle neueren Gesetzgebungen erkennen die individuelle Freiheit, die individuelle Ehre und sogar den wohlerworbenen Besitz der

Ein-

zelnen innerhalb gewisser Grenzen als unantastbar an. Alle beruhen aus dem Grundsätze, daß die freie sittliche Entwicklung des Menschen der höchste Zweck des Lebens sei, und unbedingte Anerkennung erfordere. Die durch das Christenthum begründete Werthschätzung des Lebens im Ganzen hat auch den Werth aller Einzelgüter desselben in das rechte Licht gesetzt. Sie hat den gegenseitigen Beziehun­ gen der Menschen innerhalb des engeren Verbandes der Familie und der weiteren der Gesellschaft und des Staats ihren sittlichen Character, der Liebe und Freundschaft ihren höheren Reiz ver­ liehen. Sie gab allen Regungen des Lebens, aller Arbeit, allen wissenschaftlichen und wirthschaftlichen Bestrebungen einen höheren Schwung und einen einheitlichen Character; sie gab der Kunst in ihren vielfältigen Richtungen ihre höhere Weihe; sie erweckte schon in dem bloßen Anblicke der Natur, in dem Eindrucke der land­ schaftlichen Schönheit einen eigenthümlichen neuen Genuß, den das Alterthum in dieser Weise nicht kannte, und der nur durch das allverbreitete Bewußtsein erklärt werden kann, daß es eine Welt des Guten ist, welche uns in der bunten Vielfältigkeit des Ge­ sehenen wiedererscheint. Das Christenthum entzündete die Begeisterung für das Wahre. Gute und Schöne, welche die menschliche Thätigkeit nach allen Richtungen hin zu rüstigerem Schaffen drängte; es erweckte die Frische und Freudigkeit des Lebens, welche unabsehbar viele neue Reizquellen und Anregungen erschloß und jene Reichhaltig­ keit und Vielgestaltigkeit der Interessen und Motive erzeugte, welche den Gesichtskreis des modernen Menschen erfüllen. Es ent­ faltete alle diese Wirkungen, indem es den Menschen über die Möglichkeit und den Weg der Erfüllung seiner wahren Bestim­ mung aufllärte. Es entfaltete diese Wirkungen aber auch nur insofern und insoweit es sich selbst und seinem ursprünglichen Sinne

Das Gewissen,

29

getreu blieb. Wenn wir vom Christenthum redeten, meinten wir deßhalb auch nur die reine unverfälschte Lehre desselben, nicht die mannigfachen dogmatischen Verkürzungen, Entstellungen und Verfinsterungen, denen jene nicht entgehen sollte und denen sie noch jetzt zum Theil unterliegt. Wir überlassen den Theologen, hier die rechte Grenze zu ziehen, indem wir unsere Terminologie und die Ueberzeugung festhalten, daß ein voller Einklang zwischen den wahren Lehren des Christenthums und den unmittelbaren Aussagen der Vernunft, des Gewissens und des religiösen Gefühls besteht. In diesem Sinne ist die Anerkennung der sittlich-religiösen Weltansicht, welche wir schon aus jenen unmittelbaren Aussagen zu entwickeln suchten, und welche in den Offenbarungen der christ­ lichen Religion ihre Bestätigung und Befestigung gefunden hat, das Endergebniß und der Reinertag dieses Abschnitts. Die Anerkennung der sittlich-religiösen Weltansicht ent­ hält das Princip der Sittenlehre und den Maßstab, welchen wir der Beantwortung aller besonderen Fra­ gen des sittlichen Lebens zu Grunde legen werden. Um diese klarzustellen, wird im folgenden Abschnitt eine Uebersicht der Hauptrichtungen des modernen Lebens voraus­ geschickt.

II. Abschnitt.

Pie moderne Kultur. Erstes Kapitel.

Der Aufschwung der Naturforschung. Die Neugestaltung des wirthschaftlichen, politischen und socialen Lebens in der Gegenwart. Positivismus. Materialismus. Ebenso untiertilgbar wie das Gewissen, und wie dieses ein angeborener Zug unserer Natur, wohnt der Drang nach Er­ kenntniß der Wahrheit in der menschlichen Brust. Alles Wissen hat für uns nur Werth, insofern es Wahrheit enthält. Der wahre Sachverhalt ist maßgebend für die Gestaltung unserer Gedanken über die Welt und unsere Stellung in ihr, über das, was wir in der Welt zu thun und zu hoffen haben. Auch das Sittengesetz und die sittlich-religiöse Weltansicht unterliegen dieser Schranke. Unser Sollen muß sich den Thatsachen accommodiren, unser Glaube ist Fürwahrhalten von Thatsachen und richtet sich nach diesen. Wir müssen überall mit den Thatsachen rechnen. Die Erkenntniß der Wahrheit des objectiven Sachverhalts ist daher eine der wichtigsten Aufgaben, deren Ergebniffe auf die Gestal­ tung unserer sittlichen Weltansicht und auf unser sittliches Ver-

Die moderne Kultur.

31

halten jedenfalls dann nicht ohne tiefgreifende Folgen sein wür­ den, wenn sich Herausstellen sollte, daß die Postulate des Ge­ wissens nur fromme Wünsche seien, denen in der Welt der Wirk­ lichkeit nichts entspräche. Schwere Besorgnisse dieser Art sind in der That durch die Ergebnisse der neueren Naturforschung vielfach angeregt und haben in weiten Kreisen williges Gehör gefunden. Wären dieselben be­ gründet, so würden sie eine ernste Gefahr für den Bestand unserer sittlich-religiösen Weltansicht bedeuten. Es ist daher vor Allem nöthig, diese Besorgnisse ihrem vollen Umfange nach in den Kreis unserer Betrachtungen zu ziehen. Die Ergebnisse der neueren Naturforschung sind, als die be­ deutsamste Errungenschaft der Gegenwart, wohl geeignet, unser Staunen, unsere Bewunderung und unsere Dankbarkeit in höchstem Maße zu erregen. Wir würden uns unverzeihlicher Kurzsichtig­ keit schuldig machen, wollten wir verkennen, daß dieselben für die Gestaltung des modernen Lebens nnd der modernen Weltansicht von höchster Bedeutung geworden sind. Im Alterthum, im Mittelalter und bis spät in die neue Zeit hinein galt die Natur im Wesentlichen nur als untergeordneter Schauplatz des menschlichen Thuns. Man erforschte und beob­ achtete sie, soweit dies die Befriedigung der menschlichen Bedürf­ nisse grade zweckmäßig erscheinen ließ. Nur einzelne Philosophen vermutheten schon frühzeitig in den Elementen der äußeren Natur den Grund der Entstehung des geistigen Lebens, aber ihre Stimme verhallte wirkungslos, und ihre Ansichten erlangten nicht den min­ desten Einfluß auf die Anschauungen der Menge der Gebildeten und des Volks. Erst in der neuesten Zeit scheint der Menschheit der Sinn für sorgsamere, umfassendere und consequentere Beob­ achtung und Erforschung der Natur aufgegangen zu sein; erst in der neuesten Zeit erwachte jener energische prometheische Geist, der die fruchtbaren Methoden der sogenannten exacten Natursor-

32

I. Abschnitt.

schung ersann, der die vielfachen Kunstgriffe des Experiments und den erfinderischen Scharfsinn der Wahrscheinlichkeitsrechnung mit denl ausgiebigsten Erfolge verwendete, um den

Kreis der unmit­

telbaren Wahrnehmung nach allen Richtungen hin zu und

aus

den

wahrgenommenen

Einzelheiten

in

erweitern,

consequenter

Schlußfolgerung die allgemeinen Verhältnißweisen und Gesetze zu er­ mitteln, und diese zu dem Ganzen immer umfassenderer Gesichts­ punkte zu vereinigen. Einmal erwacht, verbreitete sich dieser Geist mit rapider Schnelligkeit und zwang die fähigsten und genialsten Köpfe iu seinen Dienst.

Alle Nationen wetteiferten jetzt in ener­

gischer consequenter Bearbeitung des neu erschlossenen bietes.

Wissensge­

Unglaubliches ist durch die gemeinsame Arbeit und

das

Zusammenwirken der begeisterten Jünger der neuen Wissenschaft geleistet.

Erst jetzt wurden der Menschheit bestimmter formulirte

Vorstellungen über die Größe, die Bestandtheile, den Bau und die Einrichtung des sinnlichen Universums erschlossen. weiterte sich über das irdische Gesichtsfeld Weltkörper in den Kreis Mikroscop

seiner

und

Betrachtung.

Der Blick er­

zog

die

Das

fernsten

durch

das

verschärfte Auge lehrte unzählige Geschöpfe kennen,

bereit Kleinheit sie der Beobachtung bisher entzogen hatte.

Man

erkannte die Regelmäßigkeit und die wunderbare Organisation in dem Bau der Pflanzen und Thiere.

Die Combination der

zelgesetze führte in aufsteigender Consequenz

zu

Ein­

dem Universal­

gedanken des alle Einzelwirkungen umfassenden allgemeinen Mecha­ nismus des Geschehens. Die practische Verwerthung

der

gewonnenen neuen Kennt­

nisse erschloß unzählige neue Quellen des Nutzens und des

Ge­

nusses.

Er­

Sie verbesserte

die

Einrichtungen

leichterung und Verschönerung Erwerbsquellen langten

einen

Gestaltung

aller Art. ganz

neuen

des Lebens

zur Erhaltung,

des Lebens.

Technik,

Handel und

Aufschwung.

wurde eine

Sie eröffnete neue

Diese

bessere,

Industrie ganze

er­

äußere

der Erfüllung der

menschlichen Bestimmung günstigere und angemessenere.

33

Die moderne Kultur.

Alle diese Vortheile liegen so auf der Hand, weiteren Schilderung, sondern

daß es keiner

nur einer einfachen Verweisung

darauf bedarf. Es ist ebenso unverkennbar, daß die Einsicht ihrer praktischen Verwendbarkeit das Interesse für die neue Wissenschaft in allen Kreisen auf das Lebhafteste anfachte, daß die Naturfor­ schung das Lieblingskind der neuen Zeit wurde, daß die Erwar­ tungen, welche ihre Leistungen erregten, sich immer höher spannten, daß dieselben

sich

sogar über das

eigentliche

Arbeitsfeld

der

Naturforschung hinaus richteten, daß man von dieser auch

ent­

scheidende Aufklärungen über die höchsten Fragen des sittlichen darf uns auch nicht

allzu

sehr verwundern, wenn die zuletzt erwähnten Hoffnungen

und religiösen Lebens erhoffte.

Es

meist

skeptischer und negativer Art waren. Es liegt in der Einrichtung der menschlichen Natur, daß die fortgesetzte ausschließliche Beschäf­ tigung mit einem das Gemüth lebhaft erregenden Gegenstände das Interesse für alle anderen zeitweise abschwächt.

Die bislang ganz

untergeordnet und beiläufig behandelte Natur trat dem Geiste jetzt mit dem vollen Reichthume ihres Inhalts als selbständiges Gebiet der Forschung gegenüber. Ihr Anblick erfüllte den ganzen Gesichtskreis und wuchs so

riesenhaft empor, daß er das über­

sinnliche Gebiet fast verdeckte.

Die stete Beschäftigung mit ihr

steigerte die Vorliebe für das Concrete, Greifbare und Practische, während die Ahnungen des Uebersinnlichen,

welche in dem sitt­

lichen und religiösen Glauben ihren Ausdruck finden, nebelhaft und verschwommen

erschienen.

dagegen

Der Schritt von der

Vorliebe für das concrete Wissen der Naturforschung zur Gering­ schätzung und schließlich zur gänzlichen Leugnung des Uebersinn­ lichen, war nicht weit, und wurde von einigen mit energischer Begeisterung, von anderen mit Zagen und hoffnungsloser Ver­ zweiflung wirklich gemacht. Wirkte diese besondere Zeitrichtung schon an sich erkältend aus den sittlichen und religiösen Glauben Sommer, Gewissen und moderne Kultur.

der Menschheit,

3

so

34

II. Abschnitt.

erhoben sich daneben noch, durch die Naturforschung angeregt, manche schwere Bedenken, welche sich direct gegen den Inhalt jenes Glaubens richteten. Dieser Glaubensinhalt hatte sich bereits zu einer Zeit, als über die Natur des sinnlichen Universums noch ganz unreife und kindliche Vorstellungen im Schwange waren, in den Lehren des Christenthums zu voller Entwicklungshöhe entfaltet. Es war un­ vermeidlich, daß die Vorstellungen über Gott und göttliches Wir­ ken und übet das Verhältniß des Menschen zu Gott mit jenen mangelhaften Naturbegriffen int Laufe der Zeit auf's Innigste verwuchsen, daß jene Glaubensinhalte sich ganz in das Gewand dieser unvollkommenen Naturbegriffe kleideten, daß man den blauen Himmel als Thron Gottes und als Sitz der seligen Geister betrachtete, Erde und Himmel aber als einzige Bestandtheile der ganzen Welt, daß man die Welt als entlassene Schöpfung Gottes diesem gegenüberstellte, und Gott gleichsam nur eine Oberherrschaft über dieses sein vollendetes Werk einräumte, welche nur zu ge­ legentlichen, als Beweise göttlicher Allmacht gepriesenen Wunder­ eingriffen nöthigte. Alle diese dem Sinne des religiösen Glaubens nicht wesentlichen aber fest mit ihm verwachsenen Vorstellungen geriethen nun mit dem Erwachen der Naturforschung in's Wanken und drohten den Einsturz. Das sinnliche Universum trat dem menschlichen Geiste jetzt nicht bloß als selbständiges Object der Forschung, sondern wie eine selbständige Macht an sich gegenüber; es schien der göttlichen Leitung entwachsen und auf eigene Füße gestellt zu sein. Die Himmelsdecke öffnete sich, und der Ausblick in die unendliche Ferne des leeren Raums mit seinen Sonnen, Fixsternen und Kometen ließ für Gott und die Schaar der Se­ ligen keinen Platz mehr erkennen. Es gab kein Oben und kein Unten mehr, keinen Ort, wohin die gläubige Phantasie mit ihrer Sehnsucht nach concreter Vorstellung des Uebersinnlichen sich stüchten konnte. Die allgemeine Gesetzlichkeit des natürlichen Ge-

35

Die moderne Kultur.

schehens ließ für die göttlichen Wundereingriffe keine Möglichkeit mehr bestehen.

Der Geist selbst erschien durch die Materie aus

der Welt verbannt, nachdem Chemie und Physiologie zu der Ein­ sicht geführt hatten, daß im ganzen menschlichen Organismus keine anderen Stoffe und Kräfte wirksam seien als diejenigen, welche auch in der äußeren Natur vorkommen, und keine anderen setze gültig, als

Ge­

welche auch das äußere Naturleben beherrschen,

daß für den Geist und geistiges Leben kein Substrat und kein Sitz mehr erfindlich sei. Man denke sich die Summe dieser Einsichten plötzlich durch eine Wissenschaft erschlossen, deren Unfehlbarkeit in den meisten ihrer Schritte durch deutliche Experimente nachweisbar, deren An­ sehen alle anderen Interessen überflügelte und über allen Zweifel erhaben war, und man wird den niederschmetternden Eindruck begreifen, den dieselbe in allen gläubigen Gemüthern erwecken mußte, welche,

im philosophischen Denken und int Unterscheiden

des Wesentlichen von dem Unwesentlichen meist völlig ungeübt, ihre religiösen Vorstellungen nicht sogleich

von

dem sinnlichen

Boden zu trennen vermochten, in welchem sie festgewurzelt waren. Der religiöse Glaube mußte mit diesem Boden selbst in's Wanken gerathen. Aber die neue Geistesära, welche das Erwachen der Natur­ forschung inaugurirte, zeigte sich nicht bloß in den aufgeführten allgemeinen Richtungen und in der zuletzt hervorgehobenen

Er­

schütterung des religiösen Glaubens der Menschheit; sie trat in ihren Wirkungen nicht minder bedeutsam auf den verschiedenen Specialgebieten der wissenschaftlichen Thätigkeit hervor. Nicht nur erfuhren die einzelnen Wissenschaften durch die all­ gemeine Erweiterung des Gesichtskreises und durch Berichtigung der Vorstellungen über alle natürlichen Dinge und Vorgänge eine directe umfassende inhaltliche Klärung und Bereicherung, sondern die von der Naturwissenschaft angewendeten Methoden und der

3

'

II. Abschnitt.

36

Geist ihrer Forschung wirkten belebend

und

erfolgreich aus den

Gang der Untersuchung und beseitigten viele

Mängel der bis­

herigen Auffassungs- und Verfahrungsweisen. Letzteres besonders in zwei Richtungen. Theils in dem gewissenhaften Anschluß an die un­ mittelbar gegebene Erfahrung, theils in dem Bestreben, alle erkannten Thatsachen auf thunlichst einfache Prin­ cipien zurückzuführen. So förderlich und segensreich sich diese Einflüsse im Ganzen erwiesen, so haben sie doch auch, namentlich in den beiden letzt­ erwähnten Richtungen, zu sehr bedenklichen und verhängnißvollen Einseitigkeiten verleitet. Einerseits hat man diejenige Erkenntnißquelle, Naturforschung ihre Untersuchungsobjecte liefert,

welche der

die sinnliche

Empfindung, in kurzsichtiger Beschränkung und sklavischer Nach­ ahmung als einzige Erkenntnißquelle gelten lassen, und i» Folge dessen eine höchst einseitige Erkenntnihtheorie

aufgestellt, den so­

genannten „Positivismus". Andererseits hat man die bekannte Hypothese der Physik, wonach alle sinnlichen Erscheinungen letzten Grundes aus anziehenden und abstoßenden Kraftwirkungen un­ veränderlicher Atome entstehen sollen, in gedankenloser Erweiterung als erklärendes Princip aller Weltwirklichkeit hinzustellen gesucht. Dies führte zu einer ebenso einseitigen Philosophie, dem sogenann­ ten „Materialismus". Nach

der Lehre des Positivismus ist die Erkenntniß der

„Wesenheiten" und „Endursachen" dem menschlichen Geiste über­ haupt verschlossen.

Alleiniger Gegenstand

des wissenschaftlichen

Erkennens sind danach nur die Erscheinungen, deren Aehnlichkeiten, deren Zusammenhänge, deren Auseinanderfolge. Deren Kennt­ niß soll uns befähigen, den Eintritt künftiger Ereignisse voraus­ zusehen und unsere Handlungen „nach der Ordnung der Außenwelt" einzurichten..

Wahrheit ist die Uebereinstimmung der Ordnung

37

Die moderne Kultur.

der Ideen mit der Ordnung der Phänomene,

so

daß

die

Eine

eine Wiederspiegelung der Anderen ist, die Bewegung der Gedan­ ken der Bewegung der Dinge folgt.

Direct können wir die Ob­

jecte der Außenwelt nicht erkennen. Durch das Zusammenstimmen der sinnlichen Erscheinungen unter

einander und

die

überein­

stimmenden Zeugnisse verschiedener Personen können wir jedoch eine relative Gewißheit darüber erlangen, daß die Sinne in un­ mittelbarer Verbindung mit den äußeren Objecten stehen und daß die wirklichen Gesetze der Dinge mit den Gesetzen unserer Auf­ fassung, mögen sie auch an sich verschieden sein, doch in einem solchen Verhältnisse stehen, daß „gleiche Werthe beider" vorhanden sind, daß wir aus den Gesetzen unserer Erscheinungen entsprechende Veränderungen in der Außenwelt vorausberechnen, daß wir also unsere Handlungen nach der Ordnung der Außenwelt einrichten können.

Die Anbequemung

an die äußere Ordnung ist

daher die letzte Absicht des Wissens;

die Classification

das

letzte Ziel der Wissenschaft. Es liegt auf der Hand, daß eine auf solcher Grundlage er­ richtete Weltansicht für die im Gewissen und im religiösen Gefühl sich offenbarenden Thatsachen des sittlichen Lebens keinen Raum und kein Verständniß hat, da in diesen eine ganz andere Art ge­ gebener Wirklichkeit als die sinnliche Empfindung zum Bewußtsein kommt.

Diese Ansicht widerlegt sich selbst, da ihre eigenen Zweifel

und Argumentationen den sprechenden Beweis dafür liefern, daß es außer den sinnlichen Empfindungen Kräfte und Voraus­ setzungen des Denkens giebt,

deren sich auch das positivistische

Denken thatsächlich bedient, indem es deren Vorhandensein auf Grund anderer Thatsachen und Schlußfolgerungen bestreitet. Es wird, da unsere ganze Untersuchung auf der Anerkennung der Thatsache des Gewissens beruht, und gegen die Ableugnung von Thatsachen kein fruchtbarer Streit möglich ist, nicht nöthig sein, später noch einmal auf diese seltsame Irrlehre zurückzukommen.

38

II. Abschnitt.

Wir erwähnen derselben hier nur der Vollständigkeit wegen, und in Anbetracht der sehr großen Verbreitung, welche sie besonders in Frankreich und England gefunden hat.*)

Characteristisch ist

übrigens, daß der eigene Begründer dieser Lehre, August Comte, die Principien derselben in geben hat, Ahnung

der Hauptsache selbst wieder aufge­

nachdem ihm durch

von

den

die Liebe zu einer Frau eine

höheren Regungen

des

Lebens

aufgegan­

gen war. Während der Positivismus sich bescheidet, von dem, was jen­ seits

der sinnlichen Empfindung belegen ist, nichts zu wissen,

gründet der Materialismus grade umgekehrt sein ganzes Princip auf bloße Vermuthungen über die Entftehungsursachen der mittelst der sinnlichen Empfindungen wahrgenommenen Dinge, des ein­ zigen Wirklichen,

was seiner Meinung nach überhaupt existirt.

Er folgt darin ganz kritiklos der durch metaphysische Bedenken nicht beunruhigten gemeinen Auffassung der Dinge, der wir bis zu einem gewissen Grade im täglichen Leben alle huldigen.

Die

uns in plastischer Anschaulichkeit anscheinend umgebende Außen­ welt der Dinge erkennt er in eben der Gestalt, in welcher sie sich unseren Sinnen darbietet, als das allein und ursprünglich Wirk­ liche an.

Der

Materialität.

gemeinsame

Character

dieser Dinge

ist

ihre

Das Reale sind dem Materialismus die Ur-

bestandtheile der Materie.

Alle Erscheinungen des geistigen

Lebens sollen aus Kraftwirkungen dieser materiellen Urstoffe er­ klärt werden. Diese bekanntlich schon im Alterthum aufgetauchte, und von *) Es ist zu beklagen,

daß diese positivistische Wasserpest auch in den

Köpfen einzelner unserer deutschen Gelehrten immer mehr um sich zu greifen scheint. Ein bemerkenswerthes Beispiel der Verheerungen, welche sie dort anzurichten vermag, liefert das Buch „PositiviSmus und Idealismus" (2 Bde. Berlin 1879 n. 1882) des Straßburger Professors Laas. Die ausführliche Besprechung desselben findet man in meiner Abhandlung „Positivistische Re­ gungen in Deutschland" (Prcuß. Jahrb. Bd. LII. s. 128 bis 158).

Die moderne Kultur.

39

Zeit zu Zeit immer aufs Neue wieder ventilirte Ansicht erhielt erst durch die neuere Naturforschung eine bestimmter fonnulirte Basis, welche wenigstens der Phantasie einige Anhaltspuncte von wissenschaftlichem Beigeschmack an die Hand gab. Erst durch die neuere Naturforschung erlangte man bestimm­ tere Vorstellungen über die in der Natur wirksamen Stoffe und Kräfte sowie von der Art und Form ihres Wirkens. Besonders nach zwei Richtungen hin schienen die gewonnenen neuen Auf­ schlüsse dem philosophischen Erklärungsbedürfniß über alle Erwar­ tung zu entsprechen. Eine geschickte Hypothese der Physik, welche allen Wechsel der Erscheinungen aus den Kraftwirkungen unendlich kleiner oder ganz unausgedehnter Atome von constanter Natur und bestimmten einfachen Eigenschaften abzuleiten suchte, eröffnete die Aussicht, die unabsehbar vielgestaltige Mannigfaltigkeit der Dinge und Ereignisse auf ein einfaches, leicht verständ­ liches und völlig durchschauliches Princip zurückzu­ führen. Die durch sorgsame Beobachtungen in einem immer größeren Umfange constatirte Gesetzlichkeit alles natürlichen Geschehens gab ferner der Hoffnung Raum, im Fortschritte des Erkennens auch die Ereignisse des geistigen Lebens aus den Naturwir­ kungen zu erklären und sie, wie diese, dem Calcül zu unterwerfen; mithin die bisher vorausgesetzte Unberechenbarkeit der freien Eingriffe des göttlichen und menschlichen Willens in den gesetzlichen Ablauf der Ereignisse als nichtigen Schein auf­ zuweisen, der vor der strengen Wissenschaft nicht bestehen könne. Das Aufsehen und die Aufregung, welche die Eröffnung dieser neuen Perspective erregte, ist leicht begreiflich. Wenn beide Hoffnungen sich bewährten, so schien das Welträthsel, an dem die Denker aller Zeiten sich bisher vergeblich abgemüht hatten, ja

40

II. Abschnitt.

mit einem Schlage gelöst, und die Lösung war so sicher und ein­ fach, daß Jedermann sie ohne Schwierigkeit begreifen konnte. Wenn es sich herausstellen sollte, daß die Welt, und alles was darin ist, wirklich nur aus einfachen Atomen bestehe, welche, in einem unendlichen leeren Raume vertheilt, durch gesetzlich geregelte Wechselwirkungen von Ewigkeit zu Ewigkeit zu einem Ganzen ver­ bunden wären, wenn alles Leben uiib Geschehen sich ohne Rest auf solche Kraftwirknngen der Atome rebuctren ließe, so wäre ja das Ideal aller philosophischen Welterklärung erreicht. Die Wirklichkeit der Welt, wie wir sie wahrnehmen, wäre weiter nichts als das Endresultat aller bisherigen Kraftwirknngen der Atome, welches man gleich allen früheren und späteren Welteonstellationen vorausberechnen könnte, wenn nur die anfängliche Zahl und Lage der Atome und die Gesetze ihres Wirkens als Rechnnngsansätze gegeben wären. Es wäre dann ein einfaches erschöpfendes Prineip gewonnen, ans dem alle Weltwirklichkeit ohne Nest dedncirt wer­ den könnte. Physik, Mechanik und Mathematik wären dann die obersten, ja die einzigen wahren Wissenschaften, die Wissen­ schaften par exccllcnce. Die Erscheinungen des sittlichen und reli­ giösen, des socialen und politischen Lebens würden sich dann nur als eomplieirtere Functionen der Elementarwirknngen der Atome darstellen, welche ihrem Ursprünge und Wesen nach nur insoweit vollständig begriffen werden könnten, als es gelingen würde, sie in ihren coucreten Formen als solche Functionen zu erkennen. Die verlockende Aussicht auf die Erfüllung dieses wissenschaft­ lichen Ideals übte nun in der That auf einige Gelehrte einen so unwiderstehlichen Zauber ans, daß sie das in der Ferne erglänzende Ziel ohne Bedenken schon für erreicht wähnten, daß sie jene Hypo­ these der Physik ohne Weiteres als unumstößliche Grundwahrheit anerkannten und all ihren weiteren Specnlationen als Richtschnur unterstellten. Dieses vorschnelle und nnbedachtsame Anerkenntniß enthält und erschöpft den Grundgedanken des Materialismus.

Die niubenie Kultur.

Es ist dies der Gedanke,

41

daß das Ganze der Welt

nichts sei als ein großer Mechanismus, der sich aus den Atomen und deren gesetzlich geregelten Kraftwirkungen zusammensetze,

der, alles idealen Gehaltes und aller Zwecke

baar, nur durch zufälliges Zusammentreffen der Urelemente ent­ standen sei.

Der Mensch erscheint danach als bloßes Naturprodukt,

alle Erscheinungen des geistigen Lebens nur als resultirende Wir­ kungen der materiellen Bestandtheile des Leibes, insbesondere des Gehirns, das die Gedanken absondert, „wie die Nieren den Urin". Für die Hoheit und Würde des Sittlichen giebt es in dieser Welt­ auffassung keine Stelle.

Der Materialismus ist die Negation beS-

sittlichen Lebens. Obwohl der Materialismus sich der wissenschaftlichen Prüfung schon auf den ersten Blick nur als voreilige und unreife Idee darstellt, obwohl derselbe bislang noch keine erschöpfende systema­ tische Behandlung erfahren hat,

sondern nur in populär-wissen­

schaftlichen Schriften dritten und vierten Ranges vorgetragen zu werden pflegt, so fand er doch nicht bloß in den engeren Kreisen der Naturforscher und Gelehrten, sondern in allen Schichten der Bevölkerung eine so ausgedehnte Anerkennung und Verbreitung, wie sie kein anderes philosophisches System auch nur annähernd aufzuweisen hat.

Er sprach das lösende Wort für jene weitver­

breitete Glaubenslosigkeit und den Jndifferentismus, Eingangs dieses Kapitels erwähnten.

deren wir

Er bot der inneren Leere

dieses Jndifferentismus die bequeme Formel eines abschließenden Gedankens dar, der mit einem Schlage alle beunruhigenden Zweifel und Scrupel, zugleich aber auch den Grund alles Glaubens und alles Höffens beseitigte, und die eigene degenerirte Gemüthsver­ fassung der also Denkenden als das allgemeine und normale Schick­ sal der Menschen,

den sinnlichen Genuß als einziges Ziel der

Sehnsucht und des Handelns erscheinen ließ. Positivismus und Materialismus sind jedoch nur die extremen

42

II. Abschnitt.

typisch gewordenen Grundformen, die sich aus der einseitigen An­ wendung

der inductiven Methode und dem Bestreben entwickelt

haben, die ganze lebendige Weltwirklichkeit aus einfachen Elementen und Kräften nach Analogie der Naturforschung zu erklären.

Der

Geist des Vorurtheils und der einseitigen Uebertreibung, der jene beiden Auswüchse der philosophischen Speculation hervortrieb, be­ einflußt das sehr,

ganze wissenschaftliche Denken

daß seine Nachwirkungen fast

der

Gegenwart so

auf allen anderen Wissens­

gebieten in mehr oder weniger eigenthümlichen Formen zu Tage treten,

deren gesonderte Hervorhebung

sich

jedoch dem knappen

Rahmen meiner Darstellung entzieht").

Zweites Kapitel.

Ter Kriticismus Kants. Der Idealismus. Pessimismus. Glücklicherweise hat

Der moderne

die Gegenwart neben den im vorigen

Kapitel erwähnten Oberflächlichkeiten und Halbheiten auch ernstere Bestrebungen aufzuweisen, welche auf die Gestattung des sittlichen Lebens nicht ohne Einfluß geblieben sind, wenngleich sie sich mehr auf rein wissenschaftlichem Gebiete bewegen,

und

nur in ihren

Consequenzen auf die Gesammtheit der Gebildeten eingewirkt haben.

*) Selbst das berühmte Werk „Der Zweck im Recht"

von Rudolph

von Jhering hat sich, trotz der idealistischen Grundtendenz des Verfassers, diesem Einflüsse der herrschenden Zeitrichtung nicht ganz zu entziehen ver­ mocht. Speculation und Empirismus, Jnduction und Construction, finden sich in der charactervvllen Persönlichkeit des Verfassers zu einer eigenartigen Methode verbunden, welche Felix Dahn treffend als „jheringisch" bezeichnet.

43

Die moderne Kultur.

Während der Materialismus die Dinge ohne Weiteres für das nimmt,

als was sie sich der Empfindung darbieten,

ohne

danach zu fragen, was die Empfindung sei? und wie die Erkennt­ niß der Dinge mit ihrer Hülfe zu Stande komme? eröffnete der Königsberger Philosoph I. Kant seine geistvollen Untersuchungen mit einer umsichtigen Prüfung mögens.

des menschlichen Erkenntnißver­

Während der Materialismus nur eine Metaphysik der

Erscheinungen ist, suchte Kant die Bedingungen einer Meta­ physik des Wirklichen festzustellen.

Es entging dem Scharfsinne

dieses Forschers nicht, daß die Dinge, welche wir wahrnehmen, zunächst

nur Erscheinungen

des subjectiven Geisteslebens

und

daher ihrem Wesen, ihrer Form und ihrem Zusammenhange nach durch die Einrichtung des subjectiven Geisteslebens bedingt und bestimmt sind.

Das Bewußtwerden dieser Thatsachen war für alle

spätere philosophische Forschung

von grundlegender Bedeutung.

Die centrale Stellung des subjectiven Geistes für die Der „Zweck", in dieser farblosen Allgemeinheit ein reines Formalprinzip, wird als alleiniger Schöpfer des Rechts und der Moral hingestellt, das blos „Zweckmäßige" den: Rechten und Sittlichen substituirt, welche durch solche principmäßige Vergewaltigung ihrer Würde und ihres specifischen Gehalts beraubt werden Dem Recht und der Sittlichkeit wird durch die gänzliche Degradirung des Individuums, das in all seinem Thun lediglich durch den Trieb der Selbstsucht bestimmt sein soll, die natürliche Basis entzogen. Um eine neue Grundlage für das Recht und die Moral zu gewinnen, wird mittelst eines Staatsstreichs souverainen Constructionsvermögens die „Ge­ sellschaft" als Zwecksubject des Rechts und der Sittlichkeit statuirt: die Gesellschaft, die fortan wie ein selbständiges lebendiges Wesen mit eigenen Lebensinteressen behandelt wird. „Wohl und Gedeihen der Gesellschaft" soll alleiniger Zweck des Sittlichen sein. „Sittlich und gesellschaftlich ist gleich­ bedeutend, alle sittlichen Normen sind gesellschaftliche Imperative." Das Individuum kommt nur als Theil des Ganzen der Gesellschaft in Betracht, es empfängt lediglich von diesem seine sittlichen Nonnen, das Gemein­ nützige tritt an die Stelle des Rechten und Guten. Die gesellschaftlichen Imperative (Mode, Sitte, Moral, Recht) sollen nicht in der Naturanlage des Menschen begründet, sondern nur „ein Niederschlag der geschichtlich-ge­ sellschaftlichen Erfahrung" sein. „Der Jntellect wie der Wille des Menschen (die einzigen

als

angeboren betrachteten natürlichen Fähigkeiten)

bringen

44

II. »Abschnitt.

Gestaltung jeder Weltansicht wurde dadurch zum fest­ stehenden Axiom, der Standpunkt des Beobachters als der einzig zulässige und mögliche Ausgangspunkt der philosophischen Forschung anerkannt. Subjective Erregungen des erkennenden Geistes bilden das einzige der Beobachtung unmittelbar zugäng­ liche Material, aus dem sich das Bild der Welt allein auferbauen läßt. Sinnliche Empfindungen und Gefühlseindrücke bilden die primitiven Inhalte, welche durch die zusammenfassenden Auf­ fassungsweisen des Geistes in Verbindung und Zusammenhang gebracht werden. Die letzten metaphysischen Grundbegriffe über das Wirkliche, die Kriterien der Wahrheit und Werthschätzung desselben können für den menschlichen Standpunkt nur in der Ein­ richtung des menschlichen Geistes begründet sein, sie können nur durch eine sorgfältige Prüfung dieser Einrichtung zum Bewußtsein gebracht werden. Giebt es überhaupt allgemeine und nothwendige Wahrheiten, giebt es allgemein maßgebende Werthkategorieen, giebt es allgemein-verbindliche Grundsätze des sittlichen Handelns, so für das Sittlichc nicht die mindeste Empfänglichkeit mit." Der menschliche Geist ist in dieser Beziehung tabula rasa, „alles Sittliche, das Wissen und Wollen desselben (also auch das Gewissen) ist Product der Geschichte, des geschichtlichen Lebens der Gesellschaft". In der That bleibt der geniale und allzusehr auf sich selbst gestellte Verfasser nicht einmal diesem Grundsätze ge­ treu, dessen conseguente Verfolgung ihn zweifellos auf deu rechten Weg zu­ rückgeführt haben würde, denn, er inducirt das, was er unter Recht und Moral versteht, nicht etwa aus einer unbefangenen Betrachtung der histo­ rischen oder ethnographischen Berichte oder auch nur der der gegenwärtigen Beobachtung sich darbietenden Thatsachen, sondern er deducirt dasselbe aus den selbstgeschaffenen Begriffen des Individuums und der Gesellschaft, bereit höchste Lebensinteressen lediglich durch den farblosen und unbestimmten Be­ griff des Wohlseins überhaupt bestimmt gedacht werden. Die nahe Verwandtschaft dieser neuen Theorie mit dem englischen Sen­ sualismus (Locke) ist vom Autor selbst anerkannt. Die eingehendere Beur­ theilung des übrigens, wie ja von dem Verfasser nicht anders zu erwarten war, höchst geistvoll und anziehend geschriebenen Werkes, welches über die Grenzen Deutschlands hinaus berechtigtes Aufsehen erregt hat, behalte ich mir für eine andere Gelegenheit vor.

45

Die moderne Kultur.

können sie nicht

durch empirische Forschung aufgelesen,

sondern

nur durch das Bewußtsein dessen offenbar werden, was „a priori“ in der menschlichen Geistesanlage gegeben ist. Durch die Eröffnung dieses neuen Gesichtspunkts wurde der Geist

wieder in

seine Rechte

eingesetzt, Gewissen, Vernunft

und religiöses Gefühl wurden principiell als das an­ erkannt, was sie sind, als die Grundkräfte des mensch­ lichen Geistes,

als tiefster Jnhaltsquell alles Lebens

und Erkennens. So gewaltig die Macht des Kant'schen Geistes, und so groß die reformatorische Bedeutung dieses neu eröffneten Gesichtspunkts war, so sollte es Kant selbst doch nicht gelingen, die Fruchtbarkeit desselben in jeder Beziehung gleich ergiebig auszubeuten. Nach zwei Richtungen hin konnte er sich von der Tradition der philosophischen Schnlen nicht frei machen.

Zunächst hielt er,

anstatt den Begriff des Wirklichen ans der unmittelbaren Lebens­ erfahrung zu schöpfen, an dem Begriffe der Substanz, als esties „beharrlichen" Wesens, und an dem Glauben fest, daß alles Wirkliche nur an diesem starren Grunde unveränderlicher Substantialität eine haltbare Stütze finden könne.

Die unmittelbare

Erfahrung bewegt sich nur in dem Wechsel lebendiger Zustände, und schließt jede Möglichkeit aus, einen solchen starren substan­ tiellen Kern jemals zu entdecken.

Dieses Vorurtheil führte Kant

daher zu der Ansicht, daß die Erkenntniß des inhaltlichen Wesens der Dinge dem Geiste ewig verschlossen bleibe, daß es keine Me­ taphysik im eigentlichen Sinne gäbe, sondern

daß die Thätigkeit

des wissenschaftlichen Erkennens sich daraus beschränken müsse, die Fülle der Erscheinungen nach den Gesetzen der denkenden Zusammen­ fassung zu ordnen und zu verstehen.

Es führte ihn zu jener ver-

hängnißvollen Scheidung zwischen der Welt der Erscheinung und der. Welt

der Dinge an sich,

welche das ganze Denken Kants

durchzieht und dessen Endergebnisse mitbestimmt.

Da der eigent-

46

II. Abschnitt.

liche Inhalt und Werth der Dinge nach dieser Ansicht trotzdem nur in ihrem „An sich", nicht in ihrer „Erscheinung" beruhen, und consequenterweise auch im „Ich" ein solcher unveränderlicher substantieller Wesenskern des „An sich" enthalten sein sollte, so ver­ baute sich Kant, wenigstens im Princip, die rechte Würdigung der sich im subjectiven Geistesleben offenbarenden Inhalte, indem er sein ganzes Augenmerk auf die Formen richtete, in denen jene Inhalte sich in der Erscheinung kundgeben sollten.

Nur die Formen

der Zusammenfassung der Erfahrungsthatsachen wähnte er dem Geiste angeboren, nur diese Formen betrachtete er als die obersten Grundsätze alles Erkennens, Richtung vorschreiben sollten. Auffassung in

den

welche diesem Ziel und

Er fand die Formen der sinnlichen

Anschauungen

des Raumes

uud der

Zeit, die Formen der denkenden Zusammenfassung in den Kategorieen des Verstandes und die Formen der Verdeutlichung des Sinnes und Inhaltes

der Welt in den regulativen Ideen

der Vernunft. Aber nicht blos das Erkennen, sondern auch das sittliche Handeln wurde in der Auffassung Kants durch dieses Formalprincip beherrscht.

Auch

das in der Regel des kategori­

schen Imperativ aufgestellte Sittengesetz zeigt im Princip diesen formalen Charakter, und empfing,

wie wir sogleich

sehen werden, seine verbindliche Kraft und seine inhaltliche Er­ gänzung erst durch die stillschweigend als selbstverständlich voraus­ gesetzte Würde dessen, was es gebietet. Nach beiden Richtungen hin konnte die Consequenz der Kantschen Gedanken nicht befriedigen.

Weder beruhigt sich der mensch­

liche Wissensdrang bei dem principiell gebotenen Verzicht auf alles metaphysische Erkennen, noch kann die Allgemeinheit und Noth­ wendigkeit der Gesetze des Erkennens und die Verbindlichkeit der sittlichen Gebote aus deren formalem Character, als etwas rein Thatsächlichem, begriffen werden.

Die Energie des Wissens-

47

Die moderne Kultur.

dranges entspringt,lediglich dem Bedürfnisse, Sinn und Be­ deutung des Wirklichen zu erkennen, und richtet sich unaufhalt­ sam auf das Verständniß dieses Sinnes, aus dem allein die Allgemeinheit und Nothwendigkeit der zu dessen Realisirung dien­ lichen Formen und Mittel gerechtfertigt werden kann. Voraussetzung oder Consequenz des

Nur als

Sinnes und Werthes

des

Wirklichen ist die Allgemeinheit und Nothwendigkeit der Gesetze des Wirkens, der logischen Denkformen und der sittlichen Gebote begreiflich. Kant suchte und fand solche Ergänzung, wie schon ange­ deutet, in dem lebendigen Gefühle der sittlichen Selbstachtung, und in diesem offenbart sich eine andere nicht minder bedeut­ same Seite

seines Wesens,

aus

der

sich ein zweiter

Hauptstrom seines reformatorischen Wirkens ergoß. Die Reinheit und Tiefe dieser nur aus sich selbst gestellten, von allem schielenden Hinblick auf die dadurch zu erlangenden Vor­ theile befreiten sittlichen Selbstachtung trat im Geiste Kants mit einer, zwar schmucklosen und einfachen, aber doch so siegesgewissen Macht hervor, daß sie alle Mängel ihrer theoretischen Formulirung durchbrach und überstrahlte, daß sie trotz dieser Mängel ihren Weg zum Herzen aller wahrhaft Gebildeten fand, und hier einen be­ geisterten und tiefgreifenden Wiederhall erregte, der einzig in seiner Art dasteht.

Mochte die Formel des kategorischen Imperativ

von der Geschichte verurtheitt werden, der Geist des kategorischen Imperativ ist unsterblich, weil er der reinste Ausdruck der sitt­ lichen Selbstachtung ist, d. h. des Bewußtseins des unbedingten Eigenwerths der sittlichen Bestimmung.

Dieser Geist erhob seiner

Zeit die ganze Deutsche Nation, die ganze gebildete Welt.

Er be­

geisterte unsere classischen Dichter zu ihren unsterblichen Schöpfungen, unsere jugendlichen Kämpfer in den Befreiungskriegen zu ihrer selbstlosen und todesmuthigen Hingabe an die Pflicht der Vater­ landsvertheidigung; er breitete sich zu einer lichten Atmosphäre

48 aus,

II. Abschnitt.

in

der

die Humanität des neunzehnten Jahrhunderts zu

hellstem Glanze

aufflammte,

in

der wir

noch

alle leben und

athmen, denn noch wirkt und lebt er im Herzen aller, denen der reine Pulsschlag des Gewissens oberste Norm ihres Denkens und Thuns ist. perativ

Dieser lebendige Geist des kategorischen Im­ bildet

noch gegenwärtig den wirksamsten und

edelsten Quell des sittlichen Lebens.

Wir verzeichnen ihn

mit Stolz und Befriedigung unter den Hauptrichtungen des mo­ dernen Lebens, wenngleich wir uns in Betreff des Umfangs und der Intensität seiner Herrschaft keinen Illusionen hingeben, sondern leider bekennen müssen, daß er noch weit davon entfernt ist, den ihm gebührenden ersten Rang einzunehmen. Die einzig angemessene Form und Consequenz dieses Geistes ist die sittlich religiöse Weltansicht, deren Grundzüge wir im ersten Abschnitte aus den Voraussetzungen des Gewissens zu entwickeln suchten.

Kaut's

eigene Auffassung schloß

sich

hier eng an die

Hauptsätze des rationalistischen Glaubens seiner Zeit,

und

diese

Sätze fanden in der Erhabenheit und dem sittlichen Ernste seiner Gesinnung eine Läuterung und einen Adel, der die von ihnen aus­ strahlende Befriedigung vollkommen erklärt.

Aber in dieser Auf­

fassung Kant's sielen Wissen und Glauben, sittliche Verbindlichkeit und Glückseligkeit in unnatürlicher Weise auseinander, sie konnte eben deßhalb dem nach Einheit in allen diesen Fragen verlangenden Erkenntnißdrange nicht dauernd genügen. Die Schüler und Nachfolger Kant's, die sogenannten großen Philosophen der idealistischen Schule, die Fichte, Schelling, Hegel, verharrten

nicht auf dem resignirten Standpunkte des Meisters.

Die Begeisterung für die Bedeutung des neu eröffneten Gesichts­ puncts ließ

sie

dessen Schranken übersehen.

Der peripherische

menschlich subjective Standpunct erhöhte sich in ihrer Auffassung zu einem centralen, psychismus.

kosmischen;

Sie erblickten in

der Subjectivismus zum Pan­ den Anforderungen

und Werth-

Die moderne Kultur.

49

schätzungen der Vernunft und des Gewissens unmittelbare und den Sachverhalt völlig erschöpfende Offenbarungen des Weltgeistes, und glaubten durch deren Verdeutlichung ganz direct die letzten Prin­ cipien aller Wirklichkeit und alles Geschehens ersassen zu können. Diese Bestrebungen überstiegen in ihrer Form und in ihrem In­ halt das menschliche Vermögen, und der wissenschaftliche Rein­ ertrag derselben muß daher mehr als fraglich erscheinen. Aber es heißt den Werth derselben durchaus verkennen, wenn man ihn lediglich in der Haltbarkeit dieses Reinertrages sucht. Derselbe ruht vielmehr theils in der titanischen Großartigkeit der gestellten Probleme und in dem begeisterten Aufschwünge des Fühlens und Denkens, der sich in dem energischen Streben nach deren Lösung kundgiebt; theils in der geistreichen, gcistesgewandten und genialen Art der Auffassung und Darstellung, und in den vielseitigen Anregungen, welche auf den verschiedenen Gebieten des Lebens, der wissenschaftlichen und künstlerischen Thätigkeit von dem Geiste dieser kühnen Systematiker ausströmten. In den Systemen dieser Männer waltet offenbar eine mit dem strengen Ernste gewissenhafter Wahrheitsforschung nicht vereinbare Macht frei-schöpferischer Phantasie, aber diese Macht empfängt ihre Im­ pulse aus dem Allerheiligsten des Menschenherzens. Es ist die Begeisterung für die in der menschlichen Naturanlage begründeten Keime des Wahren, Guten und Schönen, welche im Bewußtsein ihres unbedingten Eigenwerths sich hier in originellen, mehr künst­ lerisch als wissenschaftlich gerechtfertigten Schöpfungen ausgestaltet, die alle mehr oder weniger durch den Geist ihres Ursprungs ge­ adelt sind, und von dem Reichthum menschlicher Gestaltungskraft ein glänzendes Zeugniß ablegen. Der Funke dieser Begeisterung zündete in den Gemüthern der Zeitgenossen und wuchs hier zu einer vielgestaltigen Bildung aus, deren belebendes Centrum jene erquickende Erwärmung für das Sittliche und Religiöse ist, für den tieferen Gehalt und die schöpferische Gestaltungskraft des Sommer, Gewissen und moderne Kultur. 4

50

II. Abschnitt.

wahren Menschwesens, welche in den litterarischen Erzeugnissen der damaligen Zeit manche werthvolle und characteristische Blüthen trieb, um deren frischen Dust wir jene jugendlich aufstrebende Zeit der idealistischen Spekulation mit Recht beneiden können. Jene Systeme waren es besonders, welche die reformatorischen Ideen Kants der allgemeinen Volksbildung vermittelten, und den läuternden Bestrebungen

des philosophischen Denkens einen so

tief- und weitgreifenden Einfluß auf das gesammte Denken und und Fühlen verschafften, welcher fast einzig in der Geschichte da­ steht.

Dieselben gehören in ihrer ursprünglichen Form zwar der

Vergangenheit an, aber ihre Nachwirkungen reichen noch tief in das geistige Leben der Gegenwart hinein,

und wir durften sie

daher auch hier nicht unberücksichtigt lassen. Aber wir dürfen auch gegen die Fehler jener Systeme nicht blind fein. Daß die angeregte Begeisterung bald verrauschte und einer allgemeinen Ernüchterung Platz machte, lag theils in der Ueberspannung ihrer Tendenz und ihrer Forderungen, theils in der abstracten Natur jener Systembildungen, welche sich einerseits allzu­ weit von dem Boden der Wirklichkeit entfernten, andererseits für die concreten Gemüthsbedürfnisse der nach einem befriedigenden Abschlüsse in den höchsten Fragen des Lebens suchenden Mensch­ heit keine greifbaren Anhaltspuncte und Stützen darboten.

Die

Idee der „sittlichen Weltordnung" Fichte's ist zweifellos ein er­ habener Gedanke, aber ein Gedanke, Begeisterung,

dessen Lebenskraft mit der

welche ihn inhaltlich belebte und seinen Urheber

beseelte, nothwendig erlahmen mußte.

Sieht man von dieser Er­

gänzung ab, welche nur in wenigen gottbegnadigten Gemüthern bleibende Wurzeln fassen konnte, so ist er zu schwach, eigenen Füßen stehen zu können.

um auf

Nicht viel anders verhält sich's

mit dem „absoluten Geiste" der Hegel'scheu Philosophie und mit der Schelling'schen „Weltseele".

Was diese genialen Schöpfungen

51

Die moderne Kultur.

belebt, ist der Wiederschein des concreten Inhalts, der sich aus der Fülle des interessanten Details des wirklichen Lebens und des wirklichen Geschichtsverlaufs in dieselben hineinprojicirt, und die Summe der Nebengedanken und Analogieen, welche sie anregen. Der abstracte gedankenmäßige Kern derselben enthält nicht viel mehr als ein geistreiches Spiel mit Formen und Allgemeinbegrisfen, die an sich keinen selbständigen Werth haben. Die Ueberschätzung der Bedeutung solcher Allgemeinbegriffe war nicht neu, sondern eine alte, in der Tradition der philoso­ phischen Schulen fortgepflanzte Einseitigkeit, die im letzten Grunde auf einer Verwechselung

der subjectiven Umwege, welche das

menschliche Denken braucht, um sich die vorgestellten Inhalte zu verdeutlichen, mit der objectiven Entwickelung dieser Inhalte selbst beruht.

Dieselbe führte in consequenter Erweiterung zu dem ver-

hängnißvollen

Bestreben,

welche sich durch

die

höchsten

fortschreitende

Concreten ergeben,

und

Allgemeinbegrisfe,

Abstraction von dem

im Grunde

die allerärmsten

und inhaltleersten Begriffe sind, wie die der Substanz, des Seins und Werdens, in ihrer Leere und Aklgemeinheit als oberste und letzte Principien der Dinge hin­ zustellen, während sie in Wahrheit nur Hilfsbegriffe des Denkens und bestimmt sind,

die Uebersichtlichkeit

des Concreten zu erleichtern, und die logische Gliede­ rung der Gedanken zu ermöglichen. Hierin liegt eine der größten Gefahren des modernen philo­ sophischen Denkens, die Gefahr der Verödung und Entleerung, welche, indem sie die ganze Weltansicht der Menschen ihrer Werthe beraubt, verflacht und verdirbt,

auch verwirrend und erkältend

aus die sittlichen Vorstellungen und das sittliche Leben zurück­ wirkt.

Wurden jene abstracte» Einseitigkeiten in den genannten

großen Systemen des Idealismus noch durch die stete lebendige Rückerinnerung an die werthvollen Ziele des Lebens und die viel-

4

*

52

II. Abschnitt.

fachen stillschweigenden Beziehungen aus die inhaltvollen Momente der geschichtlichen Entwickelung, welche den regsamen und reichge­ bildeten Geist ihrer Urheber erfüllten, verdeckt und ergänzt, so treten dieselben um so unverhüllter in den Lehren Schopen­ hauers und Eduard von Hartmanns hervor, welche auf der­ selben Tendenz spcculativer Abstraktion beruhen, aber nicht mehr von der gesunden Kraft idealistischer Begeisterung getragen sind. Es sind ganz leere und handgreifliche Nichtigkeiten, welche hier zu erklärenden Principien des Weltlaufs gemacht werden. Der Schopenhauer'sche „Wille", ein von seinem Subjecte losgelöster und widerrechtlich personificirter Eigenschaftsbegriff, der im Grunde nichts weiter enthält als den in seiner Allgemeinheit ganz unbestimmten und unvollständigen Gedanken des Wirkens überhaupt, soll die Urkraft sein, welche die Erscheinung der Welt aus sich hervortreibt.

Die „innere Leere', welche die Langeweile ver­

ursacht", das primum movcns des Weltproceffes. Dem blinden Willen gesellt Hartmann in der willkürlichen Construction seines „Unbewußten" als zweiten Factor des Weltentstehungsproceffes,

die

„logische Idee".

Beide

„Attribute

des Unbewußten" sollen sich ursprünglich im Gleichgewicht und in Ruhe befinden,

bis der

durch unberechenbaren Zufall erregte

„Schmerz des unvernünftigen leeren

Wollens" den Anstoß zur

Weltschöpfung giebt, welche gar keinen anderen Zweck hat, als den bewußtlosen Stillstand im Unbewußten wieder herzustellen, indem durch solche Schöpfung auf einem Umwege in den end­ lichen Geschöpfen dasjenige erzeugt werden soll, was das Unbe­ wußte für sich selbst nicht erlangen kann, nämlich Bewußtsein und die Einsicht, daß alle Eventualitäten des Wollens nichtig, die Rückkehr ins Nichts daher das einzig erstrebenswerthe Ziel sei.*) *) Eine ausführlichere Charakteristik der Hartmann'schen Lehren findet sich in meiner gekrönten Preisschrift „Pessimismus und Sittenlehre" 2. Aust. Berlin.

Reimer.

1882.

53

Die moderne Kultur.

Die Schattenseite der entarteten idealistischen Constructionssucht, noch verwässert durch eine rücksichtslose Autoren-Eitelkeit, berührte sich in diesen pessimistischen Phantasiern mit dem Grund­ gedanken des Materialismus einerseits, und andererseits mit der Verstimmung und Blasirtheit, welche der Jndifferentismus, die rafsinirte Genußsucht und die verschrobene Ueberkultur des Zeit­ alters vielfach in den Gemüthern erregt hatten.

Theils hieraus,

theils aus der eleganten und piquanten Schreibweise ihrer Ur­ heber,

erklärt

sich

die

merkwürdige Verbreitung,

Systeme in der neuesten Zeit gefunden haben.

welche diese

Diese Verbreitung

erstreckt sich zwar nicht auf die Art der Begründung und auf die wissenschaftliche Construction, welche zu absurd und abstract sind, um jemals populär werden zu können, aber der in leicht mit­ theilbaren Schlagwörtern und Sentenzen formulirte pessimistische Geist, den jene Systeme athmen, sympathisirt in bedenklicher Weise

mit

manchen

verkehrten

Richtungen

und ist

ein Krankheitssymptom,

das

achtung

verdient.

Sitz

die

materialistische

Versumpfung

und

Der

eigentliche

Verödung

der der

der Gemüther,

Abstumpfung gegen alle

Volksbildung,

unsere

höchste

Krankheit die

Be­ ist

epidemische

höhere Regungen

des Lebens, welche in immer erschreckenderem Maße

um sich

greift. In dieser Abspannung, Nervosität und Erschlaffung der Geister liegt die größte Gefahr des sittlichen Lebens der Gegenwart. Wie der Blinde nicht sehen, und der Lahme nicht gehen kann, so kann auch der, dessen Gemüth keine sittliche und religiöse Er­ hebung mehr kennt, den Werth des Sittlichen und die Beseligung religiöser Begeisterung nicht verstehen und würdigen.

Eine solche

der höheren Weihe und Würde baare Gemüthsart sieht natürlich nur das Platte und Gemeine in der Welt verwirklicht, sie fühlt sich nur in jener niederen Atmosphäre des Lebens behaglich und

reizt zum Protest gegen jede höhere Auffassung desselben, welche sie in ihrem niedrigen Behagen stört. In jenen pessimistischen Systemen vereinigen diesem Abschnitte erwähnten,

sich alle in

der Entfaltung gesunden sittlichen

Lebens feindlichen Kräfte zu einer gemeinsamen Resultante: die Verkümmerung des Gemüthslebens, der Geist des Ma­ terialismus und die Verherrlichung des abstracten Ge­ dankens.

III. Abschnitt.

Pie sittlichen Lebensfragen der Hegenwart.

Erstes Kapitel.

Die Haltlosigkeit des Materialismus. Der wirksamste Grund der jetzt so vielfach beobachteten sitt­ lichen Abspannung und Erschlaffung liegt in der zunehmenden Verbreitung materialistischer Ansichten. Wenn man den Menschen blos als zufälliges Naturproduct betrachtet, das Leben als eine vorüberrauschende Welle, welche der blinde Strom des mechanischen Wirkens auswirft, so entzieht man der verbindlichen Kraft des Sittengesetzes jede Grundlage, Leben selbst allen Werth und alle Weihe.

dem

Wenn es keinen Gott

und keinen Weltzweck giebt, wenn der ganze Weltlauf sich als ein sinnloser Proceß blinden mechanischen Wirkens darstellt, so erscheinen das Gute und Heilige als reine Illusionen.

Es giebt

dann nur noch eine Art von Werthgefühlen mit verständlicher Grundlage, den sinnlichen Genuß; nur eine Art berechtigten Strebens,

den Trieb der Selbstsucht;

Genieße den Augenblick.

nur eine Weisheit:

Es giebt daun keine Moral, sondern

56

III. Abschnitt.

nur noch Regeln der Klugheit, welche lediglich durch Rücksichten des materiellen Wohlseins, der Nützlichkeit und praktischen Zweck­ mäßigkeit bestimmt werden.

Selbstverleugnung und Aufopferungs­

fähigkeit erscheinen dann als krankhafte Ausgeburten der Phan­ tasie, weil sie der freien Entfaltung eines gesunden Egoismus widerstreiten. Vor allem fehlt es — und dies ist die Hauptsache — dem Egoismus einer solchen glaubenslosen Weltansicht selbst an jedem inneren Halt, der eine sittliche Neubildung möglich machen könnte. Es ist ein haltloser, trostloser und trübseliger Egoismus, blos auf den sinnlichen Genuß gestellt ist.

der

Ueberschlagen wir

einmal, was dem Menschen durchschnittlich Glück und Freude ge­ währt, was ihn zu thatkräftigem Handeln anzuspornen pflegt, so werden wir bald finden, daß auf den sinnlichen Genuß nur ein ganz kleiner Bruchtheil entfällt.

Die Wurzeln aller wahren Lebens­

freude und aller gesunden Thatkraft haften im Uebersinnlichen. Die Befriedigung getreuer Pflichterfüllung, das Glück der Liebe und Freundschaft, die mannichfachen Eindrücke des Schönen, das Mit­ gefühl und die Freude des Wohlthuns, ja selbst der Ehrgeiz und die Lust des Arbeitens und Forschens, alle diese Gefühle und Motive beruhen auf der Anerkennung einer höheren Bestimmung des Menschen und auf den im ersten Abschnitt entwickelten Vor­ aussetzungen einer solchen Bestimmung.

Selbst die vielfältigen

Formen des sinnlichen Genusses erhalten ihre besonderen Reize erst durch die Erinnerung und Anknüpfung an höhere Gesichts­ puncte, welche der Egoismus entwerthet. Es ist offenbar:

der Materialismus würde, wenn er

jemals zur allgemeiuen Anerkennung gelangen und die herrschende Ansicht werden sollte, das ganze Leben der Menschen entleeren, veröden und verwüsten. Schon mehren sich die Anzeichen der wachsenden Verbreitung dieser Irrlehre in Besorgniß erregender Weise.

Vielen gilt es

Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.

bereits für völlig ausgemacht,

57

daß der Glaube an Gott zu den

längst überwundenen Irrthümern einer unmündigen Kindheits­ periode der Menschheit gehöre, denen man sich längst entwachsen fühlt, welche man als schlaue Erfindungen eigennütziger Priester zu verwerfen, deren man sich auf dem erleuchteten Standpunkte der Gegenwart zu schämen habe.

Das fachwisfenschaftliche An­

sehn gewisser naturwissenschaftlicher Celebritäten, in deren Kreisen der materialistische Grundgedanke zuerst Wurzel faßte, ersetzt in den Augen des Laienpublikums

den Mangel der Beweise und

umstrahlt die Keckheit der Behauptungen mit einem Glorienscheine von Unfehlbarkeit.

Es läßt sich gar nicht leugnen, daß der Ma­

terialismus die populärste Lehre ist, welche jemals gelehrt wurde. Seine positiven Behauptungen lassen sich in einen kurzen leicht­ verständlichen Satz zusammenfassen, der zugleich eine große Nega­ tion in sich schließt; eine Negation, welche das ganze Gebiet des Uebersinnlichen mit einem Schlage beseitigt, in dem mit den Ver­ anlassungen des Nachdenkens beginnen.

dessen Schwierigkeiten erst

Es ist das eine Lösung des Weltrüthsels, welche

dem Durchhauen des Gordischen Knotens gleicht. Räthsel durch

den Gewaltstreich eines

welches keine Zweifel mehr kennt,

Man löst das

neuen

weil hier alles,

Dogmas, was Zweifel

erregen könnte, dem Spiele eines blinden Zufalls überlassen wird, so daß als wissenswerther Bodensatz nur die einfachen Ele­ mente der Wirklichkeit übrig bleiben, Kraft und Stoff, die Würfel mit denen der Zufall spielt, und welche er im Verlaufe der Zeit zu

der

unserer

Weltkonstellation

zusammengeschüttelt

gegenwärtigen Beobachtung darbietet.

hat,

welche

sich

Man bringt in

seltsamer Verblendung diesem neuen Dogma dieselbe Gläubigkeit bereitwilligst entgegen,

welche man zugleich den Bekennen: des

alten Glaubens mit dem Fanatismus des Renegaten zum Vor­ wurf macht. Die Leichtfaßlichkeit der in landläufigen Schlagworten, blen-

58

III. Abschnitt.

benben Analogieen unb

überrebenben Silbern unb Vergleichen

vorgetragenen neuen Lehre begünstigte beren Verbreitung um so mehr, als eine solche negative Aufklärung ber Eigenliebe ber Menschen schmeichelt, inbent sie biefe klüger unb einsichtiger er­ scheinen läßt als ihre in ben alten Zweifeln befangenen Vorfahren. Das Sebenklichste aber ist, baß eine Lehre, welche ben Grunb ber sittlichen Verbinblichkeit aufhebt, von einem leiber recht großen, unb zwar betn unentwickeltsten unb rohesten Theile ber Mensch­ heit, zunächst unmittelbar als Befreiung empfunben wirb, weil man, wie ber Mensch im Kinbheitsalter überhaupt, bie sittliche Verbinblichkeit hier meist nur als Zwang empfinbet, ber ber natürlichen Neigung

zu freier Hingabe an bie verführerischen

Reize bes Augenblicks lästige Schranken auferlegt.

Befan,en in

ber Trivialität bieses nichtigen unb verwerflichen Stanbpunkts hat man sich nicht gescheut, ben Glauben an Gott unb bie sitt­ lichen Einschränkungen, welche bieser Glaube ber Zügellosigkeit eines rohen Lebens auferlegt, als unnatürliche Fesseln zu branbmarken, welche man abwerfen müsse, um ber sogenannten wahren „Freiheit" theilhaft zu werben. So hinfällig alle biefe Scheinargumente sinb, so überrebenb wirken sie boch auf bie große Masse bes mit gesunbem kritischem Urtheil nicht Hinreichenb ausgestatteten Volks, so sehr untergraben sie in stetem Fortschritt besten moralisches Bewußtsein. Angesichts

bieser Thatsachen

kämpfung bes Materialismus

erscheint bie wirksame Be­ als eine ber wichtigsten

Fragen bes sittlichen Lebens ber Gegenwart. Jnbem wir uns nach ben Mitteln solcher Bekämpfung um­ sehen, müssen wir zunächst zwei in bieser Richtung eingeschlagene Wege als ganz ungeeignet a limine abweisen. Das Umsichgreifen bes Materialismus erweckte einerseits eine Reaktion, welche sich nun um so ängstlicher unb krampfhafter an bie alten Dogmen mit allen beren trabitionellen Einseitigkeiten

anklammerte; eine Reaktion welche den Glauben des Buch­ stabens auf ihre Fahne schrieb, und mit der dieser Tendenz eigenthümlichen Blindheit und Kritiklosigkeit nicht nur die Aus­ schreitungen

des

Materialismus,

sondern

alle

Ergebnisse

der

Wissenschaft verwarf, welche jenem orthodoxen Buchstabenglauben widersprachen. Das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den unleugbaren Er­ gebnissen der Naturforschung führte andererseits,

in Verein mit

dem Ungeschick, jene mit den Inhalten des Glaubens in Einklang zu bringen,

zu

der verzweifelten

Ausflucht einer

doppelten

Buchführung, welche andere Grundsätze der Wahrheitsforschung für den religiösen Glauben,

andere für das wissenschaftliche Er­

kennen befolgt wissen will. Beide Versuche sind an sich unhaltbar und arbeiten nur dem Gegner in die Hände, anstatt ihn wirksam zu bekämpfen.

Jene

Reaktion gleicht dem Benehmen des Vogel Strauß, welcher seinen Kopf in den Sand steckt, um die drohende Gefahr nicht zu sehen. Die doppelte Buchführung aber widerstreitet der Treue und Auf­ richtigkeit

gegen

Glaubens ist.

sich

selbst,

welche das Haupterforderniß jedes

Ein Glaube kann nur dann echter und wahrer

Glaube sein, und nur dann, und nur insoweit, segensreich wirken, als er gewissenhaft und aufrichtig, d. h. als er wirklich das Endergebniß der Wahrnehmungen und des gewissenhaften Nachdenkens dessen ist, der ihn hat.

Manche Ergebnisse der neueren Natur-

forschung, welche jener kindlichen Form alt-christlicher Auffassung widerstreiten, wie sie der Buchstabe der heiligen Schrift oder des traditionellen Dogma zum Ausdruck bringen, und

sind so

zweifellos,

überdies nachgerade als allgemeiner Bestandtheil der Bil­

dung so sehr in das Volksbewußtsein übergegangen, daß es un­ bedacht und thöricht ist,

ihrem klaren Sinne zu

widersprechen.

Es ist kein Glaube mehr,

welcher der Sonne gebietet,

stehen,

der astronomischen Thatsachen bean-

und

die Wahrheit

stille zu

60

III. Abschnitt.

standet, um die Vorstellung des Himmels nicht zu alteriren, oder die

Allgemeingesetzlichkeit

des

Geschehens,

um

Raum

für

die

Wunderthätigkeit Gottes zu gewinnen; welcher das Allerheiligste seiner Ueberzeugungen an

den leicht zerreißbaren Faden solcher

offenbarer Unrichtigkeiten hängen zu wollen vorgiebt. mehr Selbsttäuschung

mit einer guten Dosis

Es ist viel­

Selbstüberredung,

welche in ihren Consequenzen schließlich zur Heuchelei führen.

Es

widerstreitet ferner eben so sehr dem Sinne und Geiste der Wahr­ heit, wie der durch die Moral gebotenen Verpflichtung zur Auf­ richtigkeit, wenn man sich einbildet, im Gemüthe etwas glauben zu können, was man ebenso redlich mit dem Verstände bestreitet. Gemüth und Verstand sind zusammengehörige Geisteskräfte ein und desselben Menschen. richtig, kehrt.

Entweder ist der Glaube des Gemüths

und der Widerstreit des Verstandes falsch, Beides ist unmöglich,

Gemüths und selbst ist.

oder umge­

wenn der einheitliche Träger des

des Verstandes

wahr und

aufrichtig

gegen sich

Jedenfalls ist ein Glaube nichts werth, dem die klare

Einsicht des Verstandes entgegensteht, und ebensowenig eine Ein­ sicht, welche uns unglaublich ist. Beide Wege weichen von der graben Bahn ab, welche uns hier Gewissen und Vernunft, sowie das Vertrauen auf die Wahr­ heit der Voraussetzungen beider, zeichnen.

Wir

müssen

mit fester sicherer Hand vor­

allen

Zweiselseventualitäten,

welche die Ergebnisse der Naturforschung anregen, klar und fest ins Auge sehen,

und vorurtheilslos erwägen,

welches Gewicht ihnen beizumessen sei?

welche Modifika­

tionen der bisherigen Form unserer sittlich-religiösen Weltansicht durch dieselben etwa herbeigeführt werden? Wäre der Materialismus wirklich das letzte Wort menschlicher Weisheit, so würden wir uns den trostlosen Consequenzen dieser Ansicht wie

nicht entziehen

können.

In der That ist diese Sorge,

sich aus Nachstehendem ergeben wird,

eine unnütze Qual,

Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.

die

wir uns

ßl

durch zu frühes Abbrechen der Untersuchung selbst

zu bereiten Pflegen. Der Hauptgesichtspunkt, der bei der üblichen populär-wissen­ schaftlichen Behandlung dieses. Themas leider ganz unbeachtet zu bleiben pflegt, ist hier der, daß der Materialismus gar nicht auf gegebenen Thatsachen,

sondern lediglich auf einseitiger Ueber»

schätzung und gedankenloser Erweiterung einer von der Physik für deren besondere Zwecke aufgestellten Hypothese be­ ruht.

Dieser besondere Zweck ist die Ermittelung der Gesetze des

gegenseitigen

Verhaltens

der

uns

erscheinenden

Körper.

Für

diesen besonderen Zweck hat die Hypothese sich allerdings so vor­ trefflich bewährt, daß wir mit Grund annehmen dürfen, sie habe die Beschaffenheit der letzten elementaren Bestandtheile der körper­ lichen Dinge,

insoweit

dadurch deren gegenseitiges for­

males Verhalten bedingt ist, rathen.

glücklich

und

sachgemäß

er­

Wir dürfen mit Grund als richtig annehmen, daß alle

körperlich erscheinenden Dinge

aus

unendlich kleinen oder ganz

unausgedehnten Atomen zusammengesetzt erscheinen,

welche sich

nach Verhältniß ihrer gegenseitigen Entfernungen in gesetzlich ge­ regelter Weise mit größerer oder geringerer Kraft gegenseitig an­ ziehen oder abstoßen. these

als

In so weit können wir also jene Hypo­

ganz sachgemäß und richtig gelten lassen,

Geltung erstreckt sich auf alle Fälle,

praktisch zur Anwendung gebracht ist. daher,

und

diese

wo dieselbe von der Physik Unser Streit richtet sich

wie ich zur Abwehr aller Mißverständnisse bemerke,

nicht

gegen die Lehren der Physik und die derselben unterstellten hypo­ thetischen Annahmen. Der Materialismus

geht

aber nach zwei Richtungen

hin

weit über jene berechtigten Annahmen hinaus. Während jene Hypothese sich wohlweislich jeder Vermuthung über

die

innere Wesensnatur der

gegenseitige Verhalten

Atome enthält,

welche

das

derselben erklären könnte, behauptet der

Materialismus mit dreister Zuversicht, daß solche Wescusnatur in weiter gar nichts bestehe, als tu der Fähig­ keit, sich in der beobachteten Weise gegenseitig anzu­ ziehen oder abzustoßen. Während ferner jene Hypothese sich nur mit den körperlich erscheinenden Dingen beschäftigt, und es ganz dahin gestellt sein läßt, was etwa außerdem noch in der Welt vorhanden sein mag, behauptet der Materialismus positiv, daß es in der Welt weiter nichts gäbe und geben könne, als körperliche Dinge und bereit Elemente, als Atome und deren Kraft­ wirkungen. Beide Erweiternngsversnche des Materialismus sind nicht blos grundlos, sondern nachweislich falsch und widersprechend. Alle Vermnthungen über die innere Wesensnatur der Atome überschreiten das Gebiet der unmittelbaren Wahrnehmung; sie können daher stets nur Vermuthungen sein. Wir können nicht in die Atome hineinsehen und dort die Gründe ihres gegenseiti­ gen Verhaltens entdecken. Es ist nöthig, daß wir uns bei dieser Gelegenheit die Gren­ zen des menschlichen Erkennens klar vergegenwärtigen. Wir können nichts unmittelbar wahrnehmen, als was wir selbst sind und in uns erleben, als die Empfin­ dungen, Gefühle, Vorstellungen und Strebungen, in denen unser Leben selbst verläuft. Wir glauben gewöhnlich, die Dinge außer uns unmittelbar als solche wahrnehmen zu können. Dies ist jedoch nur eine Täuschung, der wir zwar im täglichen Leben alle unbe­ denklich und ohne Nachtheil folgen, wie wir ja auch vom Aufgang und Untergang der Sonne sprechen, obwohl wir recht gut wissen, daß gerade umgekehrt die Erde es ist, welche sich um die Sonne dreht, bereit wir uns jedoch als einer Täuschung bewußt werden müssen, wenn wir uns im Interesse der wissenschaftlichen Untersuchnng den wahren Sachverhalt verdeutlichen wollen. Sehen

63

Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.

wir genauer zu, was wir eigentlich an den Dingen wahrnehmen, so kommen wir nicht über das Gebiet unserer sinnlichen Empfin­ dungen hinaus.

Wir nehmen nichts an ihnen wahr als die

Licht-, Schall-, Tast-, Geruchs- und Geschmacksempfindungen, aus denen sich die Erscheinungen der Dinge zusammensetzen, Em­ pfindungen also, die wir selbst in uns erleben und die wir den Dingen an sich nur irrthümlich beilegen.

Es giebt kein

Licht und keine Farbe, die Niemand sieht, keinen Ton, den Nie­ mand hört.

Alle Licht- und Schallempfindungen sind nichts als

lebendige Zustände desjenigen Wesens, welches sie sieht und hört; es können keine solche Empfindungen außerhalb der hörenden und sehenden Wesen existiren.

Die Dinge an sich sind färb- und ge­

ruchlos, aber sie haben solche Eigenschaften,

daß sie, wenn sie

mit der menschlichen Seele durch die Vermittelung des Leibes in Wechselwirkung treten, in jener stets dieselben bestimmten Empfin­ dungen des Gesichts und des Geruchs erregen. Jemandem,

So paradox dies

der nicht im philosophischen Denken geübt ist,

auf

die erste Mittheilung hin scheinen mag, so unzweifelhaft ist es. In der Wissenschaft herrscht darüber kaum noch Streit. Das einzige Thatsächliche, was uns unmittelbar gegeben ist, sind daher unsere eigenen Lebenszustände, in denen wir uns unseres Daseins unmittelbar.bewußt werden.

Allein aus der

Art des Auftretens und aus dem Wechsel dieser inneren Erlebnisse schließen wir auf das Dasein anderer Dinge und Wesen außer uns.

Wir können von diesen auf keine andere

Weise Kunde erlangen, als durch die Empfindungen, welche fie in uns erregen. Wenn wir daher philosophische Spekulationen, denn solche find es, über die Dinge außer uns, insbesondere über die Natur der Atome anstellen wollen, aus denen fich die Erscheinungen der körperlichen Dinge zusammensetzen, so müssen wir uns, wenn wir nicht gan; in's Blaue hineinphilosophiren wollen, nothwendig an

64

III. Abschnitt.

jene thatsächliche Grundlage, das heißt an die Vorgänge unseres eigenen Seelenlebens halten. Die eigene Selbstbeobachtung lehrt uns keine anderen Motive kennen, als solche, deren wir in irgend einem Gefühl des Wohl oder Wehe innne werden. Andere Mo­ tive können wir auch für andere Wesen nicht ersinnen. Wollen wir daher nach Gründen suchen, welche ein Atom antreiben könnten, auf ein anderes zu wirken, so können wir nach der einzig zulässigen Analogie unseres eigenen Seelenlebens auch hier keine anderen vermuthen, als solche, die dem Atome selbst irgendwie empfindlich werden, d. h. ihm wohl oder wehe thun. Wir müssen in den Atomen, wenn wir uns deren Krastwirkungen einmal phi­ losophisch erklären wollen, eine ähnliche, wenn auch nicht so ent­ wickelte und komplicirte Reizbarkeit voraussetzen, wie wir sie selbst in der Seele unmittelbar erleben, welche die Seele veranlaßt, auf äußere Anreize mit Gegenwirkungen aus der inneren Natur ihres Wesens zu antworten. Eine solche Reizbarkeit fällt aber zusammen mit dem Be­ griffe der Lebendigkeit. Wir müssen daher auch in den Atomen ein inneres, wenn auch noch so einfach gestalte­ tes, Leben voraussetzen, nach dessen Gesetzen sie so auf ein­ ander wirken, und so von einander leiden, daß ihre gegenseitigen örtlichen Lagen dadurch in der Weise bestimmt werden, wie es die Physik lehrt. Mögen wir nun dieser zwar nicht durch physikalische Experi­ mente zu beweisenden, aber allein widerspruchslos denkbaren An­ sicht folgen oder nicht; so viel ist klar, daß der Erklärungsversuch, den der Materialismus an ihre Stelle setzt, durchaus unhaltbar ist. Der Materialismus stellt hier die ganz widersinnige Be­ hauptung auf, daß die Atome selbst todte Stosfelemente seien, oder todte Punkte, die trotzdem einander anziehen oder abstoßen, d. h. auf einander wirken und von einander leiden sollen. Wirken und leiden kann nur das Lebendige, nicht das Todte. Die

65

Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.

todten Stosfelemcnte des Materialismus sind todtgeborenc Kinder einer über alle Analogieen abstrakten Phantasie.

der Wirklichkeit hinausschweifenden

Wesen ohne

alles Leben und ohne alle

Innerlichkeit können überhaupt nicht wirken, mithin anch nicht sich gegenseitig anziehen oder abstoßen.

In der rein stoff­

lichen Natur der Atome des Materialismus giebt es keine Spontaneität, keine Ansatzpunkte einer innerlichen Differenzirung, keine Motive irgend einer Wirksamkeit, kein Prinzip irgend einer denkbaren Veränderung. Das Atom ist vielmehr, so lange sein Begriff nicht durch zutreffende und denkbare Annahmen in der von uns versuchten Weise ergänzt wird, ein gedachtes, kein wirkliches Wesen. Ebenso wenig

aber wie der todte Stoff als Träger d.er

Kraft, kann diese als eine Eigenschaft des leblosen Stoffes gedacht werden.

Die Kraft ist nach der Auffassungsweise des

Materialismus nicht aus dem Wesen des Atoms abgeleitet oder begreiflich gemacht,

sondern nur äußerlich damit verknüpft.

Mit dem Worte Kraft bezeichnen wir einen Allgemeinbegriff, den wir lediglich aus der Beobachtung der lebendigen Vorgänge in uns selbst abstrahirt haben.

Man versteht darunter gewöhnlich

die ganz unbestimmt und dunkel vorgestellte Fähigkeit, welche Veränderungen hervorzubringen, überhaupt zu wirken.

irgend Eine

solche Fähigkeit kann aber nicht als selbständig für sich beste­ hend, sondern nur als die Fähigkeit eines Wesens gedacht werden, welches sie ausübt.

Speziell in der Physik und Mechanik

versteht man darunter die den Atomen beigelegte Fähigkeit, gegen­ seitige Ortsveränderungen bewirken zu können.

Die Natur der

Atome muß daher so gedacht werden, daß jene Fähigkeit aus ihr erklärlich und begreiflich ist. Die Physik enthält sich nun, wie wir sahen, aller Annahmen über die wesenhafte Natur der Atome, sie verzichtet hier auf eine Erklärung und läßt jene Natur unbestim int. Si) m m e r, Gewissen und mobenie Kultur.

Der Materialismus [)

66

111. Abschnitt.

behauptet dagegen positiv, daß die Natur der Atome sich in jener nur äußerlich nach ihren Erfolgen charakterisirten Fähigkeit erschöpfe. In der Dreistigkeit dieser dogmatischen Behauptung liegt eben ihr Unverstand. Atoms B bewirken, so merken,

Soll das Atom A eine Annäherung des muß dieses doch irgend etwas davon

daß es angezogen werden soll,

wirkung von A empfangen.

es muß also eine Ein­

Es muß ferner eine eigenartige

spezifische Natur und bestimmte Lebensinteressen haben, welche es nicht gleichgültig gegen solche Einwirkung lassen, sondern es be­ stimmen,

darauf in irgend einer Weise zu reagiren.

Das rein

stofflich gedachte Atom hat aber weder Leben noch Lebensinter­ essen, es kann weder Einwirkungen erleben, noch Reaktionen da­ gegen ausüben, es kann also auch nicht die Fähigkeiten tragen, die ihm die Physik beilegt; und umgekehrt kann die Kraft, d. h. die Fähigkeit zum Wirken und Leiden, nicht als seine Eigenschaft gedacht werden. Stoss und Kraft, die Grundbegriffe des Materialis­ mus, sind daher nachweislich durch eine ihrem eigenen Sinne widerstreitende Erweiterung der gleichbenannten physikalischen Hilfsvorstellungen gebildet. Diese Grund­ begriffe sind in sich selbst widersprechendundundenkbar. Die Physik nöthigt zu solcher Erweiterung nicht, da sie über­ haupt nur das äußerliche gegenseitige Verhalten der Atome in's Auge faßt.

Will man jedoch, um das Gebiet des physikalischen

Wissens philosophisch zu ergänzen

und die Hypothesen desselben

zu erklären, sich eine Vorstellung über das eigentliche Wesen der Atome bilden, so kann man diese nur nach der hier allein zu­ lässigen Analogie des Seelenlebens als lebendige, wenn auch noch so niedrig organisirte Wesen denken.

Dies ist die einzige ge­

gründete und widerspruchslos zu denkende Vermuthung, welche wir über die Wesensnatur der Atome aufstellen können, weil diese

Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.

67

allein sich an die thatsächlich gegebene Wahrnehmung anschließt, und daher mehr ist als eine blos blinde Vermuthung. in

der

Geschichte

der

Philosophie,

wiederholt aufgetaucht und

von

wie ich

beiläufig

Sie ist bemerke,

den bedeutendsten Köpfen,

in

Deutschland insbesondere von Leibniz, lebhaft vertheidigt; sie ist vor Kurzem wieder von einem der der Neuzeit,

scharfsinnigsten Philosophen

dem vor zwei Jahren in Berlin verstorbenen Pro­

fessor Lotze, in höchst geistvoller Weise begründet. Diese allein haltbare Ansicht führt aber, wie wir schon jetzt sehen,

zu einem dem Materialismus durchaus

Resultate.

Während

entgegengesetzten

dieser das geistige Leben als eine leichte

und selbstverständliche Zugabe aus der Wirksamkeit des Stoffes hervorgehen lassen möchte, wird hier die alleinige Wirklichkeit der geistigen Welt verkündet, und nachgewiesen, wie wohl die mate­ rielle Welt aus dieser, nicht aber diese aus jener begreiflich ist. Das Gesagte betrifft nur die Grundbegriffe des Materialis­ mus.

Wie wir nun diese als in sich selbst widersprechend und

undenkbar erkannten, so erscheinen sie auch, wie wir sogleich sehen werden, als völlig unzulänglich,

die große Thatsache der

allgemeinen Gesetzlichkeit aller Atomwirkungen zu be­ gründen,

welche der Materialismus nichtsdestoweniger in selt­

samer Verblendung gerade als eine Consequenz seiner Voraus­ setzungen hinzustellen sucht, und welche, indem man diese dreiste Behauptung leichtgläubig hinnahm, so wesentlich dazu beigetragen hat, das Ansehen des Materialismus zu erhöhen und zu verbreiten. Kraft und Stoff können keine Gesetze schaffen, und ebenso­ wenig können Gesetze wie selbständige Mächte für sich sein und gleichsam im Leeren über

den Kraftwirkungen

der

materiellen

Elemente schweben, welche sie nach gewöhnlichem Sprachgebrauche „beherrschen" sollen.

Der Gedanke der allgemeinen Gesetzlichkeit

alles Geschehens, dieser dritte Glaubensartikel des Materialismus, ist ein gestohlener Flicken, der zu dem übrigen Muster des Grund5*

68

III. Abschnitt.

ßciucbes von Kraft und Stoff nicht paßt, der eben so willkürlich als unberechtigt zu den beiden Grundbegriffen von Kraft und Stoff nur hinzu addirt ist, der aber in dem Gesichtskreise des Materialismus weder Hand noch Fuß hat.

Wäre selbst denkbar,

daß neben Kraft und Stoff noch ein selbständiger Kreis allge­ meiner Gesetze irgendwie und irgendwo existirte, so würden ihm doch

der todte Stoff und die blinde Kraft nicht gehorchen; er

würde eine imaginäre Größe bleiben, mit der ein konsequenter Materialismus gar nichts anfangen könnte. Nur bildlich kann man davon reden, daß ein Kreis von Gesetzen das Geschehen beherrschen solle.

Gesetze können nur

gelten, aber nicht herrschen, und sie können nur da gelten, wo es lebendige Wesen giebt, die ihnen entweder freiwillig, oder unter dem Zwange einer eigenen inneren Wesensbestimmtheit gehorchen. Gesetze können ihrem eigenen inneren Wesen und Sinne nach immer nur der Ausdruck eines Geistes sein, welcher sie gesetzt hat; eines Geistes, welcher in sich selbst einen in­ neren Maßstab der Ordnung trägt, an welchem gemessen der Wechsel der Ereignisse als gesetzlich oder ungesetzlich, als noth­ wendig oder zufällig erkannt werden könnte; eines Geistes, dessen Leben durch Interessen geleitet ist, welche darüber entscheiden, was Ordnung und Gesetz sein soll. diger Wesen,

Nur als Vorstellung leben­

oder als innere Wesensbestimmtheit deren Natur

können Gesetze bestehen und gelten. Soll daher alles Geschehen in der Welt nach allge­ meinen Gesetzen verlaufen, und diese Behauptung über­ haupt Sinn haben,

so können wir als deren gemein­

samen Urheber nur ein höchstes geistiges Wesen denken, welches alles Geschehen und alle Gesetze gesetzt, einen Gott, welcher die ganze Weltwirklichkeit aus sich her­ vorgebracht hat, so können wir als letzte wirksame Elemente der Welt nur lebendige Wesen denken, welche diesen göttlichen

Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.

Gesetzen entweder freiwillig,

69

oder kraft der ihnen von Gott ver­

liehenen inneren Naturbeftimmtheit ausnahmslos

Folge leisten.

Anch die allgemeine Gesetzlichkeit der Naturwirkungen, deren Entdeckung wir als die höchste Errungenschaft der neueren Natur­ forschung preisen, führt, wenn wir sie ihrem Wesen und Ursprünge nach verstehen und begreifen wollen,

ebenso wie jene fruchtbare

Atomtheorie der Physik, nicht zu einem materiellen, einem geistigen Ursprünge

der Welt zurück.

sondern zu

Nur als innere

Consequenz des göttlichen Alllebens ist uns jener allge­ meine Mechanismus

aller

Naturwirkungen begreiflich;

nur in

einer Welt lebendiger Wesen, nicht in einer Welt todter Materie kann dieser Mechanismus Platz

greisen

und

seine Wirksamkeit

entfalten. Bislang stellten wir uns im Beginn unserer Polemik stets auf denselben Standpunkt,

dessen unbedachtsame Erweiterung

eben zu der Irrlehre des Materialismus führte. Wir folgten der landläufigen Voraussetzung, nahmen über die Wirkungsweise der Kräfte,

daß jene An­

wie sie sich in der

Physik allmählich aus Analogieen, Hypothesen und Vermuthungen herausgebildet haben, liche Wahrheit sei.

daß dieses alles eine erste unumstöß­ Wir richteten

unsere Bemühungen

nur

darauf, eine tiefere Begründung und Erklärung jener als unan­ fechtbar vorausgesetzten Annahmen zu suchen. absichtlich,

Wir thaten dies

um der Tagesmeinung über diese Dinge gerecht zu

werden und ihr den weitesten Spielraum zu geben, um auf diese Weise den Materialismus auf seinem eigenen Gebiete und mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. In der That machten

wir der gegnerischen Ansicht damit

eine viel zu weit gehende Concession.

In der That ist dieser

Standpunkt ein verkehrter, denn jene Annahmen der Physik sind nicht das Erste und Ursprüngliche, was uns die Wahrnehmung bietet,

sondern sie sind blos Schlußfolgerungen ans solchen

70

III. Abschnitt.

Wahrnehmungen,

und wie alle Schlußfolgerungen dem Zweifel

und dem Irrthum unterworfen. Unerschütterlich wahr und ganz zweifellos sind, wie wir schon gesehen haben, allein die ursprünglichen gei­ stigen Erlebnisse,

die

Empfindungen,

Gefühle

und

Strebungen, welche wir selbst unmittelbar in uns er­ leben.

Der Geist in seinem unmittelbaren Fürsichsein

ist daher der einzige feste Grund, von dem jede philosophische Betrachtung ausgehen muß, welche sich auf Thatsachen und nicht auf bloße Hypothesen stützen will; nicht die Welt der körperlichen Dinge, deren Vorstellung der Geist erst im Ver­ laufe seines Lebens selbst in sich erzeugt, und welche ihm nur in der Form der Vorstellung, nicht in ihrem wahren objektiven Bestände, unmittelbar gegeben ist. Stellen wir uns jetzt auf diesen allein richtigen und sachge­ mäßen Standpunkt, so ergiebt sich die Unhaltbarkeit des Mate­ rialismus noch viel schlagender und evidenter. Der Materialismus ist völlig außer Stande, aus seinen nich­ tigen und widersprechenden Grundbegriffen von Kraft und Stoff auch nur die einfachsten Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle oder Strebungen zu erklären. „Alles*), was den vorausgesetzten Bestandtheilen der äußeren Natur oder denen unseres eigenen KörperZ begegnet,

die Ge­

sammtheit aller jener Bestimmungen der Ausdehnung, Mischung, Dichtigkeit und Bewegung, Alles dieses ist völlig unvergleichbar mit der eigenthümlichen Natur der geistigen Zustände, mit den Empfindungen,

Gefühlen und Strebungen,

die wir thatsächlich

auf sie folgen sehen, uud irrthümlich aus ihnen entstehen zu sehen glauben. Keine vergleichende Zergliederung würde in der chemischen Zusammensetzung eines Nerven, in der Ausspannung und Lage-

*) Lohe, Mikrokosmus, Band I. S. 161.

Die sittliche» Lebensfrage» der Gegenwart.

71

rung seiner kleinsten Theilchen den Grund entdecken, warum eine Schallwelle, die ihn mit ihren Nachwirkungen erreichte, in ihm mehr als eine ihr selbst ähnliche Schwingung erzeugen und die bewußte Empfindung eines Tones Hervorrufen sollte.

Wie weit

wir auch den eindringenden Sinnesreiz durch den Nerven ver­ folgen, wie vielfach wir ihn seine Form ändern und in immer feinere und zartere Bewegungen umgestalten lassen, wir werden nie nachweisen können,

daß es von selbst in der Natur irgend

einer so erzeugten Bewegung liege, als Bewegung aufzuhören und als leuchtender Glanz, als Ton, schmackes wiedergeboren zu werden.

als Süßigkeit des Ge­

Immer bleibt der Sprung

zwischen dem letzten Zustande der materiellen Elemente, den wir erreichen können und zwischen dem ersten Aufgehen der Empfin­ dung gleich nähren,

groß, und kaum wird Jemand die eitle Hoffnung

daß eine ausgebildetere Wissenschaft einen geheimniß-

vollen Uebergang da finden werde, wo mit der einfachsten Klar­ heit die Unmöglichkeit eines stetigen Uebergehens sich uns auf­ drängt."

Ganz undenkbar ist,

daß aus anziehenden

oder ab­

stoßenden Kräften der Atome des Gehirns jemals eine Empfin­ dung oder ein Gefühl entstehen könnte.

Diese zusammenwirken­

den Kräfte könnten sich nach bekannten mechanischen Principien stets nur zu einfachen Resultanten verbinden,

die sich

ihrer

Qualität nach von den Einzelkräften, aas denen sie zusammen­ gesetzt sind,

nicht im Mindesten unterscheiden würden.

Denken

wir uns die Atomkräfte in noch so complicirten Bewegungen und Verhältnissen zusammenwirkend, das Gesammtresultat würde doch stets nur in einer Summe bestimmter Ortsveränderungen der Atome des Gehirns bestehen können.

Es würde daraus

niemals ein Moment des geistigen Fürsichseins, ein Ton, eine Lichtempfindung, ein Gedanke oder ein keimender Entschluß entstehen können. Es sind gedankenlose Bilder, welche man gegnerischerseits erfunden hat, um diese einfache Wahrheit zu verdecken,

72

III. Abschnitt.

daß z. B. das Gehirn die Gedanken absondere wie die Nieren den Urin, oder daß der Gedanke im Gehirn entstehen solle, wie die Aeolsharfe ertöne,

wenn der Wind sie durchstreiche.

Solche

absurde Bilder bedürfen keiner Widerlegung, aber sie kennzeichnen die Leichtfertigkeit und Frivolität, mit der man sich hier über die Unmöglichkeit einer Lösung hinweg getäuscht hat. Noch viel unbegreiflicher ist, wie durch anziehende und ab­ stoßende Atomkräfte eine Vergleichung oder Unterscheidung einfachen Vorstellungsinhalte,

eine Verbindung

der

dieser zu Vor­

stellungen und Gedanken, wie endlich vor Allem jene Einheit des Bewußtseins durch dieselben erzeugt werden könne, welche den Geist erst zum Geiste, und ihn fähig macht,

alle jene Be­

ziehungen und Vergleichungen auszuüben. Bei der Betrachtung

dieser

complicirteren Vorgänge des

geistigen Lebens verläßt uns erst recht jede Analogie mit den mechanischen Prinzipien, nach denen die Kraftwirkungen der Atome verlaufen.

Während diese sich gegenseitig aufheben und zu ge­

meinsamen Resultanten verschmelzen, gleichung und Unterscheidung

werden

bei

der

Ver­

verschiedener Empfindungsinhalte

diese als solche unversehrt nach ihrer specifischen Be­ schaffenheit in der Erinnerung festgehalten,

und das

Charakteristische des Vorgangs besteht darin, daß das verglei­ chende und beziehende Subjekt, indem es von dem einen zum an­ deren Eindruck übergeht, sich während des Uebergangs des quali­ tativen und quantitativen Unterschieds oder der Gleichheit beider in einer neuen specifischen Empfindung bewußt wird.

Solche

Akte der Vergleichung und Unterscheidung sind nur vollziehbar, wenn das Subjekt, welches sie ausübt, nicht blos ein und dasselbe ist, sondern sich auch als solches fühlt und weiß, daß es mit­ hin die verglichenen Eindrücke in ein und demselben Bewußt­ sein als seine Eindrücke zu vereinigen vermag. nicht stattfinden,

Sie könnten

wenn es statt des einen Subjektes eine Viel-

Die sittlichen llebeiiSsnigeu der Gegenwart. heit

von

Atomen

wäre,

welche

jene

Handlungen

73 vornehmen

sollte. Da nun der Geist und alle seine Erlebnisse,

also

dasjenige, dessen Wirklichkeit unmittelbar von uns er­ lebt wird,

und daher das Gewisseste ist, von dem wir

bei allen Untersuchungen ausgehen müssen,

nun und

nimmermehr durch Kraft und Stoss entstehen können, so ist die Unzulänglichkeit dieser materialistischen Grund­ begriffe klar erwiesen. Wollen wir vielmehr an den

physikalischen Begriffen der

Atome und Kräfte festhalten, so können wir sie nur als Hilfsvorstelluugen von relativer Bedeutung und relativer Geltung be­ trachten.

Wir dürfen nicht die Thatsachen des geistigen Lebens

durch gedankenlose Erweiterung jener Hypothesen entwerthen, son­ dern müssen umgekehrt diese Hypothesen Thatsachen einschränken und berichtigen.

nach Maßgabe jener Der Materialismus be­

geht hier die doppelte Einseitigkeit, daß er einerseits die wahre Bedeutung jener wichtigen physikalischen Hypothesen ganz ver­ kennt, und zweitens die Existenz des Geistes leugnet, weil er sie mit den unzulänglichen Mitteln jener von ihm entstellten Hypo­ thesen nicht erklären kann.

„Unter allen Verirrungen des mensch­

lichen Geistes", sagt Lotze sehr treffend,

„ist diese mir stets als

die seltsamste erschienen, daß er dahin kommen konnte, sein eigenes Wesen,

welches er allein unmittelbar erlebt,

es sich

als Erzeugniß einer äußeren Natur wieder schenken zu

zu bezweifeln, oder

lassen, die wir nur aus zweiter Hand, nur durch das vermittelnde Wissen des Geistes kennen, den wir leugneten". Seltsamer noch, abgeschmackter, wie

bisher,

schehens,

und man kann wohl sagen kleinlicher und

erscheint diese Verirrung, wenn wir nicht blos,

die Formen

des äußerlichen und innerlichen Ge­

sondern zugleich

auch den Inhalt und die Bedeu­

tung dessen in Betracht ziehen, was thatsächlich in uns und

außer uns geschieht.

Während wir bisher nur die Unrichtig­

keit des Materialismus erkannten,

tritt bei solcher Erweiterung

des Gesichtspunkts die volle Jämmerlichkeit desselben zu Tage. Schon der oberflächliche Blick in die Gestaltung und Ein­ richtung

der äußeren Natur muß uns bei einigem Nachdenken

überzeugen,

daß wir es hier nicht mit dem sinnlosen Produkte

blos zusammengerathener blinder Kraftwirkungen rein stofflicher Elemente zu thun haben, und diese Ueberzeugung befestigt und erweitert sich zu klarer Evidenz, wenn wir an der Hand sorgfäl­ tiger Beobachtung tiefer in die Geheimnisse der Natur eindrin­ gen.

Die wunderbare Organisation der Pflanzen und Thiere,

ihre Anpassung au die Verhältnisse ihrer Umgebungen, die Zweck­ mäßigkeit in

dem Bau des ganzen sinnlichen Universums,

die

Vertheilung der Massen und die zusammenstimmenden Bewegun­ gen der Weltkörper, die Verbreitung und Vertheilung des Lichts und der Wärme,

der Zusammenhang,

die Ordnnng und Zweck­

bestimmtheit des Ganzen, Alles dieses und die unabsehbare Menge einzelner Züge besonderer Zweckmäßigkeit, welche den Rahmen dieses Ganzen erfüllen nnd so offenbar sind,

daß sie jeder mit

Händen greisen kaun, liefern uns so unzählige Beispiele von dem allmächtigen Walten einer göttlichen Intelligenz, daß wir unsere Augen schon hartnäckig verschließen müssen, wenn wir uns ihrem überredenden Eindrucke entziehen

wollen,

daß nur eine wissen­

schaftlich nicht mehr in Betracht kommende Zweifelsucht sich dem gegenüber auf die nicht in Abrede zu stellende logische Möglichkeit berufen kann, dies Alles sei trotzalledem nur reines Spiel des Zufalls. Die bloße Denkbarkeit entscheidet nicht über die Wahrheit oder Glaublichkeit eines Ereignisses,

denn denkbar ist auch das

Widersinnige, sondern es entscheidet

darüber der Inhalt,

Bedeutung,

die

der Sinn der Thatsachen, welche uns gegeben sind,

damit wir sie durch unser Denken in Beziehung sehen.

Es ist

Die sittlichen Lebensfrage» der Gegenwart.

logisch denkbar,

75

daß ein Buch aus dem zufälligen Zusammen­

raffen von Millionen Buchstaben,

eine Symphonie aus der zu­

fälligen Verbindung einer Anzahl Instrumente entstanden sei, aber welcher verständige Mensch wird an solche Entstehungsarten glau­ ben?

Es ist logisch

denkbar, daß Jemand mit zwei Würfeln

Hunderttausendmal hinter einander denselben Pasch wirft,

aber

glaublich ist dies so wenig, daß wir denjenigen, der dies Kunst­ stück fertig bringt, ganz sicher des falschen Spiels zeihen werden. Wie wir in diesem letzteren Beispiele mit voller Ueberzeugung annehmen, daß wir es nicht mit einem Spiele des Zufalls, son­ dern mit der versteckten Intelligenz eines falschen Spielers zu thun haben, hat,

der den Zufall corrigirt und die Würfel gefälscht

so müssen wir mit noch viel größerer Ueberzeugung anneh­

men, daß die unendlich vielen, noch dazu wiederum untereinander nach allen Richtungen hin zusammenstimmenden, auf verständliche Ziele hinweisenden Regelmäßigkeiten in dem Ablaufe des natür­ lichen Geschehens und in der Einrichtung der Welt nicht durch eine Reihe wunderbarer Glückszufälle entstanden, sondern daß sie

durch eine allwaltende Intelligenz gesetzt sind, welche eben

durch solche Setzung in allen jenen Fällen das Spiel des Zufalls ausgeschlossen hat. Gewiß giebt es neben den zahllosen Beispielen der Zweck­ mäßigkeit auch solche Ereignisse, deren Zweckmäßigkeit oder Noth­ wendigkeit wir nicht einsehen. Dieser Umstand liefert aber keinen Gegenbeweis gegen die Zurückführung der wirklich beobachteten Zweckmäßigkeiten und Regeln auf einen göttlichen Ursprung, denn er erklärt sich einfach aus der Lückenhaftigkeit unserer Ein­ sicht.

Ausgerüstet mit höchst wunderbaren Kräften des Erken-

nens, stehen wir doch nicht so in dem Mittelpunkte der Welt und des schöpferischen Gedankens, daß wir alle Einzelheiten des Weltlaufs in ihrem Ursprünge und nach ihrem Zwecke begreifen könn­ ten.

Gebannt aus die Oberfläche eines der vielen Weltkörper,

76

III. Abschnitt.

welche das Universum durchkreisen, beherrschen wir mit den be­ schränkten Mitteln unserer Organisation im Nerhältniß zum Ganzen der Welt immer nur verschwindend kleine und eng begrenzte Kreise der Beobachtung.

Wir verbinden die Ergebnisse derselben in

mühsamer Arbeit und erweitern stufenweis unseren Blick und unsere Kenntnisse; aber so weit wir auch darin fortschreiten, so werden wir doch nie an das Ziel eines allumfassenden Wissens gelangen, welches nur Gott eignet.

Wir werden den Zusammen­

hang des Ganzen stets nur errathen können, und Vieles wird uns räthselhaft und unerklärlich bleiben, was von einem höheren Standpunkte aus als ganz selbstverständlich erscheinen müßte. Wollen wir über dieses

Unerklärliche Vermuthungen aus­

stellen, so haben wir keine anderen Anhaltspunkte als den That­ bestand der erworbenen Kenntnisse, so müssen wir das Muster, welches das Gewebe der empirischen Wirklichkeit zeigt, nach den leitenden Ideen ergänzen, welche wir darin vorfinden.

Waltet

in diesem Muster eine durchgehende Zweckmäßigkeit, so müssen wir sie consequentermaßen auch in den noch unerforschten Ge­ bieten voraussetzen; um so mehr,

als ohne diese durch die Ver­

nunft gebotene Ergänzung die erkannte Zweckmäßigkeit selbst wieder als das größte aller Räthsel erscheinen müßte. Schon die Jedermann offenbare Einrichtung, Ord­ nung und Zweckmäßigkeit der äußeren Natur vereini­ gen sich daher zn einem Gesammteindruck,

der den Ma­

terialismus in der Auffassung jedes verständigen Men­ schen

unmöglich

macht,

weil

alles

dieses

nur durch eine

göttliche Intelligenz erklärt werden kann. Größer noch sind die Wunder der menschlichen Geistes,

Welt

des

die Offenbarungen des Gewissens,

der

Vernunft und des religiösen Gefühls.

inneren

Wer diese Thatsachen

nicht sieht, der ist nicht blos kurzsichtig, sondern blind. wirklich solche Menschen,

Gäbe es

so würden wir nicht mit ihnen rechten,

77

Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.

sondern sie nur beklagen.

In der That giebt es bereit nicht,

denn Gewissen, Vernunft und religiöses Gefühl sind, wie wir im ersten Abschnitte entwickelt haben,

die das specifische Wesen des

Menschen constituirenden Grundzüge, den Thieren unterscheiden,

welche den Menschen von

welche wohl,

zeitweise überwuchert und erstickt,

durch andere Interessen

hin und wieder bei einzelnen

Menschen degeneriren, aber nie ganz fehlen. Diese Grundthatsachen finden in

dem Rahmen

des

der

wahren Menschwesens

materialistischen Weltan­

sicht keine Stelle. Jeder keimende Entschluß ist eine neue Mahnung, daß jeden Augenblick unleugbar und unwidersprechlich Ereignisse in uns ge­ schehen,

welche mit keinem materialistischen Maße gemessen wer­

den können.

Das Gefühl der Verantwortlichkeit,

Entschluß begleitet, Rechte verfehlt,

die

die Reue, Freiheit

welche ihm folgt, des

setzungen aus denen dieses beruht, handgreiflicher Deutlichkeit,

Gewissens

und

welches jeden wenn er das die Voraus­

sie alle sind Thatsachen von

welche der Kraft- und Stofftheorie

des Materialismus Hohn sprechen, Thatsachen und Mahnun­ gen, gegen welche der Materialismus taub und blind ist. Erst wenn wir den Maßstab dieser höchsten und wichtigsten Thatsachen unseres unmittelbaren Geisteslebens anlegen, erkennen wir den Materialismus in seiner wahren Gestalt.

Alsdann er­

kennen wir neben der völligen Haltlosigkeit zugleich die sittliche Verwerflichkeit dieser Lehre.

Gewissen und Vernunft entscheiden

in höchster Instanz über das, was wahr und glaublich ist.

Sie

bilden das Centrum des menschlichen Lebens und sind des Men­ schen höchste Kraft. nunft ist in

Die Stimme des Gewissens und der Ver­

allen lebendig.

Jedermann ist verpflichtet,

den

Mahnungen des Gewissens und der Vernunft zu gehorchen, nur das zu thun, was sittlich, und nur das zu denken, was vernünftig ist.

Für die Vernachlässigung dieser obersten Pflicht des Han-

78

III. Abschnitt.

delns und Denkens ist Jedermann verantwortlich.

An ihr hat

die Freiheit unseres Wollens und unseres Denkens eine Schranke, deren Ueberschreitung unser Thun unsittlich, und unser Denken unvernünftig macht.

Solcher Grenzüber­

schreitung macht sich der Materialismus im höchsten Maße schul­ dig,

indem er die Thatsachen des Gewissens und der Vernunft

selbst leugnet.

Er ist gewissenlos und unvernünftig, und

darin beruht seine sittliche Verwerflichkeit. Es ist der innerste Kern

des Menschen, das Gefühl des

Rechten, Guten und Vernünftigen, das sich in sittlicher Entrüstung aufbäumt gegen die schnöde Vergewaltigung dieser Lehre, welche den Menschen aus seinem Centrum rückt, und ihn zur thierähn­ lichen Existenz herabwürdigt, indem sie dessen Gesichtskreis auf den sinnlichen Genuß und die Trivialitäten des Lebens beschränkt, welche ihn loslöst aus dem Boden, in den Gott ihn gepflanzt hat, und in dem er allein wachsen und gedeihen kann. Lehre ist falsch,

Diese

unglaublich und unwürdig, sie kann weder vor

dem Richterstuhle der Wissenschaft noch vor dem der Vernunft und des Gewissens bestehen.

Zweites Kapitel.

Die Vereinbarkeit der Ergebnisse der neueren Naturforschung mit der sittlich-religiösen Weltansicht. Die Ergebnisse der Naturforschung beruhen theils auf ur­ sprünglicher Wahrnehmung, solcher Wahrnehmung. unfehlbar.

theils

auf Schlußfolgerungen

In beiden Beziehungen sind

aus

sie nicht

Die Wahrnehmungen können vervollständigt und er-

gänzt,

die Schlußfolgerungen im Fortschritte des Wissens stets

noch erweitert und vertieft werden. Trotzdem hat sich aus jenen Ergebnissen ein Kern feststehen­ der

Wahrheit

ausgeschieden,

Stande der Wissenschaft

welcher nach

dem

gegenwärtigen

als unanfechtbar gelten kann,

welcher

gleichsam den sinnlichen Rahmen bildet, in den wir unsere Welt­ ansicht fassen.

Es ist dies die Vorstellung des sinnlichen

Universums,

welche ihren festen Halt in dem Gedanken des

allgemeinen Mechanismus findet, und ihre inhaltliche Erfüllung in den Hauptlehren der Astronomie, der Physik und der Chemie. Diese Vorstellung ist ein feststehender Bestandtheil unserer Bil­ dung, und entsteht in allen ganz gleichartig aus der Erinnerung an

concrete Wahrnehmungen,

zweifellosen

aus

Schlußfolgerungen.

feststehenden

Das

sinnliche

Axiomen Universum

und in

dieser wissenschaftlich sundirten Gestalt fixirt sich in unserem Geiste mit

der

können

Evidenz

einer

unmittelbar

erlebten

an dessen Wirklichkeit nicht zweifeln,

wahrgenommenen Thatsachen

Thatsache.

Wir

ohne uns mit den

und den klaren Aussagen unseres

Verstandes in Widerstreit zu setzen.

Eben deßhalb tritt dasselbe

den Thatsachen der apriorischen Veranlagung unseres Geistes mit dem gleichen Ansprüche wie diese gegenüber.

auf Anerkennung

und Berücksichtigung

Wir müssen die etwaigen Zweifel und Con-

flikte, welche sich aus solcher Gegenüberstellung der beiden Haupt­ gebiete unseres bewußten Erkennens ergeben, in den Kauf neh­ men,

ohne an dem thatsächlichen Fundamente beider rütteln zu

können. So lange solche Zweifel und

Conflikte

bestehen,

entbehrt

unsere Weltansicht derjenigen Einheit, welche die Voraussetzungen des Gewissens erfordern; so lange ist der Glaube an die Wahr­ heit der sittlich-religiösen Weltansicht

gefährdet,

sittliche Leben nicht gesunden und gedeihen kann.

ohne den

das

Die Verein­

barkeit beider Sphären unseres Erkennens,

der That-

fache des sinnlichen

Universums

Sittengesetzes in uns,

außer

uns

und

des

ist daher eine weitere hochwich­

tige Frage des sittlichen Lebens der Gegenwart. Es gilt, nicht blos die Zweifel zu beseitigen, welche sich aus dem Gegenübertreten beider Sphären des Erkennens ergeben, sondern beide Sphären zu dem Ganzen einer abgeschlossenen Welt­ ansicht organisch zu verbinden, die Vorstellung des sinn­ lichen Universums

in

ihren

charakteristischen

Grund-

zügen als organischen Theil in die sittlich-religiöse Welt­ ansicht einzugliedern. Die Zweifel, welche solche Gegenüberstellung anregte, fanden ihren concentrirtesten Ausdruck in der Lehre des Materialismus. Sie sind durch die Widerlegung dieser Lehre im Wesentlichen be­ seitigt.

Es gilt jetzt, durch die Vereinigung der beiden scheinbar

entgegengesetzten Sphären des menschlichen Erkennens jener Wider­ legung eine wichtige und unentbehrliche positive Ergänzung hin­ zuzufügen. Die Arbeit jener Widerlegung nöthigte uns schon im vorigen Kapitel, den Sinn und die Bedeutung der Haupteigenthümlichkciten, welche die neuere Naturwissenschaft an dem sinnlichen Uni­ versum erkennen lehrte, insbesondere das wahre Wesen der letzten elementaren

Bestandtheile

desselben,

eingehender zu beleuchten.

Schon dort bot sich die Gelegenheit, zugleich die positiven Ansatz­ punkte einer Zusammengliederung der Weltansicht des Gemüths und der Auffassung des natürlichen Universums herauszuarbeiten. Wir nehmen nur die dort angesponnenen Fäden wieder auf, indem wir unserer weiteren Betrachtung die nachfolgenden Er­ gebnisse zu Grunde legen. 1) Wir fanden dort, daß der Geist in seinem unmittel­ baren Fürsichsein das Erste und Ursprüngliche sei, was uns als Grundlage unserer Weltbetrachtung allein that­ sächlich gegeben ist, daß die ganze Welt der körperlichen Dinge

Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.

sich aus Empfindungen auferbaut,

81

welche wir nach den Con-

struktionsregeln des Denkens und den leitenden Ideen der Ver­ nunft miteinander verbinden. 2)

Es ergab sich weiter, daß das lebendige Fürsichsein

das Wesen aller Realität ausmache,

daß mithin auch die

letzten Bestandtheile der leblos scheinenden Massen nur nach Ana­ logie des eigenen Geisteslebens als lebendige fürsichseiende Wesen zu denken seien. 3) meine

Es ergab sich endlich,

daß die beobachtete

allge­

Gesetzlichkeit aller Naturwirkungen, und alles

Geschehens überhaupt, nur als innere Folgerichtigkeit eines allumfassenden göttlichen Lebens gedacht werden könne. Diese Einsichten werfen ein Helles Licht des Verständnisses in unsere Ausfassung der natürlichen Welt, welches nicht nur die materialistischen Zweifel verscheucht, sondern zugleich den tieferen geistigen

Grund erkennen läßt, ans dem die Erscheinung des

ganzen sinnlichen Universums beständig hervorwächst. zieht sich dadurch eine völlige Umwälzung tungsweise der Dinge.

Während nach

Es voll­

in unserer Betrach­

gewöhnlicher Auffassung

die breite Massenhaftigkeit der körperlichen Dinge, welche unseren Gesichtskreis erfüllen,

als der feste objektive Grund erschien,

an

den unser geistiges Leben wie eine Art Nebenprodukt geknüpft erschien, während wir, auf diesem allen gemeinsamen Boden der Außenwelt stehend, in unser geistiges Leben gleichsam nur wie in eine vorüberziehende Lichtwolke von Außen hineinzublicken schienen, hat sich der Standpunkt unserer Beobachtung jetzt nahezu umge­ kehrt.

Der feste Grund der uns scheinbar umgebenden Außen­

welt hat sich in einen Erscheinungscomplex aufgelöst,

auf dem

nicht wir stehen, sondern der in uns steht, und nur in uns seine Erscheinungswirklichkeit hat. Sommer, Gewissen und moderne Kultur

Der Schwerpunkt der Wirkß

82

III. Abschnitt.

lichkeit ist aus der Erscheinungswelt in das lebendige Fürsichsein der anschauenden Wesen gerückt, der Standpunkt des Beobachters aus der scheinbaren Außenwelt in das reale Centrum des er­ kennenden Geistes selbst.

Das Leben erscheint nicht mehr wie ein

beiläufiges Nebenprodukt des natürlichen Geschehens, sondern als die Hauptsache und der Zweck, um dessen Hervorbringung es sich wesentlich handelt, dem gegenüber alles natürliche Geschehen und aller Mechanismus Mitteln erscheint.

nur als

ein untergeordnetes System von

Nicht gleichgültiges Appendix eines objektiven,

blind und zwecklos verlaufenden Ereignißstroms sind unsere Em­ pfindungen.

Wir sehen, hören, riechen, schmecken und tasten auch

nicht deshalb, um nach den Ursachen solcher Erscheinungen in einer hypothetischen Außenwelt zu forschen, sondern in diesen Empfindungen, welche die Dinge in uns erregen, besteht eben das Wesen des Gesehenen,

Gehörten und Getasteten für uns,

und wir sollen dasselbe in dieser phänomenalen Form zum Aufbau unserer Vorstellungswelt, zur Gestaltung, zur Arbeit und zur Freude unseres Lebens such- und zweckentsprechend verwerthen. In den Empfindungen, und in allen sonstigen Momen­ ten lebendigen Fürsichseins, welche durch den Lauf der Natur in uns und in allen übrigen Wesen erregt werden, wird

das Wirkliche erst wirklich, blüht es

erst auf zu

voller lebendiger Existenz. Unter dem Eindrücke dieses geistig vertieften und allein rich­ tigen Gesichtspunkts zeigt uns auch das sinnliche Universum eine ganz veränderte Physiognomie.

Es hat nun jene starre Hülle

abgeworfen, welche in uns den Eindruck des Todten und Stoff­ lichen erweckte und jede Möglichkeit einer Vereinbarkeit desselben mit der geistigen Idealwelt auszuschließen schien.

Wir ahnen

jetzt, wie der Pulsschlag des Lebens alles Wirkliche durchdringt, wie er selbst im Innern der Atome schlägt,

welche die leblos

83

Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.

erscheinenden organischen Massen constituiren.

Alles Wirkliche ist

für sich und lebendig, leblos und stofflich sind nur die Erschei­ nungen der Dinge in der Auffassung der lebendigen Wesen. Das todte Universum verwandelt sich in ein lebendiges,

das sinnliche

in ein geistiges. Aber so vielversprechend die sich von solchem Standpunkte aus eröffnende Perspektive ist, sie hat uns noch nicht zu dem Ziele geführt, das wir hier erstreben müssen. Dieser idealistischen Ansicht der Dinge fehlt noch das Schlußglied,

dem Anblicke des

vergeistigten Universums

und

schluß.

der Zusammenhang

Zusammen­

Das Leben erglimmt, wenn wir es blos von dem bisher

eingenommenen subjektiven peripherischen Standpunkte betrachten, in unendlich vielen einzelnen Punkten und Pünktchen.

Das Uni­

versum gleicht, von hier aus gesehen, noch einer unendlichen Viel­ heit fürsichseiender lebendiger Wesen, welche pluralistisch ausein­ ander zu fallen scheinen.

Wir müssen noch einen höheren, um­

fassenderen Standpunkt zu gewinnen suchen. Wir müssen fragen: Wo bleibt hier die vorausgesetzte Einheit des Universums?

Wie

verträgt sich die Vielheit der Atome und selbstbewußten Geister, welche uns Erfahrung und Wissenschaft zuerst erkennen lehren, mit der von dem Gewissen postulirten Vorstellung Gottes? Wir selbst und alle sonst noch in unsere Beobachtung fallende Geschöpfe sind abhängige Wesen; alle sind von einander gegen­ seitig abhängig, insofern alle mit einander in einer continuirlichen Wechselwirkung stehen.

Die gegenseitige Wechselwirkung

bildet

das gemeinsame Band, welches die uns wahrnehmbare Welt zu­ sammenhält.

Was durch dieses Band nicht mit umfaßt wird,

liegt außer der Welt und unserer Beobachtung.

Wir können nur

eine Welt begreifen und von einer Welt reden, welche durch dieses gemeinsame Band zusammengeschlossen wird.

Bildet die Welt

eine Einheit, so kann sie nur durch dieses gemeinsame Band der

6

'

84

III. Abschnitt.

Wechselwirkung vermittelt werden,

so kann sie nur in der Ein­

heit dieses Bandes sich verwirklichen.

Der Begriff der Wechsel­

wirkung

muß uns

den Schlüssel zum Verständniß der

Einheit der Welt liefern. Wir müssen uns daher vor Allem klar darüber werden, worin die Wechselwirkung besteht, was sie ist und bedeutet? Die Denkbarkeit und erklären,

war

den Hergang der Wechselwirkung zu

das wichtigste Problem der neueren Philosophie,

dessen Bedeutung um so mehr erkannt wurde,

je enger sich die

wissenschaftliche Forschung an das Gebiet des unmittelbar Gege­ benen anschloß.

Vor dem tieferen Nachdenken konnte die gewöhn­

liche Vorstellung eines wirklichen Ueberganges der Wirkung von dem

einen Wesen

auf das

andere nicht bestehen.

Die veran­

lassende Ursache in dem einen Wesen a sowohl, wie das in dem anderen Wesen b zu erzielende Resultat der Wirkung können stets nur als Zustandsänderuugen der betreffenden Wesen gedacht wer­ den.

Es ist aber unmöglich, daß die Zustandsänderung des einen

Wesens a unmittelbar auf das andere b übergeht, denn ein Zu­ stand eines Wesens kaun sich ebenso wenig von diesem loslösen, und losgelöst von ihm für sich sein, wie ein Gedanke außerhalb des Geistes, der ihn denkt,

oder ein Zahnschmerz außerhalb der

Seele dessen, der ihn fühlt.

Er könnte, selbst wenn dies Undenk­

bare denkbar wäre, als losgelöster freischwebender Zustand nicht die Richtung auf b finden, dort ankern und eine correspondirende Zustandsänderung des anderen Wesens b werden. influxus physicus ist eine

den Begriffen

Der sogenannte

des Wesens

Wirkens durchaus widersprechende Vorstellung.

und

des

Ebensowenig ge­

nügt die in verschiedener Weise versuchte sogenannte occasionalistische Erklärung,

daß dem Zustande des a der correspondirende

Zustand des b nach einem die Veränderungen in beiden Wesen, entweder für den besonderen Fall oder nach allgemeinen Gesetzen, ordnenden göttlichen Machtgebote blos thatsächlich folge,

so daß

Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.

85

die Wirkung in b nur gleichsam bei Gelegenheit (occasione) der veranlassenden Ursache in a stattfinde. Eine solche Vorstellung hebt den Begriff des Wirkens der endlichen Wesen ganz auf, und läßt diese der Allmacht Gottes gegenüber als reine Automaten erscheinen, welche nicht selbst leben und wirken, sondern in denen von Gott gelebt und gewirkt wird. Es stellte sich immer deut­ licher heraus, daß der Begriff der Wechselwirkung mit der Vor­ stellung absoluter Selbständigkeit oder Substantialität der Einzel­ wesen unvereinbar sei, daß man den Begriff der Wesen modificiren müsse, um die thatsächlich geschehende Wechselwirkung der­ selben zu begreifen. Hermann Lohe fand hier das Richtige, indem er den Begriff des Wesens nicht nach den in der Tradition der philosophischen Schulen üblichen Vorurtheilen, sondern lediglich nach dem Ergeb­ nisse der unmittelbaren Selbstbeobachtung bildete, indem er mit sicherem Scharfblick erkannte, daß nicht die absolute Selbständigkeit oder Beharrlichkeit, sondern das Fürsichsein das zutreffende Cha­ rakteristikum der Realität und Wesenhaftigkeit sei. Alle durch Wechselwirkung mit einander verbundene Wesen stellen sich nach dieser Auffassung als relativ selbständige und doch fürsichseien de, also reale Momente in dem Leben einer sie alle um­ saffenden und in sich hegenden Substanz dar, welche den einheit­ lichen und alleinigen wesenhaften Kern aller bildet, indem sic allein die Verwirklichungsbedingnngen aller in sich vereinigt. Im Lichte dieser Auffassung klärt sich erst der Begriff der Wechsel­ wirkung, welche nun nicht mehr als ein Ueberspringen von einer Substanz aus die andere, sondern als ein continuirlicher auf ein und demselben einheitlichen substantiellen Grunde verlaufender Strom des Wirkens gedacht werden kann. Jede Zustands­ änderung des einen Wesens a ist danach zugleich eine Bewegung jenes ganzen einheitlichen substantiellen Welt­ grundes, welche in allen übrigen Wesen, das ist in allen

86

III. Abschnitt.

übrigen Momenten substanz,

des Fürsichseins jener einen Welt­

stärker ober schwächer wiederklingt,

und hier

die eorrespoudireuden Wirkungen erregt. Diese Erklärung,

welche ich nicht anstehe,

als eine der be­

deutsamsten und folgenreichsten Errungenschaften der neueren Phi­ losophie zu bezeichnen, beseitigt nicht nur die bisherigen Schwierig­ keiten in betn Probleme der Wechselwirkung, sondern enthält zu­ gleich

die Beantwortung unserer Frage,

wie die Vielheit

der

Atome und selbstbewußten Geister mit der vorausgesetzten Einheit Gottes vereinbar ist.

Ja, sie eröffnet uns vom empirischen Stand­

punkte aus einen neuen Weg zum Verständniß der begrifflichen Natur des höchsten Wesens,

dessen confequente Verfolgung uns

dieses als persönlichen Gott erkennen läßt,

und somit direkt zur

Versöhnung der Resultate des naturwissenschaftlichen Erkennens und der Grundvoraussetzung des Gewissens führt. und

Sie erweitert

erleuchtet zugleich unsere theoretische Einsicht in

hältnisse

die Ver­

der Einzelwesen zu einander und zu Gott und unsere

ganze Weltauffassung in einer Weise, wie es keiner früheren Phi­ losophie gelungen ist. Ueberlegen wir uns nur, wie wir uns das eine absolute Weltwesen zu denken haben, wenn es das leisten soll, was es nach dieser Erklärung der Wechselwirkung that­ sächlich in jedem Augenblicke überall leistet? Ist, wie die Erklärung voraussetzt, das Fürsichsein der allge­ meine Charakter der Realität, so sind die einzelnen Wesen in um so höherem Grade real, je umfassender und in sich zusammen­ hängender

das Bewußtsein

derselben

und vielfältiger die Momente sind,

sich

gestaltet.

Je reicher

in denen ein Wesen für sich

ist, je mehr es dieselben in der Erinnerung festzuhalten, und je einheitlicher

es

dieselben

unter einander zu verbinden und zur

Voraussicht des Künftigen zu verwenden vermag,

um so fester

steht es auf seinen eigenen Füßen in sich selbst gegründet da, um

87

Die sittliche» Lebensfragen der Gegenwart.

so

wirksamer wird es in dem Gesammtprocesse des Geschehens

sich selbst erhalten und seine Individualität geltend machen. Die höchste denkbare Form der Realität und

des Wesens­

begriffs ist daher die der Persönlichkeit. Persönlich nennen wir nach allgemeinem Sprachgebrauche ein Wesen, das die wechselnden Zustände seines Lebens in größerem Umfange in der Einheit ein und desselben Bewußtseins zu ver­ einigen vermag, das bestimmte constante Bedürfnisse und Inter­ essen hat,

und über den Moment der Gegenwart übergreifende

Zwecke verfolgt, nach denen sich die Richtung und Entwickelung seiner

Lebensthätigkeit

bestimmt.

Wir selbst

sind

persönliche

Wesen, aber wir sind des Charakters der Persönlichkeit nur in sehr beschränktem Maße theilhaftig.

Nur in engem Gesichtsfelde umfaßt

unsere Aufmerksamkeit die Eindrücke der Gegenwart und die sich daran knüpfenden Erinnerungen des Vergangenen und Vorerwägun­ gen des Künftigen. Viele Erlebnisse entfallen unserem Gedächtnisse ganz, viele können wir im Momente der Willensentscheidung entweder gar nicht, oder doch nicht mit der nöthigen Klarheit und Inten­ sität zur Mitwirkung herbeiziehen.

Die Consequenzen der gegen­

wärtigen Vorstellungen können wir meist nur mangelhaft voraus­ sehen, weil unsere Kenntnisse lückenhaft, unsere Ueberlegungen und Schlußfolgerungen unvollständig sind.

Unsere wahren Interessen

und die Zwecke, welche uns in Augenblicken ruhiger Sammlung als die wichtigsten erscheinen, kommen daher in der Entwickelung und Bethätigung unseres Lebens immer nur mehr oder weniger unvollständig zur Geltung.

Aber je einheitlicher und fester ge­

gliedert wir unser Leben durch Energie,

Uebung und Selbstbe­

herrschung in allen jenen Beziehungen gestalten, in tun so höherem Grade gebührt uns das Prädikat der Persönlichkeit. Der Grund der Schranken,

denen der Begriff der Persön­

lichkeit in uns unterworfen ist, liegt vor Allem in der Unselbst­ ständigkeit unserer Natur.

Unsere Naturanlage ist uns gegeben,

88

III. Abschnitt.

wir bringen sie nicht selbst hervor.

Ebenso werden uns die Ein­

drücke gegeben, welche in unabsehbarer Vielgestaltigkeit in jedem wachen Augenblicke unseres Lebens auf uns einwirken und den Wechsel der Empfindungen in uns erwecken, ans denen in allmählig geordneter Entwickelung das Bild unseres eigenen Wesens und der uns umgebenden Außenwelt in uns entsteht.

Unsere

Persönlichkeit bildet sich durch den Gegensatz zu einer Außenwelt und unter beständiger Mitwirkung deren erziehender Einflüsse. Die Vorstellung unseres eigenen Wesens und der uns umgeben­ den Außenwelt würd mehr durch Einwirkungen unserer Umgebung in uns gewirkt, als daß wir sie selbst erschaffen.

Wir alle unter­

liegen in bereit Gestaltung dem gemeinsamen Zwange außer uns vorhandener Faktoren, und es erklärt sich nur daraus,

daß die

Weltbilder aller Menschen sich in ihren Grundzügen decken und nur in geringen Einzelnheiten abweichen.

Nur in der späteren

wissenschaftlichen Ausgestaltung unserer Weltansicht tritt die Spon­ taneität menschlicher Geistesthätigkeit deutlicher hervor. Es ist jedoch offenbar, daß diese Schranken, denen der Be­ griff der Persönlichkeit in uns unterliegt, nicht in dem Be­ griffe der Persönlichkeit als solchem, sondern nur in unserer specifischen Wesensnatur, belegen sind.

Das Ideal des Persön­

lichkeitsbegriffs, der Begriff vollkommener Persönlichkeit, würde sich erst in einem Wesen erfüllen, das sich nicht blos einer absoluten

Selbstständigkeit erfreute, sondern das zugleich

alle von ihm selbst

hervorgebrachte Momente seines

Lebens in lückenloser Erinnerung festzuhalten, und alle in der Einheit eines allumfassenden Bewußtseins zu vereinigen vermöchte,

dem zugleich alle Consequenzen

seiner Lebensinhalte in allen Richtungen klar durchschaulich und gegenwärtig wären.

Einem solchen Wesen

würde die Realität, das Fürsichsein und die Persönlichkeit, deren wir nur in sehr beschränktem Maße theilhaftig sind, in vollem

89

Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.

und ganzem Sinne zukommen; ein solches würde selbstverständ­ lich auch nicht des Gegensatzes

einer Außenwelt und deren er­

ziehender Einflüsse bedürfen, welche wir als abhängige Wesen nöthig haben, um zum persönlichen Selbstbewußtsein uns empor­ zuarbeiten. Ein solches Wesen kann vielmehr schon seinem Begriffe nach nur eines sein, denn sonst wäre es ja nicht absolut selbst­ ständig und unabhängig, mithin nicht vollkommene Persönlichkeit. Wenn dasselbe daher die Wesenhaftigkeit der Welt auf eine uns natürlich unbegreifliche Weise aus sich erzeugt, so ist es auch der allumfassende alleinige Grund dieser Welt. Nur dieser höchste vollkommene Begriff des Wesens,

nur

der Begriff vollkommener Persönlichkeit genügt unserer Vorstellung Gottes, insofern wir Gott als den realen Grund aller Weltwirklichkeit betrachten. Nur eine solche Vorstellung Gottes erklärt die Thatsache der allgemeinen Wechselwirkung aller Wesen.

Nur wenn alle Wesen

Momente des göttlichen Fürsichseins, und alle in einem einheit­ lichen Bewußtsein umfaßt sind, nur wenn dieses göttliche Be­ wußtsein selbst ein allumfassendes, einheitliches und in sich consequentes Bewußtsein ist, können alle Zustände in allen Wesen, welche den Bestand der Welt ausmachen, in einem solchen gegen­ seitigen Zusammenhange stehen,

daß jeder Ursache ihre Wirkung

folgt, und alle Arten und Formen des Wirkens einer einheitlichen allgemeinen Gesetzlichkeit unterliegen. In dieser Vorstellung Gottes löst bare Gegensatz zwischen Vielheit der

realen

sich der schein­

der thatsächlich

fürsichseienden

beobachteten

Einzelwesen

der vorausgesetzten Einheit der Welt.

und

Die Realität der

endlichen Wesen besteht in deren Fürsichsein und reicht nicht weiter als dieses. Aber das Fürsichsein aller ist kein unbedingtes, sondern nur ein relativ selbständiges.

Sie alle sind abhängig

von einander und von Gott, als ihrem gemeinsamen substantiellen

Grunde, welcher sie alle in sich gesetzt hat, welcher sie alle als seine Geschöpfe in sich hegt und trägt.

Sie sind nicht entlassen

und losgelöst von dem gemeinsamen göttlichen Urgründe, sondern leben, weben und sind nur in diesem.

Nur dieser einheitliche

göttliche Grund gewährt ihnen die Möglichkeit der Existenz und bedingt die Arten und Formen ihres Wirkens, ihres Lebens und ihres gegenseitigen Zusammenhangs.

Nur innerhalb dieser ge­

gebenen Grenzen ihrer Existenz und Wirksamkeit liegt der Spiel­ raum ihres Willens und die Möglichkeit ihres Vollbringens,

an

ihnen findet all ihr Wollen und Vollbringen eine unaufhebliche Schranke.

Diese Schranke ist aber zugleich der positive Grund

ihrer Wirklichkeit und das gemeinsame Band, welches sie alle zu einem Ganzen verknüpft, welches ein gegenseitiges Zusammen­ wirken aller möglich macht, und die Eingliederung aller in das Ganze der Welt und des Weltprocesfes bestimmt. Es kann bei oberflächlicher Betrachtung scheinen, als streife diese Auffassung hart an die Grenze des Pantheismus, als sei damit die Wirklichkeit der endlichen Wesen unvereinbar,

als sei

in der That danach Gott das einzige Wirkliche und das allein Wirkende in allen Wesen, als sei damit alle Selbständigkeit und Individualität der Einzelwesen völlig aufgehoben. spricht jedoch mit zweifelloser Evidenz

Dem wider­

der Thatbestand der

unmittelbar gegebenen Erfahrung.

Unser eigenes unmittel­

bares Fürsichsein ist das Gewisseste und Unzweifelhafteste, dessen Wirklichkeit sich nicht bestreiten läßt, von dem vielmehr alle Unter­ suchung ausgehen muß, das durch keine Vorurtheile oder Schluß­ folgerungen irgend welcher Art in Frage gestellt werden kann. Wir fühlen und erleben in uns unmittelbar, für uns

sind,

daß und wie wir

daß wir innerhalb der gegebenen Schranken frei

wollen und denken können,

daß unsere Realität eben in diesem

lebendigen

besteht und

dieses.

Selbstbewußtsein

ebensoweit reicht

als

Die unsere Existenz bedingende, unsere Wirksamkeit und

Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.

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unser Denken in bestimmten Richtungen leitende und formende Mitwirkung Gottes widerstreitet unserem Fürsichsein und unserer individuellen Lebensthätigkeit durchaus nicht, sie hebt unser indi­ viduelles persönliches Sein und Leben nicht aus, sondern ermög­ licht und begründet es nur in allen hier fraglichen Beziehungen. Dieser Thatbestand ist geeignet, unsere Bewunderung der Weis­ heit des Schöpfers in höchstem Maße zu erregen, aber die Unerklärlichkeit seines Zustandekommens ist kein achtbarer Grund seine Wirklichkeit zu bezweifeln,

denn wir besitzen nun einmal keine

erschöpfende Kenntniß der Psychologie des göttlichen Wesens und sind außer Stande, eine solche jemals zu erlangen.

Wir stehen

mit unserem Bewußtsein nicht in dem Mittelpunkte der Welt und des schöpferischen Gedankens,

dem dieselbe ihre Entstehung ver­

dankt, sondern irgendwo in den äußersten peripherischen Veräste­ lungen ihres Baues.

Der Anblick des Weltganzen der uns von

hier aus möglich ist, führte in konsequenter Verfolgung und Ver­ bindung aller thatsächlich gegebenen Anhaltspunkte zu jener Auf­ fassung,

in welcher die durch die Unzulänglichkeit aller anderen

Erklärungsversuche angeregten Zweifel ihre Lösung fanden. Mag uns

daher auch der Verwirklichungsproceß

desjenigen Thatbe­

standes, welchen jene erkennen lehrte, unerklärlich sein wie die letzten Entstehungsgründe alles Thatsächlichen;

es genügt vor­

läufig, und wir müssen schon damit zufrieden sein, daß jene Auf­ fassung den gegebenen Thatsachen in jeder Beziehung Rechnung trägt,

in

sich selbst verständlich, und widerspruchslos zu den­

ken ist. Wir erkennen jedenfalls,

daß diese Auffassung nicht zum

Pantheismus sondern zum Theismus führt, zu einem Theismus in reinster und höchster Form.

Sie giebt uns eine würdige Vor­

stellung Gottes, und macht uns begreiflich, wie Gott in der That als einziger substantieller Grund alles Wirklichen zu denken sei. Sie anerkennt die relative Selbständigkeit der individuellen Ge-

HI. Abschnitt.

92

schöpfe, und läßt sie doch als in Gott gegründet erscheinen. vereinigt

Sie

den Gedanken des allgemeinen Mechanismus mit der

sittlichen Freiheit der Individuen. den göttlichen Bewußtseins,

Die Einheit des allumfassen­

die Allgegenwart, die Allmacht und

Allweisheit Gottes erscheinen von diesem Gesichtspunkte als noth­ wendige Conseqnenzen desjenigen Thatbestandes, welchen Erfahrung und Wissenschaft in ihrer höchsten Entwickelung als wirklich er­ kennen

lassen.

Das

Verhältniß

der

endlichen Wesen zu Gott

stellt sich hier als ein dem religiösen Gefühl in jeder Beziehung vollkommen entsprechendes dar.

Alle Wesensbestimmtheit der In­

dividuen, die ganze Naturanlage derselben,

erscheint danach als

freies Geschenk göttlicher Liebe und Gnade.

Zwischen Gott und

den Menschen waltet danach die denkbar innigste Beziehung ob, die Gemeinschaft

des Wesens.

Gott

selbst

offenbart

sich

den

Menschen in der Stimme des Gewissens, der Vernunft und des religiösen Gefühls.

Je mehr der Mensch in aufsteigender Selbst­

entwickelung seines Geisteslebens diese Offenbarungen Gottes ver­ stehen lernt,

je mehr er sein Leben den Geboten Gottes gemäß

gestaltet, um so mehr nähert er sich ihm, um so inniger gestaltet sich die Gemeinschaft zwischen ihm und Gott. Nur ein Bedenken erhebt sich, leuchtung bedarf. allgemeine

das noch einer näheren Be­

Es scheint auf den ersten Blick,

Mechanismus

des

Geschehens,

Thatsächlichkeit wir nicht zweifeln

dürfen,

daß jener an

jener

dessen frei-

schöpferischen Thätigkeit Gottes widerstreite, ohne welche Gott nicht Gott wäre. So schwer dieser Einwand auf den Gemüthern lastet, so leicht ist er nach dem Vorausgegangenen zu heben, wenn wir uns nur den Begriff und Sinn beider Glieder dieses scheinbaren Gegen­ satzes klar vergegenwärtigen. Wir müssen hier in Betreff der Wichtigkeit des Gegenstandes noch

einmal auf bereits

früher Gesagtes

(