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German Pages 143 [148] Year 1884
Gewissen und
moderne Kultur.
Hugo Sommer.
Berlin. Druck und Verlag von Georg Reimer.
1884.
Inhalt. Seite
Einleitung
1
I. Abschnitt.
Das Gewissen. II. Abschnitt.
Die moderne Kultur. Erstes Kapitel. Der Aufschwung der Naturforschung. Die Neugestaltung des wirthschaftlichen, politischen und socialen Lebens in der Gegenwart. Positivismus. Materialismus...............................................................30 Zweites Kapitel. Der Kriticismus Kants.
Der Idealismus. Der moderne Pessimismus
in.
Abschnitt.
Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart. Erstes Kapitel. Die Haltlosigkeit des Materialismus..........................................................55 Zweites Kapitel. Die Vereinbarkeit der Ergebnisse der neueren Naturfvrschung mit der sittlich-religiösen Weltansicht
42
IV
Inhalt.
Seite
Drittes Kapitel. Tie Gestaltung einer gesunden volksthümlichen Philosophie
....
103
Viertes K'apitel. Die sittlichen Fragen des socialen, politischen und wirthschaftlichen Lebens der Gegenwart............................................................................ 110
Einleitung. Der Begriff der Sittlichkeit findet seinen Ursprung und seine Erklärung in der Thatsache des Gewissens.
Das Gewissen ist
einem jeden unmittelbar bekannt, weil ein jeder es unmittelbar in sich erlebt, und dieses Erlebniß in der Erinnerung zu reproduciren und vorzustellen vermag.
Statt aller weiteren Definition verweise
ich auf dieses Erlebniß, und fordere meine Leser auf, sich den Thatbestand desselben während
der nachfolgenden Betrachtungen
im Geiste zu vergegenwärtigen. Ich verfolge dabei den doppelten Zweck, einmal, meine Untersuchungen aus eine allgemeinverständ liche Basis zu stellen, und sodann, die Einseitigkeiten und Mängel auszuschließen, welche jede begriffliche Formulirung eines that sächlich gegebenen Inhalts mit sich bringt. Ueberdies ist das Ge wissen einzig in seiner Art, so daß dasselbe weder durch Unter ordnung unter irgend welche noch verständlichere Allgemeinbegriffe, noch durch Vergleichung oder Verknüpfung mit anderen bekannteren Thatsachen eine inhaltliche Erläuterung oder Bereicherung erfahren könnte.
Der Versuch einer begrifflichen Definition würde daher
nur zu einer Verflachung oder Verkürzung dessen führen, was wir im Gewissen unmittelbar in seiner vollen lebendigen Wirklich keit erleben.
Durch solche Verweisung wird zugleich der Weg der
Sommer, Gewissen und moderne Kultur.
1
2
Einleitung.
nachfolgenden Untersuchung in seinen Grundzügcn bestimmt und festgelegt.
Derselbe beginnt mit der Anerkennung der Gewissens
thatsache und besteht in seinem grundlegenden Theile nur in einer Verdeutlichung, Ueberlegung und Würdigung derselben. sorgfältiger Selbstprüfung die Thatsache
Wer bei
des Gewissens leugnet,
der lege das Buch bei Seite; dem Gewissenlosen kann das Wesen des Gewissens ebenso wenig klar gemacht werden, wie dem Blind geborenen das Wesen der rothen oder grünen Farbe, oder dem Tauben das Wesen der Tonempfindnng.
Für einen solchen giebt
es wohl Maximen der Selbstsucht, der Klugheit oder der Nützlich keit, aber weder Sittlichkeit noch sittliches Leben. Die Anerkennung der Thatsache des Gewissens ist die unabweisliche Vorfrage des sittlichen Lebens. Die einfache Verweisung auf das Gewissen führt jedoch zu einem
Bedenken,
das
wir uns
nicht
verhehlen dürfen.
Man
kann nicht ohne einigen Anschein von Berechtigung einwenden, daß es der Thatsache des Gewissens an der nöthigen Klarheit und Bestimmtheit mangele, welche das erste Erfordcrniß eines jeden Principes der Untersuchung bilden müsse. Allerdings ist das Gewissen kein so einfaches Erlebniß wie die einzelnen Arten der sinnlichen Empfindung, welche in allen Menschen
so
gleichartig und
übereinstimmend
zum Bewußtsein
kommen, daß in Betreff ihrer keine Mißverständnisse möglich sind. Der Inhalt dessen, was das Wesen des Gewissens ausmacht, was das Gewissen gebietet und voraussetzt, Untersuchung nicht so zweifellos fest,
steht beim Beginn der
wie die Einzelnheiten der
sinnlichen Erscheinungen oder die mathematischen Axiome.
Die
Ethik ist keine exacte Wissenschaft im Sinne der Mathematik oder der reinen Mechanik.
Das Gewissen umfaßt vielmehr einen viel
complicirteren Thatbestand, der überdies nicht in allen Menschen von Anfang an seinem ganzen fertigen Inhalte nach in voller Klarheit gegeben ist.
Es umfaßt einen Thatbestand, der sich in
Einleitung.
3
den einzelnen Menschen erst im Laufe des Lebens, und unter dessen erziehende» Einflüssen, aus einer allen gemeinsamen Natur anlage allmählig zur Reife entfaltet, der daher iit den verschie denen Menschen der verschiedenen Zeiten und Länder, je nach deren besonderen Lebensumständen, nach deren individueller Ver anlagung, nach deren verschiedenen Entwicklungs- und Bildnngsstadien mehr oder weniger klar, mehr oder weniger vollständig, niemals aber ohne alle Beimischung individueller Eigenthümlich keiten, zum Bewußtsein kommt. Dieser Sachverhalt darf uns nicht beirren. Man muß nur dem jetzt leider landläufigen Vorurtheile entsagen, daß alle Wissen schaften, wenn sie überhaupt Anspruch auf diese Bezeichnung er heben wollen, nothwendig dem Muster der Mathematik oder reinen Mechanik entsprechen müßten. Aufgabe der Ethik ist nicht: rech nungsmäßige Entwickelung aus einfachen Axiomen, sondern Ver deutlichung und Klarstellung der Principien des sittlichen Lebens. Hier ist Endziel der Untersuchung, was bei den mathematischen Wissenschaften Voraussetzung deren Bestandes ist: die Klar heit des Princips. Trotz aller individueller Verschiedenheiten in der Auffassung der Gewissensthatsache stimmen doch alle in dem überein, was man mit der Bezeichnung des Gewissens meint, also in dem Gegenstände der Untersuchung, und der Ver lauf der letzteren wird demnächst zeigen, daß der wesentliche In halt jener Meinung sich in allen um so schärfer deckt, je mehr es gelingt, der Vielfältigkeit der individuellen Erscheinungsformen des Gewissens gegenüber den inhaltlichen Kern dessen zu klarem Be wußtsein zu bringen, was das wahre Wesen des Gewissens aus macht. Die grundlegende Bedeutung einer solchen Selbst besinnung des Menschen über den centralen Inhalt und Zweck seines Lebens leuchtet von selbst ein. Sie erscheint jetzt besonders zeitgemäß und gradezu als die HauptV
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Einleitung.
frage des sittlichen Lebens der Gegenwart,
denn keine
Zeit hat mit gleich rücksichtsloser Energie wie die Gegenwart in unermüdlicher Erschöpfung aller Denkmöglichkeiten an den Grund lagen des sittlichen Lebens gerüttelt; niemals sind diese Grund lagen, sei es durch theoretische Bedenken, sei cs durch einseitige Verfolgung anderer, die Aufmerksamkeit und das Interesse aus schließlich
absorbirender Ziele,
mehr gefährdet als in unserem
kritischen, leichtlebigen Zeitalter der Dampfmaschinen und Tele graphen. Die Anknüpfung an das thatsächlich Gegebene ist jetzt das Loosuugswort aller Wissenschaften.
Wir acceptiren diese
zeitgemäße Parole, welche sich auf allen anderen Wissensgebieten so fruchtbar und segensreich erwiesen hat, indem wir auch das sittliche Leben auf seine natürliche Grundlage zurückzuführen suchen,
und in
der Klarstellung dieser die sicherste Bürgschaft
ihrer gesunden Entwickelung und ihres endlichen Sieges über alle andrängenden Zweifel erblicken. Indem wir zuerst diese Haupt- und Vorfrage des sittlichen Lebens erörtern, gewinnen wir zugleich einen festen Maßstab zur Beurtheilung dernen Kultur
des sittlichen Charakters
und
der
Specialfragen des
der
mo
sittlichen
Lebens, welche sich aus den besonderen Verhältnissen der modernen Kultur ergeben. Die Annahme
des Bestehens solcher besonderer Fragen
des sittlichen Lebens der Gegenwart kann principielle Bedenken erregen, welche eine kurze Erläuterung wünschenswerth machen. Man kann nicht ohne Grund einwenden, daß die Grundsätze des sittlichen Lebens wegen des nothwendigen Charakters ihrer Allge meinheit für alle Zeiten und Völker stets dieselben sein müssen. Es ist jedoch wohl zu erwägen, daß diese Grundsätze nicht starre Formeln oder Etiquettevorschriften sein sollen, in deren Befolgung sich das sittliche Leben erschöpfte, sondern vielmehr der selbstver-
Einleitung.
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stündliche Ausdruck einer sittlichen Gesinnung, welche kein höheres Interesse kennt als die Erfüllung der sittlichen Bestimmung des Menschen. Diese umfaßt aber das ganze Leben nach allen Richtungen hin. Die sittliche Bestimmung des Menschen er weitert und vertieft sich daher mit der Weite und Tiefe des individuellen Gesichtskreises und der individuellen Lebensauffassung. Es ist klar, daß die Einzelsragen des sittlichen Lebens insofern, trotz der principiellen Gleichheit der sittlichen Grundsätze, bei den verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten doch verschiedene sein, und in ihrer Verschiedenheit zum Gegen stände besonderer Prüfung gemacht werden können. Wie die in dividuelle Lebensauffassung mehr oder weniger bedingt ist durch die geographischen, politischen, socialen und commerciellen Verhält nisse, welche das Leben der Einzelindividuen und ganzer Völker schaften beeinflussen, wie sie sich verschiedenartig gestaltet nach Maßgabe der besonderen Richtungen, welche die Entwickelung des geistigen Lebens in den verschiedenen Zeitperioden vorwiegend einschlägt oder begünstigt, so ändern sich auch die besonderen Fragen des sittlichen Lebens nach Ort, Zeit und den sonstigen Umständen, welche den jeweiligen Gesichts- und Jdeenkreis der Menschen be stimmen. Je mehr alle diese Verhältnisse sich in größerem Um fange consolidiren und gleichartig gestalten, um so schärfer treten gewisse besondere Fragen des sittlichen Lebens hervor, welche ein allgemeineres Interesse beanspruchen. Das Leben der Gegenwart gestaltet sich in allen diesen Be ziehungen für die Untersuchung weit günstiger als dasjenige der meisten früheren Perioden der Geschichtsentwicklung. Man redet mit Recht von einer modernen Lebensauffassung und einer mo dernen Kultur. In allen gegenwärtigen Kulturstaaten haben sich Recht und Sitte, alle Einrichtungen des öffentlichen und privaten Lebens in weiterem Umfange ziemlich gleichartig und einheitlich gestaltet. Der ganze gesellige und geschäftliche Ver-
6
Einleitung.
kehr, die Production und Verarbeitung der Güter, Handel und Industrie
haben sich
überall in praktischen und zweckmäßigen
VerfahrungSweisen, Regeln und Usancen verfestigt, und bieten in den verschiedenen Ländern eine so ähnliche Physiognomie, daß der äußere Verlauf des Lebens der einzelnen Menschen in den ver schiedenen Berufsarten und Lebenslagen
überall wesentlich die
selben Phasen
der Entwickelung auf
weist.
und
denselben Rhythmus
Trotz der nationale» Unterschiede und der verschiedenen
Gütervertheilung bildet die Menschheit aller
modernen Kultur
staaten gleichsam eine große Erwerbs- und Verkehrsgemeinschaft, deren Gesammttypus den wirthschaftlichen und geselligen Lebens horizont der Einzelnen bestimmt und beeinflußt.
Ja, die Gemein
samkeit erstreckt sich nicht bloß auf diese äußerlichen Lebensver hältnisse.
Auch das geistige Leben der modernen Menschen zeigt
vermöge der gleichartigen Erziehung und der gemeinsamen Pflege der Wissenschaften eine
größere Verwandtschaft.
Alle wichtigen
Entdeckungen in allen Wissenschaften, alle irgendwie bemerkenswcrthen oder auffallenden Ereignisse, werden in der Tagespresse und einer stets wachsenden Litteratur nach allen Seiten hin be leuchtet und besprochen. geistigen Atmosphäre,
Wir alle leben in einer gemeinsamen
in der unser Denken und Fühlen wächst
und sich entfaltet, welche uns empfänglich macht für alle in der Richtung der modernen Geistesentwicklung belegenen neuen Theorieen und Auffassnngsweisen.
Diese Pflegen auf die Gestaltung
der individuellen Weltansicht der Einzelnen um so allgemeiner, tiefgreifender und umgestaltender zu wirken, je mehr die Stützen des alten Glaubens, in dem sich die sittlichen und religiösen Ideen verfestigt haben,
vor
dem
Lichte
einer
neuen
Aufklärung zu
wanken beginnen. Diese wachsende Gemeinsamkeit des Lebens und der Interessen hat neben unleugbaren Vorzügen ihre augenfälligen Mängel.
Es
bilden sich über die höchsten Fragen des sittlichen und religiösen
7
Einleitung.
Lebens vielfach absprechende Tagcsmeinungen, welche, in leichtfaßlichen Bildern und Schlagworten fixirt, sich lawinenartig ver breiten und, durch Masfenwirkung verstärkt, auch widerstrebende Geister in ihre Bahnen zwingen.
In
diesen Tagesmeinungen
mischen sich die fruchtbaren Keime, welche durch das erweiterte Wissen der Gegenwart gelegt
sind
und
gleichsam
in
der Luft
schweben, mit vcrhängnißvollen Irrthümern und Vorurtheilen zu einer geistigen Gesammtbewegung, sich nur Wenige ganz stellungen
Viele
deren bestimmendem Einflüsse
entziehen können, in deren Lieblingsvor
die maßgebenden Regulative ihrer Welt- und
Lebensauffassung finden. Diese Erwägungen lassen unschwer erkennen,
daß es aller
dings einige höchst bedeutsame Fragen giebt, deren Eigenthüm lichkeit durch die besonderen Verhältnisse der
modernen Kultur
bedingt ist, und welche wir geradezu als die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart bezeichnen können. Angesichts dieser einleitenden Bemerkungen gliedert sich unsere Aufgabe in drei Abschnitte. In dem ersten soll das Princip der Thatsache des Gewissens entwickelt,
Sittenlehre aus
der
in dem zweiten sollen
die
Haupteigenthümlichkeiten der modernen Kultur dargestellt, in dem dritten endlich sollen die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart erörtert werden, welche sich aus der Consrontation des Gewissens und der modernen Kultur ergeben.
I. Abschnitt.
Aas Gewissen. Wie wir trotz der unzähligen Irrthümer, denen die Wahr heitsforschung von jeher verfallen ist und noch stets verfällt, doch unentwegt an dem Glauben festhalten, daß es nichtsdestoweniger eine Wahrheit giebt,
welche
das
unerschütterliche Ziel
des
menschlichen Erkennens bildet, so waren die Menschen von jeher, und so sind wir alle noch jetzt im Gewissen überzeugt,
daß es
auch ein allgemeinverbindliches Sollen giebt, welches die unverrückbare Norm des menschlichen Handelns bildet, wenn auch die Menschen über den Inhalt dessen, irrten und noch immer irren.
was sie sollen, vielfach
Diese Ueberzeugung,
daß der
Mensch nicht bloß zur eigenen Selbsterhaltung, zum Genuß des Lebens und zur Abweidung der Natur geschaffen sei, sondern daß er durch sein Leben eine Bestimmung zu erfüllen habe,
ver
möge deren er zur Mitarbeit an dem Ganzen des Weltproceffes berufen sei, und durch welche seine Existenz in diesem Ganzen erst gerechtfertigt werde, dieses mit unmittelbarer Evidenz erlebte Bewußtsein einer sittlichen Lebensbestimmung bildet
den
charakteristischen
Inhalt
der
Gewissens-
9
Das Gewissen.
thatsache und den specifischen K-ern des wahren Mensch wesens überhaupt;
cs
verleiht
dem
Menschen
die
sittliche
Würde und Selbstachtung, welche ihn über alle anderen irdischen Geschöpfe erhebt.
Dieses sittliche Bewußtsein gründet sich auf
eine ursprüngliche Anlage der menschlichen Natur und bleibt als solche principiell wirksam und lebendig, wenn auch die Versuche der Verdeutlichung seines Inhalts mitunter zu einseitigen oder gar falschen Ergebnissen führen.
Es verhält sich mit der Ver
deutlichung dieses Sollens nicht anders wie mit der Wahrheits forschung.
Wie die Menschen erst allmählich in fortschreitender
Geistesarbeit zur Erkenntniß kommen, und
die Ergebnisse der
Wahrheitsforschung stets noch viele und weite Lücken aufzuweisen haben, so schreitet auch die Selbstbesinnung des Menschen über das Ziel seiner sittlichen Bestimmung nur in einer stufenweisen Entwickelung fort, und in engem Zusammenhang mit der Er weiterung seines Wissens und seiner sonstigen Interessen. Sachverhalt entspricht auch
durchaus
Dieser
dem allgemeinen for
malen Grundcharacter der menschlichen Natur, vermöge dessen das ganze Leben des Menschen auf das Princip freier Selbstentfaltung und Selbstarbeit gegründet ist. Dieses Princip schließt seinem Wesen nach die Möglichkeit der Täuschung und des Fehlgriffs in sich,
aber es hat ein aus
reichendes Correctiv auf sittlichem Gebiete in dem Gefühle der Verantwortlichkeit und der Reue, indem ersteres zur Ueber* legung vor der That,
letzteres zur Einsicht des Verkehrten nach
der That anleitet, und damit jedem Einzelnen die Mittel zur Erkenntniß des Rechten an die Hand giebt.
Die sittlichen. Ver
kehrtheiten Einzelner und ganzer Völkerschaften, welche mitunter Unsittliches zur Sitte stempelten und oft lange Zeit als solche bestehen ließen, liefern daher keinen Gegenbeweis gegen die prin cipielle Unfehlbarkeit des Gewissens; sie machen es vielmehr nur zur ernsten Gewissenspflicht, den wahren Inhalt dessen, was wir
10
I. Abschnitt.
sollen, stets um so gewissenhafter zu erwägen.
In der That ver
schwinden diese Verirrungen, welche zumeist der Kindheitsperiode der Menschheit angehören, zusehends mit dem Fortschritte der Kultur und der allgemeinen Geistesbildung, um allmählich immer höheren
und
reineren
Auffassungen
des
Sittlichen Platz
zu
machen. Ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung der sittlichen Vorstellungen und deren gegenwärtigen Stand überzeugt uns, daß jene ebenso wenig resultatlos geblieben ist wie die Arbeit des wissenschaftlichen Erkennens. Wie diese zur Feststellung gewisser unumstößlicher theoretischer Grundwahrheiten
und zu einer
unabsehbaren Fülle
nützlicher
Kenntnisse führte, mit deren Hülfe sich das Leben nach vielen Nichtuugen hin zweckentsprechender und reicher gestaltet hat, so führte auch die fortschreitende Arbeit der sittlichen Selbstbesinnung zur allgemeinen Anerkennung gewisser unumstößlicher Grundsätze der Moral, welche im Recht und der herrschenden Sitte, wie in den
bestehenden
politischen
und
socialen
Einrichtungen
ihren
zutreffenden Ausdruck gefunden und sich dauernd verfestigt haben. Dieser
eiserne Bestand zweifelloser
moralischer Grundsätze
giebt dem Begriffe des Gewissens, dessen wesentlicher Inhalt in ihm zur sichtbaren Erscheinung kommt, jetzt eine alle Mißver ständnisse ausschließende Bestimmtheit.
Er diene auch den nach
folgenden Betrachtungen als allgemeinverständliche Grundlage, denn es liegt mir ferne, die Ethik neu begründen zu wollen. Zweck dieses Abschnitts ist nur, Bewußtseins
der
Der
den Inhalt des sittlichen
Menschheit
in
dem
gegenwärtigen
Stadium seiner Entwickelung auf's Neue, und im engen Anschluß an die thatsächliche Grundlage des Gewissens, in einer prinzipiellen Erörterung zu verdeutlichen. Es sind im Wesentlichen drei Voraussetzungen, ohne welche das allgemein verbindliche Sollen nicht gedacht werden sann,
Das Gewissen.
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und bereit thatsächliche Erfüllung wir im Gewissen mit unmittel barer Evidenz erleben. 1. Das Sollen setzt ein Wollen voraus. Moralische Vor schriften haben nur Sinn und Bedeutung für ein Wesen, welches ihnen Folge zu leisten vermag, welches daher nicht in allen seinen Lebensäußerungen nur dem Zwange äußerer Einwirkungen oder einer unabänderlich vorausbestimmten Wesensnatur blind gehorchen muß, sondern welches ganz allgemein die Fähigkeit hat, sich in seinen Entschlüssen und Handlungen selbst zu bestimmen, d. h. etwas Bestimmtes zu wollen. 2. Das Sollen kann seiner Natur nach nur in dem Be wußtwerden einer solchen Norm bestehen, welche den Willen zu erregen vermag. 3. Diese Norm muß sich vor allen anderen Erregungs mitteln des Willens durch einen specifischen Charakter aus zeichnen, der den Grund ihrer verbindlichen Kraft in sich trägt. Daß wir wollende Wesen sind, erleben wir unmittelbar. Fast kein Augenblick unseres wachen Geisteslebens verrinnt, ohne daß wir dieses oder jenes wollen. Das Wollen ist, wie alle ur sprünglichen Erlebnisse, etwas Thatsächliches, welches in seiner vollen Wirklichkeit nur erlebt und in der Erinnerung als vorge stelltes Erlebniß reproducirt, nicht aber erschöpfend definirt und ohne Rest in Begriffe übersetzt werden kann. Auch hier verweise ich statt aller weiteren Definition auf diesen Thatbestand, den sich jeder meiner Leser jeden Augenblick vergegenwärtigen kann. Die nachfolgende Untersuchung macht es jedoch wünschenswerth, daß wir uns der einzelnen Momente, welche wir in dem Thatbestände des Wollens unterscheiden können, speciell und klar bewußt werden. Jeder Willensact wird durch die Vorstellung des Werthes angeregt, welchen wir dem gewollten Ziele beilegen. Die Vor-
I. Abschnitt.
12
stellnng irgend eines Lustgefühls, welches das Gewollte wollenswerth macht, ist ganz allgemein das einzige denkbare Erregungs mittel des Wollens. Die Vorstellung des Gleichgültigen reizt uns nicht,
sondern
läßt
uns
kalt.
uns Lust macht, regt uns an,
Die
Vorstellung dessen,
es für uns zu erlangen,
was es zu
wollen. Lust, im weitesten Sinne des Worts genommen, ist, wie das Wollen selbst, eine lebendige Bewegung des Geistes, deren Inhalt wir
gleichfalls
können.
nur
erleben
aber
nicht
erschöpfend
definiren
Auch hier müssen wir daher auf den gegebenen That
bestand verweisen, der einem jeden unmittelbar erlebbar ist. Nur über den Grund dessen, was uns Lust erregt, können wir eine allgemeine begriffliche Formel aufstellen, indem wir sagen, daß uns Lust erweckt, was unserer Wesensnatur entspricht oder förderlich ist; Unlust dagegen, was derselben wider streitet. Wollen kann daher nur ein Wesen,
welches nicht blos für
sich ist, sondern dessen Fürsichsein in einer bestimmten Natur anlage fixirt ist, vermöge deren es durch die wechselnden Zustände seines Lebens entweder fördernd oder hemmend berührt wird, ein Wesen mithin, dem die wechselnden Zustände seines Lebens wohl oder wehe thun. Aber die bloße Erregung der Lebensthätigkeit in bestimmter Richtung ist noch kein Wollen,
denn unter den Begriff solcher
Erregung fällt auch das Determinirtwerden eines Wesens durch äußere oder innere Nöthigungen.
Es ist die Vorstellung des
Werthes des Gewollten, welche den Willen erregt.
Zum Wollen
gehört daher nicht blos die Fähigkeit eines Wesens, Wohl oder Wehe zu fühlen, sondern außerdem noch die weitere Fähigkeit, sich Vorstellungen über künftige Ereignisse zu bilden, und das Wohl oder Wehe, welches mit den verschiedenen Mög lichkeiten des Wollens voraussichtlich verknüpft ist, im Voraus
DaS Gewissen.
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zu erwägen; es gehört dazu endlich und vor Allem noch die Fähigkeit, sich nach dem Ergebnisse solcher Vorerwägungen für die eine oder die andere der sich darbietenden Even tualitäten des Wollens zu entscheiden. Diese letztere Fähigkeit ist das eigentliche Characteristicnm des Willens, sie besteht in der Freiheit der Wahlentschei dung zwischen mehreren sich dem Bewußtsein gleich zeitig darbietenden Motiven. So eng ist der Begriff der Freiheit mit demjenigen des Willens verknüpft, daß man ganz allgemein sagen kann: Freiheit ist die Fähigkeit eines Wesens, etwas Bestimmtes zu wollen. In der freien Wahlentscheidung offenbart sich der specifische Character des Willens. Wie der Wille selbst, so ist auch die Fähigkeit der freien Wahlentscheidung ein unmittelbares Erlebniß, dessen Wirk lichkeit ebenso zweifellos thatsächlich gegeben ist, wie die Fähigkeit des Wollens überhaupt. Wie diese, ist auch die Fähigkeit der freien Wahlentscheidung eine unabweisliche Vorbe dingung des Sollens; eine Vorbedingung, deren thatsächliche Erfüllung durch das Gefühl der Verantwortlichkeit und der Reue so evident bewiesen und beglaubigt ist, daß nur eine wissenschaft lich nicht mehr in Betracht kommende Skepsis an ihr zu zweifeln vermag. Diese Skepsis findet, wie ich beiläufig bemerke, ihren haupt sächlichsten Anhaltspunkt in einer falschen Fiction, durch welche man hier in die Auffassung des unmittelbar gegebenen Thatbe standes den Keim ganz ungerechtfertigter theoretischer Bedenken gepflanzt hat. Während der wirkliche Wille stets durch den vor gestellten Werth des Gewollten motivirt ist, hat man daneben die ganz ungegründete Fiction eines völlig unmotivirten und unbe rechenbaren Willens aufgestellt, und diesem eine sogenannte un bedingte Freiheit zugeschrieben. Einen solchen Willen giebt es nicht, und kann es nicht geben, da zum Wesen des Willens ge-
14
I. Abschnitt.
hört, daß er auf ein Object gerichtet ist, dessen vorgestellter Werth ihn selbst erst in's Leben rufen kann. Die an sich zweifellose Beobachtung, daß die Menschen sich in ihrem Wollen oft durch unsittliche Motive sinnlicher Lust und dergleichen bestimmen lassen, hat in Verein mit der Erwägung, daß die Befreiung von solchen Motiven für das sittliche Leben gefordert werden müsse, sogar zu dem Wahne verleitet, daß eine Freiheit von allen Motiven, also jene fingirte unbedingte Freiheit, unabweisliche Vorbedingung des sittlichen Handelns sei, während doch sittlich nur ein Wille ge nannt werden kann, der durch die Werthschätzung des Guten, also durch ein verständliches Motiv, zum Wollen des Guten be stimmt wird. Sehen wir von dieser falschen Fiction einer unbedingten Willensfreiheit ab, so fällt auch der Einwand dahin, daß das freie Wollen dem Causalgesetz widerstreite. Der Wille setzt vielmehr seinem Wesen und Begriffe nach grade umgekehrt die Geltung des Causalgesetzes voraus, da er stets durch den Werth des vorgestellten Objects motivirt, und seine Wirksamkeit lediglich durch die Möglichkeit bedingt ist, die Cousequenzen der verschiedenen sich ihm darbietenden Motive vorauszusehen und vorauszuerwägen. Die freie Wahlentscheidung zwischen mehreren sich dem Bewußtsein gleichzeitig darbietenden Motiven bildet nur einen eigenthümlich qualificirten Fall der Anwendung des Cau salgesetzes, welcher sich dadurch von allen in der äußeren Natur beobachteten Vorgängen unterscheidet, daß hier eine Reihe psychi scher Ereignisse im wollenden Wesen als Zwischenglieder zwischen Ursache und Wirkung eingeschaltet ist, welche sich, da Niemand seinem Mitmenschen in die Seele sehen kann, der Beobachtung durch Dritte entziehen. Diese im Innern des wollenden Sub jectes mitwirkenden und den Erfolg mitbedingenden psychischen Factoren enthalten aber an sich, nichts Räthselhaftes oder Unbe rechenbares. Sie bestehen in dem Vewußtwerden der verschiedenen
15
DaS Gewissen.
Eventualitäten des Wollens, in der Vorstellung und Abschätzung des verschiedenen Werthes derselben, und in der schließlichen Be vorzugung derjenigen Eventualität,
welche den Ausschlag
und die Entscheidung der Wahl herbeiführt.
giebt
Characteristisch ist
dabei insbesondere die stete Möglichkeit des Anderskönnens und das Gefühl der Verantwortlichkeit für den fchließlichen Ausfall der Wahl.
Erstere widerstreitet nicht dem Causalgesetz, denn alle
Eventualitäten des Wollens unterliegen diesem. Gefühl der Verantwortlichkeit, Spontaneität
des wollenden
fähiger Factor.
Letzteres,
ist ein variabeler,
Subjectes
das
durch innere
einer steten Steigerung
Selbst diese innere Spontaneität ist nicht un-
motivirt, sondern ihre Kraft und Wirksamkeit ist die Frucht des sittlichen Characters und der sittlichen Erziehung des betreffenden Individuums.
In dem Maße der Intensität, mit welcher hier
das Gefühl der Verantwortlichkeit die Entscheidung int Sinne des Gewissens herbeizuführen strebt,
giebt der Wille sich in seinem
sittlichen Wollen selbst das Gesetz.
Sind wir auch gewohnt, in
der äußeren Natur meist constante oder in gesetzlichen Grenzen veränderliche Kräfte wirksam zu finden, so widerstreitet doch die Variabilität jenes psychischen Willensfactors
nicht dem
Gesetze
der Causalität; um so weniger, als uns nichts in der Annahme hindert,
daß
der
Spielraum
aller
Eventualitäten
des
freien
Wollens aller willensfähigen Wesen, ebenso wie die ihnen inne wohnende Macht des LZollbringens, in dem Ganzen des Weltprocesses vorgesehen, und in den Umfang der allgemeinen Gesetz lichkeit mit aufgenommen seien,
so daß der Wollende als freier
Mitarbeiter an jenem Ganzen,
und doch in all seinem Wollen
dessen Gesetzen Unterthan, erscheint. Nach
diesen
Erwägungen ist wohl zweifellos,
daß es stets
und allein nur die Werthgefühle sind, welche den Willen be stimmen. Soll es daher eine wirksame sittliche Norm geben,
16
I. Abschnitt.
so kann die verbindliche Kraft derselben nur in dem ge fühlten Werthe dessen liegen, was sie gebietet. Sie kann eben deshalb nur in der Naturanlage des wollenden We sens
selbst begründet sein,
scheiden,
denn diese allein kann über das ent
was von dem wollenden
Wesen als
Wohl oder Wehe
gefühlt wird. Nun sind die ihrer
Menschen, wie sie gehen und stehen,
Erziehung,
nach
den
besonderen Lebensumständen,
denen sie aufgewachsen sind, sehr verschieden. je nach den Umständen von ihnen als den.
je nach unter
Verschiedenes wird
Wohl oder Wehe empfun
Selbst eine Verständigung darüber, was als werthvoll zu
betrachten ist, kann nur insoweit zwischen ihnen stattfinden, als ihre Naturen gleichartig veranlagt sind.
Eine allgemeinverbindliche
Norm des Wollens kann daher nur in denjenigen Grundzügen der menschlichen Natur begründet sein, Inhalt einer kann
nur
sein,
gemeinsamer
welche allen gemeinsam sind.
allgemeinverbindlichen was
von allen
Naturanlage
trotz
sittlichen
Menschen aller
nach
Norm deren
individueller
Unterschiede als werthvoll geschätzt wird. Solche Schätzung genügt jedoch in ihrer Allgemeinheit noch nicht, um das Wesen der sittlichen Norm hinreichend zu characterisiren. Der Begriff des Werthes oder der Lust ist in dieser Allge meinheit noch ein ganz unvollständiger.
Es giebt unendlich viele
Arten oder Grade des Wohl oder Wehe, und nicht alle genügen den Anforderungen, welche wir an den Werth der sittlichen Norm stellen müssen.
Die sinnliche Lust, die sonstigen Annehmlichkeiten
des Lebens in ihrer unabsehbaren Vielfältigkeit, die Freude über den Eintritt förderlicher oder nützlicher Ereignisse, die Gefühle der Liebe und Freundschaft, die Befriedigung des Ehrgeizes und der Kunstgenuß in seinen verschiedenen Formen liefern unzählige Bei spiele besonderer Gefühle, welche sich doch alle von dem unter-
17
Das Gewissen.
scheiden,
was das Wesen
der sittlichen Werthschätzung
aus
macht. Worin besteht nun der specifische Character der letzteren; wo rin der besondere Werth, welcher dem Sittengesetze die verbind liche Kraft giebt? In den meisten jener vorangeführten besonderen Werthgefühle stimmen die
Menschen überein, weil sie auf einer gleichartigen
Naturanlage aller beruhen, am allermeisten in den sinnlichen Ge nüssen, weil alle Menschen bis auf gewisse Einzelheiten körperlich gleich organisirt sind, aber doch wird Niemand behaupten, das
Wesen des
Sittlichen auf
sinnlichen
Die gemeinsame Empfänglichkeit der
daß
Genuß gegründet sei.
Menschen entscheidet daher
für sich allein noch nicht über den sittlichen Character der in Frage kommenden Werthe.
Neben der Allgemeinheit muß vielmehr
eine allen unbedingt imponirende Bedeutung derselben verlangt werden. In Betreff solcher Bedeutung gilt im Allgemeinen die Regel, daß die Befriedigung eines Interesses um so tiefer, reiner
und
erquickender gefühlt wird, von je größerer Wichtigkeit dasselbe für den ganzen
Verlauf des Lebens,
treffenden zum Bewußtsein
und je mehr dieses dem Be
gekommen ist.
Unbedingt werthvoll,
und in Folge dessen unbedingt verpflichtend für alle, kann daher nur das sein,
was dem specifischen Kerne und
der menschlichen Natur entspricht.
innersten Wesen
Die unbedingt verpflich
tende Kraft der sittlichen Gebote ist nur daraus erklär lich,
daß der ganze Mensch auf seine sittliche
Bestim
mung hin veranlagt ist, daßmithindas centrale Lebensinteresse des Menschen auf die Erfüllung seiner sittlichen richtet ist.
Bestimmung ge
Dieses centrale Lebensinteresse wird dem Menschen in
dem Maße offenbar, als er seiner wahren Bestimmung inne wird. Dem sittlichen
Menschen erscheint das Gute,
was das
Gewissen
gebietet, als höchstes Gut, weil es dem Grundinteresseseiner Sommer, Gewissen unb moderne Kultur.
2
18
I. Abschnitt.
Natur entspricht; es erscheint ihm erhaben über alle anderen Arten der Lust, welche nur der Befriedigung irgend welcher be sonderer untergeordneter Lebensinteressen entspringen. Weil die Erfüllung der sittlichen Bestimmung die gedeihliche Entfaltung des Lebens überhaupt nach allen Richtungen hin bedingt und bestimmt, weil das Wohl aller Menschen davon abhängt, daß alle den Ge boten des Gewissens genügen, weil es ohne dieses Erforderniß keine wahre Befriedigung und kein wahres Glück giebt, so sind jene Gebote für alle verbindlich, und der unbedingte Werth des Sittlichen ist der wahre und alleinige Grund jener Allgemeinverbindlichkeit der sittlichen Gebote. Die Gewißheit dieses unbedingten Werthes des Sittlichen ist der specifische inhaltliche Kern der Gewissensthatsache. Diese Ge wißheit beruht nun allerdings auf subjektiver gefühlsmäßiger Schätzung, und kann ihrer Natur nach nur auf solcher beruhen, aber der entscheidende Gesichtspunkt ist hier, daß solche subjective Schätzung des Sittlichen unabhängig ist von dem Belieben und der Willkür des Subjectes, daß dieselbe vielmehr eine nothwendige Consequenz der Wesensnatur des Subjec tes ist, welche dieses sich nicht selbst gegeben hat, sondern welche ihm anerschaffen ist. Wie das Leben selbst, so empfängt der Mensch auch die Bestimmung seiner Wesensnatur aus der Hand des schöpferischen Grundes aller Wirklichkeit. Der Grundcharacter der dem Menschen anerschaffenen Wesensnatur bestimmt die Form und Richtung seines Denkens, Fühlens und Wollens, entscheidet mithin auch über das, was von dem Menschen für werthvoll oder unwerth gehalten wird. Wie die logischen Gesetze des Den kens und die angeborenen Grundsätze der Vernunft, so ist auch die höchste Kategorie der Werthschätzung des Sittlichen ein Geschenk oder eine Offenbarung jenes letzten Weltgrundes, dem der Mensch selbst seine Ent stehung verdankt.
Das Gewissen.
19
Diese Selbstoffenbarung der Wesensnatur des Menschen greift in ihrer Unbedingtheit weit über den empirischen Gesichtskreis hinaus, und gründet sich auf eine Reihe höchst bedeutsamer Vor aussetzungen über das Ganze der Welt und die Stellung des Menschen in diesem Ganzen,'mit deren Gewißheit die Unbedingtheit der sittlichen Werthschätzung selbst steht und fällt, deren Gewißheit daher einen integrirenden Theil der Gewissens thatsache selbst bildet.
Wollen wir den Sinn und
Inhalt der
Gewissensthatsache richtig und ganz verstehen, so müssen wir uns jene Voraussetzungen im Zusammenhange verdeutlichen. 1. Unbedingt kann die sittliche Werthschätzung nur dann sein, wenn der schöpferische Grund, der den Keim dazu in unsere Wesensnatur gelegt hat, selbst unbedingt, wenn er der gemeinsame allumfassende Urgrund aller Dinge
substantielle
ist, der nicht nur den Menschen und
das Sittengesetz, sondern alle Weltwirklichkeit überhaupt aus sich hervorgebracht hat. 2. Unbedingt werth voll kann nur sein, was jener schöpfe rische Grund als werthvoll gesetzt hat, was er als werthvoll in sich selbst fühlt und erlebt.
Werthe sind nur lebendige Erregungen
eines lebendigen fürsichseienden Wesens.
Jener
schöpferische
Grund alles Wirklichen muß daher nicht nur unbedingt, sondern er muß ein fürsichseiendes l ebendiges Wesen sein. 3. Diese Bestimmung genügt jedoch den sittlichen
Anforde
rungen an den Begriff des höchsten Wesens noch nicht. Dasselbe muß nicht uur als fürsichseiendes, sondern zugleich als einheitliches persönliches Wesen gedacht werden. Persönlichkeit ist, wie ich im letzten Abschnitte noch näher darlegen werde, nach vorurtheilsfreien metaphysischen Erwägungen die denkbar höchste Form des Begriffes der Wesenhaftigkeit über haupt.
Der Kern des Persöulichkeitsbegriffs ist
die Einheit
2
*
des Bewußtseins, in der das persönliche Wesen die wechselnden Zustände seines Lebens zur dauernden, im Wechsel sich erhalten den einheitlichen Wesenhaftigkeit zusammenfaßt. Einheit und Veränderlichkeit constituiren in unauflöslicher Gemeinschaft den Begriff der substantiellen Wesenhaftigkeit. Wo das eine oder das andere dieser beiden Hauptrequisite des Wesensbegriffes fehlt, können wir nicht mehr von einem Wesen reden, sondern nur allenfalls von einem leblosen Dinge oder einem Principlosen Wechsel der Ereignisse. Beide Seiten des Wesensbegriffes können nur durch das verknüpfende Band des beziehenden und zugleich sich selbst erfassenden Bewußtseins mit einander vereinigt werden. Es ist keine andere Form erdenkbar, die Veränderlichkeit des Lebendigen zur Einheit zusammenzufassen, als diejenige der be wußten persönlichen Existenz. Alle anderen Existenzformen, welche die Metaphysik ersonnen hat, um sich die Natur eines letzten all umfassenden einheitlichen Weltgrundes zu verdeutlichen, die „be harrliche Substanz", die „wirksame Idee", der verschwommene und unklare Begriff eines „Absoluten", sie alle sind einseitige und haltlose Abstractionen, welche in ihrer einseitigen Tendenz den lebendigen Einheitspunct des Wesens, das Bewußtsein, nicht erfassen. Indem wir die Natur des Wesens begrifflich zu fixiren suchen, müssen wir uns jenes alten Vorurtheils der philosophi schen Schulen entschlagen, welches die lebendige Wirklichkeit aus einem überkommenen Vorrathe üblicher Allgemeinbegriffe reconstruiren möchte. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Wirklichkeit reicher ist als unser Denken, und daß dieses all seine Inhalte aus der lebendigen Erfahrung schöpfen muß. In unserem eigenen Selbstbewußtsein erleben wir unmittelbar ein Bei spiel lebendiger einheitlicher Existenz, welches trotz seiner End lichkeit und Beschränktheit alle jene einseitigen Abstractionen des metaphysischen Nachdenkens an Reichhaltigkeit und Wirkungsfähig keit des Inhalts und der Form weit überragt. Wollen wir
Das Gewissen.
21
unsere Speculationen über die Wesensnatur des vorausgesetzten unbedingten Weltgrundes auf den festen Boden der Erfahrung stellen, so müssen wir an jenen wunderbaren, durch keine Begriffsconstruction zu überbietenden Thatbestand des eigenen Selbstbe wußtseins anknüpfe», und durch sachgemäße und analoge Erwei terung des in uns selbst erlebten Beispiels persönlicher Existenz zu dem Begriffe des höchsten Wesens als vollkommener und ab soluter Persönlichkeit aufsteigen. Soll die ganze in stetem Wechsel sich verändernde und entwickelnde Welt mit allen darin befind lichen Geschöpfen einem einheitlichen Grunde entspringen, so kann dieser nicht anders als in der höchsten und im Anschluß an die Erfahrung allein denkbaren Form des Wesensbegriffs, so kann er nur als selbstbewußte absolute Persönlichkeit gedacht werden. Der ganze Weltproceß erscheint nach dieser Auffassung, trotz und unbeschadet der relativen Selbständigkeit aller Einzelgeschöpfe, im Ganzen als das Leben jenes einen höchsten Wesens. 4. Soll es unbedingte Werthe geben, so sind sie zunächst nur denkbar als Erregungen jenes einen höchsten Weltwesens. Aber auch als solche sind sie nur unter der weiteren Voraussetzung denkbar, daß das ganze Leben jenes höchsten Wesens, daß der ganze Weltproceß ein einheitlicher zweck bestimmter Gesammtproceß ist, denn nur als Inhalt eines einheitlichen Weltzwecks kann ein unbedingter Werth gedacht werden. Nur wenn der ganze Weltproceß mit Rücksicht auf den durch ihn zu realisirenden Werth, als gesetzten Endzweck, einheitlich veranlagt ist, kann dieser selbst unbedingt sein, denn gäbe es außerdem irgend welche davon ganz unabhängige Anfangs- und Zielpuncte eines unberechenbaren Wirkens, welche den Lauf des Weltprocesses zweckwidrig durchkreuzen und seine Richtung ver ändern könnten, so wäre der Werth des höchsten Ziels, wie dieses selbst, von unberechenbaren Zufälligkeiten abhängig und mithin
nicht unbedingt. Auch unter dieser Voraussetzung trägt das Endziel allein seinen Werth in sich selbst; alle anderen Werthe sind jenem in der teleologischen Gesammtbewegung des Ganzen untergeordnet, und participiren nur insoweit an dem Character der Unbedingtheit, als sie direct in der Richtung auf das höchste Endziel belegen sind. 5. Soll'daher der Werth der sittlichen Bestimmung des Menschen ein unbedingter sein, so muß deren Er füllung einen integrirenden Theil des Weltzwecks selbst bilden, so muß der Weltzweck, wenigstens theilweise, auf das nur in steter fortschreitender sittlicher Selbstarbeit zu erringende Glück der geschaffenen Wesen gerichtet fein. 6. Eine solche freie Entwickelung und Selbstarbeit der end lichen Wesen kann wiederum, wie wir schon erwähnt haben, nur dann stattfinden, wenn für alle ein gleiches Recht gilt, wenn eine allgemeine ausnahmslose Gesetzlichkeit alles Ge schehens obwaltet, vermöge deren jeder die Folgen feines Handelns voraussehen, und einem jeden der Eintritt dieser Folgen zugerechnet werden kann. 7. Alle bisher entwickelten Voraussetzungen des Gewissens sind im Wesentlichen noch formaler Natur. Selbst die voraus gesetzte Unbedingtheit des Werthes der sittlichen Bestimmung trägt noch diesen formalen Character. Selbst der Character der Unbedingtheit erhält seine inhaltliche Erfüllung und Bedeutung, seine Weihe und Vollendung erst durch die hier nicht sowohl vor ausgesetzte als vielmehr im Gewissen unmittelbar als wirklich er lebte Heiligkeit und Güte dessen, was wir sollen, und was wir solgeweise als Ziel der Weltentwickelung voraussetzen müssen. Die höchste Principale inhaltliche Voraussetzung des Ge wissens, welche uns den Schlüssel zum Verständniß aller übrigen liefert und den Sinn aller in das rechte Licht stellt, ist daher die, daß jener vorausgesetzte einheitliche
23
Das Gewissen.
Weltgrnnd
ein
guter,
unbedingt
verehrungswürdiger
Grund, daß er mit einem Worte Gott ist. Der unbedingte Werth des Sittlichen ist nur verständlich als Ausfluß der Güte und Heiligkeit eines alle Weltwirklichkeit aus sich hervorbringenden allmächtigen, allweisen und allgütigen per sönlichen Gottes.
Die Idee Gottes bildet den Schlußstein,
der
allen Voraussetzungen des Gewissens Halt und inneren Zusam menhang giebt. als
Nur Gott können wir als unbedingtes Wesen,
vollkommene Persönlichkeit und
Wirklichen denken. und
einheitlichen Grund alles
Nur wenn wir den Weltproceß, einschließlich
unbeschadet des relativen Fürsichseins und der
Selbständigkeit der endlichen Geschöpfe,
als
das
relativen
allumfassende
Leben Gottes betrachten, in dem wir alle leben, weben und sind, verstehen wir die Einheitlichkeit und Zweckbestimmtheit des Welt ganzen.
Nur als innere Folgerichtigkeit und Beständigkeit des
göttlichen Alllebens ist die vorausgesetzte allgemeine Gesetzlichkeit alles Geschehens denkbar. Nur die Liebe Gottes ist das verständ liche Motiv einer Weltschöpfung,
deren Zweck aus die durch sitt
liche Selbstarbeit zu erwerbende Seligkeit der Geschöpfe gerichtet ist.
Das Gute, Heilige und Verehrungswürdige können wir nur
als Eigenschaften eines vollkommen persönlichen Wesens denken, welches von sich selbst und seiner Herrlichkeit weiß,
nicht als ab-
stracte, in irgend welcher anderen räthselhaften Weise verwirklichte Thatbestände
an sich,
oder als Prädicate eines unpersönlichen
Absoluten.
Nur einem lebendigen persönlichen Wesen können wir
Verehrung
und
Liebe
göttlichen Willens,
entgegenbringen.
göttlicher Macht,
Nur
göttlicher
als
Satzung
Weisheit
und
Liebe kann das Sittengesetz seine zwingende Autorität entfalten und behaupten. So bildet die Vorstellung des lebendigen persönlichen Gottes
die höchste abschließende Idee, welche alle jene
voran geführten
unabweislichen
Voraussetzungen
des
24
I. Abschnitt.
Sittengesetzes zu dem Ganzen einer sittlich-religiösen Weltansicht vereinigt, in der wir den gedankenmäßigen Ausdruck dessen finden, was wir im Gewissen unmittel bar als wirklich erleben, und dessen wir uns schon durch die bloße Verdeutlichung dieses gegebenen Thatbestandes bewußt zu werden vermögen. Ihre sachgemäße inhaltliche Erfüllung erhält diese bislang nur in ihren formalen Grundzügen entwickelteWeltansicht jedoch,wiewirnicht eindringlich genug hervorheben können, erst durch das religiöse Ge fühl, welches gleich dem Gewissen aus einer ursprünglichen Veranla gung des menschlichen Geistes beruht, und wie dieses einen Grundcharacterzug der menschlichenWesensnatur bildet. Erleben wir im Ge wissen den unbedingten Werth der sittlichen Gebote, so eröffnet sich uns im religiösen Gefühl erst das rechte Verständniß dieses Werths, indem uns hier unser persönliches Verhältniß zu Gott zum Bewußtsein kommt. Erleben wir im Gewissen, daß wir sittliche Wesen sind, so erleben wir im religiösen Gefühl, daß wir göttlichen Wesens sind, daß wir mit unserem ganzen Wesen in Gott gegründet sind, ohne in ihm aufzugehen. Wir erleben im religiösen Gefühl gleichsam den Pulsschlag des göttlichen Alllebens in uns. In diesem Erlebniß kommt uns unmittelbar zum Bewußtsein, daß unser ganzes Fürsichsein eine Modalität des göttlichen Fürsichseins ist, daß wir Kinder Gottes und zur Mit arbeit an den göttlichen Zielen bestimmt sind. Dieses Bewußtsein begründet das Gefühl der Erhabenheit der uns gesetzten Bestim mung, die Majestät des Sittengesetzes, die Würde und Selbst achtung des Menschen. Ist unser Fürsichsein von Gott gesetztes Fürsichsein so können wir der Hoheit und Heiligkeit Gottes unmittelbar inne werden, so giebt uns das religiöse Ge fühl die Zuversicht, daß das, was wir sollen, von Gott, dem höchsten Grunde alles Seienden, gewollt und gebilligt ist, so erwärmt uns hier ein Strahl des göttlichen Alllebens, der
uns
eine Ahnung
schließt,
und uns
des
Allerheiligsten
mit der
aller Weltwirklichkeit er
beseligenden Gewißheit erfüllt,
unser Leben auf dieses Allerheiligste gegründet ist. Gefühl erfüllt jene ganze Weltansicht,
deren
Grundlinien in den
Voraussetzungen des Sittengesetzes vorgezeichnet sind, centralen Lichte eines höheren Verständnisses, ren
Sinn
des
Sittengesetzes
und
dessen
mit dem
das erst den wah
Voraussetzungen sach
gemäß und vollständig hervortreten läßt.
Das
religiöse Gefühl
enthält somit den Grund und die Sanction des Sittlichen, giebt ihm die höhere Weihe und Sittliche,
und
doch in höherem
daß
Das religiöse
Vollendung.
es
Aehnlich wie das
und umfassenderen
Sinne als
dieses, enthält das religiöse Gefühl eine unmittelbare Offenbarung über Sinn und
Bedeutung des Weltganzen,
welche uns von der
thatsächlichen Erfüllung der Voraussetzungen des Gewissens,
und
von der concreten Art solcher Erfüllung überzeugt. Lotze*) hat diesen Sinn in den nachstehenden drei Sätzen sehr treffend
zusammengefaßt,
Ueberzeugungen
welche
wir
als
die
jeder religiösen Auffassung,
characteristischen im
Gegensatz zu
bloßer Verstandes-Weltansicht betrachten können: 1. Die sittlichen
Gesetze bezeichnen
wir
als
den Willen
Gottes; 2. Die einzelnen endlichen Geister nicht als Naturproducte, sondern als Kinder Gottes; 3. Die Wirklichkeit nicht als bloßen Weltlauf,
sondern als
ein Reich Gottes. Das Ganze dieser im Gewissen und im religiösen Gefühl sich offenbarenden Ueberzeugungen hat bislang seinen zutreffendsten Ausdruck in gefunden.
den
Grundwahrheiten der
Darin beruht
dieser Religion,
christlichen Religion
die befreiende und beseligende Macht
daß sie in ihren Vorstellungen über das Wesen
*) Grundzüge der Religionsphilosophie. Dictate aus den Vorlesungen von Hermann Lotze. Leipzig S. Hirzel 1882 § 89.
Gottes und das Verhältniß des Menschen zu Gott den Kern der jenigen Glaubenssähe zum Ausdruck brächte, in denen die den specifischen Character der menschlichen Naturanlage bildenden Voraussetzungen der Vernunft, des Gewissens und des religiösen Gefühls beruhen. Die Offenbarungen der christlichen Religion erwecken diesen Keim der göttlichen Wesensnatur im Menschen, sie klären den Menschen über sich selbst und seine göttliche Be stimmung auf und befriedigen durch solche Aufklärung unmittel bar das Hauptinteresse des menschlichen Lebens. Sie geben, ungehemmt durch die Schwerfälligkeit des metaphysischen Den kens, und ungebunden an den langsamen Gang der Entwickelung des menschlichen Wissens, eine unmittelbare Aufklärung über den Sinn aller Weltwirklichkeit, welche das Gemüth beseligt, und die sittliche Energie zur Begeisterung steigert, indem sie eine dem Sinne des Sittengesetzes entsprechende Verheißung über die Stellung und Aufgabe des Menschen in der Welt verkünden. Sie be stätigen die in der Vernunft, im Gewissen und religiösen Gefühl ahnungsvoll voransgefühlte Gewißheit, daß der letzte substantielle Grund aller Wirklichkeit der Gott ist, den das Gemüth ersehnt, ein Gott von unbedingter Güte, Hoheit und Heiligkeit, daß die ganze Welt der göttlichen Liebe ihren Ursprung verdankt und in allen ihren Einzelheiten und Wandlungen durch den Geist dieser Liebe bestimmt ist, daß der Mensch den festen Halt seines Wesens nur in dem unbedingten Vertrauen auf Gott findet und in der Erfüllung dessen im Gewissen sich kundgebender Gebote seine Be stimmung hat. Darin liegt die überzeugende Kraft und der aus zeichnende Character des Christenthums, daß es in seinen Grund lehren mit den centralen Voraussetzungen und Anforderungen des wahren Menschwesens zusammentrifft, daß es sich auf innere That sachen gründet, welche den apriorischen Kern der menschlichen Naturanlage bilden und in ihrer unmittelbar erlebten Thatsächkeit nnerschüttert bleiben durch die stets dem Wechsel und Irrthum
Das Gewissen.
27
unterworfenen Ansichten über die Entstehung, die Entwickelung und die physikalische Beschaffenheit des Universums. Das Christen thum enthält sich weislich aller bestimmten Vorstellungen über diese metaphysischen und kosmologischen Fragen; Mythologie, von der es die Wahrheit und Lehren abhängig macht.
es hat keine
den Inhalt seiner
Es überläßt die Lösung jener Fragen
dem langsamen Fortschritte der wissenschaftlichen Forschung, und beschränkt sich darauf, höchste leitende Gesichtspunkte über Sinn und Zweck des Weltprocesies aufzustellen, denen die äußere Natur nur als Mittel der Verwirklichung dient.
Es fordert den Glau
ben an die Wahrheit seiner Offenbarungen als sittliche Pflicht, weil dieser Glaube
die Voraussetzung
des
sittlich-religiösen Le
bens ist. In der That hat erst das Christenthum die Gewissen der Menschen befreit und zu voller Wirksamkeit entfaltet; erst in der christlichen Weltansicht haben die Gebote des Gewissens und die Grundsätze des sittlichen Lebens sich zu größerer Klarheit und Reife entwickelt. Das Christenthum hat, wenn auch viele Kämpfe, Irrungen und rückläufige Bewegungen den Weg seiner allmähligen Ausbreitung und Entwickelung verzögert haben, doch schließlich die Herrschaft über alle Culturstaaten errungen und das Zeitalter der Humanität begründet, dessen Segnungen wir jetzt genießen.
Un
sere Cultur ist in der Hauptsache eine christliche. Die Grundsätze der durch das Christenthum befreiten Moral sind im Wesentlichen maßgebend
geworden für alle Gesetzgebungen, für alle öffent
lichen Einrichtungen, für die herrschenden Sitten und Gebräuche. Das Christenthum hat das Leben aller
seiner aufrichtigen Be
kenner zu einem Gute von unschätzbarem Werthe erhoben, es hat jene Achtung vor der menschlichen Natur und deren sittlicher Be stimmung begründet, welche das Grundprincip der Humanität ist. Alle neueren Gesetzgebungen erkennen die individuelle Freiheit, die individuelle Ehre und sogar den wohlerworbenen Besitz der
Ein-
zelnen innerhalb gewisser Grenzen als unantastbar an. Alle beruhen aus dem Grundsätze, daß die freie sittliche Entwicklung des Menschen der höchste Zweck des Lebens sei, und unbedingte Anerkennung erfordere. Die durch das Christenthum begründete Werthschätzung des Lebens im Ganzen hat auch den Werth aller Einzelgüter desselben in das rechte Licht gesetzt. Sie hat den gegenseitigen Beziehun gen der Menschen innerhalb des engeren Verbandes der Familie und der weiteren der Gesellschaft und des Staats ihren sittlichen Character, der Liebe und Freundschaft ihren höheren Reiz ver liehen. Sie gab allen Regungen des Lebens, aller Arbeit, allen wissenschaftlichen und wirthschaftlichen Bestrebungen einen höheren Schwung und einen einheitlichen Character; sie gab der Kunst in ihren vielfältigen Richtungen ihre höhere Weihe; sie erweckte schon in dem bloßen Anblicke der Natur, in dem Eindrucke der land schaftlichen Schönheit einen eigenthümlichen neuen Genuß, den das Alterthum in dieser Weise nicht kannte, und der nur durch das allverbreitete Bewußtsein erklärt werden kann, daß es eine Welt des Guten ist, welche uns in der bunten Vielfältigkeit des Ge sehenen wiedererscheint. Das Christenthum entzündete die Begeisterung für das Wahre. Gute und Schöne, welche die menschliche Thätigkeit nach allen Richtungen hin zu rüstigerem Schaffen drängte; es erweckte die Frische und Freudigkeit des Lebens, welche unabsehbar viele neue Reizquellen und Anregungen erschloß und jene Reichhaltig keit und Vielgestaltigkeit der Interessen und Motive erzeugte, welche den Gesichtskreis des modernen Menschen erfüllen. Es ent faltete alle diese Wirkungen, indem es den Menschen über die Möglichkeit und den Weg der Erfüllung seiner wahren Bestim mung aufllärte. Es entfaltete diese Wirkungen aber auch nur insofern und insoweit es sich selbst und seinem ursprünglichen Sinne
Das Gewissen,
29
getreu blieb. Wenn wir vom Christenthum redeten, meinten wir deßhalb auch nur die reine unverfälschte Lehre desselben, nicht die mannigfachen dogmatischen Verkürzungen, Entstellungen und Verfinsterungen, denen jene nicht entgehen sollte und denen sie noch jetzt zum Theil unterliegt. Wir überlassen den Theologen, hier die rechte Grenze zu ziehen, indem wir unsere Terminologie und die Ueberzeugung festhalten, daß ein voller Einklang zwischen den wahren Lehren des Christenthums und den unmittelbaren Aussagen der Vernunft, des Gewissens und des religiösen Gefühls besteht. In diesem Sinne ist die Anerkennung der sittlich-religiösen Weltansicht, welche wir schon aus jenen unmittelbaren Aussagen zu entwickeln suchten, und welche in den Offenbarungen der christ lichen Religion ihre Bestätigung und Befestigung gefunden hat, das Endergebniß und der Reinertag dieses Abschnitts. Die Anerkennung der sittlich-religiösen Weltansicht ent hält das Princip der Sittenlehre und den Maßstab, welchen wir der Beantwortung aller besonderen Fra gen des sittlichen Lebens zu Grunde legen werden. Um diese klarzustellen, wird im folgenden Abschnitt eine Uebersicht der Hauptrichtungen des modernen Lebens voraus geschickt.
II. Abschnitt.
Pie moderne Kultur. Erstes Kapitel.
Der Aufschwung der Naturforschung. Die Neugestaltung des wirthschaftlichen, politischen und socialen Lebens in der Gegenwart. Positivismus. Materialismus. Ebenso untiertilgbar wie das Gewissen, und wie dieses ein angeborener Zug unserer Natur, wohnt der Drang nach Er kenntniß der Wahrheit in der menschlichen Brust. Alles Wissen hat für uns nur Werth, insofern es Wahrheit enthält. Der wahre Sachverhalt ist maßgebend für die Gestaltung unserer Gedanken über die Welt und unsere Stellung in ihr, über das, was wir in der Welt zu thun und zu hoffen haben. Auch das Sittengesetz und die sittlich-religiöse Weltansicht unterliegen dieser Schranke. Unser Sollen muß sich den Thatsachen accommodiren, unser Glaube ist Fürwahrhalten von Thatsachen und richtet sich nach diesen. Wir müssen überall mit den Thatsachen rechnen. Die Erkenntniß der Wahrheit des objectiven Sachverhalts ist daher eine der wichtigsten Aufgaben, deren Ergebniffe auf die Gestal tung unserer sittlichen Weltansicht und auf unser sittliches Ver-
Die moderne Kultur.
31
halten jedenfalls dann nicht ohne tiefgreifende Folgen sein wür den, wenn sich Herausstellen sollte, daß die Postulate des Ge wissens nur fromme Wünsche seien, denen in der Welt der Wirk lichkeit nichts entspräche. Schwere Besorgnisse dieser Art sind in der That durch die Ergebnisse der neueren Naturforschung vielfach angeregt und haben in weiten Kreisen williges Gehör gefunden. Wären dieselben be gründet, so würden sie eine ernste Gefahr für den Bestand unserer sittlich-religiösen Weltansicht bedeuten. Es ist daher vor Allem nöthig, diese Besorgnisse ihrem vollen Umfange nach in den Kreis unserer Betrachtungen zu ziehen. Die Ergebnisse der neueren Naturforschung sind, als die be deutsamste Errungenschaft der Gegenwart, wohl geeignet, unser Staunen, unsere Bewunderung und unsere Dankbarkeit in höchstem Maße zu erregen. Wir würden uns unverzeihlicher Kurzsichtig keit schuldig machen, wollten wir verkennen, daß dieselben für die Gestaltung des modernen Lebens nnd der modernen Weltansicht von höchster Bedeutung geworden sind. Im Alterthum, im Mittelalter und bis spät in die neue Zeit hinein galt die Natur im Wesentlichen nur als untergeordneter Schauplatz des menschlichen Thuns. Man erforschte und beob achtete sie, soweit dies die Befriedigung der menschlichen Bedürf nisse grade zweckmäßig erscheinen ließ. Nur einzelne Philosophen vermutheten schon frühzeitig in den Elementen der äußeren Natur den Grund der Entstehung des geistigen Lebens, aber ihre Stimme verhallte wirkungslos, und ihre Ansichten erlangten nicht den min desten Einfluß auf die Anschauungen der Menge der Gebildeten und des Volks. Erst in der neuesten Zeit scheint der Menschheit der Sinn für sorgsamere, umfassendere und consequentere Beob achtung und Erforschung der Natur aufgegangen zu sein; erst in der neuesten Zeit erwachte jener energische prometheische Geist, der die fruchtbaren Methoden der sogenannten exacten Natursor-
32
I. Abschnitt.
schung ersann, der die vielfachen Kunstgriffe des Experiments und den erfinderischen Scharfsinn der Wahrscheinlichkeitsrechnung mit denl ausgiebigsten Erfolge verwendete, um den
Kreis der unmit
telbaren Wahrnehmung nach allen Richtungen hin zu und
aus
den
wahrgenommenen
Einzelheiten
in
erweitern,
consequenter
Schlußfolgerung die allgemeinen Verhältnißweisen und Gesetze zu er mitteln, und diese zu dem Ganzen immer umfassenderer Gesichts punkte zu vereinigen. Einmal erwacht, verbreitete sich dieser Geist mit rapider Schnelligkeit und zwang die fähigsten und genialsten Köpfe iu seinen Dienst.
Alle Nationen wetteiferten jetzt in ener
gischer consequenter Bearbeitung des neu erschlossenen bietes.
Wissensge
Unglaubliches ist durch die gemeinsame Arbeit und
das
Zusammenwirken der begeisterten Jünger der neuen Wissenschaft geleistet.
Erst jetzt wurden der Menschheit bestimmter formulirte
Vorstellungen über die Größe, die Bestandtheile, den Bau und die Einrichtung des sinnlichen Universums erschlossen. weiterte sich über das irdische Gesichtsfeld Weltkörper in den Kreis Mikroscop
seiner
und
Betrachtung.
Der Blick er
zog
die
Das
fernsten
durch
das
verschärfte Auge lehrte unzählige Geschöpfe kennen,
bereit Kleinheit sie der Beobachtung bisher entzogen hatte.
Man
erkannte die Regelmäßigkeit und die wunderbare Organisation in dem Bau der Pflanzen und Thiere.
Die Combination der
zelgesetze führte in aufsteigender Consequenz
zu
Ein
dem Universal
gedanken des alle Einzelwirkungen umfassenden allgemeinen Mecha nismus des Geschehens. Die practische Verwerthung
der
gewonnenen neuen Kennt
nisse erschloß unzählige neue Quellen des Nutzens und des
Ge
nusses.
Er
Sie verbesserte
die
Einrichtungen
leichterung und Verschönerung Erwerbsquellen langten
einen
Gestaltung
aller Art. ganz
neuen
des Lebens
zur Erhaltung,
des Lebens.
Technik,
Handel und
Aufschwung.
wurde eine
Sie eröffnete neue
Diese
bessere,
Industrie ganze
er
äußere
der Erfüllung der
menschlichen Bestimmung günstigere und angemessenere.
33
Die moderne Kultur.
Alle diese Vortheile liegen so auf der Hand, weiteren Schilderung, sondern
daß es keiner
nur einer einfachen Verweisung
darauf bedarf. Es ist ebenso unverkennbar, daß die Einsicht ihrer praktischen Verwendbarkeit das Interesse für die neue Wissenschaft in allen Kreisen auf das Lebhafteste anfachte, daß die Naturfor schung das Lieblingskind der neuen Zeit wurde, daß die Erwar tungen, welche ihre Leistungen erregten, sich immer höher spannten, daß dieselben
sich
sogar über das
eigentliche
Arbeitsfeld
der
Naturforschung hinaus richteten, daß man von dieser auch
ent
scheidende Aufklärungen über die höchsten Fragen des sittlichen darf uns auch nicht
allzu
sehr verwundern, wenn die zuletzt erwähnten Hoffnungen
und religiösen Lebens erhoffte.
Es
meist
skeptischer und negativer Art waren. Es liegt in der Einrichtung der menschlichen Natur, daß die fortgesetzte ausschließliche Beschäf tigung mit einem das Gemüth lebhaft erregenden Gegenstände das Interesse für alle anderen zeitweise abschwächt.
Die bislang ganz
untergeordnet und beiläufig behandelte Natur trat dem Geiste jetzt mit dem vollen Reichthume ihres Inhalts als selbständiges Gebiet der Forschung gegenüber. Ihr Anblick erfüllte den ganzen Gesichtskreis und wuchs so
riesenhaft empor, daß er das über
sinnliche Gebiet fast verdeckte.
Die stete Beschäftigung mit ihr
steigerte die Vorliebe für das Concrete, Greifbare und Practische, während die Ahnungen des Uebersinnlichen,
welche in dem sitt
lichen und religiösen Glauben ihren Ausdruck finden, nebelhaft und verschwommen
erschienen.
dagegen
Der Schritt von der
Vorliebe für das concrete Wissen der Naturforschung zur Gering schätzung und schließlich zur gänzlichen Leugnung des Uebersinn lichen, war nicht weit, und wurde von einigen mit energischer Begeisterung, von anderen mit Zagen und hoffnungsloser Ver zweiflung wirklich gemacht. Wirkte diese besondere Zeitrichtung schon an sich erkältend aus den sittlichen und religiösen Glauben Sommer, Gewissen und moderne Kultur.
der Menschheit,
3
so
34
II. Abschnitt.
erhoben sich daneben noch, durch die Naturforschung angeregt, manche schwere Bedenken, welche sich direct gegen den Inhalt jenes Glaubens richteten. Dieser Glaubensinhalt hatte sich bereits zu einer Zeit, als über die Natur des sinnlichen Universums noch ganz unreife und kindliche Vorstellungen im Schwange waren, in den Lehren des Christenthums zu voller Entwicklungshöhe entfaltet. Es war un vermeidlich, daß die Vorstellungen über Gott und göttliches Wir ken und übet das Verhältniß des Menschen zu Gott mit jenen mangelhaften Naturbegriffen int Laufe der Zeit auf's Innigste verwuchsen, daß jene Glaubensinhalte sich ganz in das Gewand dieser unvollkommenen Naturbegriffe kleideten, daß man den blauen Himmel als Thron Gottes und als Sitz der seligen Geister betrachtete, Erde und Himmel aber als einzige Bestandtheile der ganzen Welt, daß man die Welt als entlassene Schöpfung Gottes diesem gegenüberstellte, und Gott gleichsam nur eine Oberherrschaft über dieses sein vollendetes Werk einräumte, welche nur zu ge legentlichen, als Beweise göttlicher Allmacht gepriesenen Wunder eingriffen nöthigte. Alle diese dem Sinne des religiösen Glaubens nicht wesentlichen aber fest mit ihm verwachsenen Vorstellungen geriethen nun mit dem Erwachen der Naturforschung in's Wanken und drohten den Einsturz. Das sinnliche Universum trat dem menschlichen Geiste jetzt nicht bloß als selbständiges Object der Forschung, sondern wie eine selbständige Macht an sich gegenüber; es schien der göttlichen Leitung entwachsen und auf eigene Füße gestellt zu sein. Die Himmelsdecke öffnete sich, und der Ausblick in die unendliche Ferne des leeren Raums mit seinen Sonnen, Fixsternen und Kometen ließ für Gott und die Schaar der Se ligen keinen Platz mehr erkennen. Es gab kein Oben und kein Unten mehr, keinen Ort, wohin die gläubige Phantasie mit ihrer Sehnsucht nach concreter Vorstellung des Uebersinnlichen sich stüchten konnte. Die allgemeine Gesetzlichkeit des natürlichen Ge-
35
Die moderne Kultur.
schehens ließ für die göttlichen Wundereingriffe keine Möglichkeit mehr bestehen.
Der Geist selbst erschien durch die Materie aus
der Welt verbannt, nachdem Chemie und Physiologie zu der Ein sicht geführt hatten, daß im ganzen menschlichen Organismus keine anderen Stoffe und Kräfte wirksam seien als diejenigen, welche auch in der äußeren Natur vorkommen, und keine anderen setze gültig, als
Ge
welche auch das äußere Naturleben beherrschen,
daß für den Geist und geistiges Leben kein Substrat und kein Sitz mehr erfindlich sei. Man denke sich die Summe dieser Einsichten plötzlich durch eine Wissenschaft erschlossen, deren Unfehlbarkeit in den meisten ihrer Schritte durch deutliche Experimente nachweisbar, deren An sehen alle anderen Interessen überflügelte und über allen Zweifel erhaben war, und man wird den niederschmetternden Eindruck begreifen, den dieselbe in allen gläubigen Gemüthern erwecken mußte, welche,
im philosophischen Denken und int Unterscheiden
des Wesentlichen von dem Unwesentlichen meist völlig ungeübt, ihre religiösen Vorstellungen nicht sogleich
von
dem sinnlichen
Boden zu trennen vermochten, in welchem sie festgewurzelt waren. Der religiöse Glaube mußte mit diesem Boden selbst in's Wanken gerathen. Aber die neue Geistesära, welche das Erwachen der Natur forschung inaugurirte, zeigte sich nicht bloß in den aufgeführten allgemeinen Richtungen und in der zuletzt hervorgehobenen
Er
schütterung des religiösen Glaubens der Menschheit; sie trat in ihren Wirkungen nicht minder bedeutsam auf den verschiedenen Specialgebieten der wissenschaftlichen Thätigkeit hervor. Nicht nur erfuhren die einzelnen Wissenschaften durch die all gemeine Erweiterung des Gesichtskreises und durch Berichtigung der Vorstellungen über alle natürlichen Dinge und Vorgänge eine directe umfassende inhaltliche Klärung und Bereicherung, sondern die von der Naturwissenschaft angewendeten Methoden und der
3
'
II. Abschnitt.
36
Geist ihrer Forschung wirkten belebend
und
erfolgreich aus den
Gang der Untersuchung und beseitigten viele
Mängel der bis
herigen Auffassungs- und Verfahrungsweisen. Letzteres besonders in zwei Richtungen. Theils in dem gewissenhaften Anschluß an die un mittelbar gegebene Erfahrung, theils in dem Bestreben, alle erkannten Thatsachen auf thunlichst einfache Prin cipien zurückzuführen. So förderlich und segensreich sich diese Einflüsse im Ganzen erwiesen, so haben sie doch auch, namentlich in den beiden letzt erwähnten Richtungen, zu sehr bedenklichen und verhängnißvollen Einseitigkeiten verleitet. Einerseits hat man diejenige Erkenntnißquelle, Naturforschung ihre Untersuchungsobjecte liefert,
welche der
die sinnliche
Empfindung, in kurzsichtiger Beschränkung und sklavischer Nach ahmung als einzige Erkenntnißquelle gelten lassen, und i» Folge dessen eine höchst einseitige Erkenntnihtheorie
aufgestellt, den so
genannten „Positivismus". Andererseits hat man die bekannte Hypothese der Physik, wonach alle sinnlichen Erscheinungen letzten Grundes aus anziehenden und abstoßenden Kraftwirkungen un veränderlicher Atome entstehen sollen, in gedankenloser Erweiterung als erklärendes Princip aller Weltwirklichkeit hinzustellen gesucht. Dies führte zu einer ebenso einseitigen Philosophie, dem sogenann ten „Materialismus". Nach
der Lehre des Positivismus ist die Erkenntniß der
„Wesenheiten" und „Endursachen" dem menschlichen Geiste über haupt verschlossen.
Alleiniger Gegenstand
des wissenschaftlichen
Erkennens sind danach nur die Erscheinungen, deren Aehnlichkeiten, deren Zusammenhänge, deren Auseinanderfolge. Deren Kennt niß soll uns befähigen, den Eintritt künftiger Ereignisse voraus zusehen und unsere Handlungen „nach der Ordnung der Außenwelt" einzurichten..
Wahrheit ist die Uebereinstimmung der Ordnung
37
Die moderne Kultur.
der Ideen mit der Ordnung der Phänomene,
so
daß
die
Eine
eine Wiederspiegelung der Anderen ist, die Bewegung der Gedan ken der Bewegung der Dinge folgt.
Direct können wir die Ob
jecte der Außenwelt nicht erkennen. Durch das Zusammenstimmen der sinnlichen Erscheinungen unter
einander und
die
überein
stimmenden Zeugnisse verschiedener Personen können wir jedoch eine relative Gewißheit darüber erlangen, daß die Sinne in un mittelbarer Verbindung mit den äußeren Objecten stehen und daß die wirklichen Gesetze der Dinge mit den Gesetzen unserer Auf fassung, mögen sie auch an sich verschieden sein, doch in einem solchen Verhältnisse stehen, daß „gleiche Werthe beider" vorhanden sind, daß wir aus den Gesetzen unserer Erscheinungen entsprechende Veränderungen in der Außenwelt vorausberechnen, daß wir also unsere Handlungen nach der Ordnung der Außenwelt einrichten können.
Die Anbequemung
an die äußere Ordnung ist
daher die letzte Absicht des Wissens;
die Classification
das
letzte Ziel der Wissenschaft. Es liegt auf der Hand, daß eine auf solcher Grundlage er richtete Weltansicht für die im Gewissen und im religiösen Gefühl sich offenbarenden Thatsachen des sittlichen Lebens keinen Raum und kein Verständniß hat, da in diesen eine ganz andere Art ge gebener Wirklichkeit als die sinnliche Empfindung zum Bewußtsein kommt.
Diese Ansicht widerlegt sich selbst, da ihre eigenen Zweifel
und Argumentationen den sprechenden Beweis dafür liefern, daß es außer den sinnlichen Empfindungen Kräfte und Voraus setzungen des Denkens giebt,
deren sich auch das positivistische
Denken thatsächlich bedient, indem es deren Vorhandensein auf Grund anderer Thatsachen und Schlußfolgerungen bestreitet. Es wird, da unsere ganze Untersuchung auf der Anerkennung der Thatsache des Gewissens beruht, und gegen die Ableugnung von Thatsachen kein fruchtbarer Streit möglich ist, nicht nöthig sein, später noch einmal auf diese seltsame Irrlehre zurückzukommen.
38
II. Abschnitt.
Wir erwähnen derselben hier nur der Vollständigkeit wegen, und in Anbetracht der sehr großen Verbreitung, welche sie besonders in Frankreich und England gefunden hat.*)
Characteristisch ist
übrigens, daß der eigene Begründer dieser Lehre, August Comte, die Principien derselben in geben hat, Ahnung
der Hauptsache selbst wieder aufge
nachdem ihm durch
von
den
die Liebe zu einer Frau eine
höheren Regungen
des
Lebens
aufgegan
gen war. Während der Positivismus sich bescheidet, von dem, was jen seits
der sinnlichen Empfindung belegen ist, nichts zu wissen,
gründet der Materialismus grade umgekehrt sein ganzes Princip auf bloße Vermuthungen über die Entftehungsursachen der mittelst der sinnlichen Empfindungen wahrgenommenen Dinge, des ein zigen Wirklichen,
was seiner Meinung nach überhaupt existirt.
Er folgt darin ganz kritiklos der durch metaphysische Bedenken nicht beunruhigten gemeinen Auffassung der Dinge, der wir bis zu einem gewissen Grade im täglichen Leben alle huldigen.
Die
uns in plastischer Anschaulichkeit anscheinend umgebende Außen welt der Dinge erkennt er in eben der Gestalt, in welcher sie sich unseren Sinnen darbietet, als das allein und ursprünglich Wirk liche an.
Der
Materialität.
gemeinsame
Character
dieser Dinge
ist
ihre
Das Reale sind dem Materialismus die Ur-
bestandtheile der Materie.
Alle Erscheinungen des geistigen
Lebens sollen aus Kraftwirkungen dieser materiellen Urstoffe er klärt werden. Diese bekanntlich schon im Alterthum aufgetauchte, und von *) Es ist zu beklagen,
daß diese positivistische Wasserpest auch in den
Köpfen einzelner unserer deutschen Gelehrten immer mehr um sich zu greifen scheint. Ein bemerkenswerthes Beispiel der Verheerungen, welche sie dort anzurichten vermag, liefert das Buch „PositiviSmus und Idealismus" (2 Bde. Berlin 1879 n. 1882) des Straßburger Professors Laas. Die ausführliche Besprechung desselben findet man in meiner Abhandlung „Positivistische Re gungen in Deutschland" (Prcuß. Jahrb. Bd. LII. s. 128 bis 158).
Die moderne Kultur.
39
Zeit zu Zeit immer aufs Neue wieder ventilirte Ansicht erhielt erst durch die neuere Naturforschung eine bestimmter fonnulirte Basis, welche wenigstens der Phantasie einige Anhaltspuncte von wissenschaftlichem Beigeschmack an die Hand gab. Erst durch die neuere Naturforschung erlangte man bestimm tere Vorstellungen über die in der Natur wirksamen Stoffe und Kräfte sowie von der Art und Form ihres Wirkens. Besonders nach zwei Richtungen hin schienen die gewonnenen neuen Auf schlüsse dem philosophischen Erklärungsbedürfniß über alle Erwar tung zu entsprechen. Eine geschickte Hypothese der Physik, welche allen Wechsel der Erscheinungen aus den Kraftwirkungen unendlich kleiner oder ganz unausgedehnter Atome von constanter Natur und bestimmten einfachen Eigenschaften abzuleiten suchte, eröffnete die Aussicht, die unabsehbar vielgestaltige Mannigfaltigkeit der Dinge und Ereignisse auf ein einfaches, leicht verständ liches und völlig durchschauliches Princip zurückzu führen. Die durch sorgsame Beobachtungen in einem immer größeren Umfange constatirte Gesetzlichkeit alles natürlichen Geschehens gab ferner der Hoffnung Raum, im Fortschritte des Erkennens auch die Ereignisse des geistigen Lebens aus den Naturwir kungen zu erklären und sie, wie diese, dem Calcül zu unterwerfen; mithin die bisher vorausgesetzte Unberechenbarkeit der freien Eingriffe des göttlichen und menschlichen Willens in den gesetzlichen Ablauf der Ereignisse als nichtigen Schein auf zuweisen, der vor der strengen Wissenschaft nicht bestehen könne. Das Aufsehen und die Aufregung, welche die Eröffnung dieser neuen Perspective erregte, ist leicht begreiflich. Wenn beide Hoffnungen sich bewährten, so schien das Welträthsel, an dem die Denker aller Zeiten sich bisher vergeblich abgemüht hatten, ja
40
II. Abschnitt.
mit einem Schlage gelöst, und die Lösung war so sicher und ein fach, daß Jedermann sie ohne Schwierigkeit begreifen konnte. Wenn es sich herausstellen sollte, daß die Welt, und alles was darin ist, wirklich nur aus einfachen Atomen bestehe, welche, in einem unendlichen leeren Raume vertheilt, durch gesetzlich geregelte Wechselwirkungen von Ewigkeit zu Ewigkeit zu einem Ganzen ver bunden wären, wenn alles Leben uiib Geschehen sich ohne Rest auf solche Kraftwirknngen der Atome rebuctren ließe, so wäre ja das Ideal aller philosophischen Welterklärung erreicht. Die Wirklichkeit der Welt, wie wir sie wahrnehmen, wäre weiter nichts als das Endresultat aller bisherigen Kraftwirknngen der Atome, welches man gleich allen früheren und späteren Welteonstellationen vorausberechnen könnte, wenn nur die anfängliche Zahl und Lage der Atome und die Gesetze ihres Wirkens als Rechnnngsansätze gegeben wären. Es wäre dann ein einfaches erschöpfendes Prineip gewonnen, ans dem alle Weltwirklichkeit ohne Nest dedncirt wer den könnte. Physik, Mechanik und Mathematik wären dann die obersten, ja die einzigen wahren Wissenschaften, die Wissen schaften par exccllcnce. Die Erscheinungen des sittlichen und reli giösen, des socialen und politischen Lebens würden sich dann nur als eomplieirtere Functionen der Elementarwirknngen der Atome darstellen, welche ihrem Ursprünge und Wesen nach nur insoweit vollständig begriffen werden könnten, als es gelingen würde, sie in ihren coucreten Formen als solche Functionen zu erkennen. Die verlockende Aussicht auf die Erfüllung dieses wissenschaft lichen Ideals übte nun in der That auf einige Gelehrte einen so unwiderstehlichen Zauber ans, daß sie das in der Ferne erglänzende Ziel ohne Bedenken schon für erreicht wähnten, daß sie jene Hypo these der Physik ohne Weiteres als unumstößliche Grundwahrheit anerkannten und all ihren weiteren Specnlationen als Richtschnur unterstellten. Dieses vorschnelle und nnbedachtsame Anerkenntniß enthält und erschöpft den Grundgedanken des Materialismus.
Die niubenie Kultur.
Es ist dies der Gedanke,
41
daß das Ganze der Welt
nichts sei als ein großer Mechanismus, der sich aus den Atomen und deren gesetzlich geregelten Kraftwirkungen zusammensetze,
der, alles idealen Gehaltes und aller Zwecke
baar, nur durch zufälliges Zusammentreffen der Urelemente ent standen sei.
Der Mensch erscheint danach als bloßes Naturprodukt,
alle Erscheinungen des geistigen Lebens nur als resultirende Wir kungen der materiellen Bestandtheile des Leibes, insbesondere des Gehirns, das die Gedanken absondert, „wie die Nieren den Urin". Für die Hoheit und Würde des Sittlichen giebt es in dieser Welt auffassung keine Stelle.
Der Materialismus ist die Negation beS-
sittlichen Lebens. Obwohl der Materialismus sich der wissenschaftlichen Prüfung schon auf den ersten Blick nur als voreilige und unreife Idee darstellt, obwohl derselbe bislang noch keine erschöpfende systema tische Behandlung erfahren hat,
sondern nur in populär-wissen
schaftlichen Schriften dritten und vierten Ranges vorgetragen zu werden pflegt, so fand er doch nicht bloß in den engeren Kreisen der Naturforscher und Gelehrten, sondern in allen Schichten der Bevölkerung eine so ausgedehnte Anerkennung und Verbreitung, wie sie kein anderes philosophisches System auch nur annähernd aufzuweisen hat.
Er sprach das lösende Wort für jene weitver
breitete Glaubenslosigkeit und den Jndifferentismus, Eingangs dieses Kapitels erwähnten.
deren wir
Er bot der inneren Leere
dieses Jndifferentismus die bequeme Formel eines abschließenden Gedankens dar, der mit einem Schlage alle beunruhigenden Zweifel und Scrupel, zugleich aber auch den Grund alles Glaubens und alles Höffens beseitigte, und die eigene degenerirte Gemüthsver fassung der also Denkenden als das allgemeine und normale Schick sal der Menschen,
den sinnlichen Genuß als einziges Ziel der
Sehnsucht und des Handelns erscheinen ließ. Positivismus und Materialismus sind jedoch nur die extremen
42
II. Abschnitt.
typisch gewordenen Grundformen, die sich aus der einseitigen An wendung
der inductiven Methode und dem Bestreben entwickelt
haben, die ganze lebendige Weltwirklichkeit aus einfachen Elementen und Kräften nach Analogie der Naturforschung zu erklären.
Der
Geist des Vorurtheils und der einseitigen Uebertreibung, der jene beiden Auswüchse der philosophischen Speculation hervortrieb, be einflußt das sehr,
ganze wissenschaftliche Denken
daß seine Nachwirkungen fast
der
Gegenwart so
auf allen anderen Wissens
gebieten in mehr oder weniger eigenthümlichen Formen zu Tage treten,
deren gesonderte Hervorhebung
sich
jedoch dem knappen
Rahmen meiner Darstellung entzieht").
Zweites Kapitel.
Ter Kriticismus Kants. Der Idealismus. Pessimismus. Glücklicherweise hat
Der moderne
die Gegenwart neben den im vorigen
Kapitel erwähnten Oberflächlichkeiten und Halbheiten auch ernstere Bestrebungen aufzuweisen, welche auf die Gestattung des sittlichen Lebens nicht ohne Einfluß geblieben sind, wenngleich sie sich mehr auf rein wissenschaftlichem Gebiete bewegen,
und
nur in ihren
Consequenzen auf die Gesammtheit der Gebildeten eingewirkt haben.
*) Selbst das berühmte Werk „Der Zweck im Recht"
von Rudolph
von Jhering hat sich, trotz der idealistischen Grundtendenz des Verfassers, diesem Einflüsse der herrschenden Zeitrichtung nicht ganz zu entziehen ver mocht. Speculation und Empirismus, Jnduction und Construction, finden sich in der charactervvllen Persönlichkeit des Verfassers zu einer eigenartigen Methode verbunden, welche Felix Dahn treffend als „jheringisch" bezeichnet.
43
Die moderne Kultur.
Während der Materialismus die Dinge ohne Weiteres für das nimmt,
als was sie sich der Empfindung darbieten,
ohne
danach zu fragen, was die Empfindung sei? und wie die Erkennt niß der Dinge mit ihrer Hülfe zu Stande komme? eröffnete der Königsberger Philosoph I. Kant seine geistvollen Untersuchungen mit einer umsichtigen Prüfung mögens.
des menschlichen Erkenntnißver
Während der Materialismus nur eine Metaphysik der
Erscheinungen ist, suchte Kant die Bedingungen einer Meta physik des Wirklichen festzustellen.
Es entging dem Scharfsinne
dieses Forschers nicht, daß die Dinge, welche wir wahrnehmen, zunächst
nur Erscheinungen
des subjectiven Geisteslebens
und
daher ihrem Wesen, ihrer Form und ihrem Zusammenhange nach durch die Einrichtung des subjectiven Geisteslebens bedingt und bestimmt sind.
Das Bewußtwerden dieser Thatsachen war für alle
spätere philosophische Forschung
von grundlegender Bedeutung.
Die centrale Stellung des subjectiven Geistes für die Der „Zweck", in dieser farblosen Allgemeinheit ein reines Formalprinzip, wird als alleiniger Schöpfer des Rechts und der Moral hingestellt, das blos „Zweckmäßige" den: Rechten und Sittlichen substituirt, welche durch solche principmäßige Vergewaltigung ihrer Würde und ihres specifischen Gehalts beraubt werden Dem Recht und der Sittlichkeit wird durch die gänzliche Degradirung des Individuums, das in all seinem Thun lediglich durch den Trieb der Selbstsucht bestimmt sein soll, die natürliche Basis entzogen. Um eine neue Grundlage für das Recht und die Moral zu gewinnen, wird mittelst eines Staatsstreichs souverainen Constructionsvermögens die „Ge sellschaft" als Zwecksubject des Rechts und der Sittlichkeit statuirt: die Gesellschaft, die fortan wie ein selbständiges lebendiges Wesen mit eigenen Lebensinteressen behandelt wird. „Wohl und Gedeihen der Gesellschaft" soll alleiniger Zweck des Sittlichen sein. „Sittlich und gesellschaftlich ist gleich bedeutend, alle sittlichen Normen sind gesellschaftliche Imperative." Das Individuum kommt nur als Theil des Ganzen der Gesellschaft in Betracht, es empfängt lediglich von diesem seine sittlichen Nonnen, das Gemein nützige tritt an die Stelle des Rechten und Guten. Die gesellschaftlichen Imperative (Mode, Sitte, Moral, Recht) sollen nicht in der Naturanlage des Menschen begründet, sondern nur „ein Niederschlag der geschichtlich-ge sellschaftlichen Erfahrung" sein. „Der Jntellect wie der Wille des Menschen (die einzigen
als
angeboren betrachteten natürlichen Fähigkeiten)
bringen
44
II. »Abschnitt.
Gestaltung jeder Weltansicht wurde dadurch zum fest stehenden Axiom, der Standpunkt des Beobachters als der einzig zulässige und mögliche Ausgangspunkt der philosophischen Forschung anerkannt. Subjective Erregungen des erkennenden Geistes bilden das einzige der Beobachtung unmittelbar zugäng liche Material, aus dem sich das Bild der Welt allein auferbauen läßt. Sinnliche Empfindungen und Gefühlseindrücke bilden die primitiven Inhalte, welche durch die zusammenfassenden Auf fassungsweisen des Geistes in Verbindung und Zusammenhang gebracht werden. Die letzten metaphysischen Grundbegriffe über das Wirkliche, die Kriterien der Wahrheit und Werthschätzung desselben können für den menschlichen Standpunkt nur in der Ein richtung des menschlichen Geistes begründet sein, sie können nur durch eine sorgfältige Prüfung dieser Einrichtung zum Bewußtsein gebracht werden. Giebt es überhaupt allgemeine und nothwendige Wahrheiten, giebt es allgemein maßgebende Werthkategorieen, giebt es allgemein-verbindliche Grundsätze des sittlichen Handelns, so für das Sittlichc nicht die mindeste Empfänglichkeit mit." Der menschliche Geist ist in dieser Beziehung tabula rasa, „alles Sittliche, das Wissen und Wollen desselben (also auch das Gewissen) ist Product der Geschichte, des geschichtlichen Lebens der Gesellschaft". In der That bleibt der geniale und allzusehr auf sich selbst gestellte Verfasser nicht einmal diesem Grundsätze ge treu, dessen conseguente Verfolgung ihn zweifellos auf deu rechten Weg zu rückgeführt haben würde, denn, er inducirt das, was er unter Recht und Moral versteht, nicht etwa aus einer unbefangenen Betrachtung der histo rischen oder ethnographischen Berichte oder auch nur der der gegenwärtigen Beobachtung sich darbietenden Thatsachen, sondern er deducirt dasselbe aus den selbstgeschaffenen Begriffen des Individuums und der Gesellschaft, bereit höchste Lebensinteressen lediglich durch den farblosen und unbestimmten Be griff des Wohlseins überhaupt bestimmt gedacht werden. Die nahe Verwandtschaft dieser neuen Theorie mit dem englischen Sen sualismus (Locke) ist vom Autor selbst anerkannt. Die eingehendere Beur theilung des übrigens, wie ja von dem Verfasser nicht anders zu erwarten war, höchst geistvoll und anziehend geschriebenen Werkes, welches über die Grenzen Deutschlands hinaus berechtigtes Aufsehen erregt hat, behalte ich mir für eine andere Gelegenheit vor.
45
Die moderne Kultur.
können sie nicht
durch empirische Forschung aufgelesen,
sondern
nur durch das Bewußtsein dessen offenbar werden, was „a priori“ in der menschlichen Geistesanlage gegeben ist. Durch die Eröffnung dieses neuen Gesichtspunkts wurde der Geist
wieder in
seine Rechte
eingesetzt, Gewissen, Vernunft
und religiöses Gefühl wurden principiell als das an erkannt, was sie sind, als die Grundkräfte des mensch lichen Geistes,
als tiefster Jnhaltsquell alles Lebens
und Erkennens. So gewaltig die Macht des Kant'schen Geistes, und so groß die reformatorische Bedeutung dieses neu eröffneten Gesichtspunkts war, so sollte es Kant selbst doch nicht gelingen, die Fruchtbarkeit desselben in jeder Beziehung gleich ergiebig auszubeuten. Nach zwei Richtungen hin konnte er sich von der Tradition der philosophischen Schnlen nicht frei machen.
Zunächst hielt er,
anstatt den Begriff des Wirklichen ans der unmittelbaren Lebens erfahrung zu schöpfen, an dem Begriffe der Substanz, als esties „beharrlichen" Wesens, und an dem Glauben fest, daß alles Wirkliche nur an diesem starren Grunde unveränderlicher Substantialität eine haltbare Stütze finden könne.
Die unmittelbare
Erfahrung bewegt sich nur in dem Wechsel lebendiger Zustände, und schließt jede Möglichkeit aus, einen solchen starren substan tiellen Kern jemals zu entdecken.
Dieses Vorurtheil führte Kant
daher zu der Ansicht, daß die Erkenntniß des inhaltlichen Wesens der Dinge dem Geiste ewig verschlossen bleibe, daß es keine Me taphysik im eigentlichen Sinne gäbe, sondern
daß die Thätigkeit
des wissenschaftlichen Erkennens sich daraus beschränken müsse, die Fülle der Erscheinungen nach den Gesetzen der denkenden Zusammen fassung zu ordnen und zu verstehen.
Es führte ihn zu jener ver-
hängnißvollen Scheidung zwischen der Welt der Erscheinung und der. Welt
der Dinge an sich,
welche das ganze Denken Kants
durchzieht und dessen Endergebnisse mitbestimmt.
Da der eigent-
46
II. Abschnitt.
liche Inhalt und Werth der Dinge nach dieser Ansicht trotzdem nur in ihrem „An sich", nicht in ihrer „Erscheinung" beruhen, und consequenterweise auch im „Ich" ein solcher unveränderlicher substantieller Wesenskern des „An sich" enthalten sein sollte, so ver baute sich Kant, wenigstens im Princip, die rechte Würdigung der sich im subjectiven Geistesleben offenbarenden Inhalte, indem er sein ganzes Augenmerk auf die Formen richtete, in denen jene Inhalte sich in der Erscheinung kundgeben sollten.
Nur die Formen
der Zusammenfassung der Erfahrungsthatsachen wähnte er dem Geiste angeboren, nur diese Formen betrachtete er als die obersten Grundsätze alles Erkennens, Richtung vorschreiben sollten. Auffassung in
den
welche diesem Ziel und
Er fand die Formen der sinnlichen
Anschauungen
des Raumes
uud der
Zeit, die Formen der denkenden Zusammenfassung in den Kategorieen des Verstandes und die Formen der Verdeutlichung des Sinnes und Inhaltes
der Welt in den regulativen Ideen
der Vernunft. Aber nicht blos das Erkennen, sondern auch das sittliche Handeln wurde in der Auffassung Kants durch dieses Formalprincip beherrscht.
Auch
das in der Regel des kategori
schen Imperativ aufgestellte Sittengesetz zeigt im Princip diesen formalen Charakter, und empfing,
wie wir sogleich
sehen werden, seine verbindliche Kraft und seine inhaltliche Er gänzung erst durch die stillschweigend als selbstverständlich voraus gesetzte Würde dessen, was es gebietet. Nach beiden Richtungen hin konnte die Consequenz der Kantschen Gedanken nicht befriedigen.
Weder beruhigt sich der mensch
liche Wissensdrang bei dem principiell gebotenen Verzicht auf alles metaphysische Erkennen, noch kann die Allgemeinheit und Noth wendigkeit der Gesetze des Erkennens und die Verbindlichkeit der sittlichen Gebote aus deren formalem Character, als etwas rein Thatsächlichem, begriffen werden.
Die Energie des Wissens-
47
Die moderne Kultur.
dranges entspringt,lediglich dem Bedürfnisse, Sinn und Be deutung des Wirklichen zu erkennen, und richtet sich unaufhalt sam auf das Verständniß dieses Sinnes, aus dem allein die Allgemeinheit und Nothwendigkeit der zu dessen Realisirung dien lichen Formen und Mittel gerechtfertigt werden kann. Voraussetzung oder Consequenz des
Nur als
Sinnes und Werthes
des
Wirklichen ist die Allgemeinheit und Nothwendigkeit der Gesetze des Wirkens, der logischen Denkformen und der sittlichen Gebote begreiflich. Kant suchte und fand solche Ergänzung, wie schon ange deutet, in dem lebendigen Gefühle der sittlichen Selbstachtung, und in diesem offenbart sich eine andere nicht minder bedeut same Seite
seines Wesens,
aus
der
sich ein zweiter
Hauptstrom seines reformatorischen Wirkens ergoß. Die Reinheit und Tiefe dieser nur aus sich selbst gestellten, von allem schielenden Hinblick auf die dadurch zu erlangenden Vor theile befreiten sittlichen Selbstachtung trat im Geiste Kants mit einer, zwar schmucklosen und einfachen, aber doch so siegesgewissen Macht hervor, daß sie alle Mängel ihrer theoretischen Formulirung durchbrach und überstrahlte, daß sie trotz dieser Mängel ihren Weg zum Herzen aller wahrhaft Gebildeten fand, und hier einen be geisterten und tiefgreifenden Wiederhall erregte, der einzig in seiner Art dasteht.
Mochte die Formel des kategorischen Imperativ
von der Geschichte verurtheitt werden, der Geist des kategorischen Imperativ ist unsterblich, weil er der reinste Ausdruck der sitt lichen Selbstachtung ist, d. h. des Bewußtseins des unbedingten Eigenwerths der sittlichen Bestimmung.
Dieser Geist erhob seiner
Zeit die ganze Deutsche Nation, die ganze gebildete Welt.
Er be
geisterte unsere classischen Dichter zu ihren unsterblichen Schöpfungen, unsere jugendlichen Kämpfer in den Befreiungskriegen zu ihrer selbstlosen und todesmuthigen Hingabe an die Pflicht der Vater landsvertheidigung; er breitete sich zu einer lichten Atmosphäre
48 aus,
II. Abschnitt.
in
der
die Humanität des neunzehnten Jahrhunderts zu
hellstem Glanze
aufflammte,
in
der wir
noch
alle leben und
athmen, denn noch wirkt und lebt er im Herzen aller, denen der reine Pulsschlag des Gewissens oberste Norm ihres Denkens und Thuns ist. perativ
Dieser lebendige Geist des kategorischen Im bildet
noch gegenwärtig den wirksamsten und
edelsten Quell des sittlichen Lebens.
Wir verzeichnen ihn
mit Stolz und Befriedigung unter den Hauptrichtungen des mo dernen Lebens, wenngleich wir uns in Betreff des Umfangs und der Intensität seiner Herrschaft keinen Illusionen hingeben, sondern leider bekennen müssen, daß er noch weit davon entfernt ist, den ihm gebührenden ersten Rang einzunehmen. Die einzig angemessene Form und Consequenz dieses Geistes ist die sittlich religiöse Weltansicht, deren Grundzüge wir im ersten Abschnitte aus den Voraussetzungen des Gewissens zu entwickeln suchten.
Kaut's
eigene Auffassung schloß
sich
hier eng an die
Hauptsätze des rationalistischen Glaubens seiner Zeit,
und
diese
Sätze fanden in der Erhabenheit und dem sittlichen Ernste seiner Gesinnung eine Läuterung und einen Adel, der die von ihnen aus strahlende Befriedigung vollkommen erklärt.
Aber in dieser Auf
fassung Kant's sielen Wissen und Glauben, sittliche Verbindlichkeit und Glückseligkeit in unnatürlicher Weise auseinander, sie konnte eben deßhalb dem nach Einheit in allen diesen Fragen verlangenden Erkenntnißdrange nicht dauernd genügen. Die Schüler und Nachfolger Kant's, die sogenannten großen Philosophen der idealistischen Schule, die Fichte, Schelling, Hegel, verharrten
nicht auf dem resignirten Standpunkte des Meisters.
Die Begeisterung für die Bedeutung des neu eröffneten Gesichts puncts ließ
sie
dessen Schranken übersehen.
Der peripherische
menschlich subjective Standpunct erhöhte sich in ihrer Auffassung zu einem centralen, psychismus.
kosmischen;
Sie erblickten in
der Subjectivismus zum Pan den Anforderungen
und Werth-
Die moderne Kultur.
49
schätzungen der Vernunft und des Gewissens unmittelbare und den Sachverhalt völlig erschöpfende Offenbarungen des Weltgeistes, und glaubten durch deren Verdeutlichung ganz direct die letzten Prin cipien aller Wirklichkeit und alles Geschehens ersassen zu können. Diese Bestrebungen überstiegen in ihrer Form und in ihrem In halt das menschliche Vermögen, und der wissenschaftliche Rein ertrag derselben muß daher mehr als fraglich erscheinen. Aber es heißt den Werth derselben durchaus verkennen, wenn man ihn lediglich in der Haltbarkeit dieses Reinertrages sucht. Derselbe ruht vielmehr theils in der titanischen Großartigkeit der gestellten Probleme und in dem begeisterten Aufschwünge des Fühlens und Denkens, der sich in dem energischen Streben nach deren Lösung kundgiebt; theils in der geistreichen, gcistesgewandten und genialen Art der Auffassung und Darstellung, und in den vielseitigen Anregungen, welche auf den verschiedenen Gebieten des Lebens, der wissenschaftlichen und künstlerischen Thätigkeit von dem Geiste dieser kühnen Systematiker ausströmten. In den Systemen dieser Männer waltet offenbar eine mit dem strengen Ernste gewissenhafter Wahrheitsforschung nicht vereinbare Macht frei-schöpferischer Phantasie, aber diese Macht empfängt ihre Im pulse aus dem Allerheiligsten des Menschenherzens. Es ist die Begeisterung für die in der menschlichen Naturanlage begründeten Keime des Wahren, Guten und Schönen, welche im Bewußtsein ihres unbedingten Eigenwerths sich hier in originellen, mehr künst lerisch als wissenschaftlich gerechtfertigten Schöpfungen ausgestaltet, die alle mehr oder weniger durch den Geist ihres Ursprungs ge adelt sind, und von dem Reichthum menschlicher Gestaltungskraft ein glänzendes Zeugniß ablegen. Der Funke dieser Begeisterung zündete in den Gemüthern der Zeitgenossen und wuchs hier zu einer vielgestaltigen Bildung aus, deren belebendes Centrum jene erquickende Erwärmung für das Sittliche und Religiöse ist, für den tieferen Gehalt und die schöpferische Gestaltungskraft des Sommer, Gewissen und moderne Kultur. 4
50
II. Abschnitt.
wahren Menschwesens, welche in den litterarischen Erzeugnissen der damaligen Zeit manche werthvolle und characteristische Blüthen trieb, um deren frischen Dust wir jene jugendlich aufstrebende Zeit der idealistischen Spekulation mit Recht beneiden können. Jene Systeme waren es besonders, welche die reformatorischen Ideen Kants der allgemeinen Volksbildung vermittelten, und den läuternden Bestrebungen
des philosophischen Denkens einen so
tief- und weitgreifenden Einfluß auf das gesammte Denken und und Fühlen verschafften, welcher fast einzig in der Geschichte da steht.
Dieselben gehören in ihrer ursprünglichen Form zwar der
Vergangenheit an, aber ihre Nachwirkungen reichen noch tief in das geistige Leben der Gegenwart hinein,
und wir durften sie
daher auch hier nicht unberücksichtigt lassen. Aber wir dürfen auch gegen die Fehler jener Systeme nicht blind fein. Daß die angeregte Begeisterung bald verrauschte und einer allgemeinen Ernüchterung Platz machte, lag theils in der Ueberspannung ihrer Tendenz und ihrer Forderungen, theils in der abstracten Natur jener Systembildungen, welche sich einerseits allzu weit von dem Boden der Wirklichkeit entfernten, andererseits für die concreten Gemüthsbedürfnisse der nach einem befriedigenden Abschlüsse in den höchsten Fragen des Lebens suchenden Mensch heit keine greifbaren Anhaltspuncte und Stützen darboten.
Die
Idee der „sittlichen Weltordnung" Fichte's ist zweifellos ein er habener Gedanke, aber ein Gedanke, Begeisterung,
dessen Lebenskraft mit der
welche ihn inhaltlich belebte und seinen Urheber
beseelte, nothwendig erlahmen mußte.
Sieht man von dieser Er
gänzung ab, welche nur in wenigen gottbegnadigten Gemüthern bleibende Wurzeln fassen konnte, so ist er zu schwach, eigenen Füßen stehen zu können.
um auf
Nicht viel anders verhält sich's
mit dem „absoluten Geiste" der Hegel'scheu Philosophie und mit der Schelling'schen „Weltseele".
Was diese genialen Schöpfungen
51
Die moderne Kultur.
belebt, ist der Wiederschein des concreten Inhalts, der sich aus der Fülle des interessanten Details des wirklichen Lebens und des wirklichen Geschichtsverlaufs in dieselben hineinprojicirt, und die Summe der Nebengedanken und Analogieen, welche sie anregen. Der abstracte gedankenmäßige Kern derselben enthält nicht viel mehr als ein geistreiches Spiel mit Formen und Allgemeinbegrisfen, die an sich keinen selbständigen Werth haben. Die Ueberschätzung der Bedeutung solcher Allgemeinbegriffe war nicht neu, sondern eine alte, in der Tradition der philoso phischen Schulen fortgepflanzte Einseitigkeit, die im letzten Grunde auf einer Verwechselung
der subjectiven Umwege, welche das
menschliche Denken braucht, um sich die vorgestellten Inhalte zu verdeutlichen, mit der objectiven Entwickelung dieser Inhalte selbst beruht.
Dieselbe führte in consequenter Erweiterung zu dem ver-
hängnißvollen
Bestreben,
welche sich durch
die
höchsten
fortschreitende
Concreten ergeben,
und
Allgemeinbegrisfe,
Abstraction von dem
im Grunde
die allerärmsten
und inhaltleersten Begriffe sind, wie die der Substanz, des Seins und Werdens, in ihrer Leere und Aklgemeinheit als oberste und letzte Principien der Dinge hin zustellen, während sie in Wahrheit nur Hilfsbegriffe des Denkens und bestimmt sind,
die Uebersichtlichkeit
des Concreten zu erleichtern, und die logische Gliede rung der Gedanken zu ermöglichen. Hierin liegt eine der größten Gefahren des modernen philo sophischen Denkens, die Gefahr der Verödung und Entleerung, welche, indem sie die ganze Weltansicht der Menschen ihrer Werthe beraubt, verflacht und verdirbt,
auch verwirrend und erkältend
aus die sittlichen Vorstellungen und das sittliche Leben zurück wirkt.
Wurden jene abstracte» Einseitigkeiten in den genannten
großen Systemen des Idealismus noch durch die stete lebendige Rückerinnerung an die werthvollen Ziele des Lebens und die viel-
4
*
52
II. Abschnitt.
fachen stillschweigenden Beziehungen aus die inhaltvollen Momente der geschichtlichen Entwickelung, welche den regsamen und reichge bildeten Geist ihrer Urheber erfüllten, verdeckt und ergänzt, so treten dieselben um so unverhüllter in den Lehren Schopen hauers und Eduard von Hartmanns hervor, welche auf der selben Tendenz spcculativer Abstraktion beruhen, aber nicht mehr von der gesunden Kraft idealistischer Begeisterung getragen sind. Es sind ganz leere und handgreifliche Nichtigkeiten, welche hier zu erklärenden Principien des Weltlaufs gemacht werden. Der Schopenhauer'sche „Wille", ein von seinem Subjecte losgelöster und widerrechtlich personificirter Eigenschaftsbegriff, der im Grunde nichts weiter enthält als den in seiner Allgemeinheit ganz unbestimmten und unvollständigen Gedanken des Wirkens überhaupt, soll die Urkraft sein, welche die Erscheinung der Welt aus sich hervortreibt.
Die „innere Leere', welche die Langeweile ver
ursacht", das primum movcns des Weltproceffes. Dem blinden Willen gesellt Hartmann in der willkürlichen Construction seines „Unbewußten" als zweiten Factor des Weltentstehungsproceffes,
die
„logische Idee".
Beide
„Attribute
des Unbewußten" sollen sich ursprünglich im Gleichgewicht und in Ruhe befinden,
bis der
durch unberechenbaren Zufall erregte
„Schmerz des unvernünftigen leeren
Wollens" den Anstoß zur
Weltschöpfung giebt, welche gar keinen anderen Zweck hat, als den bewußtlosen Stillstand im Unbewußten wieder herzustellen, indem durch solche Schöpfung auf einem Umwege in den end lichen Geschöpfen dasjenige erzeugt werden soll, was das Unbe wußte für sich selbst nicht erlangen kann, nämlich Bewußtsein und die Einsicht, daß alle Eventualitäten des Wollens nichtig, die Rückkehr ins Nichts daher das einzig erstrebenswerthe Ziel sei.*) *) Eine ausführlichere Charakteristik der Hartmann'schen Lehren findet sich in meiner gekrönten Preisschrift „Pessimismus und Sittenlehre" 2. Aust. Berlin.
Reimer.
1882.
53
Die moderne Kultur.
Die Schattenseite der entarteten idealistischen Constructionssucht, noch verwässert durch eine rücksichtslose Autoren-Eitelkeit, berührte sich in diesen pessimistischen Phantasiern mit dem Grund gedanken des Materialismus einerseits, und andererseits mit der Verstimmung und Blasirtheit, welche der Jndifferentismus, die rafsinirte Genußsucht und die verschrobene Ueberkultur des Zeit alters vielfach in den Gemüthern erregt hatten.
Theils hieraus,
theils aus der eleganten und piquanten Schreibweise ihrer Ur heber,
erklärt
sich
die
merkwürdige Verbreitung,
Systeme in der neuesten Zeit gefunden haben.
welche diese
Diese Verbreitung
erstreckt sich zwar nicht auf die Art der Begründung und auf die wissenschaftliche Construction, welche zu absurd und abstract sind, um jemals populär werden zu können, aber der in leicht mit theilbaren Schlagwörtern und Sentenzen formulirte pessimistische Geist, den jene Systeme athmen, sympathisirt in bedenklicher Weise
mit
manchen
verkehrten
Richtungen
und ist
ein Krankheitssymptom,
das
achtung
verdient.
Sitz
die
materialistische
Versumpfung
und
Der
eigentliche
Verödung
der der
der Gemüther,
Abstumpfung gegen alle
Volksbildung,
unsere
höchste
Krankheit die
Be ist
epidemische
höhere Regungen
des Lebens, welche in immer erschreckenderem Maße
um sich
greift. In dieser Abspannung, Nervosität und Erschlaffung der Geister liegt die größte Gefahr des sittlichen Lebens der Gegenwart. Wie der Blinde nicht sehen, und der Lahme nicht gehen kann, so kann auch der, dessen Gemüth keine sittliche und religiöse Er hebung mehr kennt, den Werth des Sittlichen und die Beseligung religiöser Begeisterung nicht verstehen und würdigen.
Eine solche
der höheren Weihe und Würde baare Gemüthsart sieht natürlich nur das Platte und Gemeine in der Welt verwirklicht, sie fühlt sich nur in jener niederen Atmosphäre des Lebens behaglich und
reizt zum Protest gegen jede höhere Auffassung desselben, welche sie in ihrem niedrigen Behagen stört. In jenen pessimistischen Systemen vereinigen diesem Abschnitte erwähnten,
sich alle in
der Entfaltung gesunden sittlichen
Lebens feindlichen Kräfte zu einer gemeinsamen Resultante: die Verkümmerung des Gemüthslebens, der Geist des Ma terialismus und die Verherrlichung des abstracten Ge dankens.
III. Abschnitt.
Pie sittlichen Lebensfragen der Hegenwart.
Erstes Kapitel.
Die Haltlosigkeit des Materialismus. Der wirksamste Grund der jetzt so vielfach beobachteten sitt lichen Abspannung und Erschlaffung liegt in der zunehmenden Verbreitung materialistischer Ansichten. Wenn man den Menschen blos als zufälliges Naturproduct betrachtet, das Leben als eine vorüberrauschende Welle, welche der blinde Strom des mechanischen Wirkens auswirft, so entzieht man der verbindlichen Kraft des Sittengesetzes jede Grundlage, Leben selbst allen Werth und alle Weihe.
dem
Wenn es keinen Gott
und keinen Weltzweck giebt, wenn der ganze Weltlauf sich als ein sinnloser Proceß blinden mechanischen Wirkens darstellt, so erscheinen das Gute und Heilige als reine Illusionen.
Es giebt
dann nur noch eine Art von Werthgefühlen mit verständlicher Grundlage, den sinnlichen Genuß; nur eine Art berechtigten Strebens,
den Trieb der Selbstsucht;
Genieße den Augenblick.
nur eine Weisheit:
Es giebt daun keine Moral, sondern
56
III. Abschnitt.
nur noch Regeln der Klugheit, welche lediglich durch Rücksichten des materiellen Wohlseins, der Nützlichkeit und praktischen Zweck mäßigkeit bestimmt werden.
Selbstverleugnung und Aufopferungs
fähigkeit erscheinen dann als krankhafte Ausgeburten der Phan tasie, weil sie der freien Entfaltung eines gesunden Egoismus widerstreiten. Vor allem fehlt es — und dies ist die Hauptsache — dem Egoismus einer solchen glaubenslosen Weltansicht selbst an jedem inneren Halt, der eine sittliche Neubildung möglich machen könnte. Es ist ein haltloser, trostloser und trübseliger Egoismus, blos auf den sinnlichen Genuß gestellt ist.
der
Ueberschlagen wir
einmal, was dem Menschen durchschnittlich Glück und Freude ge währt, was ihn zu thatkräftigem Handeln anzuspornen pflegt, so werden wir bald finden, daß auf den sinnlichen Genuß nur ein ganz kleiner Bruchtheil entfällt.
Die Wurzeln aller wahren Lebens
freude und aller gesunden Thatkraft haften im Uebersinnlichen. Die Befriedigung getreuer Pflichterfüllung, das Glück der Liebe und Freundschaft, die mannichfachen Eindrücke des Schönen, das Mit gefühl und die Freude des Wohlthuns, ja selbst der Ehrgeiz und die Lust des Arbeitens und Forschens, alle diese Gefühle und Motive beruhen auf der Anerkennung einer höheren Bestimmung des Menschen und auf den im ersten Abschnitt entwickelten Vor aussetzungen einer solchen Bestimmung.
Selbst die vielfältigen
Formen des sinnlichen Genusses erhalten ihre besonderen Reize erst durch die Erinnerung und Anknüpfung an höhere Gesichts puncte, welche der Egoismus entwerthet. Es ist offenbar:
der Materialismus würde, wenn er
jemals zur allgemeiuen Anerkennung gelangen und die herrschende Ansicht werden sollte, das ganze Leben der Menschen entleeren, veröden und verwüsten. Schon mehren sich die Anzeichen der wachsenden Verbreitung dieser Irrlehre in Besorgniß erregender Weise.
Vielen gilt es
Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.
bereits für völlig ausgemacht,
57
daß der Glaube an Gott zu den
längst überwundenen Irrthümern einer unmündigen Kindheits periode der Menschheit gehöre, denen man sich längst entwachsen fühlt, welche man als schlaue Erfindungen eigennütziger Priester zu verwerfen, deren man sich auf dem erleuchteten Standpunkte der Gegenwart zu schämen habe.
Das fachwisfenschaftliche An
sehn gewisser naturwissenschaftlicher Celebritäten, in deren Kreisen der materialistische Grundgedanke zuerst Wurzel faßte, ersetzt in den Augen des Laienpublikums
den Mangel der Beweise und
umstrahlt die Keckheit der Behauptungen mit einem Glorienscheine von Unfehlbarkeit.
Es läßt sich gar nicht leugnen, daß der Ma
terialismus die populärste Lehre ist, welche jemals gelehrt wurde. Seine positiven Behauptungen lassen sich in einen kurzen leicht verständlichen Satz zusammenfassen, der zugleich eine große Nega tion in sich schließt; eine Negation, welche das ganze Gebiet des Uebersinnlichen mit einem Schlage beseitigt, in dem mit den Ver anlassungen des Nachdenkens beginnen.
dessen Schwierigkeiten erst
Es ist das eine Lösung des Weltrüthsels, welche
dem Durchhauen des Gordischen Knotens gleicht. Räthsel durch
den Gewaltstreich eines
welches keine Zweifel mehr kennt,
Man löst das
neuen
weil hier alles,
Dogmas, was Zweifel
erregen könnte, dem Spiele eines blinden Zufalls überlassen wird, so daß als wissenswerther Bodensatz nur die einfachen Ele mente der Wirklichkeit übrig bleiben, Kraft und Stoff, die Würfel mit denen der Zufall spielt, und welche er im Verlaufe der Zeit zu
der
unserer
Weltkonstellation
zusammengeschüttelt
gegenwärtigen Beobachtung darbietet.
hat,
welche
sich
Man bringt in
seltsamer Verblendung diesem neuen Dogma dieselbe Gläubigkeit bereitwilligst entgegen,
welche man zugleich den Bekennen: des
alten Glaubens mit dem Fanatismus des Renegaten zum Vor wurf macht. Die Leichtfaßlichkeit der in landläufigen Schlagworten, blen-
58
III. Abschnitt.
benben Analogieen unb
überrebenben Silbern unb Vergleichen
vorgetragenen neuen Lehre begünstigte beren Verbreitung um so mehr, als eine solche negative Aufklärung ber Eigenliebe ber Menschen schmeichelt, inbent sie biefe klüger unb einsichtiger er scheinen läßt als ihre in ben alten Zweifeln befangenen Vorfahren. Das Sebenklichste aber ist, baß eine Lehre, welche ben Grunb ber sittlichen Verbinblichkeit aufhebt, von einem leiber recht großen, unb zwar betn unentwickeltsten unb rohesten Theile ber Mensch heit, zunächst unmittelbar als Befreiung empfunben wirb, weil man, wie ber Mensch im Kinbheitsalter überhaupt, bie sittliche Verbinblichkeit hier meist nur als Zwang empfinbet, ber ber natürlichen Neigung
zu freier Hingabe an bie verführerischen
Reize bes Augenblicks lästige Schranken auferlegt.
Befan,en in
ber Trivialität bieses nichtigen unb verwerflichen Stanbpunkts hat man sich nicht gescheut, ben Glauben an Gott unb bie sitt lichen Einschränkungen, welche bieser Glaube ber Zügellosigkeit eines rohen Lebens auferlegt, als unnatürliche Fesseln zu branbmarken, welche man abwerfen müsse, um ber sogenannten wahren „Freiheit" theilhaft zu werben. So hinfällig alle biefe Scheinargumente sinb, so überrebenb wirken sie boch auf bie große Masse bes mit gesunbem kritischem Urtheil nicht Hinreichenb ausgestatteten Volks, so sehr untergraben sie in stetem Fortschritt besten moralisches Bewußtsein. Angesichts
bieser Thatsachen
kämpfung bes Materialismus
erscheint bie wirksame Be als eine ber wichtigsten
Fragen bes sittlichen Lebens ber Gegenwart. Jnbem wir uns nach ben Mitteln solcher Bekämpfung um sehen, müssen wir zunächst zwei in bieser Richtung eingeschlagene Wege als ganz ungeeignet a limine abweisen. Das Umsichgreifen bes Materialismus erweckte einerseits eine Reaktion, welche sich nun um so ängstlicher unb krampfhafter an bie alten Dogmen mit allen beren trabitionellen Einseitigkeiten
anklammerte; eine Reaktion welche den Glauben des Buch stabens auf ihre Fahne schrieb, und mit der dieser Tendenz eigenthümlichen Blindheit und Kritiklosigkeit nicht nur die Aus schreitungen
des
Materialismus,
sondern
alle
Ergebnisse
der
Wissenschaft verwarf, welche jenem orthodoxen Buchstabenglauben widersprachen. Das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den unleugbaren Er gebnissen der Naturforschung führte andererseits,
in Verein mit
dem Ungeschick, jene mit den Inhalten des Glaubens in Einklang zu bringen,
zu
der verzweifelten
Ausflucht einer
doppelten
Buchführung, welche andere Grundsätze der Wahrheitsforschung für den religiösen Glauben,
andere für das wissenschaftliche Er
kennen befolgt wissen will. Beide Versuche sind an sich unhaltbar und arbeiten nur dem Gegner in die Hände, anstatt ihn wirksam zu bekämpfen.
Jene
Reaktion gleicht dem Benehmen des Vogel Strauß, welcher seinen Kopf in den Sand steckt, um die drohende Gefahr nicht zu sehen. Die doppelte Buchführung aber widerstreitet der Treue und Auf richtigkeit
gegen
Glaubens ist.
sich
selbst,
welche das Haupterforderniß jedes
Ein Glaube kann nur dann echter und wahrer
Glaube sein, und nur dann, und nur insoweit, segensreich wirken, als er gewissenhaft und aufrichtig, d. h. als er wirklich das Endergebniß der Wahrnehmungen und des gewissenhaften Nachdenkens dessen ist, der ihn hat.
Manche Ergebnisse der neueren Natur-
forschung, welche jener kindlichen Form alt-christlicher Auffassung widerstreiten, wie sie der Buchstabe der heiligen Schrift oder des traditionellen Dogma zum Ausdruck bringen, und
sind so
zweifellos,
überdies nachgerade als allgemeiner Bestandtheil der Bil
dung so sehr in das Volksbewußtsein übergegangen, daß es un bedacht und thöricht ist,
ihrem klaren Sinne zu
widersprechen.
Es ist kein Glaube mehr,
welcher der Sonne gebietet,
stehen,
der astronomischen Thatsachen bean-
und
die Wahrheit
stille zu
60
III. Abschnitt.
standet, um die Vorstellung des Himmels nicht zu alteriren, oder die
Allgemeingesetzlichkeit
des
Geschehens,
um
Raum
für
die
Wunderthätigkeit Gottes zu gewinnen; welcher das Allerheiligste seiner Ueberzeugungen an
den leicht zerreißbaren Faden solcher
offenbarer Unrichtigkeiten hängen zu wollen vorgiebt. mehr Selbsttäuschung
mit einer guten Dosis
Es ist viel
Selbstüberredung,
welche in ihren Consequenzen schließlich zur Heuchelei führen.
Es
widerstreitet ferner eben so sehr dem Sinne und Geiste der Wahr heit, wie der durch die Moral gebotenen Verpflichtung zur Auf richtigkeit, wenn man sich einbildet, im Gemüthe etwas glauben zu können, was man ebenso redlich mit dem Verstände bestreitet. Gemüth und Verstand sind zusammengehörige Geisteskräfte ein und desselben Menschen. richtig, kehrt.
Entweder ist der Glaube des Gemüths
und der Widerstreit des Verstandes falsch, Beides ist unmöglich,
Gemüths und selbst ist.
oder umge
wenn der einheitliche Träger des
des Verstandes
wahr und
aufrichtig
gegen sich
Jedenfalls ist ein Glaube nichts werth, dem die klare
Einsicht des Verstandes entgegensteht, und ebensowenig eine Ein sicht, welche uns unglaublich ist. Beide Wege weichen von der graben Bahn ab, welche uns hier Gewissen und Vernunft, sowie das Vertrauen auf die Wahr heit der Voraussetzungen beider, zeichnen.
Wir
müssen
mit fester sicherer Hand vor
allen
Zweiselseventualitäten,
welche die Ergebnisse der Naturforschung anregen, klar und fest ins Auge sehen,
und vorurtheilslos erwägen,
welches Gewicht ihnen beizumessen sei?
welche Modifika
tionen der bisherigen Form unserer sittlich-religiösen Weltansicht durch dieselben etwa herbeigeführt werden? Wäre der Materialismus wirklich das letzte Wort menschlicher Weisheit, so würden wir uns den trostlosen Consequenzen dieser Ansicht wie
nicht entziehen
können.
In der That ist diese Sorge,
sich aus Nachstehendem ergeben wird,
eine unnütze Qual,
Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.
die
wir uns
ßl
durch zu frühes Abbrechen der Untersuchung selbst
zu bereiten Pflegen. Der Hauptgesichtspunkt, der bei der üblichen populär-wissen schaftlichen Behandlung dieses. Themas leider ganz unbeachtet zu bleiben pflegt, ist hier der, daß der Materialismus gar nicht auf gegebenen Thatsachen,
sondern lediglich auf einseitiger Ueber»
schätzung und gedankenloser Erweiterung einer von der Physik für deren besondere Zwecke aufgestellten Hypothese be ruht.
Dieser besondere Zweck ist die Ermittelung der Gesetze des
gegenseitigen
Verhaltens
der
uns
erscheinenden
Körper.
Für
diesen besonderen Zweck hat die Hypothese sich allerdings so vor trefflich bewährt, daß wir mit Grund annehmen dürfen, sie habe die Beschaffenheit der letzten elementaren Bestandtheile der körper lichen Dinge,
insoweit
dadurch deren gegenseitiges for
males Verhalten bedingt ist, rathen.
glücklich
und
sachgemäß
er
Wir dürfen mit Grund als richtig annehmen, daß alle
körperlich erscheinenden Dinge
aus
unendlich kleinen oder ganz
unausgedehnten Atomen zusammengesetzt erscheinen,
welche sich
nach Verhältniß ihrer gegenseitigen Entfernungen in gesetzlich ge regelter Weise mit größerer oder geringerer Kraft gegenseitig an ziehen oder abstoßen. these
als
In so weit können wir also jene Hypo
ganz sachgemäß und richtig gelten lassen,
Geltung erstreckt sich auf alle Fälle,
praktisch zur Anwendung gebracht ist. daher,
und
diese
wo dieselbe von der Physik Unser Streit richtet sich
wie ich zur Abwehr aller Mißverständnisse bemerke,
nicht
gegen die Lehren der Physik und die derselben unterstellten hypo thetischen Annahmen. Der Materialismus
geht
aber nach zwei Richtungen
hin
weit über jene berechtigten Annahmen hinaus. Während jene Hypothese sich wohlweislich jeder Vermuthung über
die
innere Wesensnatur der
gegenseitige Verhalten
Atome enthält,
welche
das
derselben erklären könnte, behauptet der
Materialismus mit dreister Zuversicht, daß solche Wescusnatur in weiter gar nichts bestehe, als tu der Fähig keit, sich in der beobachteten Weise gegenseitig anzu ziehen oder abzustoßen. Während ferner jene Hypothese sich nur mit den körperlich erscheinenden Dingen beschäftigt, und es ganz dahin gestellt sein läßt, was etwa außerdem noch in der Welt vorhanden sein mag, behauptet der Materialismus positiv, daß es in der Welt weiter nichts gäbe und geben könne, als körperliche Dinge und bereit Elemente, als Atome und deren Kraft wirkungen. Beide Erweiternngsversnche des Materialismus sind nicht blos grundlos, sondern nachweislich falsch und widersprechend. Alle Vermnthungen über die innere Wesensnatur der Atome überschreiten das Gebiet der unmittelbaren Wahrnehmung; sie können daher stets nur Vermuthungen sein. Wir können nicht in die Atome hineinsehen und dort die Gründe ihres gegenseiti gen Verhaltens entdecken. Es ist nöthig, daß wir uns bei dieser Gelegenheit die Gren zen des menschlichen Erkennens klar vergegenwärtigen. Wir können nichts unmittelbar wahrnehmen, als was wir selbst sind und in uns erleben, als die Empfin dungen, Gefühle, Vorstellungen und Strebungen, in denen unser Leben selbst verläuft. Wir glauben gewöhnlich, die Dinge außer uns unmittelbar als solche wahrnehmen zu können. Dies ist jedoch nur eine Täuschung, der wir zwar im täglichen Leben alle unbe denklich und ohne Nachtheil folgen, wie wir ja auch vom Aufgang und Untergang der Sonne sprechen, obwohl wir recht gut wissen, daß gerade umgekehrt die Erde es ist, welche sich um die Sonne dreht, bereit wir uns jedoch als einer Täuschung bewußt werden müssen, wenn wir uns im Interesse der wissenschaftlichen Untersuchnng den wahren Sachverhalt verdeutlichen wollen. Sehen
63
Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.
wir genauer zu, was wir eigentlich an den Dingen wahrnehmen, so kommen wir nicht über das Gebiet unserer sinnlichen Empfin dungen hinaus.
Wir nehmen nichts an ihnen wahr als die
Licht-, Schall-, Tast-, Geruchs- und Geschmacksempfindungen, aus denen sich die Erscheinungen der Dinge zusammensetzen, Em pfindungen also, die wir selbst in uns erleben und die wir den Dingen an sich nur irrthümlich beilegen.
Es giebt kein
Licht und keine Farbe, die Niemand sieht, keinen Ton, den Nie mand hört.
Alle Licht- und Schallempfindungen sind nichts als
lebendige Zustände desjenigen Wesens, welches sie sieht und hört; es können keine solche Empfindungen außerhalb der hörenden und sehenden Wesen existiren.
Die Dinge an sich sind färb- und ge
ruchlos, aber sie haben solche Eigenschaften,
daß sie, wenn sie
mit der menschlichen Seele durch die Vermittelung des Leibes in Wechselwirkung treten, in jener stets dieselben bestimmten Empfin dungen des Gesichts und des Geruchs erregen. Jemandem,
So paradox dies
der nicht im philosophischen Denken geübt ist,
auf
die erste Mittheilung hin scheinen mag, so unzweifelhaft ist es. In der Wissenschaft herrscht darüber kaum noch Streit. Das einzige Thatsächliche, was uns unmittelbar gegeben ist, sind daher unsere eigenen Lebenszustände, in denen wir uns unseres Daseins unmittelbar.bewußt werden.
Allein aus der
Art des Auftretens und aus dem Wechsel dieser inneren Erlebnisse schließen wir auf das Dasein anderer Dinge und Wesen außer uns.
Wir können von diesen auf keine andere
Weise Kunde erlangen, als durch die Empfindungen, welche fie in uns erregen. Wenn wir daher philosophische Spekulationen, denn solche find es, über die Dinge außer uns, insbesondere über die Natur der Atome anstellen wollen, aus denen fich die Erscheinungen der körperlichen Dinge zusammensetzen, so müssen wir uns, wenn wir nicht gan; in's Blaue hineinphilosophiren wollen, nothwendig an
64
III. Abschnitt.
jene thatsächliche Grundlage, das heißt an die Vorgänge unseres eigenen Seelenlebens halten. Die eigene Selbstbeobachtung lehrt uns keine anderen Motive kennen, als solche, deren wir in irgend einem Gefühl des Wohl oder Wehe innne werden. Andere Mo tive können wir auch für andere Wesen nicht ersinnen. Wollen wir daher nach Gründen suchen, welche ein Atom antreiben könnten, auf ein anderes zu wirken, so können wir nach der einzig zulässigen Analogie unseres eigenen Seelenlebens auch hier keine anderen vermuthen, als solche, die dem Atome selbst irgendwie empfindlich werden, d. h. ihm wohl oder wehe thun. Wir müssen in den Atomen, wenn wir uns deren Krastwirkungen einmal phi losophisch erklären wollen, eine ähnliche, wenn auch nicht so ent wickelte und komplicirte Reizbarkeit voraussetzen, wie wir sie selbst in der Seele unmittelbar erleben, welche die Seele veranlaßt, auf äußere Anreize mit Gegenwirkungen aus der inneren Natur ihres Wesens zu antworten. Eine solche Reizbarkeit fällt aber zusammen mit dem Be griffe der Lebendigkeit. Wir müssen daher auch in den Atomen ein inneres, wenn auch noch so einfach gestalte tes, Leben voraussetzen, nach dessen Gesetzen sie so auf ein ander wirken, und so von einander leiden, daß ihre gegenseitigen örtlichen Lagen dadurch in der Weise bestimmt werden, wie es die Physik lehrt. Mögen wir nun dieser zwar nicht durch physikalische Experi mente zu beweisenden, aber allein widerspruchslos denkbaren An sicht folgen oder nicht; so viel ist klar, daß der Erklärungsversuch, den der Materialismus an ihre Stelle setzt, durchaus unhaltbar ist. Der Materialismus stellt hier die ganz widersinnige Be hauptung auf, daß die Atome selbst todte Stosfelemente seien, oder todte Punkte, die trotzdem einander anziehen oder abstoßen, d. h. auf einander wirken und von einander leiden sollen. Wirken und leiden kann nur das Lebendige, nicht das Todte. Die
65
Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.
todten Stosfelemcnte des Materialismus sind todtgeborenc Kinder einer über alle Analogieen abstrakten Phantasie.
der Wirklichkeit hinausschweifenden
Wesen ohne
alles Leben und ohne alle
Innerlichkeit können überhaupt nicht wirken, mithin anch nicht sich gegenseitig anziehen oder abstoßen.
In der rein stoff
lichen Natur der Atome des Materialismus giebt es keine Spontaneität, keine Ansatzpunkte einer innerlichen Differenzirung, keine Motive irgend einer Wirksamkeit, kein Prinzip irgend einer denkbaren Veränderung. Das Atom ist vielmehr, so lange sein Begriff nicht durch zutreffende und denkbare Annahmen in der von uns versuchten Weise ergänzt wird, ein gedachtes, kein wirkliches Wesen. Ebenso wenig
aber wie der todte Stoff als Träger d.er
Kraft, kann diese als eine Eigenschaft des leblosen Stoffes gedacht werden.
Die Kraft ist nach der Auffassungsweise des
Materialismus nicht aus dem Wesen des Atoms abgeleitet oder begreiflich gemacht,
sondern nur äußerlich damit verknüpft.
Mit dem Worte Kraft bezeichnen wir einen Allgemeinbegriff, den wir lediglich aus der Beobachtung der lebendigen Vorgänge in uns selbst abstrahirt haben.
Man versteht darunter gewöhnlich
die ganz unbestimmt und dunkel vorgestellte Fähigkeit, welche Veränderungen hervorzubringen, überhaupt zu wirken.
irgend Eine
solche Fähigkeit kann aber nicht als selbständig für sich beste hend, sondern nur als die Fähigkeit eines Wesens gedacht werden, welches sie ausübt.
Speziell in der Physik und Mechanik
versteht man darunter die den Atomen beigelegte Fähigkeit, gegen seitige Ortsveränderungen bewirken zu können.
Die Natur der
Atome muß daher so gedacht werden, daß jene Fähigkeit aus ihr erklärlich und begreiflich ist. Die Physik enthält sich nun, wie wir sahen, aller Annahmen über die wesenhafte Natur der Atome, sie verzichtet hier auf eine Erklärung und läßt jene Natur unbestim int. Si) m m e r, Gewissen und mobenie Kultur.
Der Materialismus [)
66
111. Abschnitt.
behauptet dagegen positiv, daß die Natur der Atome sich in jener nur äußerlich nach ihren Erfolgen charakterisirten Fähigkeit erschöpfe. In der Dreistigkeit dieser dogmatischen Behauptung liegt eben ihr Unverstand. Atoms B bewirken, so merken,
Soll das Atom A eine Annäherung des muß dieses doch irgend etwas davon
daß es angezogen werden soll,
wirkung von A empfangen.
es muß also eine Ein
Es muß ferner eine eigenartige
spezifische Natur und bestimmte Lebensinteressen haben, welche es nicht gleichgültig gegen solche Einwirkung lassen, sondern es be stimmen,
darauf in irgend einer Weise zu reagiren.
Das rein
stofflich gedachte Atom hat aber weder Leben noch Lebensinter essen, es kann weder Einwirkungen erleben, noch Reaktionen da gegen ausüben, es kann also auch nicht die Fähigkeiten tragen, die ihm die Physik beilegt; und umgekehrt kann die Kraft, d. h. die Fähigkeit zum Wirken und Leiden, nicht als seine Eigenschaft gedacht werden. Stoss und Kraft, die Grundbegriffe des Materialis mus, sind daher nachweislich durch eine ihrem eigenen Sinne widerstreitende Erweiterung der gleichbenannten physikalischen Hilfsvorstellungen gebildet. Diese Grund begriffe sind in sich selbst widersprechendundundenkbar. Die Physik nöthigt zu solcher Erweiterung nicht, da sie über haupt nur das äußerliche gegenseitige Verhalten der Atome in's Auge faßt.
Will man jedoch, um das Gebiet des physikalischen
Wissens philosophisch zu ergänzen
und die Hypothesen desselben
zu erklären, sich eine Vorstellung über das eigentliche Wesen der Atome bilden, so kann man diese nur nach der hier allein zu lässigen Analogie des Seelenlebens als lebendige, wenn auch noch so niedrig organisirte Wesen denken.
Dies ist die einzige ge
gründete und widerspruchslos zu denkende Vermuthung, welche wir über die Wesensnatur der Atome aufstellen können, weil diese
Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.
67
allein sich an die thatsächlich gegebene Wahrnehmung anschließt, und daher mehr ist als eine blos blinde Vermuthung. in
der
Geschichte
der
Philosophie,
wiederholt aufgetaucht und
von
wie ich
beiläufig
Sie ist bemerke,
den bedeutendsten Köpfen,
in
Deutschland insbesondere von Leibniz, lebhaft vertheidigt; sie ist vor Kurzem wieder von einem der der Neuzeit,
scharfsinnigsten Philosophen
dem vor zwei Jahren in Berlin verstorbenen Pro
fessor Lotze, in höchst geistvoller Weise begründet. Diese allein haltbare Ansicht führt aber, wie wir schon jetzt sehen,
zu einem dem Materialismus durchaus
Resultate.
Während
entgegengesetzten
dieser das geistige Leben als eine leichte
und selbstverständliche Zugabe aus der Wirksamkeit des Stoffes hervorgehen lassen möchte, wird hier die alleinige Wirklichkeit der geistigen Welt verkündet, und nachgewiesen, wie wohl die mate rielle Welt aus dieser, nicht aber diese aus jener begreiflich ist. Das Gesagte betrifft nur die Grundbegriffe des Materialis mus.
Wie wir nun diese als in sich selbst widersprechend und
undenkbar erkannten, so erscheinen sie auch, wie wir sogleich sehen werden, als völlig unzulänglich,
die große Thatsache der
allgemeinen Gesetzlichkeit aller Atomwirkungen zu be gründen,
welche der Materialismus nichtsdestoweniger in selt
samer Verblendung gerade als eine Consequenz seiner Voraus setzungen hinzustellen sucht, und welche, indem man diese dreiste Behauptung leichtgläubig hinnahm, so wesentlich dazu beigetragen hat, das Ansehen des Materialismus zu erhöhen und zu verbreiten. Kraft und Stoff können keine Gesetze schaffen, und ebenso wenig können Gesetze wie selbständige Mächte für sich sein und gleichsam im Leeren über
den Kraftwirkungen
der
materiellen
Elemente schweben, welche sie nach gewöhnlichem Sprachgebrauche „beherrschen" sollen.
Der Gedanke der allgemeinen Gesetzlichkeit
alles Geschehens, dieser dritte Glaubensartikel des Materialismus, ist ein gestohlener Flicken, der zu dem übrigen Muster des Grund5*
68
III. Abschnitt.
ßciucbes von Kraft und Stoff nicht paßt, der eben so willkürlich als unberechtigt zu den beiden Grundbegriffen von Kraft und Stoff nur hinzu addirt ist, der aber in dem Gesichtskreise des Materialismus weder Hand noch Fuß hat.
Wäre selbst denkbar,
daß neben Kraft und Stoff noch ein selbständiger Kreis allge meiner Gesetze irgendwie und irgendwo existirte, so würden ihm doch
der todte Stoff und die blinde Kraft nicht gehorchen; er
würde eine imaginäre Größe bleiben, mit der ein konsequenter Materialismus gar nichts anfangen könnte. Nur bildlich kann man davon reden, daß ein Kreis von Gesetzen das Geschehen beherrschen solle.
Gesetze können nur
gelten, aber nicht herrschen, und sie können nur da gelten, wo es lebendige Wesen giebt, die ihnen entweder freiwillig, oder unter dem Zwange einer eigenen inneren Wesensbestimmtheit gehorchen. Gesetze können ihrem eigenen inneren Wesen und Sinne nach immer nur der Ausdruck eines Geistes sein, welcher sie gesetzt hat; eines Geistes, welcher in sich selbst einen in neren Maßstab der Ordnung trägt, an welchem gemessen der Wechsel der Ereignisse als gesetzlich oder ungesetzlich, als noth wendig oder zufällig erkannt werden könnte; eines Geistes, dessen Leben durch Interessen geleitet ist, welche darüber entscheiden, was Ordnung und Gesetz sein soll. diger Wesen,
Nur als Vorstellung leben
oder als innere Wesensbestimmtheit deren Natur
können Gesetze bestehen und gelten. Soll daher alles Geschehen in der Welt nach allge meinen Gesetzen verlaufen, und diese Behauptung über haupt Sinn haben,
so können wir als deren gemein
samen Urheber nur ein höchstes geistiges Wesen denken, welches alles Geschehen und alle Gesetze gesetzt, einen Gott, welcher die ganze Weltwirklichkeit aus sich her vorgebracht hat, so können wir als letzte wirksame Elemente der Welt nur lebendige Wesen denken, welche diesen göttlichen
Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.
Gesetzen entweder freiwillig,
69
oder kraft der ihnen von Gott ver
liehenen inneren Naturbeftimmtheit ausnahmslos
Folge leisten.
Anch die allgemeine Gesetzlichkeit der Naturwirkungen, deren Entdeckung wir als die höchste Errungenschaft der neueren Natur forschung preisen, führt, wenn wir sie ihrem Wesen und Ursprünge nach verstehen und begreifen wollen,
ebenso wie jene fruchtbare
Atomtheorie der Physik, nicht zu einem materiellen, einem geistigen Ursprünge
der Welt zurück.
sondern zu
Nur als innere
Consequenz des göttlichen Alllebens ist uns jener allge meine Mechanismus
aller
Naturwirkungen begreiflich;
nur in
einer Welt lebendiger Wesen, nicht in einer Welt todter Materie kann dieser Mechanismus Platz
greisen
und
seine Wirksamkeit
entfalten. Bislang stellten wir uns im Beginn unserer Polemik stets auf denselben Standpunkt,
dessen unbedachtsame Erweiterung
eben zu der Irrlehre des Materialismus führte. Wir folgten der landläufigen Voraussetzung, nahmen über die Wirkungsweise der Kräfte,
daß jene An
wie sie sich in der
Physik allmählich aus Analogieen, Hypothesen und Vermuthungen herausgebildet haben, liche Wahrheit sei.
daß dieses alles eine erste unumstöß Wir richteten
unsere Bemühungen
nur
darauf, eine tiefere Begründung und Erklärung jener als unan fechtbar vorausgesetzten Annahmen zu suchen. absichtlich,
Wir thaten dies
um der Tagesmeinung über diese Dinge gerecht zu
werden und ihr den weitesten Spielraum zu geben, um auf diese Weise den Materialismus auf seinem eigenen Gebiete und mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. In der That machten
wir der gegnerischen Ansicht damit
eine viel zu weit gehende Concession.
In der That ist dieser
Standpunkt ein verkehrter, denn jene Annahmen der Physik sind nicht das Erste und Ursprüngliche, was uns die Wahrnehmung bietet,
sondern sie sind blos Schlußfolgerungen ans solchen
70
III. Abschnitt.
Wahrnehmungen,
und wie alle Schlußfolgerungen dem Zweifel
und dem Irrthum unterworfen. Unerschütterlich wahr und ganz zweifellos sind, wie wir schon gesehen haben, allein die ursprünglichen gei stigen Erlebnisse,
die
Empfindungen,
Gefühle
und
Strebungen, welche wir selbst unmittelbar in uns er leben.
Der Geist in seinem unmittelbaren Fürsichsein
ist daher der einzige feste Grund, von dem jede philosophische Betrachtung ausgehen muß, welche sich auf Thatsachen und nicht auf bloße Hypothesen stützen will; nicht die Welt der körperlichen Dinge, deren Vorstellung der Geist erst im Ver laufe seines Lebens selbst in sich erzeugt, und welche ihm nur in der Form der Vorstellung, nicht in ihrem wahren objektiven Bestände, unmittelbar gegeben ist. Stellen wir uns jetzt auf diesen allein richtigen und sachge mäßen Standpunkt, so ergiebt sich die Unhaltbarkeit des Mate rialismus noch viel schlagender und evidenter. Der Materialismus ist völlig außer Stande, aus seinen nich tigen und widersprechenden Grundbegriffen von Kraft und Stoff auch nur die einfachsten Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle oder Strebungen zu erklären. „Alles*), was den vorausgesetzten Bestandtheilen der äußeren Natur oder denen unseres eigenen KörperZ begegnet,
die Ge
sammtheit aller jener Bestimmungen der Ausdehnung, Mischung, Dichtigkeit und Bewegung, Alles dieses ist völlig unvergleichbar mit der eigenthümlichen Natur der geistigen Zustände, mit den Empfindungen,
Gefühlen und Strebungen,
die wir thatsächlich
auf sie folgen sehen, uud irrthümlich aus ihnen entstehen zu sehen glauben. Keine vergleichende Zergliederung würde in der chemischen Zusammensetzung eines Nerven, in der Ausspannung und Lage-
*) Lohe, Mikrokosmus, Band I. S. 161.
Die sittliche» Lebensfrage» der Gegenwart.
71
rung seiner kleinsten Theilchen den Grund entdecken, warum eine Schallwelle, die ihn mit ihren Nachwirkungen erreichte, in ihm mehr als eine ihr selbst ähnliche Schwingung erzeugen und die bewußte Empfindung eines Tones Hervorrufen sollte.
Wie weit
wir auch den eindringenden Sinnesreiz durch den Nerven ver folgen, wie vielfach wir ihn seine Form ändern und in immer feinere und zartere Bewegungen umgestalten lassen, wir werden nie nachweisen können,
daß es von selbst in der Natur irgend
einer so erzeugten Bewegung liege, als Bewegung aufzuhören und als leuchtender Glanz, als Ton, schmackes wiedergeboren zu werden.
als Süßigkeit des Ge
Immer bleibt der Sprung
zwischen dem letzten Zustande der materiellen Elemente, den wir erreichen können und zwischen dem ersten Aufgehen der Empfin dung gleich nähren,
groß, und kaum wird Jemand die eitle Hoffnung
daß eine ausgebildetere Wissenschaft einen geheimniß-
vollen Uebergang da finden werde, wo mit der einfachsten Klar heit die Unmöglichkeit eines stetigen Uebergehens sich uns auf drängt."
Ganz undenkbar ist,
daß aus anziehenden
oder ab
stoßenden Kräften der Atome des Gehirns jemals eine Empfin dung oder ein Gefühl entstehen könnte.
Diese zusammenwirken
den Kräfte könnten sich nach bekannten mechanischen Principien stets nur zu einfachen Resultanten verbinden,
die sich
ihrer
Qualität nach von den Einzelkräften, aas denen sie zusammen gesetzt sind,
nicht im Mindesten unterscheiden würden.
Denken
wir uns die Atomkräfte in noch so complicirten Bewegungen und Verhältnissen zusammenwirkend, das Gesammtresultat würde doch stets nur in einer Summe bestimmter Ortsveränderungen der Atome des Gehirns bestehen können.
Es würde daraus
niemals ein Moment des geistigen Fürsichseins, ein Ton, eine Lichtempfindung, ein Gedanke oder ein keimender Entschluß entstehen können. Es sind gedankenlose Bilder, welche man gegnerischerseits erfunden hat, um diese einfache Wahrheit zu verdecken,
72
III. Abschnitt.
daß z. B. das Gehirn die Gedanken absondere wie die Nieren den Urin, oder daß der Gedanke im Gehirn entstehen solle, wie die Aeolsharfe ertöne,
wenn der Wind sie durchstreiche.
Solche
absurde Bilder bedürfen keiner Widerlegung, aber sie kennzeichnen die Leichtfertigkeit und Frivolität, mit der man sich hier über die Unmöglichkeit einer Lösung hinweg getäuscht hat. Noch viel unbegreiflicher ist, wie durch anziehende und ab stoßende Atomkräfte eine Vergleichung oder Unterscheidung einfachen Vorstellungsinhalte,
eine Verbindung
der
dieser zu Vor
stellungen und Gedanken, wie endlich vor Allem jene Einheit des Bewußtseins durch dieselben erzeugt werden könne, welche den Geist erst zum Geiste, und ihn fähig macht,
alle jene Be
ziehungen und Vergleichungen auszuüben. Bei der Betrachtung
dieser
complicirteren Vorgänge des
geistigen Lebens verläßt uns erst recht jede Analogie mit den mechanischen Prinzipien, nach denen die Kraftwirkungen der Atome verlaufen.
Während diese sich gegenseitig aufheben und zu ge
meinsamen Resultanten verschmelzen, gleichung und Unterscheidung
werden
bei
der
Ver
verschiedener Empfindungsinhalte
diese als solche unversehrt nach ihrer specifischen Be schaffenheit in der Erinnerung festgehalten,
und das
Charakteristische des Vorgangs besteht darin, daß das verglei chende und beziehende Subjekt, indem es von dem einen zum an deren Eindruck übergeht, sich während des Uebergangs des quali tativen und quantitativen Unterschieds oder der Gleichheit beider in einer neuen specifischen Empfindung bewußt wird.
Solche
Akte der Vergleichung und Unterscheidung sind nur vollziehbar, wenn das Subjekt, welches sie ausübt, nicht blos ein und dasselbe ist, sondern sich auch als solches fühlt und weiß, daß es mit hin die verglichenen Eindrücke in ein und demselben Bewußt sein als seine Eindrücke zu vereinigen vermag. nicht stattfinden,
Sie könnten
wenn es statt des einen Subjektes eine Viel-
Die sittlichen llebeiiSsnigeu der Gegenwart. heit
von
Atomen
wäre,
welche
jene
Handlungen
73 vornehmen
sollte. Da nun der Geist und alle seine Erlebnisse,
also
dasjenige, dessen Wirklichkeit unmittelbar von uns er lebt wird,
und daher das Gewisseste ist, von dem wir
bei allen Untersuchungen ausgehen müssen,
nun und
nimmermehr durch Kraft und Stoss entstehen können, so ist die Unzulänglichkeit dieser materialistischen Grund begriffe klar erwiesen. Wollen wir vielmehr an den
physikalischen Begriffen der
Atome und Kräfte festhalten, so können wir sie nur als Hilfsvorstelluugen von relativer Bedeutung und relativer Geltung be trachten.
Wir dürfen nicht die Thatsachen des geistigen Lebens
durch gedankenlose Erweiterung jener Hypothesen entwerthen, son dern müssen umgekehrt diese Hypothesen Thatsachen einschränken und berichtigen.
nach Maßgabe jener Der Materialismus be
geht hier die doppelte Einseitigkeit, daß er einerseits die wahre Bedeutung jener wichtigen physikalischen Hypothesen ganz ver kennt, und zweitens die Existenz des Geistes leugnet, weil er sie mit den unzulänglichen Mitteln jener von ihm entstellten Hypo thesen nicht erklären kann.
„Unter allen Verirrungen des mensch
lichen Geistes", sagt Lotze sehr treffend,
„ist diese mir stets als
die seltsamste erschienen, daß er dahin kommen konnte, sein eigenes Wesen,
welches er allein unmittelbar erlebt,
es sich
als Erzeugniß einer äußeren Natur wieder schenken zu
zu bezweifeln, oder
lassen, die wir nur aus zweiter Hand, nur durch das vermittelnde Wissen des Geistes kennen, den wir leugneten". Seltsamer noch, abgeschmackter, wie
bisher,
schehens,
und man kann wohl sagen kleinlicher und
erscheint diese Verirrung, wenn wir nicht blos,
die Formen
des äußerlichen und innerlichen Ge
sondern zugleich
auch den Inhalt und die Bedeu
tung dessen in Betracht ziehen, was thatsächlich in uns und
außer uns geschieht.
Während wir bisher nur die Unrichtig
keit des Materialismus erkannten,
tritt bei solcher Erweiterung
des Gesichtspunkts die volle Jämmerlichkeit desselben zu Tage. Schon der oberflächliche Blick in die Gestaltung und Ein richtung
der äußeren Natur muß uns bei einigem Nachdenken
überzeugen,
daß wir es hier nicht mit dem sinnlosen Produkte
blos zusammengerathener blinder Kraftwirkungen rein stofflicher Elemente zu thun haben, und diese Ueberzeugung befestigt und erweitert sich zu klarer Evidenz, wenn wir an der Hand sorgfäl tiger Beobachtung tiefer in die Geheimnisse der Natur eindrin gen.
Die wunderbare Organisation der Pflanzen und Thiere,
ihre Anpassung au die Verhältnisse ihrer Umgebungen, die Zweck mäßigkeit in
dem Bau des ganzen sinnlichen Universums,
die
Vertheilung der Massen und die zusammenstimmenden Bewegun gen der Weltkörper, die Verbreitung und Vertheilung des Lichts und der Wärme,
der Zusammenhang,
die Ordnnng und Zweck
bestimmtheit des Ganzen, Alles dieses und die unabsehbare Menge einzelner Züge besonderer Zweckmäßigkeit, welche den Rahmen dieses Ganzen erfüllen nnd so offenbar sind,
daß sie jeder mit
Händen greisen kaun, liefern uns so unzählige Beispiele von dem allmächtigen Walten einer göttlichen Intelligenz, daß wir unsere Augen schon hartnäckig verschließen müssen, wenn wir uns ihrem überredenden Eindrucke entziehen
wollen,
daß nur eine wissen
schaftlich nicht mehr in Betracht kommende Zweifelsucht sich dem gegenüber auf die nicht in Abrede zu stellende logische Möglichkeit berufen kann, dies Alles sei trotzalledem nur reines Spiel des Zufalls. Die bloße Denkbarkeit entscheidet nicht über die Wahrheit oder Glaublichkeit eines Ereignisses,
denn denkbar ist auch das
Widersinnige, sondern es entscheidet
darüber der Inhalt,
Bedeutung,
die
der Sinn der Thatsachen, welche uns gegeben sind,
damit wir sie durch unser Denken in Beziehung sehen.
Es ist
Die sittlichen Lebensfrage» der Gegenwart.
logisch denkbar,
75
daß ein Buch aus dem zufälligen Zusammen
raffen von Millionen Buchstaben,
eine Symphonie aus der zu
fälligen Verbindung einer Anzahl Instrumente entstanden sei, aber welcher verständige Mensch wird an solche Entstehungsarten glau ben?
Es ist logisch
denkbar, daß Jemand mit zwei Würfeln
Hunderttausendmal hinter einander denselben Pasch wirft,
aber
glaublich ist dies so wenig, daß wir denjenigen, der dies Kunst stück fertig bringt, ganz sicher des falschen Spiels zeihen werden. Wie wir in diesem letzteren Beispiele mit voller Ueberzeugung annehmen, daß wir es nicht mit einem Spiele des Zufalls, son dern mit der versteckten Intelligenz eines falschen Spielers zu thun haben, hat,
der den Zufall corrigirt und die Würfel gefälscht
so müssen wir mit noch viel größerer Ueberzeugung anneh
men, daß die unendlich vielen, noch dazu wiederum untereinander nach allen Richtungen hin zusammenstimmenden, auf verständliche Ziele hinweisenden Regelmäßigkeiten in dem Ablaufe des natür lichen Geschehens und in der Einrichtung der Welt nicht durch eine Reihe wunderbarer Glückszufälle entstanden, sondern daß sie
durch eine allwaltende Intelligenz gesetzt sind, welche eben
durch solche Setzung in allen jenen Fällen das Spiel des Zufalls ausgeschlossen hat. Gewiß giebt es neben den zahllosen Beispielen der Zweck mäßigkeit auch solche Ereignisse, deren Zweckmäßigkeit oder Noth wendigkeit wir nicht einsehen. Dieser Umstand liefert aber keinen Gegenbeweis gegen die Zurückführung der wirklich beobachteten Zweckmäßigkeiten und Regeln auf einen göttlichen Ursprung, denn er erklärt sich einfach aus der Lückenhaftigkeit unserer Ein sicht.
Ausgerüstet mit höchst wunderbaren Kräften des Erken-
nens, stehen wir doch nicht so in dem Mittelpunkte der Welt und des schöpferischen Gedankens, daß wir alle Einzelheiten des Weltlaufs in ihrem Ursprünge und nach ihrem Zwecke begreifen könn ten.
Gebannt aus die Oberfläche eines der vielen Weltkörper,
76
III. Abschnitt.
welche das Universum durchkreisen, beherrschen wir mit den be schränkten Mitteln unserer Organisation im Nerhältniß zum Ganzen der Welt immer nur verschwindend kleine und eng begrenzte Kreise der Beobachtung.
Wir verbinden die Ergebnisse derselben in
mühsamer Arbeit und erweitern stufenweis unseren Blick und unsere Kenntnisse; aber so weit wir auch darin fortschreiten, so werden wir doch nie an das Ziel eines allumfassenden Wissens gelangen, welches nur Gott eignet.
Wir werden den Zusammen
hang des Ganzen stets nur errathen können, und Vieles wird uns räthselhaft und unerklärlich bleiben, was von einem höheren Standpunkte aus als ganz selbstverständlich erscheinen müßte. Wollen wir über dieses
Unerklärliche Vermuthungen aus
stellen, so haben wir keine anderen Anhaltspunkte als den That bestand der erworbenen Kenntnisse, so müssen wir das Muster, welches das Gewebe der empirischen Wirklichkeit zeigt, nach den leitenden Ideen ergänzen, welche wir darin vorfinden.
Waltet
in diesem Muster eine durchgehende Zweckmäßigkeit, so müssen wir sie consequentermaßen auch in den noch unerforschten Ge bieten voraussetzen; um so mehr,
als ohne diese durch die Ver
nunft gebotene Ergänzung die erkannte Zweckmäßigkeit selbst wieder als das größte aller Räthsel erscheinen müßte. Schon die Jedermann offenbare Einrichtung, Ord nung und Zweckmäßigkeit der äußeren Natur vereini gen sich daher zn einem Gesammteindruck,
der den Ma
terialismus in der Auffassung jedes verständigen Men schen
unmöglich
macht,
weil
alles
dieses
nur durch eine
göttliche Intelligenz erklärt werden kann. Größer noch sind die Wunder der menschlichen Geistes,
Welt
des
die Offenbarungen des Gewissens,
der
Vernunft und des religiösen Gefühls.
inneren
Wer diese Thatsachen
nicht sieht, der ist nicht blos kurzsichtig, sondern blind. wirklich solche Menschen,
Gäbe es
so würden wir nicht mit ihnen rechten,
77
Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.
sondern sie nur beklagen.
In der That giebt es bereit nicht,
denn Gewissen, Vernunft und religiöses Gefühl sind, wie wir im ersten Abschnitte entwickelt haben,
die das specifische Wesen des
Menschen constituirenden Grundzüge, den Thieren unterscheiden,
welche den Menschen von
welche wohl,
zeitweise überwuchert und erstickt,
durch andere Interessen
hin und wieder bei einzelnen
Menschen degeneriren, aber nie ganz fehlen. Diese Grundthatsachen finden in
dem Rahmen
des
der
wahren Menschwesens
materialistischen Weltan
sicht keine Stelle. Jeder keimende Entschluß ist eine neue Mahnung, daß jeden Augenblick unleugbar und unwidersprechlich Ereignisse in uns ge schehen,
welche mit keinem materialistischen Maße gemessen wer
den können.
Das Gefühl der Verantwortlichkeit,
Entschluß begleitet, Rechte verfehlt,
die
die Reue, Freiheit
welche ihm folgt, des
setzungen aus denen dieses beruht, handgreiflicher Deutlichkeit,
Gewissens
und
welches jeden wenn er das die Voraus
sie alle sind Thatsachen von
welche der Kraft- und Stofftheorie
des Materialismus Hohn sprechen, Thatsachen und Mahnun gen, gegen welche der Materialismus taub und blind ist. Erst wenn wir den Maßstab dieser höchsten und wichtigsten Thatsachen unseres unmittelbaren Geisteslebens anlegen, erkennen wir den Materialismus in seiner wahren Gestalt.
Alsdann er
kennen wir neben der völligen Haltlosigkeit zugleich die sittliche Verwerflichkeit dieser Lehre.
Gewissen und Vernunft entscheiden
in höchster Instanz über das, was wahr und glaublich ist.
Sie
bilden das Centrum des menschlichen Lebens und sind des Men schen höchste Kraft. nunft ist in
Die Stimme des Gewissens und der Ver
allen lebendig.
Jedermann ist verpflichtet,
den
Mahnungen des Gewissens und der Vernunft zu gehorchen, nur das zu thun, was sittlich, und nur das zu denken, was vernünftig ist.
Für die Vernachlässigung dieser obersten Pflicht des Han-
78
III. Abschnitt.
delns und Denkens ist Jedermann verantwortlich.
An ihr hat
die Freiheit unseres Wollens und unseres Denkens eine Schranke, deren Ueberschreitung unser Thun unsittlich, und unser Denken unvernünftig macht.
Solcher Grenzüber
schreitung macht sich der Materialismus im höchsten Maße schul dig,
indem er die Thatsachen des Gewissens und der Vernunft
selbst leugnet.
Er ist gewissenlos und unvernünftig, und
darin beruht seine sittliche Verwerflichkeit. Es ist der innerste Kern
des Menschen, das Gefühl des
Rechten, Guten und Vernünftigen, das sich in sittlicher Entrüstung aufbäumt gegen die schnöde Vergewaltigung dieser Lehre, welche den Menschen aus seinem Centrum rückt, und ihn zur thierähn lichen Existenz herabwürdigt, indem sie dessen Gesichtskreis auf den sinnlichen Genuß und die Trivialitäten des Lebens beschränkt, welche ihn loslöst aus dem Boden, in den Gott ihn gepflanzt hat, und in dem er allein wachsen und gedeihen kann. Lehre ist falsch,
Diese
unglaublich und unwürdig, sie kann weder vor
dem Richterstuhle der Wissenschaft noch vor dem der Vernunft und des Gewissens bestehen.
Zweites Kapitel.
Die Vereinbarkeit der Ergebnisse der neueren Naturforschung mit der sittlich-religiösen Weltansicht. Die Ergebnisse der Naturforschung beruhen theils auf ur sprünglicher Wahrnehmung, solcher Wahrnehmung. unfehlbar.
theils
auf Schlußfolgerungen
In beiden Beziehungen sind
aus
sie nicht
Die Wahrnehmungen können vervollständigt und er-
gänzt,
die Schlußfolgerungen im Fortschritte des Wissens stets
noch erweitert und vertieft werden. Trotzdem hat sich aus jenen Ergebnissen ein Kern feststehen der
Wahrheit
ausgeschieden,
Stande der Wissenschaft
welcher nach
dem
gegenwärtigen
als unanfechtbar gelten kann,
welcher
gleichsam den sinnlichen Rahmen bildet, in den wir unsere Welt ansicht fassen.
Es ist dies die Vorstellung des sinnlichen
Universums,
welche ihren festen Halt in dem Gedanken des
allgemeinen Mechanismus findet, und ihre inhaltliche Erfüllung in den Hauptlehren der Astronomie, der Physik und der Chemie. Diese Vorstellung ist ein feststehender Bestandtheil unserer Bil dung, und entsteht in allen ganz gleichartig aus der Erinnerung an
concrete Wahrnehmungen,
zweifellosen
aus
Schlußfolgerungen.
feststehenden
Das
sinnliche
Axiomen Universum
und in
dieser wissenschaftlich sundirten Gestalt fixirt sich in unserem Geiste mit
der
können
Evidenz
einer
unmittelbar
erlebten
an dessen Wirklichkeit nicht zweifeln,
wahrgenommenen Thatsachen
Thatsache.
Wir
ohne uns mit den
und den klaren Aussagen unseres
Verstandes in Widerstreit zu setzen.
Eben deßhalb tritt dasselbe
den Thatsachen der apriorischen Veranlagung unseres Geistes mit dem gleichen Ansprüche wie diese gegenüber.
auf Anerkennung
und Berücksichtigung
Wir müssen die etwaigen Zweifel und Con-
flikte, welche sich aus solcher Gegenüberstellung der beiden Haupt gebiete unseres bewußten Erkennens ergeben, in den Kauf neh men,
ohne an dem thatsächlichen Fundamente beider rütteln zu
können. So lange solche Zweifel und
Conflikte
bestehen,
entbehrt
unsere Weltansicht derjenigen Einheit, welche die Voraussetzungen des Gewissens erfordern; so lange ist der Glaube an die Wahr heit der sittlich-religiösen Weltansicht
gefährdet,
sittliche Leben nicht gesunden und gedeihen kann.
ohne den
das
Die Verein
barkeit beider Sphären unseres Erkennens,
der That-
fache des sinnlichen
Universums
Sittengesetzes in uns,
außer
uns
und
des
ist daher eine weitere hochwich
tige Frage des sittlichen Lebens der Gegenwart. Es gilt, nicht blos die Zweifel zu beseitigen, welche sich aus dem Gegenübertreten beider Sphären des Erkennens ergeben, sondern beide Sphären zu dem Ganzen einer abgeschlossenen Welt ansicht organisch zu verbinden, die Vorstellung des sinn lichen Universums
in
ihren
charakteristischen
Grund-
zügen als organischen Theil in die sittlich-religiöse Welt ansicht einzugliedern. Die Zweifel, welche solche Gegenüberstellung anregte, fanden ihren concentrirtesten Ausdruck in der Lehre des Materialismus. Sie sind durch die Widerlegung dieser Lehre im Wesentlichen be seitigt.
Es gilt jetzt, durch die Vereinigung der beiden scheinbar
entgegengesetzten Sphären des menschlichen Erkennens jener Wider legung eine wichtige und unentbehrliche positive Ergänzung hin zuzufügen. Die Arbeit jener Widerlegung nöthigte uns schon im vorigen Kapitel, den Sinn und die Bedeutung der Haupteigenthümlichkciten, welche die neuere Naturwissenschaft an dem sinnlichen Uni versum erkennen lehrte, insbesondere das wahre Wesen der letzten elementaren
Bestandtheile
desselben,
eingehender zu beleuchten.
Schon dort bot sich die Gelegenheit, zugleich die positiven Ansatz punkte einer Zusammengliederung der Weltansicht des Gemüths und der Auffassung des natürlichen Universums herauszuarbeiten. Wir nehmen nur die dort angesponnenen Fäden wieder auf, indem wir unserer weiteren Betrachtung die nachfolgenden Er gebnisse zu Grunde legen. 1) Wir fanden dort, daß der Geist in seinem unmittel baren Fürsichsein das Erste und Ursprüngliche sei, was uns als Grundlage unserer Weltbetrachtung allein that sächlich gegeben ist, daß die ganze Welt der körperlichen Dinge
Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.
sich aus Empfindungen auferbaut,
81
welche wir nach den Con-
struktionsregeln des Denkens und den leitenden Ideen der Ver nunft miteinander verbinden. 2)
Es ergab sich weiter, daß das lebendige Fürsichsein
das Wesen aller Realität ausmache,
daß mithin auch die
letzten Bestandtheile der leblos scheinenden Massen nur nach Ana logie des eigenen Geisteslebens als lebendige fürsichseiende Wesen zu denken seien. 3) meine
Es ergab sich endlich,
daß die beobachtete
allge
Gesetzlichkeit aller Naturwirkungen, und alles
Geschehens überhaupt, nur als innere Folgerichtigkeit eines allumfassenden göttlichen Lebens gedacht werden könne. Diese Einsichten werfen ein Helles Licht des Verständnisses in unsere Ausfassung der natürlichen Welt, welches nicht nur die materialistischen Zweifel verscheucht, sondern zugleich den tieferen geistigen
Grund erkennen läßt, ans dem die Erscheinung des
ganzen sinnlichen Universums beständig hervorwächst. zieht sich dadurch eine völlige Umwälzung tungsweise der Dinge.
Während nach
Es voll
in unserer Betrach
gewöhnlicher Auffassung
die breite Massenhaftigkeit der körperlichen Dinge, welche unseren Gesichtskreis erfüllen,
als der feste objektive Grund erschien,
an
den unser geistiges Leben wie eine Art Nebenprodukt geknüpft erschien, während wir, auf diesem allen gemeinsamen Boden der Außenwelt stehend, in unser geistiges Leben gleichsam nur wie in eine vorüberziehende Lichtwolke von Außen hineinzublicken schienen, hat sich der Standpunkt unserer Beobachtung jetzt nahezu umge kehrt.
Der feste Grund der uns scheinbar umgebenden Außen
welt hat sich in einen Erscheinungscomplex aufgelöst,
auf dem
nicht wir stehen, sondern der in uns steht, und nur in uns seine Erscheinungswirklichkeit hat. Sommer, Gewissen und moderne Kultur
Der Schwerpunkt der Wirkß
82
III. Abschnitt.
lichkeit ist aus der Erscheinungswelt in das lebendige Fürsichsein der anschauenden Wesen gerückt, der Standpunkt des Beobachters aus der scheinbaren Außenwelt in das reale Centrum des er kennenden Geistes selbst.
Das Leben erscheint nicht mehr wie ein
beiläufiges Nebenprodukt des natürlichen Geschehens, sondern als die Hauptsache und der Zweck, um dessen Hervorbringung es sich wesentlich handelt, dem gegenüber alles natürliche Geschehen und aller Mechanismus Mitteln erscheint.
nur als
ein untergeordnetes System von
Nicht gleichgültiges Appendix eines objektiven,
blind und zwecklos verlaufenden Ereignißstroms sind unsere Em pfindungen.
Wir sehen, hören, riechen, schmecken und tasten auch
nicht deshalb, um nach den Ursachen solcher Erscheinungen in einer hypothetischen Außenwelt zu forschen, sondern in diesen Empfindungen, welche die Dinge in uns erregen, besteht eben das Wesen des Gesehenen,
Gehörten und Getasteten für uns,
und wir sollen dasselbe in dieser phänomenalen Form zum Aufbau unserer Vorstellungswelt, zur Gestaltung, zur Arbeit und zur Freude unseres Lebens such- und zweckentsprechend verwerthen. In den Empfindungen, und in allen sonstigen Momen ten lebendigen Fürsichseins, welche durch den Lauf der Natur in uns und in allen übrigen Wesen erregt werden, wird
das Wirkliche erst wirklich, blüht es
erst auf zu
voller lebendiger Existenz. Unter dem Eindrücke dieses geistig vertieften und allein rich tigen Gesichtspunkts zeigt uns auch das sinnliche Universum eine ganz veränderte Physiognomie.
Es hat nun jene starre Hülle
abgeworfen, welche in uns den Eindruck des Todten und Stoff lichen erweckte und jede Möglichkeit einer Vereinbarkeit desselben mit der geistigen Idealwelt auszuschließen schien.
Wir ahnen
jetzt, wie der Pulsschlag des Lebens alles Wirkliche durchdringt, wie er selbst im Innern der Atome schlägt,
welche die leblos
83
Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.
erscheinenden organischen Massen constituiren.
Alles Wirkliche ist
für sich und lebendig, leblos und stofflich sind nur die Erschei nungen der Dinge in der Auffassung der lebendigen Wesen. Das todte Universum verwandelt sich in ein lebendiges,
das sinnliche
in ein geistiges. Aber so vielversprechend die sich von solchem Standpunkte aus eröffnende Perspektive ist, sie hat uns noch nicht zu dem Ziele geführt, das wir hier erstreben müssen. Dieser idealistischen Ansicht der Dinge fehlt noch das Schlußglied,
dem Anblicke des
vergeistigten Universums
und
schluß.
der Zusammenhang
Zusammen
Das Leben erglimmt, wenn wir es blos von dem bisher
eingenommenen subjektiven peripherischen Standpunkte betrachten, in unendlich vielen einzelnen Punkten und Pünktchen.
Das Uni
versum gleicht, von hier aus gesehen, noch einer unendlichen Viel heit fürsichseiender lebendiger Wesen, welche pluralistisch ausein ander zu fallen scheinen.
Wir müssen noch einen höheren, um
fassenderen Standpunkt zu gewinnen suchen. Wir müssen fragen: Wo bleibt hier die vorausgesetzte Einheit des Universums?
Wie
verträgt sich die Vielheit der Atome und selbstbewußten Geister, welche uns Erfahrung und Wissenschaft zuerst erkennen lehren, mit der von dem Gewissen postulirten Vorstellung Gottes? Wir selbst und alle sonst noch in unsere Beobachtung fallende Geschöpfe sind abhängige Wesen; alle sind von einander gegen seitig abhängig, insofern alle mit einander in einer continuirlichen Wechselwirkung stehen.
Die gegenseitige Wechselwirkung
bildet
das gemeinsame Band, welches die uns wahrnehmbare Welt zu sammenhält.
Was durch dieses Band nicht mit umfaßt wird,
liegt außer der Welt und unserer Beobachtung.
Wir können nur
eine Welt begreifen und von einer Welt reden, welche durch dieses gemeinsame Band zusammengeschlossen wird.
Bildet die Welt
eine Einheit, so kann sie nur durch dieses gemeinsame Band der
6
'
84
III. Abschnitt.
Wechselwirkung vermittelt werden,
so kann sie nur in der Ein
heit dieses Bandes sich verwirklichen.
Der Begriff der Wechsel
wirkung
muß uns
den Schlüssel zum Verständniß der
Einheit der Welt liefern. Wir müssen uns daher vor Allem klar darüber werden, worin die Wechselwirkung besteht, was sie ist und bedeutet? Die Denkbarkeit und erklären,
war
den Hergang der Wechselwirkung zu
das wichtigste Problem der neueren Philosophie,
dessen Bedeutung um so mehr erkannt wurde,
je enger sich die
wissenschaftliche Forschung an das Gebiet des unmittelbar Gege benen anschloß.
Vor dem tieferen Nachdenken konnte die gewöhn
liche Vorstellung eines wirklichen Ueberganges der Wirkung von dem
einen Wesen
auf das
andere nicht bestehen.
Die veran
lassende Ursache in dem einen Wesen a sowohl, wie das in dem anderen Wesen b zu erzielende Resultat der Wirkung können stets nur als Zustandsänderuugen der betreffenden Wesen gedacht wer den.
Es ist aber unmöglich, daß die Zustandsänderung des einen
Wesens a unmittelbar auf das andere b übergeht, denn ein Zu stand eines Wesens kaun sich ebenso wenig von diesem loslösen, und losgelöst von ihm für sich sein, wie ein Gedanke außerhalb des Geistes, der ihn denkt,
oder ein Zahnschmerz außerhalb der
Seele dessen, der ihn fühlt.
Er könnte, selbst wenn dies Undenk
bare denkbar wäre, als losgelöster freischwebender Zustand nicht die Richtung auf b finden, dort ankern und eine correspondirende Zustandsänderung des anderen Wesens b werden. influxus physicus ist eine
den Begriffen
Der sogenannte
des Wesens
Wirkens durchaus widersprechende Vorstellung.
und
des
Ebensowenig ge
nügt die in verschiedener Weise versuchte sogenannte occasionalistische Erklärung,
daß dem Zustande des a der correspondirende
Zustand des b nach einem die Veränderungen in beiden Wesen, entweder für den besonderen Fall oder nach allgemeinen Gesetzen, ordnenden göttlichen Machtgebote blos thatsächlich folge,
so daß
Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.
85
die Wirkung in b nur gleichsam bei Gelegenheit (occasione) der veranlassenden Ursache in a stattfinde. Eine solche Vorstellung hebt den Begriff des Wirkens der endlichen Wesen ganz auf, und läßt diese der Allmacht Gottes gegenüber als reine Automaten erscheinen, welche nicht selbst leben und wirken, sondern in denen von Gott gelebt und gewirkt wird. Es stellte sich immer deut licher heraus, daß der Begriff der Wechselwirkung mit der Vor stellung absoluter Selbständigkeit oder Substantialität der Einzel wesen unvereinbar sei, daß man den Begriff der Wesen modificiren müsse, um die thatsächlich geschehende Wechselwirkung der selben zu begreifen. Hermann Lohe fand hier das Richtige, indem er den Begriff des Wesens nicht nach den in der Tradition der philosophischen Schulen üblichen Vorurtheilen, sondern lediglich nach dem Ergeb nisse der unmittelbaren Selbstbeobachtung bildete, indem er mit sicherem Scharfblick erkannte, daß nicht die absolute Selbständigkeit oder Beharrlichkeit, sondern das Fürsichsein das zutreffende Cha rakteristikum der Realität und Wesenhaftigkeit sei. Alle durch Wechselwirkung mit einander verbundene Wesen stellen sich nach dieser Auffassung als relativ selbständige und doch fürsichseien de, also reale Momente in dem Leben einer sie alle um saffenden und in sich hegenden Substanz dar, welche den einheit lichen und alleinigen wesenhaften Kern aller bildet, indem sic allein die Verwirklichungsbedingnngen aller in sich vereinigt. Im Lichte dieser Auffassung klärt sich erst der Begriff der Wechsel wirkung, welche nun nicht mehr als ein Ueberspringen von einer Substanz aus die andere, sondern als ein continuirlicher auf ein und demselben einheitlichen substantiellen Grunde verlaufender Strom des Wirkens gedacht werden kann. Jede Zustands änderung des einen Wesens a ist danach zugleich eine Bewegung jenes ganzen einheitlichen substantiellen Welt grundes, welche in allen übrigen Wesen, das ist in allen
86
III. Abschnitt.
übrigen Momenten substanz,
des Fürsichseins jener einen Welt
stärker ober schwächer wiederklingt,
und hier
die eorrespoudireuden Wirkungen erregt. Diese Erklärung,
welche ich nicht anstehe,
als eine der be
deutsamsten und folgenreichsten Errungenschaften der neueren Phi losophie zu bezeichnen, beseitigt nicht nur die bisherigen Schwierig keiten in betn Probleme der Wechselwirkung, sondern enthält zu gleich
die Beantwortung unserer Frage,
wie die Vielheit
der
Atome und selbstbewußten Geister mit der vorausgesetzten Einheit Gottes vereinbar ist.
Ja, sie eröffnet uns vom empirischen Stand
punkte aus einen neuen Weg zum Verständniß der begrifflichen Natur des höchsten Wesens,
dessen confequente Verfolgung uns
dieses als persönlichen Gott erkennen läßt,
und somit direkt zur
Versöhnung der Resultate des naturwissenschaftlichen Erkennens und der Grundvoraussetzung des Gewissens führt. und
Sie erweitert
erleuchtet zugleich unsere theoretische Einsicht in
hältnisse
die Ver
der Einzelwesen zu einander und zu Gott und unsere
ganze Weltauffassung in einer Weise, wie es keiner früheren Phi losophie gelungen ist. Ueberlegen wir uns nur, wie wir uns das eine absolute Weltwesen zu denken haben, wenn es das leisten soll, was es nach dieser Erklärung der Wechselwirkung that sächlich in jedem Augenblicke überall leistet? Ist, wie die Erklärung voraussetzt, das Fürsichsein der allge meine Charakter der Realität, so sind die einzelnen Wesen in um so höherem Grade real, je umfassender und in sich zusammen hängender
das Bewußtsein
derselben
und vielfältiger die Momente sind,
sich
gestaltet.
Je reicher
in denen ein Wesen für sich
ist, je mehr es dieselben in der Erinnerung festzuhalten, und je einheitlicher
es
dieselben
unter einander zu verbinden und zur
Voraussicht des Künftigen zu verwenden vermag,
um so fester
steht es auf seinen eigenen Füßen in sich selbst gegründet da, um
87
Die sittliche» Lebensfragen der Gegenwart.
so
wirksamer wird es in dem Gesammtprocesse des Geschehens
sich selbst erhalten und seine Individualität geltend machen. Die höchste denkbare Form der Realität und
des Wesens
begriffs ist daher die der Persönlichkeit. Persönlich nennen wir nach allgemeinem Sprachgebrauche ein Wesen, das die wechselnden Zustände seines Lebens in größerem Umfange in der Einheit ein und desselben Bewußtseins zu ver einigen vermag, das bestimmte constante Bedürfnisse und Inter essen hat,
und über den Moment der Gegenwart übergreifende
Zwecke verfolgt, nach denen sich die Richtung und Entwickelung seiner
Lebensthätigkeit
bestimmt.
Wir selbst
sind
persönliche
Wesen, aber wir sind des Charakters der Persönlichkeit nur in sehr beschränktem Maße theilhaftig.
Nur in engem Gesichtsfelde umfaßt
unsere Aufmerksamkeit die Eindrücke der Gegenwart und die sich daran knüpfenden Erinnerungen des Vergangenen und Vorerwägun gen des Künftigen. Viele Erlebnisse entfallen unserem Gedächtnisse ganz, viele können wir im Momente der Willensentscheidung entweder gar nicht, oder doch nicht mit der nöthigen Klarheit und Inten sität zur Mitwirkung herbeiziehen.
Die Consequenzen der gegen
wärtigen Vorstellungen können wir meist nur mangelhaft voraus sehen, weil unsere Kenntnisse lückenhaft, unsere Ueberlegungen und Schlußfolgerungen unvollständig sind.
Unsere wahren Interessen
und die Zwecke, welche uns in Augenblicken ruhiger Sammlung als die wichtigsten erscheinen, kommen daher in der Entwickelung und Bethätigung unseres Lebens immer nur mehr oder weniger unvollständig zur Geltung.
Aber je einheitlicher und fester ge
gliedert wir unser Leben durch Energie,
Uebung und Selbstbe
herrschung in allen jenen Beziehungen gestalten, in tun so höherem Grade gebührt uns das Prädikat der Persönlichkeit. Der Grund der Schranken,
denen der Begriff der Persön
lichkeit in uns unterworfen ist, liegt vor Allem in der Unselbst ständigkeit unserer Natur.
Unsere Naturanlage ist uns gegeben,
88
III. Abschnitt.
wir bringen sie nicht selbst hervor.
Ebenso werden uns die Ein
drücke gegeben, welche in unabsehbarer Vielgestaltigkeit in jedem wachen Augenblicke unseres Lebens auf uns einwirken und den Wechsel der Empfindungen in uns erwecken, ans denen in allmählig geordneter Entwickelung das Bild unseres eigenen Wesens und der uns umgebenden Außenwelt in uns entsteht.
Unsere
Persönlichkeit bildet sich durch den Gegensatz zu einer Außenwelt und unter beständiger Mitwirkung deren erziehender Einflüsse. Die Vorstellung unseres eigenen Wesens und der uns umgeben den Außenwelt würd mehr durch Einwirkungen unserer Umgebung in uns gewirkt, als daß wir sie selbst erschaffen.
Wir alle unter
liegen in bereit Gestaltung dem gemeinsamen Zwange außer uns vorhandener Faktoren, und es erklärt sich nur daraus,
daß die
Weltbilder aller Menschen sich in ihren Grundzügen decken und nur in geringen Einzelnheiten abweichen.
Nur in der späteren
wissenschaftlichen Ausgestaltung unserer Weltansicht tritt die Spon taneität menschlicher Geistesthätigkeit deutlicher hervor. Es ist jedoch offenbar, daß diese Schranken, denen der Be griff der Persönlichkeit in uns unterliegt, nicht in dem Be griffe der Persönlichkeit als solchem, sondern nur in unserer specifischen Wesensnatur, belegen sind.
Das Ideal des Persön
lichkeitsbegriffs, der Begriff vollkommener Persönlichkeit, würde sich erst in einem Wesen erfüllen, das sich nicht blos einer absoluten
Selbstständigkeit erfreute, sondern das zugleich
alle von ihm selbst
hervorgebrachte Momente seines
Lebens in lückenloser Erinnerung festzuhalten, und alle in der Einheit eines allumfassenden Bewußtseins zu vereinigen vermöchte,
dem zugleich alle Consequenzen
seiner Lebensinhalte in allen Richtungen klar durchschaulich und gegenwärtig wären.
Einem solchen Wesen
würde die Realität, das Fürsichsein und die Persönlichkeit, deren wir nur in sehr beschränktem Maße theilhaftig sind, in vollem
89
Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.
und ganzem Sinne zukommen; ein solches würde selbstverständ lich auch nicht des Gegensatzes
einer Außenwelt und deren er
ziehender Einflüsse bedürfen, welche wir als abhängige Wesen nöthig haben, um zum persönlichen Selbstbewußtsein uns empor zuarbeiten. Ein solches Wesen kann vielmehr schon seinem Begriffe nach nur eines sein, denn sonst wäre es ja nicht absolut selbst ständig und unabhängig, mithin nicht vollkommene Persönlichkeit. Wenn dasselbe daher die Wesenhaftigkeit der Welt auf eine uns natürlich unbegreifliche Weise aus sich erzeugt, so ist es auch der allumfassende alleinige Grund dieser Welt. Nur dieser höchste vollkommene Begriff des Wesens,
nur
der Begriff vollkommener Persönlichkeit genügt unserer Vorstellung Gottes, insofern wir Gott als den realen Grund aller Weltwirklichkeit betrachten. Nur eine solche Vorstellung Gottes erklärt die Thatsache der allgemeinen Wechselwirkung aller Wesen.
Nur wenn alle Wesen
Momente des göttlichen Fürsichseins, und alle in einem einheit lichen Bewußtsein umfaßt sind, nur wenn dieses göttliche Be wußtsein selbst ein allumfassendes, einheitliches und in sich consequentes Bewußtsein ist, können alle Zustände in allen Wesen, welche den Bestand der Welt ausmachen, in einem solchen gegen seitigen Zusammenhange stehen,
daß jeder Ursache ihre Wirkung
folgt, und alle Arten und Formen des Wirkens einer einheitlichen allgemeinen Gesetzlichkeit unterliegen. In dieser Vorstellung Gottes löst bare Gegensatz zwischen Vielheit der
realen
sich der schein
der thatsächlich
fürsichseienden
beobachteten
Einzelwesen
der vorausgesetzten Einheit der Welt.
und
Die Realität der
endlichen Wesen besteht in deren Fürsichsein und reicht nicht weiter als dieses. Aber das Fürsichsein aller ist kein unbedingtes, sondern nur ein relativ selbständiges.
Sie alle sind abhängig
von einander und von Gott, als ihrem gemeinsamen substantiellen
Grunde, welcher sie alle in sich gesetzt hat, welcher sie alle als seine Geschöpfe in sich hegt und trägt.
Sie sind nicht entlassen
und losgelöst von dem gemeinsamen göttlichen Urgründe, sondern leben, weben und sind nur in diesem.
Nur dieser einheitliche
göttliche Grund gewährt ihnen die Möglichkeit der Existenz und bedingt die Arten und Formen ihres Wirkens, ihres Lebens und ihres gegenseitigen Zusammenhangs.
Nur innerhalb dieser ge
gebenen Grenzen ihrer Existenz und Wirksamkeit liegt der Spiel raum ihres Willens und die Möglichkeit ihres Vollbringens,
an
ihnen findet all ihr Wollen und Vollbringen eine unaufhebliche Schranke.
Diese Schranke ist aber zugleich der positive Grund
ihrer Wirklichkeit und das gemeinsame Band, welches sie alle zu einem Ganzen verknüpft, welches ein gegenseitiges Zusammen wirken aller möglich macht, und die Eingliederung aller in das Ganze der Welt und des Weltprocesfes bestimmt. Es kann bei oberflächlicher Betrachtung scheinen, als streife diese Auffassung hart an die Grenze des Pantheismus, als sei damit die Wirklichkeit der endlichen Wesen unvereinbar,
als sei
in der That danach Gott das einzige Wirkliche und das allein Wirkende in allen Wesen, als sei damit alle Selbständigkeit und Individualität der Einzelwesen völlig aufgehoben. spricht jedoch mit zweifelloser Evidenz
Dem wider
der Thatbestand der
unmittelbar gegebenen Erfahrung.
Unser eigenes unmittel
bares Fürsichsein ist das Gewisseste und Unzweifelhafteste, dessen Wirklichkeit sich nicht bestreiten läßt, von dem vielmehr alle Unter suchung ausgehen muß, das durch keine Vorurtheile oder Schluß folgerungen irgend welcher Art in Frage gestellt werden kann. Wir fühlen und erleben in uns unmittelbar, für uns
sind,
daß und wie wir
daß wir innerhalb der gegebenen Schranken frei
wollen und denken können,
daß unsere Realität eben in diesem
lebendigen
besteht und
dieses.
Selbstbewußtsein
ebensoweit reicht
als
Die unsere Existenz bedingende, unsere Wirksamkeit und
Die sittlichen Lebensfragen der Gegenwart.
91
unser Denken in bestimmten Richtungen leitende und formende Mitwirkung Gottes widerstreitet unserem Fürsichsein und unserer individuellen Lebensthätigkeit durchaus nicht, sie hebt unser indi viduelles persönliches Sein und Leben nicht aus, sondern ermög licht und begründet es nur in allen hier fraglichen Beziehungen. Dieser Thatbestand ist geeignet, unsere Bewunderung der Weis heit des Schöpfers in höchstem Maße zu erregen, aber die Unerklärlichkeit seines Zustandekommens ist kein achtbarer Grund seine Wirklichkeit zu bezweifeln,
denn wir besitzen nun einmal keine
erschöpfende Kenntniß der Psychologie des göttlichen Wesens und sind außer Stande, eine solche jemals zu erlangen.
Wir stehen
mit unserem Bewußtsein nicht in dem Mittelpunkte der Welt und des schöpferischen Gedankens,
dem dieselbe ihre Entstehung ver
dankt, sondern irgendwo in den äußersten peripherischen Veräste lungen ihres Baues.
Der Anblick des Weltganzen der uns von
hier aus möglich ist, führte in konsequenter Verfolgung und Ver bindung aller thatsächlich gegebenen Anhaltspunkte zu jener Auf fassung,
in welcher die durch die Unzulänglichkeit aller anderen
Erklärungsversuche angeregten Zweifel ihre Lösung fanden. Mag uns
daher auch der Verwirklichungsproceß
desjenigen Thatbe
standes, welchen jene erkennen lehrte, unerklärlich sein wie die letzten Entstehungsgründe alles Thatsächlichen;
es genügt vor
läufig, und wir müssen schon damit zufrieden sein, daß jene Auf fassung den gegebenen Thatsachen in jeder Beziehung Rechnung trägt,
in
sich selbst verständlich, und widerspruchslos zu den
ken ist. Wir erkennen jedenfalls,
daß diese Auffassung nicht zum
Pantheismus sondern zum Theismus führt, zu einem Theismus in reinster und höchster Form.
Sie giebt uns eine würdige Vor
stellung Gottes, und macht uns begreiflich, wie Gott in der That als einziger substantieller Grund alles Wirklichen zu denken sei. Sie anerkennt die relative Selbständigkeit der individuellen Ge-
HI. Abschnitt.
92
schöpfe, und läßt sie doch als in Gott gegründet erscheinen. vereinigt
Sie
den Gedanken des allgemeinen Mechanismus mit der
sittlichen Freiheit der Individuen. den göttlichen Bewußtseins,
Die Einheit des allumfassen
die Allgegenwart, die Allmacht und
Allweisheit Gottes erscheinen von diesem Gesichtspunkte als noth wendige Conseqnenzen desjenigen Thatbestandes, welchen Erfahrung und Wissenschaft in ihrer höchsten Entwickelung als wirklich er kennen
lassen.
Das
Verhältniß
der
endlichen Wesen zu Gott
stellt sich hier als ein dem religiösen Gefühl in jeder Beziehung vollkommen entsprechendes dar.
Alle Wesensbestimmtheit der In
dividuen, die ganze Naturanlage derselben,
erscheint danach als
freies Geschenk göttlicher Liebe und Gnade.
Zwischen Gott und
den Menschen waltet danach die denkbar innigste Beziehung ob, die Gemeinschaft
des Wesens.
Gott
selbst
offenbart
sich
den
Menschen in der Stimme des Gewissens, der Vernunft und des religiösen Gefühls.
Je mehr der Mensch in aufsteigender Selbst
entwickelung seines Geisteslebens diese Offenbarungen Gottes ver stehen lernt,
je mehr er sein Leben den Geboten Gottes gemäß
gestaltet, um so mehr nähert er sich ihm, um so inniger gestaltet sich die Gemeinschaft zwischen ihm und Gott. Nur ein Bedenken erhebt sich, leuchtung bedarf. allgemeine
das noch einer näheren Be
Es scheint auf den ersten Blick,
Mechanismus
des
Geschehens,
Thatsächlichkeit wir nicht zweifeln
dürfen,
daß jener an
jener
dessen frei-
schöpferischen Thätigkeit Gottes widerstreite, ohne welche Gott nicht Gott wäre. So schwer dieser Einwand auf den Gemüthern lastet, so leicht ist er nach dem Vorausgegangenen zu heben, wenn wir uns nur den Begriff und Sinn beider Glieder dieses scheinbaren Gegen satzes klar vergegenwärtigen. Wir müssen hier in Betreff der Wichtigkeit des Gegenstandes noch
einmal auf bereits
früher Gesagtes
(