Gewaltmassen. Über Eigendynamik und Selbstorganisation kollektiver Gewalt [1. ed.] 9783868546491, 9783868542936


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German Pages 415 [407] Year 2015

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Gewaltmassen. Über Eigendynamik und Selbstorganisation kollektiver Gewalt [1. ed.]
 9783868546491, 9783868542936

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Axel T. Paul | Benjamin Schwalb (Hg.)

Gewaltmassen Über Eigendynamik und Selbstorganisation kollektiver Gewalt

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2015 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-649-1 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © 2015 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-293-6 Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras Satz aus der Dolly von Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt Axel T. Paul | Benjamin Schwalb

Vorwort

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Axel T. Paul

Masse und Gewalt

I

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EMERGENZ Jack Katz

Epiphanie der Unsichtbarkeit Wendepunkte bei Unruhen: Los Angeles 1992

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Paul Dumouchel

Massengewalt und konstitutive Gewalt

103

Richard K. Moule Jr. | Scott H. Decker | David C. Pyrooz

Kollektive Gewalt, Gangs und das Internet

124

Thomas Klatetzki

»Hang ’em high« Der Lynchmob als temporäre Organisation

II

147

DYNAMIK Stephen Reicher

»Tanz in den Flammen« Das Handeln der Menge und der Quell ihrer Freude

175

Randall Collins

Vorwärtspaniken und die Dynamik von Massengewalt Ferdinand Sutterlüty

Kollektive Gewalt und urbane Riots Was erklärt die Situation? 231

204

Paul Richards

Der Aufstand als Performance Ein anthropologischer Blick auf die Premiere von Le Sacre du printemps 257

III INSTITUTIONALISIERUNGEN Anthony King

Der Massenangriff Infanterietaktiken im 20. Jahrhundert

291

Felix Schnell

Von dörflicher Selbsthilfe zur paramilitärischen Miliz Spontane Vergemeinschaftung durch Gewalt im Russischen Bürgerkrieg (1918) 312 Bernd Greiner

Der »überflüssige Soldat« Zur Genese und Praxis militärischer Gewaltgruppen am Beispiel des amerikanischen Krieges in Vietnam Donatella della Porta

Klandestine politische Gewalt

359

Benjamin Schwalb | Axel T. Paul

Nicht-organisierte kollektive Gewalt

Autoreninformationen

Zu den Herausgebern

411

416

383

337

Axel T. Paul | Benjamin Schwalb

Vorwort Beginnen wir mit einem Beispiel: Der ruandische Genozid wäre ohne zentrale Befehlsstrukturen nicht möglich gewesen. Es besteht kein Zweifel daran, dass der Völkermord, wenn vielleicht auch nicht von der Staatsspitze selbst, so doch von radikalen Amtsinhabern und Militärs der zweiten Reihe vorbereitet und schließlich in Gang gesetzt worden ist. Nichtsdestotrotz kann und darf diese Organisiertheit des Genozids nicht darüber hinwegtäuschen, dass die staatlichen und militärischen Strukturen sich im Frühjahr 1994 unter Druck, wenn nicht in Auflösung befanden, sodass der »Erfolg« der Vernichtung der Tutsi wesentlich von der Beteiligung der Zivilbevölkerung abhing. Tatsächlich wurden die meisten Tutsi (und weitere Regimegegner) Opfer nicht-organisierter Gewaltmassen. Die Massenhaftigkeit, und zwar nicht allein die Anzahl der in kurzer Zeit Getöteten, sondern ebenso die massive Verstrickung der Zivilbevölkerung in das Morden, zählt zu den besonderen und besonders verstörenden Merkmalen des ruandischen Genozids. Im Fall des ruandischen Genozids haben wir es mithin mit einem zwar feststellbaren, bisher aber – den wegweisenden Studien von Jacques Sémelin, Scott Straus und Lee Ann Fujii zum Trotz1 – noch nicht zufriedenstellend erklärten Umschlag von organisiertem Terror in kollektiv verübte, spontane Grausamkeit zu tun, für welchen allem Anschein nach über die »bloße« Anstiftung zum Morden hinaus die Dynamik innerhalb des Täterkollektivs selbst ein entscheidender Umstand gewesen sein dürfte. Andere, im Hinblick zwar nicht auf das Ausmaß, aber, wie wir meinen, auf die Dynamik nicht-organisierter kollektiver Gewalt vergleichbare Beispiele wären die Jugendunruhen in England und Frankreich aus dem Jahre 2011, der Volksaufstand dessel1

Vgl. Jacques Sémelin, Säubern und Vernichten. Die Politik der Massaker und Völkermorde, Hamburg 2007; Scott Straus, The Order of Genocide. Race, Power, and War in Rwanda, Ithaca 2006; Lee Ann Fujii, Killing Neighbors. Webs of Violence in Rwanda, Ithaca 2009.

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ben Jahres und die nachfolgenden Massendemonstrationen in Ägypten, die Ereignisse auf dem Kiewer Majdan im Dezember 2013 oder auch die regelmäßigen Ausschreitungen rechtsradikaler Gruppen gegen Ausländer in fast allen Staaten Europas. Derartigen gruppendynamischen, »massenpsychologischen« Vorgängen nachzugehen und aufzuklären, was – beispielsweise und im Extremfall – die Verwandlung von harmlosen Zivilisten in blutrünstige Mörder erklären kann; zu ergründen, ob und, wenn ja, in welcher Weise spezifisch kollektive, »massenhafte« Konversionserlebnisse Gewaltverläufe initiieren; welche gruppenbedingten Erfahrungen Gewalt zu einer »sinnvollen« – das heißt als sinnvoll erlebten –, selbstverständlichen oder gar attraktiven Handlungsoption machen; wie sich kollektive Gewaltroutinen einspielen; und schließlich, zu untersuchen, ob es typische (Verlaufs-)Formen von aus Gruppen heraus verübter Gewalt gibt, sind die Probleme, denen in diesem Sammelband nachgegangen wird.2 Es ist selbstverständlich möglich und je nach Erkenntnisinteresse nachgerade angezeigt, die genannten (oder noch andere, unschwer zu findende) Fälle von kollektiver, zumeist einseitiger oder wenigstens asymmetrischer Gewalt diesseits der Schwelle zu militärischen Konflikten politisch, das heißt als Auseinandersetzungen zu deuten, in denen gesellschaftliche Gruppen um Mitsprache, Anerkennung, Selbstbestimmung und Lebenschancen ringen. Charles Tilly zum Beispiel interpretiert kollektive Gewalt, deren diverse Spielarten von der Schlägerei rivalisierender Banden bis hin zum Völkermord, als Varianten eines grundlegenden, im weitesten Sinne politischen Kräfteringens.3 Alternativ, im Hinblick auf die Generalität der Erklärung dennoch vergleichbar, werden Phänomene kollektiver Gewalt von Autoren wie Mi2

3

Die Buchidee geht zurück auf eine Tagung, die vom 26. bis 28. September 2013 an der Universität Basel stattfand. Ein Ergebnis der Tagung war, dass es sich lohnte, vielleicht noch keine unified theory nicht-organisierter kollektiver Gewalt zu schreiben, wohl aber Elemente einer solchen zu sammeln, ein anderes, dass eine solche Sammlung oder Skizze sich auf jeden Fall kritisch – positiv oder negativ – zu Randall Collins’ Mikrosoziologie der Gewalt (Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie, Hamburg 2011) ins Verhältnis zu setzen hätte. Umso mehr freut es uns, dass wir Collins, der, wie andere Autoren unseres Bandes auch, nicht in Basel zugegen war, für einen Beitrag gewinnen konnten. Vgl. Charles Tilly, The Politics of Collective Violence, Cambridge 2003.

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chel Wieviorka oder Arjun Appadurai als Ausdruck einer durch die Globalisierung bedingten Verunsicherung von Identitäten beschrieben.4 Mithin würde es weitaus mehr ethnische Konflikte als die nur so bezeichneten geben. Diese wären nicht nur bloß die Fassade von politischen Macht- und wirtschaftlichen Verteilungskämpfen, sondern Ausdruck einer tatsächlichen sozialen wie geografischen »Entortung« substaatlicher wie transnationaler Gruppen. Dass viele »Sozial«-Ökonomen und hart gesottene Rational-Choice-Theoretiker auch kollektive Gewalt nicht mit kollektiven, sondern mit individuellen Interessen, dem Kosten-Nutzen-Kalkül Einzelner, ihren Ressourcen und Handlungsalternativen sowie der Aggregation dieser Faktoren zu einer Art Gleichgewicht erklären, versteht sich.5 Möglichkeit und Triftigkeit derartiger Analysen sind nicht in Abrede zu stellen. Allerdings weichen politische, kulturalistische, wirtschaftliche oder sonstwie strukturalistische Erklärungen nicht bloß massenhafter Gewalt häufig der Frage aus, wie die Gewalt konkret entsteht, unter welchen Umständen sie ausbricht (und wann nicht), wie sie abläuft, welche Formen sie annimmt, ob und, wenn ja, wie »sie sich« organisiert. Wären allein strukturelle Ursachen für kollektive Gewaltausbrüche verantwortlich, wären sie noch viel weiter verbreitet. Tatsächlich aber folgt auch kollektive Gewalt ihren – vermeintlichen – Ursachen nicht auf dem Fuße.6 Es bedarf vielmehr der Wahrnehmung und Artikulation von Missständen, einer, wenn auch nicht notwendigerweise mehrheitsfähigen, so doch kollektiv verbreiteten Interpretation der Verhältnisse als unzumutbar, wie auch immer begründeter Aussichten auf ihre Änderbarkeit und schließlich eines koordinierten Handelns oder zumindest des Gewährenlassens einer zur Tat bereiten

4 5

6

Vgl. Michel Wieviorka, Die Gewalt, Hamburg 2006; Arjun Appadurai, Die Geographie des Zorns, Frankfurt am Main 2009. Vgl. Paul Collier/Anke Hoeffler, Greed and Grievance in Civil War, Washington 2000; Stathis N. Kalyvas, The Logic of Violence in Civil War, Cambridge 2006; Jeremy M. Weinstein, Inside Rebellion. The Politics of Insurgent Violence, Cambridge 2007; Douglass C. North/John J. Wallis/Barry R. Weingast, Violence and Social Orders. A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History, Cambridge 2009. Zur individuellen Gewalt vgl. Jack Katz, Seductions of Crime. Moral and Sensual Attractions of Doing Evil, New York 1988; Ferdinand Sutterlüty, Gewaltkarrieren. Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung, Frankfurt am Main 2002.

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Minderheit, um strukturelle Spannungen in Gewalt zu übersetzen. Auf der anderen Seite scheint auch kollektive Gewalt zuweilen ohne »höhere« Ziele auszukommen, bricht sie wie aus dem Nichts hervor, schlägt sie immer wieder »über die Stränge« und folgt offenbar einer eigenen, den – vermeintlichen – Zielen der gewaltsamen Aktion inkommensurablen Logik.7 Der »Ätiologie« gewaltsamer Konflikte ist darum stets eine Phänomenologie derselben beizugesellen, WarumFragen sind Wie-Fragen voranzustellen, weil aus Kontexten und/oder Motivlagen (sofern Letztere sich überhaupt ermitteln lassen) nicht bruchlos abgeleitet werden kann, dass es (zum Beispiel) zu einer Gewalttat kommt, noch und erst recht nicht, wer sie mit welchen Mitteln in welcher Form verübt. Genau dies war und ist von den sogenannten Innovateuren der Gewaltforschung zu lernen, auch wenn diese mitunter zu weit gehen und neben einer dichten Beschreibung der Gewalt deren Erklärung kaum noch für nötig halten.8 Ohne die Theorie der Gewalt grundsätzlich von der Beantwortung von Kausalitätsfragen freizusprechen, halten wir die vorgängige Fokussierung und Analyse des Gewaltgeschehens für eine Notwendigkeit. Thema – Gegenstand so gut wie Frage – des vorliegenden Bandes sind »Gewaltmassen« und ihre Aktion oder allgemeiner und unverfänglicher: die Selbstorganisation und Eigendynamik kollektiver Gewalt. Unter Gewaltmassen verstehen wir nicht-organisierte, darum jedoch nicht unbedingt unstrukturierte Kollektive kopräsenter Akteure, die gemeinschaftlich, deswegen jedoch nicht planvoll, physische Gewalt gegenüber Dritten ausüben. Entscheidend ist dabei nicht die Größe der Kollektive, sondern ihre Fähigkeit zu koordiniertem gewaltsamen Handeln. Die »lose Koppelung« ihrer »Mitglieder« und das Fehlen von eingeübten Gewalt(präventions)programmen unterscheidet Gewaltmassen von formalen Gewaltorganisationen wie dem Militär oder der Polizei, deren eigentliche Aufgabe jenseits der Abschre7

8

Vgl. Gary T. Marx, »Issueless Riots«, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science 1970, Bd. 391, H. 1, S. 21–33; Bill Buford, Geil auf Gewalt. Unter Hooligans, München 1992; Collins, Dynamik der Gewalt. Vgl. Jörg Hüttermann, »›Dichte Beschreibung‹ oder Ursachenforschung der Gewalt? Anmerkungen zu einer falschen Alternative im Lichte der Problematik funktionaler Erklärungen«, in: Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soeffner (Hg.), Gewalt, Frankfurt am Main 2004, S. 107–124; Peter Imbusch, »›Mainstreamer‹ versus ›Innovateure‹ der Gewaltforschung. Eine kuriose Debatte«, in: ebenda, S. 125–148.

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ckung von Feinden und Kriminellen die kontrollierte und das heißt koordinierte und zielgerichtete Anwendung von Gewalt ist. Diese Unterscheidung impliziert selbstverständlich nicht, dass militärische Verbände nicht auch Gewaltmassen einschließen oder sich in Gewaltmassen verwandeln können.9 Weiterhin ist wichtig, Gewaltmassen, das heißt einen besonderen Akteur von Gewalt, nicht mit Massengewalt, das heißt einem besonderen Typ von Gewalt, gleichzusetzen, auch wenn jene diese sehr wohl auszuüben vermögen. Die Massaker des ruandischen Genozids wären auch dafür ein Beispiel. Massengewalt jedoch setzt nicht zwingend Gewaltmassen voraus; auch die Bombardierung von Städten oder die bürokratisch geplante Vernichtung von sogenannten »Volksfeinden« stellt Massengewalt dar. Massengewalt bezeichnet unserem Verständnis nach die wie auch immer ins Werk gesetzte, oft, aber nicht notwendigerweise staatlich angeordnete Verletzung oder Tötung von staatlich und/oder militärisch wehrlosen Opferkollektiven. Der Begriff Massengewalt impliziert eine Vielzahl von Opfern, auch wenn Massengewalt in aller Regel kollektiv verübt werden muss. Der Begriff Gewaltmasse hingegen meint ein besonderes Täterkollektiv, auch wenn die Gewalt in der Regel mehr als nur ein einzelnes Opfer trifft, und indiziert zugleich, dass die gewalttätige Gruppe sich außerhalb formaler Strukturen bewegt oder zumindest über diese hinwegsetzt. Wir schließen mit der Wahl des Begriffs Gewaltmassen bewusst an eine in der Geschichte der Soziologie und allgemeiner der Sozialtheorie weitgehend abgebrochene Tradition an.10 Zwar gibt es nachvollziehbare Gründe dafür, dass die Massenpsychologie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts keine Fortsetzung gefunden hat: Zunächst

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Stefan Kühl (Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Berlin 2014, S. 22) weist zu Recht darauf hin, dass eine Erklärung der Shoa ohne Rückgriff auf die Spezifika von Organisation nicht möglich ist. Gleichwohl scheint uns die Erforschung von kollektiver Gewalt insgesamt organisatorische Erklärungen zu privilegieren, Prozesse »spontaner Ordnungsbildung« hingegen zu vernachlässigen (vgl. David A. Snow/Dana M. Moss, »Protest on the Fly. Toward a Theory of Spontaneity in the Dynamics of Protest and Social Movements«, in: American Sociological Review 2014, Jg. 79, H. 6, S. 1122–1143). Genau diese Prozesse sind indes der zentrale Gegenstand des vorliegenden Bandes. Vgl. Christian Borch, The Politics of the Crowd. An Alternative History of Sociology, Cambridge 2012.

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einmal war der Begriff der Masse bei Sighele, Tarde oder Le Bon, aber auch bei marxistischen Theoretikern wie Sorel nicht nur eine analytische Kategorie, sondern immer auch ein politischer Kampfbegriff und entsprechend negativ oder positiv konnotiert. Auch die freilich längst nicht von allen Masse-Theoretikern geteilte, in der öffentlichen Diskussion gleichwohl dominante Behauptung eines grundsätzlich dumpfen und destruktiven Wesens der Masse trug zur Diskreditierung des Begriffs bei. Im Hinblick auf die tatsächlich destruktiven totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts diente der Verweis auf ihre Massenhaftigkeit vielen (zumal deutschen) Beobachtern dann allerdings der Entschuldigung der »lediglich« totalitären Demagogen zum Opfer gefallener »Völker«. In den usa kam es gegenüber dem europäischen Diskurs und den europäischen Verhältnissen zum einen zu einer Verschiebung oder Übersetzung der Massenpsychologie in Theorien kollektiven Verhaltens, zum anderen (prominent etwa bei Riesman) zur Substitution des klassischen auf Präsenzmassen gemünzten Massenbegriffs durch einen offenbar zeitgemäßeren statistischen Massenbegriff.11 Die Theorien kollektiven Verhaltens rationalisierten die Masse, indem sie einerseits mehr und mehr das rationale Individuum zum Ausgangs- und Bezugspunkt der Analysen auch und gerade nicht-organisierten kollektiven Verhaltens machten und andererseits das politisch-reformatorische Potenzial von sozialen Bewegungen herausstrichen.12 Beerbt wird dieser Forschungsstrang heute vor allem von der politischen Bewegungsforschung und der Untersuchung von (nur schwer ins Deutsche zu übersetzenden) contentious politics.13 Auch wenn für Tilly als herausragendem Vertreter des letztgenannten Ansatzes die Formen kollektiver Gewalt durchaus eine wichtige Rolle spielen und er diese weder auf Ideologie noch auf bestimmte Verhaltensdispositive zurückführt, sondern vielmehr relational aus der konkreten Interaktion der

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12 13

Zu dieser Unterscheidung vgl. Dominik Schrage, »Von der Präsenzmasse zur statistischen Masse. Affektive und deskriptive Aspekte eines modernen Konzepts«, in: Gunnar Hindrichs (Hg.), Die Macht der Menge. Über die Aktualität einer Denkfigur Spinozas, Heidelberg 2006, S. 93–112. Vgl. Clark McPhail, The Myth of the Madding Crowd, New York 1991. Vgl. Charles Tilly/Sidney Tarrow, Contentious Politics, Boulder 2007.

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Akteure herleitet,14 gilt selbst für ihn und erst recht für das breite Feld der politischen Bewegungsforschung insgesamt, dass die (kollektive) Gewalt, insbesondere ihre Selbstorganisation und Eigendynamik, alternativen Protestformen sowie den politischen Intentionen der Akteure gegenüber eine nur nachrangige Beachtung findet. Eben die nicht-organisierte kollektive Gewalt soll jedoch im Zentrum unseres Bandes stehen. Mit dem Begriff der Gewaltmasse an die klassische Massenpsychologie zu erinnern, soll selbstverständlich nicht heißen, hinter die Einsichten und Warnschilder der späteren Forschung zurückzufallen, wohl aber nach einer möglicherweise qualitativ spezifischen Gewalt von nicht-organisierten Kollektiven zu fragen und diese Kollektive methodologisch nicht a priori als Aggregationen von rationalen und »fertigen« Individuen zu begreifen, sondern vielmehr die Möglichkeit der Rückwirkung der Gewalt auf die Täter, die Möglichkeit einer nicht bloß kognitiven, sondern auch emotionalen Rekonstitution der (Gewalt-)Akteure in der Gruppe, vielleicht sogar so etwas wie die Emergenz einer Gewaltmasse in Rechnung zu stellen. Auch wenn wir die Frage offenlassen, ob Gewaltmassen einer Gruppe, einem Netzwerk oder einer Organisation vergleichbar einen sozialen Aggregattyp eigenen Rechts, eine soziale Form sui generis darstellen – und erst recht nicht unterstellen, dass Massen, »wenn es sie gibt«, notwendigerweise gewalttätig sind –, fragen die Beiträge dieses Bandes danach, aufgrund welcher Vorbedingungen sich Gewaltmassen in dem von uns bezeichneten Sinne bilden, ob und wie sie typischerweise strukturiert sind, wie das Verhältnis von Individuum und Gewaltmasse oder die »Mitgliedschaft« sich gestaltet und schließlich danach, ob und, wenn ja, warum von Gewaltmassen verübte Gewalt bestimmten Verlaufsformen folgt. Gefragt wird mithin nach der »Logik« der Situation, danach, was während des Geschehens selbst, in – beziehungsweise, insofern die handelnden Kollektive ihrerseits anderen, unter Umständen kollektiven Akteuren gegenüberstehen, mit – der Tätergruppe geschieht. Mit der Fokussierung von nicht-organisierter kollektiver Gewalt erheben wir keineswegs den Anspruch, ein gänzlich unbestelltes Feld zu erschließen. Vielmehr finden sich über die Disziplinen verstreut

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Vgl. Tilly, Politics of Collective Violence.

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sehr wohl diverse Ansätze zur Aufklärung der Situationsdynamik und Eigenlogik von nicht-organisierten Täterkollektiven.15 Die Autoren, die wir für dieses Buchprojekt gewinnen konnten, vertreten die Disziplinen Soziologie, Geschichte, Psychologie, Politikwissenschaft, Ethnologie und Philosophie und sind allesamt als Experten für Probleme der uns interessierenden Form(en) nicht-organisierter kollektiver Gewalt ausgewiesen. Um wenn auch (noch) keine Theorie derselben zu schreiben, so doch Elemente zu einer solchen zusammenzutragen, haben wir sie aufgefordert, unabhängig sowohl vom konkreten Gegenstand wie von den konzeptionellen und methodischen Grundlagen ihrer Beiträge, folgende allgemeine und grundlegende Fragen zu erwägen und möglichst zu beantworten: 1. Welche Typen von kollektiver Gewalt können oder müssen theoretisch unterschieden werden? (Worin) Unterscheiden sich Gewaltmassen von Gewaltorganisationen? Bedarf es einer spezifischen Theorie der Gewaltmasse? 2. Ist das Handeln in Gewaltmassen beziehungsweise ist nicht-organisierte kollektive Gewalt besonders emotional geprägt? 3. Welche situativen Bedingungen sind notwendig beziehungsweise hinreichend, um nicht-organisierte kollektive Gewalt zu erklären? (Wie) Lässt sich die unterschiedliche Beteiligungsrate der »Mitglieder« eines nicht-organisierten Kollektivs an Gewalt verstehen? 4. Welche Mechanismen erklären die Verstetigung, Eskalation oder den Abbruch des Handelns von Gewaltmassen? Welche Rolle spielen Zuschauer (in und außerhalb der Masse) für diese Prozesse? 5. Verändert die kollektiv verübte Gewalt die Angehörigen des Täterkollektivs? Welche Rückwirkungen des Tuns auf die Täter lassen sich feststellen? Die Gliederung unseres Bandes orientiert sich an drei Phasen oder Stufen des Gewaltgeschehens, die eine spätere vereinheitlichte Theorie nicht-organisierter kollektiver Gewalt wenigstens in Rechnung zu stel-

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Vgl. u.a. Donald L. Horowitz, Ethnic Groups in Conflict, Berkeley 1985; Philip G. Zimbardo/ Christina Maslach/Craig Haney, »Reflections on the Stanford Prison Experiment: Genesis, Transformations, Consequences«, in: Thomas Blass (Hg.), Obedience to Authority: Current Perspectives on the Milgram Paradigm, Mahwah 2000, S. 193–237; Sémelin: Säubern und Vernichten; Christian Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert, München 2011.

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len hätte. Im Einzelnen sind dies Emergenz (Teil I), Dynamik (Teil II ) und Institutionalisierungen (Teil III ). Der erste Teil, Emergenz, versammelt Beiträge, die sich mit den Entstehungsbedingungen und der Entstehung von nicht-organisierter kollektiver Gewalt befassen. Sie zeigen, dass sich die Konstitution von Gewaltmassen nicht aus Umständen oder Plänen ableiten lässt, sondern von Gelegenheitsstrukturen abhängt, die ihrerseits durch unvorhersehbare Ereignisse aktiviert werden müssen. Den Auftakt bildet eine nicht zuletzt auf eigenen Beobachtungen fußende Prozessanalyse der Rodney-King-Riots 1992 in Los Angeles des Soziologen Jack Katz. Dieser zeigt, wie der Protest gegen den Freispruch der Polizisten, die den flüchtigen Verkehrssünder King gestellt und niedergeknüppelt hatten, zunächst von linksradikalen Aktivisten instrumentalisiert wurde, sich dann aber in eine weitgehende Auflösung der sozialen Ordnung fortsetzte, die mit dem Anlass der Ereignisse nichts mehr gemein hatte, sondern Katz zufolge vielmehr den Auf- oder Vorschein eines »anarchischen Jenseits« darstellte. Es folgt ein sozialontologischer Text des Philosophen Paul Dumouchel. Ausgehend von der These René Girards, dass die Bewältigung kollektiver Gewalt mit der Geburt der menschlichen Kultur zusammenfällt, ergründet er, warum zeitgenössischen Gewaltmassen – wie etwa den von Katz beschriebenen – dieses konstitutive, »kreative« Moment fehlt. Der anschließende Beitrag der Kriminologen Richard Moule, Scott Decker und David Pyrooz springt »zurück« in die Gegenwart der US-amerikanischen Gangwelt und zeigt auf, wie sehr gewaltgenerierende Gruppenprozesse, insbesondere Rivalitäten und Racheakte, mittlerweile vom Gebrauch moderner elektronischer Kommunikationsmedien bestimmt werden. Das Ende des ersten Teils bildet ein Beitrag des Organisationssoziologen und -psychologen Thomas Klatetzki. Er behandelt eine der Rache verwandten Form des vigilanten Strafens, nämlich das Lynchen. Sein Vorschlag, die spontane Ordnungsbildung des Lynchmobs zu erklären, lautet, sie über kulturübergreifend geteilte kognitive Skripte der Beteiligten zu entschlüsseln, die angesichts von Verbrechen aktiviert werden, welche die moralische Integrität der Eigengruppe bedrohen und die zu ahnden staatliche Instanzen zu schwach sind. Gegenstück dieser Schwäche oder gar des Fehlens eines wenn nicht neutralen, so doch moderierenden Dritten ist regelmäßig der Gewaltexzess des lynchenden Mobs. 15

Damit leitet der Beitrag über zum zweiten Teil: Dynamik. Im Zentrum steht hier die Frage, wie nicht-organisierte kollektive Gewalt sich situativ entfaltet, wie sie plötzlich oder zumindest ungeplant hervorbricht, wie sie gegebenenfalls die ursprünglichen Intentionen der Akteure durchkreuzt, wie Hemmungen und Schranken fallen, aber auch wie Gewalt rituell gezähmt werden kann. Der erste Text dieses Abschnitts stammt von dem (Sozial-)Psychologen Stephen Reicher, dessen gemeinsam mit Kollegen entwickeltes »Elaborated Social Identity Model« zwar die Fragestellung, nicht aber die Erklärungen der klassischen Massenpsychologie beerbt. Das gemeinsame Handeln, Denken und Fühlen in Massen wird ihm zufolge durch eine situativ geteilte soziale Identität ermöglicht, die sich im Zuge von insbesondere konflikthaften Intergruppenprozessen dynamisch ändern und unter bestimmten Voraussetzungen gewaltförmigem Handeln den Weg bereiten kann. Gewalttätiges Massenhandeln ist für Reicher nicht Ausdruck einer irrationalen Massenseele, sondern vielmehr Anzeichen einer bewussten und als solche euphorisierenden Wieder-in-Regie-Nahme der eigenen Geschicke. Der anschließende soziologische Beitrag von Randall Collins argumentiert hingegen auf Basis des Befundes, dass die emotionale Anspannung und existenzielle Angst der physischen Gewaltausübung und erst recht der Tötung anderer zunächst entgegenstehen. Damit es gleichwohl zu einer ersten, für den weiteren Verlauf des Geschehens entscheidenden Gewaltepisode kommt, muss die Gewalthemmung durch bestimmte situative Arrangements überwunden werden. Der Text analysiert ein solches Arrangement: die für Gewaltmassen typische »Vorwärtspanik«. Nicht grundsätzlich gegen den Wert situationsbezogener Gewaltanalysen beispielsweise und insbesondere Collins’scher Manier, wohl aber gegen ihre Überdehnung argumentiert Ferdinand Sutterlüty. Am Beispiel der Jugendaufstände in Paris 2005 und London 2011 warnt der Soziologe davor, die (sub-)kulturellen Deutungsmuster, die kollektives Gewalthandeln motivational ermöglichen und legitimieren, aus dem Blick zu verlieren und damit als sinnlose Gewalt misszuverstehen. Den letzten Beitrag des zweitens Teils bildet eine Studie des Ethnologen Pauls Richards zur (Vorgeschichte der) Uraufführung von Stravinskys Le Sacre du printemps 1903 in Paris. Aus einer neodurkheimianischen ritualtheoretischen Perspektive wird aufgezeigt, dass sowohl das »Vorspiel« und der Ausbruch von nicht-organisierter kollektiver Gewalt als auch und insbe16

sondere deren »musikalische« Überwindung aus der Störung und dem Wiederfinden gemeinsamer Wahrnehmungsmuster gedeutet werden kann. Soziale Koordination, so Richards, ist eine ebenso »aisthetische« wie kognitiv-normative Leistung. Der dritte Teil des Bandes befasst sich mit diversen Institutionalisierungen – zunächst – nicht-organisierten kollektiven Gewalthandelns. Denn auch wenn die Aktionen von Gewaltmassen ungeplant entstehen und Wendungen nehmen, die nicht vorhersehbar sind, gibt es Pfadabhängigkeiten und, wie immer, wenn Situationen sich wiederholen, Ansätze zur Routinisierung von Gewalt. Zudem kann nichtorganisiertem kollektiven Gewalthandeln innerhalb von Organisationen durchaus Platz eingeräumt werden. Eine Illustration dessen liefert der Beitrag des Militärsoziologen Anthony King. Er zeigt am Beispiel des Bajonettangriffs, einer typischen »Massentaktik« westeuropäischer Armeen des frühen 20. Jahrhunderts, dass Gewaltmassen gezielt in den Dienst organisatorischer Zwecke gestellt werden können. Der gemeinsame Bajonettangriff stiftet ein hohes Maß an Solidarität, weil er die Soldaten voneinander abhängig und den Einsatz jedes Einzelnen für die anderen leicht nachprüfbar macht – und löst dadurch das organisatorische Problem mangelnder Einsatzbereitschaft auf dem Schlachtfeld. Die Wahrscheinlichkeit, dass nicht-organisierte Gruppengewalt zur Regel wird, steigt indes, sofern die üblicherweise, nicht nur, aber insbesondere in staatlichen Verhältnissen gültigen Kontrollmechanismen und Schranken von »privaten« Gewaltakten und -spiralen fehlen oder außer Kraft gesetzt sind. Derartige staatsferne Gewalträume können sowohl Folge als auch wesentlicher Faktor der Verstetigung von Gruppengewalt sein. Mit eben dieser Frage beschäftigt sich der Historiker Felix Schnell am Beispiel militanter Vergemeinschaftung im Russischen Bürgerkrieg, deren hohe Geschwindigkeit er aus einem Zusammenspiel von kulturellen Skripten und einer allgemeinen Situationslogik von »Gewalträumen« erklärt. Weniger die organisatorische Funktionalität als vielmehr die Komplementarität von organisiertem und nicht-organisiertem Gewalthandeln zeigt Bernd Greiner in seinem zeitgeschichtlichen Beitrag auf. Am Beispiel von Gewaltexzessen während des Vietnamkrieges macht er deutlich, dass kollektive Gewalt unter bestimmten strukturellen Bedingungen nicht durch ihre Negation, sondern durch ihre Verstetigung Sinn zu stiften vermag. Die Konstellation eines asymmetrischen Krieges ist eine sol17

che Bedingung, die im Zusammenspiel mit situativen Faktoren zur Selbstradikalisierung der verunsicherten Soldaten beitrug. Nicht um kriegerische, sondern um die politische Gewalt von Untergrundorganisationen geht es in dem Text der Politologin und Bewegungsforscherin Donatella della Porta. Beständigkeit und Radikalisierung politischer Gewalt, so ihr zentrales Argument, sind das Ergebnis eines pfadabhängigen Prozesses, in dem die Entscheidung der Gruppe dafür, in den Untergrund zu gehen, gewaltfreie Handlungsrepertoires zunehmend an Praktikabilität und, vielleicht noch wichtiger, Plausibilität verlieren lässt. War terroristische Gewalt zunächst ein Mittel im politischen Kampf, so wird sie mit der Dauer des Kampfes zur Raison d’être der Gruppe. Damit schließt der dritte Teil. In ihren Schlussbetrachtungen unternehmen Benjamin Schwalb und Axel Paul den Versuch einer vorläufigen Systematisierung des theoretischen Ertrags der einzelnen Beiträge. Vor dem Hintergrund allgemeiner ordnungstheoretischer Überlegungen machen sie deutlich, welche Mechanismen und Prozesse nicht-organisierte Kollektive überhaupt zu gemeinsamem Handeln befähigen, welche Umstände Gewaltsamkeit zu einer Handlungsoption machen und auf welchen Wegen ein solcher Vorsatz schließlich umgesetzt werden kann. Die theoretische Diskussion des in diesem Band versammelten Materials – so hoffen wir zumindest – ist damit allerdings nur erst eröffnet. Dieser Band selbst hebt indes an mit einem Rückblick: Es folgt eine diskursgeschichtliche Einleitung, in der Axel Paul weniger rekapituliert, warum und woran die klassische Massenpsychologie gescheitert ist, als vielmehr, worin ihre Aktualität und Herausforderung liegt.

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Axel T. Paul

Masse und Gewalt »Wenn wir in den Sümpfen Tutsi aufspürten, sahen wir in ihnen keine Menschen mehr. Sie waren nicht mehr unsere Ebenbilder […]. Es war eine wilde Jagd, die Jäger waren wild, Wild auch die Gejagten: Die Wildheit bemächtigte sich unserer Köpfe. Wir waren nicht nur zu Verbrechern geworden, wir waren so etwas wie Bestien in einer barbarischen Welt geworden. Diese Wahrheit mag jemand, der sie nicht mit all seinen Muskelfasern erlebt hat, nicht glauben wollen. Unser Alltag war ein Leben der anderen Art, es war von Blut gezeichnet, und das kam uns durchaus zupass.«1 Mit diesen Worten beschreibt Pio Mutungirehe dem französischen Journalisten Jean Hatzfeld gegenüber sein Tun und Erleben während des ruandischen Völkermords. Mutungirehe hatte sich 1994 als Mitglied einer Clique von größtenteils jungen Männern in der Gemeinde Nyamata am kollektiven Morden beteiligt. Er war, wie die meisten seiner Freunde aus der Clique, ja wie die Mehrzahl der Täter überhaupt, Bauer und seinerzeit 20 Jahre alt. Für seine Taten, zu denen er sich zum Zeitpunkt der HatzfeldInterviews bereits bekannt hatte, wurde er im Zuge der sogenannten Gacaca-Verfahren, einer laiengerichtlichen Aufarbeitung des Genozids,2 zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. 2003 erfolgte die vorzeitige Freilassung. Auch die übrigen Bandenmitglieder hatten gestanden, waren verurteilt worden und lebten im Jahre 2003, als die französische Originalausgabe von Hatzfelds Buch erschien, mit einer Ausnahme wieder in Freiheit. Juristisch konnte Mutungirehe und seinen Freunden aus den Gesprächen mit Hatzfeld kein Schaden mehr erwachsen. Dennoch könnte man mutmaßen, dass er sich durch seine passivische Formulierung, von bestialischer Wildheit ergriffen worden zu sein, von mora1 2

Jean Hatzfeld, Zeit der Macheten. Gespräche mit den Tätern des Völkermords in Ruanda, Gießen 2004, S. 51f. Siehe Phil Clark, The Gacaca Courts, Post-Genocide Justice and Reconciliation in Rwanda: Justice without Lawyers, Cambridge 2010.

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lischer Schuld freisprechen wolle, so als habe es keine Möglichkeit gegeben, sich dem Morden zu verweigern. Tatsächlich haben sich Einzelne auch in Ruanda sehr wohl dem Mittun entziehen und sogar Widerstand gegen die Ermordung ihrer ethnisch »anderen« Mitbürger leisten können; auch haben längst nicht alle, die am Morden beteiligt waren, mit Begeisterung gemordet;3 und doch gibt es nicht nur bei Hatzfeld, sondern in etlichen Quellen kaum missverständliche Belege dafür, dass manche Täter sich zeitweise in einer Art Blutrausch befanden und dass dieser Blutrausch Teil einer kollektiv geteilten Erfahrung war.4 Pio Mutungihere sagt: »Wir waren nicht nur zu Verbrechern geworden, wir waren so etwas wie Bestien in einer barbarischen Welt geworden.« Und sein Freund Joseph-Désiré Bitero ergänzt: »Das war ein Wahnsinn, der seinen Lauf nahm, und den keiner mehr lenkte. […] Du warst in der Menge dabei.«5 Über ähnliche Erfahrungen in einem ganz anderen Kontext berichtet der Literaturkritiker Bill Buford, der in den 1980er Jahren beschließt, in die ihm unbekannte Welt der englischen Hooligans einzutauchen, gerade weil sie ihm so rätselhaft erscheint. Er begleitet die nicht nur gewaltbereiten, sondern gewaltsuchenden Fans – keineswegs nur oder auch nur vornehmlich Angehörige der Unterschichten – in die Stadien, auf ihren Reisen, auf ihren Sauftouren und auf ihren Märschen durch die Städte gegnerischer Mannschaften. Fußball ist im Grunde nur der an sich kontingente Anlass, der Kalender, der dazu dient, die eigentlich gesuchte Randale zu synchronisieren. Buford steht dieser (Männer-)Welt des Alkohols, des Grölens, der Kameradschaft und der Gewalt zunächst befremdet, wenn nicht angeekelt gegenüber, gewöhnt sich mit der Zeit jedoch an ihre Rituale, freundet sich mit den Fans an und kann sich schließlich auch der Faszination der kollektiv verübten und erlittenen Gewalt nicht entziehen. 3 4

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Siehe Lee Ann Fujii, Killing Neighbors, Ithaca 2009. Siehe African Rights (Hg.), Rwanda. Death, Despair and Defiance, London 1995; Anna-Maria Brandstetter, »Die Rhetorik von Reinheit, Gewalt und Gemeinschaft. Bürgerkrieg und Genozid in Rwanda«, in: Sociologus 2001, Jg. 51, H. 1/2, S. 148–184; Erin K. Baines, »Body Politics and the Rwandan Crisis«, in: Third World Quarterly 2003, Jg. 24, H. 3, S. 479–493; Dan Stone, »Genocide as Transgression«, in: European Journal of Social Theory 2004, Jg. 7, H. 1, S. 45–65. Hatzfeld, Zeit der Macheten, S. 54; meine Hervorhebung; im französischen Original (Une Saison de machettes, Paris 2003, S. 56) heißt es: »Tu suivais la multitude«.

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Die zwar bewusst inszenierten, in ihrem Verlauf und Ausgang freilich unkalkulierbaren Straßenschlachten zwischen den Hooligans, in denen nicht nur Scheiben zu Bruch und Autos in Flammen aufgehen, sondern Menschen schwerstens verletzt werden, offenbaren ihm, inneren kognitiven und moralischen Widerständen zum Trotz, einen vordem ungekannten Zustand der Glückseligkeit: »Sich in einer Masse befinden. Und – noch stärker – sich in einer Masse befinden, die einen Gewaltakt begeht. Was wir dort finden, ist das Nichts. Das Nichts in seiner Schönheit, seiner Schlichtheit, in seiner leeren Reinheit.« Zwar beteiligt Buford sich nicht aktiv an der Gewalt – zumindest erfährt der Leser davon nichts –, »schon« das bloße Bezeugen eines Gewaltexzesses jedoch schildert er als Transzendenzerfahrung mit Suchtpotenzial: »Die Gewalt ist eines der stärksten Erlebnisse und bereitet denjenigen, die fähig sind, sich ihr hinzugeben, eine der stärksten Lustempfindungen. Dort, in den Straßen von Fulham, […] fühlte ich mich, als sei ich buchstäblich schwerelos geworden. […] Und zum ersten Mal kann ich die Worte verstehen, mit denen sie diesen Zustand beschreiben. Daß die Gewalttätigkeit in der Masse eine Droge für sie sei. Und was war sie für mich? Die Erfahrung absoluten Erfülltseins.«6 Ein drittes Zeugnis dafür, dass zwischen Masse und Gewalt ein Zusammenhang besteht, oder genauer, die gewöhnliche Abscheu vor unmittelbar drohender Gewalt offenbar auch und nicht zuletzt durch die physische Präsenz anderer wenn nicht in Gewaltlust, so doch in einen gegenüber Zerstörung und gewaltsamem Tod indifferenten Rauschzustand umschlagen kann, findet sich in den Lebenserinnerungen Elias Canettis. Im Sommer 1922 wird der siebzehnjährige Canetti in Frankfurt am Main Zeuge einer Arbeiterdemonstration gegen die Ermordung Walter Rathenaus. Es ist der Demonstrationszug selbst – nicht die Sache, gegen die protestiert wurde, oder die Solidarität mit den Arbeitern –, der auf Canetti eine »physische Anziehung« ausübt. Auch nachdem er sich der Demonstration angeschlossen hatte, kam es ihm vor, »als ginge es hier um etwas, das in der Physik als Gravitation bekannt ist. Aber eine wirkliche Erklärung […] war das natürlich nicht. Denn weder

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Bill Buford, Geil auf Gewalt. Unter Hooligans, München 1992, S. 221 u. 234; meine Hervorhebungen.

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vorher, isoliert, noch nachher, in der Masse, war man etwas Lebloses, und was mit einem in der Masse geschah, [war] eine völlige Änderung des Bewußtseins.«7 Diese erste Erfahrung der Masse bestätigt und verstärkt sich am 15. Juli 1927. An diesem Tag demonstrierten Wiener Arbeiter gegen den Freispruch einer wegen Mordes an Genossen aus dem Burgenland angeklagten Gruppe. Die Demonstration kulminierte darin, dass der Wiener Justizpalast in Brand geriet und die Polizei auf die Demonstranten zu schießen begann. Es gab 90 Tote. Canetti erinnert sich: »Die Erregung dieses Tages liegt mir noch heute in den Knochen. […] Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm.« Er hört die Schüsse der berittenen Polizei, er rennt und flieht mit den ihm fremden Demonstranten; der Zug zerreißt und sammelt sich wieder; erst erfährt er, dass der Justizpalast brennt, dann sieht er ihn brennen. »Das Feuer war der Zusammenhalt. […] Auch dort, wo man es nicht sah, hatte man’s im Kopf, seine Anziehung und die Masse waren eins. […] Wo immer man sich unter der Einwirkung der Salven fand, scheinbar geflüchtet war – der […] Zusammenhang mit den anderen blieb wirksam.« Canetti fühlte sich »von einem einheitlichen Gefühl getragen […] – eine[r] einzige[n] ungeheuerliche[n] Woge, die über die Stadt schlug und sie in sich aufnahm: als sie verebbte, war es kaum glaublich, daß die Stadt noch da war.«8 Noch vor der Erfahrung des Nationalsozialismus, des Aufstiegs und der Verheerungen einer Massenbewegung, waren es diese beiden Erlebnisse, die Canetti dazu veranlassten, sich über Jahrzehnte hinweg mit dem Thema Masse zu beschäftigen und 1960 mit »Masse und Macht« schließlich ein Buch vorzulegen, das als abseitiger sozialanthropologischer Theorieentwurf eines Literaturnobelpreisträgers galt, auch weil es zu einer Zeit erschien, in der Anthropologie unter Ideologieverdacht stand.9

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Elias Canetti, Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921–1931, Frankfurt am Main 1982, S. 78; meine Hervorhebung. Ebenda, S. 231 u. 235; meine Hervorhebung. Zu entsprechenden Vorbehalten vgl. Elias Canetti, »Gespräch mit Theodor W. Adorno«, in: ders., Die gespaltene Zukunft. Aufsätze und Gespräche, München 1972, S. 66–92.

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Die ersten wissenschaftlichen Anstrengungen, den Zusammenhang von Masse und Gewalt zu bestimmen, stammen aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhundert. Dass es einen solchen Zusammenhang überhaupt gibt, galt seit Burkes »Reflections on the Revolution in France« (1790) als selbstverständlich. Die Masse, das war für die Historiografen und politischen Beobachter des 19. Jahrhunderts der aufständische Pöbel, die Bezeichnung einerseits für eine aus der alten Ständeordnung herausfallende und zugleich die neue bürgerliche Gesellschaft bedrohenden »Schicht«, andererseits für die sich in den Städten ballenden Menschenmengen, der Begriff für ein gefährliches, gewalttätiges, offenbar geschichtsmächtiges Kollektivsubjekt. Marx sah das nicht anders als seine konservativen und bürgerlichen Gegner. Bevor er das Proletariat mit dieser Aufgabe bedachte, war die Masse für ihn der Akteur der »wirklichen Geschichte«.10 Die bürgerliche Massenpsychologie des späten 19. Jahrhunderts wusste, dass man mit den Massen zu rechnen hatte. Anstatt ihr vermeintliches Wüten jedoch revolutionär zu adeln, ging es ihr darum, sie durch Aufklärung ihres inneren Wesens an die Kette zu legen. Wissenschaftlich und nicht politisch oder geschichtsphilosophisch dünkte sie sich darin, positive Erkenntnisse der Psychologie auf ein neues Gebiet zu übertragen. Was sie im Kern versuchte, war, das befremdliche und irrationale Verhalten der Massen als eine Art kollektive Hypnose zu dechiffrieren.11 Das zweifellos berühmteste Buch der klassischen Massenpsychologie ist Gustave Le Bons »Psychologie des foules« aus dem Jahre 1895. Le Bon behauptet darin, dass die Masse ein Wesen sui generis, etwas anderes also als nur eine Ansammlung von Menschen sei, dass die Individuen, aus denen sie bestehe, vielmehr auf erstaunliche Weise gleichgeschaltet und ihrer Individualität beraubt würden, sich von bloßen Reizen statt Überlegung (ver-)leiten ließen, kognitiv regredierten und zu impulsivem, zumeist gewaltsamem Handeln tendierten. Die Masse verwandle die Individuen, versetze sie in einen eigenartigen Erregungszustand, in dem sie ihren Trieben und nicht ihren Interessen oder gesellschaftlichen Normen folgten, und reiße sie zu Taten hin, die sie als Individuen, bei klarem Bewusstsein, niemals begangen 10 11

Vgl. Helmut König, Zivilisation und Leidenschaften. Die Masse im bürgerlichen Zeitalter, Reinbek 1992, S. 122–131. Siehe Jaap van Ginneken, Crowds, Psychology, and Politics, Cambridge 1992.

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hätten. Damit scheint Le Bon eine ebensolche Transformation zu beschreiben, wie sie Pio Mutungirehe, Bill Buford und Elias Canetti erleben und bezeugen. Das Problem ist, dass Le Bon für diese Deindividuation keine überzeugende Erklärung anzubieten hat.12 Zwar macht er geltend, dass »das Individuum in der Masse schon durch die Tatsache der Anzahl ein Gefühl unüberwindlicher Macht erlangt, welches ihm gestattet, Instinkten zu frönen, die es allein notwendig gezügelt hätte«.13 Das aber hieße nicht nur, dass, anders als Le Bon selbst annimmt, Menschenauflauf und Masse dasselbe sind,14 sondern auch, dass die Mitglieder einer Masse aus freien Stücken entschieden, die Zügel der Moral, der Sitte und des Rechts fahren zu lassen. Le Bon postuliert indes – und dies ist das Argument, das man mit seinem Namen verbindet –, dass das Individuum sich als Mitglied einer Masse in einem der Hypnose vergleichbaren Zustand befinde. »Die bewußte Persönlichkeit ist völlig geschwunden, Wille und Unterscheidungsvermögen sind dahin […]. Es hat von seinen Handlungen kein Bewußtsein mehr. Wie beim Hypnotisierten können bei ihm, während zugleich gewisse Fähigkeiten aufgehoben sind, andere auf einen Grad höchster Stärke gebracht werden. Unter dem Einflusse einer Suggestion wird es sich in einem unwiderstehlichen Schwunge an die Ausführung bestimmter Handlungen machen. Und dieses Ungestüm ist bei den Massen noch unwiderstehlicher als beim Hypnotisierten, weil die für alle gleiche Suggestion durch Gegenseitigkeit anwächst.«15 Zwar bedürfe die Masse, um in Aktion zu treten – in aller Regel um zu zerstören, manchmal aber »sehen wir sie auch […] von der blutigsten Grausamkeit zum absolutesten Heldentum oder Edelmut übergehen«16 –, nicht anders als der Hypnoti-

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Das gilt im Grunde noch für Philip G. Zimbardo, »The Human Choice. Individuation, Reason and Order versus Deindividuation, Impulse and Chaos«, in: Nebraska Symposion on Motivation 1969, Jg. 17, S. 237–307, es sei denn, man hielte die Annahme einer dualistischen Dr.-Jekyll-and-Mr.-Hyde-Natur des Menschen bereits für eine befriedigende Antwort. Gustave Le Bon, Psychologie der Massen, Leipzig 1908, S. 14. »Unter bestimmten Umständen und bloß unter diesen besitzt eine Ansammlung von Menschen neue Merkmale, ganz verschieden von denen der diese Gesellschaft bildenden Individuen.« Ebenda, S. 9. Ebenda, S. 16. Ebenda, S. 19.

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sierte eines Hypnotiseurs, das heißt eines Führers. Le Bon geht jedoch nicht davon aus, dass Massen sich allein durch Führer konstituieren, zumal ein solcher, seinerseits rekrutiert aus den Reihen der »Nervösen, Erregten, Halbverrückten, die an der Grenze des Irrsinns sich befinden«, »sehr oft […] zuerst ein Geführter war« und selbst erst »von der Idee, deren Apostel er später wurde, hypnotisiert« werden musste.17 Was dann jedoch die Emergenz der Masse bewirkt und zu »tollen Taten« verleitet, bleibt unklar. Le Bon war freilich nicht der Erste und Einzige, der sich anschickte, dieses »Rätsel der Massenpsychologie«18 zu lösen. Die Geschichte der Massenpsychologie oder allgemeiner der Massentheorie ist nichts anderes als die Geschichte der diversen Anläufe, dieses Rätsel aufzuklären. Allerdings wird im Laufe dieser Geschichte nicht nur die Theorie fortentwickelt und umgestellt, sondern ihr Gegenstand selbst wird transformiert. Genauer gesagt, der Massentheorie kommen im 20. Jahrhundert sowohl die Masse als auch die Gewalt abhanden. Zum einen spricht heute nicht nur kaum noch ein Psychologe oder Soziologe von Massen,19 sondern die Existenz von Massen als eines spezifischen Aggregats, einer sozialen Form wie der Gruppe, der Organisation oder des Netzwerks wird weitgehend bestritten.20 In der Tat wurde unter Masse von verschiedenen Autoren (manchmal auch von ein und demselben) Verschiedenstes und sogar Gegensätzliches verstanden. Die einen betonen die schiere Größe der Masse, für andere ist schon die hypnoti-

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Ebenda, S. 84 u. 83. Serge Moscovici, »Die sozialen Körper«, in: Michael Krüger (Hg.), Hüter der Verwandlung. Beiträge zum Werk von Elias Canetti, München 1985, S. 48–64, hier: S. 51. Und selbst die, die es tun, gehen nicht so weit wie Stephen Reicher, der die Massentheorie ins Zentrum sozialwissenschaftlicher Analysen rücken möchte; vgl. ders., »Mass Action and Mundane Reality: An Argument for Putting Crowd Analysis at the Centre of the Social Sciences«, in: Contemporary Social Science 2011, Jg. 6, H. 3, S. 433–449. So z.B. von König, Zivilisation, S. 120. – Eine gewisse, wenn auch anders akzentuierte, auf dezentrale Problemlösung statt soziale Ordnungsprobleme fokussierte Wiederbelebung erfährt die Massenpsychologie mittlerweile unter dem Stichwort »Schwärme«; vgl. Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg.), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009.

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sche Beziehung »eine Massenbildung zu zweien«;21 mal ist die Masse ein Produkt der Moderne, mal etwas Zeitloses; manche meinen mit Masse ausschließlich räumlich an einem Ort versammelte Menschen, manche hingegen zählen auch zerstreute, nur medial zusammengeschlossene Gruppen dazu; für eine Reihe von Autoren sind Masse und Organisation Gegensätze, anderen wiederum gelten organisierte Massen und selbst Massenorganisationen ebenso als Massen wie spontane Aufläufe.22 Zum anderen wurden die Masse oder vielmehr das, was begrifflich an ihre Stelle getreten ist – Versammlungen, Bewegungen oder »einfach« kollektives Handeln oder Verhalten –, von dem Makel befreit, grundsätzlich, regelmäßig oder besonders gewalttätig zu sein.23 Es waren vor allem US-amerikanische Soziologen, und zwar sowohl Parsonianer wie Vertreter der Chicago School, welche in massenhaftem Protest nicht etwa dunkle, die soziale Ordnung als ganze bedrohende Kräfte, sondern vielmehr zivilgesellschaftliches Engagement am Werk sahen.24 Das Rätsel der Massenpsychologie wird auf diese Weise allerdings weniger gelöst als aufgelöst. Gibt es keine Massen als spezifische soziale Gebilde und neigen Menschenansammlungen nicht sonderlich zu Gewalt oder auch nur zu sonstwie exaltiertem Verhalten, dann gibt es auch kein Rätsel der Massenpsychologie. Diese wäre einer Chimäre nachgejagt. Nicht nur hätte der konservative Bürger Le Bon sich vielleicht zwar nicht grundlos vorm Sozialismus gefürchtet, fälschlicherweise aber vorm irrationalen Furor der revolutionären Massen; auch der Revolutionär und später zeitweilige Faschist Georges Sorel hätte sich falsche Hoffnungen gemacht, dass die bloße Massenaktion, der Generalstreik, die klassenlose Gesellschaft aus sich hervortreiben

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Sigmund Freud, »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921), in: ders., Studienausgabe, hrsg. v. Alexander Mitscherlich u.a., Bd. IX, Frankfurt am Main 1974, S. 61–134, hier: S. 107. Vgl. die diversen bei Paul Reiwald, Vom Geist der Massen. Handbuch der Massenpsychologie, Zürich 1946, zusammengestellten Konzeptionen. »Violence is the exception rather than the rule in most gatherings.« Clark McPhail, »Crowd Behavior«, in: George Ritzer (Hg.), Blackwell Encyclopedia of Sociology, Bd. 2, Malden 2007, S. 880–884, hier: S. 881. Siehe Walter R. Heinz, Peter Schöber (Hg.), Theorien kollektiven Verhaltens. Beiträge zur Analyse sozialer Protestaktionen und Bewegungen, 2 Bde., Darmstadt 1972.

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könne.25 In dem Maße, in dem die neuere »Massen«-Theorie die immer schon politische Dimension des kollektiven Handelns expliziert, verwandelt sich zum einen die Masse in eine durchaus auch über gemeinsame Interessen und geteilte Normen integrierte, einander nicht mehr nur persönlich verbundene, aber auch noch nicht formal organisierte Gruppe und wird zum anderen die Gewalt aus einem Wesenszug der Masse zu einem kalkuliert in Anschlag zu bringenden Mittel ebensolcher Kollektive. Die Geschichte der Massentheorie kann andernorts ausführlich nachgelesen werden.26 Drei Etappen dieser Geschichte sollen genügen, um nachstehend die sukzessive Transformation und Umwertung der Masse beziehungsweise ihre mit der Aufwertung des kollektiven Handelns einhergehende »Abschaffung« deutlich zu machen: die Massensoziologie Theodor Geigers, die Theorie emergenter Normen zur Erklärung kollektiven Verhaltens von Ralph Turner und Lewis Killian sowie Charles Tillys politische Bewegungssoziologie. Diese drei Ansätze sind, auch wenn sie nur sehr lose zusammenhängen und schon gar keine notwendige Reihenfolge bilden, gleichwohl Wegmarken einer Theorieentwicklung, die mit guten Gründen als Überwindung falscher Annahmen, als Aufklärung ungelöster Probleme und empirischer Erkenntnisgewinn, ja als wissenschaftlicher Fortschritt verstanden werden kann.27 Sie stehen gemeinsam für die Rationalisierung und »Positivierung« des Masse-Themas. Zur Deutung der eingangs in den drei Vignetten dargestellten Problemlage tragen sie indes kaum oder nur bedingt etwas bei. Im Anschluss daran wird deshalb in einem weiteren Schritt zu fragen zu sein, wie, wenn nicht massentheoretisch, die besagten Gewaltphänomene erklärt werden könnten. Auf einem Umweg über die Gewaltsoziologie, genauer gesagt die Soziologie des Massakers, werden wir indes die Masse oder zumindest einen bestimmten Typ kollektiven Verhaltens wiederentdecken, der, wenn auch empi-

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Siehe Georges Sorel, Über die Gewalt, Frankfurt am Main 1969; Robert A. Nye, »Two Paths to a Psychology of Social Action: Gustave Le Bon and Georges Sorel«, in: Journal of Modern History 1975, Jg. 45, H. 3, S. 411–438. Siehe Michael Gamper, Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765–1930. München 2007; Christian Borch, The Politics of the Crowd. An Alternative History of Sociology, Cambridge 2012. Siehe Clark McPhail, The Myth of the Madding Crowd, New York 1991.

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risch marginal, sozialtheoretisch nichtsdestotrotz von Bedeutung sein könnte. Ob darüber hinaus, was für die klassische Massenpsychologie ebenso selbstverständlich war, wie es für die heutigen Theorien kollektiven Handelns fragwürdig ist, zwischen der Masse und der Gewalt ein mehr als bloß kontingenter Zusammenhang besteht, ist letztlich eine empirische Frage. Konzeptionelle Gründe sprechen zumindest dafür, diese diskursgeschichtlich verschüttete Frage noch einmal zu stellen. Theodor Geigers 1926 veröffentlichte Schrift »Die Masse und ihre Aktion« versteht sich, wie der Untertitel lautet, als »Ein Beitrag zur Soziologie der Revolutionen«. Es handelt sich um eine massensoziologische Arbeit, die zwar schon vorausweist auf die spätere »strukturalistische« Protestforschung Smelsers und das Studium von contentious politics durch Tilly, Tarrow und andere,28 die eigentliche, gewaltsame Massenaktion allerdings noch deutlich und prinzipiell von ihren allgemeineren gesellschaftlichen »Ursachen« oder Hintergründen unterscheidet. Massensoziologie – im Unterschied zu Massenpsychologie – heißt für Geiger, das Verhalten von Massen nicht auf individuelle psychische Dispositionen oder Konzepte wie Ansteckung oder Suggestibilität zurückzuführen, sondern aus den Spezifika dieser Sozialform selbst herzuleiten.29 Geiger bezweifelt nicht, dass Massenmitglieder hochgradig suggestibel sind, nur ist diese Suggestibilität für ihn ein Resultat und nicht Voraussetzung ihrer Verbundenheit mit anderen.30 Für ihn ist die Masse, genauer gesagt die revolutionäre Masse, auf die hin er seinen Massebegriff verengt, eine besondere soziale Gruppe, die wie alle sozialen Gruppen gemeinschaftliche und gesellschaftliche Aspekte in sich vereint. Alle Gruppen sind gemeinschaftlich, insofern sie eine bestimmte Vorstellung gemeinsamer Zugehörigkeit, ein WirGefühl besitzen, und sie sind zugleich gesellschaftlich, insofern sie intern zumindest informell verregelt sind und in Beziehung zu anderen sozialen Gebilden stehen. Die revolutionäre Masse entsteht nun in ihren zwei Zuständen als zunächst latente, potenzielle, von »den Ver-

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Vgl. Neil J. Smelser, Theorie kollektiven Verhaltens, Köln 1972; Charles Tilly/Sidney Tarrow, Contentious Politics, Boulder 2007. Siehe Theodor Geiger, Die Masse und ihre Aktion. Ein Beitrag zur Soziologie der Revolutionen, Stuttgart 1967, S. 193. Vgl. ebenda, S. 117, 119, 124.

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hältnissen« ermöglichte und dann aktive, eigentliche Masse dadurch, dass der Gemeinschafts- und der Gesellschaftsaspekt in Spannung zueinander geraten, um schließlich durch die revolutionäre Aktion der Masse selbst erneut harmonisiert zu werden. Genauer: »Die Geburt der Masse ist spontanes Auflodern lange darbender Gemeinschaftssehnsucht in der Opposition gegen das Überwuchern des Gesellschaftsprinzips.«31 Geiger kreuzt mithin Tönnnies mit Marx: Die moderne Gesellschaft ist in eine herrschende Bourgeoisie und ein auf den Status eines Objekts herabgedrücktes, lediglich negativ integriertes Proletariat gespalten; es fehlt ihr ein gemeinsames Wir. In Gestalt der organisierten Arbeiterbewegung erhebt das Proletariat positiv, als revolutionäre Masse negativ den Anspruch auf soziale (Re-)Integration. »Masse ist die ›Gemeinschaft im großen Nein‹. […] Sie bezieht sich auf ein Nein, das allen geselligen Bildungen von gegenwärtiger Geltung entgegengeschrien wird. […] Masse ist die Gemeinschaft der von positiv wertbezogener Gemeinschaft Ausgeschlossenen in der Negation.«32 Der Protest, die »Massenexplosion«33, richtet sich nicht allein gegen die eigene gesellschaftliche Marginalisierung, sondern gegen soziale Differenzierung überhaupt, gegen alle Ordnung und Form.34 Die revolutionäre Aktion zerstört zwar die bestehende Ordnung (und nimmt dabei nicht einmal Rücksicht auf die Organisationen der Arbeiterschaft), in einem doppelten Sinne aber ist sie auch schöpferisch, insofern sie nicht nur zerschlägt, was einem neuen gesamtgesellschaftlichen Wir im Wege steht, sondern in der Aktion selbst ein solches Wir erfahrbar macht. »In ihrem Tun ist sie destruktiv. […] Als soziale Lebensform aber bedeutet sie Protest gegen die Mechanisierung, das heißt gegen die Versklavung des Menschen durch die soziale Objektivation.«35 Nicht anders als bei Le Bon homogenisiert die Masse an sich heterogene Individuen, allerdings nicht, weil sie sie in einen ganz anderen Zustand versetzte, sondern weil Individuen immer auch Gruppenwesen und nur kontextuell eher sie selbst oder aber vornehmlich Angehörige oder

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Ebenda, S. 73. Ebenda, S. 97. Ebenda, S. 75. Vgl. ebenda, S. 76, 108, 114. Ebenda, S. 168.

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Exponenten eines bestimmten »Verbandes« wie zum Beispiel der Masse sind.36 Und spezifisch für das Erleben der Masse sei nicht allein, dass Emotionen anstelle von (anderen als negativen) Intentionen träten und die Massenmitglieder sich in der Tat wechselseitig stimulierten,37 sondern sich darüber hinaus »im Massenakt […] eine harmonische Auflösung des Individuums« vollziehe. »Diese Integration im Wesenwillen in einer Ära der trostlos erscheinenden Differenziation kürwilliger Gebilde bedeutet einen soziologischen Wert der Masse, der ihr an sich und selbständig zukommt – unabhängig auch davon, worauf sie intendiert.«38 Wie für Le Bon gibt es für Geiger die Masse, ist sie für ihn ein kollektiver Akteur. Auch die Gewaltsamkeit, ja der Gewaltrausch der Masse wird nicht geleugnet. Gleichwohl rationalisiert er die Masse in einem zweifachen Sinne, indem er ihr zum einen eine historische Rolle zur Überwindung der modernen Klassengesellschaft, zum anderen die allgemeinere soziale Funktion zuschreibt, erstarrte soziale und politische Institutionen zu verflüssigen und »die Gemeinschaft« wiederzubeleben, wobei sie diesem letzteren Zweck wohlgemerkt nicht nur zuarbeitet, sondern ihn ephemer immer auch schon erfüllt. Die Masse hat ihren Sinn, ihren »soziologischen Wert«, nicht zuletzt in sich selbst. Eine solche Position wird in der weiteren Geschichte der Massentheorie indes marginal. Forciert wird demgegenüber (wie etwa bei Tilly) die bei Geiger angelegte Differenzierung zwischen der Analyse der Masse als eines politischen und sozialen Akteurs und der Analyse der Masse als einer besonderen Gruppe. (Dazu weiter unten mehr.) Was diese ausmacht beziehungsweise was die Masse oder allgemeiner eine Gruppe von Menschen, die weder miteinander bekannt noch formal organisiert sind, zu gemeinsamem Handeln befähigt, ist die Frage, welche die Theorie emergenter Normen vordringlich beschäftigt. Für die diversen im Anschluss an den symbolischen Interaktionismus entwickelten Theorien des kollektiven Verhaltens gilt freilich, dass für sie das Phänomen der Gewalt randständig wird. Die Masse erscheint den US-amerikanischen Autoren weder als anarchistischer 36 37 38

Vgl. ebenda, S. 184f. Vgl. ebenda, S. 120–123. Ebenda, S. 169.

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Pöbel noch als revolutionäres Subjekt; vielmehr wird aus dem zuweilen gewalttätigen Verhalten der Masse der im Prinzip berechtigte, wenn nicht notwendige zivilgesellschaftliche Protest. Aus den verschiedenen Ansätzen zur Deutung kollektiven Verhaltens ragt die in den späten 1950er Jahren erstmalig vorgelegte und in den folgenden Jahrzehnten behutsam fortentwickelte Theorie emergenter Normen von Turner und Killian hervor, weil sie auf innovative Weise die Vorgänge innerhalb der Masse, die diese zu einer Art Einheit werden lassen, in den Blick nimmt. Auch Turner und Killian arbeiten an der Rationalisierung und Soziologisierung der Masse, die ihnen nicht als hypnotisiertes Kollektivsubjekt gilt, im Unterschied zu diesem allerdings ebenso wenig als revolutionärer Gewalthaufen oder auch nur als insbesondere emotional geprägtes Sozialaggregat. Sie halten gleichwohl daran fest, dass die Mitglieder einer Masse unter bestimmten Umständen ein neuartiges, »massenspezifisches« Verhalten an den Tag legen. Die Theorie emergenter Normen verwirft die Annahme einer einheitlichen Gestimmtheit und mehr noch der Homogenisierung der Massenmitglieder, dennoch räumen Turner und Killian ein, dass es bisweilen zumindest so scheint, als handle eine Masse als – als sei sie ein – Subjekt.39 Tatsächlich werde lediglich das Handeln einiger weniger als situativ angemessen interpretiert und darum entweder geduldet oder gar als vorbildlich angesehen und schließlich nachgeahmt. Allerdings handle es sich bei einer solchen Nachahmung anderer nicht um einen unbewussten Vorgang, sondern um eine bewusste Entscheidung der Nachahmer. Nichtsdestotrotz verwerfen Turner und Killian nicht nur die Le Bon’sche Ansteckungshypothese, sondern ebenso die

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Vgl. Ralph H. Turner, »Collective Behavior«, in: Robert E. L. Faris (Hg.), Handbook of Modern Sociology, Chicago 1964, S. 382–425, hier: S. 390. Die Erstfassung der Theorie emergenter Normen erschien als Ralph H. Turner/Lewis M. Killian, Collective Behavior, Englewood Cliffs 1957; überarbeitete Versionen stammen aus den Jahren 1972 und 1987. Auch wenn der zitierte Handbuch-Beitrag von Turner allein geschrieben wurde, handelt es sich in der Sache um eine Ko-Autorschaft mit Killian. Aufgegriffen und zu einem elaborated social identity model weiterentwickelt wurde die Theorie von Stephen Reicher und Mitarbeitern; siehe z.B. John Drury/ Stephen Reicher, »Collective Action and Psychological Change. The Emergence of New Social Identities«, in: British Journal of Social Psychology 2000, Jg. 39, H. 4, S. 579–604; sowie den Beitrag Reichers in diesem Band.

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seit Allport immer wieder als alternative Erklärung kollektiven Verhaltens ins Spiel gebrachte Konvergenzhypothese, der zufolge es a priori gleiche oder gleichgerichtete Interessen der Massenmitglieder seien, die sie gleichsinnig handeln ließen.40 Vielmehr gehen die Autoren wie schon Geiger aus von dem ebenso schlichten wie theoretisch weitreichenden Umstand, dass Menschen, ob in Menschenaufläufen, anderen Kollektiven oder nicht, in aller Regel unter dem Einfluss anderer stehen. Alles Verhalten ist damit in gewisser Weise Gruppenverhalten.41 Was nun die Besonderheit kollektiven Verhaltens im starken Sinne, das heißt eines zwar nicht formal organisierten und doch irgendwie gerichteten Verhaltens einer physisch kopräsenten Menschenmenge ausmache, sei zum einen die Unbestimmtheit der Situation und zum anderen das mehr oder weniger plötzliche Auftreten, die »Emergenz«, von situationsspezifischen oder genauer die Unbestimmtheit der Situation aufhebenden oder wenigstens tentativ vereindeutigenden Normen. Krisensituationen sind solche, in denen Routinen aufbrechen, Organisationen versagen, die Orientierung schwierig wird und darum nach neuen Fixpunkten und Leitlinien, nach »richtigen« Maßstäben gesucht wird. »The development of a crowd is the act of seeking and supplying justifications for the course of action of the crowd.«42 Dies geschieht zunächst kommunikativ, weshalb Gerüchte in Menschenmengen eine so große Rolle spielen.43 Schließlich ergreift eines oder eine kleinere Gruppe der Massenmitglieder die Initiative und schlägt symbolisch-verbal oder praktisch-handelnd ein Verhalten vor, das von den übrigen als Ausdruck einer situationsadäquaten Norm angesehen wird. Diese Norm wird weniger erfunden oder neu geschaffen als lediglich entdeckt und auf die Situation übertragen – Turner nennt die-

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Vgl. Floyd H. Allport, Social Psychology, Boston 1924, insb. S. 1–13, 292–319. Das zentrale von der Konvergenztheorie ungelöste Problem besteht darin, dass diese nicht anzugeben weiß, warum die Mitglieder einer Masse, die nicht nur ein Interesse haben, in der Masse gleichwohl das (oder ein) ihnen allen gemeinsame(s) Interesse artikulieren. Neuere spiel- bzw. rational-choice-theoretische Varianten zur Erklärung kollektiven Verhaltens sind im Grunde nur eine Fortentwicklung der Konvergenztheorie; vgl. Richard Berk, »A Gaming Approach to Crowd Behavior«, in: American Sociological Review 1974, Jg. 39, H. 3, S. 355–373. Vgl. Turner, Behavior, S. 382. Ebenda, S. 391. Vgl. ebenda, S. 397–403.

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sen Prozess »the discovery of a special but legitimate rule«.44 Um Emergenz handelt es sich, wenn überhaupt, darum nur in einem schwachen Sinne. Es liegt sozusagen ein Vorrat an Normen bereit, der zwar rekontextualisiert werden muss, der den verunsicherten Einzelnen im Prinzip jedoch vertraut ist. Die Masse hebt Turner und Killian zufolge deshalb nicht etwa die Identität ihrer Mitglieder auf, sondern sie aktiviert sie, weil nur so der soziale Druck aufgebaut werden kann, der die situative Normkonformität bewirkt.45 Und weil die Massenmitglieder nur einer neu gewonnenen Norm oder zumindest den Entdeckern dieser Norm folgen, sie nicht aber zu einem »affektierten« Wesen sui generis verschmelzen, verstößt die Masse nicht nur gegen bisherige Konventionen, sondern ebenso beachtet sie Grenzen. Nicht alles abweichende Verhalten ist legitimes Verhalten. Dementsprechend geht an sich seltenem gewalttätigen oder sonstwie extremen Verhalten stets eine längere Phase des Spannungsaufbaus, der gescheiterten Reformen und der vorauslaufenden Rechtfertigung eines solchen Verhaltens voraus. Gewalt ist also kein typischer Affekt der Masse, sondern Ausdruck tiefgreifender sozialer Spannungen.46 Die Funktion (auch eines solchen, des noch gewaltsamen) kollektiven Verhaltens ist es darum, prospektiv Legitimitätsprobleme zu klären und gegebenenfalls einen Institutionenwandel anzustoßen, konservativ indes die bestehende soziale Ordnung mit neuem Leben zu erfüllen und an die Zugehörigkeit aller zu ein und derselben Gesellschaft zu erinnern.47 Diese positive Rolle der Masse oder deutlicher noch ihre politische Dimension, die für Geiger wichtig war, von Tuner und Killian allerdings eher mitgeführt als herausgestrichen wird, wird in der in den 1960er Jahren aufkommenden historischen Bewegungsforschung48 und insbesondere in der Contentious-politics-Schule zum eigentlichen 44 45 46 47 48

Ebenda, S. 397. Vgl. ebenda, S. 392. Vgl. Ralph H. Turner, »Race Riots Past and Present: A Cultural-Collective Behavior Approach«, in: Symbolic Interaction 1994, Jg. 17, H. 3, S. 309–324, insb. S. 313. Vgl. Turner, Behavior, S. 421f. Schlüsseltexte sind George Rudé, The Crowd in the French Revolution, Oxford 1959; Eric J. Hobsbawm, Primitive Rebels: Studies in Archaic Forms of Social Movements in the 19th and 20th Centuries, Manchester 1959; Edward P. Thompson, »The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century«, in: Past and Present 1971, Jg. 50, S. 76–136.

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Thema. Charles Tilly hat diesen Ansatz mit geprägt und in vielen Publikationen vertreten. Von Massen oder gar der Masse ist bei Tilly jedoch nirgends die Rede, und wenn, dann nur in Abgrenzung: »Mob, disorder, and mass movement are […] the words of authorities and elites for actions of other people – and, often, for actions which threaten their own interests.«49 Zurückgewiesen wird nicht nur Le Bon, sondern die gesamte Tradition der Erforschung kollektiven Verhaltens. Um dieses geht es Tilly zwar auch, aber doch – lange Zeit zumindest – in einem weniger spezifischen Sinne als etwa Turner und Killian, insofern nicht die Prozesse und Mechanismen von oder auch nur die Möglichkeit zu kollektivem, gar irgendwie erratischem Verhalten, sondern allein die konkrete politische Rolle von sozialen Bewegungen, ihre Agenda, ihr Handlungsspielraum, ihre materiellen und symbolischen Ressourcen sowie ihr Handlungsrepertoire, das auch, aber längst nicht nur gewaltsame Aktionen umfasst, zum Thema gemacht werden. Tilly interessiert sich weniger für das, was zum Beispiel während eines Demonstrationszugs zwischen oder gar in den Demonstranten vorgeht, als vielmehr für Bewegungen (oder auch bloß Demonstrationszüge) als politische Akteure. Er vertritt einen makro-, keinen mikrosoziologischen Ansatz. Kollektives Handeln als solches stellt für ihn kein besonderes konzeptionelles Problem dar; es ist nichts anderes als die Kooperation von Menschen zur Erreichung gemeinsamer Ziele.50 Die Organisation von Interessen geht dabei der Gründung von Interessenorganisationen (etwa der Arbeiterbewegung) historisch voraus. Organisationen sind mithin ein Mittel unter anderen, auf das Interessengruppen – und das sind bei Tilly in der Hauptsache von der politischen Macht ausgeschlossene oder nur marginal an dieser beteiligte kollektive Akteure – zurückgreifen, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Auch Demonstrationen sind nur ein, und zwar ein vergleichsweise junges, sich erst nach 1800 im Zuge der Duldung von politischer Konkurrenz und im Besonderen der Durchführung von Wahlen verbreitendes Mittel von »Streitpolitik«. Zuvor waren es Volksfeste, Siegesfeiern, Hinrichtungen oder Herrschergeburtstage, anlässlich derer sich immer wieder kollektiver, häufig gewalttätiger Protest

49 50

Charles Tilly, From Mobilization to Revolution, Reading 1978, S. 227. Vgl. ebenda, S. 7.

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(und nicht etwa sinnlose Gewalt) artikulierte.51 Dabei war und ist das Handlungsrepertoire, also auch der Gebrauch und die Formen von Gewalt, den Akteuren wohlbekannt; nicht alles, was prinzipiell möglich wäre, wird auch gemacht.52 Wie bei Turner und Killian unterscheiden die Akteure klar zwischen legitimen und illegitimen Mitteln ihres Protests. Anders aber als bei Turner und Killian ist kollektiver gewaltsamer Protest nichts Ungewöhnliches.53 »Collective violence is not, by and large, the result of a single group’s possession by an emotion, attitude, or idea. It grows for the most part, out of strategic interaction among groups.«54 Die Gewalt, die Tilly in seinen historischen Arbeiten in den Blick nimmt, ist demnach keine der Masse spezifische Gewalt. Diese gibt es für ihn ebenso wenig wie die Masse an sich. Kollektive Gewalt in ihren verschiedenen Formen ist vielmehr ein Mittel im politischen Kampf.55 Der von Le Bon behauptete innere Zusammenhang von Masse und Gewalt ist damit aufgelöst. Bei Tilly, für den die Gewalt zwar durchaus eine Rolle spielt, kommt die Masse nicht nur dem Begriff, sondern auch der Sache nach nicht mehr vor. Geiger hatte Tillys Politisierung und Historisierung der Masse zwar vorgearbeitet, der revolutionären Massengewalt allerdings auch noch eine andere, mehr als oder nicht nur politische, sondern gleichermaßen expressive Qualität attestiert. Bei Turner und Killian, die sich im Unterschied zu Tilly durchaus für die Masse beziehungsweise eine besondere Form von Gruppendynamik interessieren, ist kollektive Gewalt hingegen kein besonderer Gegenstand. Das heißt, sowohl die Masse als auch die nicht-organisierte kollektive Gewalt werden im Zuge der Fortentwicklung der Massenpsychologie rationalisiert: Dass die Masse oder das, was mit diesem Begriff bezeichnet werden soll, sich so darstellt, wie es sich darstellt, hat ebenso einsichtige Gründe wie der gemeinschaftliche Gebrauch von Gewalt – letztlich den, dass »die eigentlichen Akteure« der Masse

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54 55

Vgl. ebenda, S. 167f. Vgl. ebenda, S. 131. Vgl. Charles Tilly, »Collective Violence in European Perspective«, in: Hugh D. Graham/Ted R. Gurr (Hg.), Violence in America: Historical and Comparative Perspectives, Beverly Hills 1979, S. 83–118. Tilly, Mobilization, S. 183. Vgl. Tilly, Violence, S. 113.

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wie kollektiver Gewalt an Routinen, Normen und Werten orientierte, interessengeleitete Individuen sind. Hält man sich an diesen hier skizzierten Theoriestrang, der bis zur klassischen Massenpsychologie zurückverfolgt werden kann, davon unbeschadet aber in eine handlungstheoretische, dem methodologischen Individualismus verpflichtete Soziologie ausläuft, wäre davon auszugehen, dass das von Mutungirehe und Buford bezeugte positive Gewalterleben, ihr Genuss von Täterschaft und Gewaltexzess, ebenso wie der von Canetti beschriebene Taumel nicht auf ihre – vermeintliche – Verstrickung in eine Masse zurückgeführt werden kann. Und umgekehrt: Nicht-organisierte kollektive Gewalt wäre dann zwar eine Gewalt von vielen, nicht aber ein besonderer Typ von Gewalt. Interessanterweise hat Tilly im Jahre 2003 mit »The Politics of Collective Violence« ein seinen zuvor vergleichsweise undifferenzierten Gewaltbegriff und ein Stück weit selbst seinen methodologischen Individualismus revidierendes Buch vorgelegt. Erstens betont Tilly nun, dass kollektive Gewalt, die er definiert als eine von mindestens zwei Tätern verübte, wenigstens ansatzweise koordinierte Handlung, die Objekten oder Personen unmittelbar Schaden zufügt, etwas anderes oder zumindest mehr ist als individuelle Gewalt.56 Folgerichtig geht Tilly zweitens zu Erklärungen kollektiver Gewalt auf Distanz, die diese entweder wertrational auf bestimmte Ideen oder zweckrational auf Motive und insbesondere Gelegenheiten einzelner Akteure zurückführen. Diesen beiden im Prinzip legitimen, brauchbaren, aber eben doch beschränkten Ansätzen stellt er einen dritten, relationalen gegenüber, der ähnlich wie die Theorie emergenter Normen in Rechnung stellt, dass Akteure stets in Beziehung zu und in Austausch mit anderen stehen und darum nicht nur, wohl aber insbesondere kollektives (zum Beispiel Gewalt-)Handeln nur mit Blick auch und gerade auf das Verhältnis der Akteure zueinander verstanden werden kann.57 Und verstehen beziehungsweise aufklären will Tilly verschiedene »Rätsel« kollektiver Gewalt, unter anderem, warum kollektive Gewalt in Wellen auftritt und warum diese ebenso plötzlich auftritt wie verebbt.58 Diese 56 57 58

Siehe Charles Tilly, The Politics of Collective Violence, Cambridge 2003, S. 3f. Vgl. ebenda, S. 5f. Vgl. ebenda, S. 11.

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Rätsel sind wohlgemerkt nicht identisch mit dem Rätsel der Massenpsychologie – tatsächlich grenzt er sich erneut von all denjenigen ab, die davon ausgingen, »dass Massen Individualität auslöschen und ein eigenes Bewusstsein entwickeln«59 –, dennoch verfolgt Tilly jetzt ein der Massenpsychologie ähnliche Fragestellung, nämlich: Wie, wenn nicht allein kulturell oder motivational, ist (auch und gerade nicht-organisierte) kollektive Gewalt im Allgemeinen und vor allem wie sind ihre spezifischen Formen zu erklären? Welche Formen dies sind und wie sie sich ordnen lassen, erläutert er anhand eines zweidimensionalen Schemas.60

59 60

Ebenda, S. 18 (meine Übersetzung). Ebenda, S. 15 (»A Typology of Interpersonal Violence«).

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Auf der x-Achse wird die Zunahme von Gewaltintensität dargestellt; bei Tilly heißt es »salience of short-run damage«. Die y-Achse misst den Koordinationsgrad der Akteure. Hinter den sechs Typen kollektiver Gewalt verbirgt sich eine empirisch sehr viel größere Zahl von Gewaltphänomen. Deren Reduktion und Zuordnung ist Zweck der Klassifikation. Beispielsweise umfassen »Gewaltrituale« so disparate Phänomene wie öffentliche Beschämungszeremonien, Lynchmorde, öffentliche Hinrichtungen, Gangrivalitäten, bestimmte Kontaktsportarten, manche Wahlkämpfe sowie Auseinandersetzungen zwischen Sport- oder Popfans. Versucht man die Taten der Mörderbande um Pio Mutungirehe während des ruandischen Genozids, die von Buford beschriebenen Straßenkämpfe zwischen Hooligans und Canettis Erlebnisse während des Sturms auf den Wiener Justizpalast oder allgemeiner formuliert »Massengewalt«, das heißt mehr oder weniger spontane, auf jeden Fall nicht-organisierte, wenn nicht außeralltägliche, so doch tendenziell überbordende kollektive Gewalt in der Typologie unterzubringen, dann wäre diese im Schnittfeld von hoher Gewaltintensität und geringer Koordination zu verorten. Dort findet man bei Tilly indes die Typen »Krawall« (zum Beispiel Kneipenschlägereien oder Straßenkämpfe) und »Opportunismus« (etwa Plünderungen oder Gruppenvergewaltigungen), Kategorien mithin, unter die sich Massengewalt nicht oder nur bedingt subsumieren lässt. Am ehesten zuzuordnen scheinen die eingangs geschilderten Gewalterfahrungen vielmehr dem Typus »Gewaltritual«, auch wenn diese Gewaltform als starrer charakterisiert wird als die »koordinierte Zerstörung«, was freilich der scheinbaren Spontaneität oder Emergenz der Massengewalt, dem Gefühl der Überwältigung durch diese entgegensteht – es sei denn, das Skript, von dem Tilly spricht, wird weniger bewusst vollzogen als vielmehr spontan, vor- oder unbewusst ausgeführt.61 Dass die Typologie demnach nicht vollständig ist beziehungsweise aufgrund (oder auch trotz) ihres (phänomenologischen und nicht motivationalen) Bauprinzips gewisse Typen von Gewalt nicht ab-

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Eben diese These wird von Randall Collins, Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie, Hamburg 2011, S. 130–201, im Hinblick auf das, was er »Vorwärtspanik« nennt, entfaltet. Siehe dazu auch den Beitrag von Collins in diesem Band. – Zur Bedeutung und Erklärungskraft des wissenssoziologischen Skript-Begriffs vgl. den Beitrag von Thomas Klatetzki in diesem Band.

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zubilden vermag, zeigt sich weiterhin daran, dass eine anders als die Massengewalt in ihrem Vorkommen nicht umstrittene, zwar vergleichsweise spärlich erforschte, wohl aber prominente Form der kollektiven Gewalt, das Massaker nämlich, fehlt.62 Und damit nicht genug: Zwischen der Massengewalt, verstanden als rauschhafte, nichtorganisierte kollektive Gewalt, und dem Massaker gibt es offenbar Überschneidungen. Wenn es stimmt, dass zwar nicht alle Massengewalt in Massaker mündet – ebenso wenig wie nicht jede Masse zu einer »Gewaltmasse« werden muss –, wohl aber dass Massaker immer das Werk einer Gewaltmasse sind, dann müsste sich über das, was wir über das Massaker wissen, Licht in die Dynamik der Massengewalt und weitergehend vielleicht sogar – so es sie gibt – in das Wesen der Masse bringen lassen. Was also ist das Massaker? Das Massaker ist ein kollektiver Gewaltexzess an Wehrlosen. Es wird stets gemeinschaftlich, von einer Gruppe von Tätern, begangen, und die Gewaltaktion begnügt sich nicht damit, vermeintliche Gegner festzusetzen oder auszuschalten, sondern die Opfer, Menschen, aber auch Tiere und Eigentum, deren Makel allein darin besteht, einem, zumeist dem gegnerischen Kollektiv an- beziehungsweise zuzugehören, werden vernichtet. Sie werden in der Regel nicht einfach getötet, sondern gequält, ihre Tötung wird häufig inszeniert, variiert und in die Länge gezogen. Zwar werden Massaker zumeist im Kontext von Kriegen und Bürgerkriegen verübt, weshalb sie durchaus politisch befohlen und/oder ideologisch motiviert sein mögen. Die militärisch sinnlose oder überschießende Gewalt könnte in diesem Fall eine Botschaft an den Feind sein, ein Versuch, ihn abzuschrecken, einzuschüchtern oder sich für seine tatsächlichen oder imaginierten Gräueltaten zu rächen. Ebenso häufig kommt es indes zu Massakern, welche die militärisch-politische Führung lieber vermieden hätte oder nicht sähe. Des Weiteren sind es nicht immer (para-)mi-

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An theoretischer Literatur zum Massaker siehe Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996, S. 173–190; Jacques Sémelin, Elemente einer Grammatik des Massakers, in: Mittelweg 36 2006, Jg. 15, H. 6, S. 18–40; ders., Säubern und Vernichten. Die Politik der Massaker und der Völkermorde, Hamburg 2007; Stefan Klusemann, »Massacres as Processes: A Micro-sociological Theory of Internal Patterns of Mass Atrocities«, in: European Journal of Criminology 2012, Jg. 9, H. 5, S. 468–480.

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litärische Verbände, welche Massaker verüben; nicht alle Massaker sind geplant, manche entwickeln sich vielmehr spontan und werden von Zivilisten exekutiert. Die Täter wiederum – seien es ausgebildete Gewaltexperten oder »Laiendarsteller« – sind keine psychiatrischen Fälle, keine krankhaften Sadisten, sondern »ganz normale Männer«,63 zuweilen auch Frauen und Kinder. Viele der Täter sind ideologisch nicht (sonderlich) motiviert, und selbst wenn sie es sind, folgen die Bereitschaft und die Fähigkeit, den Feind zu vernichten, keineswegs bruchlos aus ihrer Überzeugung. Und schließlich reichen auch opportunistische Motive einzelner Täter nicht hin, um das Auftreten und die Charaktere des Massakers zu erklären. Eine Erklärung für die über die Zeiten und einzelne Konflikte hinweg erstaunlich ähnlichen Züge von Massakern muss darum, kann allerdings auch auf einer Ebene zwischen kontextuellen Makroursachen und individuellen Mikromotiven gefunden werden. Der Dreh- und Angelpunkt einer solchen Erklärung ist der Umstand, dass Massaker in Gruppen verübt werden. Es sind Gruppenprozesse, welche die, wie Sémelin schreibt, passage à l’acte und damit das Massaker möglich machen.64 Zum einen, in der Vertikalen, sind es Autoritätsbeziehungen, die Akteure dazu bringen, Taten zu begehen, die im Prinzip, das heißt außerhalb des durch diese Autoritätsbeziehungen konstituierten Rahmens, unmoralisch, abwegig oder nicht einmal vorstellbar wären. Diese Autoritätsbeziehungen sind nicht identisch mit Zwang, denn wer sich einer Autorität unterstellt – und dies braucht kein formaler Akt zu sein; schon die Hinnahme der Führerschaft eines anderen genügt65 –, erklärt sich grundsätzlich bereit, deren Anweisungen zu akzeptieren. Sicherlich gibt es Grenzen der Akzeptanz, nicht je-

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Vgl. Christopher R. Browning, Ganz Normale Männer: Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, Reinbek 1993. Zum Folgenden vgl. Sémelin, Säubern, S. 262–303; in der deutschen Übersetzung wird die, wie es im französischen Original heißt, passage à l’acte (Purifier et détruire. Usages politiques des massacres et génocides, Paris 2005, S. 16) als »Zur-Tat-Schreiten« wiedergegeben (Säubern, S. 11). – Versteht man diese Gruppenprozesse als Skript eines besonderen Gewaltrituals, lässt sich das Massaker etwas verschoben auch in Tillys Typologie verorten. Ich verweise an dieser Stelle nur summarisch darauf, dass diese Einsicht und diverse andere der nachstehend aufgeführten gruppendynamischen Mechanismen sich ähnlich auch bei Turner und Killian finden lassen.

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der Befehl wird automatisch exekutiert. Wer den Gehorsam oder nur das bloße Mitmachen verweigert, hat zunächst jedoch einen inneren Widerstand zu brechen, der daraus erwächst, dass er sich freiwillig gebunden hat. Gerade ein moralisch autonomes Individuum, eine Person, die sich für ihr Handeln verantwortlich fühlt, wird sich vergleichsweise schwer damit tun, eine selbst gewählte Bindung zu kappen, einer »Pflicht« nicht nachzukommen, die sie sich gewissermaßen selbst auferlegt hat. Hinzu kommt, dass die Autorität, der man folgt – gerade wenn es sich dabei nicht um »bloß formal« zur Führung berechtigte Personen handelt –, sich in der Regel nicht ohne Berufung auf Gründe behauptet, sondern ihrerseits als Repräsentant einer höheren, ideellen Autorität fungiert – sei es der überlegenen Werte, des Allgemeinwohls oder auch »nur« der Selbstbehauptung der Gruppe. Einer solchen Autorität nicht zu folgen, heißt dann zugleich, Prinzipien zu verraten. Zum anderen, in der Horizontalen, sind es die Bindungen der Akteure aneinander, ist es die Solidarität mit der Gruppe, die dazu führt, sich an Handlungen zu beteiligen, die gegen das Selbstbild oder die privaten Intentionen verstoßen. Ebenso wie Gruppen in Situationen radikaler Verunsicherung, in Momenten, in denen die vertrauten sozialen Strukturen, gruppeninterne Strukturen wie die Beziehungen von Gruppen zueinander, unter Spannung geraten, zu zerbrechen drohen oder tatsächlich zerbrechen, persönliche Führerschaft sehr schnell als vorläufiger Strukturersatz einspringt, wird die Zugehörigkeit zur Gruppe, genauer: zu einer Gruppe, in Krisenzeiten existenziell. Es ist letztlich die Angst vor dem Ausschluss, die Gruppenmitglieder fest zusammenstehen lässt. »Alleinsein steckt bei uns voller Risiken«, sagt Alphonse Hitiyaremye, ein anderes Mitglied der von Hatzfeld interviewten Bande ruandischer Völkermörder. »Hohn kann einem das Leben vergiften. Man versucht natürlich, sich vor so etwas zu schützen. Also schließt man sich dem Lager derer an, die andere verhöhnen. Wenn das Töten losgeht, macht es einem weniger aus, mit der Machete zuzuschlagen, als dieses Gespött und Geschimpfe auszuhalten.«66 Die

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Hatzfeld, Zeit der Macheten, S. 245. – Dies ist natürlich eine andere, letztlich individualistische Erklärung für die Beteiligung am Morden als die eingangs angeführte »massensoziologische« Aussage Mutungirehes; beide stammen indes nicht nur von zwei verschiedenen Personen, sondern können ebenso als gemischte Motivlagen oder Phasen der Verstrickung verstanden werden.

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Angst, sich als Angehöriger der eigenen Gruppe zu dequalifizieren, die Angst vor dem Gesichtsverlust, verleitet nicht nur Jugendliche zu diversen Tollheiten; sie kann stärker sein als die Scheu, »für« die Gruppe Unschuldige zu ermorden. Umgekehrt kann die Scham, die anderen die »Dreckarbeit«, nicht nur blutige, sondern blutige und moralisch falsche Taten, nicht allein machen lassen zu wollen, die Zögerlichen dazu bringen, es ihnen gleichzutun.67 Die »Feigheit vor dem Freund« ist moralisch abgründiger und kann fürchterlicher sein als die vor dem Feinde. Das Mitmachen ist eine Schwelle; gruppendynamisch lässt sich plausibilisieren, wie sie überschritten werden kann. Zu erklären bleibt die überschießende Gewalt. Sémelin hält sie in erster Linie für eine paradoxe »praktische« Rechtfertigung des Massakers selbst: Wer Unschuldige beziehungsweise Wehrlose tötet, wer die Schwelle zum sinnlosen Morden überschritten hat, »muss«, so der Gedanke, sein Tun dadurch rechtfertigen, dass die Gewalt den Opfern ihre Menschlichkeit nimmt, dass sie nicht nur tote Körper, sondern leblose »Gegenstände« produziert.68 Die Grausamkeit wäre dann nicht Ausfluss einer konstitutionellen Brutalität der Täter, sondern Konsequenz der Entscheidung, sich auf das Morden eingelassen zu haben. Die Opfer würden entstellt, eben um sie unkenntlich, als nicht länger als (Mit- oder »Auch«-)Menschen erkennbar machen zu machen. Dass das gemeinschaftliche Töten zudem einen Gewalt- und Freiheitsrausch, dass das Massaker Transzendenzerfahrungen auslösen kann, hält Sémelin für möglich, wenn auch nicht den Regelfall.69 Eben dies, das Massaker gewissermaßen aus dem Gewaltrausch abzuleiten, anstatt diesen als mögliche Folge gruppendynamischer Prozesse zu interpretieren, als Versuch, die ideologisch vorlaufende Entmenschlichung der Opfer praktisch einzuholen, tut Wolfgang Sofsky. Auch wenn er damit »ohne Not« eine Erklärung der Grausamkeit ver67

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Vgl. Axel T. Paul, »Crimes de sang, itinéraires de la honte. Humiliation et culpabilité au génocide rwandais«, in: Bénédicte Sère/Jörg Wettlaufer (Hg.), Shame between Punishment and Penance. The Social Usages of Shame in the Middle Ages and Early Modern Times, Florenz 2013, S. 369–388. Vgl. Sémelin, Säubern, S. 276–280; ders., Elemente, S. 37f. Ebenso argumentiert Arjun Appadurai, »Dead Certainty: Ethnic Violence in the Era of Globalization«, in: Public Culture 1998, Jg. 10, H. 2, S. 225–247. Siehe Sémelin, Säubern, S. 291.

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absolutiert,70 wird uns »seine« dunkle Anthropologie der Gewalt oder genauer: werden uns seine Gewährsmänner gleichwohl auf unser Thema zurückführen. Sofsky gebührt das Verdienst, im Zuge einer Gegenbewegung zu einer sich weithin in vermeintlicher Ursachenforschung erschöpfenden Gewaltsoziologie nicht nur, wie andere Autoren auch,71 auf eigendynamische Prozesse bei der Ausübung von Gewalt, sondern darüber hinaus erneut und mit Nachdruck auf das Phänomen der »absoluten« oder auch »selbstgenügsamen«, das heißt nicht etwa bescheidenen, sondern vielmehr um ihrer selbst willen verübten und überschießenden Gewalt aufmerksam gemacht zu haben.72 Längst nicht alle Gewalt ist lediglich Mittel zum Zweck, genauer gesagt Mittel zu einem jenseits der Gewaltsituation liegenden Zweck. Sie ist nicht nur und nicht immer Folge ihr äußerlicher Umstände und Entscheidungen, sondern sie unterliegt, wenn nicht einer ihr eigenen Prozesslogik, doch zumindest einer Logik der Situation. Sinn oder Ziel einer absoluten, ihre Opfer nicht nur zwingenden, überwältigenden, lediglich tötenden, sondern einer sie quälenden, sich an deren Leiden ergötzenden Gewalt ist Sofsky zufolge das Gefühl, der Rausch der absoluten Freiheit, sich über alle kulturellen Ge- und Verbote hinwegzusetzen. Um einen Rausch handelt es sich, weil der Figur der Überschreitung eine Logik der Selbstüberbietung eingeschrieben ist, und um ein Gefühl der Freiheit – und hier nimmt Sofsky einen

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Vgl. Michel Wieviorka, Die Gewalt, Hamburg 2006, S. 148–177. Siehe u.a. Friedhelm Neidhardt, »Über Zufall, Eigendynamik und Institutionalisierbarkeit absurder Prozesse. Notizen am Beispiel einer terroristischen Gruppe«, in: Heine v. Alemann/Hans Peter Thurn (Hg.), Soziologie in weltbürgerlicher Absicht. Festschrift für René König zum 75. Geburtstag, Wiesbaden 1981, S. 243–257; Helmut Willems, »Fremdenfeindliche Gewalt: Entwicklung, Strukturen, Eskalationsprozesse«, in: Gruppendynamik 1992, Jg. 23, H. 4, S. 433–448. Zum Folgenden: Sofsky, Traktat, S. 45–63. Freilich ist Sofsky nicht der Erste und Einzige, der diese Form von Gewalt in den Blick nimmt, wohl aber derjenige, der sie in jüngerer Zeit wie kein Zweiter »popularisiert« hat. Schon vor Sofsky spricht Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen 1992, S. 66–69, von »totaler Macht«; Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 116–124, nennt diese Gewaltform »autotelisch«. Zu den Grenzen eines rationalistischen Gewaltbegriffs vgl. Ferdinand Sutterlüty, »Ist Gewalt rational?«, in: WestEnd, 2004, Jg. 1, H. 1, S. 101–115.

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zentralen Gedanken Canettis auf73 – auch und gerade deshalb, weil der Mörder sich, indem er andere tötet, von seiner eigenen Todesfurcht befreit: »Wer noch am Leben ist, wo andere schon tot sind, erfährt den Enthusiasmus des Überlebens.«74 Und stärker noch als die Erfahrung, den anderen zufällig oder unverdient zu überleben, ja süchtig machend sei die Erfahrung, sich über den Tod zu erheben, indem man ihn austeilt. Töten wäre mithin eine Art von »Über-Leben«. Man mag die Apodiktizität dieser Aussage bezweifeln wie auch den Verbreitungsgrad leidenschaftlicher Gewalt, festzuhalten jedoch bleibt die Einsicht, dass Gewalt ihren Sinn in sich selber respektive im »bloßen« Überleben des anderen finden kann, und das heißt auch, dass die Motive, die sie tragen und eskalieren lassen, dieser nicht vorhergehen müssen, sondern im Akt der Gewalt selbst allererst entstehen können. Das Massaker ist nach Sofsky nichts anderes als die kollektiv(iert)e und darum noch einmal gesteigerte Version des Rausches der absoluten Gewalt.75 Auch und gerade im Massaker wird Gewalt um der Gewalt willen ausgeübt. Die Akteure machen sich von allen Erwägungen frei, die dem Massaker vorausgegangen sein oder aus ihren Taten folgen mögen. Vielmehr wird die Gewalterfahrung der Täter zum SubjektObjekt des Geschehens. Aus Gewalt wird Gewaltlust, weil die Täter sich im Exzess als allmächtig, als frei, als zu allem befreit und gewissermaßen unsterblich erfahren. Die den Opfern zugefügten Qualen sind ein Mittel der Selbstentgrenzung. Die Sinnlichkeit und Körperlichkeit des Mordens verschaffen den Tätern ein Flow-Erlebnis.76 All dies sind Merkmale schon der individuell verübten absoluten Gewalt. Das kollektive Massaker, die physische Kopräsenz weiterer Täter, hebt diese Erfahrungen auf eine neue Stufe: Die Selbstüberschreitung realisiert sich als Gewaltkonkurrenz der Täter untereinander. Die Taten der einen spornen die anderen an, sie zu überbieten. Auch dann, wenn das 73

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Vgl. Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt am Main 1980, S. 249–254. – Dieses Buch, so Sofsky, sei ihm »unverzichtbar geworden. Wer damit befasst ist zu verstehen, was Menschen einander antun, den lehrt Canetti klare Sicht.« Wolfgang Sofsky, »ErlesenZerlesen«, in: Süddeutsche Zeitung, 9. 3. 1995, S. 15. Sofsky, Traktat, S. 56. Zum Folgenden siehe ebenda, S. 173–190. Vgl. Mihaly Csikszentmihalyi, Das flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen, Stuttgart 1985.

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Massaker keine eigentlichen Zuschauer hat, gibt es in jedem Fall »die eigenen anderen«. Die Gruppe der Täter ist damit ihr eigener Voyeur. Darüber hinaus ermöglicht das Massaker die paradoxe, weil gemeinschaftliche Erfahrung von absoluter Freiheit. Frei und Mitglied einer Gruppe zu sein, wird nicht als Gegensatz erlebt; im Gegenteil: Die Mörder empfinden sich als frei und gleich. Ihre Konkurrenz untereinander tut dem keinen Abbruch. Das gemeinsame Töten schafft Gleichheit zwischen den Tätern, es hebt Statusunterschiede auf und beseitigt damit die Distanzen, welche sie ansonsten trennen. Mehr noch als dass es einer dem Massaker vorhergehenden, die Opfer aus dem »universe of obligation«77 exkludierenden Identitätspolitik bedarf, versieht das Massaker die Tätergruppe mit einer neuen, starken, weil den gewöhnlichen Maßstäben entrückten Identität. Es erzeugt »eine emotionale Gemeinschaft jenseits aller Moral«.78 Man hat Sofsky dafür kritisiert, Gewalt nicht nur zu analysieren, sondern auch zu verklären, sich selber in eine Art sekundären Gewaltrausch hineinzuschreiben, Gewaltpornografie zu betreiben.79 In der Tat schreibt Sofsky »einfühlend«, so, als hätte er einen privilegierten inneren Zugang zu den Tätern, beinahe so, als wäre er selbst einer von ihnen. Einen solchen Zugang, einmal angenommen er wäre überhaupt möglich, hatte und hat er nicht. Sofsky arbeitet im Wesentlichen auf der Basis gedruckter Texte, auch schriftlicher Quellen von Tätern, vor allem aber historischer und theoretischer Literatur. Seine »Erlebnisberichte« sind insofern natürlich fingiert. Gleichwohl – eben darum wahrscheinlich – gelingt es ihm, Erlebnisqualitäten zu evozieren, die in entsprechenden Quellen von den Beteiligten selbst berichtet werden. Wie auch Jack Katz stellt er die Positivität der Gewalt in Rechnung, den Umstand, dass Gewalt für die Täter einen Eigenwert besitzen und mithin außerordentlich attraktiv sein kann.80 Das Skandalon der Gewalt besteht nicht allein darin, dass Menschen vorsätzlich verletzt 77 78 79

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Helen Fein, Accouting for Genocide. National Responses and Jewish Victimization during the Holocaust, New York 1979, S. 4. Sofksky, Traktat, S. 188. Siehe z.B. Herbert Willems, [Rezension von] »Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1998, Jg. 50, H. 2, S. 362–364. Siehe Jack Katz, Seductions of Crime. Moral and Sensual Attractions in Doing Evil, New York 1988.

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und getötet werden, dass Menschen ihre Interessen immer wieder gewaltsam anstatt auf dem Wege von Tausch, Kompromiss und Vertrag durchzusetzen streben, sondern auch, wenn nicht im Besonderen darin, dass Gewalt den Opfern nicht nur Leid bringt, sondern den Tätern Freude machen kann, dass diese sich nicht immer und nicht notwendigerweise als Zerstörer, sondern ebenso als Schöpfer wahrnehmen. Sofsky orientiert sich in diesem Punkt freilich weniger an Katz als an Georges Bataille, einem für seine Gewalttheorie kaum weniger wichtigen Autoren als Elias Canetti. Der Aufregung um Sofsky zum Trotz ist Bataille ein von der Gewaltforschung (wie der nicht französischen Soziologie überhaupt) zu ihrem eigenen Schaden weithin übergangener Schriftsteller und Theoretiker.81 Bataille ist indes ein Autor, dessen Arbeiten sich, wie jüngst von Bernhard Giesen gezeigt, neben denen Victor Turners nicht nur im Hinblick auf die Frage nach einem möglicherweise spezifischen Typ von Massengewalt fruchtbar machen lassen,82 sondern die uns darüber hinaus nicht nur als Ausgangspunkt einer theoriegeschichtlichen »Rückreise« von der Gewaltsoziologie zur klassischen Massenpsychologie, sondern auch als erster (oder auch weiterer) Baustein einer Theorie der Masse dienen können. Schon die Thematisierung des Massakers zielte wohlgemerkt nicht auf den Nachweis, dass Massen noch über die Annahmen Le Bons hinaus nicht nur zur Gewalt neigten, sondern regelmäßig Massaker verübten. Beabsichtigt ist vielmehr, ausgehend von der Gewaltform des Massakers allgemeinere massentheoretische Einsichten zu gewinnen. Diese Linie soll im Folgenden ausgehend von Bataille und Turner über Canetti und Max Scheler bis hin zu Gabriel Tarde weiterverfolgt werden. Batailles zentrales Thema ist nicht die Gewalt als solche, sondern die Überschreitung. Phänomene, in denen sich die Überschreitung ausdrücken kann, sind die Verschwendung, weltliche Feste und religiöse Rituale, das Spiel, die Sexualität oder eben auch die Gewalt. Zwischen individueller und kollektiver Überschreitung wird von Bataille nicht 81 82

Siehe allerdings Michael Riekenberg (Hg.), Zur Gewaltsoziologie von Georges Bataille, Leipzig 2012. Siehe Bernhard Giesen u.a., »Amok, Folter, Hooligans. Gewaltsoziologie nach Georges Bataille und Victor Turner«, in: Riekenberg, Gewaltsoziologie, S. 73–102.

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prinzipiell unterschieden. In Anschluss an Durkheims Religionssoziologie geht er (wie seine Mitstreiter aus dem Collège de Sociologie) aus von einer Dialektik, einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis von Ordnung und Unordnung.83 In allen Gesellschaften, so Bataille, steht eine Welt des »Homogenen«, des Bekannten, des Normalen, des Geregelten und des Maßes, einer Welt des »Heterogenen«, der Abweichung, der Ausnahme, des Verdrängten, des Zügellosen, der Übertreibung, des Schmerzes und der Lust, gegenüber. Ohne dies näher auszuführen, rechnet er die Masse explizit dem Bereich des Heterogenen zu.84 In diesen Bereich auszugreifen, die gleichermaßen inneren wie äußeren Grenzen zu überschreiten und das Heterogene zu- oder auch geschehen zu lassen, ist ein Akt der Souveränität, weil er die menschengemachte, gesellschaftliche Ordnung aushängt, ohne sie abzuschaffen. Gut hegelianisch ist die Überschreitung nur Überschreitung, insofern die Grenze im Prinzip – man könnte auch sagen, das Prinzip der Grenze oder, kosmologisch gewendet, die Diskontinuität des Daseins – anerkannt wird. Ebenso wenig wie beispielsweise der Geschlechtsakt die Trennung der Geschlechter aufhebt, sondern, im Falle der Zeugung eines Kindes, sogar perpetuiert, hebt Gewalt »die Ordnung« nicht auf, sondern setzt und garantiert sie sie auch.85 Die Masse wäre in diesem Sinne zwar das Andere der je besonderen gesellschaftlichen Differenzierung, zugleich aber so etwas wie ein soziales Magma, ein noch

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Bei Durkheim spielt die Masse nominell zwar keine besondere Rolle, der Sache nach jedoch ist seine Theorie der sozialen Gärung, der nicht nur, aber menschheitsgeschichtlich zunächst und besonders in religiösen Riten erzeugten Efferveszenz (vgl. Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main 1981, S. 295–301), aus der heraus ein Kollektiv sich überhaupt nur als Einheit erfährt, in die, wenn vielleicht auch nicht die ganze Gesellschaft, so doch regelmäßig Teile von ihr eintauchen müssen, um das soziale Band und damit sich zu verjüngen, nichts anderes als eine Theorie der Masse. Vgl. dazu den Beitrag von Paul Richards in diesem Band. – Die Arbeiten des Collège de Sociologie sind versammelt in Denis Hollier (Hg.), Das Collège de Sociologie 1937–1939, Frankfurt am Main 2012. Siehe Georges Bataille, Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität, München 1978, S. 17. Vgl. Popitz, Phänomene, S. 61–66, weiterführend, Trutz von Trotha, »Ordnungsformen der Gewalt oder Aussichten auf das Ende des staatlichen Gewaltmonopols«, in: Brigitta Nedelmann (Hg.): Politische Institutionen im Wandel, Opladen 1995, S. 129–166. Eine alternative Konstitutionstheorie der Gewalt findet sich bei René Girard; siehe dazu den Beitrag von Paul Dumouchel in diesem Band.

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Formloses, aus dem diese gleichwohl hervorgeht und gegen das diese sich abgrenzt.86 Auf ähnliche Weise lässt sich die Ritualtheorie Victor Turners, die zwar anders als das Werk Batailles nicht ausdrücklich in der Tradition Durkheims steht, dessen Religionssoziologie der Sache nach gleichwohl außerordentlich nahe ist,87 gewaltsoziologisch beziehungsweise massentheoretisch fruchtbar machen.88 Rituale, so Turner, haben zumindest in traditionellen Gesellschaften, in denen sie verbindlich sind und ernst genommen werden, eine mittlere »liminale« Phase, in der die gewöhnlichen Regeln des Zusammenlebens für die Teilnehmer am Ritual suspendiert sind. Liminalität bezeichnet einen vorübergehenden Zustand der Unordnung und des Orientierungsverlustes, eine Phase, in der alles möglich und darum nichts sicher erscheint, die eben darum jedoch die Kreativität der rituellen »Praktikanten« stimuliert, Fantasien und Affekte freisetzt, die im Rahmen des zeitlich und räumlich eingegrenzten Rituals nicht nur kompensatorisch ausgelebt werden können, sondern der Erneuerung des gesellschaftlichen oder in diesem Kontext besser des gemeinschaftlichen Zusammenhalts dienen. Anders als bei Bataille geht es bei Turner mithin stets um kollektive Prozesse. Dementsprechend impliziert Liminalität nicht nur Permissivität, sondern auch und vor allem, dass die Ritualteilnehmer eine existenzielle communitas bilden, eine spontane soziale Einheit von beziehungsweise mit kopräsenten anderen, eine Gemeinschaft der Gleichen, die alle sozialen Differenzen einschmilzt, oder, wie Turner in Anlehnung an Buber sagt, ein »wesenhaftes Wir«.89 Turner betont vor 86 87

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Der Begriff Masse stammt übrigens ab von der lateinischen massa, zu deutsch Teig oder Klumpen. Siehe Tim Olaveson, »Collective Effervescence and Communitas: Processual Models of Ritual and Society in Emile Durkheim and Victor Turner«, in: Dialectical Anthropology 2001, Jg. 26, H. 2, S. 89–124. Sofsky sind Turners Arbeiten ebenfalls geläufig: Der zu FN 78 gehörige Satz lautet vollständig: »Das Massaker ist die soziale Anti-Struktur par excellence, eine emotionale Gemeinschaft jenseits aller Moral.« Der Begriff Anti-Struktur stammt von Turner. – Dass exzessive Massengewalt nicht willkürlich und formlos ist, sondern vielmehr rituell motiviert sein kann, zeigt auch Natalie Zemon Davis, »The Rites of Violence: Religious Riot in Sixteenth-Century France«, in: Past and Present 1973, Jg. 59, S. 51–91. Victor Turner, Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt am Main 2005, S. 133. – Turner könnte sich auch auf Geiger, Masse, S. 184, berufen: »Es gibt in der

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allem die gesellschaftlich integrative Funktion des Rituals, räumt jedoch ein, »daß alle Manifestationen der Communitas, aus der Perspektive der an ›Strukur‹-Erhaltung Interessierten betrachtet, als gefährlich und anarchisch erscheinen«.90 Liminalität heißt kollektive Überschreitung. Und nicht nur das: Die Gleichung ist offenbar umkehrbar, das heißt, die kollektive Überschreitung selbst vermag Menschen in den Zustand der Liminalität zu versetzen. Insbesondere in modernen »ritualschwachen« Gesellschaften, in denen das »Liminoide«, die Freizeit, die Unterhaltung, die Zerstreuung oder der Sport, an die Stelle ritueller Liminalität rückt,91 können außeralltägliche Ereignisse oder Extremsituationen zum Anlass eines sozialen Aggregatwechsels, eines Umschlags von »Struktur« in »Anti-Struktur« werden – oder auch: um dieses Umschlags wegen aufgesucht werden.92 Eben dies scheint das Geheimnis oder vielmehr das praktische Wissen der Hooligans zu sein.93 Die gewaltsame Konfrontation mit gegnerischen »Fans« fungiert offenbar als Medium, die eigene, zunächst aus vielen Einzelnen bestehende Gruppe in eine communitas beziehungsweise in eine Gewaltmasse, das heißt einen besonderen Typ von communitas, zu verwandeln. Offenbar handelt es sich bei dieser von und aus derartigen »Massen« heraus verübten Gewalt um einen spezifischen Typ von Gewalt: Sie ist tendenziell exzessiv, ihrem Wesen nach kollektiv, das heißt die Tat einer Gemeinschaft und nicht bloß die Summe der Taten Einzelner, nichtsdestotrotz aber nicht oder nur außerordentlich schwach koordi-

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Tat ein seelisches Subjekt ›Wir‹, d.h. ein Subjekt, das seelischer Akte fähig ist, die dem Ich nicht zukommen. […] Das Ich denkt, fühlt, handelt. Es apperzipiert und reflektiert. Das Wir aber ist einfach; es ist unreflektiert, es handelt nicht, sondern es wirkt – beinahe hätten wir gesagt: ›es geschieht‹.« Turner, Ritual, S. 107. Vgl. Victor Turner, Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels, Frankfurt am Main 1989, S. 28–94. Vgl. Roland Eckert, »Sind anomische Prozesse institutionalisierbar?«, in: Friedhelm Neidhardt (Hg.), Gruppensoziologie. Perspektiven und Materialien, Opladen 1983, S. 144–155; die im Titel des Aufsatzes gestellte Frage wird positiv beantwortet; allerdings bezieht Eckert sich nicht auf Gewaltgemeinschaften, sondern auf Selbsterfahrungsgruppen. Vgl. Kim-Claude Meyer/Marco Gerster, »Hooligans«, in: Bernhard Giesen u.a., Ungefähres. Gewalt, Mythos, Moral, Weilerswist 2014, S. 88–106.

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niert. Bernhard Giesen nennt diesen Typ von Gewalt liminale Gewalt.94 Konkrete Beispiele für liminale oder »Massengewalt« sind neben dem Hooliganismus und dem Massaker kollektive Quälereien, Massenvergewaltigungen oder Ausschreitungen von Kampfverbänden der Zivilbevölkerung gegenüber. Es handelt sich bei ihr um die kollektive Variante absoluter oder autotelischer Gewalt, die sich von ihrer individuellen Variante eben dadurch unterscheidet, dass die Täter sich nicht wie moderne Amokläufer vor und während der Tat in eine Privatwelt zurückziehen und als deren einsame Helden agieren,95 sondern dass die Gruppe, die situative Verstrickung mit kopräsenten anderen vielmehr die Bedingung dafür ist, dass die Täter zu Tätern werden. In beiden Fällen zählen die Opfer nicht als Personen, sondern nur als Repräsentanten einer wesentlich anderen Gruppe. Dabei müssen die Opfer der liminalen Gewalt nicht einmal a priori »ganz andere« sein; es genügt, dass ihnen durch die Tat, welche die Täter zu einer neuen Gemeinschaft verschweißt, die Zugehörigkeit zu oder gar die Ähnlichkeit mit diesen verweigert wird. Die liminale Gewalt verfolgt kein Ziel jenseits der Konstitution einer Gefühlsgemeinschaft, und selbst diese Konstitution muss nicht wie im Falle der Hooligans aktiv angestrebt werden, sondern kann sich schlichtweg ereignen. Die Anwesenheit anderer zumindest potenzieller Mittäter wirkt dabei ebenso als Gefühlsverstärker wie die Steigerung der Gewalt. Die Erlebnisse Bufords sowie die Taten Mutungirehes und seiner Mordbrüder dürften genau diesem Gewalttyp zuzurechnen sein. Der kollektive Gewaltrausch wäre damit ein mögliches und sogar typisches, nicht aber das einzige oder auch nur ein notwendiges Merkmal der Masse, vorausgesetzt man versteht diese in Anschluss an Durkheim, Bataille und Turner weder als bloße Menschenmenge noch als ein etwa der Familie oder dem Verein vergleichbares soziales Gebilde, als eine soziale Form im Sinne Simmels, sondern als einen die sozialen Formen transzendierenden Zustand. Ähnliches dürfte Canetti

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Siehe Bernhard Giesen, Zwischenlagen. Das Außerordentliche als Grund sozialer Wirklichkeit, Weilerswist 2010, S. 134–136. Nicht zum Amoklauf, wohl aber zur typischen Biografie von zumeist jugendlichen, zu exzessiver, »epiphanischer« Gewalt tendierenden Gewalttätern siehe Ferdinand Sutterlüty, »Was ist eine ›Gewaltkarriere‹?«, in: Zeitschrift für Soziologie 2004, Jg. 33, H. 4, S. 266–284.

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im Sinn gehabt haben, wenn er die Anziehung, welche auch und schon die friedliche Demonstration aus dem Jahre 1922 auf ihn ausübte, als bewusstseinsverändernde Gravitationskraft beschreibt. Andere, friedlich(er)e Artikulationen oder Erregungszustände der Masse sind offenbar möglich. Die Masse wäre durchaus gewaltaffin, aber nicht in jedem Falle gewalttätig. Tatsächlich ist genau dies die These des Massentheoretikers Canetti (des einzigen von Rang und Namen übrigens, der zuvor selbst ein Teil von Massen gewesen war).96 Die Existenz, die Attraktivität und das Gewaltpotenzial von Massen stehen für ihn außer Frage. Unabhängig davon, dass Massen immer wieder von Machthabern für ihre eigenen Zwecke missbraucht worden seien, wohne ihnen durchaus eine Tendenz inne, sich an anderen zu vergreifen. In der »Hetzmasse«, einem der fünf affektiven Haupttypen von Massen, machten ihre Mitglieder um des Tötens willen Jagd auf ein im Prinzip wahlloses Opfer.97 Und es gebe Hetzmassen, weil »ein gefahrloser, erlaubter, empfohlener und mit vielen anderen geteilter Mord […] für den weitaus größten Teil der Menschen unwiderstehlich« sei.98 Der von Canetti für diese Neigung – und damit die latente Gefahr der Masse – verantwortlich gemachte Grund ist die dem Menschen unterstellte Angst vor dem Tod, deren man sich, wie bereits erwähnt, wenn auch nur vorläufig, nicht besser entledige als dadurch, straflos selber zu töten und auf diese Weise sein eigenes (Über-)Leben zu feiern. Canettis ganze Konstruktion hängt an dieser Anthropologie des Todes. Auch und gerade der Machthaber, der die Massen »politisch« instrumentalisiert und gegen seine Feinde in den Tod schickt, tue dies letztlich nur, um seine eigene Todesangst zu beschwichtigen.99 Die Masse selbst indes, vor allem die »natürliche«, »offene« Masse, die scheinbar plötzlich entsteht und anschwillt und 96 97

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Eine konzise Darstellung von Masse und Macht findet sich bei John S. McClelland, The Crowd and the Mob. From Plato to Canetti, London 1989, S. 293–326. Die übrigen vier Typen sind Flucht-, Verbots-, Umkehrungs- und Festmassen; siehe Canetti, Masse, S. 49–66. – Zur Aktualität der Hetzmasse siehe auch Wolfgang Sofsky, »Die Meute. Zur Anthropologie der Menschenjagd«, in: Die Neue Rundschau 1994, Jg. 105, H. 4, S. 9–21. Canetti, Masse, S. 50. Siehe dazu, gedrängter und klarer als in Masse und Macht, Elias Canetti, »Macht und Überleben«, in: ders., Das Gewissen der Worte. Essays, München 1975, S. 23–38; ders., »Hitler, nach Speer«, in: ders., Zukunft, S. 7–39.

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zerfällt, sobald ihr Wachstum erlahmt, ist als solche nicht gewalttätig; ihre Destruktivität ist nach Canetti nichts anderes als ein Nebeneffekt ihres räumliche ebenso wie soziale Grenzen überschreitenden Wachstumsdrangs.100 Zwar lasse sich noch ihre eigentliche Leistung, die Erlösung des Menschen von der Berührungsfurcht,101 auf seine Todesangst beziehen, insofern das Ergriffenwerden (ursprünglich durch Raubtiere) immer schon das Vorspiel zur eigenen Vernichtung gewesen sei,102 davon unabhängig jedoch – jedenfalls nicht notwendig mit der Todesphobie verkoppelt – erlöse das Erlebnis der Masse ihre Mitglieder von den »Stacheln«, die sie normalerweise zueinander auf Distanz hielten und die ihrerseits ein Residuum von von Dritten empfangener und ausgeführter Befehle, das heißt das individuelle Substrat von Sozialisation und Sozialstruktur seien.103 Diesen mit dem Umschlag der Berührungsfurcht in Verschmelzungsdrang identischen Vorgang nennt Canetti »Entladung«. »Vorher besteht die Masse eigentlich nicht, die Entladung macht sie erst wirklich aus. Sie ist der Augenblick, in dem alle, die zu ihr gehören, ihre Verschiedenheiten loswerden, und sich als gleiche fühlen.« Und damit nicht genug; eben weil die Distanzen der Menschen zueinander relative, relationale Distanzen sind, der soziale Rang, der den einen erhebt, den andern zugleich erniedrigt oder zumindest zurücklässt, können die Menschen sich nur gemeinsam von ihnen befreien. »Genau das ist es, was in der Masse geschieht. […] Ungeheuer ist die Erleichterung darüber. Um dieses glücklichen Augenblicks willen, das keiner mehr, keiner besser als der andere ist, werden die Menschen zur Masse.«104 Nicht anders als in der communitas Turners genießen die Menschen in der Masse die Versöhnung von Gleichheit und Freiheit, versetzen oder erheben sie sich in einen ihrer von individuellen Eigenarten und gesellschaftlichen Differenzen beschwerten Normalexistenz entgegengesetzten beziehungsweise komplementären Zustand. Die Masse ist, auch wenn sie stetig wachsen will, mithin nicht dadurch bestimmt, dass sie besonders viele Menschen umfasst, sondern da-

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Siehe Canetti, Masse, S. 11 u. 15. Vgl. ebenda, S. 9f. Vgl. ebenda, S. 223–233. Vgl. ebenda, S. 335–341. Ebenda, S. 13.

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durch, dass eine Gruppe von Menschen sich als Gefühlsgemeinschaft erlebt. Dieser Befund setzt freilich voraus, dass es emotional und nicht emotional bestimmte Typen des menschlichen Zusammenseins gibt. Eine einfache Prüfung der sozialen Kontexte, in die jeder von uns eingebunden ist – von der Familie und Freundschaften bis zum Staat oder gar der »Weltgesellschaft« –, dürfte diese Unterscheidung schnell bestätigen oder zumindest den Umstand nahelegen, dass diese Kontexte emotional unterschiedlich besetzt oder aufgeladen sind. Folgt man jedoch Max Scheler, einem soziologisch heute kaum weniger randständigen Autoren als Bataille,105 ist davon auszugehen, dass »alle menschlichen Gruppenformen – von der unorganisierten […] ›Masse‹ angefangen bis zu den höchsten organisierten Verbänden – neben anderen Kräften auch durch je besondere Strukturen sympathetischen Verhaltens zusammengehalten werden«.106 Als Formen der Sympathie, welche die Masse, die für Max Scheler neben Gemeinschaft, Gesellschaft und »Gesamtperson« vierte »Grundart des Miteinanderseins«,107 bilden und tragen, nennt er die Gefühlsansteckung und die »Einsfühlung«. Dass Gefühle anstecken, sei möglich, weil das Mitvollziehen der Ausdrucksbewegungen anderer imstande ist, deren (mutmaßliche) Affekte sekundär in uns selbst hervorzurufen108 – so wie zum Beispiel Lachen anstecken und die Laune des Mitlachers heben kann, auch wenn diesem der Anlass des Gelächters gar nicht bekannt ist. Wenn aber ein Gefühlsausdruck das eigentliche Gefühl erst erwecken kann, dann lässt sich auch erklären, dass Gefühle sich in Interaktionssystemen einerseits lawinenartig verbrei-

105 Zur Orientierung taugt nach wie vor der beredterweise in späteren Ausgaben ent-

fallene Überblicksartikel von Walter L. Bühl, »Max Scheler«, in: Dirk Käsler (Hg.), Klassiker des soziologischen Denkens. Von Weber bis Mannheim, Bd. 2, München 1978, S. 178–225. 106 Max Scheler, »Wesen und Form der Sympathie« (1913/1923), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 7, hrsg. v. Manfred S. Frings, Bern 1973, S. 7–258, hier: S. 12. 107 Vgl. Max Scheler, »Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch über die Grundlegung eines ethischen Personalismus« (1913/1916), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, hrsg. v. Maria Scheler, Bern 1966, S. 515–523. 108 Dasselbe Argument findet sich bei Marcel Mauss, »Der obligatorische Ausdruck von Gefühlen (australische orale Bestattungsrituale)«, in: ders., Schriften zur Religionssoziologie, Frankfurt am Main 2012, S. 605–614.

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ten und andererseits intensivieren können: »Das durch Ansteckung entstandene Gefühl steckt durch die Vermittlung von Ausdruck und Nachahmung wieder an, so dass auch das ansteckende Gefühl wächst; dieses steckt wieder an u. s. f.«109 Diese Gefühlsansteckung vermag sich bis zur Einsfühlung zu steigern, als deren elementarste Form Scheler den »liebeerfüllten Geschlechtsakt« ansieht, in dem »beide Teile unter rauschartiger Ausschaltung des geistigen Personseins […] in einem Lebensstrom, der keines der individuellen Iche mehr gesondert in sich enthält, der aber ebensowenig ein sich auf die beiderseitige Ichgegebenheit aufbauendes Wir-bewußtsein darstellt, zurückzutauchen meinen«. Die Erotik sei jedoch nicht alleinige Form der Einsfühlung; sie kehre wieder beispielsweise »in bacchischen Orgien und Mysterien«, und ebenso »in der Sphäre des Seelenlebens der unorganisierten Masse«, »durch kumulative und reflexive Ansteckung vermittelt« als »gegenseitige Verschmelzung der Glieder […] in einen Affekt- und Triebstrom, der dann in seiner Eigendynamik das Verhalten aller Teile von sich aus bedingt und Ideen und Tatprojekte launisch wie der Sturm die Blätter vor sich herjagt«.110 Diese Verschmelzung impliziert, dass die Individualität der Mitglieder der Masse, ihre geistige Eigenart, schwindet oder wenigstens schrumpft, sie sich gleichzeitig jedoch über die Grenzen ihrer individuellen Körper erheben. Der Mensch in der Masse »muß seiner Geistes-würde sich begeben und sein triebhaftes ›Leben‹ dahinströmen lassen […]. Wir können auch sagen: er muß kleiner werden als ein Wesen vom Typus des Menschen, das Vernunft und Würde hat – und er muß ›größer‹ werden als ein […] Tier, das nur in seinen Leibzuständen ›ist‹ und lebt.«111 Auch wenn Scheler und Canetti die Unbegrenztheit der Masse betonen und damit Größe suggerieren, scheint sie, insofern beide Autoren sie als Menge kopräsenter, wechselseitig affizierbarer Körper konzipieren, quantitativ eher nach oben als nach unten begrenzt zu sein. Denn wenn sie eine bestimmte Größe überschreitet, verliert die Masse sich sozusagen selbst aus den Augen und muss, um Masse zu bleiben, in Teilmassen zerfallen. Sie wäre damit überhaupt keine quantitativ bestimmte Gruppe, sondern eher eine soziale Qualität – und ist gerade 109 Scheler, Wesen, S. 26. 110 Ebenda, S. 36. 111 Ebenda, S. 46; meine Hervorhebung.

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als solche der Aufmerksamkeit klassisch soziologischer und massenpsychologischer Autoren nicht entgangen. Dies gilt, abgesehen von und vor allem anders als bei Le Bon, zum Beispiel für Simmel,112 vor allem aber für Gabriel Tarde.113 Für diesen ist die Masse zwar nicht anders als für Le Bon irrational und potenziell gefährlich, anders als dieser jedoch erklärt er das Verhalten ihrer Mitglieder nicht als einen Rückfall ins Triebhafte; vielmehr zeige sich in der Masse, woraus das Soziale überhaupt bestehe: aus Suggestionen beziehungsweise Akten der Imitation. Suggestion und Nachahmung beschreiben denselben strukturell asymmetrischen Sachverhalt, einmal aus Warte eines ein bestimmtes Verhalten suggerierenden Stichwortgebers, einmal aus Warte seiner Nachahmer. Im Unterschied zu Le Bon ist die Suggestion oder Nachahmung für Tarde indes kein massenkonstituierender Sonderfall quasihypnotischer Einflussnahme, sondern vielmehr der basale, bei der Entstehung und im Verhalten von Massen am deutlichsten zum Ausdruck kommende soziale Tatbestand. Die Entstehung sozialer Differenzen, die Bildung sozialer Institutionen und selbst die Individualisierung der Individuen sind für Tarde Vorgänge, die auf Basis der Nachahmung anlaufen und sich ihr zugleich widersetzen. Diese Prozesse laufen an auf Basis der Nachahmung, weil diese noch vor Zwecken und Regeln Handlungen nicht zuletzt affektiv orientiert, aber sie brechen sie auch, weil anfangs unmerkliche oder unbeabsichtigte Abweichungen im Verhalten wiederum durch Nachahmung verstärkt und schließlich als besondere Merkmale, Verfahren und Identitäten kognitiv und normativ festgehalten werden. Soziale Differenzierung, nicht zuletzt die »Weiterent-

112 Siehe Christian Borch, »Between Destructiveness and Vitalism: Simmel’s Sociology

of Crowds«, in: Conserveries mémorielles 2010, Jg. 8; http://cm.revues.org/744 [8. 12. 2014]. Die komprimierteste Fassung seiner Theorie der Masse findet sich in Georg Simmel, »Grundfragen der Soziologie« (1917), in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 16, hrsg. v. Gregor Fitzi u. Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1999, S. 59–149, hier: S. 90–99. 113 Siehe Urs Stäheli, »Übersteigerte Nachahmung – Tardes Massentheorie«, in: Christian Borch/Urs Stäheli (Hg.), Soziologie der Nachahmung und des Begehrens. Materialien zu Gabriel Tarde, Frankfurt am Main 2009, S. 397–416. Äußerung und Überlegungen zur Masse finden sich im gesamten Werk Tardes; siehe insb. Gabriel Tarde, L’Opinion et la foule, Paris 1989, sowie – als Schlüsselstelle – ders., La Philosophie pénale, Paris 1905, S. 323–327.

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wicklung« und Aufspaltung der Masse in räumlich zerstreute, thematisch fokussierte, deliberierende Publika, ist gleichbedeutend mit Temperierung und Zivilisation, die Masse aber ist und bleibt für Tarde eine Möglichkeit insbesondere in Umbruchsituationen, aber auch weil sie, als »Liebesmasse«, um ihrer selbst willen erstrebt werden kann. Tarde nimmt damit zentrale Motive der Massentheorie Canettis vorweg. Das macht diese selbstredend ebenso wenig wahr wie die Bezüge, die sich zu Turner und Scheler herstellen ließen. Aber man erkennt – das zumindest war der Sinn meiner theoriegeschichtlichen »Rundfahrt« –, dass, angefangen damit, dass man sich über den Verriss Le Bons hinaus in der Regel eine nähere Beschäftigung mit anderen Autoren der klassischen Massenpsychologie erspart, über die Nichtbeachtung von Masse und Macht bis hin zur Skandalisierung oder wenigstens theoretischen Marginalisierung »positiver«, das heißt von den Tätern als positiv erlebter (Massen-)Gewalt die Aufklärungs- und Fortschrittsgeschichte der Massentheorie zugleich als Geschichte der Verdrängung und des Vergessens einer anderen, alternativ ansetzenden, nicht individualistischen, weniger affektblinden und körperfremden Sozialtheorie gelesen werden kann. Sicherlich muss man, anders als etwa Latour es tut, Tarde nicht gleich zum Vorläufer »einer neuen Soziologie für eine neue Gesellschaft« ausrufen,114 aber ist es wirklich weniger plausibel, die Sozialtheorie mit der Nachahmung beziehungsweise einer zunächst undifferenzierten, qua Nachahmung jedoch unweigerlich Differenzen aus sich hervortreibenden Masse beginnen zu lassen, als homogene und gar hierarchische Interessen immer schon »fertiger« Individuen und/oder diesen von wem auch immer auferlegte normative Zwänge zu unterstellen? Was sich auf unserer Reise durch die Geschichte der Massentheorie oder genauer auf unserer Rückreise von der Bewegungsforschung zur klassischen Massenpsychologie lernen ließ, ist, dass es die Masse, wenn auch nicht oder wenigstens nicht notwendigerweise als irrationalen Gewalthaufen, als Unmenge rasender Berserker, sehr wohl als 114 Siehe Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in

die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main 2010; ders., »Gabriel Tarde and the End of the Social«, in: Patrick Joyce (Hg.), The Social in Question. New Bearings in History and the Social Sciences, London 2002, S. 117–132.

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einen ephemeren Zustand körperlicher, affektiver und vorreflexiver Vergemeinschaftung gibt. Weil sie jedoch in einer funktional differenzierten, hochgradig individualisierten, technisch-medial vermittelten »Massen«-Gesellschaft keinen festen sozialen Ort mehr hat,115 erscheint sie, wenn sie erscheint, nicht nur als Ausnahmezustand, sondern als Relikt, als Atavismus, als nicht zur Ordnung der Moderne gehörig. Angezeigt hingegen wäre es, die Masse – wie die Gewalt – in ihrer Positivität anzuerkennen, nicht um sie zu verklären oder unter neuem Namen noch einmal politisch aufzuladen,116 sondern als Möglichkeit, als »elementare Form des sozialen Lebens« und damit als Bestandteil jeder Gesellschaft. Es steht zumindest nicht zu erwarten, dass sie verschwindet, zumindest solange Menschen verfasst sind, wie sie seit Jahrtausenden verfasst sind, nämlich als Gruppenwesen, die neben und vor ihren Interessen, neben Moralität und Einsicht, einen affizierbaren Körper besitzen. Allerdings – und dies dürfte zur auf der theoriegeschichtlichen »Hinreise« dargestellten Marginalisierung der Masse kaum weniger beigetragen haben als ihre empirische Seltenheit – ist die dem Menschen wesentliche Sozialität, seine seiner individuellen Identität immer schon vorlaufende Vergesellschaftung ein blinder Fleck des in der Soziologie dominanten nicht nur methodologischen, sondern vielmehr ontologischen Individualismus.117 Und auch die meisten differenzfreundlichen Sozialtheorien, wie die Luhmann’sche Systemtheorie oder der Dekonstruktivismus, die nicht mit Individuen und Identitäten beginnen, wissen mit der Affektivität und

115 Vgl. Theodor Geiger, »Die Legende von der Massengesellschaft«, in: Archiv für

Rechts- und Sozialphilosophie 1950/51, Jg. 39, H. 3, S. 305–323; René König, »Gestaltungsprobleme der Massengesellschaft«, in: Schweizer Monatshefte 1958/59, Jg. 38, H. 8, S. 623–636; Helmut König, »Wiederkehr des Massenthemas?«, in: Ansgar Klein/Frank Nullmeier (Hg.), Masse – Macht – Emotionen. Zu einer politischen Soziologie der Emotionen, Opladen 1999, S. 27–39. 116 Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt am Main 2002, S. 400–420. 117 Dem letztlich auch Autoren wie Mead oder Habermas nicht entgehen. Zu Mead siehe Ruth Leys, »Meads Stimmen: Nachahmung als Grundlage oder Der Kampf gegen die Mimesis«, in: Borch/Stäheli, Soziologie der Nachahmung, S. 62–106; zu Habermas siehe Niklas Luhmann, »Intersubjektivität oder Kommunikation. Unterschiedliche Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung«, in: Archivo di Filosofia 1986, Jg. 54, S. 41–62.

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Körperlichkeit des Menschen wenig anzufangen.118 Die Masse als eine der elementaren Formen des sozialen Lebens ernst zu nehmen, ist darum nicht nur ein Gebot der Vollständigkeit, sondern zugleich eine epistemologische Herausforderung. Was sich lernen ließ, ist weiterhin, dass die Masse nicht zwingend eine gewalttätige Masse ist. Und doch ist die auch und gerade in der die Masse perhorreszierenden Literatur hergestellte Beziehung von Masse und Gewalt nicht kontingent. Es gibt eine Affinität von Masse und Gewalt. Wenigstens vier Momente lassen sich unterscheiden: 1. Sowohl das Massenerlebnis als auch die meisten Formen individueller wie kollektiver Gewalt – ausgenommen sind eventuell, fallweise zumindest, die Taten von Gewaltspezialisten wie Profikillern oder gut ausgebildeten, routinisierten Soldaten119 – sind affektiv aufgeladen. Affekte sind immer im Spiel, in der Masse und bei der Gewalt indes besonders: sicherlich Angst und Anspannung, aber auch Erlösung und Allmachtsgefühle. Hier wie da geht es um Körper, in der Masse freilich um die Verschmelzung mit anderen, bei der Gewalt um die Verletzung der Körper anderer. Aus Warte des Täters ist die Überschreitung von Körpergrenzen eine tendenziell euphorisierende Expansion der eigenen Körperlichkeit. 2. Sowohl das Massenerlebnis als auch die Gewaltanwendung – Letztere zumindest außerhalb von auf Dauer gestellten, in Gewalt-»Kulturen« verkehrten »Bürger«-Kriegen – sind außeralltäglich. Die Überschreitung von Normen und erst recht die Aufhebung der Normalität verführen die Täter gewissermaßen dazu, dem ersten Verstoß einen weiteren folgen zu lassen. In der Masse scheint vieles, im Extremfalle sogar alles möglich, also auch Gewalt, die ansonsten verboten ist. Umgekehrt übt die Gewalt auch auf die Zuschauer nicht zuletzt darum eine besondere Faszination oder sogar Anziehung aus, zieht sie mehrere, unter Umständen gar eine Masse in Bann, weil sie neben allem anderen immer auch ein Akt der Selbstermächtigung ist. Auf dem Wege der Gewalt lässt sich wie in der Masse – kurzfristig – mehr erreichen. Eben diese Erfahrung oder Imagination dürfte es sein,

118 Einen Vorschlag, in welcher Richtung diese Lücke zu schließen wäre, macht Robert

Seyfert, »Beyond Personal Feelings and Collective Emotions: A Theory of Social Affect«, in: Theory, Culture & Society 2012, Jg. 29, H. 8, S. 27–46. 119 Vgl. Collins, Dynamik, S. 650–666, sowie den Beitrag von Anthony King in diesem Band.

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die der sowohl bei Gewalttätern als auch in Massen beobachtbaren Ablösung des Handelns von den »eigentlichen« Handlungszielen, der Verselbständigung der Gewalt oder der scheinbar grundlosen Erregung der Masse Vorschub leistet. Sowohl die Gewalt als auch die Masse sind liminale Phänomene (die Masse, sofern sie communitas ist; Gewalt hingegen ist eher liminoid, dann zumindest, wenn man den Begriff der liminalen Gewalt für Massengewalt reserviert). Eine Affinität gibt es in doppelter Hinsicht: 3. Masse und Gewalt stehen an der Grenze von Ordnung und Unordnung. Beide zerstören alte oder herkömmliche Strukturen, hängen sie zumindest aus. Auf der anderen Seite aber ist die Masse gerade aufgrund ihrer inneren Strukturlosigkeit hochgradig für neue Strukturund das heißt Ordnungsbildungen empfänglich, ebenso wie Gewalt nicht nur im eigentlichen wie übertragenen Sinne Grenzen verletzt, sondern immer auch eine neue Ordnung setzt. Massen- und Gewalthandeln sind gleichermaßen Akte der Grenzverletzung wie der Grenzziehung. 4. Massen- und Gewalthandeln redefinieren nicht nur die Situation, sondern auch die Akteure. Zumindest für den Zeitraum des Massenerlebnisses oder der Gewalttat wird man ein anderer, im Extremfall geht man nicht als derselbe aus der Masse hervor, als der man in sie eingegangen war, verwandelt die Gewalttat das Tätersubjekt. Gewalt- und Massenerfahrungen berühren die Identität der Akteure, sei es, dass sie in actu den Körper-Geist-Dualismus verwischen, sei es, dass sie den Akteuren ein gesteigertes Gefühl ihrer »Agentschaft« vermitteln, sei es, dass sie diesen »ein anderes Selbst« zu erkennen geben. Wer nicht-organisierte kollektive Gewalt erklären will, der tut gut daran, die Körperlichkeit der Masse, ihre emotionale Dynamik, ihr Potenzial, sowohl eine andere, »bessere« Ordnung wenigstens aufscheinen zu lassen, als auch die Akteure in einen anderen, »freieren« Zustand zu versetzen, in Rechnung zu stellen – oder umgekehrt, die eingangs zitierten Aussagen von Pio Mutungirehe, Bill Buford und Elias Canetti nicht als Fiktion zu behandeln, sondern als Zeugnisse einer Erfahrung anzuerkennen. – Die Beiträge dieses Bandes nehmen die Herausforderung an.

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I

EMERGENZ

Jack Katz

Epiphanie der Unsichtbarkeit Wendepunkte bei Unruhen: Los Angeles 1992

Wie die Untersuchung individueller Verbrechen hat sich auch die Erforschung kollektiver Gewalt in Form von Ausschreitungen, Aufständen oder – so allgemein und wertneutral wie möglich gesagt – Perioden der Anarchie oft auf deren »strukturelle« Bedingungen konzentriert, beispielsweise auf die Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen, die sozioökonomischen Verhältnisse oder die Spannungen und Übergangsphasen von politischen Regimen.1 Doch ob man sich mit Raub oder Rebellion beschäftigt, die Suche nach Erklärungen auf der Folie zeitlich ferner gesellschaftlicher Bedingungen oder im sozioökologischen Kontext ist praktisch zum Scheitern verurteilt, oder wenigstens dazu, nur sehr wenig von der Schwankungsbreite des infrage stehenden Phänomens zu erklären. Gewöhnliche Gewaltverbrechen und Eigentumsdelikte sind Augenblicksereignisse. Episoden der Anarchie halten im Normalfall drei bis fünf Tage an. Wie bei der Erklärung physikalischer Phänomene ist es durchaus denkbar, dass einige Arten sozialen Verhaltens, wie manche Krankheiten, durch die vorübergehende Einwirkung eines Erregungspotenzials verursacht werden, dessen schädliche Folgen erst nach langer Verzögerung sichtbar werden. Jedoch hat noch keine Untersuchung von Verbrechen oder kollektivem Verhalten jemals zeitverzögerte soziale Ursachen identifiziert, die signifikante Schwankungen im menschlichen Verhalten erklären könnten. Es scheint, dass wir zur Erklärung von Perioden der 1

»Struktur« ist ein Begriff, der die soziologische Literatur durchzieht, im sozialen Denken außerhalb der Universität allerdings eine wesentlich geringere Rolle spielt. Wie den Terminus »konkret«, der eine Bewegung in die Gegenrichtung anzeigen soll, von abstrakten Allgemeinheiten zu spezifischen Beispielen, sollte man »Struktur« als einen künstlichen Ausdruck verstehen. Er scheint unverzichtbar für Soziologen, die ansonsten Belege für die kausale oder jedenfalls hartnäckige Kraft beibringen müssten, die der Terminus dem hinzufügen soll, was bestenfalls eine Beobachtung gewisser Regelmäßigkeiten ist.

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Anarchie vielmehr nach Ursachen suchen müssen, die in dem zu erklärenden Phänomen selbst stecken.2 Nach den innerstädtischen Rassenunruhen in den Vereinigten Staaten der 1960er Jahre veröffentlichten die führenden soziologischen Fachzeitschriften zahlreiche Studien, die sich für deterministische Hintergrunderklärungen aussprachen. Die Aufsätze bewiesen methodologische Raffinesse, blieben aber in den Augen von Kritikern, vor allem von Forschern, die gewaltsame Rassen- und Volksgruppenkonflikte außerhalb der usa untersuchten, uneindeutig.3 Für Wissenschaftler, die in der Tradition des symbolischen Interaktionismus und der Erforschung des kollektiven Verhaltens arbeiten, in der besonderes Augenmerk auf die Verlaufsformen sozialer Phänomene gelegt wird, war es hingegen keine Überraschung, dass Hintergrundfaktoren wie sozioökonomischer Status oder »rassen«-bedingte Gruppensegregation und Ungleichheiten als Erklärungsgrundlage nicht ausreichten. Schließlich verändern sich diese Faktoren nicht mit der für Episoden von Massengewalt typischen Geschwindigkeit. Stattdessen hoben einige dieser Forscher die Normen hervor, die sich parallel zur Herausbildung einer Protestwelle entwickeln und verändern.4 Eine naturalistische Herangehensweise an anarchische Formen kollektiven Verhaltens sollte jede Interaktionssituation und jedes Sta-

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Gewalt dürfte sich für eine mikrosoziologische Erklärung besonders anbieten; vgl. Randall Collins, Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie, Hamburg 2011. Gleichwohl ist Gewalt ein gefundenes Fressen für politische Interpreten, die nach den großen Mustern des sozialen Lebens fahnden. Deshalb war und ist die Erforschung gewalttätigen Verhaltens besonders resistent gegen eine Soziologie, die sich auf situative und rasch wechselnde Ursachen konzentriert. Eine außerordentliche, nach wie vor einzigartig detaillierte naturalistische Untersuchung von Fällen ethnischer Unruhen bietet Donald Horowitz, The Deadly Ethnic Riot, Berkeley 2001. Den Ausgangspunkt dieser Studie bildet eine eindringliche Kritik an rund zwei Jahrzehnten höchst ausgeklügelter Versuche, die amerikanischen Rassenunruhen durch sozialstrukturelle Bedingungen zu erklären. Ralph H. Turner/Lewis M. Killian, Collective Behavior, Englewood Cliffs 1987. David A. Snow/E. Burke Rochford, Jr./Steven K. Worden/Robert D. Benford, »Frame Alignment Processes, Micromobilization, and Movement Participation«, in: American Sociological Review 1986, H. 4, S. 464–481 erweitern die Orientierung an Normen um etwas, das sie in Anlehnung an Goffman als »Abgleich von Interpretationsschemata« (frame alignment) bezeichnen und auf zeitlich gestrecktes kollektives Verhalten in sozialen Bewegungen anwenden.

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dium einer Episode als gleichermaßen signifikant betrachten, um erklärende Ideen zu testen.5 Leider aber sind die Sozialwissenschaftler mehrheitlich den Voreingenommenheiten der allgemeinen Diskussion gefolgt, in der die mit Abstand wichtigsten Fragen die nach den politischen und damit »eigentlichen« Ursachen von Ausschreitungen sind und nicht die nach deren Verlaufsmustern, dem Aufkommen und Abflauen des Protests und und der schließlichen Rückkehr zur Ruhe.6 Alternativ dazu sollten wir uns an das vorrangige Interesse des Naturwissenschaftlers halten, das ich, auf die Soziologie übertragen, so beschreiben würde: das Phänomen, um das es geht, so nah wie möglich zu betrachten, die Abweichungen zwischen den einzelnen Fällen 5

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Wie ein eingehender Beobachter des sozialen Lebens »in der Wildnis« feststellt: »In den Wäldern ist jeder Moment ein wichtiger Moment.« (Stephen Sondheim, Into the Woods, USA 2014) Into the Woods ist ein Musical mit Musik und Liedtexten von Stephen Sondheim. Das Buch stammt von James Lapine und ist inspiriert von Bruno Bettelheims Text Kinder brauchen Märchen. Der Komponist verspottet in diesem Zusammenhang, wie ein egozentrischer Prinz eine Bäckersfrau nach einem Stelldichein entlässt: Er kühlt das Opfer mit einem fürstlichen Talent zur Gleichgültigkeit ab. Aber auch wenn dieser Verweis keinem Klassiker sozialwissenschaftlicher Gelehrsamkeit gilt, sollten wir das nicht so abwertend betrachten. Viele Künstler haben erfasst, dass die Logik des sozialen Lebens, wie es außerhalb der zivilisierten Ordnung gelebt wird, auf einem ästhetisch zusammenhängenden Gemisch ereignisreicher Momente beruht, und einige dieser künstlerischen Würdigungen wurden sogar in wissenschaftlichen Diskussionen anerkannt. Vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt am Main 1987. Wenn die beste Form, um verallgemeinernde Wahrheiten über das soziale Leben in falsifizierbare Aussagen zu kleiden, im soziologischen Schreiben besteht, so ist dieses nicht unbedingt die beste Tradition für Entdeckungen, die die sozialwissenschaftliche Forschung auf neue, produktive Wege führen können. Vgl. Howard S. Becker, Telling About Society, Chicago 2007. Für ein Beispiel, das vor nicht allzu langer Zeit hoch gehandelt wurde und als akademisch angesehener Erklärungsansatz der je nach Stadt unterschiedlichen Verbrechensraten galt, vgl. Judith Blau/Peter Blau, »The Cost of Inequality. Metropolitan Structure and Violent Crime«, in: American Sociological Review 1982, H. 1, S. 114–129. Das Autorenpaar führte einen beliebten soziologischen Dämon ins Feld, die rassenbedingte ökonomische Ungleichheit. In den vergangenen 25 Jahren, in denen die Ungleichheit zunahm, die Verbrechensraten aber sanken, haben dergleichen Studien an Anziehungskraft verloren. Sie stellen uns heute jedoch vor eine doppelte Herausforderung: Wie kam es, dass solche Behauptungen so begeistert begrüßt wurden, und wichtiger noch, warum werden solche profilierten Behauptungen nie kritisch überprüft, nachdem sie sich als ernsthaft irregeleitet erwiesen haben?

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so genau wie möglich zu beschreiben und sich um empirisch fundierte Differenzierungen zu bemühen, wo man ursprünglich ein und dasselbe Phänomen wahrzunehmen meinte. Auf das soziale Phänomen der Anarchie angewandt, besteht das Ziel darin, Gesetzmäßigkeiten in den Interaktionsprozessen aufzuspüren, durch die die Beteiligten in ihrem Zusammenspiel den Verlauf einer Episode bestimmen. Eine naturalistische Soziologie stellt in Rechnung, dass die Konturen aller Formen des sozialen Lebens permanent neu verhandelt werden. Für die Erforschung von Episoden der Anarchie bedeutet dies eine Abkehr von der traditionell einseitigen Sichtweise der Soziologie, die ausschließlich nach den Hintergründen des Handelns von Randalierern, Protestlern und Rebellen fragt. Nötig ist demgegenüber eine Erweiterung der phänomenalen Analyse, eine Einbeziehung nicht zuletzt des Verhaltens der Ordnungskräfte, die anarchische Episoden zusammen mit den Menschen auf der Straße prägen. Eine adäquate Erklärung von Episoden der Anarchie erfordert die genaue Rekonstruktion der sich verändernden Umstände, die dem plötzlichen Zustandekommen, den Phasenübergängen und der kurzen Lebensdauer der Episode gerecht werden. Wodurch wird die Mitwirkung an anarchischen Zuständen plötzlich für Massen von Leuten attraktiv?7 Wie entwickelt und verändert sich der Reiz daran für die Beteiligten im Laufe einer Episode? Und wie verliert die Mitwirkung ihre verführerischen Qualitäten? Wie bleiben Massen von Menschen zunächst gleichgültig gegenüber den Möglichkeiten der Anarchie, halten es dann aber für ein Leichtes, ja für zwingend, sich ihr anzuschließen? Und wie finden sie nach einer kurzen Weile zu Verhaltensweisen zurück, die anarchische Praktiken undenkbar erscheinen lassen? Im vorliegenden Aufsatz lasse ich die strukturellen Bedingungen, die den Rahmen für die Entstehung anarchischer Episoden bilden, 7

Es gibt historische Perioden, in denen Straflosigkeit in bestimmten Bereichen einer Gesellschaft ein dauerhaftes und weitverbreitetes Phänomen ist. Ein grobes Maß zur Bestimmung derartiger Bereiche wäre der Prozentsatz an Tötungen, die als Kriminalfälle definiert werden und zu einer Festnahme und Bestrafung führen. In Los Angeles schwanken die Aufklärungsraten seit Jahren um die 50 Prozent. Zu fragen wäre, ob Lektionen über die soziale Dynamik episodischer Anarchie in einer Stadt wie Los Angeles auf Regionen übertragen werden können, in denen, wie in Teilen Mexicos und Venezuelas, die Aufklärungsrate von Tötungsdelikten über einen längeren Zeitraum hinweg unter 10 Prozent liegt.

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außer Betracht. Stattdessen konzentriere ich mich auf ein vernachlässigtes Merkmal der Gewalt von Menschenmengen, nämlich die »Epiphanie der Unsichtbarkeit«. Mit diesem Konzept bezeichne ich einen paradoxen, fast magischen Geisteszustand, der im Mittelpunkt kollektiven anarchischen Verhaltens steht: das Gewahrwerden einer großen Zahl von Individuen, dass derartig viele Einzelne strafbare Handlungen begehen, dass jeder von ihnen als Einzelner für die Staatsgewalt effektiv unsichtbar wird. In allen Gesellschaften sind stereotype Klagen über das deviante Verhalten bestimmter Bevölkerungsgruppen schnell zur Hand. Es ist jedoch ein seltener Höhepunkt, wenn man, als beliebiger Einzelner, zuversichtlich sein darf, dass man straflos, offen, ohne alle Heimlichkeit, im Wissen darum, im Grunde zwar identifiziert werden zu können, faktisch jedoch in der Menge unterzugehen, Dinge tun kann, die an sich strafbar sind. Epiphanien der Unsichtbarkeit sind so selten und flüchtig wie das Phänomen, das sie erklären sollen. In der Geschichte des sozialpsychologischen Denkens ist diese fragile Kontingenz anarchischen Verhaltens mit mystischen Vorstellungen von der Psychologie des »Mobs«, unfruchtbaren Analogien zu biologischen Vorgängen (»Ansteckung«) sowie einer unausgereiften Diskussion von »Anonymität« traktiert worden.8 Doch während einer Episode der Anarchie agieren Individuen, genauso wie davor und danach, in existentieller Einsamkeit; sie können sich der Notwendigkeit, sich ihr eigenes Verhalten als sinnvoll zurechtzulegen, nicht entziehen. Wenn man für die Staatsgewalt effektiv unsichtbar wird, das heißt, wenn die An- oder Abwesenheit der Ordnungskräfte keinen Unterschied macht, dann kann es für einen persönlich sinnvoll sein, auf eine Art und Weise zu handeln, die sonst undenkbar wäre.

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Gegen die Bedeutung von Anonymität argumentiert Clark McPhail, The Myth of the Madding Crowd, New York 1991. Eine neuere Arbeit kommt indes zu dem Schluss, dass Protestereignisse systematisch von Spontaneität geprägt sind: David A. Snow/Dana M. Moss, »Protest on the Fly. Toward a Theory of Spontaneity in the Dynamics of Protest and Social Movements«, in: American Sociological Review 2014, H. 6, S. 1122–1143. Wie die Spontaneität ist die Epiphanie der Unsichtbarkeit eine elaborierte Wiederaufnahme des Themas Anonymität, das von Gustave Le Bon und anderen Pionieren eingeführt wurde.

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Das Material, an dem ich diese Argumentation entwickeln will, beziehe ich aus den sogenannten »Rodney-King-Unruhen«. Im Frühjahr 1992 protestierten Tausende Einwohner von Los Angeles gegen den Freispruch einer »weißen« Jury für vier weiße Polizisten, die angeklagt gewesen waren, den Afroamerikaner Rodney King grundlos zusammengeschlagen zu haben. Im Laufe der folgenden Tage wurden über 50 Todesfälle mit den Ausschreitungen beziehungsweise dem Aufstand, wie die Ereignisse verschiedentlich bezeichnet wurden, in Verbindung gebracht. Als sich der Rauch verzogen hatte, war Eigentum im Wert von Hunderten Millionen US-Dollar den Plünderungen und Brandstiftungen zum Opfer gefallen.

Eine kurze Chronik der Ereignisse 3. März 1991. Ein Polizist und eine Polizistin jagen einem Wagen hinterher, dessen Fahrer Rodney King sich einer Festnahme wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss entziehen will. Die Verfolgungsjagd führt mit gefährlich hoher Geschwindigkeit über Autobahnen und durch Los Angeles. Als Kings Wagen schließlich gestoppt wird, sind etliche Polizeibeamte zugegen. Im Zuge seiner Festnahme prügeln mindestens vier von ihnen auf King ein; acht Beamte bringen King mit einer Technik namens »Schwarm«, einem Gruppenangriff, zu Fall. 5. März 1991. Ein Video der Prügelaktion, das ein Anwohner aufgenommen hat und das nach den ersten Momenten des Vorfalls einsetzt, wird von einem lokalen Fernsehsender und anschließend auch national und international ausgestrahlt. Es wird zur am weitesten verbreiteten Dokumentation von Polizeigewalt in der Geschichte. Mittwoch, 29. April 1992. Für drei der vier Polizisten, die wegen des Angriffs auf King vor Gericht gestellt wurden, endet der Prozess in Simi Valley, einer vorwiegend von Weißen bewohnten Vorstadt in unmittelbarer Nachbarschaft von Los Angeles County, mit einem Freispruch. Bezüglich des vierten Angeklagten bleibt die Jury uneins, es wird mithin auch in seinem Fall keine Strafe verhängt. Das Urteil wird nachmittags um Viertel nach drei öffentlich bekanntgegeben. Binnen zweier Stunden versammeln sich Menschen68

massen vor dem Polizeipräsidium im Geschäftszentrum von Los Angeles. Es kommt zu ersten Sachbeschädigungen: Schaufenster werden eingeschlagen, Polizeiautos umgeworfen und in Brand gesteckt. Am späteren Nachmittag beginnen junge Afroamerikaner, im traditionell afroamerikanischen Bezirk South Central, Weiße, Asiaten und Latinos physisch anzugreifen, Fußgänger zu schlagen und Autofahrer aus ihren Wagen zu zerren. Zum berühmtesten Vorfall des Tages entwickelt sich eine live im Fernsehen übertragene Szene, in der der weiße Lkw-Fahrer Reginald Denny von mehreren Angreifern attackiert wird. Mit Einbruch der Dunkelheit greifen die Ausschreitungen in South Central in Form von weiträumigen Plünderungen und Brandstiftungen im großen Maßstab um sich. Donnerstag, 30. April 1992. Die Brandstiftungen und Plünderungen breiten sich nordwärts nach Koreatown und Hollywood aus. Das Fernsehen zeigt Aufnahmen von Schusswechseln zwischen Männern auf der Straße und Männern, die koreanische Geschäfte bewachen. Um acht Uhr morgens versammelt sich die vom Gouverneur angeforderte Nationalgarde an den Waffenarsenalen von Los Angeles. Ab sechs Uhr abends beziehen die Streitkräfte Position an den Krisenherden der Stadt. Freitag, 1. Mai 1992. In Koreatown und Hollywood kommt es überall zu Plünderungen und Brandstiftungen. Ungeachtet ihrer Namen und gängiger Assoziationen stellen in beiden Vierteln einkommensschwache Latinos die Mehrheit der Einwohner. Vereinzelt wird aus fahrenden Autos auf Wohnungen in besser situierten Vierteln geschossen. Samstag, 2. Mai 1992. Die Nationalgarde ist mit einem Großaufgebot präsent. Es kommt nur noch sporadisch zu Brandstiftungen und Plünderungen. Sonntag, 3. Mai 1992. Die Nationalgarde patrouilliert auf den Straßen in den »Unruhe«-Bezirken. Der Friede ist wiederhergestellt.

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Konstruktion einer Epiphanie der Unsichtbarkeit In den Stunden unmittelbar nach der Verkündung des Urteils in Simi Valley wandten politische Aktivisten verschiedene Strategien an, um gezielt eine Epiphanie der Unsichtbarkeit herbeizuführen. In der Nacht kam es zu einer Reihe weiterer Aktionen, die die praktische Unsichtbarkeit der Akteure sicherten. Spätestens am Freitag, als sich das anarchische Treiben nach Norden ausgebreitet hatte und in eine andere soziale Geografie vorgedrungen war, vollzog es sich, unter einer Dunstglocke verschiedener individueller Motive, zugleich offen und verdeckt. In ihrem Endstadium hatte die Episode für die meisten Beteiligten karnevaleske Züge angenommen, erschien sie als offen auf den Kopf gestellte Gesellschaftsordnung, in der es regelmäßig zur Verletzung von Eigentumsrechten und Missachtung der Staatsgewalt kam, allerdings in einem euphorischen, oft spielerischen Geist. Vorspiel: die Schwächung der Staatsgewalt

Die soziologische Einsicht, dass bestehende Normen oder Gesetze von kontingenten Machtstrukturen abhängen, dass sie sich nie von selbst verwirklichen und ihre Anwendung stets neu verhandelt wird, wird üblicherweise durch den Mythos eines beständigen, »gesetzten« Charakters der moralischen Ordnung verdeckt. Das Gesetz »ist«, wie Gott »ist«. Es gibt rechtliche »Strukturen«, die unabhängig von den rechtlichen Prozessen bestehen, die sie aktivieren. In diesem mythologischen Verständnis der Gesellschaftsordnung muss das Gesetz nicht verwirklicht werden, um wirklich zu sein. In landläufiger Vorstellung gelten Verhaltensweisen als kriminell, bevor sie von den Behörden als kriminell definiert wurden, und sie tun dies auch dann, wenn die Akteure, die der Aufmerksamkeit der Strafverfolgungsbehörden entgehen, seien es Konsumenten illegaler Drogen oder Finanzmarktmanipulateure, ihr Verhalten gar nicht als kriminell empfinden. Die Soziologie selbst nährt den Mythos von der passiven, positivistischen Ontologie des Gesetzes, wenn sie sich anschickt, den kontingenten Charakter des Verbrechens zu untersuchen, ohne den kontingenten Charakter des Rechtsvollzugs zu berücksichtigen. Eine Kritik dieses Vorgehens stand am Ursprung der »Etikettierungs-« oder »Labelingtheorie«. Nachdem Soziologen einmal begriffen hatten, dass die Zufälligkeiten des Rechtsvollzugs es problematisch machten, die Identität 70

einer Person als kriminell vorauszusetzen, regte dies Untersuchungen darüber an, wie die Betroffenen selbst dazu kamen, ihr eigenes Verhalten als abweichend anzusehen.9 Tatsächlich wird weiten Teilen der Öffentlichkeit in bestimmten historischen Momenten deutlich, dass es ein Mythos ist zu unterstellen, Kriminalität und abweichendes Verhalten seien offensichtliche Tatsachen, die sich unabhängig davon ermitteln ließen, wie die Akteure selbst ihr Verhalten begreifen. So konnte es einem beispielsweise passieren, dass man, als noch »der Geist der Sechziger« herrschte (wie es in den frühen 1970er Jahren in Old Town in Chicagos Near North Side der Fall war, wo sich die folgende Begebenheit zutrug), einem Mann über den Weg lief, der an einem völlig normalen Tag in aller Öffentlichkeit in eine Souterrainwohnung einzubrechen versuchte, nur Zentimeter von den Passanten entfernt, die hier in großer Zahl vorbeikamen. Wenn man stehen blieb, um das Ganze wortlos zu betrachten, hielt der Mann womöglich im Gebrauch seines Brecheisens inne und bot eine Erklärung der Art an, dass er als Armer die Sachen in der Wohnung dringender brauche als ihr Besitzer, untermauert durch eine theoretische Rechtfertigung, die die ganze Geschichte kollektiver Unterdrückung von Klasse und Rasse ins Feld führte. Die unverhüllte Tat galt ihm nicht als Diebstahl, sondern als Rückerstattung von etwas, das gestohlen worden war, wenn auch nicht von dem unmittelbaren Opfer. Der Mythos einer feststehenden, nicht verhandelbaren Grenze zwischen Ordnung und Unordnung hatte schon lange vor der Urteilsverkündung in Simi Valley Risse bekommen. Am 7. März 1991, kurz nach Beginn der Ausstrahlung des Videos, kam Rodney King auf freien Fuß. Er war mit stark überhöhter Geschwindigkeit geblitzt worden, seine Blutalkoholkonzentration bewies, dass er unter Alkoholeinfluss 9

Siehe David Matza, Becoming Deviant, Englewood Cliffs 1969. Ich selbst habe kriminalsoziologische Studien aus sozialkonstruktivistisch-phänomenologischer Perspektive durchgeführt (Jack Katz, Seductions of Crime. Moral and Sensual Attractions in Doing Evil, New York 1988), nachdem ich den Etikettierungsansatz für seine fortwährenden positivistischen Grundannahmen kritisiert hatte, vgl. Jack Katz, »Deviance, Charisma, and Rule-Defined Behavior«, in: Social Problems 1972, H. 2, S. 186–202. Ungefähr zur gleichen Zeit formulierten Ethnomethodologen eine ähnliche Kritik; vgl. Melvin Pollner, »Sociological and Common-Sense Models of the Labelling Process«, in: Roy Turner (Hg.), Ethnomethodology, Harmondsworth 1974, S. 27–40.

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gefahren war, und ihm drohte eine Anklage wegen einer Fülle weiterer Delikte, die seine Festnahme gerechtfertigt hatten. Als King nach der Ausstrahlung des Videos von der Prügelaktion der Polizei nicht der Vergehen angeklagt wurde, die man ihm hätte vorwerfen können, herrschte in der Öffentlichkeit der Eindruck, das lapd (Los Angeles Police Department) erkenne an, dass die Würde des Gesetzes erheblich verletzt worden war. Die Eröffnungsszenen: unverfrorene Angriffe auf die Staatsgewalt

Am Tag der Urteilsverkündung kam es zunächst vor der Stadtverwaltung und dem damaligen Polizeipräsidium, dem Parker Center, zu Protesten und Sachbeschädigungen. Dass die Proteste hier ihren Ausgang nahmen, verdankte sich keiner spontanen Wahl. In diesem innerstädtischen Geschäftszentrum strömten keine Anwohner auf die Straßen. Wie in anderen amerikanischen Städten lebte seinerzeit eine beträchtliche Zahl von Obdachlosen in Downtown L. A., doch aufgrund seiner Bürogebäude, Kultureinrichtungen und Verwaltungskomplexe gab es hier keine Anwohnerschaft, die einen Massenprotest hätte auf die Beine stellen können. In den Tagen vor der Urteilsverkündung hatten Gruppen, die sich seit Jahrzehnten als radikale Kritiker der Machtstrukturen von Los Angeles betätigten, ihre Mitglieder dazu aufgerufen, sich im symbolisch-institutionellen Zentrum der Stadt zu versammeln. Sozialistische Arbeiter und Organisationen mit Wurzeln im Widerstand der Black Panther gegen die Polizeigewalt der 1960er Jahre begrüßten die historische Gelegenheit, auf eine »Revolution«, wie ihre Wortwahl lautete, zu drängen. Ihr Widerstand galt der US-amerikanischen Regierungspolitik im weitesten Sinne. Mit dem Verbrennen amerikanischer Flaggen verwandelten sie den Protest gegen einen lokalen Polizeiübergriff in eine revolutionäre Aktion. In einem nach den Ereignissen gedrehten Dokumentarfilm sprach Michael Zinzun, ein altgedienter Black Panther, der die Coalition Against Police Abuse leitete und eine wohlbekannte Nemesis der südkalifornischen Strafverfolgungsbehörden war, von der sorgfältigen Planung, mit der die Innenstadt in den Fokus gerückt wurde. Vor öffentlich-rechtlichen Filmemacherinnen erklärte er, bereits Tage vor der Urteilsverkündung sei die Entscheidung gefallen, im Falle eines Freispruchs das Parker Center lahmzulegen. Die Strategie bestand darin, 72

die Zerstörungen auf die Innenstadt zu konzentrieren und die Polizei in ihrem Präsidium festzusetzen, um zu verhindern, dass sich, wie bei den Watts-Unruhen 1965 im Süden von L. A., Sachbeschädigungen auf die Schwarzenviertel beschränken würden und die Polizei deren Bewohner einkesseln könnte. Tonaufzeichnungen weisen darauf hin, dass junge schwarze Männer aus South Central dem Aufruf der Aktivisten folgten. Nach ersten Plünderungen und Angriffen in ihren eigenen Vierteln machten sich viele auf den Weg in die Innenstadt. Einige kündigten an, Polizisten und Weiße zu attackieren, wo immer sie ihnen in der Stadt begegneten, und gaben großspurige Drohungen von sich, wie die, sich die reiche Westside von Los Angeles County zum Ziel zu nehmen.10 Rund um das Parker Center zog sich die Polizei zurück, oder sie stand dabei, als Gebäude angegriffen wurden. Sie schritt nicht einmal ein, als (unbemannte) Polizeifahrzeuge umgestürzt und angezündet wurden.11 Als Journalisten die dramatischen Bilder live im Fernsehen sendeten, hätte die Botschaft nicht deutlicher ausposaunt werden können: Was einen Tag zuvor noch als kriminelles Verhalten unterbunden worden wäre, ließ sich nun unter den Augen der Polizei ohne unmittelbares Risiko einer Festnahme begehen. Zeitgleich mit den Aktionen der Menschenmenge in der Innenstadt strömten die Bewohner von South Central auf die Straßen. Am späten Mittwochnachmittag, als Journalisten aus nächster Nähe Angriffe auf Eigentum und Personen beobachteten und sich in Livekommentaren laut über das Ausbleiben des lapd wunderten, befand die örtliche Polizeiführung, dass ihre Kräfte der Herausforderung nicht gewachsen waren. Um 17:43 Uhr nachmittags war in einer Nachrichtensendung für jedermann in L. A. zu hören, wie ein Polizeileutnant, der mit 25 Polizisten an der Kreuzung Florence und Normandie Avenue eingetroffen war, anordnete: »Ich will, dass alle hier abziehen. Florence und Normandie. Alle weg hier! Sofort!«12

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Elena Mannes (Regie), L. A. is Burning. Five Reports from a Divided City, pbs [Public Broadcasting System] 1993. Los Angeles Times Staff, Understanding the Riots. Los Angeles Before and After the Rodney King Case, Los Angeles 1992, S. 51. Ebenda, S. 52.

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An dieser Kreuzung wurde um 18:30 Uhr der Lkw-Fahrer Reginald Denny angegriffen. Als zwei Polizisten versuchten, ihn zu retten, wurden sie durch Barrieren, die die Anwohner auf den Straßen errichtet hatten, daran gehindert und sogar von Heckenschützen zurückgetrieben. Bis zum Sonnenuntergang war es noch eine Stunde hin. Der Angriff auf den Mythos einer festen Grenze zwischen Unordnung und Ordnung fand am helllichten Tage statt, ebenso wie der Rückzug der Ordnungskräfte. Derartige Szenen verstärkten die berauschende Epiphanie der Unsichtbarkeit, die zunächst durch die Entscheidung politischer Aktivisten heraufbeschworen worden war, im Stadtzentrum zu protestieren. Noch bevor die Demonstranten in der Innenstadt mit Sachbeschädigungen begannen, verfügten sie über Hinweise darauf, dass die Polizei die Strafverfolgung eingestellt hatte. Die Versammlung war nicht genehmigt und blockierte den Verkehr zu einer Zeit, in der die Wirtschaftselite aus der Innenstadt nach Hause zu pendeln pflegt. Gewaltfreies Verhalten, das an jedem anderen Tag als justiziabel behandelt worden wäre, wurde nunmehr geduldet, weil die widerrechtliche Versammlung praktisch nicht zu zerstreuen war. Die Wächter der öffentlichen, sichtbaren Ordnung schienen sich in der verzweifelten Hoffnung zurückzuhalten, dass die Proteste im symbolischen Zentrum L. A.s mit seiner fire-Wirtschaft (finance, insurance, real estate) und seinen Verwaltungsgebäuden, Gerichten und Anwaltskanzleien abflauen würden, bevor es zu Brandstiftungen käme. Arbeiten an der Unsichtbarkeit

Mit Einbruch der Dunkelheit waren die Demonstranten kaum noch zu unterscheiden, was eine Reihe von Strategien in Gang setzte, die Unsichtbarkeit noch einmal zu steigern. Weiße Aktivisten, die nach South Central gekommen waren, um sich den Protesten anzuschließen, wurden gewarnt, dass sie angegriffen werden könnten; andere, die bereits vor Ort waren, wurden klar und deutlich aufgefordert zu verschwinden.13 Diese Warnungen halfen einerseits Außenstehenden, nicht zu Opfern zu werden. Nicht ganz zufällig verringerten sie andererseits das Risiko, dass strafbare Handlungen, die die örtlichen De-

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Mitteilungen von persönlichen Bekannten kurz nach den Geschehnissen.

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monstranten an Personen oder Eigentum begingen, gemeldet werden konnten. Es wurde auch auf Nachrichtenfotografen geschossen, obwohl diese ihre Sympathie mit den Protesten zum Ausdruck brachten. Spontan, das heißt ohne zentrale Leitung oder Anweisung, entschieden junge Afroamerikaner in South Central, wer auf welcher Seite stand. Zwar hielten nur wenige die Außenseiter allein aufgrund ihres Aussehens für verdächtig, aber sie behandelten sie in hinreichend bedrohlicher Weise, um auf der Straße effektiv demografische Grenzen zu ziehen. Es fielen Schüsse auf manche der Feuerwehrmänner, die bei gelegten Bränden eintrafen.14 Diese Aggression erzeugte augenblicklich einen schroffen Gegensatz zwischen den Protestlern und der Staatsgewalt im Allgemeinen und vermittelte das Bild einer Gesetzlosigkeit, die alle einzelnen Aktionen übertraf. Ungelöschte Brände verwandelten sich in nichtmenschliche Akteure, die dem Eindruck zunehmender Anarchie Vorschub leisteten. In einer segregierten Stadt, in der die Wohnviertel sozial schwacher Minderheiten mitunter nur wenige Autominuten von Luxusvierteln wie Beverly Hills und Hancock Park entfernt liegen, manifestierte der Rauch der in Brand gesetzten Gebäude eine Transzendenz der Gesellschaftsordnung, die zugleich offensichtlich und anonym, zudringlich und unpersönlich war. In weiter entfernten Vierteln war die Botschaft über allen Köpfen in Form von Rauchsignalen zu lesen, deren Rußteilchen so tiefschwarz am Firmament schwebten, wie sie kristallklar anzeigten, dass sich die offizielle Macht, die Kriminelle hätte zur Rechenschaft ziehen können, aufgelöst hatte. Die Sirenen, die durch die Stadt rasten, bildeten den Soundtrack zur Himmelsschrift. Für die Plünderer verfügte Feuer über den speziellen Reiz, dass es eventuelle Beweise ihrer persönlichen Beteiligung an Diebstählen beseitigte. In einem Abschnitt des Pico Boulevard, in dem sich vor allem äthiopische Einzelhandelsgeschäfte konzentrierten, verkündeten umsichtige Plünderer den Schaulustigen, dass sie die nunmehr leergeräumten Läden in Brand setzen würden.15 Ein allgemeinerer Reiz lag

14 15

Von einigen dieser Vorfälle berichtet Understanding the Riots. Mitteilungen von persönlichen Bekannten kurz nach den Geschehnissen.

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darin, dass die Rauchdecke der Brandstiftungen das Geschehen den Blicken all derjenigen entzog, die nicht unmittelbar danebenstanden. Auf einer pragmatischen Ebene des Selbstschutzes war es sinnvoll, Feuerwehrmänner anzugreifen, bevor diese die Sichtbarkeit von Plünderern, Vandalen und Gewalttätern hätten wiederherstellen könen. Feuer zerstört Fingerabdrücke und Überwachungskameras und hindert die Polizei am Eingreifen. Die Feuerwehr konnte ohne Polizeischutz nicht zu den Brandherden vordringen, während die Polizei nicht effektiv patrouillieren und verhaften konnte, wo Feuer außer Kontrolle waren. Der Einbruch der Nacht verwandelte das Firmament in einen Hintergrund, der den Feuern eine unheimliche, tief verstörende und zugleich faszinierende Schönheit verlieh. Für den Großteil der Einwohner von Los Angeles bestand der einzige Aspekt der Anarchie, den sie persönlich beobachten konnten, im Rauch und in den Brandrückständen, die von Luftströmungen in Gegenden getragen wurden, die Meilen von den brennenden Gebäuden selbst entfernt waren. Die verschiedenen Anzeichen für die Kraft der Zerstörung waren unmittelbar und nicht zu leugnen: Teile verkohlter Baumaterialien, die in Hinterhöfen landeten und von denen manche bis zu einem Meter groß waren; eine stickige Atmosphäre; Ruß, den man von Autos abwaschen musste, die im Freien standen. Wo Anwohner das Gefühl bekamen, sie könnten zu Opfern werden, reagierten sie auf eine Weise, die die Unsichtbarkeit der Angreifer verstärkte. Einige verließen die Stadt oder wichen in die Wohnungen von Freunden in anderen Vierteln aus. Viele Ladenbesitzer, Angestellte, Fahrer und Kontrolleure gingen in Gegenden, die den Fernsehberichten zufolge von den Ausschreitungen betroffen waren, nicht zur Arbeit. Pendler änderten ihre gewohnten Strecken, um diese Bereiche zu umfahren. Aus streng soziologischer Perspektive besteht Anarchie als eine Form des kollektiven Handelns in allen Verhaltensweisen, die die beteiligten Akteure von einer vorausgeahnten, im Entstehen begriffenen oder wahrgenommenen Anarchie abhängig machen. Tatsächlich waren die meisten Beteiligten keine Plünderer, Brandstifter oder Gewalttäter, sondern diejenigen, die als Vermeidungsstrategie ihre Alltagsroutinen änderten. Große Teile der Stadt schienen den Aggressoren preisgegeben. Die vielen Außenstehenden, die sich normalerweise in 76

ihren alltäglichen Routinen durch die Stadtviertel bewegen und dem urbanen Raum den vorherrschenden Eindruck eines geregelten sozialen Lebens vermitteln, verzogen sich. Wer zurückblieb, hatte damit einen weiteren Grund zu der Annahme, dass regelwidriges Verhalten an öffentlichen Orten unsichtbar bleiben würde. Ausgangssperren zu verhängen, ist eine übliche Reaktion von Regierungen auf Episoden der Anarchie. Ausgangssperren sollte man als ersten Schritt in einem langwierigen Prozess verstehen, in dem die Beteiligten und der Staat indirekt über die entscheidende Frage der persönlichen Sichtbarkeit verhandeln. Sie sind nicht zwingend an den Sonnenuntergang geknüpft, aber typischerweise gegen den Sichtschutz der Nacht gerichtet. Sie machen jemandes bloße Anwesenheit auf der Straße zu einem Grund, ihn festzunehmen. Die Polizei muss jemanden nicht dabei ertappen, wie er eine der Taten begeht, die die staatlichen Gesetze als kriminell definieren, um ihn wie einen Kriminellen zu behandeln. Verhängt man Ausgangssperren aber zu früh, wie es der Fall sein kann, wenn man sie ohne entsprechende Mittel zu ihrer Durchsetzung ausspricht, können sie nach hinten losgehen: Sie verwandeln ein ansonsten unschuldiges Verhalten in eine Beteiligung an der Anarchie. Eine Ausgangssperre verwandelt jemanden, der lediglich als Beobachter unterwegs ist, in jemanden, den der Staat als Unruhestifter betrachtet. Wenn es ihnen nicht gelingt, Massen von Leuten davon abzuhalten, auf die Straße zu gehen, dann nähren Ausgangssperren die Epiphanie der Unsichtbarkeit nach Kräften. Die Ortsansässigen, die die Massen auf den Straßen sehen, können im Allgemeinen nicht zwischen neugierigen Zuschauern und bereitwilligen Teilnehmern unterscheiden. Obwohl jeder Einzelne für sich weiß, ob er hinter den Protesten steht, ob er sich an Plünderungen beteiligt hat oder nicht, weiß niemand, was all die anderen, die gerade eine Ausgangssperre verletzen, denken und getan haben, ob sie Schaulustige sind oder Beteiligte. Unter einer Ausgangssperre aber hat ein jeder Grund zu einer übersteigerten Wahrnehmung des gesetzlosen Charakters der anderen, die er auf der Straße sieht. Allein schon das Spektakel, das Brandstiftungen, Plünderungen und brutale Angriffe auf Personen erzeugen, wirkt sich auf doppelte Weise im Sinne einer »Wir gegen sie«-Wahrnehmung aus. Das Schauspiel schreckte Außenstehende davon ab, in die betroffenen Gegenden 77

zu kommen, und lockte die örtlichen Anwohner aus ihren Häusern heraus, um beobachten zu können, was passiert.16 Ja, solange Brandstiftungen und Plünderungen grassierten, hatten die Ortsansässigen zu ihrem eigenen Schutz einen Grund, das Haus zu verlassen und das Ausmaß der Bedrohung im Auge zu behalten. Auf diese Weise setzte der Prozess der Anarchie eine Dynamik zugunsten seiner eigenen Fortdauer in Gang. Die Sichtbarkeit der anonymen Unordnung

Dadurch, dass sie Fensterscheiben einwarfen, Graffiti sprayten oder Eigentum auf andere unübersehbare Weise beschädigten, trugen junge, zu zweit oder allein agierende Männer zu dem Eindruck eines allgemeinen Chaos bei. Ihr regelwidriges Verhalten war dem in der »Devil’s Night« nicht unähnlich, der Nacht vor Halloween, die in einigen USamerikanischen Städten zu einer lokalen Tradition geworden ist. (In den 1990er Jahren war Detroit berüchtigt für die Welle an Bränden, die in der Teufelsnacht gelegt wurden.) Ähnlich ist es in manchen skandinavischen Städten zu einem vertrauten Anblick geworden, dass betrunkene junge Männer in den Innenstädten randalieren, was gemeinhin als Initiationsritus gilt. Die Teufelsnacht, die traditionellen Ausschreitungen mancher Collegestudenten nach dem alljährlichen »Homecoming«-Footballspiel und die wiederholten anarchischen Episoden während des Karnevals weisen darauf hin, dass die Gesellschaftsordnung permanent neu verhandelt wird. Wo solche Ausbrüche zu erwarten sind, haben die einzelnen Vandalen Grund zu der Annahme, dass sie sich ein gewisses Maß an persönlicher Unsichtbarkeit bewahren können, obwohl sie die Ordnung sichtbar angreifen. Auch die Traditionen der Toleranz gewähren faktisch ein bestimmtes Maß an effektiver Anonymität. In Los Angeles bestand die entscheidende Botschaft im Frühjahr 1992 nicht darin, dass man in der Vergangenheit chaotische Zustände toleriert hätte, sondern in der Unsicherheit über das kommende Geschehen. Da das Simi-Valley-Urteil von einer breiten Mehrheit abgelehnt wurde – selbst der republikanische Präsident äußerte sich

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Snow/Moss, Protest on the Fly, unterscheiden verschiedene Arten von Teilnehmern an Ausschreitungen, einschließlich der Zuschauer.

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verständnislos –, galten Sachbeschädigungen großen Teilen der Öffentlichkeit als unausweichlich. Vandalen, Plünderer und sogar physische Gewalttäter konnten vernünftigerweise davon ausgehen, dass man ihre Taten als »Ausdruck gerechtfertigter Wut« verstehen würde, auch wenn kriminelle Reaktionen nicht ausdrücklich gebilligt wurden. Die Vermehrung von Zeichen der Zerstörung ist ein weiterer Weg, auf dem der Prozess der Anarchie selbst eine Dynamik auslöst, die sein eigenes Fortlaufen fördert. Eine zerbrochene Fensterscheibe, die bei anderer Gelegenheit bedeutungslos wäre, hatte nun einen neuen Wert, weil sie auf sinnfällige Weise zu dem Gesamteindruck zunehmender Unordnung beitrug. Allein aus einer großen Zahl eingeworfener Fensterscheiben war für jemanden, der Vandalismus in Betracht zog, ohne jemals mit anderen Missetätern persönlich in Kontakt zu treten, ersichtlich, dass er viele andere »an seiner Seite« hatte, Teil einer großen Gemeinschaftsanstrengung war, ein weiteres Bindeglied in einem elektrisierenden Netz unsichtbarer Rebellen. Zerbrochene Fensterscheiben, Graffiti, brennende Gebäude, mit Brettern vernagelte Schaufenster, herrenlose Autos, ausgeräumte Geschäfte und Müll auf den Bürgersteigen und Straßen sind leblos. Dennoch künden sie in einer Art anarchischer Magie nachdrücklich vom dynamischen Fortschritt der Anonymität. Die Vermehrung unpersönlicher Zeichen der Zerstörung verdankt sich einem wachsenden Gefühl, dass sich die Gegend in einem Zustand der Anarchie befindet, und nährt dieses zugleich.17 Spätestens Donnerstagabend wirkten weite Teile von South Central und Koreatown wie eine Geisterlandschaft. Nachdem Rodney King zusammengeschlagen worden war, hatte sich ein Jahr lang ein Gefühl der Furcht ausgebreitet, mit immer dunkleren Vorahnungen, je näher der

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In letzter Zeit sind die Hackergruppe Anonymous und ihre Sympathisanten dazu übergegangen, bei Protestveranstaltungen Guy-Fawkes-Masken zu tragen. Wie das Tragen von Kapuzenpullovern ist dies an sich eine unschuldige Gepflogenheit; zumindest ist sie noch nicht verboten wie der muslimische Schleier in manchen westlichen Kontexten. Die Taktik aber, die die persönliche Unsichtbarkeit sichtbar macht, ist von strategischer Bedeutung für diejenigen, die eine Demonstration gerne mit etwas Gewalt versetzen würden. Wohl oder übel werden alle, die Masken tragen, zu Mitverschwörern. Wie eine Menge, die sich so um einen Steine- oder Molotowcocktailwerfer stellt, dass die Polizei nicht an ihn herankommt, um ihn festzunehmen, bietet die Masse der maskierten Demonstranten einen Schutz, der die Bemühungen der Ordnungskräfte erschwert, die Gewalttäter zu isolieren.

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Tag der Urteilsverkündung in Simi Valley rückte. Angesehene Stadtteilsprecher hatten auf die Gefahr der Anarchie angespielt, selbst wenn sie selbst für Zurückhaltung plädierten, und damit unbeabsichtigt die Annahme gestärkt, dass überall destruktive Geister lauerten, so unaufhaltsam wie unsichtbar. Jetzt bildeten verbrannte und ausgeplünderte Abschnitte der städtischen Landschaft einen neuen Akt in diesem gespenstischen Drama. Über weite Strecken herrschte eine Friedhofsruhe in der Stadt, deren Totenstille auf das vibrierende soziale Leben verwies, das zerstört worden war. Die Anarchie wurde in einer neuen dialektischen Beziehung sichtbar: Es gab unübersehbare Zeichen einer Zerstörung durch Akteure, die unsichtbar geworden waren. Obdachlose wurden durch den Rauch aus ihren Rückzugsorten vertrieben. Einige waren von Brandstiftern ausgeraubt worden, die in den mobilen Sammlungen ihrer Einkaufswagen potenzielles Brennmaterial erblickten. Die Obdachlosen strömten auf die Straßen und verstärkten eine Masse, deren Sichtbarkeit auf die respekteinflößende Größenordnung der Aufgabe hindeutete, vor der die Ordnungshüter standen. Die Feuer brannten weiter und schickten Rauchzeichen von zerstörerischen Kräften in den Himmel, die bereits auf geheimnisvolle Weise weitergezogen waren. Selbst die Topografie der Region schien mitzuspielen, indem sie die Schwebepartikel in einen besonders bösartigen Smog einschloss, der sich weit über die eigentlichen Schauplätze der Brandstiftungen und Plünderungen hinaus erstreckte und letztlich die ganze Stadt in die Tragödie einbezog. Eine anonyme Zerstörungswut beherrschte den Himmel. Episoden der Anarchie unterscheiden sich stark nach den realen Konflikten, von denen sie gespeist werden und bei denen es sich um ethnische, religiöse oder nationale Identitätskonflikte handeln kann, um Untergebene, die Vorgesetzte angreifen, oder umgekehrt, um politische Streitigkeiten oder sportliche Konkurrenz. Manche der Gegensätze im Hintergrund anarchischer Episoden spiegeln »Generationen« gruppenbezogener Ungerechtigkeiten wider, andere sind nicht älter als eine Sportsaison.18 Unabhängig aber von den treibenden Kräften 18

Für ein frühes und nach wie vor seltenes Verständnis der prozessualen Gemeinsamkeiten von inhaltlich ganz unterschiedlichen Konfliktformen wie Rassenunruhen und Ausschreitungen nach Sportereignissen vgl. Gary T. Marx, »Issueless

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oder unterschwelligen Gegensätzen und Konflikten währt eine Anarchie für gewöhnlich nie lange, höchstens ein paar Stunden oder Tage. Der performative Reiz einer Anarchie hilft, ihre episodische Kürze zu erklären. Anarchisches Verhalten erzeugt eine ganz spezielle Reihe ästhetischer Verlockungen, die so unwiderstehlich wie nur schwer aufrechtzuerhalten sind. Der wichtigste dieser emergenten Reize ist das Prinzip der Umkehrung. Die zweite Phase in der Rodney-King-Anarchieepisode war in mindestens dreifacher Weise von einem Umkehrungsprinzip bestimmt: in der Ästhetik der Brandstiftungen, im unerwarteten Umschlag von Kontrollmechanismen und in der sozialen Geografie, die die Anarchie zeichnete. Ein Teil der Faszination einer Brandstiftung liegt darin, dass sich ein Funke in eine verheerende Feuersbrunst verwandeln kann. Die verborgene Kraft, die im Feuer freigesetzt wird, bildet eine Parallele zu der politischen Botschaft der Anarchie: Es gibt immer sehr viel mehr, mit dem man rechnen muss, als das bloß Sichtbare; die Kräfte des Unmuts sind unendlich viel größer als jede Reihe von Menschen, die man festnehmen könnte. Spezifisch für die Anarchie im Frühjahr 1992 in Los Angeles war die Umkehrung der Bedeutung der Hubschrauber, die über den innerstädtischen Vierteln kreisten. Polizeihubschrauber waren seit Jahren ein vertrauter Anblick am Himmel über den zentrumsnahen Vierteln von L. A. Die Anwohner wussten, dass die Polizei jemanden verfolgte, wenn ein Hubschrauber in der Luft stand oder enge Kreise zog. Jetzt verwandelten sich die Helikopter von einem Zeichen der sozialen Kontrolle in eine Ressource anarchischen Tuns. Die Menschen konnten in ihren Vierteln sehen, was sich auf den Straßen anderer Stadtviertel abspielte, weil seit Mittwochnachmittag im Fernsehen Liveaufnahmen der chaotischen Zustände aus Hubschraubern übertragen wurden. Die Hubschrauber fungierten als eine Art elektronischer deus ex machina, ein Apparat, der kommunikative Blitze ausspuckte, die eine Massenepiphanie der Unsichtbarkeit zugleich offenbarten und schufen. Aus Nachrichtenhelikoptern, die über Verkehrsknotenpunkten schweb-

Riots«, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Science 1970, H. 3, S. 21–33.

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ten, konnte man mitverfolgen, wie Plünderer und Vandalen an zahllosen Orten beliebig randalierten, ohne von der Polizei daran gehindert zu werden. Dass die Aggressoren so mühelos zu sehen und doch unbehindert waren, hieß, dass sich ein Einzelner effektiv unsichtbar machen würde, wenn er sich der Anarchie anschloss. Diese Umkehrung der Bedeutung von Hubschraubern, die lautstark über den Köpfen kreisten, besaß in Los Angeles eine besondere Resonanz. Spätestens seit Robert Altman sie in M*A*S*H, seiner Filmkomödie über den Koreakrieg, eingesetzt hatte (auch die aus ihr hervorgegangene Fernsehserie bediente sich dieses Mittels), waren Hubschrauber ein Zeichen militaristischer Kontrolle. Regisseur Francis Ford Coppola übertrug diese Bildmetapher 1979 in Apocalypse Now auf den Vietnamkrieg. Danach hielten Helikopter Einzug in heimische Law-and-Order-Szenen von Polizeithrillern, die in L. A. spielten. In Das fliegende Auge (Blue Thunder, 1983) wurde der Helikopter selbst zum Protagonisten der Erzählung, zu einer Art superheldenhafter mechanischer Polizeikraft. Seinen ein Jahr nach den Rodney-King-Unruhen in die Kinos gekommenen Los-Angeles-Film Short Cuts (1993) beginnt Altman mit einer Reihe von Hubschraubern, die Insektengift gegen die Mittelmeerfruchtfliege versprühen, eine Szene, die indirekt an M*A*S*H anknüpft. Für viele Anwohner verbanden sich Helikopter über dem Himmel von Los Angeles mit der ikonischen Bedeutung einer transzendierenden, repressiven Staatsmacht, die sie aus Film und Fernsehen kannten. Viele hatten zudem gelernt, sie mit dem Eiltransport in ein Krankenhaus zu verbinden. Aber ob man nun in seinem Viertel nach oben spähte und versuchte, die Lage der Straße abzuschätzen, die von Suchscheinwerfern abgetastet wurde, oder sich Verfolgungsjagden der Polizei nach Verkehrssündern, die lokale TVSender aus Hubschraubern aufnahmen, im Fernsehen ansah, praktisch jeder in L. A. wusste, dass Hubschrauber für soziale Kontrolle und lebensbedrohliche Notfälle standen. Der Pfad der Anarchie bewies das Potenzial für einen Umschlag, das in der sozialen Geografie von L. A. steckte. Die Anarchie wird gerne mit einem wilden Tier verglichen, das kurzlebig ist, weil es ununterbrochen schnell wachsen muss oder sterben wird. Ohne neue und sich ausdehnende Fronten der Zerstörung können sich die Kräfte der Ordnung sammeln und die Erhebung niederschlagen. Am Donnerstag entwickelte sich die Konzentration der Armut in dicht bewohnten ein82

kommensschwachen Wohngegenden, die ein Indiz für die segregierende Kraft der sozioökonomischen Ungleichheit gewesen war, zur entscheidenden Ermöglichungsbedingung für den Fortbestand dieser Episode der Anarchie. Während weite Teile von South Central geplündert wurden, verwandelte sich die städtische Armut Spanisch sprechender Herkunft in die vorderste Front der Anarchie. Ohne irgendeinen offiziellen von der Stadtregierung verfolgten Plan hatten sich in den zurückliegenden 25 Jahren Einwanderer aus Mexiko und Mittelamerika in zusammenhängenden Korridoren entlang der Western und der Vermont Avenue konzentriert. Jetzt strömten die Latino-Immigranten aus ihren Wohnungen und kreierten ein Muster von Plünderungen, das diesen viel befahrenen Nord-Süd-Verbindungen folgte und die Anarchie damit hügelaufwärts durch Koreatown nach Zentral-Hollywood und von dort ins Vorgebirge über dem Hollywood Boulevard ausdehnte. Unmittelbar über dem historischen Zentrum Hollywoods hatten in den 1980er Jahren sehr einkommensschwache Latinos als Mieter in den Wohnblöcken und als Hausbesetzer in den leer stehenden Gebäuden rund um die Yucca Street eine neue Heimat gefunden. (Der »Yucca Corridor« nahe dem symbolträchtigen Capitol Records Building war für seine hohen Raten an Gewaltverbrechen, Straßenprostitution und seine unverhohlenen, von Latino-Gangs betriebenen Drogenmärkte in Verruf geraten.) Die Logik der Entwicklungskurve der Anarchie war in dem Vermögen der Akteure begründet, unverhüllt zu sein und sich dennoch unsichtbar fühlen zu können: Die Dichte der Armut in dem Wohnviertel gestattete den Eindruck, dass »alle mitmachten«, sodass ein jeder vernünftigerweise erwarten konnte, dass er in der Masse untergehen würde. In den Augen potenziell Mitwirkender war die Fähigkeit, unverhüllt und doch unsichtbar zu sein, von großer Anziehungskraft, gerade weil es sich um eine so sanfte Verführung handelte. Man konnte sich einfach als Beobachter auf die Straße wagen, anfangs so subjektiv wie objektiv unschuldig, und dann einen kleinen Schritt in Richtung einer Plünderung machen. Wäre es nötig gewesen, sich in irgendeiner Weise zu maskieren, um unsichtbar zu werden, dann hätte man eine bewusste Entscheidung treffen müssen, sich auf die negative Seite der Gesellschaftsordnung zu begeben. Die Anarchie aber erzeugt ein Spektakel, das den Einstieg erleichtert, indem es die Motive verbirgt, aus denen heraus ein Anwohner auf die Straße geht. Dies war der tiefste Umschlag 83

im Kern der anarchischen Episode: Die Anarchie begann als Widerstand gegen die Kontrolle durch die Kräfte der Ordnung, um anschließend neue soziale Kräfte hervorzubringen, die die Anarchie unabhängig von den vor und zu Beginn der Episode vorhandenen Beweggründen aufrechtzuerhalten vermochten. Als sich die Latino-Armut nördlich von South Central in »eine Masse« verwandelte, in der sich die Neugierigen offen verstecken konnten, trug sich die Anarchie selbst. Moralische Unsichtbarkeit in einem surrealen Kontext

Die ersten Proteste, Sachbeschädigungen und Körperverletzungen waren mit der Rassenthematik verbunden. Die Gewalt gegen Personen und Sachen drückte eine aggressive Zurückweisung jener Schwarz/ Weiß- und Polizist/Bürger-Narrative aus, die im Zusammenschlagen Rodney Kings und im Ausgang des Verfahrens in Simi Valley ihren Ausdruck fanden. Ab Donnerstagmittag und fast den gesamten Freitag über veränderte sich das Narrativ der Straße dramatisch, als die lateinamerikanischen Einwohner der zentrumsnahen Viertel in Massen auf die Straße drängten und sich an der Anarchie beteiligten. Wie die Mobilisierung, aus der die Anarchie bestand, vonstattenging, wurde nicht so sehr durch die Rauchschwaden als durch den diskursiven Smog verdeckt, den L. A.s populäre und politische, journalistische und akademische Kultur emittierte. Die afroamerikanische Bevölkerung verfügte über Sprecher, die ohne Weiteres zu den Geschehnissen befragt werden konnten. 25 Jahre alte Kommentare wurden sofort ausgegraben und auf die aktuelle Lage bezogen, ohne dass man den Tatsachen vor Ort allzu große Beachtung geschenkt hätte. Dasselbe gilt für das, was Wissenschaftler zu sagen hatten, ebenso wie für die Erläuterungen bekannter mexikanisch-amerikanischer Persönlichkeiten, die von Journalisten schon seit Langem als Vertreter der Latino-Bevölkerung ausgeguckt worden waren. Angelehnt an einen Buchtitel von James Baldwin, auf den sich die Kommentatoren in den 1960er Jahren mit schöner Regelmäßigkeit bezogen hatten und der jetzt erneut zitiert wurde, verkündete der über der Stadt hängende Rauch erneut, »diesmal ist es Feuer«.19 Die Massen auf den Straßen

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Anspielung auf eine Wendung aus einem ungemein einflussreichen und bei seinem Erscheinen 1962/1963 kontrovers diskutierten Essay des Schriftstellers und

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aber waren jüngst eingewanderte Lateinamerikaner, keine einheimischen Schwarzen. Viele von ihnen waren zentralamerikanischer Herkunft und ohne Aufenthaltsgenehmigungen ins Land gekommen, vom lapd aber trotz ihres illegalen Status in Ruhe gelassen worden. Bereits viele Jahre zuvor hatte es sich das lapd offiziell zum Grundsatz gemacht, keine Verstöße gegen die Einwanderungsgesetze mehr zu verfolgen.20 Aus diesem Bevölkerungskreis zog keine öffentlich wahrnehmbare Stimme eine Verbindung zum Leid Rodney Kings, zu den seit Langem bestehenden Ungleichheiten zwischen einheimischen Bevölkerungsgruppen oder auch nur zu den historischen Übergriffen der Polizei von L. A. auf Einwohner mexikanischer Herkunft. Die Fernsehnachrichten begannen live zu zeigen, wie sich LatinoPlünderer fröhlich mit dem Inhalt von Ladengeschäften aus dem Staub machten. Am Donnerstagnachmittag fühlte ich selbst mich durch die Nachrichtenlage und durch Angaben von Freunden aus der Gegend, dass in Koreatown und Hollywood, die nur wenige Minuten von meiner Wohnung entfernt waren, eine zwar chaotische, aber keine persönlich bedrohliche Atmosphäre herrschte, ermutigt, meine eigenen Beobachtungen anzustellen. Ich schnappte mir einen Notizblock und suchte Straßen auf, die ich seit den späten 1980er Jahren gut kennengelernt hatte.21

20 21

Bürgerrechtsaktivisten James Baldwin, die in den Vereinigten Staaten zum geflügelten Wort geworden ist. Die letzten Sätze der Schrift lauten: »Wenn wir […] jetzt in der Ausübung unserer Pflicht nicht erlahmen, können wir vielleicht […] den Albtraum der Rassenfrage beenden und unser Land gestalten und den Lauf der Weltgeschichte ändern. Wenn wir jetzt nicht alles wagen, droht uns die Erfüllung jener Prophezeiung, die ein Sklave nach einem Bibelwort im Lied neu verkündete: God gave Noah the rainbow sign, no more water, the fire next time!«, James Baldwin, Hundert Jahre Freiheit ohne Gleichberechtigung (The Fire Next Time), Reinbek bei Hamburg 1964, S. 122f. [Anm. d. Übers.]. Sonderanweisung 40, erlassen am 27. 11. 1979, vgl. http://assets.lapdonline.org/ assets/pdf/SO_40.pdf [4. 4. 2015]. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Beobachtungen, die ich machte, während ich buchstäblich Schulter an Schulter mit Plünderern unterwegs war. Ich versuchte damals nicht, Leute zu interviewen. Interviews waren möglich; viele wurden live gesendet, während sie von Journalisten geführt wurden, die Plünderer ansprachen oder neben ihnen her rannten und sie um Antworten baten. Die Resultate waren Versuche der Plünderer, eine konventionelle Rhetorik zu finden, um ihr Handeln zu erklären. Obwohl informativ, verzerren solche Interviews die Bedeutung des Plünderns im Moment der Tat selbst, weil sie verbale Erklärungen für non-

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Auf der Western Avenue zwischen 3rd Street und Melrose Avenue war es offensichtlich, dass sich die Grenze zwischen rechtmäßigem und unrechtmäßigem, moralischem und unmoralischem, aggressiv antisozialem und respektvoll sozialem Verhalten auf der Ebene der sozialen Ontologie aufgelöst hatte. Die Menschen konnten nunmehr stehlen, ohne sich selbst als Diebe oder Revolutionäre zu empfinden. Zu plündern bedeutete nicht, dass man sich den »Kein Frieden, keine Gerechtigkeit«-Demonstranten angeschlossen hätte, die ursprünglich einen politischen Protest in die Öffentlichkeit getragen hatten. Zu plündern bedeutete nicht, dass man Eigentumsrechte in dezidiert unrechtmäßiger Weise angriff, um seine berechtigte Empörung über das Simi-Valley-Urteil zum Ausdruck zu bringen. Die Anwohner konnten auf die Straße kommen und Eigentum an sich nehmen, von dem sie wussten, dass es nicht ihr rechtmäßiger Besitz war, ohne dass sie sich im Geringsten als abweichend empfunden hätten. Manchmal wurde professionell und gezielt geplündert, meistens jedoch handelte es sich um eine spontane Reaktion auf die Situation, in der keine Wut zum Ausdruck kam. Soweit es Anzeichen von Gewalt gab, ging sie von Latino-Anwohnern aus, die mit Macheten auf die Straße gingen, um ihre Wohnungen und Familien zu verteidigen. Über die Gerüchteküche ihrer Verwandtschaftsnetze hatten die Latino-Immigranten in Hollywood von bewaffneten Schwarzen in South Central gehört, die in Apartments eindrangen und deren Bewohner in Schach hielten, während sie sie ausraubten. Die Macheten waren eine Vorsichtsmaßnahme, falls sich dieses Phänomen in Richtung Norden ausbreiten sollte. Eine Vielzahl von Bedeutungen und Motivationen bewegte zu den Plünderungen. Es war nicht nötig, sich für eine von ihnen zu entscheiden, da man vernünftigerweise davon ausgehen konnte, dass niemand nach einer Erklärung fragen würde. Einige hatten gemischte Motive. verbale Handlungen sind und in Medienmikrofone gesprochen wurden, die den Plünderern klarmachten, dass sie sich nicht nur an eine andere Person, sondern an ein unbegrenztes Publikum wandten. Mein Verständnis stützt sich demgegenüber auf die »existentielle Situation« – auf das, was ich dadurch, dass ich dabei war, von der Bedeutung zu erkennen glaubte, die es hatte, in der unmittelbaren Situation auf diese oder jene Weise zu agieren – sowie auf Gespräche an Ort und Stelle wie auch, in den folgenden Tagen, mit zentralamerikanischen Einwohnern der Gegend, die ich rund zehn Jahre zuvor kennengelernt hatte.

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Mehr noch als die Erklärungen, die sich ein Beteiligter für sein Verhalten einfallen lassen konnte, waren die Motive, die er anderen unterstellen durfte, wichtige Gründe für sein eigenes Plündern. Die Menschen leiteten ihr Mitmachen von einer Hermeneutik der Straße ab. Alle folgenden, moralisch neutralisierenden Lesarten waren in leicht sichtbaren Straßenszenen begründet. a. Wenn ich es nicht nehme, nimmt es jemand anderes (und der verdient es wahrscheinlich weniger). b. Hier ist niemand zum Bezahlen, und ich brauche das Ding. c. Dies ist ein historischer Moment, und ich möchte Teil davon sein. Mehr als irgendeinen besonderen Gegenstand nehme ich narratives Material mit, Geschichten, die ich anderen erzählen kann, und das ist an und für sich kostenlos. d. Ich nehme das Zeug jetzt mit, kann aber später dafür bezahlen oder es zurückbringen. (Tatsächlich brachten in der ersten Woche nach dem Ende der Anarchie viele Menschen geplünderte Gegenstände zurück.) e. Man sieht einen Polizisten, der danebensteht und nicht einschreitet, während direkt vor seiner Nase eine Plünderung stattfindet. Es muss eine offizielle Billigung dieser Diebstähle geben, ein Gefühl, dass sie unvermeidlich sind und folglich offiziell als unsichtbar behandelt werden. f. In manchen Geschäften steht der Inhaber und bittet die Plünderer herein. Warum sollte jemand so etwas tun? Weil er das Unvermeidliche akzeptiert und sich keinen zusätzlichen Ärger einhandeln will. Er vermeidet Schäden wie eingetretene Türen oder persönliche Angriffe von Leuten, die offensichtlich darauf aus sind, bei ihm einzudringen. Man kann ihn auch so verstehen, dass er sich auf den Neuanfang seines Geschäfts nach Beendigung der Ausschreitungen vorbereitet, indem er auch weiterhin freundliche Beziehungen zu den lokalen Anwohnern unterhält, die er in seinem Geschäft wird empfangen müssen. Die lesbare Aussage lautet: »Hier, ich kenne Sie. Nehmen Sie es, bevor es jemand Fremdes tut.« Jedenfalls kann es sich, wenn der Händler einwilligt, nicht um Diebstahl handeln. In dieser Phase der Anarchie bildete der Kontext einen hochgradig animierenden Anlass für die Akteure, zu praktischen Soziologen zu werden. Die Menschen auf den Straßen handelten alle nicht danach, 87

was sie über das auslösende Ereignis der Gesamtepisode dachten, sondern nach ihrem Verständnis dessen, was die anderen um sie herum taten. Am Donnerstagnachmittag um halb vier rammten auf dem Rampart Boulevard nördlich des Wilshire Boulevard (in den Nachrichten in L. A. hatte sich »Rampart«, der Name einer Straße und eines Polizeireviers, den Ruf eines notorischen Bandenviertels eingehandelt) rund zwanzig halbwüchsige Latinos in weißen T-Shirts und schwarzen Hosen, die ein Beobachter als Ganguniform ansehen würde, mit ihren Körpern gegen eine Schiebetür aus Metall, die ein Autoradiogeschäft schützte. Sie drangen mit schierer Gewalt ein.22 Angesichts solcher Szenen, die es überall zu sehen gab, war es für einen Händler vernünftig, die Plünderer freundlich in sein Geschäft hineinzukomplimentieren. Als die allgemeine Stimmung das Plündern in eine unverfängliche Aktivität umdefiniert hatte, herrschte eine freischwebende moralische Atmosphäre, die nicht mehr in den üblichen Grenzen zwischen richtig und falsch verankert war. Eine Vielzahl außergewöhnlicher Ereignisse wurde nun möglich. Zu diesen kam es auf beiden Seiten der Anarchie durch beispiellose Formen der Zusammenarbeit, bei denen Plünderer Plünderern halfen und Eigentümer Eigentümern. Neue Formen gemeinschaftlicher Innovationen prägten nunmehr den Charakter der Episode. Auf der offensiven Seite bedeutete die Auflösung der Ordnung, dass die üblichen Lösungen für praktische Probleme nicht mehr zur Verfügung standen. Um Dinge geregelt zu bekommen, halfen die Plünderer einander. Sie rekrutierten Bekannte und sogar Fremde, um Klaviere und Sofas aus Geschäften herauszuschleppen. Auch auf der defensiven Seite halfen sich jene, die einen Angriff zu befürchten hatten, gegenseitig in noch nie dagewesener Weise. Einzelhandelsgeschäfte schlossen haufenweise. Manche von ihnen waren ausgeplündert worden, bei anderen aber wurden Schaufenster und Türen zum Schutz zugenagelt. Einige große Supermärkte wurden geschlossen und mit Brettern vernagelt, was eine vernünftige Maßnahme angesichts möglicher Haftungsansprüche war, die es zu befürchten 22

Diese Schilderung stammt von einer meiner früheren Doktorandinnen, die seinerzeit in einer Grundschule in der Hoover Street arbeitete und mir erzählte, was sie auf ihrem Heimweg von der Arbeit erlebt hatte.

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galt, falls es in offiziell geöffneten Supermärkten zu Gewalthandlungen kommen sollte. Sofort erschienen Graffiti auf den neuen blanken Sperrholzflächen. Für einen Passanten war es unmöglich zu unterscheiden, ob ein Supermarkt den Anblick umsichtiger Vorsichtsmaßnahmen oder den der hölzernen Narben einer Plünderung darbot. Die sonst durchsichtigen, nunmehr aber verkleideten Schaufenster erzeugten eine neue Mehrdeutigkeit in der Stadtlandschaft. Und sie verhalfen angrenzenden Ladeninhabern zu einem kollektiven Nutzen, da sie potenzielle Plünderer davon abhielten, an dieser Stelle Halt zu machen und die Möglichkeiten der Gegend auszuschöpfen. Lange verborgene, zugrunde liegende Ressourcen zur Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung traten zutage. Einige dieser Ressourcen bestanden in Vorkehrungen, die staatliche Regelungen und Versicherungen verlangten. Schutzmaßnahmen, die aus Gründen der allgemeinen Sicherheit eingeführt worden waren, frustrierten hoffnungsfrohe Anarchisten, die Obdachlosen Einkaufswagen abnahmen, sie anzündeten und auf Zapfsäulen zurollen ließen, aber vergeblich auf eine Explosion warteten. In reichen Wohngegenden in der Nähe von Einkaufsstraßen, in denen Brände gelegt und Geschäfte geplündert wurden, bewies eine Reihe von tiefverwurzelten konservativen Reflexen unerwarteten Wert. In den 1960er Jahren nutzten die Einwohner einer Gegend, die in den frühen 1920er Jahren die elitärste der Stadt gewesen war, ihre kollektive Macht, um einen spezifischen Flächennutzungsplan erstellen zu lassen. Dieser untersagte auf einer Strecke von fünf parallelen, viel befahrenen, kilometerlangen Durchgangsstraßen in westöstlicher Richtung, die ihr Viertel begrenzten und durchschnitten, jeglichen Einzelhandel. Ursprünglich aus einem klasseninternen Streit heraus entstanden – als ein Mittel, um eine verdichtete Wohn- und Geschäftsentwicklung des Viertels durch Kapitalisten zu verhindern, die in ihrer Klassenzugehörigkeit den führenden Einwohnern gleichkamen –, leitete diese spezielle Flächennutzung die von der Unterschicht vorangetriebene Anarchie stillschweigend und zumeist effektiv um die Elitegegend herum. Nachdem sie der zentralen Ressource beraubt waren, die der Anarchie am Donnerstag und Freitag Nahrung gegeben hatte – Einzelhandelsgeschäfte zum Ausplündern und Niederbrennen –, blieb jenen, die 89

auch in diese Gegend anarchische Verhältnisse tragen wollten, nichts anderes übrig, als aus fahrenden Autos auf Wohnhäuser zu schießen. Die Wohnungseigentümer wiederum sahen sich veranlasst, neue Formen der gegenseitigen Selbsthilfe zu ersinnen, nachdem sie vereinzelte Schüsse in ihrem Viertel gehört hatten und die Geschäfte in ihren örtlichen Einkaufsstraßen alle geschlossen hatten. Am Samstag pflegten Eltern nach einem T-Ballspiel (Baseball für Vier- bis Sechsjährige) am Spielfeldrand einen regen Tauschhandel mit überschüssigen Artikeln, etwa Gewehren aus abgeschlossenen Waffenschränken gegen Hähnchen aus Gefriertruhen. Als charakteristisches soziologisches Phänomen bestand die Anarchie nicht nur in der negativen Form von Angriffen auf Personen und Sachbeschädigungen, sondern auch in Ansätzen zur Lösung praktischer Probleme, die für die Beteiligten und für die Gegend ein absolutes Novum darstellten. Autofahrer ersannen neue Routen, um sich durch die Stadt zu bewegen. In diesem außergewöhnlichen historischen Moment war es nicht unüblich, Autos zu sehen, die auf Bürgersteigen fuhren, um die Menschenmassen auf der Fahrbahn zu umgehen. Ein weiteres Detail dieser surrealen Stadtlandschaft bildeten Plünderer, die mit Paletten voller Bier aus Supermärkten kamen, um es dosenweise an Schaulustige zu verkaufen, die sich das Ganze aus ihren Autos ansahen. Die Regeln des Marktes wurden ein paar Meter abseits der Orte wieder in Kraft gesetzt, an denen sie aufgehoben worden waren. Bier, das auf Großhandelsebene an »Mini-Märkte« geliefert worden war, um dort als Einzelartikel weiterverkauft zu werden, wurde von Plünderern wieder zu Großmengen zusammengeführt, um anschließend erneut getrennt und stückweise verkauft zu werden. Auf sachlich-nüchterne Weise bildete sich nur Momente nach der Plünderung wieder eine Form der Marktwirtschaft heraus, in der Käufer und Verkäufer die selbstverständliche Erwartung teilten, dass mit Geld gezahlt werden musste, um Waren zu transferieren, auch wenn es sich bei diesen Waren offensichtlich um Diebesgut handelte. Praktisch jeder verstand, dass die Plünderer sofort »besaßen«, was sie gestohlen hatten. Es gab keinen Krieg aller gegen alle, kein Überleben der am besten Angepassten, kein Chaos auf den Straßen, das jede Ordnung unmöglich gemacht hätte. Die Episode insgesamt war anarchisch, die Institution des Eigentumsrechts aber wurde im direkten Kontakt wieder in Kraft gesetzt, nachdem man ihr gerade in den unpersönlichen Weg90

nahmen, aus denen die meisten Plünderungen bestanden, hohngesprochen hatte. Obwohl sie das Klima auf den Straßen prägten, wurden die Bedeutungen der Interaktionen für die unmittelbar Beteiligten von den Bedeutungen überlagert, die sie für die so viel zahlreicheren Beobachter hatten. Spätestens am Freitag waren die ursprünglich negativen, aggressiven, wütenden Aspekte des Protestes, die den Beginn dieser Episode der Anarchie bestimmt hatten, von einem Großteil des anarchischen Terrains verschwunden, auf dem nunmehr eine karnevaleske Stimmung vorherrschte. Eine Reihe innovativer Reaktionen verdichtete die Dunstglocke der moralischen Bedeutungen. Eine Frau in den Dreißigern hastete einen überfüllten Gehweg entlang, mit ihren knapp 1,50 Metern niedergebeugt vom Gewicht eines prall gefüllten Plastiksacks, den sie mit einer Hand stabilisierte, während sie mit der anderen ihr kleines Kind festhielt. Direkt in ihrer Laufrichtung stand ein über 1,80 Meter großer Polizist. Was würde sie tun? Sie hastete an ihm vorbei und war sichtlich weniger darum besorgt, dass sie verhaftet werden könnte, als verärgert über sein Versäumnis, höflich zur Seite zu treten, weil ihm doch klar sein musste, dass er ihr im Weg stand. Ein anderer Plünderer trat mit einer großen, vollgefüllten Reisetasche aus einem Billigladen und versuchte gleich, sie zu versteigern. Dabei bestand er auf einem Gesamtpreis für seine Ausbeute und wehrte Versuche potenzieller Käufer ab, herauszufinden, was genau sich in der Tasche befand. Warum eine Versteigerung?, können wir uns fragen. Nicht jedem auf der Straße war gleich wohl bei dem Gedanken, ein Geschäft zu betreten, um es auszuplündern. Diejenigen, die kein Problem damit hatten, konnten nur eine begrenzte Menge herausschleppen. Ihre spezielle Herausforderung bestand nicht in der Polizei oder in moralischen Bedenken, sondern in den anderen Plünderern, die natürlich den Laden durchwühlen würden. Wenn sie darauf verzichteten, sorgfältig auszuwählen, was sie mitnahmen, und schnell verkauften, was sich auf einen Schlag zusammenraffen ließ, konnten die aktiven Plünderer anschließend zurückkehren, um sich an den Resten schadlos zu halten. Wer davor zurückschreckte, sich als Plünderer zu sehen, konnte, wenn auch in geringerem Maß, von den Plünderungen profitieren, indem er erbeutete Waren zu ermäßigtem Preis erwarb. 91

In solchen Szenen wurde deutlich, dass Anarchie nicht mit Chaos, Raserei, Irrationalität, Zerstörung oder irgendetwas Unheimlichem gleichzusetzen ist. Wie in den Künsten war die ökonomische Rationalität mit dem Surrealen vereinbar. Surrealistische Gemälde sind nicht abstrakt in dem, was sie ausdrücken; sie variieren die Grenzen und Raum-Zeit-Verhältnisse zwischen Dingen, die Dinge aber, mögen sie auch verfremdet sein, sind realistisch genug gehalten, um sie erkennen zu können. Surrealismus kann verwirrend, auch enervierend sein, zeichnet sich aber selten durch eine tragische Geisteshaltung aus. Eine gewisse Fröhlichkeit scheint dem Genre nicht fremd.23 Als die Episode der Anarchie ihre surreale Wendung nahm, blieben die Straßenszenen anarchisch in dem Sinne, dass die gewohnten, offiziell unterstützten Formen der Gesellschaftsordnung durch Abwesenheit glänzten. Das Ergebnis eines Kontrollverlusts von Ordnungskräften und Immobilienbesitzern war die Herausbildung einer Art naturwüchsigen Kontexts für Experimente mit neuen Formen, die sozialen Verhältnisse zu ordnen. In manchen dieser Experimente drückte sich eine abscheuliche Gesinnung aus, wie etwa in Vergewaltigungen, von denen mir einige altlinke Freunde erzählten, die in der Gegend von Venice/Santa Monica lebten. Bei anderen, die durch die Untersuchungen nach den Unruhen zutage traten, handelte es sich um Gewalttaten im Rahmen bestehender Streitigkeiten, die nichts mit Übergriffen der Polizei auf Afroamerikaner zu tun hatten.24 Bei einigen der Aktionen, die ich beobachten konnte, schien es sich um die Mobilisierung von Gangmitgliedern und anderen sogenannten Verbrechern für Banden zu handeln, die sich professionellem Diebstahl und fachgerechten Brandstiftungen widmen wollten. Obwohl sie in erster Linie aus Eigennutz erfolgten, hatten Brandstiftungen nach einer Plünderung auch eine altruistische Seite, insofern sie für andere an der Anar23

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Und das Genre spielte eine Rolle, oder, mit einer bekannten Formel gesprochen, das Medium war ein wichtiger Teil der Botschaft. Wer die Interaktionen in einer Anarchie in eine Kosten-Nutzen-Rechnung überführt, ist blind für die Phänomenologie der Situation und übersieht die spezifisch anarchischen Motivationen, zu denen auch der Zauber zählt, die Möglichkeiten eines historisch einmaligen Moments zu erkunden. Für Details zu den einzelnen Fällen siehe Fußnote 28. Vgl. auch Stathis Kalyvas, »The Ontology of ›Political Violence‹. Action and Identity in Civil Wars«, in: Perspectives on Politics 2003, H. 3, S. 475–494.

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chie Beteiligte de facto ein Geschenk darstellten. Indem sie die Polizei und die Feuerwehr von den Schauplätzen gewaltfreier Aktionen ablenkten, trugen die diebischen Brandstifter dazu bei, die Epiphanie der Unsichtbarkeit für die Amateurdiebe aufrechtzuerhalten. Einige der Weisen, wie Plünderer miteinander kooperierten, waren charmant, andere geradezu herzerfrischend. Eine Reihe von Aktionen in den dicht bevölkerten Straßen eines Viertels von Latino-Einwanderern stärkte das Motiv des Dagegenseins, das entscheidend dafür war, die Anarchie als eine Episode kollektiven Verhaltens fortzuführen, wenn auch nicht mit Aktionen gegen die Polizei oder andere Ethnien oder mit Angriffen auf eine andere soziale Klasse. In LatinoHollywood drückte sich das Motiv des Widerstands vor allem in der spielerischen Weise aus, in der der Surrealismus die selbstverständlichen Annahmen des alltäglichen sozialen Lebens infrage stellt. Eine Plünderung bringt ein surreales Moment ins Spiel, indem sie die Sozialpsychologie des Ladendiebstahls auf den Kopf stellt. Bei einem Ladendiebstahl geht es darum, etwas heimlich zu klauen. Der Ladendieb überwindet den Ladeninhaber auf doppelte Weise, weil er sich nicht nur mit seinen Gütern davonmacht, sondern im Unterschied zum Räuber auch noch ein Opfer bestiehlt, das davon im Moment des Geschehens gar nichts mitbekommt. Während für den Räuber nach dem Diebstahl die Flucht ansteht, kommt der erfolgreiche Ladendieb mit der Straftat davon, während er dabei ist, sie zu begehen. Der Smog der Anarchie nun krempelt die Erfahrung des Diebstahls grundsätzlich um: Eine Flucht ist nicht nötig, weder vor noch nach dem Diebstahl. Ohne Heimlichkeit und all das verstohlene, verstellte, strategische Handeln, das mit ihm verbunden ist, löst sich die ganze sozialpsychologische Düsternis eines gewaltfreien, nichtkonfrontativen Diebstahls in Luft auf. Um die empirische Realität einer Epiphanie der Unsichtbarkeit erfassen zu können, müssen wir noch einen Moment bei der phänomenologischen Sozialpsychologie von Diebstahl und Plünderung verweilen und Folgendes bedenken: Diebe wissen, dass sie von den Normen des Erlaubten abweichen, noch bevor sie stehlen, insofern sie Vorbereitungen treffen, etwa Einbruchswerkzeuge besorgen, Fluchtpläne ausarbeiten, ihre Kleidung zum Verstecken gestohlener Gegenstände herrichten und so weiter. Für einen Dieb hängt die Selbstkategorisierung als deviante Person nicht von dem Moment ab, in dem er seine Hände an 93

das Eigentum eines anderen legt oder eine gesetzliche Schwelle überschreitet; zur Selbstetikettierung als abweichend kommt es, bevor Eigentum entwendet wird. Man weiss, dass man ein Dieb ist, selbst wenn man etwa durch die unerwartete Anwesenheit eines Wachmanns von seinem Vorhaben abgehalten wird. Beim Plündern hingegen verpufft die Aura der Abweichung oft in den vorbereitenden Phasen. Am Donnerstag und Freitag brauchte es in Koreatown und Hollywood weder Gewalt noch Tücke, um das Eigentum eines anderen an sich zu nehmen. Zu stehlen erforderte lediglich ein gemeinsames Handeln einer Masse von Fremden, die auf gleiche Weise vorgingen. Somit warf die Erfahrung des Stehlens – und alle Plünderer wussten, dass sie anderen ihr Eigentum wegnahmen, ohne es zu bezahlen – nicht mehr den Schatten des abweichenden Verhaltens. Statt sich selbst als Außenseiter zu verstehen, die sich gegen die Kräfte der Gesellschaftsordnung stellen, hingen Plünderer von der sozialen Ordnung ab, die sie selbst untereinander aushandelten. Diese war nicht immer mühelos zu organisieren; in manchen Szenen schlugen Plünderer aufeinander ein, um einen schmalen Eingang zu passieren, und einige von ihnen richteten Schusswaffen auf andere, um ihnen das zu rauben, was sie an sich genommen hatten. Zumindest in den Szenen aber, die ein Außenseiter gefahrlos beobachten konnte, als sich die Anarchie von South Central nordwärts ausbreitete, bildeten sich Formen der sozialen Ordnung heraus, die ein Novum in dieser Episode der Anarchie waren. So vertraut diese Formen den Anwohnern sein mochten, noch nie hatten sie dazu gedient, eine Welle von Plünderungen in die Länge zu ziehen. Im Kaufhaus Sears in Hollywood, einen Block westlich der Western Avenue am Santa Monica Boulevard, schöpfte man in einem Geist, der auf charmante, persönliche, ethnisch inspirierte Weise mit den Möglichkeiten einer Neuschaffung der Gesellschaftsordnung spielte, aus Verwandtschaftsbeziehungen und kulturellen Traditionen von Einwanderern. Während die Kontrollmächte in den Hintergrund rückten – die wenigen Polizisten, die es hier gab, waren den Anwohnern auf der Straße zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen; die Abteilungsleiter und sonstigen Angestellten waren nicht zur Arbeit erschienen und hatten die Gewerbeimmobilien sich selbst überlassen –, trug ein karnevalesker Geist die Epiphanie der Unsichtbarkeit. Die schiere Fröhlichkeit des Moments enthielt die beruhigende Bot94

schaft, dass niemand das, was sich hier abspielte, ernsthaft als bösartig einstufen würde. Draußen vor dem Kaufhaus wurden eilig neue Bedeutungen ausgehandelt. Eine Frau mittleren Alters versuchte, ihren Begleiter zu überreden. Sie wollte hineingehen, während er sich auf einen moralisierenden Standpunkt stellte und die Plünderer als schändlich verurteilte. »Solo para ver« (Ich will nur gucken), bat sie ihn eindringlich. Nachdem die beiden im Kaufhaus waren und sie begann, sich Dinge zu nehmen, gingen ihre Verhandlungen weiter: »Un recuerdo, nada más« (Nur ein Souvenir, nicht mehr). Während dieses Geschehen seinen Lauf nahm, war jede Orientierung an dem, was mit Rodney King und der Prügeltruppe von der Polizei geschehen war, ja jede Form aufrührerischer Wut durch einen anderen Geist ersetzt worden. Im Erdgeschoss des zweistöckigen Kaufhauses konnten Plünderer, die lange genug von ihrem fieberhaften Tun absahen, um die Szene auf sich wirken zu lassen, einen Mann mit abgewetztem mexikanischem Cowboyhut betrachten, der lässig eine breite Treppe herunterkam und »Ranchero«Lieder sang, zu denen er sich auf einer Gitarre begleitete, deren Preisschild im Rhythmus seiner Akkorde baumelte. Das Ende

Episoden der Anarchie sind begrifflich bisher noch nicht angemessen gefasst worden. Verschiedene Disziplinen haben das Phänomen unter sich aufgeteilt und damit einen fragmentierten, willkürlich verkürzten Wissenskorpus geschaffen. Die Historiker konzentrieren sich üblicherweise darauf, die Vorgeschichte zu dokumentieren, die zu einem Ausbruch von Anarchie führt. Sie studieren Verlagerungen im Machtgefüge des politischen Regimes einer Region oder eines Staates, Veränderungen in den Spannungen zwischen ethnisch, sozial oder geografisch definierten Bevölkerungsgruppen und die Widersprüche oder die Desorientiertheit der Polizei- und Militärverwaltungen, die mit der Friedenssicherung betraut sind. Quantitative Soziologen untersuchen vor allem die Besonderheiten des Kontextes, wenn sie verschiedene Fälle systematisch miteinander vergleichen, während qualitative Soziologen, die in der am kollektiven Verhalten interessierten Tradition des symbolischen Interaktionismus arbeiten, ihr Augenmerk auf die Interaktionsprozesse richteten, die die Verhaltensweisen des Protestes, der Plünderungen oder der Gewalt ausgelöst haben. Die Nachwirkun95

gen einer Anarchie nehmen vor allem die Spezialisten für rassisch oder ethnisch definierte Bevölkerungsgruppen unter die Lupe. Nahezu alle aber vernachlässigen den Prozess, durch den Episoden der Anarchie enden, obwohl das letzte Stadium eines Phänomens für sein kausales Verständnis ebenso wertvoll sein kann wie Befunde über seinen Beginn. Der vorliegende Aufsatz riskiert, mit dieser Verzerrung fortzufahren, wenn er bei der Untersuchung der Rodney-King-Unruhen die Antizipationen und Erinnerungen an dieses Ereignis ausspart. Im Mittelpunkt stand hier, die Bedeutung einer Erfahrung der Unsichtbarkeit in den »heißen« Phasen der Episode aufzuzeigen. Es dürfte lehrreich sein, wenn künftige Arbeiten sich der Frage widmen, welche sozialen Prozesse in dem Jahr vor dem Ausbruch diesem die Bühne bereiteten, sodass nach der Urteilsverkündung in Simi Valley Individuen »in Massen« – in der doppelten Bedeutung des Ausdrucks – vernünftigerweise davon ausgehen konnten, dass ihre unverhohlene Beteiligung an Brandstiftungen, Plünderungen und offenen Angriffen auf andere Menschen für die Strafverfolgungsbehörden effektiv unsichtbar sein würde. Auch wäre es ergiebig, sich mit dem Aspekt zu beschäftigen, dass im Vergleich zu den Nachwirkungen anderer Episoden rassischer und ethnischer anarchischer Konflikte nach der Rodney-King-Episode relativ wenige Abhilfemaßnahmen getroffen wurden. Diesmal erlosch die Glut sehr schnell. Um der Begrenztheit der vorliegenden Analyse wenigstens zum Teil entgegenzuwirken, möchte ich abschließend einige wenige sozialpsychologische Anmerkungen zur Auflösung dieser Epiphanie der Unsichtbarkeit machen. Verschiedene neue Umstände brachten die Beteiligten zu der Erkenntnis, dass sie den Schutz ihres massenhaften Zusammenwirkens verloren. – Als die ursprünglichen Ziele leergeräumt, ausgebrannt oder anderweitig abhandengekommen waren, stand der Treibstoff für die Fortsetzung der Anarchie nicht mehr unmittelbar zur Verfügung. – Da sie sich entweder immer weiter ausbreiten mussten oder in sich zusammenfallen würden, drangen die kollektiven Plünderungen und Brandstiftungen, die das Lebensblut des Monstrums bildeten, in soziale Geografien vor, deren Einwohnerstruktur keine Mitwirkenden hergab. – Gruppen von Anwohnern der anvisierten Gegenden entwickelten spontan Widerstandsstrategien, wie zum Beispiel die, Ereignisse 96



so zu dokumentieren, dass die Beteiligten es sehen konnten. Die unausgesprochene Botschaft lautete, dass die Aggressoren im Augenblick so unsichtbar sein konnten, wie sie wollten, dass sie aber für die Strafvollzugsbehörden langfristig identifizierbar waren. Es kam zu einem massiven Einsatz der Nationalgarde, die die betroffenen Bereiche mit einer überwältigenden Demonstration der Macht effektiv unter Kontrolle brachte. Damit war der beiläufig an den Ausschreitungen Beteiligte als Hauptprotagonist verdrängt.

Der Charakter und die Eventualitäten der persönlichen Unsichtbarkeit bei Gruppenaktionen Die Perspektive des vorliegenden Essays ist interaktionistisch, aber auch phänomenologisch in ihrer Annahme, dass die Erklärung einer kurzlebigen Verhaltensweise, die sich trotz gleichbleibender Hintergrundbedingungen herausbildet und wieder verschwindet, in einer besonderen Form von Erfahrung zu suchen ist. Die Konzeptualisierung einer Epiphanie der Unsichtbarkeit weicht von früheren Herangehensweisen in verschiedenen Hinsichten ab. Sie vermeidet den Mangel an Bestimmtheit, der damit verbunden ist, noch die Phasen oder Wellen einer anarchischen Episode mit dem Verweis auf emergente Normen zu erklären. Normen aber sind immer emergent in dem Sinne, dass sie in einer situativ kontingenten Weise als relevant und angemessen verstanden werden.25 Den mehr oder weniger plötzlichen Um25

Vielleicht sind emergente Normen nützlicher, um die nichtanarchischen Aspekte kollektiver Verhaltensweisen zu verstehen. Das Explanandum hier ist aber Anarchie, nicht Protest oder Krawall, das heißt, der Fokus liegt auf den nichtinstitutionalisierten, normativ unspezifischen Verhaltensweisen. Normen spielten in der Phase der Anarchie eine Rolle, die noch Bezug zu Rodney King hatte; Ursachen anarchischen Verhaltens waren sie aber nur auf eine sich selbst erzeugende Weise, als antizipierte Verhaltensstandards, die effektiv dazu dienten, Handlungssequenzen zwischen Akteuren zu koordinieren. So wurde beispielsweise durch den Angriff auf Reginald Denny ein leicht verständliches Drama inszeniert, das, während es sich entspann, von verschiedenen Angreifern erfasst, verstanden und dazu genutzt wurde, genau diesen Angriff zu organisieren. Es gibt jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, dass die entscheidenden Verhaltensweisen aus Normen hervorgingen, die den Handlungssituationen vorausgelegen hätten, oder dafür, dass die emergenten Motive auf dem Vorbild früherer Ausschreitungen beruhten. Tatsächlich be-

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schlag von Verhaltensweisen erklären sie nicht. Der Begriff der Epiphanie mag weiterhin an den der Efferveszenz erinnern. Dieser hat sich allerdings als zu »mystisch« erwiesen, als zu abgehoben vom Material der sozialen Interaktion. Efferveszenz und ähnliche Begriffe gehen an der eigentlichen Frage vorbei, wie ein Individuum, das von dem Gefühl beflügelt ist, Teil eines mächtigen Ganzen zu sein, sein Verhalten auf dieses Ganze einstellt, und das schließt ein, zu beurteilen, wie andere es wahrscheinlich wahrnehmen und darauf reagieren werden. Die Begriffe der Ansteckung, Imitation oder der Raserei, in der sich eine kollektiv geteilte, historisch aufgebaute Spannung entlädt, unterschätzen das selbstregulierende, selbstdefinierende Projekt auf individueller Ebene, das eine Konstante im sozialen Leben bildet. Die persönliche Unsichtbarkeit durch das Aufgehen in der Gruppe ist nicht unbedingt ein exotisches, seltenes oder mysteriöses Phänomen. Es ereignet sich regelmäßig in den banalen Details des alltäglichen Lebens, etwa wenn man in ein Gelächter einstimmt, um auf eine Provokation zu reagieren, die man als solche erkennt, aber nicht versteht. Noch deutlicher zeigt sich, wie man darauf hinarbeitet, unsichtbar zu werden, wenn man gleich wieder innehält, um nicht der Letzte zu sein, den man lachen hört. Ein jeder ist hochgradig feinfühlig und geübt in den Techniken, die dazu dienen, seine persönliche Sichtbarkeit in den kollektiven Ereignissen des sozialen Lebens zu verschleiern. Unsere Analyse wird dann am fruchtbarsten sein, wenn wir verstehen, dass es eine universelle Erfahrung ist, als Teil einer Gruppe unsichtbar zu werden, aber keine, die sich automatisch einstellt. Sie ist Teil unserer alltäglichen Arbeit. So können wir ein großes Spektrum von Befunden sammeln und mit einer Untersuchung der situationsbezogenen Eventualitäten des Auftretens eines bestimmten Phänomens (wie einer Episode der Anarchie), seiner Phasenwechsel und Variationen beginnen. Eine Sozialforschung, die ein Verhalten erklären will, das spezifisch für die Erfahrung ist, sich in einer Gruppe zu befinden, erfordert eine Begriffsbildung, die die Dialektik des Phänomens erfasst. Auf der einen Seite erwartet jedes Individuum, dass andere es durch die Brille der mühten sich die Anstifter gezielt darum, dass sich diese Episode von dem Aufruhr in Watts unterschied. Ebenso wenig gibt es irgendein Anzeichen dafür, dass bestimmte dramatische Szenen zu Modellen wurden, die der Organisation späterer kollektiver Akte der Aggression als Vorbild gedient hätten.

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Gruppenwahrnehmung in standardisierter Weise wahrnehmen werden. Auf der anderen Seite verlangt die Anpassung der eigenen Identität an die Gruppe von dem Individuum, dass es sein eigenes Verhalten genau im Blick behält, um es mit dem Handeln der anderen zu koordinieren. Geschieht dies ohne die Anleitung durch einen Dirigenten, muss jeder Beteiligte die Koordination selbst bewerkstelligen. Die Besonderheiten eines solchen Prozesses sind für die Forscherin schwieriger zu erfassen. Das Phänomen ist eine Improvisation auf der individuellen Ebene und bringt gleichzeitig ein Motiv hervor, das als kollektiv zu identifizieren ist, eine Art Jazz in der sozialen Interaktion.26 In der Geschichte der US-amerikanischen Erforschung kollektiven Verhaltens hat sich der analytische Fokus zunehmend auf die Notwendigkeit gerichtet, die Interaktion des Individuums mit einer Menschenmenge zu untersuchen. Park spielte Le Bons Rede von unbewussten Emotion herunter, die sich in Menschenmengen Bahn brächen. Blumer ging über Park hinaus, indem er der Analyse der Interaktionen im Massenkontext mit seinem Begriff der zirkulären Interaktion zu größerer Genauigkeit verhalf. Und noch später gelang Turner, McPhail und Snow ein Fortschritt gegenüber Blumer, indem sie die netzwerkartigen Beziehungen kleiner Personenkreise dokumentierten, die einer Menschenansammlung vorausgehen und noch das Verhalten der Beteiligten an Ausschreitungen prägen. Sie wiesen nach, dass die Beteiligten zumeist nicht als isolierte Individuen präsent sind, sondern dass ihr Eintreffen vor Ort und ihre wechselseitige Interaktion auf bereits bestehenden Beziehungen in kleinen Personenkreisen basieren. Es gibt jedoch noch einen anderen, nach wie vor vernachlässigten Grund, warum wir weitere Fortschritte in der Erforschung kollektiven Verhaltens erzielen müssen. Die Untersuchung von kollektivem Ver26

Vgl. Jack Katz, »Jazz in Social Interaction. Personal Creativity, Collective Constraint, and Motivational Explanation in the Social Thought of Howard S. Becker«, in: Symbolic Interaction 1994, H. 3, S. 253–279. In seiner Gemeinschaftsarbeit mit Faulkner über die Frage, wie Musiker ohne einen Dirigenten zusammenspielen, betont Becker den Einsatz von »Konventionen«. In einer Art Unterhandlung schlägt ein Musiker ein Thema vor, das dann von einem anderen ignoriert oder aufgenommen und bearbeitet wird. Seine Formulierung ist ein Versuch, die deterministischen Annahmen und Zirkelschlüsse normativistischer Argumentationen zu vermeiden; siehe Robert R. Faulkner/Howard S. Becker, Do You Know …? The Jazz Repertoire in Action, Chicago 2009.

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halten im Allgemeinen und von Ausschreitungen und Rebellionen im Besonderen erfordert es, dass die Forscherin die laiensoziologische Basis des Phänomens erfasst. Ob sie der neuesten Mode folgen oder sich an einer anarchischen Aggression beteiligen wollen, die Individuen zehren von ihren Theorien des sozialen Lebens, um herauszufinden, was die anderen wohl als Nächstes tun dürften. Wenn »jeder es tut«, kann der Einzelne vernünftigerweise zu dem Schluss kommen: »Dann werde ich nicht auffallen, wenn ich es auch tue.« Moralische Neutralisierungen folgen mühelos. Wie aber baut man eine formale Soziologie auf einer solchen Laiensoziologie auf ? Die angemessene theoretische Perspektive könnte womöglich die spieltheoretische sein, wenn diese Tradition nur nicht dadurch so entstellt worden wäre, dass sie das unnötige Bild eines rationalen Akteurs übernahm, der Kosten und Nutzen gegeneinander abwägt.27 Für die Beteiligten und somit für die Sozialtheorie ist der entscheidende Punkt ein spezifisches Dilemma des kollektiven Handelns: Wenn alle beispielsweise während einer anarchischen Episode zum Angriff schreiten, wird jeder Einzelne vor Sanktionen geschützt sein. Nur die Letzten, die sich einer Rückkehr zur Konformität widersetzen, riskieren es, verhaftet zu werden. Was sich in den RodneyKing-Ausschreitungen abspielte, war eine böse Reise nach Jerusalem: Am Ende gab es mehr Festnahmen von Latino-Einwanderern wegen Diebstahlsverdachts als von Afroamerikanern, die die Episode angestoßen hatten, und zahlreiche Morde wurden nicht aufgeklärt.28 27 28

Vgl. Richard A. Berk, »A Gaming Approach to Crowd Behavior«, in: American Sociological Review 1974, H. 3, S. 355–373. Zu den Verhaftungsstatistiken vgl. Peter A. Morrison/Ira S. Lowry, »A Riot of Color. The Demographic Setting«, in: Mark Baldassare (Hg.), The Los Angeles Riots. Lessons for the Urban Future, Boulder/Oxford 1994, S. 34–36. Während die Nachrichtenmedien von über 50 Totschlägen während der Ausschreitungen berichteten, befanden sich unter den Todesursachen Autounfälle, etwa zehn Erschießungen durch die Polizei, einige Herzinfarkte (weil die Krankenwagen nicht zu den Sterbenden durchkamen) sowie Fehlschüsse von Leuten, die ihr Eigentum verteidigen wollten und versehentlich Gleichgesinnte töteten; hinzu kamen Racheaktionen aufgrund von Konflikten, die bereits vor den Ausschreitungen bestanden. Die dürftige Beweislage (normalerweise klärt die Polizei in Los Angeles County rund 50 Prozent aller Totschlagsfälle auf; die Aufklärungsrate im Zusammenhang mit den Rodney-King-Ausschreitungen lag bei 40 Prozent) deutet darauf hin, dass rund 15 Tötungen mit dem Ziel erfolgten, die Anarchie zu vertiefen: um Menschen zu

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Zusammengefasst erfordert die Erforschung anarchischer Episoden drei Herangehensweisen. Die erste besteht in der Würdigung der dialektischen Natur der Beteiligung respektive der existentiell einzigartigen Bemühung des Individuums, in etwas einzugehen, was als Gruppenaktion wahrgenommen wird. Eine zweite, damit eng verbundene Untersuchung muss der soziologischen Selbstdeutung der Akteure gelten, die dazu herangezogen wird, das Dilemma der Organisation kollektiven Handelns zu lösen, das andernfalls eine Beteiligung verhindern würde: Wie werden und bleiben Individuen zuversichtlich, dass andere bereits und beharrlich zuversichtlich sind, dass »alle« »es« tun? Für eine adäquate Erklärung ist noch eine dritte Analyseebene erforderlich. Wie Langzeitbeobachter von Rassenunruhen erkannt haben, hat sich die Reaktion der Polizei auf Ausschreitungen im Lauf der Zeit verändert. Bei den städtischen Rassenunruhen im frühen 20. Jahrhundert schloss sich die Polizei den weißen Aufrührern an und half diesen dabei, Schwarze zu attackieren. Der Beitrag der Polizei war von unermesslichem Wert, um die Epiphanie der Unsichtbarkeit für die Aggressoren aufrechtzuerhalten. In den sogenannten Polizeiausschreitungen der 1960er und 1970er Jahre, als die Unruhen in den Städten durch Festnahmen der Polizei ausgelöst wurden und sich gegen »die Bullenschweine« richteten, versuchten die Ordnungskräfte, vermeintlich illegalem Verhalten durch Massenverhaftungen entgegenzuwirken, die sie um jeden Preis durchzogen. Seit den 1990er Jahren haben die Polizei und die politischen Kräfte, die mit ihr zusammenarbeiten, auf eine Politik der »vereinbarten Kontrolle« (negotiated management) umgestellt. Die Polizei hat Strategien entwickelt (Tränen-

beseitigen, die Plünderungen verhinderten; um Menschen aufgrund ihrer Rasse, Klasse oder Ethnie dem Tod zu weihen; sowie infolge von Schüssen, die ohne jede gegenwärtige oder vergangene Interaktion zwischen Mörder und Opfer abgefeuert wurden (beispielsweise ein Autofahrer, der durch einen Schuss aus einem vorbeifahrenden Wagen getötet wurde). Vgl. Mark Lacey/Paul Feldman, »Delays, Chaos Add to Woes in Solving Riot Homicides«, Los Angeles Times, 21. 6. 1992. 20 Jahre später blieben 22 der 53 von der Polizei mit den Ausschreitungen in Zusammenhang gebrachten Tötungsdelikte ungeklärt: Jim Crogan, »For 22 Murder Victims, LA Riots Leave Legacy of Justice Eluded«, FoxNews.com, 29. 4. 2012, vgl. http://www.foxnews.com/us/2012/04/29/for-22-murder-victims-la-riots-leavelegacy-justice-eluded/ [14. 4. 2015].

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gas, Gummigeschosse, Barrikaden, Wasserwerfer), um von Ausschreitungen abzuhalten, und dafür die Gelegenheit zu Verhaftungen geopfert.29 Faktisch haben die Ordnungskräfte akzeptiert, dass in einer Episode der Anarchie Massen von Teilnehmern unsichtbar bleiben werden. Die Polizei baut ihre Strategien zur Beendigung einer anarchischen Situation auf der Großzügigkeit ihres Entgegenkommens auf. Sie verfolgt nur einige wenige, statt dass sie versucht, alle einzusperren, und bemüht sich darum, Machtdemonstrationen gegenüber den vielen zu vermeiden, die die Anarchie weiter aufrechterhalten oder sogar anstacheln könnten. Im Lichte dieser Geschichte werden Protestler, wenn sie eine Epiphanie der Unsichtbarkeit erleben, nicht von einer Welle von »Massengefühlen« getragen und unterliegen auch keiner Selbsttäuschung; sie stellen vielmehr eine vernünftige Vermutung an: Wenn das kollektive Verhalten auf ein Niveau gebracht werden kann, das die Polizei an der Rechtsdurchsetzung hindert, dann werden sonst strafbewehrte Verhaltensweisen – wie unerlaubtes Betreten, Verkehrsblockaden, Steinwürfe auf die Polizei, das Umstürzen von Polizeifahrzeugen, Brandstiftungen, das Werfen von Molotowcocktails, der Einbruch in Läden, die physische Überwindung von Händlern, die Widerstand leisten, der Versuch, die Reihen der Polizei zu durchbrechen oder niederzurennen, sogar die Ermordung vermeintlicher Unterdrücker oder Störer beim Plündern –, selbst wenn sie ohne die geringste Bemühung zur Verschleierung der eigenen Identität und auf eine Weise ausgeübt werden, die für alle im unmittelbaren Kontext sichtbar ist, effektiv nicht als Verbrechen geahndet. Die Epiphanie der Unsichtbarkeit ist die sozialpsychologische Mikroseite der Makrorealität der Anarchie: die spezifische Perspektive, die es dem Individuum erlaubt, sich an der Anarchie zu beteiligen, wenn es erkennt, dass die scheinbar unbewegliche hierarchische Ordnung, die vor einem Moment noch herrschte, nicht mehr besteht – bald aber mit unwiderstehlicher Kraft zurückkehren dürfte. Aus dem Englischen von Michael Adrian 29

Clark McPhail/David Schweingruber/John McCarthy, »Policing Protest in the United States: 1960–1995«, in: Donatella della Porta/Herbert Reiter (Hg.), Policing Protest. The Control of Mass Demonstrations in Western Democracies, Minneapolis 1998, S. 49–69.

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Paul Dumouchel

Massengewalt und konstitutive Gewalt Frühmoderne Studien über Massen und Massengewalt, etwa jene von Gabriel Tarde oder Gustave Le Bon, in denen die Gewalt der Massen ausschließlich als kriminell, nicht als politisch betrachtet wird, konzentrieren sich hauptsächlich auf die psychologischen Veränderungen, die stattfinden, wenn eigenständige Akteure Teil einer Masse werden.1 Le Bon zufolge bringt die Ansammlung von Individuen zu einer Masse – und wie auch für Tarde gibt es für ihn viele verschiedene Arten von Massen, von parlamentarischen Versammlungen bis zu randalierenden Horden – typische psychologische Eigenschaften und Verhaltensweisen hervor, die er als »Massenpsychologie« zusammenfasst. Diese psychologischen Eigenschaften sind nach Ansicht beider Autoren eher den Massen selbst zuzuschreiben als den Individuen, aus denen sich die Massen zusammensetzen. Damit ist erstens gemeint, dass die Akteure Eigenarten entwickeln, die sich von ihren Eigenarten als alleinstehenden Individuen unterscheiden. Zweitens ist damit gemeint, dass diese Merkmale, insoweit sie nicht dauerhaft sind, sondern nur so lange Bestand haben, wie es die Masse gibt, sich nicht als Eigenschaften der Individuen selbst begreifen lassen. Außerdem weisen alle Massen (zumindest tendenziell) diese Eigenschaften auf.2 Sowohl Tarde als auch Le Bon gehen davon aus, dass Massen ihrem Wesen

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Gabriel Tarde, L’Opinion et la foule, Paris 1989, S. 139–184; Gustave Le Bon, Psychologie der Massen (1895) Stuttgart 1982. Und doch sei die Beschaffenheit der Psychologie und des Verhaltens von Massen interessanterweise von der ethnischen Zusammensetzung der Masse abhängig. Le Bon legt auf diesen Umstand besonderen Wert. »Lateinische« Massen unterscheiden sich ihm zufolge also von britischen oder germanischen Massen. Doch dieser ethnische Einfluss verändert die psychologischen Eigenarten einer Masse nicht grundsätzlich, der ethnische Ursprung der Mitglieder diverser Massen verstärkt oder vermindert eher die typischen Transformationen der Massenpsychologie. So seien »südländische« Massen tendenziell irrationaler und leidenschaftlicher als die Massen des Nordens. Die Möglichkeit multiethnischer oder multikultureller Massen scheint Le Bon nicht in Betracht zu ziehen.

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nach irrationaler und leidenschaftlicher sind als alleinstehende Individuen.3 Massen sind für vernünftige Argumente unempfänglich, und moralisch gesehen können sie gleichermaßen das abscheulichste oder das großzügigste und uneigennützigste Verhalten an den Tag legen. Doch auch wenn Massen manchmal in Form spontaner Versammlungen auftreten, können sie, ganz egal wie chaotisch sie vielleicht erscheinen, nie vollkommen ungeordnet sein. Massen, so behaupten Tarde wie auch Le Bon, brauchen Führer oder Anführer, Aufwiegler, die ihnen sagen, wie sie handeln und welche Ziele sie verfolgen sollen, weil sie nach Ansicht dieser Autoren unfähig sind, selbst zu denken oder zu urteilen. Das Verhältnis der Masse zu ihrem Führer nimmt in diesen frühen Studien einen breiten Raum ein. Auch Freud wird diesem Verhältnis kurze Zeit später in seiner berühmten Schrift »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921) eine prominente Stellung einräumen.4 »Welche besonderen Eigenschaften müssen Führer besitzen?«, fragt Freud sinngemäß und: »Warum lassen sich Massen so leicht von ihnen beeinflussen?« Viele weitere Untersuchungen über Massenverhalten und insbesondere über Massengewalt, die zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen, etwa die Arbeiten von Historikern wie Eric Hobsbawm oder George Rudé, kann man als Versuche einer Widerlegung jenes frühen Begriffs der Masse verstehen.5 Für diese Autoren sind Massen weder vollkommen irrational, noch benötigen sie (selbst-)ernannte Führer, um handlungsfähig zu sein. Außerdem sollte die »Massengewalt«, so legen es diese Untersuchungen nahe, nicht nur als kriminell wahrgenommen werden, sondern vor allem als eine

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Als typische Vertreter der Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts kommen beide zu dem Schluss, dass Massen angesichts ihrer Irrationalität und Leidenschaftlichkeit Frauen sind! Gott sei Dank, so fügt Tarde hinzu, leben Frauen den größten Teil ihres Lebens abgeschieden in einem Haushalt und sammeln sich nur ausnahmsweise einmal in einer Masse, denn die Massen aus Frauen wären, so fürchtet er, viel schrecklicher und irrationaler als die typischen Massen, die ja im Wesentlichen aus Männern bestehen. Vgl. Tarde, L’Opinion et la foule, S. 165. Sigmund Freud, »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 13, Frankfurt am Main 1999, S. 71–161. Eric John Hobsbawm, Sozialrebellen. Archaische Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert, Neuwied am Rhein/Berlin 1962; George Rudé, Ideology and Popular Protest, New York 1980.

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Form politischen Handelns. Diese Arbeiten zeigen, dass Massen etwa im Verlauf von Hungerrevolten oder politischen Demonstrationen weder unbedacht noch irrational vorgehen. Sie verfallen nicht in blindwütige Gewalt, sondern verfolgen wohldefinierte Ziele, die sich angesichts der Interessen der Menschen »in der Masse« gut nachvollziehen lassen. Tatsächlich haben solche Massen normalerweise Führer, und oft reagieren sie auf die Aufforderungen von Aufwieglern, doch diese Anstifter oder Hauptakteure stehen nicht etwa, wie es Tarde und besonders Le Bon behaupteten, zu einem blindwütigen Pöbel, den sie angeblich manipulieren, in einem Verhältnis grundsätzlicher Andersartigkeit oder Überlegenheit. Massen und ihre Führer stammen aus einem ähnlichen sozialen Milieu. Sie haben ähnliche Interessen, die eben im Handeln der Massen zum Ausdruck kommen, wohingegen Le Bon der Auffassung war, dass Massen nur in Ausnahmefällen kalkuliert agieren.6 Die genannten Historiker konzentrieren sich meist auf die soziale Zusammensetzung gewalttätiger Massen, die in aller Regel aus einfachen Handwerkern, relativ wohlhabenden Bauern, aus Anwälten und Angehörigen der Mittelklasse, eher aber nicht aus armen Obdachlosen und den Habenichtsen der Gesellschaft bestehen. Massengewalt sollte ihres Erachtens deshalb nicht als sinnlose Ausbrüche von gesellschaftlich und intellektuell mittellosen Teilen des Lumpenproletariats angesehen werden, sondern als gesellschaftlich vernünftiges, politisch motiviertes Handeln, das sich auf anhaltende soziale Konflikte zurückführen lässt.7 Einige Jahre später stellen andere Historiker, wie zum Beispiel Natalie Zemon Davis oder Emmanuel Le Roy, die ausschließlich sozialen und ökonomischen Erklärungen von Massengewalt infrage und heben demgegenüber die rituelle Dimension kollektiver Gewalt hervor.8 Sie plädieren dafür, die Massengewalt in einen rituellen Kontext zu stellen, damit nicht nur die Ziele einer solchen Gewalt, sondern auch ihre oftmals speziellen Formen verständlich werden: Folter, Verstümme-

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Le Bon, Psychologie der Massen, S. 3. Brian Manning, The English People and the English Revolution, Harmondsworth 1978. Natalie Zemon Davis, »The Rites of Violence: Religious Riot in Sixteenth-Century France«, in: Past and Present 59, 1973, S. 51–91; Emmanuel Le Roy Ladurie, Karneval in Romans. Von Lichtmeß bis Aschermittwoch 1579–1580, Stuttgart 1982.

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lungen, Schändung toter Körper, Zerstörung von Kirchen oder Grabsteinen. Diesen überraschenden und exzessiven Formen der Gewalt, die für uns einen der wesentlichen Gründe für die Annahme bilden, kollektive Gewalt sei vollkommen sinnlos und irrational, schreiben sie eine grundsätzliche Bedeutung zu. Nach Ansicht dieser Historiker werden derartige Formen exzessiver Gewalt verständlich, sobald man sie zu dem rituellen Kontext, in dem sie sich abspielen, in Beziehung setzt. Gleichwohl bleibt das Ziel dieser Historiker, die sich Ritualen gegenüber aufgeschlossen zeigen, eng mit dem Ziel der Sozialhistoriker verbunden. Beide Gruppen versuchen, die Gewalt, die von den frühen Sozialpsychologen der Masse als vollkommen sinnlos und im Kern pathologisch und kriminell abqualifiziert wurde, als sozial sinnvolles Handeln zu deuten. Die – wenn man so will – »ritualistische Schule« hält außerdem an der Vorstellung fest, dass die soziale Zusammensetzung von Massen ein wesentliches Element für das Verständnis ihres Verhaltens darstellt. Für sie bildet allerdings nicht die gesellschaftliche Klasse selbst, sondern die – möglicherweise eng mit der gesellschaftlichen Klasse oder mit besonderen Berufsgruppen zusammenhängende – religiöse Identität die grundlegende Kategorie. Alle diese Untersuchungen zu kollektiver Gewalt und Massenverhalten beruhen auf einer in aller Regel unausgesprochenen Hypothese: dass kollektive Gewalt sich durch Ideen erklären lässt. Gewisse Ideen, sei es in Gestalt sozialer Interessen oder religiöser Überzeugungen, erklären angeblich die besondere Form, die Gewalt annimmt, und die Ziele, die sie wählt. Ungeachtet des gegenteiligen Eindrucks gilt dies auch für die frühen Arbeiten von Tarde und Le Bon. Massen mögen irrational und wankelmütig sein, unfähig zu vernünftigem oder kritischem Denken; und doch sehen beide Autoren sie als von den Ideen gelenkt, die sie von ihren Führern eingeflüstert bekommen. Da ihnen die Massen als formbar und beeinflussbar gelten, führen Tarde und Le Bon die jeweiligen besonderen Spielarten ihres kriminellen Verhaltens auf die Beeinflussung durch ihre Führer oder Aufwiegler zurück. Und auch Sozialhistoriker und Historiker, denen die Bedeutung von Ritualen geläufig ist, räumen Ideen einen zentralen Stellenwert für die Erklärung des Massenverhaltens ein. Die von den Gliedern einer Masse geteilten Ideen, sei es in Gestalt geteilter Interessen oder religiöser Überzeugungen, prägten bewusst oder unbewusst das Verhalten der Masse und bedingten ihre Form von Gewalt. Schließlich weisen auch 106

jüngere Untersuchungen, wie die von Stanley J. Tambiah über ethnonationalistische Konflikte und kollektive Gewalt, die von Jacques Sémelin über Massaker und Genozide oder die von David Livingstone Smith über extreme Formen der Gewalt, Ideen einen herausragenden Wert für die Erklärung kollektiver Gewalt zu.9 Ihnen zufolge spielen Ideologien, falsche Überzeugungen im Hinblick auf andere, regelmäßige Propaganda, die Angehörige anderer sozialer, ethnischer oder religiöser Gruppen mit ekelerregenden Tieren (wie zum Beispiel Kakerlaken) vergleicht und sie als »keine vollwertigen Menschen« definiert, bei der Erklärung von Akten kollektiver Gewalt gegen Mitglieder von Minderheitengruppen eine wichtige Rolle. Alle diese Ansätze postulieren mit anderen Worten eine kausale Wirksamkeit von Ideen für die Gewalt. Ideen sollen entweder die Form oder die Ziele der Gewalt oder den Gewaltausbruch erklären. Solche Theorien stützen sich auf scheinbar selbstevidente empirische Beobachtungen. Methodologisch muss man allerdings darauf hinweisen, dass die explanatorische Kraft von Ideen im Hinblick auf Gewalt zur Bedingung hat, dass die Ideen der Gewalt, die sie erklären sollen, äußerlich sein, ihr vorhergegangen sein müssen. Solange man davon ausgehen kann, dass Ideen und Überzeugungen den gewaltsamen Phänomenen, die wir zu verstehen versuchen, äußerlich sind, kann man sie zu ihrer Erklärung heranziehen; »falsche« Überzeugungen können so als Ursache fungieren.10 Diese Annahme der Äußerlichkeit lässt sich aber nur aufrechterhalten, wenn wir uns auf isolierte Akte der – individuellen oder kollektiven – Gewalt beschränken. Nur in diesen Fällen lassen sich die Überzeugungen der Akteure so deuten, als wären sie die Ursache für das gewaltsame Verhalten. Sobald wir aber die gesamte Interaktion in den Blick nehmen, die allmählich von gegenseitigen Beleidigungen zu handfester Gewalt übergeht, statt die isolierten Gewaltakte für sich zu betrachten, verändert sich der Eindruck. In dem Maße, wie sich ein Kon9

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Stanley J. Tambiah, Levelling Crowds, Berkeley 1996; Jacques Sémelin, Säubern und Vernichten. Die Politik der Massaker und Völkermorde, Hamburg 2007; David Livingstone Smith, Less Than Human. Why We Demean, Enslave, and Exterminate Others, New York 2011. Diese angenommene Äußerlichkeit wirft ein weiteres schwieriges Problem auf: Vor dem Hintergrund, dass Überzeugungen nicht immer zu Gewalt führen, brauchen wir eine zusätzliche Ursache, um die Auslösung von Gewalt zu erklären. An dieser Stelle wird normalerweise irgendeine Form von Massenpsychologie bemüht.

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flikt in Richtung auf offene Gewaltanwendung zuspitzt, transformieren sich normalerweise auch die Überzeugungen der Akteure, und ihre Einstellungen der gegnerischen Partei gegenüber werden zunehmend negativ. Und dies widerspricht der Vorstellung von einer für die Erklärung von Gewalt hinreichenden Externalität der Ideen. Vielmehr scheinen Ideen und Überzeugungen weniger eine Ursache für Gewalt zu sein, als vielmehr genau derselben Konflikt- und Rivalitätsdynamik zu unterliegen, die schließlich zu Gewalt führt. Was hier letztlich auf dem Prüfstand steht, ist die Autonomie der Vernunft im Hinblick auf Gewalt.

Gewaltsame Interaktionen und kollektive Psychologie Für René Girard hat Gewalt ihre eigene Logik.11 Das heißt, gewaltsame Interaktionen besitzen Regelmäßigkeiten, charakteristische Abfolgen von Handlungen und Gegenmaßnahmen sowie typische Entwicklungsverläufe. Sie weisen, wenn man so will, eine Struktur und Form auf, die sich selbst unter vollkommen verschiedenen Umständen immer wieder reproduziert. Auf Basis einer Analyse antiker und moderner literarischer Texte, ethnologischer Dokumente, diverser Gewaltrituale und neuerdings auch historischer Konflikte zwischen Nationen entwickelt Girard die Hypothese, dass sich Konflikte und Rivalitäten durch eine charakteristische Entwicklung und Phänomenologie auszeichnen, die sie unabhängig von ihren besonderen Umständen zu einem generischen Forschungsobjekt machen. Wenn diese Hypothese zutrifft, ist es unwahrscheinlich, dass Ideen, die Inhalte besonderer Überzeugungen, konkrete Akte der Gewalt zu erklären vermögen. Vielmehr scheint es so zu sein, dass die Überzeugungen der in gewaltsame Interaktionen verstrickten Akteure üblicherweise die typische »Selbstentwicklung« oder Eigendynamik dieser Interaktionen widerspiegeln: Sie werden umso extremer, je ernster der Konflikt wird. Ideen, das heißt: die Ideen der in Konflikte verwickelten Akteure sind dem Konflikt nicht hinreichend äußerlich, um seine Gewaltsamkeit erklären zu können. Ihre Transformation ist ein Teil dessen, was es zu erklären gilt.

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Siehe beispielsweise René Girard, Celui par qui le scandale arrive, Paris 2001, insb. Kap. 1, S. 15–44.

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Der regelmäßige Zusammenhang zwischen bestimmten Ideen (etwa der Überzeugung, dass die Angehörigen anderer Gruppen keine vollwertigen Menschen sind) und bestimmten Akten der Gewalt (extremen Formen kollektiver Gewalt, wie ethnischen Säuberungen oder Genoziden) zeigt nicht, dass diese Ideen Gewalt produzieren; er deutet eher darauf hin, dass sowohl die Ideen als auch die Gewalt die Folgen einer gemeinsamen Ursache sind. Diese Ursache nennt Girard »Mimesis«. Die Mimesis ist schon vor der Gewalt da, und die Gewalt bleibt ein Teil von ihr. Die Mimesis verdankt sich der Tatsache, dass wir uns aneinander orientieren, dass wir einander schätzen (oder verachten), mehr als sonst irgendetwas, dass sich, genauer gesagt, alle Phänomene der Bewertung aus der Interaktion ableiten, aus dem Umstand, dass wir einander unwillentlich, aber unabdingbar und »spontan« wissen lassen, was begehrenswert ist. Da wir oft ein und dasselbe Objekt begehren, ein Objekt, das wir nicht teilen können, kommt es leicht zu Konflikten und Rivalitäten. Wir verkennen dabei jedoch den automatischen Mechanismus, der uns zu gegenseitigen Rivalen macht. Stattdessen versuchen wir, unser Anrecht auf den umkämpften »Preis«, das von uns beiden begehrte Objekt, ideell zu legitimieren und unsere Rivalität durch das unverständliche Verhalten (oder den unbegründeten Anspruch) unseres Rivalen zu erklären. Die Gewalt ist jedoch die Folge der (Intensivierung der) Rivalität als solcher. In diesem Sinne besitzt sie keine Autonomie. Sie entspringt keinem irgendwie gearteten Urtrieb,12 sondern sie ergibt sich aus dem Verlauf von Rivalitäten, deren Ursprung und Dynamik wir verkennen. Francesco Alberoni definiert das Sich-Verlieben als »Entstehungszustand einer Kollektivbewegung zu zweit«;13 auf vergleichbare Weise betrachtet Girard Gewalt immer als kollektives Handeln. In Wahrheit gibt es so etwas wie individuelle Gewalt gar nicht. Gewalt ist eine Interaktion zwischen mindestens zwei Personen, nicht nur in dem offen-

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Genauer gesagt: Gewalt oder Aggression entsprechen tatsächlich in gewisser Weise einem Urtrieb, wie auch Sexualität und Hunger, doch als solche erklären sie nicht mehr, als dass Hunger Fettleibigkeit erklärt. Die eigentliche Spezifik der Erklärung auch und gerade zwischenmenschlicher Konflikte liegt indes jenseits der Grundbedürfnisse beziehungsweise der Urtriebe oder Naturkräfte. Francesco Alberoni, Verliebtsein und Lieben. Revolution zu zweit, Stuttgart 1983, S. 11.

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sichtlichen Fall, in dem zwei Personen miteinander kämpfen, sondern selbst im Fall einsamer Gewaltakte gegen materielle Gegenstände. Ein solcher Akt der Gewalt, wie etwa ein Tritt gegen jemandes Auto oder einen Münzautomat, muss immer zu den Interaktionen des Akteurs mit anderen Individuen in Beziehung gesetzt werden. Oft handelt es sich dabei um eine Art von verschobener Gewalt, die sich ein Ersatzziel gesucht hat. Girards Hervorhebung der Interaktion und die damit verbundene Allgegenwart der kollektiven oder zumindest »interdividuellen« Gewalt und ihre Vorherrschaft gegenüber der individuellen Gewalt verändert, wie ich zeigen möchte, unseren Begriff der Masse und der kollektiven Gewalt. Da Gewalt von Anfang an immer eine Mehrzahl von Akteuren einschließt, können potenziell auch immer mehr und mehr Personen in die gewaltsame Interaktion einbezogen werden. Die Massengewalt erscheint infolgedessen weniger als seltsames Phänomen, dessen Eigengesetzlichkeit man mit Rücksicht auf eine Massenpsychologie erklären müsste, sondern vielmehr als eine normale, quasi »natürliche« Entwicklungsmöglichkeit jeder gewaltsamen Interaktion. Obwohl sich beobachten lässst, dass kollektive Gewalt, sobald eine bestimmte Anzahl von Individuen daran beteiligt ist, tatsächlich eigene Regelmäßigkeiten aufweisen kann, braucht man zur Erklärung dieser Regelmäßigkeiten nicht auf irgendwelche der Entwicklung des Konfliktes äußerlichen Prinzipien zu rekurrieren. Die Ausweitung oder Ausbreitung der Gewalt innerhalb einer Gruppe ist aus mindestens drei Gründen wahrscheinlich oder kann sich auf drei eng miteinander verbundenen Wegen ereignen. Zum Ersten ist Gewalt grundsätzlich mimetisch, das heißt nachahmend und ansteckend. Genau wie für alle anderen Dinge gilt auch für die Gewalt: Wer sie schätzt, tut dies auch, weil andere sie schätzen und miteinander darum wetteifern, »Meister der Gewalt« zu werden. Das mimetische Wesen des Prozesses, durch den wir schätzen, was wir schätzen, offenbart sich deutlich durch den Preis, der zu gewinnen ist, nämlich Meister der Gewalt zu werden. Letztlich besteht dieser Preis aus nichts beziehungsweise aus nichts, was mehr zählen würde als die »Anerkennung« unserer gewalttätigen Überlegenheit, die wir anderen entreißen oder freiwillig von ihnen bekommen. Egal welcher »objektive« Grund für dieses gewalttätige Überlegenheitsstreben herhalten muss – zum Beispiel die Eroberung eines Territoriums –, hat er doch nur eine Bedeutung, wird er nur »objektiv«, wenn die eigene Anerkennung durch andere in Aus110

sicht steht. Andernfalls ist mehr Gewalt vonnöten, um ihre Zustimmung zu erpressen – oder sie zu liquidieren. Unter diesen Umständen kann die Gewalt abflauen und die Rivalität eine Weile ruhen. Doch Gewalt ist auch schrecklich und gefährlich, sie muss umgangen und vermieden werden. Offiziell zumindest wird sie von uns verdammt und verachtet. Selbst diejenigen, die sie schätzen, verwerfen und verurteilen sie immer dann, wenn sie selbst oder ihnen nahestehende Menschen ihr Opfer werden; sie verurteilen sie, wenn sie Gefahr laufen, das Spiel um die Meisterschaft der Gewalt zu verlieren. Doch auch wenn erfolglose Gegner gezwungen sind, ihre Niederlage zu akzeptieren, lassen sie nicht so einfach von ihrer Gewalt ab. Zum Teil liegt es an der mimetischen Qualität der Gewalt, dass sie weiterhin den Gewinner, dessen Ansehen durch seinen Sieg weiter zugenommen hat, nachahmen. Aus ihrer Gewalt, die sich nun nicht mehr gegen ihr »natürliches« Ziel, den Gewinner, richten kann, wird Ressentiment. Sie sucht und findet normalerweise einen Ersatz für den verlorenen Preis, einen Preis, der letztlich in nichts anderem besteht als darin, nicht verloren zu haben. Deshalb kann jedes beliebige Ziel, das sich verlieren, erobern oder zerstören lässt – sei es ein menschliches, tierisches oder unbelebtes Objekt –, einen akzeptablen Ersatz darstellen. Diese Ersetzung bildet den zweiten Weg, auf dem sich Gewalt innerhalb der Gruppe ausbreiten und immer mehr Personen und immer neue Verhaltensweisen befallen kann. Und drittens schließlich sind, wie Hobbes schon vor langer Zeit gesehen hat, diejenigen, die Gewalt per se nicht schätzen, oftmals gezwungen, sie sich so zu eigen zu machen, dass man ihr Handeln am Ende nicht mehr von dem Handeln jener Akteure unterscheiden kann, die allein durch ihre Rivalität angetrieben sind. In der Folge gleichen sich die vernünftigen Rechtfertigungen derjenigen, die sich ausschließlich um ihrer Selbstverteidigung willen der Gewalt bedienen, den leidenschaftlichen Forderungen jener an, denen es ausschließlich um ihre eigene Macht und Herrlichkeit geht, denn die Forderungen der einen und die Rechtfertigungen der anderen legitimieren, erklären und motivieren ganz genau dieselben Handlungen.14 Auch dies spricht 14

Vgl. Paul Dumouchel, »Hobbes, the Sovereignty Race«, in: ders., The Ambivalence of Scarcity and Other Essays, East Lansing 2014, S. 227–250; Thomas Hobbes, Leviathan (1651), Stuttgart 1970, Kap. 13.

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für die mimetische Qualität der Gewalt. Denn man sollte Mimesis nicht als dunkle und unverständliche Kraft, sondern als einen Prozess verstehen, durch den die Akteure nach und nach dazu gebracht werden, ähnlich zu handeln, oftmals obwohl oder gerade weil ihre guten Absichten andere sind. So werden die vernünftigen Hindernisse, die man zur Einhegung der Gewalt, und damit zu unserem Schutz, errichtet, mitunter von Gewalt absorbiert und tragen zur Eskalation der Gewalt bei. Hier kommt deutlich die im Verhältnis zur Gewalt eingeschränkte Autonomie der Vernunft zum Ausdruck, ihre Erklärungsnot im Hinblick auf die Gewalt und die Fragilität ihrer Schutzmechanismen. Geht man von einer mimetischen und damit ansteckenden Gewalt aus, dann erübrigt sich die Suche nach den Ursachen und Gründen, die kollektive Gewalt ermöglichen und erklären, da jede Gewalt in gewissem Sinne kollektiv ist. Wir müssen vielmehr verstehen, warum Gewalt nicht allgegenwärtig ist. Auf welchen Wegen wird sie begrenzt und eingedämmt? Dies kann nicht mittels der Vernunft, des Denkens oder aufgrund von Plausibilität geschehen, weil all diese Kräfte bei einer Intensivierung des Konflikts allmählich aufgezehrt und schließlich ausgelöscht werden; die Macht der Vernunft zur Begrenzung und Kontrolle der Gewalt wird vernichtet. Die von Girard vorgeschlagene Lösung lautet, dass Gewalt und Mimesis selbst, ohne jede äußere Einmischung, den Konflikt in der Gemeinschaft beenden können, und zwar so, dass das Ansteckungspotenzial der Gewalt fortan vermindert und die Gruppe dadurch in gewissem Maße vor einer neuerlichen Ausbreitung und Verallgemeinerung der Gewalt geschützt ist. Für eine solche Lösung müssen aber sehr spezielle Bedingungen erfüllt sein, die wiederum zu einer besonderen Form von kollektiver Gewalt führen, die sich als »konstitutive Gewalt« beschreiben lässt. Frühe Massentheoretiker gingen davon aus, dass es viele verschiedene Arten von Massen gibt: randalierende Horden, parlamentarische Versammlungen, die Kirche, die Armee, ein Konzert- oder Theaterpublikum, die Anhängerschaft bei einer politischen Veranstaltung oder jede öffentliche Zusammenkunft von Menschen. Auf den ersten Blick sehen diese Gruppierungen recht unterschiedlich aus. Die Frage, die ihre Vielgestaltigkeit aufwirft, ist: Was macht eine Masse zu einer Masse? Welche konstitutive Eigenschaft ist all diesen so überaus un112

terschiedlichen Gruppen und Vereinigungen gemeinsam? Was erlaubt uns, etwa die katholische Kirche und die Zuschauer eines Sportereignisses unter dieselbe Kategorie zu subsumieren? Die gemeinsame Antwort von Tarde, Freud und Le Bon lautet: psychischer Einfluss. Tatsächlich zeichnet sich eine Masse dadurch aus, dass ihre Glieder psychisch unmittelbar aufeinander Einfluss nehmen.15 Nur muss in der »interdividuellen« Psychologie Girards der Unterschied zwischen individueller und kollektiver Psychologie folglich ganz anders gefasst werden. Er spielt keine Rolle mehr oder zumindest nicht mehr die Rolle, die er früher spielte. Das bringt kollektive Phänomene nicht zum Verschwinden, wohl aber ihre Erklärung durch eine spezielle, »Massen«- oder auch »Gruppenpsychologie« genannte Form der Psychologie. Die interdividuelle Psychologie postuliert, dass es selbst in den einfachsten Interaktionen, an denen nur zwei Personen beteiligt sind, immer einen gegenseitigen psychischen Einfluss gibt. Er ist keine besondere Eigenart der Massen.16 Auch Freud stellt zu Beginn von »Massenpsychologie und IchAnalyse« fest, dass die Unterscheidung zwischen Individualpsychologie und Kollektivpsychologie künstlich sei. Er erklärt, dass auch die Individualpsychologie eine Form der Kollektivpsychologie darstellt, weil der andere im Leben des Individuums immer eine Rolle spielt, entweder als Vorbild, als Objekt, als Helfer oder als Gegner. Allerdings notiert Freud an anderer Stelle, nichts von der Bedeutung zu halten, die üblicherweise (etwa von Le Bon) dem numerischen Faktor zugeschrieben wird.17 Seines Erachtens verändert sich durch die Anzahl der beteiligten Individuen nichts Wesentliches an ihrem Seelenhaushalt oder Verhalten. Die kollektive Psychologie wird in der Freud’schen Theorie mithin auf Individualpsychologie reduziert. Da Ansteckung oder Mimesis das Grundprinzip seiner interdividuellen Psychologie bildet, die im eigentlichen Sinne weder eine Individual- noch eine Kollektivpsychologie ist, spielt für Girard der nume-

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Vgl. René Girard, Das Ende der Gewalt. Analyse eines Menschheitsverhängnisses, Freiburg 2009, insb. das 3. Buch, »Interdividuelle Psychologie«, S. 335–492. Man beachte, dass schon Tarde, für den Massen nichts anderes sind als eine spezielle Form des wechselseitigen psychischen Einflusses, dieser Auffassung ist. Vgl. Tarde, L’Opinion et la foule, S. 31–71. Freud, »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, S. 73f.

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rische Faktor hingegen eine fundamentale Rolle. Je größer die Anzahl der Akteure, die dasselbe Objekt begehren oder sich gegen denselben Kontrahenten richten, desto größer ist auch die Zahl der anderen Individuen, die sie möglicherweise imitieren werden. Die Mimesis also verfügt über einen selbsterfüllenden und sich selbst antreibenden Mechanismus, eine positive Feedbackschleife, die sowohl für die Ausweitung der Gewalt als auch für ihre Auflösung entscheidend ist.18

Mimetische Krise und konstitutive Gewalt Im Zentrum von Girards Lösung steht der gegen ein einziges Opfer gerichtete Akt der kollektiven Opferung, der die Gewalt beendet und eine neue oder erneuerte kulturelle Ordnung entstehen lässt. Durch einen Prozess der mimetischen Angleichung, so Girards grundlegende Idee, wird ein Einzelner zum Feind aller, an dem jedes Mitglied der Gemeinschaft zeitgleich mit allen anderen seine Gewalt entlädt und seinen Hass befriedigt. Diese Einstimmigkeit minus eins, diese Gewalt aller gegen einen, bringt der Gemeinschaft den Frieden zurück und reinigt sie von ihrer Gewalt. Noch allgemeiner gesagt, liegt ein solcher sich wiederholender Akt der konstitutiven Gewalt für Girard am Ursprung aller menschlichen Kultur und Institutionen. Das ist eine sehr starke Behauptung, auf die ich hier nicht ausführlich eingehen kann.19 Nichtsdestoweniger müssen wir eine Sache klarstellen, bevor wir fortfahren: Wenn die konstitutive Gewalt des Sündenbockmechanismus am Ursprung der menschlichen Kultur liegt, dann haben wir es in ähnlichem Sinne mit einem pluralen Ursprung zu tun, wie wir auch die natürliche Auslese als Ursprung der Arten und anderer biologischer Unterscheidungen betrachten. Dieser Ursprung entspricht keinem einmaligen, einzigartigen Ereignis, das sich ein für alle Mal in einer

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Vgl. Girard, Das Ende der Gewalt, S. 35–45; zur Nähe zwischen Girards Hypothese und formalen Modellen siehe Paul Dumouchel, The Ambivalence of Scarcity, insb. Kap. 5. Der erste Teil von Das Ende der Gewalt stellt sich der Aufgabe, diese These zu belegen, die zum ersten Mal in René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987, geäußert wurde. Eine Auseinandersetzung jüngeren Datums findet sich in: Dumouchel, The Ambivalence of Scarcity, insb. in der Einleitung und Kap. 9.

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mehr oder weniger fernen Vergangenheit ereignet hätte, sondern einem Mechanismus, der immer wieder funktioniert. Doch auch wenn der Sündenbockmechanismus in der Vergangenheit immer wieder »funktioniert« hat, funktioniert er Girard zufolge heute nicht mehr richtig. Im zweiten Teil seines Buchs Das Ende der Gewalt argumentiert er, die christliche Offenbarung, genauer gesagt ein historisches Ereignis: der Tod und die Leidensgeschichte Christi, habe diesen Mechanismus kulturell steril gemacht und ihn seiner Macht, dauerhaft Frieden zu stiften, beraubt, indem es die Funktionsweise des Opfer- beziehungsweise Sündenbockmechanismus offenbarte. Denn um richtig funktionieren zu können, muss verborgen bleiben, dass das Opfer der kollektiven Opferung in einem willkürlichen Prozess der mimetischen Angleichung ausgewählt beziehungsweise auserkoren wurde und selbst gar keine Schuld trägt. Von genau dieser Unschuld des Opfers kündet die Passion Christi. Man beachte jedoch, dass diese Entdeckung ein allmählicher historischer Prozess ist, der nun schon 2000 Jahre währt, und dass auch die Unfähigkeit diverser späterer Institutionen, uns vor Gewalt zu schützen, eine langsame Entwicklung und kein abruptes, plötzliches Ereignis ist. Diese These legt allerdings auch den Schluss nahe, wie Girard selbst klar erkennt, dass die christliche Offenbarung dadurch, dass sie uns des traditionellen Opfermechanismus beraubt, der uns bis dahin vor unserer eigenen Gewalt geschützt hat, möglicherweise zu mehr und gar nicht zu weniger Gewalt führt.20 Der zweite Punkt, den es zu beachten gilt, ist, dass die Aussage, der Sündenbockmechanismus funktioniere nicht mehr richtig, nicht darauf schließen lässt, dass Akte kollektiver Opferung heute nicht mehr vorkommen. Sie besagt vielmehr, dass Phänomene dieses Typs, so sie sich denn ereignen, nicht mehr den »normalen« Effekt nach sich ziehen, innerhalb der Gemeinschaft wieder Frieden zu stiften. Die These kann deshalb nicht in dem Sinne verstanden werden, dass es keine Fälle kollektiver Opferung mehr geben würde. Ganz im Gegenteil sind Lynchmorde und andere Formen der Volks»Justiz« nicht nur für die Vergangenheit nachzuweisen, sie stellen auch in der Gegenwart ein häufiges und gut dokumentiertes Phäno-

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Siehe Girard, Das Ende der Gewalt, S. 233–278.

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men dar.21 Girard selbst hat, genau wie viele Wissenschaftler, die sich seiner mimetischen Theorie verpflichtet fühlen, zahlreiche mehr oder weniger moderne Vorfälle kollektiver Opferung beschrieben und analysiert, die in dem Sinne kulturell unfruchtbar waren, dass sie keine neuen kulturellen Formen hervorzubringen und nicht einmal die vorhandenen zu stärken oder zu bestätigen vermochten.22 Girard weist allerdings darauf hin, dass der Mechanismus auch in der Vergangenheit nicht immer erfolgreich funktioniert hat.23 Daraus folgt, dass nur Fälle kollektiver Opferung, die bestimmte Bedingungen erfüllen, als konstitutive Gewalt gelten dürfen. Wie sehen diese Bedingungen aus? Wie wir im vorigen Abschnitt gesehen haben, lässt sich nicht nur kollektive, sondern Gewalt überhaupt nicht von den gewalt-»schwangeren« Interaktionen trennen, die ihr vorausgehen, und nicht unabhängig von diesen analysieren. Girard zufolge besteht zwischen der kollektiven Gewalt und der privaten Gewalt, die immer in allen Gesellschaften vorhanden ist, keine wirkliche Diskontinuität. Sowohl die private als auch die kollektive Gewalt müssen als Prozesse interdividueller Gewalt begriffen und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Bei der Beschreibung und Analyse konstitutiver Gewalt darf man sich folglich nicht auf den Moment des letzten kollektiven Ereignisses beschränken, der die Gewalt beendet. Man muss auch den Prozess der sozialen Ausbreitung der Gewalt, der erst allmählich zu einem grausamen Höhepunkt führt, berücksichtigen. Die Bedingungen, unter denen konstitutive Gewalt auftreten kann, sind somit angelegt, bevor sich der Akt kollektiver Gewalt selbst ereignet. Womit wir es hier zu tun haben, ist ein dynamischer Prozess, im Hinblick auf den die kollektive Opferung lediglich den Gipfelpunkt markiert. Diesen Prozess als ganzen, dessen ersten Teil Girard als die »mimetische Krise« be21

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Beispiele für moderne Phänomene kollektiver Gewalt in Lateinamerika finden sich bei A. Snodgrass Godoy, Popular Injustice. Violence, Community, and Law in Latin America, Stanford 2006. Vgl. René Girard, Der Sündenbock, Zürich 1988, Kap. 1; Cesario Bandera, »Où nous entraîne l’intertextualité?«, in: Paul Dumouchel (Hg.), Violence et vérité. Autour de René Girard, Paris 1985, S. 468–482; Paul Dumouchel, »Ijime«, in: Contagion 1999, 6, S. 77–84; Paul Dumouchel, Le Sacrifice inutile. Essai sur la violence politique, Paris 2011, S. 323; Simon Simonse, Kings of Desaster. Dualism, Centralism, and the Scapegoat King in Southeastern Sudan, Leiden 1992, S. 477. Girard, Das Ende der Gewalt, S. 53.

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zeichnet, muss man nachvollziehen können, um zu verstehen, wie es zu einem friedensstiftenden Ausgang kommt. Die erste Bedingung, die erfüllt sein muss, damit die Opferung zu dauerhaftem Frieden und kulturell günstigen Ergebnissen führt, ist, dass die gesamte Gemeinschaft an der Gewalt teilhaben oder teilnehmen muss. Diese Einbeziehung in die Gewalt muss die Gemeinschaft allerdings zunächst einmal spalten und zerstören, bevor sie einheitsstiftend wirken kann. Dass die meisten Akte kollektiver Gewalt gegen alleinstehende Opfer nicht zu Ereignissen konstitutiver Gewalt geraten, liegt hauptsächlich daran, dass die Gewalt vorzeitig ausbricht. Das heißt, das oder die Opfer werden attackiert und vielleicht sogar umgebracht, noch bevor die Gewalt Zeit hatte, die kulturellen Unterschiede in ausreichendem Umfang zu zerstören und die Mitglieder der Gemeinschaft in »gewalttätige Doppelgänger« zu verwandeln. Sie bleibt gewissermaßen oberflächlich; zwar wird tatsächlich ein Sündenbock geopfert, doch die Teilnehmer schaffen es nicht, ihre gesamte Gewalt auf das Opfer zu übertragen. Damit dies gelingen kann, muss die Gewalt bereits die Unterschiede zwischen den Mitgliedern der Gruppe ausgelöscht und sie zu »Zwillingen der Gewalt« gemacht haben. Girard sagt oft, die Gewalt zerstöre Unterschiede. Diese Aussage ist empirisch gemeint, nicht nur rein symbolisch oder psychologisch. Girard behauptet nicht nur, dass Gegner in dem Maße, wie die Gewalt eines Konfliktes zunimmt, immer weniger in der Lage sind, die für Außenstehende offenkundigen Unterschiede wahrzunehmen, so etwa die zwischen feindlichen Kämpfern und Zivilisten, oder dass die beteiligten Parteien mit wachsender Gewalt den symbolischen Wert solcher Unterschiede aus den Augen verlieren. Vielmehr behauptet Girard, dass die Unterschiede tatsächlich durch Gewalt zerstört werden; mit zunehmender Intensität des Konflikts hören sie auf zu existieren. Die Gewalt annulliert sie. Wenden wir uns zunächst den unwahrscheinlichsten Kandidaten für eine Erosion der Unterschiede unter dem Druck wachsender Gewalt zu: körperlichen Unterschieden, Stärke, Schnelligkeit, Widerstandsfähigkeit. Alle Waffen heben solche Unterschiede zwischen Gegnern potenziell auf, und diese Tendenz ist umso ausgeprägter, je moderner die Waffen sind. Schwerter räumen schwächeren Gegnern gegen einen vergleichbar bewaffneten stärkeren Gegner zumindest 117

eine gewisse Chance ein,24 Gewehre ermöglichen es Kindern, Erwachsene zu töten, Drohnen erlauben es einem übergewichtigen, nicht mehr ganz jungen Bedienpersonal, durchtrainierte, kampferprobte Kämpfer zu eliminieren. Man könnte dagegenhalten, dass Waffen, insofern sie einer Partei zum Sieg verhelfen, wieder einen Unterschied in Kraft setzen. Das tun sie wohl, allerdings nur einen einzigen Unterschied, nämlich den vorübergehenden Vorteil auf dem Kampffeld, und genau durch diese Vereinfachung, diese Fixierung auf den einen alles entscheidenden, einzigartigen Unterschied werden die Unterschiede zerstört. Gewalt zerstört Unterschiede auch durch die simple Tatsache, dass sie zerstört. Sie zerstört kulturelle Unterschiede, indem sie Paläste und Städte dem Erdboden gleichmacht, Bibliotheken niederbrennt, Kirchen und Krankenhäuser bombardiert, Brücken in die Luft sprengt. Im Zuge dieses Zerstörungsprozesses lösen sich auch die sozialen Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen Professor, Richter, Geselle, Arbeiter oder Ladenbesitzer immer mehr in Luft auf; denn je extremer und allgegenwärtiger Gewalt wird, desto mehr verlieren solche Unterscheidungen für das Leben der Akteure überhaupt an Bedeutung. In lange anhaltenden Konflikten ist wiederum zu beobachten, dass die zunehmende Auflösung sozialer Unterschiede oft mit der Verabsolutierung einer bestimmten exklusiven Unterscheidung einhergeht, etwa der zwischen Hutu und Tutsi, zwischen Schiiten und Sunniten, zwischen Katholiken und Protestanten, Kommunisten und NichtKommunisten, Juden und Nicht-Juden. Das Anwachsen der Gewalt ist untrennbar mit dieser Vereinfachung und Verkürzung aller Unterschiede auf einen einzigen verbunden. Schließlich zerstört Gewalt moralische Unterschiede. Terroristen, die sich in einem Privathaus treffen, um Operationen zu planen, übersehen nicht einfach die Bedeutung oder den Wert der Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kämpfern; ganz im Gegenteil versuchen sie oftmals, diesen Unterschied zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen; dadurch aber tragen sie zu seiner Zerstörung bei. Wenn eine Hellfire24

Gleiches gilt für den Kampfsport. Man erinnere sich, dass Karate in Okinawa entstand, wo dieser Sport ursprünglich als Schutzmaßnahme der örtlichen Bevölkerung gegen die japanischen Oberherren entwickelt wurde, die den Okinawern das Tragen von Schwertern und anderen Waffen untersagten.

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Rakete schließlich das Haus verwüstet und all seine Bewohner tötet oder wenn sich ein terroristischer Anschlag gegen Zivilisten richtet, einfach weil sie »zum Feind gehören«, wird der Unterschied am Ende vollkommen ausradiert. Die Gewalt zerstört, annulliert gleichermaßen moralische, gesellschaftliche, kulturelle und körperliche oder natürliche Unterschiede, denn auch wenn man diese analytisch unterscheiden kann, lassen sie sich im wahren Leben nicht trennen. Der moralische Unterschied zwischen feindlichen Kämpfern auf der einen Seite, Frauen, Kindern, Alten und Verwundeten auf der anderen, basiert auf physischen Unterschieden. Unabhängig von diesen Unterschieden existiert er nicht. Konstitutive Gewalt, eine kollektive Opferung, welche die Gemeinschaft wiedervereint und eine neue kulturelle Ordnung begründet, ereignet sich nur in Situationen, in denen die Gewalt die Unterschiede zwischen den Mitgliedern der betreffenden Gemeinschaft hinreichend zerstört hat. Hinreichend soll heißen, dass sich die Erosion der Unterschiede sozusagen ihren Weg ins Innere der Gemeinschaft gebahnt hat. Zu Konflikten gehören per definitionem »die anderen«, diejenigen, die nicht wir sind, gegen die wir kämpfen oder die sich uns widersetzen. Zu Konflikten gehören »Freunde« und »Feinde«, um die Kategorien Carl Schmitts zu gebrauchen; und im Gegensatz zu den »Feinden« besteht eine Gemeinschaft immer aus »Freunden«. Wenn die engsten Freunde und Verwandten zu Feinden werden, wenn der kategoriale Unterschied zwischen Freund und Feind, der die Auflösung aller anderen Unterschiede betrieb, selbst instabil wird, wenn er seine Klarheit und Unterscheidungskraft verliert, dann hat sich die Gewalt ihren Weg zurück ins Innere der Gemeinschaft gebahnt. Geschieht das, dann ist die Gemeinschaft als Gemeinschaft zerstört, und nur die Gewalt bindet die Gegner noch aneinander. Erst wenn die Zersetzung der Unterschiede so weit fortgeschritten ist, kann die kollektive Opferung Girard zufolge die Funktion konstitutiver Gewalt erfüllen. Dann werden alle Mitglieder der Gemeinschaft zu gewalttätigen Doppelgängern. Allerdings genügen die meisten Fälle von Gruppenoder Massengewalt gegen ausgewählte Opfer dieser Bedingung wie gesagt nicht. Doch warum ist diese Bedingung überhaupt notwendig? Die verallgemeinerte Instabilität und Oszillation des Unterschieds zwischen Freund und Feind macht es möglich, dass jeder zum Feind aller werden 119

kann. Sie ermöglicht es, anders gesagt, dass ein Akteur zugleich jedermanns persönlicher Feind werden kann. Die kollektive Opferung dieses Individuums wird der Gewalt ein Ende setzen, weil es die Ununterschiedenheit zwischen Freund und Feind aus der Gemeinschaft herausträgt, indem es sie mit ins Grab nimmt, während es alle anderen Mitglieder der Gemeinschaft zugleich als »Freunde« und die Gewalt seines oder ihres Todes als gute Gewalt definiert. Da die Wahl jedes Einzelnen, der nun wie alle anderen zu einem gewalttätigen Doppelgänger geworden ist, genauso wahrscheinlich oder gut begründet ist wie die jedes anderen, ist es vollkommen willkürlich, wie das eine Opfer zum Feind aller bestimmt wird. Die Mimesis wird dafür sorgen, dass die kleinste Unwucht, das geringste Ungleichgewicht in den Gegensätzen zwischen den Doppelgängern lawinenartig anschwillt und sich letztlich gegen ein einziges Opfer richtet. Sofern das Opfer nicht »zu schnell« getötet wird, nur dann also, wenn die Polarisierung die gesamte Gemeinschaft erfasst hat, mündet der Prozess in eine Situation der Einmütigkeit gegen einen. Opfer von Lynchmobs, Volksjustiz oder randalierenden Massen können diese Rolle, gerade weil sie Sündenböcke im banalen Sinne des Wortes sind, im Allgemeinen nicht übernehmen. So übten die Mitglieder des Hindu-Mobs, die sich blutig an Sikhs vergingen, weil die Leibwächter, die Indira Ghandi ermordet hatten, Sikhs waren, Gewalt »nur« gegen stellvertretende Opfer aus. Die konstitutive Gewalt hingegen richtet sich nicht gegen einen Stellvertreter »der anderen«, sondern gegen den »wahren« Feind der Gruppe. Weil dieser Feind für alle derselbe ist, genügt sein oder ihr Tod, ein einziger Tod, um den Frieden wiederzubringen.

Konstitutive Gewalt als Hypothese Daraus ergibt sich folgende Frage: Sind Ereignisse gründender Gewalt überhaupt möglich? Finden sie jemals statt? Einem kurzen Blick auf die Literatur über kollektive Gewalt offenbart sich kein einziges Beispiel für konstitutive Gewalt. Es scheint, als würde die Gewalt von Lynchmobs oder randalierenden Massen nicht ins Innere der Masse Einzug halten, um die Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern zu zerstören. Zumindest tut sie es nicht unmittelbar, und wenn 120

doch, dann nimmt diese Rückkehr eher die Form privater als die Form kollektiver Gewalt an. Dadurch wird indirekt Girards Behauptung bestätigt, dass diese beiden Aspekte der Gewalt eng miteinander verknüpft sind.25 Massen sind kurzlebige, transitorische Gruppierungen, die innerhalb einer längeren Konfliktgeschichte zusammenfinden und sich allzu leicht wieder zerstreuen. Aus diesem Grund eignen sie sich nicht für die Übertragung konstitutiver Gewalt. Und dennoch: Warum finden wir niemals Beispiele für konstitutive Gewalt? Girard selbst nennt einen starken Grund: Die in den Sündenbockmechanismen involvierten Personen können per definitionem nicht beschreiben, wie er funktioniert. Sie sind nicht imstande, die Übertragung ihrer Gewalt auf ein willkürlich bestimmtes Opfer als das zu sehen, was sie ist. In dem Maße, wie der Mechanismus angemessen funktioniert und die Übertragung erfolgreich ist, würden sie ihre Gewalt nicht nur als legitim ansehen, sondern auch als vom Opfer verursacht und in diesem Sinne höchstwahrscheinlich überhaupt nicht als Gewalt. Das Einzige, was wir mithin jemals zu finden oder zu beobachten hoffen können, sind – zumindest was den Höhepunkt anbelangt – verzerrte Spuren derartiger Vorkommnisse. Weil sich dieser Höhepunkt der Gewalt am »Ursprung der Kultur« befindet, gibt es keine externen Beobachter, die den Bericht der Täter infrage stellen oder ergänzen könnten. Daher ist diese konstitutive Gewalt keine beobachtbare Tatsache, sondern eine Erklärungshypothese, deren Wert sich daran bemisst, wie viele Tatsachen wir mit ihrer Hilfe erklären und kohärent organisieren können.26 Obwohl es sich bei diesem Mechanismus also nicht um eine beobachtbare Tatsache handelt, muss er doch, müssen die kollektiven Tötungen willkürlicher Opfer, aus denen kulturelle Ordnungen entstehen, eine Entsprechung in tatsächlichen Ereignissen, in wirklich geschehenen Morden finden. Doch manchmal können wir in unserer Gegenwart oder in der jüngeren Vergangenheit sehr wohl mimetische Krisen, das heißt Gewalt-

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In Walter van Tilburg Clarks Roman Ritt zum Ox-Bow. Western-Roman, München 1966, der erstmals 1940 erschien, wird auf sehr interessante Weise analysiert, wie die Rückkehr einer Lynchgewalt familiäre Beziehungen heimsuchen und zerstören kann. Dies ist eine der zentralen Behauptungen in: Girard, Das Heilige und die Gewalt. Siehe Kap. 6, 10 u. 11.

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dynamiken beobachten, die moralische, gesellschaftliche und kulturelle Unterschiede zerstören, immer tiefer in eine Gemeinschaft eindringen und nach und nach alle zwischenmenschlichen Beziehungen zersetzen.27 Sollten wir dann nicht im Prinzip auch in der Lage sein, die spontane Auflösung solcher Krisen zu beobachten, wenn sie sich denn ereignet? Sollten wir nicht in der Lage sein, den selbstregulierenden Mechanismus der Gewalt am Werk zu sehen, wenn es ihn denn gibt? Ganz abgesehen von Girards These, der zufolge die christliche Offenbarung eine solche spontane Auflösung gewaltsamer Konflikte in der Moderne unmöglich gemacht hat, ist es aus zwei miteinander zusammenhängenden Gründen unwahrscheinlich, dass wir ein solches Ereignis beobachten können. In der Welt, in der wir leben, sind gewaltsame Konflikte, zumindest sobald sie ein bestimmtes Intensitätsniveau erreicht haben, zunächst einmal selten »selbstreguliert«. Sie führen in der Regel zu Interventionen von außen, entweder seitens der internationalen Gemeinschaft oder seitens der Nachbarn, welche die Gewalt vor ihrer Haustür beunruhigt. Die Gewalt wird deshalb nicht ihrer spontanen Entwicklung überlassen, sondern von außen – oftmals gewaltsam – reguliert. Angesichts der Größe der Gesellschaften, in denen wir leben, kann zweitens die konstitutive Gewalt zumindest bei uns nicht die Form einer Massen- oder einer Hordengewalt annehmen, da der Mechanismus, um zu funktionieren, jedes Gruppenmitglied einbeziehen müsste. Für die meisten von uns wird sich die Teilnahme an der Gewalt deshalb darauf beschränken, dass wir uns mit den Gewalttätern identifizieren, von der Schuld des Opfers und der Rechtmäßigkeit der Gewalt – die zum Beispiel Saddam Hussein oder Bin Laden zerstörte – überzeugt sind. Zweierlei spricht also gegen das »ordnungsgemäße« Funktionieren des Opfermechanismus (und folglich auch gegen seine Beobachtbarkeit): die Größe unserer Gesellschaften und die Tatsache, dass Krisen normalerweise von außen reguliert werden, von einem »Außen« aus, das wir »sind« und von dem aus wir die spontane Auflösung einer gewaltsamen Krise vergeblich zu beobachten hoffen. Doch 27

Vgl. etwa Alexander Laban Hinton, Why Did They Kill? Cambodia in the Shadow of Genocide, Berkeley 2005; Stathis Kalyvas, The Logic of Violence in Civil War, Cambridge 2006; Abderrahmane Moussaoui, De la Violence en Algérie. Les lois du chaos, Arles 2006.

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wir könnten den Opfermechanismus auch dann nicht beobachten, wenn er richtig funktionierte, weil wir uns in diesem Fall im »Innern« befänden und duch den wiederhergestellten Frieden von der Schuld des Opfers überzeugen wären. Konstitutive Gewalt lässt sich somit weder beobachten – sie ist eine Hypothese –, noch lässt sie sich ohne Weiteres mit Massengewalt identifizieren. Aus dem Englischen von Bettina Engels

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Richard K. Moule Jr. | Scott H. Decker | David C. Pyrooz

Kollektive Gewalt, Gangs und das Internet

Kriminalität ist eine Form von kollektivem Verhalten, die vor allem in adoleszenten Gruppen zu beobachten ist.1 Das gilt insbesondere für das Verhalten von Jugendgangs. Schon klassische soziologische Arbeiten haben die Rolle des Gruppenzusammenhalts für kollektives, unter Umständen kriminelles Handeln hervorgehoben.2 Ähnlich argumentiert Decker, dass kollektives Verhalten für das Verständnis von Banden wesentlich ist.3 Gangs lassen sich als eine Form des kollektiven Verhaltens verstehen, weil sich ihre Mitglieder an kollektive Regeln und Identitäten halten und miteinander in Beziehungen stehen. Diese Beziehungen, Verpflichtungen und Identitäten spiegeln die Gruppenprozesse innerhalb der Gang wider, die das Verhalten beeinflussen.4 Indem Gruppenprozesse selbstgefährdende Verhaltensweisen befördern, sind sie für die gewalttätigen Aspekte des Bandenlebens von herausragender Bedeutung. Wie Decker, Melde und Pyrooz bemerkten:

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Scott Briar/Irving Piliavin, »Delinquency, Situational Inducements, and Commitment to Conformity«, in: Social Problems 1965, H. 1, S. 35–45; Mark Warr, Companions in Crime. The Social Aspects of Criminal Conduct, Austin 1988; David Schaefer u.a., »The Role of Neighborhood Context in Youth Co-Offending«, in: Criminology 2014, H. 1, S. 117–139. Robert E. Park/Ernest W. Burgess, Introduction to the Science of Sociology, Chicago 1921; Frederick M. Thrasher, The Gang. A Study of 1313 Gangs in Chicago, Chicago 1927. Scott H. Decker, »Collective and Normative Features of Gang Violence«, in: Justice Quarterly 1996, H. 2, S. 243–264; siehe auch Clark McPhail, The Myth of Madding Crowd, Hawthorne 1991; Harold W. Pfautz, »Near-Group Theory and Collective Behavior. A Critical Reformulation«, in: Social Problems 1961, H. 2, S. 167–174; Lewis Yablonsky, »The Delinquent Gang as Near-Group«, in: Social Problems 1959, H. 2, S. 108–117. Malcolm W. Klein, The American Street Gang. Its Nature, Prevalence, and Control, New York 1995; James F. Short Jr./Fred L. Strodtbeck, Group Process and Gang Delinquency, Chicago 1965.

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»Der Einfluss, den die Gang besitzt, um Einzelne zu einem scheinbar irrationalen Verhalten zu zwingen (einen Einsatz im Feindesgebiet zu übernehmen, sich von einer großen Menge von Leuten zusammenschlagen zu lassen, um Mitglied einer Gang zu werden, durch das Tragen bestimmter Farben ein persönliches Risiko einzugehen), muss groß sein, um bei den Mitgliedern Zweifel an der Klugheit solcher Verhaltensoptionen zu zerstreuen.«5 Bisher ist allerdings nur wenig darüber bekannt, wie Gruppenprozesse, die Bandengewalt beeinflussen, über soziale Räume hinweg funktionieren. Viele Untersuchungen über Gangs haben sich auf Prozesse konzentriert, die an persönliche Interaktionen in kleinen Gruppen gebunden sind. Einen anderen sozialen Raum, dem als solchem sehr wohl eine gewisse Aufmerksamkeit zuteil wurde, bilden das Internet und die mit ihm verknüpften Technologien, wie die mobile Telefonie und die sozialen Medien. Die Interaktionen in diesem Raum sind freilich technologievermittelt und finden, wenn überhaupt, dann nur indirekt face-toface statt. Dennoch ist die Welt des Internets ein riesiges Feld, auf dem reale Konflikte gären können. Zudem hat sich die digitale Kluft, durch die Menschen früher von diesen Technologien ausgeschlossen waren, heutzutage stark verringert.6 Des Weiteren gibt es eine große Überschneidung in der Altersdemografie von Gangmitgliedern und Internetnutzern.7 Die Bandenkultur ist im Netz sichtbarer geworden, und Gangs integrieren das Internet in ihre Verhaltensrepertoires.8 For-

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Scott H. Decker u. a., »What Do We Know about Gangs and Gang Members and Where Do We Go from Here?«, in: Justice Quarterly 2013, H. 3, S. 369–402, hier: S. 383. Richard K. Moule Jr. u.a., »From ›What the F#@% Is a Facebook?‹ to ›Who Doesn’t Use Facebook?‹. The Role of Criminal Lifestyles in the Adoption and Use of the Internet«, in: Social Science Research 2013, H. 6, S. 1411–1421; Karen Mossberger u.a., »Going Online Without Easy Access. A Tale of Three Cities«, in: Journal of Urban Affairs 2008, H. 5, S. 469–488. Pew Research Center, »Internet User Demographics«, http://www.pewinternet.org/ data-trend/teens/internet-user-demographics/[6. 5. 2015]; David C. Pyrooz, »From Colors and Guns to Caps and Gowns? The Effects of Gang Membership on Educational Attainment«, in: Journal of Research in Crime and Delinquency 2014, H. 1, S. 56–87. Richard K. Moule Jr. u.a., »A View From the Street. Active Offenders, the LifeCourse, Technology, and Implications for Security«, in: Martin Gill (Hg.), The Handbook of Security, New York 2014 [2006], S. 516–545; Richard K. Moule Jr., »Internet Adoption and Online Behavior among American Street Gangs. Integrating

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schungen über deviante Gruppen lassen vermuten, dass die Internettechnologie eine wesentliche Rolle bei Gruppenprozessen spielen und zur Straßengewalt beitragen kann, obwohl diese Themen nicht sehr gut erforscht sind.9 Um darum besser zu verstehen, wie Gruppenprozesse über soziale Räume hinweg funktionieren, um Straßengewalt zu produzieren, widmet sich der vorliegende Aufsatz zwei allgemeinen Fragen. Erstens: Wie könnten Gruppenprozesse in Gangs Technologien wie das Internet beeinflussen beziehungsweise von ihnen beeinflusst werden? Zweitens: Welche Rolle spielen die Technologie und das Netzverhalten von Gangs und Gangmitgliedern für die Beförderung der Straßengewalt? Zunächst möchten wir näher auf das Wesen von Gruppenprozessen eingehen und untersuchen, wie diese Prozesse kollektive Bandengewalt auslösen. Dann werden wir uns anschauen, wie Gruppenprozesse von Technologien wie dem Internet verstärkt werden. Potenzielle Korrelate des Zusammenhangs zwischen Online-Erfahrungen und Offline-Gewalt werden geprüft. Der Aufsatz schließt mit Überlegungen zur Vermittlung dieser Themen sowie einigen Anmerkungen für die zukünftige Forschung.

Gruppenprozesse in der Gang Short und Strodtbeck machten als Erste auf Gruppenprozesse unter Bandenmitgliedern aufmerksam, die einen Einfluss auf das kriminelle Verhalten haben.10 Gruppenprozesse wie kollektive Identitäten, krimi-

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Gangs and Organizational Theory«, in: Journal of British Criminology 2014, doi: 10.93/bjc/azu050; David C. Pyrooz u.a., »Criminal Routine Activities in Online Settings. Gangs, Offenders, and the Internet«, in: Justice Quarterly 2013, doi: 10.1080/07418825.2013.778326. Steven Chermak u.a., »The Organizational Dynamics of Far-Right Hate Groups in the United States. Comparing Violent to Non-Violent Organizations«, in: Studies in Conflict and Terrorism 2013, H. 3, S. 193–218; Thomas J. Holt, »Exploring the Intersections of Technology, Crime, and Terror«, in: Terrorism and Political Violence 2012, H. 2, S. 337–354. Short/Strodtbeck, Group Process and Gang Delinquency. Vgl. auch Lorine A. Hughes/James F. Short Jr., »Partying, Cruising, and Hanging in the Streets. Gangs, Routine Activities, and Delinquency and Violence in Chicago, 1959–1962«, in: Journal of Quantitative Criminology 2013, doi 10.1007/s10940–013–9209-y; Malcolm W.

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nelle normative Orientierungen und extra-individuelle Verpflichtungen verstärken die Prädispositionen der in Gangs organisierten Personen zu kriminellem Verhalten.11 Warum ist das so? Da persönlicher Status in den Stadtvierteln, in denen Gangs am stärksten präsent sind, unsicher und wechselhaft ist, stellen die Mobilisierung und die Verstärkung kollektiver Solidarität und Identität Schlüsselelemente des Bandenlebens dar und besitzen für die Mitglieder oberste Priorität.12 Sorgen um das Ansehen der Gang haben im Verhältnis zwischen den Gruppen die Funktion, Bandengewalt zu provozieren, Konflikte anzuheizen und eskalieren zu lassen.13 Machen wir uns klar, in welchem Maße die Aufgabe eines Bandenterritoriums als kollektiver Verlust und kollektive Schwäche wahrgenommen werden. Ein Bandenmitglied gibt zu Protokoll: »Das ist unser Kiez, weißt du? Was sollen wir anderes machen, als ihn zu schützen. Wenn wir einen Rückzieher machen, sind wir am Arsch. Alle werden denken, dass wir nur ein Haufen Schleimbeutel sind. […] Wie können wir uns 2–6 nennen, wenn wir nicht mal dieses Eck haben? Das Eck war immer uns. Das gehört uns, Mann, egal, womit uns diese Arschlöcher [die Latin Lovers] kommen. […] Was bleibt uns denn sonst? Nichts. Kannst genauso gut zu den dämlichen Pfadfindern gehen, wenn du nicht mal ein Eck zum Abhängen hast. Wenn wir einen Rückzieher machen, sehen wir aus wie Schwächlinge, Mann. […] Wir können diese Wasch-

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Klein/Lois Y. Crawford, »Groups, Gangs, and Cohesiveness«, in: Journal of Research in Crime and Delinquency 1967, H. 1, S. 63–75. Decker u. a., What Do We Know About Gangs?; David C. Pyrooz u. a., »The Contribution of Gang Membership to the Victim-Offender Overlap«, in: Journal of Research in Crime and Delinquency 2014, H. 3, S. 315–348; Terence P. Thornberry u.a., Gangs and Delinquency in Developmental Perspective, Cambridge 2003; Jane Wood/Emma Alleyne, »Street Gang Theory and Research. Where Are We Now and Where Do We Go From Here?«, in: Aggression and Violent Behavior 2010, H. 2, S. 100–111. Pyrooz u.a., The Contribution of Gang Membership; James F. Short Jr., »Social Structure and Group Processes in Explanations of Gang Delinquency«, in: M. Sherif/C. W. Sherif (Hg.), Problems of Youth. Transition to Adulthood in a Changing World, Chicago 1965, S. 155–189. Andrew V. Papachristos, »Murder by Structure. Dominance Relations and the Social Structure of Gang Homicide«, in: American Journal of Sociology 2009, H. 1, S. 74–128.

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lappen nicht einfach machen lassen und uns den Platz wegnehmen lassen.«14 Die Beziehungen zwischen den Mitgliedern und die gegenseitigen Verpflichtungen intensivieren sich mit der Zeit. Mit der gewaltsamen Initiation in die Gang ist der Samen für die kollektive Identität eingepflanzt. Gewaltsame Initiationsriten geben den Individuen einen festen Platz im Gefüge des mythischen Gewaltsystems der Gang und bekräftigen die zentrale Rolle der Gewalt für das moralische Universum des Bandenlebens.15 Außerdem finden anhaltende Konflikte durch die Aufnahme neuer Mitglieder in die Gang auch neue Teilnehmer. Diese Konflikte führen wiederum zur Bekräftigung bestimmter Gruppennormen, die Gewalt als Mittel zur Selbsthilfe und zur Verbesserung des eigenen Status propagieren. Je mehr Zeit die Mitglieder miteinander verbringen, desto mehr stärken gemeinsame Erfahrungen den Korpsgeist der Gruppe, selbst wenn sich einzelne Cliquen bilden und manche Beziehungen nur lose sein sollten.16 Zugleich beziehen die Mitglieder aus ihrer Mitgliedschaft, der Interaktion mit den Bandenkollegen, der Befolgung von Gruppennormen und aus riskanten, oftmals gewalttätigen Verhaltensweisen persönlich einen symbolischen (etwa soziales Kapital, Status) und instrumentellen Vorteil (etwa Geld, Waffen, Drogen).17 Hughes und Short haben beschrieben, wie zu der gemeinsam mit den Mitgliedern der eigenen Gang verbrachten Zeit auch das »Bedeutung geben« (signifying), die Teilnahme an Charakterwettbewerben oder an anderen

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Papachristos, ebenda, S. 104; Hervorhebung im Original. Julie Ayling, »Gang Change and Evolutionary Theory«, in: Crime, Law, and Social Change 2011, H. 1, S. 1–26; Klein, The American Street Gang. Vgl. zum Beispiel Jean McGloin, »Policy and Intervention Considerations of a Network Analysis of Street Gangs«, in: Criminology & Public Policy 2005, H. 3, S. 607–635; Florence Passy, »Socialization, Connection, and the Structure/Agency Gap. A Specification of the Impact of Networks on Participation in Social Movements«, in: Mobilization. An International Quarterly 2001, H. 2, S. 173–192; Jesenia M. Pizarro/Jean M. McGloin, »Explaining Gang Homicides in Newark, New Jersey. Collective Behavior or Social Desorganization?«, in: Journal of Criminal Justice 2006, H. 2, S. 195–207. Richard K. Moule u.a., »Social Capital, the Life-Course, and Gangs«, in: Chris L. Gibson/Marvin D. Krohn (Hg.), Handbook of Life-Course Criminology, New York 2013.

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nicht kriminellen Aktivitäten gehört.18 Hat man glaubhaft gemacht, ein »Herz« zu besitzen – zum Beispiel Mut oder Ehre –, so vermehrt dies die mit der Gangzugehörigkeit verbundenen Vorteile.19 Doch eine solche Identifikation und Demonstration von »Herz« hat ihren gepfefferten Preis: Sie bindet den Einzelnen noch stärker an die Gruppe und kapselt ihn weiter von den normalen sozialen Institutionen ab. Das wiederum verstärkt die Einbindung in die Gruppe zusätzlich.20 Eine stärkere Identifikation führt zu einer stärkeren Bindung an die Gruppennormen und zu einem größeren Einverständnis mit Sanktionen gegen Verhaltensweisen, die nicht mit den Maßstäben der Gruppe im Einklang stehen.21 Aus diesen Abhängigkeiten heraus entstehen Handlungen, die die Mitglieder zusammenschweißen; sehr häufig sind die entsprechenden Handlungen mit Gewalt verbunden.

Der Zyklus der Bandengewalt als kollektives Verhalten Die Grundlage der Gewalt bilden die Bande zwischen den Gangmitgliedern. Gruppenbande werden durch Konflikte gestärkt.22 Wir haben es hier zwar mit einem einfachen und allgemeinen Mechanismus des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu tun, bei den Gangs aber sind Konflikte zwischen unterschiedlichen Gruppen die Hauptquelle der Solidarität. Gewalt hilft dabei, in der Bandenwelt zwischen »uns« und »ihnen« zu unterscheiden und einen Zusammenhalt innerhalb der 18 19

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Hughes/Short, Partying, Cruising, and Hanging in the Streets. Ruth Horowitz, Honor and the American Dream. Culture and Identity in a Chicago Community, New Brunswick 1983; James D. Vigil, Barrio Gangs. Street Life and Identity in Southern California, Austin 1988. David C. Pyrooz u.a., »Continuity and Change in Gang Membership and Gang Embeddedness«, in: Journal of Research in Crime and Delinquency 2013, H. 2, S. 239–271; Pyrooz, From Colors and Guns to Caps and Gowns; Gary Sweeten u.a., »Disengaging from Gangs and Desistance from Crime«, in: Justice Quarterly 2013, H. 3, S. 469–500. Christine Horne, The Rewards of Punishment. A Relational Theory of Norm Enforcement, Stanford 2009. Muzafer Sherif u.a., The Robbers Cave Experiment. Intergroup Conflict and Cooperation, Hanover 1988; James f. Short Jr., »Collective Behavior, Crime, and Delinquency«, in: Daniel Glaser (Hg.), Handbook of Criminology, New York 1974, S. 403–449; Thrasher, The Gang.

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Gang zu schaffen.23 Konflikte zwischen Gruppen weisen oft bestimmte Regelmäßigkeiten auf, wobei sich kleinere mit Gewalt verbundene Vergeltungsmaßnahmen mit der Zeit zu gravierenderen Gewalttaten auswachsen können. In solchen Konflikten spiegelt sich die »ansteckende Gewalt« wider. Der in Abbildung 1 dargestellte Zyklus der Bandengewalt von Scott Decker basiert auf einer Verknüpfung von ansteckender Gewalt und kollektivem Verhalten.24 Der Zyklus der Bandengewalt

Dieser Zyklus beschreibt die Entwicklung von Bandengewalt. Die Beziehungen zwischen den Gangmitgliedern sind meist informell und lose.25 Das in Gangs allgegenwärtige mythische System der Gewalt zeichnet sich durch die aktive soziale Konstruktion umfassender Bedrohungen für die Gang und ihre Mitglieder aus. Diese Bedrohungen bestärken die Bindungen an die eigene Gang und ihre Mitglieder. In manchen Fällen greifen Gangs oder ihre Mitglieder zu vorbeugender

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Vgl. u.a. Noah E. Friedkin, »Social Cohesion«, in: Annual Review of Sociology 2004, S. 409–425; Michael A. Hogg, The Social Psychology of Group Cohesiveness, New York 1992. Aus Decker u.a., What Do We Know about Gangs and Gang Members?; vgl. auch Decker, »Collective and Normative Features of Gang Violence«. McGloin, Policy and Intervention Considerations.

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Gewalt. Durch eine solche Tat wird versucht, eine höhere Stufe auf der Leiter der sozialen Hierarchie zu erklimmen oder die Gang zusammenzuschweißen.26 Bedrohungen ziehen mobilisierende Ereignisse nach sich. Diese Ereignisse stellen konkretere Bedrohungen dar, die sich durch ihre Besonderheit (Ereignisse sind spezifischer als Bedrohungen) und ihr zielgerichtetes Wesen (offene Gegnerschaft versus subjektives Verhalten) auszeichnen.27 Gängige Beispiele sind Bedrohungen der Bandenidentität, wie das Übersprühen von Graffiti anderer Gangs, provozierendes Gerede (trash talking) und das Eindringen in gegnerisches Territorium.28 Derartige Ereignisse bereiten eine Eskalation der Gewalt dadurch vor, dass sie kollektive Identitäten antagonistisch überzeichnen und die im Bandenleben üblichen kollektiven Verpflichtungen verstärken. Das gilt zumal für Gegenden, in denen Gangs und Bandengewalt besonders virulent sind. Zu Konflikten zwischen verschiedenen Gangs kommt es meistens an den Grenzen zwischen ihren Territorien oder an bestimmten Schauplätzen, an denen sich mehrere Gangs herumtreiben (etwa Orte, wo Drogen verkauft werden).29 Der Zyklus der Bandengewalt hat mehrere mögliche Ausgänge. Sie hängen von bestimmten Umständen ab, beispielsweise vom Ort, von der räumlichen Nähe, der Vorgeschichte und den beteiligten Personen. Meistens kommt es zu gewaltsamen Vergeltungsmaßnahmen, manchmal auch zum Einschreiten dritter Parteien (Ordnungskräfte, Bandenchefs), wodurch sich die Gewalt gegebenenfalls verringert.30 Es kann aber auch deeska26 27 28 29

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Walter B. Miller, »Lower Class Culture as a Generating Milieu of Gang Delinquency«, in: Journal of Social Issues 1958, H. 3, S. 5–19. Das bedeutet nicht, dass die Bedrohung der eigenen Gang nicht das mobilisierende Ereignis für eine andere Gang darstellen kann. Lorine A. Hughes/James F. Short Jr., »Disputes Involving Youth Street Gang Members. Micro-Social Contexts«, in: Criminology 2005, H. 1, S. 43–76. Paul J. Brantingham u.a., »The Ecology of Gang Territorial Boundaries«, in: Criminology 2012, H. 3, S. 851–885; Scott H. Decker/Barrik Van Winkle, Life in the Gang. Family, Friends, and Violence, New York 1996; Travis A. Taniguchi u.a., »Gang Set Space, Drug Markets, and Crime around Drug Corners in Camden«, in: Journal of Research in Crime and Delinquency 2011, H. 3, S. 327–363. Anthony A. Braga u.a., »Problem-Oriented Policing, Deterrence, and Youth Violence. An Evaluation of Boston’s Operation Ceasefire«, in: Journal of Research in Crime and Delinquency 2001, H. 3, S. 195–225; David J. Harding, Living the Drama. Community, Conflict, and Culture among Inner-City Boys, Chicago 2010.

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lierend wirken, wenn die Gewalt eine gewisse Schwelle erreicht hat, wenn sie dann gedrosselt werden muss, um keine unerwünschte Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte zu provozieren oder von anderen Gangaktivitäten (wie zum Beispiel dem Drogenhandel) abzulenken. Der Zyklus der Bandengewalt ist gut belegt und bildet die Grundlage für Interventionsprogramme, die versuchen, die in Gangs und Gangkonflikten oftmals wirksamen Vergeltungsregeln zu unterbrechen.31 Man beachte, dass Gruppenprozesse und der Zyklus der Bandengewalt trotz ihres scheinbar zeitlosen Wesens doch bisher üblicherweise auf persönliche Beziehungen und Face-to-Face-Interaktionen beschränkt waren. Diese Erkenntnis wirft zwingend Fragen über die neuen Medien und ihren möglichen Einfluss auf die Größe, Reichweite und Beschaffenheit heutiger Bandengewalt auf. – Unsere These lautet: Technologien wie das Internet stellen neue Wege zur Verstärkung von Gruppenprozessen und zur Erleichterung von Straßengewalt dar.

Technologie, Gruppenprozesse und Bandengewalt Mit dem Internet verknüpfte technologische Fortschritte (zum Beispiel Twitter oder Facebook) ließen sich insbesondere durch den Gebrauch von Smartphones in bestimmte Formen kollektiven Verhaltens integrieren. Zu diesen Verhaltensformen zählen auch politischer Widerstand und ziviler Ungehorsam, wie sie in den Aufständen des Arabischen Frühlings, den Londoner Ausschreitungen von 2011 und den Occupy-Bewegungen in den usa zu beobachten waren.32 Dasselbe lässt sich über Straßengangs und das Verhalten ihrer Mitglieder sa-

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Walter B. Miller, City Gangs, 2011, http://gangresearch.asu.edu/walter_miller_library /walter-b.-miller-book/city-gangs-book [6. 5. 2015]; Papachristos, Murder by Structure; Jennifer M. Whitehill u.a., »Interrupting Violence. How the Ceasefire Program Prevents Imminent Gun Violence through Conflict Mediation«, in: Journal of Urban Health 2014, H. 1, S. 84–95. Suzanne Brunsting/Tom Postmes, »Social Movement Participation in the Digital Age Predicting Offline and Online Collective Action«, in: Small Group Research 2002, H. 5, S. 525–554; Michael D. Conover u.a., »The Digital Evolution of Occupy Wall Street«, in: PloS One 2013, H. 5, e64679; Emma Tonkin u.a., »Twitter, Information Sharing and the London Riots?«, in: Bulletin of the American Society for Information Science and Technology 2012, H. 2, S. 49–57.

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gen.33 In ihren Online-Beiträgen glorifizieren die Mitglieder den Lebensstil der Gangs, illegal heruntergeladene Musik und Filme und provozieren ihre Rivalen durch aggressives Gerede.34 Auf demselben Weg rekrutieren die Gangs neue Mitglieder, posten Videos, um ihre »Marke« zu profilieren und zu verbreiten, und vernetzen sich online.35 Diese Verhaltensweisen bilden nur einen kleinen Ausschnitt aus den Wechselwirkungen von Technologie und kollektivem Verhalten. Gruppenprozesse können sich online äußern, durch Technologie verstärkt werden und zur Gewalt auf der Straße beitragen.

Gruppenprozesse ins Internet bringen Gruppenprozesse spielen sich traditionellerweise auf persönlicher Ebene ab, und der gemeine Menschenverstand sagt uns, dass sich Vertrauen und andere Beziehungsdimensionen nicht so leicht online entwickeln,36 insbesondere nicht unter Kriminellen.37 Mit zunehmender Integration der Technologie in den Alltag wurden allerdings gewisse Elemente der sozialen Beziehungen in die virtuelle Welt ausgelagert.38

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35 36

37 38

Carlo Morselli/David Décary-Hétu, »Crime Facilitating Purposes of Social Networking Sites. A Review and Analysis of the ›Cyberbanging‹ Phenomenon«, in: Small Wars and Insurgencies 2013, H. 1, S. 152–170; Moule u. a., Internet Adoption and Online Behavior; Pyrooz u. a., Criminal Routine Activities in Online Settings. Pyrooz u.a., ebenda; Revital Sela-Shayovitz, »Gangs and the Web. Gang Members’ Online Behavior«, in: Journal of Contemporary Criminal Justice 2012, H. 4, S. 389–405; Sarah Womer/Robert J. Bunker, »Surenos Gangs and Mexican Cartel Use of Social Networking Sites«, in: Small Wars and Insurgencies 2010, H. 1, S. 81–94. Moule u.a., Internet Adoption and Online Behavior. Samantha Henderson/Michael Gilding, »›I’ve Never Clicked with Anyone that Much in My Life‹. Trust and Hyperpersonal Communication in Online Friendships«, in: New Media & Society 2004, H. 4, S. 487–506; Leigh Thompson/Janice Nadler, »Negotiating via Information Technology. Theory and Application«, in: Journal of Social Issues 2002, H. 1, S. 109–124. James A. Densley, How Gangs Work. An Ethnography of Youth Violence, Basingstoke 2013; Pyrooz u.a., Criminal and Routine Activities in Online Settings. John A. Bargh/Katelyn Y. McKenna, »The Internet and Social Life«, in: Annual Review of Psychology 2004, S. 573–590; Katelyn McKenna/John A. Bargh, »Plan 9 from Cyberspace. The Implications of the Internet for Personality and Social Psychology«, in: Personality and Social Psychology Review 2000, H. 1, S. 57–75; Russell Spears

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Forschungen haben beispielsweise gezeigt, dass Menschen im Internet romantische Beziehungen eingehen, die anschließend auch in der Offline-Welt Bestand haben.39 Auch Gruppenverhaltensweisen haben sich ins Netz verlagert. Genauso wie Bandenmitglieder an Straßenecken Zeit zusammen verbringen, so hängen sie jetzt online miteinander ab, veranstalten Online-Treffen und bauen im Internet über Glücksspiele und Pornografie Beziehungen zueinander auf.40 Diese Online-Aktivitäten helfen, die kollektive Identität der Gang durch gemeinsame Erfahrungen und gemeinsame Interessen zu schmieden. Interaktionen zwischen den Gangmitgliedern können angesichts des unbeschränkten Zugangs zueinander, den die neuen Technologien ermöglichen, sogar häufiger werden. Die Offline-Interaktionen sind gegenwärtig eine Vorbedingung für viele Online-Verhaltensweisen der Gangs. Da die meisten Gangmitglieder in unmittelbarer Nachbarschaft leben und miteinander direkten persönlichen Umgang pflegen, sind die Kommunikationstechnologien allerdings noch kein grundsätzlich notwendiger Bestandteil der Gruppe. Das Web hat heute folglich eher die Funktion, persönliche Gruppenprozesse zu ergänzen, als sie zu ersetzen.41

39

40 41

u.a., »When Are Net Effects Gross Products? The Power of Influence and the Influence of Power in Computer-Mediated Communication«, in: Journal of Social Issues 2002, H. 1, S. 91–107. Gunter J. Hitsch u.a., »Matching and Sorting in Online Dating«, in: The American Economic Review 2010, H. 1, S. 130–163; Jessica M. Sautter u.a., »The Social Demography of Internet Dating in the United States«, in: Social Science Quarterly 2010, H. 2, S. 554–575. Sela-Shayovitz, Gangs and the Web. James A. Densley, »Street Gang Recruitment. Signaling, Screening, and Selection«, in: Social Problems 2012, H. 3, S. 301–321; Densley, How Gangs Work; Tom R. Tyler, »Is the Internet Changing Social Life? It Seems the More Things Change, the More they Stay the Same«, in: Journal of Social Issues 2002, H. 1, S. 195–205. Wir vermuten, dass dies möglicherweise nicht mehr der Fall sein wird, wenn sich Gangs und die Technologie einander mit der Zeit weiter annähern und entwickeln. Die Technologie wird wahrscheinlich in dem Maße ein immer wichtigerer Bestandteil des Bandenlebens werden, wie jene Personen, die sich Gangs anschließen, zunehmend den aufkommenden und immer allgemeiner verbreiteten Formen von Technologie ausgesetzt sein werden (etwa Handys oder sozialen Medien). Vorläufige Belege dafür lassen sich der Literatur über Terrororganisationen entnehmen. Vgl. Gabriel Weimann, »Virtual Disputes. The Use of the Internet for Terrorist Debates«, in: Studies in Conflict and Terrorism 2006, H. 7, S. 623–639.

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Die Internet-Präsenz der Gangs und der neuen oder potenziellen Rekruten ermöglicht es mehr beteiligten Mitgliedern, ihr Verhalten wechselseitig zu überwachen. Seiten wie Facebook, YouTube, Twitter und Handy-Applikationen ermöglichen die Überwachung von Mitgliedern der eigenen Gruppe. Die Online-Überwachung konzentriert sich auf ähnliche Verhaltensweisen wie bei der Überwachung auf der Straße: Beargwöhnt wird, wer nicht ausreichend für die Ehre der Gang kämpft, wer mit den Mitgliedern rivalisierender Gangs in Kontakt steht oder wer Gang-Interna ausplaudert.42 Zu den unerwünschten Tätigkeiten gehört auch exzessives Prahlen im Internet. Menschen haben die Tendenz, das, was sie online sagen oder tun, weniger kritisch zu filtern,43 und ohnehin ist die Impulskontrolle von Gangmitgliedern tendenziell äußerst gering.44 Es ist wichtig, auf derartige Verhaltensweisen ein Auge zu haben, weil Gerüchte und Klatsch – wichtige Aspekte des kollektiven Verhaltens45 – online leicht auf fruchtbaren Boden fallen.46 Und außerdem lässt sich die online gestellte Information nicht vor den neugierigen Blicken der Polizei und der rivalisierenden Gangs verbergen. So gab ein Bandenmitglied David Pyrooz und seinen Kollegen zu Protokoll: »[Wir] reden nicht darüber, weil die Polizei auch drinnen ist.«47 Es zu tun, hieße, den Zorn der eigenen Gangmitglieder heraufzubeschwören, wobei diejenigen, die gegen die Regeln verstoßen, wahrscheinlich mit physischer Gewalt bestraft würden.48 Diese letztere Überlegung ist wesentlich. Netzverhalten kann die Gewalt in der Gang als Mittel der Normendurch42 43 44

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47 48

Felix Padilla, »The Working Gang«, in: Malcom W. Klein u.a. (Hg.), The Modern Gang Reader, Los Angeles 1995, S. 53–61. Qing Li, »New Bottle but Old Wine. A Research in Cyber Bullying in Schools«, in: Computers in Human Behavior 2007, H. 4, S. 1777–1791. Jason Kissner/David C. Pyrooz, »Self-Control, Differential Association, and Gang Membership. A Theoretical and Empirical Extension of the Literature«, in: Journal of Criminal Justice 2009, H. 5, S. 478–487. Ralph H. Turner, »Collective Behavior«, in: Robert E. L. Faris (Hg.), Handbook of Modern Sociology, Chicago 1964, S. 382–425. Jeffrey M. Ayres, »From the Streets to the Internet. The Cyber-Diffusion of Contention«, in: The Annals of the American Academy of Political and Social Sciences 1999, H. 11, S. 132–143; Brunsting/Postmes, »Social Movement Participation in the Digital Age«. Pyrooz u.a., Criminal and Routine Activities in Online Settings, S. 8. Decker/Van Winkle, Life in the Gang.

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setzung beeinflussen, die wiederum die Solidarität innerhalb der Gruppe stärkt. Genauso wie Online-Erfahrungen innerhalb der Gang Gruppenprozesse prägen und verstärken können, ermöglicht das Netz den Mitgliedern auch, Rivalen zu überwachen, zu verspotten und zu schikanieren, herauszufinden, wie diese ihren Status pflegen, und Zufallsbekanntschaften mit anderen Gangs und Gruppen zu schließen.49 Solche Verhaltensweisen zementieren die »Wir/sie«-Mentalität und verstärken die Gruppenprozesse in den Gangs. Sie können als Katalysatoren für Straßengewalt fungieren, weil sie eventuell der Funke sind, der ein unter der Oberfläche des Bandenlebens schwelendes und nur auf einen Brandbeschleuniger wartendes Feuer entzündet. Beleidigungen und Drohungen, die mittels der aufkommenden Technologien etwa von einem Wohnzimmer, einem Auto oder der Straße aus ausgestoßen werden, können die Funktion eines solchen Brandbeschleunigers übernehmen. Als Nächstes wollen wir untersuchen, wie Online-Dynamiken die Offline-Bandengewalt befördern können.

Technologie und der Zyklus der Bandengewalt Gruppenprozesse und kollektive Identität sind die Quellen, aus denen sich Gruppenkonflikte und Bandengewalt speisen. Die Technologien sind keine notwendige Voraussetzung für den Ausbruch der Gewalt; sie können einem solchen Ausbruch aber auf neuartige oder unerwartete Weise förderlich sein. Je weiter sie verbreitet sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich Gangs dieser Technologien bedienen; typische Beispiele hierfür sind Waffen und Automobile,50 die zugleich 49

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David Décary-Hétu/Carlo Morselli, »Gang Presence in Social Network Sites«, in: International Journal of Cyber Criminology 2011, H. 2, S. 876–890; Pyrooz u.a., Criminal and Routine Activities in Online Settings. Alfred Blumstein, »Youth Violence, Guns, and the Illicit Drug Industry«, in: Journal of Criminal Law and Criminology 1995, H. 1, S. 10–36; Walter B. Miller, Violence by Youth Gangs and Youth Groups as a Crime Problem in Major American Cities, Washington 1975; Adam M. Watkins u.a., »Patterns of Gun Acquisition, Carrying, and Use among Juvenile and Adult Arrestees. Evidence from a High-Crime City«, in: Justice Quarterly 2008, H. 4, S. 674–700.

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als Statussymbol und als Mittel fungieren, um sich einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Rivalen zu sichern. Waffen und Autos haben mit anderen Worten Bandenkonflikte ungleich wahrscheinlicher gemacht, weil die Mitglieder mit ihrer Hilfe schwere Gewalttaten begehen können, ohne unmittelbar miteinander in Kontakt zu kommen. Vieles weist darauf hin, dass die Gangs und ihre Mitglieder heute – ganz ähnlich wie im »Waffenwettlauf« der 1990er Jahre – angefangen haben, das Internet für Gangaktivitäten zu nutzen. Da die Internetnutzung zunimmt, haben wir Grund zu der Annahme, dass diese Technologie die Bandengewalt prägen wird. Doch in welcher Form beeinflussen die Verhaltensweisen im Netz die Gewalt auf den Straßen? Wir möchten die Antwort auf diese Frage in unser Wissen über den Zyklus der Bandengewalt einordnen. Das Internet und verwandte Technologien verändern kriminelle Möglichkeitsstrukturen und Kommunikationsprozesse, in denen sich eine gemeinsame Definition einer für die Identität der Gruppe relevanten Situation – die potenziell eine gewaltsame Antwort erfordert – herausbildet.51 Man muss keinen direkten persönlichen Kontakt herstellen, um jemanden im Netz zu schikanieren oder herabzuwürdigen, um zu Gewalt aufzurufen oder bösartige Gerüchte in Umlauf zu bringen.52 Wie schon betont, sind derartige Verhaltensweisen für die Gangmitglieder von herausragendem Interesse, weil sie kollektive Identitäten und Verpflichtungen, die ein konstitutiver Bestandteil der Gangmitgliedschaft sind, beschädigen oder infrage stellen können. Im Internet verbreiten sich Informationen über reale oder wahrgenommene Bedrohungen in Windeseile. Gerüchte über die Anwesenheit einer rivalisierenden Gang in einem bestimmten Territorium, über die Schikanierung eines Mitglieds der eigenen Gang oder Videos von herab51

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Graeme R. Newman/Ronald V. Clarke, Superhighway Robbery. Preventing E-Commerce Crime, New York 2003; Travis C. Pratt u.a., »Routine Online Activity and Internet Fraud Targeting. Extending the Generality of Routine Activity Theory«, in: Journal of Research in Crime and Delinquency 2010, H. 3, S. 267–296; Robert W. Taylor u.a., Digital Crime and Digital Terror, Upper Saddle River 2010. Sameer Hinduja/Justin W. Patchin, »Offline Consequences of Online Victimization. School Violence and Delinquency«, in: Journal of School Violence 2007, H. 3, S. 89–112; Justin W. Patchin/Sameer Hinduja, »Bullies Move Beyond the Schoolyard. A Preliminary Look at Cyberbullying«, in: Youth Violence and Juvenile Justice 2006, H. 2, S. 148–169.

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würdigendem Verhalten (zum Beispiel dem Protzen mit Ganginsignien, dem Tragen der Farben rivalisierender Gangs) können schnell in aller Munde sein, wenn Facebook-Posts »geliket«, Twitter-Nachrichten »retweetet« und YouTube-Videos »eingebettet« werden und die Hashtags in all diesen Foren Zugkraft entwickeln. Genau wie auf der Straße spielt es keine Rolle, ob diese Gerüchte begründet sind, und es ist auch egal, ob die Videobeweise alt oder neu sind oder überhaupt irgendeiner Tatsache entsprechen.53 Allein schon die Möglichkeit einer Bedrohung ist hier entscheidend. So heißt es zum Beispiel bei Malcolm Klein: »Ich kann Ihnen nicht sagen, ob es einen ersten Angriff gab – das stimmt vielleicht nicht einmal. Wenn sie das Gefühl haben, ihre Gangmitglieder seien angegriffen worden, dann ist das für sie mehr als genug; sie werden einfach rausgehen und sich rächen.«54 Die Mitglieder können aber auch gezielt nach Informationen über potenzielle Rivalen suchen. Gangmitglieder erzählten David Pyrooz und Kollegen, dass sie häufig nach Nachrichten rivalisierender Gangs suchten, nur um auf dem Laufenden zu bleiben.55 Auf der Website HoodUp etwa tauschen sich Gangmitglieder über Cliquen, Schauplätze und andere Gangs aus, um etwas über den Treffpunkt, das Ansehen und die potenzielle Gefährlichkeit vormals unbekannter Banden herauszufinden. Das folgende Beispiel stammt aus einem Forum der (US-amerikanischen) Westküste. Die zitierten Posts beschäftigen sich mit dem Tod eines Gangmitglieds aus Los Angeles: »Thema: ›Nut‹ [Name des Bandenmitglieds] von den Main Street [Bandenname] wurde heute Morgen auf der 98., zwischen Main und B[road]way [Straßennamen] umgebracht. Kommentator 1: Das ist wahrscheinlich der heißeste Krieg in MitteSüd dieser Tage. Der Broadway da drüben steht in Flammen, Rivalen auf beiden Straßenseiten. Hab einen Schwarzen in blauen Khaki-Klamotten gesehen, mit Tuch [Bandenuniform] um den Hals, der seinen Pitbull spazieren führte, das ist ziemlich dreist. Kommentator 2: Wo denn, auf Facebook? Hör auf zu lügen, du Valley-

53 54 55

Lorine A. Hughes/James F. Short Jr., »Disputes Involving Youth Street Gang Members. Micro-Social Contexts«, in: Criminology 2005, H. 1, S. 43–76. Malcolm W. Klein, Gang Cop. The Words and Ways of Officer Paco Domingo, Walnut Creek 2004, S. 128. Pyrooz u.a., Criminal and Routine Activities in Online Settings.

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Joe-Clown [abschätziger Name für Gangs aus einem weniger gewalttätigen Block von Los Angeles]. Kommentator 3: Oh ja, […] es war alles ziemlich heftig dort heute Morgen. […] Diese Leute überall, wo du hinkommst!!! Alles schrecklich in dieser Gegend!!! Kommentator 2: Da ist es schmierig [schlimm], Cuz [Anrede für ein Mitglied der Crip Gang]. Kommentator 4: Die Vers [eine Gang] haben endlich geschnallt, dass sie Eier haben. Kommentator 5: Wie wissen die Nigger, dass es die Vers waren? […] Sind nicht die einzigen Enemigos [Begriff für Hispanics], die die Mains [Bandenname] in dieser Gegend haben […] Kann doch jeder von ihnen gewesen sein!!! Kommentator 6: [zu Kommentator 1] Oh ja, ich hab gerade einen Nigger gesehen, der mir selbst in San Pedro mit blauen Klamotten entgegenkam. Die Nigger fangen an, das cool zu finden, ihre GangKlamotten rumzuzeigen, oder es geht ihnen einfach am Arsch vorbei […], und die Nigger reden wie die abgehalfterten Vers oder so. Mehr oder weniger jeden Tag fallen Schüsse, aber klar, nicht jede Ballerei ist ein Volltreffer [Tod]. Die Gegend wird wieder superheiß in diesem Sommer. Also, ihr Nigger, bleibt alle in euren Löchern und riskiert keine dicke Lippe.«56 Dieses Forum zeigt, wie Neuigkeiten über einen Bandenmord ausgetauscht werden und wie sich das Netzwerk der Gangbeziehungen in Süd-Los Angeles entwickelt. Durch das Posten in einem öffentlichen Forum werden nicht nur Informationen verbreitet; durch die Veränderung kognitiver Landschaften werden auch Grenzen zwischen Gangs neu gezogen. So wurde in diesem Forum zum Beispiel deutlich, dass die »Vers« über Legitimität verfügen, weil sie zu Gewalttaten bereit sind. Während sich diese Information früher per »Mundpropaganda« verbreitete, geschieht dies nun auf elektronischem Weg. Dadurch kann sie viel schneller ein viel größeres Publikum erreichen. In der Bereitschaft der Gangmitglieder, auf Websites wie HoodUp zu gehen und sich über den Stand der Be56

http://thehoodup.com/board/viewtopic.php?f=23&t=103578#.U43zrbzhyme [6. 5. 2015]. Einige Kommentare wurden übergangen, wenn sie für die Bandenszene unwichtig waren (etwa »rip: rest in peace«).

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ziehungen zwischen den Gangs zu informieren, spiegeln sich vorbeugende Sorgen über mögliche Rivalen wider. Die Seiten sind Wasser auf den Mühlen des mythischen Systems der Gewalt und der kollektiven Identität, das in den Gangs herrscht. Innerhalb dieses Systems finden sich zahlreiche potenzielle Bedrohungen, und die Mitglieder müssen darauf gefasst sein, dass diese Bedrohungen manifest werden. Solche Manifestierungen sind mobilisierende Ereignisse; sie bilden das nächste Glied in der Kette der Bandengewalt. Da mobilisierende Ereignisse nicht unbedingt mit physischer Gewalt einhergehen müssen, ist das Internet ein besonders passendes Medium für ihre Entstehung. Beispiele hierfür sind das Posten von Videos, in denen die Namen einzelner Rivalen, Namen von Straßen oder Stadtvierteln genannt werden, in denen Graffiti übersprüht oder Leute aus der Nachbarschaft drangsaliert werden. Eine andere Art von mobilisierendem Ereignis ist das »Netbanging«, bei dem man herabwürdigende Kommentare über die Gang eines Rivalen auf dessen FacebookSeite postet.57 Straßenkämpfe lassen sich mit dem Handy aufnehmen und anschließend online stellen. Solche »digitalen Fußabdrücke« sind langlebig, und es ist nicht einmal gesagt, dass sie sich im Laufe der Zeit abnutzen. Ein YouTube-Video, in dem eine Gang die andere provoziert, kann nach zwei Jahren noch genauso mobilisierend wirken wie nach zwei Tagen. Solche Videos halten für eine Gang die Erinnerung an demütigende Erfahrungen wach; sie stählen die jeweiligen kollektiven Identitäten und markieren den Beginn eines ernsten Konflikts. Mobilisierende Ereignisse führen zu einer Eskalation der Feindseligkeiten und der Gewalt zwischen Gangs. Mit zunehmender Dauer dieser Konflikte variiert die Wahrscheinlichkeit ihrer Ausgänge. Zwei von ihnen, Gewalt und Vergeltung, weisen auf einen eskalierenden oder anhaltenden Konflikt hin. Im Hinblick auf diese Resultate nehmen wir an, dass die Technologie auch weiterhin ähnliche Funktionen übernehmen wird wie oben beschrieben. Fortwährende Gewalt bietet reichlich Gelegenheit für filmreifes Verhalten – unter anderem

57

Desmond U. Patten u.a., »Internet Banging. New Trends in Social Media, Gang Violence, Masculinity, and Hip Hop«, in: Computers in Human Behavior 2013, H. 5, A54-A59; Desmond U. Patten u.a., »Social Media as a Vector for Youth Violence. A Review of the Literature«, in: Computers in Human Behavior 2014, doi: 10.1016/j.chb.2014. 02. 043.

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das Bezwingen von Feinden, Siegesfeiern und Warnungen für die Zukunft. Die beiden anderen möglichen Ausgänge des Zyklus der Bandengewalt, Intervention und Deeskalation, verdienen eine eingehendere Betrachtung. Ist das Internet in der Lage, Konflikte und Gewalt zwischen Gangs zu entschärfen? Zum einen werden Interventionsbemühungen der Sicherheitskräfte unter diesen Umständen wohl leichter möglich und könnten sicher schneller umgesetzt werden. Dies gilt umso mehr, je allgemeiner antagonistisches Gangverhalten online verfügbar und damit bekannter wird. Unsere Transkription von Posts auf der HoodUp-Website verdeutlicht, welche Möglichkeiten sich den Sicherheitskräften hier eröffnen, um Informationen über das Bandenwesen zu sammeln und deren Stichhaltigkeit zu prüfen. Andererseits gehen wir davon aus, dass sich die Deeskalation von Konflikten im Zeitalter des Internets wesentlich verzögert. Die »Allgegenwart« der Rivalen im Netz und der dauerhafte Hype, den die sozialen Medien bewirken, bedeuten zusammen genommen, dass potenzielle Konflikte vielleicht niemals wirklich abflauen können, sondern permanent am Köcheln gehalten werden. Außerdem wird eine Deeskalation möglicherweise nur von kurzer Dauer sein, da sich die Gegnerschaft im Netz so leicht aufrechterhalten lässt. Das Internet und verwandte Technologien werden nicht verschwinden. Wir haben im Gegenteil guten Grund zu der Annahme, dass diese Technologien durch zukünftige Innovationen (wie Kameras, die man als Armbanduhren oder Brillen tragen kann) im Alltag eine immer größere Rolle spielen werden. Das gilt nicht nur für die allgemeine Öffentlichkeit, sondern auch für Personen, die sich an Straftaten beteiligen.58 Diese Erkenntnis ist in unserem Zusammenhang deshalb von besonderer Bedeutung, weil es so aussieht, als könnten Gruppenprozesse, Technologie und der Zyklus der Bandengewalt einander auf komplementäre Weise ergänzen.

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Moule u.a., What the f#@% is a Facebook.

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Schlussfolgerung Technologien wie das Internet eröffnen faszinierende neue Möglichkeiten, um Gangs und Gruppenprozesse zu verstehen. Im vorliegenden Aufsatz haben wir uns vornehmlich mit zwei Fragen befasst. Erstens: Auf welche Weise können Gruppenprozesse Technologien wie das Internet beeinflussen beziehungsweise umgekehrt von diesen beeinflusst werden? Zweitens: Welche Rolle spielen die Technologie und das Online-Verhalten von Gangs für die Beförderung der Straßengewalt? Es ist wichtig zu verstehen, in welcher Form sich diese Gebiete heute immer weiter überschneiden; die meisten Erkenntnisse, über die wir im Augenblick verfügen, sind im Wesentlichen beschreibend. Wir sollten uns deshalb überlegen, in welche Richtung die Erforschung dieser Fragen in Zukunft gehen sollte. Zunächst einmal bleibt aufzuklären, wie sich die Gangmitglieder durch das Aufrechterhalten von Regeln gegenseitig kontrollieren.59 Das Internet ist eine neue Plattform der informellen sozialen Kontrolle (des Überwachens und Durchsetzens sozialer Normen und Verhaltensweisen) innerhalb der Gang. Unterscheiden sich die Sanktionen für Regelverstöße im Internet von denen für Verstöße auf der Straße? Und wer sanktioniert derartige Verhaltensweisen? Lässt sich, anders gesagt, die Reputation in einer Gang durch aggressives Online-Verhalten mehren? Bisherige Indizien legen nahe, dass die Mitglieder bei Angelegenheiten, die ihre Gang betreffen, dem Internet keine allzu große Bedeutung beimessen,60 obwohl das sicherlich nicht die ganze Wahrheit ist. Diese Fragen berühren die ganginternen Gruppenprozesse, wie etwa die Herausbildung einer gemeinsamen Identität, das soziale Ansehen, die Entstehung kollektiver Repräsentationen (zum Beispiel durch Gerüchte) und die kollektive Verantwortung. Zweitens wird der Übertragungseffekt des Online-Verhaltens auf die Straßengewalt wahrscheinlich durch eine Reihe von Faktoren beeinflusst, die sich von der individuellen Ebene bis zur Makroebene er-

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Decker/Van Winkle, Life in the Gang; Jody Miller, »Gender and Victimization Risk among Young Women in Gangs«, in: Journal of Research in Crime and Delinquency 1998, H. 4, S. 429–453. Pyrooz u.a., Criminal and Routine Activities in Online Settings.

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strecken.61 Soziale und ökonomische Faktoren zusammen beeinflussen die Nutzung des Internets und verwandter Technologien.62 Eine Erleichterung des Internet-Zugangs durch öffentliches Wi-Fi, Smartphones und terrestrische Verbindungen bereiten den Weg für öffentliche Fehden in den sozialen Medien und für die Überschneidung von Online- und Offline-Welt. Diese Überschneidung ist wahrscheinlich bei Jugendlichen besonders groß, und sie dürfte dann weiter zunehmen, wenn der Bevölkerungsanteil dieser Altersgruppe in einem Stadtteil wächst. Auch die Straßenkultur eines Stadtteils spielt hier eine Rolle.63 Je weitgehender die Gesetze der Straße das Verhalten prägen, desto größer dürften auch die Überschneidungen zwischen Online- und Offline-Gewalt sein. Die Internalisierung der Straßencodes bedeutet, dass Menschen die online verbreiteten Gerüchte, Klatschgeschichten und Schwierigkeiten wahrscheinlich ernster nehmen und das Bedürfnis haben werden, auf derartige Verhaltensweisen persönlich zu reagieren. Diese Bedingungen müssen auf Makroebene gegeben sein, damit eine Beteiligung an der Online-Offline-Überschneidung auf der Gang-Ebene oder der individuellen Ebene plausibel wird. Auf der Gang-Ebene kann man davon ausgehen, dass der Stand des technologischen Knowhows – technologische Kenntnisse und Einstellungen gegenüber der Technologie – das Online-Verhalten und die Überschneidung von Gewalt im Internet und auf der Straße beeinflussen. Die meisten Mitglieder verfügen nur über geringe technologische Fähigkeiten und beschränken sich im Netz hauptsächlich auf nicht kriminelle Aktivitäten.64 Je größer die technischen Fähigkeiten der Nutzer, desto häufiger beteiligen sie sich somit an unterschiedlicheren Formen von Online-Kriminalität; sie gehen vom einfachen Klatsch und Tratsch in den sozialen Medien zu komplexeren Formen des Hackens 61

62

63 64

James F. Short Jr., »The Level of Explanation Problem in Criminology«, in: Robert F. Meier (Hg.), Theoretical Methods in Criminology, Beverly Hills 1985, S. 51–74; James F. Short Jr., »The Level of Explanation Problem Revisited – The American Society of Criminology 1997 Presidential Address«, in: Criminology 1998, H. 1, S. 3–36. Eszter Hargittai, »Weaving the Western Web. Explaining Differences in Internet Connectivity among oecd Countries«, in: Telecommunications Policy 1999, H. 11/12, S. 701–718; Everett Rogers, Diffusion of Innovations, New York 2003. Mark T. Berg, »The Victim-Offender Overlap in Context. Examining the Role of Neighborhood Street Culture«, in: Criminology 2012, H. 2, S. 359–390. Pyrooz u.a., Criminal and Routine Activities in Online Settings.

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und Schikanierens über.65 Rivalisierende Gangs sind die hauptsächliche Zielgruppe dieser Schikanen, zu denen etwa auch das provozierende Gerede der anderen Gang gegenüber gehört. Insofern Beleidigungen im Internet Konflikte zwischen Gruppen in Gang setzen, sollte man erwarten, dass Banden, die sich aktiver am Online-Beleidigen beteiligen, auch in der realen Welt stärker in Gewalttaten verwickelt sind. Man darf annehmen, dass sich stark geschlossene Gangs für Online-Gewalt rächen, da die gemeinsamen Identitäten in diesen Gruppen am festesten sind. Dieser Zusammenhang wird in Gegenden, in denen viele Banden aktiv sind, noch augenfälliger sein. Angesichts der Tatsache, dass Konflikte durch Nähe befördert werden, sollte man davon ausgehen, dass die Verbindung zwischen Online- und Offline-Gewalt dort besonders stark ist, wo viele Gangs auf engem Raum miteinander konkurrieren.66 Drohungen aus fernen Gegenden (zum Beispiel aus anderen Städten oder Ländern) werden für die Gang voraussichtlich keine ausreichende Bedrohung darstellen; sie werden also nicht ernst genommen oder als ernst zu nehmende Bedrohung der kollektiven Bandenidentität wahrgenommen.67 Wenn wir uns nun den Individuen zuwenden, dann unterstellen wir, dass die Verbindung von Online-Erfahrungen und Offline-Gewalt bei jenen Personen zum Tragen kommt, die besonders stark in die Gang integriert sind.68 Diese Personen sind am anfälligsten für Gruppenprozesse, und man kann vermuten, dass Bedrohungen der Gruppe für sie am salientesten sind. Außerdem sollte man eine Teilhabe an der Überschneidung am ehesten von denjenigen Personen erwarten, die sich dem Gesetz der Straße am meisten verpflichtet fühlen und nur 65 66 67

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Sela-Shayovitz, Gangs and the Web. Brantingham u.a., The Ecology of Gang Territorial Boundaries; Taniguchi, Gang Set Space. Dies steht im Gegensatz zu Fällen, bei denen sich religiöse Extremisten infolge von Videos oder Nachrichten, die ihre tief verwurzelten religiösen Überzeugungen und Identitäten bedrohen, an Gewalttaten beteiligen oder an einer Androhung solcher Taten. Vgl. Mina Al-Lami u.a., »Mobilization and Violence in the New Media Ecology. The Dua Khalil Aswad and Camilia Shehata Cases«, in: Critical Studies on Terrorism 2012, H. 2, S. 237–256; Liesbet van Zoonen u.a., »YouTube Interactions between Agonism, Antagonism and Dialogue. Video Responses to the Anti-Islam Film Fitna«, in: New Media and Society 2011, H. 8, S. 1283–1300. Pyrooz u.a., Continuity and Change in Gang Membership and Gang Embeddedness; Sweeten u.a., Disengaging from Gangs and Distance from Crime.

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über eine schwache Selbstkontrolle verfügen.69 Außerdem schafft eine aktive Netzpräsenz Gelegenheiten für Beschimpfungen und Schikane.70 Diese Faktoren vergrößern die Überschneidung zwischen Online- und Offline-Gewalt. Ganz ähnlich wie für die Ebene der Gang gilt auch für die Individuen, dass sie sich für Online-Schikane rächen werden, wenn sie den Täter kennen und dieser sich in ihrer räumlichen Nähe befindet. Drittens stellt die zunehmende Präsenz der Gangs im Internet eine einzigartige Herausforderung für die Rechtsdurchsetzung dar. Kann man die Internetnutzung der Gangs zur Grundlage nehmen, um zukünftige Gewalt auf der Straße vorherzusagen? In der jüngeren Vergangenheit wurden die Verhaltensmuster im Netz und in der analogen Welt korreliert. Antenucci und Kollegen haben gezeigt, dass beliebte Themen und Schlüsselbegriffe aus Twitter Wirtschaftsschwankungen, insbesondere Anträge für Arbeitslosengeld, vorhersagen können.71 Da die Daten in Echtzeit gesammelt werden, sind sie auch hilfreich im Hinblick auf besondere Ereignisse (etwa den Hurrikan Sandy, das Einfrieren der öffentlichen Haushaltsmittel in den usa im Jahr 2013). Einen ähnlichen Ansatz kann man auch in Bezug auf Bandengewalt verfolgen. Schlüsselbegriffe (wie etwa der Slang oder die Namen der Gangs) können in bestimmten begrenzten Zeiträumen auf latente oder aktuelle Straßengewalt hinweisen. Wenn es gelingt, diese Begriffe, Trends und besonderen Ereignisse (etwa einen Bandenmord) zu identifizieren, dann könnten Interventionsbemühungen davon profitieren. Ob man sich für Städte und Stadtviertel ähnlicher Modelle bedienen kann, bleibt abzuwarten. Nichtsdestoweniger geben diese Ansätze eine im Prinzip ertragreiche, wenn auch schwierige Richtung für die zukünftige Forschung vor. 69

70 71

Elijah Anderson, Code of the Street. Decency, Violence, and the Moral Life of the Inner City, New York 1999; Kristy N. Matsuda u.a., »Gang Membership and Adherence to the ›Code of the Street‹«, in: Justice Quarterly 2013, H. 3, S. 440–468; Michael R. Gottfredson/Travis Hirschi, A General Theory of Crime, Stanford 1990; Kissner/ Pyrooz, Self-Control, Differential Association, and Gang Membership. Vgl. etwa Majid Yar, »The Novelty of ›Cybercrime‹. An Assessment in Light of Routine Activity Theory«, in: European Journal of Criminology 2005, H. 4, S. 407–427. Dolan Antenucci u.a., »Using Social Media to Measure Labor Market Flows« (Nr. w20010). National Bureau of Economic Research, http://www-personal.umich.edu/ ~shapiro/papers/LaborFlowsSocialMedia.pdf [19. 6. 2015].

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Das Aufkommen der Technologie als eines integralen Bestandteils des Bandenlebens ist ein relativ junges Phänomen. Als Decker und Van Winkle vor zwei Jahrzehnten Daten für ihr Buch Life in the Gang zusammentrugen, war keine Rede vom Internet. Und selbst vor zehn Jahren konnte Papachristos noch bemerken, dass »sich wenige Gangmitglieder über das Internet unterhalten oder es überhaupt erwähnen. Viele besitzen weder die Hardware noch die Software noch die technischen Fähigkeiten (ganz zu schweigen von den notwendigen Telefonanschlüssen), um sich im Netz zurechtzufinden.«72 Das gilt heute nicht mehr. In den nächsten Jahren werden sich das Bandenwesen und die Technologie weiter aufeinander zubewegen. Die hier referierten Themen werden zweifellos im Mittelpunkt einer solchen Annäherung stehen. Sie sind es wert, sowohl von der Wissenschaft als auch von Fachleuten und Politikern etwas genauer in Augenschein genommen zu werden. Aus dem Englischen von Bettina Engels

72

Andrew V. Papachristos, »Gang World«, in: Foreign Policy 2005, H. 2, S. 48–55; hier: S. 53.

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Thomas Klatetzki

»Hang ’em high« Der Lynchmob als temporäre Organisation

Wenn man als Westeuropäer an das Lynchen denkt, dann assoziiert man mit dieser Form von kollektiver Gewaltausübung wohl vor allem zweierlei, nämlich zum einen die aus Fernsehserien und Kinofilmen bekannten Darstellungen dieser Gewaltform im »Wilden Westen« der usa und zum anderen das Lynchen schwarzer Amerikaner in den Südstaaten der usa, das dort bis in die 1950er Jahre des letzten Jahrhunderts praktiziert wurde. Solche Assoziationen legen nahe, dass das Lynchen ein partikulares amerikanisches Phänomen ist, das zudem einer vergangenen Zeit angehört. Neuere, vor allem von Historikern und Ethnologen durchgeführte Forschungen widerlegen diese Sichtweise.1 Das Lynchen ist ein weltweites und auch zeitgenössisches Phänomen. Hier sind einige Belege für diese Behauptung: Im November 2004 wurden drei verdeckt ermittelnde Drogenfahnder in der Stadt San Juan Ixtayopan von einem wütenden Mob gelyncht. Eine Menge von Personen hatte gesehen, wie die Männer Fotos machten, und sie nahmen an, dass die Beamten planten, Kinder aus einer Grundschule zu entführen. Obwohl die Polizeibeamten sich ausweisen konnten, wurden sie mehrere Stunden festgehalten und geschlagen, bevor zwei von ihnen getötet und angezündet wurden.2 Eine Frau wurde in Guatemala City im Dezember 2009 von einem Mob angegriffen, der der Ansicht war, sie hätte versucht, Passagiere eines Busses zu bestehlen. Die Frau wurde geschlagen, halb nackt ausgezogen, mit Benzin übergossen und angezündet; es gelang ihr jedoch

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David Pratten/Atreyee Sen (Hg.), Global Vigilantes, London 2007; Manfred Berg/ Simon Wendt (Hg.), Globalizing Lynching History. Vigilantism and Extralegal Punishment from an International Perspective, New York 2011; Robert W. Thurstone, Lynching. American Mob Murder in Global Perspective, Burlington 2011. Nils A. Uildriks, Policing Insecurity. Police Reform, Security, and Human Rights in Latin America, Lanham 2009.

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das Feuer zu löschen, bevor sie lebensgefährliche Verletzungen erlitt. Die Polizei schritt ein und inhaftierte die Frau, wobei sie gezwungen wurde, auch in der Arrestzelle weiterhin halbnackt zu bleiben. Es wird geschätzt, dass in Guatemala im Jahr 2009 ca. 45 Personen durch Lynchmobs getötet wurden.3 In Haiti kam es nach dem Erdbeben 2010 zu wenigstens 45 Lynchaktionen, die sich gegen mutmaßliche Plünderer und vor allem gegen Voodoo-Priester richteten, die für das Ausbrechen einer Cholera-Epidemie im Katastrophengebiet verantwortlich gemacht wurden.4 Während des Kampfes der schwarzen Bevölkerung gegen die südafrikanische Apartheidspolitik in den 1980er und 1990er Jahren wurde das sogenannte Necklacing praktiziert. Bei dieser Form von Lynchjustiz wird dem Opfer ein mit Benzin getränkter Autoreifen um Hals und Arme gehängt und angezündet. Dabei verschmilzt das brennende Gummi mit dem Körper zu einer brennenden Masse, sodass ein Löschen so gut wie unmöglich ist. Diese Lynchvariante wurde in den Townships gegen vermeintliche Spitzel der damaligen Machthaber angewendet. Wie viele Personen durch das Necklacing starben, ist nicht bekannt.5 Palästinische Lynchmobs haben während der ersten und zweiten Intifada Hunderte Personen, die mutmaßlich mit Israel kollaborierten, gefoltert und gelyncht.6 Von Dezember 1998 bis Februar 1999 wurden im Distrikt Banyuwangi in Ost-Java 120 Personen wegen Hexerei von Mobs getötet.7 In der Pariser Vorstadt Pierrefitte-sur-Seine wurde im Juni 2014 ein 16-jähriger Roma im Koma liegend in einem Einkaufswagen aufgefun-

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http://www.dailymail.co.uk/news/article-1236323/Female-armed-robber-strippedbeaten-set-alight-lynch-mob.html [17. 06. 2014]. Jean M. Valme, »Officials: 45 people lynched in Haiti amid cholera fears«, http:// edition.cnn.com/2010/world/americas/12/24/haiti.cholera.killings [17. 06. 2014]. Elirea Bornman/René van Eeden/Marie Wentzel, Violence in South Africa: A Variety of Perspectives, Pretoria 1998. Tobias Kelly, »Law and Disorder in the Palestinian West Bank. The Execution of Suspected Collaborators under Israeli Occupation«, in: Pratten/Sen (Hg.): Global Vigilantes, S. 151–175; Human Rights Watch. Justice Undermined. Balancing Security and Human Rights in the Palestinian Justice System, http://www.hrw.org /reports/2001/pa/ [17. 06. 2014]. Thurstone, Lynching.

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den. Der Jugendliche war zuvor von einem Dutzend Menschen verschleppt und in einem Keller brutal misshandelt worden. Die Gruppe hatte ihn für einen Einbruch in eine Wohnung verantwortlich gemacht.8 Ein Blick ins Internet zeigt, dass weitere Fälle von Lynchjustiz in der neueren Zeit unter anderem für Ägypten, Indien, Brasilien, Bolivien, Kenia, Mozambique und die Dominikanische Republik dokumentiert worden sind. Im Folgenden möchte ich versuchen, aus einer organisationssoziologischen Perspektive einen Beitrag zum Verständnis des Lynchmobs und des von ihm praktizierten Gewalthandelns zu leisten. Der Begriff Mob (lat. mobile vulgus) meint eine aufgewiegelte Volksmenge, eine Großgruppe,9 die sich spontan formiert und deren Gewalthandeln sich gegen eine Person oder gegen eine Minderheit von Personen richtet. Das Lynchen ist eine Form körperlicher Bestrafung, typischerweise in der Form von Erhängen, Erschießen, (Er-)Schlagen, Verbrennen, Auspeitschen oder Steinigen, die meist mit dem Tod endet. Der Beitrag skizziert eine Form des Lynchens, nämlich das vigilante Lynchen als Variante der Institution der Bestrafung im Rahmen einer gesellschaftlichen Ordnung gewalttätiger Selbsthilfe. Das vigilante Lynchen wird als Idealtypus aufgefasst, mithilfe dessen andere Organisationsformen des Lynchens verständlich werden. Zur Erläuterung dieser Perspektive gehe ich in drei Schritten vor. Zunächst definiere ich, was unter dem Begriff des vigilanten Lynchens zu verstehen ist. Dann skizziere ich den von mir vertretenen theoretischen Ansatz und erläutere die prozessuale und strukturelle Organisation des vigilanten Lynchens auf kognitiver und emotionaler Ebene. Abschließend wird gezeigt, wie durch die Verstetigung und Differenzierung der Organisation des vigilanten Lynchens weitere Formen dieses kollektiven Gewalthandelns erklärt werden können.

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»Verdacht auf Lynchjustiz: Roma-Teenager nach Angriff im Koma«, http://www. spiegel.de/panorama/justiz/roma-teenager-bei-paris-nach-angriff-im-koma-offen bar-lynchangriff-a-975608.html [17. 06.2014]. Großgruppen unterscheiden sich von Kleingruppen dadurch, dass nicht mehr alle Mitglieder miteinander in Face-to-Face-Interaktionen stehen.

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Lynchen als vigilantes Gewalthandeln Der Begriff des Lynchens ist zwar amerikanischen Ursprungs – er wird in der Regel auf Charles Lynch (1736–1796) zurückgeführt,10 einen Oberst und Richter, der während des Unabhängigkeitskrieges englandtreue Loyalisten und vermeintliche Kriminelle ohne legales Verfahren bestrafen ließ, aber das Lynchen als soziales Phänomen ist keine kriminelle Praxis speziell der Vereinigten Staaten, noch ist das Lynchen lediglich ein Kontroll- und Unterdrückungsinstrument, das auf rassische und ethnische Minderheiten zielt.11 Was der Praxis des Lynchens im Rahmen einer globalen Betrachtung gemeinsam ist, ist die Ideologie der »Volksjustiz«, das heißt der Gedanke, dass das Volk das Recht selbst in die Hand nimmt.12 Lynchen lässt sich definieren als »Bestrafung außerhalb des Gesetzes, die in der Regel tödliche oder schwere körperliche Verletzungen zur Folge hat und von Gruppen vorgenommen wird, die den Willen der gesamten Gemeinschaft zu vertreten beanspruchen«.13 Lynchen in diesem Sinne ist zu unterscheiden von ähnlichen kollektiven Gewalthandlungen bei Aufständen und im Rahmen sogenannter »hate crimes«: »Verbrechen aus Hass sind wahllose Gewaltakte, die auf rassische, ethnische, religiöse und sexuelle Minderheiten zielen und ohne den Vorwand auskommen, ein bestimmtes Verbrechen zu bestrafen. Aufstände gehen mit kollektiver Gewalt im großen Stil einher, bei der sich die Beteiligten üblicherweise nicht als Arm der Gerechtigkeit verstehen.«14 Die Formulierung »extralegal« in dieser Definition des Lynchens verweist darauf, dass das Lynchen hier im Spannungsfeld zweier Grundtypen der Ordnungsformen von Gewalt angesiedelt wird, näm-

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Als Namensgeber für den Begriff wird auch James Lynch Fitzstephen genannt, ein Bürgermeister in Galway, Irland, der 1499 seinen Sohn am Balkon seines Hauses erhängte, nachdem er ihn wegen Mordes an einem spanischen Besucher verurteilt hatte. James Elbert Cutler, Lynch-Law. An Investigation into the History of Lynching in the United States, New York 1905; Christopher Waldrep, The Many Faces of Judge Lynch. Extralegal Violence and punishment in America, New York 2002; Thurstone, Lynching. Manfred Berg, Lynchjustiz in den usa, Hamburg 2014. Berg/Wendt (Hg.), Globalizing Lynching History, S. 5. Ebenda S. 5.

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lich der Ordnung der gewalttätigen Selbsthilfe auf der einen und einer Sozialordnung, in der ein Staat den Anspruch auf das Gewaltmonopol erhebt, auf der anderen Seite.15 Die Formulierung »Spannungsfeld« soll darauf hinweisen, dass das Lynchen als extralegale Bestrafung dort auftritt, wo der Staat noch kein Gewaltmonopol errichtet hat oder das Lynchen eine Reaktion auf die Unfähigkeit des Staates ist, sein Gewaltmonopol durchzusetzen. Das Lynchen ist ein »Grenzphänomen«: Es tritt überall dort auf, wo der Staat, sei es geografisch, sozial, kulturell oder zeitlich, an seine Grenzen kommt und kommunale Akteure angesichts von Bedrohungen der sozialen Ordnung das Recht in die eigene Hand nehmen.16 Die kommunalen Akteure in diesem »gefährlichen Grenzbereich zwischen dem Gesetz und der Illegalität«17 werden als Vigilanten bezeichnet, die jenseits des Staates, anstelle des Staates oder als der bessere Staat handeln.18 Einer viel zitierten Definition nach ist Vigilantismus »eine soziale Bewegung, die vorsätzliche Gewaltakte – oder Gewaltandrohungen – durch autonome Bürger heraufbeschwört. Sie entsteht in Reaktion auf die Verletzung institutionalisierter Normen durch Individuen oder Gruppen – beziehungsweise auf deren potenzielle oder unterstellte Normverletzung. Solche Akte zielen auf Verbrechensbekämpfung und/oder soziale Kontrolle und sollen den Beteiligten wie auch anderen Mitgliedern der jeweiligen etablierten Ordnung ein Gefühl der Sicherheit vermitteln oder gar ›Sicherheitsgarantien‹ geben.«19 Der hybride extralegale Charakter des vigilanten Handelns impliziert, dass das Lynchen als kommunale Bestrafung im Sinne von Charles Tilly und Sidney Tarrow als contentious collective action zu verstehen ist.20 Kollektives Handeln wird als »umstritten« bezeichnet,

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Trutz von Trotha, »Ordnungsformen der Gewalt oder Aussichten auf das Ende des staatlichen Gewaltmonopols«, in: Birgitta Nedelmann (Hg.), Politische Institutionen im Wandel, Sonderheft 35 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1995, S. 129–166. Ray Abrahams, Vigilant Citizens. Vigilantism and the State, Oxford 1998. Ebenda S. 7. Thomas Schmidt-Lux, »Vigilantismus als politische Gewalt. Eine Typologie«, in: Behemoth 2013, H. 1, S. 98–117. Les Johnston, »What is Vigilantism?«, in: British Journal of Criminology 1996, H. 2, S. 220–236, hier S. 224. Charles Tilly/Sidney G.Tarrow, Contentious Politics, Boulder 2007.

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»wenn Menschen darauf zurückgreifen, die keinen regulären Zugang zu repräsentativen Institutionen haben, die im Namen neuer oder nicht akzeptierter Ansprüche agieren und die dies in einer Art und Weise tun, mit der sie andere Personen oder die Staatsgewalt grundsätzlich herausfordern.«21 Der umstrittene Charakter des Lynchens wird praktisch nicht zuletzt daran deutlich, dass im Verlauf dieser Form der Selbstjustiz immer wieder Akteure auftreten, auch, aber nicht nur, Vertreter staatlicher Instanzen, die das Lynchen durch einen vigilanten Mob verhindern wollen.

Der theoretische Rahmen Den Rahmen zum Verständnis des Gewalthandelns vigilanter Lynchmobs bildet hier eine interaktionistische Interpretation der theoretischen Überlegungen Emile Durkheims zur gesellschaftlichen Rolle von Bestrafung.22 Meine theoretischen Gewährsleute hierfür sind hier Barry Barnes, Thomas Fararo, Randall Collins, Howard Becker und Paul DiMaggio.23 Bevor diese interaktionstische Interpretation genauer dargestellt wird, soll kurz Durkheims Verständnis von Strafe skizziert werden. Für Emile Durkheim ist Bestrafung eine Institution, die direkt mit dem Kern von Gesellschaften verbunden ist, denn Strafaktionen zeigen das Kollektivbewusstsein (conscience collective) bei der Arbeit. Das Kollektivbewusstsein ist ein mentaler Rahmen, bestehend aus sozialen Repräsentationen (über das, was es in der Welt gibt) und moralischen Regeln (wie man sich richtig zu verhalten hat): »Die sozial standardi-

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Sidney G. Tarrow, Power in Movement. Social Movements and Contentious Politics, Cambridge 2011, S. 7. Emile Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit (1893), Frankfurt am Main 1992; David Garland, Punishment and Society. A Study in Social Theory, Chicago 1990; Werner Gephart, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims, Opladen 1990. Barry Barnes, The Nature of Power, Urbana 1988; Thomas J. Fararo, Social Action Systems. Foundation and Synthesis in Sociological Theory, Westport 2001; Randall Collins, Interaction Ritual Chains, Princeton 2004; Howard S. Becker, Doing Things Together. Selected Papers, Evanston 1986; Paul DiMaggio, »Culture and Cognition«, in: Annual Review of Sociology 1997, 23, S. 263–288.

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sierten Verständnisse, die wir an Handlungskontexte herantragen, umfassen sowohl geteiltes Hintergrundwissen als auch gemeinsame normative Erwartungen und fungieren somit gleichzeitig als kognitive und normative Interaktionsvoraussetzungen.«24 Ohne einen solchen Rahmen sind soziale Interaktionen nicht vorstellbar, denn auch elementare Austauschbeziehungen setzen gemeinsame Normen voraus. Unter der Oberfläche konfligierender Interessen operiert für Durkheim daher ein kognitives und moralisches System, das ein Minimum an Zustimmung verlangt, denn »nicht einfach jede Busladung oder beliebige Ansammlung von Menschen verdient den Namen Gesellschaft: Unter deren Mitgliedern muss in einem gewissen Maß gleich gedacht und empfunden werden.«25 Das Kollektivbewusstsein bedingt aber nun nicht nur die sozialen Interaktionen, sondern wird seinerseits durch die Formen der Interaktion geformt. Durkheim versteht daher gesellschaftliche Systeme als Solidaritätsformen, in denen sich moralische Ordnungen und Sozialstrukturen wechselseitig konstituieren und bedingen. Die in das Kollektivbewusstsein eingelassene Moral basiert auf vagen Kernwerten (wie zum Beispiel Freiheit, Eigentum, Ehre, das Wort Gottes und so weiter). Diese Kernwerte haben einen sakralen, transzendentalen Charakter und verlangen, da sie konstitutiv für das gesellschaftliche Zusammenleben sind, unbedingten Respekt. Sie werden daher durch entsprechende normative Regeln (»Du sollst nicht töten«) geschützt. Gesellschaften beruhen für Durkheim auf dem kollektiven Glauben an diese Kernwerte (und nicht auf individueller zweckrationaler Kalkulation), sie sind in diesem Sinne »religiöse« Veranstaltungen.26 Die sakralen Kernwerte, ebenso wie der sie schützende moralische Rahmen, sind emotional besetzt, denn für Durkheim haben gesellschaftliche Phänomene einen dualistischen Charakter, sie sind stets sowohl eine Sache der individuellen Psyche wie auch der moralischen Regelung. Eine Verletzung der moralischen Regeln löst daher Emotionen des Ärgers, der Empörung, Wut und das Verlangen nach Vergeltung aus: In den Worten Durkheims: »Die Strafe besteht in ers24 25 26

David C. Hoy/McCarthy, Thomas A., Critical Theory, Oxford 1994, S. 65. Mary Douglas, How Institutions Think. New York 1986, S. 9. Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt am Main 1991.

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ter Linie aus einer leidenschaftlichen Reaktion. […] Sie ist […] ein Racheakt, der auf Sühne aus ist. Was wir […] rächen und was der Verbrecher sühnt, ist die Verletzung der Moral.«27 Für Durkheim bringt also das Kollektivbewusstsein das soziale Phänomen der Bestrafung selbst hervor. Die Bestrafung ist ein Prozess, der zugleich die zentralen Werte einer Gesellschaft ausdrückt und rekonstituiert. Die Sanktionierung von Normverletzungen dient der Erhaltung des sozialen Systems, sie bestätigt und stärkt die geltende moralische Ordnung und trägt den psychischen Emotionen der Gesellschaftsmitglieder Rechnung. Damit die Bestrafung diese Funktionen erfüllen kann, wird sie gesellschaftlich institutionalisiert in Form von Strafverfolgungen, Tribunalen und Strafprozeduren. Die Handlungen dieser Instanzen sind emotional aufgeladene Rituale, in denen nicht nur die Regelverletzer durch ein für Moral und Gesetz zuständiges Personal verurteilt und bestraft werden, sondern zugleich dienen diese punitiven Zeremonien auch dazu, dem gesellschaftlichen Publikum symbolisch zu versichern, dass die moralische Ordnung funktioniert und weiterhin Geltung hat. Dieser allgemeine theoretische Hintergrund soll nun mithilfe von interaktionistischen Überlegungen in Bezug auf die temporäre Organisation des vigilanten Lynchens konkretisiert werden. Genauer gesagt wird das Lynchen als ein Vorgang kollektiver Bestrafung auf einer kognitiven und emotionalen Ebene erläutert. Die Betrachtung der kognitiven Ebene erlaubt Einblicke in die sequentielle Ordnung des Lynchens und die dabei agierenden Typen von Handelnden. Die emotionale Ebene gibt Aufschluss über die Dynamik und Beweggründe des Lynchens. Ich beginne mit der kognitiven Ebene. Das Lynchskript

Das vigilante Lynchen ist ein »doing things together«28 mehrerer Akteure, das die Form einer spontanen Ordnungsbildung hat. Den Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen bildet die Annahme, dass vorab keine Organisationen vorhanden sind, die für Bestrafungsaktio-

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Durkheim, Über die Teilung, S. 135 u. 138. Becker, Doing Things.

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nen zuständig sind, deren Personal bei Bedarf in Aktion treten könnte. Vielmehr bildet sich das Gewaltkollektiv, der Mob, ad hoc und löst sich nach der Bestrafung des (vermeintlichen) Regelverletzers wieder auf. Spontane Ordnungsbildung ist das aufeinander abgestimmte Handeln einer Mehrzahl von Personen, das durch das Kollektivbewusstsein möglich gemacht wird. Dieses Kollektivbewusstsein hat Barry Barnes aus einer wissenssoziologischen Perspektive folgendermaßen beschrieben: »Eine Gesellschaft ist eine Verteilung von Wissen. […] Wie Menschen handeln, hängt davon ab, was sie wissen. […] Als Wissen verstanden ist eine Gesellschaft alles, was ihre Mitglieder wissen, so wie eine als Praxis verstandene Gesellschaft alles ist, was ihre Mitglieder tun. […] Die eine Charakterisierung ist so gut wie die andere.«29 Für Barnes haben Personen ein systematisches und elaboriertes Wissen über die normative Ordnung, das sie in Form von Handlungsroutinen zur Erzeugung sozialer Ordnungen einsetzen. Die gemeinsame Wissensbasis spontaner Ordnungsbildung ist dabei als ein distribuiertes Wissen zu verstehen, als ein Wissen, das auf unterschiedliche Akteure aufgeteilt ist.30 Was damit gemeint ist, lässt sich mithilfe der Metapher des Theaters verdeutlichen:31 Damit eine Gruppe von Akteuren ein Theaterstück aufführen kann, müssen sie wissen, welches Stück aufgeführt wird und welche Rolle sie in diesem Stück spielen. Sie müssen zusätzlich wissen, in welchen Szenen des Stückes sie an welchen Stellen ihren Rollentext »aufsagen« und ihre Rollenhandlungen ausführen müssen. Jeder Akteur muss nur seinen Rollenpart kennen und beherrschen, nicht aber die der anderen. In diesem Sinn ist das Wissen distribuiert. Das koordinierte Zusammenwirken der Akteure entsteht dann dadurch, dass die Rollenparts in der richtigen Weise aufeinanderfolgen und so eine Aufführung des Stücks in seiner Ganzheit möglich wird.32 Was eine solche Aufführung möglich macht, ist ein Drehbuch, 29 30 31

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Barnes, The Nature, S. 45 f. Edwin Hutchins, Cognition in the Wild, Cambridge 1995. Diese Metapher nutzen Mangham und Overrington zur Rekonstruktion von Organisationen; siehe Iain L. Mangham, Interactions and Interventions in Organizations, Chichester 1978; Iain L. Mangham/Michael A. Overrington, Organizations as Theatre. A Social Psychology of Dramatic Appearances, Chichester 1987. Man könnte auch sagen: Das Handeln der Akteure folgt einer Logik der Angemessenheit: In was für einer Situation befinden wir uns? Was für eine Person bin ich? Was tut eine Person wie ich in einer solchen Situtation? Die Logik der Angemessen-

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ein Skript, das den Akteuren gemeinsam bekannt ist und in dem die Abfolge ihrer Auftritte und ihre (Sprech-)Handlungen aufgeführt sind. Skripts ermöglichen soziologisch betrachtet institutionalisiertes soziales Handeln, sie sind in der Terminologie von Thomas Fararo Basis-Institutionen (unit-institutions).33 Basis-Institutionen sind relativ einfache symbolische Strukturen, die kombiniert größere Institutionen bilden können. Genauer gesagt sind Skripts distribuierte abstrakte kognitive Strukturen, die eine typische Sequenz von Ereignissen spezifizieren und die sich in Form von Wenn-dann-Regeln, ein sogenanntes Produktionssystem, übersetzen lassen.34 Der Begriff der Produktion bezeichnet in der Kognitionswissenschaft eine Form der symbolischen Repräsentation von Wissensstrukturen.35 Produktionen sind Regeln für Aktivitäten. Sie enthalten eine Bedingung (Wenn-Teil) und eine Aktion (Dann-Teil), zum Beispiel also: Wenn Situation x vorliegt, dann tue y (formal und verallgemeinert: Situationstyp · Handlungstyp). Im Modell von Fararo verfügt jeder Akteur über ein seiner Rolle entsprechendes hierarchisch geordnetes Produktionssystem, ein sogenanntes »Rollengramm«. Die sequenzielle Kombination von Rollengrammen ergibt dann soziales Skript in Form eines distribuierten

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heit ist eine Matching-Prozedur: Eine Person stellt also zunächst fest, was für eine Situation vorliegt (recognition), um dann auf der Grundlage ihres Selbstverständnisses zu handeln. Bezogen auf die Theatermetapher fragen sich die Akteure als Erstes: Welches Stück wird hier aufgeführt und in welcher Szene des Stücks befinde ich mich? Die zweite Frage lautet dann: Welches ist meine Rolle in diesem Stück in dieser Szene? Und die dritte Frage lautet: Welcher Text und welche Handlungen gehören in dieser Szene zu meiner Rolle? Siehe hierzu James March, A Primer on Decision Making. How Decisions Happen, New York 1994. Fararo greift in seinem Ansatz auf den aus der kognitiven Sozialpsychologie stammenden Skriptbegriff von Roger Schank und Robert Abelson zurück, der auch Eingang in die Organisationssoziologie gefunden hat. Siehe Roger Carl Schank, Tell me a Story. Narrative and Intelligence, New York 1990; Carl Roger Schank/Robert P. Abelson, Scripts, Plans, Goals and Understanding, Hillsdale 1978; Roger Carl Schank/Roger Abelson, »Knowledge and Memory. The Real Story«, in: Robert S. Wyer (Hg.): Knowledge and Memory. The Real Story. Advances in Social Cognition Series, Hillsdale 1995, S. 1–86. Thomas J. Fararo/John Skvoretz, »Institutions as Production Systems«, in: The Journal of Mathematical Sociology 1984, 10, 2, S. 117–182. Allen Newell/Herbert A. Simon (1972), Human Problem Solving, Englewood Cliffs 1972; John R. Anderson, Rules of the Mind, Hillsdale 1993.

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Produktionssystems. Die Aktivierung eines solchen Skripts als design for action ermöglicht die Hervorbringung sozial institutionalisierten Handelns.36 Ein wesentlicher Punkt ist nun, dass ein solches kognitives Skript nicht konkrete Situationen und konkrete Handlungen konkreter Akteure repräsentiert, sondern typische Situationen, typische Handlungen und typische Akteure. Die kognitive Struktur enthält Variablen, die je nach Kontext mit Inhalt gefüllt werden müssen. Und auch die Sequenz der Handlungstypen ist ebenfalls variabel: Handlungen können übersprungen oder umgruppiert werden. Auf diese Weise ermöglicht das Skript eine Vielzahl unterschiedlicher Realisierungen, ohne seinen allgemeinen Charakter zu verlieren. Es kann in unterschiedliche kulturelle Kontexte übersetzt werden, da es sich um eine transportable kognitive Struktur handelt. Das Skript kann zudem in Sozialisationsprozessen an andere Akteure weitergegeben werden und ist so an vielen Orten zu unterschiedlichen Zeiten einsetzbar. Überträgt man diesen Ansatz auf die Institution der Bestrafung, so lässt sich diese als kognitives Skript auffassen, das die folgenden Sequenzen enthält: 1. Feststellung eines Verstoßes gegen moralische Regeln des Kollektivbewusstseins 2. Mitteilung über das abweichende Verhalten an die für die Ahndung von Devianz zuständigen Akteure der Gewaltordnung 3. Suche der zuständigen Akteure nach dem (mutmaßlichen) Täter/ den (mutmaßlichen) Tätern 4. Festsetzung des (mutmaßlichen) Täters/der (mutmaßlichen) Täter durch die zuständigen Akteure 5. Verurteilung des (mutmaßlichen) Täters/der (mutmaßlichen) Täter durch die zuständigen Akteure 6. Bestrafung des (mutmaßlichen) Täters/der (mutmaßlichen) Täter durch die zuständigen Akteure Das Bestrafungsskript besteht aus Typen von Situationen, Typen von Handelnden und Typen von Handlungen, wobei zwischen diesen drei Aspekten Verbindungen bestehen, sodass Typen von Akteuren in

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Fararo/Skvoretz, Institutions.

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Form von Handlungstypen auf Situationstypen bezogen werden können. Diese Typisierungen lassen sich je nach Kontext mit unterschiedlichen Inhalten füllen. Die kognitive Struktur ermöglicht so eine Vielzahl von Anwendungen. In einer Durkheim’schen Perspektive besteht ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis zwischen dem Kollektivbewusstsein und der Sozialstruktur. Mit welchen Inhalten die abstrakte Wissensstruktur des kollektiven Skripts gefüllt wird, wie variabel die Abfolge der Handlungstypen gehandhabt wird, bestimmt die sozialstrukturelle Konfiguration der sozialen Einheit, in der das Bestrafungsskript zur Anwendung kommt. Das Schema ist daher kulturell variabel anwendbar auf die Bestrafung von Kindern durch ihre Eltern, auf den staatlichen Einsatz von Polizei und Justiz zur Sanktionierung von Kriminalität oder eben auf das vigilante Lynchen. Diese letzte Anwendung sieht folgendermaßen aus: Im Fall des vigilanten Lynchens wird der sozialstrukturelle Kontext durch den Ordnungstypus der gewalttätiger Selbsthilfe gebildet. Während im Rahmen des Typus der staatlichen Gewaltordnung die Akteure, die mit der Suche und Festsetzung devianter Akteure befasst sind, durch die Polizei gestellt werden und für die Verurteilung und Bestrafung das Personal der Justiz zuständig ist, ist dies im Kontext gewalttätiger Selbsthilfe nicht der Fall. Hier stammen die Akteure des Skripts aus der Gemeinschaft, in der das deviante Verhalten festgestellt worden ist. Und diejenigen, die die devianten Akteure suchen und gefangen nehmen, sind in der Regel zugleich diejenigen, die die Verurteilung und Bestrafung vornehmen. Auf diese Weise kommen zwei unterschiedliche Varianten des institutionalisierten Bestrafungshandelns zustande, zum Beispiel legales Hängen auf der einen, extralegales Lynchen auf der anderen Seite. Was Manfred Berg über die koloniale amerikanische Gesellschaft schreibt, dürfte strukturell für viele Gemeinschaften der gewalttätigen Selbsthilfe charakteristisch sein: »Die Sklavenpatrouillen in den südlichen Kolonien waren freilich nur eine Variante gemeinschaftlich ausgeübter Polizei- und Strafgewalt in einem Zeitalter, als noch keine professionelle Polizei existierte. Geschah ein Verbrechen, schlug die lokale Gemeinschaft Alarm und verfolgte die Verdächtigen. Im 18. Jahrhundert wurde es üblich, dass Friedensrichter im Bedarfsfall ein posse comitatus bildeten, eine aus allen wehrfähigen Männern bestehende 158

Bürgerwehr, die dem Sheriff bei der Verfolgung von Verbrechern zur Verfügung stand. Das vormoderne System kommunaler Verbrechensbekämpfung macht es für Historiker schwierig, zwischen rechtmäßigen Posses und gesetzlosen Mobs zu unterscheiden. Für die Zeitgenossen beruhte die Legitimität der Strafverfolgung auf der Zustimmung des Volkes.«37 Betrachtet man das vigilante Lynchen auf einer kognitiven Ebene als ein distribuiertes Skriptwissen, dann lassen sich einige weitere Einblicke über den Ablauf dieser Variante institutioneller Bestrafung gewinnen. Zunächst einmal lenkt der Skriptansatz den Blick darauf, dass die distribuierte Wissensstruktur aktiviert werden muss. Die Aktivierung erfolgt durch die Feststellung abweichenden Verhaltens. Was als abweichendes Verhalten gilt, ist im Rahmen einer interaktionistischen Perspektive eine Frage gesellschaftlicher Wahrnehmung oder anders gesagt: »Abweichendes Verhalten ist ein Verhalten, das Personen als solches etikettieren«.38 Häufige, aber nicht ausschließliche Anlässe für Lynchjustiz sind Mord, Vergewaltigung, Raub, Diebstahl oder aber die Anwesenheit böser Menschen zum Beispiel in Gestalt von Verrätern, Feinden oder Hexe(r)n.39 Nimmt man an, dass in Ordnungen der gewalttätigen Selbsthilfe aufgrund des fehlenden staatlichen Gewaltmonopols ein hohes Maß an Unsicherheit vorhanden ist, so dürften Verstöße gegen die moralische Ordnung leicht zu moralischen Paniken führen.40 Moralische Paniken sind charakterisiert durch: 1. Besorgnis und Angst, die darauf beruhen, dass das abweichende Verhalten eine Bedrohung für die Gemeinschaft darstellt und eine Reaktion darauf notwendig ist 2. Feindseligkeit. Als Quelle der Bedrohung wird ein außerhalb der Gemeinschaft stehender Akteur oder eine Gruppe von Akteuren gesehen. Dieser Quelle wird mit Ablehnung, Ressentiment, Ärger, Wut und/oder Hass begegnet

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Berg, Lynchjustiz, S. 36. Howard S. Becker, Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance, New York 1963, S. 9. Edmund Leach, Custom, Law and Terrorist Violence, Edinburgh 1977. Nachman Ben-Yehuda/Erich Goode, Moral Panics: The Social Construction of Deviance, Oxford 1994.

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3.

Konsens. Es besteht eine Übereinstimmung in der Gemeinschaft darüber, dass es sich um eine gefährliche Bedrohung handelt. Dieser Konsens muss nicht von allen geteilt werden, er muss aber in jenem Segment der Gemeinschaft vorherrschen, das groß oder mächtig genug ist, um Widerstand gegen Abwehrmaßnahmen zu überwinden oder zu zerstreuen. 4. Volatilität. Moralische Paniken treten plötzlich auf und verschwinden wieder relativ schnell. Sie können gleichwohl soziale Veränderungen bewirken. 5. Disproportionalität. Die Reaktionen sind im Verhältnis zur Bedrohung unverhältnismäßig.41 Im Fall des vigilanten Lynchens berührt der Verstoß gegen die moralische Ordnung das Kollektivbewusstsein und damit das öffentliche Interesse. Berührt ein abweichendes Verhalten nur private Interessen, so kann dies zwar auch zur Entstehung eines Lynchmobs führen, eine solche Gruppierung wird in der Literatur aber als privater Mob bezeichnet, und dessen Aktionen werden als private Rache- und Vergeltungsaktionen verstanden, weil ihnen die öffentliche Unterstützung und Anerkennung fehlt.42 Aus diesem Grund sind private Mobs auch stets kleine Gruppierungen, die aus den Freunden und Verwandten eines Verbrechensopfers bestehen und die ihre Gewalttätigkeit in der Regel nicht in der Öffentlichkeit praktizieren. Entsprechendes gilt auch für sogenannte Terrormobs, die hate crimes verüben. Betrachtet man im Rahmen dieser interaktionistischen Devianzkonzeption die Handelnden, die das Bestrafungsskript in Gang setzen, so ist auf die Rolle von Moralunternehmern hinzuweisen. Dies sind Akteure, die zum einen die Regeln schaffen, deren Verletzung abweichendes Verhalten konstituiert, und die zum anderen für die Anwendung dieser Regeln sorgen. Moralisches Unternehmertum identifiziert soziale Probleme, stellt konkrete Fälle abweichenden Verhaltens fest, um dann politische Instanzen zu aktivieren, damit der Missstand beseitigt wird. Der Typus des Moralunternehmers sorgt also für die Aktivierung des Lynchskripts in der Form, dass er eine Regelverlet41 42

Dieses Kriterium wird sich aus der Binnenperspektive der Akteure freilich anders darstellen. W. Fitzhugh Brundage, Lynching in the New South. Georgia and Virginia, 1880–1930, Urbana 1993.

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zung feststellt und/oder die Informationen über ein Verbrechen von öffentlichem Interesse in einer Gemeinschaft verbreitet. Dazu bedarf es eines entsprechenden Kommunikationsnetzwerkes, das durch eine Face-to-face-Situation unmittelbar gegeben sein, das aber auch auf informellen, z.B. nachbarschaftlichen Beziehungen beruhen kann. Zudem bestimmen mediale Möglichkeiten wesentlich mit, welchen Umfang die Aktivierung annimmt. Eine gelungene Aktivierung des Skripts durch das moralische Unternehmertum bedeutet zwar, dass die Akteure ein gemeinsames Verständnis der Situation im Sinne einer moralischen Panik haben, es bedeutet aber noch nicht automatisch, dass das Skript auch operativ wird und bleibt. Hierzu muss die Erwartung kommen, dass das Skript erfolgreich, auch angesichts von Problemen, ausgeführt werden kann. Dies geschieht dadurch, dass das moralische Unternehmertum im sozialen Netzwerk in Verbindung steht oder sich überlappt mit einem politischen Unternehmertum. Politische Unternehmer sind Spezialisten für die Erzeugung von Gewaltordnungen durch »Aktivierung, Verbindung, Koordination und Repräsentation«.43 Sie sorgen dafür, dass die weiteren Handlungssequenzen des Skripts, die Suche, Festsetzung, Verurteilung und Sanktionierung realisiert werden. Wie Charles Tilly betont, werden die politischen Unternehmer ergänzt von oder sind deckungsgleich mit Gewaltspezialisten: »Politische Unternehmer ergänzen und gehen über in einen anderen wichtigen Typ von politischem Akteur, den Gewaltspezialisten […], Leuten, die über die Mittel gebieten, Personen und Sachen Schaden zuzufügen.«44 Dieser Aspekt verweist nicht nur auf einen weiteren Akteurstypus, sondern er verdeutlicht auch, dass es nicht genügt, nur das Skriptwissen für das Lynchen zu haben, sondern man muss auch über die Kompetenzen und Ressourcen (zum Beispiel in Form von Waffen) verfügen, um das Skript umsetzen zu können. Beim Personal, das die gewalttätigen Rollen des Lynchskripts ausfüllen kann, lassen sich mit Randall Collins noch einmal zwei Gruppierungen unterscheiden: die wenigen Gewalttäter und die Unterstützungsgruppe. Die wenigen Gewalttätigen sind »Herr der Lage oder

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Charles Tilly, The Politics of Collective Violence, Cambridge 2003, S 34. Ebenda S. 35.

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Action-Sucher«45. Sie werden als Personen beschrieben, die in Konfliktsituationen energisch, extrovertiert, proaktiv und dominant und stets bereit sind, konfrontatives Interaktionsgeschehen durch Einsatz von Gewalt zu ihren Gunsten zu gestalten. Umgeben ist diese Gruppe von Unterstützern, die zum Teil auch gewalttätig sind, die vor allem aber emotionale Unterstützung für die wenigen Gewalttätigen liefern: »Diejenigen, die am aktivsten und kompetentesten Gewalt ausüben, beziehen ihre emotionale Unterstützung von einer kleinen Gruppe in ihrer unmittelbaren Nähe. Einige aus der Gruppe der Unterstützer üben ebenfalls Gewalt aus […]. Sie versorgen die Speerspitze der wenigen Gewalttätigen, die die Konfrontation mit dem Gegner suchen, mit Emotionen.«46 Die politischen Unternehmer und Gewaltspezialisten sind in der Regel Männer, denn Gewaltausübung ist in den meisten Kulturen eine maskuline Domäne: Ein Mann zu sein heißt, die Bereitschaft und Fähigkeit zur Gewaltanwendung zu haben, um Familie und Gemeinschaft zu verteidigen, und das dürfte allemal im Rahmen der Ordnung gewalttätiger Selbsthilfe gelten. Bei der Ahndung abweichenden Verhaltens mitzumachen, ist somit das Recht und die Pflicht der Männer, es ist eine Frage »männlicher Ehre«. Die politischen Unternehmer und Gewaltspezialisten bilden den Kern des Lynchmobs. Sie lassen sich metaphorisch als eine temporäre Bruderschaft verstehen, die nach Status gestaffelt ist. Im Zentrum dieser Gruppierung stehen die politischen Unternehmer und Gewaltspezialisten der Gemeinschaft, aber auch Verwandte und Freunde des Opfers, die zum Beispiel das Vorrecht der Vollstreckung der Strafe haben. Politische Unternehmer und Gewaltspezialisten, die wenigen Gewalttätigen und ihr Unterstützungsstab, bilden das operative Zentrum des vigilanten Lynchmobs. Die Suche und Festsetzung des Täters wird von ihm weitgehend allein durchgeführt. Bei der Verurteilung und Bestrafung kommen Akteure hinzu. Mit Randall Collins lassen sich dabei folgende drei Gruppierungen unterscheiden: die »mittlere Masse«, die hinteren Reihen und die demonstrativen Extremisten. 45 46

Randall Collins, Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie, Hamburg 2011, S. 566. Ebenda S. 648.

162

Die mittlere Masse beschreibt Collins als »Masse in der Mitte, die die gleichen Ziele, aber weniger emotionale Energie hat, die weniger selbstbewusst ist und unfähig, die Initiative zu ergreifen. Diese Mehrheit der nur nominell Gewalttätigen vermittelt den Anführern an der Spitze das Gefühl, dass andere hinter ihnen stehen und mit ihrer Masse den Feind überwältigen werden, wenn der Angriff erst einmal in Gang gekommen ist.«47 Auch die hinteren Reihen leisten einen Beitrag zum Geschehen: »Selbst wenn es ihnen vielleicht nur um den Kitzel geht, den man verspürt, wenn man mit vielen anderen durch die Straßen einer Großstadt zieht [oder wie viele andere zu einem Konzert oder einer Sportveranstaltung unterwegs ist]. Auch die Feigsten und Zurückhaltendsten in der Menge steuern etwas bei: den Aufmerksamkeitsraum. Sie tun nichts weiter als schauen, aber sie schauen alle in die gleiche Richtung, wenn auch mit vermutlich schwankendem Interesse. Sobald etwas Aufregendes geschieht, heften sich alle Blicke auf diese eine Szene.«48 Schließlich gibt es die demonstrativen Extremisten, die sich nach der Bestrafung in den Vordergrund drängen, indem sie mit dem toten Opfer für Fotos posieren, auf die Leiche einschlagen oder von ihr Körperteile als »Souvenirs« nehmen: »Die demonstrativen Extremisten, die in sicherem Abstand zum Gewaltakt in Erscheinung treten, stehen für etwas anderes: Sie versuchen, sich von der Masse abzuheben, von der hinteren Reihe derer, die die Gewalt nur nominell unterstützen, und ihren Status zu verbessern, indem sie an die Gewalttat anknüpfen, die die Gruppe elektrisiert hat. Sie suchen die Nähe der Leiche und vergreifen sich unnötig an ihr, weil sie so dem Zentrum des Aufmerksamkeitsraumes näher kommen.«49 Ordnet man den einzelnen Handlungssequenzen des Lynchskripts die beschriebenen Akteure zu, so ergibt sich folgende Übersicht:

47 48 49

Ebenda. Ebenda S. 648. Ebenda S. 642.

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Handlungs- und Akteurstypen des vigilanten Lynchskripts Handlungstyp

Akteurstypen

1.

Feststellung abweichenden Verhaltens

(Vermeintliche) Deviante, Opfer, Moralunternehmer

2.

Mitteilung über abweichendes Verhalten an zuständige Akteure der Gewaltordnung

Moralunternehmer, politische Unternehmer, (Opponenten)

3.

Suche nach dem/den Devianten

(Vermeintliche) Deviante, politische Unternehmer, Gewaltspezialisten (wenige Gewalttätige, Unterstützungsgruppe), (Opponenten)

4.

Festsetzung des (mutmaßlichen) Täters/der (mutmaßlichen) Täter

(Vermeintliche) Deviante, politische Unternehmer, Gewaltspezialisten, (Opponenten)

5.

Verurteilung des (mutmaßlichen) Täters/der (mutmaßlichen) Täter

(Vermeintliche) Deviante, politische Unternehmer, Gewaltspezialisten, mittlere Masse, hintere Reihen, (Opponenten)

6.

Bestrafung des (mutmaßlichen) Täters/der (mutmaßlichen) Täter

(Vermeintliche) Deviante, politische Unternehmer, Gewaltspezialisten, mittlere Masse, hintere Reihen, (Opponenten), demonstrative Extremisten

Das Lynchskript ist die Basis des in der Literatur immer wieder hervorgehobenen ritualhaften Charakters dieser Form kollektiver Gewaltanwendung.50 Es kann jedoch in verkürzter Form ablaufen. So kann insbesondere die Suche entfallen, wenn der Täter auf frischer Tat ertappt wird. Da das Lynchen zudem eine umstrittene Institution ist, können in den Phasen 2 bis 6 Gegner und Widersacher, zum Beispiel die Vertreter des Staates oder andere, meist einflussreiche Akteure (»Dorfälteste«), auftreten. Gelingt es diesen Opponenten, sich durchzusetzen, so kann es in jeder Phase zum Abbruch des Skripts kommen. Das Skript wird ebenfalls nicht vollständig realisiert, wenn in der Phase 5 der Täter als unschuldig definiert oder begnadigt wird. Zudem kann die Suche erfolglos sein (Phase 3) oder die Festsetzung misslingen (Phase 4).51

50

51

Tilly, The Politics, S. 14; David Garland, »Penal Excess and Surplus Meaning. Public Torture Lynchings in 20th Century America«, in: Law & Society Review 2005, 39, 4, S. 793- 833. Es wird aber auch von Fällen berichtet, in denen der Mob sich zur Befriedigung seiner Strafbedürfnisse stellvertretende, symbolische Opfer sucht.

164

Die emotionale Basis des Lynchskripts

Ein Skript mit seinen Typen von Handlungen und Typen von Handelnden ist nach Peter Berger und Thomas Luckmann ein Wissen erster Ordnung.52 Wissen erster Ordnung definiert Realität mittels Typisierungen. Es wird gestützt durch ein Wissen zweiter Ordnung, den Legitimationen. Legitimationen sind Antworten auf Warum-Fragen. Sie begründen und rechtfertigen die bestehenden Realitäten. Wie Manfred Berg und Simon Wendt feststellen, sind die Rechtfertigungen für das Lynchen weltweit erstaunlich einheitlich: »Die Rechtfertigungen der Selbstjustiz klingen kulturübergreifend erstaunlich uniform, nämlich dahingehend, dass die Menschen das Gesetz in die eigenen Hände nehmen müssen, weil es keine oder nur schwache Rechtsinstitutionen gibt.«53 Lisa Arellano hat diese Legitimationsfigur anhand von Erzählungen über Vigilantenkommitees in den usa genauer untersucht.54 Danach bestehen die Rechtfertigungen aus drei Elementen: 1. Es liegt eine außergewöhnliche, horrende kriminelle Situation vor. 2. Eine staatliche Instanz, die eingreifen müsste, fehlt oder versagt. 3. Die Männer, die ihre Pflicht erfüllen, tun das Richtige. Diese Legitimation gibt vor, dass das Lynchen der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung dient. Die Gewaltanwendung ist so ein notwendiges und richtiges, das heißt tugendhaftes Handeln. Diese kognitive Rechtfertigung lässt sich nun damit in Verbindung bringen, was Collins unter Berufung auf Durkheim als den gerechtfertigten Ärger einer Gruppe bezeichnet hat.55 Auf diese Weise können auf der emotionalen Ebene Einblicke in die Bewegründe und Dynamik des Lynchskripts gewonnen werden. Collins versteht rollenhafte Interaktionen, wie sie das Bestrafungsskript beschreibt, als natürliche Rituale, die gekennzeichnet sind durch erstens körperliche Ko-Präsenz, zweitens eine Grenzziehung gegenüber Außenstehenden, drittens einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus und viertens eine gemeinsame emotionale Stimmung, wo-

52 53 54 55

Peter Berger, Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1969. Berg/Wendt (Hg.), Globalizing Lynching, S. 14. Lisa Arellano, Vigilantes and Lynch Mobs. Narratives of Community and Nation, Philadelphia 2012. Collins, Interaction Ritual.

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bei sich die letzten beiden Faktoren wechselseitig verstärken. Als Konsequenz dieser Interaktion erfahren die Teilnehmer: • ein Gefühl solidarischer Gruppenmitgliedschaft • eine Stärkung ihrer emotionalen Energie in Form von Zutrauen, Initiative und Enthusiasmus • damit verbunden ein Gefühl der Moralität, der Richtigkeit des Gruppenhandelns • Zudem entsteht eine gefühlsmäßige Assoziation mit Symbolen (Emblemen, Zeichen, Worten, Gesten), die die Gruppe repräsentieren (»sakrale Objekte«). Benutzt man dieses Modell zum Verständnis des Interaktionsgeschehens im Lynchskript, so ergibt sich folgende grafische Darstellung: Interaktionsrituale und Verbrechen56

56

In Anlehnung an Randall Collins, »C-Escalation and D-Escalation. A Theory of the Time-Dynamics of Conflicts«, in: American Sociological Review 2011, 77, 1, S. 1–20. hier S. 3

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Was das vigilante Lynchskript emotional antreibt, sind gerechtfertigter Ärger und Rache. Ärger ist eine Emotion, die auftritt, wenn durch ein Verhalten etwas verhindert, verletzt oder erniedrigt wird, das einer Person wichtig ist.57 Gerechtfertigter Ärger ist ein Ärger, der mit einem hohen Grad an Sicherheit ausgedrückt wird.58 Die emotionale Aufladung in Form gerechtfertigten Ärgers ist nach Durkheim am höchsten in Gruppen mit hoher sozialer Dichte und geringer sozialer Diversität. Die geringe Vielfalt und hohe Interaktionsfrequenz produzieren lokale Solidaritäten mit einer starken Bindung an reifizierte Symbole, eine starke Grenzziehung zwischen Insidern und Outsidern und ein konkretes statt abstraktes Denken. Wenn die dichten lokalen Gruppierungen eine Machthierarchie aufweisen (also nicht nur egalitär strukturiert sind), dann werden Verstöße gegen die soziale Ordnung auch als Bedrohung der Hierarchie erlebt, und zwar, weil die Hierarchie selbst als eine Form von Gemeinschaft und nicht lediglich als eine Machtorganisation verstanden wird. In dem bisher skizzierten Lynchskript findet dieser Sachverhalt seinen Niederschlag, indem neben dem Moralunternehmer der politische Entrepreneur als Akteurstyp auftritt. Mit Durkheim lässt sich zudem vermuten, dass nicht nur gerechtfertigter Ärger die Aktionen des Mobs antreibt, sondern zudem auch Rache. Rache, »eine der mächtigsten Leidenschaften«,59 hat das primäre Ziel, andere leiden zu lassen. Diese Emotion könnte somit die oft auftretende Grausamkeit beim Lynchen verständlich machen. Die Emotion der Rache liefert auf der sozialen Ebene das, was David Garland als surplus meaning des Lynchens bezeichnet hat60 und was auf der emotionalen Ebene dem Wohlbefinden der Akteure zuträglich ist, nämlich die Abschreckung potenzieller Täter, die Herstellung von Recht im Sinne von Billigkeit, die Korrektur von Machtungleich-

57 58

59 60

Richard Lazarus, Emotion and Adaption, Oxford 1991. Vgl. hierzu auch Jack Katz’ Beschreibungen (in: Seductions of Crime. Moral and Sensual Attractions in Doing Evil, New York 1988) von »gerechtfertigtem Gemetzel« (righteous slaughter) bei Mordfällen in Nahbeziehungen, welches die Täter damit begründen, dass sie »ewige menschliche Werte« zu verteidgen hätten. Nico H. Frijda, The Laws of Emotion, Mahwah 2007, S. 259. Garland, Penal Excess, S. 793.

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gewichten, die Reproduktion von Stolz, die Vermeidung von Beschämung und die Linderung von erlittenen Schmerzen.61 Gerechtfertigter Ärger und Rache liefern die Motivation für das Lynchskript und sorgen wesentlich dafür, dass das aktivierte Skript auch operativ und die temporäre Struktur des Lynchmobs aufrechterhalten wird. Diese Motivation wird durch die Praktiken des Skripts genährt und hält solange an, bis eine Bestrafung erfolgt ist und so der Bestätigung und Stärkung der moralischen Ordnung wie der politischen Autoritätsstruktur genüge getan wurde. Collins’ Interaktionstheorie lässt sich schließlich auch dazu verwenden, um genauer zu beschreiben, welche Form das Gewalthandeln beim Lynchen hat. Er geht davon aus, dass Interaktionsrituale Gemeinsamkeiten erzeugen, und diese stehen der Gewaltausübung im Grunde im Wege: »Menschen sind auf interaktives Mitgehen und auf Solidarität gepolt – und eben deshalb fällt Gewalt so schwer.«62 Neben der Angst vor Verletzungen sorgt diese Anlage zur Gemeinsamkeit dafür, dass es bei Gewaltinteraktionen bei den Akteuren zu emotionaler Anspannung und Furcht kommt. Um Gewalt ausüben zu können, muss diese konfrontative Spannung/Furcht umgangen werden. In der Gewaltinteraktion behält diejenige Seite die Oberhand, der das besser gelingt und die dadurch emotional dominiert. Collins beschreibt insgesamt fünf Pfade, auf denen die konfrontative Spannung/Furcht umgangen werden kann, wobei im Falle des Lynchmobs die Strategie des Angriffs auf die Schwachen die dominante Variante ist.63 Der Mob ist im Skript dort, wo es zur Gewalt kommt, immer in der Überzahl: bei der Festsetzung, Verurteilung und Bestrafung. Wenn es bei der Verurteilung und Bestrafung zu Folter kommt, so ist dies das Betätigungsfeld der wenigen Gewalttätigen. Auch hier gilt das Muster des Angriffs auf die Schwachen, wobei sich hier eine emotionale Konstellation ergibt, die Collins als terroristisches Folterregime bezeichnet. Hier steigert sich die emotionale Dominanz des Gewaltspezialisten umso mehr,

61 62 63

Frijda, The Laws, S. 273; Axel T. Paul, »Die Rache und das Rätsel der Gabe«, in: Leviathan 2005, 33, 2, S. 240–256. Collins, Dynamik der Gewalt, S. 46. Die anderen Strategien sind: publikumsorientiertes Kämpfen, konfrontationsvermeidende Gewalt aus der Distanz, Vermeidung durch Täuschung und Konfrontationsvermeidung durch Konzentration auf die Gewalttechnik.

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je hilfloser und ausgelieferter das Opfer ist. Es entsteht ein sich aufschaukelnder Prozess, in dem durch die Folter die zunehmende emotionale Schwäche des Opfers die emotionale Dominanz des Gewaltspezialisten füttert und steigert.64

Varianten des Lynchskripts Das Bestrafungsskript als distribuiertes Wissen ist die Basis für ein kollektives koordiniertes Handeln angesichts wahrgenommener Devianz in einer Sozialordnung. Da Bestrafung ein universelles Phänomen ist, das in allen Gesellschaften auftritt, lässt sich das Skript als eine Basis-Institution verstehen, die in kulturell variabler Weise kollektives Gewalthandeln organisiert. Das bisher beschriebene vigilante Lynchskript als temporäre Bestrafungsprozedur zur Kontrolle von Kriminalität im Rahmen einer Ordnung der selbsttätigen Gewalthilfe, in der die Akteure für sich in Anspruch nehmen, den Willen der Gemeinschaft zu exekutieren, kann als ein idealtypischer Bezugspunkt verstanden werden, um zwei weitere Formen beschreiben zu können. Eine erste Variante ergibt sich anhand einer Betrachtung der Legitimationsdimension des vigilanten Lynchskripts, denn dessen Rechtfertigung ist nicht immer das, was sie vorgibt zu sein: »Es ist typisch für Vigilanten, dass sie sich moralisch im Recht fühlen, sie können aber auch ganz andere Beweggründe haben oder entwickeln.«65 Gemeinschaften weisen nämlich nicht selbstverständlich jenes hohe Maß an Homogenität auf, das mit der Annahme eines gemeinsamen, einheitlichen Kollektivbewusstseins unterstellt wird. Die Berufung auf das Allgemeinwohl beim Lynchen kann daher dazu dienen, in verdeckter Form Partikularinteressen zu realisieren. Denn zum einen ist, wie Richard Brown anmerkt, dem Vigilantismus eine Tendenz zur Eliten-

64

65

Kommt es beim Lynchen zu Folterungen, so können sich die Gewaltspezialisten und auch die Unterstützergruppe zudem des Pfades der Konfrontationsvermeidung durch Konzentration auf die Foltertechniken bedienen. Ray Abrahams, »Vigilantism, State Jurisdiction and Community Morality. Control of Crime and ›Undesirable‹ Behaviour when the State ›Fails‹«, in: Italo Pardo (Hg.), Morals of Legitimacy. Between Agency and System, New York 2000, S. 107–126, hier S. 109.

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bildung inhärent, sodass der bereits weiter oben erwähnte Nexus von Lynchjustiz und lokalen politischen Machtstrukturen in den Blick kommt.66 Zum anderen wird damit noch einmal deutlich, dass die vigilante Kontrolle von Kriminalität mittels des Lynchens mit einer Kontrolle von Herrschaftsstrukturen verbunden ist, die auch darin ihren Niederschlag findet, dass die Grenze zwischen Devianzkontrolle und Sozialkontrolle schnell verwischt wird. Das vigilante Lynchskript kann so zu einem Unterdrückungsinstrument lokal dominanter Statusgruppen abgewandelt werden.67 Exemplarische Beispiele hierfür sind all jene Lynchmobs, die Mitglieder ethnischer oder religiöser Minderheiten zu ihren Opfern machen und deren dominante treibende Kraft Hass, »das Verlangen, die schiere Existenz ihres Zielobjekts zu beeinträchtigen«, sein dürfte.68 Eine zweite Organisationsform des Lynchens ergibt sich aus der Betrachtung der Zeitdimension. Der vigilante Lynchmob ist eine temporäre Organisation, die sich nach der Bestrafung auflöst. Die Arbeit (besonders des gewalttätigen Kerns) dieser Organisation lässt sich auf Dauer stellen, indem erstens die Struktur der Gruppierung formalisiert wird und zweitens das Handeln der Akteure vergütet wird. Die dann entstehenden Sozialsysteme werden in der einschlägigen Literatur zum Beispiel als Komitees, Milizen oder Geheimbünde bezeichnet. Die Formalisierung der Organisationsstruktur des Lynchskripts führt zu einer Unterscheidung von Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern, zu einer eindeutigeren Hierarchisierung von Positionen, zu verstärkter Arbeitsteilung und einer damit verbundenen Spezialisierung und Rollendifferenzierung. Hinzu kommt eine Routinisierung beziehungsweise Ritualisierung des Bestrafungsvorgangs, die emotional vermehrt zu einer emotionalen Indifferenz gegenüber den Opfern führt. Die Dauerhaftigkeit des Handelns der Organisationsmitglieder wird durch die Bereitstellung von Ressourcen durch die Mitglieder der Organisation und/oder die Gemeinschaft als Ganzer ermöglicht. Mit dieser Variante des Lynchskripts bewegt sich die Ordnung der selbsttätigen Gewalthilfe in die Richtung eines staatlichen Sozialgefü66 67 68

Richard Maxwell Brown, Strain of Violence, Oxford 1975. Stewart E. Tolnay, E. M. Beck, A Festival of Violence. An Analysis of Southern Lynchings 1882–1930, Urbana 1995. Frijda, The Laws, S. 263.

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ges, da die vigilante Organisation aufgrund ihrer jetzt dauerhaft überlegenen Handlungsfähigkeit zunehmend in der Lage ist, für sich ein(e Art) Gewaltmonopol zu erzeugen und zu reklamieren. Aufgrund des Nexus von Kriminalitätsbekämpfung und politischen Herrschaftsstrukturen wird diese Variante in der Regel schnell von Partialinteressen dominiert, zumal auch das Personal selbst ein Interesse am Fortbestand seiner Organisation entwickelt. Auf diese Weise kann eine Gewaltordnung entstehen, in der der Staat zur Beute wird und die Trutz von Trotha als »neo-despotisch«69 bezeichnet hat. Ein prototypisches Beispiel ist das San Francisco Vigilante Commitee in der Mitte des 19. Jahrhunderts, das eine gewählte Stadtregierung absetzte, um eigene Herrschaftsinteressen realisieren zu können. Aus neuerer Zeit lassen sich Gruppierungen wie die Bakassi Boys in Nigeria nennen.70 Allen diesen Organisationsformen der Selbstjustiz gelingt es jedoch nicht, den Handlungsabschnitt der Urteilsfindung über den/die mutmaßlichen Täter von der Strafverfolgung und Strafvollstreckung abzukoppeln und damit als unabhängiges Handlungssystem zu etablieren. Der Grund dafür liegt in der Fokussierung der »Selbstjustiz« auf eine schnelle (und billige) Kriminalitätskontrolle mittels körperlicher Bestrafungen. Einer zeit- und ressourcenaufwändigeren Rechtsprechung im Sinne eines fairen, formal geregelten Verfahrens, das den Rechten des Angeklagten Rechnung trägt und auch Regeln für die Beschaffung und Bewertung von Schuldbeweisen enthält, kommt demgegenüber keine Wertschätzung zu. Die Folge ist, dass es zur Exekution von Unschuldigen kommt und das Verhältnis von Delikt und Bestrafung notorisch disproportional ist. Es gibt aber Fälle, wie zum Beispiel die Admalozi in Südafrika, die versuchen, der Urteilsfindung durch Simulation eines Gerichtsverfahrens mehr Gewicht zu verleihen.71 Auch wenn solche Simulationen aufgrund der fehlenden Unabhängigkeit und Rollendifferenzierung des rechtsprechenden Personals nicht in der Lage sind, die erwähnten Probleme systematisch zu

69 70 71

Von Trotha, Ordnungsformen. Daniel Jordan Smith, »The Bakassi Boys: Vigilantism, Violence, and Political Imagination in Nigeria«, in: Cultural Anthropology 2004, 19, 3, S. 429–455. Lars Buur, »Fluctuating Personhood: Vigilantism and Citizenship in Port Elisabeth’s Townships«, in: Pratten/Sen (Hg.): Global Vigilantes, S. 127–150.

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beheben, so wird durch das veränderte Interaktionsritual gleichwohl die emotionale Basis des vigilanten Bestrafungsskripts geändert: Die hot policy des Lynchens bewegt sich ein Stück weit in Richtung auf das für bürokratische Organisationen charakteristische Handeln sine ira et studio.

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II

DYNAMIK

Stephen Reicher

»Tanz in den Flammen« Das Handeln der Menge und der Quell ihrer Freude

Am 23. Juli 1967 führte die Polizei in einer Bar ohne Lizenz in der West Side von Detroit, Ecke 12. und Clairmount Street, eine Razzia durch. Ein Streit zwischen Gästen und Polizei eskalierte und endete mit der gewaltsamsten Ausschreitung, die es in einer amerikanischen Stadt während der an Revolten nicht gerade armen 1960er und 1970er Jahre gegeben hat. In den darauffolgenden fünf Tagen starben 43 Menschen, 1189 wurden verletzt, 7231 festgenommen, 2509 Geschäfte wurden geplündert oder in Brand gesteckt, 412 Gebäude so stark beschädigt, dass man sie abreißen musste, und der wirtschaftliche Gesamtschaden belief sich auf geschätzte 40–80 Millionen Dollar.1 In seiner Ausgabe vom 7. August 1967 (die mit dem Bild zweier junger schwarzer Männer, die auf ein brennendes Gebäude starren, und dem Bilduntertext titelte: »Schlachtfeld usa«) beschrieb das Magazin Newsweek die Ausschreitungen folgendermaßen: »Die Unruhen brachen über Detroit wie eine Feuersbrunst herein und verwandelten die fünftgrößte Stadt der usa in ein Kriegsszenario. Ganze Straßenzüge waren von Plünderern verwüstet, ganze Häuserblocks den Flammen geopfert worden. Die amerikanischen Streitkräfte – nach 25 Jahren das erste Mal bei einem Rassenkonflikt im Norden der Vereinigten Staaten im Einsatz – übernahmen auf den Straßen Amerikas das Kommando. Patton-Panzer – mit flammenden Maschinengewehren – und HueyHelikopter patrouillierten in einer Stadtlandschaft aus rußgeschwärzten Ziegelschornsteinen, die über ausgebrannten Kellergeschossen aufragten.«2 Bemerkenswert an dieser Schilderung ist ihr Hinweis auf die Wahllosigkeit und Grenzenlosigkeit der Zerstörung: ganze Straßenzüge sind 1 2

Sidney Fine, Violence in the Model City. The Cavanagh Administration, Race Relations, and the Detroit Riot of 1967, East Lansing 1989. Zitiert in Kevin D. Williamson, What Doomed Detroit, New York 2013.

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verwüstet, ganze Häuserblocks werden aufgegeben, die Stadtlandschaft als Ganze ist rußgeschwärzt und ausgebrannt. Bemerkenswert ist weiterhin, dass die wahllose Zerstörung sowohl vom Text als auch von den illustrierenden Bildern und den am häufigsten gebrauchten Metaphern (»eine Feuerbrunst«) im Symbol des Feuers eingefangen wird. So als wäre es den Newsweek-Journalisten darum gegangen, Elias Canettis Thesen zu illustrieren. Diese sind ergiebig und klar genug, um ausführlich zitiert zu werden: »Faßt man diese einzelnen Züge des Feuers zusammen, so ergibt sich ein überraschendes Bild: Es ist sich überall gleich; es greift rapid um sich; es ist ansteckend und unersättlich; es kann überall entstehen, sehr plötzlich; es ist vielfach; es ist zerstörend; es hat einen Feind; es erlischt: es wirkt, als ob es lebte, und wird so behandelt. Alle die Eigenschaften sind die der Masse, eine genauere Zusammenfassung ihrer Attribute ließe sich schwer geben. Man gehe sie der Reihe nach durch: Die Masse ist sich überall gleich; in den verschiedensten Zeitaltern und Kulturen, unter Menschen aller Herkunft, Sprache und Erziehung ist sie im wesentlichen dieselbe. Wo sie einmal entstanden ist, greift sie mit der größten Heftigkeit um sich. Ihrer Ansteckung können wenige widerstehen, sie will immer weiter wachsen, von innen sind ihr keine Grenzen gesetzt. Sie kann überall entstehen, wo Menschen beisammen sind, ihre Spontaneität und Plötzlichkeit sind unheimlich. Sie ist vielfach und hängt doch zusammen, unzählige Menschen machen sie aus, und man weiß nie genau, wie viele. Die Masse kann zerstörend sein. Sie wird gedämpft und gezähmt. Sie sucht sich einen Feind. Sie erlischt so plötzlich, wie sie entsteht, oft ebenso unerklärlich; und selbstverständlich hat sie ihr eigenes unruhig-heftiges Leben. Diese Ähnlichkeiten zwischen Feuer und Masse haben zu ihrer engen Verquickung geführt. Sie gehen ineinander über. Sie können füreinander stehen. Unter den Massensymbolen, die in der Geschichte der Menschheit immer wirksam waren, ist das Feuer eines der wirksamsten und wandelbarsten.«3

3

Elias Canetti, Masse und Macht (1960), Düsseldorf 1978 , S. 83f.

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Kurz gesagt: Das einmal entfachte Feuer hat (wie die Masse) seine eigene unwiderstehliche und unvorhersagbare Dynamik, es springt launenhaft von Ort zu Ort und zerstört dabei alles, was ihm in die Quere kommt. Es ist nur natürlich, ein solches Phänomen zu fürchten. Doch Canetti behauptet weiterhin, diese Furcht werde bei den Menschen von einer seltsamen Faszination überlagert. Menschen würden vom Feuer angezogen. Sie liefen darauf zu, statt vor ihm davonzulaufen. Ja, mehr noch, sie identifizierten sich mit dem Feuer, versuchten, mit ihm eins zu werden. Und dies kommt nach Canettis Ansicht beispielhaft im Tanz zum Ausdruck. Er erinnert deshalb an die Riten der mexikanischen Navajo: »Sie tanzen das Feuer selbst, sie werden zu Feuer. Ihre Bewegungen sind die von Flammen.«4 Es mag so erscheinen, als hätten wir Detroit bereits hinter uns gelassen. Doch das hieße, eine weitere wichtige Verbindung zu übersehen. In den Zeitungsberichten war nämlich nicht nur von dem Feuer und der Zerstörung die Rede, sondern auch von dem Vergnügen der Beteiligten. Der offizielle Bericht der amerikanischen Regierung (nach dem Vorsitzenden der zuständigen Regierungskommission besser bekannt als »Kerner-Bericht«) beschrieb, wie »sich der Geist eines sorglosen Nihilismus Bahn brach. Randale und Zerstörung schienen mehr und mehr zum Zweck an sich zum werden.«5 Die Menschen in der Menge schienen das Chaos zu genießen. Und ihrem Vergnügen konnten sie am besten durch Tanzen Ausdruck verleihen. Nicht von ungefähr entwickelte sich Martha Reeves’ Song Dancing in the Street in den 1960er Jahren zu einer Art Hymne der Rassenproteste.6 Diese symbolische Verknüpfung wurde möglicherweise durch den Umstand bestärkt, dass Reeves zu dem Zeitpunkt, als die Unruhen in Detroit ausbrachen, gerade dabei war, den Song im Detroiter Fox Theater aufzuführen. Und auch wenn Reeves diese Verbindung selbst zurückwies (als sie später gefragt wurde, ob der Song ein Ruf zu den Waffen sei, brach sie in Tränen aus und bestand darauf, dass »es ein

4 5 6

Ebenda, S. 86. Vgl. http://faculty.washington.edu/qtaylor/documents_us/Kerner%20Report.htm [3. 9. 2014]. Rollo Roming, »›Dancing in the Street‹. Detroit’s Radical Anthem«, in: The New Yorker, 22. Juli 2013.

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Party-Song ist«), verstanden viele Demonstranten den Song in ihrem eigenen Sinne. Während des Sommers 1967 ließ H. Rap Brown, der Vorsitzende der Bürgerrechtsorganisation S. N. C. C. (Student Nonviolent Coordinating Committee), bei seinen Kundgebungen und Demonstrationen in Schwarzenvierteln Dancing in the Street spielen. In seinem Buch über den Song behauptet Kurlansky, man habe damals die Zeile »Callin’ out around the world« als einen Aufruf zur Revolution verstanden.7 »Summer’s here and the time is right« sei als Aufforderung interpretiert worden, mit der Revolution jetzt sofort zu beginnen. Und die Aufzählung der Städte, angeführt von Detroit (»Can’t forget Motor City«), habe man als Botschaft gelesen, von welchen Orten die Revolution ausgehen sollte. Doch Kurlansky geht noch weiter. Er behauptet, der Song habe nicht nur zum Aufstand aufgerufen, er habe auch die Form der Ausschreitungen mitbestimmt: »Seltsamerweise machte sich bei den Ausschreitungen oft eine Party-Stimmung breit. Man kann es auf den Pressefotos der Ereignisse sehen – die Leute stehen herum, lachen, verspotten die Polizei. […] Der Song wurde gespielt. Die Leute sangen. Sie beschrieben das, was sie taten, als ›dancing in the street‹«.8 Anschließend zitiert er den radikalen Bürgerrechtler Tom Hayden, der Martha Reeves bescheinigte, ihr Song sei tatsächlich ein Partyhit; nur dass dies eine etwas andere Party sei. Auch der KernerBericht pflichtet dem Bürgerrechtler diesbezüglich bei, denn über Detroit ist darin zu lesen: »Am späten Sonntagnachmittag erschien es einem Beobachter so, als würden die jungen Leute ›in den Flammen tanzen‹.« Diese Charakterisierung einer Ausschreitung als eines »Tanzes in den Flammen« ist nicht auf die Vereinigten Staaten und auch nicht auf die 1960er Jahre beschränkt. Dies lässt sich an zwei Beispielen illustrieren. Das eine ist schon etwas älter: die 1780 in England ausgebrochenen Gordon-Unruhen. Christopher Hibbert erzählt, wie das NewgateGefängnis von Menschenmengen angriffen wurde, die aus dem Haus des Gefängniswärters allen Gin und Wein stahlen, die Gebäude und 7 8

Mark Kurlansky, Ready for a Brand New Beat. How »Dancing in the Street« Became the Anthem for a Changing America, New York 2013. Ebenda, S. 210.

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alles darin Befindliche in Brand setzten. Wer den Mut hatte, sich auf umliegenden Mauern und Mauervorsprüngen zu postieren, konnte, als das Gebäude schließlich so heiß wurde, dass man es nicht einmal mehr zu berühren vermochte, sehen, wie die Menge zu seinen Füßen ausgelassen in den Straßen tanzte. Für außenstehende Beobachter sahen diese ruß- und staubbedeckten Gestalten, auf denen sich die Flammen spiegelten, wie Ausgeburten der Hölle aus. Das zweite Beispiel ist jüngeren Datums. Es stammt von den ersten Massenereignissen, mit denen ich mich je wissenschaftlich beschäftigt habe, den sogenannten St.-Pauls-Unruhen vom 2. April 1980 in Bristol.9 Wie in Detroit wurden die Ausschreitungen durch eine Polizeirazzia in einer illegalen Bar für Schwarze ausgelöst. Man verjagte die Polizei aus St. Pauls und steckte anschließend die Polizeifahrzeuge und auch einige Häuser in Brand. Das Foto der in Flammen aufgehenden örtlichen Bank prangte am nächsten Morgen fast auf allen Titelseiten. Als alles in Flammen stand, berichtete ein Radioreporter der bbc live vom Ort des Geschehens: »Es ist keinesfalls so, dass die Menschenmengen hier Autos angreifen würden oder etwas Ähnliches, dennoch sieht es nach einer ziemlich brenzligen Situation aus, und am Besten fährt man einfach weiter […]. [V]or mir immer noch Rauch und zwei auf dem Dach liegende Autos, die Straße ist blockiert. Ich kann nicht erkennen, ob es sich dabei um Polizeifahrzeuge handelt oder nicht, doch Hunderte von Leuten laufen hier herum, sie lachen und scheinen zu scherzen, fast eine Karnevalsatmosphäre ist das – aber offenbar sehr gefährlich. Auch hier keine Polizisten, keine Feuerwehr. Die Menge ist wirklich und wahrhaftig außer Kontrolle.«10 Besonders erstaunlich ist hier, dass der Journalist einerseits von der Gefährlichkeit und Bedrohlichkeit der Situation überzeugt ist; er glaubt, persönlich in Gefahr zu sein – in einer Menschenmenge eingeklemmt, die wirklich und wahrhaftig außer Kontrolle geraten ist. Andererseits machen die Menschen einen fröhlichen Eindruck; 9

10

Stephen D. Reicher, »The St. Pauls Riot. An Explanation of the Limits of Crowd Action in Terms of a Social Identity Model«, in: European Journal of Social Psychology 14, 1984, S. 1–21. Zitiert nach ebenda, S. 308.

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sie lachen, und alles erinnert an einen Karneval. Der Journalist schwankt zwischen beiden Deutungen hin und her. Er kann das, was sich vor seinen Augen abspielt, nicht einordnen. Nur zu gerne wird das Unverständnis des Beobachters auf die Handelnden selbst projiziert.11 Unabhängig davon, welche Bedeutung das Tanzen in den Flammen für die Menschenmengen von London, Detroit und St. Paul gehabt haben mag, von denjenigen, die Nachrichten verfassen und damit auch Geschichte schreiben, wird es als bedeutungslos, unbedacht, widersinnig dargestellt. Schon die Flammen gelten hierfür als ausreichender Beleg. Wieso um Himmels willen sollte irgendein vernünftiger Mensch seine eigene Stadt niederbrennen? Warum sollte er sich an einer so wahllosen und unbedachten Zerstörung beteiligen? Warum entsteht die Zerstörungswut und legt sich dann so plötzlich auf geheimnisvolle Weise wieder? Sicherlich erhellen die Flammen das an sich gewaltsame und irrationale Wesen der Masse. Ja, diejenigen, die man am meisten mit dem Feuer assoziiert, sind gewiss auch die Irrationalsten in der Menschenmenge. Denken wir an die »Petroleuses«, jene Frauen, die man beschuldigte, in der Pariser Kommune Brände gelegt zu haben, und die zumal die Fantasie der frühen Massenpsychologen beflügelten.12 Goncourt schildert sie folgendermaßen: »[U]nter all diesen Gesichtern sticht der bestialische Kopf einer Kreatur hervor, deren halbes Gesicht eine einzige große Wunde ist […]. Viele von ihnen haben die Augen einer Wahnsinnigen.«13 Auch wurde ekstatisches – insbesondere kollektives – Tanzen zu allen Zeiten als ein Zeichen für Kontrollverlust und Irrationalität betrachtet. In der antiken Mythologie werden die Mänaden (wörtlich »die Rasenden«), die weiblichen Anhängerinnen des Dionysos (bei den Römern Bacchus, nach dem sie deshalb auch Bacchantinnen genannt werden), so dargestellt, als seien sie durch Wein und Tanz in einen Zu-

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12 13

Stephen D. Reicher/Jonathan Potter, »Psychological Theory as Intergroup Perspective. A Comparative Analysis of ›Scientific‹ and ›Lay‹ Accounts of Crowd Events«, in: Human Relations 38, 1985, S. 167–189. Robert A. Nye, The Origins of Crowd Psychology. Gustave Le Bon and the Crisis of Mass Democracy in the Third Republic, London 1975. Zitiert nach Gay L. Gullickson, Unruly Women of Paris. Images of the Commune, Ithaca 1996.

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stand ekstatischen Rausches versetzt worden. In der frühen Moderne wurden Tanzanfälle – bei denen Individuen oder Gruppen wild, scheinbar unkontrollierbar tanzten, bis sie zusammenbrachen oder (manchmal) starben – zu einem Symbol für individuelle oder soziale Pathologien.14 Diese Vorstellungen haben in den unwahrscheinlichsten Nischen unserer Gegenwartskultur überlebt. So beschreibt auch das »Vollständige Monster-Handbuch« des Fantasy-Spiels »Dungeons and Dragons« die Bacchant(inn)en als »Petitioner, die vom Geist dionysischer Lustbarkeit besessen sind und sich in rasende Meuten verkommener Kreaturen verwandeln, im Stande, alles zu zerfetzen, was ihnen in die Quere kommt«.15 Wenn auch jedes einzelne dieser Motive (das Feuer und der Tanz) für sich allein schon suggestiv genug ist, so entfalten sie zusammen genommen – und im Bild der ekstatischen, schwankenden, umherwirbelnden und zerstörerischen Massen eingefangen – einen geradezu hypnotischen Sog, unter dessen Eindruck die versammelte Menschenmasse unausweichlich zum Sinnbild für den Abschied von der sozialen Ordnung, zu einem symbolischen Ort der Ausnahme, des Exzesses und des Bösen, zu einem Zeichen der Irrationalität und des Wahns verklärt wird. Wie es Ehrenreich in ihrer bezeichnenderweise Dancing in the Streets überschriebenen Geschichte der kollektiven Freude formuliert (Martha Reeves Arm ist offenbar ziemlich lang): »Nürnberg 1934 und Paris 1789, der Holocaust und die Schreckensherrschaft – alle verschmelzen mit den Kriegstänzen der Irokesen und den Initiationsriten der australischen Aborigines zu einer einfachen Kategorie des wilden und potenziell menschenmörderischen Verhaltens.«16 Alles in allem hielten es Beobachter und Theoretiker von Massenphänomenen – deren unbeteiligter Blick auf die Menge genau wie der Blick von Journalisten in der Regel durch Unverständnis, Furcht und Widerwillen geprägt war – für schlimm genug, dass Randalierer Dinge zer-

14 15 16

John Waller, A Time to Dance, A Time to Die. The Extraordinary Story of the Dancing Plague of 1518, Cambridge 2008. Vgl. http://www.lomion.de/cmm/bacchae.php [ 3. 9. 2014]. Barbara Ehrenreich, Dancing in the Streets. A History of Collective Joy, New York 2006, S. 185.

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stören; dass sie die Zerstörung aber offenbar auch noch genießen, wurde als vollkommen unerträglich empfunden. Meine Kollegen und ich haben die Erfahrung gemacht, dass man jedes Mal, wenn man gebeten wird, in den Medien irgendwelche Ausschreitungen (etwa die Londoner Ausschreitungen im Jahr 2011) zu kommentieren, als Allererstes die Ereignisse verurteilen muss, bevor man sich überhaupt zu den Geschehnissen äußern darf. Es ist so, als bekäme man erst dadurch, dass man sein Entsetzen über die Zerstörung zum Ausdruck bringt, Zutritt zum Raum der zivilisierten Debatte. Neutralität alleine genügt nicht. Wer sich aber tatsächlich über die Zerstörung freut, stößt auf tiefe Empörung. Als zwei junge Mädchen in der Nachrichtensendung der bbc beschrieben, wie sehr sie die Londoner Ausschreitungen genossen hätten (während zugleich Bilder von brennenden Gebäuden gezeigt wurden), löste dies heftige Reaktionen aus.17 In den Kommentaren, die man unter dem YouTube-Film lesen kann, werden sie mehrfach als »widerwärtig« und als »Vollidiotinnen« beschimpft – und das sind noch die harmloseren Kommentare. Viele andere sind brutal, obszön und hasserfüllt. Man wünscht den Mädchen, Opfer einer Vergewaltigung zu werden. Durch ihr Bekenntnis, Spaß gehabt zu haben, hatten sie sich – aus Sicht vieler Zuschauer – offenbar aus der moralischen Gemeinschaft verabschiedet; damit hatten sie gewissermaßen ihre Menschlichkeit verwirkt und waren zu Objekten geworden, denen man jede erdenkliche Gewalt antun durfte. All das macht es außerordentlich schwierig, sich der einhelligen Verurteilung zu entziehen und einen kritischen Blick auf das landläufige Vorurteil zu riskieren, demzufolge Menschenmengen im Allgemeinen – und gewaltbereite Mengen im Besonderen – angeblich pathologische Orte sind, die eine Ausnahme zum Alltagsleben bilden. Zu diesem Zweck möchte ich zunächst einmal die psychologischen Veränderungen untersuchen, die sich in einer Menge vollziehen, und meine Hypothesen begründen, dass sie nicht mit dem Verlust von Vernunft oder Kontrolle verbunden sind und dass die Ekstase der Menge eher ein Anzeichen für die Sinnhaftigkeit als für die Sinnlosigkeit ihres Handelns ist. Dann möchte ich zeigen, welche Veränderungen jenseits

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Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=ljdhEvosC3l [3. 9. 2014].

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der Menge durch die Teilnahme an einem Massenereignis angestoßen werden. Und schließlich hoffe ich, die soziale Bedeutung des In-denFlammen-Tanzens einholen zu können.

Veränderungen in der Menge Die traditionelle Massenpsychologie gründet in einem Narrativ des Verlusts. Gustave Le Bon zufolge – zweifellos der einflussreichste Massenpsychologe überhaupt, dessen Buch Psychologie der Massen von 1895 wahrscheinlich das einflussreichste psychologische Werk aller Zeiten war und es vermutlich auch bis heute ist18 – verlieren die Menschen, sobald sie Teil einer Masse werden, ihr Selbstgefühl (Untertauchen). Infolgedessen verlieren sie ihre Urteilskraft und schnappen jede vorüberziehende Gefühlsidee auf (Ansteckung), doch sie fallen auch in ein primitives »rassenspezifisches« Unbewusstes zurück, das ihr Handeln entsprechend roh sein lässt (Suggestion). Der Mensch in der Masse, sagt Le Bon, sei ein auf der Zivilisationsleiter einige Stufen hinabgesunkener Barbar. Menschen in der Masse seien unkontrolliert, bei ihnen komme es zu raschen und unvorhersehbaren Verhaltensumschwüngen. Da sie nicht mehr der Logik des Eigeninteresses gehorchten, seien sie zu großem Heldenmut, vor allem aber zu großer Brutalität fähig. Die Masse hat aus Le Bons Perspektive lediglich eine zerstörerische Macht. Vieles lässt sich gegen Le Bons Ideen einwenden.19 Das wesentliche Problem stellt meines Erachtens indes sein desozialisierter und individualistischer Begriff des Selbst dar. Verdeckt man dieses Selbst, dann steht man am Ende ganz ohne Selbst da, ohne jeden Bezugsrahmen für die Urteilsbildung, die Ausübung von Kontrolle, die Zurückweisung falscher Behauptungen. Das Individuum erscheint dann für die Dauer seines Aufgehens in der Masse wie ein anderes Wesen, wie ein Wesen, dem alles zuzutrauen ist.

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Gustave Le Bon, Psychologie der Massen (1895), Stuttgart 1982; Serge Moscovici, Das Zeitalter der Massen. Eine historische Abhandlung über die Massenpsychologie, München 1984. Vgl. zum Beispiel Susanne Barrows, Distorting Mirrors. Visions of the Crowd in Late Nineteenth Century France, New Haven 1981; Clark McPhail, Myths of the Madding Crowd, New Brunswick 1991; Nye, Origins of Crowd Psychology.

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Doch die heutige Sozialpsychologie hält ein solches Bild des Selbst nicht mehr für angemessen (zumindest herrscht diesbezüglich keineswegs Einigkeit). Eine der wichtigsten Strömungen innerhalb der Sozialpsychologie, die Theorie der sozialen Identität,20 geht davon aus, dass das Selbst ein vielschichtiges System ist, innerhalb dessen das Selbst auf verschiedenen Abstraktionsebenen anderen gegenüber definiert wird. Sicher definieren wir uns auf einer individuellen Ebene oft durch unsere Unterschiedenheit von anderen (personale Identität: »ich« vs. »du«), doch genauso definieren wir unsere Besonderheit auf einer kategorialen Ebene beziehungsweise auf einer Ebene der Gruppenzugehörigkeit (soziale Identität: »wir« vs. »sie«). In vielen Zusammenhängen werde ich mich, mit anderen Worten, als Mitglied der Gruppe, zu der ich gehöre, wahrnehmen – etwa als Italiener, als Frau, als Katholikin oder als Sozialistin. Wenn ich von der Selbstidentifikation auf der individuellen Ebene zur Identifikation auf der sozialen Ebene übergehe, dann – so die Kernüberzeugung – wird die Gruppe zu dem Rahmen, durch den ich die Welt wahrnehme und interpretiere. Sie ist auch der Rahmen dafür, wie wir die Welt beurteilen und wie wir uns in ihr fühlen. Mein Selbstgefühl ist davon abhängig, was man meiner Gruppe antut und was meine Gruppe anderen angetan hat. Ich kann mich über Angriffe auf weit entfernte Gruppenmitglieder ärgern. Ich kann mich für die Akte der Unterdrückung schämen, die meine Gruppe schon vor meiner Geburt begangen hat.21 Anders ausgedrückt, bringt uns soziale Identifikation dazu, die Bedeutung aller mit dem Selbst verbundenen Begriffe neu zu kalibrieren: Selbstwertschätzung verweist auf das Ansehen der Gruppe in der Welt, nicht auf das persönliche Ansehen der eigenen Person; Selbst20

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Ein Überblick jüngeren Datums findet sich in Stephen D. Reicher/Russell Spears/ S. Alexander Haslam, »The Social Identity Approach in Social Psychology«, in: Margaret Wetherell/Chandra Talpade Mohanty (Hg.), The Sage Handbook of Identities, London 2010, S. 45–62. Vgl. Diane M. Mackie/Angela Therese Maitner/Elliot R. Smith, »Intergroup Emotions Theory«, in: Todd D. Nelson (Hg.), Handbook of Prejudice, Stereotyping, and Discrimination, Mahwah 2009, S. 285–308; Eliot R. Smith/Charles Robert Seger/ Diane M. Mackie, »Can Emotions Be Truly Group Level? Evidence Regarding Four Conceptional Criteria«, in: Journal of Personality and Social Psychology 93, 2007, S. 431–446.

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wirksamkeit erscheint nun als Potenzial der Gruppe zur gemeinsamen Gestaltung der Welt, nicht als Potenzial des Einzelnen zu einsamem Handeln; am wichtigsten aber ist vielleicht, dass das Eigeninteresse hier als das Interesse des Kollektivs und nicht als das Interesse des Individuums verstanden wird. Bin ich Mitglied einer Gruppe, dann ist ein Vorteil für andere Mitglieder der Gruppe psychologisch gesehen auch ein Vorteil für mich, selbst dann, wenn ich persönlich nichts davon habe. Die Beleidigung eines Mitglieds der Gruppe wird entsprechend als eine Beleidigung aller wahrgenommen. Aus einer solchen Perspektive ist es nun in keiner Weise sinnvoll, von einem »Verlust« der Identität (und damit der Kontrolle) zu sprechen. Rückt ein Teil des Selbst-Systems in den Hintergrund, dann rückt ein anderer in den Vordergrund. In diesem Sinne möchte die Theorie der sozialen Identität zweierlei verstehen: wie nämlich einerseits Veränderungen am Selbst-System zu Änderungen des sozialen Verhaltens führen und wie dieses andererseits auf das Selbst wirkt.22 Was das Verhalten von Mengen oder »Massen« angeht, so muss man deshalb sehr genau unterscheiden zwischen Menschengruppen, die einfach zur selben Zeit am selben Ort sind, sich aber im Übrigen als getrennte Individuen wahrnehmen – wie zum Beispiel Menschen, die an einem Samstagnachmittag einkaufen gehen, oder Pendler, die in einem Zugabteil zusammengepfercht sind –, und versammelten Gruppen, die ihrer eigenen Wahrnehmung nach zu derselben gesellschaftlichen Kategorie gehören – wie etwa die Teilnehmer an einer politischen Demonstration oder die Anhänger einer bestimmten Fußballmannschaft im Stadion. Ersteres würden wir als Aggregat (aggregate) bezeichnen, nur Letzteres hingegen als psychologische Gruppe oder Menge (crowd). Zudem steht es nicht fest, wie sich Menschen bei einem kollektiven Ereignis selbst kategorisieren, und zwar weder von vorneherein noch für alle Zeiten. Hätte der eben genannte Pendlerzug eine Panne oder bliebe ohne erkennbare Ursache stecken – was für viele Briten eine nur allzu vertraute Erfahrung ist –, dann würden sich die Men-

22

Stephen D. Reicher u. a., »A Social Mind: The Context of John Turner’s Work and its Influence«, in: European Review of Social Psychology 23, 2013, S. 344–385.

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schen in den Zugabteilen aller Voraussicht nach nicht mehr individuell definieren, sondern nun durch die Zugehörigkeit zu einer gemeinschaftlichen (geschädigten) Gruppe von Reisenden.23 Doch es gibt wirklich eine Fülle von Belegen dafür, dass Katastrophen und Notfälle bei ursprünglich ganz verschiedenen Individuen das Gefühl eines geteilten Schicksals und damit einer gemeinsamen Identität hervorrufen.24 Aber für unsere gegenwärtigen Zwecke ist vielleicht entscheidend, dass es auch eine Fülle von Belegen gibt, die zeigen, wie die veränderliche Dynamik zwischen den Gruppen auch das jeweilige Selbstverständnis der diversen Parteien eines kollektiven Ereignisses verändert. Wir haben unsere Analyse dieser Dynamik ein »erweitertes massenpsychologisches Modell der sozialen Identität«, kurz: emsi (Elaborated Social Identity Model of Crowd Psychology), genannt.25 emsi geht von der Prämisse aus, dass Identitäten grundsätzlich positional sind: ein Gefühl oder Bewusstsein dafür, wo wir in einer Reihe von sozialen Beziehungen stehen. Verändert sich unsere soziale Stellung, so ändert sich auch unser Identitätsgefühl. Im Alltag dienen unsere Interaktionen mit anderen meist dazu, vorhandene Identitäten zu bestätigen. Andere sehen uns so, wie wir uns selbst sehen, und bestärken uns in unserem Selbstgefühl. Dasselbe gilt für viele massenpsychologische Zusammenhänge. Manchmal allerdings gilt es nicht. Bemerkenswerterweise betrachtet die Polizei – wobei sie zum Teil auf traditionelle massenpsychologische Modelle zurück23

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25

Vgl. Fergus Neville/Stephen D. Reicher, »The Experience of Collective Participation. Shared Identity, Relatedness, and Emotionality«, in: Contemporary Social Science 6, 2011, S. 377–396. Siehe unter anderem John Drury, »Collective Resilience in Mass Emergencies and Disasters. A Social Identity Model«, in: Jolanda Jetten/Catharine Haslam/S. Alexander Haslam (Hg.), The Social Cure. Identity, Health and Well-Being, Hove/New York 2012; John Drury/Christopher Cocking/Stephen D. Reicher, »Everyone for Themselves? A Comparative Study of Crowd Solidarity Among Emergency Survivors«, in: British Journal of Social Psychology 48, 2009, S. 487–506. John Drury/Stephen D. Reicher, »Collective Psychological Empowerment as a Model of Social Change. Researching Crowds and Power«, in: Journal of Social Issues 65, 2009, S. 707–726; Stephen D. Reicher, »The Battle of Westminster. Developing the Social Identity Model of Crowd Behaviour in Order to Deal with the Initiation and Development of Collective Conflict«, in: European Journal of Social Psychology 26, 1996, S. 115–134.

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greift26 – Menschen in einer Menge ipso facto als gefährlich. Ja, mehr noch: Die Polizei verfügt auch über die Macht, die Menschen in der Menge so zu inszenieren, als seien sie gefährlich – sie kann sie absperren, ihnen den Zutritt zu »sensiblen« Orten verweigern, sie gelegentlich durch aggressives Eingreifen auseinandertreiben. Für all diejenigen, die sich eigentlich als freie demokratische Subjekte betrachten, welche lediglich von ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch machen – demonstrierende Mengen sind typischerweise heterogen, das heißt, sie setzen sich psychologisch gesehen aus ganz unterschiedlichen Gruppen zusammen, von denen einige möglicherweise den Staat provozieren wollen, viele andere aber nicht oder zumindest zunächst einmal nicht –, bedeutet dies eine radikale Repositionierung mit weitreichenden Konsequenzen. Werden sie zusammen mit der restlichen Menge als »die Gegenseite« behandelt, dann definieren sie sich oftmals alle zusammen selbst so, als würden sie »Widerstand leisten«. Auf diese Weise wird aus einer vollkommen disparaten Masse eine einheitliche Menge, vereint in ihrem Widerstand gegen die Polizei. Mit ihrem Selbstgefühl verändert sich auch ihre Wahrnehmung, wer Freund und wer Feind ist, ihr Macht- und Möglichkeitsgefühl, verändern sich ihre Pläne und Ziele, selbst ihre Vorstellungen davon, was eigentlich einen Erfolg oder einen Misserfolg ausmacht.27 Um die Interaktion zwischen der Menge und der Polizei allerdings in allen ihren Facetten zu verstehen, müssen wir uns genauer mit den psychologischen Folgen auseinandersetzen, die mit der Entstehung einer gemeinsamen Identität in der Menge verbunden sind. Ich möchte 26

27

Clifford Stott/Stephen D. Reicher, »Crowd Action as Intergroup Process. Introducing the Police Perspective«, in: European Journal of Psychology 28, 1998, S. 509–530. Vgl. zum Beispiel John Drury/Stephen D. Reicher, »The Intergroup Dynamics of Collective Empowerment. Substantiating the Social Identity Model of Crowd Behaviour«, in: Group Processes and Intergroup Relations 2, 1999, S. 381–402; John Drury/Stephen D. Reicher, »Collective Action and Social Change. The Emergence of New Social Identities«, in: British Journal of Social Psychology 39, 2000, S. 597–604; John Drury/Stephen D. Reicher, »Explaining Enduring Empowerment. A Comparative Study of Collective Action and Psychological Outcomes«, in: European Journal of Social Psychology 35, 2005, S. 35–58; John Drury/Stephen D. Reicher/Clifford Stott, »Transforming the Boundaries of Collctive Identity. From the ›Local‹ AntiRoad Campaign to ›Global‹ Resistance«, in: Social Movement Studies 2, 2003, S. 191–212.

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zeigen, dass im Wesentlichen drei Transformationen stattfinden, die sich als kognitive, relationale und affektive Transformationen kennzeichnen lassen. Im Folgenden werde ich der Reihe nach auf sie eingehen. Kognitive Transformationen: Wenn sich Menschen über eine soziale Identität definieren, dann richten sie ihr Handeln an den Normen, Werten und Überzeugungen aus, die zu der für sie maßgeblichen sozialen Kategorie gehören – zum Beispiel daran, was es heißt, ein Umweltschützer, ein Sozialist, ein Katholik oder irgendetwas anderes zu sein. Eine gemeinsame Identität in der Menge bedeutet mithin, dass die Menschen in der Menge aufgrund gemeinsamer Einschätzungen und gemeinsamer Prioritäten handeln. Es bedeutet auch, dass unterschiedliche, mit verschiedenen sozialen Kategorien assoziierte Menschenmengen auch unterschiedlich handeln. Dies deutet schon auf ein wesentliches Problem der traditionellen Massenpsychologie hin: Sie geht nämlich davon aus, dass sich alle Mengen (oder Massen) gleich verhalten. Da die klassische Massenpsychologie von den besonderen Verhaltensweisen der besonderen Mengen unter besonderen Umständen (nämlich den Umständen des Klassenkampfes im Frankreich des 19. Jahrhunderts, als die Massenpsychologie aus der Taufe gehoben wurde) abstrahiert, essentialisiert sie diese Verhaltensweisen und überträgt sie auf alle Mengen zu allen Zeiten und an allen Orten.28 Gleichermaßen macht es ein solches Abstrahieren der Menge von ihrem Kontext unmöglich, die Bedeutung des Handelns der Menge in einem konkreten Zusammenhang zu rekonstruieren. Durch eine solche Abstraktion wird die Vorstellung befördert, Mengen handelten blind und unbedacht. Dies ist vielleicht das Auffälligste an den Reaktionen auf jedes x-beliebige zerstörerische Massenereignis. Es schlägt sich in der Sprache nieder, mit der man es beschreibt – in Ausdrücken wie »Mob«, »Randale« und, wie wir gesehen haben, in der ganzen Feuer-Symbolik. Doch wenn man Massenereignisse einmal näher betrachtet, dann stellt man fest, dass keineswegs beliebig gehandelt wird. Vielmehr lassen sich Muster erkennen, in denen die gemeinsamen Überzeugungen der Gruppen, aus denen sich die Menge zusammensetzt, zum Ausdruck kommen.

28

Reicher/Potter, Psychological Theory.

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So könnte man etwa denken, eine Hungerrevolte stelle ein ganz besonders elementares und primitives Ereignis dar: Die Menschen werden hungrig, sie werden wütend, sie explodieren und zerstören alles, was ihnen auf ihrer Jagd nach Nahrung in die Quere kommt. Doch schon Edward Thompsons großartige Untersuchung hat gezeigt, dass die Protagonisten einer Hungerrevolte nach einer »moralischen Ökonomie« handeln, die vorschreibt, wie und wo Nahrungsmittel zu verteilen sind; diese Ökonomie leitet also ihr Handeln.29 Im Hinblick auf die französischen Religionskriege des 16. Jahrhunderts – die zu den blutigsten der europäischen Geschichte gehörten – hat wiederum Natalie Davis die verschiedenen Handlungsmuster von Protestanten und Katholiken untersucht und gezeigt, wie diese die unterschiedlichen Überzeugungen bezüglich Häresie und Unreinheit widerspiegeln.30 In einer vergleichbaren Analyse der Aufstände in der französischen Stadt Rouen fand William Reddy heraus, dass die Ziele der Textilarbeiter von ihrem Gesellschaftsbegriff geprägt waren.31 Seine Beobachtungen besitzen allgemeine Gültigkeit. Und dennoch: Mit der Beobachtung, dass die Menschen in der Menge aufgrund von Gruppenüberzeugungen handeln und dass dies die Handlungsmuster der Menge erklärt, möchten wir nicht behaupten, die Menschen in der Menge handelten gewissermaßen mechanisch, so als folgten sie einem vorgegebenen Drehbuch. Nicht zuletzt weil Massenereignisse oftmals neuartig oder mehrdeutig sind und es folglich für sie kein vorgegebenes Drehbuch gibt oder geben kann, gehört zum Handeln der Menge immer auch ein interpretatives Moment.32 Die Menschen in der Menge müssen also herausfinden, wie sich ihre Überzeugungen auf eine konkrete Situation anwenden lassen; damit ist auch ein Spielraum für Meinungsverschiedenheiten gegeben. Und umgekehrt: Auch wenn im Rahmen der ungewissen 29

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Edward P. Thompson, »Die ›moralische Ökonomie‹ der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert«, in: ders., Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1980, S. 67–129. Natalie Zemon Davis, »The Rites of Violence. Religious Riot in Sixteenth Century France«, in: Past and Present 59, 1973, S. 51–91. William M. Reddy, »The Textile Trade and the Language of the Crowd at Rouen 1752–1871«, in: Past and Present 74, 1977, S. 62–89. Reicher, The St. Pauls Riot.

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und veränderlichen Dynamik eines Massenereignisses verschiedene Verhaltensweisen angemessen erscheinen mögen, so bedeutet dies längst nicht, dass alles »geht«. Auch wenn das Verhalten der Menge instabil sein mag, so ist es doch innerhalb klarer Grenzen instabil – und nur deshalb entstehen nachvollziehbare Handlungsmuster. Man kann also eigentlich nicht sagen, das Verhalten würde durch eine gemeinsame Identität determiniert. Angemessener ist es, davon auszugehen, dass die Identität einen Prozess in Gang setzt, durch den eine Verständigung über die Handlungsweise erzielt wird. Das heißt, die Mitglieder einer Gruppe haben die Erwartung, sich über Angelegenheiten, die für die Gruppe von Bedeutung sind, einigen zu können.33 Und nicht nur haben sie die Erwartung, sich einigen zu können, sie versuchen auch, eine solche Einigung aktiv herbeizuführen (es sei denn, das, was der andere sagt, steht in offensichtlichem Widerspruch zu den Überzeugungen der Gruppe), sie konzentrieren sich auf ihre Gemeinsamkeiten und finden auf diese Weise zu einer gemeinsamen Haltung – ein Prozess, der sich als »Konsensualisierung« bezeichnen lässt.34 Man kann aber auch sagen, dass eine gemeinsame Identität es völlig unterschiedlichen Individuen erlaubt, sich einander kognitiv anzupassen – die Welt mit denselben Augen zu sehen und dieselben Ziele zu haben. Relationale Transformationen: Die Tatsache, dass diejenigen, die eine gemeinsame soziale Identität besitzen, auch die Erwartung hegen, sich miteinander zu verstehen, ist nur eine der diversen Transformationen, die stattfinden und die gemeinsames Handeln und eine Zusammenarbeit zwischen den Menschen in der Menge erleichtern. Diese Transformationen sind auch dadurch begründet, dass Menschen, sobald sie sich auf kategorialer Ebene definieren, Menschen derselben sozialen Kategorie nicht mehr als »andere« betrachten, sondern nun als Teil ihres Selbst wahrnehmen. Dadurch werden alle Begleiterscheinungen des Andersseins überwunden. Es findet eine Verschiebung in Richtung Intimität statt. Erstens werden wir den Mitgliedern unserer eigenen Gruppe wahrscheinlich mehr Vertrauen und Respekt und folglich auch mehr 33 34

John Charles Turner, Social Influence, Milton Keynes 1991. S. Alexander Haslam u. a., »The Group as a Basis for Emergent Stereotype Consensus«, in: European Review of Social Psychology 8, 1998, S. 203–239.

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Kooperationsbereitschaft entgegenbringen.35 Zweitens wird uns der Geruch und die Berührung anderer Körper vermutlich weniger ekeln, wenn es die Körper unserer Gruppenmitglieder sind; bei ihnen tolerieren wir eine größere körperliche Nähe, ja wünschen sie vielleicht sogar.36 Dies stärkt die Fähigkeit der Menschen in der Menge, miteinander zu kooperieren und (manchmal buchstäblich) an einem Strang zu ziehen. Denn es ist ziemlich schwierig, mit anderen zusammenzuarbeiten, wenn man ihre Nähe nicht erträgt! Und drittens sind wir vermutlich eher geneigt, anderen Mitgliedern unserer Gruppe zu helfen und sie zu unterstützen.37 Dies ist sogar dann der Fall, wenn eine solche Unterstützung für uns ein erhebliches Risiko darstellt. So werden etwa die Menschen in der Menge tun, was sie können, um eine Verhaftung ihrer Mitstreiter zu vermeiden, selbst wenn sie diese Mitstreiter persönlich gar nicht kennen.38 Die gemeinsame Identität ist mit anderen Worten ein psychologischer Mechanismus zur Schaffung kollektiver Solidarität. Damit besitzen die Menschen in der Menge also nicht nur dieselben Wahrnehmungen und Ziele, sie entwickeln auch die Fähigkeit, zusammenzuarbeiten, um ihre Ziele zu verwirklichen. Bei den Menschen mit gemeinsamer Gruppenidentität ist also nicht nur eine kognitive Angleichung, sondern auch eine Koordination ihrer individuellen Anstrengungen zu verzeichnen. Die Menschen sind (wie gesagt: quasi buchstäblich) imstande, an einem Strang zu ziehen. Diese Kombination aus kognitiven und relationalen Prozessen führt zu einer Stärkung der Menschen in der Menge, die, wie wir noch zeigen möchten, eine Bedingung für die dritte Transformation darstellt.39

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38 39

Tom Tyler/Richard Stephen Blader, Cooperation in Groups. Procedural Justice, Social Identity, and Behavioral Engagement, Philadelphia 2000. David Novelli u. a., »Crowdedness Mediates the Effect of Social Identification on Positive Emotion in a Crowd. A Survey of Two Crowd Events«, in: PLOS ONE 2013, 8 (11): e78973. Stephen D. Reicher/S. Alexander Haslam, »Beyond Help. A Social Psychology of Social Solidarity and Social Cohesion«, in: Mark Snyder/Stefan Sturmer (Hg.), The Psychology of Prosical Behaviour, Oxford 2009, S. 289–310. Reicher, The Battle of Westminster. Drury/Reicher, The Intergroup Dynamics of Collective Empowerment; Drury/Reicher, Collective Psychological Empowerment.

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Affektive Transformation: Halten wir einen Moment lang inne und führen uns die Implikationen der bisherigen Ergebnisse vor Augen. Sie stellen eine der grundsätzlichsten Überzeugungen der klassischen Massenpsychologie auf den Kopf, der zufolge der vermeintliche Identitäts- und Kontrollverlust in der Menge nichts anderes als der Vorbote für einen sogar noch folgenschwereren Verlust sei – für den Verlust der Handlungsfähigkeit. Die Menschen in der Menge, so argumentieren Le Bon und seine Anhänger, sind grundsätzlich konservativ. Sie können nichts schaffen, sie können nur zerstören. Sie sind eher Objekte als Subjekte, den auf sie einwirkenden Ideen und Gefühlen ausgeliefert. Sie sind nicht in der Lage, irgendetwas in die Hand zu nehmen, zumal nicht ihr eigenes Schicksal. Die Untersuchungen, die ich zusammen mit meinen Kollegen John Drury, Clifford Stott und Fergus Neville vorgenommen habe, legen hingegen den Schluss nahe, dass durchschnittlichen Menschen nur in der Menge die Macht zur Gestaltung ihrer eigenen Welt erwächst. Während wir uns im Alltag normalerweise den Strukturen und Maßstäben anpassen müssen, die andere uns vorgeben, können wir als Glieder einer Menge unsere eigenen Welten erschaffen. Genau das meinte der französische Historiker Georges Lefebvre, als er sagte, dass die Menschen nur in der Menge ihre belanglosen Alltagssorgen hinter sich lassen und zu Subjekten der Geschichte werden.40 In sozialpsychologischen Begriffen ausgedrückt heißt das, dass Menschen, die als Menge über eine gemeinsame Identität verfügen, nicht nur die Fähigkeit besitzen, sich darüber zu verständigen, wer sie sind und was sie tun sollten, sondern auch imstande sind, auf der Grundlage dieses Verständnisses zu handeln. Den Vollzug (enactment) einer sozialen Identität haben wir als »kollektive Selbstverwirklichung« (ksv) bezeichnet.41 Außerdem haben wir zu zeigen versucht, dass die überaus positive Gefühlslage der Menschen in der Menge eine Folge ihrer kollekti-

40 41

Georges Lefebvre, Études sur la Révolution française, Paris 1954. Stephen D. Reicher, »Mass Action and Mundane Reality. An Argument for Putting Crowd Analysis at the Centre of the Social Sciences«, in: Contemporary Social Science 6, 2011, S. 433–450. An anderer Stelle habe ich in einer mit John Drury zusammen verfassten Arbeit den Begriff der »kollektiven Selbstobjektivierung« gebraucht, um dasselbe Phänomen zu benennen; vgl. Drury/Reicher, Collective Psychological Empowerment.

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ven Selbstverwirklichung ist. Die Menschen sind nicht etwa froh, weil sie den Verstand verloren haben, sie sind es, weil ihr Anliegen Gehör findet. Bei vielen Revolten – insbesondere bei den Revolten der vergangenen Jahrzehnte in Großbritannien und Amerika – bringen junge, oftmals schwarze Demonstranten aus der Arbeiterklasse, die sich von der Polizei schikaniert fühlen, ihre Freude darüber zum Ausdruck, dass nun sie es sind, die der Polizei ihre Regeln diktieren. Die beiden jungen Mädchen bei den Ausschreitungen in London, von denen ich weiter oben erzählt habe, gaben durchaus zu, sich darüber zu freuen, dass es die ganze Nacht über Freibier gab. Doch wichtiger als das Freibier war für sie nach eigenem Bekunden, »der Polizei zu zeigen, dass wir machen können, was wir wollen – was wir auch getan haben«. Während die kollektive Selbstverwirklichung – und die kollektive Freude – im Rahmen politischer Proteste, also etwa bei Ausschreitungen, von der Überwindung dessen abhängig ist, wer beziehungsweise was als repressiver Anderer (»die Polizei«, »die Reichen« oder was auch immer) wahrgenommen und deshalb mit Gewalt und Zerstörung in Verbindung gebracht wird, halten wir dies nicht für eine allgemeine Regel. In den vergangenen Jahren haben wir uns mit dem möglicherweise größten kollektiven Ereignis der Welt beschäftigt – der Magh Mela, dem alljährlichen hinduistischen Pilgerfest in Allahabad, Nordindien. Auch hier begegnen wir überaus positiven Gefühlen in der Menge (ananda oder Glückseligkeit). Auch hier sind sie mit dem kollektiven Vollzug von Gruppennormen verbunden, wobei es hier friedliche Gruppenwerte sind, die zum Ausdruck gebracht werden. Anders als im Alltag, in dem man sich eigens für die Arbeit ankleiden muss, in dem man nur schwer dem Smalltalk mit den Nachbarn oder den Streitereien in der Familie entkommt, respektieren die anderen (die ähnliche Ziele verfolgen) bei der Mela die eigenen Andachtsübungen und den eigenen Versuch, ein materiell enthaltsames, gänzlich spirituelles Leben zu führen.42 Außerdem hilft die aktive Unterstützung der anderen Teilnehmer, mit den schwierigen Bedingungen zurechtzukommen (etwa mit den niedrigen Temperaturen, die im Januar in 42

Nicholas Paul Hopkins u. a., »Being Together at the Magh Mela. The Social Psychology of Crowds and Collectivity«, in: Avril Maddrell/Alan Terry/Time Gale (Hg.), Sacred Mobilities, Ashgate, im Erscheinen.

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Nordindien herrschen) und identitätsrelevante Verhaltensweisen zu praktizieren.43 Die kollektive Selbstverwirklichung, die zu den Voraussetzungen einer Massenekstase gehört, wird also durch eine gemeinsame Identität befördert. Diese These besitzt nach unserem Verständnis Allgemeingültigkeit. Worin aber letztlich die kollektive Selbstverwirklichung besteht, kann von Menge zu Menge variieren. In einigen Fällen geht sie möglicherweise mit extremen Gewaltausbrüchen einher, in anderen vielleicht mit großer Friedlichkeit. Genauso, wie wir Menschen gesehen haben, die vor Freude in den Flammen einer Revolte tanzten, haben wir Pilger bei der Mela gesehen, die dasselbe in einer friedlichen Prozession taten. Diesen verschiedenen Formen des Tanzens begegnen wir gegebenenfalls mit unterschiedlichen normativen Einstellungen. Es wäre aber falsch, an diesen Einstellungen eine analytische Unterscheidung ablesen zu wollen, die der einen Form des Tanzens mehr, der anderen hingegen weniger Bedeutung beimisst. Wenn wir vom Selbstverständnis der Teilnehmer ausgehen, dann scheint die Freude der Massen jedenfalls gar nicht so sinnlos zu sein.

Transformationen über die Menge hinaus Bisher habe ich mich mit dem einen großen Vorurteil über Massen oder Mengen auseinandergesetzt – dass sie pathologisch seien. Nun möchte ich mich dem anderen zuwenden – dass Massenereignisse eine Ausnahme zum täglichen Leben darstellten und für den Alltag keine Bedeutung besäßen. Da ich die wichtigsten Grundbegriffe unseres Ansatzes bereits vorgestellt habe, kann dieser Teil der Argumentation deutlich knapper ausfallen. Ich werde mit dem Einfluss von Massenereignissen auf die an ihnen teilnehmenden Personen beginnen (auf diesem Gebiet können wir an eine Reihe von Untersuchungen anknüpfen), um dann ihren Einfluss auf die Gesamtgesellschaft abzuwägen. (Hier geht es allerdings eher darum, ein Forschungsvorhaben zu for43

Kavita Pandey u. a., »Cold Comfort at the Magh Mela; Social Identity Processes and Physical Hardship«, in: British Journal of Social Psychology 2014, doi: 10.1111/bjso. 12054.

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mulieren, da sich die Wissenschaft für diese Frage bislang noch nicht sehr interessiert hat.) Einfluss auf die Teilnehmer: Eine Fülle von Untersuchungen postuliert einen Zusammenhang zwischen sozialer Identität und Massenereignissen. Viele dieser Arbeiten bringen Prozesse der sozialen Identität mit der Frage in Verbindung, warum Menschen überhaupt an Massenereignissen teilnehmen;44 wie wir schon gesehen haben, gehen viele Untersuchungen auch der Frage nach, welchen Einfluss die soziale Identität darauf hat, was Menschen tun, wenn sie Teil einer Menschenmenge sind; viel komplizierter ist es hingegen herausfinden, wie sich die Erfahrung, Teil einer Menge zu sein, wieder auf unsere sozialen Identitäten auswirkt. Zum einen widmen Sozialpsychologen (die gerne Erfahrungsfragen ausblenden und selten großangelegte Langzeitstudien durchführen) dem Thema nicht viel Aufmerksamkeit. Die Sozialanthropologen andererseits (aus deren Sicht die Funktion kollektiven, insbesondere ritualisierten Verhaltens für die Bildung sozialer Identitäten von geradezu konstitutiver Bedeutung ist) halten das Problem hingegen im Wesentlichen für gelöst. Auf der Suche nach dem Einfluss kollektiven Engagements auf die soziale Identität bewegt man sich deshalb in einer Art Niemandsland zwischen Psychologie und Anthropologie. Wir haben bislang nur sehr wenige Indizien dafür, dass die Teilnahme an solchen Ereignissen überhaupt einen Einfluss auf die soziale Identität besitzt, und wir wissen fast nichts darüber, welche Aspekte der kollektiven Erfahrung möglicherweise einen solchen Effekt hervorbringen. Doch zumindest theoretisch gesehen lassen sich unseren bisherigen Untersuchungen – insbesondere bezüglich des Verhältnisses von sozialer Identität, gesellschaftlicher Wirklichkeit und der Dynamik kollektiver Ereignisse – durchaus einige Hinweise darauf entnehmen, wie sich eine Teilnahme in diesem Sinne auswirken kann. Zunächst einmal habe ich gezeigt, wie Theorien der sozialen Identität die soziale Identität mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit oder genauer: mit unserer Position in einer Reihe sozialer Beziehungen verknüpfen. Dabei habe ich mich vor allem an der Frage orientiert, wie eine Identität die 44

Martyn van Zomeren/Colin Wayne Leach/Russell Spears, »Protestors as ›Passionate Economists‹. A Dynamic Dual Pathway Model of Approach Coping with Collective Disadvantage«, in: Personality and Social Psychology Review 16, 2012, S. 180–199.

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vorhandenen Strukturen widerspiegelt.45 Um ein offensichtliches Beispiel zu wählen (das mir einfällt, weil ich dies alles in Schottland, genau in der Woche vor dem schottischen Unabhängigkeitsreferendum, zu Papier bringe): Nationale Identitäten leiten sich nicht nur von der Tatsache her, dass wir in einer Welt von Nationen leben, sie symbolisieren gegebenenfalls auch das Streben nach nationaler Unabhängigkeit. In diesem letzteren Sinne kann man die Identität auch als einen Schuldschein betrachten, der allerdings wertlos wird, wenn keine realistische Aussicht darauf besteht, ihn eines Tages einzulösen. Je mehr sich also eine auf Identitätsbestrebungen basierende Welt verwirklichen lässt – je mehr ein bestimmtes Volk also in die Lage versetzt wird, tatsächlich nach gruppenbasierten Normen und Werten zu leben –, desto realistischer wird diese Identität. Außerdem habe ich gezeigt, wie die Dynamik der Menge neue soziale Wirklichkeiten entstehen lassen kann. Auch in diesem Bereich ist die Perspektive bis heute sehr eindimensional. Unsere Analysen nach dem »erweiterten massenpsychologischen Modell der sozialen Identität« (emsi) hatten ihr Augenmerk darauf gerichtet, wie Identitäten des politischen Protests entstehen, wenn insbesondere die Polizei neue soziale Beziehungen zwischen sich und den Teilnehmern einer Massenveranstaltung schafft. Wie ich betonen möchte, geht emsi nicht einfach davon aus, dass Menschen eventuell radikalisiert werden, weil die Polizei sie als Gefahr behandelt. Das Modell zeigt vielmehr, dass die Menschen in der Menge dadurch, dass die Polizei sie alle als Gefahr behandelt, einander nähergebracht und so in die Lage versetzt werden, der Polizei gemeinschaftlich Widerstand zu leisten. Auf diese Weise wird also nicht nur eine neue Identität geschaffen. Es werden auch die Bedingungen dafür erfüllt, dass diese neue Identität vollzogen – das heißt, verwirklicht – werden kann. In Anbetracht dieser beiden Ergebnisse können wir Folgendes konstatieren: Wenn Menschen durch die Dynamik eines Massenereignisses in die Lage versetzt werden, eine Identität zu vollziehen (oder, um unsere Begrifflichkeit zu verwenden, wenn ihnen zu einer kollektiven Selbstverwirklichung verholfen wird), dann wird diese Identität im Rahmen des Ereignisses und darüber hinaus gestärkt werden. Un-

45

Stephen D. Reicher/Nicholas Paul Hopkins, Self and Nation, London 2001.

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sere Studien über aufgewiegelte Mengen liefern erste Belege für diese Annahme. Bei einer Reihe von Ereignissen – einer Kampagne gegen den Bau einer neuen Straße, Protesten gegen eine neue regressive Besteuerung – konnten wir beobachten, dass sich die Teilnehmer dort, wo polizeiliche Maßnahmen sie einander näherbrachten und dadurch befähigten, ihren politischen Gegnern die Stirn zu bieten, stärker mit der betreffenden Sache identifizierten und eher verpflichtet fühlten, an zukünftigen Aktionen teilzunehmen.46 In der letzten Zeit arbeitete ich in Indien mit einer Gruppe von Forschern zusammen, um die Funktionsweise dieser Prozesse in nichtaufgewiegelten Mengen systematisch zu untersuchen. Personen, die sich bei der Magh Mela gegenseitig als Pilger betrachten, respektieren, wie schon gesagt, die Bedürfnisse der anderen. Sie gewähren einander den Raum, in dem sie sich ganz dem Ziel einer hinduistisch-spirituellen Lebensweise widmen können. Die von uns durchgeführte Langzeitstudie zeigt ebenso wie die Interviews und die ethnografischen Daten nun erstens, dass die Teilnahme an der Magh Mela eine hinduistische Identifikation im Alltag befördert, und zweitens zeigt sie, dass diese Identifikation im Alltag in dem Maße gestärkt wird, wie Menschen die Erfahrung gemeinsamer Identität und kollektiver Selbstverwirklichung machen.47 Interessanterweise haben wir einen weiteren Langzeiteffekt der Teilnahme entdeckt. Im Vergleich zu hinduistischen Nicht-Teilnehmern ließ sich bei den Pilgern ein geistiges und körperliches Wohlbefinden feststellen48 – und zwar ungeachtet der Tatsache, dass die kalten und feuchten Bedingungen der Mela äußerst zermürbend sind und auch die vielen älteren Teilnehmer ohne jeden Komfort auskommen müssen. Der Prozess sieht hier allerdings ein wenig anders aus. Er ist zwar von der Erfahrung eines gemeinsamen Identitätsgefühls abhängig, sein Ergebnis lässt sich aber auf einen anderen Ef-

46 47 48

Drury/Reicher, Explaining Enduring Empowerment; Drury/Reicher, Collective Psychological Empowerment. Sammyh Khan u. a., »How Collective Participation Impacts Social Identity. A Longitudinal Study with Controlled Data«, in: Political Psychology, im Erscheinen. Shruti Tewari u. a., »Participation in Mass Gatherings Can Benefit Well-Being. Longitudinal and Control Data from a North Indian Pilgrimage Event«, in: PLOS ONE 2012, 7, e47291.

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fekt dieser geteilten Erfahrung zurückführen. Ausschlaggebend ist hier weniger die kollektive Selbstverwirklichung als das Gefühl großer sozialer Nähe: Die Zuversicht, von anderen gehalten zu werden, gibt den Menschen das Gefühl, die Schwierigkeiten ihres Alltags auch nach der Rückkehr in ihre Heimatdörfer besser meistern zu können.49 Die Erkenntnisse legen also insgesamt nahe, dass die tatsächlichen Gegebenheiten bei Massenereignissen, auch wenn sie sich vielleicht von denen des täglichen Lebens unterscheiden, für den Alltag keineswegs bedeutungslos sind. Ganz im Gegenteil: In dem Maße, wie Mengen neue Gegebenheiten schaffen, spielen sie eine Rolle für die (Um-)Gestaltung dessen, was wir sind, wie wir mit anderen in Beziehung treten und was wir in der Welt tun. Manchmal entstehen auf diese Weise neue soziale Identitäten. Manchmal werden einfach bestehende Identitäten konsolidiert. Die Auswirkungen können aber in beiden Fällen so tiefgreifend sein, dass sie nicht nur den Geist, sondern auch den Körper erfassen. Doch wir sollten nicht übertreiben. Denn auch wenn die Teilnahme an einem Massenereignis gravierende Folgen hat, bildet ja selbst die allergrößte Menschenmenge nur einen kleinen Teil der Gesamtgesellschaft. Wenn wir die Auswirkungen von Massenereignissen in ihrem vollem Umfang ermessen wollen, dann müssen wir herausfinden, welchen Einfluss sie auf die restliche Gesellschaft haben, auf diejenigen also, die zwar nicht daran teilnehmen, aber sehr wohl die entsprechenden Berichte lesen, hören oder sehen. Auswirkungen auf Nicht-Teilnehmer: Haben Massenereignisse also einen Einfluss auf Nicht-Teilnehmer, und wenn, dann in welcher Form? Man muss leider zugeben, dass wir es nicht wissen. Doch nicht nur haben wir gute Gründe dafür, es herauszufinden. Es gibt auch gute Gründe, die für einen solchen Einfluss sprechen. Gewiss sprechen zahlreiche Beispiele aus unserem Alltag dafür, dass Menschenmengen einen Einfluss darauf haben, wie Menschen sich selbst und ihre Gesellschaft wahrnehmen. Um nur ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit anzuführen: Die St. Louis Post Dispatch berief sich auf die Aus-

49

Sammyh Khan u. a., »Shared Identity Predicts Enhanced Health at Mass Gatherings«, in: Group Processes and Intergroup Relations, im Erscheinen.

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schreitungen in Ferguson im vergangenen Jahr, um die Behauptung des Obersten Richters der Vereinigten Staaten, John Roberts, zurückzuweisen, das Zeitalter der Rassendiskriminierung in den Vereinigten Staaten gehöre der Vergangenheit an. In ihrem Leitartikel ist zu lesen: »Ferguson ist der Weckruf für unsere Nation, dass Richter Roberts und seine Vogel-Strauß-Mehrheit im Verfassungsgericht […] auf gefährliche Art und Weise die Herausforderungen ignorieren, mit denen Afroamerikaner in einer sie nach wie vor benachteiligenden politischen Struktur immer noch zu kämpfen haben.«50 Die Ereignisse von Ferguson führen mit anderen Worten jedem schwarzen Amerikaner schonungslos vor Augen, wo er gesellschaftlich steht, egal ob er unmittelbar an den Ereignissen beteiligt war oder nicht. Wie bei zahllosen anderen Kommentaren ist auch bei diesem entscheidend, dass er die Demonstranten von Ferguson nicht als besondere Individuen oder als Mitglieder einer lokalen Gemeinschaft definiert, sondern als Afroamerikaner. Genauso kategorisch, wie sich unserer Ansicht nach die Menschen in der Menge definieren, werden sie auch von externen Beobachtern nach allgemeinen Kategorien definiert. Um zu verstehen, was das bedeutet, rufe man sich Benedict Andersons Definition der Nation als einer »vorgestellten Gemeinschaft« in Erinnerung.51 Damit meint Anderson, die Nation sei so groß, dass sich ihre Mitglieder niemals versammeln und direkt miteinander in Kontakt treten können. Sie müssen sich deshalb als zusammengehörig, dasselbe tuend und in gleicher Weise auf Ereignisse reagierend imaginieren. Eine solche Imagination wird Anderson zufolge auf verschiedenen Wegen ermöglicht, vor allem aber durch die Entwicklung der Printmedien. Seine Erkenntnisse besitzen nicht nur für die Nation, sondern für jede allgemeinere Kategorie Gültigkeit. Auch Katholiken, Afroamerikaner oder Konservative kann man in gewissem Maße als vorgestellte Gemeinschaften betrachten. Wie können sich die einzelnen Mitglieder dann eine Vorstellung von der Stellung ihrer Gruppe machen? Wenn sie auf ihre eigene Erfahrung verweisen oder auf ihre eigene Beobachtung, wie einzelne Andere 50 51

Vgl. http://www.theguardian.com/commentisfree/2014/aug/20/ferguson-tragedyeric-holder-must-lead [5. 9. 2014]. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Frankfurt am Main/New York 1988.

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behandelt werden, dann lassen sich Ereignisse immer den Besonderheiten des entsprechenden Individuums zuschreiben. Doch – und darauf kommt es hier an – die Menge ist die manifest gewordene vorgestellte Gemeinschaft. Die Ereignisse in der Menge geben uns Aufschluss darüber, wie bestimmte gesellschaftliche Gruppen von anderen Gruppen gesehen und behandelt werden, wo also beispielsweise schwarze Menschen in Amerika stehen. Um das Argument noch einen Schritt weiterzutreiben, könnte man durchaus behaupten, dass Massenereignisse zu den wenigen und sicherlich zu den offensichtlichsten Möglichkeiten gehören, die Stellung der eigenen Gemeinschaft auszuloten. Was also den (proportional gesehen) wenigen Vertretern einer sozialen Kategorie widerfährt, die tatsächlich bei einem Ereignis anwesend sind, ist somit durchaus geeignet, die Identität aller Mitglieder dieser vorgestellten Gemeinschaft zu definieren. Eine wesentliche Einschränkung muss man an dieser Stelle machen. Genau weil die Ereignisse in einer Menge für die gesamte Gemeinschaft von Bedeutung sein können, ist es ganz entscheidend, welche Gemeinschaft die Menge repräsentiert, zu welcher Gemeinschaft sie spricht, wer daraus seine Lehren ziehen sollte und wie diese Lehren eigentlich aussehen. Der einerseits von den Teilnehmern selbst und andererseits von Außenstehenden vorgenommenen symbolischen Repräsentation der Menge wächst, anders gesagt, eine entscheidende politische und psychologische Bedeutung zu. Dies war besonders bei der ägyptischen Revolte von 2011 unverkennbar, als alle Augen auf die Menschenmenge auf dem Tahrir-Platz gerichtet waren. Die Teilnehmer selbst nahmen für sich in Anspruch, die manifest gewordene Nation zu sein. Die Autorin Ahdaf Soueif, die sich in der Menge befand, leitet ihren Bericht damit ein, dass Tahrir »nicht nur gezeigt hat, was wir tun, sondern auch, wie wir sein könnten«52 – dabei möchte sie »wir« als »alle Ägypter« verstanden wissen. Die vielen ägyptischen Flaggen, die auf den Fotos der Ereignisse zu sehen sind, sprechen genau diese Sprache. Das Regime wiederum versuchte, es so aussehen zu lassen, als würden die Massen (unter anderem) von Ausländern infiltriert und kontrolliert, als wären sie eine urbane Elite oder nichts als unzufriedene Randalierer.

52

Ahmed Soueif, Cairo: My City, Our Revolution, London 2012.

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Es hätte nicht mehr auf dem Spiel stehen können. Nicht nur war diese symbolische Schlacht wichtig für den Kampf um breite politische Unterstützung, er war auch entscheidend für das Vorgehen der Streitkräfte, die schließlich darauf verpflichtet sind, die Nation zu beschützen. Wenn die Menge tatsächlich eine Bedrohung für die Nation darstellt, dann gehört zu ihren Pflichten auch die Anwendung von Gewalt. Als diese Möglichkeit im Raum stand, kam es zu folgender Szene, die Soueif in ihrem Buch schildert: »[Zwei ältere Frauen] drängen mehrere junge Männer aus dem Weg, und sie stellen sich mit ausgebreiteten Armen genau vor die Soldaten. ›Dann erschießt uns doch‹, sagen sie zu den Soldaten, ›erschießt die Frauen. Erschießt die Mütter Ägyptens. Erschießt eure Mütter.‹«53 Wenn die Menge Ägypten ist und die Mütter die »Mütter Ägyptens« sind, dann müssen die Soldaten ihre Waffen dafür gebrauchen, um die Menge zu schützen. Natürlich sind viele weitere Untersuchungen nötig, um diese aufschlussreichen Schilderungen durch systematischere Erkenntnisse zu ergänzen. Denn noch wissen wir nicht genau, ob, wann, wie und unter welchen Bedingungen Massenereignisse die Wahrnehmung und das Selbstverständnis großer gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen beeinflussen. Prima facie spricht jedenfalls vieles dafür, dass sie einen Effekt haben können – und vielleicht besteht darin ihr wichtigster Beitrag zur Gestaltung unserer gemeinsamen Welt.

Schlussfolgerung Ich möchte die Argumentation dieses Aufsatzes noch einmal kurz rekapitulieren. Während die klassische Massenpsychologie das Verhalten der Menge als irrationalen Ausbruch ablehnt, der fast keine Bedeutung für den Alltag besitzt, haben wir zu zeigen versucht, dass das Handeln der Menge in hohem Maße bedeutsam ist und durchaus auch für das tägliche Leben bedeutungsstiftend sein kann. Doch die traditionellen Überzeugungen sitzen so tief, dass es einiger Mühe bedurfte, um sie zu entkräften.

53

Ebenda, S. 83.

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Sie sind in der akademischen Welt, in Psychologie, Soziologie und anderen Fächern, fest verwurzelt.54 Und auch in der Gesellschaft jenseits der Universität sind sie fest verwurzelt. Praktisch nach jeder Ausschreitung streiten sich Linke und Rechte zwar darüber, aus welchem Grund die Menschen eigentlich randaliert haben. Beide Seiten sind sich aber normalerweise einig, dass die Ausschreitungen selbst unsinnige Handlungen sind. Doch die Weisheit des gemeinen Menschenverstands irrt hier nicht weniger als die der Wissenschaft. Beide sind gleichermaßen obstruktiv, und zwar zunächst einmal, weil sie eine der wertvollsten Quellen für unser Verständnis der Teilnehmerperspektive zurückweisen; zweitens blenden sie einen der wichtigsten Orte aus, der uns darüber Aufschluss geben könnte, wie die Identitäten, von denen wir zehren, zustande kommen. Das Verhalten der Menge wurde in der Gesellschaftstheorie lange vernachlässigt. Es sollte wieder an seinen angestammten und verdienten Platz im Zentrum der Wissenschaft zurückkehren. Schließlich ist die Zeit gekommen, um ein Versprechen einzulösen. Zu Beginn habe ich in Aussicht gestellt, im Anschluss an meine Analyse des Handelns von Mengen auf die Bedeutung des In-den-Flammen-Tanzens zurückzukommen, das so oft als Symbol für die schwere Pathologie der Mengen angesehen wird. Zu diesem Zweck kehren wir am besten zu Kurlanskys Kulturgeschichte des »Auf-der-Straße-Tanzens« zurück. Kurlansky erwähnt, dass der Song in dem Film »Disneys große Pause: Die geheime Mission« gespielt wird. Als die Kinder aus der Schule stürzen, weil die Sommerferien begonnen haben, ertönen die bekannten Worte »Summer’s here and the time is right …« Ein Lehrer sagt: »Sieh dir diese Krawallmacher an.« Ein anderer antwortet: »Eigentlich finde ich, dies ist ein wunderbarer Ausdruck von Freiheit und Freude.«55 Wer hat nun recht? 54

55

Nach den Londoner Ausschreitungen schrieb Professor John Brewer, Präsident der Britischen Soziologenvereinigung, einen Brief an den Guardian, in dem er kategorisch behauptete: »Mengen sind irrational. Mengen haben keine Motive – das wäre viel zu berechnend und rational. Das Verhalten der Menge ist auf unvorhersagbare Weise dynamisch, und Vernunft und Motive verschwinden, wenn sich Mengen auf unvorhersagbare Weise bewegen; siehe http://www.theguardian.com/uk/2011/aug/ 11/sociologist-offer-unravel-riots [5. 9. 2014]. Kurlansky, Ready for a Brand New Beat, S. 265.

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Ich behaupte, beide können recht haben. Sich selbst nach eigenem Gusto und ohne äußere Einschränkung auszudrücken, ist immer lustvoll. Mengen versetzen Menschen in die Lage, genau das zu tun. Manchmal (aber nicht immer, wie ich betonen möchte) gehört es zu einem solchen Selbstausdruck, die von anderen auferlegten Zwänge mit Gewalt zu beseitigen. Manchmal gehört es dazu, diese Strukturen und Orte zu zerstören, die der eigenen Unterdrückung dienen. Manchmal ist Krawallmacherei, selbst in Form von Brandstiftung, ein Zeichen der Freiheit und eine Quelle der Lust. Nichts anderes besagt der Tanz in den Flammen. Aus dem Englischen von Bettina Engels

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Randall Collins

Vorwärtspaniken und die Dynamik von Massengewalt

Die Vorwärtspanik ist eine besondere Form der Gewalt, die sich in Menschenmengen abspielt und so abstoßende Züge aufweist, dass wir sie als Gräueltat empfinden. Eine Vorwärtspanik kann auch in anderen Zusammenhängen entstehen, in denen sie sich ebenfalls durch den grässlichen, moralisch empörenden Charakter der Gewalt auszeichnet. Im Folgenden möchte ich den Mechanismus der Vorwärtspanik und sein Verhältnis zu einer allgemeinen Theorie der Gewalt als mikrosoziologischer Interaktion herausarbeiten. Um diese Analyse ins rechte Licht zu rücken, werde ich auch einige Situationen, in denen es ohne Beteiligung einer Menge zu einer Vorwärtspanik kommt, sowie einige weitere Verhaltensmuster aufgeheizter Menschenmengen untersuchen.1 Anschließend konzentriere ich mich auf zwei bestimmte Arten von Massen, in denen sich eine Vorwärtspanik einstellen kann: militärische Kampfeinheiten und politische Demonstrationen. Meine Analyse stützt sich auf Befunde aus den unterschiedlichsten Quellen, zu denen unter anderem ethnografische Untersuchungen, Interviews, Nachrichtenberichte und historische Darstellungen zählen; die Details zu den Dynamiken und zur emotionalen Struktur von Massengewalt aber sind in erster Linie aus Fotos und Videos abgeleitet. Ich habe im Laufe von 25 Jahren ein Archiv aus eingescannten Nachrichtenfotos und öffentlich zugänglichen Fotosammlungen angelegt, auf das ich mich für die hier und in anderen Veröffentlichungen vorgenommenen Verallgemeinerungen sehr stark stütze. Insge-

1

Unter einer »Menschenmenge« verstehe ich eine Gruppe von rund zehn oder mehr Personen, die über ein wechselseitiges Bewusstsein ihrer gemeinsamen körperlichen Anwesenheit verfügt. Solche Ansammlungen von Menschen zeigen stets eine gewisse Ähnlichkeit in ihrer körperlichen Ausrichtung, die umso stärker wird, je mehr sich die Aufmerksamkeit der versammelten Personen auf einen gemeinsamen Gegenstand richtet.

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samt umfasst das Archiv rund 1500 Bilder, darunter solche von Konflikt- und Gewaltsituationen mit und ohne Beteiligung von Massen. Durch Überwachungskameras und Mobiltelefonkameras wird heute immer mehr Bildmaterial zugänglich, Quellen, die von der aktuellen Forschung ausgewertet werden.2

Elemente der Vorwärtspanik Wie ihre metaphorische Bezeichnung impliziert, ähnelt die Vorwärtspanik der Panik einer Gruppe, die angsterfüllt die Flucht ergreift. Der wegweisende französische Militärforscher Ardant du Picq sprach von einer »Flucht an die Front«.3 Statt vor dem Feind wegzurennen, stürmen die Truppen auf ihn zu, allerdings in einem Gefühlsrausch, der dem der panischen Flucht vergleichbar ist, oder, wie wir heute sagen würden, mit so viel Adrenalin im Blut, dass die höhere kognitive Kontrolle und die feinmotorische Koordination ausgeschaltet sind.4 Manche Erforscher kollektiven Verhaltens haben sich bemüht, alte Theorien zu widerlegen, denen zufolge Menschenmengen an sich irrational sind; ja sie bestreiten sogar, dass in Mengen jemals eine »Panik« entsteht. Häufig wird auf den Befund verwiesen, dass es in großen Ansammlungen nicht deshalb zu Todesfällen kommt, weil die Menschen in Panik geraten und die Kontrolle verlieren, sondern weil es bei dem geordneten Versuch, sich vor einem Feuer in Sicherheit zu bringen oder durch einen engen Ausgang zu zwängen, zu einem physischen Gedränge kommt.5 Massenunglücke infolge eines Gedränges unterscheiden sich jedoch von panischen Rückzügen und Vorwärtspaniken, die beide für Menschenmengen in militärischen, politischen und anderen Kontexten gut dokumentiert sind.

2

3 4 5

Sofern keine andere Quelle genannt ist, beruhen die folgenden Ausführungen auf dem erwähnten Fotoarchiv sowie auf Randall Collins, Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie, Hamburg 2011. Charles Ardant du Picq, Études sur le combat (1903), Paris 1999. Dave Grossman, On Combat. The Psychology and Physiology of Deadly Combat in War and Peace, Belleville 2004. Clark McPhail, The Myth of the Madding Crowd, New York 1991.

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Vorwärtspaniken verlaufen nach einem ganz bestimmten Muster: 1. Zwischen zwei Seiten, die sich feindlich gegenüberstehen, baut sich eine Anspannung auf 2. Die Anspannung entlädt sich schlagartig, wenn eine Seite der Konfrontation ausweicht oder in die schwächere Position gerät 3. Daraufhin stürmt die nunmehr überlegene Seite in einer hitzigen, hochgradig emotions- beziehungsweise adrenalingeladenen Aufwallung voran 4. Eine Raserei, ein offensichtlich unfairer Kampf schließt sich an, bei dem die stärkere und zahlenmäßig überlegene Seite einen Feind attackiert, der in Unterzahl ist oder keinen Widerstand leistet 5. Die Gewalt wird länger und massiver ausgeübt, als nötig erscheint, der Angriff also fortgesetzt, nachdem der Kampf bereits gewonnen ist: Es kommt zu einem Overkill. Auf Außenstehende wirken Vorwärtspaniken vor allem wegen der Raserei und des Overkills wie Gräueltaten. Die emotionale Dynamik ist jedoch in allen Phasen dieselbe. Der Adrenalinschub, der sich einstellt, wenn eine Seite plötzlich die Oberhand gewinnt, treibt die siegreiche Seite voran.6 Dabei handelt es sich um eine kollektive Emotion, bei der Mitglieder der Gruppe (etwa eines Infanterietrupps) wechselseitig körperliche und sensorische Signale aussenden und empfangen und auf diese Weise Rückkopplungsschleifen bilden, die ihre rhythmische Koordination steigern. Die Raserei ist daher ein Gruppenprozess: Was die Täter antreibt, auf Opfer, die schon auf dem Boden liegen, einzuschlagen, einzutreten, einzuknüppeln oder einzuhacken, ist nicht allein das Opfer selbst, sondern auch das Gefühl, in ein Gruppenhandeln verstrickt zu sein. Die angreifenden Individuen empfinden sich in diesem Moment intensiv als Teil einer Gruppe, die über ein hohes Maß an Stärke und emotionalem Überschwang oder, wie ich dies auch nenne, emotionaler Energie verfügt. Obwohl die Gewalt zum überwiegenden Teil von einer kleinen Untergruppe ausgeübt wird, pflegen sich, wenn der Kampf abflaut, viele Angehörige der Masse dem Ort des Geschehens zu nähern und dem gefallenen Opfer einen flüchtigen Tritt zu versetzen, als wollten sie ihre Mitwirkung demonstrieren und ein wenig von dem kollektiven Mana erhaschen. Der Overkill ist ebenfalls ein

6

Allan Mazur, Biosociology of Dominance and Deference, Lanham 2005.

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Effekt des hohen Adrenalinspiegels, der nur langsam wieder absinkt. Stark adrenalingeladene Menschen verspüren das Bedürfnis, dieses durch Handeln zu entladen – ob durch die Gewalt selbst oder durch Lärmen, Gelächter, heftige Körperbewegungen. Diese individuellen physiologischen Prozesse werden durch die Rückkopplung der Gruppe noch verstärkt. Auch das Verhalten des Opfers unterliegt emotionalen Prozessen. In der Phase der Konfrontation stehen beide Seiten unter Anspannung, allerdings nur in einem Maß, das noch im Rahmen kompetenten Verhaltens bleibt. In diesem Bereich liegt der Puls bei ungefähr 115–145 Schlägen pro Minute. Die gegenwärtigen Militärdoktrinen der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs bezeichnen dieses optimale Leistungsniveau als »Code Red«; der Bereich des Kontrollverlusts, »Code Black«, liegt bei über 175 Herzschlägen pro Minute.7 Wenn die gegenseitige Konfrontation plötzlich in eine einseitige Übermacht umschlägt, gewärtigen beide Seiten eine erhöhte Adrenalinausschüttung mitsamt ihren physiologischen und psychologischen Effekten. Dann allerdings trennen sich ihre Wege: Die übermächtige Seite gerät in eine Vorwärtspanik und geht in hitziger Aufwallung auf das feindliche Ziel los, während die geschwächte Seite in der Regel in einen Zustand der Desorientierung, des Verlusts der Körperkontrolle und oft der Passivität verfällt, sich zusammenkauert, Augen und Kopf verdeckt, um den Angriff subjektiv auszublenden. Die plötzliche Wende kann sich aus zufälligen Gründen einstellen – etwa wenn Truppen, die ihre Position auf dem Schlachtfeld wechseln wollen, stecken bleiben oder durch Leichenberge behindert werden; oder wenn sie durch einen Angriff aus unerwarteter Richtung wie vom Blitz getroffen sind. Bei kleineren gewaltsamen Auseinandersetzungen kann es geschehen, dass das Opfer stürzt oder von seinen Unterstützern abgeschnitten wird, in Unterzahl gerät und sich von einer Traube von Angreifern umringt sieht – ein typischer Anblick auf Fotos von Massengewalt. Auf welchem Weg auch immer es sich einstellt, das Resultat ist der plötzliche Umschlag einer beiderseitigen Anspannung in eine einseitige emotionale Überlegenheit. Während die überlegene Seite gewaltsam

7

Grossman, On Combat; Anthony King, The Combat Soldier. Infantry Tactics and Cohesion in the Twentieth and Twenty-First Centuries, Oxford 2013.

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voranstürmt, nimmt die schwache Seite für gewöhnlich eine Haltung ein, die keine des Widerstands mehr ist, sondern den Rhythmus der Angreifer verstärkt.

Konfrontationsanspannung/Angst Woher kommt die Anspannung bei drohender Gewalt? Die offensichtliche Antwort scheint zu lauten, von der Angst davor, verletzt zu werden. Es gibt jedoch zahlreiche Belege dafür, dass Menschen Verletzungen nur unter bestimmten Umständen fürchten und dass viele (etwa gewöhnliche Zivilisten bei medizinischen Notfällen, Athleten, Autofahrer, Soldaten und Polizisten) weitaus stärker durch andere Überlegungen motiviert sind und die Gefahr, verletzt oder sogar getötet zu werden, vergessen können.8 Die stärkste Spannungsquelle ist die Konfrontation mit einem anderen menschlichen Wesen an sich, gleich ob bei ihr Gewalt droht oder nicht. Auf Fotografien von Personen in bedrohlichen Situationen sieht man mitunter, wie sie in der Frühphase der Auseinandersetzung ihre Wut zum Ausdruck bringen. Sobald sie aber eine gewalttätige Aktion ausführen (schmeißen, schlagen, treten, schießen), verwandelt sich ihr Gesichtsausdruck in einen der Angst oder von etwas ähnlichem, nämlich hoher Anspannung.9 Dieses Gefühl bezeichne ich als Konfrontationsanspannung/Angst (Ka/A). Seine Existenz steht im Einklang mit dem grundlegenden Modell menschlicher sozialer Interaktion, das ich auf dem Wege einer Systematisierung der empirischen Forschung und Theoriebildung in den Traditionen Durkheims und Goffmans formuliert und auf den Be8

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Dave Grossman, On Killing. The Psychological Cost of Learning to Kill in War and Society, Boston 1995; Collins, Dynamik der Gewalt; Karl Marlantes, Was es heißt, in den Krieg zu ziehen, Zürich 2013. Ich beurteile Emotionen in Fotografien aufgrund der Auswertung von Gesichtsausdruck und Körperhaltung. Vgl. hierzu Paul Ekman, Weshalb Lügen kurze Beine haben. Über Täuschungen und deren Aufdeckung im privaten und öffentlichen Leben, Berlin/New York 1989 [auch als: Ich weiß, dass du lügst. Was Gesichter verraten, Reinbek bei Hamburg 2011]; Paul Ekman/Wallace V. Friesen, Unmasking the Face, Englewood Cliffs 1975; dies, The Facial Action Coding System. A Technique for the Measurement of Facial Movement, Palo Alto 1978.

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griff einer Verkettung von Interaktionsritualen (IR) gebracht habe.10 Diesem Modell zufolge richtet sich das Geschehen bei unmittelbaren Begegnungen zwischen Menschen nach dem Maß, in dem diese ein Gefühl und einen Fokus der Aufmerksamkeit teilen, dessen sie sich wechselseitig bewusst sind. Werden bestimmte Schwellenwerte eines geteilten Gefühls und eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus erreicht, setzt ein Rückkopplungsprozess sein, der sowohl die Stärke des Gefühls als auch die konzentrierte Aufmerksamkeit aufeinander steigert; auf hohen Niveaus ergibt sich daraus jene Form rhythmischer Verstrickung, die Durkheim als »kollektive Wallung« bezeichnete und bei der sich die Beteiligten wechselseitig in ihren Rhythmen verfangen.11 Erfolgreiche Interaktionsrituale führen somit zu einem Gefühl der Solidarität und der Gruppenzugehörigkeit, das zeitweise in geteilte Symbole eingeht. Man muss jedoch betonen, dass die genannten Elemente und Resultate Variablen sind; Interaktionsrituale können genauso gut misslingen wie gelingen. Erfolgreiche Interaktionsrituale erzeugen nicht nur Gruppenidentität und -solidarität, sondern auch emotionale Energie bei den einzelnen Beteiligten: Wer ein erfolgreiches Interaktionsritual erlebt hat, ist zuversichtlich, begeistert, aktiv. Umgekehrt sind Personen nach einem misslungenen Interaktionsritual eingeschüchtert, deprimiert und passiv. Gewalttätige Interaktionsrituale laden somit die Seite, die eine starke Gruppenverstrickung herbeiführt, mit der für Gewalt spezifischen emotionalen Energie auf, sodass sie ein Hochgefühl für die von ihr ausgehende Gewalt empfindet, die Initiative ergreift und sich von ihrer eigenen Initiative mitreißen lässt. Umgekehrt kommt es in der Gruppe, die in einer gewaltsamen Auseinandersetzung ihren Zusammenhalt verliert, zu einem Spannungsverlust, durch den sie in völlige Passivität verfallen kann. Wir können auch sehen, warum Konfrontationen die Anspannung steigern, ob sie nun gewalttätig sind oder nicht. Der Grundmechanismus der menschlichen Interaktion ist der einer rhythmischen Verstrickung: Er besteht darin, sich auf die körperlichen Rhythmen und die emotionale Stimmung von Personen einzuschwingen, denen man sich 10 11

Randall Collins, Interaction Ritual Chains, Princeton 2004. Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912), Frankfurt am Main/Leipzig 2007.

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unmittelbar gegenüber sieht; umso mehr, wenn man einen gemeinsamen Gegenstand des Interesses hat und sich des Bewusstseins des anderen bewusst ist, sich also auf einer hohen Stufe von Intersubjektivität befindet. In einer kontroversen Auseinandersetzung verfolgt man jedoch entgegengesetzte Ziele; jede Seite beabsichtigt genau das, was den Absichten der Gegenseite zuwiderläuft. Dies ruft Spannungen hervor, die alles andere als nebensächlich sind, sondern den grundlegendsten Mechanismus der menschlichen Interaktion betreffen. Menschen verfügen von ihrer biologischen Natur aus über ein hohes Maß an Empfänglichkeit für die Signale, die von den Gesichtern, Stimmen und Gesten der Personen in ihrer Nähe ausgehen; ein Konflikt stellt sich daher eher schwer als leicht ein. Das soll nicht heißen, dass nicht auch Wut zur natürlichen Grundausstattung der Menschen gehört oder dass ihre Absichten nicht im Widerspruch stehen können; sobald dies aber geschieht, ist die unweigerliche Folge eine Steigerung der subjektiv empfundenen Anspannung. Daraus ergibt sich die auf den ersten Blick paradoxe Pointe meiner mikrointeraktiven Theorie der Gewalt: Gewalt ist schwierig, weil sie eine Barriere von Ka/A überwinden muss. Der einfachste Weg, die Barriere zu umgehen, besteht darin, den Konflikt aus der Ferne auszutragen, sodass man die andere Person nicht sieht; Gewalt in der Form von Bombardierungen oder Artilleriebeschuss aus großer Entfernung fällt am leichtesten; je näher sich die Gegner kommen, desto schwieriger wird sie. Sie fällt leichter, wenn die Gegenspieler ihre Gesichter nicht sehen, vor allem jeden Blickkontakt vermeiden – also auch dann, wenn der Gegner mir den Rücken zukehrt, zu Boden gegangen ist oder sein Gesicht bedeckt. Genau das also, was eingeschüchterte, passive Opfer zu tun pflegen, macht es den Angreifern leichter, in entfesselter Vorwärtspanik auf sie loszugehen. Es gibt noch einige weitere Methoden, Ka/A zu vermeiden und Gewalt auszuüben, die für unsere gegenwärtigen Zwecke nicht so wichtig sind; dazu zählt eine heimliche Vorgehensweise oder die Einbeziehung einer Menschenmenge als Publikum und Brennpunkt der Aufmerksamkeit, eine Form, die ich als publikumsorientierte Gewalt bezeichnet habe.12 Zur typischen Sequenz einer Vorwärtspanik gehört noch ein weite-

12

Collins, Dynamik der Gewalt.

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res Merkmal: Der Wendepunkt besteht oft in einer Überraschung. Eine plötzliche Änderung des bisherigen Verlaufs ist eine Überraschung, die besonders bei periodischen oder minderschweren Konflikten verstörend wirkt, bei Konflikten also, in denen Wachsamkeit über längere Zeit zum Normalzustand geworden ist: Truppen, die feindliche Positionen im Visier haben und manchmal auch schießen, für die dies aber schon lange zur reinen Routine geworden ist; Polizisten oder Sicherheitsbedienstete, deren tägliche langweilige Routine plötzlich von einem Zwischenfall oder Alarm unterbrochen wird. Anders als Wut oder Angst ist der Zustand der Überraschung eine wenig erforschte Emotion, die allerdings massive, wenn auch vorübergehende Auswirkungen hat: eine momentane Desorientiertheit und Unfähigkeit, sich zu konzentrieren und klar zu denken. Ekmans Untersuchungen weisen die Überraschung als eine von sechs Emotionen aus, die universell an invarianten Gesichtsausdrücken erkannt werden können (was impliziert, dass sie genetisch verankert sind);13 der Ausdruck ist die Folge eines Verlusts der muskulären Kontrolle über das Gesicht und geht oft mit einer Schreckreaktion einher, die jede geläufige körperliche Aktivität unterbricht. (Das überraschte Gesicht unterscheidet sich stark vom wütenden Gesicht, in dem alle Muskeln angespannt sind, und vom glücklichen Gesicht, in dem eine sehr aktive untere Gesichtshälfte mit einer entspannten oberen korreliert.) Meine These lautet, dass eine Überraschung jenen Schockmoment von Anspannung/Angst verstärkt, der sich einstellt, wenn eine langanhaltende Konfrontation plötzlich nach einer Seite hin aufgelöst wird. Nicht nur kommt es zu einem Adrenalinschub in den schwarzen Bereich, sondern die Überraschung an sich macht die Situation kognitiv verwirrend. Die Verliererseite steckt plötzlich im »Kriegsnebel« fest, in einer Rückkopplungsschleife, die es ihr unmöglich macht, das Heft des Handelns und ihre kognitive Klarheit wiederzuerlangen. Auch die Gewinnerseite wird, so meine Hypothese, von der plötzlichen glücklichen Wende überrascht, was ihrer außer Kontrolle geratenden Vorwärtspanik zusätzliche Nahrung verleiht; womöglich aber ist ihre Überraschung nicht so groß und desorientierend, sodass sie sich besser auf sie einstellen kann.

13

Ekman/Friesen, Unmasking the Face.

211

Arten der Vorwärtspanik Militär: Die meisten militärischen Vorwärtspaniken brechen in Gruppen aus, die die Kriterien für eine Menschenmenge erfüllen. Armeen von 5000 bis 40000 Mann und mehr waren auf dem Schlachtfeld an solchen Vorfällen beteiligt,14 bei denen der Zusammenbruch einer Seite zu fast vollständiger Desorganisation und einem Massaker mit absolut unverhältnismäßigen Verlusten führte. In der jüngeren Vergangenheit kam es zu Vorwärtspaniken auf der Ebene einer Kompanie (etwa beim My-Lai-Massaker in Vietnam 1968 mit etwa 150 Soldaten) oder gar nur eines Trupps (acht bis zehn Soldaten beim Haditha-Massaker im Irak 2005). Polizei: Vorwärtspaniken ereignen sich hier zumeist im Anschluss an rasante Verfolgungsjagden. Im Fall des 1991 von Polizisten in Los Angeles zusammengeschlagenen Rodney King – der als erste per Video aufgezeichnete polizeiliche Prügelorgie traurige Berühmtheit erlangte – war eine kleine Menge von 21 Polizeibeamten am Tatort, von denen die meisten als anfeuerndes Publikum agierten. An anderen Vorwärtspaniken der Polizei waren lediglich zwei oder drei Beamte beteiligt; in manchen Fällen, in denen das Opfer besonders schwach ist (beispielsweise eine hysterische Frau, die zu desorientiert ist, um Anweisungen zu befolgen), ist die Vorwärtspanik die Tat eines einzelnen, jedoch körperlich deutlich überlegenen Beamten. Häusliche Gewalt: Unter den verschiedenen Arten von häuslicher Gewalt weisen die notorischsten Gräueltaten den Charakter einer Vorwärtspanik auf. Üblicherweise ist das Opfer ein Kleinkind, dessen lautes Weinen für eine anhaltende Anspannung sorgt, die sich in einem unkontrollierten Gewaltausbruch eines sehr viel stärkeren Erwachsenen entlädt.15

14

15

John Keegan, Das Antlitz des Krieges. Die Schlachten von Azincourt 1415, Waterloo 1815 und an der Somme 1916 (1976), Frankfurt am Main/New York 2007; Flavius Arrianus, Der Alexanderzug. Indische Geschichte. Griechisch und deutsch, hrsg. und übers. von Gerhard Wirth/Oskar von Hinüber, München/Zürich 1985; Caius Iulius Caesar, Der gallische Krieg. Lateinisch und deutsch, hrsg. und übers. von Otto Schönberger, Berlin 2013. Collins, Dynamik der Gewalt, Kap. 4.

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Kämpfe in kleinem Rahmen/Überfälle: Die meisten angedrohten Kämpfe kühlen sich zu Pattsituationen ab oder werden von dritten Parteien beendet,16 während einige weitere als »fairer Kampf« oder Quasiduell nach stillschweigenden Regeln wechselseitiger Zurückhaltung ausgetragen werden. Eine Untergruppe von Kämpfen entwickelt sich jedoch zu Vorwärtspaniken, die außer Kontrolle geraten. In diesen Situationen, die am besten in einem von Don Weenink analysierten Datensatz beschrieben sind,17 ist es eine kleine Gruppe von etwa drei bis acht Personen, die sich nach dem Aufbau einer feindseligen Anspannung ein isoliertes, körperlich schwaches Opfer herausgreift und mit diesem dann nach dem bekannten Muster von Raserei und Overkill verfährt. Demonstrationen: Politische Massenkundgebungen und Aufmärsche verfügen über das Potenzial, in Ausschreitungen umzuschlagen, ob diese nun durch die Polizei oder die Demonstranten selbst ausgelöst werden. Die meisten Demonstrationen verlaufen friedlich; wenn es aber zu einem anhaltenden Gewaltausbruch kommt, sind bestimmte Voraussetzungen gegeben, die eine Spannung mit einem situationsspezifischen Wendepunkt entstehen lassen, an dem die Anspannung in eine einseitige Vorherrschaft über die Lage umschlägt. Die Gewalt, die in dieser Situation erfolgt, weist alle Merkmale der hitzigen Gefühlsaufwallung, der Raserei in offensichtlich ungleichen Kämpfen und des Overkills auf. Oft werden bei Ausschreitungen unschuldige Zuschauer, die selbst niemanden provoziert haben, zu Opfern einer Vorwärtspanik, was aus theoretischer Sicht nicht überrascht: Ist eine Vorwärtspanik einmal in Gang gekommen, wird in ihr praktisch kein Unterschied in der Auswahl der Opfer mehr gemacht. Lynchmorde: Bei der sogenannten Lynchjustiz (mob justice) nimmt eine Menschenmenge, die sich aus einer bestimmten Gemeinschaft rekrutiert, Rache an einem Kriminellen oder vermeintlichen Kriminellen, der ihr in die Hände gefallen ist. Die Anspannung besteht hier üblicherweise schon seit Längerem; sie bildet sich in Gegenden, in denen die Polizeiarbeit ineffektiv ist oder von den Anwohnern mit Arg16

17

Mark Levine/Paul J. Taylor/Rachel Best, »Third Parties, Violence, and Conflict Resolution. The Role of Group Size and Collective Action in the Microregulation of Violence«, in: Psychological Science 2011, H. 3, S. 406–412. Don Weenink, unveröffentliches Manuskript, Universität Amsterdam.

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wohn betrachtet wird, in denen das Verbrechen grassiert und die Täter selten erwischt oder von Amts wegen bestraft werden. Die plötzliche Entdeckung eines Diebes oder sonstigen Straftäters mobilisiert die Menge zu seiner Verfolgung und Überwältigung (solche Opfer sind fast immer männlich); die aufgebauten gemeinsamen Emotionen schlagen dann oft in ungewöhnlich grausame Bestrafungen um, bei denen auf ein lokales Repertoire traditioneller Maßnahmen zurückgegriffen wird und die Beteiligung der Menge zu Raserei und Overkill führt.18 Im Weiteren werde ich mich auf Vorwärtspaniken bei politischen Demonstrationen und in militärischen Kontexten konzentrieren.

Andere Ursachen von Gewalt in Menschenmengen Die Vorwärtspanik ist ein sehr spezieller Mechanismus. Wir müssen deshalb jeden einzelnen Fall von Massengewalt sorgfältig daraufhin prüfen, ob die Gewalt tatsächlich durch diesen oder durch einen anderen Mechanismus ausgelöst wurde. Publikumsorientierte Gewalt: Große Versammlungen können vor allem dann zum Schauplatz von Gewalt werden, wenn sich die versammelte Menschenmenge in ein Publikum verwandelt, das kleinere Kämpfe zwischen Einzelnen aus ihren Reihen anfeuert; oder wenn Teile der Menge irgendeinen Einzelnen verhöhnen und attackieren, den sie als Abweichler empfinden (etwa einen Betrunkenen, der mitten in der Menge pinkelt). Bei solchen in eine Menge eingebetteten Kämpfen handelt es sich nicht um Vorwärtspaniken. Üblicherweise bleiben sie auf eine kleine Zahl von Beteiligten beschränkt, während sich die Umstehenden oft als Schiedsrichter betätigen, die über die Fairness des Kampfes wachen (einer gegen einen oder ausgeglichene Kräfteverhältnisse auf beiden Seiten) und Raserei und Overkill verhindern. Nicht alle Mengen werden einen Kampf in ihrer Mitte anfeuern und ermutigen. Zufällige Menschenansammlungen, wie sie der alltägliche Straßenverkehr oder überlaufene Plätze mit sich bringen, meiden gewalt18

Mark Gross, »Vigilante Violence and Forward Panic in Johannesburg’s Townships«, unveröffentlichtes Manuskript, Fachbereich Soziologie, Universität Maryland 2014.

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tätige Vorfälle im Großen und Ganzen, und in der Regel werden diese auch schnell beendet, indem sich ein oder mehrere Teilnehmer zurückziehen.19 Menschenmengen spornen jedoch zu Gewalt an und fungieren als Publikum, wenn sie sich zum Zwecke der Unterhaltung zusammengefunden haben, etwa bei einem sportlichen Wettkampf oder einem Popkonzert. Sie haben sich dann bereits auf ein unterhaltsames Spektakel eingestellt, und Kämpfe in ihrer Mitte fesseln ihre Aufmerksamkeit. Dabei handelt es sich jedoch in der Regel um ein vorübergehendes Phänomen, das am wahrscheinlichsten eintritt, wenn der Menge vom Warten langweilig ist. Ihre Unterstützung für Amateurkämpfe endet, sobald das offizielle Programm beginnt (und solange sie dieses fesselt). Sieger- und Verliererkrawalle: Diese ereignen sich am Ende von Sportereignissen, wenn das Geschehen auf dem Spielfeld vorbei ist und ein Teil der Zuschauermenge seine kollektiven Emotionen in weitere, eigene Aktionen überführt. In dieser Hinsicht gleichen solche Krawalle einem Element des Mechanismus der Vorwärtspanik. Beide beinhalten einen Zustand kollektiver Wallung und rhythmischer Verstrickung, in dem die Solidarität der Gruppe durch ihre kollektive Beteiligung an der Gewalt gewahrt bleibt. Feiernde Massen wollen das Hochgefühl des Spiels und vor allem des Triumphs verlängern. Auch bei einem Verliererkrawall klammert sich die Menge an Momente der Publikumssolidarität, wenngleich es die Solidarität derer ist, die ihr eigenes Team für seine schlechten Leistungen ausbuhen. In beiden Fällen verlängert die Gewalt nach dem Spiel das emotionale Hoch einer Gruppenunterhaltung. Sieger- und Verliererkrawalle haben jedoch wenig mit dem für eine Vorwärtspanik typischen Muster der Raserei und des Overkills zu tun; die beteiligten Sportfans beschränken sich in der Regel auf Sachbeschädigungen oder kleinere Gesetzesverstöße, indem sie sich auf der Straße zusammenrotten, öffentlich Alkohol trinken oder sich entblößen. Selbst die Sachbeschädigungen sind in der Regel unbedeutend und von einer ostentativen Art, die, wie das Entzünden von Abfallbehältern, eher dazu dient, symbolisch Rabatz zu machen, als auf irgendeinen Gegner zu zielen. Versuchte Festnahmen

19

Vgl. den summarischen Vergleich gesammelter Mikroethnografien in Collins, Dynamik der Gewalt, Kap. 6.

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können zu Gewalttätigkeiten gegen die und seitens der Polizei führen, die aber für gewöhnlich auf niedrigem Niveau bleiben – auch dadurch unterscheiden sie sich vom Muster der Vorwärtspanik mit ihren Gräueltaten. (Diese Beobachtungen gelten für die Vereinigten Staaten, in denen Siegerkrawalle überwiegen; in Osteuropa scheinen Verliererkrawalle verbreiteter zu sein und sich zu gewalttätigeren Auseinandersetzungen mit der Polizei oder gelegentlich auch zu Angriffen auf andere ethnische Gruppen auszuweiten.) In solchen Krawallen finden sich zwar Teilsequenzen einer Vorwärtspanik, insgesamt aber ist ihr Muster ein anderes: Im Unterschied zu militärischen oder politischen Konfrontationen gibt es keine lang andauernde Pattsituation wechselseitiger Bedrohung, die zu einer hohen Anspannung führt; die Anspannung bei sportlichen Wettkämpfen ist glimpflicher Art beziehungsweise ein Fantasieprodukt. Je plötzlicher die Wende gegen Ende des Spiels, desto mehr Anspannung muss die Menge in ihr Nachspielspektakel abfließen lassen. Siegerkrawalle treten mit größerer Wahrscheinlichkeit nach einem nervenaufreibenden, hart umkämpften Match auf, nach dem Gewinn eines wichtigen Spiels oder einer Meisterschaft; sie sind in den usa im Hochschulsport verbreiteter als im professionellen Sport und werden eher von weißen Fans aus der Mittelschicht vom Zaun gebrochen als von Fans aus unteren Schichten oder Minderheiten.20 Die Wahrscheinlichkeit von Siegerkrawallen steigt mit der Dauer der Zeit, die das siegreiche Team keine Meisterschaft gewonnen hat; je länger sich die Anspannung aufbauen konnte, desto heftiger löst sie sich, wenn die eigene Mannschaft gewinnt. Da sich der Prozess auf einem glimpflicheren Niveau abspielt, finden sich bei Siegerkrawallen nur selten die Schreckenstaten einer Vorwärtspanik, und die wenigen Todesfälle, zu denen es manchmal kommt, sind fast immer unbeabsichtigt. Gewalt auf Abruf – die Taktik der Fußball-Hooligans: Gruppen englischer Fußballfans ersannen Mitte des 20. Jahrhunderts Taktiken, um außerhalb des eigentlichen Spiels gezielt Kämpfe mit gegnerischen Fans zu arrangieren, wobei ihnen der Spielplan zur Verabredung

20

Jerry M. Lewis, Sports Fan Violence in North America, New York 2007.

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von Zeit und Ort für einen Schlagabtausch (»Aggro«) diente.21 Diese Techniken wurden später von ähnlichen Gruppen in Nordeuropa und anderswo aufgegriffen. Dabei kamen alles andere als spontane, nämlich höchst ausgeklügelte Taktiken zum Einsatz: Die Hooligans bewegten sich flexibel durch die Straßen, um Kämpfe unter den Augen der Polizei zu vermeiden; sie nutzten die massive zahlenmäßige Überlegenheit der zusammenreisenden Gruppe als Waffe, um einen Zug, ein Restaurant, eine Kneipe oder sogar Sitzplätze im Stadion ohne Bezahlung in Beschlag zu nehmen – und daraus ein Gefühl der Straflosigkeit abzuleiten, solange sie zusammenhielten. Da die Erregung des Kampfes selbst (seine kollektive Wallung) den Hauptreiz bildete, waren die Hooligans nicht automatisch entmutigt, wenn sie von der Polizei zurückgedrängt wurden. Von Näherem betrachtet, bestand ihre Taktik in der quasimilitärischen Suche nach Situationen, in denen eine große Menschenmenge eine kleine Gruppe rivalisierender Fans kalt erwischen kann, um damit das emotionale Übergewicht des Starken über den Schwachen zu genießen, das die Gewaltanwendung zu einem Kinderspiel macht. Soweit sie aufgingen, mündeten die Taktiken der Hooligans in eine Art von Vorwärtspanik, da die Gegner in der Regel passive, praktisch gelähmte Opfer waren – insbesondere wenn es sich um gewöhnliche, nicht gewalttätige Fans handelte, die überrumpelt wurden und vor Überraschung ganz eingeschüchtert waren. So gesehen zielen die Taktiken der Fußball-Hooligans auf die künstliche Herbeiführung einer Situation der Vorwärtspanik, deren Ausgang sich nicht spontan nach einer Phase anhaltender Spannung einstellt, sondern klar vorhergesehen wird. Die strategische, auf höherer Ebene erfolgende Reflexion über Formen von Gewalt kann die Entwicklung bewusster Taktiken zur Imitation jener emotionalen Gratifikationen nach sich ziehen, die gelegentlich mit bestimmten Arten von Gewaltsituationen verbunden sind. Dies sollte uns nicht überraschen, da sportliche Wettkämpfe selbst ursprünglich einmal als »moralisches Äquivalent des Krieges« gedacht waren – das heißt, sie sollten Züge von Pseudokriegen mit begrenzten Kosten und Schäden aufweisen, sodass Publikum und Spieler die vergnüglichen Momente des Krieges zu 21

Bill Buford, Geil auf Gewalt. Unter Hooligans (1993), München 2010; Anthony King, »Outline of a Practical Theory of Football Violence«, in: Sociology 1995, H. 4, S. 635–651; Collins, Dynamik der Gewalt, Kap. 8.

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genießen vermochten, also vor allem die Momente der emotionalen Solidarität und der kollektiven Wallung. Ihren Höhepunkt erreichte die Gewalt der Fußball-Hooligans in den 1970er und 1980er Jahren. Seitdem haben die Behörden ebenfalls Strategien höherer Ordnung entwickelt, unter anderem die, nur noch Zuschauer mit Platzkarten ins Stadion zu lassen. Einigen der mobilisierenden Merkmale der Gewalt von Fußball-Hooligans konnte so der Boden entzogen werden. Was zeigen uns solche Vergleiche? Alle Arten von Massenversammlungen erzeugen, wenn sie sich auf einen gemeinsamen Gegenstand richten und durch eine gemeinsame Stimmung geprägt sind, eine kollektive Wallung und damit ein Gefühl der Begeisterung, das die Beteiligten oft verlängern wollen. Gewalt ist ein Weg, dies zu erreichen. Sofern sich die Menge aber nicht bewusst zu einem Akt sozialer Feindseligkeit versammelt hat (also zwei Menschenmengen gegeneinanderstehen, aus welchen offiziellen Gründen sie auch immer mobilisiert wurden), dann ist der Spannungsaufbau im Vorfeld, der so bezeichnend für die Abfolge einer Vorwärtspanik ist, nicht der einer Konfrontationsanspannung/Angst. Und es ist gerade der Umschlag von Ka/A in die emotionale Überlegenheit über einen geschlagenen Feind, der die Gräueltaten einer Vorwärtspanik auslöst.

Militärische Vorwärtspaniken Wie bereits erwähnt, gebärden sich Truppeneinheiten in gewalttätigen Situationen wie Menschenmengen – und das, obwohl sich Armeen Strukturen geben und ihre Soldaten so auszubilden versuchen, dass sie sich gerade nicht wie bloße Mengen verhalten. Sobald sie einmal verpflichtet sind, lassen Armeen ihre Angehörigen nicht mehr nach Belieben kommen und gehen; ihre Aufmärsche erfolgen nicht aus Begeisterung oder Neugierde, ebenso wenig sind sie auf informelle Informationsketten und eine anlassbezogene Rekrutierung angewiesen. Armeen sind vielmehr hierarchisch aufgebaut und in verschachtelte Gruppierungen unterteilt, damit sie differenzierte und komplexe Maßnahmen ergreifen können. Sie verfügen über Waffen, logistische Nachschubsysteme und zahlreiche andere Merkmale, durch die sie Menschenmassen an Durchhaltevermögen und Koordination überlegen sind. Trotzdem gleichen sich die zusammengezogenen Truppen 218

im Zuge der eigentlichen Kampfhandlungen zusehends einer Menschenmenge an. Die drohende Gewalt erzeugt Ka/A, die das gesamte Geschehen in eine emotionale Atmosphäre taucht. So unermüdlich sich Armeen auch um eine gesteigerte Koordination bemühen, kann diese doch stets zusammenbrechen. Was Clausewitz als »Friktion« bezeichnete – in jüngster Zeit spricht man vom »Nebel des Krieges« –, wirft Probleme auf, die die üblichen Schwierigkeiten eines Krieges zusätzlich verschärfen. Es besteht eine formale Ähnlichkeit zwischen der »Friktion« und Ka/A; Gewaltanwendung fällt emotional schwer, nicht leicht, und erfolgreiche Gewalt muss einen Weg finden, um die Barriere Ka/A zu überwinden. Konfrontationsanspannung/Angst ist nicht unbedingt deckungsgleich mit der Clausewitz’schen Friktion, aber zumindest einer ihrer Bestandteile. Beide tendieren dazu, die Funktion eines wohlgeordneten Militärapparats auf die emotionale Dynamik von Menschenmassen zu reduzieren, und zwar umso mehr, je länger die Soldaten im Kampfeinsatz sind. Emotionale Gruppendynamiken sind entscheidend für jene spezifische Form von kollektiver Wallung, die man »Kampfgeist« nennt – und bei der sich die Armeeeinheit, die zusammen marschiert, Hurra schreit oder durch symbolische wie echte Siege Fortschritte erzielt, geschlossener, selbstsichererer und mächtiger fühlt. Noch stärker sind diese emotionalen Dynamiken in jener Art von kollektiver Wallung, die im spannungsgeladenen Verlauf von lang anhaltender Konfrontation, plötzlicher Überlegenheit und Vorwärtspanik gegen einen geschwächten oder paralysierten Feind aufkommt. Anthony King hat die wechselnden Techniken analysiert, mit denen das Militär seit 1900 bis in die Gegenwart versucht hat, den Kampfgeist und die Effizienz im Kampfeinsatz zu steigern.22 Traditionell geschah dies durch die Aufstellung dicht gedrängter Reihen von Körpern, die auf dem Exerzierplatz zusammen marschierten und schossen. Dieser Stil wich nach und nach nationalistischen Appellen und der unübersehbaren Solidarität von Bajonettangriffen auf Maschinengewehrstellungen – dies war eine Möglichkeit, Solidarität zu demonstrieren, indem man zumindest zusammenhielt, um gemeinsam zu sterben, wenn man den Feind schon nicht überwinden konnte.

22

King, The Combat Soldier.

219

Gegen Ende des Ersten Weltkriegs war die Feuerkraft der Landstreitkräfte jedoch so groß geworden, dass sich die Armeen gezwungen sahen, ihre Kampftruppen auf kleine, im Feld verstreute Einheiten zu verteilen, die sich selbstständig bewegen und ihr taktisches Vorgehen lokal selbst koordinieren konnten. Damit rückte nunmehr die Solidarität innerhalb der Kleingruppe in den Vordergrund. In den jüngsten Jahren werden in Berufsarmeen Eliteeinheiten darin gedrillt, sich in kleinen Kampfgruppen wie Tanzensembles aufeinander abzustimmen. Wenn diese Übungsrituale das Niveau gelingender Interaktionsrituale erreichen – das heißt wenn sie eine starke rhythmische Koordination bewirken –, können kleine Truppeneinheiten auch unter großem Kampfstress zusammenhalten, indem sie sich von ihrer gut eingeübten Koordination tragen lassen wie eine professionelle Sportmannschaft. Nichtsdestotrotz hat es während dieser ganzen historischen Abfolge idealisierter Militärdoktrinen über den Zusammenhalt der Truppeneinheiten immer wieder Zusammenbrüche gegeben. Oft sind die Leistungen der Streitkräfte in der eigentlichen Schlacht mäßig; ihr Zusammenhalt reicht normalerweise dafür aus, dass kein Soldat die Flucht ergreift; doch bleiben die meisten von ihnen auf dem Schlachtfeld passiv und überlassen den Kampf einer kleinen Zahl von Experten. Unter diesen finden sich dann die gefeierten Helden, einzelne Soldaten, die zu dem Schluss kommen, dass die passive Masse um sie herum nichts zum Sieg beitragen wird, sodass sie die Dinge selbst in die Hand nehmen und unter Verwendung der Waffen und Munition aller anderen zu einem berserkerhaften Angriff übergehen. Solche Helden gewinnen den Kampf oft deshalb, weil auch der Gegner wie eine passive Masse agiert. Der Ausfall der meisten Soldaten im Kampfeinsatz ist ebenfalls ein Masseneffekt: Unter ihnen herrscht eine Stimmung, die sie gerade so viel tun lässt, dass sie davonkommen, wobei sie ansonsten auf die Feuerkraft der Artillerie oder Luftwaffe setzen und sich darauf verlassen, dass die meisten feindlichen Soldaten es auch nicht anders halten. Wie King bemerkt, entsprechen sich die aktiven Helden und die passive Masse der Streitkräfte spiegelbildlich; die gleichen Bedingungen bringen sie zusammen hervor. Die wenigen, die sich in heldenhafte Angriffe stürzen, handeln so, als würden sie ihre eigenen individuellen Vorwärtspaniken ausleben: Sie greifen eine feindliche Geschützstellung oder Befestigung nach der 220

anderen an, wobei sie für ihren Erfolg feindliche Soldaten, die nicht (oder ungenügend) dagegenhalten, töten oder zur Kapitulation zwingen, um sofort zum nächsten Angriff überzugehen. Solche heldenhaften Berserker hören nicht auf, wenn ihre Waffen versagen oder ihnen die Munition ausgeht, sie schnappen sich andere Waffen und machen weiter. Dies ist eine Form der hitzigen Aufwallung, das Äquivalent eines in die Länge gezogenen Overkills; und obwohl der Gefühlshaushalt solcher heldenhaften Soldaten selten beschrieben wird, scheinen sie sich in einem emotionalen Bereich, in einem Tunnel sich selbst erneuernder emotionaler Energie zu befinden, in dem es nur den Weg nach vorne gibt. In all den verschiedenen Kampfregimen (Exerzierplatz-Formationen, Bajonettangriffen, Elite-Sturmtruppen und professionellen Tanzensembles) finden sich auch zahlreiche Fälle von Vorwärtspaniken großen Stils.23 Sie folgen dem bekannten Muster: ein anhaltendes Anspannungspatt; eine plötzliche Schicksalswende; ein schwacher/ widerstandsloser Feind, der zum Gegenstand von Aufwallung, Raserei und Overkill wird. Bajonettangriffe schlugen in der Regel fehl; wenn die Angreifer aber die feindlichen Gräben erreichten, bekamen die dortigen Soldaten, die sich zu ergeben versuchten, üblicherweise eine Version der britischen Formel »too late, chum« (»zu spät, Kamerad«) zu hören.24 Auch kleine Eliteeinheiten durchleben Vorwärtspaniken, bei denen sie sich so sehr in ihre Gefühlsaufwallung verstricken, dass sie nicht nur den Feind, sondern auch seine Viehbestände abschlachten. In den Irak- und Afghanistanfeldzügen reagierten alliierte Soldaten auf Angriffe mit unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen (usbv), indem sie in der Nähe befindliche Häuser, in denen sich Bombenleger hätten aufhalten können, »säuberten«, das heißt wahllos Zivilisten erschossen – mit allen Anzeichen einer Vorwärtspanik. Die wesentlichen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte bestehen in der politischen Kontrolle des Kampfgeschehens sowie in

23

24

Keegan, Das Antlitz des Krieges; Richard Holmes, Acts of War. The Behavior of Men in Battle, New York 1985; Stefan Klusemann, »Micro-Situational Antecedents of Violent Atrocity«, in: Sociological Forum 2010, H. 2, S. 272–295. Eine entsprechende Version aus dem Vietnamkrieg findet sich bei Marlantes, Was es heißt, in den Krieg zu ziehen.

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technischen Hilfsmitteln wie Drohnen und den allgegenwärtigen Videokameras; auch berichten Journalisten heute mitunter über Massaker, die man früher einfach so hingenommen hätte. Restriktivere Einsatzregeln sind lediglich ein von außen auferlegtes Element und neigen insofern dazu, den Druck auf die Kampftruppen zu erhöhen, was zu weiteren Massakern führen kann. Vielversprechender wäre es, die Dynamiken von Menschenmengen anzuerkennen, die für Vorwärtspaniken verantwortlich sind, Kampfsoldaten explizit in den Gefahren dieser emotionalen Dynamiken zu unterweisen und damit die emotionale Kontrolle im Einsatzgebiet zu verbessern. Ein ähnlicher Ansatz könnte auch dazu beitragen, Vorwärtspaniken in Form von Polizeigewalt zu bekämpfen.

Vorwärtspaniken bei politischen Demonstrationen Meine hauptsächliche Datenquelle zu Demonstrationen ist eine Sammlung von rund 700 eingescannten Fotografien, für die ich alles mögliche verfügbare Material durchforstet habe, das Gewalt oder die Androhung von Gewalt zeigt. Aus diesem Bildmaterial kristallisieren sich zwei deutlich unterschiedene Phasen heraus: eine Phase der organisierten Konfrontation, in der beide Seiten geschlossene Mengen mit klaren Frontlinien bilden; und eine Phase, in der sich die klaren Linien und Mengen aufgelöst haben und beide Seiten sich weitläufig und unstrukturiert im Raum verstreuen. In dieser zweiten Phase findet praktisch die gesamte Gewalt statt. Die Pattphase: Die konzentrierte Phase können wir als Pattphase bezeichnen. Demonstranten wie Einsatzkräfte behaupten ihre Stellung, oft über mehrere Stunden. Trotz eines gewissen Lärmpegels (Rufe, Parolen, Gesänge der Demonstranten; Durchsagen der Polizei) sinkt in der Regel die Anspannung, ja das Ganze kann sogar langweilig werden. Anne Nassauer, die den zeitlichen Verlauf von Demonstrationen detailliert untersucht hat,25 stellt fest, dass es nie unmittelbar am Beginn einer Demonstration zu Gewalttätigkeiten kommt, wenn sich die Men25

Anne Nassauer, Violence in Demonstrations. A Comparative Analysis of Situational Interaction Dynamics at Social Movement Protests, Dissertation, HumboldtUniversität Berlin 2013.

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schenmenge gerade erst versammelt hat oder zu ihrem Demonstrationszug in Bewegung setzt, sondern in der Regel etwa 90 bis 150 Minuten später – wenn es denn überhaupt zu Gewalt kommt. Dies bedeutet, dass die Aufregung der ersten Momente einer Demonstration, die von Erwartungen und Ungewissheit bezüglich des Kommenden geprägt sind, einem Gefühl der Routine weicht. Da viele, ja die meisten Demonstrationen friedlich bleiben, kommen die Demonstranten dadurch in eine eher entspannte Stimmung; sie marschieren zwar weiter und schließen die Reihen, um zu zeigen, dass sie die Demo am Laufen halten, aber gleichzeitig plaudern viele Teilnehmer locker miteinander. (Dies war auch meine eigene Erfahrung bei einem Dutzend Bürgerrechts- und Friedensdemonstrationen im Raum San Francisco zwischen 1964 und 1967. Obwohl einige dieser Demonstrationen explizit auf eine Konfrontation mit der Polizei angelegt waren, die wir mit gewaltfreien Sitzblockaden dazu nötigten, uns festzunehmen, schuf die lange Zeit des Wartens eine ungezwungene Atmosphäre, in der wir uns immer wieder von persönlichen Nebenbeschäftigungen ablenken ließen. Nassauer weist darauf hin, dass auch die Körperhaltung der Polizeikräfte bei Demonstrationen oft entspannt ist.) Die Organisatoren versuchen, die kollektive Begeisterung aufrechtzuerhalten, indem sie politische Losungen skandieren, doch pflegen diese Sprechchöre binnen einiger Dutzend Minuten schwächer, weil ihrerseits Routine zu werden. Auf Fotos sieht man oft ein paar Einzelgänger, die neben der Spitze des Demonstrationszugs stehen und sich viel feindseliger gebärden als der Rest, ja, die auch gewalttätig werden. Ich bezeichne sie als demonstrative Extremisten. Man sieht, wie sie die Polizisten mit dem Stinkefinger beleidigen, manchmal auch mit Steinen oder Flaschen bewerfen. Es scheint ihnen aber nie zu gelingen, die ganze Menge zu einem Angriff zu bewegen oder tatsächlich die Polizei- beziehungsweise Militäreinheiten dazu zu bringen, dass sie ihre geordneten Reihen aufgeben und zum Sturm blasen. Auf den Fotos schaut die Menge hinter den demonstrativen Extremisten zumeist nicht in deren Richtung; ihre Köpfe und Körper sind in eine andere Richtung gewandt, während sie sich miteinander unterhalten; mitunter vermeiden sie es wohl auch bewusst, den Blick auf Leute zu richten, die sie als ein schlechtes Beispiel für die Gruppe empfinden. (Nassauer präsentiert Daten, die darauf hinweisen, dass zumindest in Deutschland und den Vereinigten 223

Staaten die meisten Demonstranten die gewalttätige Minderheit unter ihresgleichen ablehnen.)26 Demonstrative Extremisten sind keine Anführer, die die Massen hinter sich zusammenscharen. Sie scheinen nicht einmal für sich eine kleine Gruppe zu bilden, sondern erwecken oft den Eindruck, dass sie mit niemandem sonst auf der Demonstration auch nur kleinste Körpersignale austauschen. In Großbritannien bezeichnet man sie kurzerhand als »Spinner«. Kommt es zu einem Gewaltausbruch aus der Menge heraus, geht dieser auf das Konto einer konzertiert vorgehenden kleinen Gruppe innerhalb der Menge. Ein Foto aus Ankara von 2001 zeigt mehrere Hundert Menschen bei einem Protest; sie halten Spruchbänder und Schilder mit Parolen hoch, blicken aber fast alle ruhig in Richtung des Gegners (den man auf dem Foto nicht sieht, der aber durch die allgemeine Blickrichtung angezeigt wird). Der Großteil der Menge wirkt emotional unaufgeregt. Die Ausnahme bildet eine Gruppe von sieben Männern, denen ihre Anspannung ins Gesicht geschrieben steht – die charakteristische Ka/A gewalttätiger Akteure – und die Stöcke auf die Gegenseite werfen. Sie scheinen gerade erst mit ihrem gewaltsamen Tun angefangen zu haben, da nur wenige aus der Menge in ihre Richtung blicken, und die zeigen einen alarmierten oder nervösen Gesichtsausdruck. Ein Mann mitten in der gewalttätigen Gruppe wirkt erschrocken und verängstigt, er duckt sich weg und bedeckt seinen Kopf, als wollte er sagen: »Wo bin ich denn hier hineingeraten?« Es ist die Gewalt auf ihrer eigenen Seite, die die Emotionen derjenigen in unmittelbarer Nähe der Gruppe beeinflusst, nicht irgendetwas, was der Gegner tut, wie wir ihrer Blickrichtung und Körperhaltung entnehmen können. Die Phase der Auflösung: Die Menge ist nun auseinandergelaufen. In Videos, die Demonstranten selbst aufgenommen haben, sieht man großflächige Leerräume, in denen Leute herumrennen. Seit den 1990er Jahren, in denen Videokameras Allgemeingut wurden, existieren viele solcher Videos. Sie anzusehen, ist alles in allem enttäuschend, da sie kaum Gewaltereignisse zeigen. Aus der Perspektive der hastig umherschwenkenden Kamera wirkt der Schauplatz unübersichtlich und

26

Ebenda.

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obendrein nur spärlich bevölkert. (In dieser Hinsicht spiegeln die Videos die psychologische Erfahrung eines Kampfeinsatzes wider.) Dieser negative Befund birgt aber eine wichtige Einsicht: Die gewaltsamen Phasen einer Demonstration ereignen sich in einem sehr konfusen, unstrukturierten Raum. Szenenfotos sind nützlicher, weil sie gezielter diejenigen Konstellationen einfangen, in denen es tatsächlich zu Gewalt kommt. Auch auf den Szenenfotos sieht man ziemlich viel leeren Raum rund um die Gewaltopfer oder -täter. Es versteht sich von selbst, dass Nachrichtenredakteure und Herausgeber von Bildbänden darum bemüht sind, die dramatischsten Bilder auszuwählen, und wo Zugriff auf ein ganzes Nachrichtendienstarchiv besteht,27 können wir sehen, dass die Auswahl auf jene Bilder hinausläuft, die die Provokationen und die Gewalt der unsympathischen Seite zeigen. Wenn diese Fotos Gewalt nicht in konzentrierterer Form präsentieren, so deshalb, weil Gewalt in Wirklichkeit nicht sehr konzentriert ist. Fotografien aus der Gewaltphase zeigen eine Unterteilung der Menge in drei Zonen. An vorderster Front sieht man eine kleine Gruppe von drei bis acht Aktivisten, die mit Steinen oder Molotowcocktails werfen, Auto- oder Fensterscheiben einschlagen, mit Knüppeln auf einen Gegenspieler losgehen und so weiter. Die große Mehrheit der Menge verharrt in sicherem Abstand und schaut zu oder zieht sich zurück. Zwischen den beiden Zonen befinden sich die verstreuten Unterstützer der ersten Gruppe, die nach vorne kommen, um die Aktivisten an der Front mit Nachschub oder auch nur mit ihrer Anwesenheit zu unterstützen. Auf praktisch allen Fotos von Gewaltopfern finden wir ein typisches Zahlenverhältnis: eine Traube von drei bis acht Angreifern und ein einzelnes Opfer, das zu Boden gegangen und wehrlos ist. Ein neueres Foto aus der Ostukraine vom April 2014 zeigt drei Männer mit Metallstangen oder Holzknüppeln, die einen bäuchlings auf dem Boden liegenden Mann attackieren, während fünf weitere Männer in einem lockeren Kreis um sie herumstehen und zuschauen (die Angreifer sind lokale prorussische Separatisten, das Opfer ein Teilnehmer einer De27

Ksenia Gorbenko, »Picturing a Revolution. Photographic Representation of the Orange Revolution in the Ukrainian Newspapers«, in: Adrian Guelke (Hg.), The Challenges of Ethno-Nationalism. Case Studies in Identity Politics, Basingstoke u.a. 2010, S. 78–93.

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monstration für die Einheit der Ukraine). Auf einem Foto aus Belgrad zur Zeit des Sturzes des serbischen Autokraten Slobodan Miloˇsevi´c im Jahr 2000 sehen wir vier Männer, die einen isolierten Polizisten mit Fäusten, Tritten und Metallstangen traktieren. Den Angreifern ist der vertraute Ka/A-Ausdruck von Anspannung/Angst ins Gesicht geschrieben. Der Polizist kehrt ihnen den Rücken zu und versucht, seinen Kopf mit den Händen zu schützen; obwohl er eine Pistole an der Hüfte trägt – die einzige Schusswaffe im Bild –, ist er emotional überwältigt und außerstande, nach ihr zu greifen. Diese Beispiele zeigen die archetypische Konstellation, die sich auf Hunderten von Fotos findet. Die Angreifer bilden die emotional dominante Gruppe; sie reißen sich gegenseitig mit und verspüren die Solidarität ihrer gemeinsamen Attacke; und sie werden von der Schwäche des Opfers mitgerissen, das sie isoliert und in einer hilflosen Lage erwischt haben. Tatsächlich haben sie eine Situation geschaffen, die alle Elemente des Höhepunkts einer Vorwärtspanik aufweist: Aufwallung, Raserei und Overkill. Beide Seiten verstricken sich gegenseitig in einem asymmetrischen kollektiven Interaktionsritual, bei dem die eine Seite ihrer Solidarität in einer Gewalttat gegen ein schwaches Angriffsziel innewird, während die andere sich unter dem Ansturm der Solidarität der Angreifer hilflos und überwältigt fühlt. In der Regel sind sowohl die Angreifer als auch ihre Opfer auf Fotos von gewalttätigen Demonstrationen ausschließlich Männer. Ich habe noch kein Bild gesehen, auf dem sich eine oder mehrere Frauen unter eine Gruppe von männlichen Angreifern gemischt haben. Manchmal attackieren Männergruppen Frauen (den auffälligsten Fall bilden Gruppen von Polizisten, die flüchtende Demonstranten angreifen und auf alles einschlagen, was ihnen in den Weg kommt), und es gibt spezielle Fälle von sexueller Gewalt (zu denen in einigen Kulturen auch rituelle Steinigungen von Frauen wegen sexueller Vergehen gehören). Werden jedoch Frauen bei Demonstrationen gewalttätig, dann tun sie dies in geschlechtsspezifischen Gruppen. So zeigt beispielsweise eine Gewaltaufnahme aus Südafrika von 1990, der Zeit des Übergangs von der weißen Apartheidherrschaft, sechs Frauen der Inkatha-Zulu-Partei, die eine Frau aus einem rivalisierenden Lager schlagen, während sie passiv, mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegt. Rund um die gewalttätige Menschentraube hat sich ein loser Kreis von Schaulustigen gebildet. Die emotionale Dynamik ist genau dieselbe wie bei 226

gewalttätigen Männergruppen, die auf Männer losgehen. Der einzige Unterschied besteht in der geschlechtlichen Zusammensetzung der Gruppen. Warum Massengewalt zumindest aufseiten der Angreifer in dieser Weise segregiert ist, wurde bislang nicht befriedigend erklärt; unsere gewöhnliche Neigung, uns auf patriarchalische Klischees zu berufen, wird den beobachtbaren situativen Mustern nicht gerecht.28 Im Bereich der kriminellen Gewalt suchen sich Straßenräuberinnen und bewaffnete Räuberinnen fast ausschließlich weibliche Opfer aus.29 Auf der Grundlage einer detaillierten Auswertung von Video- und anderem Material analysiert Nassauer systematisch die zeitliche Dynamik, in der Demonstrationen gewalttätig werden oder nicht.30 Ihre Mikroanalyse weist mehrere Sequenzen aus, von denen ich die beiden wichtigsten zusammenfassen möchte: erstens den Weg in den Kontrollverlust, der in einen sogenannten »Polizeikrawall« (police riot) mündet, und zweitens den Weg der Anstößigkeit seitens der Demonstranten. Die wesentlichen Voraussetzungen für einen »Polizeikrawall« sind räumliche Übergriffe in Kombination mit einem organisatorischen Zusammenbruch bei der Polizei. Zu räumlichen Übergriffen kommt es dann, wenn entweder die Demonstranten oder die Einsatzkräfte nicht in den ihnen zugewiesenen Bereichen bleiben und damit in die gegenwärtige Komfortzone der anderen Seite eindringen. Die Konfrontationsanspannung wächst, wenn sich die Körper der gegnerischen Seiten zunehmend in einer Kommunikation auf allen Kanälen ineinander verhaken; die Emotionen werden umso intensiver, je näher sich diese Körper kommen. Übergriffe auf das eigene »Revier« werden zudem als emotionale Kränkung erfahren: Die andere Seite hält sich nicht an eine Übereinkunft, handelt unfair oder irrational und verdient kein Vertrauen. Zu einem organisatorischen Zusammenbruch kommt es, wenn Polizeieinheiten voneinander abgeschnitten werden, das Oberkommando 28

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Für Beispiele von Frauen, die gegeneinander kämpfen, allerdings in duellhaft fairer Form, während eine erlebnishungrige Menge sie anfeuert, vgl. Collins, Dynamik der Gewalt. Zur Gewalt zwischen Frauen sowie zwischen Männern und Frauen in schwarzen Armenghettos vgl. auch Nikki Jones, Between Good and Ghetto. African American Girls and Inner-City Violence, New Brunswick 2010; Jody Miller, Getting Played. African American Girls, Urban Inequality, and Gendered Violence, New York 2008. Nassauer, Violence in Demonstrations.

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den Überblick über die eigenen Kräfte oder die Position verschiedener Gruppen von Demonstranten verliert oder wenn die Logistik zusammenbricht, sodass die eingesetzten Beamten durch lange Stunden ohne Entlastung und gewöhnliche körperliche Annehmlichkeiten gestresst sind. Die Anspannung der Polizisten wächst, wenn ihre Organisation nicht mehr funktioniert und die Einheiten im Einsatz spüren, dass ihnen die Unterstützung fehlt, die sie normalerweise zur Hilfe rufen könnten. Der gefährliche Moment in einem Polizeikrawall ist der, in dem sich unter den Polizisten eine so hohe Anspannung aufgebaut hat, dass ein winziger Funke genügt, damit die Einsatzkräfte versuchen, ihre gewohnte Oberhoheit durch den überlegenen Gebrauch von Gewalt wiederherzustellen. Für gewöhnlich betrachtet die Polizei eine Menschenmenge als eine kleine Anzahl von potenziellen Unruhestiftern inmitten einer deutlich größeren friedfertigen Gruppe. Sie glaubt aber auch, dass die kleine gewaltbereite Gruppe die Mehrheit anstecken, emotional unter ihre Kontrolle bringen und allesamt in irrationale Gewalttäter verwandeln kann. Wenn Polizisten nach einem Anspannungsaufbau zum Angriff übergehen, unterscheiden sie nicht länger zwischen den beiden Gruppen und tendieren dazu, unterschiedslos auf jeden einzuschlagen, der ihnen in den Weg kommt und sich als Ziel eignet – das schließt völlig passive Personen, Frauen und sogar Schaulustige und Journalisten ein, wie man es oft auf Fotos von Polizeigewalt bei Ausschreitungen sieht. Dies entspricht dem allgemeinen Muster der Gewalt: Unter dem Einfluss eines hohen Adrenalinspiegels ist die Gewaltanwendung oft ungenau und verfehlt häufig ihr Ziel oder trifft das falsche. Die von Demonstranten ausgehende Gewalt zeichnet sich durch folgende zentrale Elemente aus: breit propagierte, oft durch Gerüchte aufgeblasene Gewaltandrohungen seitens der Demonstranten sowie Sachbeschädigungen, wobei beides im Allgemeinen das Werk einer kleinen Minderheit ist. Ein entscheidender Schritt findet dann statt, wenn eine beträchtliche Zahl von Demonstranten die Situation eskalieren lässt, indem sie Fenster einschlägt, plündert oder Feuer legt. Solche Vorgehensweisen provozieren die Polizei und erhöhen ihre Anspannung, weil sie ihre gewohnte Verpflichtung zur Verbrechensbekämpfung konterkarieren. Nun verwandelt sich das emotionale Feld, nicht nur durch die erhöhte Erregung derjenigen, die Eigentum beschädigen, sondern auch durch die erhöhte Anspannung der Polizei. 228

Diese Gewalt, und sei sie auch im Wesentlichen symbolisch, verändert die Demonstration als Ganze, weil die 90 oder mehr Prozent der Demonstranten, die sich nicht an den Sachbeschädigungen beteiligen, nun ebenfalls unter größerer Anspannung stehen. Die Mehrheit lehnt dieses Bild von sich selbst ab und versucht vielleicht sogar, die Randalierer aufzuhalten; zugleich bekommt sie Angst vor den möglichen Reaktionen der Polizei. Das erzeugt auf beiden Seiten ein spannungsgeladenes emotionales Feld – Polizisten wie Demonstranten werden aufgebrachter, wenn es zu umfangreichen Sachbeschädigungen kommt. Diese durchgängige Anspannung und Angst auf beiden Seiten schafft die Voraussetzungen für jene kritischen Wendepunkte, an denen die Gewalt ausbricht und die Ordnung der Demonstration, aber auch die der Polizei in Auflösung gerät. Das Ergebnis ist eine Vorwärtspanik oder sogar eine Folge von Vorwärtspaniken in verschiedenen Teilen des Feldes, die im Normalfall zu Verletzungen von Demonstranten durch Polizisten führt. Manchmal kann allerdings auch das Gegenteil eintreten, je nachdem, welche kleineren Gruppen wo die Oberhand haben. Im Großen und Ganzen scheinen die von mir zusammengefassten Muster kulturunabhängig und universell zu sein. Die zweiphasige Sequenz zweier sich belauernder Mengen und vereinzelter Gewaltanwendung sowie die kleinen Gruppen, von denen in der zweiten Phase praktisch die gesamte Gewalt ausgeht, vor allem wenn etwa vier bis sechs Angreifer ein isoliertes und passives Opfer auf dem Boden vor sich haben, findet man auf Fotografien aus Nordamerika und Mexiko bis Argentinien, aus Nord- und Westeuropa, Russland und der Ukraine, Südafrika und Zentralafrika, aus Palästina, der Türkei, den Balkanländern, der arabischen Welt, Südostasien, China und der chinesischen Diaspora. Es mag einige Ausnahmen in Korea und Indien geben, wenngleich hier detaillierte Daten und Bildsequenzen nicht so allgemein zugänglich sind wie für andere Teile der Welt. Der wesentliche Unterschied, den vereinzelte Beschreibungen nahelegen, besteht darin, dass große Menschenmengen manchmal direkt von der Phase des Patts zwischen den Massen zu einem konzertierten Angriff übergehen, mithin die Phase vereinzelter Gewalttaten überspringen.31 31

Laufende Untersuchungen von David Sorge an der Universität Pennsylvania deuten darauf hin, dass kommunale Ausschreitungen in Indien ebenfalls eine spätere Phase der vereinzelten Gewalttätigkeit durch kleinere Gruppen aufweisen. Eine

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Meiner Analyse zufolge entsprechen die wesentlichen, überall auf der Welt anzutreffenden Muster der zentralen Dynamik des Gewaltprozesses selbst. Mögliche kulturelle Variationen etwa in Korea und Indien sind Ergänzungen dieses grundlegenden Prozesses. Die Phase der Pattsituation zeigt, dass Gewalt insgesamt nicht leicht, sondern nur schwer heraufzubeschwören ist. Wenn beide Seiten geschlossen ihre Solidarität zur Schau stellen, ihre Positionen halten und klare Grenzen ziehen, die ihre Einheit und Identität demonstrieren, verspürt keine Seite den emotionalen Vorteil – oder die emotionale Schwäche des Gegners –, der sie zum Angriff ermutigen würde. Dies gilt umso mehr, wenn sich beide Seiten fest im Blick haben. Es ist schwer, jemanden anzugreifen, der einem fest in die Augen sieht. Die langen Reihen von Einsatzkräften und Demonstranten, die sich über einen längeren Zeitraum – feindselig oder nicht – fixieren, erzeugen das emotionale Gleichgewicht einer Pattsituation. Gewaltfreie Demonstrationen werden zur Routine und rufen auf allen Seiten eine gesunde Portion Langeweile hervor. Nur wenn jemand dieses emotionale Gleichgewicht aufbricht, spürt eine Seite das Vakuum vor sich, in das sie vorstoßen kann. Aus diesem Grund werden Demonstrationen so oft in Momenten gewalttätig, in denen sich eine Seite bewegt, Panik bekommt, stolpert, fällt, in einer engen Passage feststeckt – das heißt, wenn sie die Einheit ihres Handelns einbüßt, ihr inneres Solidaritätsgefühl verliert und dem Gegner ihre Schwäche demonstriert. Die oder den Schwachen anzugreifen, ist die am meisten verbreitete und erfolgreichste Form von Gewalt. Wie im Fall militärischer Vorwärtspaniken entwickelt sich auch in diesem Zusammenhang die meiste Gewalt in dem Moment, in dem vormals standhafte Massen plötzlich Schwäche und Planlosigkeit an den Tag legen. Aus dem Englischen von Michael Adrian

frühere Phase der Gewalt durch Massen, die wie eine Phalanx auftreten, zieht jedoch die meiste journalistische Aufmerksamkeit auf sich.

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Ferdinand Sutterlüty

Kollektive Gewalt und urbane Riots Was erklärt die Situation?

Vor gut zwei Jahrzehnten, als fremdenfeindliche Gewaltwellen die deutsche Öffentlichkeit in Atem gehalten und der einschlägigen Forschung einen starken Schub gegeben hatten, traten einige Soziologinnen und Soziologen auf den Plan, die eine grundlegende Neuausrichtung der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung forderten.1 Sie kritisierten den grotesk anmutenden Umstand, dass die Gewalt als solche – im Sinne eines situierten Geschehens, eines physischen Handelns – kaum zum Gegenstand der Gewaltforschung gemacht werde. Stattdessen habe sich diese weitestgehend auf die sozialstrukturellen, kulturgeschichtlichen oder auch biografisch bedingten Gewaltursachen beschränkt, die weit entfernt von den Situationen lägen, in denen Gewalt leibhaftig ausgeübt wird.2 Eine Faktoren-Soziologie, die quantitative Verteilungen und statistische Zusammenhänge – etwa zwischen Armut, desintegrierten Milieus, ethnisierenden Einstellungen und Gewalt – feststellen kann, hat zur Gewaltausübung selbst tatsächlich so gut wie nichts zu sagen und neigt außerdem notorisch zu einer Übervorhersage von Gewalt. Sie kann vielleicht Gewaltraten und Wahrscheinlichkeiten, aber nicht eine Gewalttat, kein Gewaltereignis erklären. Dafür bedarf es, wie Trutz von Trotha programmatisch formuliert hat, einer »genuinen Gewaltsoziologie«, die mit einer »dichten Be-

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Für wertvolle Hinweise und Rückfragen danke ich den Herausgebern, Axel T. Paul und Benjamin Schwalb. Siehe insb. Birgitta Nedelmann, »Schwierigkeiten soziologischer Gewaltanalyse«, in: Mittelweg 36 1995, H. 3, S. 8–17; Hans Joas, »Handlungstheorie und Gewaltdynamik«, in: Wolfgang R. Vogt (Hg.), Gewalt und Konfliktbearbeitung. Befunde – Konzepte – Handeln, Baden-Baden 1997, S. 67–75; Trutz von Trotha, »Zur Soziologie der Gewalt«, in: ders. (Hg.), Soziologie der Gewalt. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 37, Opladen/Wiesbaden 1997, S. 9–56.

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schreibung« und einer »mikroskopischen Analyse« des Gewalthandelns beginnt.3 Die Gewaltforschung muss demnach der nur scheinbar trivialen Tatsache gerecht werden, dass gewaltförmiges Handeln immer in einer Situation stattfindet. Diese sich häufig dynamisch entwickelnde Situation ist wesentlich vom Handeln anderer bestimmt – von Gegnern oder Opfern, oft auch von direkt adressierten oder nur mittelbar beteiligten Dritten. Da Gewalt konstitutiv ein situatives Interaktionsgeschehen ist, kann sie auch nur als solches adäquat untersucht werden. Das gilt erst recht für kollektive Gewalt, die im Mittelpunkt dieses Beitrags steht. Nach einer knappen Erläuterung, was überhaupt als ein situationistischer Ansatz gelten kann, geht der Beitrag auf die Verdienste entsprechender Zugänge ein, die in den vergangenen Jahren die Gewaltforschung sehr befruchtet und eine Reihe wegweisender empirischer Untersuchungen hervorgebracht haben. Mittlerweile sind einige beeindruckende mikrosoziologische, sozialpsychologische und disziplinär ungebundene Theorieentwürfe entwickelt worden, die sich auf den gemeinsamen Nenner eines situationistischen Erklärungsansatzes bringen lassen. Diese stehen nun ihrerseits, wie in einem weiteren Schritt gezeigt werden soll, teilweise in der Gefahr, einem allzu mechanistischen und reifizierenden Verständnis der Gewaltsituation Vorschub zu leisten und sich zu einer Situationsmetaphysik hinreißen zu lassen. Was sich mit einem situationistischen Ansatz erklären lässt und wo er bei kollektiver Gewalt an seine Grenzen stößt, soll jeweils am Beispiel einiger Riots der jüngeren Vergangenheit vorgeführt werden. Bevor man die soeben formulierte Frage beantworten kann, ist es allerdings notwendig zu klären, was überhaupt unter einer »Situation« und einer »situationistischen Erklärung« zu verstehen ist.

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Trotha, Zur Soziologie der Gewalt, S. 20f. Zu vergleichbaren, viel früher einsetzenden theoriestrategischen Interventionen im angelsächsischen Raum siehe etwa: Albert K. Cohen, »The Sociology of the Deviant Act. Anomie Theory and Beyond«, in: American Sociological Review 1965, H. 1, S. 5–14; Jack Katz, Seductions of Crime. Moral and Sensual Attractions in Doing Evil, New York 1988, S. 3ff.; Christopher Birkbeck/Gary LaFree, »The Situational Analysis of Crime and Deviance«, in: Annual Review of Sociology 1993, S. 113–137.

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Was ist eine situationistische Erklärung gewalttätigen Handelns? In der einschlägigen Literatur, die von der experimentell arbeitenden Psychologie bis hin zur mikrosoziologischen Interaktionsanalyse und Ethnografie reicht, existieren dazu höchst unterschiedliche Auffassungen. Wer etwa, wie Philip Zimbardo,4 alles unter einen situationistischen Ansatz subsumiert, was über die Analyse individueller Dispositionen hinausgeht und ohne eine Pathologisierung der Täter auskommt, wird dem Situationismus ein extrem breites Anwendungsfeld zuweisen. So zutreffend einige Evidenzen für Zimbardos These sein mögen, dass gewöhnliche, psychisch unauffällige Menschen unter gewissen Umständen zu den grausamsten Taten fähig sind, so unbefriedigend ist es aus einer soziologischen Perspektive, jede Erklärung, die nicht auf Persönlichkeitsmerkmale rekurriert, schon als situationistisch zu deklarieren. In der Soziologie und den benachbarten Disziplinen ist das Feld, das persönlichkeitsbezogenen Ätiologien gegenübersteht, breit differenziert: Dort bilden nicht nur dispositionale, sondern vor allem auch sozialstrukturelle und kulturtheoretische Ansätze die Gegenpole zu Paradigmen, die der minutiösen Analyse von Gewaltsituationen am meisten zutrauen.5 Um der Situationsanalyse nicht die Last aufzubürden, fast alles erklären zu müssen, gilt es vor diesem Hintergrund zu definieren, was der Gewaltforschung als »Situation« und als »situationistischer Erklärungsansatz« gelten soll. Zunächst einmal lassen sich zwei negative Bestimmungen anführen. Eine situationistische Erklärung muss gewaltförmiges Handeln erstens unabhängig von den partizipierenden Akteuren fassen können, also ohne Rekurs auf deren individuelle Sozialisation oder deren biografisch erworbene Handlungsdispositionen auskommen. Eine solche Erklärung darf sich zweitens nicht auf die Analyse sozialstruktureller Spannungen, kultureller Orientierungsmuster oder historischer Verläufe beschränken, sondern muss

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Philip G. Zimbardo, »A Situationist Perspective on the Psychology of Evil. Understanding How Good People Are Transformed into Perpetrators«, in: Arthur G. Miller (Hg.), The Social Psychology of Good and Evil, New York 2004, S. 21–50. Für einen knappen Theorie- und Literaturüberblick siehe Ferdinand Sutterlüty, »Jugend und Gewalt«, in: Ethik & Unterricht 2009, H. 2, S. 6–10.

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gegebenenfalls zeigen, wie sich diese in Handlungssituationen der Gewaltausübung manifestieren. Als positive Bestimmung dessen, was situationistische Ansätze ausmacht, lässt sich angeben, dass sie sich – im Unterschied zu außerhalb des Geschehens liegenden Gewaltursachen, Strukturvoraussetzungen und Hintergrundfaktoren – überhaupt mit dem physischen Gewalthandeln selbst befassen. Dieses versuchen sie in ihrem Verlauf aus der Interaktion der beteiligten Akteure, der daraus resultierenden Dynamik und den spezifischen, sich häufig rasch wandelnden Situationskontexten der Gewaltausübung zu erklären.

Vom Ertrag situationistischer Analysen für die Erforschung kollektiver Gewalt Zweifellos verdanken wir situationistischen Ansätzen, die in diesem Sinne vorgehen, theoretische Konzepte und analytische Instrumentarien, die für die Erforschung von Gewalt, insbesondere kollektiver Gewalt, unverzichtbar sind. Ohne sie lässt sich zum einen, wie nun dargelegt werden soll, die Eigendynamik gewaltförmiger Interaktion gar nicht angemessen begreifen. Zum anderen liefern sie wichtige Erkenntnisse zu den Situationsdeutungen der Akteure, die kollektive Gewaltexzesse erst ermöglichen. Kollektive Gewalt umfasst allerdings ganz unterschiedliche Phänomene, die von der vereinbarten Schlägerei unter Hooligans bis hin zum genozidalen Vernichtungsfeldzug reichen. Wie allein schon diese beiden Beispiele zeigen, können die Akteurskonstellationen recht symmetrisch oder auch extrem asymmetrisch sein. Neben den unmittelbar Beteiligten spielt dabei stets auch das Verhalten weiterer Akteursgruppen eine zentrale Rolle. Der Verlauf kollektiver Gewaltereignisse kann etwa von den Reaktionen der staatlichen Exekutive und von Äußerungen politischer Repräsentanten nachhaltig beeinflusst werden oder auch davon, ob das unmittelbare Umfeld von passiven Unterstützern der Täter, applaudierenden Zuschauern oder von Gruppen bestimmt wird, die sich an die Seite der Opfer stellen und der Gewalt Einhalt gebieten wollen. Davon ist nicht nur abhängig, welche Gelegenheitsstrukturen die Gewaltakteure vorfinden und in welchem legitimatorischen Kontext sie agieren, sondern häufig auch, wie sie die 234

Handlungssituation überhaupt definieren. Die Varianten und Akteurskonstellationen sind so zahlreich, dass sie sich kaum vollständig auflisten lassen. Allgemein aber lässt sich sagen, dass kollektive Gewalt ein interaktives Geschehen und als solches durch multilateral bewirkte Eskalationsprozesse geprägt ist, die eine starke Eigendynamik entfalten. Um diese Eigendynamik kollektiver Gewalt zu erfassen, auf die keine auch nur einigermaßen vollständige Erklärung verzichten kann, bedarf es einer genauen Rekonstruktion des Gewalthandelns selbst und ihres oft komplexen Vollzugskontextes. Genau darauf sind situationistische Ansätze geeicht. Wenn in diesem Beitrag die Leistungsfähigkeit solcher Ansätze für die Analyse »kollektiver« Gewalt untersucht wird, handelt es sich nicht um eine systematische Erörterung ihrer Unterschiede zu individuell ausgeübter Gewalt. Ohne damit den Anspruch einer abschließenden Klärung zu verbinden, stehen hier folgende Spezifika kollektiver Gewalt im Mittelpunkt: die im Vergleich zur Gewalt einzelner Täterinnen oder Täter viel längeren und komplexeren Interaktionsketten, in denen unterschiedliche Akteure einander in ihrem Handeln beeinflussen; die multilateralen und permanenten Deutungsvorgänge, die für Entstehung und Verlauf von kollektiven Gewaltphänomenen konstitutiv sind; und die Diversität von Akteursgruppen, die gar nicht denselben Gewaltmotiven folgen oder gleichartige Handlungen vollziehen müssen, um sich wechselseitig in ihrem Tun zu bestärken. In diesem Sinne ist kollektive Gewalt weit mehr als die Gewalt von vielen, die als Einzelne zu demselben Handeln in der Lage wären. Wie viel nun situationistische Ansätze im Bereich kollektiven Gewalthandelns leisten, lässt sich am Beispiel von Riots zeigen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten in sozial benachteiligten und von ethnischen Spannungen geprägten Stadtgebieten in den usa und Europa ereignet haben. Dass sozialstrukturelle Bedingungen wie Armut und noch so extreme Ungleichheiten alleine keine Riots erklären können, lässt sich schon daran ermessen, wie sie ausgelöst werden. Am Beginn des Aufruhrs steht nämlich typischerweise ein fataler polizeilicher Übergriff. Die Vorgeschichte der Riots in Los Angeles von 1992, die 53 Todesopfer forderten und immense Sachschäden infolge von Brandstiftungen und Plünderungsaktionen hinterließen, begann am 3. März 1991, als der damals 26 Jahre alte schwarze Autofahrer Rodney King nach einer Verfolgungsjagd von drei weißen und einem hispanischen 235

Polizisten brutal mit Stöcken zusammengeschlagen wurde. Der Vorfall wurde weltweit bekannt, weil er von einem Anwohner gefilmt und dann über die Medien verbreitet wurde. Zu den Riots, die sich auf Stadtgebiete in South Central Los Angeles konzentrierten, kam es aber erst ein Jahr später, nachdem die vier angeklagten Polizisten von einer mehrheitlich weißen, mit keinem einzigen afroamerikanischen Mitglied besetzten Jury freigesprochen wurden.6 Die drei Wochen anhaltenden Unruhen (émeutes) in den französischen Banlieues 2005 brachen aus, nachdem zwei Jugendliche afrikanisch-maghrebinischer Herkunft, der 17-jährige Zyed Benna und der 15-jährige Bouna Traoré, in Clichy-sous-Bois bei Paris beim Versuch, einer Polizeikontrolle zu entgehen, am 27. Oktober jenes Jahres auf tragische Weise in einer Transformatorenstation zu Tode kamen. Vier Menschen verloren nach offiziellen Angaben bei den darauf folgenden Ausschreitungen ihr Leben, zahllose wurden verletzt; landesweit wurden Tausende zerstörte und ausgebrannte Autos registriert, über 200 öffentliche Gebäude, darunter viele Schulen und Polizeistationen, wurden beschädigt oder niedergebrannt.7 Die wesentlich kürzer andauernden, aber nicht minder intensiven und folgenschweren Riots, die 2011 in einigen Londoner Stadtteilen tobten und dann auf andere englische Städte übergriffen, begannen am frühen Abend des 4. August, nachdem Mark Duggan, ein 29-jähriger dunkelhäutiger Mann, im Nordlondoner Stadtteil Totten-

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Wichtige Dokumentationen und Analysen dazu sind zu finden in Warren Christopher Commission, Report of the Independent Commission on the Los Angeles Police Department, Los Angeles 1991; Don Hazen/Institute for Alternative Journalism (Hg.), Inside the L. A. Riots. What Really Happened – and Why It Will Happen Again, New York 1992; Shelby Coffey/Los Angeles Times (Hg.), Understanding the Riots. Los Angeles Before and After the Rodney King Case, Los Angeles 1992; Robert Gooding-Williams (Hg.), Reading Rodney King, Reading Urban Uprising, New York/London 1993; Mark Baldassare (Hg.), The Los Angeles Riots. Lessons for the Urban Future, Boulder/Oxford 1994. Centre d’analyse stratégique, Enquêtes sur les violences urbaines. Comprendre les émeutes de novembre 2005. Les exemples de Saint-Denis et d’Aulnay-sous-Bois, Paris 2006; Alain Bertho, Événements de novembre 2005 dans les »banlieues« françaises. Dossier documentaire, Paris 2007; Laurent Mucchielli, »Autumn 2005: A Review of the Most Important Riot in the History of French Contemporary Society«, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 2009, H. 5, S. 731–751; David Waddington/Fabien Jobard/Mike King (Hg.), Rioting in the UK and France. A Comparative Analysis, Portland 2009, S. 105ff.

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ham von Polizisten aus undurchsichtigen Gründen erschossen wurde.8 Die schwedischen Riots, die im Stockholmer Vorort Husby im Mai 2013 ausbrachen, folgten auf die Erschießung eines wehrhaften, aus Portugal stammenden 69-Jährigen durch Polizistenhand,9 während die Demonstrationen und Straßenschlachten in Ferguson bei St. Louis, Missouri, im August 2014 aufflammten, nachdem ein weißer Polizist das Leben des unbewaffneten Afroamerikaners Michael Brown im Alter von 18 Jahren durch mehrere Schüsse beendet hatte.10 Nun könnte man aus den frappierenden Übereinstimmungen der Ereignisse, die diese Insurrektionen ausgelöst haben, den Schluss ziehen, dass es ein kulturell übermitteltes Skript gibt, das nach Initialzündungen der beschriebenen Art aktiviert wurde und die Regieanweisungen für das danach ablaufende Ritual enthielt. Schließlich hatten alle beschriebenen Riots Vorläufer im eigenen Land, und es ist auch davon auszugehen, dass vergangene Ereignisse dieser Art aufgrund des breiten internationalen Medienechos, das sie stets erfuhren, aufeinander einwirkten. Bei genauerem Hinsehen erhält man allerdings ein anderes, differenzierteres Bild. Eingehende Situationsund Verlaufsanalysen zeigen schnell, dass sich die gewaltförmigen Ausschreitungen während der Riots aus dem Zusammenwirken vieler Akteure und einer stetigen Neudefinition der Situation entwickelt haben. Man macht sich eine viel zu einfache Vorstellung von den Ereignissen, wenn man davon ausgeht, dass die Rioters einfach vorab feststehende Intentionen bloß noch exekutierten, ohne in deren Verlauf von ihren kontextspezifischen Erfahrungen, neu auftauchenden Deu8

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The Guardian/London School of Economics and Political Science, Reading the Riots. Investigating England’s Summer of Disorder, London 2011; Gareth Morrell u.a., The August Riots in England. Understanding the Involvement of Young People, London 2011; Daniel Briggs (Hg.), The English Riots of 2011. A Summer of Discontent, Hook 2012; Metropolitan Police Service, 4 Days in August. Strategic Review into the Disorder of August 2011. Final Report, London 2012. Carl-Ulrik Schierup/Aleksandra Ålund/Lisa Kings, »Reading the Stockholm Riots – A Moment for Social Justice?«, in: Race & Class 2014, H. 3, S. 1–21; Ove Sernhede, »Youth Rebellion and Social Mobilisation in Sweden«, in: Soundings 2014, H. 1, S. 81–91. Tanzina Vega/Timothy Williams/Erik Eckholm, »Dueling Police Statements Raise Tension in Missouri«, in: The New York Times, 16. 8. 2014, S. A1 und A12; Patrick Bahners, »Das umstrittene Erbe des Michael Brown«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. 8. 2014, S. 5.

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tungen und situativen Handlungsproblemen tangiert worden zu sein.11 Hier ist neben den Intentionen und der Deutungsaktivität von Akteuren auch ein situationstheoretisches »Alteritätsprinzip« zu berücksichtigen, das die Möglichkeit einer »Führung der Situation durch die Anderen« in den Blick nimmt.12 Ralph H. Turner hat eine interaktionistische Analyse zu US-amerikanischen Riots vorgelegt, die zwei wesentliche Elemente ihrer situativen Entwicklungsdynamik freilegt: die sukzessive Veränderung normativer Standards, die schließlich zu einer Gewalt ermöglichenden Situationsdeutung führt, und die nur aus dem interaktiven Wechselspiel verschiedener Akteure zu begreifende Verlaufskurve der Gewaltausbrüche selbst.13 Turner weist zunächst darauf hin, dass im Zuge von Riots Normen außer Kraft gesetzt werden, denen die meisten Beteiligten ansonsten folgen. So zitiert er einen Teilnehmer an den Los Angeles Riots von 1992, der sagte: »Es ist ein Riot – alles ist erlaubt!«14 Gewalthemmende Normen werden bei Riots ebenso zeitweilig suspendiert wie die Achtung vor dem Eigentum anderer, was gewalttätige Angriffe, Plünderungen und Brandstiftungen durch Menschen ermöglicht, die unter anderen Umstanden kaum zu solchen Handlungen fähig wären.15 Randall Collins spricht unter anderem mit Bezug auf die besagten Unruhen in Los Angeles von einer »moralischen Aus11

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Für eine allgemeine handlungstheoretische Begründung dafür siehe Josh Whitford, »Pragmatism and the Untenable Dualism of Means and Ends. Why Rational Choice Theory Does Not Deserve Paradigmatic Privilege«, in: Theory and Society 2002, H. 3, S. 325–363. Vgl. Andreas Ziemann, »Soziologische Strukturlogiken der Situation«, in: ders. (Hg.), Offene Ordnung? Philosophie und Soziologie der Situation, Wiesbaden 2013, S. 105–129, hier: S. 108. Ralph H. Turner, »Race Riots Past and Present: A Cultural-Collective Behavior Approach«, in: Symbolic Interaction 1994, H. 3, S. 309–324. Turner, Race Riots Past and Present, S. 317. Deutsche Zitate aus fremdsprachigen Texten sind Übersetzungen des Verfassers. Bei den L. A. Riots 1992 wurden Koreaner und ihre Geschäfte auffällig häufig zum Ziel der Angriffe der mehrheitlich afroamerikanischen und hispanischen Rioters. Das hing zum einen mit der zunehmenden Dominanz koreanischer Geschäftsinhaber in den besonders betroffenen Stadtgebieten in South Central Los Angeles zusammen; zum anderen mit der erhitzten öffentlichen Debatte um einen vorausgegangenen Vorfall vor Ort, bei dem eine koreanische Ladeninhaberin die 15-jährige Afroamerikanerin Latasha Harlins nach einer heftigen Auseinandersetzung von hinten erschossen hatte.

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zeit«,16 um damit eine Situation zu beschreiben, in der bestimmte Regeln kollektiv außer Kraft gesetzt werden und keiner mehr den anderen davon abhält, gewalttätig zu handeln und andere Straftaten zu begehen. Völlig zu Recht weist Collins allerdings auch darauf hin, dass die moralische Auszeit sich bei Riots keineswegs auf alle Regeln bezieht: Nie ende die Gewalt schließlich in einem zügellosen Kampf aller gegen alle, Plünderer plünderten nicht voneinander, und nach etwaigen Hinweisen auf Vergewaltigungen bei Riots müsse man lange fahnden. Aber der partielle Zusammenbruch restriktiver Normen erklärt noch nicht, was die Rioters positiv motiviert hat, sondern zeigt nur, dass inhibitorische Prinzipien, die gewöhnlich als Verbote oder Hemmungen wirken, außer Kraft gesetzt wurden. Wiederum mit Turner kann man sich klarmachen, dass die handlungsmotivierenden Impulse nicht einfach unmittelbar aus den Initialereignissen hervorgehen, sondern sich erst im Verlauf von Riots herauskristallisieren und den unterschiedlichen Gruppen von Rioters als gemeinsamer Legitimationsrahmen dienen. Die »sich herausbildenden Normen«, von denen Turner spricht, waren bei den L. A. Riots 1992 von der Idee einer »Vergeltung für die weiße Ungerechtigkeit gegenüber Minderheiten« bestimmt.17 Der Prozess, aus dem heraus Revanche zu nehmen sich bei den Rioters zur legitimen und motivierenden Handlungsmaxime entwickelte und sie situativ davon abhielt, die Folgen ihres Handelns für sich und andere abzuwägen, wird bei Turner indessen nicht genau beschrieben. An den französischen und englischen Riots 2005 und 2011, bei denen ebenfalls das Motiv der »Rache« – allerdings vornehmlich gegen die Polizei und andere staatliche Instanzen – eine entscheidende Rolle spielte,18 kann man sich vor Augen führen, dass am Aufbau einer gewaltlegitimierenden Situationsdeutung nicht nur die Rioters beteiligt sind. Zu ihrer interaktiven Herausbildung trugen öffentliche Debatten und Äußerungen führender Politiker maßgeblich bei.19 16 17 18 19

Randall Collins, Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie, Hamburg 2011, S. 151, 360ff. Coffey/Los Angeles Times, Understanding the Riots, S. 129; Turner, Race Riots Past and Present, S. 317f. Mucchielli, Autumn 2005, S. 740f.; Guardian/London School of Economics and Political Science, Reading the Riots, S. 19. Bei den jüngsten Riots in Ferguson hatte die Diskussion um ein vom städtischen Polizeichef veröffentlichtes Überwachungsvideo eine verschärfende Wirkung, wel-

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Mit Blick auf Frankreich ist zunächst daran zu erinnern, dass bereits in den Monaten vor der Novemberrevolte 2005 das negative Image der sogenannten Beurs, der maghrebinischen Franzosen, heftig diskutiert wurde; vielfach wurden sie als terrorbereite Islamisten und innere Feinde diffamiert, während die von ihnen bewohnten Banlieues verstärkt als Orte der Kriminalität perhorresziert wurden.20 Die Ankündigung des damaligen Innenministers Sarkozy am 19. Juni 2005, er wolle den Pariser Vorort La Courneuve wegen der hohen Kriminalitätsrate »mit dem Kärcher säubern« beziehungsweise die Delinquenten »wegkärchern« – also mit dem Hochdruckreiniger fortspülen – lassen,21 hatte ein langes Nachspiel in der öffentlichen Debatte. In einer frühen Phase der französischen Riots sprach Sarkozy dann vor laufenden Kameras von einem jugendlichen »Gesindel« und vom »Abschaum« in den Banlieues. Etwas moderater, aber in dieselbe Richtung gehend war die Losung des britischen Premiers Cameron »Das ist Kriminalität, schlicht und einfach«, die in den englischen Riots 2011 nur ein Verhaltensproblem der Aufrührer, nicht aber auch einen Ausdruck der Probleme der betroffenen Stadtgebiete und ihrer Bewohner sah. In verschärfender Weise sprachen die dominanten politischen Reaktionen in England dann von einer »nutzlosen kriminellen Unterschicht« oder von »stumpfsinnigen, wild gewordenen Jugendlichen«, die zur Rechenschaft gezogen werden müssten.22

20 21

22

ches den später erschossenen Michael Brown als mutmaßlichen Ladendieb zeigte. Dieses Manöver, das einen sich schnell als falsch erweisenden Zusammenhang zwischen dem Raub und den Polizeischüssen herstellte, wurde weithin als bloße Taktik einer Täter-Opfer-Umkehrung wahrgenommen. Das vergrößerte nur das Misstrauen der schwarzen Bevölkerung zu der von Weißen dominierten Polizei Fergusons und beförderte die Eskalation der Ausschreitungen. Vgl. Joanna Slater/Joe Friesen und Mark Peters/Ben Kesling, »The Lessons of Ferguson«, in: The Globe and Mail, 16. 8. 2014, S. A8–A9. Dazu und zum Folgenden: Ferdinand Sutterlüty, »Riots – moralische Eskalationen?«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2013, H. 2, S. 3–23. Der unmittelbare Anlass von Sarkozys Äußerung war der Tod eines Elfjährigen nach einer Schießerei in La Courneuve, Cité des 4000. Vgl. Mustafa Dikeç, Badlands of the Republic. Space, Politics, and Urban Policy, Malden/Oxford 2007, S. 165. Charlie Cooper, »Understanding the English ›Riots‹ of 2011: ›Mindless Criminality‹ or Youth ›Mekin Histri‹ in Austerity Britain?«, in: Youth & Policy 2012, H. 109, S. 6–26; Diane Frost/Richard Phillips, »The 2011 Summer Riots: Learning from History – Remembering ’81«, in: Sociological Research Online 2012, H. 3, Abs. 3.2–3.8.

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Solche öffentlichen Äußerungen, die in Echtzeit medial verbreitet wurden, befeuerten die aggressiven Tumulte und Attacken, indem sie die Rioters in ihrer subjektiven Gewissheit bestärkten, dass ihr Handeln legitim sei. Die tödlich endende Verfolgung von Zyed Benna und Bouna Traoré durch die Polizei in Clichy-sous-Bois und die Erschießung von Mark Duggan in Tottenham erschienen ihnen nur noch als die extremsten Formen dessen, wie die Staatsmacht mit Benachteiligten und ethnischen Minderheiten umgeht. Die Empörung darüber und die Reaktion der Rioters stieß bei französischen und englischen, wie auch schon bei den von Turner beschriebenen US-amerikanischen Riots auf Verständnis in den entsprechenden Nachbarschaften und Stadtvierteln – selbst bei jenen, die Gewalt ablehnten. Auch das festigte die Rioters darin, ihre Wut und Racheaktionen als gerechtfertigt zu betrachten. An dieser Stelle stößt eine situationistische Analyse allerdings auch an ihre Grenzen. Die normativen Erwartungen, auf deren Verletzung die Rioters reagierten, lassen sich nämlich nicht allein aus der interaktiv sich entwickelnden Situation erklären. Sie entstanden nicht erst, wie Turner in seiner Analyse suggeriert,23 im Verlauf der eskalierenden Ausschreitungen. Bei den französischen und britischen Riots spielten schon zuvor existente Ansprüche auf Gleichbehandlung eine ganz entscheidende Rolle. Wie sich einschlägigen Studien entnehmen lässt, hatten gerade die jüngeren Bewohner der Riot-Gebiete aus ethnischen Minderheiten – im Unterschied zur Elterngeneration – die Idee staatsbürgerlicher Gleichheit voll internalisiert.24 Für die ganz überwiegend jungen und männlichen Rioters gilt das »Paradox der kulturellen Assimilation«, von dem François Dubet bereits in den 1990er Jahren gesprochen hat. Er stellte nämlich bei den gewaltbereiten und 23 24

Vgl. auch Ralph H. Turner, »The Moral Issue in Collective Behavior and Collective Action«, in: Mobilization 1996, H. 1, S. 1–15. Siehe zu Frankreich: Loïc J. D. Wacquant, »Roter Gürtel, Schwarzer Gürtel. Rassentrennung, Klassenungleichheit und der Staat in der französischen städtischen Peripherie und im amerikanischen Ghetto«, in: Hartmut Häußermann/Martin Kronauer/Walter Siebel (Hg.), An den Rändern der Städte. Armut und Ausgrenzung, Frankfurt am Main 2004, S. 148–200, hier: S. 161f.; zu Großbritannien: Paul Bagguley/Yasmin Hussain, Riotous Citizens. Ethnic Conflict in Multicultural Britain, Aldershot/Burlington 2008, S. 143ff.; zu Schweden: Andrew Higgins, »In Sweden, Riots Put an Identity in Question«, in: The New York Times, 27. 5. 2013, S. A4.

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rebellischen Jugendlichen in den Banlieues fest: Je besser sie kulturell angepasst waren und je stärker sie die Wertmuster ihrer Gesellschaft verinnerlicht hatten, desto lebhafter war ihr Gefühl der Ausgrenzung und Ungerechtigkeit.25 Moralische Gefühle dieser Art hatten bereits in den Jahren vor den 2005er und 2011er Riots in Frankreich und England in der alltäglichen Erfahrung der späteren Aufrührer und Randalierer viel Nahrung erhalten. Den Hintergrund dafür bildeten vor allem eine polizeilich gestützte Law-and-Order-Politik in Frankreich, die in den Banlieues in den Jahren vor den Riots etabliert wurde und die Fabien Jobard sogar als »paramilitärisch« bezeichnet hat,26 und in England das sogenannte Stop-and-search-Policing, das zur Terrorismusbekämpfung eingeführt wurde und vor allem in kriminalitätsbelasteten Gebieten zum Einsatz kam. Diese Sicherheitsstrategien, die polizeiliche Überprüfungen und Durchsuchungen ohne konkreten Verdacht ermöglichten, zersetzten in den französischen und englischen Gebieten, in denen die Riots stattfanden, das Vertrauen in die Ordnungskräfte und den Rechtsstaat. In beiden Fällen häuften sich nämlich Berichte über erniedrigende Behandlung durch Polizisten und willkürliche Maßnahmen der Sicherheitsorgane. Viele Rioters hatten eigene Erfahrungen damit, und aus den verfügbaren Primärquellen wissen wir, dass sie dies unter dem Gesichtspunkt kritisierten, nicht so behandelt zu werden wie andere Franzosen oder Briten auch.27 Sie nahmen das verfassungsmäßige Prinzip staatsbürgerlicher Gleichheit beim Wort und waren empört darüber, dass es bei ihnen offenbar keine praktische Geltung haben sollte. In Frankreich besaß, anders als in England, auch der erfahrungsgesättigte Vorwurf ein großes Gewicht, dass das republikanische Schulsystem in den Banlieues sein Versprechen auf Chancengleichheit und leistungsbasierten Aufstieg fortwährend bricht. Die Wut der Rioters speiste sich demnach aus der Verletzung staatsbürgerlicher

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26 27

François Dubet, »Die Logik der Jugendgewalt. Das Beispiel der französischen Vorstädte«, in: von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt. S. 220–234, hier: S. 225 ff., 232 f. Fabien Jobard, »Rioting as a Political Tool: The 2005 Riots in France«, in: Howard Journal of Criminal Justice 2009, H. 3, S. 235–244, hier: S. 243. Sutterlüty, Riots – moralische Eskalationen?, S. 12ff.

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Gleichheitsansprüche, aus einer für Demokratien konstitutiven Norm also, deren Rekonstruktion eine rein situationistische Analyse der Ereignisse überfordern müsste. Das Deutungsmuster, in dem die Empörung gründete, war schon vorbereitet, bevor die Riots ausbrachen, und hing direkt mit der normativen Ordnung demokratischer Gesellschaften und ihrer Institutionen zusammen. Gleichwohl müsste eine situationistische Analyse, wenn die vorangegangenen Hinweise richtig sind, zeigen können, dass jene Ansprüche auf Gleichbehandlung durch die staatlichen Institutionen und deren wahrgenommene Verletzung tatsächlich in die Riots selbst eingegangen sind. Dafür gibt es zahlreiche Hinweise aus Quellen und Dokumenten, die sich direkt auf die aufrührerischen Vorgänge und die gewaltförmigen Handlungsmotive der Rioters beziehen. Exemplarisch sei dazu nur angeführt, dass ein viel benutzter Ausruf während der Unruhen in Frankreich lautete: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, aber nicht in den Vorstädten!«28 Damit brachten die Protagonisten zum Ausdruck: Was für andere Franzosen gilt, muss auch für uns Banlieuebewohner gelten; die hehren Ideale der Nation dürfen bei uns nicht außer Kraft gesetzt werden. Ein englischer Rioter drückte seine Rage, die er an Polizei und Regierung adressierte, mit den Worten aus: »Ein ›Gesetz‹ für die Reichen und ein anderes für den Rest.«29 Auch darin artikuliert sich ein basaler Anspruch auf Gleichbehandlung als Staatsbürger und Rechtssubjekt, der schließlich zur motivationalen Triebfeder für die Beteiligung an den Ausschreitungen wurde. Ohne die skizzierten normativen Standards, die nicht erst situativ entstanden sind, sich jedoch in den Handlungssituationen und ihrer Deutung durch die Akteure zeigen, wäre es zu den Riots gar nicht gekommen.30 Hat man die tief in der demokratischen Kultur veranker28 29 30

Robert Castel, Negative Diskriminierung. Jugendrevolten in den Pariser Banlieues, Hamburg 2009, S. 37. Anonymus, »Von einem Randalierer«, in: Wenn die Toten erwachen. Die Riots in England 2011, Hamburg 2012, S. 11–12, hier: S. 11. Der konsistent sich wiederholende Befund, dass unter den Rioters stets junge Männer dominieren, während Frauen stark unterrepräsentiert sind, lässt sich wohl ebenfalls schwerlich situationistisch erklären, sondern bedarf einer kultur- und gendertheoretischen Analyse. Zum Männerüberhang bei Riots siehe Peter A. Morrison/Ira S. Lowry, »A Riot of Color: The Demographic Setting«, in: Mark Baldassare (Hg.), The Los Angeles Riots. Lessons for the Urban Future, Boulder/Oxford 1994,

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ten, von den Aufrührern verinnerlichen Gleichheitsnormen einmal rekonstruiert und ihre Wiederkehr in den Riots aufgezeigt, lassen sich die Stärken situationistischer Analysen voll zur Entfaltung bringen. Denn die Eskalations- und Eigendynamik der Riots ist keineswegs auf jene normativen Muster reduzierbar. Es bedarf einer interaktionistisch orientierten Situationsanalyse, um das Zustandekommen und die Verlaufsmuster von Riots erklären zu können. Eine solche Rekonstruktion hat zunächst die »Testphase« zu beachten, die meist am Beginn von Riots zu beobachten ist.31 In dieser Phase erprobt eine offensive Vorhut in der Auseinandersetzung mit der Polizei, wer die Oberhand behält und wie hoch die Risiken sind, gefasst zu werden. Die Testphase ist gewiss bei verschiedenen Riots oder auch Gruppen von Rioters einmal direkt als solche intendiert, während ein andermal spontane Reaktionen erst im Nachgang als Probelauf gesehen werden; vom Ausgang der Tests hängt es jedenfalls ab, ob sich weitere Akteure beteiligen und ob es überhaupt zu einer Ausweitung der Riot-Aktivitäten kommt. In den Anfangsphasen richten sich die Attacken zumeist – konsistent mit den Initialereignissen und den skizzierten normativen Grundmustern – gegen die Polizei und ihre Einrichtungen. Die Ausweitung der Angriffsziele lässt sich dann ebenfalls interaktionistisch durch die neu entstehenden Situationen explizieren. Im französischen Fall traf es vor allem Schulen und andere öffentliche Einrichtungen, mit denen die Aufrührer die Symbole und Verkörperungen der Republik verbrennen wollten, die an ihnen ihre eigenen Ideale verraten hatte. Im englischen Fall setzten die Rioters alsbald zahlreiche kommunale Einrichtungen in Brand, und viele kaprizierten sich auf die Plünderung von Geschäften. Plünderungen, die auch bei den L. A. Riots von 1992 unermessliche Dimensionen annahmen, scheinen eine grobe Abweichung von den normativ unterlegten Ausgangsmotiven der Rioters darzustellen. Dies lässt sich jedoch, teilweise wenigstens, aus dem interaktiven Geschehen begreifen. So hat Lee Bridges bei den englischen Riots von 2011 da-

31

S. 19–46, hier: S. 34; Michel Kokoreff, »La dimension politique des émeutes de 2005 en question«, in: Swiss Journal of Sociology 2008, H. 2, S. 415–430, hier: S. 423f.; Riots Communities and Victims Panel, After the Riots. The Final Report of the Riots Communities and Victims Panel, London 2012, S. 7, 86ff. Dazu Turner, Race Riots Past and Present, S. 315f.

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rauf hingewiesen, dass die Polizeistrategie zunächst darin bestand, ihre eigenen Einrichtungen zu schützen, was zu einer territorialen Ausweitung der Riots und zur Wahl neuer Angriffsziele – von Geschäften nämlich – geführt habe.32 Randall Collins hat das Argument vorgebracht, dass Plünderungen die beste Möglichkeit seien, einen Riot am Laufen zu halten und auch Akteure einzubeziehen, die keine Gewalt gegen Personen anwenden würden. »Randalierer müssen«, schreibt er, »etwas zu tun haben, sonst verlaufen die Unruhen im Sande.«33 Während Plünderungen demnach eine tragende Rolle für die Aufrechterhaltung, Personalrekrutierung und zeitliche Ausdehnung von Riots haben, schaffen diese freilich auch Gelegenheiten für Trittbrettfahrer, die lediglich darauf aus sind, die eingetretene Situation für einen kostenlosen Einkaufstrip zu nutzen. Eine interaktionistische Rekonstruktion der Eskalationsprozesse etwa der französischen und britischen Riots muss weiterhin den Wettbewerb zwischen den verschiedenen Orten beachten, an denen sie zeitgleich veranstaltet wurden. Bei den Ausschreitungen kam es zu einer Art von Konkurrenz zwischen Stadtteilen und Städten, bei der es darum ging, die größte mediale Aufmerksamkeit zu gewinnen und die anderen im Ausmaß der angerichteten Zerstörung zu überbieten. Die Liste der Eskalationsdynamiken, Gelegenheitsstrukturen und Zielverschiebungen, die nur durch eine interaktionistische Situationsanalyse zu erfassen sind, ließe sich gewiss noch erweitern. Hier soll die Aufmerksamkeit indes auf ein Merkmal gerichtet werden, das für die Ausgangssituation von Riots in demokratischen Gesellschaften von entscheidender Bedeutung zu sein scheint und die gewaltförmige Destruktivität der Ausschreitungen zu verstehen hilft: die Entfremdung der Rioters und ihrer Sozialmilieus von staatlichen Institutionen und den Arenen der politischen Auseinandersetzung. Von dem aus spezifischen Erfahrungen genährten Misstrauen gegenüber dem Justizsystem und dem Polizeiapparat bei den Rioters war oben bereits die Rede. Dieses Misstrauen setzte sich in allen angeführten Fällen gegenüber der Sphäre der Politik und politischen Öffentlichkeit fort. In keinem der Stadtviertel, in denen die Riots stattgefun32 33

Lee Bridges, »Four Days in August. The UK Riots«, in: Race & Class 2012, H. 1, S. 1–12, hier: S. 6. Collins, Dynamik der Gewalt, S. 367.

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den haben, existierten funktionierende Kommunikationskanäle zur etablierten Politik, die ihren Belangen eine öffentliche Repräsentanz hätten verleihen können. So stellte Ronald N. Jacobs eine ethnische Stratifizierung der öffentlichen Sphäre in den usa fest, die es verhindert hat, dass sich »Interpretationsgemeinschaften« zur Situation der afroamerikanischen Bevölkerung innerhalb einer diversifizierten Öffentlichkeit bilden konnten.34 In der Folge, so seine Diagnose, dominierte ein »tragischer Diskurs«, der Haltungen der Entfremdung und Resignation beförderte und alle Hoffnung zerstörte, durch die politische Artikulation der eigenen Belange nachhaltig Gehör zu finden. Das beschreibt Jacobs als die Ausgangslage, aus der schon frühere Erhebungen und dann die L. A. Riots von 1992 hervorgegangen sind. Auch in Frankreich ist zwischen die Politik und die Bewohner der städtischen Armutszonen, nachdem die lokalen Verbandsstrukturen der klassischen Arbeiterparteien weitgehend verschwunden sind, eine sprachlose »Leere« getreten, wie Didier Lapeyronnie es mit Blick auf die Hintergründe der 2005er Unruhen formuliert hat.35 In vergleichbarer Weise hat Gary Younge die englischen Rioters von 2011 als »politische Waisen« bezeichnet und John Benyon die Riots als die »Wahlurnen der Armen« beschrieben.36 Die große Kluft zwischen der Politik und dem Leben vor Ort ist zweifellos ein wesentlicher Grund dafür, dass sich die Riots in zerstörerischer Form geäußert haben und nicht in konkrete politische Forderungen übersetzt worden sind. Jene Kluft vermag verständlich zu machen, warum nicht etwa eine politische Hoffnung, sondern die Semantik von Rache und Vergeltung sich bei den genannten Riots durchgesetzt hat. Da die Rioters von den politischen Institutionen ent34

35

36

Ronald N. Jacobs, Race, Media, and the Crisis of Civil Society. From Watts to Rodney King, Cambridge/New York 2000, S. 140f.; vgl. auch Turner, Race Riots Past and Present, S. 312f. Didier Lapeyronnie, »›Primitive Rebellion‹ in den französischen Vorstädten. Ein Essay über die Unruhen vom Herbst 2005«, in: Soziale Probleme 2006, H. 1, S. 63–89, hier: S. 85; siehe weiterhin Étienne Balibar, »Uprisings in the Banlieues«, in: Constellations 2007, H. 1, S. 47–71, insb. S. 61ff. Gary Younge, »These Riots Were Political. They Were Looting, not Shoplifting«, in: The Guardian, 15. 8. 2011, S. 25; John Benyon, »England’s Urban Disorder: The 2011 Riots«, in: Political Insight 2012, H. 1, S. 12–17, hier: S. 13.

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fremdet waren und sich von ihnen abgekoppelt sahen, nahm ihr Protest nicht etwa die Form einer politischen Petition oder sozialen Bewegung an, sondern äußerte sich in gewalttätiger Weise gegen einen Staat, der seine Versprechen nicht hält und den staatsbürgerlichen Gleichheitsanspruch mit Füßen tritt. Diese Situation einer blockierten Kommunikation zwischen marginalisierten Stadtgebieten und der politischen Sphäre gehört zur verallgemeinerbaren Typik von Situationen, aus denen Riots erwachsen können. Wenn man nun in generalisierender Absicht Situationsanalysen der beschriebenen Art miteinander vergleicht, lassen sich Typen von situativen Konstellationen und Merkmalen herausarbeiten, die kollektive Gewalt begünstigen. In dieser Richtung hat sich in der Forschung der letzten Jahrzehnte viel getan. Aus dem berühmten Stanford Prison Experiment von Philip Zimbardo und dem Studium verschiedenster Gewaltphänomene wissen wir, dass die Entmenschlichung der Opfer, die Deindividuation von Tätern und Opfern etwa durch Uniformen oder Gesichtsverhüllungen, der symbolische Ausschluss von Menschengruppen aus dem Geltungsbereich moralischer Regeln sowie die institutionelle Erwünschtheit grausamen Handelns die Ausübung kollektiver Gewalt enorm fördern.37 Hier und dort mögen derartige situative Bedingungen auch bei den erwähnten Riots eine Rolle gespielt haben. Weiter dürfte man aber kommen, wenn man die oben genannten Merkmale urbaner Unruhen zu einer Situationstypik riotartiger Vorkommnisse verdichtet. Diese Situationstypik, die sich gewiss noch erweitern und verfeinern ließe, wenn man weitere Beispiele aus Geschichte und Gegenwart hinzuzöge, weist drei analytisch unterscheidbare, jedoch empirisch ineinandergreifende Elemente auf: die Ausgangssituation, die sich entwickelnde Situationsdeutung der Akteure und die interaktiv sich aufbauende Eskalationsdynamik. Am Anfang steht stets ein öffentlich hitzig diskutierter Vorfall, bei dem ein Mitglied einer ethnischen Minderheit durch einen unverhältnismäßigen Polizeieinsatz schwer verletzt oder getötet wird. Die Opfer stammen dabei – wohl kaum zufälligerweise – immer aus den 37

Zimbardo, A Situationist Perspective on the Psychology of Evil, S. 38ff.; Philip Zimbardo, Der Luzifer-Effekt. Die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen, Berlin/Heidelberg 2012, S. 249ff.

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strukturell benachteiligten Stadtgebieten, in denen die durch den polizeilichen Übergriff ausgelösten Riots ihr Zentrum haben. Die Ausgangssituation ist weiterhin typischerweise dadurch geprägt, dass die marginalisierten Milieus, aus denen sich die späteren Rioters rekrutieren, von allen Ebenen der Politik entfremdet sind und daher ihren Protest nicht in irgendeiner Form der politischen Intervention zu kanalisieren wissen. Warum die Rioters überhaupt so empört sind, hängt mit ihrer Situationsdeutung zusammen. Sie interpretieren die Initialereignisse nämlich im Lichte ihrer eigenen Erfahrungen mit der Polizei und anderen staatlichen Instanzen nur als den extremsten Ausdruck dessen, was ihnen im Wohnumfeld alltäglich widerfährt. Diese Deutung, die sich als solche nicht allein situativ begreifen lässt, verdankt sich in demokratischen Kulturen allgemein konsentierten Normen der staatsbürgerlichen Gleichbehandlung; ihre alltagsweltliche Verletzung ist die Quelle der aufrührerischen Wut. Jene von Normen der Gleichheit unterfütterte Deutung wird allerdings situativ erst durch diffamierende öffentliche Reaktionen auf die ersten Ausschreitungen und Attacken gegen die Polizei so recht aktiviert, erneut bestätigt und schließlich handlungsleitend. Es entsteht eine moralische Ausnahmesituation, in der die normalerweise wirksamen sozialmoralischen Barrieren gegenüber gewalttätigem Verhalten pulverisiert werden und sich die Rioters gerechtfertigt sehen, Vergeltung an der Polizei und den sie um ihre berechtigten Ansprüche betrügenden staatlichen Institutionen zu üben. Dann setzen Interaktionsdynamiken ein, durch welche die gewaltsamen Ausschreitungen weiter eskalieren, neue Angriffsziele ins Visier genommen und Gelegenheitsstrukturen für weitere Akteure geschaffen werden, sich am Riot zu beteiligen oder auch Straftaten auf eigene Rechnung zu begehen. In diesen Zusammenhang gehört regelmäßig eine Phase des Austestens der Kräfteverhältnisse zwischen den Rioters der ersten Stunde und der Polizei, von der entscheidend abhängt, ob sich weitere Akteure an Aufruhr und Protest beteiligen und welche Dimensionen der Riot überhaupt annehmen kann. Im weiteren Verlauf werden die Objekte der Destruktion stark von den Polizeistrategien beeinflusst, während das entstandene Chaos auch Plünderern und anderen Straftätern die Gelegenheit für Handlungen verschafft, die mit der moralischen Entrüstung, die dem Ausbruch der Riots ursprünglich zugrunde lag, kaum mehr direkt zu tun haben. 248

Die Rekonstruktion solcher Dynamiken ist eine exklusive Domäne situationistischer Zugänge zur Erforschung kollektiver Gewalt und ihrer Verlaufsmuster. Die vorangegangenen Analysen haben am Beispiel einiger Riots indessen auch auf einige Grenzen des Situationismus aufmerksam gemacht. Gleichzeitig haben sie an einigen Stellen zumindest andeutungsweise aufgezeigt, wie Spannungen und Deutungen, die einer sozialstrukturellen und kulturtheoretischen Analyse bedürfen, in die Untersuchung des interaktiven Gewaltgeschehens integriert werden können. Vor diesem Hintergrund lässt sich nun ein kritischer Blick auf neuere Konzepte der Gewaltforschung werfen, die sich einem situationistischen Paradigma zuordnen lassen. Auch wenn sich diese zumeist nicht oder keineswegs ausschließlich auf Riots beziehen, lassen sich umgekehrt deren teilweise irreführenden Begrifflichkeiten und Analyseinstrumente im Licht der vorstehenden Darstellung bewerten.

Vereinseitigungen situationistischer Gewalttheorien In dem vollauf berechtigten Anliegen, sich theoretisch und empirisch der physischen Realität der Gewalt zu stellen und die körperlose Faktorenkombinatorik zu überwinden, haben neuere situationistische Ansätze ihrerseits zu einer eigentümlichen Blickverengung geführt. Die vielleicht extremste Form eines situationistischen Reduktionismus stellt Wolfgang Sofskys Versuch dar, eine dichte Beschreibung der Gewaltpraxis im Rahmen seiner schwarzen Anthropologie zu liefern. Der von ihm propagierten Mikroanalyse geht es nicht um eine Rekonstruktion von »Sinn und Bedeutung«, »Intentionen und Vorstellungen«, sondern um die »phänomenalen Tatsachen« der Gewalt selbst, deren Zentralbegriffe »Körper«, »Empfindung« und »Widerfahrnis« sind.38 In dem Gestus, die Wahrheit über unsere gewaltsüchtige Spezies auszusprechen, vor der sonst alle Welt mit ihren zivilisatorischen Illusionen furchtsam zurückschreckt, diagnostiziert er ein »Gesetz« oder eine »Logik« der Gewalt, von der wir alle mehr oder weniger unter-

38

Wolfgang Sofsky, »Gewaltzeit«, in: von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, S. 102–121, hier: S. 105.

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schiedslos mitgerissen werden können, wenn wir nur in die entsprechenden Situationen kommen. Folter, Menschenjagd und Massaker sind Sofsky zufolge unterschiedliche Formen einer selbstzweckhaften »reinen Praxis«, deren Motive erst im Prozess der Gewaltdynamik erzeugt werden.39 Diese unheilvolle Dynamik, die sich dem Anschein nach durch die Subjekte hindurch in Szene zu setzen vermag, als wären sie neutrale Gefäße, entsteht laut Sofsky aus der Gewaltsituation selbst. Für die »Praxeologie der Gewalt«, schreibt er, wären daher Prädispositionen der Täter ebenso irrelevant wie historische Umstände. Das Gewaltgeschehen erkläre sich nur durch sich selbst und die von ihm entfesselten Leidenschaften.40 Es ist völlig richtig, dass Gewalthandlungen körperliche und normative Ausnahmezustände herbeiführen können, die von den Tätern als rauschhaft erlebt werden. Das spielt auch bei manchen Rioters eine gewisse Rolle, durch die entsprechenden »intrinsischen Gewaltmotive«41 lassen sich Entstehung und Verlauf von Riots – wie oben klar geworden sein sollte – aber nicht im Ganzen erklären.42 Selbst dort, wo das Gewalterlebnis zum selbstzweckhaften Motiv der Täter wird, handeln diese nicht als bloß situationsgeleitete Reaktions- oder Erlebnisbündel, sondern auf der Grundlage der Bedeutung, die sie der Gewalt zuschreiben. Selbstvergrößerung und Machtgefühle, Nervenkitzel und sadistische Lust bei der Gewaltausübung sind keine kontextfreien Motive, sondern bedürfen ihrerseits einer Analyse, die historische Bedingungen ebenso miteinbezieht wie sozialisatorische und gesellschaftliche Erfahrungen der Täter. Die Situationsmetaphysik à la Sofsky greift zu kurz. Seine praxeologische Theorie verleitet ihn dazu, von einer Logik der Gewalt zu sprechen, als wäre diese ein selbsttätiges

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40 41 42

Wolfgang Sofsky, »Formen absoluter Gewalt«, in: Mittelweg 36 1993, H. 5, S. 36–46, hier: insb. S. 37; ders., Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996, S. 88f., 171f., 177f., passim; ders., »Das Gesetz des Gemetzels«, in: Die Zeit, 2. 4. 1998, S. 53–54. Sofsky, Traktat über die Gewalt, S. 61; ders., »Das ›eigentliche Element‹. Über das Böse«, in: Kursbuch 2013, H. 176, S. 34–46. Ferdinand Sutterlüty, Gewaltkarrieren. Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung, Frankfurt am Main 2002, S. 41ff. Vgl. Sutterlüty, Riots – moralische Eskalationen?, S. 10f.; ferner Gary T. Marx, »Issueless Riots«, in: James F. Short/Marvin E. Wolfgang (Hg.), Collective Violence, Chicago/New York 1972, S. 47–59; Steven I. Wilkinson, »Riots«, in: Annual Review of Political Science 2009, S. 329–343, hier: S. 338f.

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Kollektivsubjekt, das durch die einzelnen Akteure – Mörderbanden, Hetzjäger und Folterer – hindurchgreift. Die verdinglichende Rede von einer Logik der Gewalt verfehlt die intensive Deutungsaktivität der Akteure, ohne die jedes Studium von Phänomenen kollektiver Gewalt, wie sie auch bei Riots vorkommen, bloßes Stückwerk bleiben muss. Riots folgen durchaus einer eigenen Logik. Diese lässt sich jedoch nur vor dem Hintergrund einer einzelne Vorkommnisse präfigurierenden Riot-Tradition und einer Handlungsdynamik begreifen, in welche außerhalb der Situation entstandene Deutungsmuster der Rioters und die interaktiv aufeinander einwirkenden Deutungen der beteiligten Jugendlichen, ihres sozialen Umfeldes und der weiteren Öffentlichkeit eingehen. Die Situationsdefinitionen der Rioters sind weiterhin von – durch ihre sozialstrukturelle Lage bedingten – sozialen Erfahrungen geprägt, durch welche sie die von ihnen verinnerlichten normativen Ansprüche auf Gleichbehandlung als Bürger verletzt sehen. Ihre Gewaltsamkeit erreicht, wie bereits gezeigt wurde, im Zuge der Riots gewiss eine starke Eigendynamik, deren treibende Kräfte sind aber nicht durch die Zuschreibung einer mechanischen Situationslogik, sondern nur durch die Rekonstruktion der kulturell und sozialstrukturell kontextuierten, interaktiv sich entfaltenden Situationsdeutungen der Akteure dingfest zu machen. So unerlässlich es ist, die bei Gewalttaten freigesetzten Leidenschaften und die situative Eigendynamik von Gewaltexzessen in die Betrachtung miteinzubeziehen, so hinderlich ist es, solche Phänomene auf das grausame Geschehen und dessen körperliche Unmittelbarkeit zu reduzieren. Durch die Nahdistanz, aus der Sofsky das physische Geschehen der Gewalt – paradoxerweise aus einer einfühlenden Außenperspektive43 – in den Blick nimmt, kürzt er genau das heraus, was einmal die Stärke situationistischer Ansätze war: ihre symbolischinteraktionistische Orientierung, die im Aufbau von Situationsdeutungen und Handlungssinn eines ihrer Kernelemente hatte. In gewisser Weise trifft dies auch auf Jan Philipp Reemtsmas Phänomenologie der Gewalt zu. Er spricht in Anlehnung an Helmuth Plessner von »Grundfiguren des menschlichen Daseins im Banne des 43

Vgl. dazu den erhellenden Rezensionsessay zu Sofskys Gewalt-Traktat von Trutz von Trotha/Michael Schwab-Trapp, »Logiken der Gewalt«, in: Mittelweg 36 1996, H. 6, S. 56–64, hier: insb. S. 61f.

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Körpers« und unterscheidet vor diesem Hintergrund drei Typen physischer Gewalt.44 Als »lozierende Gewalt« beschreibt Reemtsma solche Vorgänge, bei denen Körper gewaltsam im Raum fixiert oder bewegt werden, ohne dass diese Körper als solche das direkte Ziel der Aktion wären. Das ist das Signum »raptiver Gewalt«, die den Körper des anderen haben und ihn für die eigene sexuelle oder anderweitig sadistische Befriedigung benutzen will. Die von Reemtsma so genannte »autotelische Gewalt« schließlich zielt auf die Zerstörung der Integrität des Körpers und bezeichnet Phänomene, die wir in unserer Kultur als unerklärliches Wüten und sinnlose Grausamkeit zu betrachten geneigt sind. Nun ist es keineswegs so, dass Reemtsmas reichhaltige Analysen hier schon enden; im Gegenteil, er baut auf einer Untersuchung dessen, welche jener Gewaltformen in einer Gesellschaft als bestandsgefährdend oder sozial integrierbar, als abscheulich oder bei gegebenen Umständen legitimierbar erscheinen, seine kulturhistorisch vergleichende Sozialtheorie auf, die auf dem Zusammenspiel von Gewalt und Vertrauen basiert.45 Dessen ungeachtet entkleidet aber auch Reemtsma die Gewaltausübung auf der Ebene der phänomenalen Beschreibung ihres spezifischen inneren Bedeutungsgehalts, indem er sie nur von außen als gleichsam mechanischen Vorgang mit und zwischen Körpern betrachtet. Dieser ungewöhnliche Zugang mag einen vielleicht manchmal inspirierenden Verfremdungseffekt haben, aber er verdunkelt, wenn man ihm auch nur einigermaßen konsequent folgt, bereits die Beschreibung der Gewaltphänomene selbst. Wenn wir die gewaltsamen Ausschreitungen bei den angeführten Riots in Reemtsmas Termini als körperliche Vorgänge lozierender, raptiver und autotelischer Gewalt beschreiben, haben wir nicht viel von ihnen verstanden. Ganz unterschiedliche Erscheinungsformen der Gewalt sehen, wenn man sie durch Reemtsmas Kategorienraster besieht, völlig gleich aus: Die Riots

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Jan Philipp Reemtsma, »Die Natur der Gewalt als Problem der Soziologie«, in: Mittelweg 36 2006, H. 5, S. 2–25, hier: S. 13; ders., Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 106ff. Dazu Axel Honneth, »›Nach Weltuntergang‹. Zur Sozialtheorie von Jan Philipp Reemtsma«, in: Ulrich Bielefeld/Heinz Bude/Bernd Greiner (Hg.), Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag, Hamburg 2012, S. 246–266, hier: S. 252ff.

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ließen sich kaum von der Gewalt eines fremdenfeindlichen oder religiös fanatisierten Mobs, einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen Gangs oder einer Straßenschlacht zwischen Randalierern und der Polizei in einem alljährlich wiederkehrenden Protestritual unterscheiden. Das ist nicht nur für die sozialwissenschaftliche Analyse unbefriedigend, sondern auch normativ und politisch fragwürdig. Außerdem ließen sich einige Einwände, die gegen Sofskys reifizierende Diktion einer selbsttätigen Logik der Gewalt erhoben wurden, bei Reemtsma wiederholen. Überraschenderweise ist auch die ganz anders angelegte Gewalttheorie von Randall Collins keineswegs frei von ähnlichen Verkürzungen. Von einer anthropologisch viel optimistischeren Position als Sofsky und Reemtsma ausgehend, zeigt Collins zunächst auf, wie schwer es ist, sich gewalttätiges Handeln nicht nur vorzustellen, sondern es tatsächlich auch zu vollziehen.46 Den Grund dafür sieht er in der mit Angst behafteten »Konfrontationsanspannung«, der wir in aller Regel aus dem Weg gehen wollen. In dieser Konfrontationsanspannung erblickt Collins aber auch das treibende Element gewalttätigen Verhaltens. Gewalt werde nämlich dann entfesselt, wenn jene Anspannung in eine »Vorwärtspanik« mündet. Weil die Flucht nach vorne und die gewaltförmige Entladung des konfrontativen Hochdrucks gegenüber Schwachen am leichtesten falle, richte sich die Gewalt meistens gegen diese; und weil die Anspannung so groß sei, komme es oft zu einem »Overkill«, also zu einer am Anlass gemessen unverhältnismäßig extremen Form der Gewaltausübung. Diesen ganzen Vorgang, der sich aus der Konfrontationsanspannung und der darauf folgenden Vorwärtspanik aufbaut, beschreibt Collins als einen »mikrointeraktiven Prozess«, dessen Motor die »emotionale Energie« zwischen Akteuren darstellt, die jeweils versuchen, im agonalen Austausch der Emotionen zu obsiegen. Die handlungstheoretische Prämisse, mit der Collins’ Theorie steht und fällt, ist daher, wie Eddie Hartmann ganz richtig bemerkt hat, dass diejenigen, die Gewalt ausüben, stets und ohne sich dessen recht bewusst zu sein

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Collins, Dynamik der Gewalt, S. 63ff.; ders., »Micro and Macro Causes of Violence«, in: International Journal of Conflict and Violence 2009, H. 1, S. 9–22.

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»als Maximierer emotionaler Energie« handeln.47 Tatsächlich kann Collins das Streben nach emotionaler Dominanz, den Aufbau einer Konfrontationsanspannung und deren Auflösung in einer Vorwärtspanik in zahllosen Einzelanalysen demonstrieren. Das ist sehr erhellend, solange er mikrosituative Prozesse des Gewalthandelns im Auge hat, die sich bisweilen auf in Sekundenschnelle sich vollziehende Veränderungen der Interaktionssituation oder auf handlungsrelevante körperliche Haltungen und Bewegungen beziehen. Derart minutiöse und variantenreiche Gewaltanalysen wie bei Collins findet man sonst kaum, aber so aufschlussreich seine mikroskopischen Detailstudien auch sind, so leisten seine theoretischen Zentralkategorien doch wiederum einer mechanistischen Betrachtungsweise Vorschub. Sie sprechen die behavioristisch klingende Sprache von Spannungszuständen, energetischen Ladungen, Kräfteungleichgewichten und Automatismen, nicht die von Deutungen und Bedeutungen. Beispielhaft dafür ist Collins’ Rede von »emotionalen Energien«. Er stellt diese Energien bisweilen dar, als handelte es sich um Naturkräfte ohne eine innere Semantik.48 Die Wut der zitierten Rioters hat jedoch einen propositionalen Gehalt, der in der Verletzung von Gefühlen der Gerechtigkeit und Billigkeit besteht. In seiner Darstellung einzelner Gewaltepisoden bietet Collins, das sollte der Fairness halber nicht verschwiegen bleiben, durchaus reichhaltige Beschreibungen jener semantischen Gehalte. Seinen analytischen Kernkonzepten wohnt jedoch schon im begrifflichen Ansatz ein antihermeneutischer Impetus inne, der sich nicht mehr herausfiltern lässt, ohne die Konzepte selbst zu verändern. Wahrscheinlich lassen sich die polizeilichen Übergriffe, die den Riots von Los Angeles, Paris, London, Husby oder Ferguson vorausgingen, zumindest teilweise als Ergebnis einer Vorwärtspanik deuten, mit der verängstigte Polizisten auf eine Konfrontationsanspannung

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Eddie Hartmann, »Soziale Ordnung und Gewalt. Anmerkungen zur neueren Literatur in der Gewaltforschung«, in: Berliner Journal für Soziologie 2013, H. 1, S. 115–131, hier: S. 121. Das gilt weitgehend auch für Collins’ ansonsten höchst aufschlussreiche Analyse von Techniken, mit denen kompetente Gewaltprofis die emotionalen Energien steuern und den Umgang mit Konfrontationsanspannungen gezielt auf ihre Zwecke hin auszurichten lernen.

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reagierten.49 Aber viel weiter kommt man damit nicht. Collins selbst macht in seinen eigenen Ausführungen zu den L. A. Riots nur sparsamen Gebrauch von seinen wichtigsten Kategorien, und selbst dann wirken sie noch etwas blass und wie von außen angeheftet; sie konnten zur Analyse selbst nur wenig Substanzielles beitragen.50 Sicher lassen sich mit Collins’ Mikroanalyse einzelne Gewaltepisoden im Rahmen von Riots detailgenau in ihrem Ablaufmuster nachvollziehen, aber welchen Reim wir uns auf diese Unruhen insgesamt machen sollen, werden wir auf diese Weise kaum herausfinden können. Um das zu bewerkstelligen, können wir uns nicht davon dispensieren, die normativen Handlungsmotive der Rioters, ihre Situationsdeutungen und den interaktiv herbeigeführten Umschlag in kollektive Gewalt zu rekonstruieren. Gewalt findet immer schon im Raum der Gründe und Rechtfertigungen statt, und dies können wir nicht zugunsten einer noch so gekonnten mikroskopischen und körpernahen Analyse einklammern, ohne einen wesentlichen Aspekt der Betrachtung abzuschneiden. Zumindest mit Blick auf die dargestellten Riots wäre auch von der Einführung des Begriffs der Gewaltmasse wenig zu erwarten; er würde wohl mehr verdecken als erschließen. Er evoziert eher ein Assoziationsfeld, das mechanistischen Denkmustern entgegenkommt und der Deutungsproduktion der Akteure, wie sie für Riots typisch und konstitutiv ist, nicht gerecht wird. Ganz sicher ist das Konzept der Gewaltmasse für jede situationistische Theorie kollektiver Gewalt verlockend, verweist es doch auf einen situativen Zustand, in dem Menschen tun, was sie außerhalb der entsprechenden Handlungssituation und als Individuen nie tun würden. Aber die Vorstellung einer gleichförmig agierenden Menschenmasse unterläuft vorschnell und schon grundbegrifflich eine Konzeption, die von deutungs- und handlungsmächtigen Akteuren ausgeht. Für eine Analyse kollektiver Gewalt im Rahmen von Riots ist eine solche handlungstheoretische Konzeption jedoch unverzichtbar, wie dieser Beitrag vorgeführt haben sollte.

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Die schweren Schläge gegen Rodney King, die nach einem Gerichtsurteil zugunsten der angeklagten Polizisten die L. A. Riots auslösten, sind bei Collins eines der Paradebeispiele für eine Vorwärtspanik; siehe Collins, Dynamik der Gewalt, S. 137ff., 194ff. Collins, Dynamik der Gewalt, S. 364ff.

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Er hat zum einen versucht, am Beispiel von Riots die Errungenschaften und Grenzen einer zugleich situationistisch und interaktionistisch ausgerichteten Theorie kollektiver Gewalt aufzuzeigen. Zum anderen sollte er auf die Gefahren eines reduktionistischen Situationismus aufmerksam machen, der sein Sensorium aus allzu großer Nähe auf das physische Gewaltgeschehen und die Mechanismen der Einwirkung von Körpern aufeinander eingestellt hat. Eine überzeugende Theorie kollektiver Gewalt muss die analytischen Mittel bereithalten, die den beträchtlichen Bereich dessen zu fassen erlauben, was sich nur aus der situativen Gewaltdynamik erklären lässt. Zugleich aber darf sie die Augen nicht davor verschließen, wodurch die entsprechenden Situationen und deren Deutung durch die Akteure ihrerseits bedingt sind. Sie muss – solange sie sich mit dem Gewalthandeln befasst – vor allem erkennen lassen, wie kulturelle Deutungsmuster und sozialstrukturelle Bedingungen situativ handlungsrelevant werden. Die Situation muss, mit einem Wort, als Explanans wie auch als Explanandum gebührend Berücksichtigung finden.

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Paul Richards

Der Aufstand als Performance Ein anthropologischer Blick auf die Premiere von Le Sacre du printemps

Manchmal ist der Erforschung von Aufständen mehr gedient, wenn man nicht typische, sondern außergewöhnliche Fälle analysiert. Einer dieser Sonderfälle ist weltberühmt – der Tumult im Publikum, den die Premiere des selbsternannten »Steinzeitballetts« Le Sacre du printemps von Vaslav Nijinsky, Nicholas Roerich und Igor Strawinsky am 29. Mai 1913 im Pariser Théâtre des Champs Elysées auslöste. Dieses Ereignis taucht in Listen historischer Aufstände Seite an Seite mit Aufständen auf, bei denen Hunderte, wenn nicht Tausende von Menschen starben. Doch an diesem warmen Spätfrühlingsabend starb niemand im Theater. Man weiß nicht einmal mit Sicherheit, ob sich irgendjemand bei dieser Gelegenheit eine blutige Nase geholt hat. Die Sache ist als ein trauriges Beispiel für rüpelhaftes Benehmen der Kulturelite in die Geschichte eingegangen, obwohl es sich ja gerade an diesem Ort nicht um ein singuläres Ereignis handelte; Zuschauertumulte waren an der Pariser Oper keinesfalls unüblich. Historiker und Kulturkritiker mit teleologischen Neigungen sehen in Le Sacre du printemps gerne den Vorboten zukünftiger Entwicklungen. So steht Modris Ekstein mit seiner Einschätzung, dieses Werk und seine hitzige Rezeption hätten »die Geburt der Moderne und de[n] Erste[n] Weltkrieg« angekündigt (um den Untertitel seines Buchs Tanz über Gräben zu zitieren), keinesfalls alleine.1 Ich möchte hier eine ethnografische Analyse des Ereignisses vornehmen. Dabei versuche ich insbesondere, die Dramaturgie des Tumults im Publikum und ihre Wechselwirkung mit der Dramaturgie des Bühnengeschehens zu rekonstruieren. Ein verblüffender Umstand ist hier zu verzeichnen. Der Lärm im Zuschauerraum hob an, noch be-

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Modris Ekstein, Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg, Reinbek bei Hamburg 1990.

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vor der Vorhang hochging, und steigerte sich mit den Protesten der Kritiker und den Reaktionen der Befürworter des Stücks zu einem frühen Höhepunkt. Als aber die Aufführung selbst auf ihre Klimax zusteuerte, tat sich die Verärgerung deutlich weniger lautstark kund. Die Darsteller wurden durchaus mit großem Beifall bedacht. Um diese seltsame Dynamik zu erklären (ein Aufstand mit umgekehrten Vorzeichen – heftig zu Beginn und allmählich absterbend in seinem Verlauf ), müssen wir die äußeren Umstände ebenso in Rechnung stellen wie die Aufführung selbst. Zu bedenken ist, dass der Protest im Zuge des langen kulturellen »Bürgerkriegs« zwischen katholischen Monarchisten und säkularen republikanischen Modernisierern in der Dritten Französischen Republik schon im Vorfeld geschürt und ins Theater getragen worden war. In der Absicht, Le Sacre du printemps zu einem Skandalerfolg zu machen, um dem verblassenden Stern seiner Theaterkompanie, der Ballets Russes, neuen Glanz zu verleihen, hatte der russische Impresario Sergei Diagilew das Stück als Inkarnation eines primitiven Ethos, als theatralische Reinszenierung eines steinzeitlichen Menschenopfers bewerben lassen. Ohne dass sich seine Schöpfer wahrscheinlich der politischen Sprengkraft bewusst waren, zu der eine ungeschickte Ethnografie ihnen verholfen hatte, schlug das Werk in den damals in Frankreich tobenden Debatten um Patriotismus und Selbstopfer zu Kriegszeiten wie eine Bombe ein. Das Ballett wurde von manchen kurzerhand als Parteigänger jener umstrittenen – politisch links stehenden, an der Sorbonne beheimateten – »wissenschaftlichen Schule« der Religionstheorie identifiziert, die gerade in Émile Durkheims Meisterwerk Die elementaren Formen des religiösen Lebens ihre Niederschrift gefunden hatte.2 Durkheim erklärt die Grundlagen von Religion ohne jeglichen Rekurs auf das Göttliche als eine Funktion gesellschaftlicher Kräfte. Seine Untersuchung stützt sich stark auf ethnografisches Material aus den »Steinzeit«-Gesellschaften Australiens. Rechtsgerichtete Studenten klagten deshalb, Professor Durkheim habe durch seinen Import von »Wilden an die Sorbonne« die katholische Kultur Frankreichs in Gefahr gebracht. Als »soziologisches Ballett« war das neue Tanzstück zweifellos verhasst. Und parado-

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Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912), Frankfurt am Main 1981.

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xerweise waren das Werk und seine Rezeption tatsächlich geeignet, die Gültigkeit eines der Schlüsselargumente Durkheims zu demonstrieren – dass die mitreißende Wirkung von Musik und Tanz nämlich einen Einfluss auf die gesellschaftliche Erregung besaß. Die Darsteller der ersten Aufführungsnacht tanzten nicht umsonst. Le Sacre du printemps war nicht der Motor des Aufstands, es bezwang ihn. Zwei für die Untersuchung von Aufständen und Massengewalt potenziell allgemeingültige Erkenntnisse deuten sich hier an. Aufstände entstehen selten spontan. Man muss die Rahmenbedingungen und die im Vorfeld erfolgten Planungen angemessen berücksichtigen. Die Reaktion des Publikums wurde von politischen Empfindlichkeiten allgemeinerer Natur vorbereitet. Aufstände besitzen aber auch eine Vollzugsdynamik. Sie kann Massengewalt fortschreiben und auch zu ihr anstiften. Eine Kenntnis der Mechanismen des Mitreißens (entrainment) und der Bedingungen, unter denen diese Mechanismen in Anschlag gebracht werden können, schützt möglicherweise vor der ungewollten Verstärkung von Massengewalt durch positive Rückkopplung. Massengewalt ist, kurz gesagt, keine unvermeidliche Folge einer Gruppenerregung oder kollektiven Efferveszenz.

Das Werk Angeschlagen von seiner Niederlage gegen Preußen im Deutsch-Französischen Krieg von 1871 legte Frankreich großen Wert auf sein Bündnis mit Russland. Im Zuge dessen entwickelte sich die russische Kunst zu einer Pariser Mode. Einer ihrer Nutznießer war der Petersburger Impresario Sergei Diagilew, der 1909, seiner ersten »russischen Saison«, in Paris eintraf und bis 1914 jedes Jahr für die Frühjahrsspielzeit mit seiner Kompanie, den Ballets Russes, nach Paris zurückkehrte. Die Ballets Russes waren zunächst unglaublich populär. 1913 hatte die Begeisterung des Publikums allerdings ein wenig nachgelassen. Man brauchte deshalb etwas Neues und Sensationelles. Der Impresario hielt, was man sich von ihm versprach. Das Pariser Publikum hatte schon mit Zaren, Bauern und Barbarenhorden aus den Annalen der russischen Geschichte mitfiebern dürfen; nun sollte es mit einem Ballett konfrontiert werden, das in dem primitiven Ritual eines Menschenopfers kulminierte. 259

Das Werk entstand aus einer Zusammenarbeit dreier Kulturschaffender – des jungen russischen Komponisten Igor Strawinsky, eines Schützlings des russischen Nationalkomponisten Rimsky-Korsakow, Vaslav Nijinskis, des männlichen Startänzers der Ballets Russes, der für die Choreografie verantwortlich zeichnete, und Nicolas Roerichs, eines russischen Malers, der für seine Bilder monumentaler Bauwerke und Szenen der russischen Geschichte bekannt war.3 Roerich schuf das Szenario, ausgehend von einer Idee Strawinskys;4 er entwarf auch die Kostüme und Bühnenbilder. Le Sacre du printemps dauert etwa 30 Minuten. Es gibt ein kurzes und weitgehend ruhiges Vorspiel des Orchesters von ungefähr drei Minuten, bevor sich der Vorhang öffnet. Das Werk teilt sich dann in zwei Teile – eine Tagesszene, »Die Anbetung der Erde«, und eine Nachtszene, »Das Opfer«. Der zweite Teil erreicht mit dem etwa fünf Minuten dauernden »Opfertanz« seinen Höhepunkt. Die Musik weist eine Reihe von technischen Merkmalen auf, die zum damaligen Zeitpunkt als ungewöhnlich, wenn nicht als unerhört galten. Sie erfordert ein sehr großes Orchester, einschließlich sechs Schlagzeuge. Kelly bemerkt, dass das Orchester »einen der lautesten, elektronisch unverstärkten Momente« der damaligen Musikgeschichte hervorgebracht haben musste.5 Das Stück zeichnet sich auch durch seine unkonventionellen Harmonien aus, die auf polytonalen Akkorden basierten, sowie durch eine verblüffende Rhythmik. Der Komponist hatte gehörige Schwierigkeiten bei der Notation einiger seiner 3

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John McCannon, »In Search of Primeval Russia. Stylistic Evolutions in the Landscapes of Nicholas Roerich, 1897–1914«, in: Cultural Geographies 2000, H. 3, S. 271–297. Strawinsky gab mehrere Darstellungen von seiner ursprünglichen Inspiration (Peter Hill, Stravinsky: The Rite of Spring, Cambridge 2000, S. 3). In der frühesten von 1912 berichtet er lediglich, dass ihm die Idee dazu erstmals kam, als er 1910 seine Arbeiten zu Feuervogel beendete. In André Schaeffners auf Gesprächen mit Strawinsky basierender Biografie (André Schaeffner, Stravinsky, Paris 1931) war daraus »ein Traum« geworden, in dem sich ein Ballett entfaltete, »das aus einem einzigen, bis zur Erschöpfung getanzten Tanz eines jungen Mädchens vor einer Gruppe von Älteren bestand« (zit. n. Hill, Stravinsky, S. 3). In welchem Umfang Strawinsky seinem Gedächtnis zu diesem Zeitpunkt Aspekte des von Roerich entwickelten Szenarios einverleibte, bleibt unklar. Thomas Kelly, First Nights. Five Musical Premieres, New Haven/London 2000, S. 258.

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rhythmischen Muster und bediente sich schließlich, zumal für den finalen Opfertanz, ausgiebig unüblicher Metren.6 Die peitschende Energie seiner Schlussnummer ergriff viele Premierenzuschauer und führte zu einer Eindämmung der Proteste – ob nun allerdings durch die schiere Lautstärke oder durch die starke Synkopierung, ist nicht klar. Die Rhythmen mancher Partien von Le Sacre du printemps wiesen sicherlich auf die afroamerikanisch beeinflusste Musik des »Jazz-Zeitalters« nach 1918 voraus. Strawinsky beschrieb die »Rituelle Handlung der Ahnen« im zweiten Teil später als »Hoochiecoochie-Tempo«.7 Melodisch gesehen ist das Stück vielleicht nicht ganz so innovativ. Strawinsky gab zu, dass das Eröffnungssolo über dem Bassschlüssel auf einer russischen Volksmelodie beruht, spielte weitere Verbindungen mit der russisch-nationalistischen Kompositionstradition, aus der er selbst als Schüler Rimsky-Korsakows stammte, allerdings auf ein Minimum herunter. Die Forschung hat unterdessen aber gezeigt, dass im ganzen Stück zahlreiche Anleihen beim russischen Volkslied gemacht werden.8

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Er übernahm diese Technik möglicherweise von dem englischen Komponisten Cyril Scott (1879–1970), der Strawinsky 1912 in seinem Sommerhaus in Clarens besuchte. Strawinsky spielte Scott Teile von Le Sacre du printemps vor. Er kannte auch einige von Scotts eigenen Stücken (vgl. Sarah Collins, The Aesthetic Life of Cyril Scott, Woodbridge 2013). Eines davon war möglicherweise die Klaviersonate von 1909, in der 29 unterschiedliche Taktangaben verwendet und in 497 von 582 Takten variiert werden. Der australische Komponist Percy Grainger, ein Freund Scotts, schrieb 1956 in einem Brief an Scott, dass ihm, Grainger, die Idee des variablen Metrums erstmals 1900 gekommen sei und dass Scott sie in seiner Sonate von 1909 (die Grainger als Erster aufführte) ausgeborgt habe, »danach folgte Strawinsky« (Leslie De’Ath, Notes to Cyril Scott. Complete Piano Music v. 2, Complete Piano Sonatas, Watford 2005, S. 7). Ich traf Scott im Winter 1967 in seinem Haus in Eastbourne, wo er mir von seinem Besuch bei Strawinsky erzählte. Igor Strawinsky, The Rite of Spring (1913), 1965 , S. 115 der Partitur. Strawinsky fand, dass Herbert von Karajan es – in seiner Aufnahme von 1962 – zu langsam spielte (Hill, Stravinsky, S. 134). Der Hoochie-coochie war eine Art afroamerikanischer Bauchtanz mit sexuellen Konnotationen, der von einer Reihe früher Blues-Künstler gespielt wurde. Strawinskys erster unverblümter Vorstoß in den afroamerikanischen Musikstil geht auf das Jahr 1919 zurück. Lawrence Morton, »Footnotes to Stravinsky Studies«, in: Tempo 1979, New Series, H. 128, S. 9–16; Richard Taruskin, Stravinsky and the Russian Tradition, 2 Bde., Oxford 1996.

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Auch Nijinskys Choreografie war ungewöhnlich. Sie bereitete dem Premierenpublikum vielleicht einen noch größeren Schock als die Musik. Die Choreografie brach mit der luftigen Arabeske des klassischen russischen Balletts und stellte die Steinzeit-Tänzer stattdessen als schlotternde, zitternde Gestalten dar, die jeder Drehung und Wendung von Strawinskys komplexer Partitur folgten.9 Das Publikum war an eine Ballettmusik gewöhnt, die die Tanzbewegungen kontrapunktisch begleitete, nicht aber an die vollkommene Verschmelzung von Musik und Bewegung, wie sie in Le Sacre du printemps beabsichtigt war. Ein Kritiker der ersten Aufführung bemerkte, dass »die Angleichung der Gesten an die Musik« zu einer »seltsamen neuen Stilisierung« führte, die »den Eindruck […] krampfartiger Reflexe […] von eindeutiger Natur« hervorbrachte. Es waren, so dachte er, »genau dieser tierische Eindruck, diese instinktiven Reflexe, die uns die Autoren vermitteln wollten«.10 Pasler hat erhellend darüber geschrieben, wie Musik und Tanz in Le Sacre du printemps zu einem wahrhaft innovativen Bühnen-Gesamtkunstwerk verschmelzen. Sie fasst die Ansprüche des Stücks folgendermaßen zusammen: »Im Zentrum von Le Sacre du printemps steht eher ein Gedanke als eine Geschichte. Dieser Gedanke, »der Rhythmus des menschlichen Strebens und der Sieg des Geistes«, wie es Roerich ausdrückte, verbindet Menschen nicht nur mit ihren Vorfahren und dem Kosmos, er verbindet auch die Künste untereinander.«11 Dass Musik und Bewegung in Le Sacre du printemps nach dem Wunsch ihrer Schöpfer vollkommen ineinander aufgehen sollten, war von der Rhythmischen Gymnastik des Schweizer Pädagogen Jaques-Dalcroze beeinflusst.12 Marie Rambert, eine in Rhythmischer Gymnastik ausge9

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Zunächst befand Strawinsky, dass Nijinsky fast in jeder Hinsicht seinen Erwartungen entsprochen hätte, später aber behauptete er, Nijinsky habe seine eigenen choreografischen Vorstellungen ignoriert (zum Beispiel, dass die Tänzer beim Tanz der Heranwachsenden fast unbewegt bleiben sollten) und »aus seinem Stück einen großen Springwettbewerb gemacht« (Strawinsky, zit. n.: Kelly, First Nights, S. 333). Gustave de Pawlowski, zit. n.: ebenda, S. 309. Jann Pasler, »Music and Spectacle in Petrushka and The Rite of Spring«, in: dies. (Hg.), Confronting Stravinsky, Berkeley 1986, S. 70. Die Integration von Musik und Geste war auch für Strawinskys eigenes musikalisches Ich von Bedeutung. Wenn er Klavier spielte, so bemerkte Tamara Karsawina,

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bildete Tänzerin, begleitete die Ballets Russes bei ihren Proben. Georg Fuchs, ein deutscher Theatertheoretiker, der den Konventionen des bürgerlichen Unterhaltungstheaters zu entfliehen und das Theater an seine rituellen Ursprünge zurückzuführen hoffte, bildete einen weiteren Einfluss, insbesondere auf Strawinsky. Fuchs »wollte, dass der Tanz seine grundlegende Rolle in primitiven Gesellschaften wiedererlangte: die eines heiligen, ritualistischen Ausdrucks der gesamten Gemeinschaft«.13

Im Vorfeld des Theateraufstands Man kann nicht behaupten, einen solchen Aufstand wie bei der Premiere von Le Sacre du printemps habe es in der Vergangenheit noch nie gegeben. Paris war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Stadt der Aufstände, und das Musiktheater konnte sich dem nicht entziehen. Erwähnenswerte Zuschauertumulte hatten die erste Aufführung von Wagners überarbeiteter Version des Tannhäuser 1861 an der Pariser Oper und die Premiere von Debussys Oper Pelléas et Mélisande im Jahr 1902 begleitet.14

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»schien sein Körper in seinem eigenen Rhythmus zu vibrieren; indem er die Stakkati mit seinem Kopf akzentuierte, machte er mir die Struktur seiner Musik mit Nachdruck klar, und zwar viel nachdrücklicher, als er dies durch das Zählen der Takte hätte tun können« (zit. n.: Stephen Walsh, Stravinsky, a Creative Spring. Russia and France 1882–1934, Berkeley 1999, S. 141). Walsh, Stravinsky, S. 171. Man muss darauf hinweisen, dass der Besuch musikalischer Darbietungen in der Dritten Republik gerne gesehen wurde, weil man darin eine Förderung der Staatsbürgerlichkeit sah. »In dem Maße, wie sie der Republik dabei halfen, ihr Bedürfnis nach politischer Legitimität und kultureller Integration zu thematisieren, entwickelten sich die Sprache und die Praktiken der Musik zu Facetten der politischen Kultur« (Jann Pasler, Composing the Citizen. Music as Public Utility in Third Republic France, Berkeley 2009, S. 162). Außerdem »gehörte es zum Hören [von Musik], dass man sich eine Meinung bildete und diese vertrat, denn Konzertpausen, so beschrieb es ein Autor, waren ›nicht zur Entspannung, sondern zum Kampf‹ gedacht – eine Zeit, in der ›Meinungen aufeinanderprallen, die Leidenschaft die Nüstern bläht und Pupillen zum Leuchten bringt‹« (Pasler, Composing the Citizen, S. 163). Aktives Hören galt den Anhängern der Republik, kurz gesagt, als Vehikel zur aktiven Staatsbürgerschaft.

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Der Tannhäuser-Tumult entstand aus einem Streit über den zeitlichen Ablauf. Adlige Mitglieder des Reitklubs hatten Logen in der Pariser Oper gemietet, und sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, nach einem ausgedehnten Abendessen mit Verspätung zur Aufführung zu kommen, gerade noch rechtzeitig, um das Ballett zu sehen, das – so hatte es sich hier eingebürgert – immer im zweiten Akt jeder Oper gezeigt wurde. Wagner hatte sich dem Druck gebeugt, ein Ballett in die für die Pariser Oper überarbeitete Version aufzunehmen. Er bestand aber hartnäckig darauf, dass dieses Ballett im ersten Akt stattzufinden hätte. Dies brachte die adlige Kundschaft in Rage, weil sie dadurch ihre Lieblingstänzerinnen verpasste. Ihre gewaltsamen Proteste bewogen den Komponisten, sein Werk nach der dritten Vorstellung zurückzuziehen. Im Falle der Debussy-Oper entlud sich die heftigste Empörung des Publikums während der Kostümprobe. Die Musik war gewiss nicht nach dem Geschmack der durchschnittlichen Besucher des zweiten Pariser Opernhauses. Dennoch scheint ein Teil des Ärgers arrangiert gewesen zu sein. Es wurde eine schlüpfrige Parodie der Handlung im Publikum verteilt, die angeblich Maurice Maeterlinck, der verärgerte Autor des Theaterstücks, auf dem die Oper basierte, verfasst hatte. Debussy hatte ursprünglich Maeterlincks Lebensgefährtin Georgette Leblanc für die Rolle der Mélisande vorgesehen, doch der Opernintendant gab der schottisch-amerikanischen Sängerin Mary Garden den Vorzug. Da sich Debussys Anhänger im Publikum rechtzeitig zu Wort meldeten, waren die Proteste bei der eigentlichen Premiere weniger lautstark als bei der Kostümprobe. Erstere bildeten nämlich eine sogenannte Claque, eine Gruppe von Claqueuren. Die Praxis der Claque kannte man in den Pariser Theatern schon seit Langem. Sie war zu einer Art Institution geworden. Theaterdirektionen engagierten organisierte Gruppen, die sie mit genauen Anweisungen in die Aufführungen schickten, an welchen Stellen sie lachen, klatschen, Zugaben verlangen oder sonst ihre Begeisterung zum Ausdruck bringen sollten. Eine Claque konnte aber auch (etwa von rivalisierenden Theaterdirektionen) angewiesen werden, einer Show möglichst effektiv zu schaden. Manche Claqueurs versuchten sogar, Sänger damit zu erpressen, dass sie ihre Solos stören würden, falls diese ihnen nicht eine bestimmte Summe zahlten. Möglicherweise waren bei der Premiere von Le Sacre du printemps einige Claque-Elemente mit im Spiel. Wir wissen aber nicht genau, wer sie organisiert haben könnte oder warum. 264

Der Aufstand bei der Premiere von Le Sacre du printemps Das Théâtre des Champs Elysées war praktisch brandneu. Es bestand aus einer gleichermaßen innovativen und umstrittenen Stahlbetonkonstruktion im französischen Jugendstil. Der Besitzer, Gabriel Astruc, der Diagilews Miete für die neue Theatersaison verdoppelt hatte und in Kürze pleite gehen sollte, war – so wie Émile Durkheim – ein säkularisiertes Mitglied der in Frankreich seit Langem ansässigen jüdischen Gemeinschaft. Befördert einerseits durch die polarisierenden Spannungen der Dreyfus-Affäre (siehe weiter unten), andererseits durch die Sorgen um eine Assimilierung der vor den osteuropäischen Pogromen geflohenen Juden, befand sich der Antisemitismus in Frankreich gerade im Aufschwung.15 Aus den Kulturkämpfen um das neue Theater sprach mehr als nur ein Hauch von Antisemitismus. Das Theater verfügte über einen offenen Zuschauerraum. Seine fehlenden Unterteilungen und eine Art von Promenade zwischen den billigeren und den teureren Sitzen machten Bewegungen innerhalb des Auditoriums leichter als in anderen Theatern. An dieser Promenade versammelten sich »all die Maler, Dichter, Journalisten, Musiker [und] Freunde von Sergei Diagilew«.16 Dieser Umstand erleichterte die Proteste, die mit Beginn der Vorstellung einsetzten und die wiederum Gegenproteste vonseiten der Anhänger hervorriefen. Gegner und Fans warfen sich wechselseitig Beleidigungen an den Kopf. »Pfeifkonzerte und Buhrufe ertönten nach den ersten Takten, darauf folgte eine Schreiorgie, die von aufbrandendem Applaus beantwortet wurde.«17 Der Lärm wurde so groß, dass die ruhigeren Passagen der Musik nicht mehr zu hören waren. »Schrille Schreie, Beschimpfungen, Protestgeheul, anhaltendes Pfeifen übertönten die Musik, dann kamen leichte Schläge und sogar Hiebe.«18 Astruc und Diagilew ersuchten im Zuschauerraum um Ruhe. Astruc sagte den Zuschauern, sie sollten »erst zuhören, dann pfeifen.«19 Er (oder Diagilew) ordnete auch an, die Lichter im Saal heller zu drehen, um den Aufruhr in den dunkleren

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Ivan Strenski, Durkheim and the Jews of France, Chicago 1997. Valentine Gross-Hugo, zit. n.: Kelly, First Nights, S. 322. Carl van Vechten, zit. n.: Kelly, First Nights, S. 323. Valentine Gross-Hugo, ebenda, S. 322. Ebenda, S. 292.

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Ecken des Zuschauerraums sichtbar zu machen, damit Theatermitarbeiter die schlimmsten Störer hinauswerfen könnten.20 Diagilew, der mit einer Störung gerechnet hatte, hatte die Tänzer und Musiker im Vorfeld angewiesen, die Aufführung unter allen Umständen fortzusetzen. Sie hielten sich an seine Anweisungen und spielten, ohne auf den Aufruhr zu achten, »ganz genau so, wie wir es in der Ruhe des leeren Theaters geprobt hatten«.21 Monteux behauptete auch, dass die Pöbeleien, die den Protestierern auf ihren teuren Sitzplätzen entgegengeschleudert wurden, unter den Adligen in ihren Logen viel Zähneknirschen verursacht hätten, sodass man die Polizei habe rufen müssen. Dies ist allerdings zweifelhaft. Der Dirigent war aufs Äußerste entschlossen, das Orchester inmitten des Trubels zusammenzuhalten, und muss dem Publikum entsprechend den Rücken gekehrt haben. Seine Erinnerungen stützen sich mithin auf das Zeugnis eines seiner Bassisten, der wiederum nur einen eingeschränkten Blick auf den Saal besaß. Diesem Mann zufolge seien im gesamten Zuschauerraum Spazierstöcke geschwungen und Hüte über die Augen gezogen worden.22 Berühmte Musiker unter den Zuschauern stürzten sich mit ins Gefecht.23 Maurice Delage sei »vor Entrüstung puterrot angelaufen« und Maurice Ravel »so aggressiv wie ein kleiner Kampfhahn« geworden.24 Der Komponist Florent Schmitt schrie in Richtung der teuren Sitze, von denen der Protest größtenteils ausging, die dort sitzenden Frauen seien die »Huren des 16. [Arrondissements]«, des modischen Bezirks hinter dem Theater.25 Die überraschendste Bemerkung kam vielleicht 20 21 22 23

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Laut Carl van Vechten etwa 40: ebenda, S. 323. So Pierre Monteux, der Dirigent, einer in den 1960er Jahren verfassten Lebenserinnerung zufolge. Wiederabgedruckt in: Kelly, First Nights, hier: S. 319. Ebenda, S. 319. Unter den bei der Premiere anwesenden Komponisten befanden sich Debussy, Ravel, Schmitt, Delage, Casella, Malipiero, Delius, Pizzetti und Puccini. Nicht alle ergriffen Partei für das Werk; von Pizzetti war zu hören, er sei »gefasst, aber nicht entzückt« gewesen, und Puccini war der Ansicht, das Ballett »könnte das Werk eines Verrückten sein« (ebenda, S. 327). Valentine Gross-Hugo, in: ebenda, S. 322. Strawinskys Erinnerungen – von 1962 – zufolge schrie Schmitt aus dem Auditorium: »Gebt Ruhe, ihr Huren aus dem 16.«; die Huren aus dem 16. Arrondissement waren natürlich die elegantesten Frauen von Paris. Vgl. Igor Strawinsky/Robert Craft, Expositions and Developments, London 1962, S. 140–143.

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von einem »bekannten«, aber ungenannten französischen Musiker, der dem zankenden Publikum entgegenbrüllte, es sei »reif für die Kolonisierung«.26 Die »Heftigkeit und Unverhofftheit« dieser Bemerkung raubte den Unruhestiftern für einen kurzen Moment den Atem. Sie waren offenbar kurz von der Vorstellung beunruhigt (oder zumindest können wir uns das so ausmalen), die kaiserlichen Truppen könnten ihre Häuser abfackeln. Andere Darstellungen lassen hingegen darauf schließen, dass nur bedingt Gewalt im Spiel war. Einige Reaktionen des Publikums waren geradezu heiter.27 Die tanzenden Mädchen mit ihren zur Seite geneigten und von verschränkten Händen gehaltenen Köpfen wurden gefragt, ob sie einen Arzt – oder vielleicht einen Zahnarzt – bräuchten. Gustave Lenore schilderte die Stimmung als die einer »ungeschlachten Diskussion«.28 Die intellektuellen Leidenschaften waren entfesselt, doch von einem beängstigenden oder lebensbedrohlichen Ereignis konnte nicht die Rede sein. Nach Michel Dmitri Calvocoressis Dafürhalten war ein Teil der Zuschauer von dem Werk einfach überfordert; sie seien fassungslos gewesen. Im Gegensatz zur Uraufführung von Pelléas aber sah er keine Bösartigkeit am Werk. Als das bei vielen vorherrschende Gefühl identifizierte er die Wut. Wir werden noch auf die Bedeutung dieser Wut zu sprechen kommen.29

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Kelly, First Nights, S. 315. Der Humor der Menge ist Beleg für eine Kreativität, der Le Bon nicht Rechnung trägt. Der Witz lebt weiter. Es ist schwer, sich Hodsons Rekonstruktion des Balletts anzugucken, ohne über die ihre Köpfe in die Hände stützenden Mädchen zu lachen. Vgl. die Aufführung des Mariinsky Ballet & Orchestra, musikalischer Direktor und Dirigent: Valery Gergiew, mit einer Choreografie nach Vaslav Nijinsky, rekonstruiert und inszeniert von Millicent Hodson, Juni 2008, auf dvd bei BelAir Classiques 2009. Kelly, First Nights, S. 304. Calvocoressi schrieb: »Ich muss sagen, dass die Störungen bei Le Sacre du printemps, auch wenn wesentlich lauter [als bei der Premiere von Pelléas], doch viel weniger abstoßend waren. Die Menschen waren wirklich aufgerüttelt, nicht nur verblüfft oder entrüstet. Sie protestierten wütend, nicht prüde […] Auch gab es […] nichts dergleichen wie die persönlichen Anfeindungen des Komponisten, die 1902 so deutlich spürbar waren. Nein: Le Sacre du printemps hat einen Teil der Zuschauer einfach überfordert« (Kelly, First Nights, S. 328). Er vermerkt auch, dass der Tanz »viel Irritation« hervorrief, weil er bei seiner Beschwörung primitiver Ängste nicht konsequent genug verfuhr, obwohl »die Idee ausgezeichnet war«. Calvocoressi lehrte

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Und dann, als sich das Stück seinem Höhepunkt näherte, flauten die Pöbeleien merklich ab. Das Publikum war fasziniert von dem Bühnenspektakel, das im frenetischen Tanz der Maria Piltz in der Rolle des ausgewählten Opfermädchens gipfelte. Carl van Vechten fühlte sich von der Musik verzaubert.30 Der unmittelbar hinter beziehungsweise über ihm sitzende Mann war gleichermaßen ergriffen, denn er fing – offenbar ohne dies zu bemerken – an, die komplizierten Rhythmen des »Opfertanzes« auf Van Vechtens Kopf mitzutrommeln.31

Erklärungen für den Aufstand Die Mechanismen, die ein Massenereignis verstärken, sobald es einmal in Gang gekommen ist, wurden schon von zahlreichen Forschern beschrieben. Einer der ersten war Émile Durkheim, der den Prozess als Ansteckung des Heiligen deutete.32 Große Zusammenkünfte bringen ihm zufolge eine kollektive Erregung hervor. Diese Zeiten kollektiver Begeisterung stifteten eine neue Art des Seelenlebens, das nicht nur intensiver als das tägliche Leben, sondern auch qualitativ von diesem verschieden sei. In solchen Situationen würden Kräfte entfesselt, »hier in Form blind zerstörerischer Gewalttaten, dort in Form heroischer Unsinnigkeiten«.33 »Ist der kritische Zeitpunkt einmal überschritten, so erschlafft der soziale Zusammenhang, der geistige und seelische Verkehr flaut ab, die Individuen sinken auf ihr gewöhnliches Niveau zurück.«34

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Musikgeschichte an der École pratique des hautes études und war somit ein Kollege von Marcel Mauss. Ebenda, S. 323. Carl van Vechten schrieb: »Ich saß in einer Loge […], ein junger Mann saß auf dem Sitz hinter mir. Er stand auf […], um besser zu sehen. Die intensive Erregung, mit der ihn die unwiderstehliche Kraft der Musik ergriffen hatte, verriet sich, als er anfing, mit den Fäusten im Takt auf meinem Kopf zu trommeln. Meine eigene Ergriffenheit war so stark, dass ich die Schläge eine Zeitlang überhaupt nicht bemerkte. Sie erfolgten exakt im Takt der Musik […], wir waren beide völlig aus dem Häuschen.« Ebenda, S. 323. Durkheim, Die elementaren Formen, S. 429–440. Émile Durkheim, »Werturteile und Wirklichkeitsurteile« (1911), in: ders., Soziologie und Philosophie, Frankfurt am Main 1967, S. 150. Ebenda, S. 151.

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Jüngere Autoren haben diesen Gedanken in kybernetischen Begriffen als einen Prozess der positiven Rückkopplung reformuliert. Randall Collins spricht von »Interaktionsritualketten« – es gibt keine soziale Masse, sondern lediglich soziale Kettenreaktionen.35 Wo einige die normalen Schranken durchbrochen haben, fühlen sich andere – vielleicht durch andere eigene Interessen motiviert – ermutigt mitzumachen. Dabei mag es auch ein Element dessen geben, was Elizabeth Jean Wood die »Lust an der Handlungsmacht« nennt.36 Wir machen bei einem aufrührerischen Ereignis mit, weil wir die Möglichkeit dazu haben. Aufstände können Spaß machen. Es muss jedoch einen Auslöser geben, der die Kettenreaktion zuallererst in Gang setzt. Der Tumult bei der Premiere von Le Sacre du printemps fing während der langsamen, ruhigen Ouvertüre an.37 Die Behauptung, dass die unerhört hohen Töne des Fagotts den altgedienten Komponisten Camille Saint-Saens aus dem Theater getrieben hätten, kann nicht stimmen; denn Strawinsky zufolge war er gar nicht da. Dennoch lässt die Tatsache, dass die Störung gleich zu Beginn der Vorstellung anfing, darauf schließen, dass ein Teil des Publikums bereits mit vorgefasster Meinung in das Theater kam. Die schon im Vorfeld bestehende Animosität bedarf einer Erklärung. Wir müssen also den Ort der Aufführung verlassen und unsere Aufmerksamkeit auf zwei unmittelbar mit der Aufführung zusammenhängende Umstände richten – die Pressemeldung und die Kostümprobe. In Le Figaro und anderen Zeitungen erschien am Morgen der Premiere eine Pressemeldung. Möglicherweise war Diagilew ihr Verfasser, auf jeden Fall versprach sie eine Provokation: »Die wunderbaren russischen Tänzer« würden das »Gestammel einer halbwilden Menschheit« verkörpern sowie »fieberhafte Menschenklumpen, unaufhörlich hinund hergerissen von den erstaunlichsten Polyrhythmen, die je ein Mu-

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Randall Collins, Interaction Ritual Chains, Princeton 2004. Elisabeth Jean Wood, Insurgent Collective Action and Civil War in El Salvador, Cambridge 2003. »Der Vorhang hebt sich – nein, sogar bevor er sich hebt –, da hört man ein Murmeln […], sie singen, sie zischen, sie pfeifen […], sie kreischen, sie jubeln […], sie beschimpfen es, sie verherrlichen es« (Louis Vuilleman, wiederabgedruckt in: Kelly, First Nights, S. 310f.).

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siker ersonnen hat«. Le Sacre du printemps war die zweite Nummer in einem aus vier Stücken bestehenden Programm, und die Kartenbesitzer wollten wahrscheinlich nicht wegen eines einzigen Elements ihre Eintrittskarten verfallen lassen. Dennoch waren sie von der Aussicht auf »Gestammel« wohl nicht gerade begeistert. Die Pressemeldung hatte sie also möglicherweise zum Protest angestachelt. Da bei der Kostümprobe ein paar einflussreiche Kritiker zugegen waren, hatte diese aber vielleicht noch größere Auswirkungen als die Pressemitteilung.38 Einer der Kritiker sagte Ärger voraus: Für Adolphe Boschot »standen die Chancen neun zu eins, dass das Ballett niedergebrüllt werden würde, und zwar durch das Wirken einer unerbittlichen Kraft – durch hysterisches Gelächter«.39 Lächerlich war dieses Ballett aus seiner Sicht wegen seines aufgesetzten Primitivismus. »Um Primitivität zu suggerieren, präsentieren sie uns also Tänze von Wilden aus der Karibik und aus der Südsee […] – bitte schön! –, aber das Lachen kann man sich dabei unmöglich verkneifen«.40 Auch andere Kritiker, die sich etwas zurückhaltender äußerten als Boschot, sinnierten über die primitiven Elemente. Der eine oder andere stellte eine direkte Verbindung zu Durkheims Lehren über primitive Religion her. Jacques Rivière – der in Bordeaux studiert hatte, wo Durkheim damals Soziologie lehrte – nannte Le Sacre du printemps ein »soziologisches Ballett«. Durkheim war weithin als Gründervater und geistiger Führer der frischgebackenen – und umstrittenen – Disziplin der Soziologie anerkannt. Diese tat sich zunächst in der Erforschung primitiver Religionen hervor, exemplarisch in Durkheims gerade erschienenem Meisterwerk Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Auch Gustave de Pawlowskis Bemerkung war von der Durkheim’schen Überzeugung getragen, dass »das Publikum glaubt, durch sein Getöse […] einen kollektiven Geist zu artikulieren«.41 Lise-Léon 38 39 40

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Kritiker, die oftmals unter großem Termindruck arbeiten, besprechen für gewöhnlich die Generalprobe und gar nicht die eigentliche Premiere. Ebenda, S. 305. Damit haben wir zweifelsfrei eine Verbindung zwischen der Generalprobe und der Premiere gefunden: Schließlich hatte – der vor dem Ereignis schreibende – Boschot als Erster den Witz über die Mädchen mit den steifen Hälsen und über das auserwählte Opfer mit seinen Zahnschmerzen gerissen. Ebenda, S. 306. Ebenda, S. 310.

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Blum stand vielleicht insbesondere die Lehre von der Ansteckung des Heiligen vor ihrem geistigen Auge, als sie folgerte, dass »die Gefühle gewisser Zuschauer durch den Kontakt mit dieser primitiven Empfindungsweise ausgelöst wurden, die vor ihrem Angesicht zum Ausdruck gebracht und wiedererschaffen wurden«.42 Diese Bemerkungen weisen auf eine mögliche Quelle der Zuschauerempörung hin. Durkheims Theorie der primitiven Religion hatte eine politisch erhitzte öffentliche Debatte angestoßen. Und kurz zuvor hatten rechtsgerichtete Studenten einen Aufstand gegen ihren Professor geprobt, weil dieser vermeintlich »den Wilden an der Sorbonne« Einlass gewährte. Sie sahen dadurch die literarischen Grundfesten der französischen Hochkultur bedroht.43 Außerhalb der Sorbonne kursierten diese Vorwürfe in Form eines Buchs und eines Pamphlets, das zwei junge Aktivisten – Henri Massis und Alfred de Tarde – unter dem Pseudonym »Agathon« verfasst hatten.44 Agathon protestierte gegen die wissenschaftliche Behandlung von Religion und Kultur, wofür die von Durkheim an der »neuen« [das heißt kürzlich umstrukturierten] Pariser Universität gelehrte »Moralwissenschaft« stand. Durkheim und seine Anhänger untergruben nach Agathons Meinung französische Werte, indem sie die wissenschaftlichen Methoden der Deutschen nachäfften. Durkheims Biograf, Pierre Fournier, vermutet, dass man Agathons Buch »als einen Versuch verstehen könnte, die verwirrten Gefühle der jungen Intellektuellen vor den Karren des rechten Nationalismus zu spannen«.45 An der Sorbonne war das Interesse an den empirischen Sozialwissenschaften, wie sie von Durkheims Gruppe gelehrt wurden, allerdings gerade am Abflauen. Der neue Mann der Stunde hieß Henri Bergson, der auf intuitives Wissen und Spiritualität setzte. Denjenigen, die empfänglich für Agathons Kulturkritik waren – von denen es im Publikum sicherlich einige gab –, stand gewiss nicht der Sinn nach einem »soziologischen Ballett«.

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Ebenda, S. 315. Michèle H. Richman, Sacred Revolutions. Durkheim and the Collège de Sociologie, Minneapolis/London 2002. »Agathon« (Henri Massis/Alfred de Tarde), Les jeunes gens d’aujourd’hui, Paris 1913, erstmals als eine Folge von Zeitungsartikeln 1910 publiziert. Marcel Fournier, Émile Durkheim. A Biography, Cambridge 2013, S. 570.

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Auch der Titel des Stücks, Le Sacre du printemps, mag manch einen provoziert haben. Das Wort sacre (»Weihe«) verweist, wie Thomas Kelly betont, auf eine hohe religiöse Zeremonie, von der man etwa im Zusammenhang mit einer Königskrönung oder der Ernennung eines Bischofs sprechen würde. Die Verpflanzung des Wortes in einen steinzeitlichen Kontext erinnerte die Katholiken daran, welche Zumutung die Wissenschaft – und besonders die Archäologie – für den Glauben darstellte. Man bewegte sich hier auf heiklem Gelände. In Frankreich hatten die Katholiken in der Dritten Republik politisch deutlich an Boden verloren, im Bereich der Erziehung zumal seit den Reformen Jules Ferrys, der von 1881/82 an ein säkulares Bildungssystem etabliert hatte. Konfessionelle Schulen waren 1902 abgeschafft worden. Den schlimmsten Schlag aber hatten die Katholiken hinnehmen müssen, als 1905 die Trennung von Kirche und Staat in der Verfassung festgeschrieben wurde. Einflussreiche Orden, wie etwa die Jesuiten, waren in ihrer Religionsausübung beschränkt und deshalb zum Teil ins Exil gegangen.46 Vieler ihrer Vorbilder und geistigen Führer beraubt, reagierte die Kirche besonders empfindlich auf die Verbreitung von Darwins Ideen und auf die mögliche Bedeutung der jüngsten französischen Entdeckungen über die Frühmenschen. Abbé Henri Breuil (1877–1961) hatte gerade eine akademische Stelle in Paris angetreten. Er war von seinen Obrigen angewiesen worden, sich auf seine archäologischen Forschungen zu konzentrieren – die Entdeckung eines NeanderthalerFriedhofs in Südfrankreich war auf große Beachtung gestoßen. Und so hatte die Kirche Breuil tatsächlich mit der heiklen Mission betraut, den Gläubigen die Funde aus der Steinzeit zu vermitteln.47

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In der ersten Hälfte des Jahrhunderts hatte sich die Zahl der Priester aufgrund der Reformen halbiert. Die Kirchenoberen misstrauten den Arbeiten Breuils weniger als den Aktivitäten des Jesuiten Pierre Teilhard de Chardin, gegen dessen Schriften die Kirche wegen spekulativer Annäherung an darwinistisches Gedankengut Unterlassungsklagen anstrengte. Zu Breuils Bedeutung als Archäologe der frühen Menschheit vgl. Clive Gamble, »Durkheim and the Primitive Mind. An Archaeological Retrospective«, in: Sondra Hausner (Hg.) Durkheim in Dialogue. A Centenary Celebration of The Elementary Forms of Religious Life, New York 2013, S. 124–142. Eine spekulative Rekonstruktion eines paläolithischen Jagdrituals stellt die mit Tierfellen bekleideten Teilnehmer nicht viel anders dar als die Bühnenkostüme in Hodsons Rekonstruk-

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Die historischen Spekulationen über urzeitliche Rituale, die Roerich anstellte, besaßen hingegen nicht den kirchlichen Segen. Sein Szenario beschritt vielmehr, wie im Fortgang noch deutlich werden soll, einen unverkennbaren und ziemlich seltsamen eigenen Weg – der weder so ganz im Einklang mit der katholischen Apologetik stand noch mit Durkheims wissenschaftlicher Theorie des Primitiven. Je mehr mit den archäologischen Ambitionen von Le Sacre du printemps geworben wurde, desto mehr muss sich die Inszenierung in den Augen vieler in eine Sackgasse manövriert haben.48 Le Sacre du printemps wurde, kurz gesagt, nicht als eine Weihe, sondern als ein Sakrileg wahrgenommen, und entsprechend heftig fielen die Reaktionen aus.

Konfuse Botschaften – sandte Le Sacre du printemps das falsche Signal aus? Welcher konkrete Aspekt des Stückes erwies sich als so provozierend? Strawinskys anspruchsvolle Partitur wird oft für den wesentlichen Grund gehalten, vielleicht zumal wegen ihrer rhythmischen und harmonischen Extravaganz und ihres unerhörten Klangvolumens. Die Proteste aber begannen noch vor den späteren lauteren, aggressiveren Teilen der Partitur. Sollte die Musik also der Sprengstoff gewesen sein, dann fand ihre Initialzündung schon in den ruhigeren Passagen statt. Diese Stellen wurden frühzeitig von Protesten erstickt, was einige Musiker, die unbedingt die Partitur hören wollten, dazu brachte, in die Demonstration einzustimmen, allerdings zugunsten des Stücks. Von den anwesenden Komponisten war es Florent Schmitt, der sich erwiesenermaßen an der Gegendemonstration beteiligte, indem er die teuren Plätze mit »gepfefferten Verwünschungen« (Monteux’ Ausdruck) bedachte.49

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tion von Le Sacre du printemps. Vgl. Henri Breuil, Beyond the Bounds of History, London 1949. »Ich sah den Saal in zwei gegenläufige Strömungen gespalten; und dieser Streit zeigt, dass […] wir uns einem gefährlichen Moment unserer ästhetischen Kultur nähern.« Lise-Léon Blum, in englischer Übersetzung wiederabgedruckt in: Kelly, First Nights, S. 315. Claude Debussy, der damals bekannteste französische Komponist, war von dem Aufruhr gleichermaßen beunruhigt, scheint aber seinem Ärger nicht öffentlich

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Der allgemeine Eindruck, den man aus den zeitgenössischen Berichten gewinnen kann, ist allerdings, dass die größere Provokation von der Choreografie ausging. Nijinsky hatte mit dem luftigen, arabeskenhaften Stil des klassischen Balletts, den viele Zuschauer zu sehen erwarteten, gebrochen. Stattdessen ließ er stampfende Primitive mit nach innen gedrehten Füßen auftreten. Das war für viele Ballettomanen schockierend – oder lächerlich. Einige hielten Nijinskys Arbeit für eine Stümperei, für ein »Verbrechen gegen die Anmut«.50 Jean Cocteau wunderte sich über »die Parallelität von Musik und Bewegung in ihrem Mangel an Spiel, an Kontrapunkt«.51 Selbst Strawinsky hatte das Gefühl, Nijinsky sei zu weit gegangen. Er lästerte später – unfairerweise – über die musikalische Unbildung seines Choreografen und bezeichnete das Corps de Ballet als »x-beinige Lolitas«.52 Zu nicht mehr als sechs Aufführungen brachte es Nijinskys Version von Le Sacre du printemps, bevor der Erste Weltkrieg die Ballets Russes in den einstweiligen Ruhestand versetzte. Das Werk wurde nach 1918 wieder als Ballett inszeniert, allerdings mit einer anderen Choreografie. Da die Systeme der Tanznotation weniger präzise sind als die der Musiknotation, ist das Überleben einer Choreografie wesentlich auf das Gedächtnis von Choreografen und Tänzern angewiesen. Nach 1918 interessierte sich niemand mehr für Nijinskys Choreografie, und so geriet sie wegen mangelnder Aufführungstradition in Vergessenheit. Für nachfolgende Kritiker wurde es damit schwer zu beurteilen, ob möglicherweise ein alberner oder hässlicher Tanz mit zu dem Debakel beigetragen hatte.

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Luft gemacht zu haben. Debussy saß in Diagilews Loge neben Misia Sert, einer Mäzenin Diagilews. Sert berichtet, dass sich Debussy (»eine furchtbare Traurigkeit spiegelte sich […] in seinen angespannten Zügen«) auf dem Höhepunkt des Aufstands zu ihr hinüberbeugte und flüsterte: »Es ist schrecklich – ich kann nichts hören« (Misia Sert, Misia and the Muses. The Memoirs of Misia Sert, New York 1953, S. 132). Die Nachfrage dürfte erlaubt sein, wie er wohl bei einem derartigen Krawall irgendetwas hat flüstern können. Milicent Hodson, Nijinsky’s Crime Against Grace. Reconstruction Score of the Original Choreography for Le Sacre du Printemps, Stuyvesant 1996. In englischer Übersetzung wiederabgedruckt in: Kelly, First Nights, S. 325. Strawinsky/Craft, Expositions, S. 143.

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Doch der Balletthistoriker Millicent Hodson brachte, nachdem er akribisch Zeitzeugenberichte von Tänzern studiert und andere lebende Quellen erforscht hatte, in den 1980er Jahren eine Rekonstruktion von Nijinskys Werk zur Aufführung.53 Auch wenn nicht alle Kritiker von ihrer Authentizität überzeugt sind, hat Hodsons Rekonstruktion doch eine starke Wirkung. Wenn sie das, was bei der Premiere zu sehen war, auch nur annähernd wiedergibt, dann muss man davon ausgehen, das Nijinskys Darstellung für die Erwartungen des damaligen Premierenpublikums ein Schlag ins Gesicht gewesen ist. Und dennoch mangelt es ihr keinesfalls an dramaturgischen Mitteln. Der Vorwurf der Stümperei darf als widerlegt gelten. Das größte Problem von Le Sacre du printemps stellt vielleicht sein Szenario dar. Ein Menschenopfer wird für die unterhaltende Kunst immer ein heikler Gegenstand bleiben. Doch das Thema des Opferns – speziell junger Menschen – war in Frankreich politisch besonders sensibel, da man es – natürlich – auf die kontrovers geführte Debatte über Patriotismus und persönliche Aufopferung in Kriegszeiten bezog. Der Umstand, dass das von Roerich – oder von Strawinsky im Traum – vorgestellte Opfer eine hochgradig unplausible Angelegenheit war, wird die Erfolgschancen des Balletts nicht gerade vergrößert haben. Denn die Opferung, die auf Geheiß der Stammesältesten und im Namen der Gruppe stattfand, geschah, ohne dass dabei ein Opferpriester zugegen gewesen wäre, ohne einen Akt des Tötens und ohne sühnendes Blutvergießen. Wie sich französische Intellektuelle frühgeschichtliche Opfer vorstellten, war wesentlich von einer wichtigen Monografie zweier Vertreter der Durkheim-Schule beeinflusst worden.54 McClymond kritisiert, das Buch lege ein zu großes Gewicht auf das Blutopfer und vernachlässige darüber andere Formen des Opfers.55 Diese Unausgewogenheit hat aber durchaus ihre Berechtigung; schließlich besaß das Blutopfer starke politische Konnotationen. Insbesondere die Dreyfus-Affäre

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Hodson, Nijinsky’s Crime. Henri Hubert/Marcel Mauss, »Essai sur la nature et la fonction du sacrifice«, in: L’Année sociologique 1897–1898, S. 193–307 (auch in: Marcel Mauss, Oeuvres, Bd. 1, S. 29–138). Kathryn McClymond, Beyond Sacred Violence. A Comparative Study of Sacrifice, Baltimore 2008.

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hatte von 1893 an die Kontroversen darüber verschärft, was man in Kriegszeiten von Opfern im Interesse der Nation zu halten hatte.56 Würden Anhänger der Republik oder Juden in demselben Maße bereit sein wie Katholiken – die im Glauben an das Opfer Christi erzogen waren –, ihr Blut oder das Blut ihrer Kinder zu vergießen, um die Nation zu verteidigen?57 Hätte – der Jude – Dreyfus sein Schicksal im Interesse der Nation hinnehmen sollen, obwohl er zu Unrecht angeklagt worden war? Durkheim schrieb seinen beeindruckenden Essay »Der Individualismus und die Intellektuellen«, um diese Ansicht zu widerlegen.58 Es besteht wenig Zweifel, dass sich zumindest ein paar Zuschauer am Abend der Premiere von Le Sacre du printemps, insbesondere die älteren, wieder an diese Spannungen erinnerten – und vielleicht auch an die Haltung der Durkheim-Schule in dieser Debatte. Natürlich wären sie der Ansicht gewesen, Blut – egal ob frühgeschichtliches oder modernes – sei ein geeigneter Stoff zum Opfern. Warum versäumt es das als fesselnde Beschwörung eines primitiven Zeitalters »verkaufte« Le Sacre du printemps dann, diese offensichtliche Gelegenheit zur Einlösung seiner Authentizitätsansprüche zu nutzen? Das erwählte Mädchen scheint sich zu Tode zu tanzen. Doch erschöpfte Tänzer brechen möglicherweise zusammen, sie sterben nicht. Schlachtopfer hingegen müssen getötet werden. In diesem Sinne wäre Le Sacre du printemps eine unplausible oder wirre Darstel-

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Alfred Dreyfus war ein junger Offizier der französischen Armee, den man zu Unrecht beschuldigte, Militärgeheimnisse an Deutschland verraten zu haben. Es wurde ruchbar, dass er einer komplexen Intrige zum Opfer gefallen war, die offenbar das Ziel hatte, den Deutschen falsche Informationen über die französische Wiederbewaffnung zuzuspielen. Als die Tatsachen des Falles ans Licht kamen, wurden Forderungen nach einer Bestrafung der Drahtzieher laut. Im rechten politischen Lager aber stellte man sich auf den Standpunkt, ein solcher Schritt würde die Stärke der Armee untergraben und damit die Staatssicherheit in Gefahr bringen: Hubert und Mauss waren glühende »Dreyfusianer«. Als solche bezeichnete man diejenigen, die sich Gerechtigkeit für Dreyfus auf die Fahnen geschrieben hatten. Vgl. Marcel Fournier/Marcel Mauss: A Biography, Princeton 2006. Vgl. Ivan Strenski, Contesting Sacrifice: Religion, Nationalism and Social Thought in France, Chicago 1997. Émile Durkheim, »Der Individualismus und die Intellektuellen« (1898), in: Hans Bertram (Hg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie, Frankfurt am Main 1986, S. 54–70.

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lung der – vielen Zuschauern im Premierenpublikum präsenten – Vorstellung des Menschenopfers. Wer von den drei Schöpfern des Werks war für die Idee einer unblutigen Opferung verantwortlich? Wenn Strawinsky, wie er 1931 zu Protokoll gab, diese Idee als Erstem im Traum erschienen war, dann kann man dazu lediglich sagen, dass niemand – außer vielleicht in einem psychoanalytischen Sinne – für seine Träume verantwortlich ist. In Strawinskys ursprünglicher Darstellung der Genese von Le Sacre du printemps aber ist von einem Traum überhaupt nicht die Rede. Also kann es sein, dass dieses Element, so wie das restliche Szenario, Roerichs Werk war. Der Maler wiederum mag einen guten Grund gehabt haben, um ein Blutopfer zu vermeiden – er war nämlich unter dem Einfluss seiner Frau zu einem Anhänger der Theosophie geworden. Noch während er an Le Sacre du printemps arbeitete, befand sich sein eigener Kunstbegriff im Umbruch: Die historischen Elemente seiner Kunst wurden weithin von einem mystisch-visionären Ansatz verdrängt.59 Roerichs späteres Schaffen war stark von seinem Engagement für eine Reihe theosophischer Gruppen und von seinen Reisen nach Zentralasien und in das Himalaya-Gebiet geprägt, die er auf der Suche nach innerer Erleuchtung unternahm. Deshalb ist es wichtig zu vermerken, dass Helena Blavatsky in ihren theosophischen Schriften eine Neuinterpretation des hinduistischen Rituals vornimmt, die das Blutopfer ablehnt. Die einzig akzeptable Form des Opfers für einen Theosophen ist ein Opfer auf der Grundlage persönlicher Anstrengung – mit anderen Worten: ein willentliches Selbstopfer.60 Wenn wir anerkennen, dass die »Auserwählte« ein Opfer nach dem Verständnis der theosophischen Lehre ist und kein frühzeitliches Blutopfer, wie es Wissenschaftler wie Mauss und Hubert der Ära Dreyfus vor Augen gestellt hatten, dann können wir eine kognitive Differenz zwischen den künstlerischen Schöpfern und dem Publikum der Uraufführung konstatieren. Die Autoren des Frühlingsopfers befanden sich – im wahrsten Sinne des Wortes – auf einer anderen Seite. 59 60

McCannon, In Search of Primeval Russia. Helena Blavatsky, Der Schlüssel zur Theosophie. Ein Lehrbuch in Fragen und Antworten über Ethik, Wissenschaft, Philosophie, zu deren Studium die theosophische Gesellschaft gegründet worden ist (1889), Leipzig 1924.

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Einige Kritiker, so insbesondere Boschot, kamen zu dem Schluss, man mache sich über das Publikum lustig. Das Ballett sei ein Witz gewesen. Douglas bestimmt Witze als »invertierte« Institutionen.61 Sie stellen die von sozialen Normen errichteten Grenzen infrage. So gesehen erscheint ein Opferritual ohne Blutvergießen wie ein schlechter Witz. Angesichts der Tatsache, dass sich die Nation vor einem neuen Krieg gegen Deutschland fürchtete und sich darum sorgte und stritt, welche Gruppen wohl bereit sein würden, ihre eigenen Kinder zu opfern, war »der Witz« mehr oder weniger unverständlich.62 Hierin können wir also eine mögliche Quelle für den Volkszorn erkennen, den Calvocoressi im Publikum wahrnahm. Die Aufführungsgegner reagierten auf eine Travestie. Man kann hinzufügen, dass das Ballett auch wegen des fehlenden Opferpriesters einen nicht gerade schlüssigen Ausgang nimmt. Hill analysiert das Problem folgendermaßen: »Der […] ›Opfertanz‹ ist der Schlussteil: Er kann nicht einfach aufhören, er muss enden […], das Thema lässt sich nicht umgehen«; und er bemerkt, dass »Strawinsky nicht der Einzige gewesen ist, für den der Schluss enttäuschend war«.63 Hill empfindet den Höhepunkt als musikalisch unbefriedigend, aber theatralisch brillant.64 So wie er das Ereignis aber beschreibt, könnte man auf den Gedanken kommen, er sei sich vielleicht im Hinblick auf die Brillanz selbst nicht ganz schlüssig. »Die Tänzerin«, so versichert er, bricht »sowohl aus realer wie aus gespielter Erschöpfung« zusammen.

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Mary Douglas, »The Social Control of Cognition. Some Factors in Joke Perception«, in: Man 1968, New Series 3, H. 3, S. 361–376. Rivalisierende koloniale Ansprüche in Afrika nährten die Befürchtung, es könnte einen neuen Krieg geben, insbesondere der sogenannte Panthersprung nach Agadir (Marokko, 1919). Dieses Land war das erste in Afrika, in dem französische Künstler und Abenteurer einen flüchtigen Blick auf »das Primitive« werfen konnten. Matisse ging 1912 und 1913 dorthin zum Malen. Die inneren Zweifel konzentrierten sich auf den Zuzug von jüdischen Flüchtlingen aus Osteuropa und auf die ultramontanen Tendenzen einiger französischer Katholiken. Hill, Stravinsky, S. 88. In seiner kritischen Durchsicht der Einspielungen von Le Sacre du printemps legt Peter Hill sein Augenmerk darauf, wie Dirigenten versucht haben, »das Problem des Endes mit seinem potenziell enttäuschenden Abschluss« zu vermeiden. 1969 trennt Pierre Boulez »den Schlussakkord vehement vom Auftakt ab – womit er nach Strawinskys Einschätzung ›eine nicht besonders gute Idee in eine geschmacklose verwandelt‹«. Ebenda, S. 136f.

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Wie sollen wir den Unterschied erkennen? So wie die Dinge liegen, hat das Publikum Grund genug, sich über das zu wundern, was es gerade gesehen hat. Vielleicht wird das Mädchen wieder zum Leben erweckt? In einer sowjetischen Produktion wurde sie tatsächlich im letzten Moment von einem aufgeklärten jungen Liebhaber weggeschnappt, der sich an den Stammesältesten für ihr barbarisches Handeln rächt.65 Strawinskys eigene Bedenken machten sich vor allem an dem Schlussakkord fest. Er bemühte sich jahrelang, etwas Überzeugenderes zu finden als das Orchesterglissando, mit dem die Musik den Zusammenbruch des Mädchens begleitet. Der Komponist beschrieb es als »einen Krach«. Er fand nie eine Lösung.

Weitergehende Lehren aus der Fallstudie Welche Relevanz aber besitzt diese Fallstudie für die im vorliegenden Band untersuchte allgemeinere Fragestellung, wie sich das Verhalten von Massen verstehen lässt? 1. Zunächst einmal zum Problem der Faktenlage: Massenereignisse sind komplex und oftmals ungeheuer mobil. Wenn sie mit Gewalt verbunden sind, dann können sie für diejenigen, die sie zu dokumentieren versuchen, eine Gefahr darstellen. Das Filmen oder schriftliche Aufzeichnen solcher Ereignisse kann leicht missverstanden werden. Unter dem Gesichtspunkt seiner Dokumentation stellt die allererste Aufführung von Le Sacre du printemps einen Glücksfall dar. Denn erstens haben wir es hier nicht mit einem hochgefährlichen Ereignis in geschlossenen Räumen zu tun, und zweitens war die Presse zugegen: nämlich in Gestalt von Kritikern, die den Theaterabend anschließend ausführlich besprachen. Viele der damals anwesenden Zuschauer oder an der Aufführung Beteiligten haben uns Augenzeugenberichte hinterlassen, die entweder

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»Moskau erlebte Le Sacre du printemps 1965 in einer von Natalia Kasatkina und Vladimir Vasiliev für das Bolschoi-Ballett choreografierten Version. Diese Produktion […] führte einen Plot ein, der der Auserwählten einen Liebhaber an die Seite stellte, der sich nach dem Opfer an den Stammesältesten rächt.« Vgl. www.russianballet.ru/ eng/archives/jan-feb03/covers2.htm [25. 6. 2014].

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unmittelbar nach den Ereignissen niedergeschrieben wurden oder aus später verfassten Memoiren stammen. Und dennoch können wir über bestimmte Dinge nichts in Erfahrung bringen. Es existieren kaum, um nicht zu sagen: keine Zeugnisse derjenigen, die die Störungen provoziert haben, sodass man ihre Motivationen nur indirekt erschließen kann. Bei der Rekonstruktion und Interpretation von Massenereignissen ist dies ein durchaus geläufiges Problem. Die Hauptanstifter lassen sich entweder nur sehr schwer aufspüren oder sind wie vom Erdboden verschluckt. Vielleicht ist es den Provokateuren lieber, ungenannt zu bleiben. Falls es also eine ultramontane katholische Claque bei der Premiere von Le Sacre du printemps gegeben haben sollte, dann hat sich zumindest im Nachhinein niemand dazu bekannt. Zudem entwickeln sich Massenereignisse schnell, und wegen ihrer komplexen inneren Dynamik sind die Gruppierungen, die am Ende – oder an einem bestimmten Ort – zusammenstoßen, nicht unbedingt dieselben, die zu Beginn – oder an anderer Stelle – zusammengestoßen sind. Deshalb kann man von keinem einzigen Standort aus einen Überblick über das Ganze gewinnen. Selbst innerhalb des begrenzten Raums des Théâtre des Champs Élysées gab es nur unvollständige und beschränkte Perspektiven. Und bei großen gewaltsamen Massenereignissen im Freien ist es oft noch viel schwieriger, sich ein ausgewogenes Bild zu machen oder eine umfassende Darstellung des Sachverhalts zu geben. Insofern das diskutierte Beispiel – wegen der relativ kleinen Zahl von Beteiligten, des begrenzten Raums, der guten Dokumentation – einen Grenzfall darstellt, müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass das analytische Verständnis von Massengewalt in gewisser Weise immer durch einen Mangel an empirischen Belegen getrübt ist. 2. Gewaltsame Massenereignisse besitzen ihre eigenen performativen Muster der Eskalation und der Auflösung. Diese speisen sich aus Faktoren, auf deren Beschreibung wir uns möglicherweise noch einigen können, über deren theoretische Bedeutung aber weithin Uneinigkeit herrscht. Solche Beschreibungen beinhalten Stichworte wie »Entrainment« (etwa: Mitreißen, Sogwirkung, Verstrickung oder Ansteckung), »Vergnügen an der Handlungs280

macht«, »Efferveszenz«, »Sühneritus«, »Ansteckung des Heiligen« und »Interaktionsritual«. Tiryakian betrachtet Le Sacre du printemps als Beispiel für Durkheims berühmte Beschreibung des australischen corrobori: »Und da diese starken und entfesselten Leidenschaften nach außen drängen, ergeben sich allenthalben nur heftige Gesten, Schreie […], darum neigen diese Gesten und Schreie von selbst dazu, rhythmisch und regelmäßig zu werden: daher die Gesänge und Tänze.«66 Obwohl er bezweifelt, dass Strawinsky und seine Mitautoren jemals Die elementaren Formen des religiösen Lebens gelesen haben, findet Tiryakian, sie hätten »ein perfektes Gegenstück zu Durkheims Beschreibung einer Stammeszusammenkunft« geschaffen.67 Die Aufführung war für Tiryakian mit anderen Worten nichts anderes als ein corrobori.68 Dies stellt aber Durkheims Beschreibung auf den Kopf. Le Sacre du printemps beginnt ruhig und steigert sich zu einem Tumult. Die Reaktion des Publikums hingegen passt zu dem von Durkheim beschriebenen Muster einer Stammeszeremonie: Zunächst einmal herrscht im Publikum Lärm und Verwirrung – die frühen Protestschreie –, dann kommt es zu gewissen Veränderungen – in diesem Fall zu einem rudimentären Austausch zwischen den konkurrierenden Gruppierungen: zwischen Parkett und oberen Rängen wird hin- und hergerufen –, und schließlich werden die Teilnehmer von Gesang und Tanz mitgerissen – der »Opfertanz« war es ja, wie gesagt, der den Aufstand beendete.69 66 67

68

69

Durkheim, Die elementaren Formen, S. 297. Edward Tiryakian, »Avant-Garde Art and Avant-Garde Sociology: ›Primitivism‹ and Durkheim ca. 1905–1913«, in: ders. (Hg.), For Durkheim. Essays in Historical and Cultural Sociology, Farnham 2009, S. 167–188. Durkheim wäre vielleicht nicht unbedingt einverstanden gewesen, da er der Auffassung war: »Wenn ein Ritus nur mehr dem Vergnügen dient, ist es kein Ritus mehr.« Durkheim, Die elementaren Formen, S. 514. Jan Kounens Film Coco Chanel and Igor Stravinsky aus dem Jahr 2009 beginnt mit einer – offenbar tatsächlich im Théâtre des Champs Élysées gedrehten – Reinszenierung des Aufstands. Nur stellt er die Wahrheit auf den Kopf, wenn er zu Beginn der Aufführung ein ruhiges Publikum vorführt, dessen Aufregung sich in dem Maße steigert, wie das Stück auf seinen Höhepunkt zusteuert. Schmitts Invektive gegen die »Huren des 16.« wird reproduziert, ohne dass der Regisseur irgendeinen Wert darauf gelegt hätte, dass die Unruhen hier von widerstreitenden Gruppierungen hervorgerufen wurden.

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Das sogenannte Entrainment steht derzeit stark im Fokus einer interdisziplinär ansetzenden Forschung im Grenzgebiet von Kognitionswissenschaften, Musikwissenschaft und Anthropologie. Sie hat beispielsweise gezeigt, dass die Fähigkeit, einem Rhythmus zu folgen, eine angeborene Eigenschaft der gesamten Spezies ist.70 Arbeiten zum Spiegelneuronensystem des Menschen versprechen Aufschluss über die Formen imitativen Verhaltens zu geben, die beim Tanzen involviert sind.71 Man hat mögliche Szenarien einer Koevolution der menschlichen Befähigungen zu Musik und Tanz entworfen. Eine dieser Theorien besagt, dass es sich dabei um Felder handeln könnte, auf denen Menschen prosoziale Verhaltensweisen »erproben«.72 In ihrer Gesamtheit versuchen diese Arbeiten, einen umfassenden theoretischen Rahmen zu entwickeln, in dem sich das Ritual, soziale Taxonomien und kollektive Repräsentationen, wie von Durkheim gedacht, auf einen gemeinsamen Entstehungsprozess zurückführen lassen. Dies würde das lange bestehende Bedürfnis nach einer umfassenden und empirisch verifizierten Theorie der sozialen Efferveszenz erfüllen. Eine solche Theorie kann an dieser Stelle natürlich nicht entwickelt werden. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass die Integration verschiedener Affekt-Theorien, die Affekte sowohl als angeborene wie auch als erworbene und das heißt: gelernte Aspekte des menschlichen Phänotyps betrachten, eine zentrale Rolle spielen wird.73 Zu diesem Zweck wird man wiederum besser verstehen müssen, wie das Gruppenhandeln als eine Kombination aus biochemischen, genetischen und symbolischen Prozessen und Auslösern physiologische und mentale Zustände beeinflusst.

70 71 72 73

István Winkler u. a., »Newborn Infants Detect the Beat in Music«, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 2009, H. 7, S. 2468–2471. Vittorio Gallese, »Embodiment Simulation. From Neurons to Phenomenal Experience«, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 2005, H. 1, S. 23–48. Ian Cross, »Music and Biocultural Evolution«, in: M. Clayton/T. Herbert/R. Middleton (Hg.), The Cultural Study of Music. A Critical Introduction, London 2003, S. 19–30. Paul E. Griffiths, What Emotions Really Are. The Problem of Psychological Categories, Chicago 1997.

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3.

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76

Die Möglichkeit einer neo-durkheimschen Synthese, die auf Massenverhalten anwendbar sein könnte, wurde etwa in den Forschungsprogrammen von Randall Collins und Robert Turner umrissen.74 Es ist offensichtlich, dass Emotionen innerhalb eines jeden solchen Programms eine wichtige Funktion besitzen. Und auch in der gerade beschriebenen Fallstudie kommt den Affekten natürlich eine wesentliche Bedeutung zu. Eine der Lehren aus dem Aufstand, den Le Sacre du printemps provoziert hat, ist, dass die Mitglieder der französischen Kulturelite – einschließlich einer Gräfin und eines führenden Komponisten des Landes75 – offenbar von den turbulenten Ereignissen um sie herum so mitgerissen und darüber so leidenschaftlich in Wut entbrannt waren, wie man es sich abstrakt kaum hätte vorstellen können. Individuen verändern sich in der Masse, und was sie in einer solchen Grenzsituation tun, kann dauerhafte Folgen haben.76 Kurz gesagt stellte der Aufstand und nicht Le Sacre du printemps selbst das eigentliche Durkheim’sche Element der Ereignisse dar, die sich in Astrucs Theater an diesem warmen Spätfrühlingsabend im Jahr 1913 abspielten. Und schließlich hat man sich bemüht nachzuweisen, dass gewaltsame Massenereignisse nicht ohne Rücksicht auf bestimmte politische und kulturelle Kontexte zu verstehen sind. Im Anschluss etwa an Strenski wurde die Hypothese formuliert, dass allgemeinere Debatten und Auseinandersetzungen, die damals in der französischen Gesellschaft über Opfer und Säkularisierung geführt wurden, die Dynamik des Aufstands bei der Premiere von Le Sacre du printemps mitbeeinflussten. Wer Le Sacre du printemps als ein vorchristliches Ereignis darstellte, der ergriff im Rahmen dieser Debatten – vielleicht unwissentlich – Partei und konnte damit

Vgl. etwa Collins, Interaction Ritual Chains, sowie Katie Overy/Robert Turner, »The Rhythmic Brain«, in Cortex 2009, H. 1, S. 1–3. »Die ehrwürdige, wenn auch stark geschminkte Gräfin Marie de Pourtales hat angeblich gesagt, ›Dies ist das erste Mal in sechzig Jahren, dass es jemand gewagt hat, sich über mich lustig zu machen‹« (Kelly, First Nights, S. 293). Sie bezog sich offenbar auf die sehr rot geschminkten Wangen der Steinzeitmädchen. Victor Turner, The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, Hawthorne, New York 1969.

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rechnen, einen Teil des Publikums gegen sich aufzubringen. Calvocoressi beschrieb die Reaktion des Publikums als echte Wut. Im Sinne Durkheims kann die dadurch hervorgerufene Störung somit als ein Sühneritus, als eine auf die Gefahr extremen Verlustes reagierende Efferveszenz, interpretiert werden.77 Für manchen ging es dabei, wie Boschot bemerkt, um den Verlust der »alten« pittoresken Ballets Russes. Für andere wiederum war es die schwindende Macht und Einflussmöglichkeit der katholischen Kirche, die ihren Sühne fordernden, gewaltbereiten Zorn hervorriefen. Die Feindseligkeit wurde möglicherweise noch durch den Verdacht befördert, dass sich die Veranstalter von Le Sacre du printemps um die mit ihrem Werk verbundene Entweihung weder Gedanken noch Sorgen machten. So nahm manch einer an, Diagilew gehe es lediglich um Sensationen, Astruc lediglich um den finanziellen Erfolg. Bei Strawinsky hingegen ist es nicht ausgeschlossen, dass er sich den Vorwurf der Entweihung tatsächlich zu Herzen nahm, denn in den 1920ern hielt eine »neue Religiosität« Einzug in sein Schaffen.78 Spätere Werke wie die Psalmensymphonie von 1930 und eine strenge neo-mittelalterliche Messe von 1946 waren Welten entfernt von Le Sacre du printemps und dem Versuch, ein steinzeitliches Ereignis kollektiver Efferveszenz musikalisch zu beschwören.

Schlussfolgerung – Le Bon und Durkheim Das Paris der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war also eine Stadt der Aufstände. Passenderweise war sie auch der Ursprungsort zweier besonders wirkmächtiger Theorien des Massenverhaltens, nämlich der Theorien Gustave Le Bons und Émile Durkheims. Der umgrenzte und gut dokumentierte Aufstand in der Nacht der Uraufführung von Le Sacre du printemps bringt die jeweiligen Vorzüge dieser rivalisierenden Theorien ans Licht.

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78

Vgl. Durkheim, Die elementaren Formen, S. 522–531. Eine Anwendung des Begriffs auf die Musik und den Krieg findet sich etwa bei Paul Richards, »Elementary Forms of War. Performative Aspects of Youth Militia in Sierra Leone«, in: Hausner, Durkheim in Dialogue, S. 67–85. Walsh, Stravinsky, S. 433.

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Für Le Bon fällt das – im Übrigen möglicherweise zivilisierte – Individuum in einen Zustand der angeborenen Barbarei zurück, sobald es sich einer Masse anschließt.79 Le Bon behauptet, Massen könnten immer nur zerstörerisch handeln. Durkheim hingegen möchte zeigen, dass Massen emotionale Energien produzieren, die für eine Entfaltung der wirklich wichtigen Aspekte gesellschaftlicher Beziehungen unverzichtbar sind. Das Verhalten von Massen lässt seines Erachtens die wichtigsten sozialen Themen in einem von den praktischen Sorgen des Alltags unverstellten, heiligen Licht erscheinen. Im Hochofen des Kraftwerks der Massen würden kollektive Repräsentationen geschmiedet, die später den normativen Rahmen unseres Alltags mitbestimmten. Das größte formgebende Massenereignis dieser Art war nach Durkheims Verständnis die Volksenergie, welche die Französische Revolution aus sich heraustrieb. Sie habe den französischen Republikanismus und die französische Sozialdemokratie begründet. Welche dieser beiden Konzeptionen passt nun besser zu dem Aufstand im Théâtre des Champs Élysées? Viele der Anwesenden zogen eine Lehre aus Le Bon. Die Energie der Aufständler im Saal sahen sie als einen Rückfall in die Barbarei. Die Zivilisation hielten sie für schönen Schein. Selbst die elegantesten Herrschaften könnten ihre schicken Kleider von sich reißen und einander mit bloßen Fäusten gegenübertreten, so dachten sie, wenn das, was Le Bon den »magnetischen Zauber« der Masse nannte, wirkt. Die Schwachstelle dieser Interpretation ist nun eindeutig, dass sie lediglich die Sichtweise derjenigen Zuschauer abbildet, denen nicht nach einem Kampf zumute war, sondern die in aller Ruhe die Vorführung genießen und beurteilen wollten. Wo die Kampflustigen, etwa der Komponist Florent Schmitt, einen Bericht geben, tragen sie dem Le Bon’schen Argument nur sehr einseitig Rechnung. Schmitt zeigt sich von der Barbarei des rückständigen Großbürgertums entrüstet, bietet aber keine Erklärung für die offenkundige Maßlosigkeit seines eigenen Überschwangs.80 79 80

Gustave Le Bon, Psychologie der Massen (1895), Leipzig 1912 (2. Auflage). Schmitt schrieb eine Premierenkritik – veröffentlicht in La France vom 4. Juni 1913 –, in der er sich »die Masse und ihre bösartige Feindseligkeit« vorknöpft. Diejenigen, die gegen Le Sacre du printemps protestierten, seien »verwilderte Kinder«,

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In diesem Aufsatz habe ich zu zeigen versucht, dass den Saal eine echte Debatte bewegte, die für die ganze französische Gesellschaft und französische Politik von Bedeutung war. Da eine der beiden widerstreitenden Parteien kaum Zeugnisse hinterlassen hat, muss ihre Position aus Indizien erschlossen werden. Bezeichnenderweise glaubte Le Bon, der kein Demokrat war, dass auch die Parlamentsdebatte einen Rückfall in die Barbarei der Masse darstellte. Nur eine intellektuelle Elite, so glaubte er, könnte in der Politik eine konstruktive Führungsrolle übernehmen. Wer wie Debussy die zügellose Debatte missbilligte, die überall im Saal tobte, ergriff in Wirklichkeit Le Bons Partei. Er war wegen der Kunst, nicht wegen der Politik gekommen. Das Problem war, dass Le Sacre du printemps versucht hatte, aus Politik Kunst zu machen. Bestimmte Teile des Publikums drehten den Spieß um und machten aus Kunst wieder Politik. Die zugrunde liegende politische Debatte, die durch Versetzen des Balletts in die Steinzeit verdeckt worden war, wurde durch die vom Ersten Weltkrieg diktierte Aufforderung zu nationaler Einheit entschieden. Juden wie Katholiken scharten sich um das nationale Interesse. Der Nachkriegskatholizismus in Frankreich überlebte seine Malaisen. Ultramontanes Sektierertum gehörte fortan der Vergangenheit an. Als Jean Cocteau, einer der größten Anhänger von Le Sacre du printemps, nach dem Krieg gar eine Interessengemeinschaft mit dem einflussreichen katholischen Schriftsteller Jacques Maritain bildete, war die katholische Nachkriegsmoderne geboren.81 Die französischen Katholiken waren im Zeitalter des Jazz angekommen. Der einflussreiche katholische Kirchenmusiker Charles Tournemire schrieb Orgelmusik mit liturgischen Funktionen, bediente sich dabei allerdings moderner Elemente, die zwischen den musikalischen Welten Strawinskys und Olivier Messiaens vermittelten. Aus den Turbulenzen der Ansteckung

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die für »diese Herrlichkeiten, die so unsagbar weit von ihrem schwachen Verstand entfernt waren, nichts als brutales, kindisches Gelächter übrig hatten« (wiederabgedruckt in Kelly, First Nights, S. 314). Er sagt nichts über seine eigenen ungehobelten Zwischenrufe, wie Strawinsky sie in Erinnerung hat. Vgl. FN 24. Stephen Schloesser, Jazz Age Catholicism. Mystic Modernism in Postwar Paris, 1919–1933, Toronto 2005.

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des Heiligen war ein neuer gemeinsamer Bestand an kollektiven französischen ästhetischen Repräsentationen hervorgegangen. Der Aufstand bei Le Sacre du printemps bestätigt – so können wir abschließend sagen – Durkheim, nicht Le Bon. Aus dem Englischen von Bettina Engels

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III

INSTITUTIONALISIERUNGEN

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Anthony King

Der Massenangriff Infanterietaktiken im 20. Jahrhundert

Am 19. Juni 1879 fasste General William Tecumseh Sherman seine Kriegserlebnisse vor der Abschlussklasse der Militärakademie in Michigan mit den Worten zusammen: »Krieg ist die Hölle!«1 Mit seiner Rede gegen den Krieg schuf Sherman am Ende des 19. Jahrhunderts unwissentlich ein Leitmotiv, das das gängige Bild der industriellen Kriegführung im 20. Jahrhundert prägen sollte. Doch obwohl der Kampf auf dem modernen Schlachtfeld zweifellos entsetzlich war und die Darstellungen der industriellen Kriegführung im 20. Jahrhundert dieses Grauen eindrücklich vermitteln, wäre es falsch, die Wirklichkeit des Krieges als eine asoziale, ja antisoziale zu beschreiben. Im Gegenteil: Ungeachtet ihrer Obszönität lässt sich selbst die Schlacht als eine Form der sozialen Interaktion und eine Sphäre des kollektiven Handelns analysieren. Auf diese Weise sollte es möglich sein, das Tun der Soldaten auf dem Schlachtfeld zu verstehen und eben jenes Grauen, mit dem sie konfrontiert sind, zu begreifen, ohne es kleinzureden. Es sollte möglich sein, sich einen Reim auf die scheinbare Sinnlosigkeit des Krieges zu machen. Genau darum haben sich Sozialwissenschaftler immer wieder bemüht. Soziologen etwa interessieren sich seit Langem für die Schlacht. Tony Ashworths Arbeit über den Grabenkrieg ist nur eines der bekanntesten und am häufigsten zitierten Beispiele für diesen Versuch, sich der Front mit den Mitteln der soziologischen Analyse zu nähern. Ashworth verwarf die Vorstellung, die Soldaten seien dem Krieg und den Befehlen ihrer Generäle vollkommen ausgeliefert. Gegen das gewohnte Bild vom Krieg als einem sinnlosen Mahlstrom, der die Soldaten verschlingt, besteht er ausdrücklich auf der »Tatsache, dass sich 1

E. Kelly Taylor, America’s Army and the Language of Grunts. Understanding the Army Lingo Legacy, Bloomington 2009, S. 347. Das Zitat kursiert in einer Reihe von Varianten.

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die Soldaten erfolgreich darum bemühten, ihre Umgebung unter Kontrolle zu bringen, und dadurch den Charakter ihrer Kriegserfahrung radikal veränderten«.2 Insbesondere untersucht er – entgegen dem Bild vom entsetzlichen Grabenkampf –, wie alliierte und deutsche Soldaten an der Westfront nach dem Motto »Leben und leben lassen« informelle Regelsysteme zum wechselseitigen Vorteil schufen. Ähnlich hat Randall Collins in seiner jüngsten Studie zur Gewalt den wichtigen Schritt unternommen, die Soziologie auf das Terrain des Gefechts selbst zu führen.3 Collins verabschiedet verbreitete Mythen über Gewalt. Er zeigt, dass, wenn es überhaupt zu Gewalt kommt, diese wiederkehrenden und beobachtbaren Interaktionsmustern folgt. Gewalt ist kein Zufallsprodukt der Anwesenheit abweichender oder übermäßig aggressiver Individuen, sondern ein strukturiertes Ergebnis der Interaktionsdynamik von Situationen. Eine der stärksten Analysen seines Buches gilt dem Konzept der Vorwärtspanik. Wenn Menschen in Panik geraten, dann erstarren oder flüchten sie in der Regel. Unter besonderem Druck kann eine Panik jedoch die Richtung ändern und in eine unkontrollierte und scheinbar grenzenlose Form von Aggression umschlagen. Statt zu fliehen, schützen sich die Individuen, indem sie auf die drohende Gefahr, die sie in Angst versetzt, losstürmen. Wie Ashworth und Collins veranschaulichen, ist es trotz des offensichtlichen Schreckens des Krieges falsch, das Gefecht als eine anarchische, antisoziale Hölle zu beschreiben. Auch die Schlacht ist ein soziales Ereignis, das eigene Dynamiken und Muster aufweist. Deshalb ist es möglich, die Untersuchung des Geschehens auf dem Schlachtfeld mit der Analyse kollektiver Gewalt im Allgemeinen zu verbinden. Genau das ist das Ziel des vorliegenden Aufsatzes, in dem ich die Dynamik des Infanteriekampfs in den Massenkriegen des 20. Jahrhunderts (den beiden Weltkriegen sowie dem Korea- und dem Vietnamkrieg) bestimmen möchte und zeigen, dass sich entgegen der landläufigen Annahmen über die chaotische Natur des Nahkampfs wiederkehrende Muster beobachten lassen, die sich mit Blick auf den besonderen Charakter des industriellen Schlachtfelds und die institu2 3

Tony Ashworth, Trench Warfare 1914–1918. The Live and Let Live System, London 1980, S. 14f. Randall Collins, Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie, Hamburg 2011, S. 132–136.

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tionellen Strukturen, Fähigkeiten und Kulturen der Bürgerarmeen erklären lassen, die zwischen 1914 und 1973 auf ihm fochten. Ich möchte zeigen, dass die situative Dynamik des industriellen Schlachtfelds bei den eingesetzten Soldaten wiedererkennbare und konsistente Reaktionen hervorbrachte.

Der SLAM-Effekt Um die Kampfleistung von Bürgersoldaten im 20. Jahrhundert einschätzen und mit der heutiger Berufssoldaten vergleichen zu können, brauchen wir zunächst eine allgemeine Darstellung der Leistung der Bürgerinfanterie im 20. Jahrhundert. Angesichts der erheblichen Unterschiede in den politischen, geografischen, klimatischen und militärischen Bedingungen der verschiedenen Kriege erfordert dies zweifellos große Sorgfalt. Nichtsdestotrotz können wir einen grundsätzlichen Eindruck davon geben, wie sich die Bürgerinfanterie vom Ersten Weltkrieg bis zum Vietnamkrieg schlug. Die Forschungen von Charles Moskos, Peter Kindsvatter, Stephen Wesbrook und Christopher Hamner liefern hierfür einschlägiges Material.4 Für meine Zwecke jedoch bildet das Werk S. L. A. Marshalls einen naheliegenden, ja unentbehrlichen Ausgangspunkt, ungeachtet aller Skepsis, die ihm heute entgegengebracht wird. Fast als Einziger erlebte und beschrieb Marshall drei der vier großen Kriege, an denen westliche Streitkräfte im 20. Jahrhundert beteiligt waren: den Zweiten Weltkrieg, den Koreakrieg und den Vietnamkrieg.5 In »Soldaten im Feuer«, seinem Buch über US-Kampf-

4

5

Charles C. Moskos, The American Enlisted Man. The Rank and File in Today’s Military, New York 1970; Peter Kindsvatter, American Soldiers. Ground Combat in the World Wars, Korea and Vietnam, Kansas 2003; Stephen Westbrook, »The Potential for Military Disintegration«, in: Sam Sarkesian (Hg.), Combat Effectiveness. Cohesion, Stress, and the Volunteer Military, London 1980, S. 244–278; Christopher Hamner, Enduring Battle. American Soldiers in Three Wars 1776–1945, Lawrence 2011. Samuel Lyman Atwood Marshall, Island Victory. The Battle of Kwajalein Atoll, Lincoln 2001; ders., Soldaten im Feuer. Gedanken zur Gefechtsführung im nächsten Krieg, Frauenfeld 1959; ders., The Capture of Makin. 20–24 November 1943, Washington 1990; ders., Einsatz bei Nacht. Landung und Kampf zweier Luftlandedivisionen, Normandie 1944, Frauenfeld 1964; ders., Um Außenposten und Patrouillen.

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soldaten im Zweiten Weltkrieg, verkündete Marshall eine überraschende und kontroverse Entdeckung: Weniger als einer von vier USInfanteristen feuerte tatsächlich sein Gewehr auf den Feind ab. »In einer durchschnittlich gefechtsgewohnten Infanteriekompanie betrug die Anzahl der Soldaten, die an einem mittelschweren Kampftag irgendeine Waffe gebrauchten, 15 Prozent des Bestandes. Bei besonders guten Kompanien unter stärkstem Feinddruck ging die Zahl selten auf über 25 Prozent hinauf, berechnet auf den gesamten Mannschaftseinsatz von Beginn bis zum Ende der Aktion.«6 Marshalls Befunde waren umso verblüffender, als sie weder voraussetzten, dass ein Soldat einen Gegner getötet oder verwundet, noch dass er besonders viele Schüsse abgegeben haben musste, um zu den aktiven Schützen gezählt zu werden.7 Für Marshall lag die Erklärung für die schwache Leistung der amerikanischen Gewehrschützen zum Teil in den Moralvorstellungen der westlichen Kultur. Nicht schießende Soldaten beschrieb er als »Dienstverweigerer aus Gewissensgründen«,8 die durch ihre soziale Prägung zur Ohnmacht verurteilt seien; sie hätten die Tabuisierung des Tötens so gründlich verinnerlicht, dass sie selbst auf dem Schlachtfeld davor zurückschreckten.9 Doch obwohl Marshall die Moral als ein echtes Problem für den westlichen Soldaten ansah, erklärte er das Nichtschießen im Wesentlichen soziologisch; es galt ihm als situative Folge der besonderen Bedingungen des Schlachtfelds im 20. Jahrhundert. Obwohl an diesen Schlachten Hunderttausende Soldaten teilnahmen, war die Erfahrung des einzelnen Frontkämpfers eine der Isolation und Einsamkeit.10 In ihrer moralischen Isolation war es natürlich und nachvollziehbar, dass Gewehrschützen wie gelähmt und unfähig waren, ihre Waffe abzufeuern. Marshall bemerkte, dass Mannschaften, die

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Letzte Kämpfe in Korea, Frauenfeld 1959; ders., Ambush. The Battle of Dau Tieng, New York 1983. Marshall, Soldaten im Feuer, S. 59. Samuel Lyman Attwood Marshall, Bird. The Christmastide Battle [Vietnam, December 1966], New York 1968, S. 57. Marshall, Soldaten im Feuer, S. 83. Dave Grossman, On Killing. The Psychological Costs of Learning to Kill in War and Society, Boston 1996. Marshall, Bird, S. 44–47.

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Maschinengewehre, Panzerfäuste oder Granatwerfer bedienten, eine höhere Leistung erbrachten, und erklärte dies mit dem sozialen Kontext ihres Handelns. Diese Soldaten waren nicht isoliert; sie waren Teil eines Teams, und der damit verbundene gegenseitige Rückhalt und Druck begünstigte einen aktiveren Einsatz. Obwohl kein Soziologe, stützte sich Marshall in erster Linie auf soziologische – nicht psychologische – Erklärungen für niedrige Schießquoten. Die Gewehrschützen im Zweiten Weltkrieg erbrachten schlechte Leistungen, weil sie sich drücken konnten, ohne soziale Folgen befürchten zu müssen, wussten sie doch, dass sie quasi unsichtbar waren. Collins taufte dieses Phänomen praktischerweise auf den Namen »slam-Effekt« (nach Marshalls Initialen).11 Zwar hat sich Marshalls Werk zu einem festen Bezugspunkt der Diskussion über den militärischen Zusammenhalt entwickelt, seine Befunde aber sind mittlerweile höchst umstritten. Tatsächlich behaupten mehrere Kritiker, er habe seine niedrigen Schießquoten erfunden,12 da seine Zahlen nicht »auf wissenschaftlicher Stichprobenprüfung« basierten, wie er geltend machte, sondern auf »reiner Spekulation«.13 Doch selbst, wenn Marshall seine Befunde über Schießquoten zu sehr aufbauschte, wäre es unklug, seine Ergebnisse pauschal vom Tisch zu wischen. Er selbst bezeichnete einen Kampf auf den Makin-Inseln vom 22. auf den 23. November 1943, bei dem sich die meisten Mitglieder eines amerikanischen Infanteriebataillons nicht gegen einen japanischen Angriff verteidigten, als das entscheidende Indiz, anhand dessen er seine These über Schießquoten entwickelte. Die offizielle Geschichtsschreibung (deren Mitautor er allerdings war) bestätigt seine Darstellung und basiert selbst auf den Erzählungen jener Kampfsoldaten, die er unmittelbar nach dem Gefecht ausführlich interviewte.14 In 11 12

13

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Collins, Dynamik der Gewalt, S. 72. Kindsvatter, American Soldiers, S. 222f.; Russell W. Glenn, Reading Athena’s Dance Card. Men Against Fire in Vietnam, Annapolis 2000; Kelly C. Jordan, »Right for the Wrong Reasons. S. L. A. Marshall and the Ratio of Fire in Korea«, in: Journal of Military History 2002, H. 1, S. 135–162. John Whiteclay Chambers II, »S. L. A. Marshall’s Men Against Fire. New Evidence Regarding Fire Ratios«, in: Parameters 2003, H. 3, S. 113–121, hier: S. 119f.; Roger J. Spiller, »S. L. A. Marshall and the Ratio of Fire«, in: RUSI Journal 1988, H. 4, S. 63–71, hier: S. 68. Kent Roberts Greenfield (Hg.), The United States Army in World War II, Washington 1955, S. 118–122.

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jener Nacht biwakierten Soldaten des 3. Bataillons des 165. Infanterieregiments in notdürftigen Unterkünften nahe der Ostküste des Butaritari-Atolls, der Hauptinsel der Makin-Inselgruppe. Obwohl sie die ganze Nacht lang unter feindlichem Beschuss lagen, unternahm die Mehrzahl der Soldaten nicht mehr gegen diese Bedrohung, als in ihren Unterkünften Schutz zu suchen; die japanischen Angriffe wurden fast ausnahmslos von den schweren Maschinengewehren des Bataillons zurückgeschlagen. Ähnliche Situationen hielt Marshall auch auf dem europäischen Kriegsschauplatz fest. Darüber hinaus wurde Marshalls Beobachtung auch von anderen Offizieren der damaligen Zeit bestätigt, darunter General Lucian Truscott,15 dem Kommandeur der 3. USInfanteriedivision in Italien, sowie General Patton.16 Während des gesamten Krieges war der Führungsstab der amerikanischen Bodentruppen, dem die Rekrutierung, Auswahl und Ausbildung der Soldaten oblag, tief beunruhigt über die Qualität der Infanterie und ihrer Kampfleistungen.17 Viele US-Kommandeure stimmten mit Marshall überein.18 Seine Beobachtungen müssen folglich ernst genommen werden.

Das Bajonett Seit Ende des 19. Jahrhunderts, als die Strategen versuchten, sich auf das mechanisierte, von Gewehren, Maschinengewehren und indirektem Artilleriebeschuss beherrschte Schlachtfeld einzustellen, gab es beträchtliche Debatten über das Problem der Trägheit der Soldaten

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Lucian King Truscott, Command Missions. A Personal Story, Novato 1990, S. 534. George Patton, Krieg, wie ich ihn erlebte, Bern 1950, S. 241. Robert R. Palmer/Bell I. Wiley/William R. Keast, The Army Ground Forces. The Procurement and Training of Ground Combat Troops, Washington 1948, S. 50. Aus Platzgründen kann ich den Beweis an dieser Stelle nicht erbringen. Die für mein Buch The Combat Soldier. Infantry Tactics and Cohesion in the Twentieth and Twenty-First Centuries (Oxford 2003) durchgeführten historischen Untersuchungen und Recherchen haben jedoch gezeigt, dass Marshalls Beobachtungen über die unterdurchschnittliche Leistung von US-Soldaten im Zweiten Weltkrieg ein allgemeines Phänomen betrafen, das sich an allen Massen-Wehrpflichtarmeen vom Ersten Weltkrieg bis zu Vietnam zeigte, einschließlich der so sehr (aber zu Unrecht) bewunderten Wehrmacht.

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und ihrer Verstreuung im Feld. Militärkommandeure wie Theoretiker erkannten, dass die Taktik der geschlossenen Ordnung, in der die Soldaten aufgrund ihrer körperlichen Nähe zueinander und ihrer Überwachung durch die Offiziere nur schwerlich kneifen konnten, zu einem Problem geworden war. Dennoch wurden in vielen Fällen auch weiterhin geschlossene Schützenreihen für den Angriff empfohlen, denn trotz zu erwartender hoher Verluste traute man ihnen die Aufrechterhaltung der nötigen Dynamik zu.19 Fritz Honig und Jakob Meckel, Emory Upton und Ardant du Picq befürworteten alle die geschlossene Ordnung, um einen Angriff zu Ende zu führen.20 Zudem schienen die Größe der Armeen, ihr Ausbildungsniveau und der Mangel an Kommunikationssystemen komplexere taktische Manöver, die die Probleme mangelnder Feuerkraft hätten wettmachen können, auszuschließen. Insbesondere der Bajonettangriff galt in dieser Zeit als die entscheidende und effektivste Form der Infanterietaktik. Für die Militärhistorikerin Joanna Bourke war das Bajonett ein ideologisches Instrument, mit dem sich die Soldaten derart mit Aggressionen aufladen ließen, dass sie letztlich bereit waren, zu töten oder getötet zu werden; wie ein Vietnamveteran feststellte, bildete es »einen Zauber, um die Angst zu bannen«.21 Auch wenn es Belege gibt, die ihre Interpretation stützen, übersieht sie den wichtigen organisatorischen Nutzen des Bajonetts, der erklärt, warum Massen-Bürgerarmeen diese scheinbar archaische Taktik bevorzugten. Der Bajonettangriff war vor dem und noch im Ersten Weltkrieg ein zentraler Bestandteil der militärischen Doktrin und Ausbildung.22 Tatsächlich wurde die Infanterietaktik im Ersten Weltkrieg in vielen Fällen vom Bajonettangriff bestimmt (und als ein Zeichen seiner Vergeblichkeit gelesen), und es gibt zweifellos genügend Hinweise auf seine zentrale Bedeutung für das militärische Denken der damaligen Zeit. Während des gesamten Krieges trieben Befehlshaber die schlecht ge-

19 20 21 22

John I. English/Bruce I. Gudmundsson, On Infantry. The Military Profession, Westport, CT 1994, S. 4. Ebenda; sowie Bruce I. Gudmundsson, Stormtroop Tactics. Innovation in the German Army, 1914–18, Westport 1989, S. 8. Joanna Bourke, An Intimate History of Killing. Face-to-Face Killing in Twentieth Century Warfare, London 2000, S. 92f. Ebenda, S. 89f.

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schulten Soldaten immer wieder in massenhafte Bajonettangriffe auf vorbereitete Stellungen, deren Besatzungen nur unzureichend durch Artilleriebeschuss geschwächt oder niedergehalten worden waren. Komplexere taktische Manöver trauten sie ihren ungeübten Bürgertruppen nicht zu. Von kollektiver Begeisterung und der unmittelbaren Nähe ihrer Kameraden beflügelt, waren die Bürgersoldaten in den meisten Fällen bereit, auch unter furchtbaren Verlusten mit ihren Bajonetten gegen Maschinengewehre und Mörser anzurennen. Auf diese Weise machte der Bajonettangriff von einer oft, zumindest zu Kriegsbeginn, hoch motivierten, aber gering qualifizierten Infanterie Gebrauch, wie sie die Bürgerarmee typischerweise auszeichnete. Selbst mit einer schlecht ausgebildeten Armee war der Massenangriff leicht zu organisieren, und wenn der Feind, vor allem durch Artilleriebeschuss, niedergehalten wurde oder hinreichend demoralisiert worden war, konnte ein Bajonettangriff erfolgreich sein, wie sich bei einigen Gelegenheiten zeigte. Trotz aller Innovationen, die im Lauf des Konflikts eingeführt wurden, war der massenhafte, mit der Spitze des Bajonetts geführte Infanterieangriff bis 1918 gängige Praxis, ob man ihn nun als Ideal verstand oder nicht. Kommandeure aller Seiten betrachteten ihn bewusst als ein Mittel, um die Trägheit auf dem Schlachtfeld zu überwinden – also den Marshall-Effekt. Man könnte annehmen, dass die Nachteile des Bajonetts und des massenhaften Sturmangriffs, wie sie katastrophal verlaufene französische und britische Vorstöße im Ersten Weltkrieg offenbarten, zu einer Ablehnung des Bajonetts im Zweiten Weltkrieg geführt hätten. Viele Truppen sahen seine Schwächen. Briten und Kanadier waren den ganzen Krieg über tief besorgt über ihre Verluste, sehr zum Missmut der aggressiveren Amerikaner. In Frankreich hatte der Erste Weltkrieg die Nation und ihre Armee von jedem Wunsch nach einer offensiven Vorgehensweise geheilt; ihre Militärdoktrin des totalen Angriffs (attaque à outrance) war der einer strategischen und operativen Verteidigung gewichen.23 Bei der Vorbereitung auf den Zweiten Weltkrieg bekam das Abwehrfeuer Vorrang vor dem Manöver.24 Und doch blieb der Bajonett23 24

Eugenia C. Kiesling, Arming against Hitler. France and the Limits of Military Planning, Lawrence 1996. Robert A. Doughty, The Seeds of Disaster. The Devolopment of French Army Doctrine, 1919–1939, Hamden 1985, S. 86.

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angriff in der Militärdoktrin des westlichen Militärs im Zweiten Weltkrieg von Bedeutung. In den britischen Publikationen der 1930er Jahre verzichtete man auf naive Appelle an den überlegenen Kampfgeist, wie sie aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg vertraut waren. Die britische Armee erkannte zudem die Realitäten des modernen Schlachtfelds an: »Die Infanterie kann nicht gegen einen auch nur halbwegs organisierten Widerstand vorgehen, wenn dieser nicht durch Beschuss niedergehalten wird, und darf auch nicht gegen intakte Stacheldrahthindernisse losgeschickt werden.«25 Nichtsdestotrotz betonte die Dienstvorschrift Infantry Training, hierin der Doktrin des Ersten Weltkriegs folgend, immer noch die Wichtigkeit des Bajonetts: »Gewehr und Bajonett sind die wichtigsten Waffen des einzelnen Infanteristen. Das Erste, was ein Infanterist benötigt, ist ein Vertrauen in diese Waffen, das auf seinem Geschick in ihrem Gebrauch beruht. […] Das Bajonett ist die Waffe für den Nahkampf, und seine Verwendung oder ihre Androhung vertreibt den Feind letztlich aus seiner Stellung oder bringt ihn dazu, sich zu ergeben.«26 Nicht weniger des Lobes voll bezüglich des Bajonetts war die amerikanische Militärdoktrin. So plädierte etwa General George Patton, der ziemlich raffinierte Feuer- und Manövertaktiken entwickelte, für diese Waffe: »Nur wenige fallen durchs Bajonett, aber viele fürchten es.«27 Solche Aussagen könnten als bloße Rhetorik zur Anstachelung des Offensivgeistes erscheinen. Doch gibt es zahlreiche auf den ersten Blick unwahrscheinliche Fälle erfolgreicher Bajonettangriffe auf dem europäischen und dem pazifischen Kriegsschauplatz. Einer der berühmtesten ist der Kampf des 3. Bataillons, 502. Fallschirmjägerregiment, 101. US-Luftlandedivision, am 11. Juni 1944 auf dem Zufahrtsdamm nach Carentan in der Normandie. Ohne Deckung den deutschen Schützen ausgeliefert, verweigerten sich einzelne Soldaten dem Befehl, zurückzuschießen. Wie sich Generalleutnant Robert Cole erinnerte, war sein Bataillon dem Abwehrfeuer deutscher Stellungen rund um einen Bauernhof an der Hauptzufahrtsstraße zu Carentan ausgesetzt. Ohne Artillerieunterstützung glich Cole »einem Quarterback, 25 26 27

War Office, Infantry Training, Volume II: War, London 1931, S. 10. Ebenda, S. 13. Patton, Krieg, wie ich ihn erlebte, S. 294; Stephen Bull/Gordon Rottman, Infantry Tactics of the Second World War, Oxford 2008, S. 25.

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der über den nächsten Spielzug entscheidet«.28 Er rief zu einem seiner Majore: »Wir lassen einen Rauchvorhang schießen und stürmen dann mit aufgesetztem Bajonett!«29 Letztlich gelang es Cole jedoch nicht, all seine im Feld verstreuten Männer darüber zu informieren, dass er das Signal zum Angriff auf das Gehöft per Pfeife geben würde, sodass ihm nur 21 folgten, »ein Feldposten«.30 Ob zu Recht oder nicht, seine Soldaten beriefen sich später auf ihre Unwissenheit. Cole blieb nichts anderes übrig, als die Schützenlinie entlangzurennen und seinen Männern Schießbefehl zu erteilen. »Ich lief die Front auf und ab und brüllte ›Zum Teufel, schießt doch!‹ Aber es half wenig. Sie schossen nur, solange ich sie im Auge behielt oder wenn ein anderer Offizier über ihnen stand.«31 Die Männer zögerten auch weiterhin. »Ich fand kein Mittel, um sie zum Weiterschießen zu bringen. Nicht einer von 25 gebrauchte aus eigenem Antrieb seine Waffe.«32 An diesem Punkt befahl Cole ihnen, ihre Bajonette anzubringen und anzugreifen.33 Sein Entschluss zu einem gemeinsamen Vorgehen bewirkte tatsächlich Erstaunliches bei den Männern, die nur wenige Augenblicke zuvor jede individuelle Initiative hatten vermissen lassen: »Die Männer stürmten los und schrien sich dabei ihre Version des Rebel Yell34 aus dem Leib. Die Deutschen feuerten und mähten einige von ihnen um, aber nicht genügend. […] Die Deutschen, die den Bajonetten entgehen konnten, nahmen den Hinterausgang und flüchteten sich zu den hinteren Verteidigungslinien.«35 Coles Befehl veranschaulicht die taktischen Vorzüge des Bajonettangriffs, für die es zahlreiche weitere Beispiele gibt. Ungeachtet der Kritik von Militäranalytikern wie Liddell Hart und der scheinbaren Überalterung des Bajonettangriffs angesichts von Ma28

29 30 31 32 33 34 35

Samuel Lyman Attwood Marshall, Night Drop. The American Airborne Invasion of Normandy, New York 1986, S. 332 [in der dt. Ausgabe, Einsatz bei Nacht, nicht enthalten, Anm. d. Übers.]. Marshall, Einsatz bei Nacht, S. 310. Marshall, Night Drop, S. 334. Marshall, Soldaten im Feuer, S. 76. Ebenda, meine Hervorhebung. Gordon A. Harrison, Cross-Channel Attack, Washington 1993, S. 359. Kampfschrei konföderierter Soldaten im Amerikanischen Bürgerkrieg, Anm. d. Übers. Stephen Ambrose, Citizen Soldiers, New York 1997, S. 44f. Cole wurde für diese Aktion postum mit einer Medal of Honour ausgezeichnet; er fiel am 18. September 1944 in Holland bei der Operation Market Garden.

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schinengewehren, Artillerie und Mörsern spricht der erfolgreiche Rückgriff auf dieses Mittel im Zweiten Weltkrieg für seine fortgesetzte Befürwortung durch Militärtheoretiker und -doktrinen. Der Bajonettangriff löste das Problem der Verstreuung auf dem Schlachtfeld. Im Unterschied zu komplizierteren taktischen Manövern war er extrem einfach und erforderte kaum Übung. Zudem vereinte er die angreifenden Kräfte in einer gemeinsamen Form des Handelns, bei der jeder Soldat die anderen unterstützte und zugleich moralisch unter Druck setzte. Dem französischen Militärtheoretiker Charles Ardant du Picq war denn auch die vorteilhafte soziale Dynamik, die der Bajonettangriff in Gang setzte, voll und ganz bewusst.36 Entscheidend ist: Der Bajonettangriff vereinigte womöglich schlecht ausgebildete Soldaten zu einer »Masse« und spornte die Angreifer dadurch an. Die Mitglieder dieser Gruppe unterstützten einander moralisch und entmutigten die Zaudernden, deren Feigheit den Kameraden auffiel. Wenn Soldaten keine Möglichkeit haben, sich zu verstecken, mag das trivial erscheinen, es macht aber einen großen Unterschied in ihrer Reaktion auf das Kampfgeschehen. Du Picq beschreibt, wie abträglich es war, wenn sich die Soldaten nicht mehr gegenseitig im Blick hatten: »Die verunsicherten Männer und selbst die Offiziere sehen den Blick ihrer Kameraden oder Kommandeure, der ihnen Kraft gegeben hatte, nicht mehr auf sich gerichtet. Sie verlieren den Antrieb ihrer Selbstachtung [also der Anerkennung durch die Kameraden].«37 Der Bajonettangriff löste dieses Problem, da die Einzelnen stets der Beobachtung durch ihre Kampfgenossen ausgesetzt waren, was es ihnen sehr schwer machte, sich zu drücken. Zugleich war ein Bajonettangriff eine wirkungsvolle Demonstration für den Gegner: Er demoralisierte die Verteidiger; nicht in erster Linie deshalb, weil sie eine Verwundung durch die Bajonette fürchteten – Patronen und Granaten verursachten schlimmere Verletzungen –, sondern weil eine Streitmacht, die mit Bajonetten angriff, ihre unerschütterliche Entschlossenheit demonstrierte, zum entscheidenden Schlag auszuholen und zu töten. Angesichts dieser Zurschaustellung kollektiver Entschlossenheit behauptete Du Picq überzeugend, keine Streitkraft habe je einem Bajo-

36 37

Charles Ardant Du Picq, Battle Studies, Charleston 2006. Ebenda, S. 136.

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nettangriff standgehalten: Sobald deutlich wurde, dass der Angriff nicht zu stoppen war, fühlten sich die Verteidiger schlagartig isoliert und verwundbar; sie wussten, dass ihre Kameraden ihnen keine Deckung mehr geben konnten.38 Indem die voranstürmenden Soldaten ihre unerschütterliche Einheit demonstrierten, machten sie den Zusammenhalt ihrer Gegner zunichte. Zweifellos konnte ein solcher Angriff nur unter günstigen Umständen gelingen. In den Stellungskämpfen des Ersten Weltkriegs waren diese Bedingungen normalerweise nicht gegeben. Gegen befestigte Verteidigungspositionen, die die gegnerische Infanterie schützten und jeden Vorstoß mit Stacheldraht bremsten, war ein Bajonettangriff selbstmörderisch. Im Zweiten Weltkrieg jedoch, in dem die Bedingungen sich mitunter schneller veränderten, in dem die Verteidigungslinien oft improvisierter waren als an der Westfront und deutsche oder japanische Truppen auch einmal weniger gut vorbereitet sein konnten, weil sie abgeschnitten waren oder unter heftigem Artilleriebeschuss beziehungsweise Luftangriffen litten, konnte ein aggressiver Vorstoß nicht selten von Erfolg gekrönt sein. Angesichts des relativ geringen Ausbildungsniveaus der Truppen konnte der Sturmangriff sogar die effektivste Vorgehensweise darstellen. Wie der Zufahrtsdamm von Carentan zeigte, waren Soldaten, die keine Feuerüberlegenheit zu erlangen vermochten, womöglich bereit, gemeinsam auf einen Feind loszustürmen. Man kann den Massenangriff mit Bajonett leicht abtun. Er war extrem riskant, zugleich aber ein konkretes Instrument, um das mit dem modernen Schlachtfeld verbundene Problem der verstreuten Truppen zu lösen – eine bewährte, wenn auch schlichte und heute verspottete Maßnahme, um den Marshall-Effekt zu überwinden. Die militärische Taktik des Bajonettangriffs wurde in erster Linie entwickelt, um die vom feindlichen Feuer überzogene Todeszone so schnell wie möglich mithilfe einer Technik zu überwinden, die eine Masse oft unzureichend ausgebildeter Infanteristen tatsächlich umzusetzen verstand. Sie war mithin eine nachvollziehbare und kohärente taktische Reaktion auf ein militärisches Problem: den Marshall-Effekt. Die Militärdoktrinen bis in die 1940er Jahre und vor allem vor dem Ers38

Vgl. auch Michael Howard, »Men Against Fire. The Doctrine of the Offensive in 1914«, in: Peter Paret/Gordon Alexander Craig/Felix Gilbert (Hg.), Makers of Modern Strategy. From Machiavelli to the Nuclear Age, Princeton 1986.

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ten Weltkrieg zeigen jedoch, dass es auch augenfällige kulturelle und politische Faktoren gab, die der Armee den Bajonettangriff als ein Ideal empfahlen. Er war nicht nur eine objektive Lösung für ein taktisches Problem, sondern galt ausdrücklich auch als eine Form des Angriffs, die einer Bürgerarmee, deren Aufgabe darin bestand, ihre Nation zu verteidigen, kulturell angemessen war. Der Bajonettangriff verkörperte die Vorstellungen des Nationalismus und vereinte die Bürgersoldaten physisch zu einem Massenkörper aus Gleichen, die allesamt bereit waren, sich für das kollektive Gut ihrer Nation zu opfern. Damit war er nicht einfach nur eine taktische Lösung, sondern auch ein Ausdruck des nationalen Willens und der nationalen Verpflichtung. Im Voranstürmen erfuhren die Bürgersoldaten die egalitäre Gemeinschaft, die der moderne Nationalstaat als sein Ideal ausgab, am eigenen Leib. In der Verteidigung der nationalen Ehre waren sie als Gleiche vereint.

Individuelle Kampfhandlungen Obwohl der Bajonettangriff relativ unkompliziert war, brachte er Koordinationsprobleme mit sich. War der Vorstoß einmal in Gang, fiel es dem einzelnen Soldaten im Allgemeinen schwerer, sich zurückfallen zu lassen und zu kneifen, als weiter voranzustürmen. Allerdings mussten die Soldaten erst einmal dazu gebracht werden aufzuspringen, und wenn der Angriff so ungeplant erfolgte wie am Fahrdamm von Carentan, konnten sich einzelne, die nicht mitzogen, mit einem Hinweis auf besondere Umstände der Situation eventuell herausreden; vielleicht konnten sie mit der Behauptung davonkommen, sie hätten den Befehl nicht gehört oder aufgrund einer Verletzung oder individueller taktischer Gegebenheiten nicht befolgen können. Einzelne Soldaten reproduzierten womöglich das Problem des kollektiven Handelns39 in klassischer Weise und warteten einfach ab, um zu sehen, was alle anderen taten, bevor sie sich dem Angriff anschlossen. Genau das erlebte Generalleutnant Cole am 11. Juni 1944, als seine Män-

39

Mancur Olson, Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektivgüter und die Theorie der Gruppen, Tübingen 2004.

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ner behaupteten, sie hätten seinen Befehl nicht gehört. Wo jeder auf die Initiative des anderen wartete, kam kollektives Handeln nicht in Gang. Folglich entwickelten die Massenheere des frühen 20. Jahrhunderts, manchmal ganz unbeabsichtigt, eine zweite Technik, um ein aktives Vorgehen anzuregen. Statt das Problem des kollektiven Handelns zu lösen, versuchten die Armeen, es zu umgehen. Individuelle Initiative sollte die Trägheit der Soldaten überwinden. In vielen Fällen erfolgte die Einzelaktion völlig spontan und unerwartet. Blieb ein Angriff stecken, dann setzte ein Einzelner den Vorstoß alleine fort, schoss und warf Handgranaten auf den Feind, während seine Kameraden untätig blieben. Nun erwartete die Armeeführung, dass Truppund Zugführer an vorderster Front befehligten. Stockte ein Angriff, lag es in ihrer persönlichen Verantwortung, die Initiative zu ergreifen. So führte etwa das britische Handbuch für Militärausbilder von 1942 eine Reihe von Techniken ein, um die taktische Überlegenheit der Deutschen auf der Zug-Ebene zu überwinden, und empfahl, Nationaleigenschaften wie die individuelle Entschlusskraft im Gefecht zu nutzen. Besonders der individuelle Ansturm, also der persönliche Angriff, wurde als Mittel befürwortet, um die letzten Meter bis zur gegnerischen Stellung zu überwinden. Tatsächlich war die Förderung individueller Initiative ein fester Bestandteil der britischen Infanteriedoktrin nach dem Ersten Weltkrieg: »Wird der feindliche Beschuss so schwer, dass keine Gruppen mehr operieren können, muss der Vorstoß mit einem individuellen Ansturm fortgesetzt werden, bei dem zwei oder drei oder gar nur ein Mann aus der angreifenden Gruppe zugleich vorrücken.«40 Wurde der überwiegende Teil der angreifenden Streitkräfte von feindlichem Feuer niedergehalten, dann konnte ein einzelner Soldat alleine angreifen, um eine Stellung entscheidend zu schwächen. In Harold Leinbaughs und John Campbells Erinnerungen an ihre Erlebnisse in einer Schützenkompanie der 84. Division ist das Problem der schwachen Leistungen und Nichtbeteiligung ein ständiges Thema. Wenn sie auf organisierten deutschen Widerstand stieß, stützte sich die Kompanie üblicherweise auf Artillerie oder Panzer, oder aber eine

40

War Office, Infantry Training, Volume II: War, London 1921, S. 80.

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kleine Minderheit der Soldaten musste die Initiative ergreifen und jede Kampfhandlung einleiten, ja zu Ende führen, während der Rest der Kompanie passiv verharrte. So wurde die Kompanie beispielsweise am 24. Februar 1945 von deutschem Beschuss gefesselt, als sie über offenes Feld das Dorf Hardt angriff, und begann Verluste zu erleiden. Schließlich kam ein Panzer zuhilfe und zerstörte eine Maschinengewehrstellung. In diesem Augenblick ergriff Leutnant Masters die Initiative und führte den Schlussangriff an, bei dem er MG-Schützen tötete, die auf die Kompanie gefeuert hatten. Während Masters Zug passiv auf dem Boden lag und verzweifelt versuchte, der Aufmerksamkeit der Deutschen zu entgehen, und sogar sein Feldwebel lediglich zum Schießen auffordern, selbst aber keinen Schuss abgeben konnte, sprang der Zugführer auf und stürmte schießend auf die Feindstellung los.41 Dieser Individualismus war ein wiederkehrendes Phänomen in den Kriegen des 20. Jahrhunderts, die zwischen Wehrpflichtigenarmeen ausgefochten wurden. Alvin York und Audie Murphy sind hierfür zwei der angesehensten amerikanischen Beispiele aus dem Ersten beziehungsweise dem Zweiten Weltkrieg; an ihnen lässt sich zudem ein allgemeineres soziales Phänomen ablesen. Beide stammten aus armen Bauernfamilien, verbrachten ihre Jugend im Freien und lernten schon in jungen Jahren, zu jagen und zu schießen. Am 8. Oktober 1918 erhielt Yorks Bataillon den Befehl, Hügel 223 einzunehmen, war aber ohne Artillerieunterstützung sofort starkem feindlichem MG-Feuer ausgesetzt. York befand sich auf der äußersten linken Seite, als der Vorstoß ins Stocken geriet. Mit seinem Zug sickerte er in eine deutsche Flanke ein, um überraschend im Bereich des Lazaretts und des Stabsquartiers anzugreifen. Im folgenden Kampf erschoss York 25 deutsche Soldaten an der und um die MG-Stellung, bevor sich der Gegner ergab.42 Audie Murphys Militärakten aus dem Zweiten Weltkrieg weisen einige bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit denen Yorks auf. Er war 1943 in Nordafrika stationiert und hatte bei der Landung auf Sizilien und in der Schlacht von Anzio mitgekämpft und sich bei beiden Unternehmen ausgezeichnet. Am 25. Januar 1945 war Audie Murphy in 41 42

Harold P. Leinbaugh/John D. Campbell, The Men of Company K. The Autobiography of a World War II Rifle Company, New York 1985, S. 232. Charles Whiting, American Hero. The Life and Death of Audie Murphy, York 2000, S. 16.

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den Vogesen nahe Holtzwihr an einem Gefecht beteiligt, für das ihm die Medal of Honor des amerikanischen Kongresses verliehen wurde. Murphys 30. Infanterieregiment erhielt den Befehl, die Ortschaft einzunehmen, traf aber auf einen Gegenangriff mit Panzern und Infanterie, den Murphy im Alleingang zurückschlug, indem er das Artilleriefeuer dirigierte und anschließend mit einem schweren .50-Zoll-Maschinengewehr vom brennenden Wrack eines Jagdpanzers herab auf die Angreifer schoss.43 Es gibt zahlreiche weitere, weniger bekannte Kampfhandlungen nicht nur im Ersten und Zweiten Weltkrieg, sondern auch im Vietnam- und im Koreakrieg, die das gleiche Muster aufweisen.44 Ungeachtet gravierender Unterschiede in den äußeren Bedingungen scheinen sich die Gefechte oft durch eine dynamische Dialektik zwischen Individuum und Masse ausgezeichnet zu haben. Die Beispiele scheinen Marshalls These zu bestätigen, dass die Mehrzahl der Schützen das Schlachtfeld lediglich besetzte, während eine kleine Anzahl von Ausnahmesoldaten die Kampfhandlungen dominierte. Diese aktiven Individuen brachten den Kampf voran und überwanden das Problem des kollektiven Handelns. Bemerkenswert ist, dass sich diese individuellen Kampfhandlungen stets unter ähnlichen situativen Bedingungen zutrugen. Diese Soldaten ergriffen die Initiative, als ihr Zug unter schweren Beschuss und der Vormarsch ins Stocken geriet. Die Soldaten suchten nun Deckung, um sich zu schützen. In diesem Moment sprang ein Einzelner auf und griff die feindliche Stellung im Alleingang an. In den meisten Fällen hatte dieser Soldat einen höheren Dienstgrad oder eine Position mit größerer Verantwortung. Er war ein Offizier, Unteroffizier oder ein Spezialist für ein Waffensystem. Mit anderen Worten: Seine besondere Verantwortung für den Zug war in der Organisation anerkannt, und sowohl er als auch seine Kameraden waren sich seiner Rolle vollauf bewusst. Es bestand mithin die organisatorische Erwartung, dass er sich vorbildlich zu verhalten hatte.

43 44

Audie Murphy, To Hell and Back, New York 2002, S. 237–249. Zum Einsatz des Obergefreiten Pililaau vgl. http://www.history.army.mil/moh/koreanwar.html#pomeroy [27.2.2015]; zu dem von Oberleutnant Karl Marlantes vgl. http://militarytimes.com/citations-medals-awards/recipient.php?recipientid= 4191 [27.2.2015].

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Die individuelle Kampfhandlung erweist sich nicht nur als ein effektives Mittel, um das Problem des kollektiven Handelns in einem Massenheer zu überwinden, die formale Organisation militärischer Einheiten, bei der eine kleine Zahl ausgewählter Individuen in die Verantwortung genommen wird, fördert sie auch. Die Bürgersoldaten erwarteten, dass ihre Unteroffiziere und Offiziere die Führung übernahmen, und setzten sie dementsprechend moralisch unter Druck, wobei diese Erwartung sie wiederum in ihrer eigenen Passivität bestärkte und diese rechtfertigte. Marshall betonte den eigentümlichen Widerspruch zwischen dem virtuosen Handeln der wenigen und der Passivität der vielen, erkannte aber nicht den dialektischen Charakter dieses Gleichgewichts zwischen Masse und Individuum. Die Passivität der Masse machte individuelles Handeln notwendig, während die Erwartung, dass das Individuum die Initiative ergreifen würde, ihrerseits einer massiven Passivität Vorschub leistete, insbesondere weil die Truppen im Allgemeinen nicht gut genug ausgebildet waren, um das Problem des kollektiven Handelns durch eine vorbereitete, koordinierte Aktion in den Griff zu bekommen. Primärgruppen, deren Einigkeit auf gemeinsamen Begriffen von Männlichkeit und Volkszugehörigkeit beruhte und die ihren Mitgliedern wechselseitige Reputationspflichten auferlegten, waren offenbar gut dafür geeignet, ihre Anführer zu solchen individuellen Kampfhandlungen anzuspornen. Die Kommandeure fühlten sich verpflichtet, an vorderster Front zu stehen, wollten sie sich die Achtung ihrer Untergebenen erhalten, Loyalität und Gehorsam von ihnen einfordern und den Zusammenhalt der Gruppe wahren. Die soziale Struktur des Massenheeres, dessen taktische Fertigkeiten begrenzt waren und dessen Zusammenhalt wesentlich durch äußere soziale Faktoren erzeugt wurde, begünstigte den Individualismus als organisatorische Antwort auf die Probleme des modernen Schlachtfelds.

Fazit Infolge von Ausbildungsdefiziten verlegten sich die Bürgerarmeen des 20. Jahrhunderts üblicherweise auf den taktischen Einsatz von Massen, um dem slam-Effekt zu begegnen. Sie überwanden das Trägheitsmoment, das den Umständen der industriellen Kriegführung 307

geschuldet war, durch Bajonettangriffe oder individuelle Kampfhandlungen Einzelner, die nach allgemeiner Auffassung moralisch für die Kampfeinheit verantwortlich waren. Es wäre jedoch irrig zu glauben, die Armeen dieser Epoche hätten die mit der industriellen Feuerkraft verbundenen besonderen Probleme nur allmählich erkannt. Spätestens 1916 war allen Kriegsteilnehmern an der Westfront klar, dass sie sich auf neue Gefechtstaktiken verlegen mussten. Sie hatten inzwischen neue Feuer- und Bewegungstaktiken in lockeren Formationen entwickelt, die auf dem Infanteriezug und seinen Gruppen fußten. Die Gruppen, die mit unterschiedlichen Spezialwaffen ausgerüstet waren, sollten sich gegenseitig unterstützen, wenn sie im Schutz von Feuer und Rauch und unter Ausnutzung des Terrains in schnellen, kurzen taktischen Stößen angriffen. Die deutschen Sturmtruppen wurden berühmt für diese Vorgehensweise, die aber bald vom britischen, französischen und von anderen alliierten Heeren übernommen und ab 1916 auch in den Veröffentlichungen zur Militärdoktrin umfassend dokumentiert wurde. Die Ausarbeitung von Feuer- und Bewegungstaktiken, die den Zug und seine Gruppen in den Vordergrund rückte, war eine wichtige Neuerung. Dabei ging es vor allem darum, die am Bajonettangriff und an der individuellen Kampfhandlung so offensichtliche Dialektik von Masse und Individuum durch Teamarbeit zu ersetzen. Die drei oder vier Gruppen oder Trupps eines Zuges arbeiteten nun zusammen und stimmten ihr Feuer und ihre Bewegung im Feld aufeinander ab. Innerhalb der Gruppen versuchten die einzelnen Soldaten ebenfalls, gemeinsam zu agieren und gleichzeitig oder zur Unterstützung der anderen zu schießen und ihre Position zu verändern. Zu diesem Zweck führten alle westlichen Armeen beginnend mit dem Ersten Weltkrieg eine »Gefechtsausbildung« für ihre Infanterie ein, ein Repertoire komplexer kollektiver Verhaltensweisen, die durch feststehende Befehle oder bestimmte Szenarien automatisch abgerufen wurden. Die Truppen wurden ausgebildet, bis diese Gefechtstaktiken Routine für sie geworden waren. Die moderne Infanterietaktik zielte darauf, eine gewalttätige Masse in ein kämpfendes Team zu verwandeln. Es ist wichtig, sich die Implikationen dieses Wandels vor Augen zu führen. Wie wir sahen, stellte Marshall fest, dass die verängstigten und isolierten Infanteristen im Kampfgebiet von Trägheit übermannt wurden. Scharfsinnig registrierte er die höhere Leistung der Besatzungen 308

mannschaftsbedienter Waffen wie Maschinengewehre und Granatwerfer.45 Diese Soldaten, die in der unmittelbaren Kopräsenz ihrer Kameraden kämpften, waren nicht nur nicht allein, sondern auch einem moralischen Leistungsdruck ausgesetzt, dem sich die Gewehrschützen durch Wegducken leicht zu entziehen vermochten. Auch in der Berufsarmee ist die an den Waffenbedienmannschaften der Bürgerarmee augenfällige Teamarbeit zur gängigen Praxis der Infanteristen gemacht worden. Die moderne, seit dem Ersten Weltkrieg entwickelte Taktik zielt darauf, Schützeneinheiten auszubilden, in denen niemand mehr auf eigene Faust handelt, sondern alle in erster Linie ihre Kameraden dazu anhalten, das taktische Manöver gemeinsam auszuführen. Die Soldaten sind dazu in der Lage, weil sie genau wissen, dass ihre Kameraden sich an derselben Gefechtsausbildung orientieren. Diese ist fester Bestandteil des individuellen und kollektiven Verhaltens, der Erwartungen und Reaktionen von Berufssoldat und Zug auf dem Schlachtfeld geworden. Die professionelle Infanterie hat ihre Kampfleistung gesteigert, indem sie aus ihren Zügen und Trupps Teams gemacht hat, die wie bei einem mannschaftsbedienten Waffensystem zusammenarbeiten. Obwohl die Soldaten ihre eigenen Waffen gebrauchen, erlauben ihnen die in der Gefechtsausbildung internalisierten Abläufe, als eine einzige zusammenhängende Einheit zu funktionieren, wie eine Maschinengewehr- oder Mörser-Bedienmannschaft. Im 21. Jahrhundert hat sich die Dynamik des Gefechts entscheidend gewandelt. Die westlichen Streitkräfte sind professioneller geworden; infolgedessen gleichen ihre Kampfeinheiten heute deutlich weniger einer gewalttätigen Masse als einem hochdisziplinierten Team. Aufgrund der besseren Ausbildung und gewachsenen Erfahrung in der Berufsarmee konnten diese Truppen ihre in der Gefechtsausbildung erworbenen Routinen in Somalia, im Irak und in Afghanistan einsetzen. Sie griffen dabei im Normalfall nicht auf die Massentaktiken des Bajonettangriffs zurück und waren auch nicht von individuellen Kampfhandlungen abhängig. Die Soldaten haben die Regeln der Gefechtsausbildung vielmehr so gründlich verinnerlicht, dass sie sie selbst in den schwierigsten taktischen Situationen automatisch aus-

45

Marshall, Soldaten im Feuer; ders., Island Victory, S. 82; Glenn, Reading Athena’s Dance Card, S. 39 u. 47.

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führen.46 Sogar in den Fällen, in denen Einzelne scheinbar auf eigene Faust vorgegangen sind, wurden sie in Wirklichkeit von ihren Teamkollegen unterstützt. Die Berufssoldaten bemühen sich instinktiv darum, die Lektionen ihrer Gefechtsausbildung zusammen mit ihren Kameraden umzusetzen, was zu einer ganz anderen Dynamik auf dem zeitgenössischen Schlachtfeld führt. Die Masse ist durch das Team ersetzt worden. In vielerlei Hinsicht führte die Aufstellung von Berufsarmeen zu einer Veränderung jener kollektiven Dynamik, die Randall Collins in der Kriegführung – und allgemeiner in gewalttätigen Menschenmengen – am Werk sah. Für Collins sind Konflikte in der Tat zumeist von Bluff und Inkompetenz geprägt – der praktisch überall auf der Welt anzutreffenden Kriegermythen zum Trotz. Jedoch haben die umfassendere Ausbildung und Einübung von Routinen die Anfälligkeit der Soldaten für jene grobe Stümperhaftigkeit verringert, die Collins beschreibt. Auch Paniken – Flucht- wie Vorwärtspaniken – sind weniger wahrscheinlich; die Soldaten haben die militärische Disziplin und die Abläufe individuell und kollektiv so verinnerlicht, dass sie im Gefecht handlungsfähig bleiben und unmittelbarere Instinkte unterdrücken. Gleichwohl wäre es falsch zu meinen, Collins’ Begriff sei für das Schlachtfeld im 21. Jahrhundert völlig irrelevant. Auch hier scheint es offensichtlich Vorwärtspaniken zu geben, nur in anderer Form. Es gibt (einige wenige) Beispiele für Angriffe, die sowohl exzessiv als auch diszipliniert waren. So attackierte und säuberte am 19. November 2005 im irakischen Haditha ein Zug der US-Marines in Reaktion auf einen tödlichen Sprengstoffanschlag mehrere Häuser, in denen sie die für den Anschlag verantwortlichen Aufständischen wähnten. Die Marinesoldaten gingen diszipliniert, aber aggressiv nach ihrer Gefechtsausbildung vor, warfen Granaten und feuerten in ein Zimmer nach dem anderen. In ihrer offensichtlichen Erregung über den Tod eines Kameraden machten sie unglücklicherweise keinen Unterschied zwischen Zivilisten und Feinden und töteten 24 unbewaffnete Männer, Frauen und Kinder.47 Die kollektive Dynamik der militärischen Gewalt – und 46 47

Vgl. King, The Combat Soldier, Kapitel 8, 9 und 10. http://www.theguardian.com/world/2012/jan/03/us-marine-trial-iraq-killings [21. 6. 2015].

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das Wesen der Vorwärtspanik – mögen sich verändert haben. Aber bewaffnete Truppen sind nach wie vor in der Lage, massenhaft Gewalt anzuwenden. Aus dem Englischen von Michael Adrian

311

Felix Schnell

Von dörflicher Selbsthilfe zur paramilitärischen Miliz Spontane Vergemeinschaftung durch Gewalt im Russischen Bürgerkrieg (1918)

Gegenstand dieses Beitrags ist ein Typ spontaner Vergemeinschaftung durch Gewalt, der einen Grenzfall von »Gewaltmassen« darstellt: Denn kollektive bäuerliche Gewalt im Zarenreich war weniger spontan und zugleich habitualisierter als in anderen Beispielen dieses Sammelbandes. Die Menschen dieser Gewaltmassen kannten sich und die ungeschriebenen Regeln, nach denen sie handelten. Der Übergang von einer solchen Praxis bäuerlicher Selbsthilfe zur Bildung paramilitärischer Milizen war während des Russischen Bürgerkrieges ein häufiges Phänomen in dörflichen Kontexten.1 Typisch für die Peripherie des ehemaligen Russischen Imperiums in den Jahren 1917/18 waren die Ereignisse in dem Fallbeispiel, das im Folgenden vorgestellt und analysiert wird.2 Unter dem Druck äußerer Bedrohungen wurden traditionelle dörfliche Handlungsmuster an eine neue Situation angepasst. Man könnte auch sagen: hidden transcripts dörflichen Gemeinschaftshandelns, die in der einen oder anderen Art und Weise mit kollektiver Gewaltorganisation verbunden waren, wurden »umgeschrieben«, und damit auch die traditionelle soziale Ordnung des Dorfes.3 Neue Hier1 2 3

Stathis Kalyvas, The Logic of Violence in Civil War, Cambridge 2006, S. 107–109. Ausführlich dazu Felix Schnell, Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine, 1905–1933, Hamburg, 2012, S. 238f. Zum Begriff des hidden transcript vgl. James C. Scott, Weapons of the Weak: Everyday Forms of Peasant Resistance, New Haven u.a. 1985, S. 284f. Scott hat allerdings die Dominanz gewaltlosen respektive passiven Widerstands betont. In Russland spielte physische Gewalt in der Unterschichtenkultur und -kommunikation mit der Obrigkeit eine größere Rolle. Vgl. Laura Engelstein, »Weapon of the Weak (Apologies to James C. Scott). Violence in Russian History« in: Kritika 4 (2003), 3, S. 679–693.

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archien und Gruppierungen entstanden: Auf der Grundlage traditionell verankerter Gewöhnung an gewaltsame Selbsthilfe entwickelte sich in kürzester Zeit eine milizartige Gruppe, die sich verselbstständigte, das dörfliche Autoritätsgefüge umwarf und eine neue Ordnung errichtete. Gewalt, die Bedrohung durch Gewalt anderer, aber auch die Gewalterfahrungen der Akteure selbst spielten dabei eine entscheidende Rolle: Sie suspendierte die überkommenen dörflichen Verhältnisse, die in Zeiten relativen Friedens zu den stabilsten und beharrlichsten des Zarenreiches überhaupt gehörte. Denn physische Gewalt hat die Eigenschaft, nicht ohne Weiteres ignoriert werden zu können.4 Das galt vor allem für die massive Form, in der sie Dorfbewohnern des russischen Imperiums während des Bürgerkriegs gegenübertrat. In den ersten beiden Abschnitten werden Konstanten der gewalttätigen dörflichen Selbsthilfe-Kultur einerseits und die Auswirkungen von Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg andererseits skizziert. Im dritten Abschnitt wird beispielhaft die Eigendynamik eines Gewaltprozesses gezeigt, bei dem es zum Übergang von relativ spontaner Aktion einer Gewaltmasse zu kollektiver Selbstorganisation und der Bildung einer paramilitärischen Gruppe kommt, die die Akteure und ihre Handlungsweisen stark veränderte.

Gewalttätige Selbsthilfe im russischen Dorf Dörfliche Gemeinschaften lebten im Russischen Zarenreich in der Regel in »staatsfernen Räumen«.5 »Staatsferne« ist hier gemessen an den Ansprüchen moderner Staatlichkeit, die sich mit Begriffen des Gewaltmonopols und weitreichender Durchherrschung der Gesellschaft verbinden: Der Staat respektive seine Vertreter sollen in der Lage sein, Recht und Ordnung sowie Ansprüche des Staates flächendeckend durchzusetzen, aber auch für die Bevölkerung als Beschützer und Mediatoren zugänglich und anerkannt sein. Hierbei handelt es sich um eine Idealvorstellung, der sich selbst entwickeltere Regionen Mittel-, West- und Nordeuropas allenfalls im Laufe des 19. Jahrhunderts annä4 5

Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, Tübingen 1992, S. 43. Jörg Baberowski, Der Rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003, S. 19f.

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herten.6 Aber Herrscher und Bürokratie des Zarenreiches hatten diese Ansprüche und seit Peter dem Großen einen Staatsapparat aufgebaut, der zu ihrer Umsetzung nach westeuropäischen Vorbildern gestaltet war und bis ins 20. Jahrhundert immer weiter nach unten ausgedehnt werden sollte. Eingelöst werden konnten diese ehrgeizigen Ansprüche allen Bemühungen zum Trotz allerdings nie, nicht einmal im europäischen Teil des Imperiums. Selbst hier waren die Entfernungen zu groß, die personellen und materiellen Ressourcen zu knapp.7 Das moderne, europäische Russland existierte in den Zentren der Metropolen und auf manchen Adelssitzen in der Provinz, wenige Kilometer jenseits der St. Petersburger oder Moskauer Stadtgrenze aber begann eine andere Welt, die noch im frühen 20. Jahrhundert größtenteils nach anderen Regeln lebte.8 Das in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts reformierte Justizwesen brachte staatliches Recht zwar zunehmend in die Provinz, und Bauern gewöhnten sich durchaus daran, vor staatlichen Richtern ihr Recht zu suchen.9 Das taten sie aber vor allem, wenn es auf anderem Weg nicht ging. Die staatlichen Institutionen blieben gewissermaßen alternative und mit dem bäuerlichen Gewohnheitsrecht konkurrierende Ordnungssysteme. Im Zweifelsfall war Letzteres im dörflichen Alltag maßgeblich. Das lag zum einen daran, dass dieses Gewohnheitsrecht in Sitte und Brauch eingelassen war, aber auch daran, dass es kaum jemanden gab, der das staatliche Recht hätte durchsetzen können. Um die Jahrhundertwende verfügte das Zarenreich im europäischen Teil gerade einmal über wenige Tausend Polizisten, die sich in der Weite des Territoriums wie Nussschalen auf einem Ozean verloren.10

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Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 818ff., bes. S. 820. Die Verhältnisse in Lateinamerika bieten eine interessante Parallele zu diesen »staatsfernen« Verhältnissen. Vgl. Michael Riekenberg, Staatsferne Gewalt: Eine Geschichte Lateinamerikas (1500–1930), Frankfurt 2014, S. 14f. u. 33–41. Carsten Goehrke, Russischer Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 2, Auf dem Weg in die Moderne, Zürich 2003, S. 252ff. Jane Burbank, Russian Peasants Go to Court: Legal Culture in the Countryside, 1905–1917, Bloomington 2004, S. 265f. Neil B. Weissman, »Regular Police in Tsarist Russia, 1900–1914«, in: Russian Review 44 (1985), S. 45–68.

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Seine eigene Ordnung konnte der Staat nur nachträglich durchsetzen, wenn sie massiv missachtet oder infrage gestellt worden war. Dafür wiederum mussten die Gouverneure regelmäßig auf militärische Kontingente zurückgreifen.11 Diese exekutive Schwäche bedeutete aber auch, dass der Staat kaum etwas zum Schutz der eigenen Untertanen anzubieten hatte. Wurde einem Bauer das Vieh von der Weide getrieben oder das Pferd aus dem Stall geholt, wäre der Ruf nach staatlichen Ordnungshütern ungehört verhallt, denn sie befanden sich bestenfalls eine halbe Tagesreise entfernt in der nächsten Kleinstadt. Abgesehen davon sahen die Bauern Vertreter des Staates in der Regel lieber von hinten: Mit diesen kamen in der Regel Unannehmlichkeiten auf sie zu, sei es aus positivem staatlichen Recht abgeleitete Forderungen, die die Bauern auf Grundlage ihrer eigenen Rechtsvorstellungen nicht anerkannten, sei es wegen ausstehender Steuern oder Rekrutenaushebungen. Überdies waren bei Begegnungen mit niederen Beamten des Staates in der Regel »Geschenke« fällig, um größere Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Es gab im späten Zarenreich zwar immer mehr Gelegenheiten, bei denen es sich auch für Bauern lohnte, die Nähe des Staates und seiner Vertreter zu suchen.12 Es gab aber immer noch mehr Gründe, sie zu fliehen. Deshalb taten die Bauern in der Regel auch nicht unwillig, was sie den Umständen entsprechend ohnehin seit Jahrhunderten tun mussten: die eigenen Angelegenheiten nach den eigenen Normen regeln, vor allem aber auch selbst für Ruhe, Sicherheit und Ordnung sorgen. War ein Mitglied der Dorfgemeinschaft oder das Dorf im Ganzen in Gefahr – was mehr oder weniger auf dasselbe hinauslief –, dann läutete man die Glocke der Dorfkirche, woraufhin sich die Männer versammelten und Gegenmaßnahmen ergriffen. All dies hatte nicht nur praktische Funktion: In der kollektiven Aktion vergewisserte sich die Dorfgemeinschaft auch ihrer selbst, sie reproduzierte sich gewissermaßen als Sozium. Oft blieb es dann aber nicht bei Abwehrmaßnahmen. Die Bauern nahmen in vielen Fällen auch das Recht, konkret: die Bestra11 12

William C. Fuller, Civil-Military Conflict in Imperial Russia, 1881–1914, Princeton 1985, S. 100f. Corinne Gaudin, Ruling Peasants. Village and State in Late Imperial Russia, DeKalb 2007, S. 207.

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fung der Delinquenten in die eigenen Hände. Das geschah zum einen, weil Abwehr und Bestrafung situativ schwer trennbare Prozesse waren, zum anderen aber auch weil die Normen des staatlichen Rechts in vieler Hinsicht nicht zum Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden der Bauern passten. So war Pferdediebstahl nach staatlichem Recht ein Eigentumsdelikt, dessen Schwere sich nach dem Wert des Diebesguts richtete und mit Gefängnisstrafe geahndet wurde. Diese Strafe war aus bäuerlicher Perspektive wegen der ökonomischen und ideellen Bedeutung von Pferden aber viel zu mild. Außerdem wurde sie an einem fernen Ort und für die Bauern gewissermaßen »unsichtbar« verbüßt. Sie tendierten daher zu einer unmittelbaren und nachhaltigen physischen Bestrafung vor Ort, die den Delinquenten nicht selten verstümmelte, des Öfteren auch das Leben kostete.13 Zwar war diese Art Selbstjustiz (samosud) nicht an der Tagesordnung, und es kam auch vor, dass Bauern Diebe und Räuber den staatlichen Behörden überstellten.14 Sie war aber ein integraler Bestandteil der dörflichen Ordnung, in der sich die Schwäche des Staates und bäuerliche Überlebensstrategien spiegelten. Nicht nur im Falle des samosud, sondern auch in der Kommunikation mit adligen Gutsbesitzern oder Vertretern der Staatsgewalt war disziplinierte, organisierte und wohl dosierte, den Umständen entsprechend abgestufte kollektive Gewalt ein fester Bestandteil der bäuerlichen Kultur – vor allem in der Form der Androhung von Gewalt und inszeniertem Furor eines »Weiber-Aufstands« (ba’bi bunty).15 Diese geradezu choreografierten und standardisierten Kommunikationsformen überbrückten die Differenz von Staats- und Gewohnheitsrecht, obrigkeitlicher und dörflicher Ordnung. Mancher Gutsbesitzer arrangierte sich lieber mit benachbarten Bauerndörfern, als stur sein »positives« Recht einzufordern, weil der Staat ihm keinen ausreichenden unmittelbaren Schutz gewähren, sondern nur nachträgliche und unter Umständen zu späte Vergeltung garantieren konnte. Gewalt war

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Stephen S. Frank, Crime, Cultural Conflict, and Justice in Rural Russia, 1856–1914, Berkeley 1999, S. 299 u. 311; Goehrke, Auf dem Weg in die Moderne, S. 257. Boris N. Mironov, Social’naja Istorija Rossii Perioda Imperii (XVIII–naˇcalo XX v.). Genezis liˇcnosti, demokratiˇceskoj sem’i, graˇzdanskogo obˇscˇ estva i pravovogo gosudarstva. V dvuch tomach, SPb. 2003, Bd. 2, S. 70. Lynne Viola, »Ba’bi bunty and Peasant Women’s Protest during Collectivization«, in: Russian Review 45 (1986), S. 23–42.

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daher auch ein wichtiges Mittel der Aushandlung im ländlichen Russland.16 All das bedeutet nicht, dass die bäuerliche Kultur durchweg von Gewalt geprägt gewesen wäre – Gewalt war ihr aber durch vielfältige hidden transcripts kollektiven Verhaltens eingeschrieben. Das und der Umstand, dass die Bauern den Staat im Alltag ohnehin substituiert hatten, sorgten dafür, dass der Zerfall des Staates die Handlungsfähigkeit der Bauern kaum beeinträchtigte und sie im Grunde gut auf die Zeiten der Revolutions- und Bürgerkriegswirren vorbereitet waren.

Das russische Dorf und der Erste Weltkrieg Die Hauptlasten des Weltkriegs trugen die Bauern des Imperiums. Die meisten jungen arbeitsfähigen Männer wurden zum Militärdienst eingezogen, viele kamen nie zurück.17 Im Dorf blieben die Jüngeren und die Alten, Frauen und Kinder. Dazu kamen Teuerungen, gegen Ende des Krieges auch staatliche Beschlagnahmungen von Getreide und anderen Nahrungsmitteln.18 Zusätzlich war der Erste Weltkrieg eine Phase beispielloser unfreiwilliger Mobilität innerhalb des Imperiums. Aus dem Kampfgebiet der westlichen Provinzen flohen Tausende oder wurden ins Landesinnere deportiert. »A whole Empire walking« fasste Peter Gatrell diesen Zustand griffig zusammen.19 Mobilität und Armut machten selbst abgelegene Dörfer in der russischen Provinz unsiche-

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Als »Feilschen mit der Gewalt« bezeichnet das: Walter Sperling, Der Aufbruch der Provinz: Die Eisenbahnen und die Neuordnung der Räume im Zarenreich, Frankfurt/New York 2011, S. 350–404, bes. S. 365. Technische Unterlegenheit, mangelnde schlechte Führung und rücksichtsloser Umgang mit den eigenen Soldaten führten zu hohen Verlusten der zarischen Armee. Vgl. Dietrich Geyer, Die Russische Revolution. Historische Probleme und Perspektiven, Stuttgart u.a. 1968, S. 55f. Forcierte Getreidebeschaffung wird meistens als eine genuin bolschewistische Maßnahme begriffen, ist aber, wenn auch weniger systematisch und brutal, auch in der späten Kriegszeit bereits von der zarischen Regierung angewendet worden. Vgl. Peter Holquist, »Violent Russia, Deadly Marxism? Russia in the Epoch of Violence, 1905–1921«, in: Kritika 4 (2003), 3, S. 627–652, hier: S. 640. Peter Gatrell, A whole Empire Walking. Refugees in Russia during World War I, Bloomington 1999, S. 15ff.

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rer. Nicht zuletzt trugen desertierte Soldaten ab dem zweiten und dritten Kriegsjahr zunehmend dazu bei.20 Das russische Reich versank bis 1917 im Inneren nicht im Chaos, aber die Autorität der Regierung und ihre Mittel, die Ordnung aufrechtzuerhalten, schwanden beinahe im selben Maße, in dem die Probleme zunahmen. Die urbanen Zentren waren davon allerdings weit schwerer betroffen als das Dorf. Wo Eliten und Unterschichten miteinander konfrontiert und die Repräsentationen des Imperiums konzentriert waren, kam es zu Streiks, Ausschreitungen und Pogromen.21 Auf dem Lande war das Leben schwieriger geworden, aber vergleichsweise ruhig geblieben. Deshalb stellte die Februarrevolution für das Dorf in vielerlei Hinsicht keinen großen Bruch dar. Die Abdankung des Zaren und die Abschaffung der Monarchie mochte den Vorstellungshorizont vieler Bauern zwar überschreiten, aber die Zeiten, in denen der Glaube an den »guten Zaren« zur mentalen Grundausstattung des »Muschiks« gehörte, begannen spätestens seit der Ersten Russischen Revolution im Jahre 1905 der Vergangenheit anzugehören.22 Die Bauern hatten überdies andere Sorgen. Allerdings versprach die Revolution die Lösung der »Landfrage« und stellte die Übernahme adligen Grund und Bodens in Aussicht. Nicht zuletzt deshalb beeilten sich viele BauernSoldaten im Jahre 1917, nach Hause zu kommen: Sie wollten bei der Verteilung des Gutslandes nicht zu spät und zu kurz kommen.23 Für die politische Zukunft des Landes interessierten sich die meisten weniger, obwohl viele frontowiki von revolutionärer Agitation an der Front beeinflusst waren. Von der Front brachten viele Bauern-Soldaten nicht nur Gewalterfahrungen, sondern auch Waffen und Ausrüstung in großer Zahl mit. Zum guten Teil geschah das weniger, um sie zu benutzen, sondern aus ökonomischen Gründen: Waffen und Munition waren meistens die einzigen Wertgegenstände, die die Männer von der Front mitnehmen

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Joshua A. Sanborn, »Unsettling the Empire: Violent Migrations and Social Disaster in Russia during World War I«, in: The Journal of Modern History 77 (2005), 6, S. 290–324, hier: S. 321. Eric Lohr, »Patriotic Violence and the State: the Moscow Riots of May 1915«, in: Kritika 4 (2003), 3, S. 607–626. Goehrke, Auf dem Weg in die Moderne, S. 419f. Rex A. Wade, The Russian Revolution, 1917, Cambridge 2005, S. 135–141.

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konnten und die gegebenenfalls zu Geld gemacht oder gegen Waren eingetauscht werden konnten. Jedenfalls gelangten auf diese Weise große Mengen von Gewehren, teilweise sogar Maschinengewehren, im Extremfall Feldkanonen in die Dörfer, wo sie im Verborgenen gehortet wurden. In der Tat entwickelte sich während des Bürgerkrieges ein eigener ländlicher Waffenmarkt, über den sich verschiedene »Gewaltunternehmer«, kleinere und größere Warlords oder Anführer von Banden, versorgten, die meistens Krieg auf eigene Rechnung führten.24 Neben Waffen, kriegserfahrenen Männern und Erfahrungen kamen im Laufe der Jahre 1917 und 1918 aber auch Personen in die Dörfer, die man als »Gewaltexperten« bezeichnen kann: Viele adlige Offiziere, die nicht emigrieren konnten oder wollten, flohen in jener Zeit vor der Verfolgung der Bolschewiki auf die Dörfer. Grund dafür hatten sie allemal, denn der »Rote Terror«, nicht zuletzt in seiner wilden, provinziellen Spielart, wütete gegen alle Repräsentanten des zarischen Systems, vor allem aber gegen jede Art von »Epauletten-Trägern«.25 Sie kamen oft mit nichts als dem, was sie auf dem Leibe trugen, und ihrer Dienstwaffe zu den Bauern. Letztere empfingen diese Leutnante oder auch Hauptleute keineswegs mit offenen Armen, zumal viele Bauern-Soldaten an der Front unter Arroganz, Brutalität, aber auch Inkompetenz ihrer Kommandeure gelitten hatten und der Zerfall der Ranghierarchie in der Armee ihre erste wirkliche Befreiung gewesen war. Meist mussten sich diese Flüchtlinge als Lehrer oder Schreiber verdingen und wurden leidlich geduldet. Das änderte sich aber in dem Moment, als Dörfer sich gegen massivere Angriffe zur Wehr setzen mussten, als sie in der Vergangenheit von kleineren Räuberbanden vorgetragen worden waren, und plötzlich militärische Kompetenz gebraucht wurde oder für die Bauern zumindest attraktiv war. Der Krieg, vor allem aber die sich anschließenden revolutionären Wirren hatten vieles auf dem Dorf verändert: die Umwelt, die Menschen und die Möglichkeiten. Im Jahre 1918 wurde der Staat, diesmal in bolschewistischer Façon, weitaus zudringlicher, als es der zarische je

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Schnell, Räume des Schreckens, S. 209. Baberowski, Der Rote Terror, S. 34, 40–44; Donald J. Raleigh, Experiencing Russia’s Civil War: Politics, Society, and Revolutionary Culture in Saratov, 1917–1922, Princeton 2002, S. 255ff. Douglas Smith, Former People: The Final Days of the Russian Aristocracy, New York 2012, S. 129–150.

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gewesen war. Aber die Bolschewiki waren nicht die Einzigen, die versuchten, ihre Autorität auf dem Lande zur Geltung zu bringen. Auch die anderen Bürgerkriegsparteien brauchten das Getreide der Bauern, Pferde für die eigenen Truppen oder wollten zumindest sicherstellen, dass materielle Ressourcen nicht dem Gegner in die Hände fielen. Die imperiale Peripherie war ein Kampffeld verschiedener staatlicher oder quasi-staatlicher Akteure und schließlich auch von immer stärker und größer werdenden Banden. 1918 konnte niemand wissen, wer sich schließlich durchsetzen würde, am wenigsten die Bauern in abgelegenen Dörfern wie Chvorostan. Sie waren nicht nur isoliert, sondern auch weitgehend auf sich gestellt, oft kamen sogar Konflikte mit anderen Dörfern hinzu, die nun in einer Situation bar jeder Staatsgewalt ganz anders ausgetragen werden konnten als früher.26 Die Bedrohungen und Zudringlichkeiten nahmen zu, aber auch die Ressourcen für militante Abwehrmaßnahmen waren größer geworden.

Eine Fallstudie: das Dorf Chvorostan im Sommer 1918 Chvorostan liegt im damaligen Gouvernement Woronesch, etwa 50 Kilometer südlich der gleichnamigen Stadt, nicht weit vom Don – für damalige Verhältnisse im Nirgendwo. Die Region war relativ weit entfernt von Moskau und bereits früh ein umkämpftes Gebiet gewesen. In der Stadt Woronesch konnten die Bolschewiki relativ leicht Fuß fassen, weil viele Soldaten in der Stadt waren, die sich in der Regel leicht radikalisieren und gegenüber moderateren Parteien für die Sache der Bolschewiki mobilisieren ließen.27 Generell hatten die Bolschewiki ihre Machtbasis in den Städten, deren Unterschichten ihre klassische politische Klientel darstellte und aus denen sich die Bolschewiki in der Regel rekrutierten. Auf dem Lande hatten eher die Sozialrevolutionäre Rückhalt, die ein agrarrevolutionäres Programm verfolgten und auf dem Dorfe viel präsenter waren. Zwar hatten die Bolschewiki im Laufe des Jahres 1918 große Teile des ehemaligen zarischen Imperiums er26 27

Vgl. dazu den »Krieg« zwischen den Dörfern Bosovka und Botvinovka in: Schnell, Räume des Schreckens, S. 218–223. Stefan Karsch, Die bolschewistische Machtergreifung im Gouvernement Voroneˇz (1917–1919), Stuttgart 2006, S. 86.

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obert, gerade an der Peripherie aber alles andere als stabile Herrschaftsverhältnisse errichtet.28 Es kam dazu, dass sich weiter südlich die antirevolutionäre »Don-Republik« konstituiert hatte, die genauso wie die Bolschewiki versuchte, ihren Herrschafts- und Kontrollanspruch durchzusetzen und auszudehnen. Der Krieg, der hier geführt wurde, war eines der ersten großen blutigen Kapitel des Russischen Bürgerkrieges, der langfristig mit der Zerschlagung der Don-Republik und der »Dekosakisierung« der Region durch die Bolschewiki endete.29 Kurzfristig war er jedoch der Ausgangspunkt der ersten großen weißen Offensive unter General Denikin im Jahre 1919, in deren Verlauf auch Woronesch erobert wurde. Michail Scholochow setzte dieser Periode mit »Der stille Don« ein literarisches Denkmal.30 Im Sommer 1918 konnte nicht die Rede davon sein, das die Bolschewiki die Region um Woronesch kontrollierten, aber ihre Stützpunkte waren zumindest näher gelegen als die der Kosaken, und sie hatten vor Ort größere militärische Ressourcen zur Verfügung. Eines der größten Probleme der Bolschewiki in dieser Zeit war die Versorgung ihrer Machtbasen in den Städten mit Nahrungsmitteln, vor allem Getreide. Infolge des Krieges und des Zusammenbruches der Leichtindustrie waren die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Stadt und Dorf fast vollständig zum Erliegen gekommen, denn die Städte hatten den Bauern nichts für deren Produkte anzubieten. Die Bauern waren ihrerseits nicht auf die Städte angewiesen, weil sie die meisten Dinge ihres alltäglichen Gebrauches bis hin zu Werkzeugen auch selbst herstellen konnten. Obwohl die Bauern in den letzten vorrevolutionären Jahrzehnten durchaus städtische Fertigwaren schätzen gelernt hatten, waren sie nach wie vor zu traditioneller Subsistenzwirtschaft in der Lage und begannen, sie schon während des Krieges zu praktizieren, als Konsumgüter zunehmend rar wurden. Folglich produzierten viele Bauern nur noch für den Eigenbedarf. Kurz: Die Bolschewiki brauchten die Bauern – umgekehrt galt das nicht. Die Zeit nach der Revolution war im Grunde eine Hochzeit der Bauernge-

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Evan Mawdsley, The Russian Civil War, Edinburgh 2008, S. 40f. Peter Holquist, Making War, Forging Revolution: Russia’s Continuum of Crisis, 1914–1921, Cambridge 2002, S. 166ff. Michail A. Scholochow, Der stille Don, Berlin 1947. Im Original: Michail A. Sˇolochov, Tichij Don, Moskau 1928–1940.

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meinde, weil sie jetzt praktisch die unangefochtene Autorität auf dem Lande war. Traditionelle Vorstellungen »bäuerlicher Freiheit« (volja) von äußerer Bevormundung durch Obrigkeit und Städter konnten für eine kurze Zeit Wirklichkeit werden.31 Die Bolschewiki versuchten, der damit verbundenen Probleme Herr zu werden, indem sie den sogenannten Kriegskommunismus ausriefen, eine Politik, die forcierte Getreiderequirierung mit revolutionärer Umgestaltung des Dorfes kombinieren sollte. Nicht erst Stalin wollte die Bauern kollektivieren – bereits unter Lenin sollten »Dorfarmutskomitees« den vermeintlich auf dem Dorfe tobenden Klassenkampf befeuern und zum Sieg der bäuerlichen Proletarier über die »Kulaken« und zur Bildung von Kolchosen führen.32 Diese Seite des Kriegskommunismus scheiterte noch kläglicher als die erste Phase des zweiten, letztlich erfolgreichen Anlaufs zu Beginn der dreißiger Jahre. Die andere Seite wiederum führte zu einem blutigen Kleinkrieg zwischen Bauern und bolschewistischen Getreidebeschaffungsbrigaden, der von allen Teilkonflikten des Bürgerkrieges am längsten währte, mit einer Niederlage der Bolschewiki endete und Lenin 1921 schließlich zum Einlenken und zur Verkündung der »Neuen ökonomischen Politik« bewog.33 Vier Jahre zuvor war man davon aber noch weit entfernt, und fast überall zogen fanatisch überzeugte oder zynische Genossen optimistisch auf die Dörfer, um gestützt auf »Agitprop« oder ihre Maschinengewehre die Revolution mit Brot zu versorgen – so auch im Juni 1918 im Dorf Chvorostan. Was dort in den folgenden Wochen geschah, erfahren wir nur aus einer Hand: derjenigen eines gewissen Hauptmanns Popov, der am Aufstand und seinen wesentlichen Ereignissen direkt beteiligt war. Er schrieb seine Erinnerungen an den russischen Bürgerkrieg im Jahre 1927 im bulgarischen Pernik nieder.34 Zusammen mit ihm taten das 31

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Teodor Shanin, The Roots of Otherness. Russia’s Turn of Century, 2 Bde., New Haven 1985–1986, Bd. 1: Russia as a »Developing Society«, Bd. 2: Russia 1905–1907: Revolution as a Moment of Truth, hier: Bd. 2, S. 120ff. Silvana Malle, The Economic Organisation of War Communism 1918–1921, Cambridge u.a. 2002, S. 396ff. u. 414ff. Vladimir N. Brovkin, Behind the Front Lines of the Civil War. Political Parties and Social Movements in Russia, 1918–1922, Princeton 1994. GARF (Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii/Staatsarchiv der Russischen Föderation), f. 5881, op. 2, d. 575, Popov, A. V., »Vosstanie krest’jan v 1918 godu v

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auch einige andere Emigranten, die es offensichtlich nicht geschafft hatten, in die besseren Zentren der russischen Emigration nach Paris, Berlin oder Prag zu gelangen. Es handelt sich um Personen, die durch die Revolution alles außer ihren Erinnerungen verloren hatten und Mitte der 1920er Jahre offensichtlich den Plan fassten oder von dritter Seite angehalten wurden, Zeugnis über ihre Kampfzeit abzulegen. Wenn Popovs Darstellung grundsätzlich glaubwürdig erscheint, dann vor allem deshalb, weil diese anderen Emigranten recht ähnliche Geschichten aus ihrer Heimat erzählten.35 Außerdem passen viele seiner Aussagen zu dem, was wir über die Vorgänge in der Großregion wissen. Schließlich handelt es sich bei Popovs Text um eine weitgehend »nackte«, sparsame Darstellung, die zweifellos parteiisch, aber sehr faktenorientiert ist. Selbstredend ist auch dieser Text nur eine Interpretation, zumindest aber eine, die an den Fragen, die hier an den Text gerichtet werden, kein Interesse hatte.

Die Bolschewiki kommen Es waren ungefähr 100 Mann, die unter Leitung eines Kommissars und ausgerüstet mit vier Maschinengewehren im Juni 1918 in Chvorostan einzogen.36 Ein solch massives Aufgebot demonstrierte, dass die Bolschewiki mit Widerstand rechneten, wog sie aber auch in falscher Sicherheit, wie sich im Folgenden zeigte. Der Anführer, ein Kommissar, baute sich auf dem Dorfplatz auf und hielt eine Rede. Zunächst versuchte er die Bauern davon zu überzeugen, dass sie Opfer für die Revo-

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Voroneˇzskoj gubernii po reke Chvorostani. Vospominanija« (Der Aufstand der Bauern im Jahre 1918 im Gouvernement von Woronesch am Fluss Chvorostan. Erinnerungen), Bl. 1–15. Im Folgenden: Popov, Vosstanie. Dafür gibt es im Fond 5881 des russischen Staatsarchives, in dem Memoiren der »weißgardistischen Emigration« gesammelt wurden, die offenbar 1944/45 der Roten Armee in die Hände fielen, eine ganze Reihe von Beispielen. Große Parallelen bestehen etwa zu dem Bericht des Hauptmanns Radˇcenko, der 1918 ukrainische Bauern in den Aufstand gegen die deutschen Besatzungstruppen führte. Vgl. Felix Schnell, »Ukraine 1918: Besatzer und Besetzte im Gewaltraum«, in: Jörg Baberowski/ Gabriele Metzler (Hg.), Gewalträume: Soziale Ordnungen im Ausnahmezustand, Frankfurt am Main 2012, S. 135–168. Popov, Vosstanie, Bl. 1.

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lution bringen und ihr Getreide zur Versorgung der Arbeiter und Roten Armee abgeben müssten. Die erste Reaktion der Bauern fiel negativ aus. Darauf beschuldigte der Kommissar die Bauern, wie »Weißgardisten und Konterrevolutionäre« zu reden. Die Bauern eben als solche zu behandeln, war die damit verbundene unverhohlene Drohung. Letztere lenkten ein, forderten aber Fertigwaren im Austausch für ihr Getreide. Da der Kommissar nichts Entsprechendes anbieten konnte und sah, dass im Guten nichts zu erreichen war, verlegte er sich auf die Androhung von Gewalt. Er befahl den Bauern, innerhalb von zwei Stunden das Getreide zu übergeben. Bis dahin verteilte er seine Männer zur Verpflegung auf die einzelnen Höfe und begab sich selbst zum Dorfpopen.37 Offenbar hatte der Kommissar kein Gefühl für die Gefahr, die ihm und seiner Brigade drohte, da Letztere zahlreich und stark bewaffnet, vor allem aber weil die Versammlung relativ ruhig vonstatten gegangen war. Im Hintergrund allerdings war die Situation alles andere als ruhig. Dazu trug in erster Linie der Dorflehrer, ein Mann namens Krasikov bei, der mehrere Bauern nach der Versammlung beiseite nahm und sie zum Widerstand zu überreden versuchte. Krasikov war Unterleutnant in der zarischen Armee gewesen.38 Ob er ein Flüchtling oder ein Mitglied der Dorfgemeinschaft war, geht aus der Quelle nicht hervor. Während des Krieges hatten es auch einfache Bauern durchaus in die unteren Offiziersränge schaffen können, die ihnen in normalen Zeiten weitgehend verschlossen gewesen waren. Jedenfalls brauchte Krasikov keine große Überzeugungskraft anzuwenden. Die Bauern schlossen sich seiner Meinung an, bewaffneten sich mit Knüppeln und Forken, ließen sich in verschiedene Gruppen einteilen und verteilten sich über das Dorf. Nachdem diese Vorbereitungen abgeschlossen waren, begab sich eine Gruppe zum Hause des Popen, um den Kommissar aufzufordern, das Dorf mit seiner Brigade zu verlassen. Der Kommissar spuckte vor den Bauern aus, drohte, das ganze Dorf niederzubrennen, und beleidigte die Bauern. Daraufhin schlugen sie ihn umstandslos tot. Zur gleichen Zeit hatten die anderen Gruppen die über die Höfe verstreuten Rotarmisten einzeln überwältigt. Ohne größeren Kampf hatten die Bauern die Brigade in kurzer Zeit entwaffnet und unschäd-

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Ebenda, Bl. 1–1v. Ebenda, Bl. 2.

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lich gemacht. Im Anschluss wurden die Rotarmisten entkleidet, durchgepeitscht und dann laufen gelassen.39 Was bis dahin geschehen war, bewegte sich durchaus noch im Rahmen traditioneller bäuerlicher Selbstwehr. Hier zeigte sich die Fähigkeit zu rascher kollektiver Gewaltorganisation und begrenzter und zielgerichteter Gewaltausübung. Typischerweise endete die ganze Aktion dann mit dem Ritual kollektiver Bestrafung, dem das ganze Dorf beiwohnte.40 Dass man die gedemütigten Rotarmisten mit Schimpf und Schande aus dem Dorf jagte, passt in dieses Bild. Hier hatte man es noch nicht mit einer Gewaltlogik des Bürgerkriegs zu tun, in der oft keine Gefangenen gemacht werden, um zu verhindern, dass man denselben Personen zu einem späteren Zeitpunkt erneut mit einer Waffe in der Hand begegnete.41 Vor allem aber war es noch das Dorf im Ganzen, das Subjekt der Aktion war. Daran sollte sich in der Folge einiges ändern. Es war auch klar, dass eine Reaktion seitens der Bolschewiki zu erwarten war. Dafür musste sich die Dorfgemeinschaft rüsten, und dies setzte eine Dynamik in Gang, die die Bauern vielleicht beeinflussen, aber nicht kontrollieren konnten.

Ausweitung der Kampfzone Fast unmittelbar nach der Vertreibung der Brigade sandten die Bauern von Chvorostan Boten in die umliegenden Dörfer. Man suchte nach Verbündeten und appellierte an die bäuerliche Solidarität, denn es war zu erwarten, dass die Bolschewiki mit einer größeren Streitmacht zurückkehren würden. Schon zu Zarenzeiten waren Unruhen in einem Dorf eine Sache, das Zusammengehen mehrerer Dörfer aber eine andere: offene Rebellion, die entsprechend angegangen wurde.42 Deshalb war die Entscheidung, die auf den jeweiligen Dorfversammlungen ge-

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Ebenda, Bl. 2–3. Stephen P. Frank, »Popular Justice, Community, and Culture among the Russian Peasantry, 1870–1900« in: Russian Review 46 (1987), 3, S. 239–265, hier: S. 250. Kalyvas, Logic of Violence, S. 69 u. 85. Zur Thematik allgemein vgl. die Beiträge in: Heinz-Dietrich Löwe (Hg.), Volksaufstände in Rußland. Von der Zeit der Wirren bis zur »Grünen Revolution« gegen die Sowjetherrschaft, Wiesbaden 2006.

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troffen werden musste, von großer Tragweite. Letztlich schlossen sich aber die meisten Dörfer in der Umgebung dem Widerstand gegen die Bolschewiki an, der damit zu einem regionalen Aufstand wurde. Bäuerliche Solidarität und der Wille, das eigene Hab und Gut zu verteidigen, spielten dabei eine wichtige Rolle, ausschlaggebend dürften aber auch die scheinbar günstigen Umstände gewesen sein. Unter den Bauern ging das Gerücht, der Großfürst Nikolaj Nikolaeviˇc rücke mit einer Armee aus Sibirien an und auch die Donkosaken seien auf dem Vormarsch nach Norden, sodass den Bolschewiki ohnehin das Ende bevorstehe.43 Gerüchte spielen in vormodernen Gesellschaften eine wichtige Rolle, oft waren sie die einzige Informationsquelle über die weitere Umwelt des Dorfes.44 Nach der Revolution und im Bürgerkrieg nahm die Bedeutung von Gerüchten noch zu, denn wenn viele Bauern zuvor auf städtischen Märkten Neuigkeiten hörten oder sogar Zeitungen mit ins Dorf brachten und Vielstimmigkeit eine Bewertung einzelner Informationen ermöglichten, so entfielen diese Mechanismen nach 1917 zusehends. Der angebliche Vormarsch des Großfürsten Nikolaj Nikolaeviˇc war pures Phantasma, das Gerücht hinsichtlich der Donkosaken zwar zutreffend, aber letztlich irreführend, da sie bald den Rückzug antreten mussten. Niemand sollte den Bauern zuhilfe kommen, aber das war schwer vorherzusehen. Hätten die Bauern gewusst, dass sie im Kampf gegen die Bolschewiki alleine blieben, wäre die Entscheidung in vielen Dörfern wohl anders ausgefallen. Dann hätte man sich auf passivere Formen des Widerstands verlegt, die sich eher in den zentraleren Gouvernements zeigten, in denen die Macht der Bolschewiki mehr oder weniger unangefochten war.45 Insgesamt zehn Dörfer schlossen sich dem Aufstand an und stellten jeweils eigene Kampfeinheiten auf. Koordination und Organisation 43 44 45

Popov, Vosstanie, Bl. 3v. Jörg Baberowski, »Die Diktatur der Gerüchte. Einleitung« in: ders. (Hg.), Rumours and Dictatorship, Journal of Modern European History 10 (2013), 3, S. 315–319. Nähe zur Staatsmacht und deren Effizienz bestimmten in hohem Maße und jedenfalls mehr als vermeintliche Widerstandskulturen oder -mentalitäten das Verhalten der Bauern gegenüber der Staatsmacht. Wo die bolschewistische Herrschaft stabil war, kam es sogar zu bäuerlichen Bestrebungen, am Konzept »sowjetischer Staatsbürgerschaft« teilzuhaben. Vgl. Aaron B. Retish, Russia’s Peasants in Revolution and Civil War. Citizenship, Identity, and the Creation of the Soviet State, 1914–1922, Cambridge 2008, S. 263ff.

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des Widerstands wurden Krasikov übertragen, denn als ehemaliger Offizier verfügte er über die größte militärische Kompetenz, und die Bauern wussten, dass sie darauf angewiesen waren. Es waren aber auch andere Fähigkeiten, die Krasikov zum Anführer machten. Die anfängliche Euphorie der Bauern schwand schnell. Nach nicht einmal zwei Tagen rumorte es bei einigen Abteilungen schon. Stimmen wurden laut, dass »die aus Chvorostan« für alles verantwortlich seien und deshalb auch dafür geradestehen sollten. Krasikov aber konnte die Lage beruhigen und die Bauern in den Stellungen halten. Er war Popov zufolge ein hervorragender Redner und überzeugte die Bauern der anderen Dörfer, dass ihnen so oder so nichts Besseres bevorstehe als ihren Nachbarn aus Chvorostan.46 Wo Information ein knappes Gut ist, wird sie oft zu einem Machtinstrument derjenigen, die sich gegenüber anderen überzeugend als »Wissende« auszugeben vermögen. Autorität und Wissen standen in einem reziproken Verhältnis, und zum Führen waren zu Zeiten des Bürgerkrieges gerade auch jene berufen, die anderen Orientierung geben konnten. Krasikov war eine solche lokale und situative »Wissensautorität«.47 Bezeichnenderweise spielten in dieser Situation Alter oder überkommene Ränge keine Rolle mehr. Popov, der an Ereignissen direkt beteiligt war, hatte immerhin den Rang eines Hauptmanns inne und war mit ziemlicher Sicherheit auch älter als Krasikov. Das hatte aber keinerlei Bedeutung. Persönlichkeit, Ausstrahlung, Entschlossenheit, konkrete Erfolge – kurz: Charisma zählten in der Situation.48 Charismatische Führerschaft beruht auf einem Zusammenspiel von Erfolgen des Anführers und den »Heilserwartungen« seiner Anhängerschaft.49 Sie ist daher nur bedingt stabil, aber im gegebenen Fall stabilisierte sie sich durch die Erfolge der Aufständischen.

46 47

48 49

Popov, Vosstanie, Bl. 5–5v. Diese soziale Figur hat Antonio Gramsci in seinem breiten und funktionellen Begriff des »Intellektuellen« eingefangen, mit dem er Personen bezeichnet, die in jeweiligen lokalen Kontexten zwischen Obrigkeit und bäuerlicher Bevölkerung vermitteln. Vgl. Antonio Gramsci, Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe (hrsg. v. K. Bochmann u.a.), Bd. 7, Hamburg 1996, S. 1497f., 1503f. Vgl. dazu auch Schnell, Ukraine 1918, S. 164. Zum Begriff vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1972, S. 140ff. u. 654ff.

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Nur wenige Tage nach dem Auftauchen der Getreidebeschaffungsbrigade in Chvorostan befanden sich fast ein Dutzend Dörfer der Region nicht mehr im Modus traditioneller Selbstwehr, sondern in einem Ausnahmezustand, der neue Autoritätsstrukturen hervorgerufen hatte. Krasikov war wegen der drohenden Gefahr sozusagen zum »Diktator auf Abruf« ernannt worden, und die traditionellen dörflichen Autoritäten ordneten sich ihm unter. Zugleich aber waren die Dorfgemeinschaften in Form der jeweiligen Einheiten in dieser neuen Struktur noch erkennbar. In Erwartung des Feindes befanden sich die Bauern daher in einer Art Übergangszustand.

Die erste Schlacht Die Bolschewiki reagierten schnell auf die Meldung von der Tötung ihres Kommissars. Nach wenigen Tagen rückte eine Strafexpedition an, die sich aus 200 Matrosen zusammensetzte, die zehn Maschinengewehre und ein Panzerauto mit sich führten. Sie wurden Popov zufolge von fast 9000 Aufständischen erwartet, die sich in Laufgräben verschanzt hatten. Diese numerische Überlegenheit gibt allerdings nicht das effektive Kräfteverhältnis wieder, denn nur ein kleiner Teil der Bauern war mit Feuerwaffen ausgerüstet, und selbst dabei handelte es sich meist um alte Jagdflinten, die für den Schützen kaum weniger gefährlich waren als für diejenigen, auf die sie gerichtet wurden. Nur die »Chvorostancy« verfügten dank der von den Bolschewiki erbeuteten Gewehre und Maschinengewehre über eine adäquate Ausrüstung. Viele Bauern hatten offenbar auch keine Kampferfahrung, denn sie verstießen im Gefecht gegen elementare militärische Verhaltensregeln, die sie in der Armee oder an der Front gelernt hätten, etwa das Warten auf den Feuerbefehl oder das Zurückhalten des Feuers, bis der Gegner auf Schussnähe herangekommen ist. Die Matrosen, die in der Regel zum gewaltbereiten und -erfahrenen Kern der Bolschewiki zählten, hätten eine gute Chance gehabt, die Bauern trotz ihrer Überzahl wie in Kolonialkriegen durch ihre bessere Ausrüstung und Kampftechnik niederzumachen. Aber wie auch die Brigade vorher nahmen sie ihren Gegner nicht ernst und marschierten eher sorglos auf die Stellungen der Aufständischen zu. Nur deren Ungeschick verhinderte den sofortigen Untergang der Abtei328

lung.50 Die Details des folgenden Kampfes, den Popov ausführlich schildert, können wir hier übergehen. Wichtig ist, dass die Matrosen letztlich durch ein Umgehungsmanöver Krasikovs überwältigt und geschlagen wurden. Auch das Panzerauto wurde, nachdem es sich festgefahren hatte, unschädlich gemacht und die Mannschaft von einer erregten Bauernmenge buchstäblich in Stücke gerissen. Popov berichtet weiter, dass man mit den Matrosen »abgerechnet« und 40 Gefangene gemacht hätte.51 Was das konkret bedeutet, kann man nur vermuten – viele Autoren sind in ihren Beschreibungen nur explizit, wenn es um die Gewalt der anderen geht. Fest steht indes, dass an jenem Tag auf beiden Seiten viel Blut floss und die Bauern die Schlacht gewonnen hatten.

Verselbstständigung Der Sieg hatte mehrere Konsequenzen. Zum einen weckte er unter den Bauern die Hoffnung, dass man sich erfolgreich gegen die Bolschewiki zur Wehr setzen könnte, zumindest so lange, bis Hilfe käme. Da den Bolschewiki nunmehr klar sein musste, dass sie es nicht nur mit einem rebellischen Dorf, sondern mit einer regionalen Rebellion zu tun hatten, würden sie beim nächsten Mal mit noch größeren Kräften antreten. Damit war auch klar, dass der dörfliche Ausnahmezustand andauern musste, denn durch den Sieg war die Notwendigkeit der Verteidigungsbereitschaft nicht geringer, sondern eher größer geworden. Krasikov wiederum hatte sich nicht nur als fähiger, erfolgreicher Anführer erwiesen – er wurde in seiner Funktion auch noch unentbehrlicher als vorher. Mit der Eskalation der Gewalt ging auch eine Verselbstständigung des Gewalthandelns und seiner Träger vonstatten. Von einem Militärexperten, von dem man sich zum Widerstand hatte überreden lassen und dessen Wissen die Dorfgemeinschaft nutzte, um eine wirksame Verteidigung zu organisieren, wuchs Krasikov in die Figur eines charismatischen Anführers. Er, nicht die Dorfgemeinschaft, war nun die Autorität, und er nutzte sie. Als er die Nachricht erhielt,

50 51

Popov, Vosstanie, Bl. 5v–6. Ebenda, Bl. 8.

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dass in einer nahe gelegenen Kosakensiedlung ein Bataillon der Roten Armee angekommen war, entschloss er sich, zum Angriff überzugehen. Dazu stellte er eine neue Einheit auf, indem er aus den verschiedenen dörflichen Kontingenten etwa 500 ehemalige Soldaten heraussuchte und sie mit den erbeuteten Waffen ausrüstete.52 Spätestens jetzt war eine völlig neue Struktur entstanden, die nichts mehr mit traditionellem dörflichen Widerstand zu tun hatte, an dem alle Männer des Dorfes beteiligt waren. Krasikov schuf den Nukleus einer Miliz, die in der gegebenen Situation zugleich eine neue Elite darstellte. Der Überfall auf die Kosakensiedlung Davidovka war ein weiterer Triumph Krasikovs. Die Rotarmisten wurden völlig überrascht. Es gelang den Aufständischen, einen Eisenbahnzug zu entführen und die darin gelagerten Ausrüstungsgegenstände zu erbeuten. Acht Maschinengewehre, 540 Gewehre und Munition brachten Krasikovs Männer an sich. Die Rotarmisten in den Zügen waren misshandelt und aus dem fahrenden Zug geworfen worden.53 Kollektive Gewalt verbindet und schafft Gemeinschaft, vor allem wenn sie erfolgreich ist. Aus der Demütigung ihrer Feinde zogen die Aufständischen Befriedigung und Selbstbewusstsein. Krasikovs Männer wurden in Chvorostan wie Helden empfangen und gefeiert. Die Neuigkeiten verbreiteten sich schnell in der Region. Aus der Umgebung kamen Bauern anderer Dörfer, die um Unterstützung gegen die Bolschewiki baten.54 Dabei ist wichtig, dass sie sich nicht etwa an die Dorfgemeinde, sondern an Krasikov und seine Einheit wandten. Aus der Dynamik der Gewalteskalation heraus war eine von der Dorfgemeinschaft unabhängige Miliz entstanden, eine soziale Größe eigenen Rechts.

Ein Ende und ein Anfang Spätestens seit dem Überfall auf das Bataillon in Davidovka erkannten die Bolschewiki den Ernst der Lage. Dieses Mal unterschätzten sie die Aufständischen nicht, schickten ein ganzes Regiment unterstützt von Kavallerie nach Chvorostan, vor allem aber Artillerie. Dem hatten Kra52 53 54

Ebenda, Bl. 9. Ebenda, Bl. 9v–10v. Ebenda, Bl. 11–11v.

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sikov und seine Männer nichts entgegenzusetzen. Die Einheiten der anderen Dörfer stoben unter den Granateinschlägen und Schrapnellexplosionen auseinander, viele ihre Männer wurden auf der Flucht von den berittenen Rotarmisten mit Säbeln niedergemacht. Nur Krasikovs Miliz bewahrte die Ordnung und konnte sich vom Feind absetzen.55 Unter den gegebenen Umständen war das eine militärische Meisterleistung, die nicht nur Krasikovs Können, sondern auch die Disziplin und Geschlossenheit seiner Männer unter Beweis stellte. Sie änderte aber nichts an der totalen Niederlage der Aufständischen. Die Bevölkerung von Chvorostan zahlte einen hohen Preis für die Rebellion. Viele Bauern wurden gefoltert und erschossen, das gesamte Getreide und alles Vieh wurden requiriert. Abgesehen davon ergriffen die Bolschewiki Vorsichtsmaßnahmen: Sie stöberten die ehemaligen Offiziere auf, die in den Dörfern der Region als Lehrer arbeiteten, und erschossen sie.56 Krasikovs Geschichte durfte sich nicht wiederholen. Generell wütete seit 1918 ein fast blinder Terror gegen Angehörige der ehemaligen zarischen Eliten. Der Rote Terror in der Provinz zeichnete sich dabei durch fast noch mehr Willkür als im Zentrum aus, weil die regionalen Tscheka-Einheiten oft noch unkontrollierter agierten als in den Metropolen.57 Für das Dorf Chvorostan war der Aufstand das Ende – ein Schicksal, das im »Getreidekrieg« viele Dörfer im ehemaligen Imperium ereilte. Für Krasikov und seine Männer war der Aufstand dagegen ein Aufbruch in eine neue Gemeinschafts- und Lebensform. Sie schlugen sich Richtung Süden durch und verbanden sich mit der Hauptmasse der Don-Armee.58 Was weiter aus ihnen wurde, teilt uns Popov nicht mit.59 Seine, die Geschichte der Einheit Krasikovs ist typisch für das

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Ebenda, Bl. 12v–13v. Ebenda, Bl. 14–14v. Baberowski, Der Rote Terror, S. 43. Popov, Vosstanie, Bl. 13v. Es ist auch nicht ganz klar, ob Popov bei der Einheit Krasikovs blieb oder nicht. Spricht er während des Aufstandes meistens von »wir«, wobei klar ist, dass die Chovostancy gemeint sind, so wechselt er in der Beschreibung der letzten Schlacht zur dritten Person: nicht »wir« – »sie« schlugen sich zu den Weißen durch. Im letzten Abschnitt schildert er Ereignisse in der Region, die sich bis zum Winter 1918/19 erstrecken und den Anschein erwecken, er habe sie mit eigenen Augen gesehen, weil er anders als die Chvorostancy zurückgeblieben war. Wie er in diesem Falle

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Phänomen der »grünen Bewegung« im Russischen Bürgerkrieg: kleinere bewaffnete Gruppen, die »in den Wald gehen« – daher die Bezeichnung »grün« –, um von dort aus eine Art Guerilla-Krieg zu führen. Auch größere Kampfformationen nahmen so ihren Anfang, und mancher spätere Ataman – oder Warlord in heutiger Diktion – begann seine Laufbahn wie Krasikov.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Der Aufstand am Chvorostan dauerte gerade einmal zwei Wochen. In dieser kurzen Zeitspanne vollzogen sich in der dörflichen Gemeinschaft grundlegende und radikale Entwicklungen. Aus der spontanen Aktion einer gewalttätigen Bauernmenge entwickelte sich ein dörflicher Aufstand, der wiederum in eine regionale Rebellion umschlug. Es handelte sich hier um eine Art Kettenreaktion, die lediglich durch die Unfähigkeit der Bolschewiki, auf diese Herausforderung zu reagieren, oder durch die Unterwerfung des Dorfes hätte unterbrochen werden können. Aber die Bolschewiki waren stark genug und die Dorfgemeinschaft sowie die umliegenden Dörfer zum Widerstand entschlossen. Dabei spielte die Fehleinschätzung der strategischen Situation eine Rolle, da man annahm, Hilfe von außen zu bekommen; vor allem aber auch die Autorität einer charismatischen Persönlichkeit, die den Bauern Hoffnung auf Erfolg des Unternehmens machen konnte. In dieser ersten Phase gab es einige Momente, in denen spontane emotionale Momente die Weichen für die weitere Entwicklung stellten. So war die Ermordung des Kommissars vermutlich nicht geplant. Aber er hatte die Bauern herausgefordert und beleidigt, und die aufgeregte Menge reagierte mit einer Kurzschlussaktion. Ähnliches kann man für die Entscheidungen auf den Versammlungen der Nachbardörfer sagen, sich dem Widerstand anzuschließen. Sie verliefen in »großer Erregung«.60

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aber von der Rettung seiner Einheit gewusst haben soll, ist fraglich. Eher schon kann er als Mitglied der weißen Armeen von den Geschehnissen in der Region erfahren haben, als wenn er sich dort hätte verbergen müssen. Für Popovs Verbleib bei der Einheit und dann bei den weißen Armeen spricht auch die schlichte Tatsache, dass er emigrieren konnte. Popov, Vosstanie, Bl. 3v.

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Die Konsequenzen der Entscheidung scheint vielen erst wenige Tage später klar geworden zu sein, als man die Dinge nüchterner betrachtete und viele aus der Aufstandsfront ausscheren wollten. Man kann daher sagen, dass konkrete Gewalterfahrung und Erwartung von Gewalt die Menschen in eine »Pfadabhängigkeit« brachte.61 Schon die Bestrafung für die Ermordung des Kommissars und die Demütigung der Rotarmisten hätte für das Dorf schwerwiegende, aber vielleicht noch keine fatalen Konsequenzen gehabt. Spätestens mit der Ausweitung des Aufstandes und dem Resultat der ersten Schlacht gab es aber praktisch kein Zurück mehr. Unterwerfung wäre zwar zu jedem Zeitpunkt möglich gewesen – nun hätte sie aber mit großer Wahrscheinlichkeit die Zerstörung des Dorfes und die Hinrichtung vieler Aufständischer nicht mehr abgewehrt. Daher versprach ab einem bestimmten Punkt nur noch die Fortführung des Kampfes eine gewisse Chance, mit dem Leben davon zu kommen. Möglicherweise ohne sich dessen vollständig bewusst zu sein, hatten die Bauern bereits zu Beginn fast alles auf eine Karte gesetzt. Die weitere Entwicklung war indes keine Notwendigkeit. Die charismatische Persönlichkeit Krasikovs spielte bei all dem eine bedeutende Rolle. Von Beginn an lenkte er den emotionalen Ausnahmezustand der Menge in Richtung Eskalation, vermochte die Chancen dieses Weges zu projizieren und zu personifizieren. Abgesehen von der Gewalteskalation entfaltete sich hier eine zweite Pfadabhängigkeit, die mit der Figur eines Anführers verbunden war, der über Kompetenz und Wissen verfügte. Um eine Gruppe auf ein Ziel auszurichten, ihre Handlungen zu koordinieren und damit effizient zu machen, ist Führung im Kampf unerlässlich, zumindest die erfolgversprechendste Variante sozialer Organisation – und den meisten Menschen ist das in der Regel auch unmittelbar einsichtig. Es war die Situation selbst, die Krasikov in die Anführerposition hineintrieb, ihm aber auch ermöglichte, sich in sie hineinzubewegen. Es war die Dynamik des Gewaltprozesses, der die Bauern immer abhängiger von seiner Führung und Krasikov zu einer Art militärischem Diktator machte. Dabei muss man berück-

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Zum Begriff und seinen Problemen vgl. Jürgen Beyer, »Pfadabhängigkeit ist nicht gleich Pfadabhängigkeit: wider den impliziten Konservatismus eines gängigen Konzepts« in: Zeitschrift für Soziologie 34 (2005), 1, S. 5–21.

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sichtigen, dass der russischen Dorfgemeinde die Figur eines Anführers zutiefst fremd war.62 Zwar hätte man Krasikov jederzeit absetzen können, doch wäre damit auch der Verzicht auf jene Führungskompetenz einhergegangen, auf die die Bauern im Kampf gegen die Bolschewiki dringend angewiesen waren. Abgesehen davon hatte sich im Laufe der Entwicklung auch eine engere Anhängerschaft gebildet, die Krasikov vermutlich auch dann gefolgt wäre, wenn die Dorfautoritäten sich von ihm distanziert hätten. In dem Maße, in dem Krasikovs Bedeutung zunahm, verlor die Dorfgemeinschaft an Bedeutung und Realität, da sie nicht einfach da war, sondern durch rituelle und symbolische Interaktion reproduziert werden musste. Entsprechend verloren die Bauern an Handlungsfähigkeit, sie wurden Gefangene der Situation und mussten sich entsprechend der Logik der Gewalt verhalten. Das Verblüffende daran ist weniger der Umstand an sich, sondern die Geschwindigkeit, mit der all dies geschah. Denn die bäuerliche Welt mit ihren eigenen Regeln und Gesetzen hatte sich in der Vergangenheit als äußerst resistent gegen jede Form äußerer Einflüsse gezeigt. Aber nun wurde die Dorfgemeinschaft in kurzer Zeit entmachtet, und aus ihren Mitgliedern wurden Kämpfer, die sich schließlich als Gruppe in der Form einer Miliz aus der Dorfgemeinschaft lösten. Die Tatsache, dass einige von ihnen ehemalige Soldaten waren, erklärt weniger, als man vielleicht glauben möchte, denn auch in der Armee blieben Bauern in der Regel Bauern, die sich äußerlich den staatlich eingeforderten Formen anpassten, in-

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Selbst wenn es unter den Autoritäten des Dorfes eine Art primus inter pares gab, so waren alle das Dorf betreffende Handlungen darauf abgestellt, die Gemeinde im Ganzen und die Bauernschaft als kollektiven Akteur und Entscheidungsträger zu repräsentieren. Dahinter steckte keineswegs nur oder in erster Linie eine kollektivistische Mentalität, sondern das Ziel, individuelle Verantwortlichkeit gegenüber der Obrigkeit in der Menge aufzulösen und unkenntlich zu machen. Das galt nicht zuletzt für die Person des Dorfältesten (starosta). Langsamkeit, Umständlichkeit und Kollektivität der Entscheidungsfindung waren das Prinzip, das sich die Bauern auch noch Anfang der 1930er Jahre zunutze machten, als kommunistische Funktionäre die Bauern zunächst bewegen wollten, sich freiwillig zu Kolchosen zusammenzuschließen. Vielstimmigkeit und endloses Reden waren hier eine zentrale Methode des Widerstandes gegen die Obrigkeit. Vgl. Lynne Viola, Peasant Rebels under Stalin. Collectivization and the Culture of Peasant Resistance, New York u.a. 1996, S. 147f.

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nerlich aber kaum davon berührt wurden, weil das zarische Militärwesen keine integrative Kraft hatte, die den Bauern das Gefühl hätte vermitteln können, zu einem größeren Ganzen zu gehören. Deshalb reproduzierten sie das Dorf in der Armee.63 Das zeigte sich unter anderem in der Tatsache, dass die meisten Soldaten, die 1917 der Front den Rücken kehrten, keineswegs zu Räubern oder Landsknechten wurden, sondern nur eines im Sinn hatten: ihre bäuerliche Existenz auf breiterer materieller Grundlage fortzusetzen. Der Weltkrieg brachte keineswegs nur Menschen hervor, die sich ein Leben jenseits des Kampfes nicht mehr vorstellen konnten. Er war aber Ausgangspunkt der Zerstörung von Ordnung und Eindeutigkeit, die das zarische Imperium immerhin dargestellt hatte. An seine Stelle trat ein Gewaltraum, in dem keine anderen Regeln mehr galten als das Recht des Stärkeren. Was immer die Bauern an Techniken der Kommunikation und Aushandlung mit den Vertretern der zarischen Obrigkeit als hidden transcripts in ihrem kulturellen Repertoire hatten, war 1918 nur noch von geringem Wert, denn die Bolschewiki erkannten keine Regeln an, die sie nicht selbst setzten. Der Gewalt, die sie in die Dörfer des Imperiums trugen, konnten sich die Bauern beugen – was sie in vielen Fällen taten – oder sich widersetzen. Dann aber mussten sie nach einer Gewaltlogik handeln, die sie kulturell entwurzelte. Abgesehen von Tod und Zerstörung, die der »Getreidekrieg« über die Menschen brachte, und dem Umstand, dass dieser Krieg nicht an einer fernen Front, sondern unmittelbar in der Heimat der Menschen tobte, war es diese Entwurzelung, die den Bürgerkrieg zu einem so einschneidenden Ereignis machte, das den Weltkrieg in der kollektiven Erinnerung fast völlig davon verdeckte.64 Das Beispiel von Chvorostan zeigt, wie leicht mit Gewalt konfrontierte Menschen und Gemeinschaften auf den Weg der Gewalt geraten können. Hier wirkt zwar kein unwiderstehlicher Mechanismus, aber die Gewaltausübung ist auch nicht nur auf rationale Entscheidungen zurückzuführen, gerade wenn es um Kollektive in emotional aufgeheizten Situationen geht. Es ergeben sich aber oft implizite Konse-

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John Bushnell, »The Tsarist Army as a Peasant Society«, in: Journal of Social History 13 (1980), 4, S. 565–576. Karen Petrone, The Great War in Russian Memory, Bloomington 2011, S. 5f.

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quenzen und Pfadabhängigkeiten aus solchen spontanen Gewaltakten. Gewalt verändert Situationen und Menschen, sie schafft Bedingungen, hinter die man nicht ohne Weiteres zurückkann. Die Gewalt wird dadurch nicht zu einem Subjekt, aber es ist schwierig, sich ihrer Dynamik zu entziehen, und aller Erfahrung nach leichter, Gewalt zu beginnen, als sie zu beenden.

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Bernd Greiner

Der »überflüssige Soldat« Zur Genese und Praxis militärischer Gewaltgruppen am Beispiel des amerikanischen Krieges in Vietnam

»Viele Armeen sind hart mit feindlichen Bevölkerungen umgesprungen«, schrieb der Journalist Jonathan Schell Ende der 1960er Jahre über den amerikanischen Krieg in Vietnam, »aber unsere gehört sicher zu den ersten, die derart rüde mit ihren Alliierten umgeht.«1 Gemeint war in erster Linie das unüberschaubare Maß an Gewalttaten, die von Bodentruppen gegen Unbewaffnete und Wehrlose verübt wurden – aus nächster Nähe und im Wissen um die Identität der Opfer. Abertausende von Unbeteiligten wurden nicht aus anonymer Distanz ermordet, kamen nicht durch Luftwaffe und Artillerie zu Schaden, wurden nicht zum Opfer von »Kollateralschäden«. Sie bewegten sich vielmehr in Sichtweite der Täter, standen ihnen bisweilen Auge in Auge gegenüber und hatten keine Chance zur Flucht oder Gegenwehr. In anderen Worten: Im face-to-face killing waren sie Uniformierten ausgeliefert, die nicht wie Soldaten kämpften, sondern wie Marodeure meuchelten, die vor Übergriffen gegen Einzelne ebenso wenig zurückschreckten wie vor Massenmorden. Die Frage, welchen Umfang die in Vietnam verübten Gewaltexzesse hatten, wie viele Opfer zu beklagen oder wie viele Infanteristen mittelbar und unmittelbar an Kriegsverbrechen beteiligt waren, entzieht sich jeder seriösen Antwort. Schriftliche Quellen sind lückenhaft, Aussagen von Soldaten spiegeln nur kleine Ausschnitte oder können mangels korrespondierenden Materials nicht kritisch geprüft werden, Akten aus Kriegsgerichtsverfahren dokumentieren weniger das Geschehen als die Methoden juristischer Vertuschung. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass nur zehn Prozent der in Vietnam sta-

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Jonathan Schell, The Real War: The Classic Reporting on the Vietnam War, New York 1987, S. 230.

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tionierten US-Soldaten an »primäre Kampftruppen« überstellt und unmittelbar mit Kampfeinsätzen beauftragt waren. Aber buchstäblich alle dieser Kampftruppen – Infanterie, gepanzerte Verbände und Artillerie – können in der einen oder anderen Weise mit Kriegsgräueln und Kriegsverbrechen in Verbindung gebracht werden – mit Exzessen abseits der Kriegsschauplätze und jenseits von Kampfhandlungen. Meistens schlagen Morde an Gefangenen, Folter, Vergewaltigungen, Razzien und Feuerüberfälle mit zivilen Opfern zu Buche, in zahlreichen Fällen aber auch die Exekution von Gruppen und regelrechte Massaker. Zumindest diese grobe Bilanz ist auf der Basis amerikanischer Archivbestände möglich.2 In den am heftigsten umkämpften Regionen (gemeint sind die Provinzen Quang Tri, Thua Thien, Quang Nam, Quang Tin und Quang Ngai im nördlichen Südvietnam sowie das Mekong-Delta) ergibt sich für die Zeit vom Sommer 1967 bis Frühjahr 1971 folgendes Bild: Orte und Zeitpunkte von sieben Massakern – begangen von Kleintruppen und Spezialkommandos in Kompanien, Zügen oder Trupps – wurden von amerikanischer Seite offiziell bestätigt. Geschätzte Opferzahl: über 600. Unstrittig ist des Weiteren, dass Hunderte, möglicherweise über tausend Bauern zwischen Mai und November 1967 von einer Spezialeinheit der 101. Airborne Division namens »Tiger Force« ermordet wurden; dass US-Hubschrauberbesatzungen regelmäßig »Zielschießen« auf Zivilisten veranstalteten und auf diese Weise Tausende töteten; und dass im Zuge von Großeinsätzen, die zwischen wenigen Tagen und mehreren Wochen währten, wahrscheinlich Zehntausende Nichtkombattanten zu Tode kamen, die Opfer von Artillerie- und Luftangriffen nicht eingerechnet. Beispielsweise forderte die »Operation Speedy Express« im Mekong-Delta ungefähr 11000 Todesopfer, mindestens die Hälfte davon Zivilisten. Die Behauptung, dass amerikanische Einheiten, oft an der Seite südvietnamesischer Soldaten, an ungefähr zwei Dutzend weiterer Massaker beteiligt waren und dabei ungefähr 6500 Zivilisten getötet haben sollen, kann weder verifiziert noch falsifiziert werden. Von einigen »Special Forces« wird berichtet, dass bei ihren Einsätzen 100–150 getötete Feinde auf einen

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Bernd Greiner, Krieg ohne Fronten. Die usa in Vietnam, Hamburg 2007 (2009), S. 9–41.

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Toten aus den eigenen Reihen kamen – ein Zahlenverhältnis, das im Vergleich zu den Verlusten bei normalen Kampfeinsätzen aberwitzig erscheint und nur einleuchtet, wenn man bei der Zahl der getöteten Feinde einen hohen Prozentsatz Unbewaffneter voraussetzt. Unklar ist, wie viele Gefangene ermordet wurden und wie hoch die Zahl anderer Gewaltverbrechen wie Folter und Vergewaltigung lag. Festzuhalten bleibt, dass viele Veteranen dergleichen Gewalttaten als alltägliche Praxis oder Standing Operating Procedure beschrieben. »Im Endeffekt«, so der Offizier Philip Caputo, »wurden Zivilisten als Vietcong gezählt. ›Wer tot ist und ein Vietnamese, ist ein Vietcong‹, hieß die Faustregel des Dschungels.«3 Und General Harry G. Sumners spricht von einer Erosion, »die man einfach nicht für möglich hält. […] Tatsächlich setzte ein Prozess ein, der die Integrität der Truppe auf allen Ebenen unterminierte.«4 Welche Erklärungen auch immer angeboten werden, ein Rätsel bleibt: nämlich die zeitliche Verdichtung, die ungeheure Beschleunigung der bei vielen Einheiten zu beobachtenden psychischen Regression. Wie konnte es dazu kommen, dass moralische Reserven in kürzester Zeit, oft binnen Wochen, aufgezehrt waren? Wieso erwecken GIs, die in der Regel nicht länger als zwölf Monate im Einsatz waren, den Eindruck, als wären sie den Entbehrungen, Grausamkeiten und Schockerfahrungen des Krieges jahrelang ausgesetzt gewesen? Warum treffen wir immer wieder auf Soldaten, die ihre savage instincts austobten, bevor sie überhaupt einen Feind zu Gesicht bekommen hatten?

Makro- und mesostrukturelle Kontexte Je stärker sich die usa in Vietnam militärisch engagierten, desto deutlicher wurde, dass man sich in eine selbst gestellte Falle manövriert hatte. Wie in allen asymmetrischen Kriegen war auch in diesem Fall materielle Überlegenheit nicht unbedingt von Vorteil. Im Gegenteil. Wieder einmal zeigte sich, wie nutzlos das Kalkül mit überlegener

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Philip Caputo, A Rumor of War, New York 1977, Einleitung, S. xix-xx. Harry G. Sumners, zit. n. David L. Anderson (Hg.), Facing My Lai. Moving Beyond the Massacre, Lawrence 1998, S. 134; vgl. ebenda, S. 21, 45, 135.

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Technologie, Masse und Effizienz im Kampf gegen einen Gegner war, der nach eigenen Regeln kämpfte, der sich nicht zum offenen Kampf stellte und dessen stärkster Verbündeter die Zeit war. Der Vietcong musste den Krieg nur in die Länge ziehen, um als Sieger dazustehen. Die usa hingegen waren zu einem schnellen Sieg verdammt – alles andere hätte als Beweis von Ohnmacht gegolten und wäre als Niederlage gedeutet worden. Und nicht zuletzt wegen der ungeduldigen Heimatfront und deren Pochen auf einen raschen Erfolg, ablesbar an der populären Forderung »Get out or win«, geriet die militärische Führung zusehends unter Druck. Den Wettlauf gegen die Zeit zu gewinnen, hieß aus dieser Perspektive: eine Entscheidung durch erhöhten Einsatz zu erzwingen. In diesem Sinne agierte der Oberkommandierende der US-Streitkräfte in Vietnam, William Westmoreland, seit Anfang 1967. Auf schnelle Erfolge fixiert, stampfte er im Frühjahr dieses Jahres einen improvisierten Kampfverband aus dem Boden – die »Task Force Oregon«, bestehend aus drei Brigaden, die man kurzfristig von ihren »Mutterdivisionen« abgezogen hatte. Vorwiegend in der Provinz Quang Ngai, teilweise auch in Quang Tin, sollten sie ihren Beitrag zur nachhaltigen »Pazifizierung« der nördlichen Provinzen leisten und zugleich die Richtung für den Rest des Landes vorgeben. Was darunter zu verstehen war, ließen bereits die Tagesparolen der Truppenführer an die »Task Force Oregon« erahnen. »Säubert das Land!« – »Bringt den Kampf zum Vietcong!« – »Ringt sie nieder! Sie werden sich ergeben!« – »Da draußen ist nichts von Wert für uns. In diesem Gebiet gibt es keine uns freundlich Gesinnten.«5 »Pazifizierung« hieß in diesem Fall, bis zu 300000 Menschen oder die Hälfte aller Bauern Quang Ngais umzusiedeln. Genauer gesagt: von einem Tag auf den anderen aus ihren Dörfern zu vertreiben und für die Dauer des Krieges in Flüchtlingslagern festzusetzen. 68 dieser mit Betonmauern, Stacheldrahtverhauen und bewaffneten Patrouillen gesicherten Lager gab es in der Provinz Quang Ngai – faktisch Gefängnisse, in denen die Menschen nur mit dem Nötigsten versorgt unter Wellblechdächern ihre Tage verbrachten, unter unsäg-

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Michael Sallah/Mitch Weiss, Tiger Force, London 2006, S. 27, 29; Greiner, Krieg ohne Fronten, S. 212.

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lichen hygienischen Bedingungen und von Krankheiten geplagt. Arbeit hatten sie keine, wer tagsüber stundenweise mit einem Passierschein ins Umland durfte, konnte sich glücklich schätzen. Und nachts wurden die Gestrandeten wieder eingeschlossen. Denn, so die in einer internen Studie buchstabierte Logik dieser Politik, »die Bevölkerung verhält sich gegenüber der Regierung Südvietnams bedingungslos feindlich. Man kann davon ausgehen, dass sie völlig auf der Seite der Nationalen Befreiungsbewegung steht, […] eine militante, gut disziplinierte, auf den Vietcong fixierte Bevölkerung. […] Jeder Junge und jedes Mädchen in den Dörfern hat eine militärische Aufgabe. Totale Verpflichtung und totale Ergebenheit sind die Regel.«6 Wer so denkt, kann sich auch nur eine Lösung vorstellen: totale Abschottung. Zugleich sollten die Rückzugsräume des Feindes weiträumig unbrauchbar gemacht werden. »Jedes Haus«, heißt es in der genannten Expertise weiter, »[ist] Teil eines durchdachten Verteidigungssystems. Manchmal wurden Häuser nur zur Camouflage von Bunkern und Stellungen errichtet.«7 Im Klartext: Ein geräumtes Dorf war zum Niederbrennen freigegeben – und die Reisfelder zur Vergiftung durch Herbizide ebenfalls. Es galt, mit den Menschen auch das Vieh zu evakuieren und der Guerilla ihre Lebensader, die Versorgung aus dem Land, zu kappen – auch um den Preis, dass die Landwirtschaft in Quang Ngai vollends zum Erliegen kam und die Flüchtlingslager mit importiertem Reis versorgt werden mussten. »Das ist«, gab Westmoreland in einer Besprechung seines Stabes zu verstehen, »so wichtig wie alles andere, was wir tun können.«8 Auf der materiellen Seite kalkulierte Westmorelands Strategie mit den Effekten fortschreitender Verelendung. So exorbitant der wirtschaftliche und ökologische Schaden auch sein mochte und sosehr eine Politik der verbrannten Erde auf ihre Verursacher zurückfiel, so-

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Comments on the Schell Manuscript, Secret, undatiert, S. 1–3, in: National Archives (NA), Record Group (RG) 319, Army Staff (AS), Peers-Inquiry Administrative and Background Materials Files – Closed Inventory, 1967–1970 (PI-CI), Box 11, Folder: Admin.-Secret # 2. Die hier genannten Abkürzungen werden im Folgenden weiter verwendet. Ebenda, S. 2. William Westmoreland, zit. n. Sallah/Weiss, Tiger Force, S. 54.

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wenig würde die Guerilla daraus Nutzen ziehen. Denn den Verlust an Nahrungsmitteln und die Schwierigkeiten in der Bevorratung konnte der Vietcong nur gutmachen, wenn er den Druck auf die verbliebenen oder zurückgekehrten Teile der Bauernschaft erhöhte, also mehr Abgaben unter erschwerten Bedingungen einforderte – im Zweifelsfall auch mit Gewalt. Unter diesen Bedingungen war es eine Frage der Zeit, bis die unersetzlichen politischen Sympathien aufgezehrt waren und der Sinn des Krieges auch den Gutwilligsten nicht mehr vermittelt werden konnte. Mit einer enttäuschten und zugleich von amerikanischer Feuerkraft zermürbten Bevölkerung ließ sich auf Dauer kein Guerillakrieg führen. Den Fisch vom Wasser zu trennen schien also ein realistisches Ziel – vorausgesetzt, man verstand sich auf die »schwarze Psychologie« der Strafe und überließ die Rede vom Kampf um hearts and minds den politischen Propagandisten an der amerikanischen Heimatfront. Unter psychologischen Gesichtspunkten ging es um Angst und Schrecken, um shock and awe, wie es in der Terminologie der USStreitkräfte hieß. Wenn es schon nicht gelang, die Bauern von der amerikanischen Sache zu überzeugen, so sollten sie doch zu der Überzeugung kommen, dass sich die Solidarität mit dem Vietcong noch weniger auszahlte. Eine Eskalation des Krieges, hatte Westmoreland bereits 1965 angemerkt, »wird für den einfachen Bauern den Moment der Entscheidung bringen. Falls er noch am Leben ist, wird er wählen müssen. Bis dato hatte er drei Alternativen: Er konnte unbeweglich bleiben und seinen natürlichen Instinkten folgend an der Scholle kleben, in einem Leben bei den Gräbern der Vorfahren. Er konnte in ein Gebiet unter Regierungskontrolle übersiedeln. Oder er konnte sich dem Vietcong anschließen. Wenn er freilich jetzt noch bleibt, warten andere Gefahren auf ihn.«9 In anderen Worten: Die Bauern mussten begreifen, dass es lebensgefährlich war, der Umsiedlung in die Lager nicht Folge zu leisten, dass sie sich in ihren Häusern und Feldern zu keiner Zeit mehr sicher fühlen konnten. Vor Soldaten der »Task Force Oregon« machte Westmoreland daraus Ende Juni 1967 eine Farbenlehre der Abschreckung. »Die Leute in den Umsiedlungslagern, die sind grün. […] Diese

9

William Westmoreland, zit. n. Michael Bilton/Kevin Sim, Four Hours in My Lai, New York 1992, S. 35.

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lassen wir in Ruhe. Der Vietcong und die nva sind rot, Freiwild für uns. Aber wenn dort draußen Leute sind – außerhalb der Lager –, dann sind die für uns rosa. Das sind kommunistische Sympathisanten. Die haben dort nichts verloren.«10 William Westmoreland hätte auch sagen können: Wir bomben die Bauern aus der Solidarität mit dem Vietcong heraus, suchen den breaking point der Bevölkerung und brechen ihren Eigensinn durch Terror. Die Grammatik des psychologischen Abnutzungskrieges handelt nämlich nicht davon, dass man zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten nicht unterscheiden kann, sondern dass man diesen Unterschied unter bestimmten Bedingungen und in einer entscheidenden Phase des Krieges nicht machen will. Egal, ob sie auf Seiten des Vietcong standen oder nicht – der Preis des Krieges musste für die Bewohner unerträglich in die Höhe getrieben werden. Wer aber den Lebenden mit den Toten drohen will, überschreitet die Grenzlinie zum totalen Krieg. Westmoreland ließ diese Seite des Krieges in der Kampfzone Nord nie zu Papier bringen – aus naheliegenden Gründen des politischen Image-Managements und erst recht zum Zweck des Selbstschutzes vor juristischen Konsequenzen. Der Sache nach aber gab er seinen Truppenführern zu verstehen: Um der Abwendung einer Niederlage willen ist der geschilderte Preis unumgänglich. In den Worten von Soldaten der »Task Force Oregon«: »Es war egal, ob sie Zivilisten waren oder nicht. Wenn es nicht vorgesehen war, dass sie sich in dem Gebiet aufhielten, haben wir sie erschossen. Wenn sie nicht wussten, was Angst ist, habe ich ihnen beigebracht, sich zu fürchten.«11 – »Wir gaben über Funk durch: ›Sieben Vietcong auf der Flucht aus einer Hütte. Beschossen und getötet.‹ Verdammt, die sind nicht gerannt. Wir wussten noch nicht einmal, ob es Vietcong waren.«12 – »Während meiner Tour in Vietnam redeten alle von Free Fire Zone. Und es bedeutete, draufzuhalten und alles zu töten, was

10 11 12

William Westmoreland, zit. n. Sallah/Weiss, Tiger Force, S. 30. William Doyle, zit. n. Michael Sallah/Mitch Weiss, »Demons of Past Stalk Tiger Force Veterans«, in: The Toledo Blade, 22. 10. 2003. Rion Causey, zit. n. Michael Sallah/Mitch Weiss, »Say 1: Rogue GIs Unleashed Wave of Terror in Central Highlands«, in: The Toledo Blade, 22. 10. 2003.

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sich bewegte.«13 – »Wenn ein Vietnamese in einer Free Fire Zone getötet wurde, verbuchten wir ihn als Kombattanten.«14 »Wheeler«, »Malheur I und II«, »Hood River«, »Benton«, »Cook« und »Dragon Head V« hießen die Großeinsätze der »Task Force Oregon« zwischen Frühjahr und Spätherbst 1967 – Einsätze, die in vielfacher Hinsicht das Kriegsgeschehen der folgenden vier Jahre in den nördlichen Provinzen vorwegnahmen. Kaum jemand forderte explizit zum Töten von Zivilisten auf. Aber das Votum für eine Kriegführung der verbrannten Erde brachte es mit sich, dass auch kaum jemand nach den Folgen fragte und zur Rücksicht auf ziviles Leben mahnte – und viele dazu übergingen, die Exekution strategischer Übermacht als Gelegenheit zur Demonstration persönlicher Allmacht zu begreifen. Eine Konkurrenz um die beste Tötungsquote oder den höchsten Body Count auszurufen, galt als selbstverständlicher Bestandteil der Truppenmotivation. Unzufrieden mit den bis dahin erzielten Resultaten, verlangte ein Bataillonskommandeur der »Task Force Oregon« im November 1967 über Funk von seinen Einheiten, endlich auf die Zahl 327 zu kommen und sich der Ordnungsnummer ihres Regiments würdig zu erweisen. Offenbar wurde die Botschaft verstanden. Eine Aufklärungsabteilung des Bataillons meldete innerhalb von zehn Tagen einen Body Count von 54. Erbeutete Waffen: zwei.15 In den »After Action Reports« des Bataillons am Ende der »Operation Wheeler« wurde die Relation getöteter Vietnamesen zu sichergestellten Waffen mit 20:1 angegeben.16 Und einer der beteiligten GIs behauptete, dass man im gesamten Jahr 1967 nur vier oder fünf Gefangene gemacht hätte. »Wahrscheinlich waren sie auch noch stolz darauf. […] Ich glaube, dass ihre Art des Kämpfens voraussetzte, keine Rücksicht zu erwarten und keine zu nehmen.«17 13

14 15 16 17

Bradford E. Mutchler, zit. n. NA, RG 319, AS, Office of the Deputy Chief of Staff for Personnel (odcs-per), Vietnam War Crimes Working Work (vwcwg), War Crimes Allegations Case Files (CaFi), Box 19, Folder: Coy Allegation, Part 5 of 7, Case 221. Die hier genannten Abkürzungen werden im Folgenden weiter verwendet. Joseph A. Westbrok, zit. n. ebenda. Coy Allegation, Investigative Summary, S. 7, in: NA, RG 319, AS, odcs-per, vwcwg, Box 18, Folder: Coy Allegation, Part 1 of 7, Case 221. NA , RG 319, AS, odcs-per, vwcwg, CaFi, Box 19, Folder: Coy Allegation, Part 5 of 7, Sworn Statement Bradford E. Mutchler, S. 2–4, Case 221. Bradford E. Mutchler, zit. n. ebenda.

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Dank der zeitgenössischen Reportagen des Journalisten Jonathan Schell wissen wir um den Preis dieser Kriegführung für die Bevölkerung von Quang Ngai und Quang Tin.18 »Operation Dragon Head V« im Norden der Provinz: fast vollständige Vertreibung der Einwohner und Zerstörung der Häuser zu 40 Prozent. »Operation Benton«, offiziell ein Einsatz »mittlerer Größe«: Abwurf von 282 Tonnen Bomben und 116 Tonnen Napalm auf ein Gebiet von 200 Quadratkilometern innerhalb von 14 Tagen; Abschuss von über 130000 Granaten des Kalibers 20 mm und von 8500 Artilleriegeschossen; 65 Prozent der Häuser oder der Lebensraum für 17000 Menschen vollständig zerstört. »Operation Wheeler«: Fortschreibung dieser Bilanz mit unwesentlich anderen Zahlen. Insgesamt lagen am Ende des Jahres 1967 fast 70 Prozent aller Siedlungen in der Provinz in Trümmern, Gebiete wie Duc Pho waren gänzlich pulverisiert; 40 Prozent der Bevölkerung Quang Ngais waren zeitweilig oder dauerhaft auf der Flucht. Wie viele Tote und Verwundete zu beklagen waren, ist allenfalls grob zu schätzen. Ärzte des Krankenhauses von Quang Ngai City bezifferten die Zahl auf jährlich 50000, darunter viele, die willkürlich aus Hubschraubern heraus niedergestreckt worden waren. Jonathan Schell sprach von einem jede Vorstellung übersteigenden Maß der Vernichtung. Und die Armee kam in einer internen Begutachtung seiner Berichte zu dem Ergebnis: »Die Darstellung des Schadens […] ist überzeichnet, aber nicht in einer Weise, dass [Schells] Urteil deswegen diskreditiert würde. […] Die Angaben von Mr. Schell sind im Wesentlichen korrekt.«19

Situative Dynamiken So wichtig diese strukturellen Faktoren – die Rolle von Entscheidungsträgern auf oberer und mittlerer Ebene einerseits, die Selbstradikalisierung von Soldaten auf unterer Ebene andererseits – auch sein mögen, so wenig erklären sie, warum eine prinzipielle Bereitschaft zur

18 19

Jonathan Schell, »Quang Ngai and Quang Tin«, in: The New Yorker, 9. und 16. 3. 1968. Comments on the Schell Manuscript, Secret, undatiert, S. 1, in: NA, RG 319, AS, Peers-Inquiry Administrative and Background Materials Files – Closed Inventory, 1967–1970 (PI-CI), Box 11, Folder: Admin.-Secret # 2.

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Gewalt tatsächlich in gewalttätiges Handeln umschlägt, wann Soldaten zu Marodeuren werden und wie vereinzelte Mordaktionen zu Massakern eskalieren. Um sich diesen Fragen anzunähern, bedarf es eines genauen Blicks auf die zeitlichen und räumlichen Kontexte des Geschehens sowie auf die Entfaltung handlungsleitender Motive. Kurz: auf die situative Dynamik. Ein erheblicher Teil der von der »Task Force Oregon« zur Verfügung gestellten Kampfeinheiten war in Kleingruppen aufgeteilt worden. Spezialkommandos, Kompanien, Züge und Trupps galten als das geeignete Mittel, um den überall und nirgends operierenden Guerillas nachzuspüren, sie in ihren Rückzugsgebieten oder Stützpunkten aufzureiben oder an der Reorganisation zu hindern. Nicht zuletzt boten sich Kleingruppen mehr als andere Verbände an, wenn es galt, die politischen Kader des Vietcong in ihren Wohngebieten zu stellen. Kurz: Kleingruppen schienen das ideale Rezept, um dem Feind mit seinen eigenen Mitteln zu begegnen. Zu den gefürchtetsten dieser Kleingruppen zählte ein »Reconnaissance Platoon«, eine Aufklärungseinheit, der »Task Force Oregon«. Zwischen Mai und November 1967 taten insgesamt 120 Fallschirmjäger, allesamt kriegserprobte Freiwillige, in diesem Platoon Dienst. Zu einzelnen Einsätzen rückten sie aber nur mit maximal 45 Mann aus – unter einem Kampfnamen, der in keiner Truppenregistratur verzeichnet war: »Tiger Force«. Ihr Auftrag: »Outguerilla the guerillas« – »Seid schlauer als die Guerilla.« Unsichtbar und mit dem Terrain verschmolzen, sollten sie feindliche Positionen ausmachen, Zielpunkte für Luftangriffe beziehungsweise Landeoperationen markieren, Sabotageakte durchführen, Nachschublinien unterbrechen oder Kader des Vietcong entführen, im Zweifel auch ermorden. Wie die »Tiger« ihre Missionen erledigten, blieb ihnen überlassen. »Sie waren«, in den Worten eines Soldaten der »Task Force Oregon«, »ein Haufen von Arschtretern, die ihren Krieg so führten, wie sie es für richtig hielten. […] Mit Leuten außerhalb ihrer selbst gaben sie sich erst gar nicht ab.«20 Versorgt mit Rationen für 30 Tage, operativ auf sich allein gestellt und gehalten, den Funkverkehr auf ein Minimum zu

20

Gustav A. Apsey, zit. n. NA, RG 319, AS, odcs-per, vwcwg, CaFi, Box 18, Folder: Coy Allegation, Part 2 of 7, Case 221.

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reduzieren, hatten sie eine Lizenz zur Improvisation – und mithin die Erlaubnis, sich in einer Grauzone zwischen Eigenständigkeit und Eigenmächtigkeit zu bewegen. »Falls sie töten mussten, dann konnten sie es tun, ohne anderen davon zu berichten.«21 Ihren Sonderstatus dokumentierten die »Tiger« auch nach außen. Sie trugen keine reguläre Uniform, sondern im Tigermuster gestreifte Kampfanzüge ohne Truppen- und Rangabzeichen, verzichteten auf den Stahlhelm zugunsten eines breitkrempigen Allwetterhutes, durften sich als Einzige Bärte wachsen lassen und als besonderes Statussymbol eine Handfeuerwaffe offen mit sich führen. In ihrer Selbstwahrnehmung waren sie die »Elite der Elite«, in den Augen ihrer Kameraden teils bewunderte, teils gefürchtete »Männer fürs Grobe«, die für die Disziplin einer regulären Kompanie nichts übrig hatten und nur ihren selbst verordneten Regeln verpflichtet waren. Meist wurden nur Altgediente für diese Einheit ausgewählt, Soldaten, die ihren Dienst in Vietnam freiwillig verlängert hatten oder denen der Krieg längst zu einer Lebensform geworden war. »Sie pflegten das Image der supermännlichen Kampfmaschine. […] Rückblickend würde man sie für blutrünstige Verrückte halten, aber damals brauchten wir aggressive Kämpfer, und diese Typen übernahmen die Initiative.«22 Die Verantwortlichen der »Task Force Oregon« setzten die »Tiger« vornehmlich zur »Befriedung« und »Säuberung« der nördlichen Provinzen ein, teils in der Absicht, eine Bresche für größere Kampfeinheiten zu schlagen, teils als Nachhut, die dort weitermachen sollten, wo andere an das Ende ihrer Mittel und Möglichkeiten gestoßen waren. »Ihr seid die Tiger. Und ich erwarte von euch, dass ihr euch wie Tiger benehmt«23, gab ihnen ihr Bataillonskommandeur mit auf den Weg. Für seine Männer offenkundig ein attraktiver Auftrag, den sie in der Manier von Todesschwadronen erledigten. Viele sprachen von einer weiteren Gelegenheit, »Eier an die Wand zu nageln«. »Wir hatten [uns] daran gewöhnt«, so ein Beteiligter, »alles zu töten, was uns im Laufe eines Einsatzes in die Quere kam. […]

21 22 23

Sallah/Weiss, Tiger Force, S. 277; vgl. ebenda, S. 13. Lawrence M. Jackson, zit. n. NA, RG 319, AS, odcs-per, vwcwg, CaFi, Box 19, Folder: Coy Allegation, Part 5 of 7, Case 221. Colonel Gerald E. Morse, zit. n. Sallah/Weiss, Tiger Force, S. 179.

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Von wenigen Ausnahmen abgesehen, kann man das wohl so sagen.«24 Von Juni bis November 1967 zog die »Tiger Force« eine Blutspur durch Quang Tin und das Song Ve-Tal in Quang Ngai. Sie erschossen ohne jeden Anlass Bauern im Feld und mordeten Menschen, die ihnen zufällig über den Weg liefen, folterten Gefangene und führten sie einzeln oder in Gruppen zur Exekution, fielen spätabends oder am frühen Morgen in Dörfer ein und streckten mit Maschinengewehren alle nieder, deren sie habhaft werden konnten – Bauern, die sich zum Essen versammelt hatten oder schliefen, Kinder, die im Freien spielten, Alte beim Spaziergang. »Wir wussten, dass sie Zivilisten waren, nicht Vietcong.«25 Sie stahlen und brandschatzten, prügelten ihre Opfer zu Tode oder vergewaltigten sie bis zur Bewusstlosigkeit, sie erschossen Bewohner, die kurz zuvor abgeworfene Flugblätter in den Händen hielten und der Aufforderung zur Evakuierung nachkommen wollten, sie veranstalteten »Zielschießen« auf Personen, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielten. Sie verschonten weder Verwundete noch Kranke, schossen aus der Distanz mit der M-16 wie aus nächster Nähe mit Handfeuerwaffen. Und manchmal, wenn sie sich in Fünfergruppen aufgeteilt hatten und getrennt auf Patrouille gingen, konnten sie gegenseitig ihre Salven hören. »Wer weiß schon, wie viele [Opfer] es tatsächlich waren?«, fragte einer aus ihren Reihen26 und spielte auf die unsichtbare Seite des Marodierens an – den Mord an Personen, die in Kellern und Bunkern Schutz suchten. In der von Luftangriffen regelmäßig heimgesuchten Provinz Quang Tin hatten sich die meisten Bewohner primitive Schutzanlagen gebaut, die zur tödlichen Falle wurden, sobald die »Tiger Force« den Ort betrat und ohne Vorwarnung ihre Handgranaten in die Zugänge warf. Zu den Dutzenden von Massengräbern, an denen noch heute der Toten gedacht wird, kommt also eine unbekannte Zahl anonymer Todesstollen.27 Von mehreren Hun-

24 25 26 27

Leland W. Carpenter, zit. n. NA, RG 319, AS, odcs-per, vwcwg, CaFi, Box 18, Folder: Coy Allegation, Part 2 of 7, Case 221. Rion Causey, zit. n. Sallah/Weiss, Tiger Force, S. 360. Rion Causey, zit. n. ebenda, S. 212. Coy Allegation, Investigative Summary, S. 9, in: NA, RG 319, AS, odcs-per, vwcwg, Box 18, Folder: Coy Allegation, Part 1 of 7, Case 221.

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dert Toten auszugehen, ist realistisch; auch eine vierstellige Zahl liegt im Bereich des Möglichen. Das Auftreten der »Tiger Force« erinnert weniger an Meuten als vielmehr an Killerkommandos, die ihr Soll erfüllen und auf den nächsten Auftrag warten. In den meisten Fällen kann von einem »geschäftsmäßigen Töten« gesprochen werden, von einem Morden, das wie »Tötungsarbeit« anmutet – routiniert, kalkuliert und distanziert. Sie hatten schlicht die Entscheidung getroffen, auf nichts und niemanden mehr Rücksicht zu nehmen. »Was mich betrifft«, so ein Sergeant, »ich werde niemanden in irgendein Flüchtlingslager bringen. […] Um Tote muss man sich keine Sorgen machen.«28 Die Mehrzahl der Täter ging mit einer berechnenden Systematik vor, das heißt, sie betrieben einen großen Aufwand, um die Verstecke ihrer Opfer ausfindig zu machen, zogen von Hütte zu Hütte, von Bunker zu Bunker und stellten sicher, dass niemand entkam. Und sie hinterließen Erkennungsabzeichen auf den Körpern ihrer Opfer – Spielkarten oder mit Bajonetten in die Haut geritzte Erkennungsmerkmale ihrer Truppe. Dass dabei auch Mordlust im Spiel war, ist nicht zu bestreiten. Erwiesen sind Wetten über die Anzahl der Schüsse, deren es bedurfte, um ein menschliches Ziel zur Strecke zu bringen. Und erwiesen sind Schüsse aus nächster Nähe ins Gesicht oder Verletzungen, die in einer Weise zugefügt wurden, dass die Opfer eines langsamen und qualvollen Todes starben. Auch die Vorstellung, wie selbst gebastelte und in zurückgelassenen Lebensmittelrationen versteckte Sprengsätze die Leiber der hungrigen Finder zerfetzten, bereitete Vergnügen.29 Je länger das Morden währte, desto leichter schien dergleichen von der Hand zu gehen. Dass in den nachträglichen Untersuchungen nur am Rande von Berserkern berichtet wird, passt zum Bild des kontrollierten und mitunter lustvollen Tötens. Zwar gab es Soldaten, die sich in einen Tötungsrausch hineinsteigerten, unter hysterischem Lachen ein Magazin nach dem anderen verfeuerten und wie von Sinnen mit Gewehren, Bowiemessern und Bajonetten auf ihre Opfer – Menschen wie Tiere –

28 29

William Doyle, zit. n. Sallah/Weiss, Tiger Force, S. 92, 120. Vgl. ebenda, S. 64, 184, 238f., 255f.; Robert A. Gross, »Lieutenant Calley’s Army«, in: Esquire, October 1971, S. 158.

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losgingen, Wüteriche, die noch auf Tote einprügelten oder leblose Körper zerstückelten. Vor ihnen mussten selbst ihre Kameraden auf der Hut sein, Vorgesetzte erst recht.30 Doch die Amokläufer konnte man an zwei Händen abzählen, die weit verbreitete Vorstellung eines ungezügelten Blutrausches oder monströser, aller Hemmnisse entledigter Killer geht an der Sache vorbei. Die Morde hätten auch ohne sie stattgefunden. Von einer die Akteure überwältigenden Gewaltdynamik kann in den meisten Fällen also keine Rede sein. Allenfalls davon, dass sich das kontrollierte Morden der Mehrheit und das unkontrollierte Marodieren einer Minderheit gegenseitig bedingten und wechselseitig verstärkten. Allem Erschrecken zum Trotz ging von den Exzesstätern immer auch eine Faszination aus. Sie konnten sich eines feixenden Publikums gewiss sein – und eines lernbereiten Publikums. Wie viele Soldaten einer Einheit tatsächlich töteten, wie viele sich abseits hielten und das Geschehen duldeten, und wie viele versuchten, ihren Kameraden in den Arm zu fallen, ist im Nachhinein schwer zu sagen. Die wenigen über andere Massaker vorliegenden Daten lassen den Schluss zu, dass ungefähr die Hälfte der marodierenden Truppen zu Mördern wurde und die andere Hälfte passiv im Hintergrund blieb. Wobei eine klare Unterscheidung von Tätern und Bystandern nicht immer möglich ist: Bisweilen verweigerten sich Soldaten, die bei früheren Anlässen gemordet hatten; oder aus Verweigerern wurden andernorts Komplizen und Täter. In den Reihen der »Tiger Force« distanzierte sich ungefähr ein Viertel von den Gewaltpraktiken ihrer Kameraden, von drei GIs wird berichtet, dass sie dem Treiben aktiv Einhalt gebieten wollten. Auch wenn der Gruppendruck nicht überwältigend war, so gingen Aufmüpfige doch ein erhebliches Risiko ein, setzten mitunter gar ihr Leben aufs Spiel. Beispielsweise waren mit einer To Whom it May Concern Round Schüsse gemeint, die auf scheinbar tragische Weise die eigenen Leute trafen, tatsächlich aber gezielt auf Unzuverlässige oder vermeintliche Verräter abgegeben worden waren. »Halt einfach den Mund. Und denk dran, dass es keineswegs ausgemacht ist, dass du von deinem nächsten Einsatz heil zurück-

30

Vgl. Sallah/Weiss, Tiger Force, S. 182f., 197, 203, 212–214, 255, 265, 360–364, 372.

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kehrst.«31 So sprachen bullies, die den inneren Zusammenhalt der Truppe mittels Angst und erzwungenem Komplizentum herstellten, die aber zugleich wegen ihrer Erfahrung, Aggressivität und Furchtlosigkeit Respekt einflößten – denn ihnen konnte man sich im Einsatz guten Gewissens anvertrauen. In diesem Sinne schrieb die »Tiger Force« nebst vielen anderen marodierenden Haufen in Vietnam eine aus der Geschichte des Krieges sattsam bekannte Tradition fort: Militärische Kleingruppen erweitern nicht allein die Handlungsspielräume für Exzesstäter. Sie schaffen ein besonderes Milieu der Gewalttätigkeit, weil es sich in diesem Mikrokosmos nach selbst gemachten Regeln leben lässt – und weil es im Prinzip allen freisteht, sich die Freiheit zur Gewalt jenseits des Schlachtfeldes zu nehmen. »Wir bekamen wirklich die Chance, es herauszulassen«, so ein GI, »und da gab es keine Mami, die schimpfte, kein Büro des Schulleiters, in das man geschickt werden konnte.«32 Für die Dauer des Mordens waren sie aller Rücksichtnahmen entledigt, in dieser Zeit fielen die Zumutungen der militärischen Ausbildung und eines unverstandenen Krieges nicht mehr ins Gewicht, an die Stelle von Unübersichtlichkeit und Komplexität traten einfache Wahrheiten und klare Fronten. Ein in Quang Ngai eingesetzter Soldat: »Es zählt nur, was die Leute hier und jetzt über dich denken. Wichtig ist allein, was die Leute in deiner unmittelbaren Umgebung von dir halten. […] Diese Gruppe von Leuten […] war die ganze Welt. Was sie für richtig hielten, war richtig. Und was sie für falsch hielten, war falsch. Die Definition der Dinge wurde auf den Kopf gestellt. Mut wurde als Dummheit angesehen […], und Grausamkeit und Brutalität galten manchmal als heldenhaft.«33 Dass die Gelegenheiten nicht immer und nicht von jedem wahrgenommen wurden, ist evident. Aber die Versuchung war größer als an anderen Orten des Krieges. »Manchmal war man nur zu viert oder zu fünft«, erinnert sich ein Mitglied der »Tiger Force«.

31 32

33

Dennis Lee Stout, zit. n. »Vietnam ›Acts‹ Reported, Tempe Veteran Claims«, in: The Phoenix Arizona Gazette, 12. 12. 1969. Ein namentlich nicht identifizierter GI, zit. n. Michael Baker, Nam. The Vietnam War in the Words of the Men and Women Who Fought There, New York 2001, S. 163. Michael Bernhardt, zit. n. Bilton/Sim, Four Hours, S. 18f. Vgl. Ronald H. Spector, After Tet. The Bloodiest Year in Vietnam, New York 1993, S. 59f.

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»Wenn du deinen Kameraden vertraust, wenn du gute Männer an deiner Seite hast, musst du dir über dein Verhalten keine Gedanken machen. Du kannst jeden Mist machen, den du willst, und überall, wo du willst. Wer soll dir denn auf die Finger gucken? Niemand. Du bestimmst, wo es langgeht.«34

Der »überflüssige Soldat«: Selbstbilder militärischer Gewaltakteure Bekanntlich haben Vietnamveteranen in einer unüberschaubaren Fülle über den Krieg und ihre Selbstwahrnehmung Zeugnis abgelegt: in Interviews mit der Presse, in öffentlichen Protestkundgebungen, in rap groups mit Psychoanalytikern, vor Untersuchungsausschüssen des Kongresses, gegenüber Strafermittlern der Streitkräfte und vor Kriegsgerichten. Als historische Quellen sind diese Aussagen allein deshalb bemerkenswert, weil sie noch während des Krieges oder unmittelbar danach protokolliert wurden, also weder von kulturellen Artefakten noch von nachgängigen Narrativen überwölbt wurden. Auch spielt die – in üblichen Kriegsnarrativen dominante – Konstruktion von Heldentum oder Männlichkeit in diesem Fall nur eine untergeordnete Rolle. Im Mittelpunkt steht vielmehr ein selbstreflexives Bemühen, die entgrenzte Gewalt des Krieges in Vietnam zu verstehen: beobachtete wie selbst verübte Gewalt, Komplizentum wie unterlassene Hilfeleistung für die Opfer. Vom Versuch einer öffentlichen Selbsttherapie zu sprechen, scheint nicht übertrieben. Wer diese Erinnerungen eingehend studiert, stößt auf eine Selbstbeschreibung, die für die Analyse der rasanten Radikalisierung soldatischen Denkens und Handelns in Vietnam eine weitere Perspektive eröffnet. Gemeint ist die Rede vom disposable soldier, vom »überflüssigen Soldaten«, dem es insbesondere an einem fehlt – am Selbstrespekt des professionellen Militärs. Um diese Achse kreisen die Erzählungen über enttäuschte Erwartungen und illusionäre Hoffnungen,

34

William Doyle, zit. n. Joe Mahr, »Why did some Troops Target Civilians but Others did not?«, in: The Toledo Blade, 22. 10. 2003.

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über Verwirrung und Hilflosigkeit und vor allem über eine lähmende Angst.35 Als »Überflüssige« sahen sich diese GIs, weil sie keinerlei Kontrolle über das Kriegsgeschehen hatten. Gute Ausbildung und überlegene Bewaffnung zählten nichts angesichts eines Gegners, der sich selten zum offenen Kampf stellte, aber dennoch das Kriegsgeschehen diktierte. Eine Anfang Januar 1969 in Washington erstellte Studie kam zu dem Ergebnis, dass in den beiden zurückliegenden Jahren ungefähr zwei Millionen Mal Kompanien, Züge und Trupps ins Feld geschickt worden waren. Aber nur knapp ein Prozent dieser Einsätze hatte tatsächlich zu Feindkontakten geführt – und war in der Regel nach kurzen, heftigen Feuergefechten ohne erkennbares Ergebnis zum Erliegen gekommen. In drei von vier Fällen hatte der Feind Zeitpunkt, Ort, Art und Dauer der Konfrontation bestimmt. Darauf hatte sie niemand vorbereitet. Die Realität trat den GIs wie eine fortwährende Karikatur ihres Selbstbildes vom dominanten, zum Sieg verpflichteten und zum Siegen geborenen Kriegers entgegen. Davon abgesehen war das Attribut »überflüssig« als massiver Vorwurf gegen die eigene Führung gemeint. Deren Strategie des Search and Destroy war in der Tat schwer zu vermitteln: Stützpunkte des Feindes wurden eingenommen, unterirdische Bunker, Vorräte, bisweilen ganze Dörfer zerstört, anschließend zog man sich zurück, überließ das Terrain wieder dem Vietcong, wählte dasselbe Ziel noch ein zweites, ein drittes, ein mehrfaches Mal aus, stieß erneut vor und befahl am Ende wie gehabt den Rückzug. Seit Mitte 1966 wurden mehr als 90 Prozent der für Kampfaufträge eingeteilten Bataillone in Search-and-Destroy-Einsätze geschickt. Aber die dem Vietcong gestellten »Vakuumfallen« brachten außer eigenen Verlusten so gut wie nichts – kaum Geländegewinn, wenig Gefangene, keine strategische Dominanz. Der Versuch, den Feind aus der Reserve zu locken, machte aus den eigenen Leuten Lockvögel. Und wurde entsprechend kommentiert von Soldaten, die sich missbraucht fühlten, die ohne Gespür für Raum und Zeit durch Dörfer stolperten, nicht wissend, wen oder was sie suchten oder was überhaupt ihr Auftrag war. »Hamburger Hill« nannten sie die im A-Shau-Tal geführte Schlacht um den strategisch wertlosen »Hügel

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Vgl. Greiner, Krieg ohne Fronten, S. 168–201.

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Nr. 937« im Mai 1969: GIs im Fleischwolf und als Rohstoff für Hamburger.36 Aus ihrer Perspektive war ganz Vietnam ein einziger »Hamburger Hill«: »Das Opfer war eine Lüge. Der Krieg war ein Betrug.«37 Schließlich wurde die eigene »Überflüssigkeit« durch den überall und nirgends lauernden »Sekundentod« Tag für Tag demonstriert. Die Guerilla hatte ein dicht geknüpftes Netz aus Millionen von Minen und Sprengfallen über das ganze Land gelegt, die Fronten aufgelöst und als Antwort auf die unantastbare materielle Überlegenheit der Amerikaner deren moralische Ressourcen ins Visier genommen. Genauer gesagt: das psychische Durchhaltevermögen der GIs. Mit minimalem Einsatz maximalen Verlust zufügen, hieß die Devise der Vietcong. Und der Erfolg gab ihnen recht: Amerikas Dschungelkämpfer fühlten sich nirgendwo sicher, hatten keine Rückzugsräume, keine Etappe, in der sie sich sammeln und neu formieren konnten. Faktisch war alles Kampfzone, jedes Reisfeld, jeder Deich, Baum oder Strauch galt als tödliche Bedrohung. Manche Einheiten büßten die Hälfte ihres Mannschaftsbestandes ein, ohne je den Feind zu Gesicht bekommen zu haben, die Zahl der Soldaten, die an den unteren Gliedmaßen schwer verwundet wurden oder sich gar Amputationen unterziehen mussten, lag im Vietnamkrieg um 300 Prozent höher als während des Zweiten Weltkrieges und um 70 Prozent über der Statistik für den Koreakrieg. Mehrfachamputationen mussten dreimal öfter als im Zweiten Weltkrieg durchgeführt werden. »When you halfstep, it may be your last step«, hieß die Umschreibung eines nervlichen und mentalen Zustands am Rande der Paranoia: Ein falscher Schritt kann dein letzter gewesen sein. Spätestens unter diesem Eindruck löste sich das in der Ausbildung konstruierte Bild überlegener Männlichkeit in nichts auf, wurde die Grenze zwischen fehlendem Selbstrespekt und Selbsthass fließend. Kaum etwas zersetzt die Moral einer Truppe mehr und schneller als Verluste ohne Feindberührung und ohne ausgleichenden Gewinn, nichts fördert Hass, Wut und ungezügelte Aggression mehr als eine Mixtur aus Erniedrigung und Angst. Unter diesen Bedingungen aber gedeiht die Selbstermächtigung zur Gewalt, abgebildet in der unter GI s beliebten Rede »do something physical« – hinterlasse wahrnehm-

36 37

Ebenda, S. 190f., 202, 372. Ein namentlich nicht identifizierter GI, zit. n. Baker, Nam, S. 310.

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bare Spuren deiner Existenz und Präsenz als Soldat, übe Rache an allen, die insgeheim den Feind unterstützen, sich aber niemals zu erkennen geben und stets ungreifbar bleiben. »Jeder war damals blutdürstig, jeder sagte ›Wir zahlen es ihnen heim. […] Wir werden die Bilanz ausgleichen.‹«38 Nachträglich zu rächen war der Tod gefallener Kameraden, im Vorwege wollten sie Rache für den eigenen Tod nehmen. »Wir lebten von Tag zu Tag. Wir gingen nicht davon aus, dass wir überleben würden. Niemand da draußen, der seinen Verstand einigermaßen beisammenhatte, gab noch etwas auf sein Leben. Wenn wir die nächste Woche noch erlebten, waren wir überrascht. […] Ich will damit nicht sagen, dass man einfach aufgibt und stirbt. Du kämpfst um dein Leben. Aber leben kann man nur, indem man tötet.«39 – »The way to live is to kill.« Entgrenzte Gewalt erschien als Allheilmittel – zur Revision des Selbstbildes vom »überflüssigen Soldaten« und zur stabilisierenden Selbstvergewisserung. Mit Gewalt konnte man die Initiative wiedergewinnen, Allmacht demonstrieren und das Verliererimage abstreifen. Wenn nichts anderes zur Verfügung steht, werden Stärke und Erfolg nur noch in dieser Maßeinheit gemessen. So gesehen, erscheinen das wahllose Niederbrennen von Häusern und das wilde Geballere beim Betreten von Siedlungen erst recht wie symbolische Inszenierungen. Sie gehörten zum Repertoire von Soldaten, die in Ermangelung realer Schlachtfelder sich am Ende fantasierte Kampfzonen schufen und in ihrer Fantasie alles und jeden zum Feind erklärten – zu einem Feind, den sie mittels einer selbst verordneten Machtdroge, eines power surge, endlich lokalisiert hatten. Gewalt barg also das Versprechen wiedergewonnener Kontrolle, darin lag ihr symbolischer Wert, ihre moralische Produktivkraft. Sie war der Beweis, etwas bewirken zu können – eine Botschaft an sich selbst und ein Mittel zur Kommunikation mit anderen, vorweg mit jenen Zivilisten, die ihre Loyalität verweigerten und denen man auf diesem Wege den Preis ihrer fortgesetzten Verweigerung vor Augen führen konnte: Sie mussten mit allem rechnen, weil man selbst zu allem 38 39

William Carpenter, zit. n. Sallah/Weiss, Day 1, 22. 10. 2003. William Doyle, zit. n. Sallah/Weiss, Tiger Force, S. 316. Jonathan Shay zitiert einen von ihm interviewten Veteranen einer anderen Einheit mit ähnlichen Worten, in: Achill in Vietnam. Kampftrauma und Persönlichkeitsverlust, Hamburg 1998, S. 93.

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bereit war. Selbst oder gerade im Chaos des Massakers lag die Aussicht auf Ordnung. Und im Mord das Versprechen von Freiheit – weil alles andere keine Rolle mehr spielte. Zumindest für die Dauer des Mordens löste Gewalt ein ansonsten schier unlösbares Problem. Weil sich die Guerilla und ihre Unterstützer aber allenfalls vorübergehend beeindrucken ließen, blieb am Ende nur ein Ausweg: die stete Wiederholung des Exzesses, das permanente Bedrohen der Lebenden mit den Toten. Trotz der Tatsache, dass gewaltbereite Kleingruppen gerade in asymmetrischen Kriegen über weite Strecken auf eigene Faust handeln können, bleibt festzuhalten: Ob und wie militärische Einheiten über die Stränge schlagen, hängt immer auch vom Verhalten der Vorgesetzten ab. Brigade-, Bataillons- und Kompanieführer sind nicht allein für die Führung der Truppen, für die Planung, Durchführung und Kontrolle von Einsätzen verantwortlich; sie hatten in Vietnam überdies einen großen Ermessensspielraum und wurden wegen ihrer oft selbstherrlichen Entscheidungen nicht umsonst Kings in the Field genannt. In früheren Kriegen war diese Sonderstellung nie als Problem wahrgenommen worden; in Vietnam aber ebnete sie viele Wege ins Desaster. Wegen des immensen Bedarfs an Unteroffizieren kamen Kandidaten zum Einsatz, die weder den fachlichen noch charakterlichen Aufnahmetests gewachsen waren und unter anderen Umständen den Sprung aus den Mannschaftsdienstgraden kaum geschafft hätten. Davon abgesehen wurden überproportional viele Offiziere im Range von Captains, Majors oder Lieutenant Colonels nur aus einem Grund nach Vietnam geschickt – um den Beförderungsstau in einem seit Mitte der 1950er Jahre aufgeblähten Offizierskorps aufzulösen. Zu der großen Zahl Unqualifizierter gesellte sich also eine nicht minder große Gruppe Desinteressierter, die ihre grotesk kurze Verwendung von sechs Monaten hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt eines individuellen Karrieremanagements sahen: Nur wer ein Truppenkommando vorweisen konnte, hatte Chancen für eine alsbaldige Beförderung. Die abfällige Rede von der Vietnam Only Army oder Shake and Bake Army zielt auf diese Personalpolitik, die bereits von Zeitgenossen als Verfallssymptom des amerikanischen Heeres wahrgenommen wurde. Dass Offiziere und Unteroffiziere das Treiben von Gewalttätern tolerierten, hat freilich mit dürftiger Qualifikation, unzureichender Vorbereitung und mangelhaftem Kontakt zu den Truppen nur am Rande 356

zu tun. Ihnen glitt die Gewalt der Untergebenen nicht aus der Hand; vielmehr hatten sie mit Gewaltexzessen kein Problem. Teils war die Entscheidung, Truppen an der langen Leine zu führen und Grenzüberschreitungen hinzunehmen, als Mittel zur Besänftigung der Wut und Rachebedürfnisse überforderter GIs gedacht. Teils zeigten Kommandeure ein persönliches Interesse an einer aggressiven, zu keiner Rücksicht verpflichteten Kriegführung. Weil ihr Erfolg an der Zahl getöteter Feinde, am Body Count, gemessen wurde und künftige Beförderungen von einer positiven Bewertung in Vietnam abhingen, spielte es am Ende keine Rolle, mit welchen Mitteln und Methoden die gewünschten Kill Ratios erzielt wurden. So gesehen, haben wir es weniger mit einem leadership breakdown als mit der konsequenten Umsetzung eines spezifischen Verständnisses von Truppenführung zu tun.40 »Wir sind mitten in einem Krieg«, bekam ein GI nach einer Beschwerde über das Auftreten der »Tiger Force« von seinem Vorgesetzten zu hören. »Und Sie verlangen von mir, dass ich unsere beste Einheit deaktiviere, nur weil ein paar Jungs Gooks umbringen?«41 Treffender hätte man die Mentalität von Offizieren während der »Pazifizierung« der nördlichen Provinzen im Jahr 1967 kaum beschreiben können. Truppen wie die »Tiger Force« wurden gebraucht, ihre Gräueltaten waren die Späne, die beim Hobeln anfielen. Ohne Einheiten, die zum Terror willens und fähig waren, wäre der Vorsatz, die Bauern von Quang Ngai bis Quang Tri in Angst und Schrecken zu versetzen, eine unglaubwürdige Drohung geblieben. Dass gerade Sondereinheiten zur exzessiven Gewalt neigten und mitunter den Krieg selbst in die Hand nahmen, war dem Oberkommando bereits Mitte der 1960er Jahre bekannt. Doch die Kritiker wurden damals, nicht zuletzt von William Westmoreland, mit dem Hinweis auf die Besonderheiten eines Guerillakrieges in die Schranken gewiesen.42 Dementsprechend akzeptierte man bei der Rekrutierung der »Tiger Force« nur die aggressivsten

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Vgl. David Cortright, Soldiers in Revolt. The American Military Today, New York 1975; Richard A. Gabriel/Paul L. Savage, Crisis in Command: Mismanagement in the Army, New York 1987; James Kitfield, Prodigal Soldiers: How the Generation of Officers Born of Vietnam Revolutionized the American Style of War, New York 1995. Ein namentlich nicht identifizierter Offizier, zit. n. Sallah/Weiss, Tiger Force, S. 128f. Sallah/Weiss, Tiger Force, S. 52.

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Bewerber, Soldaten also, die während der Ausbildung eine entschiedene Tötungsbereitschaft hatten erkennen lassen. Die ungeschriebene Faustregel für ihren Einsatz lautete: Exekutionskommandos und Todesschwadrone durften zwar nicht überhandnehmen; aber sie sollten an einer möglichst langen Leine gehalten werden. Gleiches galt für die bullies innerhalb der Einheit, wie ein Captain zu verstehen gab, nachdem er von den Exzessen eines »Tigers« erfahren hatte: »Wir brauchen ihn. Sorgt nur dafür, dass er nicht völlig durchdreht.«43

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Captain Harold McGaha, zit. n. Sallah/Weiss, Tiger Force, S. 207; vgl. ebenda, S. 14, 278. In diesem Sinne kann auch die Entscheidung gelesen werden, den als extrem aggressiv bekannten und wegen mehrfachen Totschlags verurteilten Sergeant Roy E. Bumgarner im Februar 1970 wieder in die Armee aufzunehmen und erneut nach Vietnam zu schicken: NA, RG 319, AS, odcs-per, vwcwg, War Crimes Allegations Central File, Box 5, Folder: Congressional Correspondence – War Crimes Allegations, 1971–1972.

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Donatella della Porta

Klandestine politische Gewalt1

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Die seit einigen Jahren blühende Forschung zur politischen Gewalt hat zahlreiche Erklärungen für die strukturellen Voraussetzungen, organisatorischen Merkmale und individuellen Prädispositionen vorgelegt, die zu ihrer Entwicklung führen. Insbesondere die Literatur zum Terrorismus hat die politische Gewalt mit einer umfangreichen Liste von Pathologien in Verbindung gebracht. Obwohl die Terrorismusstudien zahlreiche mitunter hochwertige Fallstudien hervorgebracht haben, ist das Forschungsfeld scharf für seine unzulänglichen Quellen sowie für seine Theoriefeindlichkeit und seine überwiegende Ausrichtung an der Terrorabwehr kritisiert worden.2 Die Protest- und Bewegungsforschung wiederum, die im Gegensatz dazu Konzepte und Theorien zur Untersuchung der Herausbildung von Protestrepertoires entwickelt, hat sich nur gelentlich mit Gewalt, zumal mit ihren radikaleren Formen befasst.3 Ich selbst habe unlängst versucht, diese Lücke mit einem Buch über klandestine politische Gewalt zu schließen, worunter ich extreme Formen von Gewalt verstehe, die kleine Gruppen einsetzen, um politische Ziele zu erreichen.4 Nun bringt die Entscheidung

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Dieser Text ist eine leicht überarbeitete Fassung des letzten Kapitels meines Buches: Clandestine Political Violence, Cambridge 2013. – Die Herausgeber und die Hamburger Edition danken Cambridge University Press für die Abdruckgenehmigung. Andrew Silke, »The Impact of 9/11 on Research on Terrorism«, in: Magnus Ranstorp (Hg.), Mapping Terrorism Research. State of the Art. Gaps and Future Direction, London 2006, S. 175–193; Sam Raphael, »In the Service of Power. Terrorism Studies and US Intervention in the Global South«, in: Richard Jackson/Marie Breen Smyth/ Jeroen Gunning (Hg.), Critical Terrorism Studies. A New Research Agenda, London 2009, S. 49–65. Zu diesen Ausnahmen zählen Michel Wieviorka, Société et terrorisme, Paris 1988; Charles Tilly, Contention and Democracy in Europe. 1650–2000, Cambridge 2004; Donatella della Porta, Social Movements, Political Violence and the State, Cambridge 1995. Klandestine politische Gewalt ist extrem, weil sie darauf abzielt, ihren Opfern ernsthafte physische Verletzungen zuzufügen oder sie sogar zu töten. Darüber

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für ein Vorgehen im Verborgenen recht spezifische Zwänge mit sich. Sie kann eine Spirale der Radikalisierung in Gang setzen, die politische Organisationen am Ende in militärische Sekten verwandelt. Im Folgenden möchte ich die empirischen Ergebnisse meiner Untersuchungen zusammenfassen und sieben Kausalmechanismen vorstellen, die diese Art von Gewalt zwar nicht zwangsläufig hervorbringen, ihr Auftreten aber möglich, ja sogar wahrscheinlich machen.5 Im Einklang mit der Literatur über soziale Bewegungen möchte ich den Entstehungsprozess von Gewalt in seiner Einbettung in soziale und politische Konflikte betrachten, wo er sowohl von den politischen Gelegenheiten, die sich den Eliten und ihren Herausforderern bieten, als auch von den materiellen und kognitiven Ressourcen der Konfliktparteien beeinflusst wird. Aufbauend auf einigen wichtigen Neuerungen in diesem Bereich6 möchte ich jedoch geltend machen, dass sich Gewalt allein mit Blick auf strukturelle Bedingungen nicht befriedigend erklären lässt. Denn gerade klandestine Formen von Gewalt sind das Werk verschwindend kleiner Minderheiten, die auf Bedingungen mit Radikalisierung reagieren, unter denen andere sich mäßigen. In meinen Büchern habe ich vier Fälle untersucht: 1. Gewalttaten des linken politischen Milieus in Italien und Deutschland in den 1970er und frühen 1980er Jahren, 2. Gewalt aus dem rechten politischen Lager Italiens im selben Zeitraum, 3. ethnische Gewalt im Baskenland von den 1960er bis zu den 1990er Jahren sowie 4. die Herausbildung eines gewalttätigen religiösen Fundamentalismus im Nahen Osten seit den 1970er Jahren.7 Ohne den Anspruch zu erheben, klandestine politische

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hinaus zielt sie bewusst auch auf Nichtkombattanten. Der Grund oder vielmehr die Logik hinter dieser Ausweitung der Feindseligkeiten ist in ihrer starken kommunikativen oder symbolischen Funktion zu sehen. Meine Untersuchungen galten Fällen einer Konfliktradikalisierung, die gewaltsam endeten. Einen Schritt weiter kämen wir in unseren Erkenntnissen, wenn die künftige Forschung solche »positiven« Fälle mit »negativen« vergliche, in denen sich keine klandestine Gewalt entwickelte. Doug McAdam/Sidney Tarrow/Charles Tilly, Dynamics of Contention, Cambridge 2001; Jeff Goodwin/James Jasper/Francesca Polletta, Passionate Politics. Emotions and Social Movements, Chicago 2001. Meine Untersuchungen beruhen hauptsächlich auf Tiefeninterviews mit Mitgliedern von Untergrundorganisationen sowie Analysen von Prozessmaterialien. Die Repräsentativität der ausgewählten Fälle ist sicherlich fragwürdig. Insbesondere

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Gewalt erschöpfend zu erklären, gehe ich davon aus, dass in den verschiedenen Fällen dieselben kausalen Mechanismen am Werk sind. Der von mir vertretene Ansatz ist: – relational, insofern er politische Gewalt in der Radikalisierung von Konflikten verortet, in denen verschiedene – institutionelle wie nichtinstitutionelle – Akteure miteinander interagieren; – konstruktivistisch, insofern er nicht nur die äußeren Gelegenheiten und Zwänge berücksichtigt, sondern auch die soziale Konstruktion der Erfahrungswirklichkeit der verschiedenen an den gesellschaftlichen und politischen Konflikten beteiligten Akteure durch diese selbst; – emergent, insofern er davon ausgeht, dass Gewalt im Vollzug entsteht und auf eine Rekonstruktion der kausalen Mechanismen zielt, die das Makrosystem, in dem klandestine politische Gewalt entsteht, mit dem Mesosystem der radikalen Organisationen und dem Mikrosystem der symbolischen Interaktionen innerhalb der militanten Netzwerke verbinden. Meines Erachtens müssen die Kategorien der Bewegungsforschung (wie Gelegenheitsstruktur, Ressourcenmobilisierung oder Handlungsrepertoire) bei der Analyse politischer Gewalt mithin um einige Überlegungen zu relationalen, konstruktivistischen und emergenten Aspekten der Gewaltentwicklung ergänzt werden. Relationale Gewalt. Charles Tilly hat vorgeschlagen, die Wissenschaftler, die über politische Gewalt arbeiten, in drei Kategorien einzuteilen: ideenorientierte, die Ideologien untersuchen, verhaltensorientierte, die das menschliche Erbgut und teleologisches Handeln betonen, und relational orientierte, für die »Transaktionen zwischen Personen und Gruppen wesentlich zentraler sind als für ideen- und verhaltensorientierte Forscher«.8 Folglich, fährt er fort, konzentrieren relational ausgerichtete Wissenschaftler ihre Aufmerksamkeit auf »interpersonale Prozesse, die kollektive Gewalt fördern, bremsen oder kanalisieren und an eine gewaltfreie Politik anschlie-

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sind die meisten meiner Beispiele europäisch und decken, obwohl sie unterschiedlichen Protestwellen entstammen, nicht mehr als ein halbes Jahrhundert ab. Zweifellos bedarf es systematischerer Vergleiche, bevor sich mehr über die Verallgemeinerbarkeit meiner Ergebnisse sagen lässt. Tilly, Contention and Democracy, S. 5.

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ßen«.9 Aus relationaler Perspektive möchte ich behaupten, dass Formen des Handelns im Zuge physischer und symbolischer Interaktionen zwischen sozialen Bewegungen und ihren Gegnern, aber auch ihren potenziellen Verbündeten entstehen und sich verändern. Solche Veränderungen verdanken sich den Zusammentreffen zwischen sozialen Bewegungen und Obrigkeit, in denen es zu einer Reihe wechselseitiger Anpassungen kommt. Selten wird über Nacht oder bewusst zu klandestiner politischer Gewalt gegriffen. Sie entsteht vielmehr in einem (mehr oder weniger graduellen) Prozess, der sich definieren lässt als »Aktionen bestimmter Art in Verbindung mit anderen Aktionen und Reaktionen, oft in Form einer Wechselwirkung«.10 Wiederholte Zusammenstöße mit der Polizei oder politischen Gegnern führen allmählich, fast unmerklich, zu einer immer stärkeren Radikalisierung und münden in eine Rechtfertigung immer gewaltsamerer Formen von Aktionen. Parallel dazu interagieren klandestine Gruppen mit einem Umfeld, das sie unterstützt und aus dem sie logistische Hilfe sowie symbolische Belohnungen beziehen.11 Tatsächlich verfügt Gewalt – als eine Reihe interpersonaler Prozesse – über eine relationale Komponente, die aus dem Austausch zwischen Menschen resultiert. Konstruierte Gewalt: Gewalt löst kognitive und affektive Prozesse aus und wird durch sie ausgelöst. Kulturelle Prozesse sind für die Erforschung radikaler Organisationen von besonderer Bedeutung, da politische Gewalt vor allem symbolisch ist. Sie entwickelt sich in Kontexten, in denen gewisse kulturelle Ressourcen vorhanden sind; sie löst hitzige Debatten über die Gewalt selbst aus; und sie zielt stärker auf emotionale Effekte als auf materielle Schäden. Über den instrumentellen Nutzen einer größeren Sichtbarkeit hinaus haben direkte Aktionen eine wichtige Wirkung auf den engeren Kreis der Protestierenden, deren Motivation sie durch die Entwicklung von Solidaritätsund Zusammengehörigkeitsgefühlen stärken. Obwohl Emotionen als

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Ebenda, S. 20; vgl. auch McAdam/Tarrow/Tilly, Dynamics of Contention, S. 22–24. Max Taylor/John Horgan, »A Conceptual Framework for Addressing Psychological Process in the Development of the Terrorist«, in: John Horgan/Kurt Braddock (Hg.), Terrorism Studies. A Reader, London 2012, S. 130–144, hier: S. 130. Stefan Malthaner, Mobilizing the Faithful. Militant Islamist Groups and Their Constituencies, Frankfurt am Main/New York 2011.

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Verhaltenserklärungen lange Zeit misstrauisch beäugt wurden (und dies nicht nur in der Protest- und Bewegungsforschung, sondern auch in der politischen Soziologie und Politikwissenschaft im Allgemeinen), nimmt man ihre Rolle in jüngster Zeit (erneut) in den Blick. So hat man die emotionale Intensität der Beteiligung an Protestereignissen als eine leidenschaftliche Form von Politik ebenso betont12 wie die Rolle subversiver »Gegengefühle« bei der Verfestigung kollektiver Identitäten.13 Die jüngsten Fortschritte in der Erforschung sozialer Bewegungen tragen mithilfe der Analyse bestimmter Narrative, die die Entwicklung politischer Gewalt begleiten, auch dazu bei, symbolische Prozesse besser zu verstehen. Die Rolle von Dramaturgie, Rhetorik und Ritualen für die Stärkung der Hingabe an die Sache wurde sowohl für Protestereignisse im Allgemeinen (als Effekt einer »emotionalen Befreiung«)14 als auch für bestimmte entscheidende emotionale Ereignisse untersucht. All diese Elemente sind besonders wichtig, um die emotional intensiven Erfahrungen und spezifischen kognitiven Prozesse in oppositionellen Untergrundorganisationen zu untersuchen. Emergente Gewalt: Gewalt verfügt darüber hinaus über einen emergenten Charakter, dem eine Ursachentheorie nicht gerecht zu werden vermag. Wie Kalyvas beobachtete, deutet »fast jede makrohistorische Darstellung von Bürgerkriegen auf die Bedeutung der bereits zuvor bestehenden Loyalitäten breiter Kreise der Bevölkerung für das Ergebnis des Krieges hin, während fast jede mikrohistorische Darstellung auf eine Fülle endogener Mechanismen verweist, denen zufolge Loyalitäten und Identitäten eher eine Folge des Krieges sind oder radikal durch ihn verändert werden«.15 Über die ursprünglich vorhandenen Spaltun12 13

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Goodwin/Jasper/Polletta, Passionate Politics. Ron Eyerman, »How Social Movements Move. Emotions and Social Movements«, in: Helena Flam/Debra King (Hg.), Emotions and Social Movements, London 2005, S. 41–57. Die Forschung hat das Mobilisierungspotenzial »guter« Gefühle (wie Hoffnung, Stolz oder Empörung) unterstrichen und auch in den Blick genommen, wie sich soziale Bewegungen an potenziell gefährlichen Gefühlen (wie Angst oder Scham) abarbeiten; vgl. Helena Flam, »Emotions’ Map. A Research Agenda«, in: dies./Debra King (Hg.), Emotions and Social Movements, London 2005, S. 19–41. Reziproke Gefühle (wie Liebe und Loyalität, aber auch Eifersucht, Rivalität und Ressentiment) wirken sich besonders stark auf die Dynamik sozialer Bewegungen aus. Vgl. Flam, Emotions’ Map. Stathis Kalyvas, The Logic of Violence in Civil Wars, Cambridge 2006, S. 3.

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gen, Identitäten und Interessen hinaus werden im Zuge der Auseinandersetzung neue geschaffen, geschwächt oder gestärkt. Auch die Motivationen verändern sich im Kampfgeschehen, da »Bürgerkriege oft unverfängliche oder jedenfalls gewaltlose Spaltungen aus der Vorkriegszeit politisieren«.16 Die Gewalt entwickle daher eine Eigenlogik und produziere genau die Polarisierung, die sie dann weiter anheizt. Mit Kalyvas gesprochen: »[D]er Anbruch des Krieges transformiert die individuellen Präferenzen, Entscheidungen, Verhaltensweisen und Identitäten – und der zentrale Mechanismus, mit dem der Bürgerkrieg seine transformative Funktion ausübt, ist die Gewalt. […] Kollektive und individuelle Präferenzen, Strategien, Werte und Identitäten werden im Laufe des Krieges unentwegt geformt und neu geformt.«17 Ähnliches gilt für Guerillabewegungen, wie Elisabeth Wood beobachtet hat. In diesen nämlich »war die politische Kultur – die Werte, Normen, Praktiken, Überzeugungen und die kollektive Identität der Aufständischen – nicht festgeschrieben. Sie bildete sich vielmehr in Reaktion auf die Konflikterfahrung selbst heraus, also auf vorangegangene rebellische Aktionen, die Repression und die fortlaufende Interpretation der Ereignisse durch die Beteiligten.«18 Ich gehe davon aus, dass es sich bei klandestiner politischer Gewalt genauso verhält, diese also faktisch die Bedingungen ihrer eigenen Entwicklung schafft und neu erschafft. Ich halte diesen Ansatz für hilfreich, um die oftmals getrennten Makro-, Meso- und Mikro-Ebenen der Erklärung zu verbinden und so ihre jeweiligen Defizite auszugleichen. Makroanalysen lassen immer wieder die Prozesse außen vor, die zwischen allgemeinen Strukturen und individuellem Verhalten vermitteln; Mesoanalysen bieten uns allzu oft eine (zu) voluntaristische Interpretation von Gewalt als strategischer Entscheidung einzelner Gruppen oder Organisationen; und isolierte Mikroanalysen pflegen das (politische) Handeln auf rein psychologische Faktoren zu beziehen. In Wirklichkeit aber führt politische Gewalt, wie andere Formen abweichenden Verhaltens auch, zu Veränderungen sowohl in den Wertesystemen der Individuen als auch in 16 17 18

Ebenda, S. 79. Ebenda, S. 389. Elisabeth Jean Wood, Insurgent Collective Action and Civil War in El Salvador, Cambridge 2003, S. 19.

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ihrer Wahrnehmung der äußeren Realität, die sich wiederum auf die Gruppe oder Organisation auswirken, der das einzelne Individuum angehört. Es kann zwar kein Zweifel daran bestehen, dass klandestine politische Gewalt durch die Bedingungen des politischen Systems beeinflusst wird, aus dem sie hervorgeht. Es handelt sich jedoch um ein Phänomen, bei dem wir es mit relativ kleinen Organisationen zu tun haben, deren innere Dynamik die Gewaltentwicklung unweigerlich prägt. Was Kausalmechanismen tun – oder vielmehr, was ich zu tun versuche, indem ich sie beschreibe –, ist nicht mehr, aber auch nicht weniger, als die kontextuelle, die organisatorische und die interpersonale Perspektive miteinander zu verbinden. Mein Versuch eines globalen Vergleichs – worunter ich den Vergleich einer kleinen Zahl von Fällen verstehe, die nach dem Prinzip der maximalen Variation ausgewählt worden sind – veranlasste mich, nicht nach primären Ursachen, sondern nach Kausalmechanismen zu suchen. Darunter verstehe ich Ketten von Interaktionen, in denen Strukturbedingungen gefiltert werden und Effekte zeitigen, ihrerseits aber ebenfalls Veränderungen unterliegen. Zweifellos unterscheiden sich der Grad der wirtschaftlichen Entwicklung, die demokratischen Qualitäten und die Nationalkulturen der von mir als Beispiele linker, rechter, ethnisch-nationalistischer und religiöser klandestiner politischer Gewalt analysierten historischen Fälle erheblich. Bei den Mechanismen, die der Radikalisierung politischer Konflikte zugrunde liegen und die klandestine politische Gewalt aufrechterhalten, gibt es jedoch einige Überschneidungen. Ich bezeichne diese Mechanismen als eskalierende Repression, konkurrenzbedingte Eskalation, Aktivierung militanter Netzwerke, organisatorische Abschottung, Militarisierung des Handelns, ideologische Abkapselung sowie militante Einschließung und werde im Folgenden jedem von ihnen einen Abschnitt widmen. Eskalierende Repression ist der erste Mechanismus, den ich hervorgehoben habe. Als Herausforderung der öffentlichen Ordnung führen Proteste normalerweise zu Interaktionen der Protestierenden mit der Polizei, die diese Ordnung zu verteidigen hat. Die Strategien des Protest Policing, also des polizeilichen Umgangs mit Protesten, unterscheiden sich jedoch erheblich. Die Polizei kann das Demonstrationsrecht über die Störung der öffentlichen Ordnung stellen und kleinere Gesetzesübertretungen tolerieren, oder sie kann Recht und Ordnung 365

strikt durchsetzen. Sie kann mit sanfteren oder härteren Taktiken eingreifen, auf Überzeugungskraft oder auf Gewalt setzen. Ihr Eingriff kann nicht nur mehr oder weniger brutal sein, sondern sich auch mehr oder weniger stark auf die »Randalierer« konzentrieren. Wie Tilly ausführt, unterscheiden sich Regime darin, welche Gruppen und Partizipationsformen sie fördern und welche sie unterdrücken.19 In allen Fällen meiner Untersuchung stand – in einem Prozess doppelter Diffusion20 – die Radikalisierung der Protestformen in Wechselwirkung mit repressiven Stilen, die nicht nur brutal, sondern oft auch diffus waren und nicht nur gewalttätige, sondern auch gewaltfreie Aktivisten trafen. Taktische Interaktionen bildeten sich durch die wechselseitige Anpassung an neue Wendungen heraus, sodass die Entscheidungen jeder Partei durch die der Gegenseite beeinflusst wurden.21 Zur Ausbreitung von Gewalt kam es, wenn die Wahrnehmung vorherrschte, der Staat überreagiere auf einen entstehenden Protest. Dies war in Italien der Fall, als die Proteste der Studentenbewegung und dann der Arbeiterbewegung ein wachsendes Konfliktpotenzial signalisierten, mehr noch aber im Spanien Francos, wo Arbeiterproteste und eine Neubehauptung ethnischer Identität zusammentrafen, sowie in den autoritären Regimen des Nahen Ostens, die mit Härte auf das sogenannte religiöse Erwachen reagierten. In allen von mir untersuchten Fällen ließ die alltägliche Erfahrung der physischen Konfrontation mit der Polizei de facto das Bild eines ungerechten Staates aufkommen, der bereit ist, mit brutaler Gewalt gegen seine Bürger vorzugehen. Je wahlloser die Unterdrückungsmaßnahmen erschienen, desto stärker nahm die Solidarität mit – oder wenigstens die Duldung von – militanten Gruppen zu, wie sich insbesondere in Spanien unter Franco sowie unter dem autoritären Regime Mubaraks in Ägypten oder unter der israelischen Besatzung in Palästina beobachten ließ. Polizeiaktionen dieses Typs delegitimierten in Wirklichkeit nicht nur die Polizei, sondern auch den Staat, dem zu die-

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Charles Tilly, From Mobilization to Revolution, Reading 1978. Donatella della Porta/Sidney Tarrow, »Interactive Diffusion. The Coevolution of Police and Protest Behavior With an Application to Transnational Contention«, in: Comparative Political Studies 2012, H. 1, S. 119–152. Doug McAdam, »Tactical Innovation and the Pace of Insurgency«, in: American Sociological Review 1983, H. 6, S. 735–754.

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nen sie beanspruchte. Zudem verstärkte sich der Eindruck von Ungerechtigkeit, wenn der Staat als parteiisch wahrgenommen wurde, indem er das gewaltsame Verhalten einiger Gruppen unterdrückte, die Gewalt anderer jedoch tolerierte – wie es bei den Rechtsradikalen in Italien der Fall war. Die Repression ließ in actu Subkulturen entstehen, die mit Gewalt sympathisierten und oft alte Mythen wiederbelebten, sodass Gewalt ihrerseits zunehmend als eine Ressource im internen Wettkampf im Gefüge der sozialen Bewegung betrachtet wurde. Nicht nur die wahllose, auch die selbstwidersprüchliche Repression förderte die Eskalation. Sowohl die italienische Rechte als auch die Islamisten in Saudi-Arabien waren fassungslos, als sie sich von einem Staat betrogen fühlten, der in gewissem Maß als ihr Befürworter gegolten hatte. In allen Fällen wurde die Unterdrückung als ungerecht empfunden.22 Tatsächlich löste die Unterdrückung von Protesten transformative Ereignisse aus.23 Wie sich linke, rechte, ethnonationalistische und religiöse Militante gleichermaßen erinnern, nährten brutale Angriffe auf Demonstranten oder die Tötung von Gleichgesinnten intensive Gefühle der Identifikation mit einer Gemeinschaft von Kämpfern, während der Staat von nun an als Feind galt. Die Repression brachte neue und wieder aufgefrischte Märtyrer und Mythen hervor, die Gewalt als Mittel der Verteidigung und/oder Rache rechtfertigten. Vor dem Hintergrund eines allgemeinen Diskurses von Unterdrückung und Widerstand wurden massive Repressionen gegen Protestler als ein Indiz dafür gewertet, dass es keinen anderen Ausweg gab. Dies bedeutete zugleich Misstrauen gegenüber friedfertigen Formen des Protestes sowie Vertrauen in den Erfolg von Gewalt. Ergänzt sei, dass die seinerzeitigen Interaktionen auf der Straße in größere Zusammenhänge eingebettet waren, die verschiedene Akteure betrafen: von politischen Parteien zu Interessengruppen, von Bewegungsorganisationen zu Meinungsmachern. Proteste und polizei22 23

William A. Gamson/Bruce Fireman/Steven Rytina, Encounters with Unjust Authorities, Homewood 1982. Mark R. Beissinger, Nationalist Mobilization and the Collapse of the Soviet State, Cambridge 2002; Donatella della Porta/Bernard Gbikpi, »Riots. A Dynamic View«, in: Seraphim Sepheriadis/Hank Johnston (Hg.), Political Violence, Aldershot 2011, S. 87–102; William H. Sewell, »Three Temporalities. Toward an Eventful Sociology«, in: Terence J. McDonald (Hg.), The Historic Turn in the Human Sciences, Ann Arbor 1996, S. 245–280.

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liche Maßnahmen wurden zum Stein des Anstoßes und lösten heftige Debatten über die Grenzen des Demonstrationsrechts und der polizeilichen Repression aus. Kurz gesagt, behandelten diese Debatten die übergeordnete Frage nach der Bedeutung von Demokratie, wobei die im Entstehen begriffene Bürgerrechtsfraktion gegen Law-and-OrderKoalitionen stand.24 Diese Konflikte führten oft dazu, dass gewaltsame Protestformen stigmatisiert und andere legitimiert wurden. Dieser Prozess der (De-)Polarisierung zeichnete sich jedoch in verschiedenen Fällen durch unterschiedliche zeitliche Abläufe, Drehungen und Wendungen aus, wobei die Abweichungen weniger mit den klassenspezifischen, ethnischen oder religiösen Identitäten der Gewaltakteure als mit den Besonderheiten der politischen Regime zu tun hatten, gegen die sie sich richteten. So drehte sich die Spirale der Gewalt in nichtdemokratischen Ländern viel weiter. Im Spanien des autoritären Franco wie im Nahen Osten gelang es in der Regel – zumindest kurzfristig – nicht, Proteste mit harten repressiven Maßnahmen zu demobilisieren; ein derartiges Vorgehen trug vielmehr zu einer Radikalisierung bei, aus der eine noch größere Herausforderung erwuchs, da sie mit einer wachsenden Unterstützung durch die Allgemeinheit einherging und oft zu einer gewissen vorübergehenden territorialen Kontrolle mancher Gebiete durch die Rebellen führte. Wie der Fall Spanien jedoch zeigt, kann es auch dann zu einer gewaltsamen Entwicklung kommen, wenn sich die entsprechenden Gelegenheiten im Rahmen eines Prozesses der Liberalisierung und des Übergangs eröffnen, und zwar als ein Mittel im Rahmen von Verhandlungen ebenso wie/oder als eine Reaktion auf die gefühlte Enttäuschung der Hoffnungen auf einen schnelleren und weitreichenderen Demokratisierungsprozess. Der zweite von mir identifizierte Mechanismus ist der einer konkurrenzbedingten Eskalation. Die Bewegungsforschung hat die Radikalisierung mit der Herausbildung von Protestzyklen in Verbindung gebracht. Zwar führen Protestwellen oft zu einer »Normalisierung« und auch Zivilisierung zuvor unkonventioneller Protestformen, doch besteht eine ihrer unmittelbaren Folgen in der Entwicklung gewaltsamer Aktionsformen. Diese verändern sich in der Regel im Laufe eines Zyklus: Eher vereinzelt und defensiv zu Beginn, werden sie im Lauf der

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Della Porta, Social Movements.

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Zeit zunehmend organisierter und ritualisierter. Gegen Ende eines Zyklus kommt es, während die Proteste an Zahl und Größe abflauen, zu klandestinen Formen von Gewalt. Einer der Gründe, die ich für diese Eskalation ausfindig gemacht habe, ist der organisatorische Wettbewerb in den dichten Milieus von sozialen Bewegungen, Familien von sozialen Bewegungen (bestehend aus sozialen Bewegungen mit einigen gemeinsamen Ausrichtungen, die oft verbündet sind) oder aber breiteren Sektoren sozialer Bewegungen, die eine Vielfalt an Familien von sozialen Bewegungen umfassen. Die Protestzyklen, aus denen die von mir untersuchten Untergrundorganisationen hervorgingen, hatten ihren Ursprung in existierenden kollektiven Akteuren, aber auch in internen Kontroversen: Die Partito Communista Italiano für die linken italienischen Gruppen, der Movimento Sociale Italiano für ihre rechten Pendants, die Partido Nacionalista Vasco für die eta (Euskadi Ta Askatasuna, baskisch für: Baskenland und Freiheit) und die Muslimbrüder für die islamistischen Gruppen waren solche ursprünglichen Akteure, die von den aufstrebenden sozialen Bewegungen als zu zahnlos, wenn nicht sogar als verräterisch angegangen wurden. Während Protestzyklen mit dem Aufkommen einer großen Zahl von Bewegungsorganisationen verbunden sind, die in der Regel auf dem Höhepunkt der Proteste zusammenarbeiten, schürt vor allem ein Rückgang in der Mobilisierung Konflikte bezüglich der Frage, mit welchen Strategien und Taktiken man die wahrgenommene Krise am besten überwinden kann. Auf der Linken wie auf der Rechten, in der eta und im islamistischen Fundamentalismus wurden wir Zeuge interner strategischer Kämpfe, die mit der mehr oder weniger rapiden Radikalisierung eines Teils der Sympathisanten und der Mäßigung eines anderen endeten. Darüber hinaus regten Protestzyklen die Entstehung von Gegenbewegungen an, was oft zu physischen Auseinandersetzungen zwischen Militanten verschiedener Bewegungen führte. In allen von mir behandelten Fällen verdankte sich die Erprobung gewaltsamer Taktiken dem Bemühen, die anderen Gruppen zu überbieten – und die verbliebenen Streiter für sich zu gewinnen –, aber auch einer schrittweisen alltäglichen Anpassung an die Taktiken der Gegner. Die Entscheidung für radikale Aktionsformen war eine Art von »geringfügiger Produktdifferenzierung (durch das Angebot unwesentlich anderer Ziele) und vor allem eine taktische Ausdifferenzie369

rung«.25 Diverse Bewegungsorganisationen zielten mit variablen strategischen Angeboten auf unterschiedliche Klientelen, um attraktiver für sie zu werden. Vor allem in den Phasen abklingender Mobilisierung wurde Gewalt zu einem Markenzeichen, um die Aufmerksamkeit radikalisierter Bewegungsgruppen für sich zu gewinnen. Indem sie sich auf diese Weise Praktiken aneigneten, wurden die Aktivisten allmählich in die Gewalt einsozialisiert, während gleichzeitig die Organisationen ihre Strukturen anpassten – indem sie beispielweise ihre eigenen Ordnungsdienste aufbauten, die sich zunächst der Verteidigung, später aber dem Angriff widmeten. In allen Fällen entwickelten sich die auf gewalttätige Repertoires spezialisierten Strukturen erst nach und nach im Zuge von Kämpfen mit politischen Gegnern und der Polizei, bis besondere Gewalt- oder Repressionsvorfälle ihre Mitglieder in den Untergrund drängten. Während im italienischen Fall Anhänger der Linken und der Rechten Straßenkämpfe miteinander ausfochten, konkurrierten im Baskenland Ethnonationalisten (wenngleich nicht physisch) mit jenen, die den Konflikt als einen Klassenkonflikt verstanden. Im Fall der Islamisten standen sich linke sowie nationalistische und religiöse Bewegungsorganisationen in scharfem (manchmal physischem) Kampf gegenüber. Die Aktivierung militanter Netzwerke ist der nächste von mir festgestellte Mechanismus. Gemeinsam war Kämpfern, die sich Untergrundorganisationen anschlossen, statt psychologischer Besonderheiten und unabhängig von ihren heterogenen Hintergründen, dass sie Netzwerken von Freunden/Genossen angehörten. Die sozialwissenschaftliche Literatur über soziale Bewegungen (und andere Gegenstände) hat immer wieder die Rolle sozialer Netzwerke für die Rekrutierung von Mitstreitern für den politischen Widerstand (contentious politics) betont. Meine Fälle entsprechen genau Doug McAdams »Modell der Rekrutierung für einen Aktivismus mit hohen Risiken/ Kosten«.26 Diesem Modell zufolge spielen Familien oder andere Sozialisationsinstanzen eine Rolle dabei, Einzelne für politische Ideen empfänglich zu machen; wenn die politisch dergestalt Sensibilisierten 25 26

John D. McCarthy/Mayer N. Zald, The Trend of Social Movements, Morrilltown 1973, S. 6. Doug McAdam, »Recruitment to High-Risk Activism. The Case of Freedom Summer«, in: American Journal of Sociology 1986, H. 1, S. 64–90, hier insb. S. 68–71.

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dann politischen Aktivisten begegnen, motiviert sie dies, sich an ersten Aktionen mit geringen Kosten/Risiken zu beteiligen. Unter Bedingungen »biografischer Verfügbarkeit« – das heißt zum Beispiel bei jungen Menschen – können »diese ›gefahrlosen‹ Vorstöße in den Aktivismus […] langfristigere Folgen haben […], da sie den Neurekrutierten ›dem Risiko‹ aussetzen, durch den zyklischen Prozess der Integration und Resozialisierung in kostspieligere Formen der Beteiligung hineingezogen zu werden«.27 Bei den von mir untersuchten Aktivisten wie bei den von McAdam studierten Freedom-Summer-Aktivisten bedingte dieser Prozess eine zunehmende Integration in Aktivistennetzwerke, die eine »Kultur der Solidaritäten« bildeten, und zwar als »einen kulturellen Ausdruck, der aus der Gesamtkultur heraus entsteht, in seiner Verkörperung oppositioneller Praktiken und Bedeutungen jedoch emergent ist«.28 Kulturen der Solidarität bilden sich »in dem Moment, in dem die gewohnten Praktiken des alltäglichen Lebens außer Kraft gesetzt sind und eine Krise ein neues Repertoire an Verhaltensweisen, Assoziationsformen und Wertungen erfordert«.29 Für die Aktivisten schuf die Wirklichkeit der Alltagswelt – die »Wirklichkeit par excellence«, in der »die Anspannung des Bewusstseins am stärksten« ist30 – die Bedingungen für eine allmähliche Akzeptanz von Gewalt als einem Mittel der Politik. Wenn Netzwerke für die meisten Arten von Aktivitäten wichtig sind, müssen wir spezifizieren können, welche Netzwerke ein Engagement in einer Untergrundorganisation nahelegen. Hier unterscheiden sich die vier Typen klandestiner Gewalt hinsichtlich der Bedeutung des jeweiligen Bewegungsmilieus, aus dem sie ihre Rekruten beziehen, also des linken, rechten, ethnonationalistischen und des religiösen. Freilich waren auch Ähnlichkeiten zu erkennen. In allen Fällen erfolgte die Rekrutierung in Gruppen, die bereits einen Prozess der Radikalisierung durchlaufen hatten, und ganze Blöcke neu angeworbener Mitstreiter verdankten sich einer Spaltung innerhalb der radikalsten

27 28 29 30

Ebenda, S. 69. Rick Fantasia, Cultures of Solidarity. Consciousness, Action, and Contemporary American Workers, Berkeley 1988, S. 17. Ebenda, S. 14. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 1982, S. 24.

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Flügel einer sozialen Bewegung. Intensive affektive Beziehungen waren typisch für all diese Netze. In allen Fällen wurden Netzwerke von diesen Gruppen nicht nur ausgenützt, sondern auch geschaffen. Wie Elisabeth Wood an verschiedenen Formen politischen Engagements beobachtete, wurden soziale Netzwerke aus dem bewaffneten Kampf heraus gegründet.31 Dies erklärt auch, warum man in allen vier Typen klandestiner Organisationen zwei (oder sogar mehr) Generationen begegnet. Die erste Generation wuchs in den Traditionen alteingeführter sozialer Bewegungen heran und wurde von der roten Subkultur in der Linken gespeist, bei den Neofaschisten von nostalgischen Milieus, bei der eta von nationalistischen Gemeinschaften und bei den islamischen Fundamentalisten von bestimmten religiösen Enklaven. Familiäre Bindungen spielten hier eine besondere Rolle, manchmal in materieller, öfter in symbolischer Hinsicht. Die Rekrutierung – oder besser gesagt, die Gründung klandestiner politischer Organisationen – spielte sich vor allem in denjenigen politischen Umfeldern ab, in die die Militanten in sehr jungen Jahren einsozialisiert worden waren. In kleinen und radikalen Gruppierungen entwickelten sich militante Netzwerke, in denen sich politisches Engagement und Freundschaften wechselseitig verstärkten. Konkrete Aktionen stellten soziale Verbindungen her, die die Wahrnehmungen der beteiligten Aktivisten ebenso beeinflussten, wie sie ihre emotionale Bindung und damit den Gruppendruck erhöhten. Groll über Missstände und Gier waren nicht (nur) bereits vorhandene Einstellungen, sondern nahmen im aktiven Kampf zu. Sobald sie aktiv waren, trugen die Untergrundorganisationen ihrerseits zur Bildung radikalisierter Milieus bei, aus denen sie dann eine zweite Generation von Aktivisten rekrutierten. Als die Gründungsfiguren festgenommen oder ins Exil getrieben wurden, übernahmen radikalere Neulinge deren Rollen. Sie waren während der Eskalation aufgewachsen, zu der die Untergrundorganisationen beigetragen hatten, und schon sehr früh in die Gewalt einsozialisiert worden, praktisch ohne Kontakt mit gewaltfreien Formen von Politik. Diese zweiten Generationen waren im Allgemeinen deutlich gewaltbereiter.

31

Wood, Insurgent Collective Action.

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Einmal im Untergrund, durchliefen Untergrundorganisationen einen Prozess der Implosion, bei dem die Interaktionen mit der Außenwelt reduziert wurden. Zur näheren Bestimmung dieses Prozesses unterscheide ich Mechanismen der organisatorischen Abschottung, der Militarisierung des Handelns und der ideologischen Abkapselung. Hinsichtlich ihrer organisatorischen Abschottung wiesen die Organisationsstrukturen der vier Typen von klandestinen Gruppen sowohl einige Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten auf. Untergrundorganisationen jeden Typs ließen sich von den organisatorischen Repertoires32 inspirieren, die ihre Familien von sozialen Bewegungen auszeichneten, und passten sie an eine feindliche Umwelt an. Die Folge waren unterschiedliche Gleichgewichte zwischen hierarchischen und Netzwerk-Strukturen sowie unterschiedliche funktionale interne Gliederungen, in denen sich die Wichtigkeit der Fabrik für die linken Gruppen und von religiösen Themen für die Islamisten widerspiegelte. In diesem Sinne interagierten Ideen und Interessen im Entscheidungsprozess. Zusätzlich reflektierten die Strukturen in der Regel die Stärke der Organisation an Mitgliedern und Mitteln. Zugleich fand jedoch eine sehr ähnliche typenübergreifende Evolution in Richtung abgeschotteter Strukturen statt. Angesichts zunehmender Repression und abnehmender Unterstützung wurden die Untergrundorganisationen hierarchischer, gaben ihre Versuche auf, große Versammlungen einzuberufen und statteten einige Anführer mit größerer (formaler) Macht aus. Wie beim organisierten Verbrechen kollidierte der Wunsch nach effektiver Zentralisierung und hierarchischer Kontrolle mit einer eher zentrifugalen Realität. Zunächst einmal erzwang die Heimlichkeit eine Verringerung der Rolle von Vorgängen, die Sympathisanten offenstanden, und der Rolle von »legalen« (also nicht klandestinen) Kämpfern, während die verschiedenen Zellen immer unabhängiger voneinander wurden, damit aber auch immer schwieriger von oben zu kontrollieren waren. In diesem Prozess stärkte gerade die Schwierigkeit, sich noch in die sozialen Bewegun-

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Elisabeth S. Clemens, »Organizational Form as Frame. Collective Identity and Political Strategy in the American Labor Movement«, in: Doug Mc Adam/John D. McCarthy/Mayer N. Zald (Hg.), Comparative Perspectives on Social Movements. Political Opportunities, Mobilizing Structures, and Cultural Framings, Cambridge/New York 1996, S. 205–226.

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gen einzuschalten, das Gewicht der militärischen gegenüber der politischen Organisationsstruktur. Militärisch ausgerichtet hieß aber nicht Gehorsam: Tatsächlich bildeten sich in allen Fällen Splittergruppen, die sich in einem endlosen Prozess der Aufspaltung in immer kleinere Einheiten und manchmal blutigen internen Säuberungen bekämpften. Ähnliches gilt für die Analyse des nächsten Mechanismus: der Militarisierung des Handelns. Auch hier hat die vergleichende Analyse gezeigt, dass Untergrundorganisationen in der Wahl ihrer Ziele und Aktionsformen gewissen normativen Präferenzen folgten. Die Handlungsstrategien wurden tatsächlich nicht nur einer instrumentellen Beurteilung unterzogen, sondern waren durch Gruppennormen beschränkt. Der Übergang von Aktionen gegen Sachen zu Aktionen gegen Menschen und schließlich der Übergang vom Verletzen zum Töten führte bei den radikalen Linken zu Spannungen. In der radikalen Rechten wurde das Massaker an wahllosen Gruppen von Menschen von einer neuen Kämpfergeneration stigmatisiert. In der eta war das bei Bombenattentaten an öffentlichen Orten der Fall, besonders wenn die zuvor herausgegebenen Warnungen nicht verhinderten, dass Menschen starben. Auch bei den islamistischen Gruppen traf die Tötung von Zivilisten, insbesondere muslimischer Glaubensbrüder, auf Widerstand. In allen Fällen führten Todesopfer unter Personen, die man als »unschuldig« (oder zumindest neutral) betrachtete, zu interner Kritik – wie auch eine Gewaltanwendung innerhalb der Gruppe zur Bestrafung eines Ausstiegs oder »Verrats«. Zum Mittel des Selbstmordattentats wurde trotz seiner Effektivität nur von wenigen Gruppen in extrem zugespitzten Konflikten gegriffen; für die meisten lag es außerhalb des Vorstellbaren. Doch auch in diesem Zusammenhang konnte ich feststellen, dass die Gruppen zunehmend von Aktionen zum Zwecke der Propaganda Abstand nahmen und stattdessen zu Aktionen übergingen, die auf das bloße Überleben der Organisation zielten. In dem Maße, wie die repressiven Maßnahmen die organisatorische Isolation und die Akzeptanz von Gewalt verstärkten, entwickelte sich der sogenannte Unterdrückungsapparat (Polizei, Armee, Richter) zum Hauptziel klandestiner Aktionen. Die Logik des Handelns wurde immer stärker militärisch und immer weniger politisch. Die normativen Hemmungen gegenüber den brutalsten Aktionsformen wurden überwunden, weil die Gruppen 374

eine bestimmte Reputation als Soldaten und Helden anstrebten. In einem Teufelskreis begann diese Reputation aber, den klandestinen Gruppen mehr zu schaden als zu nutzen. Oft bedeutete die Kontrolle über ein Territorium (im Fall der eta, aber sogar mehr noch in Ägypten), dass die Organisation der Bevölkerung bestimmte Verhaltensweisen aufzwang und ihr Ressourcen abpresste, was zu einem Rückgang ihrer Unterstützung führte. In ihrer wachsenden Isolation neigten die Untergrundorganisationen dazu, genau die sozialen und politischen Gruppen ins Visier zu nehmen, die sie zuvor für sich hatten gewinnen wollen: die Linke, die Rechte, die Basken beziehungsweise die Muslime. Das Tempo dieses Prozesses hing mit dem Grad der Radikalisierung der bestehenden Konflikte und ihrer kulturellen Auswirkung auf die Toleranz gegenüber Gewalt zusammen, verschärfte diese Radikalisierung aber auch. Diese Entwicklungen spielten mit einem weiteren Mechanismus zusammen: der ideologischen Abkapselung. Wie bereits erwähnt, wurde die politische Gewalt normativ gerechtfertigt, insofern radikale Überzeugungen zugleich Voraussetzung und vor allem Folge gewaltsamer Aktionen waren. Im Allgemeinen beschrieben alle ideologischen Narrative einen Weg, der von einer glorreichen Vergangenheit über eine lange Phase der Dekadenz zu einer Wiedergeburt führte. Dichotome Visionen, das Gefühl der moralischen Überlegenheit und essentialistisches Denken entwickelten sich allesamt aus den Aktionen der Gruppen heraus. Die Rechtfertigung folgte der Eskalation, die nur bis zu einem gewissen Grad strategisch geplant war. Stärker als aus einer bestehenden Ideologie entwickelte sich die Gewalt aus Unterdrückung und Konkurrenz heraus. Auch hier fielen einige Unterschiede in den Narrativen auf, mit denen die Untergrundorganisationen anfangs ihre Diskurse in die umfassendere Kultur der sozialen Bewegungen einbetteten, die sie ansprechen wollten. So setzte die italienische Linke auf Widerstand und Revolution, während die Rechte den Geist des Faschismus wiederaufleben ließ; die eta baute auf die baskische Mythologie; die islamistischen Gruppen bezogen sich auf bestimmte Trends in der Interpretation religiöser Texte. Allen Typen von Untergrundorganisationen war jedoch gemeinsam, dass sie auf ein Narrativ zusteuerten, welches immer weniger mit dem der sozialen Bewegung im Einklang stand, die sie zu beeinflussen suchten. Indem sie ihren Diskurs an ihre organisatori375

sche Abschottung und an die Militarisierung ihres Handelns anpassten, änderten sie ihre Selbstdefinition von (effektiven) Soldaten zu (geschlagenen) Märtyrern. In allen vier Typen wurde die Selbstrechtfertigung immer elitärer und zeichnete nun das Bild heroischer – wenn schon nicht erfolgreicher – Kämpfer. Und um immer grausamere Formen von Aktionen zu rechtfertigen, konstruierten die Untergrundorganisationen das Bild eines absoluten Bösen, dessen kognitive Grenzen sich immer weiter ausdehnten. Auch dies war ein Teufelskreis: Je isolierter die Organisationen wurden, desto weniger bemühten sie sich darum, ihre Rahmenerzählungen an diejenigen der Aktivisten in potenziell wohlgesonnenen Umfeldern anzuschließen; sie formulierten vielmehr ein in sich geschlossenes und selbstbezügliches Narrativ. Die ursprünglich einmal instrumentell – als einziger Ausweg gegen einen mächtigen Gegner – gerechtfertigte Gewalt entwickelte sich nun zunehmend zu einer existenziellen Antwort auf eine feindliche Umwelt: Damit vollzog sich eine Umstellung von einer konsequentialistischen auf eine deontologische Rechtfertigung. Deshalb waren die Ideologien des Marxismus-Leninismus, Neofaschismus, exklusiven Nationalismus oder des islamischen Fundamentalismus – die es schon lange gab – nicht die unmittelbaren Ursachen für die Wellen an klandestiner Gewalt. Sie wurden in diesem Prozess vielmehr deformiert und transformiert. Selbst die Sprache veränderte sich und wurde für Außenstehende immer unverständlicher. Waren die Gruppen einmal im Untergrund, wurde die Selbstverpflichtung ihrer Mitglieder in ähnlicher Weise durch Mechanismen der militanten Einschließung aufrechterhalten. Von einer Quelle der Unterstützung konnte sich die Gruppe allmählich in ein Gefängnis verwandeln: »Die Mitglieder mancher sozialen Bewegungen finden, dass enge persönliche Beziehungen etwas Repressives und Erdrückendes haben. Sogenannte kulturelle Freiräume verwandeln sich manchmal in Gefängnisse, aus denen einige Beteiligten gerne flöhen, was sie aber nicht können, weil ihnen der Mut fehlt, der zu erwartenden Zensur und Ächtung durch die Gruppe standzuhalten.«33 Auf die alltäglichen 33

William A. Gamson, »The Social Psychology of Collective Action«, in: Aldon D. Morris/Carol McClurg Mueller (Hg.), Frontiers in Social Movement Theory, New Haven 1992, S. 53–76, hier: S. 64.

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Erfahrungen der Militanten in ihrer Umgebung folgte eine Art affektiver Einschluss. Die politische Sozialisation in klandestinen Organisationen »stellt sich als Wechsel soziokultureller Bezugssysteme dar, das heißt als allmählicher Prozeß der individuellen Herauslösung aus der Mehrheitskultur und der Integration in eine politische Gegenkultur mit abweichenden Verhaltensmustern, Wert- und Loyalitätsvorstellungen und eigenen rigiden Konformitätszwängen«.34 Wie die Forschung festgestellt hat, »bietet die Untergrundorganisation Rückendeckung, wenn alle andere Unterstützung versiegt. Innerhalb der Gruppe werden bestimmte psychologische Variablen zentral: Solidarität, Komplizenschaft und Realitätswahrnehmung. Die Mitgliedschaft in der Gruppe bedeutet die obligatorische Übernahme eines bestimmten Werte- und Normensystems, von dem abzuweichen unter Strafe steht. Die Gruppendynamik der Komplizenschaft setzt Aktionen in Gang, zu denen das einzelne Mitglied kaum je in der Lage gewesen wäre und die es im Nachhinein kaum verstehen kann. Es handelt im Rahmen eines Bündels wechselseitiger Erwartungen und Rollenzuschreibungen. In den Untergrund gezwungen, lebt die Gruppe isoliert und entwickelt, da [ihre Mitglieder] eng zusammenarbeiten, neue Modelle für die Interpretation der Realität, die für die Gruppenmitglieder verpflichtenden Charakter annehmen.«35 Affektive Bindungen unter Kameraden/Genossen im Untergrund sind für ihre Intensität bekannt,36 da sie umfangreiche Veränderungen im Wertesystem und Verhalten des Individuums verlangen: Veränderungen, die »der Primärsozialisation ähnlich sind, weil sie radikal neue Wirklichkeitsakzente setzen müssen. Infolgedessen muß die besonders affektgeladene Identifikation mit dem sozialisierenden ›Per-

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Herbert Jäger/Lorenz Böllinger, »Thesen zur weiteren Diskussion des Terrorismus«, in: Herbert Jäger/Gerhard Schmidtchen/Liselotte Süllwold (Hg.), Lebenslaufanalysen, Opladen 1981, S. 232–241, hier: S. 232. Winfried Rasch, »Psychological Dimensions of Political Terrorism in the Federal Republic of Germany«, in: Journal of Law and Psychiatry 1979, H. 1, S. 79–85, hier: S. 82. Wie Lofland schreibt, unterscheiden sich Bewegungen in der »emotionalen Grundhaltung, Ausstrahlung, dem Gefühlsklima oder dem Auftreten, das Bewegungsorganisationen an den Tag legen und kommunizieren«. John Lofland, »Social Movement Culture«, in: ders. (Hg.), Protest. Studies of Collective Behavior and Social Movements, New Brunswick 1985, S. 219–239, hier: S. 219.

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sonal‹, die für die Kindheit charakteristisch ist, noch einmal durchgemacht werden. Von der Primärsozialisation unterscheiden sich diese Vorgänge jedoch, weil sie nicht ex nihilo beginnen und daher mit den Schwierigkeiten einer Demontage beziehungsweise der Auflösung früherer nomischer Strukturen der subjektiven Wirklichkeit fertigwerden müssen.«37 Das bedeutet auch: »Menschen und Ideen, die im Gegensatz zu den neuen Wirklichkeitsbestimmungen stehen, werden systematisch gemieden.«38 Die Identifikation mit der Gruppe wuchs darüberhinaus mit der Höhe des Risikos. Die von McAdam befragten Freedom-SummerTeilnehmer beschrieben ihre Erlebnisse als eine Art von »Rausch«, als ein »Gefühl der Befreiung«, das Gefühl, »endlich zu Hause zu sein«, eine »transzendente Erfahrung«, oder, wie es auch hieß: »Diese Leute waren ich und ich war sie.«39 Wie bei Mitgliedern anderer hochriskanter Gesellschaften40 stärkt die mit gemeinsamen Risiken verbundene Anspannung auch bei Untergrundkämpfern die freundschaftlichen Bindungen. Das Bedürfnis nach Geheimhaltung entwickelte sich in der Regel sogar zur wichtigsten Determinante für die Struktur und Strategie der Organisation.41 Waren die im Untergrund rekrutierten Kämpfer zu Beginn ihrer Laufbahn noch in breitere Netzwerke eingebunden, so führte das Zusammenspiel von affektiver und kognitiver Dynamik zu einer fortschreitenden Einkapselung der kleinen Kreise von Freunden/Genossen. Aus affektiver Perspektive verstärkte sich die Identifikation mit einer Gruppe »heldenhafter« Kameraden im selben Tempo, in dem andere Bindungen außerhalb der Gruppe abgebrochen wurden. Für Menschen im Untergrund wurden die in ihren eigenen Organisationen aktiven Genossen zur einzigen Quelle materieller wie symbolischer Unterstützung. Dies bedeutet nicht, dass das Leben im Untergrund nur rosig, lustig und aufregend war: Die Kleingruppendynamik brachte auch Spannungen und Brüche mit sich, zunehmenden Stress

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Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 168. Ebenda, S. 170. Doug McAdam, Freedom Summer, Oxford 1988, S. 71. Bonnie H. Erickson, »Secret Societies and Social Structures«, in: Social Forces 1981, H. 1, S. 188–210. Ebenda.

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im politischen wie im alltäglichen Leben. Intensiv war es zweifellos, da es wenig Raum für andere Beziehungen ließ – denen im Gegenteil vielmehr aktiv entgegengearbeitet wurde. Aus kognitiver Sicht entwickelten sich die (immer kleineren) Gruppen zur einzigen vertrauenswürdigen Informationsquelle. Die Rechtfertigungen der Gewalt durchliefen die emotionale Identifikation mit toten oder inhaftierten Genossen, aber auch die Konstruktion einer ganz besonderen Vision der äußeren Wirklichkeit. Auf individueller Ebene spiegelte sich darin die bereits beschriebene zunehmende Abkapselung des Narrativs der Organisation wider. In totalitären Institutionen wie in Untergrundorganisationen bewirkte diese kognitive Schließung eine zunehmende Loslösung von den üblichen Bezugssystemen der sozialen Bewegungen oder der Gesellschaft überhaupt, da der Zwang zu kognitiver Kohärenz von einer Öffnung für alternative Kommunikationskanäle abschreckte. Diese sieben Mechanismen entwickelten sich zum Teil als Reaktion auf äußere Herausforderungen;42 in zunehmend feindlichen Umwelten waren die strategischen Wahlmöglichkeiten aber begrenzt. In Wirklichkeit hatten perverse Effekte, die weder geplant noch erwartet worden waren, einen starken Einfluss auf die Evolution dieser Organisationen, deren Niedergang oft gerade mit dem Entschluss zusammenhing, in den Untergrund zu gehen. Die unerwarteten Folgen dieser und darauffolgender Entscheidungen, die verschiedene Überlebensfragen beantworten sollten, schränkten den Spielraum der Gruppe ein. Im Allgemeinen erforderten taktische Transformationen sowohl eine Anpassung der Organisationsstruktur als auch symbolische Veränderungen, die wiederum unkalkulierbare Auswirkungen zeitigten und damit zu weiteren Anpassungen zwangen. An italienischen und deutschen linksradikalen Gruppen konnte ich Folgendes beobachten: »Da sie Festnahmen und die Entfremdung von der äußeren Wirklichkeit nicht vermeiden konnten, wurden sie tiefer und tiefer in eine Spirale hineingezogen, bei der jede weitere Windung ihre strategischen Optionen noch mehr einschränkte. Allein schon das Wirken im Geheimen verstrickte die Organisation in einen Teufelskreis, bei dem

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Vgl. John H. Jackson/Cyril P. Morgan, Organizational Theory. A Macroperspective for Management, Englewood Cliffs 1978.

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jeder Versuch, ein Problem auf einer Ebene zu lösen, zu neuen Schwierigkeiten auf einer anderen führte. Folglich mussten die Organisationen ihre externen Ziele für einen ›Privatkrieg‹ gegen die Staatsapparate aufgeben. Sprich, weil sie illegal operierten, konnten sich die Vertreter des bewaffneten Kampfes nicht an den Schauplätzen der sozialen Konflikte blicken lassen, und diese physische Distanz führte auch zu einer Art psychischer Distanz. Sie schmälerte die Fähigkeit der Terroristen, effektive Propagandastrategien zu verfolgen. Sie gaben ihre propagandistischen Bemühungen auf, konzentrierten ihre Energien auf ihren Kampf mit dem Staat und verstrickten sich immer tiefer in diesen Privatkrieg, eine Obsession, die sie noch weiter isolierte. Und je isolierter sie waren, desto schwächer wurde ihre Fähigkeit, sich der Repression zu entziehen.«43 Diese Binnendynamiken spielten eine immer größere Rolle, nachdem die radikalen Gruppen in den Untergrund gegangen waren. Selbst wenn sie versuchten, ihre Strategien an die Veränderungen der äußeren Wirklichkeit anzupassen, reduzierte der Schritt zum Operieren im Geheimen ihr Spektrum an möglichen Optionen und trübte den Realitätssinn der Gruppe noch weiter. Allein die Entscheidung für den Untergrund zwang ihnen de facto eine von vornherein verlorene militärische Auseinandersetzung mit den viel mächtigeren Staatsapparaten auf. Die Klandestinität bedingt definitionsgemäß eine materielle und psychische Isolation, und die für halb illegale Gruppen charakteristische Spirale von Radikalisierung und Isolation beschleunigte sich, wenn sie in den Untergrund gingen. Als ihre Aktionen immer brutaler wurden, büßten die meisten radikalen Gruppen die (mehr oder weniger große) Unterstützung ein, die sie zur Zeit ihrer Gründung von außen bekommen hatten. Jede weitere Drehung dieser Spirale schränkte die strategischen Optionen der Gruppe ein und machte sie zum Gefangenen ihrer eigenen Version der Realität. Die Gewaltunternehmer entfesselten somit eine Kraft, die sie nicht unter Kontrolle bekamen: Als sie sich für Gewalt entschieden, speisten sie die Quelle ihrer eigenen Auflösung. Spielten die Umweltbedingungen am Anfang eine Rolle, so gab es jedoch auch eine Handlungsmacht radikaler Organisationen, die ih-

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Della Porta, Social Movements, S. 135.

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rerseits die für sie überlebensnotwendigen Ressourcen reproduzierten. Sie trugen dazu bei, die radikalen Bezugsrahmen und Gewaltkompetenzen, an die sie sich in ihrer Umwelt anpassten, zu perpetuieren, ein Teufelskreis. Dieser Prozess war einer von Versuchen und Irrtümern, Vorstößen und Rückzügen. In seinem Verlauf experimentierten die Gruppen mit verschiedenen Formen von Aktionen und organisatorischen Formaten, die sie anschließend durch Ausweitung ihres Interpretationsrahmens (frames amplification) rechtfertigten. Da sich zudem nach und nach Gewaltkompetenzen herausbildeten, spielten diejenigen, die über sie verfügten, eine Rolle in ihrer weiteren Verbreitung. Genau genommen lässt sich die Radikalisierung als ein gutes Beispiel für die Evolution »absurder« Zufallsprozesse oder Teufelskreise verstehen, bei denen Spiralen negativer Rückwirkungen andere Folgen zeitigen als geplant. In solchen Prozessen operieren die Beteiligten auf der Grundlage eines selbstgezimmerten Bildes der Wirklichkeit und setzen alles auf die Resultate der von ihnen getroffenen Entscheidungen.44 Das Endergebnis ihrer Handlungen ergibt sich aus einer Kette von Aktionen und Reaktionen, die auf Fehleinschätzungen der Schritte der verschiedenen Akteure beruhen: »Dieser Kreis aus Aktionen und Reaktionen wird zur Routine, bis ein mehr oder weniger zufälliges Ereignis das Muster durchbricht und einen qualitativen Sprung verursacht, die Gruppe ihre möglichen Optionen diskutiert und in dieser Krise einige Mitglieder beschließen, in den Untergrund zu gehen.«45 In Teufelskreisen können negative Rückkopplungsschleifen tatsächlich zu Ergebnissen führen, die das Gegenteil von dem sind, was man erwartet hatte.46 Die Entscheidung, im Geheimen zu operieren, kristallisierte sich nach und nach im Rahmen längerer Prozesse heraus; sie war nur bedingt geplant und nicht unumkehrbar. Die Radikalisierung war somit das Resultat nicht nur strategischer Entschei44

45 46

Friedhelm Neidhardt, »Über Zufall, Eigendynamik und Institutionalisierbarkeit absurder Prozesse. Notizen am Beispiel der Entstehung und Einrichtung einer terroristischen Gruppe«, in: Heinz von Alemann/Hans Peter Thurn (Hg.), Soziologie in weltbürgerlicher Absicht, Opladen 1981, S. 243–257, hier: S. 245, 251f. Della Porta, Social Movements, S. 111. Siehe etwa Michael Masuch, »Vicious Circles in Organizations«, in: Administrative Science Quarterly 1985, H. 1, S. 14–33; vgl. auch Robert K. Merton, Soziologische Theorie und soziale Struktur (1957), Berlin/New York 1995.

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dungen, sondern auch ungeplanter Binnendynamiken. Sie machte die Bemühung um strategische Aktionen sichtbar, aber auch deren Grenzen. Auch kollektive Entscheidungen erwiesen sich als kurzsichtig: Einigen kurzfristigen Vorteilen standen desaströse mittel- und langfristige Konsequenzen gegenüber. Halb militärische Einheiten wurden gebildet, um die Gewaltpraktiken zu organisieren, doch zogen diese Einheiten die militärische Aktion vor und spalteten sich von der Hauptorganisation ab. Mit der Entscheidung für das geheime Vorgehen entgingen sie der unmittelbaren Repression, beschränkten aber auch ihre Fähigkeit, mit ihrer Anhängerschaft zu kommunizieren, sodass sich ihre Kontakte zur Außenwelt immer weiter verringerten. Bei diesen speziellen Organisationen wurde die Tendenz zur Mäßigung durch die Abhängigkeit von ideologischen Motivationen und einer starken Gruppensolidarität gebremst.47 Der zeitliche Ablauf dieses Trends zur Auflösung wurde durch die Umweltbedingungen beeinflusst, die sich auf den Grad der Isolierung der Untergrundgruppen auswirkten. Je größer die Unterstützung für den Einsatz von Gewalt im Umfeld ausfiel, desto langsamer vollzog sich in der Regel der Implosionsprozess. Zugleich galt aber auch: Je präsenter Gewaltressourcen im Umfeld waren – einschließlich einer gelegentlichen territorialen Kontrolle über manche Gegenden –, desto stärker wurden die Untergrundorganisationen zum Gebrauch brutaler Formen von Gewalt gedrängt. Aus dem Englischen von Michael Adrian

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Mayer N. Zald/Roberta Ash, »Social Movement Organizations. Growth, Decay, and Change«, in: Social Forces 1966, H. 3, S. 327–341.

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Benjamin Schwalb | Axel T. Paul

Nicht-organisierte kollektive Gewalt Das Spektrum der in diesem Band behandelten Phänomene kollektiver Gewalt reicht von unblutigen Tumulten in einem Theater über Protestgewalt, Lynchmobs und Kriegsgräuel bis hin zu der Entstehung von Volksmilizen und der Radikalisierung politischer Untergrundorganisationen. Erklärt werden sie, je nach Disziplin und Neigung der Autoren, aus historischer, psychologischer, politikwissenschaftlicher, ethnologischer, philosophischer und soziologischer Perspektive. Was die Beiträge bei aller Heterogenität gleichwohl miteinander verbindet, ist, dass sie erstens nicht-organisierte oder, was hier dasselbe meint, emergente Phänomene kollektiver Gewalt beschreiben, zweitens deren Eigendynamik in den Blick nehmen und drittens relational argumentieren. Während Organisation in dem Versuch besteht, einen auf bewussten Entscheidungen basierenden Ordnungsentwurf durchzusetzen, etwa indem Mitgliedschaftsregeln und Vorschriften erlassen und Kontrollmechanismen eingerichtet werden, entstehen emergente Ordnungen »einfach so«, ohne dass ihre Struktur im Voraus reflektiert worden wäre.1 Typischerweise wird nicht-organisierte kollektive Gewalt nur von einigen wenigen (oder gar Einzelnen) ausgeübt, die allerdings von einer kleineren Zahl von Mit-»Tätern« umringt werden, die ihrerseits zwar nicht oder kaum gewalttätig sind, ohne deren Kopräsenz die wenigen aber kaum zur Gewalt schreiten würden – selbst wenn sie es wollten.2 Um diesen auch passiv aktiven Täterkern herum

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Zur Gegenüberstellung von Organisation und Emergenz siehe Göran Ahrne/Nils Brunsson, »Organization Outside Organizations: The Significance of Partial Organization«, in: Organization 2011, Jg. 18, H. 1, S. 83–104. Vgl. Clark McPhail, »The Dark Side of Purpose: Individual and Collective Violence in Riots«, in: The Sociological Quarterly 1994, Jg. 35, H. 1, S. 1–32, hier S. 12; Randall Collins, Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie, Hamburg 2011, S. 624–650; Otto M. J. Adang, »Initiation and Escalation of Collective Violence«, in: Tamara Madensen/Johannes Knutsson (Hg.), Preventing Crowd Violence, Boulder 2011, S. 47–68.

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gibt es unter Umständen einen größeren oder auch großen Zuschauerkreis – eine »Masse«, wenn man so will. Die Masse, die Menge, der Haufen, die Ansammlung einer größeren Anzahl von Menschen an einem Ort ist zwar, wie die amerikanische soziologische Massenforschung gezeigt hat,3 kein Kollektivsubjekt, noch ein besonders gewalttätiges dazu, vielleicht aber doch so etwas wie ein »natürliches Milieu« oder gar Resonanzverstärker für in und aus kleineren Gruppen heraus verübte Gewalt. Aus gewalttheoretischer Perspektive halten wir es deshalb für angezeigt, einerseits nach den Mechanismen und Prozessen zu fragen,4 die Gewaltsegmente vom Rest der Masse abheben, und andererseits die Effekte punktueller Gewalt auf die unterschiedlichen Teile von Menschenmengen in den Blick zu nehmen. Neben der Emergenz ist darum die (Rück-)Wirkung kollektiver Gewalt auf die Masse und ihre Teile einer der zentralen Untersuchungsgegenstände des vorliegenden Bandes. Dabei interessiert insbesondere der Beitrag nicht-organisierter kollektiver Gewalt zu ihrer eigenen Verstetigung, mit einem Wort: ihre Eigendynamik. Eigendynamische Prozesse sind eine spezifische Form emergenter Ordnungsbildung, deren zentrales Kriterium »die Erzeugung der den Prozeß tragenden Handlungsmotivation in und durch den Prozeß selbst« ist.5 Die hier versammelten Aufsätze machen deutlich, dass eigendynamische Prozesse sich über unterschiedlich lange Zeiträume erstrecken und auf verschiedenen Ebenen des Sozialen ablaufen können. Wie wir sehen werden, gibt es sowohl situative Mechanismen der Verstetigung und 3

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Siehe Ralph H. Turner/Lewis M. Killian, Collective Behavior, Englewood Cliffs 1957; Clark McPhail, The Myth of the Madding Crowd, New York 1991. Zur Geschichte der Massentheorie siehe den Beitrag von Paul in diesem Band. Unter einem Mechanismus verstehen wir in Anlehnung an Peter Hedström (Dissecting the Social. On the Principles of Analytical Sociology, Cambridge 2005, S. 25) eine bestimmte Konstellation von Akteuren, Ereignissen und äußerem wie innerem Verhalten, die regelmäßig eine bestimmte Wirkung hervorbringt. Treten mehrere Mechanismen wiederholt gemeinsam, in bestimmten Kombinationen und/ oder Sequenzen auf, sprechen wir von einem Prozess. Vgl. Charles Tilly, »Mechanisms in Political Processes«, in: Annual Review of Political Science 2001, Jg. 4, S. 21–41, insb. S. 21. Siehe Renate Mayntz/Birgitta Nedelmann, »Eigendynamische soziale Prozesse. Anmerkungen zu einem analytischen Paradigma«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1987, Jg. 39, H. 4, S. 648–668, hier S. 657.

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Steigerung kollektiver Gewalt als auch längerfristige Prozesse, die nicht-organisierte kollektive Gewalt zu dauerhafteren institutionellen Formen verfestigen. Diese beiden Ebenen stehen dabei in einem Interdependenz- und Konstitutionsverhältnis zueinander: Aus Situationen kollektiver Gewalt können ungeplant (auch mitgliedschaftsbasierte) soziale Gebilde entstehen, die weitere Gewalt wahrscheinlich(er) machen. Bei der Erklärung der Entstehung und Effekte nicht-organisierter Gewalt folgen die Beiträge einer gemeinsamen sozialtheoretischen Prämisse: Die Gewalt ist ein relationales Phänomen, das sich nicht alleine aus dem Wissen um die Motive und Prägungen der teilnehmenden Akteure, sondern nur aus deren Beziehungen zueinander respektive ihrer Interaktion erschließt.6 Bei der Konzeptualisierung dieses Beziehungsgeflechts und der Wechselwirkung der Akteure aufeinander gehen die Autoren freilich unterschiedliche Wege. Alle aber, so möchten wir zeigen, müssen zumindest implizit eine Antwort auf drei (wenn auch nur analytisch und nicht empirisch zu trennende) Grundprobleme finden: 1. Wie ist nicht-organisiertes kollektives Handeln überhaupt möglich? 2. Wie entwickelt sich eine gemeinsame Gewaltintention? 3. Wie wird diese Absicht umgesetzt? Im Folgenden werden wir unter Rückgriff auf einzelne Beiträge – und ohne Anspruch auf eine vollständige Aufzählung aller möglichen Mechanismen – zeigen, wie Skripte und Identitätszuschreibungen im Interaktionsverlauf zwischen und innerhalb von Kollektiven zum einen die Entstehung von kollektiver Handlungsfähigkeit und zum anderen die Ausbildung einer gemeinsamen Gewaltabsicht zu denken erlauben. Dabei und weiter bei der Umsetzung der gemeinsamen Intention in eine konkrete, körperliche Gewalttat spielen emotionale Zustände und Dynamiken eine zentrale Rolle. Ist die Gewalt jedoch erst einmal in der Welt, gleich wie und weshalb, tendiert sie aus unterschiedlichen Gründen zur Selbstverstärkung und Verfestigung, sowohl in der Situation als auch situationsübergreifend. Im Hinblick auf das Täterkollektiv wird sich das gemeinsame Gewalterlebnis, im Hinblick auf die sehr viel größere Gruppe von Zuschauern hingegen die Er-

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Das ist im Übrigen eine zweite, philosophische Bedeutung des Begriffs der Emergenz.

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fahrung kollektiver »Agentschaft« oder Wirksamkeit als entscheidend für die Verstetigung und Intensivierung der Gewalt erweisen. Der Schlussabschnitt zieht die Fäden noch einmal zusammen. Um die sozial- beziehungsweise ordnungstheoretische Dimension der Emergenz und Eigendynamik nicht-organisierter Gewalt zu unterstreichen, stellen wir deren fallbasierter Erörterung zunächst jedoch zwei idealtypische Modelle voran, wie die Koordination von Handlungen einander nicht notwendig bekannter Akteure diesseits von Organisation überhaupt konzeptualisiert werden kann. Kollektive Gewalt ist Gewalt im Wir-Modus, auch wenn nicht alle Akteure, welche die Gewaltintention teilen, in gleicher Weise zur Verletzung des Opfers beitragen. Von kollektiver Gewalt sprechen wir, wenn mindestens zwei Anwesende gemeinsam und füreinander wahrnehmbar beabsichtigen, einen anderen Anwesenden körperlich zu verletzen, und wenigstens einer der beiden diese gemeinsame Absicht in die Tat umsetzt. Das entscheidende Kriterium der Kollektivität liegt mithin nicht in der bloßen Zahl der Täter, sondern in der geteilten Intention.7 Kollektive Gewalt kann organisiert oder nicht-organisiert sein, in jedem Fall aber ist sie eine Koordinationsleistung. Die in Teilen der Sozialwissenschaften weit verbreitete Trias der Koordinationsmechanismen Markt, Organisation und Gemeinschaft ist gleichwohl wenig geeignet, nicht-organisierte Phänomene kollektiver Gewalt zu entschlüsseln.8 Weil die mog-Systematik mit Blick auf das Feld der Wirtschaft entwickelt worden ist, ist ihr Bezugsproblem ein anderes: Sie gibt Antwort auf die Frage, wie eine Kooperation zwischen eigeninteressierten Akteuren möglich ist, die zwar unterschiedliche Ziele verfolgen, aber aufeinander angewiesen sind, um ihre ansonsten partikularen Interessen zu realisieren. Markt und Organisation sind Me7

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Unser Begriff von nicht-organisierter kollektiver Gewalt schließt nicht nur Gewaltakte von Einzeltätern aus, sondern ebenso deren unter Umständen massenhafte, aber unkoordinierte Konzentration in Raum und Zeit. Vgl. William G. Ouchi, »Markets, Bureaucracies, and Clans«, in: Administrative Science Quarterly 1980, Jg. 25, H. 1, S. 129–141; Helmut Wiesenthal, »Markt, Organisation und Gemeinschaft als ›zweitbeste‹ Verfahren sozialer Koordination«, in: Wieland Jäger/Uwe Schimank (Hg.), Organisationsgesellschaft. Facetten und Perspektiven, Wiesbaden 2005, S. 223–264.

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chanismen, die für beide Seiten akzeptable Bedingungen einer solchen Kooperation herstellen. Gemeinschaften lösen das Kooperationsproblem demgegenüber »einfach« auf, indem sie qua Sozialisation für Interessenkongruenz und qua soziale Identifikation für generalisierte Kooperationsbereitschaft sorgen. Das Grundproblem der Emergenz kollektiver Handlungsfähigkeit unter Anwesenden besteht jedoch nicht in der Integration interdependenter, aber gegenläufiger individueller Interessen, sondern in der Entstehung gemeinsamer Handlungsabsichten.9 Wie kann dies gelingen, ohne dass die Koordination organisiert wird? Wir meinen, unter Rückgriff auf ein gemeinsames Wissen. Idealtypisch zugespitzt ließe sich von einer situativen Produktion von Wissen (als Erwartungsbildung) einerseits und einer situativen Reproduktion von Wissen (in Form routinisierter und normierter Erwartungen und Verhaltensweisen) andererseits sprechen. Die Interaktion der Akteure spielt dabei jeweils eine »entscheidende«, aber andere Rolle: Im einen Fall sind Interaktionen beziehungsweise Kommunikationen das Medium selbstreferenzieller Systembildung, im anderen Fall sind sie der Trigger zur Aktivierung geteilter Wissensvorräte, welche die (Ko-)Produktion (bereits) institutionalisierter sozialer Praktiken ermöglichen. Empirisch greifen diese zwei Koordinationsmechanismen zumeist ineinander, zum Beispiel wenn sich spontane Ordnungen zu

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Darin, und nicht im Kooperationsproblem, sieht Hans Bernhard Schmid das Problem von Sozialität überhaupt. Siehe ders., »Auf einander zählen. Rationale Idiotie, kollektive Intentionalität und der Kern des Sozialen«, in: Gert Albert (Hg.), Soziologische Theorie kontrovers (= Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 50), Wiesbaden 2011, S. 589–610. – Anders als von Paul am Ende seines Beitrags angemahnt, argumentieren auch wir im Folgenden auf individualistischer Basis. Nicht-individualistisch gedacht, wäre zu erklären, wie sich originär gemeinsame oder wenigstens aneinander orientierte Interessen allererst vereinzeln. Genau diesen Nachweis sucht Paul Dumouchel in seinem Beitrag in Anschluss an René Girard zu führen. Gerade der, wenn auch durch kollektive Gewaltrituale »interpunktierte«, Individualismus sei es, welcher in modernen Gesellschaften die originäre und sozialkonstitutive Gewalt in Schach halte. Das Problem, wie sich auf dieser, wenn man so will, »sekundär-individualistischen« Grundlage nicht-organisierte kollektive Gewalt erklären lässt, wird von Dumouchel allerdings nicht näher beleuchtet. Wir wollen und können diese Lücke hier indes nicht schließen, sondern vielmehr die Antworten der in diesem Band versammelten Autoren systematisieren.

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geteiltem Wissen verfestigen oder geteilte Erwartungen den Rahmen für eine begrenzte situative Selbstorganisation setzen. Der Klarheit wegen seien sie nachstehend jedoch getrennt erläutert. Die Annahme, dass Wissen der Stoff ist, aus dem gesellschaftliche Wirklichkeit »besteht«, begründet die moderne konstruktivistische Gesellschaftstheorie.10 Gesellschaft ist demnach mehr als ein Zusammenhang von Interaktionen vis-à-vis, nämlich ein geteiltes Wissen über typische Handlungen, die typische Akteure in typischen sozialen Situationen vollziehen. Es ist ein Wissen, das von konkreten Personen und Situationen losgelöst ist und von Handelnden regelmäßig als etwas ihnen Äußerliches erfahren wird. Der Begriff der Rolle bringt diese Distanz zum Ausdruck: Man steckt in ihr, gleich ob aus freien Stücken oder fremdbestimmt, und spürt die normativen Erwartungen, die in ihr gebunden sind. Dennoch identifizieren sich Menschen mit den Rollen, die sie ausfüllen, das heißt, sie gehen, mit unterschiedlichem emotionalen Gewicht, vorübergehend oder dauerhaft, als soziale Identität in das Selbstkonzept ein, in die Antwort auf die Frage »Wer bin ich?«, und regulieren so, noch vor aller Sanktionsdrohung, individuelles Verhalten, Erleben und Denken.11 Henri Tajfel und John Turner haben aus der Grundannahme, dass die Identifikation mit überpersönlichen Rollen beziehungsweise, noch allgemeiner, mit sozialen Kategorien (wie Polizist, Fahrgast, Klasse 9b oder Gruppe A) über kognitive und motivationale Prozesse das Verhalten beeinflusst, eine einflussreiche sozialpsychologische Theorie der Gruppe entwickelt,12 die sich, wie Stephen Reicher zeigt, auch für das Verständnis von Massen einander fremder Personen und deren Dynamik fruchtbar machen lässt.13 Die These ist, dass Gruppen, die über

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Eine klassische Formulierung des Theorems findet sich bei Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 2003, S. 49–98. Vgl. ebenda., S. 139–174. John C. Turner, »Towards a Cognitive Redefinition of the Social Group«, in: Henri Tajfel (Hg.), Social Identity and Intergroup Relations, Cambridge 1982, S. 15–40. Siehe bereits Stephen D. Reicher, »The St. Pauls’ Riot: An Explanation of the Limits of Crowd Action in Terms of a Social Identity Model«, in: European Journal of Social Psychology 1984, S. 1–21. Tatsächlich sind in Massen normalerweise nicht allein einander Fremde, sondern mehrere und verschiedene, in einem weiteren Sinne mitgliedschaftsbasierte soziale Systeme gleichzeitig präsent, etwa wenn Familien-

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ein Wir-Bewusstsein der Mitglieder definiert sind, nicht auf direkten Interaktionen beruhen, wie die meisten soziologischen Gruppentheorien im Anschluss an die klassische Leitunterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft behaupten,14 sondern eine »bloß« sozial-kognitive Basis haben: die stereotype Selbst- und Fremdwahrnehmung als Gruppenmitglied. Es ist nicht notwendig, einen anderen persönlich kennengelernt zu haben, damit dieser einer Wir-Gruppe zugerechnet werden kann.15 Wenn Anwesende einander als Mitglieder derselben sozialen Kategorie identifizieren, potenziert sich ihre kollektive Handlungsfähigkeit, das heißt ihre Fähigkeit, koordiniert zusammenzuwirken.16 Weil über soziale Identitäten nicht immer, aber in der Regel ein geteiltes

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angehörige oder Freunde zusammen eine Veranstaltung besuchen oder sich mehrere Organisationen zu einer gemeinsamen Demonstration versammeln. Das Koordinationsproblem ist damit freilich noch nicht gelöst, sondern lediglich auf die Intergruppenebene verschoben. Vgl. zum Beispiel Hartmann Tyrell, »Zwischen Interaktion und Organisation I: Gruppe als Systemtyp«, in: Friedhelm Neidhardt (Hg.), Gruppensoziologie. Perspektiven und Materialien (= Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft, Bd. 25), Opladen 1983, S. 75–87; Friedhelm Neidhardt, »Innere Prozesse und Außenweltbedingungen sozialer Gruppen«, in: Bernhard Schäfers (Hg.), Einführung in die Gruppensoziologie. Geschichte, Theorien, Analysen, Heidelberg, Wiesbaden 1994, S. 135–156. Vgl. dazu Henri Tajfels Experimente mit »minimalen Gruppen«: Henri Tajfel u.a., »Social Categorization and Intergroup Behaviour«, in: European Journal of Social Psychology 1971, Jg. 1, H. 2, S. 149–178. Siehe den Beitrag von Reicher in diesem Band. Allerdings bekommt die Theorie der sozialen Identität die spezifischen Merkmale nicht in den Blick, die Massen von anderen sozialen Aggregaten unterscheiden, die ebenfalls auf dem Nexus von Identität und Wissen beruhen, wie soziale Gruppen, Organisationen und Familien. Die soziale Identität dürfte auch dort der zentrale psychologische Mechanismus sein, der die Effekte von Mitgliedschaft und Zugehörigkeit auf individuelles Denken, Wollen und Fühlen vermittelt. Nur: Mitgliedschaft ist nicht gleich Mitgliedschaft. Soziale Systeme können Zugehörigkeit ganz unterschiedlich handhaben. Dadurch beeinflussen sie unter anderem den Modus und die Intensität der sozialen Kontrolle über zugehörige Personen. Ein knapper Überblick über verschiedene mitgliedschaftsbasierte Systeme findet sich bei Stefan Kühl, »Gruppen, Organisationen, Familien und Bewegungen. Zur Soziologie sozialer Systeme zwischen Interaktion und Gesellschaft«, in: Bettina Heinz, Hartmann Tyrell (Hg.), Interaktion – Organisation – Gesellschaft revisited. Anwendungen, Erweiterungen, Alternativen (= Sonderband der Zeitschrift für Soziologie), Stuttgart 2015, S. 65–85.

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Wissen von Werten, Deutungsmustern, Routinen und so weiter adressiert und aktiviert wird, nehmen die Anwesenden die Situation ähnlich wahr, haben ähnliche Ziele und unterstellen dies einander. Sofern gemeinsames Handeln nicht schon in der Form kognitiver Skripte vorprogrammiert ist, erleichtert dies zum einen die Verständigung auf eine gemeinsame Interpretation der Situation und auf die Regeln situativ legitimen Handelns. Zum anderen hat das Wissen um die Zusammengehörigkeit motivationale Effekte: Es erhöht die Sympathie, die Kooperations- und Interaktionsbereitschaft der zugehörigen Anwesenden sowie deren Konformität mit den Gruppenerwartungen. Eine offene, für die Theorie nicht-organisierten kollektiven Handelns gleichwohl zentrale Frage ist jedoch, wie situativ neues Wissen entstehen kann – sei es im Rahmen bestehender Identitäten oder im Verbund mit einer sozialen Kategorie. Viele Massensituationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie für die meisten Anwesenden vergleichsweise neuartig und unbestimmt sind. In der Regel liegt kein geteiltes Wissen vor, das nur abgerufen zu werden braucht. Handlungsleitende Interpretationen und Normen müssen vielmehr erst interaktiv, durch Aushandlung, Einflussnahme von Minder- oder Mehrheiten und Rückversicherung gebildet werden, gesetzt freilich, es wird überhaupt ein Handlungsdruck wahrgenommen.17 Luhmanns Theorem der doppelten Kontingenz verdeutlicht, wie man die Entstehung eines neuen kollektiven Handlungswissens auch ohne Vorgaben denken kann: als order from noise.18 Die paradigmatische Situation doppelter Kontingenz umfasst bekanntermaßen zwei füreinander undurchsichtige Akteure, die ihr Handeln jeweils vom Handeln des anderen abhängig machen wollen, dabei jedoch »erkennen«, dass der Andere ebenso denkt. In dieser verfahrenen Lage ist es für beide Seiten unmöglich, ihr Handeln zu bestimmen. Diese Unsicherheitserfahrung ist Luhmann zufolge motivierend – und der soziale Impuls aus dem (alleine) soziale Systeme entstehen.19 Um das Problem aufzulösen, beginnen die Akteure einander zu unterstellen,

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Vgl. Ralph H. Turner, »Collective Behavior«, in: Robert E. L. Faris (Hg.), Handbook of Modern Sociology, Chicago 1964, S. 382–425. Siehe Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1987, S. 148–189. Siehe ebenda., S. 154.

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jede Aktivität, ob objektiv zufällig oder nicht, sei vom Anderen intendiert, also Kommunikation, und zwar in Reaktion auf eigenes Handeln. Diese Unterstellung stößt einen Lernprozess an, in dem die Akteure Erwartungen über den Zusammenhang zwischen ihrem Handeln und den Reaktionen Alters bilden, wodurch sie sich in ihren Handlungsmöglichkeiten jeweils selbst beschränken (was dann wiederum zur Stabilisierung der Erwartungen Alters beiträgt und so weiter und so fort). Dies ist ein Prozess, der, wie Luhmann betont, Zufälle geradezu »ansaugt«.20 Der Zufall wirkt wie eine Lunte, die aus der beunruhigenden Unbestimmtheit in die lichte Welt des Erwartbaren zu führen verspricht.21 Massensituationen sind freilich selten so frei von »struktureller Schuld«, wie das Theorem der doppelten Kontingenz unterstellt: Soziale Kategorien und die in ihnen gebundenen Deutungsmuster und Verhaltenserwartungen sind omnipräsent; in der Regel wird es Massenmitglieder geben, die wissen, was sie tun, und darüber gewollt oder ungewollt sozialen Einfluss ausüben; in der Masse finden sich (unter Umständen gar organisierte) Gruppen; und die verbreitete (Medien-) Kommunikation über Massensituationen hat zur Folge, dass ein praktisches Wissen über das Verhalten in bestimmten Massensituationen auch von denjenigen geteilt wird, die noch keine direkten Erfahrungen mit Menschenansammlungen bestimmter Art gemacht haben. Normativ »nackte« Situationen, wie sie Jack Katz in seinem Beitrag über die Unruhen in Los Angeles 1992 beschreibt, sind Ausnahmeerscheinungen. So wird sich in Deutschland kaum jemand zum Beispiel an einer Demonstration beteiligen, ohne bestimmte Erwartungen über deren Ablauf mitzubringen. Je nach Anlass kann dazu auch die Ahnung gehören, dass gewaltbereite Gruppen anwesend sein könnten. Doch das Theorem der Selbstorganisation ist deshalb nicht überflüssig oder ungeeignet, um Massendynamiken zu verstehen. Denn die 20 21

Siehe ebenda., S. 151, 170f. Dass dem Zufall ein derart zentraler Stellenwert beigemessen wird, hebt die systemtheoretische Variante einer konstruktivistischen Theorie der Institutionalisierung unseres Erachtens von der klassischen Formulierung Berger und Luckmanns ab. Jene setzt nämlich voraus, dass zumindest ein Akteur des Institutionalisierungsprozesses sein Verhalten bereits stabilisiert (»habitualisiert«) hat, an dem eine »reziproke Typisierung« durch »Typen von Handelnden« ansetzen kann. Siehe Berger/Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, S. 58.

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systemtheoretische Erklärung emergenter Ordnungsbildung erhellt nicht nur, wie neues kollektives Wissen entstehen kann, und liefert zudem eine rationale Erklärung für den »Ansteckungscharakter« der Masse. Sie zeigt auch, dass die Anwesenden in doppelt unbestimmten Situationen ein besonderes Interesse an Identitätsmarkern entwickeln, und beschreibt, wie selbst »substanzlose« Identitäten als eine Form der Unterstellung den »autokatalytischen« Aufbau neuer Ordnungen koordinierten Handelns ermöglichen können, auch ohne dass sich die Akteure darüber austauschen, welches Verhalten in der aktuellen Situation angebracht oder legitim wäre. Die spontane Bildung gemeinsamen Wissens einerseits und die situative Aktivierung gemeinsamen Wissens andererseits sind wohlgemerkt Koordinationsmechanismen, die einander nicht ausschließen, sondern typischerweise zusammenwirken, um nicht-organisiertes kollektives Handeln zu ermöglichen. Dies gilt zumal in einer Prozessperspektive, die sensibel ist für Pfadabhängigkeiten, Institutionalisierungsprozesse und situative Eigendynamiken: So dürfte eine soziale Identität, die spontane Koordination ermöglicht, zunächst als emergente Ordnungsstruktur entstanden sein. Und kollektive Handlungsmacht entfaltet sie vornehmlich in sozialen Situationen, die Kreativität erfordern. Am Beispiel der Gewalt wird der Prozesscharakter nicht-organisierten kollektiven Handelns besonders deutlich. Im vorherigen Abschnitt haben wir das Problem nicht-organisierten kollektiven Handelns grundsätzlich behandelt. Nachstehend verschieben wir unseren Fokus, indem wir die Gewalt zum Thema machen. Auf der Basis der Beiträge dieses Bandes argumentieren wir zunächst, dass konflikthafte Interaktionen zwischen Kollektiven bei der Emergenz von Handlungsfähigkeit in Menschenmengen eine zentrale Rolle spielen. Geteilte Handlungsziele und -entwürfe können dem Wir-Kollektiv als Motiv zur Kooperation vorausgehen, häufiger jedoch entstehen sie erst im Gruppenprozess oder werden durch diesen wesentlich beeinflusst. Deshalb befassen wir uns anschließend damit, wie unter Anwesenden mit Hilfe von Skripten, Identitätszuschreibungen und Emotionen eine gemeinsame Gewaltabsicht entstehen kann, bevor wir, in einem dritten Schritt, wiederum unter Rückgriff auf Emotionen, den Umschlag von der gemeinsamen Gewaltabsicht in die gemeinsame 392

Gewalttat beleuchten. Die Rückwirkungen nicht-organisierter kollektiver Gewalt sowohl auf die Motivation als auch die Handlungsfähigkeit des Täterkollektivs werden Gegenstand des darauffolgenden Abschnitts sein. Die meisten Beiträge unseres Bandes zeigen oder unterstellen, dass die Bereitschaft und Fähigkeit zu nicht-organisiertem kollektiven Handeln auf einer gemeinsamen Identität der Anwesenden beruht, an der gemeinsame Wissensvorräte und Werte anlagern oder aus der heraus diese vergleichsweise leicht neu entwickelt werden können. Sie machen außerdem deutlich, dass diese Identität in Abgrenzung zu anderen (wahrgenommenen) Gruppen wenn schon nicht gebildet, so doch aktiviert, hervorgehoben und geschärft wird und dass eine wahrgenommene Konfliktsituation diesen Prozess erheblich verstärkt.22 Die Interpretation oder »Rahmung« der Situation als Konflikt beeinflusst nicht nur den Prozess der Identifikation der Anwesenden mitund ihre Einstellung zueinander, sie verändert oder verschiebt auch das Repertoire der Handlungen, das von den Teilnehmern in Erwägung gezogen und akzeptiert wird. Die Aktivierung der Grenzen einer Wir-Identität kann, sie muss aber nicht in Situationen vis-à-vis mit anderen erfolgen, wie es etwa der Fall ist, wenn Demonstranten mit Polizeigewalt konfrontiert werden.23 Situationen, die spontan in Gewalt umschlagen, geht indes häufig bereits ein die Identität der Teilnehmer mobilisierendes, als aggressiv wahrgenommenes Handeln einer Fremdgruppe voraus, das nicht selbst erfahren, sondern über das von Dritten berichtet oder das medienvermittelt kommuniziert worden ist. Klassisch spielen dabei Printmedien und die mündliche Verbreitung von Gerüchten eine zentrale Rolle, wie die historischen Beiträge von Felix Schnell und Paul Richards vor Augen führen. Erst seit der Jahrtausendwende hat sich daneben, wie Richard Moule, Scott Decker und David Pyrooz in ihrem

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Diese klassische Einsicht ist von Lewis Coser (The Functions of Social Conflict, New York 1956) im Anschluss an Georg Simmels Essay über den Streit (Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt am Main 1992, S. 284–382) theoretisch ausbuchstabiert worden. Siehe die Beiträge von della Porta und Reicher in diesem Band. Zum Einfluss von Grenzziehungen auf die Wahrscheinlichkeit kollektiver Gewalt siehe auch Charles Tilly, The Politics of Collective Violence, Cambridge 2003, S. 75–80.

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Aufsatz zeigen, das Internet als Medium für Mobilisierungsprozesse etabliert. Das setzt gleichwohl voraus, dass die kolportierten Ereignisse bereits als solche »erkannt« worden sind, die die Eigengruppe in einer besonderen Weise herausfordern. In manchen Fällen – man denke an einen selektiven Gewaltakt oder aggressive Fangesänge – mag die Relevanz eines Ereignisses offensichtlich sein, in vielen ist sie es jedoch nicht. Moralische und politische Unternehmer, die andere von der identitären Relevanz bestimmter Ereignisse überzeugen, können dadurch maßgeblich an Einfluss gewinnen. Das zeigen insbesondere die Beiträge von Felix Schnell und Thomas Klatetzki. Sofern (sich in) eine(r) Ansammlung von Menschen die Fähigkeit zur Umsetzung gemeinsamer Handlungsabsichten herausgebildet hat, ergeben sich aus den Überlegungen prinzipiell zwei Möglichkeiten, wie es unter Anwesenden zu einem spontanen Ausbruch nicht-organisierter kollektiver Gewalt kommen kann: Die erste besteht in der Aktivierung gemeinsamer Gewaltprogramme, die zweite in der gemeinsamen »Entdeckung« der Gewaltoption in der Situation. Empirisch sind die beiden Mechanismen in aller Regel verwoben. In einzelnen Fällen ist die Aktivierung von sozialen Identitäten von vornherein mit der Aktivierung eines kollektiven Gewaltprogramms verknüpft. Geteilte Skripte, wie das von Klatetzki untersuchte Strafritual oder die von King beschriebenen infanterietaktischen Manöver, ermöglichen die spontane Reproduktion selbst komplexer, arbeitsteiliger Handlungsabläufe. Sie werden nicht nur durch typische Ereignisse getriggert, sondern zeichnen auch das Gewalthandeln selbst vor: welche Typen von Handelnden in welchen Typen von Situationen wann und wie Gewalt ausüben. Freilich sind Gewaltprogramme, zumindest in Ordnungen mit staatlichem Gewaltmonopol, nur sehr selten an soziale Identitäten gekoppelt.24 Häufiger sind Gruppenidentitäten, die Gewalt zwar positiv bewerten, ihre Ausübung jedoch nicht oder nur sehr lose regulieren. Die Gewaltkultur gewaltbereiter Demonstranten ist dafür beispielhaft: Gelegenheiten zur Gewaltausübung werden zwar aktiv gesucht, in der Gewaltsituation selbst überlässt man sich jedoch weitgehend der Dynamik der Situation.

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Ausnahmen finden sich in staatlichen Gewaltorganisationen, in kriminellen Organisationen und Subkulturen sowie im Sport.

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Das für eine Theorie nicht-organisierten kollektiven Handelns konstitutive Problem stellt jedoch weniger die situative Aktivierung und kollektive Realisierung von mitgebrachten Programmen, Vorstellungen und Werten dar als vielmehr deren spontane Veränderung oder gar Entstehung. Die »klassische« Frage lautet, wie »ganz normale« Männer und Frauen dazu kommen, gemeinsam Dinge zu tun, nämlich Gewalt auszuüben, die sie zuvor als illegitim und unvereinbar mit ihrem Selbstverständnis wahrgenommen haben. Alle Beiträge machen deutlich, dass die Antwort in dem relationalen Wesen, der Kontextabhängigkeit sozialer Identitäten zu suchen ist. Welche Handlungen ein Wir-Kollektiv einerseits für angemessen und andererseits für möglich hält, ist abhängig von der jeweiligen sozialen Umwelt, in der die eigenen normativen Vorstellungen und Interessen verfolgt werden (sollen). Die soziale Umwelt besteht aus der Aktivität Anderer, die ihrerseits mit bestimmten Erwartungen und Werten, aber auch mit bestimmten Machtressourcen ausgestattet sind. In Massensituationen ist der Andere meist ein anderes Kollektiv, dessen Mitglieder stereotyp wahrgenommen werden: als Vertreter der Polizei, des militärischen Feindes, der gegnerischen Mannschaft, des Kapitals und so weiter. Aber auch Einzelne können, mit allen Implikationen, die das für die Einschätzung der Eigengruppe wie des Anderen hat, stereotyp wahrgenommen werden, wie das Beispiel der Lynchjustiz zeigt.25 Eine dem Skript-Konzept gegenüber flexiblere Erklärung, wie Intergruppenprozesse eine Veränderung im Selbstverständnis versammelter Menschen bewirken und diese über ihre ursprünglichen Intentionen hinaus gegebenenfalls zur Gewalttätigkeit motivieren können, liegt mit dem Elaborated Social Identity Model (esim) von Stephen Reicher und Kollegen vor.26 Das primäre Erkenntnisinteresse der Autoren gilt der konfrontativen Interaktion zwischen Polizeikräften und Versammlungsteilnehmern bei Großveranstaltungen wie Demonstrationen und Fußballspielen. Das esim erklärt, wie aus einer heterogenen Menschenansammlung ein Kollektiv werden kann, das sich mehr oder weniger geschlossen der Polizei entgegenstellt. Ursächlich für eine 25 26

Vgl. dazu den Beitrag von Klatetzki in diesem Band. Siehe unter anderem John Drury/Steve Reicher, »Collective Action and Psychological Change: The Emergence of New Social Identities«, in: British Journal of Social Psychology 2000, Jg. 39, H. 4, S. 579–604.

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umfassendere und insofern »stärkende« Subsumtion der Teilnehmer unter eine gemeinsame soziale Kategorie sei eine »machtvolle« Identitätszuschreibung: Diese bestehe darin, dass die Fremdgruppe überlegene Machtmittel einsetzt, um ein stereotypes Verständnis »der Masse« durchzusetzen, das sich nicht mit dem Selbstverständnis großer Teile der versammelten Menschen deckt. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die Polizei Demonstrationsteilnehmer unterschiedslos als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung behandelt, obwohl sich eine Mehrheit der Teilnehmer als Bürger versteht, die friedlich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen. Die Identitätszuschreibung wird zur selbsterfüllenden Prophezeiung, weil sie nicht nur falsch ist, sondern außerdem mit Gewalt aufgenötigt wird. Dass die wahrgenommene Illegitimität gerade staatlicher Gewalt immer wieder Anlass für eine nicht bloß situative Radikalisierung von Bürgern ist, zeigen die Beiträge von Ferdinand Sutterlüty, Donatella della Porta und, wohlgemerkt für den Kontext eines unabgeschlossenen Staatsbildungsprozesses, Felix Schnell. Ihre Fallstudien führen vor Augen, wie Ereignisse überschüssiger oder wahlloser staatlicher Gewalt, bisweilen unter dem Einfluss von charismatischen Führern und Gewaltspezialisten, zum Mythos und Kristallisationspunkt neuer sozialer Identitäten werden können, die bestehende Differenzen, etwa zwischen moderaten und radikalen Demonstranten, einebnen und gewalttätigen Widerstand billigen. Doch auch wenn die Toleranz oder Akzeptanz radikaler Positionen in einem »diskursiv« allererst zur Einheit gemachten Kollektiv zunehmen und vereinzelte Gewalttaten gegen die Fremdgruppe in Massensituationen dadurch wahrscheinlicher werden dürften: einen Automatismus, der die Bereitschaft zur Gewaltsamkeit generalisiert, gibt es nicht.27 Die geteilte Einsicht, dass man sich zur Wehr setzen dürfe, 27

Beispielsweise hat die Polizeigewalt gegen Gegner des Bahnprojekts Stuttgart 21 im Herbst 2010 zwar einen beachtlichen Mobilisierungseffekt gehabt und die Bereitschaft zu zivilem Ungehorsam als einem moderaten Konfrontationsmittel weiter erhöht, zu gewaltsamen Massenausschreitungen ist es aber nicht gekommen; wohl auch, weil der Staat den Eskalationsprozess danach nicht weiter befeuert hat. Dort jedoch, wo die Bereitschaft, auf Gewalt mit Gegengewalt zu reagieren, die ursächliche Repression weiter verstärkt, führt sie in einen Teufelskreis der Gewalt, in dem diese allmählich von einer Option zur vermeintlich alternativlosen Notwendigkeit gerät.

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solle oder gar müsse, ist an sich keine Motivation zum kollektiven Handeln. Ein Dürfen oder Sollen ist noch kein Wollen und ein Wollen noch kein Tun. Aus zwei Gründen dürfte dies gerade für die Beteiligung an Gewalttaten gelten. Erstens: Sofern die Anwesenden eigeninteressiert und rational agieren, ist kollektive Gewalt anfällig für Trittbrettfahrerprobleme, denn Gewalt ist oftmals eine riskante und kostspielige Tätigkeit. Aus einer rationalistischen oder, wenn man so will, kognitivistischen Perspektive ist demnach schon der Schritt vom kollektiven Sollen zum individuellen Wollen problematisch. Zweitens müssen selbst entschlossene Akteure bei der Ausübung von Gewalt in Faceto-face-Situationen eine emotionale, körperlich vermittelte Hemmschwelle überwinden, die gegenüber bewussten Reflexionsleistungen relativ autonom ist und die zielstrebige Umsetzung der Handlungsintention problematisch macht.28 Die Unterscheidung zwischen Wollen und Tun, genauer: zwischen Zielsetzung und Zielrealisierung leiten wir aus dem motivationspsychologischen Modell der Handlungsphasen und der pragmatischen Handlungstheorie von Hans Joas ab.29 Psychologisch lässt sich die theoretische Differenzierung der Handlung in Phasen funktional begründen. Die kognitiven Orientierungen und Herausforderungen bei der Wahl eines Ziels, bei der Entwicklung von Plänen zur Zielerreichung und bei der Durchführung zielorientierter Handlungen sind jeweils andere, was sich vor allem darin zeigt, dass selbst hochmotivierte Personen daran scheitern können, ein gefasstes Ziel in die Tat 28

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Siehe den Beitrag von Collins in diesem Band sowie ders., Dynamik der Gewalt. Dass es einen Hiatus zwischen der Gewaltabsicht und ihrer Umsetzung in Gewalthandeln gibt, wird übrigens auch an und in Gewaltorganisationen deutlich. Gehört die Anwendung kollektiver Gewalt zu den formalen Erwartungen der Organisation, ist die Bildung einer gemeinsamen, sogar »massenhaften« Intention zur Gewalt zwar unproblematisch. Sie erfolgt über formale Erwartungen per Befehl oder Programm und muss nicht gesondert motiviert werden. Collins und King zeigen in ihren Beiträgen indes, dass die situative Umsetzung des Aufrufs zur Gewalt mit dem durch die Bedingungen der Mitgliedschaft gedeckten Generalgehorsam keinesfalls trivial ist, weil die Befehlsautomatik durch den Affektgehalt gewalttätigen Handelns gestört wird. Vgl. Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt am Main 1996; Anja Achtziger/Peter M. Gollwitzer, »Motivation und Volition im Handlungsverlauf«, in: Heinz Heckhausen/Jutta Heckhausen (Hg.), Motivation und Handeln, Berlin 2010, S. 309–335.

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umzusetzen, sei es, weil sie zögern, Handlungsgelegenheiten nicht erkennen, Schwierigkeiten nicht durch eine zusätzliche Anstrengung überwinden oder durch intensive emotionale Erfahrungen abgelenkt werden. Allerdings liegt dem Modell der Handlungsphasen, wie den allermeisten soziologischen Handlungstheorien auch, die Vorstellung zugrunde, dass das menschliches Handeln in der Verfolgung vorgefasster Ziele bestehe. Demgemäß werden Umsetzungsschwierigkeiten als ein »therapierbares« Problem der Selbstregulation interpretiert. Joas kritisiert dieses rationale Zweck-Mittel-Modell des Handelns für eine Reihe stillschweigender Prämissen und entwickelt eine alternative Begründung für die Unterscheidung von Wollen und Tun. Ihm zufolge setzen sowohl die teleologische Deutung der Intentionalität als auch die unterstellte Instrumentalisierbarkeit des Körpers eine Trennung von Geist und Körper voraus, die an der Realität der menschlichen Verfassung vorbeigehe, weil die Fähigkeiten und Dispositionen des Körpers die Wahrnehmung der Situation und der situativ angemessenen Handlungsweisen immer schon vorforme.30 Darüber hinaus erzeugt die automatische Bewertung von Ereignissen, Fremdhandlungen und Objekten emotionale Reaktionen, welche die Motivation unmittelbar beeinflussen.31 Nun ist menschliches Handeln in seiner Körperlichkeit immer und zwangsläufig »situiert«. Insofern tendiert, wer den Körper aus der Betrachtung ausblendet, leicht auch dazu, die Eigendynamik der Situation oder wenigstens einen wichtigen Aspekt derselben zu übersehen. Umgekehrt, so meinen wir, profitiert gerade die Untersuchung kollektiver Gewalt von einer Berücksichtigung der für Massen- wie Gewaltsituationen gleichermaßen charakteristischen Körperlichkeit und Emotionalität. Folgt man Randall Collins und Thomas Klatetzki, sind es nämlich Emotionen, welche den doppelten Hiatus zwischen Gelegenheit und Gewaltabsicht einerseits und zwischen Gewaltabsicht und Gewalttat andererseits allererst überwinden.

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Siehe Joas, Die Kreativität des Handelns, S. 213–244. Vgl. Andrew Ortony u.a., The Cognitive Structure of Emotions, Cambridge 1988; Richard S. Lazarus, Emotion and Adaption, New York 1991. Soweit wir überblicken, kommen Emotionen, deren Wirkung ein Beispiel für die Wechselbeziehung von Körper und Geist im Handeln ist, bei Joas nicht explizit zur Sprache.

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Klatetzkis Überlegungen zur motivierenden Funktion von Emotionen knüpfen an Durkheims Theorie der Strafe an. Dieser konzeptualisiert die Strafe bekanntlich als einen affektgetriebenen Gewaltakt, mit dem sich das Kollektiv für eine Verletzung seiner moralischen Grundwerte rächt. Weil die Grundwerte eines Kollektivs, die das »Kollektivbewusstsein« bilden, per definitionem von allen geteilt werden, wiegelten sich die Mitglieder des Kollektivs in ihrer Empörung über den Normbruch gegenseitig dermaßen auf, dass es letztlich einer »gewalttätigen Genugtuung« bedürfe.32 Dementsprechend ist für Klatetzki der kollektive Ärger über das schädliche und schändliche Vergehen des Täters die motivationale Quelle, aus dem sich jedenfalls vigilante Lynchmobs speisen. Ganz ähnlich bringen Paul Richards, Bernd Greiner und Ferdinand Sutterlüty kollektive Emotionen oder Rachegefühle ins Spiel, um zu erklären, wie eine gemeinsame Intention zur »gerechten« Gewalt entsteht und entsprechende kollektive Handlungen angetrieben werden.33 Damit ist die Rolle der Emotionen zur Erklärung von nicht-organisierter kollektiver Gewalt allerdings noch nicht erschöpft. Collins zeigt weitergehend, dass Emotionen nicht nur verständlich machen, wie es zur gemeinsam verfolgten Gewaltabsicht kommt, sondern dass emotionale Prozesse zudem maßgeblich dafür sind, ob und, wenn ja, wann und wie diese Absicht in konkreten Situationen umgesetzt wird.34 Die Einschätzung und Beeinflussung der Situation durch die Akteure spielen dabei eine zentrale Rolle, im Unterschied zu symbolisch-interaktionistischen Ansätzen räumt Collins den Akteuren jedoch wenig bis keinen Interpretationsspielraum ein. Maßgeblich für die Realisie-

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33

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Emile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt am Main 1988, S. 150. Durkheim geht davon aus, dass die gemeinsame Erregung, die das Strafritual initiiert und begleitet, die Solidarität des Kollektivs erneuert und die Mitglieder vergewissert, dass die moralische Ordnung trotz des Verbrechens weiterhin Bestand hat. Die Analogie mit dem Sündenbockmechanismus in der Theorie René Girards ist offensichtlich. Vgl. den Beitrag von Dumouchel in diesem Band. Zur emotionalen »Vorgeschichte« von spontaner Gewalt bei Demonstrationen siehe auch Anne Nassauer, Violence in Demonstrations. A Comparative Analysis of Situational Interaction Dynamics at Social Movement Protests, Dissertation, Humboldt-Universität Berlin 2012. Siehe Collins, Dynamik der Gewalt, S. 35f.

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rung von Gewaltmotiven sei vielmehr das »emotionale Feld« der Situation, das die Emotionen und darüber die Handlungen der Akteure entscheidend (vorher-)bestimme. Deshalb seien nicht Individuen, sondern die Situationen, in denen sie sich befinden, »die eigentlichen Gewalttäter« und der Faktor, der Gewaltsegmente vom Rest der Masse unterscheidet.35 Wie genau man sich diese situative emotional-motivationale Gewaltmechanik vorzustellen hat, zeigt Collins in seinem Beitrag über die »Vorwärtspanik«, eine spezifische Form der Gewalt, die sich durch Einseitigkeit und Maßlosigkeit auszeichnet. Collins geht von der Prämisse aus, dass jede konfrontative Interaktion eine emotionale Anspannung erzeugt, die sich bis zu lähmender Furcht steigern kann und von den Akteuren entweder überwunden oder (zum Beispiel durch Distanzierung oder Aufmerksamkeitsumlenkung) umgangen werden muss, damit die Ausübung von Gewalt möglich wird.36 Ein Prozess, der dies leiste, sei die Vorwärtspanik. Vorwärtspaniken treten Collins zufolge auf, wenn eine hohe, über einen längeren Zeitraum aufgebaute Konfrontationsanspannung plötzlich überwunden und die aufgestaute »emotionale Energie« in einer panischen Flucht nach vorne entladen wird. Ausgelöst werde diese Entladung durch eine plötzlich und unerwartet eintretende Überlegenheit der einen über die andere Seite. In Massensituationen zum Beispiel träten Vorwärtspaniken dann auf, wenn antagonistische Blöcke – ohne Konfrontation keine Konfrontationsanspannung – zerfallen, einzelne Teilnehmer den Anschluss an ihresgleichen verlieren und in die Hände einer Überzahl gewaltbereiter Fremdgruppenmitglieder geraten. Solange Blöcke einander geschlossen gegenüberstehen, sagt die Theorie allenfalls indirekte Aggressionen (Beleidigungen, Wurfgeschosse) voraus.37 Collins Gewalttheorie ist gegenüber den Motiven der Gewaltakteure, ihren normativen Überzeugungen und Situationsdeutungen in-

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Collins, Dynamik der Gewalt, S. 10. Diese theorieprogrammatische Festlegung übernimmt Collins von Erving Goffman, Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt am Main 1986, S. 7–9. Kritisch dazu Sutterlüty in diesem Band. Siehe auch Randall Collins, »Micro and Macro Causes of Violence«, in: International Journal of Conflict and Violence 2009, S. 9–22. Vgl. Adang, Initiation and Escalation of Collective Violence.

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different. Eine Gewaltabsicht, die der Situation vorausgeht, ist für ihn weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung dafür, dass es zur Gewalttat kommt. Dass eine Gewaltintention mitunter erst aus der situativen Dynamik heraus entstehen kann, streichen auch Katz und Dumouchel in ihren Beiträgen heraus. Dagegen macht Sutterlüty geltend, dass »situationistische« Erklärungen allenfalls Bausteine einer Theorie nicht-organisierter kollektiver Gewalt lieferten, den wesentlichen Vorlauf und den Kontext kollektiver Gewalt jedoch aus dem Blick verlören. Der Gegensatz wird indes abgeschwächt, ja vielleicht sogar aufgelöst, wenn man in Rechnung stellt, dass ein Handlungsziel ante actu und dessen Umsetzung nicht dasselbe sind. Selbst wenn kollektive Gewalt von vornherein beabsichtigt wird, entfaltet die Situation eine Eigendynamik, welche die Handlungsbedingungen der Teilmasse der Täter und der Zuschauer verändert. Der kollektive Vollzug von Gewalt stößt Prozesse an, die einerseits situativ die Aufrechterhaltung und Verstärkung und andererseits längerfristig eine Wiederholung der Gewaltausübung durch das Täterkollektiv wahrscheinlich machen. Bleiben wir zunächst »in« der Situation. Wir haben argumentiert, dass zwischen der normativen Billigung von Gewalt, der Entstehung einer kollektiven Gewaltabsicht und deren Umsetzung zu unterscheiden ist. Für diese Unterscheidung gibt es nicht nur gute handlungstheoretische Gründe. Sie spiegelt auch die Beobachtung wieder, dass kollektive Gewalt, selbst wenn man sie massenhaft bejubelt, von Kleingruppen getragen und typischerweise nur von einer Minderheit der Anwesenden vollzogen wird. Mit der Gewaltausübung, so scheint es, setzt eine folgenreiche Differenzierung des Wir-Kollektivs in Täter und Mittäter auf der einen und Zuschauer auf der anderen Seite ein. Folgt man Hans Bernhard Schmid, dann setzt diese Differenzierung zunächst nicht, jedenfalls nicht notwendigerweise, auf der der Ebene der reflexiven Identifikation mit dem Kollektiv, sondern auf der Ebene der vorreflexiven Intentionalität ein, im gemeinsamen Erleben, Fühlen und Handeln.38 Bei aller Identifikation mit

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Siehe Hans Bernhard Schmid, »Wir-Identität: reflexiv und vorreflexiv«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2005, Jg. 53, H. 3, S. 365–376.

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einem größeren Kollektiv: Die Gewalt(mit)täter fühlen, tun und nehmen anderes wahr als die Zuschauer. Es ist ein Unterschied, ob ich einem Wettkampf »meiner« Mannschaft nur zusehe oder ob ich selbst auf dem Feld, in körperlichem Kontakt mit dem Gegner und im Fokus der Aufmerksamkeit der Zuschauer stehe. Das Erleben der Spieler und Zuschauer ist nicht dasselbe. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ein kollektives Erlebnis haben – dasselbe ist es deshalb nicht. Körperliche Kopräsenz, ein gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus und eine geteilte emotionale Stimmung kennzeichnen viele Situationen kollektiven Handelns. In Kombination sind sie die Voraussetzung für ein Interaktionsritual, das, selbst wenn der Anlass negativ bewertet wird (zum Beispiel bei einem Leichenschmaus), positive Gefühle der Solidarität, der Gleichheit und des moralischen Einverständnisses erzeugt, welche die Gruppengrenzen festlegen oder festigen und die Teilnehmer zur Aufrechterhaltung und Wiederholung des Rituals motivieren.39 Collins argumentiert hier in Anschluss an Durkheim, dass das vergemeinschaftende Element im kollektiven Fühlen, Erleben und Handeln an sich liegt und eine gemeinsame soziale Identität für das Gelingen eines solchen Interaktionsritual weder notwendig noch hinreichend ist. Neuere experimentelle Befunde bestätigen diese These.40 Eine gemeinsame Gewalttat nun erfüllt die Voraussetzungen eines derartigen Interaktionsrituals – Körperlichkeit, Emotionalität und ein gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus – in besonderer Weise. Und wie das Beispiel der Vorwärtspanik zeigt, genügt unter Umständen ein asymmetrisches Kräfteverhältnis zwischen zwei gegnerischen Lagern, um ein zumeist exzessives Gewaltritual auszulösen. – Allerdings zeigt Paul Richards in seinem Beitrag über den Tumult, der sich 1913 unter den Zuschauern der Uraufführung von Strawinskis Oper Le Sacre du printemps in Paris zutrug, dass spontane Interaktionsrituale kollektive Gewalt auch beenden können. Dann nämlich, wenn sich die Aufmerksamkeit der Opponenten gleichermaßen auf einen Gegenstand jenseits der konfrontativen Situation richtet. Im Théâtre des Champs

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Siehe Randall Collins, Interaction Ritual Chains, Princeton 2004, S. 47–140. Vgl. zum Beispiel Scott S. Wiltermuth/Chip Heath, »Synchrony and Cooperation«, in: Psychological Science 2009, Jg. 20, H. 1, S. 1–5; Piercarlo Valdesolo/David DeSteno, »Synchrony and the Social Tuning of Compassion«, in: Emotion 2011, Jg. 11, H. 2, S. 262–266.

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Elysées waren es Richards zufolge Tanz und Musik, die die Streitenden in ihren Bann schlugen und einem gemeinsamen Rhythmus unterwarfen. Während für die (Mit-)Täter das »bloße« Gewalthandeln Gemeinschaft stiftet, wird die Gemeinschaft der Zuschauer, sofern sie die Gewalt billigen, offenbar von einem abstrakteren Gefühl der kollektiven Selbstrealisierung getragen. Mit diesem Begriff bezeichnet Reicher die Umsetzung der unter Umständen neuen normativen Ordnungsvorstellungen der Masse in die Realität. Er nennt als Beispiele für diesen Vorgang die gewaltsame Umkehrung der sozialen Hierarchie durch Rioters und das kollektive Ausleben religiöser Überzeugungen bei hinduistischen Pilgerfesten. Die (Rück-)Wirkung kollektiver Selbstrealisierung auf die Gruppe der Zuschauer ist der von Gewaltritualen vergleichbar: Sie ruft bei den Beteiligten stark positive bis ekstatische Gefühle hervor und stärkt (dadurch) die Identifikation mit der Eigengruppe. Allerdings setzt kollektive Selbstrealisierung voraus, dass die versammelten Personen bereits eine soziale Identität, die mit normativen Erwartungen verbunden ist, reflexiv teilen. Eine vorreflexiv-rituelle Gewaltvergemeinschaftung findet in diesen Fällen augenscheinlich nicht statt. Unterscheiden wir also den Mechanismus des Gewaltrituals von dem der kollektiven Selbstrealisierung, dann erhellt dies, warum die Gewalt weniger nicht nur diese selbst, sondern auch die Masse der Zuschauer zu beflügeln und auf diese Weise die eigentlichen Gewalttäter zu weiteren Gewaltaktionen anzustiften vermag.41 Auch Greiner argumentiert in seinem Beitrag über US-amerikanische »Gewaltgruppen« im Vietnamkrieg, dass Gewalthandeln positiv erlebt wird, wenn es die Akteure ermächtigt. Im Unterschied zu Reicher führt er dies jedoch nicht auf einen sozial-, sondern auf einen individualpsychologischen Mechanismus zurück. Dass die exzessive Gewalt insbesondere der vietnamesischen Zivilbevölkerung gegenüber von den Soldaten als berauschend erlebt werden konnte, erklärt er mit der tiefen Verunsicherung, welche die irreguläre Kriegführung des Gegners hervorrief. Der subjektive Wert einseitiger Gewalt habe sich wesentlich aus ihrem Kontrast zur empfundenen Ohnmacht gegenüber 41

Wird der Erfolg der Leistung eines Individuums oder einer Kleingruppe zugeschrieben, dürfte das kollektive Hochgefühl der Ausbildung einer informalen, je nach Kontext charismatischen Führerschaft förderlich sein.

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einem unnahbaren Feind gespeist, der das eigene Überleben durch Hinterhalte und Sprengfallen permanent infrage stellte, die direkte Konfrontation aber scheute. Der soziologische Beitrag Greiners besteht nun darin, dass er zeigt, wie das Zusammenspiel dieser individuellen Motivlagen mit den organisatorischen Rahmenbedingungen – Einsatzregeln, die einer moralischen Entgrenzung zuarbeiteten, sowie die Freiheit von hierarchischer Überwachung im Feld – in den Frontabschnitten das Entstehen von Kleingruppen begünstige, in denen extreme Formen der Gewalt ihrer ermächtigenden Effekte wegen nicht nur kultiviert (und damit informell aufgewertet), sondern zur Routine werden konnten. Tatsächlich zeichneten sich die Massaker der »Tiger Force« weniger durch eine die Akteure überwältigende Gewaltdynamik als durch geschäftsmäßige und nüchterne Gewaltausübung aus. Das also heißt, so wie der vorstehend beschriebene rituelle Gewaltexzess zur Wiederholung der Tat motivieren mag, kann der organisatorisch gerahmte Exzess Institutionalisierungsprozesse anstoßen. Hingegen vermutet Collins, dass die Konfrontationsanspannung, die Kämpfer in Gefechtssituationen empfinden, die soziale Form der Organisation gewissermaßen suspendiert. In Gefechtssituationen verwandelten sich militärische Einheiten in Massen, deren kollektives Gewalthandeln nicht den organisatorischen Vorgaben, sondern der Dynamik der Situation folgt. Wie Anthony King in seinem Beitrag zeigt, unterschlägt er jedoch, erstens, dass formale Organisationen im Unterschied zu nicht-organisierten Kollektiven in der Lage sind, das Wissen um die Dynamik der Gewalt bei der Organisationsgestaltung zu berücksichtigen und in den Dienst der Organisationsziele zu stellen. Zweitens sind Gewaltsituationen für Gewaltorganisationen und ihre Mitglieder keine einmaligen Ereignisse, sondern etwas, das sich wiederholt. Das unterscheidet Gewaltorganisationen (und -gruppen) fundamental von nicht-organisierten Menschenansammlungen wie Demonstrationen, Zuschaueraufläufen und Riots. Es wäre naiv zu glauben, das sich die Gewalt der Plastizität sozialer wie psychischer Strukturen irgendwie entzieht. Natürlich lässt sich Gewalt lernen; allen anfänglichen Widerständen zum Trotz.42 42

Das sieht übrigens auch Collins, nur glaubt er, dass die Zahl der Mitglieder der »Gewaltelite« aus strukturellen Gründen auf »wenige« begrenzt ist. Siehe Collins, Dynamik der Gewalt, S. 677–699. Zur militärischen Gewaltsozialisation vgl. Dave

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Alle Beiträge, die sich eingehender mit der Institutionalisierung von Gewaltkollektiven befassen, streichen im Übrigen die Bedeutung einer als feindlich wahrgenommenen sozialen Umwelt heraus, deren bloße Existenz allein das eigene gegebenenfalls gewaltsame Tun rechtfertige, wenn nicht verlange. Doch so irrig die Alternativlosigkeit von (Gegen-)Gewalt anfangs auch sein mag, della Porta und Schnell zeigen eindrücklich, wie die Konsequenzen gewaltsamer Aktionen den Handlungsspielraum zunehmend verkleinern und die Akteure in die einmal eingeschlagene Richtung drängen. Diese Pfadabhängigkeit führen sie sowohl auf Inter- als auch auf Intragruppenmechanismen zurück: Beide, della Porta wie Schnell, beschreiben einen Prozess der Konflikteskalation zwischen nicht-staatlichen Gruppen und staatlichen Sicherheitskräften, in dem die Gewalt der einen Seite die der jeweils anderen rechtfertigt.43 Die externe Eskalation innerhalb der im Hinblick auf die Wahl der Mittel regelmäßig uneinigen Gruppen begünstigt die jeweils radikalste Fraktion. Das wiederum macht eine friedliche Beilegung des Konflikts unwahrscheinlich.44 Die Interaktionsdynamik zwischen den Kollektiven trägt also zur stetigen Reproduktion »legitimer« Anlässe und Motive zur Gewalt bei. Und das ist noch nicht alles. Durch wiederholte kollektive Gewaltausübung verhärtet sich die soziale Identität der Gewalttäter als Gewalttäter. Zudem wird die soziale und normative Schließung der Gruppe forciert, wenn sich das Gewaltkollektiv, etwa unter äußerem Druck oder

43

44

Grossman, On Killing. The Psychological Cost of Learning to Kill in War and Society, Boston 1995. Über »epiphanische« Gewalterfahrungen und ihre biografischen Voraussetzungen im zivilen Leben siehe Ferdinand Sutterlüty, »Was ist eine ›Gewaltkarriere‹?«, in: Zeitschrift für Soziologie 2004, Jg. 33, H. 4, S. 266–284. Della Porta bezeichnet den Mechanismus als »eskalierende Repression«. Die Logik dieses Mechanismus entspricht der des Elaborated Social Identity Model von Reicher und Kollegen. Das analysierte Zeitfenster reicht jedoch über einzelne Massenveranstaltungen hinaus und nimmt langfristige Eskalationsprozesse zwischen kollektiven Akteuren in den Blick. Zur strukturellen Überlegenheit von Gewalt- gegenüber Friedensprozessen siehe auch den erhellenden Essay von Peter Waldmann, »Zur Asymmetrie von Gewaltdynamik und Friedensdynamik am Beispiel von Bürgerkriegen und bürgerkriegsähnlichen Konflikten«, in: Wilhelm Heitmeyer/Hans-Georg Soeffner (Hg.), Gewalt. Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme, Frankfurt am Main 2004, S. 246– 265.

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aufgrund fehlender Akzeptanz durch Nicht-Mitglieder,45 isoliert und die Ressourcen sozialer Anerkennung für die Mitglieder monopolisiert. Della Porta und Greiner zeigen, wie sich unter diesen Bedingungen die Mitgliedschaftsmotive der Mitglieder verschieben. Während der ursprüngliche Zweck der Gruppe oder Organisation in den Hintergrund tritt – und zwar in dem Maße, wie der Austritt erschwert wird und diese den Charakter totaler Institutionen annehmen –, gewinnen Kameradschaft und die intrinsische Attraktivität der Gewalt an Bedeutung.46 Aus antiinstitutionellem Protest und organisationswidrigem Verhalten werden so unter Umständen neue Institutionen der Gewalt. Wir fassen zusammen: Nicht-organisierte kollektive Gewalt, das gemeinsame Gewalthandeln einer Menge kopräsenter Täter, ist eine soziale Koordinationsleistung, die ordnungstheoretisch erklärungsbedürftig ist. Dabei lassen sich drei Momente unterscheiden: 1. kollektive Handlungsfähigkeit überhaupt, 2. eine gemeinsame Absicht zur Gewalt und 3. deren Realisierung. Ohne sich ausdrücklich auf diese Unterscheidung zu beziehen, identifizieren die Beiträge dieses Bandes eine Reihe voneinander unabhängiger, deswegen jedoch nicht exklusiver Mechanismen und Prozesse, welche diese drei Voraussetzungen herstellen und kollektive Gewalt in Massensituationen ermöglichen und auslösen können. Die Handlungsfähigkeit einer Menschenmenge basiert auf einem geteilten Wissen (Überzeugungen über Sachverhalte, normative Erwartungen, Routinen), das psychologisch in sozialen Identitäten organisiert und über diese adressierbar ist. Ein Teil dieses Wissens wird von den Anwesenden in die Situation mithineingebracht, ein anderer Teil wird unter dem Eindruck der Situation neu gebildet, sei es durch eine Erweiterung oder Anpassung bestehender Überzeugungen oder, wenn 45

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Der ausgezeichnete dänische Dokumentarfilm Armadillo (2010), der eine Einheit junger dänischer Soldaten bei ihrem Einsatz in Afghanistan begleitet, zeigt eindrücklich, wie die vergemeinschaftende Wirkung kollektiver Gewalt – hier einer Vorwärtspanik, die zum Gewaltexzess an feindlichen Kämpfern führt – noch verstärkt wird durch das moralisierende Unverständnis, das den Soldaten von ihren dänischen Freunden und Verwandten entgegengebracht wird. Zu den möglichen Motiven von Mitgliedern in Gewaltorganisationen siehe Stefan Kühl, Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Frankfurt am Main 2014.

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auch seltener, »aus dem Nichts«. Soziale Identitäten, die in Massensituationen gemeinsames Handeln ermöglichen, werden typischerweise in Abgrenzung zu anderen oder deren Repräsentanten aktiviert, sei es im Vorlauf einer Versammlung von Menschen oder durch insbesondere konfliktförmige Intergruppenprozesse in der Situation selbst. Zuweilen ist die Absicht zur kollektiven Ausübung von Gewalt bereits Bestandteil dieses Wissens, zum Beispiel unter Hooligans, kriegerischen Gewaltgruppen oder in Gesellschaften, die Formen der Selbstjustiz praktizieren. In den meisten anderen Fällen ist es allerdings die situative Konfrontation einer »Masse« mit einem oder mehreren stereotyp wahrgenommenen Repräsentanten einer Fremdgruppe, welche als Voraussetzung für die Ausbildung einer gemeinsamen Gewaltabsicht unter Anwesenden fungiert. Regelmäßig folgt einer als solche wahrgenommenen und als illegitim erachteten Machtausübung der Gegenseite die Aushandlung oder Entstehung einer gewaltpermissiven, wenn nicht Gewalt fordernden Norm, die zuallererst einen Raum öffnet, in dem die Ausübung von Gewalt möglich ist, ohne dass sie von anderen Anwesenden negativ sanktioniert würde. Indes: Nur wenige nehmen diese Option wahr; massenhafte Gewalt aus Massen heraus ist außerhalb von organisierten Zusammenhängen außerordentlich selten. Zu tun hat dies allem Anschein nach nicht bloß mit der unterschiedlichen Gewaltkompetenz und Risikobereitschaft der Teilnehmer, sondern auch und insbesondere damit, dass die Situation, das heißt ein zwar lokal begrenztes und in der Rekonstruktion strukturiertes, die involvierten Akteure jedoch überwältigendes Geschehen, die Ausübung von Gewalt emotional erleichtern muss. Wie gesehen, ist das wissenssoziologische Paradigma der Sozialtheorie zwar sehr viel besser geeignet, die Entstehung kollektiver Handlungsfähigkeit zu erklären, als etwa die klassische Massenpsychologie. Die Wissenssoziologie jedoch tut sich schwer damit, die affektive Qualität des (Masse-)Erlebens verständlich zu machen, das für die frühen Theoretiker der Masse eben nicht nur Explanans, sondern auch und vor allem Explanandum gewesen ist. Kognitivistisch gedacht ist die Präsenz einer Masse Anderer allenfalls als Faktor der Situationseinschätzung der einzelnen Akteure von Relevanz. In einem Gruppenkonflikt wird die Gewaltoption zum Beispiel für viele erst dann attraktiv, wenn sie nicht nur legitim, sondern in Anbetracht der Stärke der Gegenseite auch erfolgversprechend ist. Auf der individuel407

len Ebene beeinflusst die Anonymität der großen Zahl zudem das wahrgenommene Risiko, für Normverstöße verantwortlich gemacht zu werden. Der Schlüssel zur Masse als, wie von Axel T. Paul in seinem Beitrag vorgeschlagen, einer vorreflexiven Gefühlsgemeinschaft von ausnehmender Körperlichkeit und Affektivität, zur Masse als Qualität, liegt jedoch weder in einer bewussten Wir-Identität noch in der bloßen Kopräsenz vieler Menschen, sondern im gemeinsamen Fühlen und Handeln. Entscheidend ist dabei, dass die Grenzen einer solchen Gefühlsgemeinschaft in aller Regel nicht mit den äußeren Grenzen der Präsenzmasse zusammenfallen. Die miteinander Handelnden bilden vielmehr ein besonderes Interaktionssystem, dessen maximale Größe durch die wechselseitig notwendige Wahrnehmbarkeit der Anwesenden begrenzt ist.47 Schon durch die gemeinsame Fokussierung eines Geschehens setzt eine Differenzierung der Menge in Teilgruppen ein, die umso schärfer ausfallen dürfte, je mehr die vorreflexive kollektive Intentionalität in ein gemeinsames Handeln ausläuft, in ein Interaktionsritual, das die Binnensolidarität der Handelnden befördert und Grenzen zieht, positive, euphorische Gefühle auslöst, das eigene Tun als gut und gerecht erscheinen lässt und sich auf diese Weise selbst verstärkt. Ausgelöst und gewissermaßen vorherbestimmt werden kann ein solches Ritual unter anderem, aber eben auch insbesondere durch einen singulären Gewaltakt. Nicht-organisierte kollektive Gewalt und Gemeinschaftlichkeit schaukeln sich in diesem Falle wechselseitig auf. Wie die Kritik der klassischen Massentheorie mit Recht seit Langem moniert, sind es nicht »Massen« als solche, welche die Emergenz kollektiver Gewalt strukturell begünstigten. Falls es jedoch, auf einem der vielen Wege, welche die Beiträge dieses Bandes beschrieben, zur Ausübung nicht-organisierter kollektiver Gewalt kommt, verstärkt diese Prozesse einer ephemeren Vergemeinschaftung, das heißt die Bildung einer »Gewaltmasse«, welche die Gewalt weiter treibt als intendiert – womöglich bis hinein in die Institutionalisierung.

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Diese variiert je nach Koordinationsmedium beziehungsweise Gegenstand des gemeinsamen Handelns: Die gesprochene oder gesungene Sprache zum Beispiel trägt sehr weit, ohne dass die wechselseitige Wahrnehmbarkeit der gemeinsam Handelnden verloren geht. Demgegenüber können sich nur vergleichsweise wenige Menschen direkt an einer Gewalttat gegen ein einzelnes Opfer beteiligen.

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Autoreninformationen

Randall Collins, Professor für Soziologie an der University of Penn-

sylvania, usa. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie, soziale Konflikte, Gewalt, Emotionen und Charisma. Neuere Publikationen: Stirbt der Kapitalismus? (zus. mit Immanuel Wallerstein u.a.), Frankfurt am Main 2014; Konflikttheorie. Ausgewählte Schriften, Wiesbaden 2012; Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie, Hamburg 2011. Scott H. Decker, Professor an der School of Criminology and Criminal

Justice an der Arizona State University, usa. Forschungsschwerpunkte: Gangs, Gewalt und die Perspektive der Täter. In laufenden Projekten beschäftigt er sich mit dem Technikgebrauch von Straftätern und der Überwindung delinquenten Verhaltens im Lebenslauf. Ausgewählte Publikationen: Confronting Gangs: Crime and Community, Oxford 2014; Lessons from the Inside: Drug Smugglers on Drug Smuggling, Philadelphia 2008 (zus. mit Margaret Townsend Chapman); International Handbook of Juvenile Justice, New York 2006 (hrsg. zus. mit Josine Junger-Tas). Donatella della Porta, Professorin für Soziologie am European Univer-

sity Institute, Florenz, Italien. Sie ist Direktorin des Center on Social Movement Studies (Cosmos) und leitet das erc-Projekt »Mobilizing for democracy: Democratization processes and the mobilization of civil society«. Forschungsschwerpunkte: soziale Bewegungen, politische Gewalt, Terrorismus, Korruption und die Polizei. Neuere Publikationen: Mobilizing for Democracy, Oxford 2014; Clandestine Political Violence, Cambridge 2013; Blackwell Encyclopedia on Social and Political Movements, Malden 2013 (hrsg. zus. mit David Snow u.a.). Paul Dumouchel, Professor für Philosophie an der Graduate School of

Core Ethics and Frontier Sciences, Ritsumeikan University, Japan. Neuere Publikationen: The Ambivalence of Scarcity and Other Es411

says, East Lansing 2014; Le Sacrifice inutile. Essai sur la violence politique, Paris 2011; Economia dell’invidia, Massa 2011. Bernd Greiner, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Hamburger Insti-

tuts für Sozialforschung und Honorarprofessor am Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: USamerikanische Geschichte des 20. Jahrhunderts, deutsche Amerikabilder und die Theorie der Gewalt und internationaler Beziehungen. Neuere Publikationen: Erbe des Kalten Krieges, Hamburg 2013 (hrsg. zus. mit Tim B. Müller und Klaas Voß); 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen, München 2011; Krieg ohne Fronten. Die usa in Vietnam, Hamburg 2009. Jack Katz, Professor für Soziologie an der University of California –

Los Angeles, usa. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Stadtsoziologie Hollywoods, eine Theorie »intimer Massaker« an Schulen und Arbeitsplätzen, unbewusste Prozesse in sozialer Interaktion und die methodologischen Grundlagen des soziologischen Naturalismus. Ausgewählte Publikationen: »Cooks Cooking Up Recipes: The Cash Value of Nouns, Verbs and Grammar«, in: American Sociologist 2012, Jg. 43, H. 1, S. 125–134; »Time for New Urban Ethnographies«, in: Ethnography 2010, Jg. 11, H. 1, S. 25–44; Seductions of Crime. Moral and Sensual Attractions in Doing Evil, New York 1988. Anthony King, Professor für Soziologie an der University of Exeter,

England. Forschungsschwerpunkt ist die Militärsoziologie. Zurzeit beschäftigt er sich mit der Entwicklung von Bereichskommandanturen vom Ersten Weltkrieg bis heute. Er war mehrere Jahre lang als Berater für Streitkräfte tätig, unter anderem 2009/10 für das isaf Regionalkommando Süd. Neuere Publikationen: The Transformation of Europe’s Armed Forces: From the Rhine to Afghanistan, Cambridge 2014; The Combat Soldier: Infantry Tactics and Cohesion in the Twentieth and TwentyFirst Centuries, Oxford 2013; »The Afghan War and Postmodern Memory: Commemoration and the Dead of Helmand«, in: British Journal of Sociology 2010, Jg. 61, H. 1, S. 1–25.

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Thomas Klatetzki, Professor für Organisationssoziologie an der Uni-

versität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Organisation von Gewalt, Organisation sozialer Problembearbeitung, Emotion und Organisation. Neuere Publikationen: »Inobhutnahme als Prozess sozialer Problembearbeitung«, in: Sozialer Sinn 2014, Jg. 15, H. 1, S. 109–135; »Die Fallgeschichte als Grenzobjekt«, in: Reinhard Hörster u.a. (Hg.): Grenzobjekte. Soziale Welten und ihre Übergänge, Wiesbaden 2012, S. 115–133; »Regeln, Emotion und Macht: Eine interaktionistische Skizze«, in: Stephan Duschek u.a. (Hg.), Organisationen regeln. Die Wirkmacht korporativer Akteure, Wiesbaden 2012, S. 93–109; »Cruel Identities«, in: Trutz von Trotha/Jakob Rösel (Hg.), On Cruelty, Köln 2011, S. 189–210. Richard K. Moule Jr., Doktorand an der School of Criminology and

Criminal Justice an der Arizona State University. Forschungsschwerpunkte: Gangs, kriminelle Netzwerke, kriminologische Theorie und der Zusammenhang zwischen Technologie und Kriminalität. Neuere Publikationen: »Internet Adoption and Online Behavior Among American Street Gangs: Integrating Gangs and Organizational Theory«, in: British Journal of Criminology 2014, Jg. 54, H. 6, S. 1186–1206 (zus. mit David C. Pyrooz und Scott H. Decker); »A View from the Street: Active Offenders, the Life-course, Technology, and Implications for Security«, in: Martin Gill (Hg.), Handbook of Security, New York 2014, S. 516–545. Axel T. Paul, Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Ba-

sel, Schweiz. Arbeitsschwerpunkte: Geld und Finanzen, Staatlichkeit, Gewalt, Tausch und Gabe. Neuere Publikationen: »Multiple Legitimitäten. Zur Systematik des Legitimitätsbegriffs«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 2014, Jg. 100, H. 2, S. 243–262 (zus. mit Ingmar Ingold); »Über die Geldstrafe«, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2012/13, Jg. 33, H. 1, S. 131–150; »Crimes de sang, itinéraires de la honte. Humiliation et culpabilité au génocide rwandais«, in: Bénédicte Sère/Jörg Wettlaufer (Hg.), Shame between Punishment and Penance. The Social Usages of Shame in the Middle Ages and Early Modern Times, Florenz 2013, S. 369–388.

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David C. Pyrooz, Assistant Professor für Criminal Justice and Crimino-

logy an der Sam Houston State University, usa. Forschungsschwerpunkte: Gangs, kriminelle Netzwerke, Entwicklungskriminologie und Gewalt. Neuere Publikationen: Handbook of Gangs, New York 2015 (hrsg. zus. mit Scott H. Decker); »From your first Cigarette to your last Dyin’ Day«: The Patterning of Gang Membership in the Life-course«, in: Journal of Quantitative Criminology 2014, Jg. 30, H. 2, S. 349–373; Confronting Gangs: Crime and Community, New York 2014 (zus. mit G. David Curry und Scott H. Decker). Stephen Reicher, Professor für Psychologie an der University of St. An-

drews, Schottland. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Beziehung zwischen sozialen Identitäten und kollektivem Handeln. Außerdem arbeitet er zu Führung, Nationalismus, Gehorsam und den psychologischen Grundlagen tyrannischer Herrschaft. Neuere Publikationen: »What Makes a Person a Perpetrator? The Intellectual, Moral, and Methodological Arguments for Revisiting Milgram’s Research on the Influence of Authority«, in: Journal of Social Issues 2014, Jg. 70, H. 3, S. 393–408 (zus. mit S. Alexander Haslam und Arthur G. Miller); S. Alexander Haslam/Stephen D. Reicher/Michael Platow, The New Psychology of Leadership, London 2012; Stephen D. Reicher/Clifford Stott, Mad Mobs and Englishmen: Myths and Realities of the 2011 Riots, London 2011. Paul Richards, Professor em. für Technologie und ländliche Entwick-

lung an der Universität Wageningen, Niederlande, sowie außerordentlicher Professor an der Njala University, Sierra Leone. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: soziale Rückkoppelungseffekte von Ritualen, soziale Reaktionen auf das Ebola-Virus. Neuere Publikationen: »Social Pathways for Ebola Virus Disease in Rural Sierra Leone, and Some Implications for Containment« (zus. mit anderen), in: PLOS Neglected Tropical Diseases 2014; »Violence and War in Agrarian Perspective«, in: Journal of Agrarian Change 2011, Jg. 11, H. 3, S. 277–297 (zus. mit Christopher Cramer); No Peace, No War. An Anthropology of Contemporary Armed Conflicts, Oxford 2005 (Hg.).

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Felix Schnell, Senior Lecturer an der University of Essex, England. For-

schungsschwerpunkte: Geschichte Russlands im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte der Ukraine, Historische Gewaltforschung, Herrschaft und Macht im Alltag. Neuere Publikationen: »Historische Hintergründe ukrainischrussischer Konflikte«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2014, Jg. 64, H. 47/48, S. 10–17; »Der Gulag als Systemstelle stalinistischer Herrschaft«, in: Bettina Greiner/Alan Kramer (Hg.), Die Welt der Lager. Zur »Erfolgsgeschichte« einer Institution, Hamburg 2013, S. 154–185; Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine, 1905–1933, Hamburg 2012. Benjamin Schwalb, wissenschaftlicher Assistent am Seminar für So-

ziologie der Universität Basel. Arbeitsschwerpunkte: Organisation, Gewalt und bewaffnete Konflikte. Zur Zeit promoviert er zur Gewalt bewaffneter Gruppen im Ostkongo. Neueste Publikation: »Kriminelle Organisationen«, in: Maja Apelt/ Veronika Tacke (Hg.), Handbuch Organisationstypen, Wiesbaden 2012, S. 327–344 (zus. mit Axel T. Paul). Ferdinand Sutterlüty, Professor für Soziologie an der Goethe-Univer-

sität und Mitglied des Kollegiums am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Familie, Kindheit und Jugend, Gewalt- und Kriminalsoziologie, soziale Ungleichheit und ethnische Kategorisierungen, Religionssoziologie, Sozialtheorie, qualitative Sozialforschung. Neuere Publikationen: »The Hidden Morale of the 2005 French and 2011 English Riots«, in: Thesis Eleven 2014, Jg. 121, H. 1, S. 38–56; »Die Waffen der Schwachen. Widerstandskulturen im Werk von James C. Scott«, in: WestEnd 2014, Jg. 11, H. 1, S. 131–146; »Christliche Deutungen sozialer Ungleichheit«, in: Oliver Berli/Martin Endreß (Hg.), Wissen und soziale Ungleichheit, Weinheim und Basel 2013, S. 126–148.

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Zu den Herausgebern

Axel T. Paul, Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität

Basel, Schweiz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Geld und Finanzen, Staatlichkeit, Gewalt, Tausch und Gabe. Benjamin Schwalb, wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Sozio-

logie der Universität Basel. Studium der Soziologie, Psychologie und der Kognitionswissenschaft in Freiburg, Basel und an der University of Arizona (Tucson), USA. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Organisation, Gewalt, Staatlichkeit und Bürgerkriege.

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