Gewalt für den Frieden: Die Idee der kollektiven Sicherheit und die Pathognomie des Krieges im 20. Jahrhundert [1 ed.] 9783428476053, 9783428076055


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German Pages 490 Year 1992

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Gewalt für den Frieden: Die Idee der kollektiven Sicherheit und die Pathognomie des Krieges im 20. Jahrhundert [1 ed.]
 9783428476053, 9783428076055

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THOMAS MICHAEL MENK

Gewalt für den Frieden

Schriften zum Völkerrecht

Band 105

Gewalt für den Frieden Die Idee der kollektiven Sicherheit und die Pathognomie des Krieges im 20. Jahrhundert

Von Thomas Michael Menk

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Menk, Thomas Michael:

Gewalt für den Frieden : die Idee der kollektiven Sicherheit und die Pathognomie des Krieges im 20. Jahrhundert I von Thomas Michael Menk.- Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Schriften zum Völkerrecht; Bd. 105) Zugl.: Speyer, Hochsch. f. Verwaltungswiss., Diss., 1992 ISBN 3-428-07605-2 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 3-428-07605-2

Vorwort Nach zwei verheerenden Weltkriegen in diesem Jahrhundert stand und steht die Eindämmung zwischenstaatlicher Gewaltanwendung im Mittelpunkt der politischen und rechtlichen Bemühungen um eine Neustrukturierung der Beziehungen der souveränen Staaten. Der Begriff der kollektiven Sicherheit, Hauptgegenstand der vorliegenden Untersuchung, ist mit diesem Prozeß untrennbar verbunden. Kollektive Sicherheit bedeutet in diesem Zusammenhang, anders als es der schlichte Wortsinn nahelegen könnte, nicht nur das Streben nach überindividueller Verantwortung für Sicherheit und Frieden im Völkerleben, sondern ist Ausdruck für den Versuch der Entanarchisierung der Gewaltanwendung im Staatenverkehr durch einen zwischen- oder überstaatlichen pouvoir pacifique. Die Einrichtung einer solchen supranationalen Friedensmacht ähnelt auf den ersten Blick dem Prozeß des Werdens des friedensstiftenden neuzeitlichen Staates, der als pouvoir neutre das mittelalterliche Fehdewesen beendete. Friedenssicherung im Sinne einer zwischen- oder überstaatlichen Neutralisierung kriegerischer Rechtshändel und ihre Ersetzung durch einen gewaltfreien Rechtsgang zwischen den Staaten setzt allerdings eine bestimmte ordnungsfähige politisch-soziale Lage voraus, die rechts- und staatensoziologisch taugliches Substrat für einen friedlichen world order sein kann. Die beiden großen Staatenorganisationen mit universellem Friedensanspruch, die in diesem Jahrhundert zu diesem Zweck geschaffen wurden, Völkerbund und die Vereinten Nationen, sind erste revolutionäre Rechtsereignisse, welche die bislang vorherrschende individualiserende Konfliktauffassung des klassischen europäischen Völkerrechts überwinden sollten. Es liegt insoweit nahe, anband der Erfahrung mit diesen Modellen der Friedenssicherung, besonders der Vereinten Nationen, die Tauglichkeit des Konzeptes einer gobalen kollektiven Sicherheit und ihrer völkerrechtlichen Folgen für die Staatenwelt einer Prüfung zu unterziehen. Dabei soll nicht, wie in der völkerrechtlichen Literatur allfällig nachzulesen, der Befund einer bislang relativen IneffiZienz des Friedensmechanismus der Vereinten Nationen wiederholt werden. Vielmehr wird die in der Satzung der Vereinten Nationen erstmals juridifizierte kollektive Sicherheit in einer rechtlich-historischen Gesamtschau von einem universalismuskritischen Standort aus neu bewertet. Das Aufbrechen der bis heute bipolaren Sicherheitsstruktur durch die scheinbare Beendigung des Ost-West-Gegensatzes und die völkersicher-

Vorwort

6

heitsrechtlichen Ereignisse um den Irak/Kuwait-Konflikt 1990/91, die oft als erste Signale eines nunmehr bevorstehenden universellen world order begriffen werden, unterstreichen die Notwendigkeit einer solchen Neubewertung. Die vorliegende Arbeit wurde an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften zu Speyer im Wintersemester 1991/92 als Dissertation angenommen. Mein besonderer Dank gebührt an erster Stelle meinem verehrten Doktorvater, Herrn Universitätsprofessor Dr. jur. Helmut Quaritsch, für seine umsichtige und jederzeit ermunternde Unterstützung sowie an zweiter Stelle dem Zweitgutachter, Herrn Universitätsprofessor Dr. jur. Waldemac Schreckenberger, für die zügige und wohlwollende Beurteilung. Zu danken habe ich auch der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer und dem Land Rheinland-Pfalz, die das Vorhaben mit einem Stipendium unterstützt haben. Hervorheben möchte ich weiterhin die Mitarbeit von Frau Karin Ernst, die bei der Erstellung des Typoskripts aufopferungsvoll mitwirkte. Schließlich und endlich danke ich dem Geschäftsführer des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Professor Norbert Simon, für die freundliche Aufnahme der Schrift in das Verlagsprogramm. Diese Arbeit ist meinen Eltern gewidmet.

Speyer, im Oktober 1992

Thomas Michael Menk

Inhaltsverzeichnis ErsterTeil

Die Organisation der kollektiven Sicherheit im VII. und VIII. Kapitel der Satzung der Vereinten Nationen A. Vorfragen ................................................................................................................ 15

I.

Der Begriff der "kollektiven Sicherheit" .................................................. 15 1. Grundlagen ............................................................................................. 16 a) Bemerkungen zu den Teilbegriffen ,,kollektiv" und "Sicherheit" .................................................................................................. 16 (1)

Der Teilbegriff ,,kollektiv" ................................................... 16

(2)

Der Teilbegriff "Sicherheit" ................................................ 18

b) Der Zusammenhang zwischen Sicherheit und Frieden in der Satzung der Vereinten Nationen .................................................. 21 2. Kollektive Sicherheit versus Allianzendenken ................... ................ 25 a) Der Begriff der Allianz ................................................................... 26 b) Die konstruktive Überwindung der Allianz durch die "kollektive Sicherheit" ................................................................................ 35

II.

(1)

Vorläufer in Antike und Mittelalter: Amphyktionie und Imperium ................................................................................ 36

(2)

Die Entwicklung in der Neuzeit .......................................... 38

(3)

Konstruktive Merkmale der ,,kollektiven Sicherheit" ...... 39

Die Stellung des VII. und VIII. Kapitels im Gesamtgefüge der Satzung der VereintenNationen ............................................................................... 43

B. Die normative Systematik der kollektiven Sicherheit aus der Sicht der Satzungsgeber der Organisation der Vereinten Nationen ................................ 46

I.

Das universelle Gewaltverbot (Art. 2 Nr. 4 SVN) als Grundvoraussetzung der kollektiven Sicherheit .................................................................. 46 1. Zur Entwicklung des Gewaltverbots ................................................... 46

2. Der Gewaltbegriff der Satzungsgeber ................................................. 55

8

Inhaltsverzeichnis II.

Ausnahmen vom Gewaltverbot des Art. 2 Nr. 4 SVN ............................. 59 1. Die erste Ausnahme: Die Maßnahmen der Art. 41 und 42 SVN als ökonomisch-militärisches Schutzschild des universellen Gewaltverbots ........................................................................................................... 59 a) Das Entscheidungsmonopol des Sicherheitsrates bei der Feststellung der Voraussetzungen und bei der Anordnung von Maßnahmen gemäß Art. 41 und 42 SVN ..................................... 60 b) Die Feststellung des "casus sanctionis" gemäß Art. 39 SVN .... 62 c) Die einzelnen Maßnahmen der Art. 41 und 42 SVN .................. 64 (1)

Die nichtmilitärischen Sanktionen (Art. 41 SVN) ............ 64

(2)

Die militärischen Sanktionen (Art. 42 SVN) ..................... 65

(3)

Die Maßnahmen der "transitional security" ...................... 67

d) Charakter und Adressaten der Maßnahmen nach Art. 41 und 42SVN .............................................................................................. 68 e) Zur Frage der stufenweisen Anwendung der Art. 41 und 42 SVN ................................................................................................... 70 2. Die zweite Ausnahme: Die individuelle und kollektive Selbstverteidigung (Art. 51 SVN) ................................................................... 70 a) Das Ringen um Art. 51 SVN ......................................................... 71 b) Der "treuhänderische" Charakter des Art. 51 SVN ................... 72 3. Die systemwidrige dritte Ausnahme: Die Feindstaatenklauseln der Art. 107 und 53 Nr. 1 Satz 2 SVN ................................................. 73 111. Das "Substitut" der universellen kollektiven Sicherheit: die Regionalorganisationen des VIII. Kapitels der Satzung der Vereinten Nationen (Art. 52 ff.SVN) .................................. .......................................................... 75 1. Der antiuniversalistische Affekt in den Art. 52 ff. SVN ................... 76 2. Das Instrumentarium der Art. 52 ff. SVN .......................................... 78 a) Das "regional arrangement" .......................................................... 79 b) Die "regional agencies" .................................................................. 80 3. Die Kompetenzen der Regionalorganisation ..................................... 80 a) Originäre Kompetenzen ................................................................. 80 b) Derivative Kompetenzen ................................................................ 82 C. Dogmatische und praktische Probleme bei der Handhabung des VII. und VIII. Kapitels der Satzung der Vereinten Nationen .......................................... 84 I.

Der Gewaltbegriff des Art. 2 Ziff. 4 SVN und die Frage seiner Harmonisierung mit Art. 39 SVN ................................................... 84

Inhaltsverzeichnis

9

1. Versuche zur Erweiterung des Gewaltbegriffs .................................. 87

a) Indirekte Gewalt ............................................................................. 87 b) Wirtschaftliche Gewalt ................ .................................. ................. 89 2. Versuche zur Einengung des Gewaltbegriffs ..................................... 93 a) "Satzungskonforme" Gewalt ......................................................... 93 b) Die "Regionalisierung'' von Gewalt ............................ ................. 95 c) Exkurs: Das Problem der Interessensphäre ................................ 99 d) Die sogenannte "antikoloniale" Gewalt .................................... 103 3. Die Reichweite der Sanktionsgewalt der Art. 39 ff. SVN im Verhältnis zu Art. 2 Nr. 4 SVN ................................................................ 105 a) Systematische Gründe für eine Entsprechung von Art. 2 Nr. 4 SVN und Art. 39 SVN .................................................................. 105 b) Die notwendig größere Reichweite des Art. 39 SVN ............... 106 4. Die Agressionsdefmition der Generalversammlung von 1974 und ihre Bedeutung für Art. 39 SVN ........................................................ 109

5. Art. 39 SVN und der Bürgerkrieg ..................................................... 112 II.

Die Entscheidung des Sicherheitsrates über die Anwendung der Sanktionen der Art. 41 und 42 SVN ........................................................ 115 1. Das umstrittene Entscheidungsmonopol des Sicherheitsrates im

Verhältnis zur Generalversammlung ................................................ 115

a) Das Dilemma des Vetos ............................................................... 116 b) Die Uniting-for-Peac~Resolution .............................................. 117 2. Die umstrittene förmliche Feststellung friedensstörender Tatb~ stände .................................................................................................... 124 3. Die konstruktive Voraussetzung der Anwendung des Art. 42 SVN: die Streitkräfte gemäß Art. 43 SVN .................................................. 126 a) Die Bemühungen des "military staff committee" zur Vorb~ reitung der Abkommen des Art. 43 SVN .................................. 127 b) Das unzulässige Empfehlungs- bzw. Legalisierungsrecht des Sicherheitsrates bei der Verhängung von Sanktionen ............. 129 4. Der Sanktionscharakter und das Ermessen bei der Auswahl der Sanktionsadressaten ............................................................................ 140 III. Die Bewährung der Art. 41 und 42 SVN in der Praxis .......................... 143 1. Art. 41 SVN .......................................................................................... 143

a) Süd-Rhodesien 1968 - 1979 ........................................................ 143 b) Südafrika 1977 - ? ........................................................................ 146

10

Inhaltsverzeichnis c) Der lrak/Kuwait-Konflikt 1990/91 ............................................. 149 2. Militärisch-kombattive Einsätze von Streitkräften, die mit der Organisation der Vereinten Nationen in Zusammenhang gebracht werden ................................................................................................... 151 a) Der Korea-Konflikt 1950/51 ........................................................ 151 b) Der Kongo-Konflikt 1960/61 ....................................................... 154 c) Der lrak/Kuwait-Konflikt 1990/91 ............................................. 156 IV. Theorie und Praxis der Regionalorganisationen des VIII. Kapitels der Satzung der Vereinten Nationen .............................................................. 163 1. Theoretische Probleme ........................................................................ 163 a) Regionalität .................................................................................... 163 b) Das Erfordernis der Satzungskonkordanz zwischen Regionalorganisation und Organisation der Vereinten Nationen .......... 166 c) Die Verteilung der Kompetenzen in Art. 52 und 53 SVN ....... 168 (1)

Das Problem der subsidiären Zuständigkeit des Sicherheitsrates im Bereich des "pacific settlement" ..... 168

(2)

Die zwangsweise Streitbeilegung gemäß Art. 53 SVN ... 170

2. Die Praxis der Friedenssicherung durch Regionalorganisationen . 170 a) Die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) ............ 171 (1)

Die Guatemala-Krise 1954 ................................................. 172

(2)

Die Kuba-Krise 1959-1964 .................................................. 174

(3)

Die Krise in der Dominikanischen Republik 1965 ......... 175

(4)

Die Falkland-Krise 1982 ..................................................... 178

b) Die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) .................. 180 (1)

Der Kongo-Konflikt 1960-1964 .......................................... 180

(2)

Der Tschad-Konflikt 1960 - ? ........................................... 182

c) Die Arabische Liga ........................................................................ 183 (1)

Die Jordanien-Krise 1970 ................................................... 184

(2)

Die Libanon-Krise 1976-1983 ............................................ 185

D. Das anwendbare Völkersicherheitsrecht der SVN ........................................... 188 I.

Die relative Bedeutungslosigkeit der Art. 41 und 42 SVN .................. 188 1. Die Anwendungsfälle des Art. 41 SVN als Gradmesser für einen Minimal-Konsens über "international public order" ...................... 189 2. Die Nichtanwendbarkeit des Art. 42 SVN ........................................ 192

Inhaltsverzeichnis

11

a) Desuetudo ...................................................................................... 192 b) Denkmögliche Reformen ............................................................. 193 (1)

Die Revision des Veto-Rechtes ........................................ 193

(2)

Die unmittelbare Rekrutierung von Streitkräften durch dieOVN ............................................................................... 195

3. Art. 40 SVN .......................................................................................... 195 4. Das pragmatische Minus des Art. 42 SVN: die "peace-keeping-

operations" der DYN-Friedenstruppen ........................................... 197

a) "lnter-state-peace-keeping'' ......................................................... 197 (1)

"Observation" ...................................................................... 197

(2)

"lnterposition" .................................................................... 198

b) "Infra-state-peace-keeping'' durch "maintenance of law and order'' ................................................ .............................................. 198 c) Rechtliche und praktische Probleme des "peace-keeping" ..... 199

II.

Art. 51 SVN: Nonn des "crisis management" ........................................ 202 1. Probleme des "armed attack" ............................................................ 203

a) Der "indirekte" bewaffnete Angriff ........................................... 205 b) Die präventive Verteidigung ........................................... ............ 207 2. Proportionalität .................................................................................... 210 3. Die Selbstverteidigung zum Schutz eigener Bürger und die sogenannte "humanitarian intervention" ................................................. 211 4. Probleme im Spannungsfeld zwischen Selbstverteidigung und unerlaubte.r Intervention ..................................................................... 215

5. Art. 51 SVN im Zeitalter nuklearer Bedrohung

219

Zweiter Teil

Das Versagen der Organisation der Vereinten Nationen als System universeller kollektiver Sicherheit eine historische und konftiktsoziologische Analyse A. Die Wurzeln des Universalistischen Sicherheitskonzepts der Organisation der Vereinten Nationen ....................................................................................... 221

I.

Aufriß des Problems .................................................................................. 222

II.

Krieg und Frieden in der Zeit des vorglobalen ,Jus gentium" bis zum Niedergang des "jus publicum europaeum" ........................................... 224 1. Der "ordo" des mittelalterlichen "jus gentium" .............................. 224

Inhaltsverzeichnis

12

2. Aufstieg und Zerfall des "jus publicum europaeum" ...................... 227 a) Die gerechten Feinde des europäischen Völkerrechts und ihre räumliche Verortung ..................................................................... 230 (1)

Das freie Kriegsführungsrecht des "justus hostis" .......... 232

(2)

Der Grundsatz des "fmis belli pax est" ............................ 236

(3)

Das europäische Gleichgewicht ......................................... 239

b) Universales Völkervernunftrecht - die Auflösung der europazentrischen Ordnung ......................................................... 242 (1)

Der terrane und der maritime Raum ................................ 243

(2)

Die Mutation des christlichen Naturrechts ...................... 247

(3)

Der angelsll.chsische Universalismus der Neuzeit ........... 255

(4)

Die Ouvertüre des "Welt(völker-)rechts" ........................ 261

111. Der Völkerbunduniversalismus im "interbellum" des 20. Jahrhunderts (1919-1939) ......................................................................................... 263 B. Die Organisation der Vereinten Nationen - System universeller kollektiver Sicherheit oder Allianz "in disguise"? ...................................................... 279 I.

Konstruktive Bedenken .............................................................................. 279 1. Die protrahierte Kriegsallianz ............................................................ 279 2. Zur Soziologie des "concurrent vote" des Art. 27 Nr. 3 SVN die Herrschaft der Hegernone ............................................................ 283 3. Die Antinomie zwischen vertikaler (Art. 39 SVN) und horizontaler Friedenssicherung (Art. 51 SVN) ............................................. '12,1 4. Das Ende des klassischen Kriegsbegriffs .......................................... 294

5. Sanktionenkrieg und Friedensschluß ................................................. 302 6. Die bedrohte Neutralität ..................................................................... 305 II.

Sanktionenkrieg versus Souveränität ....................................................... 310 1. Der pazifistische Kreuzzug ................................................................. 311 2. Die Kriminalisierung des Angriffskrieges und weltpolizeiliche Sanktion ................................................................................................. 317 a) Aufriß des Problems ...................................................................... 317 b) Der Ursprung der Idee des Angriffskriegsverbots im Umfeld der bürgerlichen Revolution ........................................................ 319 c) Die "outlawry" des Angriffskrieges im 20. Jahrhundert .......... 323 (1)

Die Völkerrechtsrevolution von 1919 - Versailles und die Folgen ............................................................................. 326

Inhaltsverzeichnis (2)

13

Zwei Arten der Inkriminierung ......................................... 329

d) Die weltpolizeiliche Sanktion ...................................................... 339 (1)

Der Sanktionsmechanismus - Possessorium oder Petitorium? .......................................................................... 340

(2)

Die Sanktion als friedenspolizeilicher Rechtszwang Nutzen und Gefahren ......................................................... 348

3. Der Sanktionenkrieg des Art. 42 SVN - "bellum justum" oder "bellum legale"? .................................................................................. 354 111. Die Entwicklung des zwischenstaatlichen Duellkrieges zum Weltbürgerkrieg .......................................................................................... 363 1. Der diskriminierende Kriegsbegriff .................................................. 365 2. Absoluter Feind und totaler Krieg .................................................... 374 a) Vom Wesen der Feindschaft ...................................................... 374 b) Die Feindschaft in historischer Perspektive .............................. 378 c) Zur Dialektik von Krieg und Feindschaft .................................. 383 (1)

Maritime versus terrane Kriegs- und Feindesauffassung ....................................................................................... 383

(2)

Weltanschauungskrieg und absolute Feindschaft

(3)

Der totale Krieg der Modemen und seine technischen Mittel ............................................................... 390

d) Die Kollektivsicherheit der SVN und ihr Feindverständnis

388

398

C. Der Weltbund als notwendige Voraussetzung universeller kollektiver Sicherheit ............................................................................................................... 411 I.

,,Jus belli" und politische Form ................................................................ 411

II.

Die Organisation der Vereinten Nationen - ein Weltbund?: Zum Problem der Verfassungsmerkmale bündischer Existenz ..................... 414 1. Souveränität und Staatenbund ........................................................... 415 2. Die Bundesgewalt ................................................................................ 421 3. Exkurs: Zur supranationalen Organisation kollektiver Sicherheit

426

4. Die Homogenität der Bundesmitglieder und ihre notwendige Repräsentation ..................................................................................... 431

Literaturverzeichnis

446

Abkürzungsverzeichnis CPll EVG GAOR GV HLKO ICJ IGH ILC IPBPR IPWSKR L.o.N. LNTS NATO OAS OAU O.N.U.C. OVN SCOR SR StiGH SVN UNCIO UNDOF

UNEF

UNFICYP UNIFIL UNMOGIP UNTSO

UNYB

VB VBS

WP WVK

Cour permanente de justice internationale Europäische Verteidigungsgemeinschaft General Assembly Official Records Generalversammlung Haager Landkriegsordnung International Court of Justice Internationaler Gerichtshof = International Law Comrnission = Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 = Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19.12.1966 = League of Nations = League of Nations Treaty Series = North Atlantic Treaty Organization = Organization of American States = Organization of African Unity = Operations des Nations Unies au Congo = Organisation der Vereinten Nationen = Security Council Official Records = Sicherheitsrat = Ständiger Internationaler Gerichtshof • Satzung der Vereinten Nationen = United Nations Conference on International Organization ( Gründungskonferenz der OVN) = United Nations Disengagement Observer Force = United Nations Emergency Force = United Nations Forces in Cyprus = United Nations Forces in Lebanon == United Nations Military Observer Group in lndia and Pakistan = United Nations Truce Supervision Organization = United Nations Yearbook = Völkerbund = Völkerbundsatzung = Warschauer Pakt = Wiener Vertragsrechtkonvention 1969

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Erster Teil

Die Organisation der kollektiven Sicherheit im VII. und VIII. Kapitel der Satzung der Vereinten Nationen

A. Vorfragen I. Der BegritT der "kollektiven Sicherheit" Der Begriff der "kollektiven Sicherheit" ist seinem Ursprung nach ein Gegenbegriff. Er steht für ein Konzept zwischen- oder überstaatlicher Sicherheit, welches für das klassische Allianzendenken keinen Raum mehr läßt. Diese Gegenbegrifflichkeit und Gegenqualität der kollektiven Sicherheit im Verhältnis zum überkommenen Bündnis spielte bei der Entwicklung und normativen Verankerung des hier zu untersuchenden Sicherheitssystems der OVN eine entscheidende Rolle.1 Die Satzungsgeber der OVN gingen davon aus, daß die Idee der kollektiven Sicherheit als Organisationsprinzip zwischenstaatlicher Sicherheit und das universelle Gewaltverbot des Art. 2 Nr. 4 SVN in natürlicher Korrelation zueinander stünden.2 Die Satzung selbst definiert den Begriff der "kollektiven Sicherheit" nicht, auch wenn die Begriffe "collective" und "security" verstreut über das ganze Normengefüge der SVN immer wieder auftauchen. Bereits unter Berücksichtigung dieses Umstandes ist es von Interesse, einen präzisen, konturierten Begriff der kollektiven Sicherheit herauszuarbeiten, der für die weitere Untersuchung eine ausreichende Arbeitsgrundlage bietet.

1 2

Vgl. Claude, Power and International Relations, S. 155. Vgl.RusseljMuther, History, S. 464,599,647,656 u. 676.

16

1. Teil: A. Vorfragen

1. Gnmdlagen

a) Bemerkungen zu den Teilbegriffen "kollektiv" und "Sicherheit" (1) Der Teilbegriff "kollektiv'' Der Teilbegriff "kollektiv'' bedeutet vom Wortsinne her einfach "gesammelt, versammelt, zusammengefasst" .3 Er ist in dem hier interessierenden Zusammenhang noch ganz allgemein gesprochen als typisierendes Merkmal einer genossenschaftlichen Organisierung von Sicherheit zu verstehen. "Genossenschaftlich" ist hier als Gegenbegriff zu "individualistisch" im Sinne einzelstaatlicher Friedenssicherung aufzufassen.• "Kollektiv'' kann aber auch bedeuten: "kollegial"; dieser Begriff kennzeichnet die Friedenssicherung durch ein internationales Kollegium souveräner Staaten, oder anders ausgedrückt: durch eine "organisation de Ia securite generale de tous les membres de Ia societe internationale"5 • Alle Mitglieder der Staatengesellschaft werden durch den Teilbegriff "kollektiv'' aufgefordert, das ihnen zukommende ,,Amt" der Friedenssicherung in einer Art universellen ,,Amtsgenossenschaft" auszuüben. Alle Staaten sollen für die Sicherheit des je anderen verantwortlich sein, da Frieden und Sicherheit "miteinander" und nicht mehr "gegeneinander" gewährleistet werden sollen; dies impliziert bereits der verwendete Begriff der ,,Amtsgenossenschaft". Das Völkerrecht kannte vor der Entwicklung des Begriffs der "kollektiven Sicherheit" bereits den Begriff der "Kollektivaktion".6 Darunter verstand man zunächst jede, von einer Mehrzahl von Staaten gemeinsam unternommene, völkerrechtlich relevante Handlung; genauer: eine von gemeinsamen politischen Interessen bestimmte kollektive Handlung.' Eine solche Kollektivaktion war immer dann notwendig, wenn das politisch gemeinsam angestrebte Ziel nicht einzelstaatlich, sondern nur genossenschaftlich erreicht werden konnte oder sollte. Der Zweck der Kollektivaktion war es, einen dritten Staat durch die Ausübung von Kollektivzwang zu einem bestimmten politischen Verhalten zu veranlassen.3 Dabei war die konkret gewählte völkerrechtliche Organisationsform der Kollektivaktion 3 Vgl. Kluge, Etymologisches Wörterbuch, Stichwort "Kollektion", S. 390 oder Duden Herkunftswörtelbuch, Stichwort "kollektiv", S. 345. 4 "Individualistisch" meint hier konkret: freie Allianzenpolitik, Rüstungsfreiheit, freies KriegsfühNngsrecht und Neutralitätspolitik. Vgl. Rousseau, Droit des conflits armes, S. 526. 5 Rousseau, a.a.O., S. 527. 6 Vgl. v. Frisch, Kollektivaktion, in: WVR 1 I, S. 647 f. 7 Vgl. v. Frisch, a.a.O., S. 647. 1 Beispiele solcher Kollektivaktionen, etwa die deutsch-englisch-italienische Flottendemonstration gegenüber Venezuela im Jahre 1902, finden sich bei v. Frisch, a.a.O.

1. Teil: A. Vorfragen

17

nicht von ausschlaggebender Bedeutung; es handelte sich zumeist um Maßnahmen herkömmlicher Allianzen oder zeitlich eng begrenzter Ententen, die mit der modernen, quasi-polizeilichen Kollektivsicherheit nichts gemein hatten, da hier keine zentralisierte zwischen- oder überstaatliche Entscheidung über die Ausübung des jus belli getroffen wurde.9 Wenn also "individualistisch" im Zusammenhang der Friedenssicherung "einzelstaatlich" bedeutet, dann will "kollektiv'' demgegenüber auf das hier wichtige Element der zwischenstaatlichen oder gar überstaatlichen Kooperation hinweisen, das heißt, daß die Sicherheit durch den Begriff "kollektiv'' zur res communis inter gentes, wenn nicht sogar supra gentes gemacht werden soll.10 Der Begriff "kollektiv'' impliziert so freilich auch eine besondere ideologische Bedingtheit. Die Verantwortlichkeit "aller für alle" verweist auf das sich seit der französischen Revolution durchsetzende republikanisch-demokratische Prinzip, welches durch den Begriff der kollektiven Sicherheit auf die Ebene des Zwischen- beziehungsweise Überstaatlichen gehoben werden soll.11 Die politische Bedeutsamkeil geselliger Kollektivität, welche das demokratische Prinzip vom monarchisch-aristokratischen abscheidet, soll auch in den Beziehungen der Staaten zueinander gelten. Gegen das "feudal-dynastische" Prinzip der "balance of powers" steht das "demokratische" Prinzip der "kollektiven Sicherheit".12 Nicht mehr das "reaktionäre" Gleichgewicht, sondern der Mehrheitskonsens der in einer Sicherheitsorganisation zusammengefaßten Staaten soll Leitmotiv zwischenstaatlicher Friedenspolitik sein. Die Tendenz dieses Denkens visiert fraglos den Bereich des Überstaatlichen an. Die Frage, ob "kollektiv'' dabei zwingend "universell-global" im Sinne einer Weltsicherheitsgemeinschaft bedeuten muß, kann an dieser Stelle dahinstehen, da sich das zur Untersuchung anstehende Kriegsverhütungssystem der OVN als ein primär globales versteht.

9 Wehberg (RdC 48 (1934 II], S. 92 ff.) ordnet die Maßnahmen der "Kollektivaktion" insoweit unzutreffend einem genossenschaftlich-universellen Sicherheitshandeln zu. 10 Ähnlich wohl Meyn, Kollektive Sicherheit, in: Schwan (Hrsg.) Sicherheitspolitik, S. 112, für den "kollektiv'' offensichtlich heißt: zwischen Weltstaat und Einzelstaaten angesiedelt. 11 Vgl dazu auch unten 2.Teil: B.ll.2.b. (S. 319 ff.). 12 Es dürfte kein Zufall sein, daß das Prinzip der kollektiven Sicherheit, nachdem es in der späten Neuzeit, besonders im Gefolge der französischen Revolution, gedanklich vorbereitet wurde, nach der Zerschlagung der letzten bedeutenden legitimen Monarchien in Europa im Ersten Weltkrieg auf Initiative der demokratisch geprägten Westmächte im System des Genfer Völkerbundes zum ersten Mal eine gewisse praktische Andeutung erfahrt. Vgl. dazu unten 2. Teil: A.III.(S. 263 ff.) und 2. Teil: B.II.2.c.(323 ff.). 2 Menk

18

1. Teil: A. Vorfragen

(2) Der Teilbegriff "Sicherheit" Schwieriger ist der für die weitere Untersuchung bedeutsame Begriff der "international security'' zu erfassen. Einige Bemerkungen zu diesem Begriff sind schon deswegen unvermeidlich, weil man als Teilwahrheit ohne weiteres akzeptieren kann, "daß die wirksamste Kriegsursache die Unsicherheit ist."13 Der Begriff der Sicherheit geht auf das lateinische securitas zurück14; dies wird bei den in der SVN verwendeten Begriffen der "security'' beziehungsweise "securite" besonders deutlich. Es handelt sich bei "securitas" um ein Kompositum (se-cura) mit der Bedeutung: ohne Sorge, Sorglosigkeit, Furchtlosigkeit. Ursprünglich drückt der Begriff also eine subjektive Befmdlichkeit aus, nämlich das Gefühl des Geborgenseins. Im weiteren Verlauf der Wortgeschichte bezeichnet er darüber hinaus den objektiv bestimmbaren Begriff eines politisch-sozialen und rechtlichen Zustandes des Geschütztseins.15 Ursprünglich unterschied man nicht zwischen innerer und äußerer Sicherheit. Noch in der Zeit des einheitlichen corpus christianum des Mittelalters, der alle feudalen Herrschaftsverbände Europas umfaßte, sah man hierfür keine Notwendigkeit, da keine Flächenstaaten mit impermeablen Staatsgrenzen existierten, und die jeweiligen Herrschaften sieb zumindest dem Grundgedanken nach als Teile einer universitas christiana empfanden, die von Kaiser und Papst geführt wurde.16 Erst das Aufkommen der neuzeitlieben souveränen Staaten im europäischen konfessionellen Bürgerkrieg des 16. und 17 Jahrhunderts führte zur Trennung zwischen innerer und äußerer Sicberheit.17 Für die soziologische Betrachtung der Staatenwelt erlangte der Begriff in der Bedeutung einer äußeren, zwischenstaatlichen Sicherheit erst im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert eine beherrschende Bedeutung.18 Dabei meinte er zunächst den Schutz der Souveränität des Nationalstaates 13 Redslob, Lc problerne de Ia paix, S. 64. 14 Vgl. dazu Conze, Sicherheit, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 5, S. 832 f. m.w.N. 15 Vgl. Conze, a.a.O., S. 831. 16 Dem entspricht auch, daß man den Krieg zwischen den feudalen Herrschaftsverbänden

und die Privatfehde in origine nicht unterschied. Vgl. Rieder, Krieg und Frieden, S. 24 m.w.N. Vgl. dazu auch Quarilsch, Staat und Souveränität, S. 45 ff., der auf das Überwiegen der auetorilas gegenüber der potestas hinweist. Siehe dazu auch unten 2. Teil: A.II.1.(S. 224 ff.) die Ausführungen zur mittelalterlichen Friedensordnung. 17 Vgl. Conze, a.a.O., S. 842 ff. 18 Vgl. Kaufmann, Sicherheit, S. 72; vgl. auch Conze, a.a.O., S. 841, der die Anfänge des politisch-diplomatischen Gebrauchs im 17. Jahrhundert ansetzt.

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und war eingebettet in das klassische, von der Idee des Gleichgewichts bestimmte Allianzendenken.19 Erst nach dem ersten Weltkrieg mit der Gründung des Völkerbundes 1919 entwickelte er sich vollends zum Allgemeinbegriff, der, losgelöst vom ausschließlich nationalstaatliehen Kontext, die Frage nach den abstrakten Bedingungen einer staatenübergreifenden Sicherheit betrifft.20 Daran anschließend kann man im zwischenstaatlichen Bereich zwischen "objektiver" und "subjektiver" Sicherheit unterscheiden.21 Objektive Sicherheit ist danach gegeben, wenn im Staatenverkehr keine materiell erkennbare Gefahr für die Unversehrtheit eines Staates gegeben ist. Anders ausgedrückt ist objektive Sicherheit die "situation d'un Etat qui est a l'abri des dangers exterieurs susceptibles a mettre en peril sa paix, sa tranquilite, son independence, son integrite territoriale."22 Die subjektive Sicherheit ist demgegenüber eine Befmdlichkeit, die im Umgang der Staaten miteinander die politisch relevanten Personen oder Personengruppen eines staatlichen Gemeinwesens, besonders die Entscheidungsträger, betrifft.23 Subjektive Sicherheit bedeutet für diese ein Gefühl des Nicht-Bedrohtseins. Objektive und subjektive Sicherheit stehen dabei in einem dialektischen Verhältnis zueinander. In der Regel wird ein Gefühl der subjektiven Sicherheit vorliegen, wenn die Bedingungen der objektiven Sicherheit erfüllt sind.24 Diese Feststellung ist aber nicht Ausdruck einer ehernen Gesetzmäßigkeit, da gerade falsche Beurteilungen der äußeren Lage eines Staates zum Wegfall der subjektiven Sicherheit führen können. Fehlende subjektive Sicherheit kann wiederum zu politischen Handlungen führen, die die objektive Sicherheit beeinträchtigen.2S Eine sichere Lage im Staatenverkehr wird man entsprechend dann annehmen dürfen, wenn die im Staat verantwortlichen Entscheidungsträger angesichts fehlender objektiver Gefahr willens und in der Lage sind, eine zur subjektiven Unsicherheit führende "vernünftige" Beurteilung der politischen Situation vorzunehmen.

19 Vgl. WUikler, APrAdW, Ph-Hist. Kl. 1939/10, S. 16 f.; dies zeigte sich bereits vorher eindrucksvoll im Testament Friedrichs des Großen, der im Blick auf "tout Je systeme de l'europe" es zum ersten Politikziel bestimmte,"... ä consolider Ia surete de l'Etat". Zit. nach Conze, a.a.O., S. 844. 20 Vgl. Conze, a.a.O., S. 859 u. 861. 21 Vgl. Berber, Sicherheit und Gerechtigkeit, S. 112 oder auch Berber, Völkerrecht 111, S.

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Vgt. Dictionnaire de Ja Terminologie du Droit International, S. 556. Vgl. KUnminich, ßR 17 (1974), S. 64 oder Verosta, Cahiers Pareto 17 (1979), S. 260. 24 Ähnlich Bourquin, RdC 49 (1934 III), S. 473. 2S Ein klassisches Beispiel für einen so entstehenden circulus vitiosus dürfte der Ausbruch des Ersten Weltkrieges sein. 23

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In diesem Zusammenhang spielt die Interdependenz zwischen innerer und äußerer Sicherheit eine bedeutende Rolle. Innerstaatliche Unsicherheit im Rahmen einer Legitimitätskrise des politischen Systems eines Staates ist stets geeignet, Aggression nach außen zu befördern. Andererseits kann eine länger andauernde äußere Bedrohung wiederum innerstaatliebe Legitimitätskrisen heraufbeschwören. Der zuletzt angesprochene Aspekt zeigt die hier wichtige Verbindung von Sicherheit und Ordnung, wobei Ordnung als soziale Friedensordnung zu verstehen ist, die sich in einem bestimmten rechtlichen Normengefüge (staatliches Recht oder Völkerrecht) widerspiegeln kann. Sicherheit ist in Fortführung des bisher Gefundenen Existenzmodus einer zur Befriedung fähigen konkreten Sozialordnung, sei sie staatlicher oder zwischenstaatlicher Natur. Die Sicherheit ist , wie die ihr zugrundeliegende Ordnung, nicht statisch als unveränderbarer Zustand aufzufassen, sondern als ein ständiges, dynamisches Werden. Sicherheit kann deshalb im internationalen Bereich unter diesem Aspekt auch definiert werden als die Gesamtheit aller Vorkehrungen, die der Verhütung einer Gefährdung oder Verletzung der konkreten zwischenstaatlichen Friedensordnung oder der Bekämpfung eines solchen Aktes dienen. Sind diese Vorkehrungen erfolgreich, so kann dies in einen Zustand ruhiger, im günstigsten Fall gewaltfreier Beziehungen zwischen den Staaten einmünden. Das Völkerrecht kann hierbei mit seinen Regeln als Abbild der jeweiligen internationalen Ordnung oder Ordnungen in einem Kreis von Völkerrechtssubjekten, unter denen zumindest ein Minimalkonsens über seine Auslegung und Anwendung besteht, das politisch-rechtliche procedere eines nach Sicherheit strebenden Staatenverkehrs defmieren. In der Sprache des Völkerrechts, kann man Sicherheit demnach beschreiben als " ...condition in which states maintain order and justice, solve their problems by cooperation, and eliminate violence. It is a condition in which states respect each other's sovereignity and equality...(and) ... refrain from intervention." 26 Problematisch bei einer solchen Definition sind Allgemeinbegriffe wie "sovereignity, violence, intervention" etc. und besonders ,justice". Wer entscheidet im zwischenstaatlichen Bereich die Frage nach der maßgebenden Bedeutung solcher Begriffe und schließlich die Frage nach der "gerechten Lösung" internationaler Streitfälle? Ein System der kollektiven Sicherheit muß sich dieser Schwierigkeit stellen, wenn es seinen Mitgliedern den Verzicht auf das jus belli zumutet27• Eine taugliche internationale FriedensordSkubisziewski, Peace and War, in: EPIL 4, S. 74 f. Der Begriff des jus belli wird hier deswegen verwandt, weil ein echtes System kollektiver Sicherheit nicht nur das jus ad bel/um der Staaten eliminiert, sondern eben das ,Jus belli" in Gänze. Das etwa in Art. 51 SVN kodifiZierte Selbstverteidigungsrecht dürfte man in einem 26

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nung muß in der Lage sein, eine "gerechte", das heißt eine für alle Beteiligten annehmbare Streitbeilegung verbindlich herbeizuführen, was wiederum freilich nur dann möglich ist, wenn die Mitglieder eines System kollektiver Sicherheit diesem ex ante eine hinreichende Problemlösungskapazität zuerkennen. Der Zusammenhang zwischen Sicherheit und Frieden oder Friedensordnung ist jedenfalls evident, auch wenn man diese Begriffe nicht als identisch betrachten kann.18 Dieses Problem soll hier jedoch nicht weiter vertieft werden, vielmehr ist an dieser Stelle kurz zu skizzieren, in welcher Weise die OVN als kollektives Sicherheitssystem mit universellem Anspruch in ihrer Satzung mit dem hier angesprochenen Problemzusammenhang verfährt.

b) Der Zusammenhang zwischen Sicherheit und Frieden in der Satzung der Vereinten Nationen Art. 1 Nr. 1 SVN benennt die Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit bei der Aufzählung der Ziele und Prinzipien der OVN an erster Stelle.29 Sie ist die Hauptaufgabe der OVN.30 In diesem Zusammenhang ist es angebracht, zunächst festzustellen, daß " ...the peace to be maintained is international peace...'m, wobei "international" zutreffend als "interstatal" (zwischenstaatlich) zu übersetzen ist.32 Gemeint ist also zunächst und vor allem der zwischenstaatliche Friede, nicht aber der innere Friede eines Mitgliedsstaates. Dies bestätigt auch Art. 2 Nr. 7 SVN, der das aus Art. 2 Nr. 1 Normensystem wie der SVN, das keinen formellen Kriegsbegriff mehr kennt, strenggenommen nicht als jus belli defensivi ansprechen, sondern als treuhänderisch-polizeiliches jus ad defensionem. Ob dies der materiellen Wirklichkeit entspricht, ist eine andere Frage. Vgl. dazu unten 2.Teil: 8.1.4. (S. 297 f.). 18 Vgl. Verosta, Festschrift Verdross 1971, S. 535; aA. Kelsen, UN, S.13. 29 Man beachte nur die Häufigkeit der Wendung "international peace and security" im Regelwerk der SVN insgesamt: z.B. in Art. 1 Nr. 1, Art. 2 Nr. 3 u. 6, Art. 11 Nr. 1,2, u. 3, Art. 12 Nr. 2, Art. 15 Nr. 1, Art. 18 Nr. 2, Art. 23 Nr. 1, Art. 24 Nr. 1, Art. 26, Art. 33, Art. 34, Art. 37 Nr. 2, Art. 39, Art. 42, Art. 43 Nr. 1, Art. 47 Nr. 1, Art. 48 Nr. 1, Art. 51, Art. 52 Nr. 1, Art. 54. 30 Vgl. statt vieler Verdross, RdC 83 (1953 II), S. 7 ff.; vgl. auch VerdrossjSimma, Völkerrecht, S. 73. 31 GoodrichjHambrojSimmons, Charter, Art. 1, S. 32; vgl. auch Lachs, Art. 1 Nr. 1, in: Cot,Pellet (Hrsg.), Charte, S. 32: "La paix en cause est Ia paix internationale." 3 Vgl. Amtz, Friedensbedrohung, S. 17 ff.; Lachs (a.a.O.) versucht über den Begriff "in· ternational" eine überstaatlich-universalistische Nuance einzuführen, indem er eher kryptisch von einer "echelle veritablement internationale" spricht, was durch das Wort "international" selbst nicht gedeckt sein dürfte. Vgl. zum traditionellen Verständnis von "international" etwa Amtz, a.a.O. mwN. oder Derpa, Gewaltverbot, S. 76 f.

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1. Teil: A. Vorfragen

SVN (sovereign equality) abzuleitende Interventionsverbot normiert.33 In dieser Hinsicht hat die SVN das auf der Souveränität der Staaten beruhende klassische Völkerrecht zumindest intentional fortgeschrieben. Unter Berücksichtigung des Gewaltverbots des Art. 2 Nr. 4 SVN und auch der Präambel der Charta ( ...to save humanitiy from the scourge of war ...) ist dieser Friede zunächst als die Abwesenheit von zwischenstaatlicher Gewalt zu verstehen, ohne daß damit konkrete, von den Staaten zu verwirklichende Friedensinhalte zu verbinden wären.34 Diese Annahme wird durch den Umstand gestützt, daß auf der Gründungskonferenz der OVN in San Francisco ein Antrag auf Ergänzung des VII. Kapitels dahingehend, " ...(requiring) that collective measures shall be taken in accordance of internationallaw and justice...", von den Sieger- und Gründungshauptmächten der OVN (USA, UdSSR, China, Großbritannien, Frankreich) abgelehnt wurde, da sie eine Einengung des Handlungsspielraums des Sicherheitsrates35 befürchteten.36 Die erste Aufgabe des SR sollte also die Unterdrückung von zwischenstaatlicher Gewalt sein und nicht die Erreichung eines "gerechten" Ausgleichs.37 Daraus ergibt sich prima facie ein Friedenskonzept, das durch den Begriff des status quo und dessen Schutzes vor gewaltsamer Veränderung hinreichend beschrieben wird.38 Frieden in diesem Sinne heißt also demnach nicht notwendig Übereinstimmung des status quo mit den überkommenen Prinzipien des allgemeinen Völkerrechts.39 Der Konnex zwischen Frieden und Sicherheit wird auch von der SVN als bedeutend angesehen.40 Dem ist insoweit zuzustimmen, wie das Bestehen einer effektiven und anerkannten Friedensordnung als notwendige Voraussetzung der Schaffung von zwischenstaatlicher Sicherheit gelten muß; das 33 Danach sind Problemlagen innerer Sicherheit nur dann der gewaltsamen OVN-Intervention (Art. 39 ff. SVN) zugänglich, wenn sie die Dimension des zwischenstaatlichen Friedens berühren (s.u.). 34 Statt vieler Randelzhofer, Friedensbegriff, in: Delbrück (Hrsg.), Völkerrecht und Kriegsverhütung, S. 22 ff. oder auch Röling, Friedenssicherung, in: Schaumann (Hrsg.), Gewaltverbot, S. 110. 35 In der Folge kurz SR genannt. 36 Vgl. Goodrichjllambro/Simmons, Art. 1, S. 27 f.; Delbrück, Friedenssicherung, in: Kewenig (Hrsg.), Die VN im Wandel, S. 136; Wolfrum, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 1 Rz. 1. 37 in diesem Sinne GoodrichjllambrojSimmons, a.a.O. 38 Vgl. Delbrück, a.a.O. S. 137 oder auch Lachs, Art. 1 Nr.l, in: Cot/Pellet (Hrsg.), Charte, S. 36. 39 Das wird von Verdross/Simma (Völkerrecht, S. 144) ganz zutreffend gesehen, wenn es bei ihnen heißt: "Bei der Prüfung ihres Vorliegens (sc. Voraussetzungen des Art. 39 SVN) spielt es keine Rolle, ob sie auch eine Verletzung des allgemeinen Völkerrechts darstellen. Freilich ist die friedensbedrohende Handlung nach dem besonderen Völkerrecht der SVN für sich selbst bereits Delikt." . 40 Lachs, a.a.O., S. 32.

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heißt, die dem Rechtsleben allgemein inhärente Dialektik von Sicherheit und Ordnung41 ist auch auf der Ebene des Völkersicherheitsrechts der SVN bestimmend. Das gilt auch dann, wenn man die von der Charta unterstellte Friedensordnung als eine quasi-polizeirechtliche betrachtet42, die im eben beschriebenen Sinne von der grundsätzlichen Richtigkeit des status quo ausgeben muß, um seinen Verletzungen ohne Gerechtigkeitserwägungen sofort begegnen zu können.43 Eine solche Betrachtung erscheint plausibel, da ein Verbot der gewaltsamen Veränderung des status quo zunächst als eine für alle Mitglieder Staatengesellschaft44 annehmbare Minimalkonzeption erscheinen darf, der sie ohne Rücksicht auf ihre im übrigen heterogenen Friedensvorstellungen aus pragmatischen Erwägungen zustimmen können. Es muß aber, angemerkt werden, daß, wie bereits an anderer Stelle angedeutet, die vorläufige gewaltlose Hinnahme des status quo nur dann erwartet werden darf, wenn die Völkerrechtsgenossen von der Möglichkeit eines friedlichen und effektiven Austrags zwischenstaatlicher Streitigkeiten unter Einschluß eines möglichen "peaceful change" ausgehen können.4s Freilich ist die Annahme eines überwiegend "negativen Friedensbegriffs"46 in der SVN, der durch die Absenz von Gewalt bestimmt wird, nicht unbestritten. Nach verschiedentlich vorgetragener Ansicht soll für die Friedensgestaltung der OVN vielmehr gelten: "Le but de Ia paix et de Ia securite internationale allait cependant au dela d'une relation purement passive entre les Etats membres de l'Organisation; il representait une ambition beaucoupplus vaste."47 Diese Vorstellung eines der SVN immanenten positiven Friedensbegriffs kann nicht ohne weiteres als abwegige interpretative 41 Man denke nur an die gebräuchliche, im deutschen Polizeirecht schon fast klassische Verbindung von "Sicherheit und Ordnung" in den polizeirechtlichen Generalklauseln. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Dies bedeutet nicht, daß solche polizeirechtlichen Generalklauseln im Völkersicherheitsrecht anzustreben sind. Vgl. da2u unten 2. Teil: B.II.2.d.(2) (S.349 ft). 42 Zur Idee des "Weltpolizeivereins" Roosevelts, Churchills und Stalins vgl. unten 8.1.1. (S.

60 Q·Für eine stärkere Betonung der Sicherheit gegenüber der Gerechtigkeit vgl. Berber, Völkerrecht II, S. 43 oder Scheuner, Strukturwandlungen in den VN, in: Kewenig (Hrsg.), Die VN im Wandel, S. 156. 44 Art. 2 Nr. 4 SVN beansprucht über Art. 2 Nr. 6 SVN auch gegenüber Nichtmitgliedern Rechtsgeltung. 4S Rechtssoziologisch zeigt sich dies bereits auf der Ebene der staatlichen Rechtsordnungen sehr deutlich. In Staaten, in denen die Rechtsunterworfenen von einer effektiven, justizfönnigen Rechtsdurchsetzung ausgehen können, ist die Tendenz zur gewaltsamen Selbsthilfe relativ gering. 46 Die Tennini "negativer" und "positiver'' Friedensbegriff gehen auf Galtung zurück. Vgl. da2u/Jelbrück, a.a.O., S. 140 m.w.N. 47 LAchs, a.a.O., S. 32 f. In diesem Sinne auch Wolfrum, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 1 Rz.S.

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Wunschvorstellung abgetan werden, zumal der Begriff des "universal peace" in Art. 1 Nr. 2 S~ die Rezeption der Idee eines universellen Friedens im Sinne des Entwurfs einer staatenüberwölbenden civitas maxima zumindest nicht ausschließt.49 Direkt für die Annahme eines "positiven Friedensbegriffs" spricht die normative Verankerung von Prinzipien in der SVN, die über ein isoliertes Gewaltverbot hinausgehen (Präambel 2. Teil, Art. 1 Nr. 1, 2 und 3, Art. 13 und Art. 55 SVN).so Die dort niedergelegten Postulate auf Errichtung einer auf Gerechtigkeit, Menschenrechte, Wohlfahrt und ökonomischen Fortschritt gegründeten globalen, auf die gesamte Menschheit bezogenen Solidargemeinschaft51 zeichnen die Konturen eines sogenannten "positiven Friedensbegriffs" oder, wie man vielleicht besser sagen sollte, eines "materialen" gegenüber einem "formalen" Friedensbegriff.s2 Man darf andererseits nicht übersehen, daß diese Prinzipien weder für die Mitglieder noch für die Organe der OVN unmittelbar verbindliche Handlungsanweisungen darstellen. Ihre Qualität dürfte über den Charakter von Organisationszielbestimmungen nicht hinausgehen. Die Organe der OVN sind vor allem nicht verpflichtet, diese Prinzipien bei der Auslegung der Begriffe "international peace and security'' implizit zur Geltung zu bringen.53 Von einer normativen Bestimmung eines für alle Staaten bindenden Friedensbegriffs hat man offensichtlich mit Bedacht Abstand genommen. Dieser Umstand erlaubt die relativ "konfliktfreie" Koexistenz eines primär-formalen und eines sekundär-materialen Friedensbegriffs in der SVN. Diese Koexistenz von im Grundsatz widerstreitenden Prinzipien wird dabei durch den äußerst allgemeinen Charakter der obenbezeichneten materialen Wertbegriffe erleichtert. Im frz. Text "paix du monde". Der in Art.1 Nr. 2 SVN verwandte Begriff des "universal peace" kann entgegen Delbrück (a.a.O., S. 136) wegen seiner singulären Vetwendung in der SVN gerade nicht als mit "international peace" gleichbedeutend angesehen werden. "Universal peace" oder "paix du monde" sind bereits von ihrer Semantik her gegenüber "international peace" mit einer "Mehr-Bedeutung'' ausgestattet. so Vgl. Delbrück, a.a.O., S. 137 ff. Ähnlich Wolfrum, a.a.O. 51 Vgl. dazu insbesondere die Konkretisierung der "friendly relations" in Art. 1 Nr. 2 SVN durch die "Friendly-Relations-Resolution" der GV (GA/Res/2625 (XXV)) vom 24. 10.1970. Vgl. dazuDohna, Grundprinzipien des VR, S.178 ff. Diese Linie wurde von der Proklamation des Internationalen Friedensjahres 1985 von der GV in der GA/Res./3 (XL) v. 24.10.1985 fortgeführt. 52 Die hier vorgeschlagene Terminologie vermeidet die Ambiguität der Begriffe "positiv'' und "negativ'', die auch als "gut" oder "schlecht" aufgefasst werden könnten. .53 Für Art. 1 Nr. 2 SVN vgl. Cassese, Art. 1 Nr. 2, in: Cot/Pellet (Hrsg.), S. 43. Für die Befütworter einer zumindest impliziten Berücksichtigung vgl. Wolfrum , in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 1 Rz. 2. 48 49

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Dennoch müssen solche allgemeinen normativ-materialen Organisationszielbestimmungen trotz ihrer konkreten historisch-ideologischen Bedingtheit bei der OVN-Gründun~ nicht ohne jede Wirkung bleiben. Der Rückgriff auf sie ist je nach den konkreten politischen Bedürfnissen der organisationsbestimmenden Mächte (die ständigen Mitglieder des SR) für die Organe der OVN jederzeit möglich. Sie erlangen dann eine plötzliche, unvorhersehbare politische Dynamik. Ohne daß hier der weiteren Untersuchung vorgegriffen werden soll, zeigen etwa die Sanktionen gegen Rhodesien und Südafrika (Art. 41 SVN)ss, daß der ursprüngliche Rahmen des Art. 2 Nr. 7 SVN (Interventionsverbot) und damit die Ebene des zwischenstaatlichen Friedens verlassen wurde.S6 Ursprünglich sollte die OVN nur in innere Konflikte der Staaten eingreifen dürfen, soweit von diesen eine Gefahr für den zwischenstaatlichen Frieden ausgeht. Das Handeln des SR in den eben bezeichneten Fällen dürfte aber gerade vom Leitmotiv der Verwirklichung individueller Menschenrechte bestimmt gewesen sein, deren Verwirklichung und Schutz traditionell zur "domaine reserve" der souveränen Staaten gehören.57 Die abstrakten Menschheitsprinzipien der SVN, hier die "fundamental human rights" (Präambel) und die "selfdetermination of peoples" (Art. 1 Nr. 2 SVN) wurden in diesen Entscheidungen zumindest implizit in Ansatz gebracht. Eine genauere Betrachtung des Friedenskonzepts in der SVN wird der weitere Untersuchungsgang erbringen. Hier ist zunächst herauszuarbeiten, mit welchen völkersicherheitsrechtlichen Instrumentarium das Ziel des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit erreicht werden soll.

2. Kollektive Sicherheit versus Allianzendenken Zur Herstellung von Sicherheit bediente sich die Staatengesellschaft herkömmlicherweise eines Systems mehr oder weniger gleichgewichtiger Allianzen. Die SVN will mit dem in ihr enthaltenen System einer kollektiven

Vgl. dazu unten 2.Teil: C.II.4 (S. 437 ff.). ss Vgl. unten C.III.l.a. (S. 143 ff.) und C.lll.1.b. (S. 147 ff.). S6 Das bemerkt Delbrück (a.a.O., S. 154) ganz zu Recht. Vgl. auch VerdrossjSimma, Völkerrecht, S. 144. 57 Die Europäische Menschenrechtskonvention und der dazugehörige Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sind eine europäisch-partikuläre Entwicklung, abgesehen davon daß die .,bindenden" Entscheidungen des Gerichtshofes der Vollstreckung durch die voll souveränen Mitglieder des Europarates bedürfen. S4

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Sicherheit andere Akzente setzen. Beide Systeme sind im folgenden zusammenfassend zu beschreiben und voneinander abzugrenzen.

a) Der Begriff der Allianz In der Geschichte der Bemühungen um Sicherheit und Frieden im internationalen Maßstab steht die Allianz, das heißt das klassische Bündnis, im Vordergrund.58 Es ist daher erstaunlich, daß diese Form zwischenstaatlicher Zusammenarbeit, obwohl völkerrechtspolitisch nach wie vor von großer Bedeutung, in der zeitgenössischen deutschsprachigen Völkerrechtsliteratur wenig Beachtung fmdet39, während zur Zeit des jus publicum europaeum fast jeder Autor konsultiert werden konnte.60 Es soll in dem hier vorgegebenen Rahmen keine erschöpfende Theorie der Bündnisse entwickelt werden, jedoch können einige Grundüberlegungen zu Wesen und Entwicklung von Allianzen nützlich sein, um späterhin eine klare Vorstellung von der Verschiedenheit der Allianz gegenüber der kollektiven Sicherheit zu erhalten. Im Sinne der oben entwickelten allgemeinen, noch untechnisch verstandenen Definition von kollektivem Sicherheitshandeln sind auch Bündnisse als Versuch kollektiver Organisierung der Verteidigung von Sicherheitsinteressen zu betrachten. Ihre Anfänge gehen in die früheste Zeit zurück.61 Die Sicherheit der Menschen wurde vor der Zeit supragentiler Herrschaftsbildung von der Familie beziehungsweise der Sippe (Clan) und schließlich vom Stamm getragen.62 Außenbeziehungen, wie sie für das moderne interstatale Völkerrecht kennzeichnend sind, konnte es folgerichtig noch nicht geben, ebensowenig wie völkerrechtliche Vereinbarungen, welche die gemeinsame Sicherheit verschiedener Herrschaftsverbände zum Gegenstand hatten.63 Das Aufkommen von Herrschaftsverbänden jenseits der Stammes58

Vgl. Zorgbibe, Les alliances, S. 11-37. Die Begriffe ,,Allianz" und "Bündnis" werden im synonym veJWendet. Eine Ausnahme bilden hier insoweit: Verosta, Theorie und Realität von Bündnissen, 1971, und Berber, Völkerrecht 111, S. 164-173 mit Hinweisen auf das vorhandene Schrifttum. Erwähnenswert ist wegen der Fülle von Schrifttumshinweisen auch der Abriß über Defensivallianzen in: Köck/Fischer, Grundlagen, S. 32-34. 60 Vgi.!Wmpf, nR 12 (1965), s. 76. 61 Vgl. Zorgbibe, Les alliances, S. 11-15 oder auch Boutros-GhtJli, Alliances, S. 15-17. 62 Vgl. dazu auch unten 2. Teil: B.ll.2.b.(S. 378 ff.). 63 Wenn Montesquieu (Vom Geist der Gesetze, Buch I, Kap. 3, S. 15) sagt: ,,Alle Völker haben ein Völkerrecht, und sogar die Irokesen, die ihre Gefangenen aufessen.", so mag das in einem präjuristischen Sinne zutreffen, völkerrechtliche Beziehungen, so wie wir sie heute verstehen, setzen aber Herrschaftsverbände von einer entwickelten administrativen und polifol~nden

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ebene, die aufgrundihrer demographischen und soziokulturellen Entwicklung in zunehmende Nähe zueinander gerieten, brachte den natürlichen Umstand mit sich, daß es stärkere und schwächere politische Einheiten gab. Diese Machtkonstellation führte angesichts natürlicher und häufig wechselnder Freund-Feind-Gruppierungen unter den politischen Einheiten zur Geburtsstunde der sicherheitspolitischen Verbindungen, die man im modernen Sprachgebrauch ,,Allianzen" nennt. Dieser liegt die Überzeugung zugrunde, daß Sicherheit und Frieden gegen Stärkere nur in der Verbindung der Unterlegenen herbeigeführt werden kann. Das si vis pacem para bel/um des einzelnen Herrschaftsverbandes in Autarkie reichte nicht mehr aus. Man kann diesen Gedanken auch so formulieren: "Chercher Ia protection dans une alliance, c'est essayer d'exorciser une peur ou dejouer une menace." 64 Oder lassen wir Thukydides sprechen: ,,Aber nur die wechselseitige Furcht vor gleicher Macht ergibt ein verläßliches Bündnis, ..."65 Sieht man von kultisch geprägten politisch-integrativen Bündnissen (z.B. die altgriechischen Amphyktonien~ ab, so zeigt sich, daß der Grundgedanke der Allianz vom Streben nach ständiger Ausbalancierung der Machtgewichte in einem bestimmten politischen Raum geprägt ist. In modernerer Zeit wird dies mit dem Begriff des "Gleichgewichts" beschrieben. Ohne auf die Einzelheiten des Gleichgewichtsgedankens einzugehen67, sei hier die wohl nach wie vor treffliche Definition von Gentz erwähnt: Das Gleichgewicht ist danach " ... diejenige Verfassung nebeneinander bestehender und mehr oder weniger miteinander verbundener Staaten, vermöge deren keine unter ihnen die Unabhängigkeit oder die wesentlichen Rechte eines anderen ohne wirksamen Widerstand von irgendeiner Seite und folglich ohne Gefahr für sich selbst beschädigen kann"68• Dies gilt freilich nur für Defensivallianzen, also den Schutzbündnissen im Gegensatz zu den Trutzbündnissen, den Offensivallianzen, die bis in das 20. Jahrhundert hinein neben den

tischen Komplexität voraus. Vgl. dazu Berber, Völkerrecht 111, 5.196 ff., der allerdings zwischen vorglobalem und neuzeitlich staatsbezogenem Völkerrecht nicht exakt unterscheidet. 64 Freund, L'essence du politique, S. 465; vgl. auch Berber, a.a.O., S. 167. 65 Thukydides, Der Peleponnesische Krieg, Drittes Buch, Kap. 11 (S. 209). 66 Vgl. dazu unten (S. 36 f.) 67 Vgl. dazu die vorzügliche Darstellung von Fenske, Gleichgewicht, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 2, S. 959 ff. 68 Gentz, Fragmente, S. 39 (. Zum Aufkommen des ,.Gleichgewichts" als bewußt so bezeichnetes politisches Instrument in den nord- und mittelitalienischen Stadtstaaten der frühen Neuzeit vgl. Kipp, Völkerordnung und Völkerrecht im Mittelalter, S. 150 ff.; Fenske, Gleichgewicht, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 2, S. 961 ff.; Verosta, Cahiers Pareto 17 (1979), s. 262 f.

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Defensivbündnissen bestanden.81 Das Offensivbündnis sucht gegenüber der Verteidigungsallianz naturnotwendig die Überlegenheit. Geschichtlich nachweisbar sind die Anfänge der Allianz in den Schriften des altindischen Staatsmannes Kautylia10, der dazu riet, die Feinde seiner Feinde zu eigenen Freunden zu machen. Neben anderen historischen Spuren im vorderen Orient'1 treten im europäischen Altertum besonders die griechischen Symmachien und das römische foedus-System in den Vordergrund.72 Das römische System unterschied zwischen dem relativ formlosen in amicitia esse und demfoedus amicitiae, der ein förmlicher Vertrag war.73 Die römischen Juristen unterschieden bei dem letzteren bereits zwischen demfoedus aequum und demfoedus iniquum14, ein Unterschied, der in moderner Zeit mit ihrem Ideal universeller Gleichheit kaum oder gar nicht mehr gesehen wird, oder den die Beteiligten nicht sehen wollen. Der formalen Bündnisvertragsgestaltung nach werden heute foedera iniqua gemieden, nicht aber der tatsächlichen politischen Gestaltung nach. Man denke dabei nur an die vielen britischen "Bündnisverträge" in diesem Jahrhundert (zum Beispiel mit dem Irak 1932 oder mit Ägypten 1936), die eine subtile Form eines Protektorates darstellten.7S Das Mittelalter und die frühe Neuzeit unterschieden nicht genau zwischen Bündnis und konfessionell geprägtem Bund.76 Erst am Ende der neuzeitlichen Glaubenskriege in Europa entstanden gemeinsam mit dem modernen Staat die modernen Allianzen zwischen souveränen Staaten.77 Seit Grotius18 hat die Völkerrechtslehre einen Begriff der Allianz im engeren 81 Als Beispiel für eines der letzten Angriffsbündnisse vgl. den gegen Österreich gerichteten Pakt zwischen Preußen und den norddeutschen Staaten von 1866, abgedruckt in: Triepel (Hrsg.), Quellensammlung zum deutschen Reichsstaa1Srecht, S. 37, das sowohl Angriffs- wie auch Verteidigungsbündnis war. 70 Vgl. dazuAiexandrowicz, BYIL 41 (1965/1966), S. 301 ff. 71 Vgl. Zorgbibe, Les alliances, S. 11 ff. 72 Vgl. dazu die immer noch richtungsweisenden Ausführungen von Triepel, Hegemonie, S. 328-490. Zum griechischen Bündniswesen vgl. auch Karavites, Capitulations and Greek Interstate Relations, S. 91 ff. 73 Zum foedus aequum vgl. Uvius, 28, 45, 20. Zum foedus iniquum vgl. ders., 35, 46, 10. Vgl. dazu auch Dulclreit/SchwarzfWaldstein, Römische Rech1Sgeschichte, S. 122 oder Dahlheim, Struktur und Entwicklung des römischen Völkerrechts, S. 121 f. 74 Vgi.DulclreitjSchwarzfWaldstein, a.a.O., 5.122 f. Dasfoedus iniquum war kein Bündnis unter Gleichberechtigten, wie der Name schon sagt, sondern ein Schutzvertrag, der die endgiil~ Unterwerfun& der späteren Klientelen vorbereitete. Vgl. dazu Schmilt, Logik der Allgemeinpakte (1935), in: ders., Positionen und Begriffe, s. 203 f. 76 Vgl. Koselkck, Bund, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 1, S. 583 ff. 77 Vgi.Koselleck, a.a.O., S. 609 ff. 78 Vgl. Grodus, De jure belli ac pacis, Prologemena 22 (S. VIII).

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Sinne entwickelt, der unter einem Bündnis einen Vertrag auf Beistand im Kriegsfalle versteht.79 Die juristischen Definitionen, die in der Folgezeit gefunden wurden, waren gleichwohl größtenteils nicht überzeugend. Exemplarisch hierfür ist die Beschreibung lellineks, welche die Allianz als " ...Verbindung zweier oder mehrerer Staaten zu gemeinsamen Verhalten als Mächte..." auffasst.80 Zutreffend hat demgegenüber Kunz die Allianz als " ...Rechtsgemeinschaft souveräner Staaten, gegründet in völkerrechtlichen Verträgen, die sie zu gemeinsamer Verfolgung politischer Ziele, insbesondere zur gemeinsamen Verteidigung oder zum gemeinsamen Angriff, gegen Dritte für vertraglich festgesetzte Fälle verpflichten...", gekennzeichnet.81 Schmitt definiert kürzer, aber nicht weniger treffend das Bündnis als " ...eine vertragliche Beziehung, aufgrund deren ein Staat für einen ganz bestimmten Fall zum Krieg verpflichtet ist."82 Der entscheidende Gesichtspunkt bei der Allianz ist das Verbleiben der vollumfänglichen Souveränität bei den Vertragsstaaten, denn die souveränen Vertragspartner des Bündnisses bleiben hier trotz ihrer politischen Gebundenheit Herren der Entscheidung über Krieg und Frieden. Sie bestimmen anders als in einem wirklichen System kollektiver Sicherheit83 selbst, ob der casus foederis vorliegt oder nicht.84 Dementsprechend ist im klassischen Bündnis die Schaffung von Kollektivorganen nur selten oder nur in Rudimenten zu erkennen.as Ein weiteres typisches Element des Bündnisvertrages, das auch in den "reinen" Verteidigungsallianzen unserer Zeit fortlebt, ist das der offenen und verdeckten "Spitzen", das heißt die Ausrichtung gegen einen bestimmten potentiellen Gegner, wobei die heutigen Bündnisverträge zur verhüllten Spitze neigen. Ein Gegner wird ausdrücklich nicht mehr benannt, aber er Vgl. Zorgbibe, Lcs alliances, S. 67 ff. lellinek, Staatenverbindungen, S. 321; vgl. auch die Definition von v. KUchen/leim, Allianzen ,in: WVR 1 I, S. 32 ff. 81 Kunz, Staatenverbindungen, S. 357. 82 Sclunitt, Verfassungslehre, S. 365; In diesem Sinne auch Freund, L'essence du politique, S. 465: "L' alliance est une relation contractuelle, generalement consignee dans un pactc cxpres, par laqucllc dcux ou plusicurs unites politiqucs souveraincs s'cngagent reciproqucment sc preter assistance en vue d'augmenter leur puissance respective et collcctive contre un ennemi commun et le combattre eventuellement en cas de guerre." 83 Vgl. dazu unten (S. 38 ff.). 84 Vgl. dazu die Regelungen über den Bündnisfall in Art. 5 des NATO-Vertrages (abgedruckt bei Berber, Völkerrecht I [Dok.), S. 760 ff.) oder Art. 4 des Warschauer Paktes (abgedruckt bei Berber, a.a.O., S. 811). Diese Betrachtung mag angesichts der Möglichkeit des politischen Hineinzwingcns schwächerer Bündnispartner in den Bündnisfall durch den oder die stärkeren Verbündeten formal erscheinen, beschreibt aber juristisch zutreffend den Entscheidu~mechanismus in der klassischen Allianz. Vgl. dazu die Regelung über den NATO-Rat in Art. 9 NATO-Vertrag. Er kann keinerlei verbindliche Anordnung treffen. Er prüft bzw. erörtert lediglich Fragen der Vertragsdurchführung. 79

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1. Teil: A. Vorfragen

bleibt aus dem Kontext des Vertragswerks heraus gut erkennbar.86 Die klassischen Vertragsbestandteile eines Offensiv- oder Verteidigungspaktes sind demnach87, ohne in jedem Vertrag zwingend enthalten sein zu müssen:

1. Der mehr oder minder verhüllte gemeinsame Gegner; 2. die Bestimmung des Bündnisfalles;

3. das Verbot des Separatfriedens; 4. die Pflicht, keine dem Bündnis widersprechenden Verträge abzuschliessen;

5. die Pflicht zur gegenseitigen Beratung. Eine genauere Klassifizierung der Allianzen in bezug auf die zahlreichen speziellen Formen kann im hier interessierenden Zusammenhang unterbleiben.88 Schließlich muß aber der temporäre Charakter des Bündnisses beachtet werden.SP Das Bündnis lebt, konfliktsoziologisch gesprochen, von einer konkreten, in der Regel zeitlich begrenzten Freund-Feind-Unterscheidung.90 Sobald der gemeinsame Feind schwindet, verliert es zumeist seine politische Grundlage: "Plus d'ennemi, plus d'alliance."91 In Zeiten außenpolitischer Friktionen scheint die Allianz ein Mittel politischer Polarisierung zu sein; in der Tat nur eine Scheinwahrheit, die aber Wilson zur Idee des Völkerbundes trug.92 Der Begriff der "Scheinwahrheit" soll verdeutlichen, daß die Allianz beziehungsweise ihr völkerrechtlich-politisches Wesen nichtcausavon Instabilität in der Politik ist, sondern im Gegenteil ein anpassungsfähiges Instrumentarium jeweiliger politischer Konstellationen darstellt und diesen regelmäßig folgt.93 Jedenfalls ist es richtig, der Allianz einen temporären Charakter zuzuordnen. Ein "ewiges" Bündnis befände sich von seinem politisch-sozialen Integrationspotential her bereits auf dem Wege zum Bund, der im Vergleich zur Allianz eine höhere Stufe

86 V gl. dazu &Impf, RR 12 (1965), S. 85 f. mit Beispielen. 87 &Impf, a.a.O., S. 82. 88 Der interessierte Leser sei auf die immer noch aussagekräftige Schrift von FreytaghLoringhoven, Die Regionalverträge, 1937, veJ.Wiesen. 8P Schmilt, Kernfrage des Völkerbundes, S. 63. 90 Das erkennt sogar Berber (Völkerrecht 111, S. 165) an, der dies für den sogleich zu besprechenden Allgemeinpakt aber nicht mehr gelten lassen will. 91 Freund, L'essence du politique, S. 471. 92 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin, S. 195 f. Ähnliche Vorstellungen hatte freilich schon Kant (Ewiger Friede,in: Batscha/Saage [Hrsg.), Friedensutopien, S. 28 t) in bezug auf den von ihm angestrebten foedus pacijicum. 93 .. .. Ahnlieh Gärtner, OZP 19 (1990), S. 371 u. 373.

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politischer Einheit verkörpert.94 In diesem Zusammenhang bedeutete die Konstruktion des sogenannten ,Aßgemeinpaktes auf gegenseitigen Beistand"9S einen Schritt in Richtung eines modernen Systems kollektiver Sicherheit. Schon Vattel hatte in Bezug auf Bündnisse festgestellt: "Les unes se font sans restrictions, envers et contre tous; en d'autres on excepte certains etats; des troisi~mes sont formees nommement contre telle ou telle nation."96 Damit hatte er sowohl das Phänomen der Spitzen, aber auch die Möglichkeit eines generellen (allgemeinen) Friedenspaktes angesprochen, denn die klassische Allianz mit erkennbarem Gegner ist extrovertiert, während der Allgemeinpakt keinen speziellen Gegner mehr kennt. Er ist introvertierter Natur, das heißt, der Gegner kann aus den eigenen Reihen kommen.97 Der Allgemeinpakt auf gegenseitigen Beistand will die vorgebliche Schwäche des klassischen Bündnisses (polarisierende und instabUisierende Gleichgewichtspolitik) vermeiden. Zwar ist auch der Allgemeinpakt wie das klassische Bündnis ein Beistandsvertrag, jedoch soll dieser die perharreszierende Wirkung der Allianzen, die wegen ihrer Vielzahl und ihrer offenen Feindbezogenheit zum Ersten Weltkrieg geführt haben sollen, ausschließen.98 Der Allgemeinpakt verzichtet demgemäß auf Spitzen gegen einen präsumtiven Feind und er ist offen für alle interessierten Mächte ohne konkrete geographische Begrenzung, das heißt, die Kontiguität der am Pakt beteiligten Staaten ist entbehrlich. Diese beiden Merkmale machen seine Generalität aus.99 Sein Wesen besteht im übrigen darin, daß die Parteien unter Verzicht auf konkrete politische Zielsetzungen, was ihn ebenfalls vom klassischen Bündnis unterscheidet, sich militärische Unterstützung nur für den Fall versprechen, daß eine von ihnen das Opfer eines Angriffs einer dritten Macht werden sollte.100 Der reine Typus des Allgemeinpaktes mit introvertiertem Charakter rechnet also mit der Möglichkeit eines Angriffs aus den eigenen Reihen. Er ist ein Garantievertrag, in dem sich die Parteien gegenseitig Sicherheit versprechen und sich verpflichten, Streitigkeiten untereinander friedlich beizulegen. Als typische Verträge dieser Art dürfen der Völkerbundpakt und der Locarno-Pakt betrachtet werden.

94 Insoweit überzeugt die Unterscheidung zwischen ,.alliance pennanente" und "alliance occasionelle" beiAron, Paix et Guerre, S. 40, nicht. 95 Vgl. zu ihm Rumpf, a.a.O., S. 79 ff. 96 Vattel, Droit des Gens, Tome ll, Liv. III, Chap. VI, § 79 (S. 64). 97 Vgl.Rumpf, a.a.O., S. 81 f. 98 Schmilt, Logik der Allgemeinpakte (1935), in: ders., Positionen und Begriffe, S. 204. 99 Vgl. Schmilt, a.a.O. 100 Freywgh-Loringhoven, Regionalverträge, S. 48.

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Der Völkerbund, verschiedentlich bereits als Modell kollektiver Sicherheit verstanden101, wies alle Merkmale des Allgemeinpaktes auf. In Art. 10 der Völkerbundssatzung102 garantierten sich die Mitglieder gegenseitig den Schutz der territorialen Integrität und politischen Unabhängigkeit. Der casus foederis sollte gemäß Art. 11 VBS mit dem Angriff auf ein Mitglied gegeben sein und sollte gemäß Art. 16 VBS ipso facto wirtschaftliche oder gar militärische Sanktionen durch die übrigen Mitglieder nach sich ziehen.103 Die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung fmdet sich in Art. 12 - 15 VBS. Noch eindeutiger in seiner Ausprägung als Allgemeinpakt war der Locarno-Vertrag.104 Er vermittelt im Gegensatz zur VBS, die den Völkerbund mit einer reichen institutionellen Ornamentik ausstattete (Völkerbundversammlung, Völkerbundrat), das eigentliche Bild des reinen Allgemeinpaktes. Er war gemäß Art. 1 des Paktes Garantievertrag im Sinne des Art. 10 VBS, vor allem aber gegenseitiger Beistandspakt gem. Art. 4 des Vertrages. Der Locarno-Pakt verzichtete dabei auf jeden institutionellen Dekor. Sein räumlicher Geltungsbereich war, anders als im Falle des Völkerbunds auf Europa, genauer auf Mitteleuropa, beschränkt. Politisch wurden die beiden Pakte durch die das Deutsche Reich einseitig belastenden Servituten (einseitige Demilitarisierung der Rheinlande etc.) schwer belastet. Ein Verstoß gegen diese Servituten war z.B. gemäß Art. 44 i.V.m. Art. 42 und 43 des Versailler Vertrages eo ipso als Angriffshandlung im Sinne des Art. 11 VBS zu betrachten.105 Die Artikel2 und 4 des Locarno-Paktes beziehen sich auf diese Regelung. Diese "partikulären Dienstbarkeiten"106 verkörperten zumindest eine verhüllte, wenn nicht gar direkte Spitze gegen ein Paktmitglied (das Deutsche Reich war seit 1926 auch Mitglied des Völkerbundes), so daß die Qualität von Völkerbund und LocarnoPakt als Allgemeinpakte im strengen Sinne angezweifelt werden kann.107

101 So Meyn, Kollektive Sicherheit, in: Schwar.z (Hrsg.), Sicherheitspolitik, S. 111 ; ähnlich auch Rousseau, Droit des conflits armes, S. 526 f. in fine. 102 Im folgenden kur.z VBS genannt. 103 Es darf hier aber darauf hingewiesen werden, daß ein Angriff im Sinne der VBS nur dann gegeben war, wenn ein Mitgliedsstaat im Falle einer zwischenstaatlichen Streitigkeit ohne Einhaltung des in Art. 12 - 15 VBS geregelten friedlichen Strcitbeilegungsverfahrcns Feindseligkeiten eröffnete. 104 Abgedruckt z.B. bei Berber (Hrsg.), Völkerrecht II (Dok.), S. 1662 ff. 105 Es darf hier daran erinnert werden, daß der sogenannte Versailler Friedensvertrag in politisch verhängnisvoller Weise die Friedensbedingungen für das Deutsche Reich und die Völkerbundsatzung in einem Vertragswerk zusammenfaßte. 106 RMmpf, nR 12 (1965), s. 81. 107 Zu den angesprochenen Angriffsfiktionen vgl. auch Schmitt, Die Kernfrage des Völkerbundes, S. 29.

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Wichtigstes Merkmal auf dem Weg zu einem wirklichen System kollektiver Sicherheit ist die Introvertiertheil der Paktkonstruktion. Die Schwäche dieser Pakte liegt aber im " ...leidigen, immer wiederkehrenden quis iudicabit."108 Wer entscheidet, ob der casus foederis vorliegt? Im Modell der VBS wie auch beim Locarno-Pakt waren es, wie bei der klassischen Allianz, die am Pakt teilnehmenden Staaten selbst. Das jus belli stand weiter zu ihrer Disposition.109 Insoweit gab es auch keine durch verbindliche, arbiträre Feststellung des Bündnisfalles (sc. durch Paktorgane) geschaffene Beistandspflicht; der casus foederis eröffnete ein von den souveränen Staaten selbst festzustellendes Beistandsrecht Im übrigen fmdet das Problem der unterschiedlichen Stärke der Paktmitglieder und damit ihres politisch-rechtlichen Einflusses auch im Allgemeinpakt keine Lösung.110 Es gilt unter diesem Gesichtspunkt für den politisch scheinbar "neutralen" Allgemeinpakt noch mehr wie für das klassische Bündnis: "Le rapport des forces possede a Ia fois un usage externe et un usage interne dans l'alliance"111, das heißt, der introvertierte Charakter des Allgemeinpakts erlaubt einzelnen oder mehreren mächtigen Paktmitgliedern im Rahmen der "allgemeinen Friedenssicherung" auch auf die innerpolitischen Belange der Schwächeren Einfluß zu nehmen112, während der reine, mit feindbestimmender Spitze versehene, Defensiv- oder Offensivpakt hierfür wiederum weniger Spielraum eröffnet, denn es ist einfacher, über das Leitmotiv einer "allgemeinen Friedenssicherung" mittelbar oder unmittelbar in innere Angelegenheiten einzugreifen als bei einer konkreten politischen Bezogenheil auf einen äußeren Feind in der klassischen AJlianz.113 In diesen Zusammenhang muß für den Allgemeinpakt berücksichtigt werden, " ... que Ia faiblesse des coalitions vient de leur incoherence ..." 114, Sclunilt, a.a.O., S. 26. Das Genfee Protokoll von 1924, das u.a. im Ergebnis den Angriffskrieg kriminalisieren sollte (vgl. Wehberg, Genfee Protokoll, S. 37 ff.) und gleichzeitig durch die Präzisierung des Angriffsbegriffs das Ermessen der Staaten bei der Entscheidung über das Vorliegen des Bündnisfalles eingeschränkt hätte, ist bis auf unbedeutende Ausnahmen nie ratifaziert worden. Vgl. dazu v. d. Heydle, Genfer Protokoll, in: WVR 2 I, S. 653 ff. 110 Vgl. Sclunilt, Logik der Allgemeinpakte (1935), in: ders., Positionen und Begriffe, S. 205. 111 Freund, L'essence du politique, S. 466. 112 Beispiel: Die alliierte Einflußnahme auf die Politik des Deutschen Reiches über den Völkerbund. 113 Das mag im Sinne des oben beschriebenen Zusammenhangs zwischen innerer und äußerer Friedensordnung nicht per se negativ zu beurteilen sein, jedoch stellt sich bei einem internationalen Eingriff in innere Angelegenheiten eines souveränen Staates (vgl. die im Prinzip vorsichtige Lösung des Art. 2 Nr. 7 SVN) die besondere Schwierigkeit der Legitimität eines solchen Eingriffs. Vgl. dazu unten D.I.l.(S. 189 ff.). 114 Freund, a.a.O., S. 466. 108 109

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das heißt, je unterschiedlicher die Interessen der Mitglieder des Allgemeinpaktes sind, desto mehr besteht die Notwendigkeit der Gleichgewichtigkeit der Mitglieder untereinander. Umgekehrt bedarf es geringerer Gleichgewichtigkeit bei einer substanzhaften politischen Konkordanz der Paktteilnehmer.115 Im übrigen begünstigte die VBS in Art. 21 die Bildung von Regionalpakten, welche die behauptete Universalität konterkarierten, obwohl Wilson, der spiritus rector bei der Entstehung des Völkerbundes, noch 1918 verkündet hatte: "There can be no leagues or alliances or special convenants within the general and common family of the league of nations." 116 Im Gegenteil, es entstand eine regelrechte "Paktomanie"117, die besonders von Frankreich eine rege diplomatische Beförderung erfuhr.118 Diese Pakte119 zeichneten sich regelmäßig, anders als der im Grundsatz introvertierte Generalpakt von Locarno, der gleichermaßen ein Regionalpakt im Sinne von Art. 21 VBS war, durch einen "esprit d'hostilite et d'aggression"120 aus, den man eigentlich überwunden glaubte. Diese völkerrechtspolitische Konstellation erleichterte es der nationalsozialistischen Regierung des Deutschen Reiches, sich 1935 für den Austritt aus dem, besonders seiner geopolitischen Anlage nach, positiv zu bewertenden Locarno-Pakt zu entscheiden.121 Es dürfte am Ende dieser kurzen Betrachtung des Allgemeinpaktes kaum streitig bleiben, wenn man die Modelle des Völkerbundpaktes und des Locarno-Paktes, wie den Allgemeinpakt überhaupt, völkerrechtsdogmatisch eher als Organisationen der völkerrechtlichen Notwehr und Nothilfe bezeicbnee22 denn als Systeme kollektiver Sicherheit in einem anspruchsvollen Sinne123, auch wenn der Völkerbund in seiner Satzung Elemente ei115 Zum Problem der politisch-sozialen Homogenität in einem Friedenssicherungssystem vgl. unten 2. Teil: C.II.4.(S. 431 fr.). 116 W!Lson, zit. nach: Goodhart, RdC 79 (1951 II), S. 204. 117 Verosta, Festschrift Verdross 1971, S. 539. 118 Vgl. dazu Zorgbibe, Les alliances, S. 37. 119 Gemeint sind vor allem Frankreichs Pakte mit Polen, der Tschechoslowakei, Jugoslawien, Rumänien und schließlich der Sowjetunion. Vgl. dazu Schwarzenberger, Power Politics, S. 384 f. Frankreich inaugurierte auch die gegen habsburgische Restaurationsaspirationen und gegen Anschlußversuche Österreichs an das Deutsche Reich gerichtete Kleine Entente. Siehe dazu Schullz, Kleine Entente, in: WVR 2 I, S. 431 f. 120 A"egui, RdC 53 (1935 II), S. 76. 121 Der eigentliche Anlaß war die Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund. Vgl. dazu Sclunitt, DJZ 41 (1936), Sp. 337 ff.; vgl. auch Barandon, Staatenverträge seit 1918, S. 234 ff.

SoKimminich, nR 11 (1974), s. 10 r. A.A. Basdevant, zit. nach dem Dictionnaire de Ia Terminologie du Droit International, S. 558, mit Hinweis auf Publication de Ia Conciliation internationale, 1936, no. 5~7, S. 327, der zur Zeit des VB formulierte: " Le systeme de Ia securite collective, c'est reserve faite des 122 123

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ner institutionalisierten friedlichen Streitbeilegung zwischenstaatlicher Konflikte (Art. 12 - 15 VBS) enthielt. Welche konstruktiven Elemente ein anspruchsvolles, modernes System der kollektiven Sicherheit aufweisen muß, um insbesondere das Problem des quis judicabit bei der Feststellung des casus foederis bewältigen zu können, ist im folgenden zu zeigen. Eine Mischung aus Garantie-, Konsultativ- und Beistandspakt, wie er sich in der VBS völkerrechtlich widerspiegelt, reicht hierzu nicht aus.

b) Die konstruktive Überwindung der Allianz durch die "kollektive Sicherheit" Der Begriff der "kollektiven Sicherheit" ist eine relativ junge Schöpfung.124 Der "verderblichen" Paktpolitik sollte ein System berechenbarer Friedenssicherung entgegengesetzt werden. Politisch war die Idee der kollektiven Sicherheit bereits in den Völkerbund eingebettet, der die juristische Transformierung der Entente cordiale in einen Allgemeinpakt bedeutete.125 Der wirkungsvollste Protagonist dieser Idee war sicher Wilson. 126 Seine Auffassung von kollektiver Sicherheit spiegelte sich in der Überzeugung wider, daß es sich bei dieser Sicherheit um einen Zustand handelt, " ... in which all nations big or small would cooperate in common course of guaranting security and justice to all, rather than engage in competitive alliances as in the old system."127 Dies klingt zunächst plausibel, besonders dann, wenn man davon ausgeht, daß das bis heute bestimmende Sicherheitsinstrument ,,Allianz" den Krieg offensichtlich nicht bannen kann. Das Projekt eines verbesserten Friedenssicherungssystems war und ist daher ein ambitiöses Vorhaben, welches sich aber prima facie rechtfertigt angesichts der Existenz von hochtechnisierten, mit nuklearen Vernichtungswaffen ausgestatteten Militärmächten und immer noch zahlreicher Kriege im Leben der offenbar noch im hobbesianischen bel/um omnium contra omnes beprecisions et des details, un systeme dans lequel un Etat, pour se defendre des dangers exterieurs n'a pas a compter sur lui-meme, sur ses propres forces, sur ses amis et allies, mais peut compter sur Ia cooperation de tous les autres etats. Le systeme de sa nature est reciproque: chacun est apprete a beneficier de Ia garantie de tous." Diese Definition geht iiber den Allgemeinpakt nicht hinaus und läßt das Problem der Delegation des jus belli der Staaten auf ein zentrales Sicherheitsorgan außer Betracht. 124 Er ist in der VBS noch nicht enthalten und taucht im Schrifttum erst mit Beginn der dreißiger Jahre auf. Vgl. dazu Verosta, Cahiers Pareto 17 (1979), S. 266 f. 115 So Rumpf, Staat 24 (1985), S. 604. 126 Vgl. dazu Saksena, UN and Collective Security, S. 8-10. 127 Wilson, zit. nach Nouer, Wilson, S. 328 f.; den genossenschaftlichen Charakter der kollektiven Sicherheit betont auch Schiüzel, Zweites Gutachten, in: Wehrbeitrag II, S. 642.

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findliehen Staatenwelt Im folgenden soll versucht werden, eine völkerrechtsdogmatische Abgrenzung der "kollektiven Sicherheit" gegenüber den oben beschriebenen Formen der ,,Allianz" durchzuführen. Dabei sollen die konstruktiven Eigenarten herausgearbeitet werden, die gegenüber dem klassischen Bündnis und dem Allgemeinpakt ein Mehr an zwischenstaatlicher Sicherheit ermöglichen sollen. Zuvor sollen jedoch die historischen Entwicklungslinien dieses Begriffs beziehungsweise der ihm zugrundeliegenden Idee nachgezeichnet werden. Die Idee der kollektiven Sicherheit ist im Grunde keine revolutionäre, sondern entspringt der seit jeher notwendigen Strebung des in sozialen Einheiten lebenden Menschen, den anarchischen Gebrauch von Gewalt innerhalb einer konkreten sozialen Ordnung einzudämmen. So entstand etwa der Staat. Auf der zwischenstaatlichen Ebene bedeutet sie die Ersetzung des anarchischen Für- und Gegeneinander der Staaten durch einen genossenschaftlichen, auf wirklicher Gemeinschaft beruhenden Sicherheitsmechanismus, der, ausgestattet mit militärischen und nichtmilitärischen Streitbeilegungsmitteln den Zustand universaler Friedlosigkeit beenden soll. Bei einer kurzen, im wesentlichen kursorischen Übersicht kann es nicht darum gehen, die Geschichte universaler Friedenskonzepte erschöpfend zu erzählen. Diese ist bekannt und andernorts ausführlich dargestellt.12JI Hier interessieren die markanten historischen Stationen, die für die Herausbildung typischer Merkmale eines Konzeptes kollektiver Sicherheit von Bedeutung sind.

(1) Vorläufer in Antike und Mittelalter: Amphyktionie und Imperium Erste Grundzüge fmden sich bereits in der antiken Welt. Die altgriechischeAmphyktionie, die von der antiken griechischen Entsprechung der Allianz, der Symmachie, zu unterscheiden ist, deutete diese an. Es handelte sich um den Zusammenschluß mehrerer poleis im Umkreis eines Heiligtums (z.B. Delphi), welcher anläßtich der Versammlung des jeweiligen Kultverbandes die heilige Stätte vor der Usurpation durch eine einzelne polis schützen sollte. Es sollte verhindert werden, daß eine bestimmte polis mit Hilfe der magischen Kraft des Heiligtums Einfluß auf die anderen nehmen könnte. Jeder Verletzer kormte in einer Art heiligen Krieges bis zur Vernichtung bekämpft werden.129 Vgl. Sohn, Peace, Proposals for the Preservation of, in: EPIL 4, S. 95 ff. m.w.N. Zu den Amphylaionien vgl. Tenekides, RdC 90 (1956 II), S. 583 ff. oder auch Heuß, Hellas in: Mann/Heuß (Hrsg.), Weltgeschichte 111, S. 105 u. 191 f. l2JI 129

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Wichtig sind hier zwei Elemente: Ähnlich wie bei dem oben skizzierten Allgemeinpakt, der Vorstufe moderner Systeme kollektiver Sicherheit, richtete sich die Abwehrbereitschaft gegen jeden potentiellen Verletzer der organisierten Sakralsicherheit Anders aber als der Allgemeinpakt, und das dürfte für eine wirkliche kollektive Sicherheit auch heute unentbehrlich sein, beruhte dieser gemeinsame Wille zur Abwehr sakrilegischer Handlungen nicht nur auf einem pragmatischen Vertrag im übrigen heterogener sozialer Einheiten, sondern auf einer konkreten sakralen Ordnung, die gleichsam wie ein unsichtbares Band alle Mitglieder der Amphyktionie einte, das heißt, sie schuf einen sektoriellen, auf die Sakralordnung gerichteten politischen Gemeinwillen, auch wenn die Mitglieder dieser Ordnung außerhalb des Bereichs des konkreten Gemeininteresses (gemeinsame genossenschaftliche Pflege des Kultes) in politischer Feindschaft zueinander stehen konnten. Im weiteren Verlauf der Antike bildete sich unter der pax romana eine Friedensordnung heraus, die ein weiteres wichtiges Element kollektiver Sicherheit enthielt: das imperium.130 Der Begriff des imperium ist hier nicht nur im geläufigen Sinne der Herrschaft eines "Reiches" zu verstehen, sondern meint ursprünglich vielmehr die der reichischen Herrschaft zugrundeliegende ordnende Befeblsgewalt.131 Es entstand mit dem imperium romanum und seiner pax romana ein auf Dauer angelegtes System, in dem der Gedanke des Friedens unter der auetoritos und potestas des römischen Senats, später des Imperators, das Prinzip der Selbständigkeit und Freiheit der einzelnen unterworfenen Herrschaftsverbände, wie es für die griechische Welt der poleis zumindest im Urzustand prägend war, zurückdrängte.132 Die Rebellen im Bereich des Imperiums waren, auch wenn sie nicht originär oder derivativ römisches Bürgerrecht erlangt hatten, innere Feinde und wurden nicht als außerhalb des Imperiums stehende fremde Mächte empfunden.133 Die Legitimität des Imperiums speiste sich bierbei bis in die späte Dekadenz des römischen Reiches aus dem ursprünglich sakral geprägten universal-souveränen Herrschaftsgedanken, der in der Blütezeit des Imperiums im imperatorseine vollkommene Verkörperung erfuhr.134

130 Zurpax romatlll vgl. Verosta, in: Verdross, Völkerrecht 1964, S. 38-43, oder auch Köck(F_ischer, Grundlagen, S. 35 f. m.w.N. 13 Vgl. dazu Fehrenbach, Reich, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 5, S. 425. 132 Ahnlieh Demandt, Staat 27 (1988), S. 24.

Vgi.Demmull, a.a.O. Bis zur Christianisierung war der Kaiser ein imperator divus. Später leitete er seine Autorität "nur noch" vom christlichen Gott ab, ein Umstand, der es möglichen Konkurrenten gestattete, die Verwirkung des Herrschaftsanspruches zu behaupten, da dieser nicht mehr in der Person des Kaisers selbst begründet lag. Im übrigen war die politische Homogenität in 133

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Dieser imperiale Friedensgedanke wurde auf dem Boden des ehemaligen römischen Reiches bis ins Hochmittelalter zunächst durch den Papst und nach der translatio imperii im Jahre 800 durch den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation verteidigt. Im byzantinischen Reich vereinigte der Basileios die weltliche und geistliche Autorität des vormaligen Imperators.

(2) Die Entwicklung in der Neuzeit Der sich im Spätmittelalter andeutende Staatenpluralismus löste die spirituell-politische Ordnung der universitas christiana endgültig auf und bereitete das Feld für die in der Neuzeit einsetzende Staatenfehde. Die friedensstiftende Ordnung des imperium christianum, die immer mehr zur reinen Idee verkam, wurde von den entstehenden Nationalstaaten nicht mehr respektiert. Ideengeschichtlich bedeutsam sind die gleichzeitig aufkommenden universalen Friedenspläne von Theologen, Staatsmännern und später Juristen (Dubois, Podiebrad, Vitoria, Suarez, Pufendorf, Cruce, Saint-Pie"e, Kant u.a.). Sie sollen hier nicht weiter vertieft werden.135 Diese Friedenspläne können als Reaktion auf den Verlust einer universalen europäischen Friedensordnung, die man sich wohlverstanden vor allem als eine geistige vorzustellen hae36, betrachtet werden. Erwähnenswert ist, daß nach den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts die ideologischen Bemühungen um einen universalen Frieden in zunehmend säkularisierter Form vorgenommen wurden und der Gottesfrieden des Mittelalters durch den Menschheitsfrieden eines aufgeklärten Bürgertums ersetzt wurde. Bedeutsam ist, daß bereits die Französische Revolution den Gedanken des später im Völkerbund konkretisierten Allgemeinpaktes in Anlehnung an den Enzyklopädisten Holbachm vorwegnahm, indem sie das Projekt eines allgemeinen Sicherheitsverbundes der bürgerlich-revolutionären Nationen hervorbrachte, der sich freilich nur in Frontstellung gegen die aristokratisch-dynastischen Feindstaaten denken ließ.138 Diese Idee hatte unter der Spätzeit des Reiches durch die Sonderentwicklungen in den einzelnen Provinzen bereits stark geschwächt. 135 Vgl. dazu Schlochauer, Die Idee des ewigen Friedens, 1953. 136 Vgl. dazu Münkler, Im Namen des Staates, S. 248 ff. Dieres publica chrisliana des Mittelalters war im übrigen noch kein Staat mit institutionellen Gewaltmitteln zur Friedenssicherun§; Vgl. dazu Quarilsch, Staat und Souveränität, S. 26 ff. 1 Vgl. Ho/bach, La potitique naturelle ou discours sur !es vrais principes du gouvemement, Amsterdam tm. 138 Vgl dazu auch unten 2.Teit: B.ll.2.b.(S. 321 f.)

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den gegebenen machtpolitischen Umständen keine Aussicht auf Verwirklichung.139 Der moderne Begriff der kollektiven Sicherheit ist erst in diesem Jahrhundert auf der Londoner Konferenz des Instituts für geistige Zusammenarbeit des Völkerbundes von 1935 erkennbar in die völkerrechtliche Begrifflichkeit eingeführt worden. Die Konferenz hatte die "collective security'' (securite collective) zum Gegenstand140, wobei erste Versuche einer Präzisierung des Begriffs unternommen wurden.141 Kollektive Sicherheit im modernen Sinne wird geprägt durch die sogenannte "trilogie celebre", die Abrüstung, Schiedsgerichtsbarkeit und Sicherheit umfaßt.142 Der in der vorliegenden Untersuchung gewählte Schwerpunkt liegt auf der im Zweifel durch Sanktionsgewalt herzustellenden zwischenstaatlichen oder gar überstaatlichen Sicherheit.

(3) Konstruktive Merkmale der "kollektiven Sicherheit" Konstruktiver Ausgangspunkt für ein System kollektiver Sicherheit im engeren Sinne ist der oben beschriebene Allgemeinpakt. Gemeinsam haben diese beiden unterschiedlichen Formen einer Sicherheitsorganisation den introvertierten Charakter. Die Grundidee ist, daß jeder potentielle Aggressor, der, wie gezeigt, auch aus den eigenen Reihen kommen kann, der Übermacht der anderen Teilnehmer am Sicherheitssystem nicht widerstehen können soll. Jeder Staat soll gleichzeitig Garant und Garantieempfänger sein.143 Dies wird bei Forsthaffs Definition der kollektiven Sicherheit ganz deutlich: "Er (sc. der Gedanke der kollektiven Sicherheit144) beruht auf der Ablehnung der bisherigen Formen und Techniken militärischer Beistandspakte, Bündnisse und Allianzen. Der tragende Gedanke und damit der Unterschied zu den Allianzen früherer Zeiten besteht darin, daß das System nicht gegen einen Feind und potentiellen Angreifer gerichtet ist, sondern daß es offen ist, auch den potentiellen Angreifer miteinschließt und darauf seine Funktion der Friedenswahrung und allgemeinen Sicherheit abstellt. Der potentielle Angreifer soll gerade dadurch, daß er selbst 139 Vgl. dazu Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 490 f. 140 Berber berichtet von dieser Konferen2 in: ZaöRV 5 (1935), S. 803 ff.; vgl. auch Verosta,

Festschrift Verdross 1971, S. 539. 141 Vgl. zum Beispiel Niemeyer, La nature de Ia securite collective, in dem Sammelband von Bourquin (Hrsg.), Sc!curite Collective, S. 144 ff. 142 Vgl. Descamps, RdC 31 (1930 1), S. 499. 143 Grewe, AöR 78 (1952/1953), S. 243 u. 247. 144 Anm. des Verf.

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der Organisation angehört und ihren Mitteln und Verfahren unterworfen ist, zum Verzicht auf die Anwendung militärischer Gewalt gebracht werden."1~

Diese beiden Elemente reichen allerdings nicht aus, um ein System kollektiver Sicherheit konstruktiv zu erfassen, da im anderen Falle, wie bereits angedeutet, der Völkerbund ein solches verkörpert hätte. Bei einem System kollektiver Sicherheit im hier verstandenen Sinne besteht, im Gegensatz zur Regelung in der Völkerbundssatzung, eine echte Beistandspflicht.146 Hierfür muß im entsprechenden System ein Organ existieren, welches gleichsam als eine Art zwischen- beziehungsweise überstaatlicher pouvoir neutre, wenn es einen solchen denn geben sollte, den casus foederis und die damit verbundene Beistandspflicht für alle Mitglieder bindend feststellt. 147 Der Völkerbund hatte als Allgemeinpakt in dieser Hinsicht in Gestalt des Völkerbundrates allenfalls rudimentäre Strukturen entwickelt.148 Die Beistandspflicht des Art. 16 VBS war insoweit unvollkommen-abstrakt. Ein System kollektiver Sicherheit bedarf darüberhinaus eines dem Entscheidungsorgan zur Verfügung stehenden tauglichen Zwangssystems zur Durchsetzung des Gewaltverbots. Im Falle militärischer Zwangsmaßnahmen erfordert es eine "Friedensstreitmacht", die mindestens so stark ist, daß sie jeden potentiellen Friedensstörer abschreckt.149 Der entscheidende Aspekt eines anspruchsvollen Systems kollektiver Sicherheit besteht demnach darin, daß die Verantwortung für die zwischenstaatliche Sicherheit und des konzertierten Handeins zur Herstellung dieser Sicherheit aus der exklusiven Entscheidungsmacht des souveränen Staates herausgelöst wird. Der Hauptgegenstand des kollektiven Sicherheitsvertrages, nämlich die Anwendung zwischenstaatlicher Gewalt zur Friedenssicherung, steht nicht mehr zu seiner (sc. des Staates) Disposition. Konsequent zu Ende gedacht führt dies zur "Entnationalisierung" der Sicherheit in einem überstaatlichuniversellen, das heißt absoluten Friedensbündnis.150 Ein Selbsthilferecht in Form des individuellen und kollektiven Notwehr- oder Nothilferechts ist in

1~ Forsthoff, Gutachten, in: Wehrbeitrag II, S. 335 f. Vgl. auch Bourquin, RdC 49 (1934 III), S. 469 u. 522 f. 146 SoJUmminich, nR 11 (1974), s. 10. 147 Vgl. Kelsen, RdC 84 (1953 Ill} oder Bindschedler, Festschrift Wehberg 1956, S. 70 ff. 148 Vgl. dazu Göppert, Völkerbund, S. 166 ff. 149 Vgl. Claude, Power and International Relations, S. 250 ff. 150 Vgl. Köck/Fischer, Grundlagen, S. 34. Denkbar sind auch Mischformen, zum Beispiel

ein relatives Friedensbündnis auf regionaler Basis, das absolut nach innen wirkt und relativ nach außen, das heißt, gegenüber anderen Friedensbündnissen nach einer Situation des Gleichgewichts streben muß.

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einem solchen System rechtslogisch eigentlich ausgeschlossen151, da in ihm ein zwischen- beziehungsweise überstaatliches entscheidungsfähiges Repräsentativorgan, welches den Friedensgemeinwillen der betroffenen Staaten sichtbar macht, mit seinen Gewaltmitteln im Idealfall alle kriegerischen Konflikte ersticken soll. Die OVN scheint diese Voraussetzungen allesamt zu erfüllen, jedenfalls sollte sie bei ihrer Gründung keine klassische Allianz sein.152 Der SR soll gemäß Art. 39 SVN in alleiniger Verantwortung (Art. 24 Nr. 1 SVN) bindend für alle Mitglieder über die Anwendung der Zwangsmaßnahmen gemäß Art. 41 und 42 SVN entscheiden, die die Erzwingung des in Art. 2 Nr. 4 SVN niedergelegten Gewaltverbots ermöglichen sollen. Die hierbei konkretisierte Beistandspflicht ergibt sich aus Art. 2 Nr. 5 SVN und wird in Art. 48 und 49 SVN wiederholt und präzisiert. Art. 43 SVN sieht die Etablierung einer permanenten "Friedensstreitmacht" vor. Die konstruktiven Merkmale für ein modernes, anspruchsvolles kollektives Sicherheitssystem liegen also auf den ersten Blick vor. Andererseits perpetwert Art. 51 SVN das individuelle und kollektive Selbstverteidigungsrecht Am Ende dieser Vorüberlegungen angekommen, verlangt es den völkerrechtlichen Untersucher nach einer allgemeinen, tauglichen Definition der kollektiven Sicherheit. Derer gibt es eine Unzahl, sie sollen und können hier nicht aufgezählt werden. Eine griffige und nicht zu enge Definition könnte sein: Das Ziel kollektiver Sicherheit ist es, " ...to institutionalize the legal use of force ..." und"... to reduce reliance on self-help as a rather crude form of law enforcement".153 Es handelt sich hierbei um eine zugegeben abstrakte, aber gleichwohl handhabbare Umschreibung des Gegenstandes. Sie akzentuiert in jedem Fall den betont institutionellen Charakter der kollektiven Sicherheit. Der entscheidende Mangel solch einer Definition liegt demgegenüber in der Nichterfassung der Elemente des notwendigen politischen und sozialen Substrats einer so verstandenen Sicherheitsordnung.

Ohne daß spätere Erwägungen oder gar Ergebnisse der Untersuchung vorweggenommen werden, kann hier auf Folgendes hingewiesen werden: Unter dem Gesichtspunkt der Herausnahme der Sicherheitsverantwortung 151 Bei der zwischenstaatlichen Notwehr bzw. -hilfe handeln anders als auf der staatlichen Ebene keine Einzelpersonen sondern die Staaten als institutionalisierte Personenmehrheiten. Eine internationale Polizei, wie sie das Prinzip der kollektiven Sicherheit anvisiert, kann in ihrer idealtypischen Fonn "Polizeien neben der Polizei" genausowenig vertragen wie die staatliche Polizei. Vgl. dazu auch unten 2. Teil: B.I.3.(S. 292 f.). 152 Der amerikanische Delegierte auf der Konferenz von San Francisco meinte, daß " ... a naked offensive and defensive military alliance ..."kein"... mutual assistance pact ..."sei. Vgl. UNCIO XII, S. 857 f. 1S3 Vgl. Delbrück, Collective Security, in: EPIL 3, S. 104.

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und des damit verbundenen jus belli aus der ausschließlichen Verfügungsbefugnis des souveränen Staates ist es wahrscheinlich, daß zwischenstaatliche Sicherheit im Sinne eines Systems kollektiver Sicherheit erst dann entstehen kann, wenn diese Sicherheit in eine überstaatliche verwandelt wird. Die vorhandene Macht der Staaten wird dann einer über ihnen stehenden Autorität übergeben, oder es wird zumindest eine Keimzelle überstaatlicher Macht geschaffen, die weit stärker ist als die den Staaten verbliebene Macht.154 Dies ist nicht unbedingt als ein Aufruf zum Weltstaat zu verstehen, aber in dieser in der von europäischem Geist geprägten Idee der kollektiven Sicherheit ist der säkulare Abglanz der oben angesprochenen imperialen Friedensordnung der mittelalterlichen res publica christiana auszumachen, die als sozio-kulturelle Einheit im europäischen Raumkontext gewissermaßen ein universelles geistiges, über den partikulären Herrschaftsverbänden stehendes Band verkörperte, in dem sich ein transnationaler, christlich-europäischer politischer Gemeinwille widerspiegelte, der die christliche Welt von den nichtchristliehen Räumen spirituell und politisch abgrenzte. Darüberhinaus zeigt der institutionelle, überaus zweckrationale Charakter der kollektiven Sicherheit, so wie er auch in der SVN konzeptionell angelegt ist, eine spürbare Parallele zum neutralisierenden Friedensmechanismus des neuzeitlichen souveränen Staates, der sich in der Monopolisierung der Gewaltanwendung beim Staate vergegenständlicht.1ss Die Idee der kollektiven Sicherheit stellt sich insoweit als Fortentwicklung eines imperial-staatlichen Friedenskonzeptes auf überstaatlicher Ebene dar; sie hat einen etatistischen Kern.1S6 Das von der Idee der kollektiven Sicherheit letztlich angestrebte Ziel könnte man umschreiben als " ...une espece de contrat qui mettrait fm a l'etat de nature caracteristique du domaine international a Ia maniere dont le pacte sociale de Hobbes est cense avoir mis un terme a l'etat de nature •••".1ST In diesem Sinne muß eine zwischen- oder überstaatliche Sicherheit, die in einer Zeit des starken Machtgefälles zwischen den souveränen Staaten und des daraus resultierenden, immer noch gegenwärtigen PanintervenVgl. Levontin, The Myth of International Security, S. 60. tss Vgl. dazu Quarilsch, Staat und Souveränität, S. 234. lS6 In diesem Sinne auch Krüger, in: Berichte der DGVR 2 (1957), S. 30, in der Aussprache zum Referat von Scheuner. tST Freund, L'cssence du politique, S. 472. Ähnlich Kriele, Friede durch Friedensbewegung'?, in: den., Recht, Vernunft, Wirklichkeit, S. 35, der davon ausgeht, daß der Friede zwischen den Staaten davon abhinge, daß die Analogien zum innerstaatlichen Frieden durch Recht voranzutreiben sind. Zum Problem der Rechtsdurchsetzungsinstanz nimmt er freilich nicht Stellung. Vgl. aber andererseits Grewe, SJZ 3 (48), Sp. 171, der bereits in der Frühzeit der OVN eine solche Analogie nicht für möglich hielt. 154

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tionismus der Großmächte immer dringlicher wird, wenn nicht auf einem unwahrscheinlichen und nicht wünschenswerten "Superstaat", so doch auf einer Übereinstimmung der Staaten in den wesentlichen politischen und ideellen Grundwerten beruhen. Dabei ist nicht notwendig an ein universelles, monolithisches Wertgebäude zu denken, sondern an vergleichbare, soziokulturell verträgliche Wertanschauungen, die im Konfliktfall eine für alle akzeptable Streitschlichtung ermöglichen. Wie schwierig dies im anderen Falle sein kann, illustriert der in neuester Zeit wieder aufflammende Nahost-Konflikt. Die Krise um die völkerrechtswidrige Annexion Kuwaits durch den Irak wird nicht nur durch unterschiedliebe raumpolitisch-wirtschaftliche Interessen geprägt, sondern auch durch den grundsätzlichen ideologischen Gegensatz zwischen westlich-europäischen und islamischen Wertund Zielvorstellungen in der Politik. Eine Übereinstimmung rechtlicher und politischer Grundprinzipien drückt sich besonders in einer einheitlichen politischen Auffassung über die territorialen Grundlagen der Völkerrechtsordnung aus.158 Dies bedeutet, daß eine kollektive Friedensordnung von einer vernünftigen Raumordnung im Sinne einer den Interessen der Beteiligten entsprechenden Raumverteilung ausgehen muß, für deren Aufrechterhaltung die Mitglieder des jeweiligen Systems kollektiver Sicherheit einzustehen bereit sind. Ob die OVN sich unter diesen Auspizien als System kollektiver Sicherheit bewährt hat, und ob dies aufgrund ihrer konstruktiven und politischen Eigenart überhaupt erwartet werden kann, bleibt im folgenden zu untersuchen.

II. Die Stellung des VII. und VIII. Kapitels im Gesamtgefüge der Satzung der Vereinten Nationen Das normative Geflecht der Art. 39, 41 und 42 SVN verkörpert das Herzstück des VII. Kapitels und damit das in der SVN enthaltene Konzept der bewaffneten kollektiven Sicherheit überhaupt. Es steht im direkten Zusammenhang mit dem V. Kapitel der SVN, welches Aufgaben, Befugnisse und Verfahren des SR regelt. Dort stellt Art. 24 Nr. 1 SVN die besondere Rolle und Verantwortung (primary responsibility) des SR als "Weltfriedenswahrer" heraus. Ihm stehen gemäß Art. 24 Nr. 2 SVN insbesondere die Mittel der Kapitel VI (Pacific Settlement of Disputes), VII (Action with Respect to Threats to the Peace, Breaches of the Peace, and Acts of Aggression) und VIII (Regional Arrangements) der SVN zur Verfügung. Die Generalversammlung und der Generalsekretär haben demgegenüber keine "primary responsibility'' für die Weltfriedenswahrung und daher auch keine origi158

So auch IWmpf, ßR 12 (1965), S. 89.

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nären Kompetenzen, die eine verbindliche Inanspruchnahme der Mitgliedsstaaten der OVN zur Friedenssicherung gestatten.159 Es ist zu beachten, daß es zwischen Kapitel VI und VII kein Stufenverhältnis in dem Sinne gibt, daß der SR zunächst verpflichtet wäre, eine friedliche Streitbeilegung nach dem VI. Kapitels zu versuchen, bevor er zu den Maßnahmen des VII. Kapitels scbreitet.160 Während das VI. Kapitel von latent gefährlichen, friedensgefährdenden Zuständen spricht, stellt das VII. Kapitel in Art. 39 SVN auf eine unmittelbare, gegenwärtige Gefahr für den Frieden ab. Hier sind Überlappungen möglich, denn der stärkere Begriff der "Friedensbedrohung" (threat to peace) in Art. 39 SVN umfaßt auch die "Friedensgefährdung" (... to endanger ... peace and security) in Art. 33 SVN; ein gestuftes Vorgehen des SR (Art. 33 ff. vor Art. 39 ff SVN) wäre aber allenfalls eine Frage der politischen Opportunität.161 Artikel24 Nr. 2 SVN, die Aufgabenzuweisung des Art. 24 Nr. 1 ergänzend, stellt die Verbindung des Kapitels VII mit der Präambel und dem Kapitel I (Purposes and Principles) der SVN her, indem festgestellt wird: " ... the Security Council shall act in accordance to the Purposes and Principles of the United Nations." Das bedeutet, daß Funktion und Bedeutung der Art. 41 und 42 SVN unter Berücksichtigung der Präambel und der Art. 1 und 2 SVN zu erschließen sind, nicht aber in Anlehnung an das allgemeine Völkerrecht, soweit es nicht durch die SVN rezipiert wurde.162 In bezugauf Art. 2 Nr. 7 SVN in Kapitel I der Satzung heißt dies: Die Anwendung der Maßnahmen der Art. 41 und 42 SVN im Kontext innerpolitischer Konflikte von Sanktionsadressaten stellen unter den Voraussetzungen des Art. 39 SVN gegen den traditionell weiten Souveränitätsbegriff des überkommenen Völkerrechts - dieser wurde im Grundsatz in Art. 2 Nr. 1 SVN fortgeschrieben - keine verbotene Intervention in die inneren Angelegenheiten des betroffenen Staates dar. Die "maintainance of peace" (Art. 1 Nr. 1 159 Zu den Hilfsfunktionen der GY in Friedensfragen vgl. Verdross/Simma, Völkerrecht, S. 92 f. Es gilt eine strenge Subsidiarität der GV (vgl. Art. 10 u. 12 SVN). Zum Sonderfall der satzungsrechtlich höchst zweifelhaften "Uniting-for-Peace-Resolution" vgl. unten C.II.l.b. (S. 117 ff.). Der Generalsekretär ist der Grundkonzeption nach reiner Verwaltungsbeamter der Hauptorgane GY und SR (vgiArt. 98 SVN). Art. 99 SVN eröffnet ihm lediglich marginale Hinweisrechte. Die Praxis der OVN-Friedenssicherung hat freilich zu einer gegenläufigen Entwicklung geführt. Vgl. dazu Smouts, Art. 99, in: Cot/Pellet (Hrsg.), Charte, S. 1319 Cf. oder Fiedler, in: Simma (Hrsg.), Art. 99 Rz. 8-15. 160 SoKelsen,ILQ 2 (1948), S. 173 f. Anm. 1 oder auch KelsenjTucker, Principles of International Law, S. 512 Anm. 92. Dagegen mit weitgehend begriffsjuristischer Argumentation Amtz, Friedensbedrohung, S. 44 ff. 161 In diesem Sinne auch Kroekel, Bindungswirkung, S. 77. 162 Vgl. dazu oben A.I.l.b.(S. 22).

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SVN) überwiegt insoweit, und dies ist wichtig festzustellen, den Grundsatz der .,sovereign equality" (Art. 2 Nr. 1 SVN).163 Allerdings hat der SR bei der Anwendung sonstiger Maßnahmen im Rahmen des VII. Kapitels, nämlich Empfehlungen (recommendations) gemäß Art. 39 SVN und vorläufigen Maßnahmen (provisional measures) gemäß Art. 40 SVN das Interventionsverbot des Art. 2 Nr. 7 SVN zu beachten, denn nur die Gravität einer sanktionsauslösenden Friedensgefahr soll das herkömmliche Interventionsverbot durchbrechen können. Das VIII. Kapitel eröffnet dem SR die Möglichkeit, die Aufgaben des VI. und VII. Kapitels dezentral durch Regionalorganisationen wahrnehmen zu lassen. Art. 52 Nr. 2 SVN ordnet für die "regional arrangements and agencies" ausdrücklich den Vorrang der friedlichen Streitbeilegung im Sinne des VI. Kapitels an. Die Anwendung von Zwangsmaßnahmen im Sinne der Art. 41 und 42 SVN durch die Regionalorganisationen stehen gemäß Art. 53 Nr. 1 SVN unter der Kontrollgewalt des SR, das heißt, sie erfordern eine vorhergehende Ermächtigung durch das zentrale Sicherheitsorgan. Zu erwähnen ist noch die Befugnis - es besteht keine Verpflichtung164 des SR gemäß Art. 94 Nr. 2 SVN, Urteile des IGH mit den Mitteln der Art. 41 und 42 SVN zu exekutieren, soweit das Nichtbefolgen einer IGH-Entscheidung den Tatbestand des Art. 39 SVN verwirklicht. Unterhalb dieser Schwelle ist die Anwendung von Zwangsmaßnahmen abzulehnen, da ansonsten der Maßstab für die Verhängung gewaltsamer Sanktionen unverhältnismäßig herabgesenkt würde.165 Artikel 106 SVN einerseits und die Feindstaatenklauseln der Art. 107 und 53 Nr. 2 SVN andererseits stellen Übergangsregeln dar (Transitional Security Arrangements}, die nicht der eigentlichen Typik eines kollektiven Sicherheitssystems entsprechen; auf sie ist an anderer Stelle noch zurückzukommen166.

163 Vgl.Ermocora, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 2 Nr. 7, Rz. 12. 164 Vgl. GoodrichjHambrojSimons, Charter, Art. 94, S. 556 f.; Mos/er, in: Simma (Hrsg.),

ChVN, Art. 94 Rz. 9.

165 A.A. wohl Mosler, a.a.O., Art. 94, Rz. 11. 166 Vgl. dazu unten B.II.l.c(3)(S. 67 f.) u. B.II.3.(S. 73 ff.).

B. Die normative Systematik der kollektiven Sicherheit aus der Sicht der Satzungsgeber der Organisation der Vereinten Nationen

I. Das universelle Gewaltverbot (Art. l Nr. 4 SVN) als Grundvoraussetzung der kollektiven Sicherheit Das Gewaltverbot des Art. 2 Nr. 4 SVN ist die nonnative Grundlage des universellen Friedensschutzes, von der aus die Maßnahmen der Art. 41 und 42 SVN ihre zweckrationale Rechtfertigung fmden. Es entsteht hier das scheinbare Paradoxon des Schutzes des Gewaltverbotes durch Anwendung von Gewalt. Es soll im folgenden zunächst kurz auf die historischen Entwicklungslinien des Gewaltverbotes im Völkerrecht eingegangen werden.

1. Zur Entwicklung des Gewaltverbots

Es wurde bereits angedeutet, daß die konstruktive Eigenart eines Systems kollektiver Sicherheit es gebietet, dasjus belli aus dem Bereich staatlicher Souveränität herauszulösen und bei einem zwischen- oder überstaatliehen Sicherheitsorgan zu zentralisieren. Normativ drückt sich dieser Verzicht auf ein essentielles Recht staatlicher Souveränität in einem allgemeinen zwischenstaatlichen Gewaltverbot aus, wie es in Art. 2 Nr. 4 SVN kodifiZiert ist. Ein solches Prinzip des Gewaltverbots im Umgang der Völker und der souveränen Staaten untereinander ist keine Selbstverständlichkeit. Gewalt war vor der völkerrechtlichen "Revolution" des Art. 2 Nr. 4 SVN ein anerkanntes Mittel der Politik der Völker und Staaten und ihrer völkerrechtlichen Gestaltung.1 Gewalt ist in der Geschichte der Völker ubiquitär. Sie existiert und bedeutet dem Wortsinne nach zunächst: Verfügungsfähig-

1 Noch 1912 formulierte Heilborn (Grundbegriffe des Völkerrechts, S. 23): "Die Gewalt ist also im Staatenverkehr unbedingt gestattet." Vgl. dazu auch Freund, L'essence du politique, S. 512 ff.; Berber, Völkerrecht II, S. 26 f.; VerdrossjSimma, Völkerrecht, S. 62 u. 902.

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keit haben.1 Ob sie im Einzelfall Unrecht bewirkt, ergibt sich nicht aus ihrer strukturellen Eigenart; sie ist weder gut noch böse. Solche wertenden Attribute der Gewalt werden erst durch die ihr zugrundeliegenden Absichten geprägt. Bevor man solche Ansicht vom Standpunkt einer gesinnungsethisch begründeten Gewaltfreiheit verwirft, sollte man sich weiter vor Augen führen, daß Recht und Gewalt keinen antagonistischen Gegensatz bilden. In der europäischen Rechtstradition galt seit jeher, daß Gewalt, die andere in ihren Rechten nicht intentional verletzen will, als legitim empfunden wurde.3 Cicero beschrieb die Notwendigkeit der Gewaltanwendung mit den Worten: "Quid enim est, quod contra vim sine vi fieri possit ?"4 Gewaltanwendung zur Wiederherstellung gekränkten Rechts5, oder präziser, einer verletzten Rechts- und Friedensordnung, ist im Grundsatz zulässig und wünschenswert, wenn keine anderen Mittel zur Verfügung stehen.6 Ein flüchtiger Blick auf eine beliebige staatliche Rechtsordnung bestätigt dies. Der Staat ist durch seine soziale und rechtliche Wesenheit aufgefordert, mit den Mitteln der Staatsgewalt unter Berücksichtigung der selbstauferlegten rechtlichen Schranken jeder Verletzung seiner Friedensordnung entgegenzutreten und jeden Störer, auch mit Gewalt, in seinem sozialschädlichen Tun aufzuhalten. Gewalt als Notwehr in Form der Schutz- und Trutzwehr des einzelnen ist ebenfalls anerkannt. Der nämliche Grundgedanke muß auch im zwischenstaatlichen Bereich gelten. Solange keine zentrale zwischen- beziehungsweise überstaatliche Einrichtung existierte, welche - wie heute die OVN - die Gestaltung und Garantie der völkerrechtlichen Friedensordnung beanspruchte, mußte es im Belieben der einzelnen Völkerrechtssubjekte stehen, Rechtsverletzungen

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Vgl. v. See, Altnordische Rechtswörter, S. 196 ff. Für das Völkerrecht vgl. dazu Grotius, De jure belli ac pacis, Lib. I, Cap. 2, § I, 6 (S. 29). 4 Cicero, Epistulae ad Familiares, XII, 3. s Vgl. Steiger, Staat 5 (1966), S. 423. 6 Ein ganz anderes Problem mag die in der Geschichte der Völker immer wieder vorkommende kriegerische Landnahme darstellen. Hier kann man schwerlich von Gewaltanwendung zur Wiederherstellung gekränkten Rechts sprechen. Der Rechtstitel für solche Landnahmen - wenn man den Begriff "Rechtstitel" hier überhaupt verwenden möchte - war die Landnahme selbst. Sie war die Konkretisierung des Lebensrechtes der jeweiligen erobernden Ethnie, auch wenn dies aus der Perspektive zeitgenössischer Völkerrechtsdoktrinen und der ihnen inhärenten Ethik fremdartig erscheinen mag. Die juristische Erfassung von Gewalt, in Sonderheit die völkerrechtliche Erfassung zwischenstaatlicher Gewalt, kann eigentlich erst in einem sozialen Beziehungsgeflecht von Völkern einsetzen, die die Landnahme abgeschlossen und verfestigte Herrschaftsverbände gebildet haben, die den Schutz des status quo rechtfertigen. 3

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mit eigenen, im Zweifel auch gewaltsamen Mitteln zu verfolgen.' Ein Relikt dieser Verhältnisse stellt das in Art. 51 SVN konsolidierte, bereits völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Notwehrrecht der Staaten dar. Das nicht an eine Notwehrlage geknüpfte, aktive gewaltsame Eingreifen zugunsten der verletzten universellen Friedensordnung ist demgegenüber nunmehr idealtypisch dem SR der OVN vorbehalten (vgl. Art. 39, 41 und 42 SVN). Die Absicht des Gewaltverbots des Art. 2 Nr. 4 SVN ist so, ähnlich wie bei der Entstehung des staatlichen Gewaltmonopols in der Neuzeit, nicht die Abschaffung von Gewalt als Mittel der Rechtsdurchsetzung schlechthin, sondern das Bestreben, den "anarchischen" einzelstaatlichen Gebrauch von Gewalt zu diesem Zweck einzudämmen. Bereits im Hochmittelalter hatte man sich bemüht, die unbeschränkte Fehde, welche lange Zeit integraler Bestandteil der mittelalterlichen Rechtsordnung gewesen war8, im Rahmen der Bestrebungen zur Durchsetzung eines allgemeinen Landfriedens abzuschaffen, was schließlich erst dem neuzeitlichen Staat gelingen sollte. Vom äußeren Erscheinungsbild her scheint die Entwicklung zu einem universellen zwischenstaatlichen Gewaltverbot, welches die uneingeschränkte Staatenfehde beseitigen soll, diesen Prozeß zu wiederholen.9 Der Weg zum nunmehr in Art. 2 Nr. 4 SVN kodifizierten Gewaltverbot verläuft über eine jahrhundertelange Entwicklung. Die christliche Doktrin 7 Gewaltanwendung war ganz selbstvetständlich Mittel zur Wiederhetstellung. oder allgemeiner ausgedrückt, zur Verwirklichung des Rechts. Der frz. Terminus für Krieg "guerrc" er leitet sich aus dem althochdeutschen "werrc" ab und bedeutet "Verwirrung. Unordnung'' - n:flektiert den Rechtszustand im Kriege, der freilich mit den Mitteln des Krieges beendet werden sollte. Vgl. für das Mittelalter JQeder, Krieg und Frieden, S. 24. Der Krieg war im Mittelalter nach Brunner (Land und Hertsehaft, S. 40) zunächst aber noch "große Fehde" , nicht Staatenkrieg. Für die Neuzeit vgl. lanssen, Krieg. in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 3, 5.576 ff. 8 Vgl. Brunner, Land und Hertsehaft, S. 41 ff. oder auch J(jpp, Völkerordnung und Völkerrecht im Mittelalter, S. 142-150. 9 Es dürfte gleichwohl unzutreffend sein, wie u.a. Wehberg (Krieg und Eroberung. S. 48), die Landfriedensbewegung des Mittelaltets, die mit dem "Ewigen Landfrieden" von 1495 ihn:n Höhepunkt findet, mit der Entwicklung zum modernen universellen Gewaltverbot gleichzusetzen. Bcn:it5 das Wort "Landfrieden" zeigt, daß es sich um einen konkreten, raumbezo.. genen Friedensbegriff handelte, im Gegensatz zu einem abstrakt-modernen Friedensbegriff, den das Gewaltverbot des Art. 2 Nr. 4 SVN, berücksichtigt man die "universal peace" in Art. 1 Nr. 2 SVN, impliziert, obwohl auch Art. 2 Nr. 4 SVN zunächst den Schutz der territorialen Integrität der OVN-Mitglieder im Auge hat. Der Landfrieden mag als Vorläufer eines staatlichen Friedensgebotes, nicht aber eines universellen Gewaltverbotes im internationalen Maßstab betrachtet werden. Abgesehen davon, daß es sich bei dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation nicht um einen Staat handelte, sondern um einen Personenhertsehaftsvcrband ohne institutionalisierte Staatsgewalt, trug die "Landfriedensbewegung" gerade zur Herausbildung und Monopolisierung des von Art. 2 Nr. 4 SVN formell unterdrückten staatlichen jus beUi bei.

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des bel/um justum 10 stellt dabei nach Ansicht mancher11 einen ersten Versuch der Einschränkung von Gewalt zwischen den mittelalterlichen Herrschaftsverhänden dar. Sie beruhte im wesentlichen darauf, daß der jeweils kriegführende Fürst über die Beachtung des Erfordernisses einer justa causa bei der Entfesselung von Kriegen durch eigene Gewissensanstrengung von der beliebigen Gewaltanwendung abgehalten werden sollte. Die mittelalterliche Ausprägung des bel/um justurn nahm ihren Anfang in der christlichen Theologie der Spätzeit des römischen Reiches. Nach der Blüte der pax romana im ersten und zweiten Jahrhundert verschärften sich die Abwehrkämpfe des imperium romanum gegen die anflutenden Wandervölker, während die Christianisierung und die mit ihr aufkommende Verdammung der Gewalt im römischen Reich immer mehr voranschritt.12 Nachdem Eusebius von Caesarea in theologischer Hinsicht die Gleichsetzung des weltlichen imperium romanum mit dem imperium christianum erreicht hatte, überwand Augustinus die christliche Scheu vor der Gewaltanwendung, indem er gegenüber der pax caelestis die pax te"ena formulierte13, die auch mit Gewalt verteidigt werden konnte.14 Die Gewalt war durch die justa causa der Wiederherstellung des weltlichen (Rechts-) Friedens gerechtfertigt. Die Wurzeln dieses Prinzips der Beachtung einer justa causa bei der Gewaltanwendung sind freilieb älter. Schon Thukydides berichtet davon, daß die stets kriegsgeneigten Spartaner es sich versagten, ohne weiteres in den Krieg zu ziehen, sofern ein Schiedsrichter sich zur Schlichtung der (Rechts-)Streitigkeit mit dem Gegner erbot.15 Im römischen Fetialenrecht war Ähnliches zu beobachten.16 Demnach war der Krieg seit ältester Zeit im Idealfalle die Wiederherstellung verletzten Rechts, welche friedlich nicht erreicht werden konnte.17 Nur die Kriege, die Unrecht verfolgten und das 10 Die immer noch eindrucksvollste Darstellung dieser Lehre bietet Regout, La doctrine de Ia guerre juste, 1934. Vgl. auch Bähr, Bellum Justum, Diss. Heidelberg 1948. Ausneuerer Zeit beeindruckt die umfangreiche und instruktive Arbeit von Haggenmacher, Grotius et Ia doctrine de Ia Guerre Juste, Paris 1983. 11 Vgl. Johnson, Just War, S. 122. ln diesem Sinne wohl auch Nussbaum, Geschichte des Völkerrechts, S. 39 ff. 12 Vgl. Engelhardt, Gerechter Krieg, in: Steinweg (Hrsg.), Der gerechte Krieg, S. 72 f. 13 Vgl. Augustinus, De Civitate Dei, XIX, bes. 14-20 (S. 477-493). 14 Vgl. dazu auch Mausbach, Ethik des Heiligen Augustinus, S. 300 u. 312. 15 Thukydides, Der peleponnesische Krieg, 1. Buch, Kap. 80-85 (S. 60-64): dort die vorsichtige Rede des spartanischen Königs Archidamos vor Beginn der Feindseligkeiten mit Athen. 16 Vgl. dazuHausmanninger, ÖZöR 11 (1961), S. 335 ff., bes. S. 337 f. 17 Es soll hier keineswegs verkannt werden, daß, abgesehen von lebensraumsichemden Eroberungskriegen, auch in jener Zeit bereits ausschließlich auf Machterweiterung gerichtete 4 Menk

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Böse straften, waren gerecht. Das greift auch Cicero auf, indem er formuliert: "lila injusta be/la, quae sine causa suscepta."18 Der gerechte Krieg erforderte also den materiell fundierten Rechtsanspruch und die Unmöglichkeit der friedlichen Streitbeilegung. Wo diese nicht gelang, galt, was später Grotius mit folgenden schlichten, aber zutreffenden Worten beschreiben sollte: "Ubi deficiunt judicia, incipit bel/um".19 Der Patristiker Augustinus und die Scholastiker des Mittelalters haben insoweit nur ältere, aus dem indoeuropäischen Rechtskreis herrührende Grundsätze aufgenommen, auch wenn sie diese freilich in den Zusammenhang des christlichen Dogmas der Gewaltlosigkeit gestellt haben. Thomas von Aquin verfeinerte diese Lehre in seiner dreigliedrigen Konzeption, die den grotianischen bel/um solenne schon ahnen läßt. Er fordert: 1. eine justa causa;

2. eine recta intentio; 3. eine auctoritas principis, die ausgestattet ist mit einer potestas legitima.20 Gerade das letzte Kriterium mußte das anarchische Fehdewesen in Bedrängnis bringen, da der Kreis der legitimen Teilnehmer am Kriege mit zunehmender Dauer, das heißt mit der zunehmenden Ausdifferenzierung großer Territorialherrschaftverbände, geringer wurde.21 Das bel/um justurn war aber kein Rechtsprinzip. Es war zu keiner Zeit geltendes Völkerrecht, zumindest nicht in seiner antik-mittelalterlichen Ausgestaltung.22 Es handelte sich bei dem bel/um justurn seit ältester Zeit eher um ein Prinzip magisch-religiöser Selbstbeschränkung, das den Krieg, wie bereits ausgeführt, nur zur Wiederherstellung einer noch als Einheit empfundenen göttlich-weltlichen Ordnung gestattete.23 Die Anrufung der Gottheit vor Beginn eines Krieges, die letztlich auch über das Schicksal der Kriege möglich waren, die mit dem ursprünglichen Konzept eines belturn justurn nichts zu tun hatten. 18 Cicero, De Re publica, III, XXIII. 19 Grotius, Deiure belli ac pacis, Lib. II, Cap. I,§ 11,1 (5.162). 20 Vgl. zu den Voraussetzungen Thomas von Aquin, Summa theologica II, II q. 40 (S. 83-

87).

Vgl. Randelzhofer, Use of Force, in: EPIL 4, S. 265. Zum Wiederaufgreifen des belturn justum-Gedankens in der Modemen, besonders in der VBS und in der SVN vgl. unten 2.Teil: 8.11.3. (S. 314 ff.). 23 Z.B. Griechen und Römer faßten ihre Herrschaftsverbände noch ganz selbstverständlich als Sakralordnungen auf. Vgl. dazu Schilling, Religion und Recht, S. 36. Zum bel/um justum bei den Griechen vgl. Karavites, Capitulations and Greek lnterstate Relations, S. 102 ff. Für die römische Welt vgl. die kune, aber instruktive Darstellung von Rampe/berg, Rome, in: Cahiers de philosophie politique et juridique 10 (1986), S. 63 ff. sowie Albert, Bell um justum, s. 12 ff. 21

22

1. Teil: B. Systematik der kollektiven Sicherheit

51

justa causa zu entscheiden hatte34 - die Niederlage indizierte insoweit eine causa injusta -, bedeutete im Falle einer unlauteren Gesinnung des um Hilfe Bittenden ein Sakrileg und kam einer Selbstverfluchung gleich.25

Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war die Doktrin des bel/um justum ein politisch-geistliches Mittel der Theologen, die als Beichtväter auf das Gewissen der autonomen principes einzuwirken hatten, damit die letzteren als Glieder der res publica christiana im Geiste des allen abendländi-

schen Völkern eigenen ordo handelten.216 Allerdings muß festgehalten werden, daß in dem Maß, in dem eine einheitlich religiös-sakrale Bindung an das Prinzip des bel/um justum, welches auf die Erhaltung einer als gerecht vorausgesetzten mythischen Ordnung abzielte, nachließ, dieses Prinzip nicht mehr zur Eindämmung, sondern zur Entweihung und Verrohung des Krieges führte.27 In den großen Fehden des Spätmittelalters, besonders in den späten Kreuzzügen, wurden Kriegsregeln nicht mehr eingehalten. Ganze Bevölkerungsgruppen wurden ausgelöscht.21 Dies geschah, obwohl das bel/um intercecinum (Vernichtungskrieg) mit dem bel/um justurn als unvereinbar galt.29 Das Schlagwort eines "politischen Augustinismus" trifft den Kern der in der spätmittelalterlichen Dekadenz einsetzenden politischen Instrum.entalisierung der Doktrin des bel/um justum.30 Die Bedeutsamkeil der Lehre vom bellum justurn für die spätere Entwicklung des Völker-

24 Eine Selbstbeurteilung der justo causa durch nichtpriesterliche Entscheidungsträger der Kriegführenden - in der römischen Republik etwa durch den Senat - kam vergleichsweise spät auf. Vgl. Hausmanninger, ÖZöR 11 (1961), S. 342, oder Alben, Bellum justum, S. 17 ff. 25 Vgl. HtmSmiJIUiinger, a.a.O., S. 337 m.w.N. oder auch Schilling, a.a.O., S. 34 ff., der die besondere Bedeutung der Religion für das vorglobale Völkerrecht hetvorhebt. 216 Vgl. Schmilt, Nomos, S. 79 ff. 27 Bereits die der catonischen Forderung des "Cetero censeo Carthaginem esse delendam" folgende Zerstörung Karthagos durch die Römer 146 v. Chr. dürfte wegen der zu dieser Zeit bereits beginnenden religiösen Dekadenz und wegen der seit dem dritten Jahrhundert v. Chr. einsetzenden expansionistischen Politik Roms kaum mehr als bellum justum im ursprünglichen Sinne begriffen werden können. Die Kreuzzüge des Mittelalters degenerierten nach ihrem in christlicher Überzeugung wohlgemeinten Anfang immer mehr zu reiner Machtpolitik und Realisierung ökonomischer Interessen. 21 Zur Verrohung der Kriegsbräuche im mittelalterlichen Buropa vgl. Lourent, Histoire du droit des cens, s. 239 ff., bes. s. 249. 29 Vgl. Uhle-Wettler, Mars, S. 62. Wie der christliche bellum justum, der die treuga auch mit dem Andersgläubigen kannte, anerkannte (und anerkennt noch) auch der islamische Dshihadd einen temporären Waffenstillstand mit den "Ungläubigen", aber keinen Friedensschluß. Hier wurde dann gekämpft bis zur Eliminierung des Gegners, bis die nach der Vorstellung der .,gerecht" Kriegführenden "gute" Ordnung wiederhergestellt war. Vgl. dazu Hiesumd, Kreuzzug und Friedensidee, in: Frieden in Geschichte und Gegenwart, S. 52 u. 54. 30 Engelhardl, Gerechter Krieg, in: Steinweg (Hrsg.), Der gerechte Krieg, S. 78.

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rechts31 liegt am Ende des Mittelalters in der Hervorbringung der wichtigen Figur der auetoritos beziehungsweise potestas legitima als der einzig zur Kriegführung berechtigten Macht(cui bellare Jas est).32 Im neuzeitlichen Naturrecht mit dem sich ankündigenden, an der Faktizität der Gewalt orientierten "Positivismus" in der Völkerrechtswissenschaft wird der Krieg als Ausdruck interstataler Gewalt zum natürlichen Ziustand (status naturale)33, von dem aus es selbstverständlich schien, daß der Maßstab des Rechts und damit auch des Krieges ausschließlich die Nützlichkeit wäre.34 Die christlich-moralische Definition der justa causa wird in den staatlich-juristischen Begriff des justus hostis überführt und in diesem aufgehoben.35 Gentilis konnte im Sinne eines freienjus belli ac pacis den geistlichen Autoritäten zurufen: "Silete theologi in munero alieno".36 Der Ausgang des Krieges und damit sein Übereinstimmen mit der Gerechtigkeit wird einem theologenfreien Ordal (Gottesurteil) überantwortet.37 Der Krieg war also als Mittel der Rechtsdurchsetzung allgemein zulässig, aber eben auch nur zu diesem Zweck.38 Das wird deutlich, wenn Vattel im Anschluss an Cicero ausführt: " Si une nation prends les armes lorsqu'elle n'a recu aucune injure, et quelle n'en est point menacee, eile fait une guerre injuste.•.l'J Es wäre allerdings verfehlt, hierin die Vorwegnahme des Verbots des Offensivkrieges zu sehen. Angriff und Verteidigung sind zunächst Modalitäten der militärischen Kriegführung und haben mit der juristischen Bewertung des Krieges im Sinne der Frage "Rechtsdurchsetzung oder anarchische Gewaltanwendung?" nichts zu tun.40 Vattel wollte gleich einem säkularisierten Beichtvater den Völkerrechtsanwendern den strengen Rechtscharakter des Krieges einschärfen, nicht aber zur Strafsanktion gegen "ungerechte" Kriege aufrufen. Wer hätte denn über die Qualität der jeweiligen 31 Auf die Bedeutung des bellum justum für den "diskriminierenden Krieg:sbegriffs" ist an anderer Stelle (2. Teil: B.III.[S. 354 ff.J) zurückzukommen. 32 Vgl. dazu Bodin , De Republica, Lib. I, Cap. 1 (S. 1), der die private Kriegführung als Angelegenheit von Räubern und Piraten betrachtet. Ähnliches hatte schon Augustinu.s angedeutet, vgl. dazu Uhle-Wettler, a.a.O. Zur Herausbildung der damit verbundenen staatlichen Souveränität in Spätmittelalter und früher Neuzeit vgl. Quarilsch, Staat und Souveränität, S. 251 ff. Zur Konzentration der Souveränität vgl. auch louvenel, Souveränität, S. 204 f. 33 Vgi.Janssen, Krieg, in: Geschichtliche Grundbegriffe, S. 576 - 579. 34 "mensura iuris utiliuuem esse", so Hobbes, De cive 1, 10. 35 Vgl. Schmilt, Nomos, S. 91. 36 Gentilis, De jure belli libri tres, Lib. I Cap. XII (S. 92). 37 Vgl. dazu Phillimore, International Law III, S. 82 oder v. Ullmann, Völkerrecht, S. 466; zur Entwicklung des justus hostis-Begriffs vgl. unten 2.Teil: A.II.2.a.(1) (S. 232 ff.) 38 Vgl. Krüger, Festschrift Laun 1962, S. 202. 39 Vattel, Droit des Gens, Tome II, Liv. III, Chap. III, § 27 (S. 22). 40 Zur Problematik der Kriminalisierung des Angriffskrieges vgl. unten 2. Teil: 8 .11.2. (S. 323 ff.).

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Kriege entscheiden sollen? Immerhin gelang es dem jus publicum europaeum, den Krieg "einzuhegen", das heißt die Zahl der Kriegführenden zu reduzieren und ein "humanisierendes" jus in bello (Kriegsrecht) zu schaffen.41

Dieses Kriegsrecht trug dazu bei, den Krieg bis zu seiner neuerlichen Verrohung durch die totalen, von moderner Vernichtungstechnik geprägten Weltkriege des 20. Jahrhunderts einer Mäßigung zuzuführen, auch wenn die Kriege im Gefolge der Französischen Revolution oder der amerikaDisehe Sezessionskrieg einen ersten Vorgeschmack auf die Atrozitäten der kommenden "Weltbürgerkriege" boten!2 Am freien jus ad bellum des klassischen Völkerrechts, welches sich seit der französischen Revolution von 1789 in einer ideologisch bedingten Korrosion befand, änderte sich bis ins 20. Jahrhundert nichts. Die Genfer Konventionen von 1866 und 1904 betrafen das humanitäre Kriegsrecht. Die Haager Konferenzen von 1899 und 1907 erreichten mit der Kodifikation gemeineuropäischer Kriegsbräuche im sogenannten Haager Rechfl unter anderem auch eine Formalisierung desjus ad bel/um, genauer, der rechtlichen Gestaltung des Kriegsbeginns.44 Die Drago-Porter-Konvention von 1907 legte das Verbot der gewaltsamen Beitreibung von Staatsschulden fest.45

Selbst die VBS bewegte sich mit dem in ihr postulierten Grundsatz eines jus ad bel/um restrictum, ob bewußt oder nicht, auf dem Boden des klassi-

schen europäischen Völkerrechts. Gemäß Art. 12 Nr. 1 VBS wurde der legale Kriegsbeginn vom Abwarten einer dreimonatigen "cooling-off-period" nach gescheitertem Schiedsgerichtsverfahren abhängig gemacht. Der Versuch, mit dieser Wartefrist die Gefahr eines Waffengangs durch Vertagung des Krieges zu reduzieren, ließ die Erlaubtheil des Krieges als ultima ratio unangetastet.46 Ein allgemeines Gewaltverbot war damit nicht beabsichtigt. "Tout au plus pouvait-on parler d'un moratoire."47 Die Genfer Protokolle 41 Vgl. Kunz, Kriegsrecht, in: WVR 2 II, S. 354 ff. Aufschlußreich ist auch die Bcschrcibunf bei Berber, Völkerrecht II, S. 67 ff. 4 Unter dem Begriff des "Weltbürgerkrieges" hat man zwischenstaatliche Auseinandersetzungen zu verstehen, die nicht nur von unterschiedlichen nationalstaatliehen Interessen geprägt sind, sondern in denen, besonders in Zeiten des Wechsels geschichtlicher Epochen, der Entscheid über das ideologische "Wie" der beherrschenden politischen Form einer Ära gesucht wird (im 20 Jahrhundert z.B. der Kampf zwischen Faschismus, Bolschewismus und liberaler Demokratie). Vgl. zum "Weltbürgerkrieg" auch unten 2.Teil: 8.111. (S. 364 f.). 43 Zum Geist des Haager Rechts vgl. Laun, HLKO, S. 15 ff. 44 Vgl. z.B. Abkommen über den Beginn der Feindseligkeiten (111. Haager Abkommen) v. 18.11.1903; abgedruckt bei Berber (Hrsg.), Völkerrecht II (Dok.), S. 1889 ff. 45 Vgl. Hallier, Drago-Porter-Konvention, in: WVR 2 I, S. 399 f. 46 Vgl. Wegner, ZöRS (1926), S. 543. Vgl. dazu auch Bourquin, RdC 49 (1934111), S. 4TI. Der Versuch, in die VBS ein allgemeines Verbot des Angriffskrieges hineinzulesen, kann nicht überzeugen. Vgl. dazu Schlepple, Verbrechen gegen den Frieden, S. 31 - 33 m.w.N. 47 Vlfally, Art. 2 Nr. 4, in: Cot/Pellet (Hrsg.), Charte, S. 113.

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von 1924, von denen oben bereits die Rede war, hätten indes im Falle ihrer Ratifizierung einen bedeutsamen Schritt in Richtung Angriffskriegsverbot dargestellt. Die bis dahin erreichten juristischen Einschränkungen des jus ad bel/um sind Versuche, die Gewalt als Modalität der Staatenpolitik einzugrenzen. Sie sind nicht als Anfänge eines abstrakten Kriegsverbots zu betrachten, daß auf die Bannung der Gewalt insgesamt abzielt.48 Die Vermutung eines "partiellen Kriegsverbotes" in der VBS ist insoweit unzutreffend und irreführend.49 Den Krieg kann man nicht partiell verbieten; dies erscheint, bei allem Respekt, als eine typische ,)uristenphantasie".50 In dieser Hinsicht konsequenter begründete der Locarno-Pakt von 1925 auf europäischer Ebene ein Gewaltverbot, das dem in Art. 2 Nr. 4 SVN nahekam. In Art. 2 des Vertrages verpflichteten sich die Parteien zur Abstinenz von Krieg, Angriff und Einfall. Selbst der Briand-Kellogg-Pakt5\ der über Europa hinaus Geltung erlangte52, erreichte die juristische Dichte des Locarno-Paktes mit seinem allgemeinen Kriegsverbot nicht, da hier nur vom Verzicht auf den Krieg als Mittel nationaler Politik die Rede ist.53 Hervorzuheben sind hier die definitorischen Schwächen des Vertrages, da weder Angriffs- noch Verteidigungskrieg defmiert sind.54 Aus dem Notenwechsel zwischen Briand und Kellogg geht jedenfalls hervor, daß der Verteidigungskrieg nicht unter das Verbot fallen sollte.55 Der Krieg als Rechtsbegriff war wegen der damals herrschenden animus-be/ligerendi-Theorie ohnehin schwer zu bestimmen. Vereinfacht gesagt führte demnach derjenige Krieg, der den Krieg im Sinn hatte.56 Der Briand-Kellog-Pakt war im übrigen durch eine Vielzahl nationaler Vorbehalte affJ.Zier~, so daß von seinen materiellen Regelungen keine große politische Strahlkraft ausgehen konnte. Im Gegensatz zur Ein48

Vgl. Schleppte, a.a.O., S. 31- 33.

49 So aber K.imminich, Gerechter Krieg, in: Steinweg (Hrsg.), Der gerechte Krieg, S. 215.

so In diesem Sinne wohl auch Grewe, Friede durch Recht, S.20 f. 51 Vgl. zu ihm Wehberg, Briand-Kellogg-Pakt, in: WVR 2 I, S. 249 f. 52 Einige Südamerikanische Staaten, die nicht beitraten, verpflichteten sich im SaavedraLamas-Pakt von 1933 (abgedruckt in AJIL 27 [1933], S. 79 ff.) zu einem dem Pariser Pakt ähnlichen Gewaltvenicht. Vgl. dazu lessup, AJIL 27 (1933), S. 189 ff. 53 Der Wortlaut in Art. I lautet: "Die Hohen Vertragschliessenden Parteien erklären feierlich im Namen ihrer Völker, daß sie den Krieg als Mittel fiir die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen vezichten." Zit. nach Berber (Hrsg.), Völkerrecht li (Dok.), S. 1676. 54 Vgl. Schleppte, a.a.O., S. 41 f. ss Vgl. Wright, AJIL 27 (1933), S. 43 ff. mit Hinweis auf die Stellungnahmen anderer Regierungen. 56 Vgl. dazu Roeder, Kriegsbegriff, S. 33 ff. 57 Zum englischen und amerikanischen Vorbehalt zum Recht der Selbstverteidigung vgl. Wehberg, Briand-Kellogg-Pakt, in WVR 2 I, S. 249 f.

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schätzungdes Vertrages durch Briand als ..~veil d'une grande ~sperance'.sa kam der amerikanische Senat wohl zu einer zutreffenderen Bewertung, als er den Pakt als " ...nothing more than an international kiss..." bezeichnete und ihn zur Ratifikation vorschlug, da er ein " ... useless but perfectly harmless peace-treaty ..." war.s Im Ergebnis kann der positive Gehalt dieses Paktes allenfalls in der Kodifizierung des guten Willens der Vertragsparteien gesehen werden. So blieb es zwischen 1919 und 1945 bei einer merkwürdigen Gemengelage von überkommenen Regeln des klassischen europäischen Völkerrechts und dem sogenannten "neuen" Völkerrecht60, das, von Pazifismus und vernunftrechtlichem Naturrecht getragen, die Abschaffung des Krieges forderte.

2. Der Gewaltbegriff der Satzungsgeber Das Gewaltverbot in der Ausgestaltung des Art. 2 Nr. 4 SVN ist die völkerrechtliche Konsequenz des Scheitern des Modells des Genfer Völkerbundes. Gegenüber der VBS und ihrer scheinbaren Ergänzung durch den Briand-Kellogg-Pakt stellt Art. 2 Nr. 4 SVN zumindest eine normative Fortentwicklung dar. Gewalt wird hier nicht im Sinne des klassischen Völkerrechts als "Krieg" verstanden, sondern als eine Vielzahl von Verhaltensqualitäten, die unter dem Begriff der Gewalt zu subsumieren sind.61 Insoweit knüpft Art. 2 Nr. 4 SVN an die Idee eines "materiellen Kriegsbegriffs" an, wie er im Locamo-Pakt {Art. 2) durch die neben dem Krieg angeführten Merkmale des ,,Angriffs" und des "Einfalls" angedeutet wird.62 Die Idee eines "materiellen Kriegsbegriffs" zieht die notwendige Lehre aus dem "Korfu-Zwischenfall"63 von 1924. Die italienische Regierung behauptete seinerzeit nach einem Bombardement der Insel Korfu, sie habe keinen Krieg führen wollen und vermied so die Auslösung des Sicherheitsmechanismus des Art. 16 VBS, der gerade an einen formalen, vom animus belligerendi geprägten Kriegsbegriff anknüpfte. Die Auffassung von der sa Briand, zit. nachRöling, nR 14 (1969), S. 174. s Congrcssional Record 70, 70th Congress, Jan. 15, 1929; S. 1728. 60 In diesem Sinne wohl auch RousseQI4, Droit des conflits armes, S. 533, der zutreffend darauf hinweist, daß besonders die fehlende Verbindung zwischen VBS und Briand-KelloggPakt einen entscheidenden Mangel bedeutete. 61 Vgl. hienu die insgesamt vorbildliche Darstellung von Derpa, Das Gewaltverbot der SVN, 1970. 62 Vgl. Neuhold, Internationale Konflikte, S. 65. 63 Vgl. Thomas, Korfu-Zwischenfall, in: WVR 2 II, S. 311 ff. oder auch Wuantaprawiktl, Corfu Affair (1923), in: EPIL 3, S. 130 ff.

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Notwendigkeit des animus belligerendi erlaubte so die juristische Aushöhlung des Art. 16 VBS. Das gleiche gilt für den sogenannten "MandschureiZwischenfall"64, als die kriegerische Besetzung der Mandschurei durch Japan 1932 euphemistisch als "Nicht-Krieg" bezeichnet wurde.6S Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Tragikomik, daß ein überzeugter PazifiSt wie der Völkerrechtler Wehberg die Rechtsauffassung Japans unterstützte.66 Das Gewaltverbot des Art. 2 Nr. 4 SVN geht begrifflich über die Idee eines "materiellen Kriegsbegriffes" sogar hinaus. Verboten ist nicht der Krieg, sondern Gewalt, "force" wie es in Art. 2 Nr. 4 SVN heißt. In Ansehung der Tatsache, daß nicht jede Gewaltanwendung im Staatenverkehr als Delikt zu behandeln ist, sondern im Gegenteil entweder von der OVN (Art. 39 ff. SVN) oder von den einzelnen Staaten (Art. 51 SVN) zur Völkerrechtsbehauptung eingesetzt werden kann, ist eine gedrängte Darstellung der Gewaltformen, die die Satzungsgeber als anarchische Anwendung von Gewalt aus dem Staatenverkehr verbannt sehen wollten, nützlich. Bereits vor 1945, sozusagen in tempore ante chartam, zeigte sich eine auffallende Verknüpfung des Gewaltbegriffes mit dem des Krieges.67 Schon Vattel hatte formuliert, daß der Krieg " ... cet etat dans lequel on poursuit son droit par Ia force ..." sei.68 Das obenerwähnte Drago-Porter-Abkommen verbietet in Art. 1 Abs. 1 den " ...recours A la force armee pour le recouvrement des dettes contractuelles."(B In der Völkerbundzeit änderte sich an dieser gleichsam "natürlichen" Verbindung nichts.70 Im Gegenteil, man erkannte zunehmend, daß die inzwischen herrschende sophistische Argumentation der subjektiven Kriegstheorie (animus belligerendi) die Herausschälung eines "critere purement objectif''n notwendig gemacht hatte.72 Nach einem Vorschlag der Amsterdamer Konferenz von 1933 sollte das "resort to war" in der VBS (vgl. z.B. Art. 13 Nr.4 und Art. 16 Nr.l) durch ein "resort to force" ersetzt werden73, so daß es unmöglich werden sollte, 64 6S

V gl. dazu Herrfahrdl, Mandschurei, in: WVR 2 II, S. 468 f. V&). dazu Kunz, Kriegsrecht und Neutralität, S. 10 f. 66 Vgl. dazu Wehberg, Friedens-Warte 32 (1932), S. 1 ff., der seine Auffassung auch später wohl nicht ganz revidierte. Siehe ders., Krieg und Eroberung, S. 32. Vgl. zu diesem Problem auch Schmitt, Völkerrechtliche Formen des modernen Imperialismus (1933), in: ders., Positi~ nen u. Begriffe, S. 177 f. (j1 Vgl. Derpa, Gewaltverbot, S. 12S. 68 Vattel, Droit des Gens, Tome II, Liv. 111, Otap. I, § 1 (S. 1). 6J Vgl. Vl!rdross, Völkerrecht 1964, S.427 und 437. 70 V gt. dazu Derpa, Gewaltverbot, S. 12S ff. n See/Je, zit. nachAlfaro, Revista de derecho internacional 59 (1951), S. 373. 72 Vgl. dazu Girmul, RdC 49 (1934 111), S. 699 oder Guggenheim, Trait~ de droit international public II, S. 254. 73 Vgl. dazu Wehberg, Krieg und Eroberung, S. 54 oder Zourek, M~langes Rolin, S. 530.

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"to wage war in disguise".,.. In den Jahren des Zweiten Weltkrieges, in denen die OVN von den alliierten Kriegsgegnern des Deutschen Reiches und der mit ihm verbundenen Achsenmächte auf den Weg gebracht wurde, bestätigte sich diese Tendenz. In§ 8 der Atlantik-Charta vom 14.08.194175 ist die Rede von "force" im Zusammenhang mit "aggression" und "armament". Diese völkerrechtspolitische Strategie führte zu den die SVN vorbereitenden Dumbtllfon-Oaks-Proposals16 und mündet in die Redaktion des Art. 2 Nr. 4 SVN auf der Konferenz von San Francisco 1945.77 Das in der Charta in Art. 2 Nr. 4 verankerte Gewaltverbot gilt universell. Durch Art. 2 Nr. 6 SVN werden die Mitglieder der OVN auch gegenüber Nichtmitgliedern zur Gewaltfreiheit verpflichtet, während die letzteren durch die OVN zum Respekt des Gewaltverbots angehalten werden sollen.78 Während der Konferenz von San Francisco war der Inhalt des Gewaltbegriffs nicht übermäßig umstritten. Nachdem der brasilianische Antrag auf Inkorporierung eines "wirtschaftlichen Gewaltbegriffs" in Art. 2 Nr. 4 SVN abgelehnt wurde19, war evident, daß man einen engen, zuvörderst auf physische Gewalt beschränkten Gewaltbegriff wollte.80 Eine solche Auffassung von Gewalt lagangesichtsdes noch während der Konferenz von San Francisco im Paziflk andauernden Krieges für die Satzungsgeber nahe.S1 Ein dahingehender Wille der Satzungsgeber läßt sich auch mit einem Blick auf die Präambel der SVN erschließen, wo es heißt: "... to save the succeeding generations from the scourge of war, ..." und"... that annetfl force shall not be used, safe in the common interest, ...".Auch eine Interpretation des vollen Wortlauts von Art. 2 Nr. 4 SVN13 stützt diese Auffassung. Hierbei ist besonders die "territorial integrity"84 von Bedeutung. Hier zeigt sich noch die alte, dem jus puVgl. Kunz, AJIL 47 (1953), S. 553. Abgedruckt in: UNYB 1948, S. 1 ff. 76 Abgedruckt bei Goodrichjllambro/Simons, Charter, S. 665 ff. In Chapter II Nr. 4 der Prorli heißt es: " ... shall refrain :·· from the threat or use of force ...". Vgl. dazu Yvally, Art. 2 Nr. 4 m: Cot/Pellet (Hrsg.), Charte, S. 113 ff. 78 Zur Universalität des Gewaltverbots vgl. den Neuseeländischen Antrag auf der Konferenz von San Francisco in: UNOO VI, S. 103 und 196. 19 Vgl. UNOO VI, S. 339 und 340 und 609. 80 Zu den Einzelfragen vgl. Detpa, Gewaltverbot, S.122 ff. 11 So ganz zutreffend Detpa, a.a.O., S. 123 82 Unterstr. durch den Verf. 13 Dieser lautet: ,,All Members shall refrain in their international relations from the threat or use of force against the territorial integrity or the political independence of any state, or in any other manner inconsistent with the Purposes of the United Nations." 84 Zu diesem Begriff vgl. Rmnpf, Integrität, in: WVR 1 II, S. 27 ff. m.w.N. 7o4 75

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blicum europaeum eigene, raumhafte Betrachtung des Völkerrechts. Eine Verletzung der Friedensordnung ergibt sich regelmäßig aus der Mißachtung der Gebietssouveränität und der aus ihr abzuleitenden Gebietshoheit, die üblicherweise durch militärische Gewalt verletzt wird. Die territoriale Integrität, das heißt der Staatsraum - verschiedentlich als physische Person des Staates betrachtet&S - soll vor Eroberungskrieg und Annexion geschützt werden.16 Die Unverletzlichkeit der Grenzen und ihr Schutz gegen jede Beeinträchtigung steht hierbei im Vordergrund.~ Traditionell wird die territoriale Integrität, wie schon angedeutet, mit militärischer Gewalt verletzt klassisches Mittel ist die Invasion -, auch wenn man eine raumhafte Beeinträchtigung in nichtmilitärischer Weise für denkbar erachten kann.88 Gleichwohl sollte Gewaltanwendung im Sinne des Art. 2 Nr. 4 SVN wohl auch ohne die unmittelbare militärische Verletzung der territorialen Integrität möglich sein. Dies haben die Satzungsgeber gesehen, indem sie die "political independence" zum zweiten Schutzgut des Art. 2 Nr. 4 SVN bestimmten, ohne allerdings die Untrennbarkeil von unverletztem Staatsraum und politischer Unabhängigkeit zu berücksichtigen. Das Wort "or" zwischen "territorial integrity'' und "political independence" illustriert dies. Danach wäre eine Verletzung der politischen Unabhängigkeit auch ohne raumhafte Beeinträchtigung möglich. Die Reduzierung der politischen Unabhängigkeit eines Staates, die, juristisch gesprochen, einer Beschränkung seiner Souveränität gleichkommt, hat aber stets raumhafte Auswirkungen, wie umgekehrt jedenfalls die unmittelbare Verletzung des Territoriums die Souveränität stets verletzt. Faßt man das "or" in Art. 2 Nr. 4 SVN anders auf, nämlich im Sinne, daß es eine politische Unabhängigkeit gibt, deren Wesenheit über das beschriebene raumhafte Verständnis hinausgeht,so entsteht eine normative Lage, die eine genaue Eingrenzung der von Art. 2 Nr. 4 SVN gemeinten Gewalt verunmöglicht und überdies höchst problematische Annahmen von Friedensverletzungen im Sinne des Art. 39 SVN erlaubt.111 Dem SR (Art. 39 ff. SVN) - und im Falle seiner Untätigkeit den Einzelstaaten (Art. 51 SVN) - wären so Eingriffsmöglichkeiten eröffnet, &S So Bowett, Self-Defence, S. 29 und Brownüe, Use of Force, S. 256.

16

Vgl. Rumpf, a.a.O., S. 28. ~ Vgl. Berber, Völkerrecht II, S. 43 und Wehberg, Krieg und Eroberung, S. 77 f.

88

Vgl. dazu unten C.l.l.b. (S. 89 ff.) zum Problem "ökonomischer" Gewalt. Eine nichtraumhafte Definition der "political independance" würde z.B. die Annahme einer Verletzung der politischen Unabhängigkeit eines Staates gestatten, wenn sogenannte "vitale Interessen" außerhalb seines Staatsraumcs, seien sie militärischer, ökonomischer oder anderer Art, beeinträchtigt werden. Zum hier entstehenden Problem der sogenannten "Interessensphären" außerhalb des eigenen Staatsraumes vgl. unten C.I.2.c. (S. 99 ff.) Zu dem hier ebenfalls auftauchenden Problem einer Entsprechung von Art. 2 Nr. 4 und Art. 39 SVN vgl. unten C.l.3.a. (S. 105 ff.) 119

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die das Prinzip des in Art. 2 Nr. 4 SVN verankerten Souveränitätsschutzes konterkarieren könnten. Das Schutzgut der "political independence" sollte wegen seiner diffusen Allgemeinheit und der daraus resultierenden, fast beliebigen, Auslegungsmöglichkeit raumhaft, das heißt restriktiv auf den Staatsraum bezogen, ausgelegt werden. Dieses zweite Schutzgut des Art. 2 Nr. 4 SVN, die "political independence", soll, von diesem Grundverständnis ausgehend, den Schutz der souveränen Willensfreiheit des einzelnen Staates innerhalb seiner territorialen Sphäre garantieren.90 Die Fähigkeit des Staates, seine Angelegenheiten selbst zu entscheiden, oder wie es der StiG im Haag ausdrückte: der Staat möge " ...restant seul maitre de ses decisions..."91 bleiben, darf nicht mit physischer Gewalt oder durch die Androhung von Gewalt angetastet werden. Das Hauptanliegen des Art. 2 Nr. 4 SVN besteht nach alldem zuvörderst in der Erfassung des "de-facto-Krieges"92 das heißt in der Überwindung des subjektiven Kriegsbegriffs.93 Auf australischen Antrag hin wurde auch die Drohung mit Gewalt verboten94, da die Drohung des Stärkeren mit physischer Gewalt die Brechung des politischen Willens des Schwächeren ohne weiteres erlaubt. Daß innerstaatliche Gewalt nicht Gegenstand der Regelung des Art. 2 Nr. 4 SVN ist, dürfte kaum einem Zweifel unterliegen95, obwohl z.B. im Falle eines zwischenstaatliche Dimensionen annehmenden Bürgerkrieges Abgrenzungsschwierigkeiten auftreten können.96

II. Ausnahmen vom Gewaltverbot des Art.l Nr. 4 SVN 1. Die erste Ausnahme: Die Maßnahmen der Art. 41 und 42 SVN als ökonomisch-militärisches Schutzschild des universellen Gewaltverbots

In der SVN fmdet sich wie in den meisten nationalen Rechtsordnungen eine Trichotomie der Gewaltanwendung.97 Im Grundsatz ist zwischenstaatliche Gewalt verboten. Art. 41 und 42 SVN dienen dem präventiv-repressiVgl. Gerklch, InteiVCntion, S. 21. Publications de Ia CPH, SCrie A/B 41, S. 45. 92 Schwarzenberger, International Law II, S. 51. 93 Vgl. statt vieler Brownlie, Usc of Force, S. 281, Giraud, RGDIP 63 (1963), S. 511 oder Röling, HR 14 (1969), S. 176. 94 Jimenez, Derecho constitucional, S. 83 f. 9S Vgl. Art. 2 Nr. 7 SVN. 96 Vgl. unten C.I.S. (S. 112 ff.). 97 Vgl. Bowett, Self-Defence, S. 154 f. 90

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ven Schutz des Gewaltverbots durch die OVN, während Art. 51 SVN ein individuelles und kollektives Notwehrrecht der Staaten eröffnet. Das Sanktionensystem der Art. 41 und 42 SVN stellt gegenüber dem Völkerbundssystem eine Fortentwicklung der zwischenstaatlich-institutionalisierten Sanktionsgewalt zum Zwecke des Friedensschutzes dar. Der Weltorganisation der OVN, genauer: ihrem Exekutivorgan, dem SR, sollte ein scharfes Schwert in die Hand gegeben werden, um Verletzer des Gewaltverbots völkerrechtlich zu züchtigen. Jeder Angreifer sollte damit rechnen müssen, einer zentralisierten politisch-militärischen Macht der in der OVN versammelten Staatenwelt gegenüberzustehen, die keine Aggression duldet.98

a) Das Entscheidungsmonopol des Sicherheitsrates bei der Feststellung der Voraussetzungen und bei der Anordnung von Maßnahmen gemäß Art. 41 und 42 SVN Die Idee eines Sicherheitssystems mit einem starken, sanktionsbewehrten Exekutivorgans wurde schon während des Zweiten Weltkrieges geboren.99 Roosevelt und Churchill vereinbarten 1941, eine "wider organisation of permanent general security'' zu schaffen.100 Auch Stalin äußerte sich in diesem Sinne.101 Roosevelt sprach offen von einem "Weltpolizeiverein", der den vier Hauptmächten der Alliierten (USA, Sowjetunion, Großbritannien und China) die Verantwortung für die internationale Sicherheit übertragen sollte.102 Es sollte ursprünglich also "intergouvernemental", nicht aber in Rahmen einer zentralen W eltorganisation, gearbeitet werden. Als eine solche Organisation mit der OVN 1945 dennoch entstand, war ihre vorrangige Aufgabe gemäß Art. 1 Nr. 1 SVN folgerichtig die Friedenssicherung.

.

Bereits nach den satzungsvorbereitenden Dumbarton-Oaks-Proposals sollten die Aufgaben der Friedenssicherung einem "Security Council" übergeben werden103, in welchem die Entscheidung über das "Ob" und "Wie" von Sanktionen gegen Friedensstörer zentralisiert werden sollte.104 Damit Vgl. GoodrichjHambro/Simons, Charter, Art. 39, S. 291. Zu den historischen Präliminarien der OVN vgl. Luard, History of the UN I, S. 17 ff. und Grewe, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Geschichte Rz. 4 ff. 100 Vgl. Department of State Bulletin v. 16.08.1941, S. 125. 101 Vgl. Pfeifenberger, Vereinte Nationen, S. 19. 102 Vgl. Pfeifenberger, a.a.O., S. 21 oder auch die instruktiven Ausführungen von Hagemann, Der provisorische Frieden, S. 104 ff. 103 Vgl. Chap. VIII, Sec. A und B der Dumbarton-Oaks-Proposals, abgedruckt bei Goodrichfo,.Hambro/Simons, Charter, 669-671. 04 Vgl. GoodrichjHambro/Simons, Charter, Art. 39, S. 290. 98 99

1. Teil: B. Systematik der kollektiven Sicherheit

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sollte der Mechanismus der Friedenssicherung des Völkerbundes, welcher zutreffend als "individualiste" (sc. einzelstaatlich) und "pseudo-contractuel" bezeichnet wird105, mit seinem in Art. 16 VBS verankerten rudimentären Sanktionensystem überwunden werden.106 Die Entscheidungsprärogative der einzelnen Mitgliedsstaaten bezüglich der Frage, ob ein Krieg im Sinne des Art. 16 VBS vorliegt107, wurde in der SVN nunmehr dem SR übergeben (vgl. Art. 39 SVN), der über das Vorliegen einer Friedensbedrohung, eines Friedensbruchs oder einer Angriffshandlung zu entscheiden hat. Der casus foederis sollte nicht mehr von den Mitgliedern selbst bestimmt werden. Der Mangel eines fehlenden zentralen Organs mit effektiver, für die Mitglieder verbindlicher Entscheidungskompetenz im System des Genfer Völkerbundes wurde klar gesehen.108 Auf der Konferenz von San Francisco war die starke Stellung des SR freilich nicht unumstritten. Die mittleren und kleineren Staaten wünschten aus Furcht vor einer Machtkonzentration bei den Großmächten im SR man beachte die herausgehobene Stellung der fünf ständigen Mitglieder des SR (z.B. das Veto-Recht) - eine stärkere Beteiligung der Generalversammlung1119. Sie scheiterten mit ihren Anträgen110 und wurden durch Art. 11 Nr. 2 SVN, welcher der GV gewisse subsidiäre Erörterungsrechte auf dem Gebiet der Friedenssicherung einräumt, sowie durch Art. 24 Nr. 3 SVN, der die Berichtspflicht des SR gegenüber der GV statuiert, beschwichtigt. Außerdem sieht Art. 44 SVN die Beteiligung truppenstellender Mitglieder bei der Erörterung von Sanktionen gem. Art. 41 und 42 SVN im SR vor.111 Das weitere Problem fehlender Unanimität im SR, die seine Handlungen in der Praxis späterhin lähmen sollte112, wurde offensichtlich bereits vor 1945 gesehen. Man rechnete nicht mit einem Fortbestehen der Anti-Hit/erCohen.Jonathan, Art. 39 in: Cot/Pellet (Hrsg.), Charte, S. 646. Anders als Art. 43 SVN sah die VBS keine eigenen Völkeroundstruppen vor, obwohl Frankreich zu solch einer Lösung neigte. Die Briten und Amerikaner vertrauten indes in Fehleinschätzung ihrer Blockade-Politik im Ersten Weilkrieg auf die durchschlagende Wirkung von nichtmilitärisch-ökonomischen Sanktionen. Vgl. Schwarzenberger, Power Politics, S. 380. 107 Diese Entscheidungsprärogative der Staaten wurde durch die "intetpretativen Protokolle" von Genf 1921 ausdrücklich bestätigt. Vgl. dazu Brownlie, Use of Force, S. 58. 108 V gl. HagetnQIIII, a.a.O., S. '1J)7 f. 109 Im folgenden kurz GV genannt. 110 Vgl. dazu Pfeifenberger, Vereinte Nationen, S. 43 ff. Besonders hervorzuheben ist hier der Antrag Neuseelands, der darauf abzielte, " ... that the Assembly's consent would be required to any proposal by the Security Council to undertake enforcement action ...". Vgl. Lumd, History of the UN I, S. 55. 111 Vgi.Jllyde, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 44 Rz. 2-5. 112 Vgl. unten C.II.1.a. (S. 116 ff.). 105 106

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1. Teil: B. Systematik der kollektiven Sicherheit

Koalition, zumindest nicht im Kreise der völkerrechtlichen Realisten. So sagte der damalige US-Außenminister Hull schon im Februar 1942, "...that

the Soviet government has tremendous ambitions with regard to Europe..." .113 Die Sowjets hatten ihrerseits Befürchtungen, die ein späterer Vertreter der Ukraine114 in der GV so zusammenfaßte: "When we entered the United Nations, we knew, that we entered an organisation, where the majority would be against us ...on the side of the anglo-american bloc." 115 Die Sowjets traten der OVN trotzdem be~ da sie nicht ohne strategischtaktischen Weitblick in der OVN ein Forum für die ideologische Auseinandersetzung im Weltmaßstab zu fmden glaubten. Dennoch war das Prinzip des "concurrent vote" (Art. 27 Nr. 3 SVN) unter den Großmächten nicht umstritten. Im Gegenteil, für sie wurde es, nachdem es durch die Yalta-Formula bekräftigt worden war116, nachgerade zur conditio sine qua non, die von den übrigen Teilnehmern der Konferenz von San Francisco heftig angegriffen wurde.117 Für die Großmächte bestand indes kein Zweife~ daß sie, da sie die Hauptlast eines Sicherheitssystems tragen sollten, einer alternativen Regelung niemals zustimmen würden.111 Artikel27 Nr. 3 SVN war insoweit Ausdruck einer konkreten politischen Interessenlage, die im Ergebnis bis heute bedeutet: "Ou bien les cinq Grands sont d'accord et les Nations Unies disposent de pouvoirs tres etendus, ou bien ils ne le sont pas et toute action devient impossible."119

b) Die Feststellung des "casus sanctionis" gemäß Art. 39 SVN Artikel39 SVN ist nach dem Verständnis der Satzungsgeber die zentrale Norm des VII. Kapitels der SVN.12D Er ist gewissermaßen die konkretisierende Generalermächtigung, welche neben der Aufgabenzuweisungsnorm des Art. 24 Nr. 1 SVN steht. Sie berechtigt den SR zur Vornahme von Hull, Memoin:, Bd. 2, S. 1169. Es sei hier der Vollständigkeit halber die Kuriosität der dreifachen Vertretung der Sowjetunion in der GV der OVN (Russische FSR, Ukrainische FSR und Weißrussische FSR) 113

114

an~emerkt. 15 Zit. nach Pfeifenberger, Vereinte

Nationen, S. 2S. Vgl. Schlochauer, Jalta-Konferenz, in: WVR 2 II, S. 164 oder auch Luard, History of the UN I, S. 45. 117 Vgl. dazu C/Qude, Swords into Ploughsharcs, S. 152 ff. Australien etwa beantragte, daß die Vetomacht ,,should not be able to bloc resolution proposing peaceful settlement (sc. Maßnahmen des VI. Kapitels der SVN; Anm. des Verf.)". Vgl. Luard, a.a.O., S. 47. 111 V gl. Münch, Veto, in: WVR 2 111, S. 589. 119 Reuter, Droit international public, S. 524. l2D Vgl. dazu Cohen-lonatluln, Art. 39, in: Cot/Pellet {Hrsg.), Charte, S. 626 und 648. 116

1. Teil: B. Systematik der kollektiven Sicherheit

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Sanktionen gemäß Art. 41 und 42 SVN. Die Feststellung eines friedensstörenden Tatbestandes (threat to peace, breach of peace, act of aggression) hat gemäß Art. 25 SVN bindende Wirkung. Diese unterscheidet die Feststellungs- und Handlungsmacht des SR, wie bereits angedeutet, von den Aktions(un-)möglichkeiten des Völkerbundrates. Aus dem Wortlaut des Art. 39 SVN "The Security Council shall determine ... " 121 könnte überdies geschlossen werden, daß dem SR eine Pflicht zur Feststellung friedensstörender Tatbestände ex officio obliegt. Diese Annahme fmdet jedoch angesichts der späteren Praxis bei der Festlegung der Tagesordnung im SR - die Vetomächte versuchten und versuchen nach wie vor, ihnen unangenehme Fälle erst gar nicht in die Tagesordnung aufzunehmen - keine ausreichende Stütze.122 Artikel 39 SVN zwingt auch nicht zu der Annahme, daß nach einer Feststellung des SR stets Maßnahmen zu erfolgen haben, denn es heißt: "The Security Council shall determine ... and shall make recommendations, o?ZJ decide what measures shall be taken ...". Es zeigt sich aber, daß der Anordnung von Maßnahmen aus der Sicht der Satzungsgeber die förmliche Feststellung eines friedensstörenden Tatbestandes vorhergehen sollte, was später nicht unbestritten sein sollte.124 Es sei hier bereits betont, daß dieses Feststellungsrecht ursprünglich ausschließlich beim SR liegen sollte.12S Die einzelnen Tatbestände des Art. 39 SVN, die Friedensbedrohung, der Friedensbruch und der Angriffsakt, fanden auf der Konferenz von San Francisco, wie schon vorher in Dumbarton Oaks, keine defmilorische Ausgestaltung.126 Es erschien im Gegenteil nicht opportun, die Allgemeinbegriffe des Art. 39 SVN genauer zu bestimmen. Besonders die Amerikaner befürchteten, daß eine Defmition der friedensstörenden Tatbestände das Ermessen des SR zu sehr einschränken würde, was rasche Anordnungen von Sanktionen gemäß Art. 41 und 42 SVN aus ihrer Sicht potentiell erschwert hätte.127 Die Sowjetunion setzte für Art. 39 SVN das Merkmal des 121 Im frz.. Text des Art. 39 SVN heißt es: " ... le Conseil de SCcurit~ consuue ... ". (Unterste. durch den Verf.). 122 Vgl. dazu Goodrich/Hambro/Simons, Charter, Art. 39, S. 293 ff. 1ZJ Unterste. durch den Verf. 124 Vgl. unten C.II.2. (S. 100 ff.). 12S Vgl. Goodrich/Hambro/Simons, Charter, Art. 39, S. 294 und Co/um-Jonathan, Art. 39, in: Cot/Pellet (Hrsg.), Charte, S. 649. Zur gegenläufigen Tendenz bei derBeschließungder "Uniting-for-Peace"-Revolution" durch die GV, vgl. unten C.II.l.b. (S. 117 ff.). 126 Vgl. dazu Cohen-Jonalhan, a.a.O., S. 657. 127 Vgl. Frowein, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 39 Rz. 2-4 oder RJßseljMUiher, Histoey, S. 679 ff. Die Idee der Vorverlagerung des völkersicherheitsrechtlichen Eingreifens vor den akuten Kriegsfall dürfte auf die Arbeit des im Rahmen des Völkerbundes eingesetzten "Comit~ des Treizes charg~ de proposer des dispositions destin~es ä rendre le Pacte de Ia S.d.N.

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1. Teil: B. Systematik der kollektiven Sicherheit

"act of aggression" durch, obwohl Amerikaner und Briten der Auffassung waren, daß der Friedensbruch die Angriffshandlung beinhalte.121 Ob die Tatbestände des Art. 39 SVN im Ergebnis eine Konkretisierung der durch Art. 2 Nr. 4 SVN verbotenen Gewalt darstellen sollten, läßt sich den Motiven der Satzungsgeber nicht entnehmen.

c) Die einzelnen Maßnahmen der Art. 41 und 42 SVN Die Art. 41 und 42 SVN konkretisieren die dem SR durch Art. 39 SVN übertragene Sanktionsgewalt. Die beiden Vorschriften unterscheiden sich zunächst terminologisch, da Art. 41 SVN von ,,measures" spricht, während in Art. 42 SVN von "action" die Rede ist. Der Begriff der .,measures" umfaßt als Oberbegriff aber auch die "action".129

(1) Die nichtmilitärischen Sanktionen (Art. 41 SVN) Artikel41 SVN kann bezüglich der in ihm aufgezählten Maßnahmen als Fortschreibung des Art. 16 Nr. 1 VBS betrachtet werden. Es sind die klassischen Instrumente des Wirtschaftskrieges.130 Dem Anschein nach war Art. 16 Nr. 1 VBS wegen der sogenannten "Selbstauslösung" der Sanktionen im ,,Angriffsfall"131 sogar schärfer. Die oben angesprochene Einschätzungsprärogative der einzelnen Mitglieder des Völkerbundes bei der Bestimmung des casus foederis machte diese Waffe aber stumpf. Der Einfall Italiens in Abessinien illustrierte die Wirkungslosigkeit des Art. 16 Nr. 1 VBS eindrücklich. Zum einen folgten die Staaten den vom Völkerbundrat zögerlich empfohlenen Sanktionen nur widerwillig. Zum anderen hatte eben diese Empfehlung keinerlei imperativen Charakter. Schließlich wurden die Maßnahmen bei fortdauernder Besetzung Abessiniens durch Italien 1936 resigniert aufgehoben!32

plus efficace dans l'organisation de Ia securite collective" - vgl. LoN/Doc. A 6 (a) 193S S. 13 ff. - zurückgehen. Zur Notwendigkeit der Prävention hatte sich schon de Broudcire (Journal officiel des VB 1934, S. 125) positiv geäußert. 121 &wei/Mulher, History, S.464 ff. 129 Fischer, Art. 42, in: Cot/Pellet (Hrsg.), Charte, S. 710. 130 Vgl. unten 2. Teil: B.III.2.d. (S. 399 f.). 131 Zum ,,Angriffsbegrifr• der VBS, der mit dem ,,act of agression" des Art. 39 SVN nur bedingt zu vergleichen ist, vgl. unten 2. Teil: A.III. (S. 272).

1. Teil: B. Systematik der kollektiven Sicherheit

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In der vorbereitenden Konferenz von Dumbarton Oaks gab es über den Inhalt des Art. 41 SVN keinen Streit. Der enumerative Charakter des Art. 41 SVN mit seinem Maßnahmenkatalog geht auf die So\\]etunion zurück.133 In den Vorschlägen der Vereinigten Staaten war eine solche Enumerierung nicht vorgesehen.134 Schließlich einigte man sich, daß der auf der Konferenz von San Francisco angenommene Katalog des Art. 41 SVN keinen abschließenden Charakter haben soUte. Die Amerikaner befürchteten eine Einengung des Aktionsradius' des SR und bewirkten die Hinzunahme der Wendung "These (sc. measures) 135 may include ..." . Weitere Änderungen wurden nicht vorgenommen.136

(2) Die militärischen Sanktionen (Art. 42 SVN) Artikel42 SVN soUte der OVN die Möglicheit geben, Friedensstörer in ihrem friedenswidrigen Tun mit militärischen Mitteln (Land-, See- und Luftstreitkräfte) aufzuhalten. Er steUt gegenüber den Andeutungen des Art. 16 Nr. 2 VBS eine Neuerung dar. Artikel16 Nr. 2 VBS hatte zwar die konzertierte militärische Aktion vorgesehen, die sich aber, ähnlich wie Art. 16 Nr. 1 VBS, aus den folgenden Gründen als von Anfang an impraktikabel erwies: 1. der Völkerbundrat konnte Maßnahmen nur empfehlen; 2. er durfte nur ad-hoc-Empfehlungen zu Art und Zahl der Truppen geben.137 Unter solchen Bedingungen konnte nur die Selbstverteidigung in Notwehr die zu erwartende völkersicherheitsrechtliche Regel sein. Zu einem militärischen Einsatz von Völkerbundtruppen in kriegsmäßigem Umfang ist es daher nie gekommen. Die Einsätze von militärischem Personal unter der 132 Vgl. zum ganzen Eisenumn, Art. 41, in: Cot/Pellet (Hrsg.), Charte, S. 693; Scheuner, Kollektive Sicherung, in: Berichte der DGVR 2 (1957), S. 5 f. m.w.N. oder Frowein, in: Simma kHrsg.),

Vgl. FN54.

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2. Teil: A. Wurzeln des universalistischen Sicherheitskonzepts

Contrat Social vermerken: "La guerre est une relation d'Etat a Etat".81 In einem solchen Krieg waren die Menschen nur Feinde aus Zufall und nicht insofern sie Menschen waren, sondern nur als Soldaten.82 Wenn man auch an der Zufälligkeit der Feindschaft zweifeln kann, so erschließt sich aus diesem vom Geist des jus publicum europaeum gespeisten Satz wirkliche Humanität.

Auf den eben skizzierten Grundlagen entwickelte sich ein freies jus ad bellum. Dieses freie Kriegsführungsrecht bedeutete aber keineswegs, daß man von einer moralischen Indifferenz des auf dem Gedanken des justus hostis gegründeten jus publicum europaeum gegenüber dem Krieg sprechen kann.lß Eine solche Auffassung, die auf den Umstand rekurriert, daß es im klassischen Völkerrecht keine Rechtspflicht gab, die ein Vorgehen gegen die Durchsetzung dieses Rechts zum Kriege geboten hätte84, vermag nicht zu überzeugen; sie erfaßt das Wesen des jus ad bellum nur unzureichend. Dasjus ad bellum ist zu keiner Zeit ein Recht auf Krieg gewesen, sondern ein Recht zum Krieg, welches den Krieg zum zulässigen Mittel der Völkerrechtsgestaltung erklärte. Obwohl Analogien zum modernen nationalen Recht hier nur mit Vorsicht zu erwägen sind, kann der Grundgedanke des klassischen europäischen Duellkriegs mit dem der Zwangsvollstreckung im Zivilprozeß verglichen werden.ss Es existierten hier zwar keine rechtskräftigen Vollstreckungstitel - die Rechtsbehauptungen der europäischen Souveräne mußten insoweit genügen-, jedoch war der Krieg wie die Zwangsvollstreckung Rechtsexekution. Der jeweilige Verteidigungskrieg gegen eine offensive Rechtsexekution war insoweit gewissermaßen Rechtsmittel gegen die "Zwangsvollstreckung" des Angreifers, bestritt aber in der Tat nicht die rechtliche Zulässigkeil des Vollstreckungsinstituts "Krieg", genausowenig wie die Erinnerung gegen Vollstreckungshandlungen des Gerichtsvollziehers die Zwangsvollstreckung als Institut der Rechtsdurchsetzung in Frage stellt. Freilich hinkt der Vergleich insofern, als der Verteidiger in der Regel nicht nur die Vollstreckung angreifen wollte, sondern zumeist auch den Titel bestritt. Erkenntnisverfahren und Vollstreckung fielen gleichsam in einem Verfahren des kriegsmäßigen Entscheides zusammen. Indifferent war dieses Völkerrecht in bezug auf den Krieg gerade deswegen nicht, da eine solche Auffassung vom Kriege grundsätzlich nur die auf Erreichung von Rechtszwecken gerichtete Gewaltanwendung erlaubte, nicht aber die Gewalt um der Gewalt willen. Dies kann 81 82

Rousseau, Contrat Social, Liv. III, Chap. IV, S. 75. Vgl. Rousseau, a.a.O.

So z.B. Bothe, Gewaltverbot, in: Schaumann (Hrsg.), Gewaltverbot, S. 12 f. Vgl. Bothe, a.a.O. mit Hinweis auf Bi/finger, 2:aöRV 15 (1953/1954), S. 465. 8S Vgl. Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 249 unter Bezugnahme auf Gentilis. &3

84

2. Teil: A. Wuneln des Universalistischen Sicherheitskonzepts

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man nicht als moralische Indifferenz bezeichnen. Es handelte sich im Vergleich zur justitia vindicativa des bellum justurn eben um die als Rechtskampf aufgefasste Auseinandersetzung von dem Grundgedanken nach gleichberechtigten Parteien, die kein pönales Element mehr enthielt. Die moralische Verdammung der Gewaltanwendung zu Rechtszwecken mit dem Ziel eines Verbots des Angriffskrieges oder des Krieges überhaupt86 war für die Rechtslehrer und Rechtsanwender des jus publicum europaeum kein Thema.87 Der Angriffskrieg war damals ein zulässiges und legitimes Mittel offensiver Rechtsbehauptung.88 Eine andere Frage ist es, ob ein überraschender Angriff eine völkerrechtswidrige Handlung darstellte. Darauf ist noch zurückzukommem.89 Man kann zusammenfassend mit Schmitt90 in Bezug auf das Kriegsverständnis des jus publicum europaeum feststellen: 1. Das Charakteristikum des "Krieges im Rechtssinne" wird von der juristisch noch nicht erfassten, aber notwendigen materialen Gerechtigkeit der justa causa des Mittelalters weg verlagert, in die formale ·Legalität eines von Trägern der summa potestas geführten öffentlich-rechtlichen, zwischenstaatlichen Krieges.

2. Durch diese Formalisisierung und Juridifizierung des Krieges wird der Feindbegriff durch den Begriff des justus hostis ganz an der Rechtsqua-

lität des fürstlichen beziehungsweise staatlichen Souveräns orientiert; durch die gemeineuropäisch anerkannte Legitimität der Souveräne wird, ohne Rücksicht auf justa oder injusta causa des Krieges, die Parität und Gleichheit der kriegführenden Mächte hergestellt und ein nichtdiskriminierender Kriegsbegriff gewonnen, denn selbst der ohne justa causa kriegführende souveräne Fürst oder Staat bleibt ein justus hostis.

86 Es sei daran erinnert, daß das Kriegsverbot des Art. 2 Nr. 4 SVN sensu strictu auch bei der Selbstverteidigung nach Art. 51 SVN die Annahme eines Krieges im überkommenen Rechtssinne nicht mehr zuläßt; erlaubte Gewalt soll nach dem Grundgedanken der SVN unmittelbar (Art. 39 ff.) oder mittelbar-treuhänderisch (Art. 51) ausgeübte Weltpolizei sein. Das Wort Krieg wird in der SVN im rechtstechnisch-fonnellen Sinne nicht mehr verwandt. Art. 51 SVN eröffnet, abgesehen von seinem polizeilichen Zweck, in fonneUer Hinsicht ein jus ad defensionem. Vgl. oben 1. Teil: B.II.2.b (S. 73) u. unten 8.1.4. (S. 297). 87 Das wird bei VerdrossjSimma (Völkerrecht, S. 62) ganz richtig gesehen. 88 Das galt im 19. Jahrhundert noch als selbstverständlich. Vgl. etwa Heffter, Europäisches Völkerrecht, S. 205. Die im Zusammenhang der Völkerbundgründung aufgekommene Meinung, daß bereits Grotius den Angriffskrieg in nuce diskriminiert habe, weist Grewe (Völkerrechtsgeschichte, S. 254 ff.) zutreffend zurück. 89 Vgl unten B.II.2.c.(2) (S. 330 f.). 90 Vgl. Schmitt, Nomos, S. 125.

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2. Teil: A. Wurzeln des universalistischen Sicherheitskonzepts

3. Die Entscheidung darüber, ob eine justa causa vorliegt oder nicht, wird ausschließlich Sache jeden staatlichen Souveräns. An diesen, in der klassischen Völkerrechtslehre vollumfänglich aufgenommen Grundsätzen änderte sich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges nichts91, auch wenn am Ende des Sieeie des Lumieres auf der Grundlage eines geschichtsphilosophischen Welthumanitarismus wieder über "gerechte" und "ungerechte" Kriege nachgedacht wurde (Kant9~ und die französische Revolution eine erste politische Erschütterung dieser Grundsätze bewirkte.93 Erst der Weltbürgerkrieg des 20. Jahrhunderts, in dem universalistische Doktrinen bis in die Gegenwart um die Herrschaft über den Weltdemos ringen, sollte sie zerstören.94

(2) Der Grundsatz des "fmis belli pax est" Die zweite tragende Säule des Kriegsverständnisses des klassischen Völkerrechts war der Grundsatzdesfinis belli pax est. Dieses Prinzip gebot, wie schon angedeutet, daß unabhängig vom Modus der kriegerischen Gewaltanwendung die "... durch den Krieg erlangte tatsächliche und rechtliche Macht ... zur Herstellung eines wahren Friedens gebraucht werden..."95 sollte. Eine solche Maxime formulierte in der Neuzeit zuerst Vitoria: .,...quia finis belli pax est et securitas republicae ut Augustinus inquit."96 Der Krieg sollte aus seiner inneren Gesetzlichkeit (utfinem suam) zum Frieden führen.97 Er war dem Ideal nach die Wiederherstellung eines gemeineuropäisch aufgefassten Völkerrechtskosmos. Krüger bemerkt zum neuzeitlichen Friedenszweck des Krieges zutreffend: "Wenn der Frieden schlechthin als Telos des Krieges gedeutet wird, dann muß diese Deutung sich gegen eine Auffassung wenden, die zum mindesten in bestimmten Relationen nur den Krieg, den Krieg ohne die sittliche und tatsächliche Möglichkeit des Friedens kennt."98 Der moderne Weltanschauungskrieg scheint demgegenüber in die 91 Vgl. Schmitt, a.a.O., S. 123 ff.; Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 237 ff. u. S. 433 ff. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht bietet Dickmann, Friedensrecht und Friedenssicherung, S. 116 ff. einen instruktiven Überblick. 92 Vgl. unten B.II.2.b. (S. 319). 93 Vgl. unten B.II.2.b. (S. 320 ff.). 94 Vgl. unten B.III. (S. 364 ff.). 95 Krüger, Festschrift Laun 1962, S. 200. 96 Vitoria,.De jure belli, 1 (S. 2). 97 Vgl. Grotius, De jure belli ac pacis, Lib. I, Cap. I, I (S. 2). 98 Krüger, a.a.O., S. 201. Er meint hier das bis in die Neuzeit überwiegend vom Krieg bestimmte Verhältnis zwischen Christen und Heiden.

2. Teil: A. Wurzeln des universalistischen Sicherheitskonzepts

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Atrozitäten des mittelalterlichen bel/um sanctum der Kreuzzüge zurückzufallen. Der Feind wird zum "outlaw".99 Frieden im Sinne des klassischen Völkerrechts muß dabei als eine auf gemeinschaftlichen, organisch-konkreten Rechtsvorstellungen gegründete Ordnung verstanden werden.100 Ein abstrakter und somit extensiv auslegbarer Friedensbegriff101 hatte hier keine Berechtigung. Der Friedenszustand war nach diesem Rechtsverständnis der ordentliche Zustand, der Krieg der außerordentliche, wobei "außerordentlich" hier nicht mit "unordentlich" gleichgesetzt werden darf. Der Krieg war und ist heute noch der völkerrechtliche Ausnahmezustand, der nicht ohne Ordnungselemente (jus in bello) auskommt, da er ansonsten in ein rechtloses Chaos einmündet. Friede war demnach der Zustand eines rechtlichen Sichvertragens, also in fine mehr als die bloße Abwesenheit von Gewalt (Waffenstillstand). Ein solcher positiver Friede war freilich Ausdruck politisch-sozialer Homogenität im Europa der Neuzeit. Er läßt sich nicht ohne weiteres auf globaler Ebene der Gegenwart übertragen, die von der Heterogenität der Staatenwelt gekennzeichnet ist. Wenn man mit dem sicherlich in der Tradition des jus publicum europaeum stehenden C/ausewitz davon ausgeht, daß " ...der Krieg ...nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel ist." 102, so hatte und hat der Krieg mit der Durchsetzung des politischen Willens des Siegers zu enden. Eine Vernichtungsdebellation hätte den Grundsatz des justus hostis verletzt; dieser durfte, auch wenn seine Niederlage gleichsam eine Vermutung zugunsten der Rechtsbehauptung des Siegers war, nur zur Wiedergutmachung und Schadensersatz herangezogen werden.103 Die "Verfassungsurkunden des droit public de l'europe" 104 (Westfälischer Frieden 1648105, Utrechter Frieden 1713106, Wiener Kongress 1815107, 99 Über die Korrelation zwischen Friedlosstellung und Feindesverachtung siehe unten 8.111.1 (S. 365 ff.). 100 Vgl. Krüger, a.a.O., S. 203. 101 Zum eher abstrakten Friedensbegriff der SVN vgl. oben l.Teil: A.I.l.b. (S. 21 ff.). 102 Clausewilz, Vom Kriege, S. 674. 103 Vgl. Krüger, a.a.O., S. 203. Wenn Krüger allerdings unter der Prämisse der "Wiederholungsgefahr" eine Vemichtungsdebellation als erlaubt sehen will, geht er zu weit, da er damit die von ihm ansonsten bekämpfte These von "ewig veiWOrfenen Gegner" implizit stützt. 104 Schmitt, Deutsche Rechtswissenschaft 5 (1940), S. 368. 105 Vgl. dazu etwa de Zayas, Westphalia, Peace of, in: EPIL 7, S. 536 ff. m.w.N. 106 Vgl. dazu Nußbaum, Geschichte des Völkerrechts, S. 131, oder Grewe, Völkerrechtsgeschichte, bes. S. 334 ff. 107 Vgl. Münch, Vienna Congress, in: EPIL 7, S. 522 ff. m.w.N.

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2. Teil: A. Wurzeln des universalistischen Sicherheitskonzepts

Pariser Frieden 1856108) enthalten denn auch Bestimmungen, die diesen Geist des europäischen Friedensschlusses dokumentieren. Ohne auf Einzelheiten eingehen zu wollen, erscheint es im Hinblick auf die weitere Untersuchung wichtig, die Grundprinzipien des europäischen Friedensschlusses109 in Anlehnung an Scheuner110 kurz aufzuzählen: 1. Die formelle Beendigung des Krieges; 2. die Regelung der Eigentumsfragen, der privaten Rechte überhaupt, der völkerrechtlichen Vorkriegsverträge und des Reparationenproblems; 3. die Festlegung eines verhandeltenm territorialen und politischen Status als Ausgangspunkt für die neuen interstatalen Beziehungen; 4. der Ausgleich und die Versöhnuni 12 zwischen den ehemals Kriegführenden; das heißt, die Wiedereinführung des Besiegten als gleichberechtigtes Mitglied der Staatengesellschaft.113 Scheuner will noch die "Garantien des Friedens" als wichtige Maxime verstanden wissen.114 Als Rechtsprinzip vermögen solche "Garantien" wenig, da sie über eine bloße Deklamation des Friedenswillens zur Zeit des Vertragsschlusses nicht hinausgehen. Der Frieden ist aber zuvörderst von den politisch-territorialen Ordnungserfolgen des Friedensschlusses abhängig, nicht von feierlichen Beschwörungen. Sehr viel wesentlicher und einer kurzen weiteren Betrachtung wert sind die oben unter 4. zu fassenden ,,Amnestieklauseln", die Ausgleich und Versöhnung bewirken sollten.m SchmiU hat das Amnestieprinzip zu Recht als

108 Vgl. Schieder, Paris Peace Treaty (1856), in: EPIL 7, S. 376 ff. m.w.N. oder Grewe, a.a.O., S. 509, 531, 603. 109 Vgl. zu seinem Inhalt ausführlich Zimmer, Friedensverträge im Völkerrecht, S. 3 ff. 110 Vgl. Scheuner, Festschrift Kraus 1954, S. 203. Scheunerist allerding;s nicht zu folgen, wenn er meint, daß diese Prinzipien Maximen ohne Rechtsverbindlichkeit gewesen seien. Dies muß bei seiner nach dem Zweiten Weltkrieg eingenommenen naturrechtliehen Orientierung verwundern. Anders und richtig Wheaton (Elements of International l..aw, § 15, S. 20 ff.) im 19. Jahrhundert, der die Friedensverträge des klassischen Völkerrechts und die in ihnen niedergelegten Grundsätze zutreffend zu den Rechtsquellen zählt. m Unterstr. durch den Verf. 112 Unterstr. durch den Verf. 113 Dieser Aspekt ist völkerrechtspsychologisch besonders wichtig. Der Besiegte muß den Friedensschluß als Instrument des Rechts auffassen können, ohne sich in seiner nationalen Würde substantiell beeinträchtigt fühlen zu müssen. Dies haben die Friedensschlüsse des 20. Jahrhunderts (besonders der "Frieden" von Versailles) oft vermissen lassen. 114 Vgl. Scheuner, a.a.O. 115 Vgl. Kruse, Amnestieklauseln, in: WVR 2 I, S. 40 ff. m.w.N., und de Zayas, Amnesty aause, in: EPIL 3, S. 14 ff. m.w.N.

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ein "Ur-Institut" des Rechts bezeichnet.116 Es gehört in diesem Zusammenhang zu den leider oft anzutreffenden Merkwürdigkeiten des völkerrechtlichen Vertragspositivismus, daß er die Anwendung des Grundsatzes der Amnestie nach Abschluß der Feindseligkeiten von der ausdrücklichen Fixierung im Friedensvertrag abhängig machen will.117 Die Amnestie gehörte zu den selbstverständlichen Rechtsbräuchen des jus publicum europaeum, die des jus scripturn nicht zwingend bedurften.118 Wesen und Gehalt der Amnestieklauseln in Friedensverträgen hat Vattel erschöpfend umschrieben, wenn er formulierte: "L'amnestie est un oubli parfait du passt: & comme la paix est destinte a mettre a neant tous les sujets de discorde, ce doit etre Ia le premier article du traitt."119 Der moderne Krieg des 20. Jahrhunderts zeigt gerade hier DefiZite, da bei ihm die ritterliche und nur scheinbar antiquierte Geste des gegenseitigen Vergebens verloren gegangen ist.120

(3) Das europäische Gleichgewicht Am Ende dieser kurzen tour d'horizon muß darauf hingewiesen werden, daß die oben beschriebenen Prinzipien von Krieg und Frieden im klassischen Völkerrecht eine wichtige materielle Voraussetzung hatten, welche die Vielzahl der völkerrechtlichen Regeln erst ermöglichte und welche im Frieden von Utrecht 1713 so umschrieben wurde, daß vor allem " ...durch eine Gleichheit der Macht, die beste und stärckste Grund= Seule guter Freundschaft, und beyderseitiger langwieriger Einträchtigkeit, Friede und Ruhe des Christenthums zu befestigen und zu versichern, ..." .121 sei. Das justum potentiae aequilibrium war also diese Voraussetzung, das Gleichgewicht der Mächte, von dem auch in der Modernen noch so viel und ausgiebig die Rede ist. 116 Schmitt, Nomos, S. 235. Vgl. dazu auch v. Marteru, Precis du Droit desgensmodernes de l'Europe, S. 543. 117 Vgl. stellvertretend Philipson, Termination of War and Treaties of Peace, S. 247. 118 Vgl. Schmitt, a.a.O., S. 286. 119 Vattel, Droit des Gens, Tome II, Liv. IV, Chap. II, § 20 (S. 266). 120 Der Versailler Vertrag hat insoweit in signifikanter Weise den ersten Schritt zur Durchbrechung des Amnestieprinzips getan. Die Strafbestimmungen (Penalties) der Art. 227-230 VV verlangten die Bestrafung des deutschen Kaisers und sogenannter Kriegsverbrecher, kamen aber im Ergebnis noch nicht zu einer durchgreifenden Anwendung. Das Prinzip der Bestrafung durch den Sieger fand dann nach dem Zweiten Weltkrieg ohne jede friedensvertragliche Regelung eine rigorose Anwendung. 121 Vgl. den englisch-spanischen Frieden vom 13.7.1713 bei Grewe (Hrsg.), Fontes Historiae Juris Gentium II, S. 231 f.

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Dieser Grundsatz beruhte bekanntlich auf der Idee, daß keine europäische Macht so stark sein sollte, daß sie die politische Unabhängigkeit einer anderen gefährden könnte.122 Diese Voraussetzung der neuzeitlichen europäischen Friedensordnung des jus publicum europaeum war aber ihrerseits nicht voraussetzungslos, denn das Prinzip des Gleichgewichts ist kein ortund geschichtsloses, rein mechanizistisch aufzufassendes Prinzip, welches sich umstandslos auf alle völkersicherheitsrechtlichen Problemlagen anwenden läßt. Es bedarf jeweils besonderer politisch-soziologischer und territorialer Bedingungen. Allgemeine, gleichsam physikalische Erwägungen können hier keinen wirklichen Aufschluß geben. Eine Antwort für die Welt der europäischen Neuzeit erschließt der Be-

griff des "Christenthums"123 in dem eben apostrophierten Utrechter Frie-

den. Er weist auf einen staatensoziologisch bedeutsamen Umstand hin. Die europäische Friedensordnung des späten 17., des 18. und 19. Jahrhunderts beruhte nicht auf einem materiell-militärischen Formelkompromiß heterogener, in ihrer spirituell-kulturellen und politischen Substanz nicht zu vergleichenden Staaten, sondern auf dem ethno-kulturellen Konsens der christianitas europaea, welche, wenn auch seit dem 16. Jahrhundert eine christianitas afflicta, noch starke, völkerrechtssoziologisch bedeutsame Verklammerungen zwischen den christlichen Staaten kannte, und deren Mitglieder (sc. die europäischen Staaten) von vergleichbaren politischen Formprinzipien geprägt waren.124 Dieses verbindende politische Substrat des gemeineuropäischen Völkerrechts war das bis 1789 alleuropäische, von allen Christen anerkannte, im Gottesgnadentum ruhende dynastisch-monarchische Prinzip.12S Diese communitas war auch nicht ortlos. Der christliche Raum war trotz der einsetzenden Globalisierung des Völkerrechts immer noch der europäische Raum. Dasjus publicum europaeum war insoweit ein Binnenrecht, welches die Regung des Krieges durch die auf dem justus-hostis-Gedanken beruhenden Kriegsregeln vor allem auf den europäischen Raum, das heißt auf die in ihm gelegenen Staaten beschränkte.126 Dies war angesichts der im 15. und 16 Jahrhundert einsetzenden Raumrevolution, die den politischen Vgl. Schmitt, Nomos, S. 120. Dieser Begriff taucht in Vertragswerken des jus publicum europaeum regelmäßig auf und wird erst nach dem Säkularisationsschock der französischen Revolutionswirren durch den Begriff "Europa" bzw. "europäisch" ersetzt. Vgl dazu Schmitt, Deutsche Rechtswissenschaft 5 (1940), S. 269 ff.; Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 334 f.; ders. ZaöRV 32 (1982), S. 453, mit Hinweis auf v. Martens, der von der ,,Ähnlichkeit der europäischen Sitten im christlichen Europa" gesprochen hatte. 124 Vgl. Schmitt, Nomos, S. 120, und Grewe, a.a.O., S. 339. 12S Zu diesem Problemkreis vgl. auch Mohnhaupt, Festgabe Coing 1982, S. 225 ff. 126 Vgl. Schmitt, a.a.O. und ders., ZVR 24 (1940), S. 154. 122 123

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Horizont erheblich erweiterte, nicht selbstverständlich. Diese Raumrevolution wies für das jus publicum europaeum eine merkwürdige Ambiguität auf, denn einerseits eröffnete sie ihm die Möglichkeit zu seiner globalen Universalisierung und trug so zu seiner Entortung bei, andererseits perpetuierte sie die konkrete europäische Raumordnung, die den anarchischen Raumverteilungskampf "beyond the line" , das heißt in die Sphäre der neuen, zur Landnahme bereitstehenden Territorien verbannte.127 Jenseits der von den europäischen Souveränen vereinbarten "amity lines" - ihre Vorläufer sind die "rayas"128 - durfte der hobbesianische bel/um omnium contra omnes ohne Anhindung an die gue"e en fonne geführt werden. Die Möglichkeit einer über Jahrhunderte möglichen Landnahme der europäischen Staaten außerhalb ihres Kontinents hat so für lange Zeit einen auf den europäischen Kontinent bezogenen, umfassenden Raumordnungskrieg entbehrlich gemacht.119 Die europäischen Kriege waren bis zur Französischen Revolution zumeist Rechtshändel zwischen verwandten Dynastien, während danach die nunmehr initiierte Idee des national und demokratisch fundierten Selbstbestimmungsrechts der Völker spätestens anläßlich der Pariser Vorortverträge von 1919 raumintensiv wirksam wurde130 und schließlich in der SVN eine völkerrechtliche Kodifikation erfuhr.131 Dieses Prinzip der Selbstbestimmung der Völker führte deshalb zu neuen Raumordnungskriegen, weil es das ursprünglich monarchisch-dynastische, nicht notwendig national fundierte Legitimitätsprinzip des jus publicum europaeum und damit seine von allen Souveränen im Grundsatz als gerecht empfundene Raumordnung ablösen wollte und bekämpfte.132 Im folgenden, bis heute andauernden demokratischen Zeitalter widerstreitender politischer Ideologeme wurde eine wirkliche Reziprozität, zu der auch der Wille zum rücksichtnehmenden Interessenausgleich gehört, zwischen den Staaten immer schwieriger. Ein Völkerrecht, daß wie zur Zeit des jus publicum euro127 Zu den "amity-lines" (Freundschaftslinien) als Völkerrechtsinstitut vgl. Schmitt, Nomos, S. 60 ff. und auch Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 182 ff. Ulmen, (felos 72 [1981), S. 48) weist zutreffend daraufhin, daß die rayas "distributiven" und die amity-lines einen "kombattiven" Charakter hatten. 128 Vgl. Schmitt, a.a.O., S. 57 ff. 129 Ein solchen wagt Napoleon Bonaparte und verliert. Das 20. Jahrhundert kennt zwei Raumordnungskriege, die denn auch "Weltkrieg" genannt werden, obwohl sie, abgesehen vom pazifischen Kriegsschauplatz im Zweiten Weltkrieg, vornehmlich in Europa stattfinden. Der Zweite Weltkrieg wird bezeichnenderweise vom Deutschen Reich eröffnet, das nach dem Ersten Weltkrieg von der Möglichkeit der Teilhabe an überseeischen Besitzungen ausgeschlossenen worden war. 130 Man denke nur an die Zerschlagung des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn. 131 Vgl. etwa Art. 1 Nr. 2 und 55 Nr. 1 SVN. 132 Vgl. Schmitt, Nomos, S. 222, und von ihm z.T. abweichend Grewe, ZaöRV 32 (1982), S. 449 ff. 16 Menk

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paeum sogar gemeineuropäische politische Formprinzipien bestimmte133, ist im universellen Völkerrecht der Modernen nicht denkbar, aber auch nicht wünschenswert.

Das europäische Völkerrecht war weder universell noch regional-partikulär im modernen Sinne. Es war ein auf einem besonderen ideell-materiellen Gleichgewicht beruhendes Recht. Der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Kalte Krieg hat demgegenüber gezeigt, wie fragil ein nur mechanisch-materielles Gleichgewicht ist, welches ohne politische Homogenität auskommen muß.

b) Universales Völkervernunftrecht- die Auflösung der europazentrischen Ordnung Das jus publicum europaeum war kein universelles Völkerrecht wie es heute zuhanden ist. Eine universell-nivellierende Betrachtungsweise lag den europäischen Legisten des europäischen Völkerrechts fern. 134 Das klassische Völkerrecht war das System der europäischen Verträge und Institutionen, wie sie seit dem Westfälischen Frieden 1648 entstanden waren.135 Es ist daher nicht ohne weiteres zutreffend, aus der Tatsache des aus dem Mittelalter in die Neuzeit hineinreichenden aristotelisch-thomistischen Naturrechtsuniversalismus eine ununterbrochene, das heutige Weltrechtsverständnis begründende Kontinuitätslinie abzuleiten.136 Die Universalität des christlichen Naturrechtsdenkens, wie es z.B. auch noch Grotius stark bestimmte, war auf die mutua gentium inter se societas beschränkt, und es war durchaus zulässig, die nichtchristliehen Völker umstandslos mit Krieg zu überziehen.137 Die universelle Ordnung, wie sie heute verstanden, oder besser, postuliert wird138, ist das Ergebnis eines sehr komplexen Vorgangs, der nicht monokausal und oberflächlich mit der eben angesprochenen Behauptung eines Naturrechtsuniversalismus ohne Diskontinuitäten erklärt werden kann. Es waren zumindest zwei Faktoren, welche die Herausbildung des modernen universellen Völkerrechts entscheidend beförderten:

133 Vgl. Grewe, a.a.O., S. 463, der auf die Behandlung der Thronfolgeordnungen durch das klassische Völkerrecht hinweist. 134 Vgl. Schindler, Festschrift Huber 1981, S. 610. 135 Vgl. ebenda. 136 So aber wohl Alexandrowicz, RdC 100 (1960 1), S. 207 ff., bes. S. 224, 229 ff., 235 f. 137 Vgl. Grewe, ZaöRV 36 (1982), S. 451 ff. 138 Vgl. dazu VerdrossjSimma, Völkerrecht, S. 18 ff. mit weiteren Hinweisen auf universalistische Autoren.

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1. Die bereits erwähnte Raumrevolution der frühen Neuzeit, die mit der Erschließung neuer Territorien das sozio-ökonomische Denken änderte; der Handel begann gegenüber der Landwirtschaft zu dominieren. 2. die Umwertung des fortwirkenden mittelalterlich-christlichen Naturrechtsdenkens in ein säkular-rationalistisches Vernunftrecht im späten 17. und 18. Jahrhundert, welches sich einerseits zunehmend an den Bedürfnissen der sich entwickelnden liberalen Verkehrsgesellschaft orientierte, andererseits aber den nunmehr zu einem undifferenzierten Fortschrittsglauben säkularisierten Chiliasmus des Mittelalters weitertransportierte.

(1) Der terrane und der maritime Raum Durch die Entdeckung neuer Kontinente im 15. und 16. Jahrhundert entwickelte sich aus der vorglobalen, landbezogenen Ordnung des mittelalterlichen jus gentium 139 eine Völkerrechtsordnung, die sich nunmehr auf zwei Raumareale bezog, Land und Meer, und deren Rechtsregeln sich folgerichtig nicht mehr in einem Verhältnis von europäisch-universell (Land) zu partikulär (Meer) gegenüberstanden.140 Die Befahrung der weltumspannenden Ozeane machte das Meer im Verhältnis zum Land zum gleichbedeutsamen Raum. Das Meer war nicht mehr bloßer Annex oder Vorhof terraner Herrschaft. Die seefahrenden Mächte der Antike und des Mittelalters (z.B. Athen, Kathargo, Venedig) waren noch Thalassokratien gewesen; die See war in diesen Epochen weder res nullius noch res omnium. 141 Durch die in der Neuzeit einsetzende globale Perzeption der Welt und die mögliche weiträumige Nutzung der Meere wurde nunmehr der Unterschied zwischen Land- und Seemächten grundsätzlich, da die ursprünglich gemeinsamen kontinentalen Auffassungen von der Welt beziehungsweise ihren Entwicklungsgesetzen auseinanderdrifteten.142 Die Einzelheiten dieser Entwicklung würden den hier vorgegebenen Rahmen sprengen. Sie sind von Schmitt in historisch-philosophischer Gesamtschau eingehend dargelegt worden.143 139 Das mittelalterliche Seerecht ist partikuläres Recht im Sinne eines dem landbezogenen Recht untergeordnetem Rechts. Vgl. dazu Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 118 f. mit weiteren Hinweisen. 140 Vgl. Schmitt, Nomos, S. 144. 141 Vgl. Schmitt, a.a.O., S. 146. Landbezogene Anschauungen des Meeres, z. B. die Konzeption des mare clausum Seldens, halten sich bis in das 17. Jahrhundert. Vgl. Schmitt, a.a.O., S. 150 ff., und ders., Staatliche Souveränität und freies Meer, S. 90 f. 142 Vgl. Schmitt, Staatliche Souveränität und freies Meer, S. 87. 143 Vgl. Schmitt, Land und Meer, 2. Aufl. 1981.

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Hier interessieren nur die wesentlichen Aspekte, die die völkerrechtlichen Auffassungen von Krieg und Frieden hin zu einer totalen, heute offensiehtlieh nicht mehr einbegbaren Kriegführung verändernd beeinflußt haben. Der Übergang Englands von einer terran-kontinentalen zu einer maritim-globalen Macht war der Dreh- und Angelpunkt dieser Entwicklung. Die allfällige Präsenz Englands auf den Ozeanen der Neuzeit spätestens nach 1815 und sein unermeßliches, bis in die jüngste Vergangenheit reichendes Empire lassen eine ausreichende Ahnung davon aufkommen, was die englische Seeorientierung politisch, ökonomisch und im Ergebnis auch völkerrechtlich bewegt hat.144 Englands Seenahme brachte eine spezifisch angelsächsische, das heißt englische und später auch nordamerikanische Variante des jus publicum europaeum hervor, die für das Verständnis der universell gedachten Rechtsgestaltungen wie Völkerbund und OVN, einschließlich ihres Sicherheitsrechts von großer Bedeutung sind.145 Die spanische Seenahme führte demgegenüber nicht zur Entwicklung einer zur universalen Weltpolitik neigenden maritimen Macht. Sie blieb im eigentlichen immer terran gestimmt, diente instrumentell zur Aufrechterhaltung und Verteidigung seiner betont kontinental-staatlich verwalteten Kolonien in Mittel- und Südamerika. Nach der vernichtenden Niederlage der großen Armada 1588 im Ärmelkanal vor Calais146 blieben die Entwicklungsmöglichkeiten Spaniens notwendig beschränkt, obwohl sich seine weltpolitische Bedeutung bis in das 18. Jahrhundert hält.147 Es war für die ersten hundert Jahre der englischen Seenahme markierend, daß sie anders als im Falle Spaniens nicht unmittelbar von staatlicher Macht getragen war. Im Vordergrund stehen die sogenannten "Privateers" (Drake, Probisher u.a.), welche, ausgestattet mit Kaperbriefen, eine Art Privatkrieg führten, gleichzeitig aber auch völkerrechtliche Handlungen für die englische Krone vornahmen.148 Dieser Krieg auf eigene Rechnung wurde de facto zum Völkerrechtsinstitut, bis die Friedensschlüsse von Riswijk 1698 144 Das Datum 1815 findet seine Berechtigung in der zu diesem Zeitpunkt erreichten endgültigen Debellierung Napoleon Bonapartes, des damaligen letzten ernsthaften Widersachers Englands im Kampf um die maritime Herrschaft. Vgl. Schnur, Land und Meer, in: ders., Revolution und Weltbürgerkrieg, S. 33 ff. 14s Vgl. dazu unten A.III. (S. 263 ff.) u. B.II.2.c. (S. 323 ff.). 146 In dieser Seeschlacht standen sich symbolträchtig eine beweglich-maritime (England) und eine schwerfällig-terrane Kampftaktik (Spanien) gegenüber. 147 Das 16. und die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts werden nicht ohne Grund das "spanische Zeitalter" im Völkerrecht genannt, welches durch die Salamanceser Schule (Vitoria, Suarez u.a.) seine entscheidenden Anstöße erhielt. Vgl. Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 163. 148 Zum Begriff des "Privateer" vgl. Grewe, a.a.O., S. 364 ff. Zu ihrer politischen Bedeutung vgl. Schmitt, Staatliche Souveränität und freies Meer, S. 95

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und Utrecht 1713 die "Privateers" zu hostes generis humanis machten, zu ordinären Piraten.149 Die "Privateers" waren, historisch betrachtet, eine zwiespältige Erscheinung. Einerseits unterschieden sie sich wegen ihrer anfänglich öffentlichrechtlichen Legitimierung - man könnte sie als prämoderne Beliehene bezeichnen - von bloßen, vom animus furandi beseelten Seeräubern. Andererseits führte ihr Schlachtruf des mare liberom zur Aushöhlung der auf dem Land geltenden Kriegsbräuche. Der Kampf auf der See war wie das Meer selbst frei und an keine besonderen Regeln gebunden. Das Meer war ein Raum freier Rechtsgestaltung, auch und gerade in bezug auf die Gewaltanwendung. Die Unterscheidung zwischen dem Meer als res nullius und als res omnium hatte in diesem Zusammenhang ihren Sinn.150 Das Meer als res omnium gehörte jedem, während die Auffassung von der res nullius Zurückhaltung anmahnte. Es entsteht hier eine im hobbesianischen Sinne naturzuständliche Zone " ...ac si nullum omnino jus existerit... ".151 Auf dem Meer gab es keinen hostis publicus; auch der Private konnte Feind sein, wie es die Prisenordnungen der Seemächte, besonders Englands und später der Vereinigten Staaten, dokumentierten.1.52 Die typischen maritimen Kampfmittel wie Blockade und Bombardierung von Seehäfen machten überdies eine Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten fast unmöglich und entwickelten sich zum objektiven Urgrund einer totalen Kampfführung.153 Die oben angesprochene Rousseausche Formel vom Krieg als einer "relation d'Etat a Etat" geriet so in Gefahr. Der Seekrieg zielte von Anfang an auf die wirtschaftliche Abschnürung des Feindes und mußte folgerichtig das Verbot des Handels mit ihm nach sich ziehen. Bezeichnend ist der Ausspruch des berühmtem englischen Prisenrichters Sir William Scou im Fall "The Hoop" 1799: ,,All trading with the public ennemy, unless with the permission of the sovereign is interdicted."154 Ein solchermaßen geführter Krieg versetzt alle Individuen der kriegsbetroffenen

149 Allerdinp spielte die Kaperei noch bis in das 19. Jahrhunder. - Wendepunkt war der amerikanische Sezessionskrieg - eine bedeutsame Rolle. Vgl. Schmitt, Nomos, S. 286. 150 Vgl. Schmitt, Nomos, S. 146 ff. 151 Hobbes, De cive I, cap. 1, § 11. 152 Zur Entwicklung des Seebeuterechts vgl. Scheuner, Prisenrecht, in: WVR 2 II, S. 794 ff.; Berber, Völkerrecht II, S. 191 ff. Vgl. aber auch Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 628 f. 153 Die subjektive causa ist in der Ideologisierung des Krieges zu sehen, wie sie in nuce schon in den Glaubenskämpfen der frühen Neuzeit angelegt war. Bis in das 20. Jahrhundert blieb es wegen der vorindustriellen .,unausgereiften" Krieptechnik bei einer Art aequilibrium zwischen geordnetem Land- und .,anarchischem" Seekrieg. 154 Vgl. Scott (Hrsg.), Cases, S. 622. Vgl. auch unten B.III.2.c.(1) (S. 384 ff.).

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Staaten ebenso in den Zustand der Feindseligkeit wie die Regierungen selbst.1ss Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß sowohl die Völkerbundsatzung (Art. 16) als auch die SVN (Art. 41 und 42) im Bereich der wirtschaftlichen und militärischen Sanktionen, die vornehmlich auf Isolierung und Aushungerung des Friedensstörers abzielen156, Elemente der Seekriegführung aufgenommen haben, ein angesichts des humanitären Impetus' der OVN nachdenklich stimmender Umstand, der nicht einfach mit der Notwendigkeit einer radikalen und schnellen Niederwerfung des Friedensstörers zu rechtfertigen ist. Hier hat sich der maritime, zur Totalisierung des Kampfes neigende Kriegsbegriff in den modernen völkersicherheitsrechtlichen Kodiftkationen durchgesetzt.157 Das drängende Element dieser Entwicklung war die bedeutende libera mercatura Englands158, die sich vorzüglich mit dem sie tragenden Element,

dem Meer, verband.159 Schmitt hat auf den hier bedeutsamen Umstand hingewiesen, daß die von der libera mercatura beschleunigte englische Expansion und das damit verbundene Ökonomistische Weltbild keine Projektionen des modernen souveränen Staates waren.160 Es ist bezeichnend, daß die englischen Landnahmen zu kolonialen Zwecken nicht selten zunächst von halbprivaten Handelskompanien eingeleitet wurden.161 Einer staatsbezogenen, in festen territorialen Grenzen denkenden Völkerrechtsauffassung war dieser Umstand nicht förderlich. Er läßt erahnen, daß die Staaten des universell-liberalen Welthandels - England und später auch die Vereinigten Staaten - notwendig zu den entschiedensten Vertretern eines universellen ISS So der englische Prisenrichter Lord Kenyon im Falle "Potts v. Bell". Vgl. Scott (Hrsg.), Cases, S. 626. 156 Gerade auch die jetzt im Herbst 1991 zum Teil noch andauernde Anwendung der Wirtschaftssanktionen gegen den Irak wegen der Annexion Kuwaits zeigt diesen Telos der politischen Willensbrechung durch Aushungerung eindrücklich. 157 Vgl. dazu auch unten B.III.2.d. (S. 398 ff.). 158 Freilich betrieben auch die anderen Mächte einen bedeutenden Handel. Anders wäre die Fixierung der " ...liberte de Ia navigation et du commerce... " im Utrechter Frieden von 1713 (vgl. Grewe [Hrsg.], Fontes Historiae Juris Gentium II, S. 223) nicht zu erklären. Die herausragende Rolle Englands dürfte aber unbestritten sein. Vgl. Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 475. 159 Vgl. Barere, La liberte des Mers ou Je Gouvernement anglais devoile, S. 64. 160 Vgl. Schmin, Staatliche Souveränität und freies Meer, S. 94. 161 So etwa im Falle Indiens und Kanadas. Solche "staatsfreien" Landnahmen waren für die englische Krone bequeme Mittel des "indirect rule". Bei den Vollstreckern dieser indirekten Herrschaft fanden sich nicht selten die selbstbewußtesten Kräfte eines aufstrebenden, individualistisch denkenden Bürgertums, die zunächst den Ideen des antidynastischen Puritanismus Cromwellscher Prägung und später kosmopolitisch-progressistischen Ideologemen verschiedenster Provenienz aufgeschlossen waren. Vgl. Schmin, a.a.O., S. 101-103.

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Völkerrechts werden mußten. Die Konzeption eines säkularisierten Vernunftrechts konnte dieser Entwicklung nur einen weiteren Ansehub vermitteln.

(2) Die Mutation des christlichen Naturrechts Durch die Spätscholastiker der Schule von Salamanca erhielt das spätere säkularisierte Naturrecht wichtige Anregungen, obwohl diese noch in der Tradition des vom aufgeklärten Vernunftrecht streng zu trennenden thomistischen jus naturale und damit des jus gentium des Mittelalters standen.162 Vitoria und Suarez und sogar der an ihnen geschulte Grotius sind geistig dem Mittelalter noch sehr nahe, wenn auch gerade der letztere als Scharnier zwischen mittelalterlichem und neuzeitlichem Denken verstanden werden kann.163 Der Denkweg der salamancesischen Völkerrechtstheologen kann noch als Versuch der Rettung der Idee der mittelalterlichenpax imperialis und der mit ihr verbundenen tranquilitas ordinis in die Neuzeit hinein gewertet werden. Daß gerade spanische Autoren diesen Versuch betrieben, kann unter Berücksichtigung der quasi-imperialen Weltmachtstellung Spaniens unter Karl V. und seinen Nachfolgern nicht verwundern. Freilich verkannten diese Theoretiker die grundsätzliche Bedeutung der Raumrevolution und die historische Dimension einer christianitas afflicta, die die Herausbildung der Nationalstaaten beförderte. Gerade die bis dahin vorherrschende feudale Herrschaftsstruktur erlitt im Gefolge der Entdeckung neuer Kontinente durch die Herausbildung eines vitalen Händlerstandes den Anfang ihres Endes. Der aufkommende Frühkapitalismus und seine Frühbourgeoisie begannen das ideelle und soziale Substrat der alten Ordnung zu zerbrechen. Das alte universale Naturrecht, welches die naturgegebene Unterwerfung des populus christianus unter die sakrale und weltliche Autorität von Kaiser und Papst gebot, war anachronistisch geworden. Aber selbst in seiner Agonie war es nie so universal, daß es die Unterscheidung zwischen Christen und Heiden vergessen hätte.164

Vitoria etwa gestand den nichtchristliehen Ureinwohner der neuen Welt in Anlehnung an Augustinus zwar eine Menschenqualität zu, " ...gentes licet

162 Vgl. Wieacker, Privatsrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 2&5 ff.; Soder, Idee der Völkergemeinschaft, S. 52 ff. und ders., Suarez, S. 220 ff. 163 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. ']2,7 f. 164 Vgl. Grewe, ZaöRV 36 (1982), S. 453 f.

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barbarae tarnen humanae ..." 165, hielt aber den diskriminierenden bel/um justum gegen sie für jederzeit möglich. Das ovidische, später von Hobbes aufgenommene homo hominis Iupus lehnte er ab, aber den bel/um subjugationis befürwortete er für den Fall, daß die Barbaren sich dem Gastrecht, der freien Mission und dem liberum commercium verschloßen oder antichristliehe Propaganda betrieben.166 Vitoria zeigte hier, wenn auch ohne Absicht, trotz seiner mittelalterlich-scholastischen Verankerung bereits ein gutes Gespür für die kommenden Dinge, indem er christliche Mission und Landnahme verbindet.167 Politisch-religiöser Universalismus verbindet sich mit dem Verständnis für die Bedürfnisse des sich anbahnenden Welthandels, obwohl es sicher unzutreffend ist, den von Vitoria verwandten Begriff des liherum commercium rein ökonomisch aufzufassen. Er ist zuvörderst Ausdruck einer sich aus der Landnahme ergebenden Libertät.168 Die Einbruchstelle für das völkerrechtliche Vernunftrecht dürfte aber an dieser Stelle zutreffend lokalisiert sein. Vitoria und seine Zeitgenossen waren keine Parteigänger eine• modernen fratemitas omnium hominum gentiumque im Schoße der reinen Vernunft.169 Sie waren mit ihrem Denken noch " ...in Jerusalem und Rom verortet." 170 Diese Theologen als Vorbereiter eines universellen Menschheitsrechts zu sehen, geht zu weit. 171 Bei Vitoria ist die justa causa eines Krieges im Grundsatz noch vollständig theologisiert. Gerecht ist der Kampf gegen den Nichtchristen. Das Völkerrechtskonzept der SVN steht diesem Denken in säkularisierter Form paradox nahe.

Die SVN erlaubt im Rahmen ihrer "Geschichtstheologie" (Friedensuniversalismus) gemäß Art. 39 ff. den Kampf gegen alle Nationen, die sich weigern, "peace-loving" zu sein.172 Die Verbreitung des "universal peace" ersetzt die christliche Mission. Art. 39 im Zusammenspiel mit Art. 2 Nr. 4 SVN gibt aber nur sehr vage Auskunft über das "Wie" des friedliebenden Verhaltens. Des Friedens Gehalt verbleibt gleichsam im Bereich quasitheologischer Deduktionen, die das "Konzil" der Großmächte (SR) selten zusammenführt, viel öfter aber auseinanderführt. Die Arbitrarität bei der Entscheidung über die Frage, was "friedliebend" und was "friedensstö165

VgiAugustinus, De Civitate Dei, I, 14 (S. 33). Vgl. Vitoria, De lndis, Sec. 111, 6 (S. 98 u. 100). 167 Vgl. dazu Truyol y Serra, Festschrift Verdross 1960, S. 273 ff. 168 Vgl. Schmitt, Nomos, S. 84. 169 Daß dieses aufgeklärte Denken später einen oft zweifelhaften Kolonialismus nicht hinderte, wird von seinen Parteigängern freilich gerne übersehen. Vgl. dazu Kesting, Herrschaft und Knechtschaft, S. 11 ff. 170 Schmitt, a.a.O., S. 84. 171 So aber z.B. Scott, The Spanish Origins of International Law, S. 283. Vgl. dazu auch Quaritsch, Staat und Souveränität, S. 103 ff. 172 Zum "revival" des bel/um justum in der SVN vgl., unten 8.11.3. (S. 354 ff.). 166

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rend" ist, kann jedenfalls angesichts der bisherigen Sicherheitspraxis der OVN nicht geleugnet werden Die Kehre vom christlich-universalen jus gentium des Mittelalters zum neuzeitlich-weltlichen völkerrechtlichen Universalismus erfolgte im 17. Jahrhundert. Im Gegensatz zu Thomas Hobbes, der im Gefolge seiner vorbehaltlosen Parteinahme für die absolute Souveränität des Fürsten oder des souveränen Staates den Frieden in den innerstaatlichen Bereich verlegte173 und eine völkerrechtlich-zwischenstaatliche Kriegsverhütung mit dem Kampfruf des bel/um omnium contra omnes verneine74, wenden sich im 17. und 18. Jahrhundert die Wertdenker (Leibniz, Wolf!, St. Pie"e, Rousseau, Kant, u.a.) eines sich zunehmend säkularisierenden Naturrechts der Idee einer auf einem postulierten transnationalen Gemeinschaftssinn beruhenden universellen Friedensvölkerrechtsordnung zu. Einige der bekanntesten und fruchtbringendsten völkerrechtlichen Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts (Zouch, Textor, Bynkershoek, Moser) passen sich in dieses Bild allerdings nicht ein. Sie anerkannten zwar klassischnaturrechtliche Erwägungen im Völkerrecht, setzten aber in erster Linie, wenn auch in verschiedener Nuancierung, auf die Berechenbarkeil und Vernunft der Verträge, also auf das positive Recht. Man hat diese Strömung eher unpräzise "positivistisch" genannt.175 Ihre Vertreter können keineswegs mit den radikalen Vertragspositivisten des 20. Jahrhunderts (Ke/sen u.a.) gleichgesetzt werden, die ein abstrahiertes, von historisch gewachsenen Wertungen losgelöstes Völkerrecht behaupten. Die Perspektive der sogenannten "Völkerrechtspositivisten" des 17. und 18. Jahrhunderts war vielmehr an den praktischen Problemen der Politik und der völkerrechtlichen Übung der Staaten orientiert; sie wollte eine abstrakte Darstellung des Völkerrechts als "Staatsroman" (Verdross) vermeiden. Man muß erwägen, diese Theoretiker wegen der eben skizzierten Perspektive und ihres Bekentnisses zum bel/um justurn a utraque parte aus der Entwicklungslinie eines Universalistischen Völker- und Kriegsverhütungsrechtes herauszunehmen. Sie können nicht umstandslos in die Reihe der Vordenker des Völkerbundes und der OVN gestellt werden, die den klassischen Souveränitätsbegriff mit der (Re-) Konstruktion eines diskriminierenden Kriegsbegriffs verließen.176

173 Sclunitt (Leviathan, S. 75) weist in diesem Zusammenhang auf das extra civitate nulla securitas von Hobbes hin. Der Staat absorbiert alle Rationalität und alle Legalität. Außerhalb

seiner herrscht der anarchische Natunustand. 174 Vgl. Münkler, Neue Politische Literatur 35 (1990), S. 297. 175 Verdross, Völkerrecht 1964, S. 105 f. 176 Vgl. dazu unten B.II.3. (S. 354 ff.).

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Es geht hier aber nicht um die Wiedergabe der universellen Friedensmodelle, die vom Mittelalter bis in die Neuzeit entstanden sind177, sondern um die spezifische geistige Haltung, die eine Abstraktion des Völkerrechtes vom tatsächlichen Handeln des souveränen Staates gestattete und so die theoretische Grundlage für eine in fine überstaatliche Kriegsverhütung schuf, die mehr als eine vom Freund-Feind-Schema bestimmte Allianz sein wollte und immer noch will. Gemeint ist hier die weltbildliehe Essenz einer Völkerrechtsauffassung, die im Anschluß an die Salamanceser Moraltheologen über Grotius in das die bürgerlichen Revolutionen vorbereitende Vernunftrechtsdenken einmündete, wobei vorsorglich anzumerken ist, daß von "wirklichen Vordenkern" des modernen universellen Völkersicherheitsrechts nicht gesprochen werden kann.178 Für die hier durchzuführende Überlegung ist Wolff der interessanteste Theoretiker eines rationalistischen, in nuce universellen Völkerrechts der Neuzeit.179 Bereits der Titel seines Hauptwerkes: Jus gentium methodo scientifica pertractatum, in quo jus scentium naturale ab eo, quod voluntarii, pactitii et consuetudinarii est, acurate distinguitur (1749), zeigt das Postulat eines staatenüberwölbenden Vernunftrechts, streng getrennt vom positiven Völkerrecht. Es ist gleichsam der staatlichen Sphäre entzogen. Die von Wolff dabei entwickelte civitas moxima181J ist interessanterweise vom demokratischen Prinzip bestimmt, da in ihr der Wille der Mehrheit ihrer Mitglieder gile81, was die civitas moxima vom monarchischen politischen Form177 Die Modelle der Podiebrad, Dubois, Cruce, Saint Pierre, Kant u.a. sind bei Schlochauer, Die Idee des ewigen Friedens, S. 9 ff. oderv. Raumer, Ewiger Friede, 1953, zusammenfassend beschrieben. 178 Grewe (Völkerrechtsgeschichte, S. 254) weist etwa die Inanspruchnahme von Grotius für die Idee des modernen Strafkrieges (Völkerbund, OVN) zu Recht zurück. Es handelt sich um bei Grotius u.a. völkerrechtlich-universalistische Strömungen und Wuneln, die im 20. Jahrhundert zwar wieder aufgegriffen werden, dabei aber umgedeutet werden müssen, denn der Universalismus des 17. und 18. Jahrhunderts ist anders als der des 20. Jahrhunderts nicht notwendig global, konnte es angesichtseiner im Vergleich zu heute noch nicht entwickelten Vernetzung der Welt nicht sein. Auch das universalistisch-säkulare Vernunftrecht der Neuzeit ist zunächst auf den Kreis der sog. zivilisierten europäischen Völker beschränkt. Freilich stehen diese universalistischen Grundsätze dann im 20. Jahrhundert zur global wirksamen Rezzytion bereit. Vgl. Grewe, a.a.O., S. 419. 1 Neben ihm stehen für diese Denkrichtung, abgesehen vom Mittler Grotius, unter anderen sein Lehrer Leibniz und der ihm nachfolgende Kant, die freilich strictu sensu nicht zur Völkerrechtslehre gezählt werden können. Vgl. dazu Schmitt, Nomos, S. 105. Wenn Grewe (a.a.O., S. 417) v. Martens und Vattel hier hinzunimmt, so übeneugt dies nicht ganz, da der naturrechtliche Rationalismus bei den Letztgenannten keinen universalisierenden Impetus hat. Zur StellungPufendolft vgl. Reibstein, Pufendorfs Völkerrechtslehre, ÖZöR 7 (1956), S. 68 ff. 18/J Vgl. Wolff, Jus gentium, Prologemena: §§ 7 - 22 und 25 (S. 3-8). 181 Vgl. Wolff, a.a.O. Prologemena: §§ 19 und 20 (S. 7).

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prinzip ihrer damaligen Mitgliedsstaaten deutlich abhebt. Da aber diese Mitglieder nicht zur genossenschaftlichen Beratung zusammentreten können, gilt nach Wolf! im Verkehr der Mitglieder untereinander dasjenige, was diese Mitglieder selbst als gerecht ansähen, sofern sie ihre Vernunft gebrauchten.182 An der Spitze dieser Ordnung eines imperium universale sive gentium steht der rector civitatis maximae, das Oberhaupt des "Völkerstaates". Dieser fiktive Führer der civitas maxima soll das Recht haben, durch rationale Deduktion zu bestimmen, was als Recht inter gentes zu gelten hat.183 Diese Konzeption einer über den Einzelstaaten stehenden Ordnung erinnert an die mechanisch-arithmetische Reinheit des hobbesianischen magnus homo, der den neuzeitlichen Staat symbolisiert.184 Hobbes hätte freilich dieses Bild für den zwischen- bzw. überstaatlichen Bereich nie akzeptiert. Jedoch hat die Wolfische Idee einer im Kern durchaus etatistisch aufzufassenden civitas maxima in nicht unbeträchtlichem Maße nachgewirkt. Sie hat in gewisser Weise im Aufbau der modernen internationalen Organisationen des 20. Jahrhunderts, besonders im Fall der OVN beziehungsweise der für sie maßgeblichen Charta ihre vorläufige normative Vollendung gefunden.1as Die OVN wird wie Wolffs civitas maxima von souveränen Staaten gebildet, vermittelt aber nach außen hin das Bild eines mit allen notwendigen Organen ausgestatten magnus homo universaUs (GV, SR, ECOSOC u.a.). In der Präambel und in Art. 1 SVN werden zum Beispiel, dem Grundrechtsteil einer westlich-liberalen Verfassung physiognomisch nicht unähnlich186, entsprechende abstrakte menschheitlebe Völkerrechte postuliert, wobei diese freilich angesichts ihrer überwiegenden Nichtbefolgung respektive unterschiedlichen Handhabung in den meisten Mitgliedsstaaten kaum als Bestandteil eines autonomen ordo supra nationes betrachtet werden. Die in der SVN mitschwingende Idee steht aber der Geisteswelt Wolffs nicht fern. Es handelt sich um die Vorstellung einer schon bei Wolf! säkularisierten Utopia der universellen Gerechtigkeit, in der der einzelne souveräne Staat mit seinen partikularen Interessen als letztlich störend empfunden wird.187 Freilich weist die SVN in dieser Hinsicht wegen des neben den abstrakten menscheitsrechtlichen Grundsätzen gleichermaßen eingefügten und im Vergleich zu diesen allseits stärker beachteten Prinzips der "sove182 Vgl. Wolff, a.a.O., Prologemena: § 20 (S. 1), dort: Pro voluntate omnium gentium habendum, in quod consentire debent, si ductum naturae secutae ratione recte utantur. 183 Vgl. Wolff, a.a.O., Prologemena: § 21 (S.7) 184 Vgl. dazu Schmin, Leviathan, S. 47 ff. l&S Für den Völkerbund so ausdrücklich Nippold, in: Einleitung zu Wolff, Jus gentium, ReErint Oxford/London 1934. 86 In diesem Sinne auch Wolfrum, in: Simma: ChVN, Präambel Rz. 2. 187 Vgl. dazu lanssen, Friede, in: Historische Grundbegriffe Bd. 2, S. 561 f.

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reign equality" (Vgl. Art. 2 Nr. 1 und Nr. 7 SVN) eine unlösbare Antinomie zwischen Welt- und Staatenrecht auf.

Wolf! mag mit der Konstruktion einer demokratisch verfaßten civitas maxima den Versuch unternommen haben, sich aus der für ihn wohl bedrückenden Realität der dynastischen Ordnung und der damit verbundenen Kleinstaaterei "herauszudenken".188 Die Universalistischen Konstrukteure der OVN mögen von ähnlichen Beweggründen geleitet gewesen sein, als sie versuchten, die Welt aus der nicht selten tristen Realität der Staatenkriege herauszuführen.1119 Wie aber konnte dieser vemunftrechtlich-universalistische Vorbehalt gegen die Rationalität der einzelnen pluriform existierenden und wirkenden souveränen Staaten entstehen? In welcher geistig-politischen Befindlichkeit dachten die bekannten und unbekannten "Vordenker" eines universellen Völkerrechts? Schmitt gibt in seinem Werk "Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes" einen wichtigen Hinweis. Zum souveränen Staat der Neuzeit und seiner von Anfang an einsetzenden Aushöhlung durch indirekte, nichtstaatsbezogene Gewalten merkt er an, daß " ... der Leviathan (sc. der Staat als Phänotyp) 190 im Staat des absoluten Fürsten zwar seine außerlieh höchste Verwirklichung gefunden, zugleich aber sein Schicksal in diesem Zeitabschnitt dadurch vollendet... (sc. hat) 19\ daß sich die Unterscheidung zwischen innen und außen (sc. im Umgang des Staates mit seinen Rechtsunterworfenen)192 durchsetzt." 193 Die sich seit dem Mittelalter durchsetzende Trennung von Glaube und Bekenntnis (fides und confessio)194 , das heißt die Sprengung der Einheit von Sakralität und politischer Macht schuf Platz für den inneren Vorbehalt der subjecti gegenüber dem Staat.195 Der Staat mag den Gehorsam seiner Rechtsunterworfenen erhalten haben, metajuristisch vermochte er seine Rechtsunterworfenen nicht zu binden. Hier entsteht 188 Vgl. dazu Wieacker, Privatrechtgeschichte, S. 318, der Wolffs nicht immer unproblematische Beziehung zur preußischen Krone beschreibt. 1119 Dabei ist freilich zu beachten, daß die bei der Redaktion der Charta federführenden Amerikaner die Interessen ihrer eigenen Souveränität durch die Schaffung einer sie einschließenden "Völkerrechtsaristokratie" (ständige Mitgliedschaft im SR, Veto-Recht) des Art. 23 Nr. 1 der SVN zu wahren wußten. Dies war für die amerikanischen Vordenker der Charta kein Widerspruch zur im übrigen akzeptierten "souveränen Gleichheit" (Art. 2 Nr.l SVN), da die Vereinigten Staaten für sie bereits ein Teil der zu schaffenden civitas maxima verkörperte, in die die anderen "rückschrittlichen" Staaten einzutreten hatten. 190 Anm. des Verf. 191 Anm. des Verf. 192 Anm. des Verf. 193 Schmitt, Leviathan, S. 79. 194 Vgl. Schmitt, a.a.O., S. 85. 195 Es sei an die oft mißverstandene lutherische Wendung von der inneren "Freiheit des Christenmenschen" erinnert.

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Platz für politische Mentalreservationen, denn die äußere Ordnung des vom souveränen Fürsten geführten Staates bewirkte nicht denknotwendig die subjektive Unterordnung seiner Rechtsunterworfenen unter die politische Idee des Staates. In diese Nische eines staatsfreien Vorbehalts drängen zwei bedeutsame subjektive Komponenten bei der Herausbildung der modernen bürgerlichindividualistisch bestimmten Weltordnung. Zum einen wird die Last der dynastischen Alleinherrschaft von der politisch bedeutsam werdenden Bourgeoisie als zu schwer empfunden; zum anderen aber bleibt die Sehnsucht nach einer universalen tranquilitas omnis humanitatis, die den als friedlich vorausgesetzten liberum commercium und die libera mercatura des aufgeklärten Bürgers weltweit schützen soll. Aus dem kollektiven Universalismus des im christlich-mittelalterlichen ordo verwurzelten jus gentium wurde ein individualistisch-überstaatlicher Universalismus, der die Entwicklung eines in fine nicht staatsgebundenen Menschheits- beziehungsweise Völkerrechts nahelegte. In einer Zeit, wo der Glaube an eine solche antidynastische neue Welt, außer in einigen abgelegenen Winkeln Neuenglands, noch nicht der Materialisierung seiner Prinzipien fähig war196, findet er sich eben in den unterschiedlichsten utopisch-vernunftrechtlichen Friedenskonzeptionen des Sieeie des Lumieres wieder. Auch die SVN - vergleiche die Präambel und Artikell SVN - atmetetwas vom säkularisierten Glauben des frühen Universalistischen Völkervernunftrechts. Ganz unabhängig von einer grundsätzlichen Bewertung des civitas-marima-Gedankens muß bei rechtsrealistischer Betrachtung freilich festgestellt werden, daß dem in der Charta verankerten Glauben an eine staatenüberwölbende Menschheitsgemeinschaft das durch die Staatenpraxis zu aktualisierende Friedensbekenntnis bis heute überwiegend fehlt. In Umkehrung des oben angesprochenen, auf den Staat bezogenen Befund Schmitts kann man formulieren, daß die magna machina iuris gentium der OVN nicht an einem Mangel an normierter fides (Glauben) scheitere97, sondern an einem Mangel an confessio (Bekenntnis) ihrer Mitglieder. Gerade im Bereich einer universell konzipierten Kriegsverhütung läßt sich der bis heute - in säkularisierter Form - geltende Satz cuius regio eius religio nicht in ein cuius religio eius regio verdrehen, denn der Anspruch auf universale Kriegsverhütung erscheint in seiner in der Charta formulierten Form angesichts der ineffektiven Sicherheitspraxis des SR - der folgende, nicht despektierlich gemeinte Vergleich sei gestattet - allenfalls wie eine Vgl. dazu unten A.II.2.b.(3) (S. 255 ff.). Die Organisationsfides der OVN wird ja allfallig deklamiert. Man denke nur an die "Friendly-Relations-Resolution" der GV aus dem Jahre 1970. 196 197

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okkasionell auszulegende und anzuwendende religio. Ein kontinuierlicher, für den Sanktionseinsatz (Art. 39 ff. SVN) legitimitätsspendender Friedensgemeinwille ist jedenfalls, wie bereits mehrfach angedeutet, nicht festzustellen.198 Es erübrigt sich, andere universalistische Denker des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts zu erörtern. Kant entwickelte mit seiner Idee vom "ewigen Frieden" keine neuen Aspekte, ahnte aber, daß sein Konzept utopisch ist.199 Vattel, Wolffs Schüler, bewahrte Universalistische Züge, gab aber die Idee der pseudoimperialen civitas maxima aufOO und spricht von der "Societe des Nations"20\ der Staatengesellschaft. Sein Realismus machte ihn bei den Praktikern des jus publicum europaeum zu einem vielgelesenen und beachteten Autor.202 Die Französische Revolution führt hingegen die universalistisch-menschheitsrechtliche Konzeption fort203, ja führt sie als Legtimitätsprinzip für ihren auch nach außen expansiven Charakter in die praktische Politik ein, indem sie versucht, auf europäischer Ebene ihrem antidynastischem Glauben an die reine Vernunft204 das notwendige Bekenntnis der Völker hinzuzufügen; zunächst in Frankreich mit dem monströsen Blutgerüst der Guillotine, sodann in Europa mit dem Einsatz ihrer Revolutionsarmeen.205 Der sich an Hege/ orientierende völkerrechtliche Individualismus des 19. Jahrhunderts206 war der auf die Französische Revolution erfolgende restaurative Gegenschlag des Pendels, welcher das klassische Völkerrecht bis 1919 bewahrte. Der sich in der Französischen Revolution konkretisierende kontinental-europäische vernunftrechtliche Universalismus war freilich nur ein bestimmender Faktor der Entwicklung des mo198 Zum Legitimitätsproblem zwischen- oder überstaatlicher Gewaltanwendung vgl. auch unten C. (S. 411 ff.). 199 Vgl.Janssen, Friede, in: Historische Grundbegriffe Bd. 2, S. 576 ff. 200 Vgl. Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 419. 201 Vattel, Droit des Gens, Einleitung § 12. Der Begriff wird in der französischen Bezeichnu'j des Völkerbundes wieder aufgenommen. 2 Vgl. Schmitt, Nomos, S. 139 f. 203 Der Revolutionär Cloots forderte, die Staatenföderation St. Pierres übe!Windend, "La Ret!blique universelle". Vgl. JUmminich, Friede, ewiger, in: HWPh Bd. 2, Sp. 1118. Man darf hier an Robbespierre erinnern, der den Versuch unternahm, aus den revolutionären Ideen eine neue Religion des "Tempels der reinen Vernunft" zu machen. 205 Der bedeutsamste bis heute fortwirkende Beitrag der Französischen Revolution zum Völkerrecht ist die Einführung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, das die Nation als Sinnbild der Volkssouveränität auf den Plan ruft, welches aber anschließend durch den "Nachlaßverwalter" der Französischen Revolution, Napoleon Bonapane, in Europa eine ständige Verletzung erfuhr. Der Begriff "Nachlaßverwalter" dürfte hier berechtigt sein, da sich mit Napoleon Bonapane das zuvörderst auf den freien Handel ausgerichtete gemäßigte Bürgertum gegenüber dem Jakobinismus durchsetzte. Zur Bedeutung der Französischen Revolution für die Kriminalisierung des Angriffskrieges. Vgl. auch unten B.II.2.b. (S. 319 ff.). 206 Vgl. Verdross/Simma, Völkerrecht, S.15 f. m.w.N.

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derneo universellen Völkerrechts. Von ebenso großer, wenn nicht größerer Bedeutung ist, wie bereits angedeutet, der sich im politischen und kulturellen Wirkungskreis der angelsächsischen Seemächte entwickelnde spezifisch maritim geprägte Völkerrechtsuniversalismus.

(3) Der angelsächsische Universalismus der Neuzeit Das angelsächsische Völkerrechtsverständnis, besonders in seiner nordamerikanischen Ausprägung, welches bei der Errichtung der großen internationalen Organisationen des 20. Jahrhunderts (VB und OVN) und für deren Selbstverständnis von großer Bedeutung war und ist, fand seinen Ausgangspunkt in der angelsächsischen Seenahme207 und in der sich anschließenden Landnahme auf dem nordamerikanischen Halbkontinent, wobei die englische und die nordamerikanische Variante nach der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten eine unterschiedliche Entwicklung durchlaufen.208 Das angelsächsische Völkerrechtsverständnis kann man als westlich-maritimes Völkerrechtsverständnis bezeichnen.209 Die raumhafte Verortung dieses Völkerrechtsdenkens, besonders des nordamerikanischen, spiegelt sich im Begriff der "westlichen Hemisphäre" wieder. 210 Dieser Begriff darf folgerichtig nicht nur als geographische Eingrenzung dieses Denkens gedeutet werden, sondern muß als politischer Begriff des 19. und 20. Jahrhunderts betrachtet werden, dem ein bestimmtes Welt- und Rechtsverständnis zugrunde liegt. Einleitend kann man sagen, daß etwa für die bis heute die westliche Staatengesellschaft bestimmende nordamerikanische Welt die enge Verbindung zwischen Religion, Moral und Politik und Recht charakteristisch ist.211 Diese Feststellung gründet in der religiösen Zusammensetzung der britischen Siedler des 16., 17. und 18. Jahrhunderts in Neu207

Vgl. Schmitt, Land und Meer, S. 45 ff. u. 51 ff.

208 Zum nordamerikanischen Völkerrechtsverständnis vgl. die vorzügliche Darstellung

von Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin in den Vereinigten Staaten, 1967. 209 "Westlich-maritim" bildet hier den Gegenbegriff zu "kontinental-europäisch". Die Strahlkraft des westlich-maritimen Völkerrechtsverständnisses wurde besonders nach dem amerikanischen Eintritt in die siegreiche Entente Cordiale des Ersten Weltkrieges stärker. Die kontinentale "Mitteleuropa-ldee" konnte nach der Niederlage der "Mittelmächte" keinen relevanten Einfluß mehr auf die völkerrechtspolitische Entwicklung nehmen. 210 Zum Begriff der "westlichen Hemisphäre" vgl. Schmitt, Nomos, S. 54 ff., bes. S. 68 f. oder auch Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 292 u. S. 537 f. 211 Vgl. Bums, The American ldea of Mission, S. 213 ff. Verschiedentlich wird sogar darauf hingewiesen, daß das religiöse Verständnis der politischen Klasse Nordamerikas als "...an indispensible clue to what America is like..." angesehen werden kann. Vgl. dazu Miller, American Religion and American Political Attitudes, in: Smith/Jamison (Hrsg.), Religion in American Life, S. 81 ff., hier S. 83.

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england, die in der späteren politischen Klasse der Vereinigten Staaten eine beherrschende Rolle spielen sollten. Die geistige Prägung dieser Siedler sollte sich folgerichtig auch in der anglo-amerikanischen Völkerrechtsauffassung widerspiegeln. Die ersten Kolonisten in Neuengland waren radikale Protestanten verschiedenster Couleur, die der Einfachheit halber als "Puritaner" bezeichnet werden sollen.212 Diese flohen, ausgestattet mit einem stark antidynastischen Affekt, aus der englischen Heimat, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts von der katholischen Renaissance geprägt wurde. Aber auch nach dem endgültigen Ende der Stuarts auf der heimatlichen Insel setzte sich diese Tendenz in Abgrenzung zur königstreuen anglikanischen Hochkirche fore13• Diese Siedler entzogen sich der Kontrolle des aufkommenden, in England stets umkämpften souveränen Staates, dem man mit Mißtrauen gegenüberstand. Man empfand sich nicht als vom König entsandt, sondern als "Soldiers of Christ" oder "Troups of Christ".214 Dieser puritanische Protestantismus erzeugte auch die bedeutsame Verbindung des amerikanischen politischen Denkens zum Moralismus, der später auch für das amerikaDisehe Völkerrechtsdenken - man denke an die Stimson-Doktrin bestimmend werden sollte. Bezeichnend hierfür mag ein Zitat aus der "Vindication" des J. Wise von 1717 sein, das gleichzeitig auch den für Nordamerika typischen Übergang zu einem gemäßigt-aufgeklärten Naturrecht illustriert. Der Mensch ist danach " ... Subject of the law of Nature ... Reason is Congenate with his nature, wherein by a Law Immutable Instampt upon his frame, God has provided A Rule for Men in all their Actions, obliging each one to the Performanceofthat which is Right not only as to Justice, but like wise as to all other Moral Virtues, the which is nothing but the Dictate of Right Reason founded in the Soul of Men...".215 212 Der Begriff des Puritanismus ist hier weit aufzufassen und bezieht sich hier nicht nur auf die eigentlichen Puritaner, sondern auch auf Calvinisten, Quäker, Pietisten etc. Vgl. dazu Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin, S. 30 FN 1. 213 Vgl. Krakau, a.a.O., S. 30 ff. 214 So der amerikanische Priester und Historiker Johnson im 17. Jahrhundert; Zit. nach Milley~ohnson, The Puritans, S. 146 ff. u. 160 ff. 21 Die "Vindication of the Govemment of New England Churches" von 1717 - z.T. abgedruckt bei Welzel, Festschrift Smend 1952, S. 393 ff. - beruht auf einem gemäßigten christlich-rationalistischen Naturrecht und reflektiert die aus ihm abgeleiteten natürlichen Freiheiten. Sie kann als "The first formulation of secular republicanism" betrachtet werden. Nur die demokratisch-republikanische Regierun~P>form entsprach danach dem "Right of Nature", denn nur sie berücksichtigte die "natürliche Gleichheit der Menschen", während unter anderen Staatsformen durch den Akt der Unterwerfung der Freie zum Sklaven wurde. Vgl. dazu Schneider, The Puritan Mind, S. 96. Wüßte man nicht, daß die oben zitierte Sentenz der "Vindication" im 18. Jahrhundert geschrieben wurde, so könnte man sie als Einleitun~tz in einer beliebigen Antrittsrede eines amerikanischen Präsidenten vermuten.

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Zum Moralismus stieß das puritanisch-calvinistische Erfolgsethos, das im "Streben nach Erfolg, Reichtum und Glück", so verankert in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4.7.1776, seinen prägnanten Ausdruck fmdet. 216 Der diesem Denken zugrundeliegende "Dynamismus" beziehungsweise ,,Aktivismus"217, der bis heute Begleitmoment der auf ökonomischer Prosperität beruhenden politischen Strategie der Vereinigten Staaten ist, äußerte sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts völkerrechtspolitisch im "doing good to others"218, wobei die ,,Anderen" (sc. Staaten und Völker) selten gefragt wurden, ob sie dieses Tun als Beförderung ihrer eigenen Wohlfahrt empfanden. Auf den skizzierten weltanschaulichen Grundlagen beruhte auch der offensive amerikaDisehe Demokratismus219, der aus der bewußten Abkehr vom monarchischen Europa sein vitales Geltungsstreben schöpfte. Der Begriff der "Neuen Welt" erlangte so eine besondere Ambiguität. Nicht nur geographisch, sondern auch politisch entstand eine neue Welt, die das Paradies des christlichen Gottes in einem demokratisch geprägten irdischen Raum, frei von den Sünden des für die Puritaner babylonischen Europas, vorwegnehmen sollte.220 Diese politisch-geistige Grundbefmdlichkeit bewirkte bei den politischen Entscheidungsträgern Nordamerikas ein seltsames Raumverständnis, welches den oft kritisierten Paninterventionismus der Vereinigten Staaten jenseits seiner machtpolitischen Implikationen verständlich macht. Ein fest abgegrenzter politischer Raum, wie er dem klassisch gewordenen souveränen Staat Europas eigen ist, war dem nordamerikanischen Denken zunächst fremd. 221 Aus der Sicht der amerikanischen Siedlungsbewegung war alles zur Landnahme bereitstehende Territorium "Gottesacker", zu dessen Bearbeitung die Amerikaner sich beauftragt wähnten. Der gesamte Siedlungsraum war Schauplatz der Verwirklichung des puritanisch-aufklärerischen Menschenrechtsprinzips und seiner notwendig demokratischen politischen Form, wobei freilich die autochtone indianische Bevölkerung hiervon ausgeschlossen blieb. Die Landnahme war auch hier, wie bei den Briten, nicht selten zunächst Privatangelegenheit Die Armee, das heißt der Staat, folgte dem Siedler, nicht umgekehrt. Das öffentlich-rechtliche Regime wurde als häufig lästige Beschränkung empfunden und nur zur

216 Vgl. Rock, Dokumente der amerikanischen Demokratie, S. 102 ff. Vgl. auch die Präambel der amerikanischen Verfassung; abgedruckt z.B. in Currie, Die Verfassung der Vereinigten Staaten, 1988. 217 Vgl. Niebuhr, The lrony of American History, S. 52. 218 Vgl. Kralwu, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin, S. 59. 219 Vgl. Kralwu, a.a.O., S. 68 ff. 220 Vgl. Kralwu, a.a.O., S. 103 ff. 221 Vgl. Kralwu, a.a.O., S. 158 f. 17 Menk

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Aufrechterhaltung eines Mindestmaßes an "law and order" geduldet.222 Raumüberlegungen im Sinne einer territorialen Abgrenzung spielten nur insoweit eine Rolle, als sie als ,,Auserwähltheitslinien"223 das amerikanische Volk gegenüber den alten dynastischen souveränen Staaten Europas politisch-völkerrechtlich abgrenzen sollten. Raumgrenzen hatten und haben nach diesem Verständnis nur einen nach außen wirkenden defensiv-interventionsabwehrenden Charakter. Sie begrenzen aber nicht das eigene völkerrechtlich relevante Eingreifen in der übrigen Welt. Es galt und gilt vielmehr der Grundsatz: "We shall point to the Pax Americana and seek the path to peace on earth to men of good will".224 Der in diesen Kontext gehörende demokratisch unterlegte "Frontier-Gedanke" der amerikanischen Siedlungsgeschichte beschränkte sich zwar bis zur Konsolidierung der Vereinigten Staaten in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf den nordamerikanischen Halbkontinent225, greift aber dann auf die gesamte "westliche Hemisphäre" über und führt schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer weltumfassenden Interventionspolitik.226 Völkerrechtlich relevante Auswirkungen dieses Welt- und Politikverständnisses waren und sind die Monroe-Doctrine von 1823, die sogenannte Open door-Doctrine und die Stimson-Doctrine.zn Gerade die Stimson-Doktrin228, die Lehre von der Nichtanerkennung völkerrechtswidriger Eroberungen, für die zum Teil der Status eines universellen Gesetzes reklamiert wird229, macht den politischen Moralismus der anglo-amerikanischen Völkerrechtsdoktrin deutlich.230 Die Moral wird im westlich-amerikanischen Völkerrecht dann auch folgerichtig als normatives Prinzip betrachtet.231 Aus einem solchen Völkerrechtsverständnis, welches starke geschichtsphilosophische Züge trägt232, ergeben sich wichtige Konsequenzen. Der offensive Demokratismus prägt besonders das in der SVN enthaltene

Vgl. Krakau, a.a.O., S. 159 f. Vgl. dazu Schmitt, Nomos, S. 264 f. 224 Vgl. Bracher, ZfPol NF 2 (1955), S. 228 ff. 225 Vgl. Bracher, a.a.O. 226 Vgl. Kesting, Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg, S. 107 und Ulmen, Telos 72 (1~, s. 55 ff. Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin, S. 274 ff. 228 Vgl. Meng, Stimson-Doctrine, in: EPIL 4, S. 230 ff. m.w.N. 229 Vgl. Wrighl, Pacific Affairs 8 (1935), S. 440. 230 Zur Stimson-Doctrine als "moral disapproval" und "moral pressure" vgl. Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin, S. 294 ff. 231 Vgl. Mahnke, Völkerrechtsgemeinschaft, S. 53 mit Hinweis auf Yepes, RdC 71 (1947 II), S. 241. 232 Zur amerikanischen Geschichtsphilosophie vgl. Kesting, Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg, S. 104 u. 219 ff. 222

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gemischt material-formale Friedensverständnis.m Der Frieden ist ganz im Sinne des oben beschriebenen Sendungsbewußtseins eine weltweite, nicht an bestimmte Räume gebundene Angelegenheit. Eine weltweite Intervention zum Schutz des universalen Friedens ist danach durchaus zulässig. Gerade der letzte Gedanke hat sich im universellen Sicherheitskonzept der OVN durchgesetzt. Freilich fanden sich ähnliche Ideen auch in Europa. Die Kraft zur spürbaren Durchwirkung des Völkerrechtsverständnisses erlangten diese Ideen allerdings erst durch das machtpolitische Erstarken der Vereinigten Staaten, wobei zu beachten ist, daß die geistigen Verbindungen des amerikanischen Kontinents zu Europa, besonders zur Französischen Revolution, nie abgerissen waren.234 Die für dieses anglo-amerikanische Völkerrechtsdenken kennzeichnenden Merkmale eines abstrakten Moralismus und Individualismus haben zur Auflösung der oben beschriebenen Friedensordnung des jus publicum europaeum entscheidend beigetragen.23S Die britische Variante des angelsächsisch-universalistischen Völkerrechtsdenkens hat eine andere Entwicklung genommen. Sie war weniger ideologisch und von religiösem Eifer überhaupt nicht geprägt. Das englische Völkerrechtsdenken war trotz seiner maritimen Ausrichtung grundsätzlich stets offen für kontinental-europäische Einflüsse. Diese Ausgangslage ergab sich aus dem notwendig zwiespältigen Politikverständnis des englischen Staates im 18. und 19. Jahrhundert Nach der Raumrevolution des 16. Jahrhunderts und der damit verbundenen Orientierung Englands zur See hin, kam seiner insularen Existenz vor allem seit dem späten 17. Jahrhundert - eine spezifische Bedeutung für seine Stellung im europäischen Völkerrechtsgefüge zu.236 Einerseits waren die Bindungen an den christlich-europäischen Kontinent noch sehr eng, andererseits bestand für den die libera-mercatura favorisierenden englischen Staat die Notwendigkeit einer zur Isolation neigenden Distanzierung von den europäischen Konflikten, die nur noch in dem Maße Englands Interesse erheischen konnten, wie sie seine Welthandelspolitik hätten stören können. Vor diesem Hintergrund ist die eigentümliche, spezifisch englische Politik der "balance of powers" zu erklären, die mit wechselnden Allianzen auf Herstellung und Bewahrung einer ständigen Rivalität der kontinentalen Staaten untereinander abzielte. Soweit England es vermochte, die anderen europäischen Mächte auf dem Kontinent zu binden, war es auf den Meeren allein und frei. Es ist zwar richtig, daß diese Politik in vollem Umfang erst Vgl. oben 1. Teil: A.l.1.b. (S. 21 ff.). Vgl. Schmitt, Nomos, S. 264. 23S Zum amerikanischen Rechtsdenken vgl. Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin, S. 249 ff. 236 Vgl. Schmitt, Nomos, S. 104 ff. 233 234

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mit der berühmten Canningschen Rede von 1826 einsetzte, die Wurzeln dieser Politik sind aber bereits in seinem europäischen Engangement im 18. Jahrhundert angelegt, in dessen Verlauf England in wechselnden Koalitionen an Erbfolge- und Territorialkriegen teilnahm.237 Parallel zur Entwicklung einer spezifisch insularen Politik - vielleicht sogar in Abhängigkeit hierzu - konnte sich der Absolutismus in England nicht durchsetzen. Cromwell und schließlich die Oranier setzten allen Versuchen der Stuarts, absolute Souveräne zu werden, ein Ende. An die Stelle des princeps absolutus rückte vielmehr ein ständisch-konstitutionelles System238 mit einem zunächst noch aristokratisch geprägten Parlament und örtlicher bürgerlicher Selbstverwaltung.239 Der bürgerliche Händler, in ökonomischen Fragen relativ frei von herrschaftlicher Bevormundung, forcierte die Politik des freien Welthandels. Die Politik der maritim bestimmten "balance of powers" und das sich vergleichsweise früh anbahnende konstitutionelle System im englischen Staatsautbau figurieren als die beiden Hauptwurzeln des englisch-universalen Denkens, die in der Entwicklung eines maritim-universalen Wirtschaftsstaates, wie er im 19. Jahrhundert zur Blüte gelangte240, ihre Konkretisierung fanden. Allerdings kann für die Zeit des 17. und 18. Jahrhundert von einem bewußt empfundenen Völkerrechtsdualismus (maritimes versus kontinentales Völkerrecht) noch keine Rede sein. Die englischen Besonderheiten in der Seekriegsführung wurden als partikulär empfunden, nicht aber als eine Bedrohung für das noch gemeinsame jus publicum europaeum, obwohl in diesen "Besonderheiten" die Keimzelle der englischen Sonderentwicklung des Kriegsvölkerrechts angelegt wurde.241 Es lag dabei ganz im Wesen einer handelsorientierten, von utilitaristischem Denken geprägten Gesellschaft, daß sie im Gegensatz zu den neuenglischen Siedlern Nordamerikas im Völkerrecht von Anfang an auf einen übertriebenen Moralismus verzichtete und diesen besonders seit dem 19. Jahrhundert durch einen allgemeinen Zivilisations- und Fortschrittsgedanken (als bedeutsame Promotoren desselben sind zu nennen: Comte, Guizot, Mi/1, Spencer) substitu-

737 Dabei gelang es E ngland, z.B. Frankreich aus den wichtigen Kolonialgebieten Indien und Kanada zu verdrängen. 238 Vgl. Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 370. 239 Daß in einem solchen Klima die nachhobbesianischen Gesellschaftstheoretiker (Locke, Hume u.a.) besonders gut gediehen, kann nicht verwundern. Vgl. dazu Berber, Staatsideal, S. 216 ff., bes. S. 243 ff. 240 Vgl. Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 501 ff. 241 Vgl. Grewe, a.a.O., S. 374.

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ierte2A2, indem ein allgemeines europäisches Kulturbewußtsein mit dem Entwicklungsgedanken des aufkommenden Industrialismus verbunden wurde.2A3 Ein universelles Völkerrecht mußte als Konsequenz einer solchen Geisteshaltung und der daraus abgeleiteten Politik folgen.244

(4) Die Ouvertüre des "Welt(völker)rechts"

Am Ende dieses Abschnitts verbleibt die Frage, wann exakt die Ouvertüre einer global verstandenen Universalisierung des Völkerrechts einsetzte. Dieser Zeitpunkt ist umstritten.2AS Grewe läßt diesen Prozeß im frühen 19. Jahrhundert nach dem Ende der Napoleonischen Kriege beginnen.246 Truyol y Se"a ftxiert den Beginn der Universalierung an den Zeitpunkt des Eintritts des ottomanischen Reiches in das europäische Konzert.2A7 Schmitt schließlich setzt den Zeitpunkt des Beginns eines universellen Völkerrechtes an das Ende des 19. Jahrhunderts, genau in das Jahr 1890, in dem Bismarck die Bühne der Weltpolitik verließ.2A8 Wenn man mit Schmitt die Aufgabe des Völkerrechts zuvörderst in der Schaffung und Bewahrung einer zum Friedenserhalt tauglichen Raumordnung sieht249, dann ist der von ihm gewählte Zeitpunkt nicht falsch, da es Bismarck auf der Kongo-Konferenz zu Berlin 1885 ein letztes Mal gelang, eine europazentrische völkerrechtliche Raumordnung (sc. der kolonialen Territorien) ohne Krieg auf der Grundlage der "europäischen Hausgenossenschaft" souveräner Staaten und Fürsten herbeizuführen.250 Daß Bis2AZ Bereits Bentham widmete in seinen "Principles of International Law'' seine völkerrechtlichen Überlegungen dem "Wohl aller zivilisierten Staaten, besonders dem von England und Frankreich". 2A3 Eine gelungene Darstellung dieses :leitgeistes im 19. Jahrhundert bietet Kesting, Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg, S. 32 ff. Vgl. auch Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 520 ff. Ein Widerschein dieses Fortschrittsdenkens läßt sich noch in Art. 38 Nr. 1 c des lOH-Statuts erkennen, in dem von "civilized nations" die Rede ist. 244 Vgl. Schmitt, Großraumordnung, S. 23 f. 2A5 Auf die bereits zurückgewiesene Ansicht, daß das europäische Völkerrecht seit jeher universalistisch gewesen sei - so etwa Alexandrowicz, BYIL 37 (1961), S. 506 ff. - soll hier nicht mehr eingegangen werden. 246 Vgl. Grewe, ZaöRV 42 (1982), S. 472 ff und ders., Völkerrechtsgeschichte, S. 541 ff. 2A7 Vgl. Truyol y Serra, Weltstaatengesellschaft, S. 64 f. 2A8 Vgl. Schmia, Deutsche Rechtswissenschaft 5 (1940), S. 267 ff. und ders., Nomos, S. 200 ff. 2A9 Schmitt, Nomos, S. 157 250 In diesem Sinne bereits 1927 Goebel, Falkland lslands, S. 172, der darauf hinweist, daß Bismarck der letzte Staatsmann gewesen sei, "who seems to have been concious of the old

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marck dabei schon nicht mehr europazentrisch gedacht habe, weil er die

Hinzuziehung der Vereinigten Staaten zur Konferenz betrieb und den Wunsch nach einem "Iien de solidarite entre les nations civilisees" äußerte, überzeugt nur wenig.251 Er dürfte vielmehr an eine Einbindung der Vereinigten Staaten als eine im Erstarken begriffene Garantiemacht gedacht haben, welche die englische Seemacht eindämmen sollte, nicht aber an die Sprengung des europazentrischen Völkerrechts. Bismarck war vor allem Politiker; ihm dürfte die subtile Unterscheidung zwischen einem kontinental-europazentrischen und einem maritim-universellen Völkerrecht wohl unbekannt gewesen sein. Die Auffassung Grewes - Truyol y Se"as Vorschlag wirkt etwas konstruiert - ist demgegenüber aber keineswegs ohne Erkenntniswert Die ideengeschichtlichen Wurzeln des universellen Völkerrechts sind, wie gezeigt, viel früher als 1890 anzusetzen, und England hat im Anschluß an das Startsignal der Französischen Revolution, wenn auch mit anderen Legitimitätsvorstellungen, die Universalisierung des Völkerrechts im globalen Maßstab seit 1815 mit seiner ökonomisch fundierten globalen Landnahme politisch initüert. Die hier vorgestellten Auffassungen sind auch keineswegs miteinander unvereinbar, sondern sie beschreiben ein und denselben Prozeß aus jeweils unterschiedlicher Perspektive. In der Tat war die Auflösung des jus publicum europaeum ein prozesshartes Geschehen, welches 1789 einsetzte und nach 1890 im 20. Jahrhundert seinen Abschluß fmden sollte.252 In diesem Prozeß fand auch der einzige Versuch zur Schaffung eines Sicherheitssystems auf dem Boden des klassischen europäischen Völkerrechts statt, die Heilige Allianz von 1815253, der freilich mit dem Sturz der Bourbonen in Frankreich 1830 ein schnelles Ende nahm.254 Nach 1890 bereitete sich der Boden für die Epochenkämpfe des Weltbürgerkriegs des 20. Jahrhunderts, der das jus publicum europaeum endgültig zerstörte. public law of Europe, and with bis retirement the last possibility of the old system disappeared". 251 So aber Grewe, ZaöRV 42 (1982), S. 474 mit Hinweis auf v. Martens, Revue de droit international et de legislation comparee 17 (1886), S. 248, der meint, daß die Hinzuziehung der Vereinigten Staaten ,.a cause du desir de l'AIIemagne d'imprimer aux decisions de Ia conference un caractere d'universalite" erfolgt wäre. 252 In diesem Sinne auch PicconejUlmen, Telos 83 (1990), S. 3 f. Truyol y Serra bietet in seiner Schrift ,.Der Wandel der Staatenwelt in neuerer Zeit im Spiegel der Völkerrechtsliteratur des 19. u. 20. Jahrhundert" (1968) eine aufschlußreiche Beschreibung dieser Entwicklun!3 Zur Geschichte dieser christlich-europäischen Pentarchie vgl. Bourquin, Histoire de Ia Sainte Alliance, Paris 1954. 254 Vgl. Schmitt, Der Völkerbund, S. 6.

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Freilich ist kein Bruch voUständig. Das moderne universelle Völkerrecht ist ohne den nucleus des jus publicum europaeum nicht denkbar.2SS Die in das universelle Völkerrecht tradierten Grundsätze des klassischen europäischen Völkerrechts können aber global, getrennt von ihrem politisch-kulturell homogenen Substrat des "alten Europa", keine wirklich kriegseinhegenden Wirkungen mehr entfalten. Vielmehr hat die heterogene, politischjuristisch variable Umwertung der ursprünglich europäischen Rechtsregeln durch die WeltstaatengeseUschaft längst begonnen.

111. Der Völkerbuoduoiversalismus im "ioterbellum" des 20. Jahrhunderts (1919 - 1939)

Die universalistische Konzeption des Völkerbundes und seines Völkersicherheitsrechts hat eine Vorgeschichte. Sie entstand nicht ex nihilo, sondern in Abhängigkeit zu der ebeo beschriebenen Auflösung der europazentrischen Friedensordnung des jus publicum europaeum. Die maritime Weltherrschaft Englands befand sich seit dem späten 19. Jahrhundert auf ihrem Höhepunkt, das britische Empire hatte seine größte Ausdehnung erreicht.2.S6 Parallel hierzu entwickelten sich die Vereinigten Staaten nach dem Sezessionskrieg (1861 - 1865) zu einer universal operierenden Macht2S7, die spätestens nach dem zur "Befreiung" Kubas führenden amerikanischspanischen Krieg von 1898 in Abkehr vom traditionellen Isolationismus eine globale Interventionspolitik zu treiben begann2S8, die sie selbst als "unselfish" bezeichnete.259 Die bis dahin rein defensiv aufgefaßte Monroe-Doktrin geriet zu einem Rechtfertigungskanon für die Lancierung von "demokratischen Interventionen" im Rahmen eines "Imperialismus der Recht2SS Vgl. dazu Schwarzenberger, The Frontiers of International Law, S. 44, der treffend ausführt: "To consider Europe as the nucleus of this evolution (sc. zum universellen Völkerrecht; Anm. des Verf.) is more than an egocentric whim." Verosta (ÖZöR 30 (1979) S. 1 ff.) ist in seinem an Paradisi anknüpfenden Versuch der Minimierung der Bedeutung des jus publicum europaeum für das universelle Völkerrecht nicht zu folgen. 256 Zu den völkerrechtlichen Aspekten dieser Entwicklung vgl. Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 516 ff. Einen politisch-historischen Überblick bietet Kennedy, Aufstieg und Fall, s. 240 ff. 2S7 Vgl. Stadtmüller, Rechtsidee und Machtpolitik in der amerikanischen Geschichte, S. 49 ff. 2S8 Vgl. Stadtmüller, a.a.O., S. 67 ff. 259 Der spätere amerikanische Präsident Barding formulierte in diesem Zusammenhang 1917: "We unsheathed the sword eight-teen years ago for the firsttime in the history of the world in the name of humanity and we gave proof to the world at the time of an unselfish nation." Zat. nach Stowell, Intervention in International Law, S. 170 FN 53.

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schaffenheit".260 Daß die Vereinigten Staaten sich hierbei anschickten, das Erbe der Seemacht England anzutreten, indem sie begannen, ihre Politik und Kriegführung maritim zu definieren261, zeigt sich besonders eindrücklich in den Schriften des bedeutenden amerikanischen Seekriegstheoretikers Mahan, der die Sicherheitsdoktrin der Vereinigten Staaten wesentlich beeinflußt hat.262 Mahan arbeitete den Zusammenhang zwischen der "Küstenlage" seines Landes und der daraus folgenden Notwendigkeit einer lebhaften, universellen Teilhabe am Staatenverkehr exakt heraus261 und begründete das noch heute in der amerikanischen Militärdoktrin wichtige Seestützpunktsystem.264 Mahan hat in seinem Werk besonders die Effektivität der Seeblockade betont265, die zu den klassischen Sanktionsinstrumenten der angelsächsischen Völkerrechtspolitik gehört.266 Die Doktrin Mahans hat den Wechsel der amerikanischen Außenpolitik unter Th. Roosevelf"1 wesentlich mitgeprägt. Es kam auch nicht von ungefähr, wenn Mahan von der "Wiedervereinigung" der angelsächsischen Seemächte unter amerikanisther Führung sprach.268 Wichtig für die Vorgeschichte des Völkerbundes dürfte schließlich der deutsch-britische Gegensatz in der Flotten- und Kolonialpolitik gewesen sein (Landmacht gegen Seemacht)U9, der im weiteren Verlauf zur Bildung der Entente Cordiale führtezro, die den kontinentalen europäischen Mittelmächten gegenüberstand.271 Damit stand die Frontlinie des Ersten Welt-

So Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin, S. 153. Kesting (Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg, S. 97) beschreibt diese Entwicklung in Anlehnung an Seeley treffend mit der Wendung des Entstehens eines "Welt-Vene260 261

digs".

262 Vgl. besonders sein Werk "The lnfluence of Sea Power upon History 1660-1783", Boston 1890, dt."Der Einfluß der Seemacht auf die Geschichte 1660 - 1812", 1967. Zu seinem Leben und seiner Bedeutung vgl. Wallach, Kriegstheorien, S. 317 ff. 261 Vgl. Mahan, a.a.O., S. 24 f. 264 Vgl. Wallach, a.a.O., S. 301 f. 265 Vgl. Mahan, a.a.O., S. 138. 266 Die Seeblockade spielt heute noch in der Sicherheitskonzeption der SVN (Art. 42) eine bedeutende Rolle. Zum vornehmlich maritimen Charakter der OVN-Sanktionsmittel vgl. unten B.III.2.d. (S. 354 ff.). 267 Vgl. Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 515 oder auch Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin, S. 163 ff. m.w.N. 268 Vgl. Wallach, Kriegstheorien, S. 326. 2l9 Vgl. dazu Dehio, Gleichgewicht oder Hegemonie, S. 196 ff., bes. S. 204 ff. Z10 Frankreich war für diese Entente leicht zu gewinnen, da es sich seit dem Verlust von Elsaß-Lothringen jeder gegen Deutschland gerichteten Politik angeschlossen hatte. Zur Entente Cordiale vgl. Schultz, Entente Cordiale, in: WVR 2 I, S. 431 f. m.w.N. 271 Zum Dreibund der Mittelmächte vgl. Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 511 ff.

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krieges, Meer gegen Land, fest. 272 Der Eintritt der Vereinigten Staaten unter Wilson 1917 auf Seiten der "Meerpartei" war insofern nur folgerichtig.m Der demokratische Kreuzzugsgedanke Wilsons, der auf dem oben skizzierten Völkerrechtsmoralismus beruhte, verband sich dabei mit der sich nun eröffnenden Chance, in Europa unmittelbar völkerrechtspolitischen Einfluß auszuüben. Aus der anfänglich glaubwürdig wirkenden, später aber eher vordergründigen Politik der Verteidigung des mare libero.m wurde für Wilson ein Krieg, " ... to vindicate the principles of peace and justice in the life ofthe world against a selfish and autocratic power ..." 274, indem er unterstellte, daß die Völker der Mittelmächte von feudal-dynastischen dunklen Kräften zum Krieg gezwungen würden.275 Es sollte ein für das bis dahin vorherrschende Völkerrechtsverständnis fremder Krieg der "neuen" (sc. demokratischen) gegen die "alte" (sc. dynastische) Welt sein.276 Die moralische Verdammung des Krieges als politisches Phänomen, besonders die Zurückweisung des auf Eroberung abzielenden Angriffskrieges, konnte demgemäß nur die Mittelmächte treffen, da sie das verdammungswürdige Böse im Völkerrechtsleben repräsentierten.m Frieden war daher nur durch die Überwindung dieses moralisch Bösen denkbar.278 Wilson hatte einen säkularisierten bellum justurn vor Augen. Bekämpft wurde nun nicht mehr der Islam, wie in den christlichen Kreuzzügen des Mittelalters oder in der spanischen Reconquista, sondern die dynastische "Konfession" der Mittelmächte. Die amerikanischen Truppen kamen "... as crusaders not merely to win a war, but to win a cause ..." 279, also nicht zur Überwindung eines justus hostis, sondern zur Durchsetzung der justa causa eines m Das mit Frankreich und Rußland anfanglieh zwei (Flügel-) Landmächte gegen die Mittelmächte standen, ändert daran nichts. Sie waren Instrumente maritimer Politik. Nach dem revolutionsbedingtem Ausscheiden des Zarenreiches aus der Kriegskoalition übernahmen die Vereinigten Staaten und England die Führung. Im Gegenteil, das revolutionäre Russland mußte bis zur siegreichen Beendigung des Bürgerkrieges durch die Bolschewiki die typisch maritime Interventionspolitik seiner einstmaligen Verbündeten im eigenen Lande hinnehmen. Vgl. dazu Schmitt, Kernfrage des Völkerbunds, S. 67. m Vgl. Link, Wilson 111, S. 320 ff. 274 So in Wilsons Kriegsbotschaft an den Kongreß vom 2.4.1917, Zit. nach Heckscher (Hrs,.), Wilson, S. 272. Z7. Wllson meinte: "The menace to peace and freedom lies in the existence of autocratic governments backed by organized forces which is controlled wholly by their will, not by the will of their people." zit. nach Heckscher (Hrsg.), a.a.O. 276 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin, S. 188 ff. m Vgl. Krakau, a.a.O., S. 188. 278 So Wllson in der Kongreßbotschaft von 4.12.1917, in der er vom "overcoming of the evil" sprach. Zit. nach Heckscher (Hrsg.), a.a.O., S. 289. 279 Wllson in der Eröffnungsrede bei der die Pariser Vorortverträge von 1919 vorbereitenden Konferenz am 25.1.1919. Zit. nach Heckscher (Hrsg.), a.a.O., S. 338. Unterstr. durch den Verf.

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mundial zu verbreitenden Demokratieverständnisses nach nordamerikanischem Muster. Wilson empfand sich und die Vereinigten Staaten in amerikanisch-puritanischer Politiktradition280 " ••• as an instrument in the hands of God to see that liberty is made secure for mankind".281 Amerikaner waren für ihn"... one of the champions of the rights of mankind".282 Diese Aufzählung einiger durchaus typischer Redewendungen mögen den demokratisch-universalistischen Elan des amerikanischen Engagements in einem ursprünglich europäischen Krieg genügend illustrieren.281 Es mag noch erwähnt werden, daß auch der spätere amerikaDisehe Präsident F.D. Roosevelt zu dieser Zeit zu den Protagonisten des "demokratischen Kreuzzugs" gehörte.284 Die eben beschriebene Haltung der amerikanischen Völkerrechtspolitik läßt sich in diesem Zusammenhang kaum als "ahistorisch-optimistisch"lM bezeichnen. Es handelte sich im Gegenteil um eine überaus historisierende Völkerrechtspolitik im Sinne einer fordernden Geschichtsphilosophie, die den Sieg der Demokratie nordamerikanischer Prägung als ehernes historisches Gesetz verstand.2.'16 Es mag unter Berücksichtigung dieses Umstandes durchaus möglich sein, daß Wilson eine "organisation mondiale" und keine "alliance des vainqueurs" wollte, aber dann eben wohl eine "organisation mondiale sous Ia loi des vainqueurs".287 Die besondere Rolle Wilsons bei der Schaffung des Völkerbunds muß hier nicht weiter im Detail erörtert werden. Sie kann als im wesentlichen bekannt vorausgesetzt werden.288 Der Völkerbund sollte auf der zwischenstaatlichen Ebene ein Abbild des nordamerikanischen Demokratiemodells werden.2WJ Das klassische Souve280

Zu dieser siehe oben A.II.2.(3) (S. 255 ff.). So Wilson am 5.6.1917. Zit. nach Heckscher (Hrsg.), a.a.O., S. 281. 282 Wilson in der Kriegsbotschaft vom 2.4.1917. Zit. nach Heckscher (Hrsg.), a.a.O., S. 278. 281 Vgl. Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin, S. 187 ff. oder auch UhJeWettler, Mars, S. 115 ff. 284 Zur Frage eines Verhandlungsfriedens mit den Mittelmächten führte Rooseve/t aus: "How can you negotiate any question with scoundrels and vilains, with assassins and freebooters with highwaymen and desperados? They must first either be killed or disarmed...". Zit. nach Hu/1, Memoirs I, S. 97 f. Diese Haltung nahm Roosevelts Forderung im Zweiten Weltkri~ nach einem "unconditional surrender" vorweg. So aber Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin, S. 188. Diese Völkerrechtspolitik ist nur insoweit ahistorisch, als sie mit dem historisch gewachsenen Sosein der betroffenen Völkerrechtssubjekte beliebig verfahrt. 2.'16 Vgl. Kesting, Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg, S. 219 ff. 287 Vgl. dazu Feinberg, RdC 80 (1952 1), S. 309. 288 Vgl. dazu stellvertretend für viele bes. Northedge, The League of Nations, S. 25 ff.; Barandon, Völkerbund, in: WRV 2 III, S. 597 ff. m.w.N. oder Parry, League of Nations, in: EPIL 5, S. 192 ff. m.w.N. 2WJ Vgl. v. Alstyne, lA 37 (1961), S. 307. 281

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ränitätsdenken mußte sich dabei insoweit als störend erweisen, als nach diesem nordamerikanischen Verständnis der einzelstaatlichen Souveränität die universale Souveränität einer metanationalen Weltverfassung übergeordnet sein sollte, deren Grundstein die Vereinigten Staaten sein würden.290 Grundsätze dieses "universal order" (liberale Demokratie, Menschenrechte, universeller Friede, Freihandel u.ä.) wurden dabei ganz im kantianischen Sinne apriorisch und absolut aufgefaßt. Diese Prinzipien sollten zu einem "internationallaw ... supported by imperative sanctions" werden.291 Das Völkerrecht sollte demnach zumindest nicht mehr ausschließlich auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhen, sondern auf der Sanktionsgewalt einer im Völkerbund-Modell implizit enthaltenen civitas maxima fußen. Eine solche Vorstellung kam im Vergleich zum souveränitätsbezogenen jus publicum europaeum einer Rechtsrevolution gleich. Das besondere Fatum dieser Idee lag freilich darin, daß die Initiativmacht des Völkerbundes, die Vereinigten Staaten, die allein dem Völkerbund das notwendige materiell-militärische Substrat hätte vermitteln können292, diesem fernblieb.293 Die Vereinigten Staaten zogen es vor, im interbel/um dieses Jahrhunderts zwischen völkerrechtlicher An- und Abwesenheit zu schwanken.294 England und Frankreich, die verbleibenden "Sachwalter" des Völkerbundsystems, waren schon wegen der zwischen ihnen traditionell herrschenden Rivalität nicht imstande, die aus ihrer Sicht völkerrechtswidrigen Begehrlichkeilen Deutschlands nach 1933 zu verhindern und damit die politische und völkerrechtliche Ordnung ihres Siegfriedens von 1918/19 zu bewahren.295 290 Eine solche Konzeption beruhte auf dem naturrechtlich begründeten "convenant"-Gedanken. Vgl. dazu Krakau, Missionsbewußtsein und Völkerrechtsdoktrin, S. 40 ff. Es mag bezeichnend sein, daß die Völkernundsatzung im Englischen "Convenant of the League of Nations" geheißen wurde. 291 Vgl. Heckscher (Hrsg.), Wilson, S. 336. 292 Vgl. Schmitt, Die Kernfrage des Völkerounds, S. 6 f. 293 Deramerikanische Senator Lodge - einer der Wortführer der Völkerbundgegner formulierte im Kongreß: "We would not have our country's vigour exhausted or bis moral force alated by everlasting meddling ... in every quarre! ... which afflicts the world." Vgl. Congressional Record, 66t Congr., 1st session, S. 3784. 294 Vgl. Schmitt, Nomos, S. 200 f. 295 Gerade nach dem Ersten Weltkrieg waren die völkerrechtspolitischen Interessen Frankreichs und Englands divergent. Während Frankreich wegen seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu Deutschland dieses stark geschwächt zu sehen wünschte, mußte England daran gelegen sein, in Anlehnung an seine klassische Gleichgewichtspolitik eine übertriebene Schwächung Deutschlands zu verhindern. Deutschland sollte nicht der Versuchung erliegen können, mit dem seinerseits isolierten bolschewistischen Russland gegen die westlichen Mächte zusammenzuaroeiten. Andererseits war England an einer französischen Präponderanz auf dem europäischen Festland nicht interessiert.

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Natürlich hatte es auch in Kontinentaleuropa seit dem späten 19. Jahrhund,c;rt, besonders durch die Anregung der sogenanten "Friedensbewegung 296, Anstöße zur Schaffung einer universellen Friedensordnung gegeben; dies lag ganz in der Linie des europäischen säkularisierten Humanitätsgedankens, jedoch waren die Akzente anders gesetzt. Die in Kontinentaleuropa entwickelten Konzepte waren an der europäischen Staatsidee orientiert. Besonders aus der Sicht des deutschen Völkerbundprotagonisten Schücking sollte der Völkerbund eine Fortentwicklung des noch im jus publicum europaeum wurzelnden Werks Vom Haag werden. Der daraus zu schaffende Bund sollte gleichwohl universal sein297 und in einen Weltstaatenbund einmünden.298 Die Ideen Schückings müssen aus heutiger Sicht merkwürdig anmuten. Er hatte wohl nicht erkannt, daß das Vertragswerk vom Haag von 1899 und 1908 noch fest im souveränitätsorientierten Völkerrecht des 19. Jahrhunderts wurzelte und für die Weiterentwicklung zu einer universellen Friedensorganisation nicht tauglich war. Der wichtigste Aspekt einer umfassenden staatlichen Souveränität, das jus ad bellum, sollte von den Haager Kodiflkationen des jus in bello nicht angetastet werden. Ein transnationales Gewaltmonopol wurde hier zu keiner Zeit intendiert. Bei Schücking - wie nicht selten bei anderen Völkerrechtspaziflsten auch - trat der Wille zur Schaffung einer universellen Friedensordnung an die Stelle einer leidenschaftslosen Betrachtung der notwendigen materialen und rechtlichen Voraussetzungen eines friedenssichernden Staatenbundes.299 Ideen wie die von Schücking haben indes nicht wenig zur Verwirrung beigetragen. Besonders die in Anlehnung an Kant gewählte deutsche Bezeichnung "Völkerbund" für die 1919 entstandene Organisation weist eine Semantik auf, die im Gegensatz zu der englischen Bezeichnung "League of Nations" oder der französischen Bezeichnung "Societe des Nations" eine romantisierend-universalistische Sicht offenbart.300 Im folgenden soll nun keine erschöpfende Analyse des Kriegsverhütungsmechanismus des Völker296 Vgl. dazu etwa Wehberg, Deutschland und der Völkeround, S. 5 ff. Vgl. auch die instruktive Darstellung von Scupin, Friedensbewegung, in WVR 2 I, S. 572 ff. m.w.N. 297 Vgl. dazu Wehberg, Festschrift Schätze! 1960, S. 535 ff. Schücking war der Auffassung, daß es sich bei dem Ersten Weltkrieg um einen europäischen Krieg handelte. Dies war freilichtrotz des Eintretens der Vereinigten Staaten in den Krieg zutreffend, da es sich um einen Konflikt handelte, der vor allem die Neuaufteilung des politischen Raumes Europas zum Gegenstand hatte. Dies zeigen die kriegsbedingten territorialen Veränderungen nach 1918 deutlich. Vgl. dazu Schmitt, Nomos, S. 213. 298 Vgl. Schücking, Der Staatenveroand der Haager Konferenzen, S. 18 und 74. Dagegen schon 1914 Nippold, JöR 7 (1913), S. 42. Den bekannten Völkerrechtler Oppenheimer soll die Idee Schückings nur amüsiert haben. Vgl. dazu Wehberg, Festschrift Schätzel1960, S. 537. 299 Ähnlich der Völkerrechtler und überzeugte PazifiSt Huber, Friedens-Warte 35 (1935), S.199. 300 Vgl. Schmitt, Die Kernfrage des Völkerounds, S. 4 f. und S. 16 ff.

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bundes vorgenommen werden; das vielfach festgestellte und als bekannt vorauszusetzende Versagen ist oben bereits angesprochen worden.301 Es sollen vielmehr einige Aspekte der inneren Widersprüchlichkeil des Systems erörtert werden. Die Einrichtung eines universellen Kriegsverhütungssystems - von einem globalen System kollektiver Sicherheit kann im Falle des Völkerbunds noch nicht gesprochen werden - setzte auch damals voraus, daß dieses System für alle Mitglieder der Völkerrechtsgesellschaft gleiche Rechte und Pflichten statuierte.302 Bereits diese Voraussetzung konnte der Völkerbund nicht erfüllen, da er die rechtliche Abwicklung des Ersten Weltkrieges mit der Schaffung einer durch den Völkerbund intendierten universalen Friedensordnung verband.303Das besiegte Deutschland 'Y.ar folgerichtig zunächst ausschließlich Objekt des "Völkerbundbetriebs 304, da die Organisation mit der Durchführung und Überwachung des Versailler Friedensoctrois hertraut war. Das Recht zur jederzeitigen, im Zweifel auch bewaffneten Intervention in Deutschland, welches § 18 der Anlage 2 zum Abschnitt VIII des Versailler Vertrages den Allierten für den Fall der nicht fristgemäßen Wiedergutmachungsleistungen einräumte, sowie die Angriffsfiktion des Art. 44 VV und schließlich das unbeschränkte Investigationsrecht, welches die Allierten durch einfachen Mehrheitsbeschluß im Völkerbundrat ausüben konnten30S, waren einseitige Souveränitätsbeschränkungen, die Deutschland auch nach seinem Beitritt zum Völkerbund bis zu seinem Austritt 1935 nicht beseitigen konnte.306 Der Genfer Völkerbund beruhte so, anders als die Heilige Allianz von 1814/15, nicht auf einem wirklichen, politisch verhandelten Rechtsfrieden, sondern auf der Diskriminierung der besiegten Staaten307, während das 1815 endgültig besiegte napoleonische Frankreich auf der Aachener Konferenz nach seiner Remonarchisierung im gleichen Jahr in vollem Umfange Vgl. u.a. oben l.Teil: B.l.l. (S. 53 f.). So schon Schmilt, Der Völkerbund und Europa (1928), in: ders., Positionen und Begriffe, S. 94 f. 303 Vgl. Wehberg, Deutschland und der Völkerbund (1928), S. 13 oder Göppert, Völkerbund, S. 30 ff. 304 Vgl. Schmin, Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik (1925), in: ders., Positionen und Begriffe, S. 32 f. 30S Vgl. Göppert, Völkerbund, S. 11, 33, 192,213. 306 Selbst wenn /(jmminich, Problem der Friedenssicherung, in: Picht/Eisenbart (Hrsg.), Frieden und Völkerrecht, S. 310 anmerkt, daß die formelle Aufnahme der ehemaligen Feindstaaten den Willen zur Universalität und Nicbtperpetuierung der Kriegsallianz gezeigt hätte, so änderte dieser Zustand doch nichts an der konfliktbefördernden völkerrechtlieben Realität der Deutschland einseitig belastenden Völkerrechtsservituten. 307 So zutreffend Grewe, Friede durch Recht, S. 11 f. 301

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gleichberechtigt in das vormoderne Sicherheitssystem der Heiligen Allianz aufgenommen wurde. Rechtsuniversalität im Sinne der souveränen Gleichheit war im Völkerbund auch nach dem Beitritt Deutschlands nur für die vom Versailler Vertrag nicht diskriminierten Staaten denkbar.308 Artikel 10 VBS schloß mit seinen Garantien für die territoriale Integrität aller Mitgliedsstaaten, die eine völkerrechtliche Zementierung des auf der Versailler Konferenz von den Siegern bestimmten status quo bedeuteten, eine reziproke Befriedung aus.309 Es wurde nicht beachtet, daß der Schutz des völkerrechtlichen status quo nur dann sinnvoll ist, wenn dieser eine "normale", das heißt eine von allen Seiten akzeptierte territorial-politische Ordnung in sich birgt.310 Recht, in diesem Fall Kriegsverhütungsrecht, ist unter günstigen Umständen die Folge, kaum aber das Instrument zur Schaffung einer gesicherten Friedensordnung. Die Idee vermag ohne materielles Substrat wenig. Eine solche Friedensordnung konnte auf der Grundlage des Versailler Vertrages nicht entstehen. Vor allem fehlte es an einer friedensversprechenden politischen Raumordnung. Dabei hat man besonders an das Problem des nichtrealisierten Minderheitenschutzes zu denken, dessen Notwendigkeit durch die "Balkanisierung" Ostmitteleuropas entstanden war.311 Im Vertragswerk der Völkerbundsatzung war kein konkreter, ethnographisch orientierter Raumverteilungsmodus zu erkennen, der sich an dem Erfordernis einer rationalen territorialen Verteilungsgerechtigkeit orientiert hätte312, und es zeigte sich, daß gerade die raumintensiven Eingriffe des Versailler Vertrags, da sie das Nationalitätenprizip mißachteten, aus-

Vgl. Grewe, Völkerrechtsgeschichte, S. 699 f. Vgl. Wehberg, Deutschland und der Völkerbund, S. 78. Wehberg merkt an, daß Wilson dem Verhandlungsgeschick Clemenceaus und Uoyd Georges nicht gewachsen gewesen sei und so die Position des Rechts habe aufgeben müssen. Aus dem Munde des Pazifisten und Völkerbundbefürworters Wehberg will dies über das Ergebnis der "Friedenskonferenz" viel besagen. 310 Vgl. Schmin, Die Kernfrage des Völkerbunds, S. 7. 311 Es mag zwar demokratischen Grundsätzen entsprochen haben, den Staat der habsburgischen Donaumonarchie völkerrechtlich zu liquidieren, jedoch haben die daraus resultierenden Nationalitätenkonflikte - zu denken ist besonders an das Sudetenproblem - nicht unerheblich zur Verschärfung des politischen Klimas in Europa beigetragen. Gleiches gilt für die Abtrennung des sogenannten "polnischen Korridors" vom Deutschen Reich. 312 Volksabstimmungen über den Verbleib bestimmter Gebiete im Staatsverband des Deutschen Reiches sah etwa der Versailler Vertrag nur für Nordschleswig und die preußischen Ostprovinzen vor, wo man sich Ergebnisse zuungunsten Deutschlands ausrechnete. Die Deutschen in Böhmen und Mähren wurden in bezug auf ihre Zugehörigkeit zur neugegründeten Tschechoslowakei - ein damals unhistarisch zusammengefügtes Staatsgebilde - überhaupt nicht gefragt. 308

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schließlich bündnisrelevante Gesichtspunkte berücksichtigten?13 Es galt das zumindest für das 20. Jahrhundert verhängnisvolle Prinzip cuius regio eius natio.31• Art. 19 VBS, der als Andeutung eines "peaceful change" die periodische Überprüfung des vertraglich festgelegten völkerrechtlichen status quo vorsah, spielte praktisch keine Rolle. "Ein Bund kann nicht damit beginnen, daß er bei seinen Mitgliedern abnorme Zustände und als seine tatsächliche Grundlage einen abnormen status quo voraussetzt" .315 Bemerkenswert war auch die Anerkennung der Monroe-Doktrin als raumgestaltendes Prinzip in Art. 21 VBS. Schmitt hat diesen Umstand als "Symbol des Triumphes der westlichen Hemisphäre über Europa" gekennzeichne(16, obwohl der amerikaDisehe Senat die VBS nicht ratifiZierte. Eine in ihrer Stoßrichtung geänderte Monroe-Doktrin 311, die zwar den territorialen Status der westlichen Hemisphäre unangetastet ließ, hinderte den ökonomischen Zugriff der Vereinigten Staaten auf die übrigen amerikanischen Staaten nach der Regel eines cuius oeconomia eius regio nichf18. DieLenkung formell unabhängiger Staaten, ohne diese unmittelbaren völkerrechtlich relevanten Statusveränderungen (Protektorat, Okkupation, Annexion) auszusetzen, war durch die kybernetischen Eigenschaften und Wirkungen eines modernen freien Weltmarktes möglich geworden. Eine an diese Maxime gebundene Völkerrechtspolitik gestattete es gerade den Vereinigten Staaten, trotz ihrer formellen Abwesenheit im Völkerbund über die in ihm anwesenden mittel- und südamerikanischen "Klientelstaaten" Einfluß zu nehmen.319 Im übrigen ermöglichte es diese ,,Abwesenheit" den Amerikanern, in den Reparationsverhandlungen zwischen den europäischen Allierten und Deutschland eine für sie günstige Schiedsrichterrolle einzunehmen.320 Das Beispiel der amerikanischen Völkerrechtspolitik zur Zeit des Völkerbundes zeigt, daß die Abwesenheit eines Staates in einer internationalen Organisation unter der Bedingung eines eigenen ausreichend wirksa313 Gerade die willkürliche Grenzziehung bei der Gründung der ostmitteleuropäischen Staaten (fschechoslowakei und Polen) nach 1918 dürften unter anderem den Zweck gehabt haben, diese Staaten in die französische Eindämmunppolitik gegen Deutschland einzubinden. Die französische Paktpolitik gegenüber diesen Staaten (Kleine Entente etc.) illustriert dies. 314 Dieses Prinzip hat interessanterweise gerade der Völkerbundbefürworter Schücking bereits 1907, damals allerdings im Hinblick auf die österreichisch-ungarische Nationalitätenpolitik, kritisiert. Vgl. Wehberg, Festschrift Schätzel1960, S. 536. 31S SchmiJt, Schmollcrs Jahrbuch 48 (1924), S. 11. 316 SchmiJt, Nomos, S. 227. Ähnlich Ulmen, Telos 72 (1987), S. 59 ff. 317 Vgl. Kruse, Monroe-Doktrin, in: WVR 211, S. 549 f. 318 Vgl. Schmitt, a.a.O., S. 232. 319 Vgl. Schmitt, a.a.O., S. 225 f. und 228 ff. 320 Vgl. SchmiJt, Der Völkerbund und Europa (1928), in: ders., Positionen und Begriffe, S. 92 ff.

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men Machtpotentials die Möglichkeit der Optimierung des völkerrechtlichen Handlungsspielraums eröffnen kann.321 Der entscheidende juristische Umbruch im Sinne eines universellen Völkersicherheitsrechts erfolgte durch des Art. 11 VBS, der den universalistischen Grundzug des Völkerbundes bestimmte?22 Gemäß Art. 11 VBS war jedes Völkerbundmitglied durch die kriegerische Beeinträchtigung oder Bedrohung des je anderen Mitgliedstaates automatisch mitbetroffen. Der Krieg wurde so entduellisiert. Kriege waren nunmehr von Anfang an internationalisiert, daß heißt auf den Völkerbund bezogen politisch totalisiert. Ein allgemeines oder partielles Kriegsverbot - das wurde oben bereits ausgeführf23 - läßt sich aber aus Art. 11 VBS noch nicht ableiten. Der Krieg blieb trotz seiner möglichen Internationalisierung im Grundsatz die Angelegenheit der souveränen Staaten, da diese selbst im Falle des - in der Organisationsgeschichte nie eingetretenen - internationalisierten Sanktionenkrieges im Namen des Völkerbundes über ihren Kriegseintritt autonom entscheiden durfte. Unzulässig war nur der überfallartig durchgeführte Angriffskrieg, nicht aber der Angriffskrieg an sich, solange die prozeduralen Bestimmungen der Art. 12 - 15 VBS eingehalten wurden. Insoweit wurden in bezog auf das "Wie" des Krieges die Regeln des jus publicum europaeum, wenn auch stark formalisiert, im Sinne des Raager Rechts von 1907 fortgeschrieben. Gerade aber durch die Gemengelage einer für das Völkerrecht revolutionären Internationalisierung des Krieges im Falle eines illegalen Angriffs einerseits und des Fortbesteheus des duellhaften Staatenkrieges bei Beachtung des obligatorischen Streitschlichtungsverfahrens ante belZum andererseits entstand ein Kriegsverhütungssystem, welches sich im Ergebnis als kontraproduktiv erweisen mußte. Die normativ vorgeschriebene oder zumindest erlaubte Beteiligung aller Mitglieder des Völkerbundes an jedem satzungswidrigen Krieg konnte theoretisch dazu führen, daß auch räumlich und politisch nicht unmittelbar betroffene Staaten aktiv und wirksam an den Interventionen des Völkerbunds gegen den Sanktionsadressaten teilnehmen konnten.324 Darin lag keine Garantie objektiver Rechtsfindung, 321 Bei der Gründung der OVN 1945 benötigten die Vereinigten Staaten diese Abwesenheit nicht mehr, da das über die Yalta-Formula installierte Veto-Recht (Art. 27 Nr. 3 SVN) die Blockierung jeder ihnen mißliebigen Entscheidung im SR erlaubt. 322 Vgl. Kimminich, Problem der Friedenssicherung, in: Picht/Eisenbart (Hrsg.), Frieden und Völkerrecht, S. 309. 323 Vgl. oben 1.Teil: 8.1.1. (S. 53 f.). 324 Man denke dabei nur an die Umstände, die zur Verhinderung der für den 19.3.1931 geplanten deutsch-österreichischen Zollunion durch das Urteil des StiGH vom 15.09.1931 führten. Hier wurde besonders von Frankreich Druck auf die europäischen bzw. südamerikanischen Staaten ausgeübt, um dem Widerstand gegen die Zollunion ein universales Gepräge

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sondern die potentielle Beförderung weltweiter Ingerenz, die eine notwendige Lokalisierung von Konflikten behindert hätte.325 Es handelte sich also um einen völkersicherheitsrechtlichen status mixtus, der in doppelter Hinsicht nicht an die politisch-historischen Gegebenheiten angepaßt war. Einerseits war eine indifferente Weiterführung des Duellkrieges im Sinne des klassischen europäischen Völkerrechts und seiner Raumordnung nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr möglich. Die nunmehrige Existenzzweier universal operierender Großmächte (Vereinigte Staaten und Sowjetunion), die nach dem Kriege auf die weltpolitische Bühne traten, schien keinen anderen Weg als den der universellen Kriegsverhütung zuzulassen. Andererseits war und ist ein universalisierendes Sicherheitsdenken, so wie es die VBS prägte, mit der Lösung spezifischer, in ihrer konkreten räumlich-politischen Bezogenheit nicht global angelegten Friedensgefahren überfordert. Wenn etwa ein Land X mit einem Land Y auf einem beliebigen Kontinent um eine seit altersher umstrittene Grenze streitet, dann ist es eigentlich nur schwer einzusehen, welchen wirklichen Nutzen eine universelle Ingerenz erbringt 326, es sei denn, daß man den Rechtsgedanken eines "worldwide trusteeship" als absolutes Axiom auffaßt, welches gleichsam apriorisch als stets nutzbringend betrachtet wird. Ein solcher höchst theoretischer Gedanke vermag aber kaum zu überzeugen. Nicht selten werden die weltweit operierenden Mitglieder eines universellen Sicherheitssystems aus ihrer politischen Interessenlage heraus handeln, die weder in territorialer oder in anderer politischer Hinsicht konkret mit dem Konflikt zu tun hat. Dies kann dazu führen, daß auch raumfremde kleinere Verbündete der am Konflikt interessierten Großmächte auf Geheiß derselben in den Krieg ziehen. Es kommt auf diese Weise zu einer konfliktverschärfenden Erweiterung der Zahl der Kampfparteien. Es kann nur einem gutgemeinten, aber in der Sache fehlgehenden Friedensverständnis zugeschrieben werden, wenn Wehberg fragte: "Kann es noch einen Zweifel geben, daß die Zukunft Europas in der Weiterentwicklung dieses Bundes (sc. des Völkerbundes)327 1iegt?"328 zu geben. Da es sich nicht um einen Konflikt handelte, der unmittelbare Kriegsgefahr in sich barg, wirkt das universale Verhinderungsverfahren noch fragwürdiger. Grewe (Völkerrechtsgeschichte, S. 704) bezeichnet eine solche Vorgehensweise zu Recht als "kalte Intervention". Vgl. dazu auch Biljinger, ZaöRV 3 (1933), S. 163 ff. m.w.N. 325 Konfliktlokalisierung und kollektive Sicherheit schließen sich dabei keineswegs aus. Der Grundgedanke der kollektiven Sicherheit - der Aggressor muß mit dem gebündelten Widerstand der übrigen Mitglieder des Systems rechnen - kann erhalten bleiben, wenn das System kollektiver Sicherheit vertraglich eine räumliche Begrenzung erhält und so nicht einmal rechtsmöglich zur Globalisierung des Krieges führen kann. 326 Die bislang ineffektive Rolle der OVN im Konßikt zwischen den ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken unterstreicht dies. 327 Anm. des Verf. 328 Vgl. Wehberg, Deutschland und der Völkerbund, S. 84. 18 Menk

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In dieser europäisch-globalen Zwischenlage des Völkerbundes war denn auch keine völkerrechtlich handhabbare Defmition des Krieges möglich329; weder im Sinne des klassischen europäischen Völkerrechts (formeller Kriegsbegrift) noch im Sinne eines in sich schlüssigen Weltpolizeirechts (materieller Kriegsbegriff).330 All diese Umstände führten zu bedenkenswerten Ergebnissen. So konnte etwa der spanische Bürgerkrieg, der, wie an anderer Stelle bereits angedeutet, ohne weiteres als Probelauf aller europäischen Mächte zum Zweiten Weltkrieg aufgefaßt werden kann, ohne Intervention des Völkerbundes beendet werden. Ein vollständig internationalisierter Krieg war, und dies entbehrt nicht einer gewissen Tragikomik, dem Zugriff der universellen Friedensorganisation entzogen.331 Es war nur folgerichtig, wenn Universalistische Theoretiker den Mangel an sicherheitsrechtlichem Universalismus in diesem Konflikt beklagten.332 Der Völkerbund verfmg sich gleichsam in der von ihm selbst gelegten Fußangel des beibehaltenen formellen Kriegsbegriffs, der auf dem kriegstechnisch überholten Bild des klassisch-europäischen Staatenkrieges beruhte.333 Eine weitere Desavouierung des sicherheitsrechtlichen Universalismus durch sich selbst fand anläßlich der ersten deutsch-tschechoslowakischen Krise (Sudetenkrise) von 1938 statt. Trotz der in Art. 11 VBS statuierten Befassungspflicht blieb eine Reaktion des Völkerbundes angesichts eines durchaus möglichen militärischen Zusammenstosses zwischen der Tschechoslowakei und dem Deutschen Reich aus. Bilaterale Diplomatie ganz im Sinne des jus publicum europaeum bereinigte die Frage durch das Münchner Abkommen 1938, auch wenn dieses nicht gerade zu den Höhepunkten der klassischen europäischen Diplomatie gezählt werden kann. Die Bundesversammlung des Völkerbundes deklamierte in völliger Selbstaufgabe das Lob der Friedensbemühungen außerhalb des Bundes334 und pries Chamberlain als Friedenspropheten335, der seinerseits dem Gang der Dinge eher kritisch gegenüberstand?36 Es zeigte sich bereits hier zur Völkerbund329 330

ff.

V gl. unten 8.1.4. (S. 294 ff. ). Zum Konzept eines universellen Weltpolizeirechts vgl. Wehberg, RdC 48 (1934 II), S. 7

331 Zu den "Bemühungen" des Völkerbundes im spanischen Bürgerkrieg vgl. das Journal Officiel des Völkerbundes von 1937, S. 97 ff. und 132 ff. 332 Vgl. Barandon, Die VN und der VB, S. 9 und S. 12. 333 In diesem Sinne schon 1924 vorausschauend Schmitt, Schmollcrs Jahrbuch 48 (1924), S. 15. Artikel 10 VBS setzte eben einen "äußeren Angriff'' voraus. 334 Vgl. das Official Journal des Völkerbundes von 1938, Special Supplements No. 83, S. 94. 315 Vgl. das Journal Officiel des Völkerbundes von 1938, S. 877. 336 Chamberlain hatte eine Lösung der Krise unter Beteiligung des Völkerbundes favorisiert. Er wünschte eine Vertragsrevision im Sinne des Art. 19 VBS. Vgl. Parliamentary Debates, House of Commons, Vol. 339, Col. 5.

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zeitein Phänomen, wie es auch später im Rahmen der OVN-Kriegsverhütungsbemühungen auftauchen sollte: In jedem Konflikt, in dem elementare Interessen der wichtigsten Bundesmitglieder betroffen waren, konnte die Friedensorganisation nicht zur weltpolizeilichen Exekution schreiten. Im spanischen Bürgerkrieg zum Beispiel waren de facto alle bis dahin verbliebenen Völkerbundmächte - Deutschland und Italien waren ausgetreten auf republikanischer Seite materiell involviert; sie hätten also gemäß Art. 15 Abs. 4 VBS einen Waffenstillstand gegen sich selbst anordnen müssen. In der Sudetenkrise waren die Westmächte nicht bereit, trotzvorheriger anderslautender Lippenbekenntnisse für die Belange der Tschechoslowakei im Völkerbund einzutreten, obwohl gerade sie die Tschechoslowakei bereits 1920/21 durch die Einbindung in die Kleine Entente in Gegensatz zum Deutschen Reich gebracht hatten. 337 Daß bei solcher sicherheitspolitischen Taktik mittlere und kleinere souveräne Staaten das Nachsehen hatten und haben, war und ist ihr unausweichliches Fatum. Die angeblichen Erfolge des Völkerbundes im Rahmen des Art. 11 VBS betrafen Fragen, die für den im Zweiten Weltkrieg endgültig untergehenden Frieden, oder sollte man in Ansehung der Ergebnisse von Versailles besser von einer bloßen treuga sprechen, nur von sekundärer Bedeutung waren.338 Im Verlauf der besprochenen Ereignisse und besonders im Angesicht des ausbrechenden Zweiten Weltkrieges bewahrheitete sich, daß ein wirklich taugliches Kriegsverhütungssystem sich nie im "Betriebsverhältnis" der Staaten untereinander zu normalen Zeiten beweist, sondern in der Bewährung des "Grundverhältnisses" auch in Krisenzeiten, welches auf einer allgemeinen akzeptierten Friedensordnung beruhen muß.339 Auch das klassische Neutralitätsrecht hatte durch Art. 11 VBS beziehungsweise durch die an Art. 10 - 15 VBS anknüpfende Sanktionsbestimmung des Art. 16 VBS eine grundlegende Wandlung erfahren. Nachdem das "Legalisierungssystem"340 des Völkerbundes zwischen legalen und illegalen Kriegen unterschied und den Boden des klassischen bel/um justurn ex utraque parte verlassen hatte34\ war das klassische Telos der Neutralität, im Duellkrieg Sekundanten und Mediatoren mit der Verpflichtung zur aequalitas amicitiae gegenüber den Kontrahenten zu stellen, fraglich geworden.342 Die 1815 dauernd neutralisierte Schweiz sollte danach ganz im Sinne des Universalistischen Völkerrechtsverständnisses des Völkerbundes an den 337

Vgl. dazu Schultz, Kleine Entente, in: WVR 2 I, S. 432. Vgl. die zusammenfassende Analyse des Scheiteros des Völkerbundes bei Northedge, Le~e of Nations, S. 278 ff. In diesem Sinne auch Schmitt, Schmollcrs Jahrbuch 48 (1924), S. 3. 340 Vgl. Schmitt, Diskriminierender Kriegsbegriff, S. 2. 341 Vgl. unten 8.11.3. (S. 354 ff.). 342 In bezugauf die OVN vgl. unten 8.1.6. (S. 305 ff.). 338

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2. Teil: A. Wurzeln des Universalistischen Sicherheitskonzepts

wirtschaftlichen Sanktionen teilnehmen, obwohl in Art. 435 des VersaiUer Vertrages ihre dauernde Neutralität uneingeschränkt bestätigt worden war.343 Nicht umsonst konnte 1936 der englische Völkerbundjurist Williams formulieren, daß in Zukunft die Pflichten der Neutralen ihren Rechten vorgingen, was natürlich bedeutete, daß diese in erster Linie den "legal" kriegführenden Parteien des Völkerbundes amicitia entgegenzubringen hatten.344 Schmitt hat diese Auffassung zutreffend mit der eines vae neutris verglichen.345 Dieses vae neutris mochte all denjenigen Neutralen in den Ohren klingen, die gewillt waren, an der legalitas civitatis maximae belli des Völkerbundes Zweifel zu haben. Schon nach den bisherigen Überlegungen kann der Völkerbund, überspitzt formuliert, als Fortsetzung der Entente Cordiale des Ersten Weltkrieges in einem majestas vortäuschenden normativen Purpurmantel eines universellen Völkersicherheitsrechts verstanden werden. Nicht Ausgleich auf der Grundlage eines homogenen Gleichgewichts in Europa, sondern die Fortschreibung der unmittelbaren Kriegsvorteile von 1918 waren das eigentliche völkerrechtspolitische Substrat des Völkerbundes. Daran konnte sich auch nach dem Beitritt Deutschlands 1925 nichts ändern, da die Gesamtheit der diskriminierenden Servituten und Angriffsfiktionen des VersaiUer Vertrages346 zu Lasten des Deutschen Reiches fortbestanden. Der Völkerbund hatte im Ergebnis, wie dies einfachen Allianzen eigen ist, weder potestas noch auctoritas347, über die jede effektive Rechtsordnung verfügt. Diese Kritik kann auch dann bestehen, wenn man annimmt, daß das Völkersicherheitsrecht, wie das Völkerrecht überhaupt, kein Subordinationsrecht, sondern Koordinationsrecht ist.348 Denn es ist denkbar, daß eine auf einer ausgewogenen Raumaufteilung beruhende Friedensorganisation politisch homogener Staaten durch die koordinierte Ausübung des jus belli mit Hilfe gewillkürter, mit echter Sanktionsgewalt ausgestatteter Organe wie in einem echten Bund349 sowohl potestas als auch auctoritas entfalten Vgl. Schmitt, Nomos, S. 222 f. Vgl. Williams, BYIL 17 (1936) S. 148 f. 345 Vgl. Schmitt, Das neue Vae Neutris (1938), in: ders. Positionen und Begriffe, S. 251. 346 Vgl. Schmitt, Der Status Quo und der Friede (1925), in: ders., Positionen und Begriffe, S. 35 f. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß das nicht ratiftzierte Genfer Protokoll von 1924 - abgedruckt bei Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente, S. 52 - in Art. 10 den Verstoß gegen die Art. 42 - 44 des Versailler Vertrages als Angriff im Sinne der Art. 12 15 VBS wertete, der automatisch Sanktionen gemäß Artikel 16 VBS nach sich ziehen sollte. 347 Vgl. Schmitt, Verfassungslehre, S. 75 Anm. 1. 348 Vgl. dazu Randelzhofer, Friedensbegriff, in: Delbrück (Hrsg.) Völkerrecht und Kriegsverhütung, S. 23. 349 Ein solcher Bund trüge freilich den Keim eines neuen, über den bisherigen Nationen stehenden staatlichen beziehungungsweise staatsähnlichen Gemeinwesens in sich. 343 344

2. Teil: A. Wuneln des universalistischen Sicherheitskonzepts

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kann.350 Schmitt hat bereits früh darauf hingewiesen, daß etwa die Schaffung eines internationalen Gerichtshofs mit ungehinderter Entscheidungsbefugnis über souveräne Rechte - gemeint war besonders das jus belli einen Superstaat begründen würde, der in der Lage wäre, eine "neue Ordnung" zu errichten.351 Freilich kann solches nur unter der Bedingung geschehen, daß echte überstaatliche, das heißt vom Willen der Einzelstaaten losgelöste Kompetenzen entstehen. Von einer vergleichbaren Entwicklung kann im Zusammenhang mit dem Völkerbundes nicht die Rede sein. Weder die Bundesversammlung noch der Völkerbundrat waren autoritative Organe mit eigenen, quasi-souveränen Rechten.352 Allianzen verlieren ihren Sinn und ihre Funktionstüchigkeit, wenn der gemeinsame Feind und die damit verbundene Notwendigkeit des gemeinsamen Angriffs oder Verteidigung wegfällt. Das Versagen des Völkerbundes imAbessinien-Konflikf53 hat anschaulich bewiesen, welche Verwirrung entsteht, wenn anstatt des bisherigen Feindes (Deutschland) ein ehemaliger Freund der alten Kriegsallianz (Italien) sich als Feind geriert.354 Die Remilitarisierung des Rheinlandes durch das Deutsche Reich war dagegen trotz der Bestimmungen der Art. 42 - 44 des Versailler Vertrages ungläubig, aber ohne völkersicherheitsrechtliche Reaktion hingenommen worden.355 Der ursprüngliche, verdeckte Allianzencharakter des Völkerbundes wurde so offenbar. Es kann zusammenfassend festgestellt werden, daß der Völkerbund deswegen scheitern mußte, weil seine ohnehin nicht bedenkenfreie Sicherheitskonzeption (potentielle Internationalisierung jedes satzungswidrigen Krieges) nicht für alle Staaten, ob Mitglieder oder nicht, gleichmäßig galt.356 Es Vgl. unten C. (S. 411 ff.). Vgl. Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, S. 50 f. 352 Vgl. Schmitt, Die Kernfrage des Völkerbunds, S. 5, 13 und 63. 353 Vgl. oben 1.Teil: B.II.l.c.(1) (S. 64). 354 Vgl. Barandon, Das System der politischen Staatsverträge, S. 147. 355 Bindschedler (Festschrift für Wehberg 1956, S. 81) bemerkt hierzu lapidar, daß ., ... wenn vor dem 2. Weltkrieg den Übergriffen des nationalsozialistischen Regimes nicht mit mehr Energie entgegengetreten wurde, so nicht zuletzt aus dem Grunde, weil man sich der Tatsache nicht verschließen konnte, daß die auf dem Versailler Vertrag beruhende Rechtsordnung Ungerechtigkeiten in sich schloß und gewisse deutsche Forderungen als legitim erschienen". 356 Kimminich (Probleme der Friedenssicherung, in: Picht/Eisenbart [Hrsg.), Frieden und Völkerrecht, S. 317 f.) führt treffend aus, .,daß nicht nur böswillige Propaganda die Wirksamkeit des Völkerbundes untergrub, sondern auch das Verhalten mancher seiner Mitglieder und Organe" und meint damit besonders die einseitige Handhabung des Art. 8 VBS, der für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eine allseitige, umfassende Abrüstung vorsah, die aber nach der fast vollständigen Abrüstung des Deutschen Reiches eine unilaterale Angelegenheit blieb. Vgl. dazu auch Schuster, in: Delbrück (Hrsg.), Friedensdokumente, S. 75 ff. m.w.N. 350

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2. Teil: A. Wurzeln des universalistischen Sicherheitskonzepts

kann daher nicht verwundern, daß in der Zeit von 1919 bis 1939 der überwiegende Teil der deutschen Völkerrechtslehre mit Ausnahme des pazifistischen Kreises um Schücking und Wehbetg dem Völkerbund wegen der völkerrechtlichen Benachteiligung des Deutschen Reiches kritisch gegenüberstand. Dabei wurden durchaus beachtliche Ergebnisse in der Kritik der universalistischen Völkerrechtsdoktrin erzielt. In jedem Falle ist es unzutreffend, jegliche antiuniversalistische Äußerung der deutschen Völkerrechtslehre zu jener Zeit als genuin nationalsozialistisch oder rassistisch zu deuten.357 Der Völkerbund ist als universalistischer Vorläufer der OVN für das Verständnis ihres Sicherheitskonzeptes und des ihm zugrundeliegenden Welt- und Politikverständnisses von emminenter Bedeutung. Ohne Völkerbund keine OVN. Seine Schwächen und inneren Widersprüche perpetuieren sich in der OVN zum überwiegenden Teil, wie anschließend zu zeigen ist.

357 So aber Diner, VfZ 37 (1989), S. 23 ff. Differenzierend dagegen Messerschmitt, Revision, Neue Ordnung, Krieg, in: MGM 1/71, S. 61 ff., bes. S. 62.

B. Die Organisation der Vereinten Nationen - System universeller kollektiver Sicherheit oder Allianz "in disguise"?

I. Konstruktive Bedenken

Nachdem in skizzenhafter Form die universalistischen Wurzeln der OVN nachgezeichnet wurden, gilt es zu untersuchen, ob die OVN als Kontinuum ihres Vorläufers Völkerbund gegenüber diesem in konstruktiver und politischer Hinsicht die Idee der kollektiven Sicherheit besser inszeniert hat. Besonders soll das System der OVN auf seine konzeptionelle Folgerichtigkeit und auf die ihm zugrundeliegende Konfliktsoziologie hin betrachtet werden. Daran anschließend ist die Frage aufzuwerfen, ob ein universelles Sicherheitssystem wie die OVN unter den politisch-soziologischen Bedingungen in der gegenwärtigen Staatengesellschaft bei ihrem international-polizeilichen Handeln Weltlegitimität und somit sicherheitsrechtliche Solidität für sich beanspruchen kann, oder ob ein konstitutionsähnliches Gebilde wie die Charta der Vereinten Nationen mit ihrer im VII. Kapitel niedergelegten "Sicherheitsverfassung" in Anbetracht des FehJens der politischen und staatensoziologischen Voraussetzungen nicht eher eine latent konfliktbefördernde Wirkung entfaltet.

1. Die protrahierte Kriegsallianz

Die in Art. 39 - 51 SVN vorgesehene Organisierung der zwischenstaatlichen Sicherheit, ergänzt durch die Vorschriften über die "Regional Arrangements" in Art. 52 - 54 des VIII. Kapitels der SVN, sollte ein System sein, das eine Verbindung zwischen einer "primitiven" dezentralisierten Form und einer hochentwickelt zentralisierten Form von Sicherheit verkörpert. Auf der einen Seite steht die Selbstverteidigung des einzelnen souveränen Staates oder einer Notgemeinschaft von souveränen Staaten, auf der anderen Seite steht das Modell der präventiv-repressiven Macht eines scheinbar von universell-politischem Gemeinwillen getragenen, subordina-

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2. Teil: B. Die Organisation der Vereinten Nationen

tionsrechtlich strukturierten Weltsicherheitsorgans wie dem SR.1 Bevor einzelne sicherheitsrechtliche Institute der SVN unter den angesprochenen Auspizien genauer betrachtet werden, müßen einige Aspekte der Frage nach der möglichen Allianzenqualität der OVN angesprochen werden. Bei der Überlegung, ob die OVN nicht selbst ab origine eine Allianz traditionellen Musters darstellt, könnte man zunächst den Standpunkt vertreten, daß in jedem System kollektiver Sicherheit eine klassische Allianz enthalten ise, denn im Falle des Vorliegens der Tatbestandvoraussetzungen des Art. 39 SVN und der anschließenden Anordnungen von Sanktionen im Sinne der Art. 41 oder 42 SVN, wandelt sich das System kollektiver Sicherheit, das bisher keinen präsumtiven Feind hatte, in ein Allianzensystem um.3 Es kämpft die Allianz der "peaceloving nations"4 gegen den Friedensfeind, den "foe of peace'.s. Auch wenn dabei im Namen der Vereinten Nationen gefochten wird, so muß doch erkannt werden, daß, solange kein Weltstaat besteht, hier ein Bündnis souveräner Staaten gegen einen oder mehrere andere souveräne Staaten kämpft.6 Die Frage ist, ob ein System kollektiver Sicherheit diese Konsequenz vermeiden kann. Eine Antwort muß an dieser Stelle gewissermaßen noch dahinstehen, aber es kann bereits gesagt werden, daß eine Vermeidung dieser Konsequenz theoretisch nur denkbar ist, wenn das System mit einer Art überstaatlicher Autorität, das heißt ausgestattet mit "eigenen" Streitkräften und losgelöst von individuellen Staateninteressen, über die Frage "Wer ist Friedensfeind, und wer ist Friedensfreund?" entscheiden würde. Noch mehr drängen die oben schon angesprochenen Feindstaatenklauseln der Art. 53 und Art. 107 SVN zur Annahme einer originären Allianz.7 Es bedarf hier nicht der ausführlichen Wiederholung, sondern nur der kurzen Erinnerung, daß diese systemwidrig sind und die ehemaligen Feindstaaten (vor allem Deutschland und Japan) zumindest formell weiter diskriminieren, obwohl diese in der Zwischenzeit sämtlich Mitglieder der OVN ge-

Vgl. dazu V~rally, L'organisation mondiale, S. 451 ff. Dafür spricht bereits die nonnative Genealogie der kollektiven Sicherheit, die auf den oben (A.I.2.a. [S. 31 ff.]) beschriebenen Allgemeinpakt weist. 3 So etwa Bindschedler, Festschrift Wengier 1973, S. 33. 4 Zum Begriff der "peaceloving nation" vgl. Wengler, Völkerrecht II, S. 1322. Siehe auch unten B.II.2.c.(2) (S. 338). s Zum Begriff des "foe" (absoluter Feind) im Gegensatz "enemy" (konventioneller Feind) vgl. unten B.III.2.b. (S. 382 f.). 6 In diesem Sinne der ehemalige Generalsekretär der OVN, U Tlumt, Towards World Peace, S. 274. Der satzungsrechtlich zweifelhafte Militäreinsatz gegen den Irak im Januar/Febniar 1991 (vgl. oben l.Teil: C.III.2.c. [S. 156 ff.]) hat dies eindrucksvoll bestätigt. 7 Zu den Feindstaatenklauseln vgl. oben l .Teil: 8.11.3 (S. 73 f.). 1

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2. Teil: B. Die Organisation der Vereinten Nationen

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worden sind. Von den oben entwickelten Charakteristika einer Allianz8 weisen die Feindstaatenklauseln, obwohl sie die ehemaligen Feindstaaten nicht namentlich nennen, eine sogenannte Spitze auf, die kaum mehr als "verhüllte Spitze" zu bewerten sein dürfte9 • Mit diesen Klauseln wird die Welt, obwohl Art. 4 Nr. 1 SVN die Mitglieder der OVN als "peaceloving nations" bezeichnet, de jure immer noch in friedliebende Staaten und friedensfeindliche Feindstaaten aufgeteilt.10 Die Feindstaaten verfallen formen gewissermaßen einem säkularisierten "Kirchenbann" der VölkerrechtsgeseUschaft. Sie befmden sich gleichsam "hors Ia loi", da sich die potentiellen Intervenienten, gemeint sind die "Völkerrechtsaristokraten" des Art. 23 Nr. 1 SVN (die ständigen Mitglieder des SR) und die Regionalorganisationen des VIII. Kapitels, in Art. 107 und Art. 53 Nr. 1 SVN von den in der Charta errichteten Grundsätzen des neuen Völkersicherheitsrechts freigezeichnet haben.11 Die Feindstaatenklauseln bewirken einen merkwürdigen Zwiespalt. Einerseits wird hier offenbar, wer der eigentliche Feind der OVN ist beziehungsweise zumindest zum Zeitpunkt ihrer Gründung war. Es ist deutlich zu sehen, daß diese Klauseln auf Initiative und entsprechend der Interessenlage der Allierten des Zweiten Weltkrieges entstanden.12 Diese in Art. 106 SVN bezeichneten Alliierten haben genau wie die Regionalorganisationen im Sinne des Art. 52 SVN weitgehende Interventionsrechte, welche, wie erwähnt, nicht dem Gewaltanwendungsmodus des VII. und VIII. Kapitels der SVN unterworfen sind.13 Die Maßnahmen der durch die Feindstaatenklauseln Berechtigten sind, systematisch betrachtet, keine Maßnahmen des vom SR beherrschten Sicherheitssystems des VII. und VIII. Kapitels der SVN, sondern privilegierende Libertäten der Hauptsiegermächte zur Sicherung des Kriegsergebnisses. Andererseits lassen die Feindstaatenklauseln erkennen, daß selbst bei ihrem Wegfall die Spitze gegen die ehemaligen Feindstaaten auf der Ebene der Zentralorganisation fortgeschrieben werden soßte, denn nach Art. 53 Nr. 1 SVN soßte der SR nach der Implementierung des Art. 43 SVN (vertragliche Zuteilung von Streitkräften an 8

Vgl. oben l.Teil: A.l.2.a. (S. 26 ff.). Es sei an die Begriffe der "offenen" bzw. "verhüllten" Spitze erinnert, welche indizieren, ob sich eine Allianz direkt oder indirekt gegen einen präsumtiven Feind richtet. Vgl. oben 1.Teil: A.l.2.a. (S. 31). 10 Vgl. Blumenwitz, Die Einhegung des Krieges, in: Rill (Hrsg.), Völkerrecht und Friede, S. 30. Wengier (Völkerrecht II, S. 1479) zieht aus der soziologischen Unhaltbarkeit des Terminus ,,Angreifemationen" den Schluß der juristischen Unmöglichkeit der Feindstaatenklauseln. 11 Vgl. Krakou, Feindstaatenklauseln, S. 7 m.w.N. 12 Vgl. Ress, in Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 53, Rz. 1 ff. Blumenwitz, Feindstaatenklauseln, S. 15; IWmpf, nR 12 (1965), S. 92 mit Hinweis auf den unten noch zu betrachtenden Abstimmungsmodus der "Yalta-formula" (Art. 27 Nr.3 SVN). 13 Dies ergibt sich aus Art. 53 Nr. 1, letzter Halbsatz und Art. 107 SVN eindeutig. 9

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den SR) für den Fall der Fälle die Erledigung bedrohlicher Aspirationen

"by such a state" (sc. Feindstaat) übemehmen.14 Also doch die Perpetuie-

rung einer Feindbestimmung? Unter Zugrundelegung einer organisationsfreundlichen Betrachtungsweise kann und soll nicht ausgeschlossen werden, daß nach dem Willen der Satzungsgeber die Integration der Feindstaaten in die "Normalität" des in Kapitel VII vorgesehenen Sicherheitssystems am Ende durch Wegfall der Klauseln erreicht werden sollte. Obschon diese Integration stattgefunden hat, ragen die offenen Spitzen der Art. 107 und 53 SVN immer noch in völkerrechtspolitisch bedenklicher Deutlichkeit in die Höhe; dies um so mehr, als durch den Wegfall der durch diese Klauseln bezeichneten Aufgabe der Kriegsfolgenliquidation1s das Telos dieser Vorschriften nicht mehr erreicht werden kann, es sei denn, man wollte die ehemaligen Feindstaaten mit der Erbsünde der Friedensfeindlichkeit belastet sehen, was sie notwendig als ewig aggressiv erscheinen ließe. Auf diese Weise verbleibt normativ ein völkersicherheitsrechtliches Residuum einer historisch und politisch nicht mehr bestehenden Kriegsallianz, die das eigentliche Konzept der kollektiven Sicherheit in der SVN konterkariert, denn ein Allianzensystem und ein System kollektiver Sicherheit können in einem Vertragswerk nicht gleichberechtigt nebeneinander stehen. Der Einwand der Möglichkeit der kollektiven Selbstverteidigung gemäß Art. 51 SVN würde nicht überzeugen, da die kollektive Gewaltanwendung im Sinne des Art. 51 SVN gegenüber der Gewaltanwendung durch den SR als subsidiär zu betrachten ist, während dies bei den Maßnahmen der Art. 53 und 107 nicht der Fall ist. Dieses Nebeneinander von Allianz und kollektiver Sicherheit stellt ein völkersicherheitsrechtlich kuriosen status mixtus dar, der eine Schattenallianz gegen die Feindstaaten gegen den Grundsatz des Art. 2 Nr. 1 SVN (sovereign equality) zumindest formell weiter privilegiert und so die Gefahr in sich birgt, daß Art. 53 Nr. 1 und Art. 107 SVN als juristisches Rückgrat dieser Schattenallianz in Zeiten entsprechender politischer Opportunitäten reaktiviert werden könnten.16

14 Die Feindstaatenklauseln sollten gelten " ... until such time as the Organizalion may, on request of the Governments concerned, be charged with the responsibility for preventing further aggression by such a state. Unterstr. durch den Verf. IS Vgl. Krakau, Feindstaatenklauseln, S. 69 ff. oder Ress, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 107 Rz. 5 16 Interessante Szenarien für den Fall der Herauslösung Deutschlands aus der Westbindung entwickelt Forbes, Feindstaatenklauseln, S. 69 ff.

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2. Zur Soziologie des "concu"ent vote" des Art. 27 Nr. 3 SVN die Hemchaft der Hegernone Bedenken müssen sich auch hinsichtlich prozeduraler Eigentümlichkeiten des Sicherheitsverfahrens beziehungsweise seines Instrumentariums ergeben. Zunächst sind hier einige staatensoziologische Bemerkungen zum "concurrent vote" des Art. 27 Nr. 3 SVN und dem daraus abgeleiteten Veto-Recht der fünf ständigen Mitglieder des SR zu machen.17 Das durch Art. 27 Nr. 3 SVN angedeutete Einstimmigkeitsprinzip im SR (zumindest in bezugauf die ständigen Mitglieder}18, auch und gerade im Bereich des Völkersicherheitsrechts der SVN, ist ein Ausdruck der rechtlich-sozialen Lebensform des collegium inaequale.19 Ausgehend vom EntScheidungsmodus in ursprünglich homogenen Gruppen, der vom Mehrheitsprinzip des collegium aequale geprägt ist, kommt es bei dem Entscheidungsprinzip des collegium inaequale zu einer sukzessiven Ausdifferenzierung der Gesamtheit der an Entscheidungen teilnehmenden Rechtsgenossen, die eine Zahl besonders Privilegierter hervorbringt. Ohne die Zustimmung dieser besonders Privilegierten ist dann keine Entscheidung herbeizuführen. Dieser Prozeß war auch im Verlauf des Entstehens der Vereinten Nationen festzustellen. Aus einer Unzahl von Kriegsgegnern der Achsenmächte entstand bei Schaffung des Sicherheitssystems der OVN eine "Siegeraristokratie", die wegen ihres besonderen Gewichts das Prinzip der formalen Gleichheit aller ehemaligen Alliierten ablöste. Ohne die Zustimmung der mit Veto-Recht ausgestatteten ständigen Mitglieder des SR ist keine friedenserhaltende Maßnahme möglich. Von besonderer Bedeutung ist hierbei der "weltpolizeiliche Konsens" der drei globalen Hauptmächte Vereinigte Staaten, Sowjetunion und China.20 Es stellt sich die Frage, inwie17 Zu den den satzungsimmanenten Problemen des Veto-Rechts vgl. oben l.Teil: C.II.l.a. (S. 116 ff.). u. D.l.2.b.(1) (S. 193 ff.). 18 Das Problem der Enthaltung eines ständigen Mitgliedes des SR - China etwa machte bei der "Sanktionsresolution", S/Res/678 v. 29.11.1990, anläßtich der Annexion Kuwaits durch den Irak von dieser Handlungsoption Gebrauch - soll hier nicht erörtert werden. Aus der Erfordernis einer notwendigen Legimitätsspendung für den Einsatz der Sanktionen der Art. 41 u. 42 SVN erscheint aber die Zustimmung aller ständigen Mitglieder des SR - soweit man diese Zustimmung als ausreichende Legitimitätsvermittlung akzeptiert - unerläßlich, da diese einen zumindest okkasionellen "Gemeinwillen" der fünf weltpolitisch führenden Mächte (Weltpolizei) aufscheinen läßt. AA. SimmajBrunner, in: Simma (Hrsg.), ChVN, Art. 27 Rz.46. 19 Vgl. Engelhardt, AVR 10 (1962/63), S. 380. Vgl. auch Dombois, Das Recht der Gnade, s. 942 ff. 20 Die beiden anderen ständigen Mitglieder des SR, Frankreich und England, spielen aufgrund ihres endgültigen Machtverlustes im Zweiten Weltkrieg in den meisten Fällen keine herausragende Rolle. Sie können im wesentlichen als in den durch die Vereinigten Staaten

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weit ein solches Entscheidungsprinzip mit dem Grundmuster eines Systems kollektiver Sicherheit zu vereinbaren ist. Hierbei soll nicht das Ergebnis der oben vorgenommenen Analyse in Zweifel gezogen werden, nach dem das Veto-Recht wegen der konkreten nuklearen Machtkonstellation gegenwärtig aus pragmatischen Gründen als nutzbringend anzusehen ist.21 Es geht hier vielmehr um die grundsätzlichen systematisch-funktionellen Charakteristika eines Systems kollektiver Sicherheit und seine unvermeidlichen Einwirkungen auf die Souveränität der Staaten. Verschiedentlich wird in diesem Zusammenhang vertreten, daß es nicht die juristische Konstruktion des Art. 27 Nr. 3 SVN sei, welche die Sanktionsapparatur lähme, sondern die reale machtpolitische Lage.22 Dies kann man dann als richtig unterstellen, wenn man davon ausgeht, daß das Veto-Recht in Erwartung fortdauernder Harmonie in der sogenannten Anti-Hit/er-Koalition geschaffen worden wäre23, und man dabei nur an die Unterdrückung von Friedensbrüchen kleinerer Mächte gedacht hätte.24 Zunächst ist diese These von der "Harmonieerwartung" unzutreffend.25 Es lassen sich aber auch juristisch-soziologische Einwände gegen das Prinzip des "concurrent vote" des Art. 27 Nr. 3 SVN vorbringen, die freilich nicht unabhängig von ihrem metajuristischen politischen Substrat betrachtet werden sollen. Ein wirkliches System kollektiver Sicherheit ist reziprok, das heißt, jeder der Beteiligten ist zugleich Garant und Geschützter.26 Dies entspricht dem Gedanken der "sovereign equality'', wie er auch in Art. 2 Nr. 1 SVN niedergelegt ist. Auf der metajuristischen Ebene setzt dies voraus, daß es sich im jeweiligen System kollektiver Sicherheit um homogene, das heißt von gleichartigen politischen Interessen geleitete Staaten handelt.n Diese Staaten müssen durchaus nicht gleichgewichtig sein. Hegemoniale Strukturen sind im Rahmen der Kollektivsicherheit nicht eo ipso systemwidri~, wenn sich die Interessen des Hegemons mit den Interessen der übrigen Teilnehmer des Sicherheitssystems decken, und die Hegemonie somit eine äquiliverkörperten politischen "kategorischen Imperativ" des Westens eingebunden betrachtet werden. 21 Vgl. dazu oben 1. Teil: D.l.2.b.(1) (S. 194 f.). 22 So unter anderem Kunzmann, Zeitschrift für Geopolitik, Band 29 (1958), S. 4. 23 So wohl Meyn, Konzept der kollektiven Sicherheit, in: Schwarz (Hrsg.), Sicherheitspolitik, S. 117; Goodrich/Simons, The United Nations, S. 601. 24 In diesem Sinne Frei, Kriepverhütung und Friedenssicherung, S. 80 und Claude, Power and International Relations, S. 162. 25 Vgl. oben 1. Teil: B.II.l.a. (S. 61). Gegen die These von der "Hannonieerwartung'' vgl. auch Claude, a.a.O., S. 158 f. 26 Vgl. Grewe, AöR 39 (1952/53), S. 247. Ähnlich bereits für den Völkerbund Barandon, KrifP.':erhütungsrecht des Völkerbundes, S. 287. Vgl. dazu unten C.II.4. (S. 431 ff.). 28 Zum Problem der Hegemonie vgl. unten C.II.2. (S. 424 FN 66.).

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brierende und geopolitisch raumordnende Wirkung hat, die den Bestand und die Souveränität der übrigen Mitglieder garantiert. Eine universale Doppelhegemonie zweier heterogener Mächte wie die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion im Rahmen der OVN muß hingegen das System bedrohen, da hier kein wirklicher, über okkasionelle Übereinkünfte (z.B. im Fall der Irak-Sanktionsbeschlüsse~ hinausgehender friedenspolitischer Konsens der Hegernone denkbar ist.30 Diese Heterogenität war bereits 1945 sichtbar. Deswegen wurde Art. 27 Nr. 3 SVN in die Charta eingeführt.31 Die hierin zum Ausdruck kommende Berücksichtigung von Sonderinteressen der beiden Hauptmächte stellt einen eklatanten Verstoß gegen das Prinzip der souveränen Gleichheit des Art. 2 Nr. 1 SVN dar und entspricht nicht den konstruktiven Erfordernissen eines Systems kollektiver Sicherheit, dessen reziproker Charakter Gleichheit im Rechte- und Pflichtenbereich verlangt. Dies ergibt sich aus dem der kollektiven Sicherheit inhärenten demokratischen Prinzip.32 Demokratie für die "Schwachen" und Aristokratie für die "Starken" sind in einem wirklichen System kollektiver Sicherheit inkompatibel. Artikel 27 Nr. 3 SVN war der Preis für die formale Universalität des Systems. Freilich wurde gerade durch diese Regelung die universelle materielle Wirkung des Friedenssicherungsmechanismus verhindert, denn es war und ist offensichtlich, daß die Supermächte nicht nur sich selbst, sondern auch ihre jeweiligen Klientelmächte vor einer diskriminierenden Verurteilung gemäß Art. 39 SVN und den im Anschluß drohenden Sanktionen schützen würden.33 Es entsteht so ein kurioses Ergebnis. Universal ist die Macht und der Einfluß der Veto-Inhaber Vereinigte Staaten und Sowjetunion, nicht aber die Geltungskraft des Systems universaler kollektiver Sicherheit, wie es die SVN normativ vorsieht. Artikel 27 Nr. 3 SVN ist so im Ergebnis zweigesichtig. Einerseits balanciert er die Gewichte der nuklearen Großmächte gegeneinander aus und verhindert so den Sanktionenkrieg einer Großmacht gegen die je andere.34 Art. 27 Nr. 3 SVN ist insoweit kein Instrument der Kriegsverhütung im materiellen Sinne, aber diese prozedurale Regel dämpft, wie gezeigt35, die Hoffnung der Großmächte auf einen Sieg über die je andere im Namen des

Vgl. oben l.Teil: C.III.2.c. (S. 156 ff.). Dies hängt nicht ausschließlich mit dem ideologischen Gegensatz der beiden Supermächte, der sich im übrigen abzubauen scheint, zusammen, sondern auch und besonders mit ihren grundsätzlich verschiedenen geostrategischen Interessen. 31 Vgl. dazu oben 1. Teil: B.ll.l.a. (S. 61 f.). 32 Vgl. oben 1. Teil: A.I.l.a.(l) (S. 17 f.). 33 So ganz zutreffend Grewe, Friede durch Recht, S. 25. 34 Vgl. oben l.Teil: C.II.l.b. (S. 122 f.). 35 V gl. ebenda. 29

30

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universellen Völkersicherheitsrechts der SVN.36 Andererseits ist der Art. 27 Nr. 3 SVN gleichsam "Beschleuniger (sc. der Durchbrechung des Gewaltverbots37) wider Willen" (Schmitt). Statt des gewollten Prinzips universeller Sicherheit bewirkt Art. 27 Nr. 3 SVN die Errichtung von Einflußzonen, in denen die universalen Großmächte entweder selbst oder aber ihre staatlichen und nichtstaatlichen Handlungsgehllien nach Belieben unter ständiger Verletzung des Art. 2 Nr. 4 SVN operieren können.38 Durch die Möglichkeit der Verhinderung einer Verurteilung und Maßregelung der Großmächte und ihrer Klientel gemäß den Art. 39 ff. SVN entsteht ein beschleunigter Prozeß der Klärung militärischer und ökonomischer Machtverhältnisse in den jeweiligen Interessensphären. Dieser Prozeß ist raumintensiv, aber nicht raumordnend, da wirkliche politische Raumordnungserfolge grundsätzlich auf der freiwilligen Anerkennung der ordnungstiftenden Hegemone durch die von ihnen geschützen Staaten beruht, nicht aber auf der einseitigen und willkürlichen raumintensiven Machtdurchsetzung universal tätiger Staaten. Die "Grenzen" der jeweiligen Interessensphären der Supermächte stellen gewissermaßen moderne "amity-lines" dar39, innerhalb derer nicht gegeneinander gekämpft werden darf. Die notwendigen Stellvertreterkriege fmden außerhalb dieser Linien statt, zumeist in der sogenannten Dritten Welt, in der die Supermächte mit Hilfe nicht mehr autochton denkender Machteliten ihre Missions- und Waffentüchtigkeit erproben. Eine Pazifizierung im Sinne des VII. Kapitels der SVN fmdet nicht statt. "Beyond the Iine" herrscht die universelle Friedlosigkeit..co Art. 27. Nr. 3 SVN wirkt zwar im Verhältnis der Nuklearmächte zueinander deeskalierend, dokumentiert aber auch die von Anfang an fragwürdige Hoffnung auf eine universelle, Rechtsgleichheit vermittelnde Friedenssicherung, die unabhängig von den Raum- und Hegemonialinteressen der Supermächte durchzuführen gewesen wäre. 36

Vgl. Bindschedler, Festschrift Wehberg 1956, S. 74. Anm. des Verf. 38 Vgl. dazu oben 1. Teil: C.l.2.c. (S. 99 ff.). 39 Dieser Vergleich muß streng genommen hinken, da die Freundschaftslinien (amity lines) des 16. und 17. Jahrhunderts die rechtlichen Bedingungen des Krieges in einem konkreten homogenen Raum geographisch eingrenzten. Ultra limine war alles erlaubt. Bis in die jüngste Zeit standen sich zwei heterogene Machtgebilde gegenüber, deren jeweilige Einflußbereiche keine vernünftige Raumordnung verkörpern. Man denke nur daran, daß bis Ende 1989 die Grenze der Einflußsphären mitten durch das geteilte Deutschland verlief. .w Die wenigen Einsätze der "Blauhelme" im Rahmen des "peace-keeping'' berühren, wie an anderer Stelle bereits erörtert, entweder Konflikte an den Nahtlinien der Interessensphären der Supermächte oder aber völlig unbedeutende Regionen, in denen das Friedensbanner der OVN ohne Nachteile für die jeweilige Hegemonialmacht installiert werden kann. 37

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'}2,1

3. Die Antinomie zwischen vertikaler (Art. 39 SVN) und horizontaler Friedenssicherung (Art. 51 SVN) Weitere Bedenken betreffen den Artikel39 SVN, der in seinem Tatbestand Rechtsbegriffe enthält, deren Anwendung bei der Verhängung der Sanktionen des VII. Kapitel der SVN eine rechtlich diskriminierende Beurteilung des Sanktionsadressaten als "Friedensbedroher", "Friedensbrecher" oder ,,Angreifer" erfordern. Die Feststellung gemäß Art. 39 SVN verlangt anders als die Völkerbundsatzung, die auf die formelle Rechtswidrigkeit des Scbreitens zum Kriege abstellte, einen Entscheid über die materielle Rechtswidrigkeit (Verstoß gegen Art. 2 Nr. 4 SVN) der jeweiligen Gewaltanwendung. Besondere Schwierigkeiten bereitet dabei die im ersten Teil der Untersuchung festgestellte "größere Reichweite" des Art. 39 SVN gegenüber Art. 2 Nr. 4 SVN'1; ein Umstand, der es gestattet, daß einem Verbalten, welches noch nicht eine Verletzung des Gewaltverbots bedeutet, mit Sanktionen begegnet werden kann. Zunächst kann Kelsen nicht gefolgt werden, wenn er ein juristisches Problem, welches sich nicht in die Reinheit seiner Rechtslehre einfügt, durch die Kennzeichnung der Sanktionsmaßnahmen als "nicht-juristisch" sondern "politisch" ausräumen will.42 Das Wesen der Sanktionsgewalt, deren Aktivierung in jeder Rechtsordnung der Verletzung von Normbefehlen folgt, gebietet, daß Sanktionsmaßnahmen " ... ne sauraient etre prises que contre un etat qui a commis un acte illicite au sens du droit international" .43 Es handelt sich also, wie an anderer Stelle bereits ausgeführt44, um Maßnahmen des Rechts45, allerdings stellt sich die Frage, wie man die "größere Reichtweite", abgesehen vom Hinweis auf Art. 2 Nr. 3 S~ und dem Aspekt der größeren Effektivität47, als ein vorauseilendes Ermessen zur Verwirklichung des Normbefehls des Art. 2 Nr. 4 SVN mit einer überzeugenden völkersicherheitsrechtlichen Legitimität austaUen kann. Eine überzeugende völkerrechtliche Legitimität erzeugt sich in der Staatengesellschaft nicht allein durch eine von politischer Macht ermöglichte Behauptung von Rechtswabrheit, sondern zuvörderst durch KonsensbilVgl. oben 1. Teil: C.l.3.b. (S. 106 ff.). Vgl. dazu Kelsen, Principles of International Law, S. 54 f.; ders., AJIL 42 (1948) S. 783 ff.; Wehberg Friedens-Warte 45 (1945), S. 377. 43 Guggenheim, Traite de Droit International Public I, S. 264. 44 Vgl. oben 1. Teil: C.II.4. (S. 140 ff.). 45 Auf die prinzipielle Fragwürdigkeit einer strikten Unterscheidung von Recht und Politik sei hier am Rande hingewiesen. 46 Vgl. Bindschedler, Festschrift Wehberg 1956, S. 70. 47 Vgl. oben 1. Teil: C.l.3.b. (S. 106 ff.). 41

42

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dung und durch die Bestätigung der Rechtsübereinstimmung durch die Übung der konsentierenden Staaten. Ein solcher Konsens ist bei einem formellen Rechtswidrigkeitsbegriff, wie ihn die VBS in Art. 12 - 15 vorsah, relativ leicht zu erreichen, da formelle Kriterien von den Völkerrechtsanwendem keine materiellen Wert- oder Unwerturteile verlangen und somit noch typisches Völkerrecht im Sinne seiner traditionell koordinationsrechtlichen Qualität darstellen. Der Verzicht der VBS auf materielle Wertungen war insoweit durchaus Ausdruck völkerrechtspolitischer Klugheit. Allerdings sah sie kein zentrales Organ vor, welches über diese formelle Rechtswidrigkeit hätte entscheiden können, sondern überließ dies zumindest bei der Auslösung militärischer Sanktionen den einzelnen Staaten. In der OVN verhält es sich genau umgekehrt. Es besteht, anders als im Völkerbund, ein zentrales Feststellungsorgan (SR), welches freilich gerade durch die Notwendigkeit und Schwierigkeit eines zwischenstaatlichen materiellen Rechtsentscheides in seiner Aktionsfähigkeit behindert wird. Bei materiellen Kriterien, wie in Art. 39 SVN (Rechtsgut Frieden) kodifiziert, ergeben sich größte Schwierigkeiten bei der Konsensbildung, da für die Handhabung von unbestimmten wertenden Rechtsbegriffen in einem zwischenstaatlichen Sicherheitsrecht anders als für das Sicherheitsrecht auf nationaler Ebene gilt: "Während das Landesrecht (sc. das nationale Polizeirecht)48 in der Regel typisierte Tatbestände normiert, die sich in unzähligen Fällen wiederholen, hat es das Völkerrecht vor allem mit Tatbeständen einer individuellen Ordnung zu tun, die sich in jedem Einzelfall ganz verschieden präsentieren und gerade die wichtigsten verkörpern."49 Allgemeine und abstrakte Merkmale wie Friedensbedrohung, Friedensbruch und Angriffshandlung in Art. 39 SVN können daher nicht im Kontext einer ihnen inhärenten -geschichtlich gewordenen - autonomen Wesenheit interpretiert werden, sondern werden regelmäßig mit den partikulären Vorstellungen der jeweiligen Mitgliedsstaaten des SR zu diesen Begriffen ausgefüllt.50 Dieser Umstand gestaltet eine Konsensualentscheidung im SR sehr schwierig. Er läßt auch präzisierende Definitionen wie die oben besprochene Agressionsdefmition der GV51 in einem anderen Licht erscheinen. Trotz der grundsätzlieb anerkennswerten Bemühungen um tatbestandliehe Klarheit erlauben auch solche Defmitionen keine abschließende Klärung, sie können im Gegenteil unter völkerrechtspolitisch ungünstigen Bedingungen

48 Anm. des Verf. 49

Vgl. Bindschedler, Festschrift für Wehberg 1956, S. 79.

50 Vgl. Brierly, The Outlook for International Law, S. 65 f. oder auch de VtsSCher, Theorie

et Realite en Droit International Publique, S. 165 f. 51 Vgl. oben 1.Teil: C.l.4. (S. 109 ff.).

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durch die Vermehrung auslegungsbedürftiger Rechtsbegriffe eine der Intention gegenläufige Konfusion stiften. Es entsteht so ein auf den ersten Blick nicht evidenter Zusammenhang zwischen Art. 39 SVN und dem Veto-Recht des Art. 27 Nr. 3 SVN: Die Notwendigkeit der FeststeUung einer materieUen Rechtswidrigkeit, die auch immer politische Verurteilung ist, befördert die Anwendung des VetoRechts. Dies gilt um so mehr, als die Durchsetzung einer Weltfriedenspolizei im Vergleich zur staatlichen Polizei unter gänzlich verschiedenen Bedingungen stattfmden muß. Letztere kann auf eine konkrete polizeiliche Ordnung zurückgreifen, die von den Rechtsgenossen des jeweiligen Staates anerkannt und befolgt wird (obeissance prealable) und daher auch unbestimmte Rechtsbegriffe ertragen kann. Es bedarf hier keiner in jedem FaU neueinsetzenden Diskussion über den konkreten Inhalt dieser Rechtsbegriffe. Die StaatengeseUschaft steUt demgegenüber keine vergleichbar dichte Rechtsgenossenschaft dar, so daß unbestimmte material-wertende Rechtsbegriffe bei der im Vergleich dynamischeren Veränderung des rechtssoziologischen Substrats (sc. der politischen Beziehungen der Völkerrechtssubjekte untereinander) fast unüberwindliche Schwierigkeiten bereiten.52 Der Widerspruch zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit wird auf diese Weise im Völkersicherheitsrecht sehr deutlich. Rechtssicherheit ist im Zusammenhang des Art. 39 SVN deswegen nicht möglich, weil sich die Tatbestände dieser Vorschrift beziehungsweise die von ihnen abhängige Auswahl des Sanktionsadressaten im Sinne einer justitia vindicativa überwiegend an dem im zwischenstaatlichen Bereich kaum zu realisierenden Topos einer gemeinschaftlich-materialen GerechtigkeitvorsteUung orientiert, die auch dem Friedensverständnis der SVN zumindest sekundär zugrundeliegt. Auch der scheinbar unproblematische Minimalkonsens über den "negativen Friedensbegriff'' (Abwesenheit von Gewalt) ist bei näherer Betrachtung von einem jeweils unterschiedlichen Vorverständnis in bezug auf die Bedingungen des Verzichts auf Gewalt geprägt.53 Es wird im übrigen ignoriert, daß die Staatenwelt nur wenig geneigt ist, auf die justitieUen Fähigkeiten internationaler Organisationen zu vertrauen. Die historisch gewachsenen Rechtsordnungen der einzelnen Staaten können demgegenüber - dies wurde eben bereits angedeutet - eher damit rechnen, daß ihre Rechtsunterworfenen dem staatlichen Handeln eine Gerechtigkeitsvermutung zukommen lassen. Es kommt hinzu, daß die polizeiliche Sanktion zur WiederhersteUung des Rechtsfriedens im nationalen Be-

52

53

Vgl. dazu auch unten B.II.2.d.(2) (S. 349 ff.). Vgl. dazu oben l .Teil: A.I.l .b. (S. 21ft).

19 M enk

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reich in der Regel eine "mesure conservatoire" ist.54 Dieses konservierende, die gegenwärtige Gefahr schnell abwendende Eingreifen ohne Rücksicht auf subtile Gerechtigkeitserwägungen rechtfertigt sich im souveränen Staat aus dem anschließenden, meist justizförmigen Entscheid der entsprechenden Rechtsfrage. Dieser Gedanke läßt sich nicht ohne weiteres auf die Ebene des Völkersicherheitsrechtes übertragen. Zunächst könnte man von einer zwischenstaatlieben Gerichtsbarkeit keine dem nationalen Recht vergleichbare Rechtskraft - wer sollte diese garantieren?ss - erwarten. Eine obligatorische zwischenstaatliche Schiedgerichtbarkeit ist aber Voraussetzung einer für die kollektive Sicherheit notwendigen "Iiaison entre arbitrage et mediation". Für den Tatbestand des Art. 39 SVN ergäbe sich, daß man ihn seines petitoriscben Charakters entkleiden müßte, das beißt, die durch seine Tatbestandsmerkmale mit der Bestimmung des Sanktionsempfängers verbundene vorgegebene Entscheidung über Recht und Unrecht eines objektiv friedensstörenden Verhaltens wäre zunächst zu vermeiden. Man könnte hier natürlich einwenden, daß Art. 39 SVN keinen petitorischen Charakter aufweist, da er nicht über die zwischen die Kontrahenten umstrittene Völkerrechtsfrage entscheidet, sondern allein auf die abstraktrechtswidrige Gewaltanwendung abstellt. Ein solcher Einwand überzeugte aber nicht, da zum einen kein Nachverfahren für die Zeit nach der Unterdrückung der Gewaltanwendung vorgesehen ist, welches über die zugrundeliegende Rechtsfrage entscheidet, und zum anderen Art. 2 Nr. 4 SVN (Schutzgut der Art. 39 ff. SVN) das Gewaltverbot in Zusammenhang mit der Unverletzlichkeit der territorialen Integrität und politischen Unabhängigkeit stellt, so daß das Rechtsbegehren des Friedensstörers, welches regelmäßig mit dem Wunsch nach einer status quo-Veränderung verbunden ist, bei einer Verurteilung im Sinne des Art. 39 SVN in jedem Falle bemakelt ist.56 Der Gedanke an ein nichtwertendes Possessorium scheint den Satzungsgebern aber nicht ganz fremd gewesen zu seinS7, denn immerhin zeigt sich in Art. 40 SVN58 eine der Intention nach zunächst konservierende Norm, die gegenüber den präventiv-repressiven Sanktionen der Art. 41 und 42 SVN eine vorläufige Sicherung im Auge hat. Es dürfte nicht ohne Plausibilität sein, wenn man davon ausgebt, daß sich die souveränen Staaten mit ih54

65 f.

Vgl. Bindschedler, Festschrift Wehberg 1956, S. 79 f. mit Hinweis auf Brierly, a.a.O., S.

ss Der SR ist als Gerichtsvollzieher der fakultativen IGH-Rechtssprechung (vgl. Art. 92 Abs. 2 SVN) bisher nicht in Erscheinung getreten. 56 Vgl. dazu unten B.II.2.d.(l) (S. 346 f.). S7 Zum Unterschied zwischen Possessorium und Petitorium im Völkersicherheitsrecht vgl. unten B.II.2..d.(l) (S. 340 ff.). 58 Vgl. dazu oben 1.Teil: 0.1.3. (S. 195 ff.).

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ren unterschiedlichen Interessenlagen auf possessorische Maßnahmen, welche die dem Konflikt zugrundeliegende Völkerrechtsfrage nicht "durchentscheiden", wie dies im Falle der Anwendung von Sanktionen des VII. Kapitels der SVN de facto geschieht, eher verständigen könnten. Das Petitorium der Art. 39 ff. SVN wäre durch ein Possessorium zu ersetzen, das nicht an ein völkerrechtliches Unwerturteil gebunden ist, sondern sich darauf beschränkt, zunächst die in einem militärischen Streit befangenen Parteien wenn notwendig, auch gewaltsam - zu trennen und so den Weg für ein nichtmilitärisches petitorisches Nachverfahren frei macht. Dies setzte völkerrechtsdogmatisch voraus, daß man zumindest die Begriffe "Friedensbruch" und ,,Angriffshandlung" als einen Handlungsunwert beschreibende Tatbestands~erkmale eliminiert und so den in Art. 39 SVN enthaltenen diskriminierenden Kriegs- beziehungsweise Gewaltbegriff aufgibt.511 Die damit notwendig verbundene Installierung einer obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeil setzte allerdings ein bestimmtes Maß an gemeinschaftlichen Völkerrechtsüberzeugungen voraus, die, rechtssoziologisch gedacht nur auf der erfolgversprechenden Genossenschaft von in räumlich-politischer Hinsicht überschaubar und vernünftig zusammengefaßter Völkerrechtssubjekte beruhen kann. Es darf hier bereits angedeutet werden, daß es fraglich erscheint, ob ein solches Modell possessorischer Friedenssicherung universell, das heißt auf globaler Ebene zu realisieren ist. Die SVN jedenfalls sieht keine obligatorische Schiedsgerichtbarkeil vor.60 Eine possessorische, erfolgversprechendere Friedenssicherung knüpfte also nicht mehr an die schwierige Frage nach der schuldhaften Gewaltanwendung an, sondern will pragmatisch die Gewalt als Modus des Politischen überwinden, ohne die den Konflikten zugrundeliegende jeweilige Rechtsfrage zu entscheiden61 • Man müßte folgerichtig von der Verteidigung eines starren status quo Abstand nehmen, wie er durch Art. 2 Nr. 4 vorgegeben ist.62 Stabilität mag im Verkehr der Staaten untereinander einen hohen Wert verkörpern. Adynamische, das heißt statische "Stabiltät" kann aber gewaltsame status quo-Veränderungen nachgerade herausfordern. Wirkliche politische und damit auch rechtliche Stabilität resultiert aus einer berechenbar-beweglichen Völkerrechtsordnung.

511

Vgl. dazu unten B.III.2.d. (S. 407 ff.). Zur Rolle des IGH, der diese Aufgabe nicht erfüllen kann, vgl. Verdross/Simma, Völkerrecht, S. 117 ff. 61 Vgl. dazu unten B.II.2.d.(l) (S. 340 ff.). 62 Der unzureichende und in der Praxis bislang auch nicht hervorgetretene Art. 14 SVN (peaceful adjustment), der die Möglichkeit einer friedlichen status quo-Veränderung andeutet, ist hierfür kein erfolgversprechendes Mittel. 60

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Da die obengenannten Bedingungen zumindest global nicht erfüllbar sind, kann ein universelles Gewaltverbot nicht zum beherrschenden zwischenstaatlichen Rechtsaxiom werden; besonders ist den Staaten mangels effektiver überstaatlicher Rechtschutzgarantien der Verzicht auf jede gewaltsame Rechtsdurchsetzuns nur schwer zuzumuten63, es sei denn, man wollte einen grundsätzlichen Vorrang der Gewaltlosigkeit gegenüber dem übrigen Recht postulieren. Das haben offensichtlich auch die Satzungsgeber gesehen. Sie haben in Art. 51 SVN das Recht zur Selbstverteidigung verankert; das heißt, die defensive gewaltsame Durchsetzung des rechtlichen status quo wurde für statthaft erklärt. Artikel 51 SVN stellt insoweit eine Durchbrechung der "reinen" Konzeption eines vertikalen Systems kollektiver Sicherheit dar, dem man offensichtlich nicht vollständig vertraute. Die Annahme einer Durchbrechung des Konzepts beruht dabei nicht so sehr auf der in Art. 51 SVN enthaltenen Bestätigung des Rechts auf staatliche Selbsterhaltung, denn dieser Gedanke erscheint auch in dem innerstaatlichen Rechtsinstitut der Notwehr, ohne daß hierdurch das Gewaltmonopol des Staates ernsthaft in Zweifel gezogen würde. Auch der Begriff der "collective self-defense" läßt sich als Ausdruck der Nothilfe auf den ersten Blick entsprechend deuten64, denn die Existenz von Allianzen im Sinne des Art. 51 SVN scheint dem Grundgedanken der Subsidiarität der Selbstverteidigung nicht zu widersprechen. Hier darf aber ein erheblicher, wenn nicht sogar entscheidender Aspekt nicht übersehen werden. Das innerstaatliehe Notwehr- beziehungsweise Nothilferecht kennt im allgemeinen keine kollektiven Nothilfeabsprachen zwischen potentiell Betroffenen für den Fall eines rechtswidrigen Angriffs. Würde man solche Absprachen von der Seite des Staates anerkennen, wäre die Bildung von Bürgerwehren und Ähnlichem, das heißt einer Privatpolizei neben der staatlichen Polizei, die Folge; ein Umstand, der das staatliche Gewaltmonopol unzuträglich unterminierte. Die Praxis, die sich im Zusammenhang des Art. 51 SVN herausgebildet hat, bedeutet aber in Bezug auf das vermeintliche Gewaltmonopol des SR im Bereich der zwischenstaatlichen Gewaltanwendung nichts anderes. Neben der Maschinerie der kollektiven Sicherheit entstanden im Gefolge der Gründung der OVN Militärallianzen des alten Typus (NATO, WP, etc.), die bis heute unter dem Rubrum "collective self-defense" die beherrschende Stellung in der Kriegsverhütung einnehmen. Wenn aber Art. 2 Nr. 4 SVN ein allgemeines zwischenstaatliches Gewaltverbot statuiert, und der 63 Vgl. Bindschedler, Festschrift Wehberg 1956, S. 80. Vgl. auch oben 1. Teil: C.I.l u. 2. (S. 87 ff.). 64 So auch viele Stimmen in der Völkerrechtslehre. Vgl. stellvertretend für viele VerdrossjSimma, Völkerrecht, S. 291 m.w.N. oder Kunz, Individual and Collective Self-defense, in: The Changing Law of Nations, S. 563 ff.

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SR Hüter dieses Gewaltverbots (Art. 24 Nr. 1 i.V.m. Art. 39 ff. SVN) sein soll, dann erscheint die Zulassung festgefügter Allianzen im Rahmen einer auf einem normativ postulierten universellen Friedenskonsens beruhenden Friedenssicherung als Fremdkörper. Sie sind mit ihren verhüllten, meist aber erkennbaren Spitzen gegen den Angreifer direkt auf den Konfliktfall ausgerichtet, wie etwa die bisherige Frontstellung zwischen NATO und Warschauer Pakt eindeutig gezeigt hat. Die letztgenannten Allianzen illustrieren auf eine eindringliche Weise, daß gerade die Staaten, die an der Gründung der OVN maßgeblich beteiligt waren, dem von ihnen geschaffenen System universeller kollektiver Sicherheit am wenigsten vertrauten.65 Für sie stand offensichtlich fest: Völkerrechtliche Kriegsverhütungsexperimente sind gut, das bewährte Mittel der Allianz ist besser. Ein solcher Standpunkt soll nicht gedankenlos kritisiert werden, denn immerhin hat dieses Konzept mit dem aus ihm erwachsenen fragilen Gleichgewicht zumindest den Frieden in Europa über Jahrzehnte hinweg ermöglicht. Klassische Allianzen bedeuten in einer Organisation kollektiver Sicherheit gleichwohl eine Systemwidrigkeit, verhalten sich antinomisch zu ihr, da sie schlagkräftige und einsatzfähige Militärpotentiale versammeln, die nach dem Konzept der OVN eigentlich dem Zentralorgan der Sicherheitsorganisation (SR) zukommen sollten.66 Der Umstand der Allianzenbildung ist denn auch in der Literatur verschiedentlich als eine "erstaunliche Entwicklung" gekennzeichnet worden.67 Allianzen innerhalb der OVN mögen satzungsgemäß, nicht aber typenkonform sein.68 Daran ändert auch das in den Allianzverträgen nicht selten anzutreffende Ornat sogenannter Harmonisierungsklauseln nichts, welche die Allianzen auf die Grundsätze der SVN verpflichten.69 Solche Klauseln tragen allenfalls der allgemeinen Abwertung von Offensivallianzen Rechnung, die mit dem Gedanken der Ächtung des Angriffskrieges einherging.70 Herkömmliche Allianzen, wie sie heute noch prävalieren, entsprechen nicht der weltpolitischen Grundvorstellung der SVN, die von dem Konzept der "one world" und damit denknotwendig vom Modell der "one peace" ausgegegangen war. Typologisch, historisch und politisch sind diese Allianzen das Abbild der weltpolitischen Realität, konterkarieren aber den vermeintli65 & darf nicht vetwundem, daß die in Art. 23 Nr. 1 SVN genannten Mächte (die ständigen Mitglieder des SR) in ihrer Politik der "Paktomanie" am fleißigsten sind. 66 Vgl. zu Art. 43 SVN oben 1. Teil: C.II.3 (S. 126 ff.). 67 Vgl. Rumpf, JIR 12 (1965), S. 75 m.w.N. 68 Vgl. Rumpf, a.a.O., S. 88 f. 69 Vgl. etwa Art. 5 u. 7 des NATO-Vertrages; Art. 5 u. 6 des WEU-Vertrages; Art. 4 des Warschauer Vertrages. Vgl. auch Rumpf, a.a.O., S. 87, bes. FN 20 u. 21. 70 So schon Lammasch, Das Völkerrecht nach dem Kriege, S. 165 ff. der nach dem Ersten Weltkrieg meinte, daß Angriffsbündnisse pro futuro unverbindlich seien.

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eben Konsens über die universelle Friedenssicherung. Allianzen bedeuten konfliktsoziologisch einen Zustand latenter Feindseligkeit, der durch Art. 51 SVN in den formellen "ewigen Frieden" des Art. 2 Nr. 4 SVN eingebettet ist. Ausgehend von der erörterten Allianzenpraxis, die de facto das Modell des klassischen Staatenkrieges perpetuiert, soll nun im folgenden nach dem Schicksal des völkerrechtlichen Kriegsbegriffs unter der Ägide der SVN gefragt werden.

4. Das Ende des klassischen Kriegsbegriffs Anders als das klassische Völkerrecht und noch die VBS kennt die SVN den völkerrechtlichen Begriff des Krieges nicht mehr.71 Ein Grund für den Umstand der Nichtaufnahme eines juristischen Kriegsbegriffs in die SVN mag die Hoffnungslosigkeit einer verbindlichen Kriegsdefinition gewesen sein.72 Immerhin hat es für den Krieg allein in dem Zeitraum zwischen 1900 und 1940 etwa 70 Definitionsangebote gegeben.73 Trotz der im klassischen Völkerrecht grundsätzlich strengen Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden konnte es zu Kriegsbegriffen kommen, die einerseits völlig absurd den Konflikt zwischen Japan und China (1932-1937) als Nicht-Krieg erscheinen ließen74 und andererseits, nicht weniger kurios, die Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und den meisten südamerikanischen Staaten während des Zweiten Weltkrieges als Krieg auffaßten, ohne daß irgendwelche Kampfhandlungen stattgefunden hätten.75 Herrschend war insoweit ein formeller Kriegsbegriff, der vor allem eine Kriegserklärung und einen entsprechenden animus belligerendi verlangte.76

71 Zum Kriegsbegriff in der Völkerbundsatzung vgl. ihre Art. 11, 12, 13, 15, 16, 17 und 22. Der politische Begriff der "scourge of war'' in der Präambel der SVN gibt für eine völkerrechtliche Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden nichts mehr her. Er weist eine moralisierende Konnotation auf. 72 So Brownlie, Use of Force, S. 59, der die Wendung des "resort to war'' als "tbe most unfortunate term employed in tbe convenant (sc. der VBS)" bezeichnet. 73 Vgl. dazu Rumpf, AVR 6 (1956/1957) S. 51. Fauchille (fraite de Droit International, S. 1) bat schon 1921 nicht ohne Ironie angemerkt, daß jeder Jurist seine persönliche Auffassung vom Kriege habe. 74 Sehnlitt (Totaler Feind, Totaler Krieg, Totaler Staat (1937), in: ders. Positionen und Begriffe, S. 236) bat solche Fälle zutreffend als "sogenannte militärische Repressalien" bezeichnet. 75 Vgl. dazu Bindschedler, Festschrift Wengier 1973, S. 28 FN 6, der auch die "Dröle de Guerre", den "Sitzkrieg" im Winter 1939/40 zwischen Deutschland und Frankreich, in diesem Zusammenbang zutreffend erwähnt.

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Ein materieller Kriegsbegriff vermeidet diese Schwächen. Für ihn ist der Krieg kein "Zustand" sondern ,,Aktion" .71 Ein kriegsrechtlicher status mixtus ist hier nicht denkbar.78 Diese Kriegsauffassung haben sich die Redaktoren des Art. 2 Nr. 4 SVN in nuce zu eigen gemacht; diese Norm erfasst jegliche Gewaltanwendung, auch die ohne formelle Kriegserklärung.19 Gleichwohl kennt die SVN für erlaubte gewaltsame Handlungen, etwa die Maßnahmen der OVN gemäß Art. 41 und 42 SVN oder die individuelle oder kollektive Selbstverteidigung der souveränen Staaten gemäß Art. 51 SVN, keinen Rechtsbegriff, an dem eine Fortentwicklung der im klassischen Völkerrecht üblichen Dreiteilung "Krieg - Frieden - Neutralität" anknüpfen könnte.80 Der in der SVN allfällig auftauchende Begriff der "force" ist hierfür untauglich. Der Gewaltbegriff des Art. 2 Nr. 4 SVN ist also mit dem juristischen Kriegsbegriff des überkommenen Völkerrechts nicht identisch. Im Gegenteil: Art. 39 SVN orientiert sich für die Auslösung friedenssichernder Sanktionen an einem Friedensbegriff, der den noch in der Völkerbundsatzung enthaltenen Kriegsbegriff (Art. 11 ff. VBS) ersetzt. Damit ist freilich nicht viel gewonnen, da wegen der Unschärfe eines allgemein-abstrakten Friedensbegriffs auch keine präzise Negativdefinition des Krieges erreicht wird81 ; die im Anschluß an die Feststellung des Art. 39 SVN diskretionär augewandten Sanktionen sind dem Wortlaut der Charta nach folgerichtig "measures", die als juristisches Surrogat des überkommenen Kriegsbegriffs für die obengenannte dreiteilige Distinktion (Krieg-Frieden-Neutralität) ebenfalls nicht verwertbar sind.

76 Eine informative Darstellung zu Bedeutung und Wandel der hiermit verbundenen Kriegserklärung im klassischen Völkerrecht bietet Wolff, Kriegserklärung und Kriegszustand nach klassischem Völkerrecht, 1990. 71 Vgl. dazu Rumpf, a.a.O., S. 52 oder auch Schmitt, Über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind (1938), in: ders., Positionen und Begriffe, S. 244. 78 Ein wm Begriff der ,,Aktion" gesteuerter materieller Kriegsbegriff erweist sich für das Kriegsverhütungsrecht - etwa für die Auslösung von Sanktionen - als nützlich, eliminiert aber nicht notwendig die Brauchbarkeit eines statuarischen Kriegsbegriffs, der sich an der notwendigen Transparenz eines zwischenstaatlichen Rechtszustandes orientiert. Für den traditionellen Kriegsbegriff in diesem Sinne Grob, Relativity of War, S. 195. 79 Die Definition des Krieges als "Kampf zwischen Staaten mit Waffen" wurde zutreffend als unzureichend empfinden. Vgl. dazu Rumpf, AVR 2 (1950), S. 41 m.w.N. 80 Vgl. Wengler, Völkerrecht II, S. 1369. Zum unzureichenden Begriff des "armed conflict" vgl. unten B.III.l. (S. 371). 81 So wohl auch Rumpf, a.a.O., S. 44, der darauf hinweist, daß solche Allgemeinbegriffe allenfalls zur Etweiterung des Handlungsspielraums des SR taugen, nicht aber zur genauen juristischen Erfassung des Problems.

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Es wird denn auch zum Teil folgerichtig vertreten, daß es keinen Krieg im Rechtssinne mehr gäbe, sondern vielmehr einen aus Art. 2 Nr. 4 SVN ableitbaren Anspruch auf Freiheit von Gewalt.82 Nach dieser Auffassung wäre der SR nur noch Gerichtsvollzieher bei der Realisierung eines mit der SVN entstandenen Rechtstitels auf Herstellung des "ewigen Friedens". Die Zwangsmaßnahmen des SR (Art. 41 und 42 SVN), aber auch die Selbstverteidigung der Staaten (Art. 51 SVN) können demnach kein Krieg sein; sie sind rechtsbegrifflich "Nicht-Krieg". Eine solche Auffassung kann aber nicht überzeugen. Wenn man die "measures" in Art. 39 ff. SVN betrachtet, so kann man gerade in Ansehung der von der Charta aufgenommenen materiellen Kriegsauffassung diese kaum als friedliche Maßnahmen betrachten.83 Sie haben kriegerischen Charakter.14 Daß eine Norm (Art. 2 Nr. 4 SVN) allein keinen Anspruch auf Freiheit von Gewalt eröffnet, zeigt die im ersten Teil der Untersuchung dargestellte Sicherheitspraxis der OVN hinreichend. Eine Auffassung, die gleichwohl den Krieg im Rechtssinne negiert, führt den Krieg aus dem klassischen zwischenstaatlichen Duellverhältnis der jeweils Kriegführenden heraus, obwohl - und das ist festzuhalten - die OVN nicht über eigene zwischen- oder eher überstaatliche militärische (Polizei-)Streitkräfte verfügt.85 Aber auch die für "Friedenseinsätze" des SR gemäß Art. 42 i.V.m. Art. 43 SVN vorgesehenen militärischen Verbände wären schließlich herkömmliche Streitkräfte der souveränen Staaten86, die sozusagen an den SR "ausgeliehen werden"; diese sollen unter dem organisatorischen Dach der OVN als verbündete Staaten gegen die Friedensstörer antreten.87 Bintischedler 82 So Wrighl, Festschrift Gross 1968, S. S f. oder auch Oppenheim-Lauterpachl, International Law II, S. 79. 83 Das gilt auch für die Wirtschaftssanktionen des Art. 41 SVN. Vgl. Wengler, Völkerrecht II, S. 1475 f. 84 Wengier (Völkerrecht II, S. 1273) will hier differenzieren. Nicht jede Maßnahme der Art. 41 und 42 SVN soll den Kriegszustand auslösen können. Ausgenommen sein sollen etwa die militärische Drohgebärde und die Blockade. Eine solche Auffassung widerspricht dem materiellen Kriegsbegriff. Gar nicht einzusehen ist, warum die Durchsetzung von IGH-Urteilen mit Waffengewalt (Art. 94 Nr. 2 SVN) kein Krieg im Rechtssinne sein soll. So aber wohl Wengler, a.a.O., S. 1474 FN 2, der hier paradoxerweise dann doch das jus in bello angewandt wissen will. 85 A.A. wohl Wengler, Völkerrecht II, S. 1372, der ohne weitere Begründung von "eigenen Streitkräften" der OVN spricht. 86 Vgl. Bindschedler, Melanges Andrassy 1968, S. 80 oder ders., Festschrift Wengier 1973, S. 31. Vgl. auch Art. 45 SVN, der von einer "combined international (sc. zwischenstaatlichen) enforcement action" spricht. 87 Vgl. Art. 48 SVN, welcher anordnet, daß" ... decisions (sc. des SR) shall be carried out by the (sc. sovereign) members of the United Nations". Art. 49 SVN gebietet die Beistandspflicht der souveränen Mitglieder.

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weist zu Recht darauf hin, daß sich selbst bei der Annahme "eigener Truppen" des SR am (sc. kriegerischen)88 Charakter der Zwangsmaßnahmen nichts änderte.89 "Une armee de Ia paix reste une armee"90, und Armeen führen eben Krieg. Eine weitere Folge des Fehlens eines juristischen Kriegsbegriffes in der SVN ist die nur ungenaue juristische Erfassung der nach wie vor zahlreichen Gewaltanwendungen zwischen den Staaten, so daß strenggenommen auch die Regeln des jus in bello in den Konflikten keine Anwendung fmden.91 Die Folge ist Gewaltanwendung ohne juristischen Kriegszustand, welche sich unter dem Mantel des formellen Friedens politisch leichter verschleiern beziehungsweise rechtfertigen läßt.92 Das überkommene klassische Völkerrecht und der in ihm enthaltene Rechtsbegriff des Krieges zeigen, daß die Relevanz eines juristischen Kriegsbegriffs darin besteht, daß die während des Kriegszustandes zwischen den beteiligten Staaten unternommenen militärischen und sonstigen Operationen einem kriegsrechtliehen Regime unterworfen sind und so eine gewisse Transparenz und Berechenbarkeil für Beteiligte und Unbeteiligte erfährt. Es entsteht eine potentiell konfliktdämpfende Publizität.93 Fehlt ein solcher Kriegsbegriff, so entsteht eine Grauzone, in der das ciceronische inter bel/um et pacem nihil medium94 nicht mehr gilt. Wenn man von der Beseitigung des Krieges im juristischen Sinne ausgeht, ergibt sich weiterhin die Frage, welche rechtliche Qualität militärische Maßnahmen der Staaten im Kontext des Art. 51 SVN haben. Geht man von einem treuhänderischen Verständnis des Art. 51 SVN aus95, so wären auch notwendige militärische Maßnahmen zur Abwendung eines bewaffneten Angriffs begrifflich "Nicht-Krieg" (s.o.), da die Staaten gleichsam in einer Art "Geschäftsführung mit Auftrag (sc. des Art. 51 SVN)" für den Sicherheitsrat handelten. Daneben verbliebe ein jus ad defensionem in bezog auf die staatliche Selbsterhaltung.96 Ein solcher Gedanke mag einerseits ange88

Anm. des Verf. Vgl. Bindschedler, Metanges Andrassy 1968, S. 80. 90 Freund, Le Nouvel Age, S. 187. 91 Für das humanitäre Kriegsrecht, daß sich nunmehr größtenteils am sogenannten "armed conflict" orientiert, mag dies nicht mehr ~