Gesundheitsökonomie: Bestandsaufnahme und Entwicklungsperspektiven [1 ed.] 9783428544424, 9783428144426

Gesundheit zu definieren ist nicht einfach: Definitionsversuche reichen von der Weltgesundheitsorganisation bis zu Einze

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Gesundheitsökonomie: Bestandsaufnahme und Entwicklungsperspektiven [1 ed.]
 9783428544424, 9783428144426

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Schriften der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e.V. Band 30

Gesundheitsökonomie Bestandsaufnahme und Entwicklungsperspektiven

Herausgegeben von David Matusiewicz Jürgen Wasem

Duncker & Humblot · Berlin

MATUSIEWICZ/WASEM (Hrsg.)

Gesundheitsökonomie

Schriften der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e. V. Band 30

Gesundheitsökonomie Bestandsaufnahme und Entwicklungsperspektiven

Herausgegeben von David Matusiewicz Jürgen Wasem

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0435-8287 ISBN 978-3-428-14442-6 (Print) ISBN 978-3-428-54442-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-84442-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

„Wüssten es nur die allzeit fertigen Urteiler und die leicht fertigen Dilletanten, was es kostet, ein ordentliches Werk zu erzeugen.“ Schiller an Goethe

Vorwort Gesundheit zu definieren ist nicht einfach: Definitionsversuche reichen von der Weltgesundheitsorganisation bis zu Einzelmeinungen von Wissenschaftlern, die – wie auch in diesem Buch – mit eigenen Definitionen arbeiten. Ökonomie als Begriff wird heute in verschiedenen Dimensionen verwendet: Er ist eine Bezeichnung von Wirtschaft im Sinne der nationalen Ökonomie, steht für das Fach der Wirtschaftswissenschaften und wird als Tätigkeit im Sinne der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit verwendet. Doch wenn schon die beiden Bestandteile einer Zwitterdisziplin unscharf sind, kann man die Gesundheitsökonomie* überhaupt eindeutig eingrenzen? Muss es überhaupt eine abschließende Definition geben? Halten wir uns nicht zu lange daran auf, denn in diesem Buch gibt es vieles über die Disziplin und ihre Entwicklungen in alle Himmelsrichtungen zu berichten. Die Herausgeber danken Herrn Prof. Dr. Werner Sesselmeier und Frau Prof. Dr. Aysel Yollu-Tok für die Idee zum vorliegenden Buch und die gute Zusammenarbeit. In diesem Zusammenhang danken wir ebenso der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e. V. für die finanzielle Unterstützung. Darüber hi­ naus danken die Herausgeber den Autoren, die das Buch durch ihre interessanten Beiträge ermöglicht haben und so die wissenschaftliche Diskussion rund um die Gesundheitsökonomie vorantreiben. Unser Dank gebührt ebenso den engagierten Reviewern für die konstruktiven Kommentare und Anregungen. 1

Essen, den 24. August 2014

Die Herausgeber

*  Es ist inzwischen üblich, den Gegenstand als „Gesundheitsökonomie“, die Fachdisziplin, die sich mit diesem Gegenstand beschäftigt, hingegen als „Gesundheitsökonomik“ zu bezeichnen. Im weiteren Verlauf des Buches wird keine Unterscheidung der Begriffe vorgenommen.

Inhaltsverzeichnis Gesundheitsökonomie in Deutschland – Historie, Entwicklungen und Berufsbilder David Matusiewicz, Robert Paquet und Jürgen Wasem . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Der demografische Wandel und seine Implikationen für die medizinische Versorgung. Aktuelle Herausforderungen für die Gesundheitsökonomie Isabel Schmidt, Birgitta Bayerl und Klaus Nagels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Die experimentelle Methodik in der Gesundheitsökonomik Johanna Kokot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Modelle in der gesundheitsökonomischen Evaluation Martin Bierbaum und Oliver Schöffski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Gesundheitsökonomische Evaluation – Das Für und Wider der QALYs Janine Biermann, Anja Neumann, Jürgen Wasem und Sarah Mostardt . . . . . 93 Die zukünftige Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens aus gesundheitsökonomischer Perspektive: Grundlegende anreizbezogene Anmerkungen Peter Oberender und Jürgen Zerth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Nutzung von GKV-Routinedaten in der Gesundheitsökonomie Dennis Häckl, Holm Sieber und Danny Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Kosten und Nutzen – Gesundheitsökonomische Analyse und normative Implikationen Bernd Friedrich, Michael Lauerer, Constanze Klug, Isabel Schmidt und Klaus Nagels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Gesundheitsökonomie in der vertragsärztlichen Vergütung: Die Messung der Morbiditätsstrukturveränderungen der GKV-Versicherten Andreas Ryll, Stefan Leppin und Deniz Tümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Schnittstelle Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung – zwischen Effizienz und Effektivität Stephanie Stock, Tristan Gloede, Dirk Müller, Holger Pfaff und Nicole Ernstmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

8 Inhaltsverzeichnis Pflegeökonomie – eine neue Subdisziplin der Gesundheitsökonomie? Heinz Rothgang und Joachim Larisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Feindbild Gesundheitsökonomie – Ist eine Korrektur der öffentlichen ­Wahrnehmung notwendig? Barbara Buchberger, Dennis Häckl, Hans Wiesmeth und David Matusiewicz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Psychologische Ökonomie und Gesundheit Christian Krauth, Jona Peltner, Anika Brümmer und Anna Mutwill . . . . . . . . 257 Gesundheitsökonomie und medizinische Ethik Bernd Brüggenjürgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Die Trade Offs bei Reformen von Gesundheitssystemen Kornelia van der Beek und Gregor van der Beek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Kosten- und Nutzenkomponenten grenzüberschreitender Patientenmobilität in der Europäischen Union: Theorie und Empirie Paul Marschall und Diana Brümmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Gesundheitsökonomie in ressourcenarmen Ländern Steffen Fleßa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

Gesundheitsökonomie in Deutschland – Historie, Entwicklungen und Berufsbilder David Matusiewicz, Robert Paquet und Jürgen Wasem I. Hintergrund Viele Publikationen, die sich in den letzten zwanzig Jahren mit der Gesundheitsökonomie beschäftigt haben, beschrieben diese als „kleine Pflanze“, die nicht richtig definiert ist, keine klaren Konturen hat und somit in alle Richtungen gedeihen kann. Diese kleine Pflanze ist in der jüngeren Zeit kräftig gewachsen. Nicht zuletzt die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie in 2008, die inzwischen über 700 Mitglieder hat, unterstreicht dies nachdrücklich. Der vorliegende Beitrag gibt einen allgemeinen Überblick über die Entwicklung der Gesundheitsökonomie in Deutschland und stellt somit zugleich eine Bestandsaufnahme im Jahre 2014 dar. Zunächst wird der Begriff der Gesundheitsökonomie diskutiert. Im Anschluss folgt ein kurzer Abriss über die Historie des Fachs und seine Entwicklung in Deutschland. Dann wird auf zwei Besonderheiten des Themenfeldes hingewiesen und ein Überblick über das Berufsbild des Gesundheitsökonomen gegeben. Der Artikel schließt mit einer Betrachtung der weiteren Entwicklung des Faches. II. Begriff der Gesundheitsökonomie Um die Gesundheitsökonomie, die zu den Bindestrichökonomien gehört, zu beschreiben, bedarf es zunächst einer kurzen Definition der Termini Gesundheit und Ökonomie. Es ist inzwischen üblich, den Gegenstand als „Gesundheitsökonomie“, die Fachdisziplin, die sich mit diesem Gegenstand beschäftigt, hingegen als „Gesundheitsökonomik“ zu bezeichnen. Im weiteren Verlauf des Artikels wird allerdings in beiden Fällen von „Gesundheitsökonomie“ gesprochen. Die Gesundheit an sich besitzt zweifellos das Ansehen eines elementar wichtigen menschlichen Gutes, welches es zu erhalten oder zu verbessern gilt. Die World Health Organization (WHO) definiert Gesundheit als den Zustand des vollkommenen biologischen, sozialen und psychischen Wohlbefin-

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dens des Menschen. Das deutsche Krankenversicherungsrecht kommt von einer anderen Richtung und bezeichnet Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit im Sinne des § 27 des Fünften Sozialgesetzbuches (SGB V). Die Ökonomie wird nach dem Theoretiker Lionel Robbins wie folgt definiert: „Ökonomik ist die Wissenschaft, die menschliches Verhalten untersucht als eine Beziehung zwischen Zielen und knappen Mitteln, die unterschiedliche Verwendung finden können.“ (Original: „Economics is the science, which studies human behavior as a relationship between ends and scarce means which have alternative use“) (Robbins 1935). Es gibt für beide Termini keine allgemein anerkannte Definition, so dass an dieser Stelle nicht besonders verwundert, dass es bislang auch keine allgemeingültige Definition von Gesundheitsökonomie gibt (Klinghuber 2008). Nach herrschender Meinung wird Gesundheitsökonomie in der Literatur zumeist folgendermaßen definiert: Die Gesundheitsökonomie ist die wissenschaft­liche Beschäftigung mit den wirtschaftlichen Aspekten der Gesundheit und der Gesundheitsversorgung (Andersen 1992; Leidl 1994; Busse 2006; Graf von der Schulenburg 2008). Ausgangspunkt für die Beschreibung der Gesundheitsökonomie in Deutschland ist die Knappheit. Knapp sind für die Wirtschaftssubjekte die begrenzten Mittel, verglichen mit den vielfältigen Bedürfnissen, zu deren Befriedigung sie verwendet werden könnten (Robbins 1935). Das Knappheitsproblem wird dabei zumeist in einem bestimmten Rahmen durch den Markt selbst gelöst, indem das Aufeinandertreffen von Angebot und Nachfrage durch den Preis gesteuert wird. Sowohl in Deutschland als auch in anderen westlichen Nationen wird der Marktmechanismus bei der Gesundheitsversorgung jedoch nur begrenzt eingesetzt, da eine Marktsteuerung aufgrund der allokativen und distributiven „Besonderheiten“ von Gesundheitsgütern schwierig erscheint und aus diesem Grund eine öffentliche Finanzierung über Sozialversicherungsbeiträge und / oder Steuern vorherrscht (Culyer 1971; Wasem 1993). Der Knappheitsaspekt wurde dabei aufgrund der hohen Wertschätzung des Gutes Gesundheit in der Gesellschaft und der jahrelangen guten gesamtwirtschaftlichen Entwicklung nur nachrangig betrachtet (Wasem 2005), obwohl es in Deutschland seit den 70er Jahren Kostendämpfungsgesetze für die Krankenversicherung mit einer Budgetierungsstrategie gab. Die politischen Debatten und Reformen der letzten Jahre zeigen allerdings klar, dass die Ressourcen des Gesundheitssystems seit längerer Zeit nicht mehr ausreichend sind, um dem medizinisch-technischen Fortschritt und dem demografischen Wandel adäquat begegnen zu können (Willich 2006). Die Disziplin der Gesundheitsökonomie berücksichtigt daher das Problem der Knappheit auf der einen Seite und versucht auf der anderen Seite den Bedürfnissen der Gesellschaft gerecht zu werden und Lösungen anzubieten. Die Gesundheitsökonomie beschäftigt sich kurz gefasst mit den wirtschaftlichen Aspekten der Medizin.



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III. Historischer Abriss Die ersten Ansätze des Fachgebiets der Gesundheitsökonomie lassen sich in den Vereinigten Staaten von Amerika finden. Bereits im Jahre 1944 wurde an der School of Economics ein Büro für „Public Health Economics“ eingerichtet und das gleichnamige Journal ins Leben gerufen. Darüber hinaus beschäftigte sich die American Economic Association in der Ausarbeitung „Economics of medical care“ im Jahre 1951 mit der Schnittstelle zwischen Ökonomie und Gesundheitsversorgung (American Economic Association 1951). Dabei drehte sich bei dieser Fachtagung die Diskussion noch weniger um Fragen der Kostendämpfung als vielmehr um das Problem einer ausreichenden Angebotskapazität (Leidl 1994). Nach herrschender Meinung liegt die Geburtsstunde der Gesundheitsökonomie allerdings in dem Aufsatz des Nobelpreisträgers Ken Arrows mit dem Titel „Uncertainty and welfare economics of medical care“ aus dem Jahre 1963, bei dem wesentliche Ansichten und Begriffe des Faches geprägt wurden (Matusiewicz / Wasem 2014). Entwicklungen in den USA, die schon in den frühen 60er Jahren ökonomische Modelle für das Gesundheitswesen bereit stellten, wurden in Deutschland zunächst kaum beachtet. Die Meinung in der traditionellen deutschen universitären Sozialpolitik lautete, dass das Gesundheitswesen ein besonderer Markt sei, der sich nicht ohne weiteres in ökonomische Formeln einfangen lässt. So wurde in Deutschland der primäre Fokus auf die deskriptiven Darstellungen des Krankenversicherungssystem und die Ausformulierung allgemeiner ordnungspolitischer Positionen (mehr Markt, Bewahrung des gegliederten Krankenversicherungssystems, Solidarität und Subsidiarität) und die Ursachen der Ausgabenentwicklung in der Gesetz­ lichen Krankenversicherung fokussiert. In Deutschland finden sich seit 1965 die ersten gesundheitsökonomischen Publikationen (Herder-Dornreich 1996), wobei die Gesundheitsökonomie insbesondere durch die Colloquien und Bücher der Robert-Bosch-Stiftung ab 1978 gefördert wurde (Graf von der Schulenburg 2008). Im Jahre 1985, also 112 Jahre nach der Einführung der ersten sozialen Krankenversicherung in Europa durch Bismarck, wurde die Jahrestagung des Vereins für Sozialpolitik der Gesundheitsökonomie gewidmet. Durch die bedeutendste deutsche Fachvereinigung für Volkswirte wurde die Gesundheitsökonomie fortan als wissenschaftliches Fachgebiet anerkannt (Gäfgen 1986). Der gesundheitsökonomische Ausschuss im Verein für Socialpolitik wurde 1988 gegründet und hatte seine erste, konstituierende Sitzung im Jahr 1989. Vorsitzende des Ausschusses waren seit der Gründung im Einzelnen: Gerard Gäfgen (1988–1991), Peter Oberender (1992–1995), Eckhard Knappe (1996–1999), Eberhard Wille (2000–2001), Dieter Cassel (2002–2005), Friedrich Breyer (2006–2009), Stefan Felder (2010–2013) und Walter Ried (seit 2014). Ende 2008 wurde

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darüber hinaus die Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (dggö) durch 17 Hochschulprofessoren gegründet und hat den Stellenwert der Gesundheitsökonomie in Deutschland nachhaltig gestärkt. Gründungsvorsitzender war Matthias von der Schulenburg, ihm folgten im jährlichen Rhythmus Stefan Willich (2010–2011), Volker Ulrich (2011–2012), Friedrich Breyer (2012–2013) und Jürgen Wasem (2013–2014). Die dggö hat es sich zum Ziel gesetzt, gesundheitsökonomische Erkenntnisse in der Öffentlichkeit zu verbreiten und gegenüber Parlamenten und Regierungen zu vertreten. Im Kern geht es dabei sowohl um die Förderung der Wissenschaft und Forschung als auch der wissenschaftlichen Politikberatung auf dem Gebiet der Gesundheitsökonomie. Hierzu zählen ebenfalls die Förderung der Kommunikation und Kooperation aller Akteure im Gesundheitswesen, der interdisziplinäre Austausch und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fachgruppen, Fachgesellschaften und Institutionen in Theorie und Praxis (Deutsche Gesellschaft für Gesundheitsökonomie e.  V. 2008). Die dggö besteht aus insgesamt zehn Ausschüssen (Ökonomische Evaluation, Stationäre Versorgung, Entwicklungszusammenarbeit, Krankenversicherung, Versorgungsforschung, Verteilung, Vergütung und Erstattung, Gesundheitswirtschaft und eHealth, Gesundheitsökonometrie und Nachwuchswissenschaftler), die von Gesellschaftsmitgliedern ins Leben gerufen wurden. An dieser Stelle soll besonders die im Jahre 2012 gegründete Nachwuchsgruppe erwähnt werden, deren Ziel es ist, eine Plattform für junge Menschen zu bieten. Gelebt wird das Ganze in der wissenschaftlichen Jahrestagung sowie in Fachtagungen der Ausschüsse. Hier können etablierte Forscher wie Nachwuchswissenschaftler ihre Erkenntnisse rund um die Gesundheitsökonomie in Form von freien Fachvorträgen oder Postersessions präsentieren. International treffen sich die Forscher jährlich wechselnd auf dem europäischen Jahreskongress European Conference on Health Economics (ECHE) und dem weltweiten Jahreskongress der International Health Economics Association (iHEA). IV. Praktische Wurzeln Aber auch jenseits der geschilderten Entwicklung hat es in Deutschland immer schon Ökonomen gegeben, die sich mit dem Gesundheitswesen und seinen Problemen auseinandergesetzt haben z. B. Elisabeth Liefmann-Keil oder Wilfried Schreiber (Liefmann-Keil 1973; Dohle 1990). Es gab also „Gesundheitsökonomie“ in Deutschland lange bevor sie auch so genannt wurde. Erinnert sei hier auch exemplarisch an die Sozialenquête (Bogs 1966) und die Transfer-Enquête (Transfer-Enquête-Kommission 1981), die sich auch eingehend mit den Verteilungswirkungen des Gesundheitswesens und der Krankenversicherung beschäftigt haben. Naturgemäß haben prakti-



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sche Fragen im Spannungsfeld zwischen medizinischer Versorgung und Ökonomie immer wieder zu „gesundheitsökonomischen“ Forschungsarbeiten geführt, sozusagen avant la lettre. Verwiesen sei etwa auf die Schriftenreihe des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMAS), das bis 1990 auch für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) zuständig war. Das BMAS vergab im Laufe der 70er und 80er Jahre eine Fülle von wissenschaftlichen Forschungsaufträgen z. B. zu Planungsfragen der Versorgung (Krankenhäuser, niedergelassene Ärzte, Arzneimittel, Rehabilitation etc.), zur Umverteilung durch die Krankenversicherung und zur Leistungsund Kostentransparenz. Als wichtiger Treiber für die Entwicklung der Gesundheitsökonomie wirkte und wirkt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR). Er wurde 1985 als „Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen“ eingerichtet, um die Konzertierte Aktion, ein Gremium aus Vertretern der an der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung Beteiligten, in ihrer Arbeit zu unterstützen und ihr neue Impulse zu verleihen. Der SVR war von Anfang an durch Mediziner und Ökonomen besetzt (mit zwischen den Disziplinen wechselndem Vorsitz). Er hat in seinem Gutachten von 2007 selbst einen knappen Überblick über seine Wirkungen gegeben (SVR 2007). Ein weiterer Motor für die Arbeit an gesundheitsökonomischen Fragestellungen war – nach mehreren Vorläufern in den Bundesländern – die Entwicklung einer systematischen und problemorientierten Gesundheitsberichterstattung in Deutschland (Statistisches Bundesamt 1998). Neben der mehr akademisch geprägten Gesundheitsökonomie haben sich auch andere Einrichtungen mit gesundheitsökonomischen Fragestellungen beschäftigt. Das gilt einerseits für die etablierten Institutionen des Gesundheitswesens, wie z. B. den AOK-Bundesverband, der 1976 das Wissenschaftliche Institut der Ortskrankenkassen gegründet hat (WIdO 2013) oder die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die 1973 das ‚Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland‘ eingerichtet hat (ZI 2013). Neueren Datums ist die Gründung des Wissenschaftlichen Instituts der TK für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG) in 2006. Andererseits entstand in den 70er und 80er Jahren eine Reihe von privaten Forschungsinstituten, die im Auftrag von Ministerien, Verbänden, Krankenkassen, Unternehmen und Interessengruppen einschlägige Themen bearbeitet haben. Sie entwickelten sich meist als „spin off-Gründungen“ von Universitäten. Eine Variante war dabei die ‚Trägergesellschaft‘ für DrittmittelProjekte von Professoren mit engem Themenbezug (z. B. das 1975 gegründete Institut für Empirische Sozialökonomie (INIFES) des späteren SVR-Mitglieds und nachmaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Martin Pfaff (INIFES 2013) oder das Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie

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und Gesundheitssystemforschung e. V. (ISEG) des langjährigen SVR-Mitglieds Wilhelm F. Schwartz (ISEG 2014)). Langfristig war die andere Variante erfolgreicher: privatwirtschaftliche Gründungen mit einem professionellen Forschungsmanagement, wie die PROGNOS AG oder das 1980 gegründete Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES), das inzwischen über 100 Mitarbeiter hat (IGES 2014). Das Mosaik der bearbeiteten Themen (Transparenzprojekte, Gesundheitsberichterstattung, Arbeiten zum Risikostrukturausgleich, zur Krankenhaus-Bedarfsplanung, zur Morbiditätsentwicklung und zu Reformmodellen der Krankenversicherung etc.) wird beschrieben und kritisch reflektiert in einem Band der IGES-Schriftenreihe zum 65. Geburtstag des Gründers Wilhelm F. Schräder (Häussler 2006). V. Aktuelle Entwicklungen und Aufgaben Die Gesundheitsökonomie ist geprägt durch die allgemeine Entwicklung der Ökonomie. Am ehesten lassen sich die Entwicklungen anhand von Themenfeldern darstellen, womit sich Gesundheitsökonomen schwerpunktmäßig beschäftigen. Es können Themenfelder aufgezeigt werden, die ebenfalls von Nachbardisziplinen wie der Soziologie, Psychologie, Epidemiologie, Statistik Betriebs- und Volkswirtschaftslehre und Health Technology Assessments und Gesundheitssystemforschung geprägt werden. Hierzu zählen beispielsweise die folgenden Themenfelder und deren Verknüpfungen zueinander (Busse 2006): – Nachfrage von Gesundheitsleistungen: direkte und abgeleitete Nachfrage sowie Aspekte der Steuerung (z. B. Überwindung von Fehlsteuerung – angebotsinduzierte Nachfrage); – Angebot von Gesundheitsdienstleistungen: Produkte, Dienstleistungen, Kosten, Vergütung und Anreize; – Krankenversicherung: Leistungskatalog, Kosten, Finanzierungsmodell, Verteilungswirkungen, Zugang, Risikoselektion; – Determinanten von Gesundheit und Krankheit: individuelle, medizinische, demographische, epidemiologische, sozio-ökonomische, kulturelle und strukturelle Faktoren; – Objektiver und subjektiver Wert von Gesundheit: Präferenzen, Gesundheitsstatus, Lebensqualität; – Management von Gesundheitseinrichtungen: Planung, Regulierung, Steuerung, Monitoring, Managementkonzepte, Performance Measurement, System- und Schnittstellenoptimierung unter besonderer Berücksichtigung der öffentlich-rechtlichen Rahmenbedingungen;



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– Mikroökonomische Evaluation der medizinischen Versorgung: gesundheitsökonomische Evaluation (z. B. von Arzneimitteln, Medizinprodukten und Therapiekonzepten), Entscheidungsanalysen; – Evaluation von Gesundheitssystemen: Gerechtigkeit, Allokation, Vergleich auf nationaler und internationaler Ebene. Wie man anhand der Aufzählung der Themenfelder, die ja noch durch die Randgebiete ergänzt (oder auch ‚verwässert‘) werden, erkennen kann, ist die Gesundheitsökonomie – als Zwitterfach – an vielen Fragestellungen rund um das Gesundheitswesen beteiligt. Auf diesem Gebiet gibt es grundsätzlich Generalisten, die versuchen ein weites Feld abzudecken und Spezialisten, die sich bewusst eine Nische suchen und dort ein Expertenwissen aneignen. Der Begriff „Gesundheitsökonomie“ ist, wie schon in der Definition angesprochen, kein geschützter Begriff und wird daher auch gerne weit ausgelegt. Beim Ausreifen des Faches Gesundheitsökonomie gibt es noch keine trennscharfen Grenzen; dafür ist die Disziplin zu heterogen. Aktuelle Themen wie bspw. Glücksforschung und die Hinzunahme von psychologischen Ansätzen wie auch die zunehmende Berücksichtigung der Präferenzen der Versicherten bzw. Patienten zeigen auf, dass das Repertoire des Faches noch nicht ausgereizt ist. Ob es in Zukunft die genannten Subdisziplinen der mikroökonomisch basierten Entscheidungstheorie, welche sich u. a. mit dem Verhalten von Versicherten, Ärzten und Krankenversicherungen beschäftigt, die auf der neoklassischen Wohlfahrtstheorie aufbauende ökonomische Evaluationsforschung und Pharmakoökonomie, die nicht zuletzt seit dem Arzneimittelneuordnungsgesetz (AMNOG) an Bedeutung gewonnen hat, die betriebswirtschaftlich orientierte Krankenhausökonomie, die als Klassiker gilt, das weite Feld der Versorgungsforschung oder die Gesundheitssystemforschung sein werden oder ob neue Subdisziplinen entstehen werden, bleibt abzuwarten. Die Beachtung von medizinischen, soziologischen, technologischen, politischen und psychologischen Erkenntnissen macht das Fach so spannend und ist zugleich eine Herausforderung, Erkenntnisse in allen diesen Bereich zu berücksichtigen. Die Gesundheitsökonomie ist daher auf gut ausgebildete Fachkräfte (siehe Abschnitt zum Berufsbild Gesundheitsökonomie) und interdisziplinäre Zusammenarbeit angewiesen (von der Schulenburg 2008). Das Fach ist allerdings auch maßgeblich geprägt von der Nähe zu staatlichen Institutionen und der Drittmittelforschung (siehe hierzu auch Zweifel 2013). Forschung funktioniert nun einmal nicht ohne Fördermittel. Und so ist die Forschung auch abhängig von Forschungsaufträgen aus öffentlicher Hand oder der Industrie, die mit der Finanzierung auch bestimmte Themen und Forschungsfragen vorgeben, die von den gesundheitsökonomischen

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Lehrstühlen und anderen Forschungseinrichtungen behandelt werden. Natürlich gibt es auch Forschungsarbeiten aus purer Leidenschaft und Wissensdurst im Fach selbst oder weil jemand eine „Lücke“ erkennt, die er gerne schließen möchte. Die Nähe der Gesundheitsökonomie zum Staat entwickelt sich seit der Jahrtausendwende zunehmend in der Form, dass die halbstaatlichen Institutionen des Gesundheitswesen selbst gesundheitsökonomische Fragen bearbeiten bzw. dazu eigenständige Institute gründen. Das betrifft insbesondere den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), der als Selbstverwaltungsgremium der Kassen und Leistungserbringer (Ärzte, Zahnärzte und Krankenhäuser) die Konkretisierung des GKV-Leistungskatalogs vornimmt und über die Aufnahme neuer Diagnose- und Therapiemethoden in die GKV beschließt. Insbesondere für die Nutzenbewertung von Arzneimitteln (und Medizinprodukten bzw. Therapieverfahren) bedient sich der G-BA des von seinen Trägern 2004 gegründeten Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG). Es hat inzwischen 276 Mitarbeiter (Mihm 2013). Der G-BA beschäftigt sich aber auch selbst mit verschiedenen Fragen der Gesundheitsökonomie (z. B. mit Fragen der Bedarfsplanung und der Bewertung von Behandlungsmethoden); die Geschäftsstelle des G-BA hat über 130 Mitarbeiter (G-BA 2014). Für die Weiterentwicklung der Vergütung der stationären Leistungen haben die Spitzenverbände der Krankenkassen, der Verband der Privaten Krankenversicherung und die Deutsche Krankenhausgesellschaft 2001 das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK GmbH) gegründet. Es zählt z. Z. über 40 Mitarbeiter (InEK 2014). Eine ähnliche Einrichtung ist das ‚Institut des Bewertungsausschusses‘, das im Jahr 2006 von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenkassen gegründet wurde. Es hat ebenfalls über 40 Mitarbeiter (Institut des Bewertungsausschusses 2014) und unterstützt den Bewertungsausschuss der Ärzte und Krankenkassen vor allem bei der Weiterentwicklung des vertragsärztlichen Vergütungssystems. VI. Zentren der gesundheitsökonomischen Forschung In einer öffentlichen Bekanntmachung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung aus dem Jahre 2010 – auf die sich die folgenden Angaben beziehen – wurde mitgeteilt, dass im Zeitraum von 2012–2016 vier Gesundheitsökonomische Zentren mit einem Fördervolumen von 9 Millionen Euro ausgestattet werden (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2010). Hintergrund der Förderung ist, dass die Bedeutung der gesundheitsökonomischen Forschung in den vorausgegangenen Jahren erheblich zugenommen hat. Ferner wird der Bedarf an fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen für die Steuerung und effiziente Gestaltung des



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Gesundheitssystems auf mikro- und makroökonomischer Ebene als zunehmend dringlich erachtet. Die Aufgabe der Forschung wird als Prämisse gesehen, um Transparenz für gezielte Ressourcenallokation zu gewinnen. Hierzu sind umfassende Fachkenntnisse und spezifische Forschungsmethoden erforderlich. Vor der Förderung der gesundheitsökonomischen Zentren gab es in Deutschland nur vereinzelte wissenschaftliche Arbeitsgruppen (meist in Form von Lehrstühlen oder Instituten). Das Forschungsfeld „Gesundheitsökonomie“ wird durch das Bundesministerium als sehr heterogen und in der nationalen wie internationalen Forschungslandschaft als nicht ausreichend sichtbar eingeschätzt. Durch die Gründung der gesundheitsökonomischen Zentren wurden die Forschungsstrukturen in der Gesundheitsökonomie gestärkt. Ziel ist, die Zahl der qualifizierten und international anerkannten Forscherinnen und Forscher im Bereich der Gesundheitsökonomie in Deutschland zu erhöhen und eine nachhaltige Profilbildung einzelner Standorte zu erreichen. So soll auch die internationale Wahrnehmung der deutschen Gesundheitsökonomie verstärkt werden. Das Kernelement der gesundheitsökonomischen Zentren bilden Nachwuchsforschergruppen (bis zu zwei Gruppen konnten pro Zentrum beantragt werden). Aus insgesamt 17 Anträgen auf Förderung wurden vier besonders erfolgversprechende Zentren identifiziert. Die Förderung ist zunächst auf vier Jahre angelegt, kann aber bei einer erfolgreichen Zwischenbegutachtung auf maximal acht Jahre verlängert werden. Die aktuell geförderten Zentren in Duisburg / Essen und Hamburg haben am 01. Februar 2012 ihre Arbeit begonnen, die Zentren in Berlin und Hannover im Sommer 2012. Im Folgenden werden die genannten vier Zentren kurz beschrieben und Ihre laufenden Vorhaben vorgestellt. Eines haben alle vier auf den ersten Blick gemeinsam – ein schwer auszusprechendes Akronym als Abkürzung für die Institutionsbezeichnung. 1. Gesundheitsökonomisches Zentrum Berlin (Berlin HECOR)

Seit Juli 2012 bildet das Fachgebiet Management im Gesundheitswesen gemeinsam mit Partnern der TU Berlin (TUB) und der Charité eines der vier vom BMBF geförderten gesundheitsökonomischen Zentren in Deutschland. Das mit rund 2,2 Mio. Euro geförderte Gesundheitsökonomische Zentrum Berlin (Berlin HECOR) verfolgt neben dem Aufbau einer nachhaltigen, international wahrgenommenen gesundheitsökonomischen Forschungsstruktur die Entwicklung, Organisation und Implementierung einer umfassenden Leistungsmessung und -rechnung innerhalb des deutschen Gesundheitssystems. Die Leistungsmessung bezieht sich, angelehnt an das Health System Framework der Weltgesundheitsorganisation (WHO), auf die Bereiche (1) Bevölkerungsgesundheit, (2) Messung von Ungleichheit in

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Gesundheit und Gesundheitsversorgung, (3) Responsiveness (Eingehen auf gerechtfertigte Erwartungen der Bevölkerung) und (4) Effizienz in der Gesundheitsversorgung. Die Aktivitäten des gesundheitsökonomischen Zentrums am Fachgebiet Management im Gesundheitswesen umfassen ihre Nachwuchsgruppe Challenging Inequities in Health and Health Care (CHeC) sowie die Projekte Exploring health system responsiveness in ambulatory care and disease management (RAC) und Preclinical emergency medical services in Germany (EMSiG). Die Forschungen der Nachwuchsgruppe CHeC haben eine umfassende Berichterstattung zur Bevölkerungsgesundheit, zum Ausmaß von Ungleichheit in Gesundheit und Gesundheitsversorgung in Deutschland und zu den Gründen einer möglichen Ungleichverteilung zum Ziel. Das Teilprojekt RAC wird Evidenz zu Responsiveness im ambulanten Sektor des deutschen Gesundheitswesens erheben und auswerten, d. h. der Frage nachgehen, ob die ambulante „Normalversorgung“ und die Versorgung im Rahmen von strukturierten Versorgungsprogrammen den in sie gesetzten Erwartungen der Patienten gerecht werden. Das Projekt EMSiG untersucht, ebenfalls als Neuland, die Effizienz des präklinischen Rettungsdienstes im Vergleich zwischen den Bundesländern. Das weitere TUB-Teilprojekt Impact of Quality Management System (IQM-GH) wird den Erfolg von Qualitätsmessung im stationären Sektor untersuchen und somit das Potential von Leistungsmessung evaluieren. Ziel ist es, die Ergebnisse der Auswertungen in nachvollziehbaren Kennzahlen zusammenzufassen, eine transparente Leistungserfassung des deutschen Gesundheitssystems zu begründen und damit eine evidenz-basierte Gesundheitspolitik zu ermöglichen. Die Ergebnisse werden in entsprechenden internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht, aber auch mittels einer hierfür angelegten Internetplattform der deutschen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Erarbeitung internationaler Vergleiche und Summer Schools sowie Austauschprogramme mit internationalen Partnern sind fester Bestandteil der Arbeitsplanung (Berlin HECOR 2014). 2. Zentrum für gesundheitsökonomische Forschung Hannover (CHERH)

Das Center for Health Economics Research Hannover (CHERH) ist ebenfalls ein vom BMBF gefördertes Zentrum in Hannover, in dem Mediziner, Ökonomen und Gesundheitswissenschaftler der Leibniz Universität Hannover (LUH) sowie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) gemeinsam zu gesundheitsökonomischen Themen forschen. Das übergreifende Ziel des CHERH ist die gesundheitsökonomische Analyse und Optimierung von Versorgungsstrukturen. Gesetzlich vorgeschriebene Versorgungsprogramme



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von Krankenkassen sowie Behandlungsstrukturen von ausgewählten Erkrankungen werden mithilfe aktueller methodischer Ansätze evaluiert – unter besonderer Berücksichtigung von Patientenpräferenzen. Mit den Ergebnissen dieser Analysen soll ein fundierter, wissenschaftlicher Beitrag zur Unterstützung der Entscheidungsträger im deutschen Gesundheitswesen geleistet werden, mit dem langfristigen Ziel, die Versorgungsstrukturen in Deutschland zu verbessern. Die Forschung innerhalb des CHERH findet in drei Forschergruppen statt. Eine Nachwuchsgruppe beschäftigt sich mit der Analyse von Routinedaten der Gesetzlichen Krankenversicherung. Im CHERH werden diese Daten beispielsweise genutzt, um hausarztzentrierte Versorgungsprogramme zu evaluieren. Die zweite Nachwuchsgruppe führt Projekte im Bereich der gesundheitsökonomischen Entscheidungsanalyse und Verteilungsgerechtigkeit durch. Unter anderem werden Modelle zu Kosten und Nutzen von personalisierter Medizin bei Darm- und Lungenkrebspatienten erstellt. Die dritte Gruppe beschäftigt sich mit Patient Reported Outcomes (PRO). Ein integraler Bestandteil von CHERH ist das Doktorandenkolloquium (Hannover Colloquium for Health Economics) und die Durchführung von themenbezogenen Tagungen (CHERH 2014). 3. Universität Duisburg-Essen: Competence in Competition + Health (CINCH)

Kompetenz in den Bereichen Wettbewerb und Gesundheit ist gleichermaßen Motto wie Anspruch des gesundheitsökonomischen Forschungszentrums in Essen (CINCH). Die gesellschaftliche Diskussion um das Gesundheitswesen in Deutschland dreht sich um den Zielkonflikt zwischen umfassender und qualitativ hochwertiger medizinischer Versorgung einerseits und Begrenzung der Kosten und Beiträge für die Versicherten andererseits. Mehr Wettbewerb auf Gesundheits- und Krankenversicherungsmärkten kann diesen Zielkonflikt entschärfen. Wettbewerbsfragen werden im Rahmen von CINCH von zwei Nachwuchsgruppen und weiteren Projekten untersucht. Zwei Nachwuchsgruppen und mehrere eng angebundene Projekte gehen bei CINCH Fragen zum Wettbewerb im Gesundheitswesen nach. Die Nachwuchsgruppe EACH (Empirical Analysis of Competition in Health Care Markets) analysiert Wettbewerb im Gesundheitswesen empirisch mittels fortgeschrittener ökonometrischer Techniken und legt dabei Schwerpunkte auf regionalen Wettbewerb zwischen Leistungserbringern und Wettbewerb zwischen Krankenversicherern. Die Nachwuchsgruppe PBPC (Preferences and Behavior of Providers and Consumers in Health Care Markets) beschäftigt sich mithilfe experimentalökonomischer Methoden mit den Präferenzen und dem Verhalten von Anbietern und Nachfragern auf Gesundheitsmärkten. Drei Projekte ergänzen die Forschung der beiden Nachwuchsgruppen: ein

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Projekt zur Verfeinerung des Risikostrukturausgleichs am Lehrstuhl für Medizinmanagement von Jürgen Wasem, eines zu Pay-for-Performance am Lehrstuhl für quantitative Wirtschaftspolitik von Jeannette Brosig-Koch (beide an der Universität Duisburg-Essen) und eines zur stationären Pflege am Düsseldorfer Institut für Wettbewerbsökonomie (DICE). CINCH verbindet drei regionale Forschungsinstitutionen, das RheinischWestfälische Institut für Wirtschafsforschung (RWI) in Essen, die Universität Duisburg-Essen sowie das DICE an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Doktoranden in CINCH erhalten Zugang zu Veranstaltungen des Doktorandenprogramms der Ruhrgebietsuniversitäten (Ruhr-GraduateSchool) sowie zu einschlägigen Veranstaltungen an ausländischen Universitäten. Darüber hinaus werden ausländische Gastwissenschaftler nach Essen kommen und im CINCH forschen und lehren (CINCH 2014). 4. Hamburg Center for Health Economics (HCHE)

Aufbauend auf den bereits an der Universität Hamburg bestehenden Lehrstühlen soll das Zentrum die Integration der verschiedenen Forschungseinheiten vorantreiben und somit die Rahmenbedingungen für national und international sichtbare, interdisziplinäre Forschung von hoher Qualität schaffen. Begründet durch die starke methodische Ausrichtung der Zentrumsmitglieder ist das erklärte Ziel, klare methodische Standards zu entwickeln und anzuwenden. Über 50 Ökonomen und Mediziner forschen täglich gemeinsam am HCHE an Lösungen für die Gesundheitsversorgung der Zukunft. Diese Interdisziplinarität schafft die Basis für exzellente gesundheitsökonomische Forschung. Das HCHE nutzt darüber hinaus die umfangreiche methodische Expertise seiner Mitglieder, um gesundheitsökonomische Evidenz zu erzeugen, die wissenschaftlichen Anspruch mit praktischen Implikationen für Politik und Entscheidungsträger verbindet. Fünf Bereiche stehen im Mittelpunkt der Forschung: – Finanzierung des Gesundheitswesens: Im Zentrum dieses Forschungsschwerpunktes stehen drei Themenkomplexe: Optimale Krankenversicherungsverträge, Finanzierung und Gestaltung sozialer Krankenversicherungssysteme und Nachfrage nach Pflegeversicherung. – Gesundheitsökonomische Evaluation: Es werden Interventionen evaluiert, die die Organisation der Versorgung von Patienten im Gesundheitssystem verändern. Diese Interventionen können z. B. Disease Management Programme, Case Management Programme oder andere innovative Ansätze für das Management der Versorgung von Patienten sein. Hierfür werden Kosten-Effektivitäts-Analysen, Kosten-Nutzwert-Analysen und KostenNutzen-Analysen sowie Matchingverfahren und andere Methoden zur



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Adjustierung von Risiken zwischen Interventions- und Kontrollgruppe verwendet. – Krankenhäuser und Ärzte: Vergütungssysteme für Krankenhäuser und Ärzte setzen Anreize, wie Patienten behandelt werden. Unter dem Gesichtspunkt der Kostenkontrolle haben prospektive Systeme Vorteile. Allerdings können sie dazu führen, dass die Behandlungsqualität zurückgeht und dass Patienten unnötig behandelt oder abgewiesen werden. Es werden insbesondere die Wirkungen unterschiedlicher Vergütungssysteme untersucht und Modelle zu ihrer optimalen Gestaltung entwickelt. – Märkte für Arzneimittel: Die Preisregulierung von Arzneimitteln steht im Spannungsfeld von statischer und dynamischer Effizienz. Statische Effizienz erfordert, dass der Preis den Grenzkosten entspricht, während dynamische Effizienz bedingt, dass forschende Unternehmen ausreichende Gewinne erzielen, wenn sie ein wirksames Medikament entwickeln. Es wird analysiert, wie unterschiedliche Methoden der Preisregulierung sich auf dieses Spannungsfeld auswirken. – Bevölkerungsgesundheit: Im Zentrum dieses Forschungsbereiches stehen folgende Themenfelder: Ökonomie psychischer Erkrankungen, Gesundheit und Altern sowie Ökonomie der Adipositas (HCHE 2014). VII. Besonderheiten des Themenfeldes Die Gesundheitsökonomie ist in Deutschland mit zwei Besonderheiten konfrontiert, die die Arbeit komplizierter, aber auch spannend machen. Mehr als in anderen „Märkten“, mit denen sich Ökonomen beschäftigen, ist das Gesundheitssystem von öffentlich-rechtlichen Regelungen durchzogen. Das hängt auch damit zusammen, dass im Gesundheitswesen normative Fragen eine wesentliche Rolle spielen und daher in der ‚Gesundheitswirtschaft‘ – wie das System immer häufiger genannt wird – ein besonderes ‚Spannungsfeld‘ von ‚Ethik und Monetik‘ zu berücksichtigen ist. Das deutsche Gesundheitswesen ist weder eine rein staatliche Veranstaltung, noch beruht es auf überwiegend privatwirtschaftlicher Organisation. Es ist ein Mischsystem, das historisch ausgehend von der Sozialversicherung das Versorgungssystem in seinen wesentlichen Strukturen reguliert (Wille 1999). Die ‚Selbstverwaltung‘ als Besonderheit der Bismarck’schen Sozialversicherung wird damit zu einen wichtigen Gestaltungselement auch des Versorgungssystems. Die wesentlichen Entscheidungen in diesem System werden zum überwiegenden Teil in Selbstverwaltungskörperschaften (z. B. den Kassenärztlichen Vereinigungen) oder in Gremien der sog. ‚gemeinsamen Selbstverwaltung‘ von Krankenkassen und Leistungserbringern getroffen (z. B. in Form von Kollektivverträgen). Obwohl die nieder-

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gelassenen Ärzte private Freiberufler sind und es eine Vielzahl privater Krankenhäuser gibt, ist das System bis hin zu den ‚unternehmerischen‘ Entscheidungen der Einzelakteure weitgehen ‚korporatistisch‘ gesteuert. Der Gesundheitsökonom ist daher mit Entscheidungsstrukturen und Logiken konfrontiert, die sich grundlegend von ökonomischer Rationalität unterscheiden, wie sie in Lehrbüchern dargestellt wird. Hinzu kommt im deutschen Föderalismus die konkurrierende Zuständigkeit für Gesundheitsbelange einerseits des Bundes (für die Sozialversicherung) und andererseits der Länder (für weite Teile der Versorgung). Außerdem muss das Berufsrecht der Heilberufe berücksichtigt werden, das ebenfalls weitgehend durch die jeweils spezielle Selbstverwaltung generiert wird. Das Gesundheitswesen wirkt daher insgesamt als ein höchst kleinteiliges System, in dem jedoch alle Partialinteressen wirkungsmächtig organisiert sind und in der Politik ihre ‚Paten‘ haben. Die Gesundheitsökonomie muss sich daher nicht nur mit Ökonomie und Medizin auseinandersetzen, sondern auch mit dem öffentlich-rechtlichen Regulierungsrahmen und seinen Institutionen. Im Gesundheitswesen stellen sich tatsächlich mehr normative Fragen als in anderen dienstleistungsbezogenen Wirtschaftsbereichen. Sie reichen z. B. vom Einsatz der Gentechnik über die Regelungen zur Organtransplantation bis hin zur Risikoabwägung beim Einsatz von Arzneimitteln und Therapieverfahren. Auch die Definition des Leistungskatalogs der GKV greift letztlich auf normative bzw. ethische Kriterien zurück. Die normative ‚Aufladung‘ der Gesundheits- und Versorgungsfragen lädt andererseits zum Missbrauch ein: Gerade vor dem Hintergrund der Vielfalt der geschilderten Partialinteressen liegt es für die Akteure nahe, z. B. alle Einkommenswünsche (bestimmter Facharztgruppen oder Arzneimittelhersteller) ethisch zu überhöhen. Nicht jede Frage im System der Gesundheitsversorgung ist aber eine von ‚Leben und Tod‘. Gesundheitsökonomie hat daher auch eine ‚ideologiekritische‘ Aufgabe: Sie sollte helfen zu analysieren, was nach medizinischen bzw. ökonomischen Kriterien entschieden werden kann und ab welchem Punkt andere Maßstäbe eine Rolle spielen bzw. spielen sollten. VIII. Berufsbild Gesundheitsökonomie Die Gesundheitsökonomie hat sich seit den 90er Jahren als eigenständige Disziplin in der Hochschullandschaft etabliert und wird an zahlreichen Hochschulen gelehrt (siehe hierzu auch Matusiewicz / Wasem 2014). Es gibt an Universitäten und Fachhochschulen rund 60 gesundheitsökonomische Bachelor- und rund 50 Masterprogramme (Hensen 2010). Um der Nachfrage nach gesundheitsökonomischem Know-how gerecht zu werden, bieten



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heute zahlreiche Hochschulen Studiengänge wie Gesundheitsökonomie, Healthcare-Management oder Public Health an. Fachhochschulen und Privat­ hochschulen, die ebenfalls einen entsprechenden Studienschwerpunkt anbieten, wurden aus Übersichtsgründen nicht dargestellt, bilden allerdings ebenfalls wichtige Pfeiler in der Lehre der Gesundheitsökonomie in Deutschland. Das Studium der Gesundheitsökonomie geht dabei meist von einem generalistischen Ansatz aus und vermittelt den Studierenden Wissen aus der allgemeinen Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, Rechtswissenschaft und Medizin. Die Studierenden sollen dabei zwischen Medizin, Wirtschaft und dem politisch-rechtlichen Regulierungsrahmen vermitteln können und sich in diesen Fachrichtungen auskennen. Mögliche Arbeitsfelder für Gesundheitsökonomen sind im Wesentlichen die gesetzliche und private Krankenversicherung, Medizinische Versorgungszentren und Arztnetze, Krankenhäuser, pharmazeutische Hersteller und die Medizinprodukteindustrie, Rehabilitationseinrichtungen, Prüfungsund Beratungsgesellschaften, die Gesundheitsforschung wie auch die Verbände des Gesundheitswesens. Gemäß einer Umfrage der Universität Bayreuth bei Alumni des Faches Gesundheitsökonomie (240 Diplom und 75 Bachelor), waren die beruflichen Arbeitsfelder wie folgt: 36 % der Befragten arbeiteten in Krankenhäusern, 20 % in der Beratung, 17 % in der Industrie, 8 % in der Wissenschaft und 6 % bei Ministerien und Verbänden (Schlüchtermann 2013). In einer Online-Befragung im Jahre 2012 im universitären und außeruniversitären Raum wurden insgesamt 54 angehende und berufstätige Gesundheitsökonomen zu ihren beruflichen Erwartungen und Erfahrungen befragt. Die Ergebnisse wurden für Studierende und Berufstätige separat aufgeführt. Bei den Studierenden war sich ein Großteil (38 %) unschlüssig, in welchem Bereich die spätere Tätigkeit fallen würde. In absteigender Reihenfolge antworteten die Studierenden wie folgt: Krankenhäuser (25  %), Krankenversicherungen (13  %), Wissenschaft, Pharmaindustrie, Verbände und sonstiges (jeweils 6 %). Zu den Kriterien bei der Wahl des Arbeitgebers zählten bei den Befragten Unternehmenskultur, Karrierechancen, Grundgehalt sowie Eigenständigkeit. Die Bedeutung der Aspekte wissenschaftliches Arbeiten, Kongressteilnahmen als auch Autorenschaften war als gering eingestuft worden. Bei den Ergebnissen der Berufstätigen war das Tätigkeitsfeld nach Sektoren wie folgt angegeben: Wissenschaft (32 %), Sonstiger Bereich (32 %), Industrie (27 %), Krankenhäuser (5 %), Verbände (5 %) und Krankenversicherungen (0 %). Das wichtigste Kriterium der Berufstätigen war die Kultur der Arbeitgeber, die sich wiederum in die Ausprägungen kollegiale Unternehmenskultur, Eigenständigkeit, Flexibilität, und Reputation des Arbeitgebers unterteilten. Als weniger wichtig wurden die Aspekte „Teilnahme an Kongressen“ und „leistungsbezogenes Bonussystem“ bewertet (Mahlich / Morfeld 2012).

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Als Ziel des Studiums der Gesundheitsökonomie kann festgehalten werden, dass den Studierenden ein fundiertes gesundheitsökonomisches Grundwissen auf den Weg gegeben werden soll, das die Grundlage für die Mitgestaltung eines kohärenten und zukunftsfähigen Gesundheitssystems bildet (Oberender 2005) und sie durch fundierte Methoden und Instrumente in die Lage versetzt, in Zukunft die richtigen Entscheidungen auf dem Arbeitsmarkt der Gesundheitswirtschaft treffen zu können. Es wird oft der Eindruck erweckt, dass die Gesundheitsökonomie primär in den Wirtschaftswissenschaften ansässig ist und sich in die Medizinwelt, in der der Patient und nicht die Kosten im Vordergrund stehen, einmischt. Dieser These widersprechen zahlreiche Publikationen aus der medizinischen und klinischen Praxis, die sich mit der Gesundheitsökonomie auseinandersetzen (Szucs 1996). Vor dem Hintergrund der gewaltig angestiegenen Gesundheitsausgaben sehen sich auch die Mediziner immer stärker mit Fragen der wirtschaftlichen Konsequenz und Effektivität medizinischer Leistungen konfrontiert (Gross 2002). Ein Gesundheitsökonom, der ein Medizinstudium absolviert hat und sich mit gesundheitsökonomischen Sachverhalten bestens auskennt, hat aufgrund von seinem medizinischen Know-How auf dem Arbeitsmarkt die idealen Voraussetzungen, da er gleichzeitig mit den Ärzten „auf Augenhöhe“ fachlich diskutieren kann und zum anderen die ökonomischen Zusammenhänge überblickt. Die Branche der Gesundheitswirtschaft ist aktuell durch Wachstum und eine zunehmende Beschäftigung gekennzeichnet und bietet zahlreiche berufliche Möglichkeiten (von der Schulenburg 2008). Dies verdeutlichen auch die Gesundheitsausgaben der Bundesrepublik Deutschland als Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Höhe von über 10 Prozent, während dieser Anteil 1970 noch 5,8 Prozent betrug (Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2011). Aufgrund der Tatsache, dass die Notwendigkeit des Wissens über betriebswirtschaftliche Zusammenhänge und Managementtechniken in der Gesundheitswirtschaft wächst, haben Ökonomen in den Gesundheitseinrichtungen und -Unternehmen zunehmend an Gewicht gewonnen und heutzutage sehr gute berufliche Perspektiven (Wasem 2009). Es ist daher davon auszugehen, dass der Bedarf an hochqualifizierten Gesundheitsökonomen in Zukunft sicher weiter steigen wird. IX. Zusammenfassung und Ausblick Die Gesundheitsökonomie in Deutschland ist keine „kleine Pflanze“ mehr. Das Fachgebiet ist heute als eigenständiger und integraler Bestandteil der Gesundheitswissenschaften anzusehen, der regelmäßig Beiträge für die Entscheidungsfindung im Gesundheitswesen und die Politikberatung liefert. Dabei gibt es in der Methodik und bei den Modellierungen von gesund-



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heitsökonomischen Analysen nach wie vor interessante Weiterentwicklungen, wobei das Potenzial aufgrund der Interdisziplinarität noch keineswegs ausgereizt ist. Das erweist sich auch an der Vielfalt der Themenschwerpunkte dieses Buches. Die gesundheitsökonomische Forschung profitiert von immer besseren Datenquellen, die für Kosten- und Nutzenanalysen zur Verfügung stehen, einer zunehmend besseren Hard- und Software, die komplexe Modelle und Berechnungen erleichtert und einer zunehmend besseren Organisation durch die eigenen Fachgesellschaften. Die positive Entwicklung zeigt sich auch an der Anzahl der Lehrstühle mit diesem Forschungsgebiet und der positiven Situation auf dem Arbeitsmarkt. Das Bundesministerium hat durch die Förderung der gesundheitsökonomischen Zentren ebenfalls einen wichtigen Schritt für die weitere Entwicklung des Faches getan. Schließlich steht die Gesundheitsökonomie auch nicht im Widerspruch zu den ethischen Anforderungen im Gesundheitswesen, im Gegenteil: Jeder Euro, der aufgrund von gesundheitsökomischen Analysen sinnvoll eingespart werden kann, kann an anderer Stelle eingesetzt werden, um den Menschen eine bessere medizinische Versorgung zu bieten. Literatur American Economic Association (1951): Economics of medical care, in: Am Economic Rev, 46, 617–696. Andersen, H. H. (1992): Themenschwerpunkte und Forschungsfelder der Gesundheitsökonomie. Einführung und Überblick, in: Andersen, H. H. / Henke, K. D. / von der Schulenburg, J. M. (Hrsg): Basiswissen Gesundheitsökonomie, Bd. 1, Einführende Texte, Berlin, 13–17. Berlin HECOR (2014): Herzlich willkommen auf der Seite des Gesundheitsökonomischen Zentrums Berlin (BerlinHECOR) [online abrufbar unter http:  /   /  www. mig.tu-berlin.de / berlinhecor (letzter Zugriff am 31.01.2014)]. Bogs, W. et al. (1966): Sozialenquete. Soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Bericht der Sozialenquete-Kommission, Stuttgart u. a. Bundesministerium für Bildung und Forschung (2010): Zentren der gesundheitsökonomischen Forschung [online abrufbar unter http: /  / www.gesundheitsforschungbmbf.de / de / 4519.phpm (letzter Zugriff am 31.01.2014)]. Busse, R. (2006): Gesundheitsökonomie. Ziele, Methodik und Relevanz, in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, Ausgabe 49, 3–10. CHERH (2014): Willkommen am Center for Health Economics Research Hannover (CHERH) [online abrufbar unter http: /  / www.cherh.de /  (letzter Zugriff am 31.01. 2014)]. CINCH (2014): Über das CINCH [online abrufbar unter http: /  / www.cinch.uni-due. de / ueber_das_cinch.htm (letzter Zugriff am 31.01.2014)].

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Der demografische Wandel und seine Implikationen für die medizinische Versorgung Aktuelle Herausforderungen für die Gesundheitsökonomie Isabel Schmidt, Birgitta Bayerl und Klaus Nagels I. Einleitung Für die nächsten Jahre und Jahrzehnte zeichnet sich weltweit eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur ab. Dabei stellen die Lebenserwartung und die Fertilitätsrate die zentralen Einflussfaktoren hinsichtlich der resultierenden Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur dar. Weltweit wird sich die Geburtenrate nach derzeitigen Schätzungen langfristig knapp oberhalb des Reproduktionsniveaus einpendeln, während sie in Europa zum momentanen Zeitpunkt jedoch bereits unterhalb dieser Rate liegt. Zusätzlich wird die Lebenserwartung bis zum Jahr 2050 mit einer Gesamtbevölkerung von dann 9,6 Milliarden weiter ansteigen und so zu einer fortschreitenden Alterung der Weltbevölkerung beitragen (United Nations 2004 und 2013). Diese Entwicklung führt mit ihren Veränderungen nicht nur zu großen Herausforderungen für die individuelle Lebensgestaltung, sondern auch für ganze Gesellschaften hinsichtlich der Gestaltung von Politik, Wirtschaft und Gesundheitssystemen. Einerseits wird durch die Abnahme des erwerbstätigen Bevölkerungsanteils die Generierung finanzieller Ressourcen für solidarisch finanzierte Versicherungssysteme, wie die Krankenversicherung, reduziert. Andererseits führt das sich ändernde Morbiditätsprofil der immer älter werdenden Bevölkerung zu einer Erhöhung des finanziellen Bedarfs sowie zu einer Abstimmung der medizinischen und pflegerischen Versorgung auf deren Bedürfnisse. Mit Blick auf die damit verbundenen Entscheidungen zur Ressourcenallokation gewinnen die Informationen über Kosten-NutzenProfile in der Abwägung bestehender und innovativer Versorgungsansätze weiter an Bedeutung. Vor diesem Hintergrund verfolgt der Beitrag das Ziel, die Konsequenzen der sich ändernden Bevölkerungsstruktur aufzuzeigen, um darauf aufbauend Lösungsvorschläge zu erörtern. Dabei liegt der Fokus auf Deutschland, wobei eine Übertragung auf andere Industrienationen möglich ist.

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Aus dieser Zielsetzung ergibt sich der folgende Aufbau: Einleitend stellt der Beitrag den demografischen Wandel der deutschen Bevölkerung dar und verdeutlicht an ausgewählten chronisch-degenerativen Erkrankungen die epidemiologischen Auswirkungen. Darauf aufbauend fokussiert das sich anschließende Kapitel die gesundheitsökonomisch relevanten Konsequenzen dieses demografischen und epidemiologischen Wandels. Den Schwerpunkt bildet dann die Diskussion unterschiedlicher Lösungsstrategien mit medizinischem sowie versorgungsbezogenem Fokus. Den Ansätzen ist gemein, durch bedarfsgerechtere Maßnahmen im Hinblick auf die sich ändernde Bevölkerungsstruktur langfristig positive gesundheitsökonomische Wirkungen hervorzurufen. Veranschaulicht wird dies explizit anhand eines Ansatzes aus dem Bereich der klinischen Forschung, indem die Repräsentanz der zunehmenden älteren Bevölkerung im Rahmen von klinischen Studien zu einem Therapieansatz des altersassoziierten Prostatakarzinoms untersucht wird. Das Ergebnis lässt den Schluss zu, dass durch die Missachtung der tatsächlichen Behandlungsfälle bedarfsgerechte sowie effektive und effiziente Therapieansätze nicht ableitbar sind. Dies wirft die Frage auf, welcher Paradigmenwechsel in der klinischen Forschung im Hinblick auf die Durchführung von Studien vollzogen werden muss, um diese für unterschiedliche Zielgruppen adäquat zu konzipieren. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick. II. Demografischer Wandel und epidemiologische Auswirkungen Der demografische Wandel stellt eine zentrale Herausforderung für westliche Industrienationen dar. Hochrechnungen in der Europäischen Union gehen davon aus, dass der Anteil der Altersgruppe der 65- bis 79-Jährigen von 12 Prozent im Jahr 2011 auf 17 Prozent im Jahr 2060 ansteigen wird. Bei der Gruppe der 80-Jährigen und Älteren zeichnet sich ein Anstieg von knapp 5 Prozent auf 12 Prozent im gleichen Zeitraum ab (European Union 2011). Die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland weist hierzu starke Parallelen auf. Prognosen des Statistischen Bundesamtes rechnen für das Jahr 2060 für das Alterssegment der 65- bis 79-Jährigen mit einem Anteil von 19 Prozent und für die Gruppe der Hochaltrigen ab 80 Jahren von 13 Prozent (Statistisches Bundesamt 2009). Ein zentraler Einflussfaktor hierfür ist die steigende Lebenserwartung. Im Jahr 2011 lag sie für Männer bei 77,7 Jahren und für Frauen bei 82,7 Jahren (Statistisches Bundesamt 2011a), während sie im Jahr 1900 nach Hochrechnungen bei Neugeborenen bei 45,9 Jahren für Männer und bei 52,5 Jahren für Frauen lag (Statistisches Bundesamt 2011b). Aufgrund der annähernd konstanten Geburtenrate von 1,4 Kindern pro Frau – dieser Wert liegt unterhalb des Reproduktions­niveaus von ca. 2,1 Kindern pro Frau – sowie der schrump-



Demografischer Wandel und Implikationen für medizinische Versorgung31

fenden Anzahl potenzieller Mütter wird sich das Verhältnis zwischen jüngeren und älteren Bevölkerungsgruppen weiter verschieben (Statistisches Bundesamt 2013). Der Wandel in der Bevölkerungsverteilung beeinflusst auch das Krankheitspanorama. In Analogie zum demografischen Wandel wird dieses Phänomen auch als epidemiologischer Wandel bezeichnet. Bei den Infektionskrankheiten erscheinen „alte“ Infektionskrankheiten unter Kontrolle, wohingegen neue Infektionen, z. B. durch HIV, H5N1 oder SARS, eine Bedrohung darstellen (z. B. Lode 2005; Robert Koch-Institut 2013). Darüber hinaus nimmt die Zahl an chronisch-degenerativen Erkrankungen durch die zunehmende Alterung der Bevölkerung seit Jahren kontinuierlich zu. Hierfür lassen sich verschiedene Beispiele aufführen: Mit einer Behandlungsprävalenz von ca. 61 Prozent stellt die Hypertonie die häufigste Erkrankung bei Personen ab einem Alter von 60 Jahren dar (Gerste 2012). Daneben ist das Auftreten weiterer Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit einem zunehmenden Alter assoziiert. Während die durchschnittliche Lebenszeitprävalenz der koronaren Herzkrankheit 9,3 Prozent (Herzinfarkt: 4,7 Prozent) beträgt, liegt sie in der Altersgruppe der 60- bis 69-Jährigen mit 15,1 Prozent (Herzinfarkt: 8,2 Prozent) bzw. in der Gruppe von 70 bis 79 Jahren mit sogar 22,3 Prozent (Herzinfarkt 10,2 Prozent) deutlich über diesem Durchschnitt (Gößwald et al. 2013). Im Hinblick auf die Erkrankung Diabetes mellitus Typ 2 ermittelte die Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) eine Lebenszeitprävalenz von 7,2 Prozent. Dabei ist mit zunehmendem Alter ein deutlicher Anstieg zu erkennen. Während in der Altersgruppe von 50 bis 59 Jahren die Lebenszeitprävalenz bei 5,7 Prozent liegt, steigt dieser Wert auf 13,8 Prozent für die Gruppe der 60- bis 69-Jährigen und auf 21,9 Prozent für die Altersgruppe zwischen 70 und 79 Jahre. Bei einem Vergleich der aktuellen Daten mit dem Untersuchungssurvey BGS98 aus dem Jahr 1998 zeigt sich weiterhin, dass im zeitlichen Verlauf die Prävalenzen signifikant gestiegen sind (Heidemann et al. 2013). Drastische Veränderungen werden auch bei den neurodegenerativen Erkrankungen prognostiziert. Aufgrund der steigenden Prävalenzrate mit zunehmendem Alter wird sich die Zahl der ca. 1,4 Millionen Demenzerkrankten bis zum Jahr 2050 mehr als verdoppeln (Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2012). Schließlich lässt sich bei unterschiedlichen Tumorerkrankungen ein Anstieg der Erkrankungen mit zunehmendem Alter identifizieren. Beim Mammakarzinom liegt die Erkrankungsrate in der Altersgruppe der 65- bis 69-Jährigen mit knapp 410 Erkrankungen je 100.000 Frauen am höchsten. In den Altersgruppen zwischen den 60-Jährigen und den über 85-Jährigen lässt sich mit Erkrankungsraten zwischen 325 und 379 Patientinnen pro 100.000 Frauen ein Plateau erkennen. Bei den Männern nimmt beispielsweise die Erkrankungsrate beim Prostatakarzinom mit dem Alter deutlich zu. Ab dem 70.

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Lebensjahr bis zu den über 85-Jährigen liegt die Rate zwischen 719 und 771 Erkrankungsfällen pro 100.000 Männern (Robert Koch-Institut 2012). III. Gesundheitsökonomisch relevante Konsequenzen des demografischen und epidemiologischen Wandels Die einleitend dargestellten einschneidenden Veränderungen der Bevölkerungsstruktur in Deutschland und die sich daraus ergebenden epidemiologischen Auswirkungen führen zu einer Vielzahl gesundheitsökonomisch relevanter Konsequenzen für das deutsche Gesundheitswesen. Zunächst führt das Phänomen des „double ageing“ – die Abnahme der Geburtenzahl bei zwar konstanter Geburtenrate aber abnehmendem Anteil potenzieller Mütter sowie die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung – zu einer Erhöhung des Medianalters der deutschen Bevölkerung. Während es im Jahr 1950 32,2 Jahre für die männliche und 36,8 Jahre für die weibliche Bevölkerung betrug, wird für das Jahr 2060 ein deutlicher Anstieg auf 50,5 bzw. 53,8 Jahre prognostiziert (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 2013a). Diese erhebliche Verschiebung führt zu einem zunehmenden Abhängigkeitsverhältnis zwischen der abnehmenden erwerbstätigen Bevölkerung und der steigenden Anzahl an Rentnern. Eine Maßzahl zur Veranschaulichung dieses Verhältnisses ist der Altenquotient, der das Verhältnis der Personen im Rentenalter zu 100 Personen im erwerbsfähigen Alter (Altersgruppe der 20- bis unter 65-Jährigen) abbildet. Im Jahr 2008 lag der Altenquotient bei 34. Auf der Grundlage der Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes wird er bis zum Jahr 2040 auf 62 und bis zum Jahr 2060 auf 67 ansteigen (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung 2013b). Dies führt zu einem ungünstigen Finanzierungseffekt bei den gesetzlichen Krankenversicherungen, da die abnehmende Anzahl der Erwerbstätigen als GKV-Beitragszahler für die immer größer werdende nicht-erwerbstätige Bevölkerung als GKV-Leistungsempfänger aufkommen muss. Als Konsequenz ergibt sich hieraus, dass die sozialversicherungsbasierte Finanzierung der Gesundheitsversorgung durch diese Entwicklung erschwert, wenn nicht sogar bedroht wird. Des Weiteren ist im Kontext der gesundheitsökonomisch relevanten Konsequenzen der medizinische und medizinisch-technische Fortschritt zu nennen. Einerseits ist er eine segensreiche Entwicklung, da er über medizinische Innovationen neue Behandlungschancen eröffnet und zur steigenden Lebenserwartung beiträgt. Andererseits stellt er durch neue und häufig kostspielige Diagnose- und Therapiemöglichkeiten einen erheblichen Kostentreiber innerhalb des deutschen Gesundheitswesens dar. Zu nennen ist hier beispielhaft die Entwicklung im Bereich der Krebstherapie mit dem Einsatz



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immer präziserer Behandlungsmodalitäten innerhalb der Strahlentherapie, der Ausweitung des Spektrums von Chemotherapeutika sowie der Erforschung neuer Therapieansätze wie z. B. zielgerichteter personalisierter Therapien. Diese zumeist zusätzlichen Verfahren, die als so genannte „Add-on“Technologien bezeichnet werden, führen über ein größeres Portfolio zu einer Leistungsausweitung und zu einem wachsenden Bedarf. Darüber hinaus lassen sich viele Technologieinnovationen als so genannte „Halfway“Technologien klassifizieren, die zwar zu einer Verlängerung der Zeitspanne zwischen dem Diagnosezeitpunkt und dem Tod des Patienten führen, aber den Patienten nicht gesünder machen. Folglich sitzt die moderne Medizin in der Fortschrittsfalle, da die Menschen immer länger mit ihren Krankheiten leben (können) und dadurch höhere Kosten verursachen, so dass das medizinisch Mögliche und Sinnvolle schneller wächst als die zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen. Schließlich führt das sich verändernde Krankheitsspektrum mit einer Zunahme des Morbiditätsrisikos für chronisch-degenerative Erkrankungen mit steigendem Alter zu qualitativen sowie quantitativen Änderungen des Versorgungsbedarfs. Dies trägt ebenso zu einer steigenden Finanzierungslast bei. Hinsichtlich des qualitativen Aspekts ist die zentrale Herausforderung der chronisch-degenerativen Erkrankungen die lang anhaltende Einschränkung der Gesundheit bei einem meist langsam progredienten Krankheitsverlauf, der zu erheblichen körperlichen Beeinträchtigungen führen kann (Haubitz 2011). Verschärft wird diese Situation zudem durch das zunehmende Auftreten mehrerer chronischer Erkrankungen mit höherem Alter. Da dieses Phänomen der Multimorbidität bislang noch nicht eindeutig definiert ist – z. B. ab welcher Anzahl an Krankheiten Multimorbidität vorliegt – gehen dementsprechend auch die hierzu publizierten Daten auseinander (Schmacke 2012). Je nachdem, ob Multimorbidität ab zwei (Wiesner / Bittner 2005) oder erst ab drei (van den Bussche et al. 2011) oder mehr Erkrankungen definiert wird, schwanken die Angaben zur Prävalenz zwischen 39 und 62 Prozent. Darüber hinaus stellen die Autoren fest, dass mit zunehmendem Alter die durchschnittliche Anzahl an Krankheiten steigt. Diese Rahmenbedingungen erfordern eine Anpassung der Versorgung an die körperliche Konstitution der Patienten, eine Behandlungspriorisierung und eine sektoren- und bereichsübergreifende Behandlungskonzeption (Lübke 2012). Dagegen wird unter dem quantitativen Aspekt die zunehmende Schwierigkeit der personellen Deckung des Versorgungsbedarfs verstanden. Sowohl auf Seiten der Ärzteschaft als auch des Pflegepersonals klafft eine Lücke zwischen dem prognostizierten Bedarf an Fachkräften und dem Versorgungsbedarf. Dieses Defizit wird zunächst primär durch die unmittelbaren Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Nachfrage nach medizinischen und pflegerischen Leistungen verursacht. Während z.  B. die gesamten

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Leistungsausgaben der Krankenversicherungen im Jahr 2008 für einen unter 60-jährigen Versicherten bei 1.090,75 EUR lagen, beliefen sie sich im gleichen Jahr für einen 60 Jahre und älteren Versicherten auf 3.541,86 EUR. Darüber hinaus wird die Lücke bei der medizinischen Versorgung durch den steigenden Bedarf an Spezialisten aufgrund der weiter oben skizzierten fortschrittsbedingten Explosion des medizinisch Machbaren verursacht. Als z. B. noch keine Herzoperationen durchgeführt werden konnten, existierte auch noch kein Bedarf an Herzchirurgen (Kopetsch 2000). Als weiterer Einflussfaktor lässt sich die „Feminisierung“ der ärztlichen Profession aufführen. Während sich im Jahr 1991 die berufstätige Ärzteschaft zu 66,4 Prozent aus Ärzten und zu 33,6 Prozent aus Ärztinnen zusammensetzte, lag das Verhältnis im Jahr 2012 bei 55,7 Prozent Männern und 44,3 Prozent Frauen und folgt somit einem kontinuierlichen Trend der Angleichung (Bundesärztekammer 2013). Im Hinblick auf die Deckung des zunehmenden Versorgungsbedarfs ist dabei die Tatsache von zentraler Bedeutung, dass Frauen nur ca. 72 Prozent der Arbeitszeit ihrer männlichen Kollegen leisten. Darüber hinaus zeichnet sich bei der neuen Ärztegeneration allgemein der Trend zu einer ausgewogeneren Work-Life-Balance ab. Bei einer Gegenüberstellung des geleisteten Arbeitsvolumens der berufstätigen Ärztinnen und Ärzte im Jahr 2007 gegenüber dem Jahr 2000 zeigt sich, dass die Ärzteschaft zwar um 20.236 Berufstätige – dies entspricht einem Zuwachs um 6,9 Prozent – zugenommen hat, im gleichen Zeitraum aber 168.052 bzw. 1,6 Prozent weniger Arbeitsstunden geleistet wurden (Bundesärztekammer o. J.). Hinsichtlich des Fachpersonals im Pflegesektor liegt bereits eine Unterdeckung des Bedarfs vor. In Abhängigkeit der unterschiedlichen Institutionen gaben im Jahr 2011 beispielsweise zwischen 50 Prozent (Einrichtungen der Kurzzeitpflege) und knapp 79 Prozent (Krankenhäuser) an, schon an einem spürbaren Fachkräftemangel im Bereich der Pflege zu leiden (Enste 2011). IV. Lösungsstrategien für die Herausforderungen des demografischen Wandels Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass der demografische Wandel und dessen epidemiologische Auswirkungen sowohl die Gesellschaft als auch das deutsche Gesundheitswesen zum momentanen Zeitpunkt, aber insbesondere in den kommenden Jahren und Jahrzehnten, vor erhebliche Herausforderungen stellen. Die folgenden Ausführungen fokussieren auf das Gesundheitssystem und versuchen, medizinische und versorgungsbezogene Lösungsansätze aufzuzeigen. Übergeordnetes Ziel dieser Maßnahmen ist es, nachhaltige Wirkungen zu entfalten, um langfristig mit den Effekten des demografischen Wandels umgehen zu können.



Demografischer Wandel und Implikationen für medizinische Versorgung35

Vor dem Hintergrund der einleitend skizzierten Veränderung des Krankheitspanoramas ist es zunächst aus einer medizinischen Perspektive notwendig, Präventionsmaßnahmen zur Inzidenzabsenkung unterschiedlicher Krankheiten zu fördern. Zur Differenzierung der Prävention hat sich der Fokus auf den Krankheitsverlauf mit Primär-, Sekundär- sowie Tertiärprävention durchgesetzt. Generell ist dabei zu betonen, dass Prävention in allen Lebensabschnitten und somit auch im bislang weitgehend vernachlässigten geriatrischen Bereich sinnvoll ist. Spezielle Zielsetzungen in dieser Altersgruppe sind der Erhalt der Selbständigkeit, die Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe, die Vermeidung bzw. Verzögerung von Hilfs- und Pflegebedürftigkeit sowie der Erhalt der Lebensqualität (Walter / Robra / Schwartz 2012). Am Beispiel der altersassoziierten Erkrankung Diabetes mellitus Typ 2 zielen die unterschiedlichen Präventionsmaßnahmen z. B. auf die interagierenden Risikofaktoren Bewegungsmangel und Übergewicht ab. Vor dem Eintritt krankheitsbedingter Risiken ist im Rahmen einer selektiven Primärprävention das Bewegungsverhalten von Hochrisikogruppen, z.  B. Personen mit Übergewicht, zu fördern. Die Sekundärprävention zielt auf die Früherkennung der Krankheit ab, da Diabetes mellitus Typ 2 durch einen symptomlosen bzw. -armen Krankheitsbeginn charakterisiert ist. Durch diese Maßnahme soll das erhöhte Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko von Personen mit unentdecktem Diabetes gesenkt werden. So wird z. B. in Deutschland davon ausgegangen, dass auf einen diagnostizierten Diabetesfall eine unentdeckte Diabeteserkrankung kommt. Darüber hinaus konnte eine Studie nachweisen, dass in der Altersgruppe von 35 bis 44 Jahren 6,5 Prozent der Teilnehmer eine gestörte Glukosetoleranz als Vorstufe einer Diabeteserkrankung oder bereits eine undiagnostizierte Diabeteserkrankung aufwiesen, während der Anteil in der Gruppe der 55- bis 59-Jährigen bei 30 Prozent lag. Für die gesamte Studienpopulation ergab sich ein Wert von 16 Prozent (Meisinger et al. 2010). In diesem Zusammenhang deutet eine Kosteneffektivitätsanalyse für eine hypothetische Studienpopulation mit Personen im Alter von 45 Jahren mit einem erhöhten Risiko für Diabetes mellitus Typ 2 darauf hin, dass ein Screeningprogramm für diese Risikogruppe sowohl mit einer nachgelagerten medikamentösen Intervention als auch mit Maßnahmen zur Änderung des Lebensstils kosteneffektiv ist (z. B. Gilles et al. 2008). Ein solches systematisches Screeningprogramm existiert in Deutschland zum momentanen Zeitpunkt noch nicht, wird jedoch im „Nationalen Diabetesplan“ gefordert. Hier ist die Generierung einer validen Evidenz anhand reeller Studiendaten notwendig, um eine belastbare Entscheidungsgrundlage für die Implementierung eines solchen Programms zu schaffen. Im Rahmen der Tertiärprävention werden schließlich Maßnahmen zur Änderung des Lebensstils in die medizinische Behandlung integriert, um Folgeerkrankungen einer manifesten Diabeteserkrankung zu vermeiden. Die Ausführungen am Beispiel von Diabetes mellitus Typ 2 zeigen die Poten­

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ziale von Präventionsmaßnahmen zur Begegnung der Herausforderungen des demografischen Wandels. Allerdings zeichnet sich gleichermaßen ab, dass flächendeckende Strukturen mit nachhaltiger und kosteneffektiver Wirkung noch nicht ausreichend implementiert sind. Ein weiteres Beispiel für eine Präventionsmaßnahme für die zunehmende ältere Bevölkerungsgruppe ist die Sturzprophylaxe. Im Rahmen eines umfassenden Health Technology Reports zur Sturzprophylaxe bei älteren Menschen in ihrer persönlichen Wohnumgebung zeichnet sich eine heterogene Studienlage ab, die die Formulierung klarer Empfehlungen erschwert (Balzer et al. 2012). Zunächst scheinen Tests oder Parameter zur Bestimmung des Sturzrisikos nur geringe Informationen zu liefern, so dass die grundsätzlich notwendige Identifizierung von Risikopopulationen nicht zweifelsfrei durchführbar ist. Darüber hinaus ergeben sich zwar positive Trainingseffekte für rüstige Rentner, bei gebrechlichen Personen werden jedoch eher negative Ergebnisse präsentiert. Zusätzlich kann zu spezifischen Maßnahmen wie beispielsweise Nahrungsergänzungsmitteln, psychologischen Interventionen, Schulungen für das Umgebungspersonal, multifaktoriellen Programmen sowie Hüftprotektoren keine abschließende Aussage getroffen werden. Dies gilt auch für das Kosten-Nutzen-Verhältnis solcher Interventionen. Diese Ergebnisse erschweren die Implementierung langfristiger und flächendeckender Maßnahmen, die notwendig sind, um nachweisbare Effekte der Prävention auf das Krankheitspanorama zu erzielen. Als Ansatzpunkt aus der medizinischen Versorgungspraxis zur Begegnung des demografischen Wandels lässt sich die Entwicklung spezieller Versorgungskonzepte nennen. Hierbei sind an erster Stelle die strukturierten Behandlungsprogramme bei chronischen Krankheiten – so genannte Disease Management Programme – zu nennen. Diese wurden seit dem Jahr 2002 – in diesem Jahr starteten mit Diabetes mellitus Typ 2 sowie Brustkrebs die ersten beiden von mittlerweile sechs Programmen (des Weiteren Koronare Herzkrankheit, Diabetes mellitus Typ 1, Asthma bronchiale sowie Chronisch obstruktive Lungenerkrankung) – in die Versorgungslandschaft der Behandlung bei chronischen Erkrankungen implementiert. Da die im Rahmen von strukturierten Behandlungsprogrammen ausgewählten Krankheiten unter anderem die Kriterien einer hohen Prävalenz, eines hohen finanziellen Aufwands der Behandlung, einer Beeinflussbarkeit des Krankheitsverlaufs durch Eigeninitiative des Versicherten sowie eines sektorenübergreifenden Behandlungsbedarfs erfüllen müssen (nach § 137 f. Abs. 1 Satz 2 SGB V), zielen sie speziell auf das sich ändernde Krankheitspanorama ab. Zum momentanen Zeitpunkt sind 10.385 Programme zugelassen, in denen über 6,2 Millionen Versicherte eingeschrieben sind. Die beiden teilnehmerstärksten Programme sind dabei das Programm zu Diabetes mellitus Typ 2 mit über 3,7 Millionen Teilnehmern sowie zur Koronaren Herzkrankheit mit



Demografischer Wandel und Implikationen für medizinische Versorgung37

über 1,7 Millionen Teilnehmern (Bundesversicherungsamt 2012). Diese aktuellen Zahlen verdeutlichen, dass es sich bei Disease Management Programmen bereits um ein weitgehend flächendeckend etabliertes Versorgungskonzept handelt, das unter anderem durch die Anbindung an den Hausarzt einen hohen Erreichungsgrad erzielt. Darüber hinaus ist gesetzlich vorgeschrieben, dass vom Bundesversicherungsamt bestellte externe Sachverständige eine Evaluation des jeweiligen Programms einer Krankenversicherung durchführen (§ 137 f. Abs. 4 SGB V). Dies soll der Qualitätssicherung und der größeren diagnosebezogenen Vergleichbarkeit der Programme der unterschiedlichen Krankenversicherungen dienen. Bei der Betrachtung der Evaluationsmethodik lassen sich jedoch Mängel, wie z. B. eine hohe Drop-Out-Rate oder die ungenügende Berücksichtigung der Charakteristika der jeweiligen chronischen Erkrankung, identifizieren. Daher bedarf die Evaluationsmethodik einer Weiterentwicklung (Birnbaum / Braun 2010). So existieren Bestrebungen, eine Evaluation der Programme im Kontrollgruppendesign durchzuführen. Eine systematische Übersichtsarbeit zu Diabetes mellitus Typ 1 und 2-Programmen zur Bewertung der Qualität der durchgeführten Kontrollgruppendesigns kommt zu folgendem Ergebnis: Bei den acht identifizierten Studien waren sowohl die Datenbasis als auch die angewendeten Methoden zur Selektionsbias-Adjustierung – diese ist aufgrund der fehlenden randomisierten Interventionszuordnung erforderlich – heterogen. Auf dieser Grundlage ist es nicht möglich, Aussagen zur Effektivität der Programme zu treffen. Hierfür sind standardisierte Mindestanforderungen notwendig, die bislang noch nicht existieren (Drabik et al. 2012). Neben der validen Identifizierung der positiven Effekte der Programme bedarf es darüber hinaus auch der Berücksichtigung gesundheitsökonomischer Aspekte. Hierzu liegen bislang nur begrenzte Untersuchungen vor. Im Rahmen der Evaluation eines Disease Management Programms zu Diabetes mellitus Typ 2 ergeben sich Kosteneinsparungen bei den Programmteilnehmern gegenüber den Nicht-Teilnehmern. Da aber hier ebenso die oben aufgeführten methodischen Mängel, z. B. hinsichtlich der Selektionsbias-Adjustierung, zum Tragen kommen, sind diese Ergebnisse bislang vorsichtig zu interpretieren (AOK 2011). Neben den bislang am ehesten als flächendeckend zu bezeichnenden Dis­ ease Management Programmen existiert eine Vielzahl von Versorgungskonzepten, die den Versorgungsalltag besser an die Herausforderungen des demografischen und epidemiologischen Wandels anpassen sollen. Hier lassen sich beispielhaft die folgenden Ansätze nennen: Die Integrierte Versorgung nach § 140a–d SGB V, die seit dem Jahr 2000 gesetzlich vorgesehen ist und durch die Aufhebung der sektoralen Trennung die Behandlungsabläufe, insbesondere bei langwierigen chronischen Erkrankungen, optimieren soll; arztunterstützende Versorgungskonzepte zur Delegation von medizinischen

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Leistungen auf entsprechend ausgebildetes medizinisches Fachpersonal zur Erhöhung der Betreuungsintensität insbesondere bei pflegebedürftigen Patienten in ländlichen Gebieten; oder das Case Management zur Optimierung der Versorgung durch die zeitlich befristete und auf den jeweiligen Einzelfall ausgerichtete Hilfestellung zur Stärkung der Selbstverantwortung des Patienten. Diese Beispiele stellen jedoch häufig lediglich Leuchtturmprojekte dar, die zeitlich und räumlich befristet sind. Zudem fehlt in den meisten Fällen eine fundierte Kosten-Nutzen-Analyse. Neben diesen Ansätzen bestehen aktuell zudem Bestrebungen, Versorgungskonzepte für die zunehmende Problematik der Multimorbidität zu etablieren. Hier lässt sich der PrimaryCare-Ansatz nennen, der bei Menschen mit Mehrfacherkrankungen die Bedeutung des Generalisten gegenüber der Spezialisten hervorhebt (Starfield et al. 2005). Diese sind eher in der Lage, unerwünschte Wirkungen der medizinischen Behandlung zu erfassen und Prioritäten in der Versorgung zu erkennen und in den Mittelpunkt der individuellen Behandlungsplanung zu stellen (Starfield / Shi / Macinko 2005). Der medizinische Nutzen und die positiven Finanzierungseffekte sind für die USA und die OECD-Staaten bereits nachweisbar (Macinko et al. 2003; Starfield et al. 2005), so dass in Deutschland hierzu auch entsprechende Untersuchungen auf den Weg gebracht werden (z. B. im Rahmen einer multizentrischen, prospektiven Beobachtungsstudie mit einer geplanten Stichprobengröße von 3.500 Patienten im Alter zwischen 65 und 85 Jahren mit mindestens drei Erkrankungen aus einer Liste von 29 Erkrankungen und Syndromen (Schäfer et al. 2009)). In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Ansatz das Chronic Care Model, das sich generell als Weiterentwicklung von Disease Management Programmen für den Bereich der Multimorbidität versteht (Wagner / Austin / von Korf 1996). Während hinsichtlich des medizinischen Nutzens positive Ergebnisse erzielt werden konnten, existieren weiterhin Probleme hinsichtlich der Implementierung und die Frage nach der Finanzierung eines solch komplexen Versorgungsmodells (Boyd et al. 2009; Coleman et al. 2009; Boult et al. 2011). Daher sind noch zentrale Fragen zu klären, bevor ein solches Versorgungskonzept flächendeckend in der medizinischen Praxis implementiert werden kann. Schließlich finden technische Entwicklungen Einzug in den Versorgungsalltag, mit denen den Behandlungsherausforderungen chronischdegenerativer Erkrankungen begegnet werden soll. Diese werden unter dem etablierten Oberbegriff von E-Health zusammengefasst und stellen die Erbringung konkreter medizinischer Leistungen unter Zuhilfenahme moderner Informations- und Kommunikationstechnologien dar. Derartige E-HealthLeistungen gewährleisten beispielsweise neben der Selbsterfassung relevanter klinischer Parameter durch den Patienten die kontinuierliche ärztliche Kontrolle. Somit steigern sie zum einen das Sicherheitsgefühl und die Lebensqualität des Patienten im häuslichen Umfeld und ermöglichen zum anderen die Identifizierung von Verschlechterungen des Gesundheitszustan-



Demografischer Wandel und Implikationen für medizinische Versorgung39

des sowie ein umgehendes medizinisches Eingreifen (Zimmermann / Görres / Schmitt 2012). Wissenschaftliche Studien zu solchen Leistungen beziehen sich insbesondere auf die Anwendungsfelder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, onkologische Erkrankungen, Chronisch obstruktive Lungenerkrankung oder Versorgungsprozesse wie Rehabilitation und Diagnostik. Ein CochraneReview kam dabei zu dem Ergebnis, dass die telemedizinischen Interventionen zwar keine nachteiligen Effekte gegenüber einer Face-to-Face-Betreuung aufweisen, aber auch keine Evidenz für eine Überlegenheit besitzen (Currell et al. 2000). Daher ist zukünftig in Längsschnittstudien der Nachweis zu erbringen, dass der Einsatz der Technik im Vergleich zu personellen Ressourcen langfristig nicht zu substanziellen Qualitätseinbußen führt (Zimmermann / Görres / Schmitt 2012). Schließlich erscheinen Überlegungen sinnvoll, den demografischen Wandel frühzeitig im Rahmen der klinischen Forschung zu berücksichtigen. Dies führt langfristig zur Entwicklung von medizinischen Behandlungsansätzen, die passgenau und damit effektiver, effizienter und sicherer auf die Zielgruppe der zunehmend älteren Bevölkerung abgestimmt werden. Hierzu müssen die Studienpopulationen stringenter die klinische Praxis und die dort vorherrschenden Altersstrukturen berücksichtigen bzw. das Studiendesign im Sinne eines pragmatischen Studiendesigns – dieses untersucht die Wirksamkeit einer medizinischen Intervention unter Alltagsbedingungen – anpassen, um die Charakteristika der älteren Bevölkerung, wie z. B. das Auftreten von Co-Morbiditäten, besser abbilden zu können. Hierdurch würden relevante Erkenntnisse hinsichtlich der folgenden Punkte generiert, die erheblich zu einer größeren Zielgruppenspezifik beitragen: Aufgrund altersbedingter Prozesse im Körper treten Veränderungen bei der Pharmakodynamik (hierunter ist der Einfluss von Arzneimitteln auf den Organismus zu verstehen) bzw. Pharmakokinetik (hierunter ist dagegen die Einwirkung des Organismus auf ein Arzneimittel im Zeitverlauf zu verstehen) auf, die sich auf die Wirksamkeit medizinischer Maßnahmen auswirken. Darüber hinaus kommt es aufgrund der zunehmenden Wahrscheinlichkeit von CoMorbiditäten häufiger zur gleichzeitigen Einnahme mehrerer Medikamente (so genannte Polypharmazie), die über eine Kumulation von Wirkstoffen im älteren Organismus bzw. Wechselwirkungen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zu schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen führt. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass mit einem höheren Erkrankungsalter ein anderer Erkrankungsverlauf zu erwarten ist. So erhöht sich beim Mammakarzinom beispielsweise die Rückfallquote bei einem Erkrankungsalter von unter 35 Jahren und die Prognose ist demzufolge ungünstiger. Diese genannten Faktoren tragen dazu bei, dass die Erkenntnisse zur optimalen Behandlung bei einer tendenziell jüngeren Studienpopulation für die zunehmend ältere Bevölkerung inadäquat sind und dadurch zu schlechteren Behandlungsergeb-

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nissen führen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere das Auftreten vermeidbarer Nebenwirkungen, erhöhte Kosten für eine ineffektive medizinische Therapie sowie zusätzliche Kosten zur Behandlung der aufgetretenen Nebenwirkungen als Konsequenzen einer nicht-repräsentativen Studienpopulation zu nennen. Zusätzlich finden die Präferenzen und Behandlungswünsche von älteren Patienten keine ausreichende Berücksichtigung, die z. B. aufgrund einer kürzeren Restlebenserwartung eher die Aufrechterhaltung der Lebensqualität als eine geringfügige Verlängerung der Überlebenszeit bevorzugen (z. B. Fried et al. 2002). In dem nachfolgenden Praxisbeispiel wird exemplarisch eine Therapieoption für eine Tumorerkrankung vorgestellt, bei der das Alter einen Risikofaktor darstellt. Damit soll die Problematik einer möglichen Unterrepräsentation der älteren Bevölkerung in der klinischen Forschung illustriert werden, und auf den Handlungsspielraum zur Begegnung der Herausforderungen des demografischen und epidemiologischen Wandels hingewiesen werden. V. Praxisbeispiel Ist die ältere Bevölkerung bei klinischen Studien in der Onkologie unterrepräsentiert? – Am Beispiel der Brachytherapie des Prostatakarzinoms Für viele onkologische Erkrankungen stellt (wie oben skizziert) das Alter einen Risikofaktor dar. Vor dem Hintergrund dieser klinischen Praxis stellt sich die Frage, inwieweit diese tatsächlichen Gegebenheiten bei der Durchführung klinischer Studien ebenfalls ausreichend Berücksichtigung finden. Bislang liegt in der Literatur nur eine begrenzte Anzahl an zum Teil älteren Studien vor, die sich mit den Unterschieden zwischen der klinischen Praxis und der Forschung bei Krebserkrankungen auseinandersetzen (Hutchins et al. 1999; Lewis et al. 2003; Talarico / Chen / Pazdur 2004). Als Ergebnis lässt sich hierbei für fast alle Krebserkrankungen eine signifikante Unterrepräsentation älterer Patienten in klinischen Studien im Vergleich zur Praxis feststellen. Betrachtet man z. B. das Prostatakarzinom, so liegt das mediane Erkrankungsalter bei 70 Jahren. Zur Behandlung des lokal begrenzten Krankheitsstadiums wird standardmäßig die vollständige Entfernung der Prostata (radikale Prostatektomie), die Strahlentherapie von außen über die Haut (perkutane Strahlentherapie), die Bestrahlung durch dauerhaft in der Prostata platzierte, kleine Strahlenquellen (Brachytherapie) sowie eine aktive Überwachung mit regelmäßigen Kontrollen angewendet. Zur konkreten Analyse der bestehenden Studien wurde exemplarisch die Brachytherapie ausgewählt. Da nach den Angaben des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) die momentane Studienlage zu den Vor- und Nachteilen der Brachytherapie als unzureichend eingeschätzt wird,



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lässt dies zum einen auf aktuelle Studien zu dieser Behandlungsmöglichkeit schließen und impliziert zum anderen, dass im Vergleich zu bereits etablierten Therapiemaßnahmen eine überschaubare Literaturrecherche umsetzbar ist. Zur Identifizierung relevanter Studien wurden in der Datenbank PubMed mit den Suchbegriffen „prostate cancer“ und „brachytherapy“ sowie dem Ausschluss der Begriffe „prevention“ und „screening“ und der Einschränkung auf „clinical trials“ zunächst 132 Studien identifiziert. Nach Sichtung dieser Studien und Ausschluss von thematisch nicht relevanten Untersuchungen sowie präklinischen und Phase I- und II-Studien, Subgruppenanalysen, Follow-up-Untersuchungen, nicht therapiebezogenen Studien, wie z. B. Kosten-Effektivitäts-Analysen, und Untersuchungen mit einer Stichprobengröße mit weniger als 30 Probanden konnten zunächst 31 Studien für die weitere Betrachtung herangezogen werden. Nach der Sichtung der kompletten Beiträge mussten nachträglich sechs Arbeiten ausgeschlossen werden, da keinerlei Altersangaben zu den Teilnehmern angegeben waren. Die verbleibenden 25 Studien zeichneten im Hinblick auf die Altersangaben ein sehr heterogenes Bild. Bei 24 Studien wurden keine Angaben dazu gemacht, ob im Studiendesign Altersgrenzen als Ein- und Ausschlusskriterien vorgesehen waren. Lediglich eine Studie gab implizit durch die Bildung von Altersgruppen an, dass Patienten über 75 Jahren ausgeschlossen wurden (Sathya et al. 2005). Vier Studien machten Angaben zu Altersgruppen, wobei diese über die Studien hinweg heterogen waren und zum Teil auf weitere Altersangaben, wie z. B. Medianalter, verzichtet wurde (Feigenberg et al. 2005; Sathya et al. 2005; Soumarova et al. 2007; Sanda et al. 2008). Die nachfolgende Abbildung 1 verdeutlicht die Heterogenität der Altersgruppenangaben grafisch. Zudem zeigt sie, dass der tatsächliche Altersmedian für Prostatakarzinom von 70 Jahren bei der Mehrzahl der Studien bei der Festlegung der Altersgrenzen Berücksichtigung fand, die Verteilung der Probanden in den Studien jedoch nicht der klinischen Praxis entspricht. So sind bei Feigenbaum et al. (2005) 66 Prozent der Patienten jünger als das Medianalter und bei Sanda et al. (2008) sogar 70 Prozent. Auch wenn bei Sathya et al. (2005) aufgrund der Gruppenbildung keine exakten Werte genannt werden können, zeigt sich eine deutliche Überrepräsentation der jüngeren Patienten. Lediglich Soumarova et al. (2007) bilden mit einer Verteilung von 55 Prozent zu 45 Prozent annähernd die Realität ab. Einschränkend ist bei dieser Analyse zu beachten, dass sich der tatsächliche Altersmedian für Prostatakarzinom auf die deutsche Bevölkerung bezieht, während die betrachteten Studien z. B. in Kanada, den USA oder Tschechien durchgeführt wurden und hier möglicherweise jeweils ein abweichender tatsächlicher Altersmedian vorliegt. Des Weiteren geben mit zwölf Studien fast die Hälfte der identifizierten Untersuchungen das Durchschnittsalter und entweder die Standardabwei-

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55

60

65

70

65 (66%)

75

Alter

33 (34%)

Feigenberg/Lee/Desilvio et al. (2005) n = 98 1 (2%)

8 (16%)

42 (82%)

Sathya/Davis/Julian et al. (2005) n = 51 2 (5%)

20 (50%)

18 (45%)

Soumarova/Homola/Perkova et al. (2007) n = 40 67 (22%) Sanda/Dunn/Michalski et al. (2008) n = 306

146 (48%)

93 (30%)

Median

Abbildung 1: Betrachtung der Studien zur Brachytherapie mit Angaben zu Altersgruppen

chung oder den absoluten Altersbereich an. In diesem Zusammenhang ist zu konstatieren, dass das Durchschnittsalter als Angabe des Alters der Probanden nur eingeschränkt geeignet ist, da es instabil gegenüber extremen Werten ist. Schließlich wird in elf Studien der Median zur Altersangabe verwendet. Auch hier wird zusätzlich die Standardabweichung oder das absolute Altersband ergänzt, wobei bei drei Studien neben dem Median keine weiteren Angaben gemacht wurden. Auf der Basis dieser Betrachtungen lässt sich ein Zwischenfazit hinsichtlich der Qualität von Altersangaben in den betrachteten klinischen Studien ziehen. Insgesamt sind die Angaben hinsichtlich Umfang und Aussagegehalt zu bemängeln. Um die Studienergebnisse miteinander vergleichen zu können, wäre es notwendig, einheitliche Standards hinsichtlich der Altersangaben sowie der Gruppierung zu formulieren. Des Weiteren wurden im Rahmen einer Boxplot-Berechnung Studien mit einer ausreichenden Datengrundlage herangezogen und den epidemiologischen Krebsregistern in Deutschland mit ihren weitestgehend vollzähligen Daten (Vollzähligkeit der Daten wird bei einer Berücksichtigung von über 90 Prozent der Erkrankungsfälle erreicht und mit der Ausnahme von Berlin und Sachsen-Anhalt mit Werten von ca. 80 Prozent bei allen beteiligten Bundesländern realisiert) gegenübergestellt. Diese deskriptive Analyse ist in Abbildung 2 dargestellt.



Demografischer Wandel und Implikationen für medizinische Versorgung43 90 Alter 80

Altersmedian für Prostatakarzinom = 70

70 60 50 40

2

ter sso

n2

20

Studien

Pe

in sk Ho

01

12

08

8

20

7

00

da Sa n

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6

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00 ra 2 ha

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3 00 r2 rke

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20

99

12

7

30

Abbildung 2: Vergleich des Medianalters und des gesamten eingeschlossenen Altersbereichs zwischen den klinischen Studien und den Daten der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland

Der erste Boxplot stellt die klinische Realität in Deutschland dar (Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e. V. (GEKID) 2012). Im Vergleich zu den klinischen Daten zeigt sich deutlich, dass sowohl das tatsächliche Altersband als auch der Altersmedian – mit Ausnahme der Studie von Shigehara et al. (2006) – in den Studien nicht adäquat abgebildet wird. Tendenzen hin zu einer Annäherung an die klinische Praxis sind bei der Betrachtung der Studien im Zeitverlauf nicht zu erkennen. Bei der Interpretation der Ergebnisse sind Limitationen der Untersuchung zu berücksichtigen. So handelt es sich lediglich um eine beispielhafte Therapieoption für eine spezifische Tumorerkrankung. Darüber hinaus wird beim Prostatakarzinom aktuell eine intensive Diskussion geführt, ob bei weniger aggressiven und frühen Erkrankungsformen überhaupt eine Behandlung notwendig ist, oder die Option der aktiven Überwachung zu präferieren wäre. Die Relevanz dieser exemplarisch gewählten Forschungsfrage spiegelt sich in der in Deutschland momentan laufenden PREFERE-Studie wider, in der zum lokal begrenzten Prostatakarzinom alle existierenden Therapieoptionen in einer prospektiven, randomisierten klinischen Studie miteinander verglichen werden, um patientenrelevante Outcomes und Unterschiede der Behandlungsoptionen zu untersuchen. Aus methodischer Sicht ist anzuführen, dass lediglich eine deskriptive Beschreibung ohne statistisch signifikante Aussagen durchgeführt wurde. Schließlich beziehen sich die

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Daten zur Betrachtung der klinischen Praxis auf Deutschland, während die Studien in anderen Ländern durchgeführt wurden. Daher sind die identifizierten Tendenzen einer weiteren empirischen Prüfung zu unterziehen. Zusammenfassend ist als Hauptergebnis festzuhalten, dass die betrachteten Studienpopulationen im Schnitt jünger sind als die tatsächlich betroffene Patientenpopulation. Dies schränkt die externe Validität der gewonnenen klinischen Daten ein und wirft die folgenden Fragen auf: Muss die Dosierung (hier die Strahlendosis) für ältere Patienten angepasst werden? Wie wirken sich Co-Morbiditäten auf die Wirksamkeit der Behandlung aus, die mit zunehmendem Alter mit größerer Wahrscheinlichkeit auftreten? Inwieweit finden unterschiedliche – insbesondere häufig mit zunehmendem Alter abnehmende – Aggressivitätsgrade der Tumore in den Studien Berücksichtigung? Welche Therapieoption stellt sich unter Berücksichtigung unterschiedlicher Lebensphasen im Hinblick auf verschiedene Ergebnisparameter, wie z. B. Überlebenszeit oder Lebensqualität, als die richtige Wahl dar? Welchen Wert spielen die Patientenpräferenzen bei der Wahl der Therapie? Zur Beantwortung dieser Fragen ist die Generierung von klinischen Forschungsdaten notwendig, die den demografischen Wandel berücksichtigen und somit die epidemiologische Ausgangslage in den klinischen Studien abbilden. VI. Fazit und Ausblick Der vorliegende Beitrag diskutiert die weitreichenden Konsequenzen, die sich aus dem demografischen und epidemiologischen Wandel für das Gesundheitswesen von Industrienationen – hier am Beispiel von Deutschland dargestellt – ergeben. Lösungsstrategien für diese Herausforderungen sind in Form von Präventionsmaßnahmen, gerade auch im geriatrischen Bereich, und von spezifischen Versorgungskonzepten vor allem im medizinischen und versorgungstechnischen Bereich angesiedelt, um einen positiven Einfluss auf die Krankheitsentstehung und den -verlauf zu nehmen und die medizinische Versorgung den sich ändernden Bedürfnissen und Bedarfen anzupassen. Beides geschieht vor dem Hintergrund, die ökonomische Belastung durch den demografischen Wandel zu reduzieren und zu optimalen Ressourcenallokations-Entscheidungen zu kommen. Es zeigt sich zwar, dass durchaus vielversprechende Ansätze existieren, jedoch oft noch keine aussagekräftige Evaluation des medizinischen Nutzens bzw. der Kosteneffektivität vorliegen, die aber Voraussetzungen für eine hohe Entscheidungsqualität sind. Des Weiteren handelt es sich bislang zumeist um zeitlich befristete Leuchtturmprojekte, die – ihre positive Evaluation vorausgesetzt – erst Wirkung zeigen können, wenn sie nachhaltig und flächendeckend implementiert werden. Als weiterer Lösungsansatz wird die adäquate Berücksich-



Demografischer Wandel und Implikationen für medizinische Versorgung45

tigung der älteren Bevölkerung im Rahmen klinischer Studien diskutiert. Zentraler Ansatzpunkt ist hier die Tatsache, dass die bislang häufig fehlenden evidenzbasierten Forschungsergebnisse insbesondere hinsichtlich Wirksamkeit und Sicherheit die Behandlung der älteren Bevölkerungsgruppen gefährden. Durch eine striktere Orientierung an der klinischen Praxis im Rahmen der Stichprobenzusammensetzung und eine Anpassung des Studiendesigns an die Realitäten älterer Patienten, z. B. hinsichtlich Co-Morbiditäten, lassen sich langfristige Einsparungs- sowie Optimierungspotenziale bei der Behandlung erzielen. In diesem Zusammenhang ist zusätzlich herauszustellen, dass die Berücksichtigung der älteren Patienten und die gesundheitsökonomische Evaluation, auch im Sinne vergleichender Wirk­ samkeitsstudien, nach dem amerikanischen CER-Ansatz (Comparative ­Effectiveness Research) nicht nur – wie bislang schwerpunktmäßig üblich – für Pharmazeutika durchgeführt wird, sondern auch im Rahmen der gesundheitsökonomisch begleiteten Versorgungsforschung für andere Behandlungsbzw. Präventionsansätze, wie z.  B. Operationstechniken, Be­strahlungs­ modalitäten, konservative Behandlungsmöglichkeiten bis hin etwa zur Durchführung der Sturzprophylaxe bei älteren Patienten, notwendig ist. Literatur AOK (Hrsg.) (2011): Evaluation des DMP Diabetes mellitus Typ 2 im Rahmen der ELSID-Studie [online abrufbar unter http: /  / www.aok-gesundheitspartner.de / im peria / md / gpp / bund / dmp / evaluation / elsid / dmp_elsid_abschlussbericht_2012.pdf (letzter Zugriff am 09.10.2013)]. Balzer, K. / Bremer, M. / Schramm, S. / Lühmann, D. / Raspe, H. (2012): Sturzprophylaxe bei älteren Menschen in ihrer persönlichen Wohnumgebung, Schriftenreihe Health Technology Assessment, Bd. 116. Birnbaum, D. S. / Braun, S. (2010): Evaluation von Disease Management Programmen – Bewertung der Methodik und der ersten Ergebnisse aus gesundheitsökonomischer Sicht, in: Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen, 104, 2, 85–91. Boult, C. / Reider, L. / Leff, B. / Frick, K. D. / Boyd, C. M. / Wolff, J. L. / Frey, K. / Karm, L. /  Wegener, S.  T. / Mroz, T. / Scharfstein, O. (2011): The Effect of Guided Care Teams on the Use of Health Services, in: Archives of Internal Medicine, 171, 460–466. Boyd, C. M. / Reider, L. / Frey, K. / Scharfstein, O. / Leff, B. / Wolff, J. L. / Groves, C. /  Karm, L. / Wegener, S.  T. / Marsteller, J. / Boult, C. (2009): The Effects of Guided Care on the Perceived Quality of Health Care for Multi-Morbid Older Pa­tients: 18-Month Outcomes from a Cluster-Randomized Controlled Trial, in: Journal of General Internal Medicine, 25, 235–242. Bundesärztekammer (2013): Ergebnisse der Ärztestatistik zum 31. Dezember 2012. Kein Widerspruch – Ärztemangel trotz moderat steigender Arztzahlen [online

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Die experimentelle Methodik in der Gesundheitsökonomik Johanna Kokot I. Laborexperimente in der Gesundheitsökonomik – Wo liegen die Anknüpfungspunkte? Neueste Entwicklungen medizinischer Technologien, Demografischer Wandel und veränderte Erwartungen von Patienten an den Gesundheitssektor lassen sich vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen besser miteinander vereinen, wenn bisherige Abläufe und Organisation im Detail verstanden und damit effizienter gestaltet werden können. Hier kann die experimentelle Wirtschaftsforschung als innovative Methodik in der Gesundheitsökonomik einen Beitrag leisten, Wissenslücken zu schließen und Erklärungsansätze für die Entscheidungen der Akteure zu geben (Fuchs 2000). Bezüglich ihrer Anwendung in der Gesundheitsökonomik wurde von Fuchs (2000) bereits vor über zehn Jahren der experimentellen Methodik eine bedeutungsvolle Rolle in der Zukunft prophezeit.1 Seitdem fand die experimentelle Methodik in der Erforschung von Entscheidungsstrategien bei der Krankenversicherungswahl sowie dem Verhalten von Patienten angesichts verschiedener Krankheitsrisiken Anwendung. Aber auch die Thematik der Priorisierung von Patienten oder der Auswirkung monetärer und nicht-monetärer Anreize auf die Patientenversorgung durch Ärzte ist Gegenstand aktueller Forschung. Dennoch kann man davon sprechen, dass die Methodik innerhalb der Gesundheitsökonomik noch in den Kinderschuhen steckt und viele Fragestellungen bislang noch nicht behandelt wurden. Nichtsdestotrotz zeigt die Vielzahl der kürzlich veröffentlichten Studien die Dynamik in dieser Disziplin. Dieser Übersichtsartikel beleuchtet ausschließlich die ökonomische Perspektive in Form von Laborexperimenten.2 Ökonomische Laborexperimente finden mittlerweile in vielen Bereichen Anwendung. So geben sie beispielsguter Einblick wird auch in Frank (2007) gegeben. aus psychologischer Perspektive ist der Forschungszweig der experimentellen Methodik relevant. Eine umfassende Übersicht zur Anwendung anderer Experimentformen (Discrete-Choice-Experimente und Feldexperimente) in der Gesund1  Ein

2  Auch

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J. Kokot

weise Aufschluss über industrie- oder umweltökonomische Fragestellungen. Aber auch arbeitsmarktrelevante und verhaltensökonomische Themen, wie das Verhalten bei Unsicherheit und die Identifikation von Entscheidungsmustern werden mit ihr erforscht. Wo liegen die Anknüpfungspunkte an die Gesundheitsökonomik? Um diese Frage beantworten zu können, hilft ein kurzer Einblick in Eigenschaften der Methode. Dieser Beitrag soll daher nicht nur einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der experimentellen Gesundheitsökonomik geben. Darüber hinaus wird methodischen Aspekten, die mit dieser Forschung verbunden sind, besondere Beachtung geschenkt. Ein Anknüpfungspunkt ist darin zu sehen, dass sich die Gesundheitsökonomik allgemeiner ökonomischer Modelle bedient. So setzt beispielsweise eine Abschätzung der Wirkung von Rahmenbedingungen und Institutionen wie Krankenhäuser und Krankenkassen auf das individuelle Verhalten eine Verhaltenstheorie voraus, auf deren Grundlage Prognosen über die erwarteten Verhaltensänderungen abgeleitet werden können. Hier setzt die experimentelle Wirtschaftsforschung an, indem sie in einer ihrer wichtigsten Aufgaben zum Verständnis bisheriger ökonomischer Modelle beiträgt sowie diese überprüft, insbesondere aus ihnen abgeleitete empirische Hypothesen (Bardsley 2010). Im Sinne der Grundlagenforschung kann sie so eine notwendige Verbesserung der theoretischen Grundlage liefern (Smith 1994). Experimente stellen nicht zuletzt dadurch, dass sie eine reichere und komplexere Umgebung als Theorien aufweisen, eine Möglichkeit dar, bestehende Theorien zu erweitern oder im Experiment nachgewiesene Abweichungen bisheriger Theorien durch neue Theorien zu erklären. Als ein bekanntes Beispiel sei hier zunächst die „Prospect Theory“ von Kahneman / Tversky (1979) genannt. Mit ihrer Theorie erklären sie die im Experiment beobachteten Abweichungen von der von Neumann / Morgenstern (1947) begründeten Erwartungsnutzentheorie, wonach, vereinfacht gesagt, eine risikobehaftete Alternative einer anderen risikobehafteten Alternative vorgezogen wird, wenn der erwartete Nutzen daraus größer ist. Mit der von ihnen entwickelten Theorie erklären Kahneman und Tversky die Abweichungen von der bisherigen Theorie dadurch, dass sich Teilnehmer an Referenzpunkten orientieren, Verluste stärker gewichten als Gewinne und kleine Eintrittswahrscheinlichkeiten überproportional gewichten. Ebenfalls in diesem Zusammenhang erwähnt seien Arbeiten zur Ungleichheitsaversion und „auf andere bezogene Präferenzen“ (other-regarding preferences) von Bolton (1991) und Fehr / Schmidt (1999) sowie Bolten / Ockenfels (2000). heitsökonomik aus sowohl ökonomischer als auch psychologischer Perspektive wird in Hansen / Anell / Gerdtham / Lyttkens (2013) gegeben.



Die experimentelle Methodik in der Gesundheitsökonomik53

Einen weiteren Aspekt, der für die Relevanz der Methodik spricht, bildet die Konzeption von Politikmaßnahmen bzw. von institutionellen Rahmenbedingungen. Hier können so genannte „Windkanalexperimente“ dazu dienen, neue institutionelle Einrichtungen oder wirtschaftspolitische Vorschläge im Labor zu testen; und zwar dort, wo das Entscheidungsumfeld so komplex ist, dass theoretische Modelle nicht genügen, um eindeutige Vorhersagen zu treffen und insbesondere dort, wo noch keine Erfahrungswerte vorliegen, wo aber Antworten für den Einsatz wirtschaftspolitischer Instrumente gefordert werden. Ansatzpunkte in der Gesundheitsökonomik wären hier zum Beispiel Regulierungen von Seiten des Staates, Wettbewerb, Vergütungssysteme sowie personalisierte Medizin. Laborexperimente können hier ansetzen, indem sie diese Einzelfälle testen, bevor sie politisch implementiert werden. Hinzu kommt, dass Gesundheit ein Gut ist, das nicht selbstverständlich mit einem normalen Marktgut zu vergleichen ist (Plott / Smith 2008). Nach Hurley (2000) treten Marktunvollkommenheiten nicht nur bezüglich des Themas Gesundheit auf, aber gerade der Bereich Gesundheit sei so charakterisiert, dass er all diese Unvollkommenheiten in besonderem Maße vereinigt. Da Laborexperimente relativ kostengünstig und leicht durchzuführen sind, stellen sie eine effiziente Methode dar, neue Ideen umzusetzen und Effekte kontrolliert unter verschiedenen Bedingungen untersuchen zu können sowie Kosten politischer Fehlentscheidungen zu minimieren (Kruse / Rassenti / Reynolds / Smith 1994). Insbesondere für das Verständnis einzelner Mechanismen eignet sich die Methode. Gegenüber Feldstudien haben sie den Vorteil, Parameter der Entscheidungssituation kontrollieren und gezielt verändern zu können sowie externe Faktoren, wie Institutionen, isoliert zu betrachten. Etwaige Verhaltensänderungen können dann direkt auf die Parameteränderung zurückgeführt werden. Darüber hinaus werden im Gegensatz zu Feldstudien Entscheidungen in ökonomischen Experimenten monetär vergütet. So wird gewährleistet, dass die zu testende Anreizsituation erhalten bleibt und sich die Teilnehmer der Studie gemäß ihrer wahren Präferenzen verhalten. Beispielsweise bei Untersuchungen zu Vergütungssystemen von Ärzten leistet dieses Vorgehen einen Beitrag zur internen Validität. Wenngleich die externe Validität eine Herausforderung an Laborexperimente ist, können jene doch helfen, die Realität besser zu verstehen und in Kombination mit Feldexperimenten wertvolle Anhaltspunkte dafür liefern, wie Verhalten und individuelle Entscheidungen in der Realität strukturiert sein könnten. Das Papier ist wie folgt gegliedert. Zunächst wird ein Einblick in Vorteile, Grundsätze und Umsetzung der experimentellen Methodik gegeben. Im dritten Abschnitt werden aktuelle Forschungsarbeiten aufgeführt und exemplarisch einige Studien herausgegriffen und näher erläutert. Der vierte Abschnitt fasst kurz zusammen und gibt einen Ausblick auf zukünftige Forschungen.

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II. Ein Einblick in die experimentelle Methodik ökonomischer Laborexperimente Mittlerweile findet die experimentelle Methodik in nahezu jedem ökonomischen Forschungsgebiet Anwendung. Hier sind beispielsweise Industrieökonomik, Finanzmarktökonomik, Arbeitsmarktökonomik oder Umweltökonomik und insbesondere der Bereich der Verhaltensökonomik („Behavioral Economics“) zu nennen. Nicht zuletzt seit Daniel Kahneman und Vernon Smith, im Jahre 2002 mit dem Nobelpreis für Ökonomie ausgezeichnet, hat sich die experimentelle Methodik in den Wirtschaftswissenschaften fest etabliert. 1. Kontrollierte Bedingungen

Die experimentelle Methode in ganz allgemein formulierter Definition ist eine Methode zur Generierung von Daten und dies – das ist das Essentielle dieser Methode – unter kontrollierten Bedingungen (Smith 1976). Die Kontrolle bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Faktoren, die das Verhalten beeinflussen. Hierbei wird – unter Konstanz aller das Verhalten beeinflussenden Faktoren – der zu erforschende Faktor variiert. Dadurch können kausale Zusammenhänge ermittelt werden. Tritt die Variation der Faktoren in natürlicher Form in der Realität auf, spricht man von einem natürlichen Experiment. Werden die Faktoren vom Forscher kontrolliert, handelt es sich entweder um Feld- oder Laborexperimente, wobei Feldexperimente in der natürlichen Umgebung durchgeführt werden und Laborexperimente in einem Experimentallabor oder einem speziellen Untersuchungsraum stattfinden. 2. Labor- vs. Feldexperimente

Als den größten Vorteil von Laborexperimenten ist die Kontrolle der Einflussfaktoren anzusehen. In der speziellen Umgebung von zumeist Computerarbeitsplätzen lassen sich die Einflussfaktoren sehr gut kontrollieren. Ergebnisse können somit kausal auf veränderte Faktoren zurückgeführt werden. Darüber hinaus wird durch diese Art von Kontrolle ermöglicht, dass ein Experiment replizierbar ist und auch in einem anderen Labor dieselben Ergebnisse liefert. Demzufolge weisen Laborexperimente ein hohes Maß an interner Validität auf. Rein methodisch kommt es demnach beim Experimentdesign im Labor zunächst nur darauf an, eine Entscheidungssituation zu schaffen, die die Versuchspersonen in die zu untersuchende Situation versetzt und nicht darauf, real existierende Institutionen nachzubauen. Die Anforderungen an das experimentelle Design im Hinblick auf den Re-



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alitätsbezug sind daher als relativ gering zu bewerten. Es ist hierbei nicht von zentraler Bedeutung, ob die gewählten Parameter des Designs einen Bezug zur Realität besitzen. Entscheidend ist allein die Konstruktion. Dies gilt zumindest solange allein der Anspruch gestellt wird, theoretische Aussagen über das Verhalten zu überprüfen oder stilisierte Fakten über das Verhalten im Labor zu erzeugen. Wird dagegen der Anspruch erhoben, Aussagen zu generieren, die auch außerhalb des Labors Gültigkeit haben, stellt sich unmittelbar die Frage nach ihrer externen Validität. Ein höheres Maß an externer Validität kann durch die Untersuchung von Phänomenen in ihrer natürlichen Umgebung erzeugt werden, wie beispielsweise in Feldexperimenten. Das Charakteristische von Feldexperimenten ist eine „natürlich“ auftretende Experimentumgebung, wenngleich das Verhalten auch hier durch vom Experimentator bestimmte spezifische Regeln gesteuert werden kann. In Feldexperimenten kann beispielsweise das Verhalten von Ärzten während einer Behandlung in ihrer Praxis oder im Krankenhaus untersucht werden. Aber auch Patienten und Manager von Krankenkassen können Gegenstand von Feldstudien sein. Abstriche müssen hier jedoch hinsichtlich der Kontrolle der relevanten Einflussfaktoren gemacht werden (Levitt / List 2007; Falk / Heckman 2009; Kessler / Vesterlund 2011). Während in Laborexperimenten gezielt das Individual- und Gruppenverhalten untersucht werden kann, lassen sich über tatsächliche Beweggründe einer Entscheidung im Feld oft nur Spekulationen treffen. Ferner müssen sich auch empirische Studien und Feldexperimente der Frage der externen Validität stellen. Ihre Ergebnisse haben häufig nur in der jeweiligen untersuchten Umgebung bzw. nur für eine bestimmte Zielgruppe Gültigkeit und lassen sich nicht ohne weiteres in ähnlichen Situationen in anderer Umgebung bestätigen (Bardsley 2010). Auch in klassischen Laborexperimenten können Teilnehmer aus dem zu untersuchenden Hintergrund teilnehmen und die Experimentumgebung in einem bestimmten Kontext dargestellt werden. In diesem Punkt nähern sich Labor- und Feldexperimente an. Ein wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang ist dabei die Rekrutierung der Versuchsteilnehmer. In der Regel sind das Studenten. Ein Schritt in die richtige Richtung im Medizinkontext ist hier die Rekrutierung von Medizinstudenten. Eine Herausforderung wird sein, Ärzte zu rekrutieren oder mit Hilfe von mobilen Laboren Ärzte direkt in ihrem Umfeld für die Forschung zu gewinnen. Experimentatoren können folglich Aussagen über kausale Zusammenhänge treffen. Ihnen ist aber auch durchaus bewusst, dass sie vor der Herausforderung stehen, Ergebnisse auch auf die reale Welt außerhalb des Labors übertragen zu können. Letztendlich ist es ein Trade-off zwischen interner und externer Validität, wobei es einleuchtend ist, dass die interne Validität

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zuerst erfüllt sein sollte, um Ergebnisse kausal interpretieren zu können. Wenn das nicht der Fall ist, nützt auch die externe Validität wenig. Die Kontrolle und Interpretierbarkeit als Folge interner Validität ist der größte Vorteil, den Experimente im Vergleich zu anderen Erhebungsmethoden haben. Experimente sollten daher als komplementärer Teil von empirischer Sozialforschung verstanden werden, die Feldstudien, Umfragen oder Simulationen sinnvoll ergänzen, sie jedoch nicht ersetzen können.3 3. Monetäre Anreize

Variationsmöglichkeiten eines Experimentators in der experimentellen Praxis liegen unter anderem in der Modellierung der Entscheidungsumgebung (Welche Entscheidungen können getroffen werden?) sowie in der Informationsbereitstellung (Welche Informationen werden den Teilnehmern gewährt?). Des Weiteren lassen sich Einflussgrößen wie Kommunikation, Anonymität sowie die Art und Form von Interaktionen von Teilnehmern steuern. Zurückgehend auf den Nobelpreisträger Vernon Smith, der mit seiner „Induced-Value-Methode“ Standards für die gesamte experimentelle Wirtschaftsforschung gelegt hat, bilden ferner monetäre Anreize einen wesentlichen Gestaltungspunkt von Laborexperimenten. Dieses Vorgehen trägt der Tatsache Rechnung, dass Entscheidungen von Teilnehmern in einer Laborsituation zumeist von ihren natürlichen Präferenzen außerhalb des Labors beeinflusst sind. Um dennoch die Kontrollierbarkeit eines Experiments zu gewährleisten und trotzdem die Übertragbarkeit auf reale Sachverhalte nicht zu vernachlässigen, bewirkt die Ausgestaltung anreizkompatibler Parameter, dass die natürlichen Präferenzen an jene im Labor erwünschten angeglichen werden. Das Verhalten wird dann gewissermaßen durch die monetären Anreize induziert. Alle im Experiment getroffenen Entscheidungen – das können Entscheidungen eines Teilnehmers selbst oder Entscheidungen der anderen Teilnehmer während eines Experiments sein – haben folglich monetäre Konsequenzen. Jedem Teilnehmer ist dabei bekannt, in wieweit sich seine Entscheidungen auf seine Auszahlung auswirken. Damit die monetären Anreize eine hinreichende Motivation darstellen, sollte der Auszahlungsbetrag angemessen sein und ungefähr dem entsprechen, was ein Teilnehmer an anderer Stelle in der gleichen Zeit verdienen könnte. Das induzieren monetärer Anreize unterscheidet ökonomische Laborexperimente von reinen Umfragen, in denen die Teilnehmer zum Beispiel – zutreffend oder nicht – angeben können, fair und kooperativ zu sein. In Anbetracht dessen, dass im Nachhinein nicht ohne Weiteres feststellbar ist, ob die in der Umfrage getätigte Aussage in der Realität zutrifft, kann in Expe3  Amann

(2012); Bardsley (2010).



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rimenten kooperatives Verhalten beispielsweise durch monetäre Konsequenzen erzielt werden. Dies würde dann üblicherweise durch eine Reduktion der eigenen Auszahlung zugunsten der Auszahlung eines anderen Teilnehmers abgebildet werden.4 4. Experimentelle Standards

Die folgenden experimentellen Standards dienen dazu, das Maß an Kontrolle und Vergleichbarkeit zu erhöhen. Eine grundlegende Voraussetzung ökonomischer Laborexperimente ist die Regel, dass Teilnehmer nicht getäuscht oder belogen werden dürfen. Über alle entscheidungsrelevanten Zusammenhänge müssen die Teilnehmer wahrheitsgemäß informiert werden. Würde diese Regel nicht gelten, könnte es sein, dass Teilnehmer, die in früheren Experimenten belogen wurden, im nächsten Experiment wieder eine Lüge hinter der Entscheidungssituation vermuten oder gezielt danach suchen. Möglicherweise verhalten sie sich dann nicht mehr gemäß ihrer wahren Präferenzen. Ist dies der Fall, ist die Interpretierbarkeit der Ergebnisse anzuzweifeln. Hinsichtlich der Durchführung von Experimenten ist es unabdingbar, Versuchspersonen sauber zu rekrutieren und Selektionseffekte zu vermeiden. Ferner wird eine entsprechend große Zahl an Teilnehmern benötigt, um ein Experiment sinnvoll auszuwerten.5 Das sind üblicherweise 24 Teilnehmer pro Experimentvariation. Sowohl bei der Teilnehmerrekrutierung und während eines Experiments als auch bei der Datenauswertung ist die Anonymität der Daten gewährleistet. Die Anonymität während eines Experiments wird zusätzlich dadurch gefördert, dass Teilnehmer ihre Entscheidungen an einem sichtgeschützten und je nach Experimentallabor schallgeschützten Computerarbeitsplatz treffen, wie beispielsweise in Experimentallaboren in Bonn (BonnEconLab) und Essen (Essener Labor für experimentelle Wirtschaftsforschung, elfe). Damit keine Effekte vom Experimentator ausgehen, z. B. der so genannte „Experimenter Demand Effect“, sollten Experimente einer Versuchsreihe immer mit gleichen Experimentatoren durchgeführt werden. Während der Auszahlung der Teilnehmer am Ende eines Experiments kann es dennoch sein, dass Rückschlüsse auf ihr Verhalten gezogen werden können. In diesem Fall bildet die Doppelblindstudie eine Alternative. In diesem Fall wissen weder Teilnehmer noch der Experimentor welche Experimentvariation gegenwärtig durchgeführt wird.

4  Siehe

beispielsweise Falk / Fehr / Fischbacher (2008). (2012).

5  Amann

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III. Überblick über gesundheitsökonomische Experimente Im Folgenden wird ein Überblick über den aktuellen Stand der Forschung im Bereich der experimentellen Gesundheitsökonomik gegeben. Ein Blick auf die Jahreszahlen der Veröffentlichungen zeigt, wie jung dieser Forschungsbereich ist. Gleichwohl lässt die Vielzahl der jüngst veröffentlichten Studien auf eine dynamische Entwicklung dieser Disziplin schließen. Insofern wird an dieser Stelle sowohl ein Überblick über veröffentlichte Studien als auch Arbeitspapiere gegeben. Exemplarisch werden einige Studien herausgegriffen und sowohl auf ihre inhaltlichen als auch methodischen Besonderheiten näher eingegangen. Als erste experimentelle Studie, die sich ökonomischen Fragen im konkreten Gesundheitskontext hinsichtlich Entscheidungen von Ärzten widmet, ist die Studie von Hennig-Schmidt / Selten / Wiesen (2011) zu nennen. Sie untersuchen erstmals finanzielle Anreize von Ärzten, insbesondere Vergütungssysteme. Auf dieser Grundlage sind weitere Studien entstanden, die zum einen die Thematik der monetären Vergütungssysteme vertiefen (Brosig-Koch / Hennig-Schmidt / Karies / Wiesen 2013a, b; Keser / Montmarquette / Schmidt / Schnitzler 2013; Godager / Wiesen 2011) aber auch nicht-monetäre Anreize wie Reputation betrachten (Kairies / Krieger 2013; Godager / Hennig-Schmidt / Iversen 2013). Das Thema der Priorisierung im Sinne von Zeitallokation hinsichtlich medizinischer Behandlungen oder als Reihenfolge von Diagnosen wird von Ahlert / Felder / Voigt (2012) sowie Ahlert / Funke /  Schwettmann (2012) untersucht. Der Perspektive der Patienten widmen sich erstmals Schram / Sonnemans (2011) aber auch Krieger / Felder (2013). Sie analysieren Faktoren, die bei der Wahl von Krankenversicherungen relevant sind. Ebenfalls im experimentellen Kontext erwähnenswert ist die Studie zum Verhalten bei diagnostischen Risiken von Krieger / Mayrhofer (2012) sowie die Studie von Levy-Garboua et al. (2008), die sich mit der Finanzierung von Gesundheitsleistungen beschäftigt. Eine allgemeinere Sichtweise nehmen Bleichrodt / Rohde / Van Ourti (2012) mit ihrer Untersuchung zur einkommensbezogenen Ungleichheit von Gesundheitsleistungen ein. Sie hat zum Schwerpunkt, wie sich Veränderungen im Gesundheitszustand in verschiedenen Einkommenssituationen auswirken. Die im Folgenden näher erläuterten Studien beleuchten zunächst das Entscheidungsverhalten von Ärzten. Anschließend wird ein Einblick in Studien zur Patientenperspektive gegeben.



Die experimentelle Methodik in der Gesundheitsökonomik59 1. Entscheidungen von Ärzten

a) Monetäre Anreize Die Studie von Hennig-Schmidt / Selten / Wiesen (2011) untersucht den Einfluss verschiedener Vergütungssysteme von Ärzten auf die Behandlung von Patienten. Dabei betrachten sie insbesondere die Effekte, die von einer Kopfpauschale (Capitation, CAP) und einer Einzelleistungsvergütung (FeeFor-Service, FFS) ausgehen. Aus theoretischer Sicht wurden Effekte dieser Vergütungssysteme bereits nachgewiesen, beispielsweise, dass die Einzelleistungsvergütung eher dazu anregt, die Behandlung in Richtung des eigenen Einkommens zu erhöhen, was auch zu einer Überversorgung führen kann. Unter einer Kopfpauschale wird dagegen eine zu geringe Versorgung erwartet (Pauly 1990; Ellis / McGuire 1986; McGuire 2000). In empirischen Studien sind die Effekte jedoch nicht so eindeutig (Croxson / Propper / Perkins 2001; Devlin / Sarma 2008; Gaynor / Gertler 1995). Insbesondere kausale Effekte zu identifizieren, erscheint schwierig. Die Autoren sehen hier Laborexperimente als Ansatzpunkt zu verstehen, wie finanzielle Anreize auf das Verhalten von Ärzten wirken. In ihrem Experiment wählen Medizinstudenten in der Rolle eines Arztes eine Menge an medizinischen Leistungen, die sie einem Patienten zugutekommen lassen möchten. Mit dieser Leistungserbringung bestimmt ein Arzt sowohl den Nutzen des Patienten als auch seinen eigenen Verdienst. Patienten sind so modelliert, dass sie verschiedene Erkrankungen und Schweregrade dieser Erkrankungen aufweisen können. Dem Arzt ist dabei bekannt, welchen Verdienst er bei seiner Behandlung erhält und welchen Nutzen diese dem Patienten in monetären Einheiten stiftet. Für jeden Patienten existiert eine Menge an medizinischen Leistungen, die für diesen Patienten vor dem Hintergrund seiner Erkrankung und dessen Schweregrad optimal ist. Reale Patienten sind während der Studie nicht anwesend. Um dennoch den Realitätsbezug einer Behandlung zu gewährleisten, kommt das monetäre Äquivalent des in der Studie generierten Patientennutzens einer gemeinnützigen Stiftung zugute, die das Geld für die Behandlung realer Patienten einsetzt.6 Wird ein Arzt mit einer Einzelleistungsvergütung vergütet, so steigt sein Verdienst mit zunehmender Menge an Leistungen. Ist die Vergütung eine Kopfpauschale, sinkt diese, je mehr Leistungen ein Arzt erbringt. Mit dieser Modellierung erzeugen die Autoren bei einer Behandlung einen Trade-off 6  Das Geld wird an die Christoffel Blindenmission Deutschland e. V. transferiert, die es im Krankenhaus in Masvingo (Zimbabwe) einsetzt, um Patienten mit Grauem Star zu behandeln.

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zwischen dem maximalen Verdienst des Arztes und dem optimalen Nutzen eines Patienten. Ihre Ergebnisse zeigen, dass finanzielle Anreize einen Einfluss auf die Behandlung haben, aber nicht die einzige Motivation für die Behandlung sind. So kann festgehalten werden, dass eine Kopfpauschale zu weniger Leistungen führt als eine Einzelleistungsvergütung. Ferner beobachten die Autoren, wie bereits theoretisch angenommen, eine Überversorgung bei einer Einzelleistungsvergütung sowie eine Unterversorgung bei einer Kopfpauschale. Gleichwohl zeigen sie, dass auch dem Patientennutzen bei der Behandlungsentscheidung eine wichtige Bedeutung zukommt. Dass finanzielle Anreize einen Effekt auf die Behandlung von Patienten haben, bekräftigt auch die auf Hennig-Schmidt / Selten / Wiesen (2011) basierende Studie von Keser / Montmarquette / Schmidt / Schnitzler (2013). Patienten profitieren demnach von einer Einzelleistungsvergütung im Vergleich zu einer Kopfpauschale, wobei eine Einzelleistungsvergütung, wie auch in Hennig-Schmidt / Selten / Wiesen (2011) in ihrem Experiment zeigen, zu einer Überversorgung und eine Kopfpauschale zu einer Unterversorgung von Patienten führt. Ferner legen ihre Befunde nahe, dass die Leistungserbringung unabhängig von einer Begrenzung der Kopfpauschale ist. Teilnehmer der Studie waren 23 Studenten mit einem Studienfach mit medizinischem Bezug. Aufbauend auf Hennig-Schmidt / Selten / Wiesen (2011) verallgemeinern Brosig-Koch / Hennig-Schmidt / Kairies / Wiesen (2013a) das experimentelle Design und passen es so an, dass sich verschiedene Arten von Vergütungssystemen direkt miteinander vergleichen lassen. Sie testen, motiviert von den Ergebnissen vorheriger Studien hinsichtlich reiner Vergütungssysteme (CAP und FFS), wie sich das Entscheidungsverhalten durch eine Mischung dieser Vergütungssysteme verändert. Die Ergebnisse ihres Experiments zeigen, dass sich die Leistungserbringung durch diese Mischung der Systeme zugunsten der Patienten erhöht. Ferner identifizieren sie, dass allein die Darstellung von Vergütungssystemen einen Einfluss auf die Leistungserbringung hat. Diesbezüglich können sie die positiven Befunde des gemischten Vergütungssystems auch bestätigen, wenn das System zwar als gemischtes Vergütungssystem dargestellt, tatsächlich aber eine reine Kopfpauschale ist. Teilnehmer der Studie sind Medizinstudenten und Studenten anderer Studienfächer, wobei die Autoren keine systematischen Unterschiede zwischen beiden Gruppen feststellen können. Neben gemischten Vergütungsanreizen finden Brosig-Koch / HennigSchmidt / Kairies / Wiesen (2013b) auch für Pay-for-Performance-Anreize einen positiven Effekt hinsichtlich des Patientennutzens aus einer Behandlung. Insbesondere im Bereich dieser Bonuszahlungen und gezielten Leistungsanreize besteht in der empirischen Forschung Uneinigkeit hinsichtlich der



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Auswirkung im Gesundheitssektor. Hier kann den Autoren zufolge das Laborexperiment einen besonderen Beitrag leisten, indem es beispielsweise den im Feld nur schwer messbaren Patientennutzen durch gezieltes Design abbildet und ermöglicht, Effekte isoliert zu betrachten. Diesem Aspekt der Unsicherheit eines Arztes im Behandlungskontext vor dem Hintergrund verschiedener finanzieller Anreize widmen sich die Autoren in einer Folgestudie. Weitere Untersuchungen zu Vergütungssystemen geben Hinweise auf eine Heterogenität hinsichtlich der Art der Vergütung sowie auf Selektionseffekte, die mit der Wahl von Vergütungssystemen einhergehen (BrosigKoch / Hennig-Schmidt / Kairies-Schwarz / Kokot 2013). b) Nicht-monetäre Anreize In ihrem Arbeitspapier betrachten Kairies / Krieger (2013) nicht-monetäre Leistungsanreize von Ärzten. Aufbauend auf dem Grunddesign von BrosigKoch / Hennig-Schmidt / Kairies / Wiesen (2013a) untersuchen sie, wie die Leistungserbringung eines Arztes beeinflusst wird, wenn seine Behandlungsqualität relativ zu anderen Ärzten dargestellt wird. Die Behandlungsqualität bemisst sich darauf, wie stark ein Arzt von seinen eigenen Vergütungsanreizen zugunsten des Patientennutzens abweicht. Die relative Darstellung geschieht in einer Experimentvariation im privaten Rahmen, so dass ein Arzt nach Behandlung aller (gegebener) Patienten in einer Rangfolge erfährt, wie „gut“ die von ihm behandelten Patienten im Vergleich zu Patienten anderer Ärzte behandelt wurden. In einer anderen Variation wird diese Rangfolge öffentlich dargestellt. Teilnehmer im Experiment werden anhand ihrer Rangfolge aufgerufen und zeigen sich der anwesenden Gruppe von Teilnehmern. Die Ergebnisse ihrer Studie mit Studenten mit medizinischem als auch nicht-medizinischem Hintergrund zeigen, dass die Teilnehmer auf nicht-monetäre Anreize in Form von öffentlichem Feedback reagieren und die Behandlungsqualität verbessern. Nicht-öffentliches Feedback hat in ihrem Experiment jedoch keinen signifikanten Einfluss auf die Behandlung. Godager / Hennig-Schmidt / Iversen (2013) bestätigen in einem ähnlichen Experiment die positiven Auswirkungen von Transparenz und Reputation hinsichtlich der Behandlungsqualität. Basierend auf Hennig-Schmidt / Selten / Wiesen (2011) durchlaufen die Teilnehmer in der Rolle eines Arztes (Medizinstudenten) in ihrer Studie eine Phase, in der Informationen nur ihnen selbst offenbart werden und anschließend eine Phase in der die Behandlungsqualität vor den anderen Teilnehmern offengelegt wird. Ihre Befunde zeigen einen signifikanten Effekt der Transparenz im Sinne einer Erhöhung des Patientennutzens sowie des sozialen Überschusses.

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c) Priorisierung Einer Priorisierung gemäß einer Allokation begrenzter Ressourcen und gleichzeitiger adäquater Behandlung kann nach Ahlert / Felder / Voigt (2012) nicht durch eine pauschale Regel Rechnung getragen werden. In ihrem Laborexperiment modellieren sie verschiedene Entscheidungsumgebungen hinsichtlich divergierender Interessen, wie Effizienz, Eigennutz und sozialer Orientierung. Medizin- und Wirtschaftsstudenten entscheiden in der Rolle eines Arztes darüber, welche Patienten sie bei einem gegebenen Budget behandeln möchten. Diese Patienten variieren dabei sowohl im Bedarf an Behandlungsmenge als auch im Nutzen aus einer Behandlung (gemessen in monetären Einheiten). Im Experiment werden Patienten entweder durch anwesende Teilnehmer repräsentiert oder virtuell modelliert. Kern der Studie ist die Untersuchung des Verhaltens der Teilnehmer auf eine bestimmte Typenzugehörigkeit. Die Daten ergeben, dass sich Wirtschaftsstudenten eher als Auszahlungsmaximierer einordnen lassen. Medizinstudenten verhalten sich dagegen eher nach dem Prinzip, diejenigen Patienten zu behandeln, die die höchste Behandlungsmenge benötigen (Rawls’sches Prinzip). Grundsätzlich können die Autoren die theoretische Vorhersage bestätigen, dass eine Reduktion der vorhandenen Ressourcen die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass weniger Patienten behandelt werden. Ferner liefern sie Evidenz dafür, dass die Wahrscheinlichkeit behandelt zu werden steigt, je geringer der Bedarf an Behandlung ist. In einer Modifikation dieser Studie identifizieren Ahlert / Funke / Schwettmann (2012) verschiedene Aufteilungsmechanismen. Am häufigsten wird beobachtet, dass die zur Verfügung stehenden Ressourcen zuerst anhand des Behandlungsbedarfs aufgeteilt werden. Hinsichtlich der Aufteilung verbleibender Ressourcen unterscheidet sich das Verhalten je nach Studiengang. Während Medizinstudenten (und Jurastudenten) die restlichen Behandlungsressourcen zu gleichen Teilen auf alle Patienten verteilen, präferieren Wirtschaftsstudenten eher eine Aufteilung zu Gunsten ihres eigenen Verdienstes. 2. Patientenperspektive – Wahl von Krankenversicherungen

Schram / Sonnemans (2011) untersuchen Entscheidungen und Entscheidungsstrategien bei der Wahl von Krankenversicherungsverträgen und beleuchten dabei insbesondere die Anzahl an Auswahlmöglichkeiten, das Wechselverhalten sowie die Stabilität von Risikopräferenzen. Die Teilnehmer der Studie (Studenten verschiedener Fachrichtungen) werden durch ein Gesundheitsprofil charakterisiert, welches sich aus verschiedenen über einen Zeitverlauf variierenden Eintrittwahrscheinlichkeiten von Krankheitsereignissen zusammensetzt. Vor dem Hintergrund dieser Eintrittwahrscheinlich-



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keiten sowie der jeweiligen Versicherungsbeiträge wählt ein Teilnehmer die von ihm präferierte Versicherung aus einer Auswahl von verschieden charakterisierten Verträgen aus. Zusätzlich können Kosten für die Informationsbeschaffung über die Verträge sowie Wechselkosten entstehen. Das Besondere an der Studie im Vergleich zu Feldstudien ist, dass die Autoren in Kombination mit den ermittelten Risikopräferenzen den für einen jeweiligen Teilnehmer optimalen Vertrag bestimmen können. Ihre Befunde zeigen, dass dieser umso seltener gewählt wird, je mehr Auswahlmöglichkeiten bestehen. Ferner steigt auch das Wechselverhalten mit zunehmender Wahlmöglichkeit. Werden Wechselkosten eingeführt, ist entgegen der Erwartungen eine verbesserte Qualität der Entscheidungen zu erkennen, wenngleich die Teilnehmer im Vergleich zu ihrer optimalen Strategie den Vertrag zu oft wechseln. Dieses Ergebnis steht im Gegensatz zur bisherigen Forschung über den so genannten „Status quo Bias“.7 Im Gegensatz zu Schram / Sonnemans (2011) beobachten Krieger / Felder (2013) in ihrem Experiment einen „Status quo Bias“ bei der Wahl zwischen Krankenversicherungstarifen ohne Selbstbeteiligung und mit Selbstbeteiligung. So wählen jene Versuchspersonen, deren Versicherung im Status quo ohne Selbstbeteiligung ist, eher Versicherungstarife mit geringerer Selbstbeteiligung. Mit zunehmender Erfahrung hinsichtlich der Versicherungswahl, die methodisch als Wiederholung des Wahlvorgangs mit jeweils veränderten Versicherungsparametern umgesetzt ist, relativiert sich jedoch der Effekt des Status quo. Die Unterschiede zwischen den Versuchsgruppen sind mit zunehmender Erfahrung nicht mehr statistisch signifikant. IV. Zusammenfassung und Ausblick Warum ist es wichtig, dass spezielle gesundheitsökonomische Experimente durchgeführt werden? Wäre es nicht einfacher, die bisherigen Erkenntnisse aus anderen Experimenten zu übertragen? Sicherlich gelten Mechanismen über Kontexte hinweg. Dennoch ist „Gesundheit“ nicht als ein Marktgut im eigentlichen Sinne anzusehen. Es besitzt besondere Eigenschaften in Bezug auf das Entscheidungsverhalten der beteiligten Akteure. So haben Untersuchungen gezeigt, dass sich beispielsweise Risikopräferenzen je nach Kontext unterscheiden (Weber / Blais / Betz 2002; Dohmen et al. 2011). Auch die Studie von Ahlert / Felder / Voigt (2012) weist auf die Relevanz von Kontext­ 7  Der „status quo bias“ bezeichnet das Phänomen, dass Menschen eine generelle Tendenz haben, an ihrer gegenwärtigen Situation festzuhalten. So haben Eigenschaften einer aktuellen Alternative einen Einfluss auf die zukünftige Alternativwahl. Abweichungen von der bestehenden Alternative gelten als Verlust (Samuelson / Zeckhauser 1988).

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experimenten hin. Ein reines Übertragen der Erkenntnisse aus bereits bestehenden allgemeinen Experimenten auf den Gesundheitskontext scheint ihren Ergebnissen zufolge nicht ausreichend. Teilnehmer verhalten sich in ihrem bekannten (medizinischen) Umfeld anders als in unbekannter bzw. allgemeiner Umgebung. Sie verweisen dabei auf soziale Normen, die Entscheidungen beeinflussen, beispielsweise beim Arztkontakt. Darüber hinaus zeichnet sich die experimentelle Methodik durch ihre besonderen Merkmale aus, die sich vor allem zur Erforschung individuellen Entscheidungsverhaltens eignen. Besonders ist hier die Kontrollierbarkeit der Einflussfaktoren zu nennen, die es ermöglicht, kausale Effekte zu identifizieren. In Kombination mit methodischen Aspekten, wie den monetären Anreizen, lässt sich in einer Laborumgebung eine Entscheidungssituation erzeugen, die Teilnehmer motiviert, sich möglichst genau gemäß ihrer realen Präferenzen zu verhalten. Die Experimentalforschung kann bei der Entwicklung von Politikmaßnahmen eine Schlüsselrolle spielen. Insbesondere dort, wo Feldstudien nicht möglich sind, können sie Maßnahmen simulieren und somit erste Befunde liefern bevor weitere Feldstudien greifen. Labor- und Feldstudien können hier komplementär eingesetzt werden. Ferner wird in Zukunft die Multidisziplinarität an Wichtigkeit gewinnen, indem das Wissen über die experimentelle Methode mit dem Wissen von theoretisch und empirischen arbeitenden Wirtschaftswissenschaftlern, Psychologen, Soziologen, Medizinern, Gesundheitsökonomen und Gesundheitsmanagern verknüpft wird. Dieser Austausch von Methoden sowie die Integration verschiedener Studien könnten dazu beitragen, Politikimplikationen zu verbessern und Rahmenbedingungen auch gemäß Erkenntnissen über individuelles Verhalten zu gestalten (Fuchs 2000). Doch dazu muss noch genauer verstanden werden, wie Ärzte und Patienten Entscheidungen treffen und von welchen Faktoren diese beeinflusst werden. Gewonnene Erkenntnisse über Verhaltensmuster helfen, diese einzusetzen, um vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen den medizinischen Alltag effizienter zu gestalten. Welchen Einfluss hat zum Beispiel die Darstellung von Behandlungsalternativen von Patienten? Wie und wann treffen Ärzte und Patienten optimale Entscheidungen und welchen Einfluss hat der Wettbewerb im Gesundheitswesen? Bisher steht die experimentelle Methodik noch am Anfang. Das impliziert aber auch, dass sie sich zumindest im Gesundheitskontext nur auf wenige Erkenntnisse bisheriger Studien berufen kann. Hier bedarf es in der Zukunft einer Fortsetzung der bisher veröffentlichten Studien durch eine weiterführende und schrittweise kontrollierte Variation von Merkmalen.



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Modelle in der gesundheitsökonomischen Evaluation Martin Bierbaum und Oliver Schöffski I. Modellbegriff Der Begriff Modell hat im allgemeinen Sprachgebrauch verschiedene Bedeutungen. Er findet unter anderem auch in der Mode und den Künsten Verwendung oder dient der Beschreibung eines Gegenstandes. Der allgemeine Modellbegriff ist durch drei wesentliche Merkmale gekennzeichnet – Abbildungsmerkmal, Verkürzungsmerkmal und pragmatisches Merkmal (Stachowiak 1973). „Eine pragmatisch vollständige Bestimmung des Modellbegriffs hat nicht nur die Frage zu berücksichtigen, wovon etwas Modell ist, sondern auch, für wen, wann und wozu bezüglich seiner je spezifischen Funktionen es Modell ist.“ (Stachowiak 1973). In der Ökonomie wird der Modellbegriff häufig wenig präzise verwendet, mit der Folge, dass hinsichtlich Geltungsbereich und Aussagegehalt oft Unklarheit herrscht. Zwar finden sich die Merkmale des allgemeinen Modellbegriffs auch in den meisten wirtschaftswissenschaftlichen Definitionen wieder, allerdings zeigen sich bei genauer Betrachtung auch große Unterschiede und teilweise sogar Widersprüche zwischen den verschiedenen Definitionen (Angermann 1963; Homburg 1998; Mankiw / Taylor 2006; Ruchti 1956; Wöhe / Döring 2005; Zschocke 1995). Der Ökonom Dietrich Zschocke hat sich dieser Problematik angenommen und dabei einen der umfassendsten Ansätze zur Begriffsklärung für die Ökonomie durchgeführt (Zschocke 1995). Neben der Explikation eines Modellbegriffs kam Zschocke bei seinen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass in den Formal- und Realwissenschaften ein unterschiedlicher Modellbegriff Verwendung findet. Der Modellgedanke der Formalwissenschaften wie Logik und Mathematik beschreibt einen Abbildungsprozess vom Allgemeinen (Axiomensystem) hin zum Speziellen (Interpretation des Axiomensystems), während in den Realwissenschaften wie der Ökonomie vom Speziellen (Ausschnitt der Realität) hin zum Allgemeinen (Modell) abstrahiert wird. Anders ausgedrückt ist den Formalwissenschaften das Modell der Interpretationsrahmen eines allgemeinen Originals und in den Realwissenschaften ist das Modell das Ergebnis eines Abbildungsvorgangs.

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Für das Modellkonzept der Realwissenschaften werden folgende Festsetzungen getroffen: – Das Beschreiben eines Untersuchungsobjekts soll Abbildung heißen. Ein Untersuchungsobjekt, das abgebildet wird, heißt Original und das Ergebnis des Abbildungsvorgangs heißt Modell. – Ein Teil des Originals soll ein Urelement und ein Teil des Modells soll ein Bildelement heißen. – Derjenige, der eine Abbildung vornimmt, wird Modellierer genannt. – Die Abfolge „Original – Abbildung – Modell“ wird Modell-Konzept genannt. Wichtig am Explikat von Zschocke ist die Verknüpfung von Elementen des Originals und des Modells im Abbildungsprozess, da sie den Informationstransfer als Wesensmerkmal der Modellbildung darstellt. Die Kurzfassung seines Explikats lautet: „Ein Modell soll ein Bild von etwas für jemanden sein.“ Hierin zeigt sich die bereits von Stachowiak festgestellte Subjektivität der Modellbildung. II. Historie und Bedeutung von Modellen in der Ökonomie In vielen wissenschaftlichen Disziplinen wie Logik, Mathematik, Naturwissenschaften aber auch den Sozialwissenschaften sind Modelle schon lange anerkannte Vehikel der Forschung und Bedingung für erfolgreiches wissenschaftliches Arbeiten. Auch in der Ökonomie ist die Verwendung von Modellen und quantitativen Verfahren zur Lösung wirtschaftswissenschaftlicher Fragestellungen keine Neuheit, jedoch fand ihre Anwendung lange Zeit mehr oder weniger unbewusst statt. Die explizite Anwendung und methodologische Professionalisierung fand vergleichsweise spät statt. Ihren Siegeszug in den Wirtschaftswissenschaften hatten Modelle mit dem Aufstieg des Operations Research (OR). Der Begriff steht in engem Zusammenhang mit quantitativen Entscheidungsmodellen und kann wie folgt definiert werden: „Operational Research is a scientific method of providing executive departments with a quantitative basis for decisions regarding the operations under their control.“ (Gass 2011). Ursprünglich für militärische Zwecke entwickelt, fanden die Konzepte nach dem Zweiten Weltkrieg Einzug in die Wirtschaft. Typische Fragestellungen waren vor allem Optimierungen von Produktionsabläufen unter Nebenbedingungen. Seitdem haben sich die Methoden und Anwendungsfelder deutlich weiterentwickelt, der gemeinsame Grundgedanke – ökonomische Vorgänge und Sachverhalte mathematischen Modellen zugänglich zu machen – ist jedoch geblieben (Brennan / Akehurst, 2000, Buddensiek / Kaiser / Kaminski, 1980; Buxton / Drummond / van Hout / 



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Prince / Sheldon / Szucs / Vray 1997; Müller 1983; Ortlieb / Dresky / Gasser / Günzel 2009; Raiffa 1968). In den Wirtschaftswissenschaften kommt Modellen eine besondere Bedeutung zu, da die Durchführung von wiederholbaren Experimenten in der Regel nicht möglich ist. Daher bedient man sich Beobachtungen aus der Vergangenheit, um daraus Annahmen für die Durchführung des Experiments im Modell zu generieren. Obwohl dieses Vorgehen in anderen Wissenschaftszweigen üblicher Standard ist (auch Astronomen oder Evolutionsbiologen müssen mit dem arbeiten, was die Natur ihnen gegeben hat) wird ökonomischen Modellen beziehungsweise ihren Ergebnissen häufig mit Skepsis und Misstrauen begegnet (Mankiw / Taylor 2006; Spitznagel 2012; Wöhe / Döring 2005). Eine Ursache für diesen Umstand findet sich schon in der historischen Entwicklung des OR. Neben der enormen Entwicklung der Methodik entstand gleichzeitig eine Diskussion um die Mathematisierung der Betriebswirtschaft mit sehr gegensätzlichen Positionen. Kosiol als typischer Vertreter dieser Zeit versuchte die Wogen zu glätten, indem er betonte, dass man die Möglichkeiten mathematischer Modelle nicht überschätzen sollte, da es nicht das Ziel sein könne das verbal-logische Analysieren der Wirtschaft durch Kurven und algebraische Formeln zu ersetzen. Andererseits dürfe der Fortschritt durch quantitative Methoden nicht verkannt werden, sodass es nicht rational wäre, bei wichtigen Entscheidungen darauf zu verzichten (Kosiol 1961; Kosiol 1964). Die damalige Abkopplung von realen betriebswirtschaftlichen Problemen, die Fokussierung auf mathematische Formalisierung sowie Kommunikationsprobleme zwischen Theorie und Praxis waren jedenfalls mit Sicherheit nicht förderlich für die breite Akzeptanz des OR im Besonderen und in der Folge auch nicht für Modelle im Allgemeinen (Homburg 1998). Eine weitere Erklärung mag darin liegen, dass es sich bei ökonomischen Modellen oft um das Ergebnis eines Denkprozesses handelt, deren Ergebnisse unter Anwendung der ceteris-paribus-Methode deduktiv abgeleitet werden. Die so gewonnenen Erkenntnisse sind dann auf Grund der Prämissen zwar logisch korrekt, müssen aber nicht zwingend der beobachtbaren Realität entsprechen. Die so entstehende Diskrepanz ist für Außenstehende ohne Anleitung zur korrekten Interpretation der Modellergebnisse nicht ohne Weiteres aufzulösen und führt in der Folge zur Ablehnung von Modellen bzw. deren Ergebnissen (Albert 1980; Buddensiek / Kaiser / Kaminski 1980; Mankiw / Taylor 2006; Wöhe / Döring 2005). Auch wenn es sich um eine typische Vorgehensweise zur Erkenntnisgewinnung handelt, wird das Vorgehen, ökonomische Modelle mit Hilfe von ceteris-paribus-Klauseln gegen widersprüchliche empirische Erfahrungen zu

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immunisieren auch innerhalb der Wirtschaftswissenschaften nicht ganz unkritisch gesehen (Buddensiek / Kaiser / Kaminski 1980; Durden 2012; Spitznagel 2012; Taleb 2008). Die Kritik zielt dabei vor allem auf Modelle, die um ihrer selbst willen erstellt werden und auf das Denken in Modellen in der neoklassischen Richtung der Ökonomie. Diese Modelle sind zwar logisch richtig und wahr, auch der Realitätsbezug ist gegeben, allerdings fehlt solchen Modellen oft jeglicher Informationsgehalt (Albert 1980). Schon an dieser Stelle ist erkennbar, dass die Ursache der Kritik weniger an Modellen selbst liegt, sondern vielmehr in der fehlerhaften Interpretation und Anwendung ihrer Ergebnisse, insbesondere solcher, die auf immunisierenden Annahmen basieren. Denn nicht jedes ökonomische Modell ist auch ein vereinfachtes Abbild der Realität und auch nicht alle Erkenntnisse, die auf Modellen beruhen, dürfen auf die Realität angewendet werden. Vielmehr muss darauf hin gearbeitet werden, dass die Erkenntnisse aus solchen Modellen nicht das Ende, sondern den Anfang theoretischer Untersuchungen darstellen, denn auch die Diskrepanz zwischen Modellergebnissen und empirischer Erfahrung kann zum Erkenntnisgewinn beitragen, solange die Ursachen der Unterschiede erforscht werden (Buddensiek / Kaiser / Kaminski 1980). III. Modelle in der gesundheitsökonomischen Evaluation 1. Einführung

Die Bedeutung der ökonomischen Evaluation von Gesundheitsgütern hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen und es ist kein Ende dieser Entwicklung zu erkennen. Dabei stehen vor allem therapeutische Verfahren und hier insbesondere Arzneimittel im Fokus solcher Untersuchungen (Brennan / Akehurst 2000; Schulenburg 2007; Weinstein / O’Brian / Hornberg /  Jackson / Johannesson / McCabe / Luce 2003). Ihren Anfang hatte die Bedeutungszunahme mit der gesetzlichen Verankerung solcher Evaluationen im Rahmen von Erstattungsentscheidungen für die öffentlichen Gesundheitssysteme in Australien im Jahre 1992 und der kanadischen Provinz Ontario im Jahr 1994. Seitdem wurde dieses Vorgehen von vielen Ländern adaptiert. Dabei hat das britische NICE, dessen Untersuchungshorizont neben Arzneimitteln auch Medizinprodukte, Diagnostika und Behandlungstechniken umfasst, eine Vorreiterrolle eingenommen (Brennan / Akehurst 2000; Brennan / Chick / Davies 2006; Briggs / Claxton / Sculpher 2006; IQWiG 2009b). Im Grunde geht es bei jeder gesundheitsökonomischen Evaluation darum, Nutzen und Kosten von Maßnahmen ins Verhältnis zu setzen



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(Briggs / Claxton / Sculpher 2006; Drummond / O’Brien / Stoddart / Torrance 1997; Schöffski 2012). Die Notwendigkeit zur ökonomischen Evaluation von Gesundheitsgütern ergibt sich aus der Tatsache knapper Ressourcen, welche die Entscheidungsträger zwingt, aus den verfügbaren Alternativen auszuwählen. Bauchgefühl oder Würfeln sind dabei nicht zielführend. Ohne systematische Analyse ist es schon nicht möglich, überhaupt alle relevanten Alternativen zu identifizieren. Außerdem ist die Perspektive, von der aus die Bewertung erfolgt, von großer Bedeutung. Darüber hinaus kann ohne den Versuch der Quantifizierung, die Unsicherheit hinsichtlich der Effekte einer Maßnahme nicht erfasst werden. Die Ausgaben für eine Maßnahme sind ohnehin nur eine Seite der Medaille. Für die vollständige Bewertung müssen auch die Opportunitätskosten betrachtet werden, also der Nutzen den man erhalten hätte, wenn die Ressourcen für die nächstbeste Alternative eingesetzt worden wären (Cleemput / Neyt / de Sande / Thiry 2012, Drummond / O’Brien / Stoddart / Torrance 1997; IQWiG 2009a, Nuijten / Mittendorf / Persson 2011, Raiffa 1968). Die Nachfrage nach gesundheitsökonomischen Evaluationen zur Entscheidungsunterstützung hat auch dazu geführt, dass sich die Wissenschaft verstärkt damit beschäftigt hat, geeignete Methoden bereit zu stellen. Diese mussten die gesamte verfügbare Evidenz berücksichtigen, einen Vergleich zwischen der zu untersuchenden Intervention und allen verfügbaren Alternativen ermöglichen, sowie eine Betrachtung der Ergebnisse unter Un­ sicherheit erlauben. Dieses Anforderungsprofil führte zur Anwendung entscheidungsanalytischer Methoden. Die Verwendung entscheidungsanalytischer Methoden selbst ist dabei nichts Neues und in vielen anderen Bereichen schon lange Standard. Auch im Gesundheitswesen sind sie bei Entscheidungen unter Unsicherheit schon länger in Gebrauch, allerdings überwiegend im Rahmen klinischer Entscheidungen und weniger bei ökonomischen Bewertungen. So finden sich schon bei Raiffa im Jahr 1968 Beispiele für Entscheidungsprobleme im Gesundheitswesen. Die Herausforderungen lagen also vielmehr darin, die vorhandenen Methoden für die Anwendung bei gesundheitsökonomischen Evaluationen nutzbar zu machen und an die Bedürfnisse von Entscheidern im Gesundheitswesen anzupassen (Brennan / Akehurst 2000; Briggs / Claxton / Sculpher 2006; Raiffa 1968). Ganz allgemein kann die Entscheidungsanalyse (decision analysis) als systematischer Ansatz zur Entscheidungsfindung unter Unsicherheit verstanden werden (Raiffa 1968). In der gesundheitsökonomischen Literatur wird der Begriff der Entscheidungsanalyse allerdings fast immer mit Entscheidungsmodellen gleichgesetzt, da sich bis jetzt noch keine einheitliche Begriffsverwendung herauskristallisiert hat. Dieser Umstand ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass heutzutage Computer und leistungsfähige Modellierungssoftware überall verfügbar sind, mit der Folge, dass die praktische An-

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wendung und Umsetzung in den Vordergrund gerückt ist. Es lässt sich aber feststellen, dass fast immer wenn von decision analysis, Entscheidungsmodellen, mathematischen Modellen, Modellierungen, modeling, decision analytic modeling, entscheidungsanalytischen Modellen, model-based evaluation oder health-care evaluation model die Rede ist, die Abbildung entscheidungsanalytischer Methoden auf gesundheitsökonomische Fragestellungen in mathematischen Computermodellen gemeint ist. Dass die Begriffsverwendung nicht präzise und einheitlich erfolgt, hat glücklicherweise keine gravierenden Folgen, da der grundsätzliche Anspruch immer die Bereitstellung von Informationen für Entscheidungsträger ist und ein einheitlicher Konsens in der wissenschaftlichen Gemeinschaft über das Gemeinte zu bestehen scheint. Nichtsdestotrotz könnte eine einheitliche und präzise Begriffsverwendung für die Weiterentwicklung der Methoden durchaus hilfreich sein, da es die Literatursuche und den wissenschaftlichen Austausch vereinfachen würde. Für den Kontext des Gesundheitswesens liegen verschiedene Definitionen für Modelle vor. Prinzipiell kann jede Untersuchung, die über den empirischen Datenbestand hinaus geht als Modellierung aufgefasst werden, sodass selbst Meta-Analysen streng genommen Modelle sind. Unbestritten ist, dass auch im Gesundheitswesen die Realität nicht eins zu eins abgebildet werden kann und Vereinfachungen vorgenommen werden müssen. Das IQWiG legt hierbei vor allem Wert auf die Validität und verlangt, dass das repräsentierte System hinreichend widergespiegelt sein muss (IQWiG 2009b). Siebert sieht Modelle als analytische Werkzeuge, mit denen verschiedene Nutzenparameter bei gegebenem Satz an Eingangsparametern geschätzt werden können und deren Einfluss auf das Ergebnis bei Veränderung von Eingangsparametern untersucht werden kann (Siebert 2005). Brennan et al. definieren „a model-based evaluation as a formal quantified comparison of health technologies, synthesizing sources of evidence on costs and benefits, in order to identify the best option for decision makers to adopt.“ (Brennan / Chick / Davies 2006) Weinstein et al. formulieren zunächst allgemein „A model is a logical mathematical framework that permits the integration of facts and values and that links these data to outcomes that are of interest to health-care decision makers.“ (Weinstein / O’Brian / Hornberg / Jackson / Johannesson / McCabe / Luce 2003) und spezifizieren dann „We define a healthcare evaluation model as an analytic methodology that accounts for events over time and across populations, that is based on data drawn from primary and / or secondary sources, and whose purpose is to estimate the effects of an intervention on valued health consequences and costs.“ (Weinstein / O’Brian / Hornberg / Jackson / Johannesson / McCabe / Luce 2003). Insgesamt kann festgehalten werden, dass die exemplarisch vorgestellten Definitionen somit im Einklang mit den allgemeinen Modellmerkmalen und der ökonomischen Modelldefinition stehen.



Modelle in der gesundheitsökonomischen Evaluation75 2. Ziele und Anwendungsgebiete

„The purpose of modeling is to structure evidence on clinical and economic outcomes in a form that can help to inform decisions about clinical practices and health-care resource allocations.“ (Weinstein / O’Brian / Hornberg / Jackson / Johannesson / McCabe / Luce 2003). Dieses Zitat bringt das Ziel, das mit der Anwendung von Modellen in der gesundheitsökonomischen Evaluation verfolgt wird, auf den Punkt. Der Prozess der Modellbildung verlangt vom Anwender eine systematische Analyse der Problemsituation und der vorhanden Daten sowie die Identifikation wichtiger Parameter und deren Beziehungen untereinander. Gleichfalls wird nochmals die Zweckbindung, nämlich die Unterstützung von Entscheidungsprozessen betont. Weinstein et al. halten daher auch explizit fest, dass Modelle in erster Linie die Zusammenhänge zwischen Annahmen und Ergebnissen offenlegen sollen, anstatt absolute Ergebnisse zu produzieren (Brennan / Akehurst 2000; Weinstein / O’Brian / Hornberg / Jackson / Johannesson / McCabe / Luce 2003). Das für Deutschland maßgebliche IQWiG stößt in die gleiche Richtung, wenn es als Ziele der gesundheitsökonomische Modellierung die „Ermittlung von Erwartungswerten für die klinischen und ökonomischen Effekte der verglichenen Interventionen“ und die Informationsbereitstellung für Erstattungsentscheidungen identifiziert (IQWiG 2009b). So ist auch der zeitnahe Bedarf an Informationen zu Kosten und Nutzen einer neuen Intervention der Hauptgrund, weshalb überhaupt Modelle zum Einsatz kommen, da die Erstattungsfrage in engem zeitlichen Bezug zur Markteinführung geklärt werden muss. Die Entscheidungsmodelle beantworten dann Fragestellungen hinsichtlich der optimalen Ressourcenallokation bei Fragen wie: Soll das neue Krebsmedikament durch die GKV erstattet werden? Was ist der effizienteste Test zur Diagnose von Prostatakrebs? Lohnt es sich in klinische Studien zu investieren, um die Unsicherheit für eine bestimmte Entscheidung zu reduzieren? (Briggs / Claxton / Sculpher 2006; Buxton / Drummond / van Hout / Prince / Sheldon / Szucs / Vray 1997; IQWiG 2009b). 3. Anwendungsfelder

Nachstehend typische Anwendungsfelder gesundheitsökonomischer Modellierungen: – Extrapolation klinischer Studienergebnisse, – Synthese unterschiedlicher Evidenzquellen, – Übertragung von Ergebnissen auf andere Rahmenbedingungen, – Vorbereitung von Forschungsstrategien und Studiendesigns,

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– Darstellung von Unsicherheit, – Informationsgewinnung, wenn Studien aus ethischen oder politischen Gründen nicht durchführbar sind. Der erste Anwendungsfall zur Extrapolation liegt vor, wenn Ergebnisse aus klinischen Studien über den Studienzeitraum hinaus betrachtet werden müssen. Grundsätzlich können klinische Studien als erste Anlaufstelle für die Datengewinnung gelten, denn sie bieten eine hohe interne Validität. Allerdings sind sie in ihrer Konzeption hinsichtlich der Menge und Dauer der erhobenen Daten limitiert. Bei chronischen Erkrankungen oder Interventionen mit langfristigen Effekten auf die Mortalität ist der kurze Zeithorizont von klinischen Studien jedoch problematisch. Dies gilt selbst dann, wenn bereits längere follow-up-Zeiten eingeplant werden, da auch diese selten Zeiträume von mehreren Jahren erfassen. Für die gesundheitsökonomische Evaluation sind in der Regel längere Betrachtungszeiträume notwendig, da der gesamte Zeitraum, in dem Kosten und Nutzen einer Maßnahme anfallen können, betrachtet werden muss. Maße wie das QALY oder LYS sind daher für die ökonomische Betrachtung auch wesentlich relevanter als Überlebensraten von wenigen Tagen nach der Intervention. Die Ratio dahinter ist, dass bei Interpretation von Gesundheitsausgaben als Investition in zukünftige Gesundheit auch die Überlebensdauer nach einer akuten Episode relevant ist. Wenn also Patienten kurz nach einer Intervention mit teurem Aufenthalt auf einer Intensivstation versterben, dann ist diese Maßnahme relativ weniger wert, als wenn die Patienten noch lange Zeit leben würden. Mit einer zusätzlichen Verlängerung der follow-up-Zeiten kann dieser Problematik nicht begegnet werden, da für bestimmte Fragestellungen Zeiträume von 10, 20, 30 oder mehr Jahren interessant sind. In diesen Fällen kommen Modelle zur Anwendung, um von den vorhanden Daten auf die gewünschten Betrachtungszeiträume zu extrapolieren (Briggs / Claxton / Sculpher 2006; Buxton / Drummond / van Hout / Prince / Sheldon / Szucs / Vray 1997; Weinstein /  O’Brian / Hornberg / Jackson / Johannesson / McCabe / Luce 2003). Der zweite Anwendungsfall zur Extrapolation betrifft die Übertragung von Surrogat-Parametern auf patientenrelevante Endpunkte. In klinischen Studien können aus praktischen Gründen oft nicht alle Daten erhoben werden, die aus ökonomischer Sicht wünschenswert wären. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Erhebung von Daten zur Lebensqualität. Wenn hier nur Teile erhoben wurden, kann versucht werden, die erhobenen Daten durch Modellierungen in andere Lebensqualitätsmaße zu transformieren. Bei solch einem Vorgehen muss die Übertragbarkeit allerdings in jedem Fall kritisch hinterfragt werden. Auch in Indikationen, in denen sich die Folgen der Krankheit erst nach vielen Jahren zeigen, wird in klinischen Studien auf Surrogat-Parameter zurückgegriffen. Ein Beispiel hierfür sind Cholesterin-



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senker. Über einen längeren Zeitraum erhöhte Cholesterinwerte (so die Hypothese) verstopfen die Gefäße und führen damit langfristig zu einem erhöhten Risiko kardiovaskulärer Ereignisse. Für die klinischen Studien wird auf Grund dieser langen Zeiträume zur Messung der Wirksamkeit daher nicht auf die Anzahl kardiovaskulärer Ereignisse abgestellt, sondern auf die Fähigkeit des Medikaments den Cholesterinspiegel im Blut zu senken. Zwar könnte der ökonomische Vergleich auch auf Basis der Surrogat-Parameter erfolgen, also den Kosten pro gesenkter Einheit Cholesterin im Blut, jedoch ist dies aus verschiedenen Gründen nicht immer besonders sinnvoll. Zum einen will man Vergleichsgrößen haben, die einen allgemeineren Vergleich von Interventionen über einzelne Indikationen hinaus ermöglichen. Zum anderen kann nicht davon ausgegangen werden, dass zwischen dem Surrogat-Parameter und dem patientenrelevanten Endpunkt ein linearer Zusammenhang besteht, also eine doppelt so hohe Senkung des Cholesterinspiegels auch zu einer doppelt so hohen Verminderung kardiovaskulärer Ereignisse führt. Darüber hinaus müssen bei einem Vergleich nicht nur die direkten Kosten der Intervention berücksichtigt werden, sondern auch die der Folgekosten oder Einsparungen. In solchen Fällen kann mittels Modell von den kurzfristigen Effekten auf die langfristigen Ergebnisse extrapoliert und die Verbindung von Surrogat-Parametern und patientenrelevanten Endpunkten hergestellt werden (Buxton / Drummond / van Hout / Prince / Sheldon / Szucs / Vray 1997; IQWiG 2009a; Weinstein / O’Brian / Hornberg / Jackson / Johannesson / McCabe / Luce 2003). Für die Durchführung der Evaluationen ist es wichtig, dass die gesamte verfügbare Evidenz auch berücksichtigt wird. Da diese aber in der Regel aus vielen verschiedenen Quellen kommt, braucht man Modelle, um diese zusammen zu führen. Dieser Syntheseprozess ist dabei prinzipiell an die Konzepte der evidenzbasierten Medizin angelehnt. Genauso muss für die vollständige Evaluation der Vergleich mit allen praxisrelevanten Alternativen erfolgen. In klinischen Studien sind aber normalerweise genau diese so nicht vorhanden, sodass die unterschiedlichen Studienergebnisse mit Modellen zusammengeführt werden müssen (Brennan / Akehurst 2000; Briggs / Claxton / Sculpher 2006; Sackett / Rosenberg / Gray / Haynes / Richardson 1996). Ein weiterer wichtiger Anwendungsfall liegt in der Verallgemeinerung vorliegender Studienergebnisse, da die Ergebnisse der gesundheitsökonomischen Evaluationen natürlich nur von Relevanz sind, wenn die Ergebnisse im Kontext des Entscheidungsträgers stehen. Dabei müssen sich Innovationen üblicherweise am gegenwärtigen Therapiestandard messen, da dieser Vergleich für den Entscheidungsträger die größte Bedeutung hat. Oft liegen aber genau zu diesem Fall keine klinischen Head-to-Head-Studien vor, weil gegen Placebo oder eine andere Therapiealternative getestet wurde. Und selbst wenn passende klinische Studien vorhanden sind, kann es sein, dass

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sich der Therapiestandard regional unterscheidet. Daher muss in der Regel von der Situation, in der die Daten erhoben wurden, auf die Situation des Entscheidungsträgers abstrahiert werden. Typisch ist hierbei auch die Übertragung von klinischen Ergebnissen auf das reale Behandlungsgeschehen, wobei insbesondere Effekte der Compliance eine wichtige Rolle spielen. Modelle kommen auch zur Anwendung, wenn es um die Übertragung zwischen verschiedenen Regionen oder Gesundheitssystemen geht. Darüber hinaus können mittels Modellen ganze Behandlungsstrategien in verschiedenen Szenarien verglichen werden (Buxton / Drummond / van Hout / Prince / Sheldon / Szucs / Vray 1997). Modelle können auch helfen, wenn die Bandbreite verschiedener Variablen nicht bekannt ist oder nicht beobachtet werden kann. Hier können die vorhandenen Informationen und Daten als Entscheidungsproblem aufbereitet und strukturiert werden. Ein gutes Beispiel für diesen Einsatzzweck sind Impfungen. Im Rahmen der Schweinegrippe musste entschieden werden, ob ein Impfprogramm durchgeführt werden soll oder nicht und die Entscheidung musste unter Zeitdruck getroffen werden, da die Produktion der Impfstoffe eine gewisse Vorlaufzeit benötigt. Allerdings war nicht bekannt, wie wirksam der Impfstoff sein würde und wie schnell sich die Krankheit ausbreiten würde. Mit einem Modell wurden verschiedene Szenarien mit verschiedenen Annahmen untersucht und auf Basis dieser Erkenntnisse entschieden, kein Impfprogramm durchzuführen. Ähnlich wird auch bei der Entscheidungsunterstützung zur Durchführung von Screening-Maßnahmen vorgegangen (Brennan / Akehurst 2000; Buxton / Drummond / van Hout / Prince /  Sheldon / Szucs / Vray 1997). Ein weiteres Einsatzgebiet von Entscheidungsmodellen ist die Berücksichtigung der Unsicherheit und Variabilität der Modellparameter, um die Konsequenzen unterschiedlicher Handlungsoptionen abzubilden. Dabei werden die verschiedenen Eintrittswahrscheinlichkeiten basierend auf den Eingangsparametern berücksichtigt und so allen möglichen Ergebnissen Kosten und Nutzen zugewiesen. Anschließend können die erwarteten Kosten und der erwartete Nutzen gewichtet nach ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit verglichen und bewertet werden (Briggs / Claxton / Sculpher 2006). Grundsätzlich kommen Modelle also immer dann zur Anwendung, wenn keine empirische Evidenz vorliegt oder deren Erhebung schlichtweg nicht möglich ist. Letzteres ist dann der Fall, wenn klinische Studien aus ethischen oder politischen Gründen nicht durchgeführt werden können. Aber auch bei Erstattungsentscheidungen zu neuen Arzneimitteln liegen naturgemäß nicht alle Informationen vor und trotzdem müssen die Entscheidungen getroffen werden. Gerade hier können Modellierungen sinnvoll unterstützen. Darüber hinaus können Modelle zu einem effizienten Ressourceneinsatz



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beitragen, indem sie Entscheidern Handlungsempfehlungen geben, an welcher Stelle in zusätzliche Studien investiert werden sollte, um Daten für zukünftige Entscheidungen zu generieren oder Unsicherheit abzubauen (Brennan / Akehurst 2000; Buxton / Drummond / van Hout / Prince / Sheldon /  Szucs / Vray 1997). Daneben sprechen jedoch auch ganz pragmatische Überlegungen für den Einsatz von gesundheitsökonomischen Modellen. Zum einen wäre hier der Zeitvorteil gegenüber naturalistischen Studien zu nennen. Mehrere Jahre aufwändiger Studienprotokolle stehen hier wenigen Wochen oder Monaten für die Modellentwicklung und -analyse gegenüber. Zum anderen sind Modellierungen zu wesentlich geringeren Kosten möglich. Zu guter Letzt soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich Modelle auch sehr gut als Kommunikations-Werkzeuge eignen. Durch Veröffentlichung sind die Annahmen und Schätzungen für alle einsehbar und einer kritischen Auseinandersetzung zugänglich. Außerdem können sie als Grundlage zur Konsensfindung dienen, da verschiedene Parteien ihre Sicht auf unsichere Eingangsparameter einbringen und mit anderen Parteien über die Ergebnisse diskutieren können. Darüber hinaus werden Modelle zur Verbreitung der Ergebnisse verwendet, indem man sie an verschiedene Stellen verteilt und an deren Rahmenbedingungen anpasst, sodass diese sich die Ergebnisse für ihre konkrete Situation modellieren (Brennan / Akehurst, 2000). IV. Real-World-Studien als Modellersatz 1. Unterschiede im Modellverständnis

Modellierung wird von verschiedenen Anspruchsgruppen immer wieder mit einer gewissen Skepsis und Mistrauen betrachtet. So verlangten manche staatliche Institutionen, dass zunächst klinische Studien als Evidenz beigebracht werden. Modelle wurden nur als zusätzliche Informationsquellen akzeptiert. Für die FDA beispielsweise sollten Modelle nur verwendet werden, wenn die Gewinnung der Daten auf regulärem Wege unmöglich oder unverhältnismäßig aufwändig ist. Hintergrund dieser Vorbehalte sind unterschiedliche Auffassungen zur Erkenntnisgewinnung wenn Naturwissenschaftler (in diesem Kontext vor allem Mediziner) und Wirtschaftswissenschaftler (hier Gesundheitsökonomen) aufeinander treffen. Erstere sind in ihrer Ausbildung von wiederholbaren, exakten Laborversuchen und -modellen sowie experimenteller Datenerhebung und Hypothesentestung geprägt. Letztere verfolgen andere Ansätze bei der Bewertung von Kosten und Nutzen zur Entscheidungsunterstützung und kennen meist nichts anderes als abstrakte theoretische Modelle mit Annahmen und Unsicherheiten. In der Praxis ist es dann häufig so, dass auf Seiten der Zulassungsbehörden und

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Kostenträger, historisch bedingt, überwiegend Entscheider mit medizinischnaturwissenschaftlichem Hintergrund anzutreffen sind, hingegen auf Seiten der Industrie die Wirtschaftswissenschaftler einen immer größeren Anteil ausmachen. Diese ungleiche Verteilung führt dann zu Problemen in der Kommunikation und mangelndem Verständnis der jeweiligen Position der Gegenseite in Bezug auf das Verständnis von Modellen und der Interpretation ihrer Ergebnisse. Während das experimentelle Vorgehen der Naturwissenschaftlicher zu hoher interner Validität führt, erzielen die Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Ergebnisse mit hoher externer Validität. Die Abwägung zwischen diesen beiden Extremen ist daher schon lange Gegenstand verschiedener Diskussionen und so wundert es kaum, dass sich in der Literatur vor allem Positionen finden, welche die Frage nach Modell oder Studie als entweder-oder-Diskussion führen (Brennan / Akehurst 2000; Buxton / Drummond / van Hout / Prince / Sheldon / Szucs / Vray 1997). 2. Limitationen und Probleme ökonomischer Evaluationen auf Basis klinischer Studiendaten

Die Vorteile klinischer Studien sind unbestritten, da sich so die Wirksamkeit einer Intervention eindeutig be- oder widerlegen lässt und verzerrende Einflussfaktoren durch das Studiendesign ausgeschlossen werden können. Allerdings sind diese Ergebnisse für die Entscheidungsfindung, die den Behandlungsalltag betrifft, oftmals ungeeignet, weil diese Studien in erster Linie den Anforderungen für die Zulassung genügen müssen. Wenn nicht schon bei der Konzeption einer klinischen Studie die Erhebung ökonomischer Daten und deren Relevanz für den Behandlungsalltag berücksichtigt wird, können die Daten ein völlig falsches Bild vermitteln (Brennan / Akehurst 2000; Briggs / Claxton / Sculpher 2006; IQWiG 2009b). Oftmals werden im Rahmen der klinischen Studien auch gar keine ökonomischen Daten erhoben und wenn doch, dann nur als eher beiläufiges Anhängsel (piggy back). Neben der Priorisierung der Qualität und Aussagekraft für den Marktzutritt hat dieser Umstand auch historische Gründe. Bis vor einigen Jahren folgte in Deutschland und anderen Ländern die Erstattungsfähigkeit automatisch mit der Zulassung. Daher bestand keine Notwendigkeit, den ökonomischen Fragen große Aufmerksamkeit beizumessen. Allerdings müssen gegenwärtig viele Pharmaunternehmen feststellen, dass die stiefmütterliche Behandlung der ökonomischen Aspekte sich rächt, da immer mehr Staaten höhere Hürden für die Erstattung festlegen und entsprechende Nachweise verlangen. Für Deutschland hat hier vor allem das AMNOG mit der Einführung der frühen Nutzenbewertung für zusätzliche Brisanz gesorgt. Die Hersteller sind jetzt gezwungen, für ihre Arzneimittel einen Zusatznutzen nachzuweisen, auf dessen Basis dann die Erstattungshöhe verhandelt



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wird. In diesem Prozess wird vor allem auf patientenrelevante Endpunkte abgestellt, sodass Hersteller ohne die nötige Evidenz erhebliche Preisabschläge in Kauf nehmen müssen. Die folgenden Punkte stellen die wesentlichen Ursachen für die eingeschränkte Verwendbarkeit klinischer Studiendaten für gesundheitspolitische Entscheidungen dar (Brennan / Akehurst 2000; Briggs / Claxton / Sculpher 2006; Rittenhouse 1996; Simoens 2009): – Wahl der Vergleichstherapie; – Studienprotokoll beeinflusst Kosten und Ergebnisse; – künstliche Untersuchungsumgebung; – Surrogat-Parameter vs. patientenrelevante Endpunkte; – realitätsferne Follow-Up-Zeiträume; – stark selektierte Patienten und Behandler. In klinischen Studien wird normalerweise gegen Placebo oder den aktuellen Goldstandard getestet, mit der Folge, dass dann keine head-to-head Studien für die praxisrelevanten Entscheidungsprobleme vorliegen. Für die statistische Aussagekraft der Studienergebnisse werden die Abläufe strikt vorgeschrieben und eine Vielzahl diagnostischer Maßnahmen durchgeführt, die in der Realität so nicht stattfinden würden. Es entstehen also durch das Studienprotokoll zusätzliche Kosten, die die Ergebnisse einer ökonomischen Evaluation stark verzerren. Manche Behörden empfehlen daher sogar, Kosten, die durch die Studienprotokolle verursacht werden, in der Realität aber nicht auftreten, explizit von der Betrachtung auszuschließen. Darüber hinaus werden RCTs meist international durchgeführt, was die Relevanz der Kostendaten für Deutschland zusätzlich mindert (Brennan / Akehurst 2000; Briggs / Claxton / Sculpher 2006; IQWiG 2009b). Die künstliche Studiensituation mit ihren streng selektierten Patienten und Ärzten entspricht ebenso wenig dem regulären Behandlungsalltag einer Haus- oder Facharztpraxis. Insbesondere wird in Studien sichergestellt, dass die Probanden ihre Medikamente auch wirklich einnehmen, was in der Praxis häufig nicht im selben Umfang gewährleistet werden kann. Selbst bei schweren Krankheiten wie Krebs, Diabetes aber auch chronischem Schmerz liegen die Non-Compliance-Raten bei über 30 % (PricewaterhouseCoopers 2007). Gerade dieser Aspekt führt dazu, dass mehr klinische Studien die Grundsatzproblematik efficacy vs. effectiveness nicht lösen können. Denn auch ein Mehr an klinischen Studien bringt gerade zur Compliance der Patienten unter Alltagsbedingungen keine Informationen zutage, sodass die Frage nach der effectiveness unbeantwortet bleibt (Brennan / Akehurst 2000; Glaeske 2012; Halpern / McKenna / Hutton 1998; IQWiG 2009b).

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Problematisch ist außerdem die Verwendung von Surrogatparametern. In der Realität interessiert sich ein Patient nur bedingt für seinen Blutdruck, da auch ein zu hoher Blutdruck keine Schmerzen verursacht. Für den Patienten ist vielmehr interessant, wie lange er noch lebt und bei welcher Lebensqualität er diese Zeit verbringen wird. Genau diese Fragen werden aber in der Regel nicht in Zulassungsstudien beantwortet, sind aber für die ökonomische Bewertung von Arzneimitteln essentiell. Ähnlich verhält es sich mit den follow-up Zeiträumen bei klinischen Studien, die nur selten den relevanten Zeithorizont der realen Krankheitsdauern widerspiegeln. Dies gilt ganz besonders für chronische Krankheiten, bei denen die zu betrachtenden Zeiträume mehrere Jahrzehnte umfassen können (Brennan / Akehurst 2000; Briggs / Claxton / Sculpher 2006; IQWiG 2009b). Auf Grund der Limitationen von klinischen Studien kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Erhebung zusätzlicher ökonomischer Parameter im Rahmen von klinischen Studien der Gold-Standard zur Gewinnung gesundheitsökonomischer Daten ist (Halpern / McKenna / Hutton 1998). 3. Forderung nach realistischen Studiendesigns für gesundheitsökonomische Fragestellungen

Aus den genannten Gründen kommt daher immer wieder die Forderung auf, pragmatische Studien beziehungsweise real world-Studien durchzuführen, die vor allem auf die Ergebnisse unter alltäglichen Bedingungen abzielen. Vor allem die Gegner von Modellen propagieren pragmatischere Studien durchzuführen, die näher am alltäglichen Behandlungsgeschehen sind. Diese hätten dann die hohe interne Validität von klinischen Studien und die höhere externe Validität beziehungsweise Allgemeingültigkeit für die normalerweise die Modelle sorgen würden. Das Ziel solcher Studien wäre die Untersuchung der effectiveness oder auch cost-effectiveness unter alltäglichen Behandlungsbedingungen (Brennan / Akehurst 2000; Briggs / Claxton / Sculpher 2006; Buxton / Drummond / van Hout / Prince / Sheldon / Szucs / Vray 1997). Solche Studien müssten dann insbesondere folgenden Anforderungen genügen (Buxton / Drummond / van Hout / Prince / Sheldon / Szucs / Vray 1997): – Einschreibung von Patienten wie sie für die Indikation typisch sind; – Vergleich mit dem aktuellen Therapiestandard; – Behandlungssituation und Ärzte entsprechen der normalen Verteilung; – keine Verblindung; – Beobachtung unter Routinebehandlung; – hohe Bandbreite an erhobenen Endpunkten.



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Da pharmako-ökonomische Untersuchungen prinzipiell sowohl als empirische Untersuchung oder als Modellierung durchgeführt werden können, sollte in Situationen, in denen solche Studien machbar und die notwendigen Ressourcen vorhanden sind, den pragmatischen Studien auch der Vorzug gegeben werden. Dennoch scheitern diese in der Praxis häufig am damit verbundenen Aufwand (Buxton / Drummond / van Hout / Prince / Sheldon / Szucs /  Vray 1997; Simoens 2009). 4. Limitationen von Real-World-Studien

Trotz ihrer theoretischen Vorteilhaftigkeit können auch pragmatische Studien nicht alle Probleme lösen. Grundsätzlich stellen die pragmatischen Studien letztlich genauso wie die klinischen Studien nur ein Modell des Behandlungsalltags dar, weswegen die Kritik an Modellen prinzipiell auch für sie gilt. Es stellt sich also die Frage, ob einzelne pragmatische Studien einer Modellierung wirklich überlegen sind (Briggs / Claxton / Sculpher 2006; Buxton / Drummond / van Hout / Prince / Sheldon / Szucs / Vray 1997; Halpern / Mc Kenna / Hutton 1998). Zu bedenken ist, dass die Aussagekraft solcher Studien auf die Situation beschränkt ist, in der sie durchgeführt wurden. Darüber hinaus wären die Ergebnisse dieser Studien auf Grund ihres Bias für Modellierungen ungeeignet. Eine Verallgemeinerung durch Modelle ist dann nicht mehr möglich. Der hohe Zeit- und Ressourcenverbrauch für solche pragmatischen Studien erschwert zudem die Auswahl der Alternativen und Settings. Wenn sich die Behandlungsrealität ändert, sind die Ergebnisse im ungünstigsten Fall plötzlich wertlos. Darüber hinaus fallen die Kosten für die pragmatischen Studien zusätzlich an, da die klinischen Studien für die Zulassung weiterhin durchgeführt werden müssen (Buxton / Drummond / van Hout / Prince / Sheldon / Szucs / Vray 1997). Das schwerwiegendste Problem bleibt allerdings die Zeitfrage. In der Regel sollen Entscheidungen über die Zulassung bzw. Erstattung von Innovationen zum Zeitpunkt ihrer Einführung getroffen werden. Bei chronischen Krankheiten müsste man die Studien über viele Jahre durchführen, bevor man die relevanten Endpunkte erreicht. In der Zeit, in der die Studien geplant, durchgeführt und ausgewertet werden, kann das Ergebnis für die Praxis aber schon längst wieder irrelevant sein. Gleichzeitig müssten solche Studien aber auch über einen beschränkten Zeitraum durchgeführt werden, um Effekte durch veränderte Rahmenbedingungen ausschließen zu können. Ein Zielkonflikt, der sich nur schwerlich auflösen lässt (Buxton / Drummond / van Hout / Prince / Sheldon / Szucs / Vray 1997; Halpern / McKenna / Hutton 1998).

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In Ermangelung einer Möglichkeit in die Zukunft zu blicken, bleibt also nur die Modellierung, um mit dem verfügbaren Wissen eine möglichst valide Vorstellung von zukünftigen Entwicklungen zu generieren und so eine fundierte Entscheidungs- oder Verhandlungsgrundlage zu erhalten. 5. Modellierungen als dominante Alternative

Der große Vorteil von Modellen ist, dass Informationen bereitgestellt werden, lange bevor Studien abgeschlossen sind. In der Ökonomie existieren zudem viele theoretische Grundlagen zur Entscheidung unter Unsicherheit, welche die Verwendung von Modellen auf eine fundierte Basis stellt und ihnen eine große Bedeutung für die Betrachtung der ökonomischen Aspekte verleiht. Eine Auswertung von Brennan et al. hat gezeigt, dass die Ergebnisse verschiedener klinischer Studien allein nie ausreichen, um die Fragestellungen eines Entscheidungsträgers zu beantworten (Brennan / Akehurst 2000). Für nahezu jede gesundheitspolitische Entscheidung muss also die Evidenz verschiedener Quellen kombiniert werden. Der Prozess der Modellbildung zwingt zur Sortierung und Strukturierung der vorhandenen Daten und führt schon allein dadurch zur Reduktion von Unsicherheit. Wenn genügend klinische Daten zur Verfügung stehen, sind Modelle ohne Zweifel das Mittel der Wahl, die benötigten Informationen zu synthetisieren, weil das Verhältnis von Genauigkeit zu Kosten viel besser ausfällt, als wenn man erst Studien durchführen würde. In diesem Zusammenhang gebietet auch das ökonomische Prinzip, das Erkenntnisziel (Entscheidungsgrundlage) mit möglichst geringem Ressourcenverbrauch (Zeit und Geld) zu erreichen. Nur so kann auch der Forderung nach verantwortungsvollem Umgang mit den Ressourcen im Gesundheitswesen Glaubwürdigkeit verliehen werden. Darüber hinaus erlauben sie die Modellierung von Prognosen (bei gegebenen Annahmen) zur Entscheidungsunterstützung. Und selbst wenn man Modellierungen grundsätzlich ablehnen wollte, führt am Ende doch kein Weg an Modellen vorbei, da für die Entscheidung, wo man am besten weitere experimentelle Studien zur Beseitigung von Unsicherheit durchführt, in jedem Fall Entscheidungsmodelle benötigt werden (Brennan / Akehurst 2000; Halpern / McKenna / Hutton 1998; IQWiG 2009b; Weinstein / O’Brian / Hornberg / Jackson / Johannesson / McCabe / Luce 2003). Letztlich ermöglichen Modellergebnisse die Auswahl zwischen den Alternativen auf Basis der besten, verfügbaren Evidenz. Statt also klinische Studien auszuweiten, sollte vielmehr die Verwendung von Modellen gefördert werden, da in vielen Situationen Modelle die bessere Alternative zur Untersuchung ökonomischer Aspekte darstellen (Halpern / McKenna / Hutton 1998; Nuijten / Rutten 2002).



Modelle in der gesundheitsökonomischen Evaluation85 6. Modellkritik

Natürlich ist auch die Verwendung von Modellen nicht immer unproblematisch. Zwar können auch RCTs manipuliert oder durch Bias verfälscht werden, jedoch sind bei Modellen die Möglichkeiten zur Einflussnahme deutlich größer. Ohne weiteres lässt sich ein Modell so auslegen, dass eine bestimmte Alternative im Vorteil ist oder es werden Annahmen ohne ausreichende Begründung getroffen. Zudem sind Modelle für Außenstehende oft schwer nachvollziehbar und haben den Charakter einer black box. Um ein Modell oder dessen Ergebnisse zu validieren, müsste man eigentlich die Ergebnisse anderer Modelle zum Vergleich vorliegen haben oder die Ergebnisse später konsequent mit der Realität vergleichen, was bisher aber nur sehr selten gemacht wird (Buxton / Drummond / van Hout / Prince / Sheldon / Szucs / Vray 1997). Ein grundsätzliches Problem besteht auch im Zusammenhang mit Extrapolationen durch Modelle, denn Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Wenn also über den Zeitraum von Studien hinaus modelliert werden soll, muss grundsätzlich mit Annahmen gearbeitet werden und im Nachhinein kann es passieren, dass sich selbst konservative Annahmen als nicht konservativ genug herausstellen, mit der Folge dass die untersuchte Intervention zu positiv bewertet wurde (Buxton / Drummond / van Hout / Prince / Sheldon / Szucs / Vray 1997). Da für dieses Problem keine Lösung existiert, liegt es im konkreten Fall immer in der Verantwortung der Beteiligten, die Annahmen nach bestem Wissen und Gewissen zu treffen und kritisch zu hinterfragen. Darüber hinaus erweitern Modelle erstens nicht die Datenbasis. Wenn also die Eingangsdaten schon schlecht sind, führt das auch zu schlechten Ergebnissen („garbage in – garbage out“). Zweitens können Modelle ganz einfach schlecht gemacht sein, indem bei ihrer Erstellung alle guten Praktiken und etablierten Methoden der Qualitätssicherung ignoriert werden. Drittens kann es durch eine zu starke Vereinfachung zur Vernachlässigung wichtiger Variablen oder Parameter kommen. Viertens können auch sehr gute Modelle durch Fehlinterpretationen seitens der Entscheidungsträger, basierend auf mangelnden Kenntnissen im Umgang mit wahrscheinlichkeitsbasierten Ergebnissen, ihren Zweck verfehlen (Brennan / Akehurst 2000; Brennan / Chick / Davies 2006; Gigerenzer / Gaissmaier / Kurz-Milcke / Schwartz /  Woloshin 2007). Die häufigste Kritik an pharmako-ökonomischen Modellierungen ist daher auch, dass sie durch die Wahl der Annahmen und Intransparenz hinsichtlich ihrer Ergebnisse manipulierbar sind (Wang / Salmon / Walton 2004). Bei genauer Betrachtung kann dies jedoch nicht den Modellen selbst angelastet werden, sondern vielmehr dem Ersteller oder auch Auftraggeber des

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Modells. Auch klinische Studien basieren auf vielen Annahmen, wie beispielsweise der, dass die Ergebnisse auf die gesamte Bevölkerung übertragen werden können oder dass die Wirksamkeit in der Studie mit der Wirksamkeit im Alltag zusammenhängt. Genausowenig stellen Modelle Phantasiewelten dar. Die notwendigen Annahmen und Detailverdichtungen basieren immer auch auf realen Erfahrungen, sodass Modelle erfahrungsbasiert sind und keine Erfindungen darstellen. Am Ende sind viele Kritikpunkte gegen Modelle und Studien, die auf Modellierungen basieren, häufig nur Verständigungsprobleme und keine Mängel der Modelle an sich, sondern Folgen unsachgemäßer Verwendung oder mangelnder Datenqualität. Die Befürworter von Modellen haben diese ohnehin nie als Ersatz für klinische bzw. experimentelle Studien gesehen, sondern vielmehr als sinnvolle Ergänzung. Insofern sollte es das Ziel sein, für gute Modelle zu sorgen und dafür, dass die betroffenen Stellen in die Lage versetzt werden, schlechte von guten Modellen zu unterscheiden (Brennan / Akehurst 2000; Buxton / Drummond / van Hout / Prince / Sheldon /  Szucs / Vray 1997; Halpern / McKenna / Hutton 1998; Wang / Salmon / Walton 2004). V. Zusammenfassung und Ausblick War die Verwendung entscheidungsanalytischer Methoden und Modelle in der gesundheitsökonomischen Evaluation auch lange Zeit umstritten, führt auf Grund der starken Nachfrage seitens der Entscheidungsträger im Gesundheitswesen faktisch kein Weg mehr daran vorbei. Auch internationale Behörden wie das NICE oder IQWiG erkennen die Bedeutung und Notwendigkeit von Modellierungen inzwischen an (Brennan / Akehurst 2000; Briggs /  Claxton / Sculpher 2006). Ganz gleich wie man zu Modellen eingestellt sein mag, wenn gesundheitsökonomische Evaluationen einen Mehrwert für Entscheidungsträger bieten sollen, ist ihr Einsatz unumgänglich. Gerade bei der Zulassung oder bei Erstattungsfragen von Arzneimitteln liegen häufig Studienergebnisse aus verschiedenen Ländern vor, deren Ergebnisse nicht ohne weiteres international übertragbar sind. Zu unterschiedlich sind Preisstrukturen, Erstattungssysteme, Versorgungssysteme oder auch Demographie und Epidemiologie. Gleiches gilt für die Ergebnisse von Evaluationsstudien. Hier drängen sich Modelle als Lösungsmöglichkeit förmlich auf, da so die verschiedenen Eingangsparameter doch in Einklang gebracht werden können und die Ergebnisse unterschiedlicher Herkunft zu landesspezifischen Modellierungen verdichtet werden können (Brennan / Akehurst 2000; Greiner 2007; Halpern / McKenna / Hutton 1998).



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Entscheider und Adressaten müssen jedoch akzeptieren, dass zu Innovationen per Definition keine Erfahrungswerte vorliegen können und zum Beispiel Parameter wie Diffusionsraten geschätzt werden müssen. Mit Prognose- und Entscheidungsmodellen wird man nie zu absoluten Wahrheiten finden, sondern immer Ergebnisse erhalten, die der Diskussion und Interpretation bedürfen (Trueman / Drummond / Hutton 2001). Durch die Variabilität der Modelle und den Einsatz von Sensitivitätsanalysen lassen sich jene Parameter identifizieren, die für die Vorteilhaftigkeit einer Alternative entscheidend sind. Hier sind Modelle empirischen Beobachtungen sogar überlegen und ermöglichen Erkenntnisse aus vorhandenen Daten, die über reine Zusammenfassungen wie Meta-Analysen hinausgehen (Orlewska / Mierzejewski 2004; Trueman / Drummond / Hutton 2001). Viele Probleme, für die Modelle immer wieder kritisiert werden, könnten durch umfangreiche Peer-Reviews und Weiterentwicklung der Methoden beseitigt werden. Um das Vertrauen zu erhöhen, müssen Forscher, Entscheidungsträger und Herausgeber von Fachzeitschriften einheitliche Standards für die Überprüfung und den Veröffentlichungsprozesse sicherstellen, damit schlechte Modellierung erkannt und aussortiert werden kann. Einen wesentlichen Beitrag hierzu leistet die ISPOR, deren Modeling Good Research Practices Task Force erst 2012 aktualisierte Leitlinien veröffentlicht hat (Caro / Briggs / Siebert / Kuntz 2012). Auf Seiten der Modellierenden sollte die kritische Auseinandersetzung zudem willkommen sein, fördert sie doch die Weiterentwicklung der Modelle und Techniken und bereichert so langfristig den Erkenntnisgewinn (Brennan / Akehurst 2000; Halpern / McKenna / Hutton 1998; Nuijten / Rutten 2002). Als ein wesentlicher Treiber für die bessere Akzeptanz von gesundheitsökonomischen Modellierungen könnte sich die Versorgungsforschung etablieren, indem sie dazu beiträgt, die efficacy-effectiveness Lücke zu schließen. Wenn mehr und bessere Informationen über das tatsächliche Behandlungsgeschehen im Alltag bereit stehen, müssen weniger Annahmen getroffen werden. Der daraus resultierende erhöhte Realitätsbezug dürfte sich positiv auf die Akzeptanz von Modellierungen bei den Adressaten und Entscheidungsträgern auswirken. Es wird regelmäßig festgestellt, dass das Modellverständnis bei Entscheidungsträgern oft nicht besonders ausgeprägt ist, sodass in der Folge Interpretation und Verständnis der Ergebnisse leiden. Hier sollte versucht werden, die Adressaten frühzeitig in die Modellentwicklung und Datenbeschaffung einzubinden. So kann sichergestellt werden, dass bei der Auswahl von Wertebereichen, Annahmen und Eingangsparametern ein gemeinsamer Konsens besteht und die späteren Ergebnisse auf breite Akzeptanz stoßen. Außerdem müssen Forscher und Modellentwickler darauf achten, sich nicht zu stark

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auf eine bestimmte Modellierungstechnik zu beschränken, sondern eine gewisse Offenheit für unterschiedliche Ansätze bewahren (Brousselle / Lessard 2011; Marshall / Douglas / Drummond / Torrance / Macloed / Manti / Cheruvu / Corvari 2008; Simoens 2009; Tarride / McCarron / Lim / Bowen / Blackhouse / Hopkins / O’Reilly / Xie / Goeree 2008; Wang / Salmon / Walton 2004). Eine zentrale Forderung an Modelle, die oft vergessen wird, aber geeignet ist, die Mathematisierung der gesundheitsökonomischen Modellierungen aufzuhalten, ist die nach der Einfachheit. Der Grundsatz der Einfachheit ist deshalb so wichtig, weil die Komplexität der Modelle von vielen als eine der größten Barrieren für ihre praktische Anwendung gesehen wird. Der Grundsatz der Einfachheit bedeutet dabei natürlich nicht, wahllos zu ver­ einfachen. Vielmehr geht es darum, nach dem Prinzip von Ockhams Ra­ siermesse, jenes Modell zu wählen, dass zur Zielerreichung die wenigstens Annahmen benötigt (Brousselle / Lessard 2011; Cleemput / Neyt / de Sande / Thiry 2012; Marshall / Douglas / Drummond / Torrance / Macloed / Manti /  Che­ru­vu  /  Corvari 2008). Die ISPOR Task Force schreibt dazu: „We do not suggest that finding the balance between simplicity of modeling and avoid­ ance of oversimplification is easy, but it is perhaps the most important skill a modeler can learn if a model is to truly fulfill its potential as a communication tool. Excessive detail and completity reduce transparency and can lead to distrust in models and in the modeling community among those we seek to inform.“ (Caro / Briggs / Siebert / Kuntz 2012). Literatur Albert, H. (1980): Modell-Platonismus. Der neoklassische Stil des ökonomischen Denkens in kritischer Beleuchtung, in: Topitsch, E. (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, 10., veränderte Aufl. Angermann, A. (1963): Entscheidungsmodelle. Bouselle, A. / Lessard, C. (2011): Economic evaluation to inform health care deci­ sion-making: promise, pitfalls and a proposal for an alternative path, in: social Science & Medicine, 72, 832–839. Brennan, A. / Akehurst, R. (2000): Modelling in Health Economic Evaluation: What is its Place? What is its Value?, in: PharmacoEconomics, 17, 445–459. Brennan, A. / Chick, S.  E. / Davies, R. (2006): A taxonomy of model structures for economic evaluation of health technologies, in: Health Economics, 15, 1295– 1310. Briggs, A. / Claxton, K. / Sculpher, M. (2006): Decision modelling for health economic evaluation. Buddensiek, W. / Kaiser, F.-J. / Kaminski, H. (1980): Grundprobleme des Modelldenkens im sozio-ökonomischen Lernbereich, in: Stachowiak, H. (Hrsg.), Modelle und Modelldenken im Unterricht.



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Gesundheitsökonomische Evaluation – Das Für und Wider der QALYs Janine Biermann, Anja Neumann, Jürgen Wasem und Sarah Mostardt I. Hintergrund Die Kosten-Nutzwert-Analyse stellt eine der vergleichenden Analyseform der gesundheitsökonomischen Evaluation dar. Im internationalen Vergleich spielt die Kosten-Nutzwert-Analyse in der gesundheitspolitischen Entscheidungsfindung eine große Rolle. So basiert die Entscheidung über die Aufnahme neuer Medikamente oder Technologien in den Leistungskatalog in England beispielsweise auf Kosten-Nutzwert-Analysen unter Verwendung von QALYs (Quality Adjusted Life Year). Im nationalen Kontext nehmen Kosten-Analysen allgemein, aber im Speziellen insbesondere die Kosten-Nutzwert-Analyse einen geringeren Stellwert ein. Dies ist insbesondere auf die kontroversen Diskussionen des QALY-Konzeptes zurück zu führen. QALYs führen Lebensdauer und Lebensqualität in einer Größe zusammen. Dadurch sollen indikationsübergreifende Vergleiche ermöglicht werden, indem gesundheitliche Vorteile ermittelt und gegeneinander verrechnet werden. Das methodische Konstrukt des QALY-Konzeptes ist von der Idee her sehr verständlich aber in der Umsetzung komplex. Während die quantitative Bestimmung der Lebensdauer unkritisch ist, stellt die Messung und Bewertung der Lebensqualität auf einer Skala zwischen 0 (schlechteste Lebensqualität bei Krankheit) und 1 (beste Lebensqualität bei völliger Gesundheit) eine methodische Herausforderung dar. Hier stehen verschiedene Ansätze sowohl zur Messung als auch zur Bewertung der Lebensqualität zur Verfügung. Als Goldstandard für die Messung und Bewertung der Lebensqualität zur Berechnung von QALYs in Europa gilt der EuroQol 5D (EQ-5D) und die Anwendung der StandardGamble oder Time-Trade-Off-Methode. Allerdings basieren alle diese Verfahren auf Werturteilen und Konventionen. Der vorliegende Beitrag stellt die unterschiedlichen Methoden und Bewertungsansätze dar. Ziel ist die Herausstellung von Besonderheiten und Hindernissen der verschiedenen Ansätze bei der Vergleichbarkeit von QALYs.

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J. Biermann, A. Neumann, J. Wasem und S. Mostardt

II. Instrumente der Erfassung der Lebensqualität Zur Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (health related quality of life (HRQol)), die durch eine Gesundheitseinschränkung, Krankheit oder Behinderung sowie durch medizinische Interventionen beeinflusst werden kann, stehen zum heutigen Zeitpunkt eine Vielzahl verschiedener Methoden, meist in Form von Fragebögen, zur Verfügung. Eine Selbsteinschätzung der Lebensqualität durch den Patienten kann mittels eines persönlichen Interviews durch z. B. den Arzt, eines Telefoninterviews oder eines selbst auszufüllenden Fragebogens erfolgen, wobei dem letzteren eine große Bedeutung zukommt (Schöffski 2012). Mittlerweile existiert eine Vielzahl von standardisierten und psychometrisch geprüften Fragebögen, die insbesondere nach dem Grad der Aggregation der Ergebnisdaten sowie dem Krankheitsbezug unterteilt werden können (Schöffski 2012). Als Profilinstrumente werden Fragebögen bezeichnet, die getrennte Werte für verschiedene Dimensionen der Lebensqualität (z. B. Mobilität, Schmerz, psychisches Wohlbefinden, etc.) ermitteln. Da die einzelnen Werte nicht zu einer einzigen Kennzahl zusammengefasst werden können, kann ein Vergleich, z. B. mit der Lebensqualität eines anderen Patienten, nur getrennt nach Dimensionen erfolgen. Im Gegensatz dazu werden bei Indexinstrumenten die einzelnen Werte zu einer Gesamtzahl aggregiert; mit der erhöhten Vergleichbarkeit geht ein Informationsverlust einher. Die verschiedenen Instrumente können ferner in generische, d. h. krankheitsübergreifende, und krankheitsspezifische Messinstrumente unterteilt werden. Generische Instrumente messen die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Patienten losgelöst von ihrer Erkrankung, während krankheitsspezifische Instrumente nur für Personen mit einer speziellen Erkrankung konzipiert worden sind. Unterschiede zwischen den Instrumenten resultieren insbesondere hinsichtlich der Sensitivität. Sowohl generische als auch Indexinstrumente weisen oftmals eine geringere Sensitivität auf. Beispiel für ein generisches Profilinstrument ist der Short Form (SF)-36. Dieser umfasst 36 Fragen (=Items) in 8 verschiedenen Dimensionen (=Subskalen) (Ware / Sherbourne 1992; Ware et al. 1993). Es wird für jede Dimension ein einzelner Lebensqualitäts-Wert ermittelt. Von einem englischen Forscherteam um John Brazier wurde aus dem SF-36 das Indexinstrument SF-6D abgeleitet. Der SF-6D, der aus sechs Dimensionen besteht, wurde anhand einer repräsentativen britischen Bevölkerungsstichprobe validiert. Zur Validierung wurde das Standard-Gamble-Verfahren eingesetzt. Die Gesundheitszustände, die mit dem SF-6D insgesamt definiert werden können, wurden im Anschluss mit ökonometrischen Modellen geschätzt (Brazier et al. 1998 / 2002). Beispiele für generische Indexinstrumente sind ferner die



Gesundheitsökonomische Evaluation95

Health Utility Indizes (HUI). Jedes Instrument der HUI-Familie (HUI1-3) basiert auf einem multidimensionalen Klassifikationssystem. Mittels spezifischer präferenz-basierter Lösungsalgorithmen kann für jeden möglichen Gesundheitszustand ein entsprechender Nutzwert generiert werden (Furlong et al. 2001). Um den Parameter der Lebensqualität in die Kosten-Nutzwert-Analyse eingehen zu lassen, ist die Bildung einer Kennzahl – eines Index – bezüglich der Lebensqualität notwendig. Aus diesem Grund werden zur Messung der Lebensqualität in gesundheitsökonomischen Studien Indexinstrumente verwendet. Für die Berechnung von QALYs werden generische Indexinstrumente benötigt. Ein sehr häufig genutztes, generisches Indexinstrument ist der EQ-5D. Dessen ursprüngliche englischsprachige Version wurde im Jahr 1987 entworfen, um ein einfaches, generisches Instrument zur Lebensqualitätsmessung, begleitend zur Messung mit einem krankheitsspezifischen Instrument, zu schaffen. Aktuell ist er das weltweit am häufigsten eingesetzte Instrument zur Lebensqualitätsmessung und wurde mittlerweile in 70 Sprachen übersetzt (Greiner / Claes 2007). Die Antworten der einzelnen EQ-5D Dimensionen werden mittels standardisierter Algorithmen, deren Berechnungen auf großen Bevölkerungsstichproben beruhen, in einen Indexwert überführt (Greiner / Claes 2007). Dieses Vorgehen wird als Validierung bezeichnet. Hierbei wird eine (möglichst repräsentative) Stichprobe einer Bevölkerung (z. B. der britischen) aufgefordert, bestimmte Gesundheitszustände mittels einer bestimmten Methode wie dem Standard Gamble oder dem Time-Trade-Off zu bewerten. Anschließend werden mittels mathematischer Verfahren (wie z. B. logistische Regression) Abschlagswerte für einzelne angegebene Einschränkungen der Lebensqualität von dem Wert 1=100 %=perfekte gesundheitsbezogene Lebensqualität abgezogen und so ein Nutzwert generiert. Eine Validierung des EQ-5D liegt für verschiedene europäische Länder, darunter Großbritannien und Deutschland, vor (von der Schulenburg et al. 1998, Greiner et al. 2005). Je nach Instrument ist eine unterschied­ liche Anzahl von Gesundheitszuständen abbildbar. Mit dem EQ-5D können 243 (35) verschiedene Gesundheitszustände abgebildet werden (Greiner et al. 2005). Die in Kanada entwickelten HUI1 bis HUI3 können zwischen einigen tausend Zuständen differenzieren (Schöffski 2012). Ferner stellt sich die Frage hinsichtlich der Generierung von Nutzwerten, bei wem die Lebensqualität erhoben werden soll. Eine Möglichkeit wäre tatsächlich Betroffene nach ihrer Einschätzung zu befragen. In der Regel werden jedoch die Lebensqualitätseinschätzungen bei gesunden Personen erfragt. Diese sollen sich vorstellen, sie wären von einer Krankheit betroffen und könnten zwischen zwei (oder mehr) Alternativen wählen.

96

J. Biermann, A. Neumann, J. Wasem und S. Mostardt

III. Bewertung der Lebensqualität Zur Verfügung stehende Methoden zur Bewertung der Lebensqualität sind z. B. das Rating-Scale-Verfahren, das Standard Gamble- (SG) oder auch das Time-Trade-Off (TTO)-Verfahren sowie die Methode des Person-TradeOffs. Die verschiedenen Verfahren werden im Folgenden beschrieben mit Fokus auf das Standard Gamble und das Time-Trade-Off, da diese als Goldstandard zur Ableitung des Nutzwertes gelten (von der Schulenburg / Greiner 2000 / 2007). Zur direkten Erfassung von Nutzwerten steht einerseits das Rating ScaleVerfahren zur Verfügung. Bei dieser Methode bewertet der Befragte einen Gesundheitszustand anhand einer Skala, z. B. der visuellen Analogskala. Häufig wird der beste Gesundheitszustand mit vollkommener Gesundheit (= 100) beschrieben, während der 0-Punkt entweder für den schlechtesten Gesundheitszustand oder für den Tod steht. Es erfolgt anschließend eine Normierung der Werte für die Berechnung der HRQL auf 0 bis 1. Das Standard-Gamble-Verfahren (auch: Standardspiel-Verfahren) basiert auf der Erwartungsnutzentheorie von Neumann und Morgenstern. Hierbei werden den Befragten zwei hypothetische alternative Szenarien vorgestellt, zwischen denen sie sich entscheiden müssen. Beim ersten Szenario wird für eine vorgegebene Anzahl von Jahren (z. B. 10 Jahre) eine bestimmte chronische Erkrankung ausführlich beschrieben, z. B. eine Dialyse-Behandlung. Dieses Szenario hat eine Wahrscheinlichkeit von 100 %, ist also sicher. Die andere Alternative bezeichnet eine Behandlung der Erkrankung, in diesem Fall z. B. eine Nierentransplantation, mit zwei möglichen Ausgängen und den Wahrscheinlichkeiten, dass diese eintreten: 1. die komplette Genesung der Person mit der Wahrscheinlichkeit p und 2. der Tod der Person mit der Wahrscheinlichkeit (1 – p). Nun soll der Befragte sich diese Situationen vorstellen und sich zwischen den beiden Alternativen, der sicheren DialyseBehandlung und der unsicheren Operation, entscheiden. Die Wahrscheinlichkeiten der 2. Alternative werden nun variiert, bis der Befragte unentschieden zwischen den beiden Alternativen ist. Der Nutzwert (hi) ergibt sich wie folgt: hi = p. Beispielsweise könnte der Befragte bei einer 20 %-igen Todeswahrscheinlichkeit und einer 80 %-igen Gesundungswahrscheinlichkeit unschlüssig sein, ob er lieber die sichere Dialyse oder die unsichere Operation wählt. Die Wahrscheinlichkeit p = 0,8 kann nun ohne weitere Umformung in eine Skala von Null bis Eins übertragen werden, so dass sich ein Nutzwert des Gesundheitszustands in der sicheren Alternative 1 (Dialyse) von 0,8 ergibt (vgl. Abbildung 1). Ist der Gesundheitszustand vermutlich schlechter als der Tod, so ergibt sich der Nutzwert hi nach Variation von p bis der Befragte indifferent zwi-



Gesundheitsökonomische Evaluation97 Alternative 1

Gesundheitszustand i

Wahrscheinlichkeit p

volle Gesundheit

Alternative 2

Wahrscheinlichkeit (1 – p)

sofortiger Tod (Risiko bei Behandlung)

Abbildung 1: Das Standard-Gamble-Verfahren (Zustand vermutlich besser als Tod)

schen den beiden Alternativen ist in Form von hi = – p / (1  –  p) (vgl. Abbildung 2). Bei diesem Verfahren hängen die Ergebnisse in hohem Maße von der Art der Erkrankung ab. Wenn die geschilderte chronische Erkrankung weniger gravierende Auswirkungen hat (z. B. „nur“ eine lebenslange Medikamenteneinnahme), wird eher die sichere Alternative gewählt. Bei massiven Beeinträchtigungen (z. B. extremen Schmerzen) durch die Erkrankung erscheint die unsichere Alternative auch mit höherer Todeswahrscheinlichkeit attraktiver. Weiterhin wird die Entscheidungsfindung bei diesem Verfahren auch von der individuellen Risikoeinstellung des Befragten beeinflusst. Ähnlich wie beim Standard-Gamble-Verfahren muss der Befragte auch beim Time-Trade-Off-Verfahren (auch: Zeitausgleichsverfahren) zwischen zwei Alternativen wählen. Die erste Alternative beschreibt einen chronischen Alternative 1

Tod (Erkrankung führt definitiv dahin, wenn keine Behandlung)

Wahrscheinlichkeit p

volle Gesundheit

Wahrscheinlichkeit (1 – p)

Gesundheitszustand i (mögl. Ergebnis der Behandlung)

Alternative 2

Abbildung 2: Das Standard-Gamble-Verfahren (Zustand vermutlich schlechter als Tod)

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J. Biermann, A. Neumann, J. Wasem und S. Mostardt HRQL 1,0

Alternative 2

hi Alternative 1 0 0 = Ausgangss.

x

t

Restlebenszeit

Abbildung 3: Das Time-Trade-Off-Verfahren (Zustand vermutlich besser als Tod)

Krankheitszustand, z. B. das Nierenversagen und damit die Dialysebehandlung, der bis zum Lebensende andauert. Hierbei wird die restliche Lebensdauer in diesem Zustand, abhängig vom Alter des Befragten, angegeben. Eine Nierentransplantation ist die zweite Alternative, durch sie wird die Gesundheit vollständig wieder hergestellt. Allerdings ist hier die restliche Lebensdauer in perfekter Gesundheit kürzer als in Alternative 1 und der Befragte verstirbt bereits im Zeitpunkt x. Die Restlebensdauer der zweiten Alternative wird nun variiert, bis der Befragte zwischen den beiden Alternativen unentschlossen ist. Je einschränkender der chronische Krankheitszustand ist, desto eher ist der Befragte bereit, auf eine bestimmte Lebenszeit zugunsten einer perfekten Gesundheit zu verzichten. Der Quotient x / t (t = Zeit in Jahren) gilt hierbei als Nutzwert (hi) der ersten Alternative (vgl. Abbildung 3). Ist der Gesundheitszustand vermutlich schlechter als der Tod, so ergibt sich folgendes Bild. Es erfolgt eine Variation von x bis der Befragte indifferent zwischen beiden Alternativen ist: hi = x / (x – t) (hergeleitet aus: 1,0 · x + hi (t – x) = 0) (vgl. Abbildung 4). Der Vorteil der TTO-Methode gegenüber der SG-Methode besteht darin, dass die Angabe von Wahrscheinlichkeiten, deren Verwendung viele Menschen nicht gewöhnt sind, vermieden wird. Wegen des hohen Aufwands ist sie in der Befragung allerdings weniger praktikabel, was einen Nachteil darstellt. Weiterhin sind die mit der TTO-Methode gemessenen Nutzwerte nur unter der Annahme linearer Nutzenfunktionen der Befragten bezüglich zusätzlicher gesunder Lebensjahre gültig. Empirische Studien haben jedoch gezeigt, dass Nutzenfunktionen für Extra-Lebensjahre in Gesundheit eher konkav verlaufen (von der Schulenburg / Greiner 2007). Das bedeutet, dass die mit dieser Methode gemessenen Nutzwerte von chronischen Krankheitszuständen tendenziell zu gering ausfallen.



Gesundheitsökonomische Evaluation99 HRQL

Alternative 1

1,0

Alternative 2 0

0

x

t

hi Restlebenszeit

Abbildung 4: Das Time-Trade-Off-Verfahren (Zustand vermutlich schlechter als Tod)

Das Verfahren des Person-Trade-Off wurde von Erik Nord (Norwegen) entwickelt. Es orientiert sich nicht an der Bewertung des individuellen Gesundheitszustandes, sondern an der kollektiven Ressourcenallokation für Gruppen. Ein feststehendes Budget soll dabei für alternative Patientenkollektive bzw. Erkrankungen aufgewendet werden. Es finden sich unterschiedliche Ausgestaltungen in Form eines einstufigen sowie mehrstufigen Verfahrens von Paarvergleichen. Beispielsweise beschreibt Alternative 1 die Behandlung von Y Personen, die ansonsten sterben würden (hi =0), zu vollkommener Gesundheit und Alternative 2 die Behandlung von x > Y Personen mit einem Gesundheitszustand 0 ≤ hi ≤ 1 zu vollkommener Gesundheit. Es wird x variiert bis der Befragte indifferent ist (hi = (x – y) / x). IV. Problematiken des Vergleichs von Nutzwerten Die dargestellten Instrumente unterscheiden sich – wie oben aufgezeigt – in ihrem methodischen Vorgehen. Im Rahmen von Vergleichen konnte aufgezeigt werden, dass auf der einen Seite der Einsatz unterschiedlicher Instrumente zur Erhebung der Lebensqualität, andererseits aber die Verwendung verschiedener Verfahren zur Bestimmung des Nutzwertes zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. Somit ist der Nutzwert für die Veränderung, die sich zwischen zwei Krankheitszuständen ergibt, davon abhängig, welches Lebensqualitätsinstrument und welche Bewertungsverfahren eingesetzt wurde (Drummond et al. 2005). Auf Grund des fehlenden internationalen Standards bezüglich des Einsatzes der Erhebungsinstrumente sowie der Bewertungsverfahren ist der Vergleich von QALYs, die auf unterschiedlichen Erhebungsinstrumenten sowie Methoden zur Generierung der Nutzwerte beruhen, kritisch zu betrachten.

100

J. Biermann, A. Neumann, J. Wasem und S. Mostardt

Bezüglich der Frage, wer befragt werden soll, gibt es sehr unterschiedliche Konzepte und auch hier keinen internationalen Standard. Dolan und Kahnemann 2008 argumentieren dafür, dass es um den Nutzwert der Betroffenen geht und deswegen auch diese befragt werden sollen. Unter anderem Gold et al. 1996 plädiert dafür, dass diejenigen, deren finanzielle Mittel im Rahmen von Therapieoptionen betroffen sind (z. B. GKV-Versicherte) auch befragt werden sollen. Neben dem Krankheitsstatus haben ggf. auch noch weitere Faktoren einen Einfluss auf den Nutzwert wie beispielsweise das Alter der Befragten. Angemerkt werden muss weiterhin, dass auch die in verschiedenen Ländern erhobene Lebensqualität sowie die Anwendung von in anderen Ländern erhobenen Methoden zur Bestimmung des Nutzwertes schwer vergleichbar bzw. übertragbar sind. Sinnhafte Unterschiede können bei den gleichen Instrumenten in unterschiedlichen Sprachen nicht vollkommen ausgeschlossen werden. Zudem ist die Bewertung von gleichen Gesundheitszuständen in verschiedenen Ländern auf Grund der in den Ländern vorherrschenden unterschiedlichen Wertesysteme nicht vergleichbar. Ein weiterer Aspekt ist die unterschiedliche Zusammensetzung der Bevölkerung in verschiedenen Ländern. Hier ist die Frage der Repräsentativität der Bevölkerung, bei der die Validierung der Bewertung der Gesundheitszustände erfolgte, hinsichtlich der befragten Bevölkerungsgruppe zu prüfen wie z. B. hinsichtlich der Alters-und Geschlechtsverteilung. Insgesamt zeigen die oben genannten Aspekte die Besonderheiten und Hindernissen der verschiedenen Ansätze bei der Vergleichbarkeit von ­QALYs auf. Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang ein Konsensusprozess zur Bildung eines internationalen Standards um so die Vergleichbarkeit in der Erhebung der QALYs zu erhöhen. Literatur Brazier, J. / Roberts, J. / Deverill, M. (2002): The Estimation of a Preference-Based Measure of Health from the SF-36, in: Journal of Health Economics 2002, Ausgabe 21 / 2. 271–292. Brazier, J. / Usherwood, T. / Harper, R. / Thomas, K. (1998): Deriving a PreferenceBased Single Index from the UK SF-36 Health Survey, in: Journal of Clinical Epidemiology 1998; Ausgabe 51 / 11. 1115–1128. Dolan, P. / Kahnemann D. (2008): Interpretations of utility and their implications for valuation of health, in: The Economic Journal 2008; Ausgabe 118. 215–234. Drummond, M. F. / Sculpher, M. J. / Torrance, G.  W. / O’Brien, B. J. / Stoddart, G. L. (2005): Methods for the Economic Evaluation of Health Care Programmes, Oxford: Oxford University Press



Gesundheitsökonomische Evaluation101

Furlong, W. J. / Feeny, D.  H. / Torrance, G.  W. / Barr, R. D. (2001): The Health Utilities Index (HUI®) System for Assessing Health-Related Quality of Life in Clinical Studies. Annals of Medicine 2001, 33 / 5. 375–384. Greiner, W. / Claes, C. (2007): Der EQ-5D der EuroQol-Gruppe, in: Gesundheitsökonomische Evaluationen, 3. Aufl., Berlin  /  Heidelberg: Springer-Verlag. Teil C. 403–414 Greiner, W. / Claes, C. / Busschbach, J. J. (2005): Validating the EQ-5D with Time Trade Off for the German Population, in: European Journal of Health Economics 2005; Ausgabe 6 / 1. 124–130. Schöffski, O. / von der Schulenburg, J. M. (2012): Gesundheitsökonomische Evaluationen, 4. Aufl., Berlin / Heidelberg: Springer-Verlag. Schulenburg, J. M. von der / Claes, C. / Greiner, W. / Über, A. (1998): Die Deutsche Version des EuroQol-Fragebogens. Journal of Public Health 1998; Ausgabe 6 / 1. 3–20. Schulenburg, J. M. von der / Greiner, W. (2000): Wohlfahrtstheoretische Verfahren Zur Lebensqualitätsmessung, in: Gesundheitsökonomik, 1. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck, 2000. 246–256 – (2007): Gesundheitsökonomik, 2., neu bearb. Aufl., Tübingen: Mohr Siebeck. Ware, J. E. / Sherbourne, C. D. (1992): The MOS 36-Item short-form health survey (SF-36). I. Conceptual framework and item selection. Med Care; Ausgabe 30. 473–483 Ware, J.  E. / Snow, K.  K. / Kosinski, M. / Gandek B. (1993): SF-36 Health Survey: Manual and Interpretation Guide. Boston: The Health Institute, New England Medical Center.

Die zukünftige Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens aus gesundheitsökonomischer Perspektive: Grundlegende anreizbezogene Anmerkungen Peter Oberender und Jürgen Zerth I. Rolle und Herausforderung sozialer Sicherung Herkömmliche Auseinandersetzungen mit Finanzierungsfragen im Gesundheitswesen setzen grundsätzlich – soweit sie das deutsche Gesundheitswesen zum Ziel ihrer Untersuchung haben – an der Beschreibung einer Einnahmeschwäche im GKV-System an und versuchen verschiedenartige Ansatzpunkte einer Veränderung der Bemessungsgrundlage der Finanzierung bzw. der Einbeziehung weiterer Einkommensarten zur Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung zu diskutieren (vgl. etwa Rothgang / Götze 2013; vgl. Albrecht et al. 2010). Diese Vorgehensweise fokussiert naturgemäß auf die makroökonomische Perspektive der Finanzierung einer Gesetzlichen Krankenversicherung, unterliegt dabei aber der natürlichen Einschränkung, die Interaktionsbeziehungen zwischen Versicherungsund Versorgungsmärkten zu wenig zu diskutieren, die konstitutiv für ein kassenzentriertes Gesundheitssystem sind. Wird die Interaktionsbeziehung zwischen der Versicherungsseite und der Ausgestaltung der Versorgung im Lichte der Idee einer Versicherungspflicht mit Regelleistungskatalog diskutiert, so gewinnen aber gerade die Wechselwirkungen zwischen Versicherungs- und Versorgungsmarkt an Bedeutung (vgl. Zerth 2012). Dabei geht es einerseits um die Fragestellung, welche Zielsetzungen ein Gesundheitssystem, das institutionell verfasst ist, für seine Benefiziare erbringen soll, andererseits stellt die Ausprägung der staatlichen Einflussnahme auf die Ausgestaltung und die Steuerung von Austauschbeziehungen die relevante ordnungspolitische Fragestellung dar. Beim Blick auf die Finanzierungssituation im deutschen Gesundheitswesen dominieren dabei Fragen der Weiterentwicklung des Gesundheitsfonds und dabei insbesondere Aspekte zur institutionellen Fortentwicklung des Systems der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Privaten Krankenversicherung. Dabei gilt es festzuhalten, dass die Finanzierungsfragestellung für Gesundheitssysteme zwangsläufig zwei Grundfragen miteinander verknüpft:

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P. Oberender und J. Zerth

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Leistungserbringer

Kranken kasse Versorgungsmarkt

Sicherstellungsstruktur Quelle: Eigene Abbildung nach Sachverständigenrat (2012).

Abbildung 1: Kassenzentriertes Gesundheitswesen

– Einerseits geht es um die Fragestellung, welche allokativ wirkenden Steuerungslogiken in ein Gesundheitssystem eingebracht werden sollen, das der normative Grundlage folgt, einem solidarisch-finanzierten Grundanspruch an Zugang und Gewährleistung von medizinischer Versorgung zu gewährleisten. – Andererseits bleiben auch nach Wahl der ordnungspolitischen Entscheidung zwischen allokativer Steuerung und distributiver Ausgleichslogiken die Anreizbeziehungen im Interaktionskontext von Gesundheitssystemen offen. Insbesondere im kassenzentrierten Gesundheitswesen gilt es den Zusammenhang der verschiedenen Austauschbeziehungen zwischen Versicherung, Organisation und Vorhaltung des Leistungsversprechens und unmittelbarer Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen bei der Diskussion von Finanzierungsregelungen parallel in Augenschein zu nehmen. Eine Diskussion von Finanzierungsoptionen kann daher in einem kassenzentrierten System am Zusammenspiel zwischen Versicherungsversprechen, ausgeprägt in einem Versicherungsvertrag, der Organisation der Leistungsgewährung, dargestellt im Versorgungsvertrag, formuliert werden (vgl. Abbildung 1). Vor diesem Hintergrund lassen sich nun in idealtypischer Weise Basisherausforderungen für ein Gesundheitswesen beschreiben, das den Zusammenhang zwischen der Finanzierungsregel im Versicherungsmarkt und der Umsetzung im Versorgungs- und Betreuungsmarkt unmittelbar, d. h. eine



Die zukünftige Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens105

Risikoteilung, deutlich macht. Die nachfolgende Betrachtung soll weniger die Frage nach möglichen Finanzierungsoptionen in den Blick nehmen als stärker das Wechselspiel zwischen Veränderung des Versorgungsversprechens und damit einhergehender Finanzierungs-, letztendlich Risikoteilungsregel, in den Fokus nehmen. II. Finanzierung im ordnungsökonomischen Blickwinkel 1. Herausforderungen der Finanzierung

Jedes Gesundheitssystem in post-industrialisierten Gesundheitssystemen ist ähnlichen Herausforderungen ausgesetzt. Es können drei Faktoren für die Erklärung des künftigen Finanzierungsbedarfs berücksichtigt werden (vgl. Felder 2012): – Einfluss der demographischen Alterung auf die Einnahmen einer solidarischen Krankenversicherung, – Einfluss der demographischen Alterung auf die Pro-Kopf-Ausgaben sowie – Einfluss der Einkommensentwicklung auf die Pro-Kopf-Ausgaben. Der erste Effekt ist stark davon abhängig, wie die Struktur der Prämienoder Beitragserhebung ausgestaltet ist, d. h., ob einkommensabhängige oder prämienorientierte Beiträge erhoben werden. Je stärker der einkommensabhängige Effekt dominiert, desto stärker fließen Veränderungen der Lohn- und Renteneinkommen mit ein. Der zweite Effekt fokussiert auf die Frage, inwiefern die demographische Alterung die Entwicklung der Pro-Kopf-Ausgaben erklärt. Im Kontext zwischen den Hypothesen der Medikalisierung und der Kompression haben sich in verschiedenen empirischen Erhebungen stärker Argumente zugunsten einer (schwachen) Kompression ergeben (vgl. Oberender / Zerth 2010). Die Pro-Kopf-Ausgaben erklären sich eher durch den Zusammenhang der Einkommensentwicklung im Kontext des wachsenden Möglichkeitenraumes des medizinisch-technischen Fortschritts (vgl. Chernew et al. 2005). Vor diesem Hintergrund und der wachsenden Bedeutung chronischer Erkrankungsverläufe stellt der durch den medizinisch-technischen Fortschritt steigende Möglichkeitenraum im Gesundheitswesen die Frage nach der Effektivität und Effizienz zusätzlicher Leistungen und Ausgaben. Die Grenzproduktivität vieler zusätzlicher medizinischer Leistungen wird jedoch eher als niedrig angesehen („flat of the curve medicine“). Dabei spielt insbesondere eine Rolle, dass viele neue Technologien die Möglichkeiten bisheriger Behandlungskonzepte erweitern. Beispielsweise eröffnen neue bildgebende

106

P. Oberender und J. Zerth

Verfahren (z. B. PET / PET-CT) neue therapeutische Strategien, insbesondere bei onkologischen Behandlungen. Cutler weist beispielsweise darauf hin, dass der Technologieeinsatz im Gesundheitswesen die organisatorischen Bedingungen im Gesundheitswesen beeinflusst (vgl. Cutler 2012). Die Koordination medizinischer Leistungserstellung verändert sich, wenn etwa bei altersabhängigen Erkrankungen der Zusammenhang zwischen Kuration und Pflege mehr ineinander übergeht, etwa bei der Behandlung von Demenzpatienten oder auch bei verhaltensabhängigen chronischen Erkrankungen, etwa Diabetes mellitus (vgl. etwa Jacobs / Linnenbürger 2011). Somit lässt sich festhalten, dass die Gesundheitsversorgung in der Zukunft am Zusammenspiel zwischen dem wachsenden, durch chronische Erkrankungen dominierten Möglichkeitenraum und der Frage wie Finanzierung gestaltet und Versorgung organisiert ist, ansetzen wird. M. a. W. liegt somit auf der System­ ebene die Frage vor, welche Akteure mit welcher Konsequenz an der Finanzierung und somit der Risikoübernahme des wachsenden Möglichkeitenraumes beitragen. 2. Die institutionenökonomischen Grundfragen

Bei der Finanzierungsfrage ist die institutionelle Einbindung des Regelleistungsanspruchs innerhalb einer Finanzierungslogik zu betrachten. Dies resultiert insbesondere daraus, dass der Zusammenhang zwischen der Definition der Regelversorgung (Claim) und der Rationalisierungslösung keine zufällige Entscheidung ist, sondern Ausdruck der grundlegenden Ordnungsentscheidung eines Gesundheitswesens (vgl. Anand 2003). Beim Blick über alle Gesundheitssysteme in der europäischen Union lassen sich einige normative Grundbedingungen für die Akzeptanz und Zukunftsfähigkeit eines Gesundheitssystems ableiten (vgl. Thomson et al. 2008): – Gewährleistung einer grundlegenden Versicherungsabdeckung gegen krankheitsbedingte Risiken für alle Bürger; – Akzeptanz einer Mindestumverteilung, um die Lasten krankheitsbedingter Kosten zu solidarisieren; – Orientierung der Leistungsgestaltung in der Regelversorgung nach dem medizinisch definierten Bedarfsprinzip, nicht nach der Fähigkeit des Einzelnen, die Leistungen bezahlen zu können; – Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Gesundheitsausgaben; – Umsetzung der Finanzierung zur Inzentiverung guter medizinischer Qualität; – Umsetzung des Finanzierungs- und Leistungsgeschehens mit einem geringen Aufwand an Transaktionskosten.



Die zukünftige Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens107

Wird ein Krankenversicherungssystem als Grundelement eines sozialen Sicherungssystems verstanden, so sind drei Grundfragen zu diskutieren, deren Ausgestaltung den institutionellen Rahmen des Gesundheitssystems im Allgemeinen und den Bedingungsrahmen für Finanzierung im Speziellen kennzeichnen (vgl. Thomson 2008 et al.): – Umfang der Versicherungsdeckung; – Breite des aus der Versicherungsdeckung ableitbaren Regelversorgungsanspruchs; – Organisation des aus dem Regelleitungsanspruch ableitbaren Leistungsversprechens, inklusive der Kostenbeteiligung der Akteure, insbesondere Leistungserbringer und Patienten bei der unmittelbaren Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Verbindendes Glied ist dann die Auswirkung auf die Ausgestaltung der Arzt-Patienten-Beziehung im konkreten Fall und die damit einhergehende Gestaltung der Risikoteilung. Die Auseinandersetzung mit den gesundheitsökonomischen Effekten einer Finanzierung von Gesundheitsleistungen hat zwei Grundfragen zu berücksichtigen: – Fokussierung auf die Morphologie und Bedingungselemente des Nachfrage- und Angebotszusammenhangs bei der Produktion und Allokation von Gesundheitsleistungen sowie – institutionelle Einbettung der Gesundheitsleistungen in ein für Industrieländer übliches System der Regelversorgung, die verknüpft ist mit einem sozialpolitischen Leistungsversprechen. Beide Grundfragen stehen in post-industriellen Gesundheitssystemen vor den Herausforderungen an alle Gesundheitssysteme, die mit den Aspekten demographische Entwicklung, Einfluss des medizinisch-technischen Fortschritts und Veränderung der Anspruchsentwicklung im Gesundheitswesen beschrieben werden können. Zunächst ist das Wechselspiel zwischen den Versicherungs- und Versorgungsbeziehungen zu diskutieren. III. Ein einfaches Modellbild der Angebots- und Nachfragebeziehung Das Zusammenspiel der Versicherungsvertragsgestaltung mit der Konkretisierung des Leistungsversprechens bildet im Kontext des oben geschilderten Beziehungsdreiecks den Kernbereich der Ressourcensteuerung im Gesundheitssystem. Die Konkretisierung selbst teilt sich in der Vorhaltung der Leistungserstellung, die über den Versorgungsvertrag organisiert wird, und

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P. Oberender und J. Zerth

der konkreten Inanspruchnahme der Gesundheitsleistungen im Betreuungsvertrag auf. Konstitutiv ist daher der Zusammenhang zwischen Versicherungsvertrag und Versorgungsvertrag als Realisierung des Sicherungsversprechens oder etwas freier formuliert als Ausbildung des Sicherstellungsauftrages zu verstehen (vgl. etwa Zerth 2005). Zur Verdeutlichung der Steuerungseffekte ist es daher hilfreich, sowohl die Anreizumgebungen im Versicherungsvertrag und die Interaktionseffekte zum Versorgungsvertrag zu illustrieren. Eine einfache Modellbeschreibung mag dies verdeutlichen helfen (vgl. dazu Zerth 2012): Im Versicherungsvertrag – zunächst mag es unerheblich sein, wie die Prämien- oder Beitragserhebung vonstattengeht – wird ein Dienstleistungsversprechen zwischen dem Versicherten, der aber nicht zwingend Patient ist und einem Versicherungsunternehmen, das selbst an die Regulierung eines Mindestangebotes (Regelleistung) gebunden ist, akzentuiert. Die idealisierte Betrachtung einer Versicherungsnachfrage, d. h. der Nachfrage nach Versicherungsleistungen (I), etwa im Lichte eines homogenen Versicherungsmarktes gibt eine Fokussierung zu erwartender Einflussfaktoren wieder. Eine idealisierte implizite Nachfragefunktion nach Versicherungsleistungen (I), etwa im Lichte der Modelle im homogenen Versicherungsmarkt (vgl. Mossin 1968) kann über eine Erwartungsnutzenfunktion E[U (…)] des Versicherten mit (1)

é < 0 > 0 0 £ 0 ù I * º arg max E [U (W , P , p , L , I , β )] Þ N I @ I * ê P , p , W , L , β ú êë úû I

illustriert werden. Eine höhere Prämie (P) würde die Nachfrage reduzieren, ein höheres und antizipiertes Risiko (p) würde hingegen die Versicherungsnachfrage erhöhen, genauso würde ein höherer zu erwartender Krankheitsschaden (L) antizipiert werden. Mit einem höheren verfügbaren Einkommen W würde c.p. die Möglichkeit zur Eigenversicherung steigen. Die traditionelle Form der Risikoteilung über Selbstbehalte oder Selbstbeteiligungen (β) wirkt, je nach Preissensitivität, abträglich auf die Versicherungsnachfrage. Das Bild auf das Versicherungsangebot soll die Anreizsituation illustrativ eines Versicherungsunternehmen beschreiben (vgl. u. a. Garven 1987): (2)

0 é ù >0 ù S I = f ê P × ê pI - P ( I ) ú , K , ú ê êë ú úû ë û

Der Versicherungsanbieter versucht idealtypisch im Versicherungsmarkt seinen Deckungsbeitrag pI-P(I), der aus dem Erwartungsschaden resultiert, zu optimieren. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass bei regulierten Gesundheitssystemen am Versicherungsmarkt – wie es auch im deutschen



Die zukünftige Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens109

GKV-System üblich ist – nur eine regulierte Prämie erhoben werden kann. Versicherungsökonomisch wird daher die Optimierung zwischen dem betriebswirtschaftlich zu kalkulierenden Erwartungsschaden und der regulierten Prämie eine relevante Rolle spielen. Darüber hinaus unterstützt eine höhere Kapitalausstattung (K) die Zeichnungsfähigkeit eines Versicherers. Risikoteilungsaspekte sind somit angebots- und nachfrageseitig formulierbar. So definiert die Auswahl der Risikoversicherten den Musterdeckungsbeitrag und befördert den Anreiz, über Formen der Risikoselektion oder über Leistungsmanagement den Deckungsbeitrag zu optimieren. Gemäß der Annahme, dass eine offene Risikoselektion in solidarisch-finanzierten Gesundheitssystemen durch Regulierungsmaßnahmen eingeschränkt wird, bleibt vor allem der Impuls für die Krankenversicherung relevant, durch Formen des Leistungsmanagements den Erwartungsschaden zu optimieren. Gerade an dieser Stelle greift der versicherungsseitige Impuls in die Vorhaltung der Leistungserstellung – Sicherstellungsversprechen über den Versorgungsvertrag – als auch in die konkrete Leistungsinanspruchnahme im Behandlungsvertrag ein. Die Arzt-Patienten-Beziehung, die sich konstitutiv an den Bedingungen des Versorgungsvertrages orientieren muss, ist aber zumindest mittelbar verbunden mit der Organisation der Finanzierung der medizinischen Leistungserstellung. Der Arzt als typischer medizinischer Leistungserbringer interpretiert und konkretisiert die originäre Nachfrage; daraus entsteht die typische Sachwalterbeziehung Arzt-Patient mit vielfältigen Informationsund Kontrollfragestellen, die aber an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden sollen. Vielmehr korrespondiert die Frage nach der zukunftsfähigen Finanzierung des Gesundheitssystems nun unmittelbar mit der Ausgestaltung der Fragestellung, wie Ansprüche an eine Regelversorgung mit der Weiterentwicklung und der institutionellen Verantwortung der Weiterentwicklung der Regelversorgung abgeglichen werden sollen. IV. Risikoteilung als Grundimpuls einer Steuerungsregel 1. Das Beziehungsgeflecht zwischen Versicherung und Steuerung

Wie bereits festgehalten, korrespondiert die Grundfrage einer Finanzierungsarchitektur mit der Ausgestaltung der Risikoteilung zwischen Versicherungsmarkt und Versorgungsmarkt einerseits und der begleitenden Konzeptionierung eines solidarisch finanzierten Regelleistungsversprechens andererseits. Somit stellen sich hinsichtlich der normativen Ausgestaltung einer Finanzierungsregel zwei Grundüberlegungen (vgl. etwa Oberender / Zerth 2010):

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P. Oberender und J. Zerth

– Risikoteilung zwischen Versicherungen, Leistungserbringern und Versicherten / Patienten in Abhängigkeit von der institutionalisierten Form der solidarisch finanzierten Regelversorgung gilt es zu formulieren. – Intergenerative Belastungswirkung im Hinblick auf den Charakter der Daseinsvorsorge, der hinter einer sozialpolitisch motivierten Krankenversicherung verborgen ist (vgl. etwa Cassel et al. 2006), ist im institutionellen Gesundheitskontext zu berücksichtigen. Angenommen, es gilt die Prämisse eines solidarisch-finanzierten Gesundheitssystem mit regulierten Prämien, etwa in Form der Kopfprämien wie in der Schweiz oder gar als einkommensabhängige Beiträge bei einkommensunabhängigen Leistungen wie in Deutschland, so lässt sich illustrativ eine Saldengleichung eines Versicherungssystems wie folgt beschreiben (vgl. etwa Felder 2001): (3)

bi w = A1 (VK1 , ( L1 - L *)) + A2 (VK 2 , ( L2 - L *))

Die linke Seite der Gleichung beschreibt die Einnahmenbasis, bei der zunächst ein regulierter, einheitlicher Beitrag bi gelten sollte. Die Frage des Schutz ökonomisch Schwacher, d. h., wenn Einzelne den Beitrag aufgrund mangelnder Kaufkraft nicht tragen können, soll zunächst über eine Steuerlösung vonstattengehen. Damit wird der weitgehend in der Literatur geteilten allokativen Vorteilhaftigkeit eines Umverteilungselements im Steuersystem Rechnung getragen (vgl. etwa Wissenschaftlicher Beirat 2010). Einerseits würde das Steuer-Transfer-System alle Bürger erfassen und somit einen Bezug zum Gesamteinkommen herstellen, andererseits ist eine wenn auch regulierte Prämie im Gegensatz zum Einkommensbezug nicht konjunkturanfällig. Der allokative Vorteil beruht aber in erster Linie darauf, dass die Kosten des Versicherungsschutzes für die Versicherten transparent werden und somit das Preissignal weniger verzerrt würde als bei Implementierung eines Umverteilungselements. Die rechte Seite beschreibt die Ausgabenentwicklung, wo gemäß dem Argument der Risikoteilung eine Risikokohorte 1 mit einer Risikokohorte 2 verglichen werden kann, wobei gilt A1 £ A2 . Die Ausgaben mögen zunächst durch die unterschiedliche Risikostruktur VKi erklärbar sein, hier würde aber einnahmeseitig eine Form des Risikostrukturausgleichs der Idee der QuasiRisikoäquivalenz Rechnung tragen*. Darüber hinaus bestimmt das Leis1

*  Die Frage nach der Anreizkompatibilität von Risikostrukturausgleichsmechanismen ist ein wesentlicher Diskussionspunkt, der unmittelbar die Anreizbeziehung im Versicherungsvertrag erklären kann (vgl. Greß / Wasem 2010 oder Buchner / Wasem 2003). Gleichwohl soll in der vorliegenden Untersuchung angenommen werden, dass der (Mindest-)Regelleistungskatalog zwar nicht perfekt aber weitgehend ohne große



Die zukünftige Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens111

tungsportfolio die Ausgabenstruktur, hier soll gelten, dass die Leistungsstruktur Li vom definierten und in einer einfachen Herangehensweise standardisierbaren (Mindest-)Leistungskatalog L* abweicht. Es möge gelten, dass die Ausgaben durch die Gestaltung der Leistungsstruktur beeinflusst werden. (4)

δ A1 0 δ (L1 - L *)

Je nach Abweichen vom angenommenen Standard L* wird das Ausgabenwachstum erhöht oder reduziert, wobei an dieser Stelle die Frage nach der Qualität der Leistungserbringung und mögliche Aspekte von Fehl-, Unteroder Überversorgung zunächst noch ausgeblendet bleiben sollen. Aus Sicht eines institutionalisierten Möglichkeitenraums zwischen Versicherungs- und Versorgungsmarkt sind nun zwei Ausprägungsrichtungen denkbar, eine „kollektive“ und eine „selektive“ Risikoteilung. Der Begriff Risikoteilung soll hier sowohl einnahmen- als auch ausgabenseitig interpretiert werden. 2. Zwei idealisierte Fallkonstellationen

a) Fallkonstellation 1: Kollektive Risikoteilung Bei einer kollektiven Risikoteilung würde ausgabenseitig der Handlungsspielraum etwa einer Krankenversicherung sehr deutlich reduziert, es gilt (5)

(L1 - L *) @ (L2 - L *)

Die Kassen konzentrieren sich daher ceteris paribus auf die Veränderung des Niveauparameters L* und somit sind Anreize zur wettbewerblichen Ausdifferenzierung im Sinne beispielsweise eines „Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren“ über den Versorgungswettbewerb kaum vorhanden (vgl. Oberender / Zerth 2014). Eine alternative Strategie könnte – wenn ein Ausgabendruck vorliegt – in der Erhöhung des allgemeinen Prämie oder des allgemeine Beitragssatzes bi liegen. Das Ausloten präferenzorientierter Leistungs- und Organisationsangebote zugunsten des Patienten, insbesondere durch Differenzierungen der Form der Leistungserstellung, unterblieben in einem derartigen kollektiven Arrangement der Risikoteilung weitgehend, der deutsche Kollektivvertrag steht hierfür Pate. Wenn darüber hinaus die Verzerrungswirkungen die Versicherungsunternehmen wieder in eine Situation nach Risikostrukturausgleich zurückführt, als hätten sie risikoäquivalente Prämien erhoben (Quasi-Risikoäquivalenz).

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P. Oberender und J. Zerth

Versicherungsnachfrage preis- und leistungssensitiv ist (vgl. Gleichung (2)), dann verliert der Versicherer durch eine kollektive Risikoteilung relevante Steuerungsimpulse. Gerade chronische Erkrankungen gewinnen aber zunehmend an Bedeutung und dominieren die Ausgabenentwicklung in den industriellen Gesundheitssystemen (vgl. Gensichen et al. 2010). Chronische Krankheiten zeichnen sich nicht nur durch ihren kontinuierlichen Verlauf sondern durch die größere Bedeutung der Einflussnahme des Patienten auf die Leistungsinanspruchnahme Li und letztendlich auf den Behandlungserfolg aus. Wenn darüber hinaus das Wechselspiel zwischen medizinischen Fortschritt und demographischer Entwicklung die Bedeutung insbesondere von chronisch motivierten Krankheitsverläufen noch erhöhen wird, so wird eine umfassendere Risikoteilung auch durch die Integration des Patientenverhaltens in das Versicherungssystem relevanter (vgl. Zerth 2012). In der Literatur zum Moral-Hazard-Verhalten wird beispielsweise in jüngeren Arbeiten darauf hingewiesen, dass indikationsspezifische Erklärungsansätze für die Leistungsinanspruchnahme eine höhere Erklärungskraft haben als die einfache Beziehung zwischen Leistungsinanspruchnahme und Versicherungsschutz (vgl. Koç 2011). Die wechselseitige Kostenbeteiligung zwischen medizinischer Leistungsinanspruchnahme und korrespondierender Kostenbeteiligung gewinnt daher an Relevanz. Zwischenergebnis: In einem System der kollektiven Risikoteilung nehmen Finanzierungsregelungen kaum einen steuernden Effekt ein sondern die Liquiditätssteuerung steht im Vordergrund von Finanzierung. b) Fallkonstellation 2: Selektive Risikoteilung Im Fall einer selektiven Risikoteilung würde sich die Saldengleichung der Formel (3) wie folgt verändern: (6)

bi w × (1 + r1 + r2 ) = A1 (VK1 , ( L1 - L *), MW1 ) + A2 (VK 2 , ( L2 - L *), MW2 )

Auf der Einnahmenseite erhalten die Krankenversicherungen zusätzliche Möglichkeiten der Risikoteilungen in Form von Zuschlägen r1 oder r2 auf die weiterhin annahmegemäß geltende pauschale Prämie bi. Diese Risikozuschläge finden ausgabenseitig ihren Widerhall in der Bezugnahme des Mitwirkens des Patienten bei der Leistungsgestaltung, was sich insbesondere durch den Bedeutungsgewinn chronischer Krankheiten getrieben ist (MWi). Die Anreizbeziehung für eine idealtypische Krankenversicherung muss nun die Frage beantworten, ob ein Abweichen von der kollektiven Risikoteilung, wie sie beispielsweise im Modell eines Kollektivvertrag versinnbildlicht ist,



Die zukünftige Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens113

einen Wettbewerbsvorteil zur Folge hätte. Aus Sicht einer einzelnen Krankenversicherung hätte beispielsweise eine Optimierung des Wertes ( L1 - L *) dann einen Vorteil, wenn durch Organisations- und Steuerungsanreize, etwa in Form von Care-Management-Ansätzen, die Produktionskosten der Leistungsgestaltung (L1 – L*) niedriger wären: (7)

δ A1  0). Dies setzt aber voraus, dass die Krankenversicherung sich durch eine veränderte Leistungserstellung einen Wettbewerbsvorteil am Versicherungsmarkt zuschreiben kann (vgl. etwa Zerth 2012). Gerade der zweite Aspekt weist aber auf den Zusammenhang von (Zusatz-)Finanzierungsmöglichkeiten im Lichte der Wettbewerbsumgebung von Krankenversicherungen hin. Der Versicherte als Nachfrager einer Versicherungsleistung im Versicherungsmarkt wird, jedenfalls solange er noch nicht die Rolle des Patienten eingenommen hat, beim Abschluss der Versicherung eher eine höhere Präferenz für ein gutes Versicherungs-Prämien-Verhältnis haben als eine Angebotspalette aus verschiedenen, spezifisch indikationsbezogenen Versorgungsangeboten würdigen. Diese Marktspaltung zwischen Versicherungsnachfrage und Versorgungssteuerung müssen Versicherungen bei der Ausgestaltung selektivvertraglicher Steuerungsansätze berücksichtigen und reduzieren c.p. daraus auch den versicherungszeitigen Anreiz, generell Wettbewerbsgestaltung durch selektive Risikoteilung zu gestalten (vgl. Rebscher 2011). So ist vielmehr zu erwarten, dass standardisierbare, wenig spezifizierbare Leistungsangebote, etwa im Bereich der Hausärzteversorgung mit Kooperationen von Leistungserbringern geschlossen wird, wobei Kassen an dieser

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P. Oberender und J. Zerth

Stelle bewusst Formen der kollektiven Risikoteilung nutzen könnten. Im Hinblick auf die deutsche Situation liegt hier jedoch der substantielle Unterschied vor, dass die oben erwähnten kollektiven Risikoteilungen sich in wählbaren, im Wettbewerbsprozess zu gestaltenden, Kooperationsverträgen abbilden und nicht eine staatliche Vorgabe eines Kollektivvertrages zum Ziel haben. Je stärker jedoch der Differenzierungsvorteil durch Selektivverträge beispielsweise bei der Versorgung einer chronischen Erkrankung ist und sich die Krankenversicherung beispielsweise als Spezialist für eine Versorgungsform etablieren kann, desto stärker dürfte der selektivvertragliche Anreiz sein, wenn es denn etwa über Preisdifferenzierung im Versicherungsmarkt möglich ist, eine dafür notwendige selektive Risikoteilung vorzunehmen. Zwischenergebnis: Je mehr in einem Gesundheitssystem die Möglichkeit selektiver Risikoteilung umsetzbar wird, je mehr steigt der Anreiz aus Versicherungsseite, gegebenenfalls auch aus Sicht der Leistungserbringer, über selektive Vertragsmodelle Gesundheitsversorgung zu gestalten. 3. Die intertemporale Finanzierung

Die bisherige Betrachtung hat den Möglichkeitenraum der Versorgung im intragenerationellen Kontext betrachtet, die Verteilungswirkungen über die Zeit, die angesichts des demographischen Entwicklungsprozess ebenfalls vonstattengehen, jedoch noch ausgeklammert. Eine leicht modifizierte Saldenbetrachtung mag im Sinne eines Gedankenmodells diesen Zusammenhang verdeutlichen: (8)

( bi w )t = ( A1 + A2 )t +

( A1 + A2 )t +1 (1 + s )

Auf der linken Seite steht ein idealisierter Barwert der Beitragsleistungen, die in der Gegenwart bezahlt werden müssen. Die Ausgabenstruktur umfasst eine Gegenwart (t) und eine Zukunft (t + 1), für die im Sinne von Daseinsvorsorge bereits in der Gegenwart vorgesorgt werden muss. Somit kann der Diskontierungsfaktor 1 + s sowohl für ein Kapitaldeckungsverfahren, das eine Daseinsvorsorge über eine Anlage am Kapitalmarkt anstrebt als auch für ein Umlageverfahren stehen, da diese Vorsorge über das Wachstum der Produktivitätsbevölkerung gebildet wird. Ein Umlageverfahren, das im deutschen System der Gesetzlichen Krankenversicherung verortet ist, würde die laufenden Ausgaben durch laufende Einnahmen finanzieren. Gleichwohl zielt auch dieses Verfahren implizit auf die Bildung eines Kapitalstocks hin, der beabsichtigt, dass die nächste Generation hinreichend produktiv ist, die künftigen Ausgaben zu finanzieren. Wie etwa Cassel et al. zeigen, sendet



Die zukünftige Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens115

das Umlageverfahren im deutschen Sozialkontext eher einen geringen Anreiz aus, in Humankapital zu investieren, da das Mitglied der Sozialversicherung zwar die privaten Kosten dieser Investition trägt, die Erträge jedoch eher in die Allgemeinheit diffundieren (vgl. Cassel et al. 2006). Darüber hinaus kommt auch an dieser Stelle die Frage der Risikoteilung zwischen Versicherung und Versicherten ins Spiel. Die Prämienfinanzierung in der GKV über einkommensabhängigen Beiträge und beitragsunabhängigen Leistungen lässt jedoch sowohl das versicherungstechnische Risiko als auch das Umverteilungsrisiko – es werden im Gegensatz zum Schweizer Modell keine einheitlichen Prämien gebildet – beim Kostenträger (vgl. Oberender / Zerth 2010). Ein Kapitaldeckungselement im Rahmen der Gesundheitsversorgung benötigt daher aus der Risikoteilung Anreize in Kapital zu investieren. Einschränkend gilt es jedoch festzuhalten, dass auch eine Kapi­ taldeckungsidee den Ausgleichsbedarf zur intertemporalen Vorsorge [zweiter Summand auf der rechten Seite in Formel (8)] nur unzureichend bilden kann. Sowohl das Änderungsrisiko als auch die Einflüsse des medizinisch-technischen Fortschritts können nur teilweise prognostiziert werden (vgl. Oberender / Zerth 2010). Somit spricht viel für eine Mehrsäulen-Strategie aus Umlageverfahren, Teilkapitaldeckung und Zusatzprämien oder Selbstbeteiligungsformen. V. Ausgestaltungsoptionen einer Finanzierungsstrategie für Deutschland Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun für die künftige Finanzierungsstruktur des deutschen Gesundheitssystems ableiten. Aus der Diskussion der Risikoteilung wird einerseits deutlich, dass eine Finanzierungsregelung zu kurz greifen würde, wenn es lediglich um die Erweiterung von Finanzierungsmöglichkeiten gehen würde, auch eine reine Betrachtung der Prämienerhebung greift zu kurz. Es geht vielmehr andererseits darum, den Interaktionszusammenhang zwischen Versicherungs-, Versorgungs- und Behandlungsvertrag (vgl. Abbildung 1) zu fokussieren und weiter zu entwickeln. Eine institutionelle Gestaltung des Gesundheitssystems muss die Ansprüche an die Regelversorgung mit der Umsetzung einer gegebenen Entscheidung für eine Regelversorgung (Rationalisierung) differenzieren. Durch die Festlegung eines Regelleistungsanspruchs wird das Dilemma nicht gelöst, vielmehr bleibt der ökonomische wie auch der ethische Anspruch zum verantwortungsgerechten Umgang mit knappen Ressourcen bestehen (Zerth 2012). Dieser Steuerungsanspruch, etwa orientiert an Formen der Risikoteilung zwischen Versicherung, Leistungserbringer und Versicherten, gilt es in ein ordnungspolitisches Umfeld zu integrieren:

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P. Oberender und J. Zerth

Damit ein Vertrag eine Regelsicherungsfunktion erfüllt – worauf die Existenz eines Regelleistungskatalogs hinausläuft – muss lediglich gewährleistet sein, dass dem jeweiligen Versicherten Leistungen aus dem Regelleistungskatalog bei Bedarf finanziert werden. Die Frage des Sicherungsziels eines Gesundheitssystems ist daher nicht eindeutig und kann exemplarisch in zwei Kategorien eingeteilt werden, die etwa grob Enden eines gesundheitspolitischen Kontinuums darstellen (vgl. Abbildung 2): – Förderung einer kollektiven Risikoteilung bei Annahme eines tendenziell uniformierten, eher unmündigen Bürgers; – Förderung einer individualisierten Risikoteilung bei Annahme eines tendenziell informierten, eher mündigen Bürgers. Kriterien

Ziel: Kollektive Risikoteilung

Ziel: Individualisierte Risikoteilung

Prämiengestaltung

Einkommensabhängige Beiträge

Prämie als Preissignal (vollständig oder komplementär)

Versorgungsvertrag

Kollektive Risikoteilung; Kollektivvertrag als Grundlage der Regel­ versorgung; Selektiv­ verträge ergänzend

Individualisierte Risikoteilung: Selektivvertrage als Grundprinzip; Regelversorgung als Mindestqualität der Sicherung

Nachhaltigkeitskonzept

Umlageverfahren als Standardverfahren

(Teil-)Kapitaldeckungsmodelle, Risikoteilung zwischen Prämien, Umlage und Selbst­ beteiligung

Ordnungspolitische Strategie: Wettbewerbsordnung für eine Gesetzliche Krankenversicherung Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Oberender / Zerth (2010).

Abbildung 2: Ausgestaltung der grundsätzlichen Sicherungsidee

Jetzt lässt sich einwenden, dass angesichts der Arzt-Patienten-Beziehung und der damit korrespondierenden Informationsasymmetrien beide Ausprägungen in gelebten Gesundheitssystemen möglich sind. Gleichwohl ist es sowohl eine Frage der Steuerungseffizienz (Rationalisierungslogik) wie der ordnungspolitischen Verantwortung des Individuums (Prinzip der Selbstverantwortung) im Rahmen eines Ordnungssystem zu wählen. Eine dezidierte Ausprägung findet sich im Kontext eines Vertragswettbewerbs. Wie lässt



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sich nun die Idee eines Vertragswettbewerbs und einer standardisierten Regelversorgung miteinander verknüpfen und welche Empfehlungen können sich nun für die realiter bestehenden Systeme einer GKV und einer PKV abgeleitet werden? In Bezugnahme auf die Weiterentwicklung des deutschen GKV-Systems gilt es hier, das Spannungsverhältnis zwischen einem kollektivvertraglich orientierten Steuerungsprinzip und der Idee eines Wettbewerbs im Vertragswettbewerb über Selektivverträge zu diskutieren. Eine Regelversorgung ist für beide Ansatzpunkte notwendig, sonst würde die Versicherungspflicht in die Leere laufen. Gleichwohl muss eine Regelversorgung nicht eine einheitliche Regelversorgung bedeuten, sondern ein funktionsfähiger Vertragswettbewerb würde lediglich die Ausgestaltung des Regelversorgungsanspruchs in Form einer Mindestqualität erforderlich machen, den jede kollektive oder selektivvertragliche Versorgung einzuhalten hätte. Der Wettbewerbsprozess könnte dann in unterschiedlichen Versorgungskonstellationen vonstattengehen, die dem Prinzip eines Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren Rechnung trägt. Notwendig für eine derartige Weiterentwicklung ist jedoch die Funktionsfähigkeit der Risikoteilung auf allen Vertragsebenen des Gesundheitssystems. Somit kommt der Funktionsfähigkeit des Preissignals im Versicherungsmarkt besondere Bedeutung zu. Das deutsche Modell mit Gesundheitsfonds und Zusatzbeitrag ist an dieser Stelle nur ein vorsichtiger Versuch, Preissteuerungselemente über den Zusatzbeitrag zu implementieren. Notwendig wären an dieser Stelle eine Absenkung der Regelerstattung aus dem Gesundheitsfonds und die Möglichkeit der Krankenversicherungen über Zusatzbeiträge in einem Preiswettbewerb zu kommen. Die notwendige Sicherung des Sozialausgleichs hätte idealerweise über das Steuersystem zu erfolgen. In Bezug auf die Herausforderungen, die in Abschnitt II. beschrieben worden sind, muss sich ein Krankenversicherungssystem darauf einstellen, dass die Versorgung institutionsübergreifender Patientenkarrieren, wofür chronische Erkrankungen Pate stehen, die wesentliche Herausforderung darstellt. Gesundheitsreformen der Zukunft müssen daher an der Frage ansetzen, wie die Steuerungsrolle von Krankenversicherung im Versicherungsund Versorgungsmarkt in der Zukunft ausgestaltet wird. Im GKV-System gilt es die Ungleichgewichte in der Wettbewerbsrolle zwischen Krankenversicherungen und Leistungserbringer abzubauen, da die Krankenversicherungen trotz mancher Ansätze in der jüngeren Vergangenheit im Sozialgesetzbuch weiterhin nicht als Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechtes behandelt werden und daher für eine Wettbewerbsorientierung eine wichtige Grundregel verletzt wird. Eine stabile und nachhaltige Finanzierung der Gesundheitsversorgung gewinnt durch die Möglichkeit, mehr differenzierte Versicherungs- und Versorgungsangebote zu gestalten. Angesichts des Mög-

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P. Oberender und J. Zerth

lichkeitenraumes im Gesundheitswesen werden die Ausgaben im Gesundheitswesen steigen, entscheidend bleibt, dass der Einzelne die Möglichkeit hat, selbst mitzugestalten. Dies resultiert in einer stärken Form von individueller Risikoteilung als auch Teilkapitaldeckung. Literatur Albrecht, M. / de Millas, C. / Hildebrandt, S. / Schliwen, A. (2010): Die Bedeutung von Wettbewerb im Bereich der privaten Krankenversicherungen vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung. Forschungsprojekt des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Herausgegeben von IGES Institut, Berlin. Anand, P. (2003): The integration of claims to health-care: a programming approach, in: Journal of Health Economics, Jg. 22, 731–745. Buchner, F. / Wasem, J. (2003): Needs for Further Improvement: Risk Adjustment in the German Health Insurance System, in: Health Policy 65: 21–35. Cassel, D. / Müller, C. / Sundmacher, T. (2006): Die Finanzierung der GKV auf dem „normativen Prüfstand“, in: Rebscher, H. (Hrsg.), Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politikberatung, Heidelberg: Economica, 289–306. Chernew, M. / Cutler, D. / Keenan, P. (2005): Increasing Health Care Costs and the Decline in Health Insurance Coverage, in: Health Services Research 40, 4, 1021–1039. Cutler, D. (2010): Where are the Health Care Entrepreneurs? The Failure of organizational Innovation in Health Care, NBER Working Paper Series, Working Paper 16030. Felder, S. (2001): Der Fluch des Zweitbesten. Der Risikostrukturausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium, 30. Jg. 583–587. – (2012): Auswirkungen der älter werdenden Gesellschaft auf das Gesundheitswesen – bleibt es bezahlbar? In: Günster, C. / Klose, J. / Schmacke, N. (Hrsg.), Versorgungs-Report 2012. Schwerpunkt: Gesundheit im Alter, Stuttgart: Schattauer, 23–32. Garven, J (1987): On the Application of Finance Theory to the Insurance Firm, in: Journal of Financial Services Research, Jg. 1 (1987), H. 1, 57–76. Gensichen, J. / Muth, C. / Butzlaff, M. / Rosemann, T. / Raspe, H. / Müller de Cornejo, G. /  Beyer, M. / Härter, M. / Müller, U. / Angermann, C. / Gerlach, F. / Wagner, E. (2010): Die Zukunft ist chronisch: das Chronic Care-Modell in der deutschen Primärversorgung. Übegreifende Behandlungsprinzipien einer proaktiven Versorgung für chronisch Kranke, in: Zeitschrift ärztl. Fortbildung. Qual. Gesundh.wes. 100: 365–374. Graves, J. (2012): Medicaid Expansion Opt-Outs and Uncompensated Care, in: New England Journal of Medicine 367, 25, 2365–2367.



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Nutzung von GKV-Routinedaten in der Gesundheitsökonomie Dennis Häckl, Holm Sieber und Danny Wende I. Nutzen der gesundheitsökonomischen Forschung

Das Gesundheitswesen ist geprägt von zahlreichen Informationsasymmetrien zwischen den Akteuren Patient (Versicherter), Kostenträger (Versicherer) und Leistungserbringer (beispielsweise Arzt). Aus ökonomischer Perspektive führt dies zunächst zu einem Marktversagen, das letztlich zu dessen Korrektur an vielen Stellen staatliche Eingriffe erfordert. Werden auf vollkommenen Märkten Entscheidungen über Quantität und Qualität von Gütern und Dienstleistungen dezentral durch den Preis als Knappheitsindikator koordiniert, so würde dies im Gesundheitswesen nicht funktionieren. Offensichtlich besitzen Güter und Dienstleistungen im Gesundheitswesen auch spezielle Eigenschaften, die letztlich eine Bewertung von Preis und Qualität nur schwer zulassen (vgl. hierzu auch Häckl 2010). Dem Staat kommt nun eine zentrale Rolle als Entscheidungsträger zu, für die er geeignete Analysen aus der Gesundheitsökonomie benötigt, um knappe Ressourcen effizient einsetzen zu können. Zu beachten ist in diesem Kontext auch die starke Durchsetzung von Partikularinteressen der unterschiedlichen Akteure im Gesundheitswesen, was letztlich eine objektive und transparente Analyse der Wirkungszusammenhänge im Gesundheitssystem erfordert. Die Notwendigkeit gesundheitsökonomischer Forschung begründet sich jedoch nicht nur allein aus dieser Staatsperspektive, sondern auch aus der Perspektive weiterer Akteure wie der Patienten, der Sozialpartner, der Industrie oder beispielsweise der ambulanten Leistungserbringer. Der alleinige Fokus auf die Staatsperspektive würde verschiedene Fragestellungen nicht berücksichtigen. So ist beispielsweise die Lebensqualität bei bestimmten Maßnahmen für den Patienten deutlich relevanter als die Kosten, die für die Bereitstellung der medizinischen Dienstleistung bzw. Infrastruktur zu tragen sind. In diesem Fall wird die Lebensqualität als intangibler Effekt bewertet; dieser Effekt ist bei anderen Perspektiven hingegen nicht relevant. Aus Sicht der Kostenträger können ganz andere Fragestellungen von großem Interesse sein, beispielsweise ob es zwischen Regionen ein unterschiedliches Verschreibungsverhalten von Arzneimitteln gibt oder ob sog.

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D. Häckl, H. Sieber und D. Wende

überversorgte Regionen auch überdurchschnittlich viele Behandlungsfälle aufweisen, was als angebotsinduzierte Nachfrage interpretiert werden könnte. Daneben ist auch der Bereich der Adhärenz von Patienten im Alltag interessierend, was im Rahmen von klinischen Studien aufgrund geringer externer Validität nicht oder nur äußerst unbefriedigend untersucht werden kann. Um diesen unterschiedlichen Blickwinkeln gerecht werden zu können, bedarf es der gesundheitsökonomischen Forschung, die empirisch gestützt sein muss. Einerseits kann diese Forschung die gesundheitspolitische Steuerung auf der Makroebene unterstützen, andererseits aber auch Entscheidungen von Leistungserbringern, Patienten oder den Sozialpartnern erheblich beeinflussen. Diese Art der Forschung sollte nicht nur abstrakt und mit Daten aus der klinischen Forschung durchgeführt, sondern auch um eine Darstellung des Alltags im Sinne eines naturalistischen Designs erweitert werden. Nur so lässt sich eine Repräsentativität der Patienten herstellen, wo es zu keiner erzwungen Adhärenz kommt und auch der Arzt in der Gestaltung der Behandlung frei ist. Daher nimmt die Versorgungsforschung mit Sekundärbzw. Routinedaten eine interessante Rolle ein. Die Routinedaten werden nicht für spezielle (medizinische oder gesundheitsökonomische) Fragestellungen erhoben, sondern sind bereits in Form von Sekundärerhebungen – für beispielsweise die Abrechnung gegenüber den Krankenkassen – vorhanden. Aktuell wird mehr Forschung auf Basis von Routinedaten gefordert, wofür eine zeitnahe Bereitstellung von Routinedaten zentrale Voraussetzung ist. Ferner wird dieses Thema auch von wissenschaftlichen Instituten der Krankenkassen (insbesondere WINEG der Techniker Krankenkasse, aber auch WIdO der AOK) sowie in den Versorgungsforschungsreports der Barmer GEK behandelt. Vorliegender Beitrag beschäftigt sich nun näher mit der Nutzung dieser Daten in der gesundheitsökonomischen Forschung und soll einen Appell für den weiteren Einsatz von Routinedaten darstellen. Der Beitrag diskutiert hierfür, inwiefern Routinedaten der Gesetzlichen Krankenversicherung, die für die Leistungsabrechnung erhoben werden, zur Analyse des Versorgungsgeschehens genutzt und zur gesundheitsökonomischen Beratung eingesetzt werden können. Hierfür wird zunächst näher darauf eingegangen, was unter Routinedaten überhaupt zu verstehen ist. Sodann werden Nutzungsbeispiele und somit die Chancen der Routinedatennutzung vorgestellt, ehe die methodischen Herausforderungen und Grenzen der Nutzung kritisch herausgearbeitet werden. Am Ende des Beitrags wird auf die Forschungsdatenbank für Sekundärdaten eingegangen, die durch das Wissenschaftliche Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung aufgebaut wird.



Nutzung von GKV-Routinedaten in der Gesundheitsökonomie123

II. Routinedaten: Standardisierte Informationen der Krankenkassen Die Routinedaten der Gesetzlichen Krankenversicherung stellen standardisierte Informationen der Krankenkassen dar, die primär zu Abrechnungszwecken erhoben werden (vgl. Klauber 2004). Hierfür bietet der Gesetzgeber im Sozialgesetzbuch V verschiedene Quellen. Zunächst handelt es sich bei den GKV-Routinedaten um die Versichertenstammdaten (§§ 198–206 SGB V), die beispielsweise die Versicherungsnummer, das Geburtsdatum, Geschlecht, Postleitzahl des (aktuellen) Wohnortes, Versicherungsart, Versicherungszeiten, Berufsinformationen, etc. umfassen. Daneben liegen Informationen zu Arbeitsunfähigkeiten (§ 44 SGB V), Arzneimittelverordnungen (§ 300 SGB V), vertragsärztlichen Leistungen (§ 295 SGB V) oder auch der stationären Versorgung (§ 301 SGB V) vor. Zudem bestehen Angaben zu weiteren Bereichen wie ambulantem Operieren oder Ausgaben im Heil- und Hilfsmittelbereich etc. III. „Leistung von Routinedaten“ Aus Perspektive der Krankenversicherung bestehen Informationsasymmetrien hinsichtlich des Nachfrageverhaltens der Versicherten und hinsichtlich des Angebotsverhaltens der Leistungserbringer. Durch Routinedaten der gesetzlichen Krankenversicherung kann neben der Betrachtung von soziodemografischen Kennzahlen (ersichtlich aus Versichertenstammdaten) insbesondere die Nachfrageseite nach medizinischen Leistungen und Gütern aufgezeigt werden. Die Zwecke zur Verwendung der Sozialdaten bei den Krankenkassen sind in § 284 SGB V geregelt und beziehen sich insbesondere auf Versicherte und Leistungsabrechnungen. Routinedaten der GKV sind für alle Fragestellungen medizinischer und gesundheitsökonomischer Forschung geeignet. Auf Grund der Charakteristik der Abrechnungsvorschriften im deutschen Gesundheitssystem enthalten sie Informationen über alle Phasen der Versorgung von Patienten, so dass umfassende und vollständige Versorgungsbiografien abgebildet werden. Dies gilt vor allem seit der Einführung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA), der eine deutliche Ausdehnung der erhobenen Informationen zur Folge hatte. Im Ergebnis sind detaillierte Leistungsdaten aller Leistungserbringer verfügbar. Die routinemäßig erhobenen Abrechnungsdaten bieten viele Vorteile. Sie stellen eine Vollerhebung der gesetzlich Versicherten dar. Typische Probleme der Arbeit mit Stichproben treten somit nicht auf. Es können folglich auch sehr seltene Phänomene untersucht und ausgewertet werden. Da in vielen Fällen seltene Erkrankungen sehr hohe Systemkosten verursachen,

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gibt es somit keine Beschränkungen für gesundheitsökonomische Untersuchungen. Die Nachteile der Arbeit mit Routinedaten sind dagegen gut händelbar. So muss bei Untersuchungen berücksichtigt werden, dass die Daten zum Zweck der Abrechnung und nicht für Forschungszwecke erhoben worden sind. In Einzelfällen ist ein daraus resultierender Bias zu korrigieren. Weiterhin ist es möglich, dass medizinisch interessante aber nicht abrechnungsrelevante Informationen für Untersuchungen nützlich sind. Allerdings lassen sich die Methoden der Feldforschung gut mit der Analyse der Routinedaten kombinieren, so dass auch hier Routinedaten eine wesentliche Bereicherung für die Forschung bieten. Routinedaten sind heute in ähnlichem Umfang und Qualität seit 2008 verfügbar. Damit können Stand heute Patienten-Biografien über fünf Jahre analysiert werden. Da die Daten vollständig vorliegen, können Untersuchungen über so lange Zeiträume sofort durchgeführt werden. Die übliche lange Dauer für medizinische Forschungen, die aus der notwendigen Beobachtung von Kohorten über solch lange Zeiträume begründet ist, entfällt bei der Forschung auf Routinedaten. Dies eröffnet völlige neue Möglichkeiten für die Untersuchung medizinischer und ökonomischer Fragestel­ lungen. Neben der vertikalen Verfügbarkeit bieten Routinedaten aber auch horizontal enorme Vorteile, da die Informationen aller drei Hauptleistungsbereiche, das sind die ambulante und die stationäre Versorgung und die Medikation über die Abrechnungsdaten der Apotheken vorliegen und damit vollständige Versorgungsbiografien in der Breite aufgebaut werden können. Die Beschreibung und Untersuchung der Versorgungsrealität ist damit in einzigartiger Weise möglich. Routinedaten bieten folglich Potenzial für die Untersuchung aller relevanter medizinischen und volkswirtschaftlichen Fragestellungen. Ob es um die Steuerung von Krankheitsverläufen, die Wirkungen von Leitlinien oder neuen Verfahren und Verordnungen, Wirksamkeit von Medikamenten, den Vergleich von Behandlungsalternativen, Nutzen und Adhärenz von Verfahren, usw. geht, Routinedaten bieten eine effiziente und sofort verfügbare Basis für die wissenschaftliche Forschung. IV. Mögliche Forschungsfragen Generell lassen sich Fragestellungen aus Sicht des Staates beantworten, wie beispielsweise die mit einer Krankheit verbundenen Kosten oder Aussagen zur Morbidität in der Gesellschaft. So können auch Aussagen zur Nachfrage nach Arzneimitteln in bestimmten Altersgruppen (beispielsweise



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Kinder) getroffen werden, aber auch die Zahl der Arztkontakte kann ausgewertet werden. Neben dieser vergangenheits- und gegenwartsbezogenen Sicht kann auf den Daten auch eine Schätzung der künftig bei bestimmten Krankheiten zu erwartenden Kosten getroffen werden. Hierfür kann beispielsweise die Entwicklung der codierten Prävalenz in der Vergangenheit betrachtet und unter bestimmten Annahmen für die Zukunft hochgerechnet werden. Für diese Gruppe können dann auch Aussagen zur Arzneimitteltherapie oder zur Inanspruchnahme des ambulanten und stationären Sektors getroffen werden. Neben derartigen Aussagen zum Gesundheitszustand und zum Inanspruchnahmeverhalten von medizinischen Dienstleistungen und Gütern innerhalb der Bevölkerung können auch Informationen zur Angebotsseite erfasst werden. So können beispielsweise regional differenzierte Analysen durchgeführt werden. Eine Fragestellung hierbei könnte sein, ob sich die Zahl von bestimmten operativen Eingriffen je 1.000 Einwohner zwischen den Bundesländern unterscheidet. Ferner könnte ein regional unterschiedliches Verschreibungsverhalten von Arzneimitteln betrachtet und in der Diskussion Gründe hierfür untersucht werden. Derartige Fragestellungen führen zum Bereich der regionalen Variationen im Gesundheitswesen. Hier wird jedoch auch deutlich, dass zur Lösung derartiger komplexer Fragen Routinedaten mit weiteren Daten verknüpft werden müssen, wie beispielsweise sozioökonomischen Daten aus dem Zensus, Daten des Bundesamtes für Statistik oder der INKAR-Datenbank des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumforschung. Letztgenannte Datenbank enthält u. a. Indikatoren zur sozialen Situation (beispielsweise Haushaltseinkommen), aber auch zur medizinischen Versorgung auf Kreisebene. Durch eine geeignete Kombination der Datenbanken könnte insbesondere der Frage nachgegangen werden, ob regional unterschiedliche Ausgaben im Gesundheitswesen auftreten und wodurch diese Variationen erklärt werden. Gesundheitsökonomisch interessant wäre hierbei der Aspekt der angebotsinduzierten Nachfrage, d. h. ob in Versorgungsräumen mit hoher Arzt- und Bettendichte auch überdurchschnittlich hohe Leistungsinanspruchnahmen auftreten. Möglicherweise könnte dies aber auch auf regionale Unterschiede in der Sozialstruktur (beispielsweise Bildung und Einkommen) zurückzuführen sein. Die Routinedaten – auch in Verbindung mit weiteren Daten – leisten letztlich einen zentralen Beitrag zur Verringerung von Informationsasymmetrien insbesondere für die politischen Entscheidungsträger, da sie aus einer Vollerhebung stammen und das reale Versorgungsgeschehen abbilden und nicht unter klinischen Bedingungen entstanden sind. Grundsätzlich liegen hierbei also zahlreiche Informationen zu Versicherten und Patienten vor, die zu vergleichsweise geringen Kosten genutzt werden können. Nach dieser

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kurzen Skizzierung von Anwendungsfeldern und Forschungsfragen soll nun der Einsatz von Routinedaten in der Gesundheitsökonomie knapp kritisch gewürdigt werden. V. Chancen und Limitationen von Routinedaten in der Gesundheitsökonomie Wie bereits aus allgemeiner Sicht dargestellt wurde, besitzt die auf Routinedaten gestützte Forschung einige interessante Aspekte. Im Folgenden sollen kurz verschiedene Forschungsfragen skizziert werden, aber auch Limitationen der Routinedaten beschrieben werden. 1. Chancen

Im Bereich der gesundheitsökonomischen Forschung mit Routinedaten können krankheitsbezogene Studien durchgeführt werden. Hier sind aus gesundheitsökonomischer Sicht zunächst die anfallenden Kosten sowie die Behandlungsverläufe interessant. Daneben ist eine Betrachtung von Behandlungsalternativen wünschenswert, sowohl aus Perspektive des Patienten, aber auch aus Perspektive des Staates, wenn neue Versorgungsformen und Vergütungskonzepte diskutiert werden. Interessierende Fragestellungen können sein, wie ein Krankenhausaufenthalt die Medikation von Patienten verändert. Beispielsweise kann über eine sog. „matched pairs“-Analyse untersucht werden, inwiefern Kosteneinsparungen durch die Einnahme von bestimmten Alternativmedikamenten erzielt werden können. Die Prämisse hierbei ist jedoch, dass sich der medizinische Erfolg und der individuelle Patientennutzen nicht verschlechtern. Bei derartigen Analysen im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Medizin müssen stets auch diese Komponenten betrachtet und beachtet werden, so dass einerseits nicht nur auf Kostenreduktion ohne Einbezug des medizinischen Ergebnisses und andererseits nicht nur auf medizinisches Ergebnis ohne Berücksichtigung der anfallenden Kosten geachtet wird. Ferner können durch die Anwendung von routinedatengestützter Forschung Angaben aus Publikationen zur Prävalenz von Krankheiten überprüft werden. Fragestellungen hierbei sind, inwiefern publizierte Zahlen aus der Literatur mit der Realität übereinstimmen. Bei bestimmten Krankheiten wie der Multiplen Sklerose hat sich gezeigt, dass einige Zahlen in der Literatur, die auf den üblichen medizinischen Studien beruhen, aufgrund der niedrigen Fallzahlen zu deutlich anderen Ergebnissen kommen als es Routinedaten der Krankenkassen belegen. Es kommt zu keinen Verzerrungen wie bei der Forschung mit Primärdaten, beispielsweise bei klinischen Studien. Routinedaten sind daher repräsentativer für Leistungserbringer und Patienten. Somit



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stellen sie eine sehr gute Ergänzung zu den Ergebnissen von klinischen Studien dar, da somit hohe innere Validität (klinische Studien) mit hoher äußerer Validität (Studien mit Sekundärdaten) verbunden wird. Neben diesen Aspekten zeichnet sich die Forschung mit Routinedaten dadurch aus, dass sie zu relativ günstigen Kosten und mit geringem Zeitaufwand erfolgen kann. Eine Überprüfung von vor allem seltenen Krankheiten (Beispiel Multiple Sklerose) kann somit ganz neue Einblicke in die Prävalenz und Inzidenz geben. Im Unterschied zu klinischen Studien, an denen eine vorher genau definierte Patientengruppe teilnimmt, können auf Basis der Routinedatenforschung auch Aussagen zu allen Patientengruppen getroffen werden. Eine Fragestellung hierbei wäre, inwiefern über einen längeren Zeitraum hinweg für verschiedene Patientengruppen andere Erfolgschancen der Behandlung bestehen. Eine umfangreiche Datenbasis bietet zudem die Möglichkeit, die Kontrolle von Erfolgsfaktoren, d. h. Prozedurhäufigkeit, Zahl der Arztkontakte oder auch Kosten im stationären Bereich für Untergruppen der Populationen zu bestimmen. Hierbei können insbesondere Hochkostenpatienten selektiert und nach gemeinsamen Eigenschaften analysiert werden, um aus diesen Erkenntnissen ggfs. spezielle Versorgungsprogramme zu entwickeln. Diese vergangenheits- und gegenwartsbezogenen Analysen können durch die Nutzung von prädiktiven Verfahren auch auf die Zukunft gerichtet werden. So können Kosten, Krankenhausaufenthalte oder die Verschreibungsadhärenz prognostiziert werden und den Kostenträgern oder dem Staat damit ein wichtiges Werkzeug zur Planung zur Verfügung gestellt werden. Gerade für Kostenträger wäre die Identifikation von Risikogruppen zur rechtzeitigen Planung von geeigneten Interventionen interessant; diese könnte einerseits langfristig Kosten sparen (durch die Reduktion von zu erwartenden Krankenhausaufenthalten oder ambulanten Behandlungsfällen), aber auch andererseits den Patientennutzen bzw. die Lebensqualität frühzeitig erhöhen. 2. Limitationen

Generell ist jedoch zu beachten, dass Routinedaten nicht unter klinischen Bedingungen entstanden sind und deren Datenerhebung primär nicht zur Beantwortung von spezifischen Forschungsfragen erfolgte. Anders wäre dies bei einer prospektiven Studie, wo die Datenauswahl und Datenerhebung der Forschungsfrage angepasst wird. Sollen hingegen bestimmte Forschungsfragen im Rahmen der routinedatengestützten Forschung beantwortet werden, so ist dies meist nur unter Zugrundelegung bestimmter Annahmen möglich. Hierbei muss beispielsweise angenommen werden, dass eine richtige und vollständige Kodierung stattfand; bei Analysen zur Arzneimittelversorgung müssten hingegen Annahmen zur Selbstmedikation oder zur

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Adhärenz der Versicherten getroffen werden. Die Aussagekraft derartiger Studien kann jedoch durch die Ergänzung mit Feldstudien (Einsatz von Fragebögen etc.) erheblich verbessert werden. Eine ähnliche Limitation zeigt sich auch darin, dass meist nicht alle interessierenden Daten in den Routinedaten enthalten sind und beispielsweise Aussagen zur Lebensqualität oder der allgemeine Gesundheitszustand, der Blutdruck oder das Gewicht des Patienten nicht aufgeführt werden. Dies schränkt die Nutzbarkeit der Routinedaten für bestimmte Perspektiven und Fragestellungen der Gesundheitsökonomie bzw. der gesundheitsökonomischen Evaluation ein. Jedoch verbessert sich die Eignung der Routinedaten für die gesundheitsökonomische Forschung auch durch eine Erweiterung der Abrechnungsinformationen; so enthält die aktuelle ICD-10 Version auch den sog. Barthel-Index, durch den die aktuellen Fähigkeiten eines Patienten bewertet werden. Gleichwohl muss auch darauf hingewiesen werden, dass durch die Ausdifferenzierung des DRG-Systems und die hohe Anzahl an ICDs ein sehr komplexes System entstanden ist und die Qualität der routinedatengestützten Forschung erheblich von der Kodierqualität abhängig und somit auch eingeschränkt sein kann. Bei der Perspektive des Kostenträgers erscheint die Eignung der Sekundärdaten zur Beantwortung bestimmter Forschungsfragen weniger problematisch als bei der Perspektive des Patienten. Primär sind direkte Effekte (Kosten der Leistungserbringung nach DRG, Anzahl der Krankenhausaufenthalte je Versicherten, Anzahl der Facharztkontakte etc.) und nicht die intangiblen Effekte wie Lebensqualität von Interesse. Betrachtet man die Übertragbarkeit der Ergebnisse derartiger Studien auf eigene (Krankenkassen individuelle) Fragestellungen, so sind methodische Aspekte entscheidend. Beispielsweise ist die Fragestellung der Repräsentativität der Stichprobenpopulation bzw. die Übereinstimmung mit den eigenen mit den eigenen Versicherten zu beachten. Dies ist v. a. bei einer Übertragung von Studienergebnissen, die auf Basis von GKV-Routinedaten ermittelt wurden, auf Fragestellungen einer privaten Krankenversicherung nicht trival. Hier ist eine soziodemographisch unterschiedliche Versichertenstruktur, die Wirkung von Selbstbehalten auf das Inanspruchnahmeverhalten des Versicherten oder auch ein möglicherweise abweichendes Behandlungsverhalten des niedergelassenen Arztes aufgrund unterschiedlicher finanzieller Anreizsysteme zu berücksichtigen. Ehe eine Übertragung der Studienergebnisse möglich ist, müssen daher verschiedene Annahmen zu diesen skizzierten Problembereichen getroffen werden. Wie weiter oben ausgeführt, enthalten Routinedaten in vielen Fällen nicht alle zur Beantwortung einer bestimmten Forschungsfrage relevanten Informationen, wie beispielsweise die Lebensqualität des Versicherten. Hier treten gerade auch bei der Betrachtung von medizinischen Fragestellungen oftmals Probleme auf. So sind beispielsweise Effekte der Selbstmedikation nicht



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primär in den Abrechnungsdaten enthalten. Einerseits entstehen durch Selbstmedikation (OTC-Präparate) Kosten aus Perspektive des Patienten, doch kann Selbstmedikation auch durch eine ungünstige Wechselwirkung mit verschriebenen Medikamenten letztlich zu höheren Kosten beispielsweise im stationären Sektor aus Sicht des Kostenträgers führen. Beide Effekte sind jedoch nicht eindeutig in den Routinedaten ersichtlich. Gleiches gilt auch für mangelnde Therapietreue (Non-Adhärenz) der Versicherten, die in den Routinedaten natürlich nicht als Merkmal enthalten sein kann, aber zu sehr hohen direkten und indirekten Kosten führt. Neben dieser durch die Abrechnungslogik bedingten Unvollständigkeit der Daten können die Merkmale falsch erhoben worden sein. So können bestimmte Therapien (absichtlich oder unabsichtlich) falsch codiert worden sein, was letztlich die Aussagen einer Studie verfälschen kann. Daneben können die Daten schlichtweg falsch oder unvollständig erfasst worden sein. Neben diesen methodischen Herausforderungen ist ferner der zeitliche Bezug der Routinedaten zur Gegenwart als ein Kritikpunkt darzustellen. So sollen durch das DIMDI zwar Ende 2013 nach dem Aufbau der Datenaufbereitungsstelle Daten zur Verfügung gestellt werden, jedoch war für 2013 erst die Zurverfügungstellung der Daten aus dem Jahr 2008 geplant (vgl. Datentransparenzverordnung aus dem Jahr 2012 sowie § 303 SGB V). VI. Nutzbarkeit Um diesen Defiziten entgegenwirken zu können, muss die Nutzbarkeit der Daten zunächst geprüft und dann gewisse Annahmen für deren Verarbeitung im gesundheitsökonomischen Kontext getroffen werden. Hierzu haben sich in der Vergangenheit bestimmte Instrumente und Methoden der Validierung (beispielweise der internen Validierung von Diagnosen) in der Wissenschaft etabliert. Derartige Standards sind bereits anerkannt und hinreichend beschrieben, beispielsweise in Bundesgesundheitsblatt (2008) zu den Routinedaten für die Versorgungsforschung, in Mansky / Robra / Schubert 2012, in Swart / Ihle 2005* oder in AGENS (2012). In diesem Zusammenhang sind auch methodische Standards etabliert, um die reinen Routinedaten der GKV mit Daten aus anderen Quellen zu verbinden. Der Nutzen derartiger Datenverknüpfungen wurde bereits weiter oben ausgeführt. 1

*  Hier ist eine vollständig überarbeitete Neuauflage in Druck: Swart / Ihle / Gothe /  Matusiewicz (2014) in Druck.

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VII. Forschungsdatenbank für Sekundärdaten In Kooperation mit einigen Krankenkassen soll ein System zur Forschung mit Routinedaten innerhalb des Wissenschaftlichen Instituts für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung aufgebaut werden. Die Daten werden von verschiedenen Krankenkassen im Rahmen der Auftragsdatenverarbeitung an die Forschungsdatenbank geliefert und halbjährlich in anonymisierter Form bereitgestellt. In einer hochsicheren Infrastruktur werden sie sodann für Analysezwecke aufbereitet. Das Anonymisierungsverfahren ist datenschutzrechtlich geprüft, abgesichert und ermöglicht eine kassensowie zeitübergreifende Identifikation der anonymen Individuen. Mit der Forschungsdatenbank können u. a. krankheitsbezogene Studien durchgeführt werden. Sie erlaubt aber auch das (partielle) Aufdecken der eingangs skizzierten Informationsasymmetrien, so zwischen Leistungserbringern und Leistungserstattern. VIII. Schlussgedanken Vorliegender Kurzbeitrag befasste sich mit der Nutzung von GKV-Routinedaten im Rahmen der gesundheitsökonomischen Forschung. Es sollten darin einige Forschungsfragen skizziert und dadurch auf Möglichkeiten und Grenzen der routinedatengestützten Forschung eingegangen werden. Letztlich zeigt sich, dass durch die Weiterentwicklung von Forschungsmethoden bzw. Instrumenten und der Etablierung von Standards die Vorteile deutlich stärker sind als die Nachteile. Daher sollte durch die Politik die Forschung mit derartigen Daten auch weiterhin unterstützt werden. Der im Koalitionsvertrag skizzierte Innovationsfonds, durch den auch Mittel für Evaluationen bereitgestellt werden sollen, stellt hierbei einen richtigen und sinnvollen Schritt dar. Kritisch anzumerken ist der zeitliche Bezug der Daten. Diese sollten möglichst zeitnah für die Forschung bereitgestellt werden. Ferner muss die aktuelle Diskussion um Datenschutz weiterverfolgt werden, die im Kontext von offensichtlich unzureichend verschlüsselten Rezeptdaten Mitte 2013 aufflammte. Sicherlich treten durch Anonymisierung und Pseudonymisierung Informationsverluste auf, die einige Forschungsfragen dann nicht mehr eindeutig beantworten lassen. Jedoch muss dies in Kauf genommen werden, damit durch strikten Datenschutz letztlich auch eine Akzeptanz bei allen Akteuren für Forschung, die auf Routinedaten gestützt ist, geschaffen werden kann bzw. nicht verletzt wird.



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Literatur AGENS – Arbeitsgruppe Erhebung und Nutzung von Sekundärdaten der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention und der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (Hrsg.) (2012): Gute Praxis Sekundärdatenanalyse (GPS) – Leitlinien und Empfehlungen [online abrufbar unter http: /  / dgepi.de / fileadmin /  pdf / leitlinien / GPS_fassung3.pdf (letzter Zugriff am 31.01.2014)]. Bundesgesundheitsblatt (2008): Nutzung von Sekundärdaten, 10. Häckl, D. (2010): Neue Technologien im Gesundheitswesen: Rahmenbedingungen und Akteure, Wiesbaden. Klauber, J. / Robra, B.-P. / Schnellschmidt, H. (2004): Krankenhaus-Report, 1. Mansky, T. / Robra, B.-P. / Schubert, I. (2012): Qualitätssicherung: Vorhandene Daten besser nutzen, Dtsch Arztebl 2012, 109, 21, A-1082 / B-928 / C-920. Swart, E. / Ihle, P. (Hrsg.) (2005): Routinedaten im Gesundheitswesen. Handbuch Sekundärdatenanalyse. Grundlagen, Methoden und Perspektiven, 1. Swart, E. / Ihle, P. / Gothe, H. / Matusiewicz, D. (Hrsg.) (2014): Routinedaten im Gesundheitswesen. Handbuch Sekundärdatenanalyse. Grundlagen, Methoden und Perspektiven, 2, in press.

Kosten und Nutzen – Gesundheitsökonomische Analyse und normative Implikationen Bernd Friedrich, Michael Lauerer, Constanze Klug, Isabel Schmidt und Klaus Nagels I. Einleitung Das deutsche Gesundheitswesen gehört trotz der nicht voll ausgeschöpften Effizienzpotenziale zu den leistungsfähigsten der Welt. Es kann sich durch hohe Verfügbarkeit personeller und materieller Ressourcen auf eine sehr gute Versorgungsstruktur stützen. Der Zugang zu Versorgungsleistungen ist im Vergleich zu anderen Gesundheitssystemen kaum reglementiert, Wartezeiten für dringliche Behandlungen haben im internationalen Vergleich keine große Bedeutung. Die Inanspruchnahme von Leistungen ist hoch. Im internationalen Vergleich ist deshalb das hohe Ausgabenniveau nicht überraschend (Lauerer / Emmert / Schöffski 2013). Trotz der beträchtlichen Ausgaben für Gesundheit scheint die Finanzierung kurzfristig grundsätzlich gesichert, wenn man die entsprechenden Projektionen des Schätzerkreises der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) analysiert (Bundesversicherungsamt 2013). Die gesetzlichen Krankenkassen erzielten in der jüngsten Vergangenheit Rekordüberschüsse. Eine Fortsetzung dieses positiven Trends ist allerdings mittel- und langfristig ungewiss. Demographische und damit verbundene gesamtwirtschaftliche Effekte, wie beispielsweise die Abnahme der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, stagnierendes volkswirtschaftliches Wachstum oder auch die sinkende Zahl der Beitragszahler, werden langfristig in Form von Beitragssteigerungen oder Leistungsanpassungen wirksam werden. Zahlreiche Maßnahmen, darunter die Einführung von Fallpauschalen in der stationären Versorgung, von Regelleistungsvolumina und Arzneimittelbudgets in der ambulanten Versorgung oder der frühen Nutzenbewertung in der Arzneimittelversorgung, wurden ergriffen, um kostendämpfend wirkende Steuerungselemente zu etablieren. Auch für die direkte Begrenzung des Leistungskatalogs finden sich zahlreiche Beispiele. So sind etwa nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel nicht erstattungsfähig, Sehhilfen i. d. R. von der Kostenübernahme ausgenommen und der befundbezogene Festzuschuss für Zahnersatz deckt nur etwa die Hälfte der Regelversorgung ab. Medizinischer Fortschritt und demographische Effekte lassen

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den Druck auf die weitere Systemtransformation nicht abklingen. Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass die Diskussion um die Grenzen des Gesundheitswesens bzw. Prioritäten der Versorgung wenig offen geführt wird (Jachertz / Rieser 2007; Lübbe 2011; Oduncu 2013). Wenn auch in Zukunft nicht auf die medizinisch indizierte Behandlung einer gravierenden Erkrankung verzichtet werden muss, scheint offensichtlich, dass zu keinem Zeitpunkt eine maximale, unerschöpfliche und stets verfügbare Versorgung für jeden Patienten möglich sein kann. Dies wird etwa daran deutlich, dass die Intensivbetten, Schockräume und Operationssäle in einem Krankenhaus quantitativ begrenzt sind. Auch die Dichte an Krankenhäusern selbst, an Rettungswagen oder Notarzt-Standorten und Rettungshubschraubern ist begrenzt. Es wäre möglich, diese im Regelfall und meist darüber hinaus ausreichend zur Verfügung stehenden Strukturen weiter auszubauen. Dies würde allerdings bedeuten, Ressourcen einzusetzen, die dann an anderer Stelle fehlen. Der demographische und epidemiologische Wandel1 (siehe hierzu den Beitrag von Schmidt, Bayerl und Nagels in diesem Band) sowie der medizinische Fortschritt könnten zu einer Verschärfung des ökonomischen Drucks führen (Nagel / Alber / Bayerl 2010; Jachertz / Rieser 2007; Fuchs 2010; Beske 2010). Die Knappheit an Ressourcen zwingt uns aber schon heute – wenngleich auf sehr hohem Niveau – über einen effizienten und gerechten Mitteleinsatz zu entscheiden (Strech / Danis et al. 2009). Der Deutsche Ethikrat konstatiert in einer Stellungnahme zu Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen, dass bei Verteilungsentscheidungen nicht nur medizinische und ökonomische Expertise notwendig sei. Auch eine rechtliche und ethische Reflexion von Ansprüchen und Verteilung im Sinne sozialer Gerechtigkeit sei zwingend erforderlich. Die von der Gesundheitsökonomie entwickelten Methoden der Kosten- und Nutzenbewertung intendierten die Effizienzsteigerung im Gesundheitswesen und seien in ihrer Analyse ökonomisch angelegt. Die Art ihrer Nutzung als Entscheidungsbasis könne aber keinesfalls als wertfrei gelten, sondern werfe zahlreiche normative Fragen auf (Deutscher Ethikrat 2011). Dieser Beitrag gibt einen Überblick über gesundheitsökonomische Kosten-, Nutzen- und Kosten-Nutzen-Bewertungen und diskutiert deren normative Implikationen. Dabei soll zum einen dem besonderen Charakter des Gutes Gesundheit und zum anderen den Besonderheiten von Gesundheitsgüter betreffenden Allokationsentscheidungen Rechnung getragen werden.

1  Die als demographischer Wandel bezeichnete Entwicklung hin zu einem wachsenden Anteil der älteren und hochaltrigen Bevölkerung geht mit einer Änderung des Krankheitspanoramas einher. Durch die zunehmende Alterung nimmt die Zahl an chronisch-degenerativen Erkrankungen (epidemiologischer Wandel) zu.



Gesundheitsökonomische Analyse und normative Implikationen135

II. Allokation, Rationalisierung, Rationierung und Priorisierung Unter Knappheitsbedingungen stellt sich die Frage der Allokation verfügbarer Mittel auf verschiedenen Ebenen. Diese reichen von einer übergeordneten, gesamtgesellschaftlichen (Makro-)Ebene, auf der etwa unterschiedliche öffentliche Sektoren wie das Gesundheitswesen, die Landesverteidigung, der Bildungssektor oder die innere Sicherheit um das in einer Volkswirtschaft verfügbare öffentliche Budget konkurrieren, bis zur Allokation auf individueller (Mikro-)Ebene, die die Versorgung des einzelnen Patienten betrifft (Engelhardt 1996; Gosepath 2006; Jachertz / Rieser 2007). Im Umgang mit knappen Ressourcen stehen unterschiedliche Optionen zur Disposition. Zunächst spricht vieles dafür, dass die Rationalisierung die erste, rational begründete Wahl ist (ZEKO 2007; Gosepath 2006; Nagel / Alber /  Bayerl 2010; Fuchs / Nagel / Raspe 2009). Ziel ist es, entweder bei gegebenen Kosten höheren Nutzen zu erzielen oder bei gegebenem Nutzen Kosten zu senken. Sind Effizienzsteigerungen realisierbar, ohne eine betroffene Person schlechter zu stellen (Gosepath 2006; Fuchs / Nagel / Raspe 2009; Nagel / Alber / Bayerl 2010), ist diese Form der Rationalisierung tatsächlich jeder Form des Vorenthaltens nutzenstiftender Leistungen vorzugswürdig. Wird der Nutzen aber nicht auf die individuelle Person bezogen, sondern auf ein Kollektiv, können Einzelne oder Gruppen durch die „Umverteilungen von Mitteln an den nutzenproduktivsten Ort ihrer Verwendung“ (Deutscher Ethikrat 2011) benachteiligt werden. Für die Benachteiligten wirkt sich die Rationalisierung dann als Rationierung aus (Deutscher Ethikrat 2011). Unter dem Begriff der Rationierung versteht der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen die „Verweigerung oder Nichtbereitstellung von Behandlungsleistungen trotz Nachfrage und zugleich festgestelltem objektivem Bedarf (oder latentem Bedarf)“ (Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen 2001). Dieser Bedarf besteht regelmäßig dann, wenn eine medizinische Indikation vorliegt. Rationierung hat demnach zur Folge, dass bestimmte medizinisch indizierte Maßnahmen nicht gewährleistet werden, um die begrenzten Ressourcen für die Versorgung mit anderen Maßnahmen sicherzustellen. Der Rationierungsbegriff wird im weiteren Sinne auch auf das Aus- oder Zuteilen von Ressourcen bezogen (Raspe /  Schulze 2013; Fuchs / Nagel / Raspe 2009). Die entscheidende Herausforderung besteht darin, Kriterien für die Vorrangigkeit zu identifizieren und medizinische Maßnahmen danach in eine Rangfolge zu bringen. Dies ist Gegenstand der Priorisierung. Eine Begriffsbestimmung der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) definiert Priorisierung als „die ausdrückliche Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter Untersuchungs- und Behandlungsmethoden vor anderen. […]

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Grundsätzlich führt Priorisierung zu einer mehrstufigen Rangreihe. An deren oberen Ende steht, was nach Datenlage und fachlichem wie öffentlichem Konsens als unverzichtbar bzw. wichtig erscheint, am Ende das, was wirkungslos ist bzw. mehr schadet als nützt. Nicht nur Methoden, sondern auch Krankheitsfälle, Kranken- und Krankheitsgruppen, Versorgungsziele und vor allem Indikationen […] können priorisiert werden“ (ZEKO 2007). Die Verteilung knapper Ressourcen bzw. Rationierung von Leistungen kann sich an Prioritätenlisten orientieren. Die Sinnhaftigkeit der Priorisierung besteht aber unabhängig von einer (zunehmenden) Verknappung. Auch zusätzlich zur Verfügung stehende Mittel müssen nach Prioritäten verteilt werden. Im deutschen Gesundheitssystem zeichnet sich eine Budgetierung auf Mesoebene ab. Exemplarisch können an dieser Stelle Regelleistungsvolumina und Arzneimittelbudgets angeführt werden. Explizite Handlungsanweisungen für die Allokation auf der nachgelagerten Mikroebene fehlen aber. Dies führt tendenziell dazu, dass die Knappheit durch die Leistungserbringer auf individueller Patientenebene verwaltet werden muss. Dabei ist zu beachten, dass die implizite Rationierung zu nicht intendierten, dem gerechten Zugang zur medizinischen Versorgung entgegenstehenden Effekten führen und das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis gefährden kann. Eine Verantwortungsübernahme durch Entscheidungsträger und Gesellschaft bleibt bislang aus. Im Vergleich zu zahlreichen anderen Staaten steckt die Diskussion um Priorisierung und explizite Rationierung im Sinne des angelsächsischen Sprachgebrauchs noch in den Kinderschuhen (Raspe / Schulze 2013). III. Nutzenerfassung Vor dem Hintergrund knapper Ressourcen hat die Gesundheitsökonomie auf internationaler Ebene Standards zur Bewertung von medizinischen Leistungen entwickelt, die sich auf die Kosten und / oder den Nutzen der Intervention beziehen, und im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen als Basis für Allokationsentscheidungen dienen können. Die Methodik zur Erhebung und Bewertung von Kosten und Nutzen hat dabei maßgeblichen Einfluss auf das Ergebnis dieser Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen (Greiner / Damm 2012). Die systematische Ermittlung des Nutzens und der Kosten ist komplex: Der Nachweis des Nutzens setzt einen kausal begründeten positiven Effekt der Maßnahme gegenüber einer definierten Vergleichstherapie, einer Placebo-Behandlung oder keiner Behandlung voraus (IQWiG 2011). In diesem Zusammenhang nehmen für die Nutzenbestimmung die patientenrelevanten Endpunkte Mortalität, Morbidität sowie Lebensqualität eine zentrale Rolle ein (G-BA 2013; IQWiG 2013). Der Rückgriff auf schneller und leichter zu



Gesundheitsökonomische Analyse und normative Implikationen137

ermittelnde Surrogatendpunkte2 als Ersatz für die Bestimmung des Nutzens sollte nur in denjenigen Fällen stattfinden, in denen die Vergleichbarkeit der Wirkmechanismen zwischen dem Surrogatendpunkt und dem patientenrelevanten Endpunkt statistisch belegt ist (z.  B. Fleming / DeMats 1996; Icks / Chernyak et al. 2010). Allgemein ist zu berücksichtigen, dass das Ausmaß des identifizierten Nutzens einer medizinischen Maßnahme von den Rahmenbedingungen der Messung abhängt. Die Wirksamkeit unter Ideal­ bedingungen (efficacy), z. B. im Rahmen einer klinischen Studie, weicht regelmäßig von der Wirksamkeit unter versorgungsnahen Alltagsbedingungen (effectiveness) ab (Kunz / Ollenschläger et al. 2007). Um im Rahmen einer umfassenden Nutzenbetrachtung unterschiedliche Nutzenaspekte einer medizinischen Maßnahme berücksichtigen zu können, werden diese zu einem gewichteten Nutzwert aggregiert. Hierfür finden unterschiedliche Konzepte zur Komplexitätsreduktion Anwendung. Als prominentestes Nutzwertmaß gilt gegenwärtig das Konzept der qualitätskorrigierten Lebensjahre, kurz QALY für quality-adjusted life-years (Schöffski / Greiner 2012). QALYs werden durch die Multiplikation der Restlebenserwartung als quantitative Gesundheitsdimension und der Lebensqualität als qualitative Dimension ermittelt (Klarman / Francis / Rosenthal 1968; die erstmalige Verwendung des Akronyms findet sich bei Weinstein / Stason 1977). Darüber hinaus existiert eine Vielzahl alternativer und vergleichbarer Konzepte, wie beispielsweise die healthy years equivalents (HYE) als individuelle Nutzenfunktion einer bestimmten Anzahl von Jahren mit uneingeschränkter Gesundheit (Mehrez / Gafni 1989; Birch / Gafni 1992), disabilityadjusted life years (DALY) mit Bezug auf spezifische Erkrankungen (Murray / Acharya 1997; Gold / Stevenson / Fryback 2002) sowie weitere Ansätze, die sich zum Teil nur schwer vom QALY-Konzept abgrenzen lassen (Schöffski / Greiner 2012). Trotz der generell leichten Nachvollziehbarkeit dieser Konzepte sind jedoch einige der zugrunde liegenden Annahmen im Hinblick auf die methodische Herangehensweise kritisch zu betrachten. Ein grundsätzliches Problem stellt insbesondere das hohe Aggregationsniveau dar (Duru / Auray et al. 2002). Darüber hinaus führt die Berücksichtigung der wahrgenommenen Lebensqualität zu einer gewissen Subjektivität, so dass Faktoren wie Alter oder Schweregrad einer Erkrankung – also das Niveau der Lebensqualität – einen verzerrenden Einfluss ausüben (Johannesson / Johansson 1997; Neumann / Goldie / Weinstein 2000; Lübbe 2010). 2  Surrogatendpunkte liegen zwischen der Diagnose einer Erkrankung und dem Auftreten eines harten klinischen Endpunktes, wie Morbidität oder Mortalität. Die Änderung eines Surrogatendpunkts ermöglicht somit die Vorhersage der Änderung eines harten Endpunkts. Bei onkologischen Erkrankungen stellt z. B. die Tumorprogression einen Surrogatendpunkt für den harten Endpunkt Gesamtüberleben dar (Düsing 2006; Pazdur 2008).

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IV. Kostenerfassung In gesundheitsökonomischen Evaluationen werden die Kosten meist in direkte und indirekte Kosten unterteilt. Direkte Kosten sind der monetär bewertete, materielle und immaterielle Ressourcenverbrauch, der innerhalb des medizinischen Bereichs anfällt. Hierzu zählen beispielsweise ambulante Arztbesuche, stationäre Krankenhausaufenthalte, Rehabilitation, Heil- und Hilfsmittel oder Medikamente. Zusätzlich umfassen die direkten Kosten auch den nicht-medizinischen Mittelverbrauch, wie Fahrtkosten, Geräte, Investitionen oder Dienstleistungen. Diese entstehen als Folge der Behandlung oder Erkrankung (Kobelt 2002; IQWiG 2008; Greiner / Damm 2012). Die Ermittlung der Kosten erfolgt in drei Schritten (Greiner / Damm 2012): – Identifikation relevanter Kostenkomponenten, – Messen der Ressourcenverbräuche, – Monetäre Bewertung der Ressourceneinheiten. Für die monetäre Bewertung werden Gebührenordnungen oder Abrechnungsstandards herangezogen (Greiner / Damm 2012). Hierfür existieren Empfehlungen, jedoch keine einheitlichen Bestimmungen (z. B. Krauth / Hessel et al. 2005; Braun / Prenzler et al. 2009; Prenzler / Zeidler et al. 2010). Einerseits können die Daten mittels des top-down orientierten „macrocosting“-Ansatzes ermittelt werden, d. h. die Kosten werden auf Grundlage von aggregierten Daten auf Bevölkerungsebene unter Berücksichtigung der Forschungsfrage berechnet. Der bottom-up orientierte „micro-costing“-Ansatz ermittelt hingegen zunächst Kosten auf Patientenebene und rechnet diese anschließend für aggregierte Einheiten, wie z. B. die Gesamtbevölkerung, hoch (Greiner / Damm 2012). Als Datengrundlage sind – in Abhängigkeit von der Zielsetzung – verschiedene Datenquellen geeignet. So können administrative Daten von Krankenkassen, Daten von Leistungserbringern oder aggregierte Daten verwendet werden. Darüber hinaus wird zunehmend der Patient direkt befragt, z. B. mittels Patiententagebüchern oder durch den Einsatz von Fragebögen (Greiner / Damm 2012). Bei Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen können die direkten Kosten einer medizinischen Maßnahme oder Erkrankung immer aus unterschiedlichen Perspektiven ermittelt werden. Je nach Untersuchungsziel kommen bei einzelwirtschaftlichen Analysen Leistungserbringer, Kostenträger oder Patienten in Frage. Dahingegen umfasst die gesamtgesellschaftliche Perspektive die Erfassung aller anfallenden direkten Kosten (Greiner / Damm 2012). Auch im internationalen Kontext treten deutliche



Gesundheitsökonomische Analyse und normative Implikationen139

Unterschiede auf: So nimmt etwa das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) die Perspektive des Nationalen Gesundheitsdienstes ein. In Deutschland hingegen fordert das Sozialgesetzbuch (SGB) V den Blickwinkel der Versichertengemeinschaft für Wirtschaftlichkeitsuntersuchungen (Graf von der Schulenburg 2012, § 35 I SGB V). Neben direkten Kosten sind indirekte Kosten in gesundheitsökonomischen Evaluationen von besonderer Relevanz (Greiner / Damm 2012). Hierunter ist der volkswirtschaftliche Produktionsverlust zu verstehen, der aus krankheitsbedingtem Arbeitsausfall, Invalidität oder frühzeitigem Tod resultiert (IQWiG 2008). Meist wird zur Berechnung der indirekten Kosten der Humankapitalansatz verwendet (Greiner / Damm 2012). Dieser nutzt das Einkommen des Betroffenen zur Berechnung des Produktivitätsverlustes und diskontiert dieses bis zum statistisch zu erwartenden Verrentungsalter auf den Betrachtungszeitpunkt (IQWiG 2008; Greiner / Damm 2012). Kritisiert wird u. a. die Annahme des vollkommenen Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt (IQWiG 2008; Koopmanschap / Rutten et al. 1997; Greiner / Damm 2012). Nicht selten kommt es hier zu einer Überschätzung der indirekten Kosten. Mittels des Friktionskostenansatzes (Koopmanschap / Rutten et al. 1995) sollen die unrealistischen Annahmen des Humankapitalansatzes umgangen werden. Es wird unterstellt, dass die Kosten des Produktionsausfalls bei langfristiger Erwerbsunfähigkeit nur auf den Zeitraum der Vakanz zutreffen, d. h. bis der Patient durch eine andere Arbeitskraft ersetzt wird. Bei kurzfristigem Arbeitsausfall wird angenommen, dass die Produktion teilweise von Kollegen übernommen wird bzw. nachgearbeitet werden kann. So wird einer tendenziell-systematischen Überschätzung der indirekten Kosten entgegengewirkt. Aus methodischer Sicht wird jedoch kritisiert, dass sich der Friktionskostenansatz ausschließlich auf die Erwerbstätigkeit beschränkt, wohingegen der Humankapitalansatz z. B. auch auf Hausarbeit übertragbar ist (IQWiG 2008). Demzufolge bedarf auch dieser Ansatz einer Weiterentwicklung (Greiner / Damm 2012). V. Gesundheitsökonomische Evaluationen Gesundheitsökonomische Evaluationen, die sich auf den Nutzen und / oder die Kosten einer medizinischen Leistung beziehen, können in Abhängigkeit des Untersuchungsgegenstandes und des Studienzwecks auf unterschiedliche Analyseformen zurückgreifen. Während die Kosten-Analysen sowie die Krankheitskostenstudien nicht-vergleichende Analysen sind, bilden KostenKosten-Analysen, Kosten-Nutzen-Analysen, Kosten-Wirksamkeits-Analysen und Kosten-Nutzwert-Analysen die vergleichenden Verfahren (siehe folgende Tabelle).

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B. Friedrich, M. Lauerer, C. Klug, I. Schmidt und K. Nagels Kategorisierung gesundheitsökonomischer Evaluationen Gesundheitsökonomische Evaluationen

Nicht-vergleichende Analysen KostenAnalyse

Krankheits­ kostenAnalyse

Vergleichende Analysen KostenKostenAnalyse

KostenNutzenAnalyse

KostenWirksamkeits-Analyse

KostenNutzwertAnalyse

Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Schöffski (2012).

Im Gegensatz zu den nicht-vergleichenden Analyseformen wird bei Studienformen mit vergleichendem Charakter neben den Kosten auch der Nutzen in die Betrachtung einbezogen. Der Unterschied der Studienformen liegt insbesondere in der Art der Ermittlung des medizinischen Ergebnisses (Schöffski 2012). – Kosten-Analysen (cost analysis, cost identification analysis) beinhalten die reine Kostenerfassung einer Maßnahme. Diese einfachste Analyseform betrachtet alle Kosten, die in direkter Verbindung mit der Intervention stehen oder zur Durchführung dieser notwendig sind, z. B. auch die Behandlung von Nebenwirkungen (Schöffski 2012). – Krankheitskostenstudien (cost-of-illness analysis) ermitteln die Gesamtkosten einer Erkrankung aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive. Sie sollen die volkswirtschaftliche Bedeutung einer Erkrankung aufzeigen, die sowohl den direkten als auch den indirekten Kosten einer Erkrankung geschuldet ist. Ziel dieser Analyseform ist es nicht, Entscheidungen bzgl. Alternativen abzuleiten, sondern vielmehr eine (Diskussions-)Basis für Allokationsentscheidungen zu schaffen (Schöffski 2012). – Kosten-Kosten-Analysen (cost-cost analysis, cost-minimization analysis) berechnen die Kosten von mindestens zwei medizinischen Maßnahmen mit Blick auf die kostengünstigere Alternative. Voraussetzung ist, dass die medizinischen Ergebnisse der untersuchten Maßnahmen gleich sind bzw. ein Ergebnis eindeutig besser ist und die Analyse im gleichen Kontext stattfindet (Schöffski 2012). – Kosten-Nutzen-Analysen (cost-benefit analysis, benefit-cost analysis) gelten als klassische Analyseform der gesundheitsökonomischen Evaluation, wobei sowohl die Kosten als auch der Nutzen monetär bewertet werden. Der Nutzen entspricht den Kosten der Behandlungsalternative, die durch den Einsatz umgangen werden können. Ebenso werden die intangiblen Kosten- und Nutzenbestandteile, wie z. B. Lebensqualität, in Geldeinheiten bewertet (Wille 1996). Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern ist diese Analyseform in Deutschland aufgrund ihrer mo-



Gesundheitsökonomische Analyse und normative Implikationen141

netären Bewertung aller Parameter umstritten (Schöffski 2012). Sie fungiert dennoch als Entscheidungsbasis zum Einsatz von öffentlichen Mitteln (Graf von der Schulenburg 2012). – Kosten-Wirksamkeits-Analysen (cost-effectiveness analysis) umgehen das Problem der monetären Nutzenbewertung, indem Mediziner „naheliegende natürliche Einheiten“ (Schöffski 2012; Drummond / Teeling Smith / Wells 1989) als Zielgröße der medizinischen Maßnahmen festlegen, beispielsweise eine Senkung des Blutdrucks. Anhand eines Kosten-WirksamkeitsQuotienten können verschiedene medizinische Maßnahmen folglich ausschließlich auf die Kosten beschränkt werden (Häussler / Ecker 2004; Schöffski 2012). Solche Vergleiche sind jedoch nur innerhalb identischer Indikationen möglich. – Kosten-Nutzwert-Analysen (cost-utility analysis) bewerten im Gegensatz zu den eher technisch definierten Kriterien der Kosten-WirksamkeitsAnalyse die medizinischen Maßnahmen aus Perspektive des Patienten und normieren die Behandlungsergebnisse. Es werden Nutzwerte, z. B. QALYs, ermittelt und den Kosten gegenübergestellt (Schöffski 2012). VI. Besondere Aspekte bei Kosten-Nutzen-Analysen innerhalb einer Indikation Für die Bewertung von Kosten-Nutzen-Analysen erscheint eine Unterscheidung zwischen Evaluationen innerhalb einer Indikation und über Indikationen bzw. Versorgungsbereiche hinweg angebracht: Diese Formen der Evaluation werfen zum Teil unterschiedliche normative Fragen auf. Im deutschen Gesundheitswesen sind Kosten-Nutzen-Bewertungen innerhalb einer Indikation nach § 35b SGB V nur für Arzneimittel ausdrücklich vorgeschrieben (IQWiG 2013). Seit der Einführung des Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes (AMNOG) im Jahre 2011 – mit dem Ziel, die steigenden Ausgaben für Arzneimittel einzudämmen – ist die Zulassung des Medikaments allein nicht mehr ausreichend für seine Erstattung (Penske 2011). Der Schwerpunkt des AMNOGs ist die verbindliche, frühe Nutzenbewertung von Arzneimitteln innerhalb von 3 Monaten nach der Markteinführung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Grundlage ist das Nutzendossier des Herstellers, in dem vor allem der Zusatznutzen nachgewiesen werden soll. Liegt ein Zusatznutzen gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie vor, wird der Erstattungspreis zwischen den Krankenkassen und dem pharmazeutischen Hersteller innerhalb eines Jahres nach Markteinführung verhandelt. Liegt kein Zusatznutzen vor, wird das Arzneimittel in eine Festbetragsgruppe eingeordnet (BMG 2010; Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversiche-

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rung 2010). Explizit kommen Kosten-Nutzen-Bewertungen seit der Einführung des AMNOGs nur dann zum Einsatz, wenn bei den Verhandlungen zwischen Hersteller und GKV-Spitzenverband keine Einigung erzielt wird bzw. wenn der Hersteller den von der Schiedsstelle festgesetzten Erstattungsbetrag nicht anerkennt. Auch kann der Hersteller eine Kosten-NutzenBewertung fordern, wenn in früheren Nutzenbewertungen durch den G-BA kein Zusatznutzen oder keine therapeutische Verbesserung festgestellt worden ist (IQWiG 2013). Der Prozess des AMNOGs ist jedoch mit einigen Problemen verbunden. So ist die Datenlage bei einer solch frühen Nutzenbewertung häufig sehr begrenzt. Außerdem kann durch die Wahl einer zweckmäßigen Vergleichstherapie der Entscheidungsprozess maßgeblich beeinflusst werden (Dingermann 2013). Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat gemäß § 35b SGB V die Aufgabe, den G-BA bei Beschlussfassungen ggf. mittels Kosten-Nutzen-Analysen zu unterstützen. Entgegen dem internationalen Standard eines Kosteneffektivitätsquotienten hat sich das IQWiG für den Sonderweg der Effizienzgrenze entschieden (von der Schulenburg 2012). Das Effizienzgrenzenkonzept sieht einen indikationsspezifischen Vergleich von Alternativen aus Sicht der GKV vor. Mittels des Konzeptes werden die Kosten-Nutzen-Verhältnisse der relevanten, verfügbaren Thera­ pien mit Blick auf Qualität und Effizienz der Gesundheitsversorgung geprüft (IQWiG 2013), um unter mehreren Therapiealternativen die derzeit effizientesten Therapien zu identifizieren. „Eindeutig „effizient“ ist eine Therapie im Vergleich zu einer anderen dann, wenn sie bei gleichen Kosten mehr Nutzen erbringt oder bei gleichem Nutzen kostengünstiger ist“ (IQWiG 2013). Auf Grundlage der aktuellen Behandlungsmethoden zeigt die Effizienzgrenze daher die Verhältnisse von Kosten und Nutzen, ab welchen eine neue Behandlung als effizient eingestuft wird. Die Analyse beginnt mit einem Übertrag der zu vergleichenden Maßnahmen in ein Kosten-Nutzen-Diagramm, wobei auf der vertikalen Achse der Nutzen und auf der horizontalen Achse die Kosten abgetragen werden. Zur Bildung der Effizienzgrenze wird zunächst nach der steilsten Verbindung zwischen Ursprung und Kosten-Nutzen-Verhältnissen existierender Behandlungsoptionen gesucht (Punkt C in Abbildung 1). Im nächsten Schritt wird dieser Punkt mit der nächsten Behandlungsoption verbunden, welche wiederum die steilste positive Verbindung beider Punkte beinhaltet (Punkt E in Abbildung 1). Die Grenze endet im aktuell effizientesten Kosten-Nutzen-Verhältnis (Punkt A in Abbildung 1) (IQWiG 2009). Mögliche Nutzengrößen bei der Bildung der Effizienzgrenze sind klinische Parameter, z. B. die Senkung des Blutdrucks, aber auch aggregierte Komponenten, wie das QALY-Konzept (IQWiG 2009).



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Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an IQWiG (2009).

Abbildung 1: Erstellen einer Effizienzgrenze

Für neue, zu vergleichende Maßnahmen bewertet das IQWiG zunächst deren Nutzen und vergleicht diesen mit derjenigen Alternative auf der Effizienzgrenze, welche aktuell den größten Nutzen stiftet. Liegt ein Zusatznutzen durch die neue Maßnahme vor, wird eine gesundheitsökonomische Evaluation durchgeführt. Hieraus ergeben sich zwei Optionen: (1) Ist die neue medizinische Maßnahme effizienter als die Behandlung mit dem bisher größten Nutzen, befindet sich ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis im Bereich der schraffierten Fläche in Abbildung 2. Der geforderte Preis wird erstattet und der Verlauf der Effizienzgrenze mit obigem Vorgehen an die neue medizinische Maßnahme angepasst. (2) Die neue Maßnahme weist im Vergleich zur derzeit effektivsten Maßnahme einen höheren Nutzen zu höheren Kosten auf (Maßnahme X oder Maßnahme Y im Vergleich zu Maßnahme A in Abbildung 2). Aus der Effizienzgrenze ist keine direkte Entscheidung ableitbar, da sie nur bis zur Maßnahme mit dem höchsten Nutzen unmittelbare Entscheidungen erlaubt. Mittels Extrapolation der Effizienzgrenze (gestrichelte Linie in Abbildung 2) wird ein impliziter Schwellenwert erzeugt, der als Anhaltspunkt zur Entscheidung über die Erstattungsfähigkeit dient (IQWiG 2009; Schöffski / Schumann et al. 2012). Nur wenn die neue Maßnahme oberhalb der extrapolierten Effizienzgrenze liegt, wird der geforderte Preis als angemessen anerkannt (für nähere Ausführungen siehe insbesondere IQWiG 2009). Das IQWiG hat sich mit diesem Konzept bewusst vom Konzept der traditionellen inkrementellen Kosten-Effektivitätsrate (incremental cost effective-

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Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an IQWiG (2009).

Abbildung 2: Extrapolation der Effizienzgrenze

ness ratio, ICER) abgewendet. Dieses setzt die inkrementellen Kosten ins Verhältnis zum inkrementellen Nutzen und vergleicht die Alternativtherapie mit der Standardtherapie. Das IQWiG führt hierzu an, dass einerseits juristische Aspekte den Einsatz des ICER-Ansatzes nicht zuließen und andererseits aufgrund von länderspezifisch entwickelten Methoden kein internationaler ökonomischer Standard existiere (Greiner / Kuhlmann / Schwarzbach 2010). Kritisch anzumerken ist, dass die Effizienzgrenze mit zahlreichen Umsetzungsproblemen behaftet ist. So können Art und Umfang der in die Erfolgsgrößen einbezogenen Faktoren studienabhängig variieren. Auch ist eine Fülle von Daten notwendig, um alle bestehenden Behandlungsalternativen im Modell berücksichtigen zu können. Darüber hinaus birgt die Ableitung des Höchstbetrages Manipulationspotenzial (Greiner / Kuhlmann / Schwarzbach 2010). Das Effizienzgrenzenkonzept ist darüber hinaus zur Findung eines Erstattungspreises ungeeignet. Es vermittelt jedoch einen strukturiert-analytischen Überblick über bereits bestehende Behandlungen unter einem gesundheitsökonomischen Kalkül (Schöffski / Schumann et al. 2012). VII. Besondere Aspekte bei Kosten-Nutzen-Analysen über Indikationen hinweg Neben der Kosten-Nutzen-Bewertung innerhalb eines Indikationsbereichs sind auch Vergleiche zwischen unterschiedlichen Patientengruppen sowie zwischen unterschiedlichen Erkrankungen notwendig. Für die indikationsübergreifende Analyse eignen sich insbesondere solche Nutzwertmaße wie das Konzept der QALYs, da es krankheitsübergreifend auf jede medizinische Maßnahme – seien es innovative Arzneimittel, verhaltensmedizinische Maßnahmen, neue Operationstechniken oder diagnostische Maßnahmen –



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angewendet werden kann und somit in der Lage ist, unterschiedliche Effekte der Maßnahmen in normierte und vergleichbare Einheiten zu überführen (z. B. Icks / Chernyak et al. 2010; Schöffski / Greiner 2012). Dies erlaubt bei einem ökonomischen Fokus für das gesamte Gesundheitswesen die Auswahl derjenigen medizinischen Maßnahme, die pro normiertem QALY die geringsten Kosten verursacht oder im Umkehrschluss für eine festgelegte Geldeinheit eine Nutzwertmaximierung erzielt (McKie 1998). Diese Selektion ist möglich, da sämtliche Ergebnisse von durchgeführten Kosten-Nutzen-Analysen auf Basis des QALY-Konzepts in einer Rangliste oder League Table zusammengefasst werden, die ihren Ursprung im britischen Gesundheitswesen haben (Schöffski / Greiner 2012) und auch auf das amerikanische Gesundheitssystem adaptiert wurden (Chapman / Stone et al. 2000). Dabei erfolgt eine absteigende Anordnung der Maßnahmen mit zunehmenden Kosten für die Erzeugung eines weiteren QALYs (Maynard 1991). Diese Ranglisten stellen prinzipiell ein transparentes und objektives Instrument zur Optimierung von Allokationsentscheidungen dar, da sich mit ihrer Hilfe die nutzenmaximale Verteilung eines vorhandenen Budgets im Gesundheitswesen problemlos ermitteln lässt (Deutscher Ethikrat 2011; Schöffski / Greiner 2012). Allerdings sind sie auch methodischer Kritik ausgesetzt: In den League Tables fehlen, abgesehen von der Angabe des Kosten-Nutzwert-Verhältnisses, weitere entscheidungsrelevante Informationen. In diesem Zusammenhang sind beispielsweise Angaben zur Generierung der Werte, zur Größe der betroffenen Bevölkerungsgruppe oder zum Ausmaß möglicher Abweichungen vom Durchschnittswert für unterschiedliche Patientenpopulationen zu nennen (Schöffski / Greiner 2012). Daher ist eine Erweiterung der League Tables um Auskünfte, wie z. B. Subpopulationen und Konfidenzintervalle des angegebenen Kosten-Nutzwert-Verhältnisses, angezeigt sowie eine Vereinheitlichung der angewandten Methoden und der zugrunde liegenden Annahmen bei der Ermittlung der Kosten-Nutzwert-Verhältnisse (Drummond / Torrance / Mason 1993; Mauskopf / Rutten /  Schonfeld 2003). Darüber hinaus ist der Grundsatz der Marginalanalyse zu beachten, wonach die angegebene Kosteneffizienz jeweils nur für die nächste zusätzlich ausgegebene Geldeinheit Gültigkeit besitzt (Schöffski /  Greiner 2012). VIII. Diskussion Die Unterscheidung zwischen Nutzen- und Kosten-Nutzen-Bewertungen kann auf normativer Ebene nur bedingt aufrechterhalten werden: Während der Bewertungscharakter offenkundig wird, sofern eine Relation zu Kosten hergestellt wird, erscheint die Nutzenbewertung vordergründig weitestgehend auf objektiv nachprüfbare Fakten zu rekurrieren. So wie jedoch einer-

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seits eine Kosten-Nutzen-Bewertung keinesfalls eine rein normative Angelegenheit – in verfälschend verkürzender Form oft als Vorwurf, Gesundheit reduktionistisch einen Marktwert beizumessen – darstellt, so sind andererseits bereits der Nutzenbewertung normative Fragen inhärent, wie das notwendige Rekurrieren auf den Krankheitsbegriff offenbart. 1. Nutzen und medizinische Indikation

Nutzen spielt bereits im Rahmen der medizinischen Indikation eine zentrale Rolle. Neben der Komponente der Verbesserung durch eine Intervention enthält die medizinische Indikation als Sonderfall eines Nutzenkonzepts die Bedingung, dass ein krankhafter Zustand vorliegt, der als behandlungsbedürftig gilt. Bereits hier existieren zahlreiche Grenzfälle: Es lässt sich nicht allein aufgrund von Abweichungen vom Regelfall ermitteln, wann eine auffällige Persönlichkeitsstruktur krankhaft ist oder ab wann eine Stimmungsschwankung als affektive Störung zu qualifizieren ist. Das Beispiel der künstlichen Befruchtung zeigt, dass die Komponente des Leidensdrucks, welche Teil eines Krankheitskonzeptes sein sollte, auch von persönlichen Präferenzen abhängt: Ohne Kinderwunsch wird sich kaum eine betroffene Person selbst als krank einstufen. Die geltenden Anspruchsvoraussetzungen im Rahmen der GKV belegen die Existenz normativer Kriterien: So das Erfordernis, dass die Partner miteinander verheiratet sind (§ 27a I Nr. 3 SGB V), aber auch die starren Altersgrenzen beim Anspruchsausschluss (§ 27a III SGB V), welche den altersbedingten, kontinuierlichen biologischen Wandel nur unzureichend abbilden können. Nicht nur bei der Therapiebedürftigkeit, sondern auch bei der Eignung einer Maßnahme zur Behandlung spielen wertende Aspekte eine zentrale Rolle: Die Erfolgsaussicht muss die in Kauf genommenen Nebenwirkungen und Risiken rechtfertigen. Es mag eine bestmöglich objektive Antwort auf die Frage geben, ob eine erfolgversprechendere Tumortherapie den gegebenenfalls unvermeidbaren Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit rechtfertigt – die passgenaue Antwort kann aber nur der Patient für seinen persönlichen Einzelfall geben. Durch zunehmende Therapiealternativen erhalten subjektiv unterschiedliche Präferenzen ein immer größeres Gewicht: Es lässt sich nicht allgemeingültig beantworten, ob zur Therapie einer bestimmten chronischen Leukämie eine Hochdosischemotherapie mit Stammzelltransplantation oder eine palliative Therapie die „richtige“ Entscheidung ist: Erstere ermöglicht ggf. eine vollständige Kuration – birgt aber ein hohes Risiko des Versterbens unter der Therapie; letztere ermöglicht keine Heilung – aber dafür in bestimmten Krankheitssituationen mit hoher Wahrscheinlichkeit einige Jahre Überleben mit guter Lebensqualität. Der Extremfall dieses Zielkonfliktes wird unter ethischen Gesichtspunkten unter der Frage „Le-



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benserhaltung um jeden Preis?“ thematisiert, wobei mit Preis nicht Kosten, sondern Verlust an Lebensqualität durch Schmerz etc. gemeint ist. 2. Gesundheitsökonomische Evaluationen

Die soeben erfolgte Schilderung normativer Implikationen im Rahmen der medizinischen Indikation sollte verdeutlichen, dass diese Fragen nicht erst durch gesundheitsökonomische Analysen aufgeworfen, aber zwangsläufig in diese mitgenommen werden. Sofern nun nicht bereits jede medizinisch indizierte Maßnahme von den Krankenkassen übernommen werden soll, stellt sich zudem unweigerlich die Frage, welche zusätzlichen Kriterien zur Differenzierung herangezogen werden können. Hier setzen die gesundheitsökonomischen Analysen an. 3. Normative Implikationen von Analysen innerhalb einer Indikation

Im Ergebnis dienen gesundheitsökonomische Evaluationen regelmäßig der Gegenüberstellung des Nutzens, der Kosten oder einer Relation zwischen beiden. Auch bei der reinen Nutzenbewertung nach AMNOG wird über den Preisfindungsmechanismus mittelbar eine Relation zwischen Nutzen und Kosten hergestellt. Offenkundige Vergleichsergebnisse treten lediglich dann zutage, wenn sich zwei Therapieverfahren nur bezüglich einer Variablen unterscheiden. Aber auch hier sind nur diejenigen Fälle unzweifelhaft, welche sich nur in den direkten Kosten unterscheiden und damit keiner Umrechnung bedürfen. Bereits bei den indirekten Kosten entstehen Herausforderungen: Der Humankapitalansatz führt zu einer Diskriminierung nicht-erwerbstätiger Personen, da für diese ein indirekter Nutzen aus Produktivitätssteigerungen nicht nachweisbar ist (Greiner / Damm 2012). Insgesamt ist eine Weiterentwicklung der Ansätze notwendig, um eine Über- bzw. Unterschätzung der indirekten Kosten zu vermeiden. Denkbar wäre eine Standardisierung mit detaillierten Vorgaben bzgl. der Kostenermittlung (wie in Kanada). Als weitaus schwieriger erweist sich die in der Praxis häufige Herausforderung, den Nutzen zweier Verfahren zu vergleichen: Bereits bei ein und demselben Leiden vermag die erste Therapie mehr das eine Symptom zu lindern, während die zweite Alternative vorrangig gegen andere Beschwerden wirksam ist. Anders als bei reinen Kostenvergleichen werden diese Größen nicht bereits originär in einer quantifizierbaren Einheit ausgedrückt und können daher nicht ohne weiteres direkt verglichen werden. Zudem werden regelmäßig unterschiedliche Risiken und Nebenwirkungen auftreten. Hierbei ist z. B. zu bewerten, welches Zusatzrisiko welchen Zusatznutzen rechtfertigt.

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Bezüglich der Kosten-Nutzen-Bewertung wirft das Effizienzgrenzenkonzept verschiedene Fragen auf. Es ist zu kritisieren, dass sich der Vergleich auf eine Indikation beschränkt. So werden in einem Indikationsgebiet hohe Kosten für einen Nutzenzuwachs akzeptiert, während in einem anderen Indikationsgebiet ein geringerer Betrag abgelehnt wird (Deutscher Ethikrat 2011, S. 45). Daher könnte das Konzept der Effizienzgrenze zu Ungerechtigkeiten und Inkonsistenzen führen (Schöffski / Schumann et al. 2012). Darüber hinaus gebe es für das Methodenkonzept keine ökonomische Fundierung (Greiner / Kuhlmann / Schwarzbach 2010); da die Effizienzgrenze auf vorhandenen Präparaten basiert, könnten Ineffizienzen fortgeschrieben werden (BÄK 2008). Durch die Effizienzgrenze müssen unter Umständen bereits etablierte Verfahren wieder aus dem Leistungskatalog entfernt werden (Drummond / Rutten 2008; Greiner / Kuhlmann / Schwarzbach 2010). Dies offenbart eine zweite zentrale normative Aussage des Konzeptes: Ebenso, wie andere Effizienzgrenzen im Rahmen der Behandlung anderer Krankheitsbilder ausgeblendet werden, wird nur das neue Verfahren an den etablierten Therapien gemessen – umgekehrt aber wird die Referenz, also die vorherige Standardtherapie, unbegründet nicht durch die neuen Verfahren in Frage gestellt. 4. Normative Implikationen von Analysen über Indikationen hinweg

Soeben wurde dargelegt, dass eine rein indikationsinterne Betrachtung unzureichend ist. Daran schließt sich aber die Folgefrage an, unter welchen Maßgaben indikationsübergreifende Vergleiche erfolgen sollen. In Großbritannien beispielsweise verwendet das NICE QALYs als Bezugsgröße für die Kosten medizinischer Maßnahmen und ermittelt so im Rahmen von Studien die aufzuwendenden Kosten pro QALY (Deutscher Ethikrat 2011). Die hieraus erstellbaren Ranglisten (League Tables) nach Kosten pro QALY ermöglichen eine Entscheidung, ab wann eine Maßnahme nicht mehr oder nur bei besonderer Begründung erstattet werden soll. Faktoren wie die Dringlichkeit einer Behandlung oder der Schweregrad einer Gesundheitsstörung finden keine Berücksichtigung; zudem wird die Notwendigkeit der Versorgung jedes einzelnen Patienten außer Acht gelassen (Deutscher Ethikrat 2011). So ist z.  B. herauszuarbeiten, inwiefern der Behandlung lebensbedrohlicher Leiden ein Vorrang zukommt. Eine rein quantitative Betrachtung würde unter Umständen die Behandlung marginaler Leiden präferieren, sofern das Kosten-Nutzen-Verhältnis günstiger wäre. Dies bedarf normativer Korrekturen. Auch gerechtigkeitstheoretische Erwägungen spielen eine Rolle: So beispielsweise die Frage, inwiefern nicht in gewissen Grenzen eine gleichmäßige Teilhabe an medizinischen Möglichkeiten sicherzustellen ist. Dies ist von Bedeutung, wenn eine gewisse Patientengruppe bei rein ökonomischem Kalkül von der Behandlung ausgeschlossen wäre, weil sich die The­



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rapie unter Kosten-Nutzen-Abwägungen als „unwirtschaftlich“ erweist (siehe auch Lübbe 2011). 5. Keine kategorische Unterscheidung zwischen „innerhalb einer Indikation“ und „über Indikationen hinweg“ möglich

Sofern Kosten-Nutzen-Bewertungen ausschließlich für jede Krankheit separat erfolgen und sich an der Effizienz der bisher verfügbaren Maßnahmen orientieren würden, bestünde die Gefahr, dass Ineffizienzen fortgeschrieben werden: Es wäre dann durchaus möglich, dass bei einem Leiden hohe Kosten bei geringer Wirksamkeit als akzeptabel eingestuft werden, während bei einer anderen Erkrankung eine hohe Effizienz als unzureichend angesehen wird. Auf QALYs basierende Ranglisten können aber ebenfalls kein alleiniges Kriterium sein, da diese den größten quantitativen Zugewinn bevorzugen würden und bei einer 1:1 Verrechnung die Frage vernachlässigen, inwiefern manchen Indikationen und Therapiezielen ein Vorrang zukommt. Damit kann weder ein gänzliches Unterlassen von Vergleichen zwischen Therapieverfahren zur Behandlung verschiedener Erkrankungen noch ein verrechnendes Gleichsetzen eine akzeptable Lösung bieten. Um eine Aporie zu vermeiden, muss ein Vergleich zwischen Therapieverfahren zur Behandlung verschiedener Krankheitsbilder möglich sein, der allerdings Korrekturfaktoren enthält. Zu beachten ist, dass derartige Gewichtungen bereits innerhalb einer Indikation Relevanz erlangen können, wie folgende konstruierte Beispiele zeigen: – Die Verlängerung der schmerzfreien Gehstrecke wird beispielsweise therapeutisch von 20 m auf 100 m erhöht. Eine zusätzliche Kombinationstherapie zu denselben Kosten ermöglicht eine weitere Erhöhung auf 180 m. Mithin ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis identisch. Dennoch könnte argumentiert werden, dass die neue Therapie nicht zu erstatten sei, weil sich mit einer Gehstrecke von 100 m viele „alltagsrelevante“ Dinge erledigen lassen (innerhalb der Wohnung, zur Bushaltestelle etc.). – Es existiert eine erfolgversprechende Therapie zur Behandlung vollständiger Erblindung: Die Wiederherstellung von zumindest geringer Sehschärfe ist extrem teuer – eine weitere Visusverbesserung im Anschluss wäre dann aber wesentlich günstiger zu haben. Gerechtigkeitstheoretische Erwägungen sprechen dafür, nicht wenigen Erblindeten die volle Sehschärfe zurückzugeben, sondern möglichst vielen Patienten zumindest ein rudimentäres Sehvermögen zukommen zu lassen – auch wenn dies unter reinen Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten nicht zu begründen wäre.

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Auch innerhalb einer Indikation existieren damit normative Aspekte, die dem Charakter nach mit den Fragen vergleichbar sind, welche sich bei Vergleichen über Indikationen hinweg stellen. Zudem stellt sich auch am anderen Ende der Stufenleiter die Frage nach der Gewichtung gesellschaftlich relevanter Ziele: So werden Kosten-Nutzen-Analysen in Großbritannien und den skandinavischen Ländern immer angesehener, da ein Vergleich über das Gesundheitswesen hinaus bei Kosten-Nutzen-Analysen möglich ist (Schöffski 2012; Drummond / Stoddart 1995; Drummond / Sculpher et al. 2005). 6. Kritik am Paradigma der Wertmaximierung

Allokationsentscheidungen und Prioritätensetzungen vor dem Hintergrund knapper Ressourcen im Gesundheitswesen werfen insbesondere Fragen der Verteilungsgerechtigkeit auf. Diesen begegnet die Gesundheitsökonomie – etwa durch Kosten-Nutzwert-Analysen – mit dem Paradigma der Wertmaximierung. Bei der Allokation des ermittelten individuellen Nutzens (z. B. ausgedrückt durch QALYs) auf unterschiedliche Personen erscheint aber die additive Maximierung, die sich auf die Summe des Nutzwertes über ein Kollektiv hinweg bezieht, nicht akzeptiert zu sein (ausführliche Darstellung hierzu bei Klonschinski 2013). Dies zeigt etwa der „Oregon Health Plan“ – ein Versuch des US-Bundesstaates, die staatliche Versorgung für die arme Bevölkerung „Medicaid“ mit einer Prioritätenliste explizit zu begrenzen, um den Kreis der Leistungsberechtigten im Gegenzug zu erweitern. Hintergrund war der Tod eines Siebenjährigen im Jahr 1987, für den die Kosten einer Knochenmarktransplantation nicht übernommen worden waren. 1989 verabschiedete man den sogenannten Oregon Basic Health Services Act, der allen Bürgern Zugang zu einer Krankenversicherung ermöglichen sollte (Marckmann / Siebert 2002). Die erste Prioritätenliste von 1990 orientierte sich – mit dem Ziel positive Gesundheitseffekte zu maximieren – am Kosten-Nutzen-Verhältnis medizinischer Interventionen und brachte dabei kontraintuitive Ergebnisse hervor (Tengs / Meyer et al. 1996). „For example, treatments for thumbsucking and acute headaches received higher rankings than treatment for AIDS [Acquired Immune Deficiency Syndrome] or cystic fibrosis“ (Tengs / Meyer et al. 1996). Auch aus empirischen Studien ist bekannt, dass eine nutzenmaximierende Allokation problematisch ist: „Surveys of public opinion have revealed that people may in many circumstances disagree with the distributional implications of health maximisation“ (Sassi / Archard / Le Grand 2001). Unter der Annahme, dass Einzelne bereit sind, für eine gerechtere Verteilung auf ein gewisses Maß an „Effizienz“ zu verzichten, gewannen zwar soziale bzw.



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gerechtigkeitsbezogene Präferenzen an Bedeutung. Das Paradigma der Maximierung wurde dabei aber nicht aufgegeben (Klonschinski 2013): Person Trade-Off Analysen fragen nach der Anzahl an Personen einer Gruppe (z. B. mit leichten Kopfschmerzen), bei der Studienteilnehmer indifferent sind zwischen der medizinischen Behandlung dieser Gruppe und der Behandlung einer anderen Gruppe mit fester Anzahl an Patienten (z. B. mit einem Hörsturz). Sie beziehen also unterschiedlichste Entscheidungsfaktoren, wie etwa die Dringlichkeit der Behandlung, ein (Prades 1997). Dabei zeigt sich, dass die so erhobenen Entscheidungen bzw. Präferenzen deutliche innere Inkonsistenzen aufweisen: Ubel / Loewenstein et al. (1996) zeigten, dass multiplikative Intransitivitäten vorliegen. Bei Indifferenz zwischen der Behandlung von 5 Patienten der Gruppe A und 10 Patienten der Gruppe B und Indifferenz zwischen 5 Patienten der Gruppe B und 10 Patienten der Gruppe C läge Konsistenz vor bei gleichzeitiger Indifferenz zwischen der Behandlung von 5 Patienten der Gruppe A und 20 Patienten der Gruppe C. Bei Ubel / Loe­ wenstein et al. (1996) ist diese Konsistenz aber nicht gegeben. „Instead, in the majority of cases the indifference points predicted by multiplicative transitivity were greater than the values the subjects gave when given direct rationing choices“. Klonschinski (2013) stellt fest, dass hinter diesen Intransitivitäten insbesondere methodische Probleme vermutet werden. Entscheidungsmotive abseits einer wertmaximierenden Ratio würden dagegen kaum in Betracht gezogen. Im hedonistischen Sinne sei es ferner nachvollziehbar, dass ein Konsument, der auf eine Menge des Gutes X verzichte, durch eine Menge des Gutes Y entschädigt würde. Gehe es aber um die Allokation knapper Ressourcen im Gesundheitswesen, sei es i. d. R. aber nicht der Befragte oder der Entscheidungsträger, der von einem solchen Trade-Off betroffen sei. Die Verteilung beträfe vielmehr andere Personen(gruppen). Werden Bürger auf die skizzierte Art nach ihren Präferenzen gefragt, werden nicht die auf die eigene Person bezogenen Wünsche und Vorstellungen erhoben. Vielmehr hat ihre Antwort ein Urteil darüber zum Gegenstand, wie knappe Gesundheitsgüter auf andere verteilt werden sollen. Lübbe (2011) fragt, für wen ein wenig kosteneffizientes Medikament zur Behandlung einer Krebserkrankung von geringem Wert sein soll. Wird ein solches Medikament nicht erstattet, „bleibt gar nichts übrig, als dies so zu hören, dass die Gesellschaft keinen hinreichenden Wert mehr auf das weitere Überleben der Betroffenen legt“. Qualitative Studien zeigen dagegen, dass nicht Nutzenmaximierung, sondern der Stellenwert eines gleichberechtigten Zugangs zur medizinischen Versorgung ausschlaggebend für Entscheidungen von Befragten ist (siehe Klonschinski 2013). Einzelne Patienten(gruppen) würden nicht aufgegeben. Dies könne „nicht durch die Gewichtung von QALYs im Rahmen der CUA [Kosten-Nutzwert-Analyse] berücksichtigt werden“ (Klonschinski 2013).

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Fraglich sei vielmehr, ob sich solche Urteile überhaupt als Wertmaximierung im konsequenzialistischen Sinne abbilden lassen können. „If […] citizens watch out for outcomes that maximize societal value, why should they dream of giving equal chances to groups that have equally strong claims, in their eyes? Equal chances are not outcomes, and providing them does not maximize anything“ (Lübbe 2009).

IX. Schlussfolgerungen Gesundheitsökonomische Evaluationen können – nicht trotz, sondern gerade wegen ihres zwangsweise reduktionistischen Charakters – einen hohen Beitrag zur Transparenz leisten und damit auf die Notwendigkeit zur Verständigung über gesellschaftspolitische Fragen hinweisen. Sie offenbaren, dass normative Vorfragen zu klären sind, die sich entweder in der Abbildung des Nutzens oder in nachgelagerten Korrekturen widerspiegeln müssen. Die zentrale Hürde dabei ist, Bewertungen dergestalt in quantitative Einheiten zu übersetzen, dass eine vergleichende Aussage möglich wird. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass die Fragen nach den vordergründigen Therapiezielen und den zumutbaren Nebenwirkungen (z. B. leicht erhöhte Risiken im Rahmen eines off-label use: Kirchhof / Lehmacher / Thomas 2013) nicht allgemeingültig beantwortet werden können, sondern von individuellen Präferenzen abhängen. Der oft gegen gesundheitsökonomische Evaluationen erhobene Vorwurf, damit eine nicht mögliche Verrechenbarkeit zu suggerieren, verkennt, dass die hierdurch stattfindende Differenzierung einen Beitrag zur Verständigung über vorrangige medizinische Maßnahmen ermöglicht. Ohne die Entwicklung von (streitbaren) Kriterien besteht die Gefahr eines unsystematischen Einsatzes der knappen Ressourcen oder gar einer willkürlichen Verteilung. Die Tatsache, dass durch einen Leistungsausschluss meist ein Zusatznutzen vorenthalten wird, sollte nicht dazu führen, eine reale Mittelknappheit reflexhaft zu bestreiten, sondern Anlass dafür sein, eine rationale Debatte über den bestmöglichen Ressourceneinsatz zu führen. Dabei ist zu bedenken, dass Verteilungsentscheidungen Fragen der Gerechtigkeit sind, die nicht alleine durch das Paradigma der Wertmaximierung gelöst werden können. Gesundheitsökonomische Evaluationen sind in diesem Kontext ein notwendiges – aber kein hinreichendes Instrument.



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Gesundheitsökonomie in der vertragsärztlichen Vergütung: Die Messung der Morbiditätsstrukturveränderungen der GKV-Versicherten Andreas Ryll, Stefan Leppin und Deniz Tümer1 I. Einleitung Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG), das am 1. April 2007 in Kraft trat, verankerte der Gesetzgeber für die Gesamtvergütung der vertragsärztlichen Leistungen den Grundsatz, dass das sogenannte Morbiditätsrisiko von den Krankenkassen zu übernehmen ist. Hintergrund war neben der mit dem demografischen Wandel zusammenhängenden Alterung der Bevölkerung nicht zuletzt die zunehmende Auseinandersetzung mit der Frage, warum die von den niedergelassenen Ärzten insgesamt erbrachten Leistungen in der vertragsärztlichen Versorgung nicht in voller Höhe von den Krankenkassen vergütet werden. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Das von Budgets und veralteten – oftmals nicht mehr leistungsgerechten – Mitglieder-Kopfpauschalen geprägte Vergütungssystem, in dem ein Großteil des Morbiditätsrisikos bei den Ärzten liegt, wird durch ein neues Vergütungssystem abgelöst, in dem das Morbiditätsrisiko auf die Krankenkassen übergeht“ (BT-Drucksache 16  /  3100).2 Bis dahin war die Weiterentwicklung der Gesamtvergütung an den Grundsatz der Beitragssatzstabilität geknüpft und damit bestimmte der Anstieg der Grundlohnsumme den Umfang, in dem sich die Vergütung von mengenbegrenzten Leistungen veränderte. Der Anteil der Vergütung von Einzelleistungen blieb auf solche Leistungen in der Versorgung beschränkt, die beispielsweise im Rahmen von Prävention gefördert werden sollten oder zur Vermeidung von stationären Aufenthalten beitrugen (gemäß dem Prinzip „ambulant vor stationär“). Die maßgebliche Implikation der Übernahme bzw. „Rückübertragung“ des Versicherungsrisikos durch die Krankenkassen mit Blick auf die Vergütung ärztlicher Leistungen ist folgende: „Die Finanzvolumina der vertragsärztli1  Der Artikel gibt die Sichtweise der Autoren und nicht notwendigerweise die der Kassenärztlichen Bundesvereinigung wieder. 2  Die sog. Neuordnung der vertragsärztlichen Vergütung umfasste eine Vielzahl struktureller Maßnahmen, auf die im Rahmen dieses Artikels jedoch nicht näher eingegangen werden kann.

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A. Ryll, S. Leppin und D. Tümer

chen Versorgung sind künftig an der Morbidität der Versicherten orientiert, d. h. für zusätzliche Leistungen, die aus einem Anstieg des Behandlungsbedarfs der Versicherten herrühren, ist von den Krankenkassen mehr Honorar zur Verfügung zu stellen“ (BT-Drucksache 16 / 3100). Neben der zuvor bereits durch den Gesetzgeber eingeleiteten Risikoadjustierung in der Finanzierung der Krankenversicherung durch die Einführung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs3, bedeutete die Berücksichtigung der Morbiditätslast die Einführung der Risikoadjustierung in der vertragsärztlichen Vergütung, wenn auch zunächst beschränkt auf die Ebene der Vergütungsbeziehung zwischen den Gesamtvertragsparteien und nicht unmittelbar auf die Ebene des einzelnen Leistungserbringers.4 Auch für die Umsetzung dieser Vorgabe legte der Gesetzgeber – in Fortführung der bereits mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) Jahr 2004 eingeleiteten Maßnahmen – verbindlich fest, dass „die Messung der Veränderungen der Morbiditätsstruktur als Anpassungskriterium für die jährliche Fortentwicklung der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung weiterhin auf diagnosebezogene Risikoklassen für Versicherte mit vergleichbarem Behandlungsbedarf (basiert)“ (BT-Drucksache 16 / 3100). Dabei hat die Festlegung eines Verfahrens zur Bestimmung der Veränderungen der Morbiditätsstruktur der Versicherten, die durch den Bewertungsausschuss auch in der davor geltenden Fassung des § 87a SGB V vorzunehmen ist, mit Hilfe eines „zur Anwendung in der vertragsärztlichen Versorgung geeigneten Klassifikationsverfahrens“ zu erfolgen. Mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG), das am 1.1.2012 in Kraft getreten ist, präzisiert der Gesetzgeber die technische Umsetzung und schreibt konkret im § 87a Abs. 5, Satz 4 und 5 SGB V vor: „Die Veränderungsraten werden auf der Grundlage des Beschlusses des Erweiterten Bewertungsausschusses vom 2. September 2009 Teil B Nummer 2.3 bestimmt mit der Maßgabe, die Datengrundlagen zu aktualisieren. Zur Ermittlung der diagnosebezogenen Rate ist das geltende Modell des Klassifikationsverfahrens anzuwenden.“ Zugleich räumt der Gesetzgeber dem Bewertungsausschuss mit Satz 6 des Absatzes (§ 87a Abs. 5 SGB V) die Möglichkeit ein, das „geltende Modell“ weiterzuentwickeln: „Der Bewertungsausschuss kann das Modell in bestimmten Zeitabständen auf seine weitere Eignung für die Anwendung in der vertragsärztlichen Versorgung überprüfen und fortentwickeln.“ 3  Vgl. zu den Grundlagen van den Ven / Ellis (2000) sowie zu der umfangreichen Diskussion mit Bezug auf die Gesetzliche Krankenversicherung IGES / Lauterbach /  Wasem (2005) und Jahn / Schillo / Wasem (2012). 4  Zu den verschiedenen Möglichkeiten der Risikoadjustierung in der Krankenversicherung und der damit einhergehenden ökonomischen Beziehungen vgl. Ellis (2008).



Gesundheitsökonomie in der vertragsärztlichen Vergütung161

Der vorliegende Beitrag stellt als Ausgangspunkt das im Gesetz festgelegte „geltende Modell“ des Jahres 2009 dar und skizziert die dabei verwendete und danach veränderte Datengrundlage. Der Abschnitt 3 gibt einen Überblick über die Weiterentwicklung des geltenden Modells bevor in Abschnitt 4 das für das Jahr 2014 beschlossene Modell und seine Komponenten näher dargestellt werden und dabei der spezifische Zuschnitt der aktualisierten Datengrundlage erklärt wird. Abschnitt 5 widmet sich den statistischen Eigenschaften des für das Jahr 2014 geltenden Modells und in Abschnitt 6 sind wesentliche Gütemaße dargestellt und neu errechnet. Abschnitt 7 versucht abschließend eine thesenartig gehaltene Beurteilung der in der Einleitung wiedergegebenen Zielstellung des Gesetzgebers, bei der das „geltende Modell“ als Instrument fungiert. II. H15EBA – das „geltende Modell“ nach § 87a Abs. 5 SGB  V Die Beschlussfassung des ersten „geltenden Modells“ erforderte den Erweiterten Bewertungsausschuss (EBA), da die Ermittlung von Morbiditätsstrukturveränderungen nur eine Komponente bei der von gegensätzlichen Positionen geprägten Neuordnung der ärztlichen Vergütung darstellte. Es handelte sich um die 15. Sitzung dieses Schlichtungsgremiums und damit ist die Modellbezeichnung bis auf den ersten Buchstaben schon erklärt. Das „H“ in H15EBA bezieht sich auf eine Version des Klassifikationssystems, mit dem die Zuordnung von Diagnosen zu Risikokategorien festgelegt wird. Diese Version entstand durch den Kompromissvorschlag des EBA aus Versionen, die auf der Arbeitsebene des Bewertungsausschusses eingehend beraten wurden. In der Version „H“ werden neben allen – als gesichert gekennzeichneten – Diagnoseschlüsseln auch die Diagnosekodes von malig­ nen Tumoren in die Zuordnung aufgenommen, die mit dem Zusatzkennzeichen „Z“ für „symptomlosen Zustand“ im Rahmen der Behandlung von GKV-Versicherten kodiert werden. Patienten mit diesen Diagnosen und dieser Kennzeichnung der Diagnosesicherheit verursachen in der ambulanten Versorgung spezifischen Behandlungsaufwand. Allerdings werden bei der Modellausgestaltung von H15EBA die etwa 190 Risikokategorien des vom Bewertungsausschuss im Zuge eines internationalen Vergabeverfahrens erworbenen und danach an die vertragsärztlichen Gegebenheiten angepassten und weiterentwickelten Versichertenklassifikationssystem5 dann komprimiert, wenn diese nicht zu jenen 30 Morbiditätska5  Vgl. den aktuellen Stand der Weiterentwicklung der medizinischen Klassifikation, auf den dieser Artikel nicht näher eingeht, im Bericht des Instituts des Bewertungsausschusses (2013b).

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A. Ryll, S. Leppin und D. Tümer

tegorien zählen, die dem Kriterium der „ökonomischen Relevanz“ entsprechen, wobei die Anzahl von 30 sogenannten Top-CCs ohne weitergehende Analyse festgelegt wurde. Diese wurden gemeinsam mit den 30 aggregierten, organbezogenen sogenannten Rest-CCs in das gewichtete, multiple Regressionsmodell als unabhängige Variablen zusätzlich zu den 32 Alterund Geschlechtsgruppen aufgenommen. Abweichend zu dem in der Modellausgestaltung zur Risikoadjustierung sonst eher gebräuchlichen einjährig prospektiven Zeithorizont6 war dabei auch die Entscheidung des EBA für einen 2-jährig prospektiven Zeithorizont des geltenden Modells, der nicht nur mit dem Zeitversatz der verfügbaren Datengrundlage zusammenhing, sondern zusammen mit der Komprimierung auch den immer wieder geäußerten, häufig recht pauschalen Vorbehalten gegenüber der Verlässlichkeit und Qualität der vertragsärztlichen Diagnosen Rechnung trug.7 Unmittelbar damit hängt die – inzwischen im § 87a Abs. 4 SGB V – verankerte Vorgabe im Gesetz zusammen, dass der Bewertungsausschuss gemäß § 87a Abs. 5 neben einer diagnosebezogenen Veränderungsrate für jeden KV-Bereich auch eine nur mit den demografischen Variablen Alter und Geschlecht bestimmte Veränderungsrate als Empfehlung zu beschließen hat und die für die jeweilige Vereinbarung zur Veränderung des Behandlungsbedarfs regional zu bestimmende morbiditätsbedingte Veränderungsrate sich aus der gewichteten Zusammenführung beider Veränderungsraten ergibt.8 Während der EBA in seiner 15. Sitzung vom 2. September 2009 den Komprimierungsansatz unter dem Vorbehalt der Überprüfung stellte („kein Präjudiz“), wurde der 2-jährig prospektive Zeithorizont im Beschluss des Bewertungsausschusses zur Weiterentwicklung des Klassifikationsmodells in seiner 269. Sitzung zunächst bestätigt. In diesem Beschluss werden die Grundsätze der Modellausgestaltung zur Ermittlung der Morbiditätsstrukturveränderungen festgelegt (vgl. Institut des Bewertungsausschusses 2013b). 6  Dabei stammen die Leistungsausgaben, als abhängige Variable des Modells aus der Periode t und die Diagnoseangaben bzw. die daraus gebildeten diagnosebezogenen Risikoklassen, als unabhängige Variablen, aus der Periode t – 1. 7  Die Nichteinführung der Ambulanten Kodierrichtlinien leistet negativen Einschätzungen allerdings eher weiteren Vorschub. 8  Der Erweiterte Bewertungsausschuss hatte in seinem Beschluss aus der 15. Sitzung das Gewichtungsverhältnis der diagnosebezogenen und der demografischen Rate für den Bund wohl eher mit Blick auf das finale Vergütungsvolumen mit 61:39 festgelegt. Auf das demografische Modell und seine Eigenschaften wird in diesem Beitrag nur am Rand eingegangen, da das geltende Modell als Grundlage die vertragsärztlichen Behandlungsdiagnosen heranzuziehen hat und – wie ausführlich untersucht wurde – Alter und Geschlecht für sich genommen als Variablen für die Prognose von morbiditätsbedingten Leistungsausgaben der Versicherten nicht ausreichend sind (vgl. van de Ven / Ellis 2000).



Gesundheitsökonomie in der vertragsärztlichen Vergütung163 1. Datengrundlage des „geltenden Modells“

Die Datengrundlage des im Jahre 2009 „geltenden Modells“ hat sich zwischenzeitlich grundlegend verändert. Für das Modell H15EBA diente eine versichertenbezogene Vollerhebung der vertragsärztlichen Abrechnungsdaten aus vier KV-Bereichen (Bremen, Niedersachsen, Nordrhein, Thüringen), die sogenannte 4-KVen-Stichprobe, als Grundlage für die Modellkalibrierung und -anwendung. Dieser Datenkörper war insofern nicht vollständig bezüglich der Abrechnungs- und Morbiditätsinformationen, weil zum einen die Abrechnungsdaten für die Wohnortversicherten aus sogenannten bereichsfremden Fällen fehlten und zum anderen, weil nicht alle Krankenkassen mit Versicherten im Wohnort der vier KV-Bereiche einbezogen wurden (etwa Knappschaft, Seekasse) oder einzelne Krankenkassen, insbesondere Betriebs- und Innungskrankenkassen wegen fehlerhafter Lieferungen der pseudonymisierten Versichertenstammdaten aus den Berechnungen ausgeschlossen werden mussten.9 Für die Ermittlung der Morbiditätsstrukturveränderung seit Inkrafttreten des GKV-VStG wird entsprechend der Beschlüsse des Bewertungsausschusses (§ 85 Abs. 1 SGB V) zu den Datenlieferungen gemäß § 87 Abs. 3f SGB V an den Bewertungsausschuss eine bundesweite Versichertenstichprobe, die sogenannte Geburtstagsstichprobe (GSP), auf Basis von ausgewählten, aber aus Gründen des Datenschutzes kontinuierlich variierenden Geburtstagen aus 17 KV-Bereichen erhoben, die im Zeitraum von 2007 bis 2009 zunächst jeweils ca. 13,2 % der gesetzlich Versicherten (anhand von vier Geburtskalendertagen) umfasst, für das Erhebungsjahr 2010 durch Hinzunahme von zwei weiteren Geburtskalendertagen ca. 19,7 %10 (vgl. u. a. Beschluss der 273. Sitzung des Bewertungsausschusses mit Wirkung zum 1. April 2012 und der Änderung durch den Beschluss in der 307. Sitzung mit Wirkung zum 1. April 2013, Beschlüsse des Bewertungsausschusses 2012 und 2013). Die Auswahl der Versicherten erfolgt nach dem Kriterium, ob ein Versicherter an einem der ausgewählten Kalendertage geboren ist. Dabei ist es unerheblich, in welchem Monat er geboren ist. Für das Erhebungsjahr 2011 und 2012 wurde jeweils ein weiterer Geburtskalendertag einbezogen, bevor ab dem Erhebungsjahr 2013 zwei der in 2007 ausgewählten Geburtskalendertage aus der Erhebung wieder entfallen werden, so dass regelhaft ein bezüglich der versichertenbezogenen aber 9  Aus diesem Grund wurde geprüft, ob die Datengrundlage für den Anwendungszweck als hinreichend repräsentativ einzustufen war (vgl. dazu Institut des Bewertungsausschusses 2009). 10  Der Anteil von 13,2 % bzw. 19,7 % ergibt sich aus der Anzahl der ausgewählten Kalendertage, d. h. 4 · 12 = 48 bzw. 6 · 12 = 72, jeweils dividiert durch 365 Kalendertage.

164

A. Ryll, S. Leppin und D. Tümer Tabelle 1 Überblick über die grundsätzlichen Unterschiede zwischen der 4-KVen-Stichprobe und der Geburtstagsstichprobe

Merkmal

4-KVen-Stichprobe

Geburtstagsstichprobe

Regionale Abgrenzung

Bremen, Niedersachsen, Nordrhein und Thüringen

Bundesweit

Umfang

Vollerhebung

Stichprobe

Personenkennung (Pseudonym)

Kann im Zeitverlauf wechseln

Im Zeitverlauf konstant

Fremdfälle

Nur zum Teil enthalten

Vollständig enthalten

Teilnahme an Selektivverträgen

Keine Kennzeichnung

Kennzeichnung ­vorhanden

Abgrenzung der ­Krankenkassen

Einige Krankenkassen nicht zur Lieferung verpflichtet

Alle Krankenkassen zur Lieferung verpflichtet

Quelle: Institut des Bewertungsausschusses 2013a.

auch bezüglich der arztpraxisbezogenen Merkmale pseudonymisierter Datenkörper von vier Kalenderjahren mit mindestens vier Geburtskalendertagen dem Bewertungsausschuss als Datengrundlage dient. Während die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) über die Kassenärztliche Bundesvereinigung die vertragsärztlichen Abrechnungsdaten an die nach 2007 errichtete Datenstelle des Bewertungsausschusses liefern, leiten die gesetzlichen Krankenkassen unter Einbeziehung ihrer Landesverbände über den GKV-Spitzenverband die pseudonymisierten Versichertenstammdaten der Datenstelle zu. Die arztseitig gelieferten Abrechnungsdaten beinhalten differenzierte Informationen über die Inanspruchnahme kollektivvertragsärztlicher Leistungen der Stichprobenversicherten. Im Kern der arztseitig gelieferten Daten steht der Abrechnungsfall, basierend auf der Definition des Behandlungsfalls nach § 21 Abs. 1 Bundesmantelvertrag-Ärzte (vgl. BundesmantelvertragÄrzte 2013). Für den einzelnen Abrechnungsfall werden neben der zugehörigen Betriebsstätte insbesondere der abgerechnete Leistungsbedarf sowie die in jedem Abrechnungsfall dokumentierten Diagnosen und abgerechneten Gebührenordnungspositionen (GOPs) übermittelt. Für die Zusammenführung mit den kassenseitig gelieferten Daten sind für jeden Abrechnungsfall zusätzlich das Pseudonym der Versichertennummer und des Institutionenkennzeichens der Krankenkasse zu liefern.



Gesundheitsökonomie in der vertragsärztlichen Vergütung165

Quelle: Institut des Bewertungsausschusses 2013a (erweiterte und geänderte Abbildung).

Verknüpfung von Versichertenstammdaten und ambulanten ­Abrechnungsdaten in der GSP

Die kassenseitig gelieferten Angaben zu den Stichprobenversicherten in der Geburtstagsstichprobe umfassen unter anderem Geburtsjahr, Geschlecht, Versichertenzeiten, Postleitzahl und die Information über die Teilnahme an Selektivverträgen. Für jede Person ist dabei eine auch im Längsschnitt eindeutige Personen-ID, als Pseudonym der lebenslangen Versichertennummer, zu bilden, dem ggf. die Pseudonyme der Versichertennummer der Versichertenkarte zuordenbar sind. Das vom Bundesdatenschutzbeauftragten dazu geprüfte und genehmigte mehrstufige Pseudonymisierungsverfahren wurde ebenfalls durch den Bewertungsausschuss beschlossen (vgl. Beschluss des Bewertungsausschusses in der 307. Sitzung, Beschlüsse des Bewertungsausschusses 2013). Die oben eingefügte Abbildung gibt einen Überblick über die Merkmale und die Verknüpfung der an den Bewertungsausschuss gelieferten Daten der Geburtstagsstichprobe. 2. Abgrenzung des Leistungsbedarfs

Zu den zentralen Aspekten der Honorarverhandlungen zählt seit 2009 die Festlegung der Leistungen, die zur morbiditätsbedingten Gesamtvergütung gehören. Seit dem GKV-VStG kann der Bewertungsausschuss gemäß § 87a Abs. 3 SGB V dazu eine Empfehlung beschließen, allerdings ist es Sache

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A. Ryll, S. Leppin und D. Tümer

der Gesamtvertragspartner, die regional maßgebliche Abgrenzung der Leistungen der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung (MGV) und den Umfang des Behandlungsbedarfs je Versicherten zu vereinbaren. Der sich aus der MGV-Abgrenzung ergebende Leistungsbedarf (gemäß der jeweiligen regionalen Euro-Gebührenordnung) der Wohnort-Versicherten des Kalenderjahres bildet unter Berücksichtigung der individuellen Versichertenzeit die Grundlage, aus der die abhängige Variable des geltenden Modells hervorgeht (vgl. zur MGV-Abgrenzung die Anlage 1 des Beschlusses der 309. Sitzung des Bewertungsausschusses vom 26. Juni 2013, Beschlüsse des Bewertungsausschusses 2013). III. Weiterentwicklung des „geltenden Modells“ Seit dem ersten vom Erweiterten Bewertungsausschuss (15. Sitzung, 2. September 2009) beschlossenen Klassifikationsmodell „H15EBA“ gab es zwei Weiterentwicklungen mit den geänderten Modellbezeichnungen „KM87a_2012“ und „KM87a_2013“. Dabei steht „KM87a“ für Klassifikationsmodell gemäß § 87a SGB V und die Jahreszahl bezieht sich auf das Jahr, in dem das Modell beschlossen wurde. Die Weiterentwicklung bezieht sich sowohl auf die Abgrenzung der Versichertenmenge – als Datengrundlage für die gewichtete multiple lineare Regression auch Kalibrierungsmenge (siehe Abschnitt IV.1.) genannt – als auch auf die Modellspezifikation (vgl. dazu den Beschluss des Erweiterten Bewertungsausschusses in der 29. Sitzung und den Beschluss des Bewertungsausschusses in seiner 309. Sitzung, Beschlüsse des (Erweiterten) Bewertungsausschusses 2012 und 2013). Die Änderung in der Abgrenzung der Kalibrierungsmenge ist geprägt von der Einbeziehung aller Versicherten mit möglichst ganzjähriger Versichertenzeit und damit weitgehend vollständigen Behandlungsdiagnosen und vollständigem Leistungsbedarf, um Relativgewichte der Risikoklassen des Klassifikationsmodells stabil und periodenbezogen bestimmen zu können. Dafür wurden im Wesentlichen drei Maßnahmen durchgeführt: – Die Einschränkung auf Versicherte mit ganzjähriger Zugehörigkeit zur GKV – mit der Ausnahme für Neugeborene und Verstorbene. Da durch den 2-jährigen Zeithorizont des Modells die Diagnosen und der Leistungsbedarf nicht aus dem gleichen Kalenderjahr stammen, ist nicht per se gewährleistet, dass für alle Versicherten Diagnosen und Leistungsbedarf vollständig vorliegen. Aus diesem Grund wurde die Regel eingeführt, nur Versicherte in die Kalibrierungsmenge aufzunehmen, die in jedem Quartal sowohl des Diagnosejahres als auch des Leistungsjahres mindestens 45 Tage gesetzlich versichert waren.



Gesundheitsökonomie in der vertragsärztlichen Vergütung167

– Die Einschränkung auf Versicherte, deren dokumentierte Morbidität möglichst vollständig im Kollektivvertrag vorliegt, d. h. auf Versicherte, die über den Beobachtungszeitraum von drei Kalenderjahren nicht als Teilnehmer in einem bereinigungsrelevanten Selektivvertrag gemäß §§ 73b, 73c oder 140a ff. SGB V eingeschrieben waren, da in bereinigungsrelevanten Selektivverträgen ohne Abrechnung über die Kassenärztliche Vereinigung weder der in einem Selektivvertrag anfallende Leistungsbedarf der Versicherten noch die selektivvertraglich dokumentierten Behandlungsdiagnosen als vertragsärztliche Abrechnungsdaten vorliegen und deshalb der kollektivvertragliche Leistungsbedarf und die Morbidität der Versicherten im Vergleich zu den Nicht-Selektivvertragsteilnehmern unvollständig (erfasst) sind. – Die Anwendung einer mit Versichertenquartalen gewichteten multiplen linearen Regression, bei der die Versichertenzeit des betrachteten Abrechnungsjahres in der GKV nach Quartalen statt nach Tagen gebildet wird. Ein Versichertenquartal wird gezählt, sobald für einen Versicherten mindestens ein Versichertentag im jeweiligen Quartal in den übermittelten Versichertenstammdaten vorliegt. Die folgende Tabelle 2 gibt einen Überblick über die wesentlichen Unterschiede in den Klassifikationsmodellen zwischen H15EBA und KM87a_2013 und den jeweils verwendeten Datengrundlagen:

Tabelle 2 Überblick über die Abgrenzung von Versicherten und Merkmalen für die Modellierung des aktuellen geltenden Modells für das Jahr 2014 im Vergleich mit dem Modell H15EBA Modell Merkmal

H15EBA

KM87a_2013

Datengrundlage

4-KVen-Stichprobe

GSP 5.1

Qualitätssicherung

Ausschluss, wenn Markierung erfolgt ist

Version des Klassifikations­ systems

Version H

Version p07a

Auftragsfälle und Fälle ohne Leistungsbedarf

Kein Ausschluss

Ausschluss (Fortsetzung nächste Seite)

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A. Ryll, S. Leppin und D. Tümer

(Fortsetzung Tabelle 2) Modell Merkmal

H15EBA

KM87a_2013

Ausschluss von Fällen aus Auftragsgeschäften von KVen, sog. „Direktabrechner“

keine Identifikation bzw. kein Ausschluss

Ausschluss

Selektivvertragsteilnehmer

Keine Identifikation bzw. Ausschluss bzw. Sonder­ kein Ausschluss regelung für Baden-Württemberg und Bayern

Versichertenzeitvollständigkeit

Keine Einschränkung

Markierung und Ausschluss für Berechnung von Kos­ ten- und Relativgewichten

Annualisierung des Leistungsbedarfs für Berechnungen von Kosten- und Relativgewichten

Ja, mit Anzahl an Ver­ sichertentagen im Berichtsjahr

Ja, mit Anzahl an Ver­ sichertenquartalen im Berichtsjahr

Gewichtung bei unterjährig Versicherten

Ja, mit Anzahl an Ver­ sichertentagen im Berichtsjahr

Ja, mit Anzahl an

Jahresbezüge des 2-jährig prospektiven Modells

2006 und 2008

2009 und 2011

Modellierungsablauf

Hierarchisierung nach Komprimierung

Komprimierung nach ­Hierarchisierung

Komprimierungsalgorithmus

30 Top CC, Relativgewicht > 1,5

Anzahl Top CC ist be­stimmt durch 70 % ökonomische Relevanz und / oder durch maximalen Beitrag zum Bestimmtheitsmaß (R2), Relativgewicht > 1,5

Kalibrierungsmechanismus

Sequentieller, ggf. rekursiver ablaufender Ausschluss von negativen bzw. nicht signifikanten Koeffizienten

Sequentieller, ggf. rekursiver ablaufender Ausschluss von negativen bzw. nicht signifikanten Koeffizienten, Laufzeitverminderung durch ex ante Nullsetzen der RHCC024

MGV-Leistungsbedarf

Inklusive Abschnitt 35.2 und der GOP 35150 sowie inklusive Abschnitt 4.5.4 und Abschnitt 13.3.6 ohne GOP 13622 des EBM

Exklusive Abschnitt 35.2 und der GOP 35150 sowie exklusive Abschnitt 4.5.4 und Abschnitt 13.3.6 ohne GOP 13622 des EBM

Sonstige Anpassungen des MGV-Leistungsbedarfs

Diverse

Keine

Ver­sichertenquartalen im Berichtsjahr



Gesundheitsökonomie in der vertragsärztlichen Vergütung169 Modell

Merkmal

H15EBA

KM87a_2013

Regionale Abgrenzung

Bundesweit

Kosten- und Relativgewichte bundesweit; Veränderungsraten KV-spezifisch

Hochrechnung der Stichprobe Keine auf die demografische Struktur der KM6-Statistik

Veränderungsraten mit Hochrechnungsfaktoren je Region und Jahr, demografisch differenziert

Jahresbezüge für Berechnung von Veränderungsraten

2010 und 2011

2007 und 2008

Quelle: Institut des Bewertungsausschusses 2013a, erweiterte, aktualisierte und modifizierte Darstellung.

IV. Das für 2014 „geltende Modell“ Zur Bestimmung der diagnosebezogenen Veränderungsrate sind die, mit statistisch ermittelten Koeffizienten bewerteten Prävalenzen zusammengefasster Krankheitsgruppen von einem Jahr zum nächsten zu betrachten. Zur Bestimmung der genannten Koeffizienten wird auf Basis der Geburtstagsstichprobe ein lineares Regressionsmodell aufgestellt. Zwischen dem morbiditätsbedingten Leistungsbedarf (LB-MGV) und den auf vertragsärztlich dokumentierten Diagnosen basierenden Krankheitsgruppen sowie Alter und Geschlecht wird also ein linearer Zusammenhang angenommen, der mit Hilfe der „Methode der kleinsten Quadrate“ (siehe Abschnitt V.) quantifiziert wird. Im linearen Regressionsmodell ist der Zusammenhang zwischen der abhängigen Variablen y und den unabhängigen Variablen xj durch

k

yi = β 0 + å β j xi, j + ui , i = 1,¼, n und n > k j= 1

beschrieben. Es sind β 0 bis β k die unbekannten und daher zu schätzenden Koeffizienten für die unabhängige Variablen xj. Dabei ist β 0 als y-Ach­ senabschnitt zu interpretieren. Mit ui wird der zufällige Fehlerterm bezeichnet (Krämer 2005, S. 172). Die Bedingung n > k, also die Forderung nach mehr Beobachtungen als unabhängigen Variablen, soll gewährleisten, dass genug Beobachtungen vorliegen, um das entstehende Gleichungssystem sinnvoll, d. h. als Minimierungsproblem, lösen zu können.

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A. Ryll, S. Leppin und D. Tümer

Im „geltenden Modell“ ist die abhängige Variable yi der LB-MGV des i-ten Versicherten, die β1 bis β k die Koeffizienten für die Krankheitsgruppen xj und der Koeffizient β 0 ist gleich 0. Fasst man den Leistungsbedarf  aller Versicherten im n-dimensionalen Vektor y , alle Krankheitsgruppen in der n ´ k -dimensionalen Matrix X , auch Designmatrix genannt, und die k  Koeffizienten im Vektor β zusammen, ergibt sich in Matrixschreibweise dann

   y = X · β + u.

Die unabhängigen Variablen haben nur die Ausprägungen 0 oder 1, sie sind also Dummy-Variablen. Die Einträge der Matrix X sind damit ebenso nur 0 oder 1 – und die Relativgewichte als Ergebnis der Regression sind gut als relative Kosten der entsprechenden Krankheitsgruppe interpretierbar. Da, wie später erläutert wird, die abhängige Variable noch mit der Versichertenzeit zu gewichten ist, spricht man bei dem verwendeten Verfahren auch von einer gewichteten, multiplen, linearen Regression ohne y-Achsenabschnitt. Zur Bestimmung der Veränderung der Morbiditätsstruktur der in der GKV Versicherten von einem Jahr auf das nächste wird anhand der in diesem Zeitraum dokumentierten vertragsärztlichen Diagnosen und den durch Regression ermittelten Relativgewichten für die entsprechenden Krankheitsgruppen der erwartete Leistungsbedarf für beide Jahre bestimmt. Um einerseits die Zusammensetzung der erwähnten Krankheitsgruppen zu bestimmen und andererseits die zugehörigen Regressionskoeffizienten zu schätzen, werden die, neben Alter und Geschlecht, zu den unabhängigen Variablen zählenden Krankheitskategorien komprimiert und kalibriert. Grundlage des für das Jahr 2014 geltenden Modells, das im Folgenden näher erläutert wird, sind die Beschlüsse des Bewertungsausschusses in der 309. und 313. Sitzung (Beschlüsse des Bewertungsausschusses 2013). 1. Die Kalibrierungsmenge

Für die Entscheidung, welche der auf den dokumentierten Diagnosen basierenden, hierarchisierten Risikokategorien (HCCs – Hierarchical Condition Categories) direkt in das Modell eingehen und welche Kategorien zusammengefasst („komprimiert“) werden, wird die sogenannte Kalibrierungsmenge verwendet. Mit ihr werden schließlich die Relativgewichte dieser Krankheitsgruppen und der Alters- und Geschlechtsgruppen bestimmt.



Gesundheitsökonomie in der vertragsärztlichen Vergütung171

Der Zeithorizont des Modells ist 2-jährig prospektiv, d. h. der morbiditätsbedingte Leistungsbedarf wird auf die Diagnosen (und die darauf basierenden Morbiditätsprofile) zurückgeführt, die zwei Jahre in der Vergangenheit liegen. Damit der Zusammenhang zwischen LB-MGV und Krankheitsgruppen nicht durch Versicherte mit unterjähriger Zugehörigkeit zur GKV verzerrt wird, werden in die Kalibrierungsmenge nur diejenigen Versicherten mit ihrem Morbiditätsprofil und ihrem LB-MGV aufgenommen, die in jedem Quartal der beiden betrachteten Jahre mindestens 45 Tage versichert waren („Versichertenzeitvollständigkeit“). Für Neugeborene des Jahres 2009 und Verstorbene des Jahres 2011 gilt diese Regel erst ab dem Quartal nach der Geburt bzw. bis zum Quartal vor dem Tod. Da für die vor dem vierten Quartal 2011 Verstorbenen der morbiditätsbedingte Leistungsbedarf nur unvollständig vorliegt, wird dieser annualisiert, d. h. durch die Anzahl der Versichertenquartale des Versicherten geteilt und mit vier multipliziert. Darüber hinaus sind in der Kalibrierungsmenge keine Versicherten enthalten, die im Zeitraum von 2009 bis 2011 zu irgendeinem Zeitpunkt als Teilnehmer in einem bereinigungsrelevanten Selektivvertrag nach §§ 73b, 73c und 140a ff. SGB V eingeschrieben waren. Damit wird verhindert, dass die Einschreibung in einen dieser Verträge einen verzerrenden Einfluss auf die Schätzung der Koeffizienten hat. Da nach dem Beschluss des Bewertungsausschusses in seiner 309. Sitzung nur der relative LB-MGV betrachtet wird, wird der LB-MGV für jeden Versicherten durch den mit der Zahl der Versichertenquartale gewichteten Mittelwert des LB-MGV der Kalibrierungsmenge dividiert. In den Kalibrierungsmengen für die diagnosebezogene und für die demografische Veränderungsrate sind dieselben Versicherten enthalten. Die unabhängigen Variablen für das demografische Modell sind jedoch nur die 34 Alters- und Geschlechtsgruppen gemäß der Gliederung der amtlichen KM6Statistik. a) Zum Komprimierungsalgorithmus Die hierarchisierten Risikokategorien des Klassifikationssystems werden komprimiert, d. h. aus den ursprünglich 189 HCCs gehen nur die relevantesten, sogenannten Top-HCCs (THCC), selbst in das Modell ein. Die übrigen HCCs werden gemäß ihrer Organgruppenzugehörigkeit als sogenannte Rest-HCCs (RHCC) zusammengefasst.

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A. Ryll, S. Leppin und D. Tümer

Für die Auswahl der relevanten HCCs werden zunächst vorläufige Relativgewichte mithilfe einer gewichteten multiplen linearen Regression und unter Berücksichtigung der 32 Alters- und Geschlechtsgruppen (AGGn) bestimmt. Die Gewichtung wird auf Basis der Versichertenzeit in Quartalen durchgeführt; so wird gewährleistet, dass auch unterjährig Versicherte (in diesem Fall: Verstorbene) angemessen berücksichtigt werden. Die Auswahl der relevanten HCCs als THCCs erfolgt nach folgenden Kriterien: – Die ökonomische Relevanz, also das Produkt aus Relativgewicht und Prävalenz: Alle HCCs werden absteigend nach ökonomischer Relevanz sortiert und diejenigen HCCs als THCCs aufgenommen, die zusammen mindestens 70 % der ökonomischen Relevanz insgesamt ergibt. – Die Höhe des Relativgewichts: Ist dieses größer oder gleich 1,5, wird die entsprechende HCC als THCC aufgenommen. So ist gewährleistet, dass überdurchschnittlich teure Risikokategorien direkt in das Modell eingehen. – Der Beitrag zur Erklärung der Varianz im Modell: Diejenigen HCCs werden als THCCs aufgenommen, die den maximalen Beitrag zur R²Erhöhung leisten. Dazu werden, basierend auf den 32 AGGn, die HCCs hinzugefügt, die den größten Beitrag zur Varianzerklärung haben. Die Anzahl der so aufzunehmenden HCCs ist nach oben durch die Anzahl der entstehenden THCCs aus 1. normativ begrenzt. Die nicht als THCCs in das Modell aufgenommenen HCCs werden als RHCCs entsprechend ihrer Organzugehörigkeit zusammengefasst. Die THCCs und RHCCs sind die komprimierten Risikokategorien des Klassifikationsmodells. b) Zum Kalibrierungsalgorithmus Mit den aus der Komprimierung hervorgegangenen Risikokategorien wird anhand einer erneuten Regression der relative LB-MGV geschätzt. Dadurch erhält jede AGG, THCC und RHCC des Modells ein Relativgewicht. Treten negative oder insignifikante (p-Wert ³ 0.05) Relativgewichte auf, so werden diese nach folgenden Kriterien behandelt: Innerhalb einer RHCC wird die HCC mit dem größten negativen Relativgewicht auf Null gesetzt, anschließend eine erneute Regression durchgeführt. Dies wird solange wiederholt, bis die RHCC nicht mehr negativ ist oder keine HCC mehr enthalten ist. Analog wird bei Insignifikanz vorgegangen. Sind zwei oder mehr RHCCs negativ bzw. insignifikant, wird zunächst diejenige mit dem negativeren (insignifikanteren) Relativgewicht wie zuvor beschrieben behandelt.



Gesundheitsökonomie in der vertragsärztlichen Vergütung173

Im Rahmen der Weiterentwicklung wurde das Relativgewicht der Risikoklasse RHCC024 („Krankheiten und Zustände bei Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett“) normativ auf 0 gesetzt. Sie war bisher stets negativ bzw. insignifikant. Auch inhaltlich ist es nachvollziehbar, dass diese Risikoklasse im 2-jährig prospektiven Modell keinen signifikanten Beitrag liefert. Tritt eine negative Alters- und Geschlechtsgruppe auf, so wird sie mit der „nächstjüngeren“ Alters- und Geschlechtsgruppe zusammengefasst. Dies geschieht symmetrisch für beide Geschlechter. Sind mehrere Gruppen negativ, wird schrittweise bei der AGG des höchsten Alters begonnen. Nach jedem Zusammenlegen wird eine erneute Regression durchgeführt. Analog wird bei Insignifikanz vorgegangen. Sollte eine THCC ein negatives Vorzeichen oder einen insignifikanten Koeffizienten aufweisen, wird sie in die entsprechende organbezogene RHCC mit aufgenommen und diese erneut bzgl. Negativität und Insignifikanz behandelt. Nach der Kalibrierung haben alle THCCs, RHCCs und AGGn ein positives Relativgewicht und sind signifikant. Sie werden als Risikoklassen des Klassifikationsmodells bezeichnet. 2. Modellanwendung (Ermittlung der Veränderungsraten)

a) Die Anwendungsmenge Die Menge von Versicherten, die verwendet wird, um anhand ihrer ausgelösten, d. h. mit Hilfe der aktuellen Version des Klassifikationssystems (vgl. Institut des Bewertungsausschusses 2013b) vorliegenden individuellen Morbiditätsprofile und den mit dem Klassifikationsmodell bestimmten Risikoklassen sowie ihrer Alters- und Geschlechtsstruktur die Veränderung der Morbidität von einem Jahr zum nächsten (aktuell 2010 auf 2011) zu messen, wird als Anwendungsmenge bezeichnet. Nach Beschluss des 313. Bewertungsausschusses sind in allen KV-Bereichen die Versicherten enthalten, die zu keinem Zeitpunkt in einem bereinigungsrelevanten Selektivvertrag nach §§ 73b, 73c und 140a ff. SGB V eingeschrieben waren. In Bayern und Baden-Württemberg werden zusätzlich die Versicherten in die Anwendungsmenge aufgenommen, die zu irgendeinem Zeitpunkt der Jahre 2010 und 2011 in einem solchen Selektivvertrag eingeschrieben waren. Die Berücksichtigung dieser Versicherten nur in diesen beiden KVen ist in ihrer quantitativ geringen Anzahl in den betrachteten Jahren in den übrigen KVen begründet.

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A. Ryll, S. Leppin und D. Tümer

b) Demografische Hochrechnung Aufgrund von Ausschlüssen in der Datengrundlage (z. B. wegen Auffälligkeiten bei der Qualitätssicherung, Lieferlücken etc.) können in der Geburtstagsstichprobe AGGn unterrepräsentiert sein. Um sich den tatsächlichen Verhältnissen in der GKV besser anzunähern, wird die KM6-Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit herangezogen und als Grundlage für die demografische Hochrechnung verwendet. Zur Bestimmung der sogenannten „Demografischen Hochrechnungsfak­ toren“ (DHF) wird die KM6-Besetzungszahl ( N _ KM 6 AGG, KV , Jahr ) mit dem Verhältnis aus der Versichertenzahl gemäß ANZVER87c4-Daten ( N _ ANZVERKV , Jahr ) und der Anzahl der Versicherten gemäß KM6-Statistik der KV insgesamt ( N _ KM 6 KV , Jahr ) multipliziert und durch die Anzahl Versichertenjahre aus der Stichprobe (VJ AGG, KV , Jahr ) geteilt. Dieser Quotient wird je Jahr, je Kassenärztlicher Vereinigung und je AGG gebildet (vgl. Beschluss des Erweiterten Bewertungsausschusses in seiner 29. Sitzung vom 19. / 25. Juni 2012, Beschlüsse des Erweiterten Bewertungsausschusses 2012).



DHFAGG, KV , Jahr =

N AGG, KV , Jahr = n AGG, KV , Jahr

N _ KM 6 AGG, KV , Jahr ·

N _ ANZVERKV , Jahr N _ KM 6 KV , Jahr

VJ AGG, KV , Jahr

.

Mit den DHF wird die Alters- und Geschlechtsstruktur der Stichprobe auf die der gesamten GKV hochgerechnet. Hier ist zu erwähnen, dass die KM6Statistik als Stichtagsstatistik nur auf den Versichertenzahlen des 1.7. des entsprechenden Jahres basiert. c) Die Ermittlung des Risikowerts Pro Jahr und je Versicherten wird der Risikowert als die Summe der mit den entsprechenden Relativgewichten bewerteten Prävalenzen eines Versicherten wie folgt ermittelt:

k

yˆ i = åb j xi, j . j =1

Dabei ist yˆ i der Risikowert des Versicherten i und bj sind die mit dem Regressionsmodell als Relativgewichte geschätzten Koeffizienten für die Risikoklassen j des Versicherten, wobei j = 1,¼, k und k die Anzahl der Risikoklassen ist.



Gesundheitsökonomie in der vertragsärztlichen Vergütung175

Während für Nicht-Selektivvertragsteilnehmer alle dokumentierten, d. h. haus- und fachärztlichen Diagnosen berücksichtigt werden, findet bei den Selektivvertragsteilnehmern eine Einschränkung auf fachärztliche Diagnosen statt, da insb. die in hausarztzentrierten Selektivverträgen nach § 73b SGB V dokumentierten hausärztlichen Diagnosen nicht zur Verfügung stehen. Dadurch können die beiden Kollektive getrennt voneinander untersucht werden und die Messung der Morbiditätsstruktur wird nicht durch Wechsel in den oder aus dem Selektivvertrag verzerrt. d) Der Morbiditätsindex und die diagnosebezogene Veränderungsrate Der mit Versichertenjahren und DHF gewichtete Mittelwert der Risikowerte ergibt je Jahr und KV den Morbiditätsindex. Es ist demnach

MI KV , Jahr =

å i yˆi VJ i DHFi å i VJ i DHFi

,

wobei VJ i die Versichertenjahre (bestimmt über die Quartale) des i-ten Versicherten und DHFi die demografischen Hochrechnungsfaktoren der zugehörigen AGG sind. Der Quotient aus den Morbiditätsindizes zweier aufeinanderfolgender Jahre abzüglich eins ist die diagnosebezogene Veränderungsrate:

VRKV , 2011/ 2010 =

MI KV , 2011 - 1. MI KV , 2010

Für die KV-Bereiche Baden-Württemberg und Bayern werden für Selektivvertragsteilnehmer und Nicht-Selektivvertragsteilnehmer getrennt Veränderungsraten bestimmt und gemäß des LB-MGV-Anteils des jeweiligen Kollektivs am Leistungsbedarf aller Versicherten des Jahres 2011 gewichtet zusammengefasst. e) Der Demografieindex und die demografische Veränderungsrate Im Unterschied zum Vorgehen bei der Bestimmung der diagnosebezogenen Veränderungsrate wird im demografischen Modell der morbiditätsbedingte Leistungsbedarf allein auf Alter und Geschlecht zurückgeführt. Die demografische Veränderungsrate misst demnach lediglich die mit der Aus-

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A. Ryll, S. Leppin und D. Tümer

alterung der Bevölkerung bzw. die sich durch ändernde Häufigkeiten im Altersaufbau bedingte Veränderung der Leistungsmenge. Für jede AGG der Gliederung der KM6-Statisitik wird ein Relativgewicht bestimmt. Da jeder Versicherte genau einer Gruppe („Zelle“) angehört, handelt es sich hierbei um ein Zellenmodell. Das jeweilige Relativgewicht jeder dieser Gruppen ist dann der mit den Versichertenjahren gewichtete Mittelwert des relativen morbiditätsbedingten Leistungsbedarfs aller zugehörigen Versicherten. Die Relativgewichte werden nun auf die Besetzungszahlen je AGG der amtlichen KM6-Statistik der Jahre 2010 und 2011 angewendet, d. h. zunächst mit ihnen multipliziert, danach aufaddiert. Diese Summe dividiert durch die Zahl der Versicherten je KV und je Jahr ist der Demografieindex: 34



DI KV , Jahr =

å i = 1N AGi , KV, Jahr RG AGi N KV , Jahr

.

Der Quotient aus den Werten für die beiden betrachteten Jahre ist die demografische Veränderungsrate von 2010 auf 2011:

VR2011/2010 =

DI 2011 - 1. DI 2010

Die Ergebnisse für die diagnosebezogenen und demografischen Veränderungsraten für das Jahr 2014 hat der Bewertungsausschuss als Empfehlung in seiner 315. Sitzung am 26. September 2013 beschlossen (Beschlüsse des Bewertungsausschusses 2013). V. Statistische Eigenschaften des für 2014 geltenden Modells Im geltenden Modell werden die Koeffizienten (siehe Abschnitt IV.) nach der Methode der kleinsten Quadrate (Greene 2012, S. 66 ff.) geschätzt. Die geschätzten Koeffizienten sind nach dem Gauß-Markov-Theorem optimal in dem Sinne, dass sie die „BLUE“ (Best Linear Unbiased Estimator) Eigenschaft besitzen. Sie sind unter den linearen unverzerrten Schätzern diejenigen mit der kleinsten Varianz (Greene 2012, S. 100). Zur Schätzung von Koeffizienten mit Hilfe der multiplen linearen Regression werden folgende Annahmen getroffen: – Der Spaltenrang der Designmatrix X ist voll, d. h. es liegt keine perfekte Multikollinearität zwischen den unabhängigen Variablen vor.



Gesundheitsökonomie in der vertragsärztlichen Vergütung177

– Der Erwartungswert des Fehlerterms ist gleich Null. – Die Varianzen des Fehlers sind gleich (Homoskedastizität). – Die Residuen sind normalverteilt. Im Folgenden wird auf die genannten Eigenschaften eingegangen. 1. Multikollinearität

Man spricht von Multikollinearität, wenn zwei oder mehrere Variablen nicht voneinander unabhängig, sondern miteinander korreliert sind. Eine perfekte Multikollinearität, d. h. die lineare Abhängigkeit einer unabhängigen Variablen von mindestens einer weiteren, steht der Voraussetzung der linearen Regression entgegen, dass die Designmatrix X vollen Spaltenrang besitzt (Krämer 2005, S. 181). Symptome von Multikollinearität (Greene 2012, S. 129) können sein: – Bereits kleine Änderungen in den Daten führen zu großen Änderungen in den geschätzten Koeffizienten. – Koeffizienten haben einen großen Standardfehler, obwohl sie signifikant sind und das Modell ein hohes Bestimmtheitsmaß (siehe Abschnitt VI.) hat. – Koeffizienten haben ein falsches Vorzeichen oder eine unplausible Größenordnung. Multikollinearität lässt sich mittels des Varianzinflationsfaktors untersuchen. Dafür wird die Korrelation immer zwischen der erklärenden Variablen xj und allen restlichen erklärenden Variablen zusammen berechnet (multiple Korrelationskoeffizienten). Der Varianzinflationsfaktor berechnet sich mit folgender Formel:

VIF (xi ) =

1 . 1 - Ri2

In der Literatur gilt als Faustregel, dass ein Varianzinflationsfaktor größer 10 als kritisch angesehen wird (Kutner / Nachtsheim / Neter 2004). In Tabelle 3 ist das Minimum und Maximum des Varianzinflationsfaktors über alle erklärenden Variablen des geltenden Modells für das Jahr 2014 (KM87a_2013) ausgewiesen.11 11  Die Berechnungen erfolgten auf Basis der vom Bewertungsausschuss an die Trägerorganisationen und Gesamtvertragspartner ausgelieferten regionalisierten Geburtstagsstichprobe. Vgl. Beschluss der 274. Sitzung des Bewertungsausschusses mit Wirkung zum 01. April 2012 und der Änderung durch den Beschluss in der 308. Sitzung mit Wirkung zum 1. April 2013 (Beschlüsse des Bewertungsausschusses 2012 und 2013).

178

A. Ryll, S. Leppin und D. Tümer Tabelle 3 Varianzinflationsfaktoren des geltenden Modells für das Jahr 2014 Kennzahl

Varianzinflationsfaktor

Minimum

1,00333

Maximum

2,16233

Quelle: Eigene Berechnungen.

Da das Maximum des Varianzinflationsfaktors weit unterhalb der kritischen Größe liegt, kann dies als hinreichend angesehen werden, dass Multikollinearität kein statistisches Problem im aktuell geltenden Modell darstellt. Darüber hinaus besitzt die Designmatrix, die aus den Risikoklassen des geltenden Modells besteht, vollen Spaltenrang. 2. Erwartungswert des Fehlerterms

Zu den Voraussetzungen der linearen Regression gehört auch, dass der Erwartungswert des Fehlerterms u gleich Null ist. Die Verletzung dieser Annahme kann mehrere Gründe haben, z. B. dass kein linearer Zusammenhang zwischen den unabhängigen Variablen und der abhängigen Variable vorliegt oder wichtige unabhängige Variablen nicht in das Modell aufgenommen wurden (Krämer 2005, S. 186). Eine mögliche Konsequenz der Verletzung sind fehlerhafte Koeffizienten, die mittels der linearen Regression bestimmt wurden. Nach der Kleinsten-Quadrate-Methode (Greene 2012,   S. 68 ff.) erfüllt der Vektor b als Schätzung für den wahren Vektor β (aus Abschnitt IV.) die folgenden (Normalen-)Gleichungen:   X T Xb = X T y .



Durch Umformung ergibt sich

      X T Xb - X T y = - X T ( y - Xb) = - X T u = 0 ,

also ist

n

å ui = 0. i =1

Für das aktuell geltende Modell ergibt sich, dass die Voraussetzung erfüllt ist, da der Mittelwert des Fehlers gleich Null ist.



Gesundheitsökonomie in der vertragsärztlichen Vergütung179 3. Homoskedastizität

Homoskedastizität ist eine weitere Voraussetzung für die BLUE-Eigenschaft der linearen Regression. Man spricht von Homoskedastizität, wenn die Fehlervarianz über alle Beobachtungen konstant ist. In unserem Kontext bedeutet dies, dass die Streuung der Differenz zwischen dem tatsächlichem Leistungsbedarf und dem erwarteten Leistungsbedarf über alle Versicherten konstant ist. Bei der Verletzung der Annahme von Homoskedastizität, d. h. wenn die Varianzen variabel sind, wird von Heteroskedastizität gesprochen. Die Koeffizienten werden beim Vorliegen von Heteroskedastizität weiterhin erwartungstreu aber nicht mehr effizient geschätzt, sodass anstelle der OLSStandardfehler sogenannte robuste Standardfehler zu berechnen wären (vgl. dazu Greene 2012, S. 309 ff.). Bei ca. 8 Millionen Versicherten in der Kalibrierungsmenge ließ sich anhand eines Plots der Residuen gegen die Vorhersagen nicht abschließend feststellen, ob Homoskedastizität im geltenden Modell erfüllt ist.12 4. Bemerkung zur Normalverteilung der Residuen

Für die Bestimmung der Regressionskoeffizienten nach dem Gauß-Markov-Theorem ist die Normalverteilung der Residuen (Fehler) keine notwendige Voraussetzung (Greene 2012, S. 100). Unabhängig davon folgt nach dem Zentralen Grenzwertsatz, dass sich die Verteilung der Fehler für große n der Normalverteilung annähert (Yan 2009, S. 196). Zum Teil wird in der Literatur bereits ab einem Stichprobenumfang von 30 Beobachtungen davon gesprochen, dass der Zentrale Grenzwertsatz gültig ist (Bücker 2003, S. 160). Im geltenden Modell KM87a_2013 umfasst die Kalibrierungsmenge ca. 8 Millionen Versicherte, daher wurde die Annahme der Normalverteilung nicht näher geprüft. VI. Güte des Regressionsmodells Das klassische Maß für die Güte eines linearen Regressionsmodells ist das Bestimmtheitsmaß R 2. Es gibt den Anteil der durch die unabhängigen Variablen des Modells erklärten Varianz an der gesamten Varianz an und hat 12  Das Ergebnis des in der Literatur diskutierten White-Test (Krämer 2005, S. 183 f.) endete in der Ausführung unter SAS® 9.3 auf der Kalibrierungsmenge nach mehrtägiger Laufzeit mit dem Hinweis auf das Vorliegen einer singulären Matrix und daher noch mit unklarem Befund. Der ebenfalls bei Krämer (2005) genannte Goldfeld-Quandt-Test ist in der für die Autoren verfügbaren SAS®-Software bisher nicht implementiert.

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A. Ryll, S. Leppin und D. Tümer

somit einen Wertebereich von 0 bis 1, wobei 0 bedeutet, dass das Modell keine Erklärungskraft bezogen auf die Varianz des Leistungsbedarfs der Versicherten hat und 1, dass das Modell die gesamte Varianz des Leistungsbedarfs der Versicherten erklärt. Das „adjustierte R 2 “ ist das Bestimmtheitsmaß der Modelle, das den Verlust von Freiheitsgraden bei der Aufnahme von (weiteren) Variablen ins Modell berücksichtigt. Es ist deshalb geeignet, die Güte von Modellen mit unterschiedlicher Anzahl an Regressoren zu vergleichen, da es – im Unterschied zum nicht adjustierten Bestimmtheitsmaß – durch die alleinige Hinzunahme weiterer unabhängiger Variablen ohne echten Beitrag zur Erklärungskraft nicht ansteigt. Es gilt:



2 Radj

n 1 ( y - yˆ i )2 n - p -1 å i =1 i = 1, n 1 yi - y )2 ( å i =1 n -1

wobei n der Stichprobenumfang und p die Anzahl der unabhängigen Variablen im Modell ist, yi der tatsächliche Leistungsbedarf je Versicherten, yˆ i der erwartete Leistungsbedarf je Versicherten und y der Mittelwert des tatsächlichen Leistungsbedarfs über alle Versicherten. Eine Besonderheit des geltenden Modells ist die Regression ohne y-Achsenabschnitt. Der Verzicht auf einen y-Achsenabschnitt ist damit begründet, dass jeder Versicherte einer der 32 AGGn des Modells zugeordnet ist und diese bereits als erklärende Variablen in das Modell eingehen. Damit ist sichergestellt, dass jedem Versicherten ein Sockelbetrag zugeteilt ist. Ein weiteres, häufig verwendetes, Gütemaß ist das von Cumming (2002) entwickelte Cummings Prediction Measure (CPM). Im Unterschied zum Bestimmtheitsmaß werden der Absolutwert der Residuen (Abweichungen zwischen den vom Modell erwarteten und den tatsächlichen Leistungsbedarfen der Versicherten) und der Absolutwert der Abweichung des Leistungsbedarfs vom Mittelwert des Leistungsbedarfs bestimmt. Der Unterschied gegenüber dem Bestimmtheitsmaß liegt darin, dass die Abweichungen nicht quadriert, sondern nur mit geringerer Auswirkung in die Berechnung der Güte des Modells eingehen. Dies hat zur Folge, dass insbesondere Ausreißer weniger stark als beim R 2 ins Gewicht fallen. Die Formel für das CPM lautet:13 13  Eine alternative Darstellung des CPM folgt aus dem Quotienten des mittleren absoluten Vorhersagefehlers (Mean Absolute Prediction Error, kurz MAPE) und der mittleren absoluten Abweichung vom Mittelwert (Mean Absolute Deviation, kurz MAD). Die mittlere absolute Abweichung vom Mittelwert ist die Division der Summe des Absolutwerts der Differenzen des tatsächlichen Leistungsbedarfs yi zum



Gesundheitsökonomie in der vertragsärztlichen Vergütung181 n

å i = 1 yi - yˆi CPM = 1 n å i = 1 yi - y



.

Darüber hinaus wird der mittlere absolute Vorhersagefehler zur Beurteilung von Modellen herangezogen. Er ist definiert als der Mittelwert der Absolutwerte der Residuen der n Versicherten: n

MAPE =



å i =1

yi - yˆ i n

.

Der mittlere absolute Vorhersagefehler gibt an, wie stark die Über- bzw. Unterschätzung im Durchschnitt ist, d. h. wie gut der Zusammenhang zwischen der abhängigen Variable und den unabhängigen Variablen wiedergegeben wird. Eine bessere Angabe der Verschätzung ergibt sich durch eine Gewichtung mit dem Anteil der nach Quartalen gebildeten Versichertenjahren VJi je Versicherten. Die so modifizierte Formel für den gewichteten MAPE lautet: n

å i = 1VJ i yi - yˆi MAPE gew = n å i = 1VJ i



.

Der relative Prognosefehler, der sich für Vergleiche von Modellen eignet, ist definiert als der Quotient aus dem gewichteten MAPE und dem ebenso mit den Versichertenjahren gewichteten Mittelwert des Leistungsbedarfs der Versicherten.14 Dieses Streuungsmaß ist somit eine dimensionslose Größe mit dem Wert 0 als untere Grenze und ohne obere Grenze. Tabelle 4 stellt den gewichteten MAPE, den relativen Prognosefehler, das adjustierte Bestimmtheitsmaß sowie das CPM für das Modell KM87a_2013 dar. Mittelwert

des tatsächlichen Leistungsbedarfs über alle Versicherten durch die Zahl der Versicherten n: n



MAD =

å i = 1 yi - y n

, daraus folgt CPM = 1 - MAPE . MAD

14  Anhand der Werte für MAPE gew und dem relativen Prognosefehler in der Tabelle 4 ergibt sich als Quotient dieser Kennzahlen der gewichtete Mittelwert des Leistungsbedarfs der Versicherten der Kalibrierungsmenge in Höhe von 336,52 €.

182

A. Ryll, S. Leppin und D. Tümer Tabelle 4 Gütemaße für das geltende Modell KM87a_2013

Modell

MAPE Gewichtet

Relativer Prognosefehler

Adjustiertes R2

CPM

KM87a_2013

181,05 €

53,8 %

33,8 %

26,9 %

Quelle: Eigene Berechnungen.

Der relative Prognosefehler des geltenden Modells beschreibt als Streuungsgröße den Prozentsatz um den, bezogen auf den zugehörigen Mittelwert, die erwarteten Leistungsbedarfe streuen. Je geringer der Prozentsatz, desto geringer ist der Prognosefehler. Im demografischen Modell ist diese Streuungsgröße, bezogen auf denselben Mittelwert, mit mehr als 64,6 % deutlich größer als im geltenden Modell mit 53,8 %. Der Anteil der erklärten Varianz an der Gesamtvarianz im Modell KM87a_2013 beträgt nach dem adjustierten Bestimmtheitsmaß 33,8 % und ist damit deutlich größer als das adjustierte Bestimmtheitsmaß im demografischen Modell, welches 13,9 % beträgt. Verglichen mit in der Literatur berichteten Größenordnungen zur Varianzaufklärung der Leistungsbedarfe von Versicherten ist, vorbehaltlich aller Modellunterschiede, das in Tabelle 4 aufgeführte Bestimmtheitsmaß des geltenden Modells beachtlich hoch (vgl. Ellis 2012). Es lassen sich weitere Kennzahlen, insbesondere auf der Anwendungsmenge, bestimmen, so dass die hier dargestellten Gütemaße zu den wesentlichen Modelleigenschaften des geltenden Modells nicht als abschließend zu betrachten sind. VII. Diskussion und Fazit Der Gesetzgeber hat mit dem durch den Bewertungsausschuss weiterentwickelten „geltenden Modell“ als regelbasierte Vorgabe zur Anpassung des morbiditätsbedingten Behandlungsbedarfs die Risikoadjustierung in der Veränderung der vertragsärztlichen Gesamtvergütung verankert. Zugleich eröffnet das Gesetz mit den durch das „geltende Modell“ bestimmten Veränderungsraten den Gesamtvertragspartnern zusätzliche Verhandlungsspielräume bei der Vereinbarung zur prospektiven Anpassung des morbiditätsbedingten Behandlungsbedarfs der Versicherten eines KV-Bereichs. Die Übernahme des im vertragsärztlichen Bereich vorhandenen Morbiditätsrisikos durch die Krankenkassen gelingt keineswegs von selbst und ist



Gesundheitsökonomie in der vertragsärztlichen Vergütung183

selten konfliktfrei. Dies zeigt sich beispielsweise an der Weigerung der Krankenkassen in den Gesamtvertragsverhandlungen, neben den Morbiditätsstrukturveränderungen auch etwaige Differenzen des bisher vereinbarten Behandlungsbedarfs zum vorhandenen Morbiditätsniveau anhand des erwarteten morbiditätsbedingten Leistungsbedarfs anzuerkennen. Die Weiterentwicklung der Modellausgestaltung wird neben den vom Bewertungsausschuss vereinbarten, aber teilweise noch nicht umfassend operationalisierten Kriterien (wie Robustheit, Stabilität, etc.) wie durch die sich gegebenenfalls ändernde MGV-Abgrenzung bestimmt werden. Auch die Qualität der verfügbaren Datengrundlage wird bei der Weiterentwicklung und Anwendung eine maßgebliche Rolle spielen. Für die sachgerechte Übernahme des Morbiditätsrisikos durch die Krankenkassen bedarf es des regelbasierten Zusammenwirkens von prognostizierter Veränderung des Behandlungsbedarfs und der im Gesetz in § 87a Abs. 3 SGB V vorgesehenen Vergütung aufgrund eines nichtvorhersehbaren Anstiegs des morbiditätsbedingten Behandlungsbedarfs. Die bisherige Beschlussfassung des Bewertungsausschusses realisiert noch keine retrospektive modellbasierte Überprüfung, inwieweit die prognostizierte Änderung den tatsächlichen Prävalenzänderungen auf der Ebene der gesetzlich Versicherten in der Wohnort-KV entspricht. Der Schweregrad des Problems scheint jedoch dadurch etwas verringert, dass es auch mit Verweis auf die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung gelungen ist, einen wachsenden Anteil der Leistungen, mit dabei regional unterschiedlichen Leistungsabgrenzungen, außerhalb der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung durch die Krankenkassen zu vergüten. Aus einer Makroperspektive könnte man in diesem bereits vor vielen Jahren von Newhouse (1996) empfohlenen „blended payment“ aus budgetierten und nicht budgetierten Leistungen den Kern einer sachgerechten Lösung der ambulanten ärztlichen Vergütung ansehen. Aus dieser Perspektive lässt sich auch verstehen, dass die Modellentwicklung des „geltenden Modells“ ein von gegensätzlichen Interessen geprägter, schwieriger und durchaus aufwendiger Prozess ist, der von den Grundsatzfragen, beispielweise der zu verwendenden Kriterien für der Modellentwicklung, bis in die tiefen Details der Modellausgestaltung reicht. Dabei steht jedoch bisher aus ökonomischer Sicht nicht fest, ob dieser Vorgang auf der Ebene der Selbstverwaltung und die daraus hervorgehenden Ergebnisse mit dem Charakter einer Empfehlung nachhaltig dazu beitragen, die allokative Effizienz der vertragsärztlichen Versorgung auf der Ebene der kollektivvertraglich fixierten Gesamtvergütung zu realisieren.

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A. Ryll, S. Leppin und D. Tümer

Der in den Beschlüssen des Bewertungsausschusses zum Ausdruck kommende Konsens ist vielfach davon bestimmt, die bei Nichteinigung und Anrufung des Erweiterten Bewertungsausschusses drohenden Mehrheitsentscheidungen mit den Festlegungen des Erweiterten Bewertungsausschusses zu vermeiden, um den auf der jeweiligen Verhandlungsseite im Hintergrund bestehenden divergenten Interessen besser Rechnung tragen zu können. Literatur Beschlüsse des (Erweiterten) Bewertungsausschusses (2007–2014) [online abrufbar  unter http: /  / www.institut-des-bewertungsausschusses.de / ba / beschluesse.html (letzter Zugriff am 27.02.2014)]. Bücker, R. (2003): Statistik für Wirtschaftswissenschaftler, 5. Aufl., München. Bundesmantelvertrag-Ärzte (2013): Fassung vom 1. Oktober 2013 [online abrufbar unter http: /  / www.kbv.de / rechtsquellen / 2310.html (letzter Zugriff am 27.02.2014)]. Cumming, R. B. / Knutson, D. / Cameron, B.  A. / Derrick, B. (2002): A Comparative Analysis of Claims-based Methods of Health Risk Assessment for Commercial Populations, A research study sponsored by the Society of Actuaries, May 24, Minneapolis. Deutscher Bundestag: Drucksache 16  /  3100 vom 24.10.2006, BT-Drucksache 16 / 3100. Ellis, R. P. (2008): „Risk adjustment in health care markets: concepts and applications“, in: Lu, M. / Jonnson, E., (eds.): Financing Health Care: New Ideas for a Changing Society, Edmonton and Alberta, 177–222. – (2012): „Risk Adjustment“, in: Durlauf, S. N. / Blume, L. E. (eds.), The New Palgrave Dictionary of Economics, Palgrave. Greene, W. (2012): Econometric Analysis, Seventh Edition, Harlow. IGES / Lauterbach, K.  W. / Wasem, J. (2005): Klassifikationsmodelle für Versicherte im Risikostrukturausgleich. Endbericht. Untersuchung zur Auswahl geeigneter Gruppenbildungen, Gewichtungsfaktoren und Klassifikationsmerkmale für einen direkt morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Bd. 334, Bonn. Institut des Bewertungsausschusses (2009): Bericht zur Schätzung der Morbiditätsveränderung 2008 / 2009 und zur Repräsentativität und Plausibilität der Datengrundlage des Bewertungsausschusses, Berlin [online abrufbar unter https: /  / www. institut-des-bewertungsausschusses.de / publikationen / Bericht_SchaetzungMorbi ditaetsveraenderung.pdf (letzter Zugriff am 27.02.2014)]. – (2010): Bericht des Instituts des Bewertungsausschusses zu Vollständigkeits- und Repräsentativitätsprüfungen gemäß Beschluss des 184. Bewertungsausschusses vom 20. Mai 2009 und den Ermittlungen der Strukturveränderungen der Morbidität zwischen den Jahren 2006 und 2008, Berlin.



Gesundheitsökonomie in der vertragsärztlichen Vergütung185

– (2013a): Bericht des Instituts des Bewertungsausschusses zur Weiterentwicklung des Klassifikationssystems sowie zur Ermittlung der Veränderungsraten für das Jahr 2013 gemäß § 87a Abs. 5 SGB V, Berlin. – (2013b): Bericht des Instituts des Bewertungsausschusses zur jährlichen Weiterentwicklung des Klassifikationssystems gemäß § 87a Abs. 5 SGB V (KS87a): Weiterentwicklung der Zuordnung der Diagnosen zu Risikokategorien bis zum 31. Mai 2013, Berlin [online abrufbar unter https: /  / www.institut-des-bewertungsausschusses.de / publikationen / Bericht_Med_Weiterentwicklung_KS87a_2013.pdf (letzter Zugriff am 27.02.2014)]. Jacobs, K. / Reschke, P. / Cassel, D. / Wasem, J. (2002): Zur Wirkung des Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung. Eine Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Bd. 140, Baden-Baden. Jahn, R. / Schillo, S. / Wasem, J. (2012): Morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich. Wirkungen und Nebenwirkungen, in: Bundesgesundheitsblatt, Vol. 55, S. 624–632. Krämer, W. / Schoffer, O. / Tschiersch, L. (2005): Datenanalyse mit SAS, Berlin u. a. Kutner, M. H. / Nachtsheim, C. J. / Neter, J. (2004): Applied Linear Regression Models, 4th edition, Irwin. Newhouse, J. P. (1996): Reimbursing Health Plans and Health Providers: Efficiency in Production versus Selection, Journal of Economic Literature. Vol. 34 No. 3, 1236–1263. Sozialgesetzbuch (SGB): Fünftes Buch (V) – Gesetzliche Krankenversicherung [online abrufbar unter http: /  / www.gesetze-im-internet.de / bundesrecht / sgb_5 / gesamt. pdf (letzter Zugriff am 27.02.2014)]. van den Ven, W. P. M. M.  / Ellis, R. P. (2000): Risk Adjustment in Competitive Health Plan Markets, in: Culyer, A. J.  /  Newhouse, J. P. (eds.), Handbook of Health Economics, Vol. 1A, Amsterdam, 755–845. Yan, X. / Su, X. (2009): Linear Regression Analysis: Theory and Computing, Singapore.

Schnittstelle Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung – zwischen Effizienz und Effektivität Stephanie Stock, Tristan Gloede, Dirk Müller, Holger Pfaff und Nicole Ernstmann I. Einleitung Oberste Prämisse der Gesundheitspolitik sollte es sein, den Zugang der Bevölkerung zu einer effektiven und effizienten medizinischen Versorgung sicherzustellen. Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie sind in Hinblick auf dieses Ziel Disziplinen, die über die krankheitsorientierte, klinisch-evaluative Forschung hinausgehen und das System als Ganzes in den Blick nehmen. Die Versorgungsforschung (VF) evaluiert primär die Wirksamkeit von Therapien und Versorgungsformen unter Alltagsbedingungen auf den unterschiedlichen Ebenen des Systems (Makro-, Mikro- und Mesoebene) und entwickelt Vorschläge zur ihrer Implementierung. Die Gesundheitsökonomie (GÖ) ergänzt diese durch die Bewertung der technischen und allokativen Effizienz, der Bedeutung von Anreizen und Strukturen im System sowie der Erforschung der Normen und Präferenzen der unterschiedlichen Akteure. Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie verbindet der gemeinsame Forschungsgegenstand, die Gesundheitsversorgung in der realen Versorgungssituation zu analysieren und dabei die anstehenden Herausforderungen des Gesundheitssystems im Blick zu halten. Dadurch heben sich beide Disziplinen von der biomedizinischen Grundlagenforschung ab (Schrappe / Pfaff 2011). Der folgende Beitrag stellt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie dar. Darauf aufbauend wird diskutiert, wie sich beide Disziplinen ergänzen können, um die Analyse des Versorgungsgeschehens unter Alltagsbedingungen sowie die Optimierung von Versorgungsstrukturen und -prozessen voranzutreiben. Dabei wird von der Prämisse ausgegangen, dass die Gemeinsamkeit beider Disziplinen in einem weit gefassten Anwendungsgebiet und breiten Methodenspektrum besteht. Dies erlaubt es beiden Disziplinen eine Vielzahl verschiedener Forschungsmethoden in einen Ansatz zu integrieren und Interdependenzen herzustellen.

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S. Stock, T. Gloede, D. Müller, H. Pfaff und N. Ernstmann

II. Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung 1. Terminologien, Forschungsbereiche und Methoden der Versorgungsforschung

Der Begriff Versorgungsforschung wird seit einigen Jahren verwendet, um angewandte Forschungsvorhaben im medizinischen oder gesundheitswissenschaftlichen Bereich zu beschreiben. Dabei mangelt es teilweise an einem einheitlichen Verständnis bzw. an einem kritischen Umgang mit diesem Begriff (Scriba 2011). Was also ist Versorgungsforschung? Die Versorgungsforschung ergänzt als dritte Säule die biomedizinische und die klinische Forschung, indem sie die Bedingungen des Versorgungssystems analysiert, sowie die Wirksamkeit von Versorgungsverfahren, -strukturen und -prozessen unter Alltagsbedingungen untersucht (Nellessen / Ernstmann /  Pfaff 2006). Eine frühe Definition beschreibt die Versorgungsforschung als „ein fächerübergreifendes Forschungsgebiet, das die Kranken- und Gesundheitsversorgung und ihre Rahmenbedingungen beschreibt und kausal erklärt, zur Entwicklung wissenschaftlich fundierter Versorgungskonzepte beiträgt, die Umsetzung neuer Versorgungskonzepte begleitend erforscht und die Wirksamkeit von Versorgungsstrukturen und -prozessen unter Alltagsbedingungen evaluiert“ (Pfaff 2003). Einer weiteren Definition zufolge ist Versorgungsforschung „die wissenschaftliche Untersuchung der Versorgung von Einzelnen und der Bevölkerung mit gesundheitsrelevanten Produkten und Dienstleistungen unter Alltagsbedingungen. Hier besteht eine Schnittmenge mit der Gesundheitsökonomie. Ihre Methoden ergänzen die Versorgungsforschung bei der Analyse, wie Finanzierungssysteme, soziale und individuelle Faktoren, Organisationsstrukturen und -prozesse und Gesundheitstechnologien den Zugang zur Kranken- und Gesundheitsversorgung sowie deren Qualität und Kosten und letztendlich unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden beeinflussen können. Die Beobachtungseinheiten umfassen Individuen, Familien, Populationen, Organisationen, Institutionen, Kommunen etc.“ (Arbeitskreis „Versorgungsforschung“ 2004). Kernelement beider Definitionen ist die Untersuchung von Gesundheitsleistungen unter Alltagsbedingungen, d. h. die Untersuchung der relativen Wirksamkeit (effectiveness). Dies unterscheidet die Versorgungsforschung von klinischen Studien, die sich auf ein eng definiertes Patientenkollektiv beziehen, um die interne Validität einer Studie zu erhöhen (Pfaff / Schrappe 2011). Versorgungsforschungsstudien hingegen sind vor allem durch 2 Aspekte gekennzeichnet: zum einen werden so wenig Ausschlusskriterien wie möglich definiert und damit zum Beispiel explizit ältere oder multimorbide PatientInnen in Studien mit einbezogen. Zum zweiten wird der Kontext der



Schnittstelle Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung189 Input

Throughput

Output

– Patienten

– Gesundheitsleistung

– Versorgungsleistung

– Ressourcen

– Kontext der Gesundheitsleistung

– Gesundheitsdienstleister

Outcome – körperlicher – psychischer – verhaltensbezogener – sozialer – kultureller

Quelle: (Pfaff / Schrappe 2011).

Abbildung 1: Throughput-Modell

Gesundheitsleistung in Form möglicher Einflüsse auf der Makroebene (gesundheitspolitisch oder gesamtgesellschaftlich), der Mesoebene (konkrete Versorgungsstrukturen und -prozesse), und auf der Mikroebene (Präferenzen von Patienten, Ärzten, Pflegepersonal und anderen Akteuren der Versorgung) ausdrücklich berücksichtigt. Der Unterschied zwischen efficacy und effectiveness wird als „effectiveness gap“ bezeichnet (Schrappe / Scriba 2006). Um diesen Unterschied systematisch zu untersuchen, können die Elemente der Versorgung anhand eines systemtheoretischen Rahmenmodells betrachtet werden (Pfaff / Schrappe 2011). Diesem Modell folgend befasst sich die Versorgungsforschung mit der Untersuchung der Patienteneigenschaften, der Ressourcen und der Merkmale der Gesundheitsdienstleister, welche den Bedarf, das Angebot, die Nachfrage, den Zugang und die Inanspruchnahme einer Gesundheitsleistung beeinflussen (Input). Darüber hinaus sind der Kontext der Gesundheitsleistung wie zum Beispiel die Arzt-Patient-Beziehung oder die Ablauforganisation in einer Versorgungseinrichtung (Throughput), die erbrachte Versorgungsleistung (Output) und der resultierende Outcome (z. B. körperlich, psychisch oder sozial) Gegenstand des Modells (siehe Abbildung 1). Die Elemente des Throughput-Modells stehen dabei in einem kausalen Zusammenhang, d. h. das Ergebnis einer Versorgungsleistung wird durch vielfältige Einflussfaktoren auf den verschiedenen Ebenen des Modells beeinflusst. a) Teilgebiete der Versorgungsforschung mit Bezug zur Gesundheitsökonomie Dem beschriebenen Gegenstandsbereich der Versorgungsforschung folgend, können verschiedene Teilgebiete der Versorgungsforschung unterschieden werden. Hierzu zählen zum Beispiel die Bedarfsforschung, die

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Gesundheitswesen Praktisches Problem

Versorgungsforschung Transformation

Forschungsfrage

Hypothesen

Interessensverbände/ Stakeholder

Politische Konsequenzen Praxisbezogene Lösungen

Angemessenheit

Forschungsdesign

Durchführbarkeit

Datenerhebung Datenanalyse

Transformation

Schlussfolgerungen

Quelle: (Bensing et al. 2003).

Abbildung 2: Regelkreis der Versorgungsforschung

Inanspruchnahmeforschung, die Organisationsforschung oder die Qualitätsforschung (Pfaff 2003). In allen diesen Bereichen sind multidisziplinäre wissenschaftliche Ansätze notwendig, um den Forschungsgegenstand aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Neben der Beteiligung verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen ist eine enge Zusammenarbeit mit der Gesundheitspraxis, d. h. den beteiligten Gesundheitsprofessionen, dem Management von Versorgungseinrichtungen, den Kostenträgern, der Gesundheitspolitik sowie den PatientInnen, KlientInnen, Versicherten oder BürgerInnen notwendig. Die Zusammenarbeit verschiedener Teilgebiete der Versorgungsforschung sollte sich über alle Phasen der Versorgungsforschung, von der Entwicklung der Forschungsfrage über die Auswahl eines Forschungsdesigns, die Datenerhebung und -auswertung bis hin zur Ableitung praktischer Implikationen, erstrecken (Bensing / Caris-Verhallen / Dekker / Delnoij / Groenewegen 2003) (siehe Abbildung 2). Die Abstimmung mit der Versorgungspraxis im Forschungsprozess bezieht sich auf die Angemessenheit und Durchführbarkeit der Untersuchung. Inhaltlich darf die Versorgungsforschung dabei nicht in den Verdacht geraten, primär politisch motiviert zu sein oder ökonomischen Einzelinteressen zu dienen (Schmacke 2007).



Schnittstelle Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung191

b) Methoden der Versorgungsforschung Die Versorgungsforschung bedient sich neben der Vielfalt der wissenschaftlichen Methoden ihrer gesundheitswissenschaftlichen Bezugsdisziplinen. Hierzu gehören z. B. die Soziologie, die Psychologie, die Gesundheitsökonomie oder die Epidemiologie. Es existieren keine eigenen Methoden der Versorgungsforschung, jedoch methodische Standards, wie die einzelnen Methoden angewandt werden sollten, um verlässliche Daten in der Versorgungsforschung zu generieren. Diese Standards sind in methodischen Memoranden des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung e. V. beschrieben worden und beziehen sich auf die Registerforschung, die gesundheitsökonomische Evaluation in der Versorgungsforschung, die Versorgungsepidemiologie, die organisationsbezogene Versorgungsforschung und die Lebensqualitätsforschung (Glaeske / Augustin / Abholz / Banik et al. 2009; Icks / Chernyak, Bestehorn / Brüggenjürgen / Bruns et al. 2010; Koller / Neugebauer / Augustin /  Büssing et al. 2009; Müller / Augustin / Banik / Baumann et al. 2010; Pfaff /  Albert / Bornemann / Ernstmann et al. 2009). Welche Methoden eingesetzt werden sollten, ist grundsätzlich von der Fragestellung der Untersuchung abhängig (Neugebauer 2011). Diese Gegenstandsangemessenheit bedeutet, dass kein bedeutsamer Aspekt des Forschungsgegenstands aufgrund fehlender Instrumente oder Verfahren unberücksichtigt bleiben sollte (Meyer / Flick 2011). Die Fragestellungen der Versorgungsforschung können je nach Forschungsgegenstand in der Beschreibung, Erklärung, Gestaltung, Begleitung oder Evaluation der Gesundheitsversorgung liegen (Pfaff 2003). Die zur Verfügung stehenden Studiendesigns, Datenerhebungs- und -auswertungsmethoden schließen sowohl qualitative wie auch quantitative Forschungsansätze ein. Immer häufiger wird dabei eine Triangulation der Forschungsmethoden gefordert. So können zum Beispiel qualitative Methoden eingesetzt werden, um die Forschungsfrage zu schärfen, neue Konstrukte zu operationalisieren, die einzusetzenden Instrumente zu testen oder Teilergebnisse quantitativer Forschung ex post zu deuten (O’Cathain / Murphy / Nicholl 2010). 2. Terminologien, Forschungsbereiche und Methoden der Gesundheitsökonomie

Die Gesundheitsökonomie ist insbesondere in Deutschland eine noch junge Disziplin, für die keine einheitliche Definition existiert. Eine gut operationalisierbare Definition findet sich bei von der Schulenburg. Danach ist Gesundheitsökonomie „die Analyse der wirtschaftlichen Aspekte des Gesundheitswesens unter Verwendung von Konzepten der ökonomischen

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Theorie“ (Schöffski / v.  d.  Schulenburg 2002). Aus Sicht vieler Ökonomen ist ihre Aufgabe die Bewertung von ökonomisch relevanten Folgen von Produkt- und Systeminnovationen aus der Perspektive unterschiedlicher Akteure im Gesundheitssystem [siehe II.2.a)]. Dabei betrachtet sie die einzelnen Akteure mit ihren Zielen (z. B. Ärzte, Krankenkassen, Patienten) sowie das als Versorgungsgeschehen definierte Zusammenspiel dieser Akteure. Insbesondere untersucht sie die Auswirkungen von Anreizen, Präferenzen und Normen auf das Verhalten der Akteure und das Versorgungsgeschehen und analysiert die zu erwartenden Kosten im Verhältnis zu dem zu erwartenden Nutzen. Die Notwendigkeit einer ökonomischen Betrachtung des Gesundheitssystems ergibt sich aus der Diskrepanz der zur Verfügung stehenden Ressourcen und dem medizinischen Bedarf. Die Festlegung von Kriterien für eine gerechte Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen ist eine gesundheitspolitische Aufgabe mit einer medizinischen, ökonomischen, ethischen und juristischen Dimension. Die Gesundheitsökonomie kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten, der den vom Deutschen Ethikrat in diesem Zusammenhang geforderten Ausbau der Transfer- und Versorgungsforschung unterstützen kann (Deutscher Ethikrat 2011). Die theoretische Begründung für den Ansatz der Gesundheitsökonomie in diesen Forschungsfragen ist die Wohlfahrtstheorie. Sie analysiert die Bedingungen für ein Wohlfahrtsoptimum und geht der Frage nach, wie bei knappen Mitteln aus gesellschaftlicher Sicht eine optimale Allokation von Ressourcen erzielt werden kann. Zur Beschreibung des bestmöglichen Verteilungszustandes der Ressourcen als Voraussetzung für eine optimale Versorgung verwendet die Gesundheitsökonomie den Begriff „Effizienz“. Dabei werden die technische Effizienz und die allokative Effizienz unterschieden. Die technische Effizienz beschreibt die Erbringung einer definierten (optimalen) Versorgung mit dem kleinsten möglichen Einsatz an Ressourcen bzw. Produktionsfaktoren. Die allokative Effizienz erweitert die ökonomische Betrachtung einer Innovation um die Perspektive der PatientInnen bzw. des Systems, indem sie zur Maximierung eines Gesamtnutzens eine optimale Zuteilung der erreichbaren Produktion anstrebt. Die allokative Effizienz beruht dabei, je nach definiertem Ziel, auf zwei möglichen Annahmen, der (wohlfahrtstheoretisch fundierten) Prämisse eines größtmöglichen Beitrags zur gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt oder der (extrawelfaristischen) Prämisse einer größtmöglichen Produktion von Gesundheit in Form der Maximierung von Lebensdauer und Lebensqualität (Schlander 2009). Neuere Ansätze definieren das Ziel hingegen auch als vorrangige Wiederherstellung der Autonomie und Selbstverwirklichung (Schlander 2009). Gemeinsam ist diesen Ansätzen das Ziel der Gesundheitsökonomie, eine effiziente Ressour-



Schnittstelle Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung193

cenallokation zu erreichen, die je nach gewählter Definition zu einer optimalen Versorgung aller Konsumenten mit den von ihnen benötigten und erwünschten Innovationen führt. Dabei umfasst der Begriff „Innovation“ nicht nur Arzneimittel, sondern auch Medizinprodukte, Versorgungsformen und Systeminnovationen. Entsprechend haben viele Teilgebiete bzw. Methoden der GÖ eine Schnittstelle zur Versorgungsforschung. Neben den klassischen Formen der gesundheitsökonomischen Evaluation (vergleichende und nicht vergleichende Studienformen) sind dies insbesondere Teilbereiche und Methoden, die sich mit der Evaluation des Versorgungsgeschehens bzw. der Interaktion von Akteuren im Gesundheitsmarkt beschäftigen. Beispiele sind mikroökonomische Ansätze der Krankenhausökonomie, makroökonomische Ansätze in der Gesundheitssystemforschung und finanztheoretische Ansätze in der Versicherungsforschung. Weitere Anknüpfungspunkte finden sich im Rahmen der Nutzenbewertung von Innovationen, die Bewertung von Gesundheitszuständen (Lebensqualität) sowie die Messung von Präferenzen der PatientInnen, Versicherten und Leistungserbringern. a) Methoden der Gesundheitsökonomie Ähnlich wie die Versorgungsforschung bedient sich auch die Gesundheitsökonomie einer Vielzahl von Methoden aus unterschiedlichen Disziplinen, wie z. B. der klinischen Epidemiologie, der Evidenz-basierten Medizin, der empirischen Sozialforschung, der Marktforschung sowie ganz allgemein makro- und mikroökonomischer Methoden. Sie verknüpft diese mit den Methoden der gesundheitsökonomischen Evaluation im engeren Sinne, um eine Bewertung der Wohlfahrtsverbesserung, eine Messung der Präferenzen der Akteure, sowie eine (vergleichende oder nicht-vergleichende) Bewertung der Kosten von Interventionen vorzunehmen. Als Methoden der Gesundheitsökonomie im engeren Sinne werden in diesem Artikel die Methoden der Gesundheitsökonomischen Evaluation bezeichnet. Sie umfassen die vergleichenden und die nicht vergleichenden Studienformen. Für sie existieren nationale und internationale methodische Standards, die in Leitlinien, Checklisten und Good Practices for Outcomes Research (ISPOR) zusammengefasst sind. Die Einbeziehung der verschiedenen Kostenkomponenten in der Gesundheitsökonomischen Evaluation ist dabei von der Perspektive, den zu betrachtenden Gesundheitsleistungen, der Bedeutung der Kosten für die spätere Entscheidung sowie der Bedeutung der zu erhebenden Kostenkategorie für die Gesamtkosten abhängig. Als mögliche Quellen für die Erhebung gesundheitsökonomischer Daten im Rahmen von gemeinsamen Fragestellungen mit der Versorgungsforschung kommen u. a. Krankenakten, öffentliche Statistiken, Routinedaten der Krankenversicherungen, Registerdaten, Kostentagebücher und klinische Studien in Frage.

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Welche Methode(n) bzw. welche Perspektive bei einer gesundheitsökonomischen Evaluation angewendet werden soll, ist von der Fragestellung abhängig. Vergleichende Studien werden eingesetzt, wenn Fragen zur Ressourcenallokation bzw. zum effizienten Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel beantwortet werden sollen. Nicht vergleichende Studien liefern Hinweise zum Inanspruchnahmeverhalten, zum Design von Prozessen- und Strukturen des Versorgungsgeschehens sowie zur Prioritätensetzung. Die Erhebung von Präferenzen von Patienten und Leistungserbringern ergänzt die genannten Methoden durch die Erfassung der Einstellungen der Akteure zum Versorgungsgeschehen, den zur Verfügung stehenden Handlungsalternativen und ihren Konsequenzen. Damit kann die Gesundheitsökonomie zu den klassischen Evaluationsverfahren der Versorgungsforschung wichtige Informationen zu Anreizen und Barrieren in der Implementierungs- und Evaluationsforschung beisteuern. aa) Nicht-vergleichende Studienformen Für die Schnittstelle zur Versorgungsforschung ist die Krankheitskostenanalyse (cost of illness analysis, CIA) eine wichtige Studienform. Sie wird durchgeführt, um die Größenordnung einzelner Kostenkomponenten zu identifizieren (z. B. Krankenhauskosten vs. ambulante Arztkosten), die gesellschaftlichen monetären Konsequenzen einer Erkrankung zu bestimmen und Versorgungsstrukturen zu planen. Sie unterstützt im Zusammenhang mit systemrelevanten Fragen der Versorgungsforschung bei der Abschätzung des gegenwärtigen und Planung des zukünftigen Ressourcenverbrauchs, bei der Identifizierung von Einsparpotenzialen, bei der Definition von Forschungsschwerpunkten zur Versorgungsoptimierung sowie bei der Gestaltung und Planung von Versorgungsstrukturen. Krankheitskostenstudien können mit einem Top-down- oder einem Bottom-up-Ansatz ermittelt werden. Beim Top-down-Ansatz werden hochaggregierte Daten z. B. der Sozialversicherungsträger und des Statistischen Bundesamtes ausgewertet. Beim Bottom-up-Ansatz wird auf Patientendaten bzw. Daten der Leistungserbringer zurückgegriffen. Eine Erfassung der Krankheitskosten über einen Top-down-Approach ist insofern schwierig, dass es hierbei aufgrund der Aggregation des Datenmaterials zu einer oftmals nur ungenauen Erfassung kommen kann (Schöffski / v.  d. Schulenburg 2002). Eine Möglichkeit, Kostendaten über den Bottom-up-Approach direkt beim Patienten zu erfassen, bieten sog. Kostentagebücher, mit deren Hilfe der krankheitsbezogene Ressourcenverbrauch einer Erkrankung unabhängig vom Kostenträger ermittelt werden kann. Bei dieser Erhebungsmethode



Schnittstelle Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung195

werden Patienten gebeten, alle im Zusammenhang mit ihrer Erkrankung anfallenden Behandlungsanlässe in einer vorgegebenen Tabelle (Kostentagebuch) zu dokumentieren. Die Erfassung kann prospektiv oder retrospektiv erfolgen. Neben einer hohen Praktikabilität und Validität (Goosens / Ruuten van-Mölken / Vlaeyen / van der Linden 2000) liegt der Vorteil eines Kostentagebuchs darin, dass auch patientenbezogene Kosten wie „out-of-pocket payments“ erfasst werden können, die bei einem Top-down-Ansatz verloren gehen. Dadurch kann es das Versorgungsgeschehen aus Patientenperspektive deutlich besser abbilden und wichtige Informationen zum Versorgungsgeschehen liefern. Ein Beispiel für die systematische Erstellung eines Kostentagebuchs bietet ein für eine hinreichende Abschätzung künftiger ökonomischer Belastungen infolge Diagnostik, Behandlung und Verlaufskontrollen altersabhängigen Makuladegeneration erstelltes Kostentagebuch (Gibbert /  Müller / Fauser / Stock 2012). bb) Vergleichende Studienformen Vergleichende Studien werden in Abhängigkeit der verwendeten nutzenbezogenen Outcomeparameter (klinisch, monetär, Einbeziehung der Lebensqualität) in vier Formen eingeteilt (Tabelle 1). An der Schnittstelle zur Versorgungsforschung helfen sie die inkrementellen Kosten und Nutzen (Kosten-Effektivität) von zwei unterschiedlichen Handlungsalternativen zu evaluieren sowie die allokative Effizienz unterschiedlicher Interventionen bzw. Innovationen zu beurteilen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Wahl der patientenrelevanten Endpunkte zu. Vergleichende Studienformen unterstützen im Zusammenhang mit systemrelevanten Fragen der Versorgungsforschung insbesondere bei Fragen der Finanzierbarkeit und Erstattung sowie bei der Ausgestaltung von Rahmenbedingungen der Versorgung und der Prioritätensetzung wie z. B. bei der Ausgestaltung des Leistungskatalogs. Bei der Kosten-Effektivitäts-Analyse (cost effectiveness analysis, CEA) werden Outcomes in klinischen Einheiten gemessen. Dies beinhaltet Parameter wie Laborwerte, die Höhe des Blutdrucks oder eine Veränderung der Lungenfunktion, aber auch die Zahl von Ereignissen wie Herzinfarkten oder Todesfällen. Die verwendeten Parameter sollten dabei im Hinblick auf ihre Relevanz für den Patienten gewählt werden. Im Zusammenhang mit systemrelevanten Fragen der Versorgungsforschung ist sie insbesondere bei der Bewertung von Kosten- und Nutzen von Innovationen hinsichtlich ihrer Erstattungsfähigkeit von Bedeutung. In Kosten-Nutzwert-Analysen (cost utility analysis, CUA) werden Gewinne an Lebenszeit und Lebensqualität zu einem Index aggregiert, den sog.

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qualitätsadjustierten Lebensjahren (quality-adjusted life years, QALYs). Der Vorteil der Kosten-Nutzwert-Analyse besteht vor allem darin, indikationsübergreifende Betrachtungen vornehmen zu können, z. B. den Vergleich eines Programms zur Lebensstiländerung bei Diabetikern mit einer BypassOperation bei erhöhtem Herzinfarktrisiko. Im Zusammenhang mit systemrelevanten Fragen der Versorgungsforschung ist sie für die Prioritätensetzung bei der Weiterentwicklung des Versorgungssystems von Bedeutung. Bei Kosten-Nutzen-Analysen (cost benefit analysis, CBA) werden nicht nur die Kosten, sondern auch die Outcomes in monetären Einheiten bestimmt. Damit lassen sich Kosten und Nutzen direkt miteinander vergleichen und der Nettonutzen einer Intervention (gegenüber einer Alternativintervention) als Differenz von Nutzen und Kosten quantifizieren. Die CBA erlaubt Vergleiche von Gesundheitsinvestitionen mit Investitionen in anderen Lebensbereichen wie Umwelt, Verkehr oder Bildung. Sie wird jedoch relativ selten angewandt, da sie in der Medizin eine geringe Akzeptanz hat. Daher ist ihre Bedeutung im Zusammenhang mit systemrelevanten Fragen der Versorgungsforschung zurzeit minimal. Die Kosten-Minimierungs-Analyse (cost minimisation analysis, CMA) dient dazu, nur die Kosten der betrachteten Alternativen zu untersuchen. Die zugrunde liegende Annahme besteht dabei in einem nicht-signifikanten Unterschied des Nutzens, der somit nicht weiter betrachtet wird. Im Zusammenhang mit systemrelevanten Fragen der Versorgungsforschung wird sie bei der Bewertung der Kosten von Innovationen mit gleichem Nutzen als vereinfachte Kosten-Nutzen-Analyse bei Fragen der Ressourcenallokation sowie bei der Weiterentwicklung von Strukturen des Gesundheitssystems durchgeführt. Tabelle 1 Studienformen vergleichender gesundheitsökonomischer Analysen Vergleichender gesundheitsökonomische Analysetyp

Kosten

Nutzen

Kosten-Kosten Analyse (Kostenminimierungsanalyse)

Monetäre Einheit

Keine Nutzenbetrachtung, da Annahme eines äquivalenten Nutzens

Kosten-Nutzen Analyse

Monetäre Einheit

Monetäre Einheit

Kosten-Wirksamkeit Analyse

Monetäre Einheit

Natürliche Einheit

Kosten-Nutzwert Analyse

Monetäre Einheit

Einbeziehung der Lebens­ qualität



Schnittstelle Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung197

cc) Gesundheitsökonomische Modellierung Gesundheitsökonomie kann die Versorgungsforschung bei der Vorhersage von Effekten, die durch die Einführung von Produkt- und Systeminnovationen entstehen, unterstützen, indem sie für Zeiträume, für die keine studienbelegten Nutzen- und Kostenverläufe von gesundheitlichen Interventionen vorliegen, Daten aus Primär- oder Sekundärquellen mittels verschiedener mathematischer Techniken an Hand von Modellen simuliert. Dazu können unterschiedliche Verfahren wie z. B. das Entscheidungsbaumverfahren oder das Markov-Modell eingesetzt werden. Während das Entscheidungsbaumverfahren für Handlungsoptionen mit tendenziell kurzem Zeitraum bevorzugt wird, können im Rahmen von Markov-Modellen Ereignisse mit ihren klinischen und ökonomischen Konsequenzen über längere Zeiträume verfolgt werden. Eine solche entscheidungsanalytische Modellierung ist als ein systematischer, expliziter und quantitativer Ansatz zur Entscheidungsfindung unter Unsicherheit definiert (Siebert 1999). Sie ist ein analytisches Werkzeug, mit dessen Hilfe unterschiedliche Zielgrößen in Abhängigkeit eines gegebenen Sets von Inputparametern und die sich ergebenden Auswirkungen auf das Gesundheitssystem und das Versorgungsgeschehen quantifiziert werden können. Derartige Modelle sind für eine definierte Perspektive (z. B. Gesellschaft, Versicherungsträger) und einen definierten Zeitraum als ein Abbild der Realität unter Verwendung vereinfachender Annahmen zu verstehen. Die aus den Annahmen und den verwendeten Modelparametern sowie auch aus der Modellstruktur resultierende Unsicherheit wird dabei über Sensitivitätsanalysen geprüft. Im Zusammenhang mit systemrelevanten Fragen der Versorgungsforschung ist sie insbesondere für die Abbildung von Langzeiteffekten bei der Implementierung von Prozess- und Systeminnovationen von Bedeutung. dd) Die Bedeutung von Präferenzerhebungen in Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung Die Präferenzen verschiedener Akteure innerhalb der Gesundheitsversorgung spielen im Zusammenspiel von Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung insofern eine bedeutende Rolle, als dass jeder Leistungsinanspruchnahme Entscheidungsprozesse durch Ärzte, Patienten, Pflegepersonal oder andere Akteure der Versorgung vorausgehen. Zur Erhebung der Präferenzen dieser Akteure gibt es unterschiedliche qualitative und quantitative Ansätze und Möglichkeiten. Hierzu gehören qualitative Methoden der Präferenzerhebung wie z. B. individuelle, strukturierte Befragungen, Fokusgruppenbefragungen und -interviews oder quantitative Methoden der Präfe-

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renzerhebung. Als Beispiele für repräsentative quantitative Befragungen sind für Deutschland besonders die Befragungen bzw. Interviewsurveys des Robert-Koch-Institutes (RKI) zu nennen (z. B. die DEGS, Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (Größwald / Lange / Kamtsiuris / Kurth 2012) oder GEDA, Gesundheit in Deutschland aktuell (Höbel / Richter / Lampert 2013) sowie die Commonwealth Befragungen zur Patienten- und Arztzufriedenheit mit dem Gesundheitssystem (Schoen / Osborn / Squires / Doty et al. 2011; Schoen / Osborn / Squires / Doty et al. 2012). Von Bedeutung sind diese Methoden für das Zusammenspiel von Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung, weil sie in strukturierter Weise bestimmte Behandlungsformen, Versorgungskonzepte oder -strukturen in ihre einzelnen Bestandteile zerlegen, um damit Aussagen über Präferenzen machen zu können. Erhebungsmethoden, mit deren Hilfe Patientenpräferenzen systematisch erhoben und quantifiziert werden können, sind beispielsweise die Verfahren der multikriteriellen Entscheidungsanalyse (Multi-Criteria Decision Analysis, MCDA). Innerhalb der MCDA-Verfahren sind in den vergangenen 10 Jahren insbesondere die nutzentheoretisch fundierten Discrete-Choice (DC)-Verfahren sowie das entscheidungstheoretisch-mathematisch fundierte Analytic Hierarchy Process (AHP) Verfahren in den Fokus gerückt. Beide Verfahren werden unter anderem zur Priorisierung von Behandlungsaspekten bei der Ausgestaltung von Behandlungsverfahren und Versorgungsstrukturen regelhaft eingesetzt. Letztlich werden beide Methoden derzeit in neuen Einsatzbereichen getestet, so in Deutschland u. a. vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zur Priorisierung von Behandlungsendpunkten im Rahmen der KostenNutzen-Bewertung (Danner / Gerber-Grote / Volz / Wiegard 2013). 3. Wichtige Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung

a) Unterschiede in der Terminologie Ein wichtiger Unterschied in der Terminologie von Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie betrifft den Begriff der „Perspektive“. Neben den vier Perspektiven des Versorgungssystems (Input, Throughput, Output und Outcome, (Pfaff / Neugebauer / Glaeske / Schrappe 2011), die gleichermaßen von der Gesundheitsökonomie wie Versorgungsforschung eingenommen werden können, spielt der Begriff der Perspektive bei der Bewertung von Wirtschaftlichkeitsaspekten von Innovationen (gesundheitsökonomische Evaluation) noch auf der Ebene der einzubeziehenden Kostenkomponenten eine Rolle. Die gesundheitsökonomische Evaluation kann aus unterschiedlichen Perspektiven wie z. B. der der Gesellschaft, der Kostenträger oder der



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Patienten durchgeführt werden. Im Rahmen von Aspekten der Versorgungsforschung sollten gesundheitsökonomische Analysen dabei grundsätzlich auch die gesellschaftliche Perspektive berücksichtigen, da Entscheidungen über die Allokation von Gesundheitsleistungen wie beschrieben auf die Realisierung eines gesellschaftlichen Optimums abzielen. Die gesellschaftliche Perspektive gilt insofern als umfassend, als dass sämtliche Kosten eingeschlossen werden, unabhängig davon, von wem sie getragen werden: der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), anderer Sozialversicherungsträger, der Betroffenen und ihrer Angehörigen (z. B. Zeit- und Fahrtkosten) oder auch die Kosten der Arbeitgeber (z. B. Produktivitätsausfall). Durch die Wahl der Perspektive werden neben den Zielen auch die in die Analyse einzubeziehenden Kostenkomponenten festgelegt. Sie bestimmt den gesamten Prozess der Kostenbestimmung, d. h. nicht nur die Identifikation der relevanten Ressourcen, sondern auch deren Quantifizierung und Bewertung mit Preisen (IQWiG 2009). Die „Perspektive“ in gesundheitsökonomischen Analysen ist demzufolge komplementär zu den unten erläuterten Perspektiven der Versorgungsforschung zu sehen. b) Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Forschungsgegenstand Eine Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung im Forschungsansatz kann im Lichte der vier Perspektiven des Versorgungssystems erfolgen, wie sie die Taxonomie der Versorgungsforschung vorschlägt: Input, Throughput, Output und Outcome (Pfaff / Neugebauer / Glaeske / Schrappe 2011). Im Sinne einer InputThroughput-Output-Outcome-Betrachtung werden im Versorgungssystem Ressourcen (Input) unter bestimmten Kontextbedingungen transformiert (Throughput), um Gesundheitsleistungen (Output) und eine Wirkung für den Patienten (Outcome) zu erzielen. Sowohl Gesundheitsökonomie als auch Versorgungsforschung nehmen für ihre Forschung eine oder mehrere dieser Perspektiven ein und erforschen unterschiedliche Ebenen des Gesundheitssystems (Makro-, Meso- und Mikroebene). Die wichtigsten Zielgruppen beider Disziplinen sind die Akteure und Nutzer des Gesundheitswesens, da sowohl Gesundheitsökonomie als auch Versorgungsforschung das Ziel verfolgen, Daten für die politischen Entscheidungsträger und Kostenträger bereitzustellen, um vor dem Hintergrund knapper Ressourcen informierte Allokationsentscheidungen zu ermöglichen (Pfaff / Abholz / Glaeske / Icks et al. 2011).

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c) Input- und Throughput-Perspektiven Die Input- und Throughput-Perspektiven sind für die Ebene der Forschung relevant, die eine Analyse der Rahmenbedingungen der Versorgung anstrebt. Potentielle Forschungsbereiche stellen die Themen Pflege und Demenz, Forschung im Nationalen Krebsplan, Volkskrankheiten (z.  B. Diabetes), Psychische Erkrankungen, Seltene Erkrankungen, Patientensicherheit und Qualitätssicherung oder die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte dar (BMG). Die Gesundheitsökonomie interessiert sich in diesem Zusammenhang insbesondere für ökonomische Inputfaktoren wie Determinanten von Angebot und Nachfrage nach Gesundheitsleistungen (Breyer / Zweifel / Kifman 2003). Durch die Anwendung ökonomischer Theorien kann sie einen Beitrag dazu leisten, die Steuerung der Versorgung zu verbessern und Über-, Unter- und Fehlversorgung zu reduzieren. Ein Beispiel hierfür ist die Theorie angebotsinduzierter Nachfrage (Breyer / Zweifel / Kifman 2003) mit deren Hilfe die Gesundheitsökonomie Zusammenhänge zwischen der Angebotsdichte und der Inanspruchnahme untersucht. Diese Daten können die Versorgungsforschung beispielsweise im Rahmen der kleinräumigen Versorgungforschung bei der Erstellung von Szenarien für die gesundheitspolitische Planung unterstützen. Ein anderes Beispiel ist das Moral Hazard Phänomen (Breyer / Zweifel / Kifman 2003) in der Krankenversicherung, das eine Orientierung für die Ausgestaltung von Versicherungsmerkmalen wie Selbstbeteiligungen und deren Auswirkungen auf die Art und das Ausmaß der Inanspruchnahme durch die Versicherten bietet. Sie kann z. B. bei Fragen der Ausgestaltung und der Organisation des Gesundheitswesens wichtige Informationen für die Gesundheitspolitik generieren, die die Versorgungsforschung auf der Meso und Mikro-Ebene ergänzen. Aber auch die Rahmenbedingungen für struktur-, prozess- oder ergebnisbezogene Versorgungsvariationen darzustellen und zu analysieren ist ein Anliegen der Gesundheitsökonomie. Sie ergänzt hier die Daten und die Methoden der Versorgungsforschung durch die Analyse von Einstellungen, Verhaltensweisen und Präferenzen der an der Versorgung maßgeblich beteiligten Akteure. Damit leistet sie einen Beitrag, Variationen im Versorgungsgeschehen, die die Versorgungsforschung aufgrund der von ihr routinemäßig genutzten Daten nicht erklären kann, zu analysieren. Die Erhebung dieser Daten mit den Methoden der multikriteriellen Entscheidungsanalyse durch die Gesundheitsökonomie kann dazu beitragen, Ursachen für unerwünschte Versorgungsunterschiede, mangelnde Adhärenz von Ärzten an Leitlinien bzw. durch Routinedaten nicht zu erklärende Unterschiede in der regionalen Angebotsstruktur zu erkennen und die Rahmenbedingungen entsprechend anzupassen. Ferner fallen die beschriebenen Krankheitskostenstudien (Breyer / Zweifel / Kifman 2003) und Kostenminimierungs-Analysen unter die Analyse von Rahmenbedingungen der Versorgung (Icks / Chernyak / Bestehorn / 



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Brüggenjürgen / Bruns et al. 2010). Sie erlauben es, Kostentreiber im System zu identifizieren, unterstützen bei der Prioritätensetzung und geben der Versorgungsforschung wichtige Hinweise für zukünftige Forschungsaktivitäten und die Ausgestaltung von Versorgungsformen. Auch die Versorgungsforschung ist an den Determinanten von Angebot und Nachfrage interessiert. Das Ziel der Versorgungsforschung ist es, die Auswirkungen der Rahmenbedingungen auf den Zugang zur Versorgung und die Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen durch Bürger und Patienten zu untersuchen. Weiterhin steht die Gestaltung der Versorgung, also die Entwicklung und Implementierung neuer Versorgungskonzepte im Fokus (Schrappe / Pfaff 2011). Letztere werden von der Versorgungsforschung regelmäßig evaluatorisch begleitet. In der Implementierungsforschung kann die Versorgungsforschung durch ihren interdisziplinären Ansatz auf soziologische Theorien zurückgreifen, um die Akzeptanz neuer Technologien durch Leistungserbringer und Patienten begleitend zur Einführung zu untersuchen (Ernstmann / Ommen / Neumann / Hammer et al. 2009). Bei der Evaluationsforschung wird sie hingegen durch die Gesundheitsökonomie ergänzt, die nicht nur Fragen der Kosten(unterschiede) neuer Versorgungsformen, sondern auch ihrer Auswirkungen auf Kundenzufriedenheit und Parameter des patientenbezogenen Nutzens untersucht. Als Beispiel sei hier die Evaluation von Disease Management Programmen genannt. Bei ihrer Evaluation kann die Gesundheitsökonomie die Versorgungsforschung z. B. durch die Berechnung von Deckungsbeiträgen oder des Return on Investment (ROI) bzw. durch die Analyse von Unterschieden in der Leistungsinanspruchnahme und Kosten ergänzen (Stock / Drabik / Büscher / Graf et al. 2010; Drabik / Büscher / Sawicki / Thomas et al. 2012). Im Vergleich zur Gesundheitsökonomie war die Versorgungsforschung bisher stärker an Fragen des Kontextes der Leistungserbringung interessiert (Pfaff / Neugebauer / Glaeske / Schrappe 2011). Mit Hilfe soziologischer und psychologischer Theorien, beispielsweise im Rahmen des Ansatzes der partizipativen Entscheidungsfindung (Scheibler / Pfaff 2003), versucht sie die Arzt-Patient-Interaktion und die Einbindung des Patienten in Entscheidungsprozesse zu beschreiben. In diesem Zusammenhang kann die Gesundheitsökonomie die Analysen der Versorgungsforschung mit den Methoden der multikriteriellen Entscheidungsanalyse ergänzen. Auf der individuellen Ebene kann dies innerhalb der Inanspruchnahme-Entscheidung, wie sie z. B. durch Arzt und Patient beim „Shared Decision Making“ gemeinsam getroffen wird, geschehen, indem sie die Präferenzen der einzelnen Akteure transparent macht. Auf aggregierter Ebene kann durch die Einbeziehung von Präferenzen bei der Erstellung von Leitlinien oder bei der Ausgestaltung neuer Versorgungsformen die Akzeptanz und durchgängige Umsetzung dieser wichtigen Instrumente erhöht werden.

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d) Output- und Outcome-Perspektiven Diese Perspektiven sind für beide Disziplinen gleichermaßen relevant, insbesondere für die Evaluation von Versorgungsleistungen. Die Gesundheitsökonomie betrachtet zumeist simultan Input und Output oder Outcome wie im Fall einer Evaluation von Kosten und Nutzen zur Thromboseprophylaxe bei großen Hüft- und Knieoperationen (Zindel / Stock / Müller / Stollenwerk 2012). Es erfolgt also eine Verknüpfung mit der Input-Perspektive. Innerhalb der Output- und Outcome-Perspektiven hat die Versorgungsforschung insbesondere das Ziel, die Wirksamkeit von Versorgungsleistungen unter Alltagsbedingungen zu evaluieren und somit Daten zur Effectiveness von Versorgungsleistungen zu generieren. Im Vergleich zur Gesundheitsökonomie hat sie eine stärkere Outcome-Orientierung und der Output dient in der Regel nicht als zu untersuchende Zielgröße (Schrappe / Pfaff 2011). Im Gegensatz zur Gesundheitsökonomie erfolgt in der Regel weder für das Outcome noch für Variablen der anderen Dimensionen eine monetäre Operationalisierung. Allerdings erfolgt in der Versorgungsforschung eine Verknüpfung von Input, Throughput, Output und schließlich dem Outcome, um den Grad der Zielerreichung zu messen. Aus Sicht der Versorgungsforschung könnte daher die Nutzendefinition der Gesundheitsökonomie mit ihrer Fokussierung auf Output-Parameter (Kosten-Effektivitätsanalyse) oder QALYs (Kosten-Nutzwertanalyse) als zu eng wahrgenommen werden. Um beide Standpunkte zu harmonisieren sollte eine gemeinsame Weiterentwicklung von Kosten-Effektivitäts- und Kosten-Nutzwert-Analysen in Richtung einer differenzierteren Outcome-Messung erfolgen. Konzeptionell gibt es eine große Schnittmenge von Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung bei Inhalten, Zielen und Methoden. In Tabelle 2 werden beide Disziplinen bezüglich ihrer wichtigsten Zielgrößen und Zielgruppen verglichen. Die Gesundheitsökonomie hat einen stärkeren Fokus auf ökonomisch relevanten Inputfaktoren während die Versorgungsforschung stärker an nicht-ökonomischen Inputfaktoren sowie dem Kontext der Leistungserbringung interessiert ist.



Schnittstelle Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung203 Tabelle 2 Wichtige Zielgrößen von Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung Gesundheitsökonomie

Versorgungsforschung

– (Ökonomische) Determinanten – Determinanten des Zugangs Input- und und der Inanspruchnahme des Zugangs und der ThroghputInanspruchnahme Perspektiven – Entwicklung und Implemen­ tation von Versorgungskon– Ökonomische Bedeutung von zepten Krankheiten – Kontext der Leistungserbringung Output- und OutcomePerspektive

– Effizienz von Versorgungsleistungen auf Basis von Output oder Outcome

Wichtigste Zielgruppen

– Politische Entscheidungsträger – Politische Entscheidungsträger – Kostenträger

– Wirksamkeit von Versorgungsleistungen unter Alltagsbedingungen (Effectiveness) auf Basis des Outcomes – Kostenträger – Leistungserbringer

III. Perspektiven für das Zusammenwirken von Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie Eine engere Kooperation von Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung bietet Chancen für beide Disziplinen. Die Verknüpfung mit der Gesundheitsökonomie erweitert das Methodenspektrum sowie die Forschungsfelder der Versorgungsforschung um wichtige Methoden und Dimensionen. Voraussetzung hierfür ist die Bereitschaft einer analogen Betrachtung der Aspekte Effektivität (unter Alltagsbedingungen) und Effizienz. Eine Maßnahme kann dabei hochgradig effektiv sein ohne ein akzeptables Maß an Effizienz aufzuweisen. Gleichermaßen kann eine Maßnahme durchaus effizient sein, ohne dass damit eine hinreichende Effektivität erzielt wird. Die Analyse beider Aspekte erweitert die Informationsbasis für gesundheitspolitische Entscheidungsträger. Bezogen auf die Analyse der Effektivität bietet die Verknüpfung beider Disziplinen die Möglichkeit, gesundheitspolitischen Entscheidungen einen erweiterten Begriff der Effektivität zugrunde zu legen. Aus der Perspektive der Versorgungsforschung sollten für die Frage der Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen die gleichen Forschungsmethoden angewendet werden,

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wie bei jeder Wirksamkeitsprüfung. Insbesondere also prospektive, vergleichende, möglichst randomisierte Studien. Zahlreiche Beispiele zeigen, dass solche Studien durchaus nahe an Routinebedingungen durchgeführt werden können, wenn sie entsprechend ausgestaltet werden. Dies entspricht der Forderung nach „large and simple trials“ von Sir Richard Peto (Peto / Collins / Gray 1995). Zu diskutieren ist an dieser Stelle, ob für die Vorbereitung gesundheitspolitscher Entscheidungen in Bezug auf Gestaltung, Organisation und Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems nicht ein erweitertes Verständnis des Begriffes „Effektivität“ zugrunde gelegt werden sollte, wie beispielsweise von Windeler und Antes in Anlehnung an Feinstein vorgeschlagen wird (Feinstein 1985; Windeler / Antes 2012). In einer solchen erweiterten Definition sollen nach Windeler „auch die Auswirkungen berücksichtigt werden, die eine als wirksam erkannte Therapie bei ihrer Einführung in das Gesundheitssystem verursacht“ (Windeler / Antes 2012). Demnach wird die Effektivität durch weitere Determinanten beeinflusst, die primär keinen Zusammenhang mit der Therapie an sich haben. Nach Windeler gehören dazu Spezifika des Gesundheitssystems (z. B. Verfügbarkeit von Ressourcen, Leistungserbringung, Finanzierung), die im System verfügbaren Alternativen sowie weitere Nebenaspekte (Windeler / Antes 2012). Die Analyse des Einflusses dieser Aspekte kann durch eine Disziplin alleine nicht geleistet werden und die Gesundheitsökonomie kann die Versorgungsforschung in diesem Kontext sinnvoll ergänzen. Bezogen auf die Effizienz erlaubt die Kooperation beider Disziplinen, verschiedene Aspekte der Wirksamkeit von Versorgungsleistungen differenziert zu beschreiben und sowohl zu ihrer Effizienz als auch zu ihrem patientenbezogenen Nutzen in Relation zu setzen. Beispielsweise werden in der Medizin medizinische Maßnahmen häufig dann als effizient bezeichnet, wenn sie einen zusätzlichen Nutzen versprechen. In einem aus ökonomischer Sicht effizienten Gesundheitssystem würden den Patienten ab einem bestimmten Punkt wirksame medizinische Maßnahmen aus dem Grund vorenthalten, dass eine alternative Verwendung der hierfür vorgesehenen Ressourcen einen höheren Nutzen erwarten ließe. Wichtig ist zu betonen, dass es hierbei um eine entscheidungsgrundlagenerweiternde Quantifizierung der Opportunitätskosten geht, die keine konkrete Allokationsentscheidung bedeutet. Die Erforschung des Kontextes der Versorgung wie sie die Versorgungsforschung vornimmt, stellt daher in diesem Zusammenhang eine wichtige Ergänzung gesundheitsökonomischer Forschung dar.



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IV. Zusammenfassung Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung haben eine große inhaltliche Schnittmenge. Sie beschäftigen sich mit der Gestaltung, Organisation und Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems vor dem Hintergrund der großen, systemrelevanten Herausforderungen wie z. B. der demographischen Entwicklung und begrenzter Ressourcen. Sie evaluieren Versorgungsleistungen und Innovationen in den Bereichen präventiver, diagnostischer, therapeutischer, pflegerischer und rehabilitativer Versorgung auf allen Ebenen des Gesundheitssystems und unter Einbeziehung aller Akteure (Pfaff / Neugebauer / Glaeske / Schrappe 2011; Lauterbach / Stock / Brunner 2008). Während in der Gesundheitsökonomie jedoch eine Ermittlung der Effizienz der Versorgungsleistungen im Vordergrund steht, fokussiert die Versorgungsforschung auf die Effectiveness, also den Nachweis der Wirksamkeit einer Versorgungsleistung unter Alltagsbedingungen. Obwohl Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie in Deutschland junge Disziplinen sind, hat sich die Versorgungsforschung rasch als eigenständige Disziplin in der medizinischen Forschung etabliert. Unterstützt wurde dieser Prozess durch die Gesundheitspolitik und die Selbstverwaltung, die das Potential der Versorgungsforschung zur Verbesserung der Effektivität der Versorgung nutzen wollten und durch entsprechende Förderprogramme eine rasche Implementierung vorangetrieben haben. Die Gesundheitsökonomie hingegen wird von Gesundheitspolitik und Selbstverwaltung bisher in erster Linie als Instrument zur Verbesserung der Effizienz der Versorgung bzw. teilweise als reines Instrument zur Kostendämpfung gesehen. Entsprechend wird ihr Schwerpunkt auf der Bewertung von Kosten und Nutzen von Innovationen vor der Einführung in die Versorgung gelegt. Unter diesem Blickwinkel scheint sie nicht unmittelbar am Versorgungsgeschehen beteiligt zu sein. Daher wird sie in Deutschland häufig in der medizinischen Forschung bzw. in der Versorgungsforschung nicht als Kooperationspartner zur Evaluation systemrelevanter Fragen wahrgenommen. Die Unterschiede zwischen der Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie bestehen hauptsächlich in der Terminologie, der Interpretation von Perspektiven und der Rolle des Kontextes. Als wichtigste Gemeinsamkeit teilen beide Disziplinen die Analyse systemrelevanter Fragen in der Versorgungsrealität des Versorgungsgeschehens. Die Gesundheitsökonomie ergänzt in diesem Zusammenhang die Versorgungsforschung mit Untersuchungen zu Auswirkungen von Anreizen, Präferenzen und Normen, sowie Angebot und Nachfrage auf das Verhalten der Akteure und das Versorgungsgeschehen. Sie bewertet die Effizienz von Innovationen in den Bereichen Versorgungsformen, Arzneimittel und Medizinprodukten, indem sie die zu erwartenden Kosten ins Verhältnis zu dem zu erwartenden Nutzen setzt.

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Dabei wird Effizienz im Gesundheitswesen – zumindest aus der hier vorrangig interessierenden gesellschaftlichen Perspektive – häufig als ein der Effektivität nachgeordnetes, sekundäres oder instrumentelles Ziel gesehen (Schlander 1999). Im Kontext gesundheitsökonomischer Analysen ist der Effizienzbegriff nicht auf die operative technische Ebene beschränkt, sondern es wird, ausgehend von der Prämisse nur begrenzt verfügbarer knapper Ressourcen gefragt, welche Allokation letztlich zu einem die Kosten übersteigenden Nutzen führt (Schlander 2009). In einer vorausschauenden Debatte über gerechte Verteilungskriterien werden auch immer wieder Überlegungen dahingehend angestellt, ob Aspekte der Gesundheitsökonomie und der Versorgungsforschung im Zuge von Priorisierungsentscheidungen künftig eine Rolle spielen sollten. Aktuell stellen beide Disziplinen Wissenschaftszweige dar, die einen eher informativen und entscheidungsunterstützenden Charakter haben. In Fragen der Ressourcenallokation wird bei Studien mit klinischen Fragestellungen der hohen internen Validität experimenteller Studien der Vorrang vor Versorgungsforschungsstudien mit ihrer hohen externen Validität eingeräumt. Die methodischen Limitationen von Versorgungsstudien sind bekannt und, solange erhebliche methodische Bedenken bestehen, ist die Versorgungsforschung gut beraten, sich auf ihre Stärken zu besinnen, d. h. im Vorfeld klinischer Studien unterstützende Informationen zu liefern und im Nachgang Ergebnisse aus diesen auf ihre Wirkung für die Versorgungsrealität zu prüfen. Das beschriebene Instrumentarium der gesundheitsökonomischen Analyse ist in Deutschland als Steuerungsinstrument zur Allokation von Ressourcen ebenfalls nicht vorgesehen ist, sodass der Gesundheitsökonomie als eigenständige Disziplin eine ähnliche, eher unterstützende und begleitende Rolle zukommt. Beide Disziplinen in ihrer Vielfältigkeit und potentiellen Bedeutung für das Gesundheitssystem in der deutschen Forschungslandschaft damit aber noch keineswegs ausgeschöpft. Zentrales Anliegen für die Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie sollte es sein, ihr methodisches Potential weiter zu entwickeln und sich hierbei durch Nutzung von Synergieeffekten gegenseitig zu unterstützen. Eine wesentliche Weiterentwicklung der Versorgungsforschung und der Gesundheitsökonomie kann sich aus der gemeinsamen Bearbeitung von systemrelevanten Fragen in Bezug auf Effektivität und Effizienz und unter Berücksichtigung eines erweiterten Effektivitätsbegriffes entwickeln. Die Gesundheitsökonomie ist von ihrem Wesen her abhängig von der Expertise der Versorgungsforschung im Rahmen der Evaluierung. Gleichzeitig kann die Gesundheitsökonomie bei der Priorisierung von Themen unterstützen. Im Rahmen der beschriebenen Kooperationsmöglichkeiten können beide Disziplinen einen wichtigen, sich gegenseitig ergänzenden Beitrag zur Bearbeitung systemrelevanter Fragestellungen leisten.



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Pflegeökonomie – eine neue Subdisziplin der Gesundheitsökonomie? Heinz Rothgang und Joachim Larisch I. Einleitung Die Wahrnehmung von Pflegebedürftigkeit als einem allgemeinen Lebensrisiko, das sozialstaatlich abgesichert werden muss, ist vergleichsweise jung (Rothgang 2009). „Pflegebedürftigkeit“ im Sinne von Langzeitpflegebedürftigkeit ist in Deutschland sozialrechtlich erst mit der Einführung der Pflegeversicherung 1995 als fünfte Säule der deutschen Sozialversicherung und damit sehr spät als soziales Risiko anerkannt worden (vgl. Götze / Rothgang 2012). Auch international gilt „long-term care“ als sozialstaatlicher „latecomer“ (Österle / Rothgang 2010). In der gleichfalls noch vergleichsweise jungen Gesundheitsökonomik wird Langzeitpflege daher – im Unterschied zur ambulanten und stationären medizinischen Versorgung und zur Versorgung mit Arzneimitteln – als eigenständiger Gegenstandsbereich noch kaum wahrgenommen. Ziel dieses Beitrags ist es vor diesem Hintergrund zu diskutieren, inwieweit „Pflege“, nachfolgend verstanden als Langzeitpflege, einen eigenständigen Forschungsgegenstand konstituiert, inwieweit dieser Gegenstand bereits in der gesundheitsökonomischen Forschung verankert ist und welche Herausforderungen eine notwendige gesundheitsökonomische Befassung mit Pflege aufwirft. Hierzu wird in Abschnitt II. zunächst die Langzeitpflege von medizinischen und rehabilitativen Leistungen abgegrenzt und ihre sozialökonomische Bedeutung in Deutschland dargestellt. In Abschnitt III. wird dann der gesundheitsökonomische Forschungsstand rekapituliert, um dann auf die methodischen Besonderheiten einer Pflegeökonomik im Rahmen der Gesundheitsökonomik einzugehen und zu diskutieren, welche gesundheitsökonomischen Ansätze problemlos auf die Langzeitpflege übertragen werden können und welche Anpassungen und Erweiterungen notwendig sind. Abschnitt IV. bietet einen Ausblick, in dem ein Programm für die gesundheitsökonomische Bearbeitung von Langzeitpflege skizziert wird.

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II. Langzeitpflege und ihre sozialökonomische Bedeutung Pflegebedürftigkeit ist ein komplexes und „multidimensionales Phänomen“ (Mager 1999). Noch Ende der 1970er Jahre gab es keinen international einheitlichen sozialrechtlichen Begriff für Pflegebedürftigkeit (Igl 1998). Je nach Fachdisziplin werden bei der Definition von „Pflegebedürftigkeit“ unterschiedliche Elemente in den Vordergrund geschoben (vgl. hierzu Mager 1999). Als gemeinsamer Definitionskern kann dabei festgehalten werden, dass „Pflegebedürftigkeit“ an der eingeschränkten Selbständigkeit und Alltagskompetenz der betroffenen Menschen ansetzt, die zu einem Verlust von physischer und  /  oder psychischer Leistungskompetenz führen (Fenchel / Brandenburg 1999; Wingenfeld 2000; Bartholomeyczik 2002).1 Langzeitpflege betrifft also Personen, die auf Grund physischer oder mentaler Beeinträchtigungen für die Bewältigung ihres Alltags für einen längeren Zeitraum oder dauerhaft fremder Hilfe bedürfen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt den Bedarf für Langzeitpflege auf die alternden Gesellschaften und die Chronifizierung von Erkrankungen zurück, aber auch auf Epidemien wie HIV / Aids, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlaganfall, Diabetes und andere Erkrankungen. Ungeachtet kultureller Unterschiede, fordert die WHO von allen Staaten die Bereitstellung von Langzeitpflegediensten zur Entlastung der Familien und zur Sicherstellung eines würdevollen Lebens für die Individuen (WHO 2002). Die Europäische Kommission (2008) weist darauf hin, dass innerhalb der EU unterschiedliche Definitionen der Langzeitpflege existieren und bezieht sich auf die OECD, welche die Langzeitpflege als Dienstleistung für Personen definiert, die grundlegende Alltagsaufgaben wie z. B. die Körperpflege, Verpflegung und Mobilität (Activities of daily living (ADL)) aber auch erweiterte Alltagsaufgaben wie den Einkauf oder Bankgeschäfte (Instrumental activities of daily living (IADL)) über einen längeren Zeitraum nicht (mehr) verrichten können (Colombo et al. 2011). In Deutschland wird der Begriff der Pflegebedürftigkeit im 11. Buch des Sozialgesetzbuchs definiert. Gemäß der Legaldefinition des § 14 Abs. 1 SGB XI sind die Personen „pflegebedürftig“, die „wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erhebli1  Das Bundesgesundheitsministerium hat 2006 einen Beirat zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs eingesetzt. In zwei Berichten hat dieser Beirat (2009a und b) eine Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs vorgeschlagen. In einem weiteren Bericht hat der weitgehend personengleiche Expertenbeirat zur konkreten Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs weitere Umsetzungsfragen bearbeitet (Expertenbeirat 2013). Vgl. Rothgang (2013) für Details.



Pflegeökonomie – eine neue Subdisziplin der Gesundheitsökonomie?213

chem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen.“ Pflegebedürftigkeit ist somit als eine Folge von Krankheit oder Behinderung anzusehen, definitorisch aber davon zu trennen.2 Die ambulante und stationäre medizinische Versorgung sowie die Rehabilitation dienen im Wesentlichen kurativen Zielen. Im Unterschied zu vorwiegend medizinisch orientierten Gesundheitsleistungen zielt die Langzeitpflege dagegen darauf ab, die Einschränkungen persönlicher Autonomie zu vermindern, gesellschaftliche Teilhabe zu sichern und die Lebensqualität der Pflegebedürftigen zu erhöhen. Die Pflegebedürftigkeit sollte daher unterschieden werden von krankheitsbedingter Behandlungsbedürftigkeit, Behinderung und anderen Beeinträchtigungen.3 Sie benötigt wegen der dauerhaften Einschränkung alltagstauglicher Kompetenzen spezifische Ansätze. „Long-term care can therefore include provision of medical care, but tends to be more closely associated with an array of social, personal, and supportive services that provide help with domestic tasks (such as shopping, cleaning, preparing meals), personal care tasks (dressing, bathing), and personal concerns (safety). Specialized housing might be provided.“ (Knapp / Somani 2008). Die sozialökonomische Bedeutung des so abgegrenzten Pflegerisikos lässt sich am Umfang der Pflegebedürftigkeit (Abschnitt II.1.), den Kapazitäten der Pflegeeinrichtungen (Abschnitt II.2.), dem Umfang des eingesetzten Personals (Abschnitt II.3.) und den Kosten der Pflegebedürftigkeit (Abschnitt II.4.) ablesen. 1. Umfang der Pflegebedürftigkeit

2011 waren etwa 2,5 Millionen Personen in Deutschland pflegebedürftig im Sinne des SGB XI (Statistisches Bundesamt 2013a). Bis 2050 wird diese Zahl auf 4,5 Mio. ansteigen (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2010). Wird die mittelbare Betroffenheit der Angehörigen berücksichtigt, zeigt sich bereits an diesen Zahlen, dass Pflegebedürftigkeit kein Residualrisiko ist. Noch deutlicher wird dies, wenn nicht nach dem Anteil der Pflegebedürftigen an der Bevölkerung zu einem gegebenen Zeitpunkt (Querschnittsprävalenz) gefragt wird, sondern nach der Wahrscheinlichkeit dafür, 2  Allerdings sind Pflegeleistungen im Kontext medizinischer oder medizinisch dominierter Leistungen nur schwer von der medizinischen Diagnostik, Therapie und Rehabilitation zu trennen. Dies zeigt sich unter anderem an der fehlenden gesonderten Berücksichtigung der Krankenhauspflege im Rahmen der Abrechnung nach Fallpauschalen. Daher ist es verwunderlich, dass Thiele et al. (2010) in ihrem Lehrbuch zur Pflegewirtschaftslehre das Krankenhaus als Pflegeinstitution beschreiben und offensichtlich keine Unterscheidung zwischen medizinischer Behandlung und Pflegeleistung vornehmen. 3  Vgl. zu den altersbedingten Erkrankungen und den Pflegebedarfen auch Böhm et al. 2009.

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H. Rothgang und J. Larisch

2,5 Millionen Pflegebedürftige insgesamt zu Hause versorgt: 1,76 Millionen (70 %) durch Angehörige: 1,18 Millionen Pflegebedürftige

in Heimen vollstationär versorgt: 743 000 (30 %) zusammen mit/ durch ambulante Pflegedienste: 576 000 Pflegebedürftige durch 12 300 ambulante Pflegedienste mit 291 000 Beschäftigten

in 12 400 Pflegeheimen* mit 661 000 Beschäftigten

* Einschl. teilstationäre Pflegeheime.

Quelle: Statisches Bundesamt (2013): Pflegestatistik 2011.

Pflegebedürftige in Deutschland 2011 nach Versorgungsarrangement

jemals im Leben pflegebedürftig zu werden (Lebenszeitprävalenz). Nach Berechnungen des BARMER GEK-Pflegereports belief sich dieses Risiko 2011 für Männer auf 48 % und für Frauen auf 67 % (Rothgang et al. 2013). Jeder zweite Mann und zwei von drei Frauen werden also in ihrem Leben pflegebedürftig im Sinne des SGB XI und beziehen entsprechende Leistungen der Pflegeversicherung. Pflegebedürftigkeit ist daher unzweifelhaft ein allgemeines Lebensrisiko, für das sozialstaatlich Vorsorge getroffen werden sollte. 2. Versorgung von Pflegebedürftigen

Von den etwa 2,5 Millionen Pflegebedürftigen Ende 2011 wurden 30 % in Pflegeheimen und 70 % zu Hause durch Angehörige und ambulante Dienste versorgt (siehe Abbildung). Knapp die Hälfte aller Pflegebedürftigen wird ausschließlich durch Angehörige ohne Beteiligung von Pflegeeinrichtungen versorgt. Auch wenn dieser Anteil im Zeitablauf rückläufig ist (Rothgang et al. 2013), ist die Angehörigenpflege immer noch das Rückgrat der Pflege. Die hieraus resultierende Notwendigkeit der Unterstützung pflegender Angehöriger zur Sicherung dieser Ressource ist eine der zentralen Besonderheiten dieses Bereichs, der sich so von der Gesundheitsversorgung abgrenzt.4 4  Der Umfang der Angehörigenpflege unterscheidet sich in der OECD erheblich. Die Notwendigkeit, familiale Pflegepersonen zu unterstützen, wird aber OECD-weit geteilt (Colombo et al. 2011).



Pflegeökonomie – eine neue Subdisziplin der Gesundheitsökonomie?215 Tabelle 1 Entwicklung der Kapazitäten im ambulanten und stationären Bereich Ambulant

im Vergleich zu stationär

Anzahl Pflegedienste

Anzahl Beschäftigter

Vollzeitäquivalente

Anzahl Pflegeheime

Anzahl Betten

1999

10.820

183.782

108.799

 8.859

645.456

2001

10.594

189.567

113.951

 9.165

647.292

2003

10.619

200.897

119.793

 9.743

713.195

2005

10.977

214.307

125.811

10.424

757.186

2007

11.529

236.162

140.504

11.029

799.059

2009

12.026

268.891

160.921

11.634

845.007

2011

12.349

290.714

178.096

12.354

875.549

+3,5

+0,3

Veränderung in Prozent 1999–2001

–2,1

+3,1

+4,7

2001–2003

+0,2

+6,0

+5,1

+6,3

+10,2

2003–2005

+3,4

+6,7

+5,0

+7,0

+6,2

2005–2007

+5,0

+10,2

+11,7

+5,8

+5,5

2007–2009

+4,3

+13,9

+14,5

+5,5

+5,8

1999–2011

+14,1

+58,2

+63,7

+39,5

+35,6

Quelle: Rothgang et al. 2013.

Trotz dieser zentralen Bedeutung der Angehörigenpflege waren in der Langzeitpflege 2011 bereits knapp eine Million Personen beschäftigt (siehe Abbildung) – mit steigender Tendenz. Wie Tabelle 1 zeigt, ist die Zahl der Pflegeheime seit Einführung der Pflegestatistik im Jahr 1999 bis 2011 um knapp 40 % gestiegen und die Zahl der Betten fast ebenso stark, was auf eine weitgehend unveränderte durchschnittliche Bettenzahl von gut 70 Betten pro Pflegeheim schließen lässt. Die Zahl der ambulanten Pflegedienste ist dagegen im gleichen Zeitraum nur um 14 % gestiegen. Wird allerdings auf die Zahl der Beschäftigten oder gar der Vollzeitäquivalente abgestellt, die ein besserer Indikator für die Leistungsfähigkeit der Dienste sind als deren bloße Zahl, ergeben sich Wachstumsraten von 58 % bzw. 64 %. Im ambulanten Bereich ist die Durchschnittsgröße der Dienste damit deutlich gestiegen, von durchschnittlich 17 Beschäftigten pro Dienst im Jahr 1999 auf 23,5 im Jahr 2011. Hier sind also erhebliche Konzentrationsprozesse zu

216

H. Rothgang und J. Larisch

beobachten, bei einem Ausbau der Pflegekapazitäten, der den im stationären Sektor deutlich übertrifft. Insgesamt zeigen diese Zahlen die ökonomische Bedeutung dieses Teiles der Gesundheitswirtschaft, der seit Verabschiedung des Pflege-Versicherungsgesetzes als Wettbewerbsmarkt konzipiert ist (Rothgang 2003). Mit der Einführung der verpflichtenden Pflegeversicherung als fünfte Säule der Sozialversicherung neben der Kranken-, Renten-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung wurden verschiedene Ziele verfolgt: „Erstens sollten die Sozialhilfeträger von den enorm gestiegenen Kosten für pflegebedürftige Heimbewohner entlastet werden. Zweitens sollte die infrastrukturelle Versorgung der Pflegebedürftigen verbessert werden. In diesem Kontext wurden aus Wettbewerbsgründen auch private Anbieter von Pflegediensten zugelassen, zum anderen dürfen mehr Pflegedienste zugelassen werden als erforderlich sind. Der geplante Ausbau ambulanter Dienste diente auch dem dritten Ziel, der Stärkung der häuslichen Pflege.“ (Auth 2012)5 Das Angebot an professioneller Pflege wird dementsprechend von privaten und freigemeinnützigen Trägern dominiert. Von den 12.349 zugelassenen ambulanten Pflegediensten 2011 befanden sich 63 % in privater Trägerschaft, 36 % wurden durch freigemeinnützige Träger wie z. B. die Caritas oder die Diakonie und nur 1 % wurden von öffentlichen Trägern betrieben. „Fast alle ambulanten Pflegedienste (97 %) boten neben den Leistungen nach SGB XI auch häusliche Krankenpflege oder Hilfe nach dem SGB V (Gesetzliche Krankenversicherung) an. 9 % der Pflegedienste waren organisatorisch an Wohneinrichtungen angeschlossen; 6 % an ein Pflegeheim.“ (Statistisches Bundesamt 2013a; Hervh. im Original). Durchschnittlich wurden von den ambulanten Pflegediensten 47 Personen betreut. Allerdings betreuten fast ein Drittel der ambulanten Pflegedienste nicht mehr als 35 Personen, und nur knapp 8 % betreuten mehr als 100 Personen. Bei den privaten Trägern betreuten weit mehr als die Hälfte (61 %) der Dienste nicht mehr als 35 Personen, während es bei den freigemeinnützigen Trägern etwas mehr als ein Viertel waren (28 %) und bei den öffentlichen Trägern knapp 40 % (ebd.). Die stationäre Langzeitpflege wird 2011 in 12.354 Pflegeheimen erbracht, von denen die Mehrheit (54 %) in freigemeinnütziger Trägerschaft betrieben wird, 40 % in privater und 6 % in öffentlicher Trägerschaft. In den Pflegeheimen werden fast ausschließlich ältere Personen betreut. Die Betreuung von Behinderten, psychisch Erkrankten oder Sterbenden wird nur in 6 % der Pflegeheime schwerpunktmäßig vorgenommen. Ganz überwiegend wird in 5  Vgl. zur Diskussion über die Einführung der Pflegeversicherung, ihrer Ziele und Entwicklung auch Haug / Rothgang 1994; Rothgang 1997; Pabst / Rothgang 2000 und Götze / Rothgang 2014.



Pflegeökonomie – eine neue Subdisziplin der Gesundheitsökonomie?217

den Heimen die vollstationäre Dauerpflege angeboten (95 % der Heimplätze). Durchschnittlich werden 64 Personen je Heim betreut. Allerdings werden in einem Viertel der Heime nicht mehr als 30 Personen betreut. In den privaten Einrichtungen sind dies fast 33 %, bei den freigemeinützigen und den öffentlichen Trägern dagegen jeweils nur 20 % (ebd.).6 3. Personal in der Langzeitpflege

„Insgesamt arbeiteten in den ambulanten Pflegediensten 291.000 Personen im Rahmen des SGB XI. (Dies entspricht bei einer Gewichtung nach der jeweiligen Arbeitszeit ungefähr 193.000 Vollzeitäquivalenten). Die Mehrzahl der beschäftigten Personen (88 %) war weiblich. Die Mehrheit des Personals (70 %) war teilzeitbeschäftigt. 27 % der Beschäftigten arbeitete Vollzeit; Auszubildende sowie Praktikantinnen und Praktikanten stellten 2 % des Personals. Rund 900 Arbeitskräfte waren Helferinnen und Helfer im freiwilligen sozialen Jahr bzw. im Bundesfreiwilligendienst. Ausschließlich für den Pflegedienst im Rahmen des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI) arbeitete lediglich 22 % des Personals. Die anderen waren zu einem gewissen Anteil auch für andere Bereiche, d. h. außerhalb der Leistungen nach dem Pflegegesetz – z. B. der häuslichen Krankenpflege nach dem SGB V – tätig … “ (Statistisches Bundesamt 2013a) In den Pflegeheimen waren 2011 insgesamt 661.000 Personen beschäftigt (etwa 480.000 Vollzeitäquivalente), von denen 85 % weiblich waren und knapp zwei Drittel in Teilzeit arbeiteten (ebd.). Im Zeitraum zwischen 1999 und 2011 nahmen die Beschäftigungsverhältnisse in der ambulanten Langzeitpflege, in der allerdings oft auch häusliche Krankenpflege angeboten wird, um knapp 107.000 zu. Die Zunahme entfällt fast vollständig auf weibliche Beschäftigte. Bei den privaten Trägern erhöhten sich die Beschäftigungsverhältnisse um mehr als 86.000 und bei den freigemeinnützigen um knapp 20.000. Die öffentlichen Träger haben kaum eine Bedeutung und weisen einen ganz geringen Zuwachs aus. Bei den stationären Einrichtungen erhöhte sich die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse um mehr als 220.000. Mit mehr als 190.000 betraf der Zuwachs ebenfalls ganz überwiegend weibliche Beschäftigte. Die Vollzeitbeschäftigung nahm insgesamt geringfügig zu, ging allerdings bei den Frauen zurück, während insbesondere die weibliche Teilzeitbeschäftigung um fast 207.000 anstieg. Das Beschäftigungsvolumen ergibt sich allerdings nur aus der Darstellung der so genannten Vollzeitäquivalente. So wird für 2000 ein Wert von 6  Auf die Unterschiede zwischen den Bundesländern wird hier nicht eingegangen. Vgl. dazu die Ländervergleiche des Statistischen Bundesamtes (https: /  / www. destatis.de / DE / Publikationen / Thematisch / Gesundheit / Pflege / PflegeDeutschlander gebnisse.html). Vgl. für 2009 auch die Angaben in Rothgang et al. 2012.

218

H. Rothgang und J. Larisch

125.000 in der ambulanten Pflege und von 356.000 in der stationären Pflege ausgewiesen (Statistisches Bundesamt 2013b), für 2011 sind es im ambulanten Bereich 193.000 und im stationären Pflegebereich 480.000 (ebd.). Daraus ergeben sich Erhöhungen von 68.000 bzw. 124.000, die deutlich geringer sind als die Zunahme der Beschäftigungsverhältnisse. Dennoch ist festzustellen, dass 2011 mit insgesamt 952.000 Personen oder 673.000 Vollzeitkräften ein erheblicher Anteil an Beschäftigung im Bereich der Langzeitpflege ausgewiesen wird, wobei weibliche Teilzeitbeschäftigung dominiert. 4. Kosten der Langzeitpflege

Hauptkostenträger der Ausgaben bei Pflegebedürftigkeit ist die Soziale Pflegeversicherung. Deren Einnahmen beliefen sich 2012 auf 23,04 Mrd. Euro, ihre Leistungsausgaben auf 21,85 Mrd. Euro (Rothgang et al. 2013). Allerdings übernimmt die Soziale Pflegeversicherung ebenso wie ihr Pendant, die Private Pflegepflichtversicherung, – differenziert nach Pflegestufen – nur einen Teil der Pflegekosten. Insbesondere in stationärer Pflege sind die selbst zu finanzierenden Anteile höher als die Anteile der Pflegeversicherung, da nicht nur die Pflegekosten die Leistungen der Pflegeversicherung regelmäßig überschreiten, sondern zudem die Kosten für Unterkunft und Verpflegung ebenso wie die nicht geförderten Investitionskosten grundsätzlich von den Pflegebedürftigen, ihren unterhaltspflichtigen Angehörigen bzw. dem Sozialhilfeträger zu tragen sind.7 Daher ist die ergänzende Finanzierung durch die Versicherten, ihre Angehörigen oder die Sozialhilfe bei der Langzeitpflege von erheblicher Bedeutung. Wie Tabelle 2 zeigt, wurden 2011 nur gut die Hälfte aller Ausgaben für Langzeitpflege von der Sozialen Pflegeversicherung übernommen,8 fast 40 % aber von den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen. Das Ausgabenvolumen von insgesamt knapp 42 Mrd. Euro zeigt erneut die Bedeutung dieses Sektors auch für die Gesundheitswirtschaft. Selbst wenn das Pflegegeld und die Rentenversicherungsbeiträge, die die Pflegeversicherung zur sozialen Sicherung der informellen Pflegepersonen an die Rentenversicherung abführt, in Abzug gebracht werden, verbleibt für 2011 doch ein Umsatz von rd. 35 Mrd. Euro für Pflegegüter und -leistungen. Auch diese Betrachtung unterstreicht damit die Bedeutung der Langzeitpfle7  Vgl. Rothgang et al. 2013 für Zahlen zur Entwicklung der Pflegesätze, Heim­ entgelte und Eigenanteile im Zeitverlauf. 8  Zu beachten ist, dass die Ausgaben für Pflegegeld in Höhe von rd. 5 Mrd. Euro in den Ausgaben der Pflegeversicherung enthalten sind. Die tatsächlichen Kosten der informellen Pflege tauchen in dieser Tabelle dagegen nicht auf.



Pflegeökonomie – eine neue Subdisziplin der Gesundheitsökonomie?219 Tabelle 2 Ausgaben für Pflegebedürftigkeit nach Finanzierungsquelle im Jahr 2011

Ausgabenquelle

in Mrd. €

als % der öffentl. /  priv. Ausgaben

Öffentliche Ausgaben

25,95

  Soziale Pflegeversicherung

21,92

84,5

52,3

  Private Pflegeversicherung

0,72

2,8

1,7

 Sozialhilfe

3,10

11,9

7,4

0,21

0,8

0,5

 Kriegsopferfürsorge

2

Private Ausgaben*  Pflegeheim

1

  häusliche Pflege Insgesamt

15,97

100

als % aller Ausgaben

100

61,9

 38,1

10,76

67,4

25,7

5,21

32,6

12,4

 41,92

–-

100

* Schätzungen 1  Die verwendeten Heimentgelte stammen aus der Pflegestatistik 2011. 2  Durchschnittswert der Jahre 2010 und 2012. Quelle: BMG (2011c); PKV (2011a); Statistisches Bundesamt (2011a; 2011b; 2011d). Quelle: Rothgang et al. 2013.

ge für die Gesundheitswirtschaft und die Notwendigkeit für eine ökonomische Betrachtung dieses Bereichs. III. Gesundheitsökonomik und Langzeitpflege: Forschungsstand und -programm Langzeitpflege als Bestandteil des sozialstaatlich regulierten Gesundheitswesens ist gegenüber der medizinisch dominierten ambulanten und stationären Versorgung sowie der Rehabilitation bisher kaum Gegenstand der (deutschen) Gesundheitsökonomik geworden. In dem Lehrbuch von Breyer et al. (2013), das als das führende Lehrbuch im deutschsprachigen Raum angesehen werden kann, etwa fehlt ein entsprechendes Kapitel.9 Auch Ulrich (2012) behandelt Langzeitpflege in seinem aktuellen Überblick über den Stand der Gesundheitsökonomie nicht. Behandelt werden in der deutschen Fachliteratur allenfalls Einzelfragen zur Langzeitpflege, aber 9  Allerdings ist ein solches Kapitel im international führenden Handbook of Health Economics enthalten (Norton 2000). Auch das Oxford Handbook of the Welfare State enthält ein entsprechendes Kapitel (Österle / Rothgang 2010).

220

H. Rothgang und J. Larisch

nicht im Rahmen eines expliziten gesundheitsökonomischen Forschungsprogramms. Nachfolgend werden daher sieben Kernbereiche gesundheitsökonomischer Analyse angesprochen. Jeweils wird gefragt, inwieweit auf Langzeitpflege bezogene gesundheitsökonomische Analysen bereits vorliegen, welche Besonderheiten sich für die Langzeitpflege zeigen und in­ wieweit die gesundheitsökonomische Methodik entsprechend angepasst werden müsste. Dabei werden zunächst die Bereiche betrachtet, bei denen gesundheitsökonomische Ansätze ohne größere Modifikationen angewendet werden können und danach solche, bei denen größerer Anpassungsbedarf besteht. 1. Finanzierung von Langzeitpflege

Zunächst stellt sich auch bei der Langzeitpflege die Frage, ob eine sozialstaatliche Regelung erforderlich ist oder die Möglichkeit zur freiwilligen Versicherung ausreicht. Für den Fall, dass sozialstaatliche Regelungen notwendig sind, ist weiter zu diskutieren, ob eine subsidiäre Sozialhilfe­ regelung ausreicht oder eine umfassende Versicherungspflicht bzw. eine Pflichtversicherung notwendig ist. Diese Fragen können im Rahmen der klassischen Wohlfahrtsökonomie diskutiert werden (Rothgang 2009). Der negative psychische externe Effekt, der droht, wenn Personen, die nicht vorsorgen, im Fall der Pflegebedürftigkeit unversorgt bleiben, kann dabei im Rahmen der Theorie allokativen Marktversagens standardmäßig als Hauptgrund für die Einführung einer subsidiären staatlichen Mindestsicherung herangeführt werden. Eine solche Mindestsicherung, die verhindern soll, dass Personen wegen unzureichender finanzieller Mittel auf notwendige pflegerische Leistungen verzichten müssen, wird entsprechend von allen sozialphilosophischen Denkrichtungen gefordert – auch von solch libertären Denkern wie z. B. Hayek oder Friedman, die die Rolle des Staates auf ein Minimum reduzieren wollen (vgl. Barr 1998). Existiert aber eine Sozialhilfelösung, zerstört sie die Anreize zur freiwilligen Versicherung. Wie Buchholz / Wiegard (1992) gezeigt haben, verbessert die Einführung einer obligatorischen Versicherung dann die Risikoallokation und führt zu einer Wohlfahrtssteigerung.10 10  Für Einwände gegen eine solche Modellierung vgl. insbesondere Pauly (1990) und Meier (1998), die zeigen, dass der Wohlfahrtsgewinn nicht mehr auftritt, wenn zustandsabhängige Nutzenfunktionen berücksichtigt werden, Homburg (1990), der die Arbeit-Freizeit-Entscheidung endogenisiert und dabei die disincentives to work in Rechnung stellt, die von einer Pflegeversicherung ausgehen können sowie Pauly (1996), der die normative Bedeutung des Nutzens in Frage stellt, der sich für den Versicherten aus einem Schutz des Erbes für seine Nachkommen ergibt. Für eine Bewertung siehe Rothgang 2009.



Pflegeökonomie – eine neue Subdisziplin der Gesundheitsökonomie?221

Parallele Diskussionen wie bei der Krankenversicherung ergeben sich auch bei weiteren Grundfragen der Ausgestaltung einer Pflegeversicherung. So stand bei Einführung der Pflegeversicherung in Deutschland die Krankenversicherung Pate. Dies bezieht sich nicht nur auf die Dualität von gesetzlicher und privater (Pflicht-)Versicherung, sondern auch auf die im Kontext dieses Abschnitts interessierende Beitragsfinanzierung der Sozialen Pflegeversicherung, deren Regelungen eins-zu-eins von der Krankenversicherung übernommen wurden. Die in der Krankenversicherung diskutierten Fragen von Beitragsbemessungsgrenze, beitragspflichtigen Einkommensarten und Schaffung einer integrierten Versicherung für die ganze Bevölkerung (Bürgerversicherung) (Rothgang / Götze 2013) werden in Kranken- und Pflegeversicherung daher analog diskutiert. Entsprechend wurden die Effekte einer Bürgerversicherung für die Pflegeversicherung ebenso berechnet wie für die Krankenversicherung (Arnold / Rothgang 2012; Rothgang et al. 2010). Auch das Verhältnis von Umlagefinanzierung und Kapitaldeckung kann in der Pflegeversicherung weitgehend analog zur Krankenversicherung diskutiert werden (vgl. Schmähl 1992). Allerdings wird diese Debatte über das Finanzierungsverfahren in der Pflegeversicherung intensiver geführt, weil schon die Einführung der Sozialen Pflegeversicherung im Umlageverfahren nicht unumstritten war und mit der geförderten privaten Pflegezusatzversicherung („Pflege-Bahr“) in der Pflegeversicherung jüngst ein Element der Kapitaldeckung auch für gesetzlich Pflegeversicherte eingeführt wurde.11 Insofern sind die ordnungstheoretischen Vorstellungen – etwa zur Steuerfinanzierung in der Sozialversicherung – und die Methoden der Beitragssatzvorausberechnung etc., die in der Gesundheitsökonomie Anwendung finden, problemlos auf den Bereich der Langzeitpflege zu übertragen. Ein entscheidender Unterschied der institutionellen Ausgestaltung ist allerdings zu beachten: Während die Krankenversicherung alle notwendigen Leistungen finanziert, stellt die Pflegeversicherung als Teilleistungssystem nur betraglich festgelegte bzw. gedeckelte Zuschüsse zur Verfügung. Da diese Leistungen im Sozialgesetzbuch als Euro-Beträge fixiert sind, erfolgt ein kontinuierlicher Realwertverlust, wenn diese Leistungen – wie von 1995 bis 2008 – nicht dynamisiert, also an Preis- und Lohnsteigerung angepasst werden. Zwischen 1999 und 2009 sind die Heimentgelte (Pflegesatz und so genannte Hotelkosten) um 14 % bis 16 % (je nach Pflegestufe) gestiegen. „Bezogen auf den Zeitraum von 1996 (Inkrafttreten der stationären Leistungen) bis 2008 (erste Leistungsdynamisierung) entspricht das einer Gesamtsteigerung von 21 % (Pflegestufe I und II) bzw. 19 % (Pflegestufe III) bzw. einem entsprechenden Realwertverlust.“ (Rothgang 2012) Entspre11  Vgl. zur Debatte um den Pflege-Bahr z. B. Jacobs / Rothgang 2012, 2013, Biederbick / Weber 2013.

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H. Rothgang und J. Larisch

chende Wertverluste ergeben sich auch im ambulanten Bereich. Diese Wertverluste wurden auch durch die ab 2008 in drei Stufen erfolgte Dynamisierung der Leistungen nicht annähernd ausgeglichen, zumal für die vollstationären Leistungen in den Stufen I und II keine Anpassung vorgesehen wurde (Rothgang et al. 2012). Auch der aktuelle Koalitionsvertrag sieht keinen Ausgleich dieses Wertverfalls vor (Rothgang / Jacobs 2013). Damit ergibt sich in der Pflegeversicherung eine weitere Stellschraube der Ausgabensteuerung: Durch unzureichende Leistungsdynamisierung können die Gesamtausgaben gesenkt werden, ohne dass die Politik aktiv werden muss. Der Kaufkraftverlust ist in das System bereits eingebaut. Eine solche Möglichkeit gibt es in der Krankenversicherung nicht, in der daher mehr Gewicht auf Wirksamkeitsnachweise medizinischer Interventionen gelegt wird, um so das Leistungsgeschehen zu steuern. Für die pflegeanalytische Analyse ergibt sich hieraus die Notwendigkeit, Preisindizes für Pflegeleistungen zu entwickeln, um Informationen für eine angemessene Dynamisierung bereitzustellen. 2. Kosten der Langzeitpflege

Die Krankheitskostenanalyse ist etablierter Teil gesundheitsökonomischer Evaluationen. Analog wären im Bereich der Langzeitpflege deren Gesamtlebenszeitkosten zu erheben. Angaben zu den Pflegekosten, die für die Pflegebedürftigkeit insgesamt anfallen (Gesamtlebenszeitkosten), liegen im Rahmen der amtlichen Statistik für Deutschland weder für die Pflegeversicherung noch für die privaten Anteile vor. Eine Schätzung auf der Basis von Krankenkassendaten wurde – soweit erkennbar erstmals – 2012 vorgenommen (Rothgang et al. 2012). Auf der Basis der Daten einer Krankenversicherung wurden die Gesamtkosten je Versichertem in der Pflegeversicherung mit rund 33.000 EUR ermittelt, wobei die summierten Leistungen je Fall zwischen 13 und mehr als 262.000 EUR liegen. Die privaten Kosten für ambulante Pflegeleistungen betragen durchschnittlich mehr als 6.000 EUR je Fall, können sich aber auf mehr als 55.000 EUR erhöhen. Für die stationäre Pflege wenden die Versicherten nach Eintritt der Pflegebedürftigkeit bis zum Tod im Durchschnitt mehr als 31.000 EUR auf, bei einem Zehntel der Pflegebedürftigen beträgt der stationäre Eigenanteil mehr als 99.000 EUR und im Extremfall kann sich der Betrag auf gut 300.000 EUR erhöhen. „Für pflegebedürftige Frauen ergeben sich somit im Lebensverlauf durchschnittliche Pflegekosten in Höhe von insgesamt 84.000 €. Davon entfallen 39.000 € auf die Pflegeversicherung, und 45.000 € sind privat zu tragen. Für Männer sind die durchschnittlichen Pflegekosten mit insgesamt 42.000 € nur halb so hoch und werden zu gleichen Teilen von der Pflegeversicherung und privat getragen. Die privat zu tragenden Aufwendungen



Pflegeökonomie – eine neue Subdisziplin der Gesundheitsökonomie?223

werden bei finanzieller Bedürftigkeit vom Sozialhilfeträger übernommen. Begründet sind die höheren Kosten für Frauen durch eine längere Lebenserwartung, verbunden mit längeren Zeiten in vollstationärer Pflege.“ (Rothgang et al. 2012) Die methodischen Herausforderungen solcher Berechnungen liegen vor allem in der Dauer, die Pflegebedürftigkeit anhalten kann. Zwar sind nach 10 Jahren knapp 90 % einer Zugangskohorte verstorben (Rothgang et al. 2012), jedoch ist die Lebenserwartung gerade jüngerer, behinderter Pflegebedürftiger so groß, dass noch keine Daten über eine Zugangskohorte vorliegen, deren Pflegeverläufe vollkommen abgeschlossen sind. In einem gewissen Ausmaß ist daher eine Modellierung notwendig, bei der aus Querschnittsinformationen künstliche Längsschnitte gebildet werden. Solche Modellierungen, etwa nach der Sullivan-Methode, sind aber auch in anderen Bereichen der Demographie üblich und können auf Langzeitpflege übertragen werden (vgl. Unger et al. 2011), und bei gesundheitsökonomischen Evaluationsstudien ist die Modellierung für Prozesse jenseits des Beobachtungsfensters klinischer Studie etwa mittels Markov-Modelle gang und gäbe. Insofern stellen sich für die Pflegeökonomie hier keine grundsätzlich neuen Probleme, es ist aber notwendig, die entsprechenden Methoden anzupassen. 3. Pflegebetriebswirtschaftslehre

Zum Management in der Langzeitpflege liegen in Deutschland kaum Ansätze vor. Einige Lehrbücher und Sammelwerke beziehen sich auf das gesamte Gesundheitswesen und orientieren sich an betriebswirtschaftlichen Themen (z. B. Frodl 2010, Frodl 2011, Loffing / Geise 2010, Greiner et al. 2008, Thiele et al. 2010) oder thematisieren Führungsaufgaben in der Pflege in recht unterschiedlichen Gesundheitseinrichtungen (Bechtel / SmerdkaArhelger 2012). Ein Bezug zur Gesundheitsökonomik ist kaum gegeben, was auch darin begründet sein mag, dass sich die Gesundheitsökonomik als Teil der Volkswirtschaftslehre eher zögernd mit Fragen des Managements und der Betriebswirtschaft zu beschäftigen scheint. Im Hinblick auf die Qualitätssicherung, die Kostenrechnung, die Personalentwicklung sowie die finanzwirtschaftliche Steuerung der Einrichtungen scheint es für gesundheitsökonomische Ansätze in der Langzeitpflege (aber wohl auch für andere Bereiche des Gesundheitswesens) einen erheblichen Forschungs- und Umsetzungsbedarf zu geben. Eine besondere Herausforderung stellt sich beim Qualitätsmanagement. Mit Donabedian (1966) wird auch im Bereich der Langzeitpflege nach Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität unterschieden. Staatlich reglementierte Qualitätssicherung hat sich dabei traditionell auf die Strukturqualität

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konzentriert und in Heimpersonalverordnung und Heimmindestbauverordnung etc. formale Vorgaben für Pflegeeinrichtungen gemacht. Von der Struktur- über die Prozess- bis hin zur letztlich allein interessierenden Ergebnisqualität ist es aber ein weiter Weg. Tatsächlich werden sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Langzeitpflege erhebliche Qualitätsmängel berichtet (Roth 2001, Roth 2002, Garms-Homolová / Roth 2004). Notwendig ist daher eine Orientierung auf die Ergebnisqualität. Allerdings ist es der Pflegewissenschaft als fachlicher Bezugsdisziplin bislang noch nicht gelungen, überzeugende Indikatoren zur Ergebnisqualität vorzulegen.12 Nicht zuletzt aus diesem Grund rücken die Prozessqualität und damit das Management der Pflegeprozesse in den Vordergrund. Allerdings zeigt die Erfahrung, dass die Implementation evidenzbasierter Prozesssteuerung in diesem Handlungsfeld außerordentlich schwierig ist, da Pflegekräfte häufig an überkommenen Routinen festhalten (Roth et al. 2013). Hier stellt sich für das Human Resource Management damit die Herausforderung, bestehende Ansätze auf die Spezifika dieses Handlungsfeldes anzuwenden und anzupassen. 4. Ausgaben- und Beitragssatzprojektionen

Mit der „Entdeckung“ von Langzeitpflege als neuem sozialen Risiko und der zunehmenden sozialstaatlichen Bearbeitung dieses Bereichs stellte sich die Frage, wie sich die Ausgaben für Langzeitpflege entwickeln (Jacobzone et al. 1998; Jacobzone 1999).13 Da die Prävalenz von Pflegebedürftigkeit eng mit dem Alter korreliert ist, ist die demographische Entwicklung ein wesentlicher Faktor für die Entwicklung der Langzeitpflege. Bis 2025 wird ein Drittel der europäischen Bevölkerung 60 Jahre und älter sein, und die geringe Geburtenrate sowie die längere Lebenserwartung wie auch die Auflösung traditioneller familiärer Strukturen wirken sich auf die Langzeitpflege aus (vgl. Börsch-Supan et al. 2009). „The numbers of persons who reach 80 years and above are growing faster than any other segment of the population in all EU Member States and are expected to triple by 2060 … The ageing of the population is expected to put pressure on resources demanded to provide long-term care services for the frail elderly and the ratio of long-term care expenditure to GDP is expected to rise in the future.“ (European Commission 2009) Über die demographische Entwicklung hinaus 12  Als Ergebnis eines Modellprojekts liegen erste Vorschläge vor (Wingenfeld et al. 2011), die aber innerhalb der Pflegewissenschaften selbst kritisch gesehen werden. 13  Insofern diese Ausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt oder als Beitragssatzprojektionen angelegt sind, müssen zudem Annahmen über die wirtschaftliche Entwicklung getroffen werden.



Pflegeökonomie – eine neue Subdisziplin der Gesundheitsökonomie?225

beeinflussen der medizinische Behandlungsfortschritt, soziale Unterstützungsstrukturen und Veränderungen des Wohnumfelds den Pflegebedarf.14 Die Nachfrage nach Langzeitpflege wird daher von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst und hängt von der Fähigkeit ab, Pflegeleistungen zu organisieren und / oder zu bezahlen. „Pflegebedürftigkeit“ ist ein soziales Konstrukt und reflektiert familiäre Strukturen, urbane Entwicklungen und soziale Inklusion ebenso wie die Zahlungsfähigkeit oder -bereitschaft für Pflegeleistungen. Vorliegende Projektionen zukünftiger Kosten- (und Beitragssatz)entwicklungen der Langzeitpflege basieren auf Makro-Simulation-Modellen (Rothgang 1997, 2002; Comas-Hererra et al. 2006; European Commission 2006). Distributive Effekte und die systematische Integration von Entwicklungsdeterminanten fehlen in diesen Modellen meist weitgehend, können aber in Mikro-Simulationen integriert werden. Mikro-Simulationen wurden unter anderem für Italien (Baldini et al. 2008), Spanien (Casado Marin 2008) und die Niederlande (Knoef et al. 2009) vorgenommen. Wegen der nationalen Besonderheiten müssen internationale Ansätze für Deutschland modifiziert werden und sollten sowohl die Private als auch die Soziale Pflegeversicherung und private Zusatzversicherungen umfassen. Methodisch muss das Ziel dabei in der Integration von Makro- und Mikrosimulation liegen, bei der die in Makrosimulationen verwendeten verhaltenslogischen Annahmen zunehmend durch entscheidungslogische Annahmen ersetzt werden. Dies gilt aber für Vorausberechnungen zu den Gesundheitsausgaben in gleichem Maße. Fragen zur Kompression von Morbidität bzw. zum Effekt des demographischen Wandels auf Ausgaben werden bereits simultan für Krankheitsausgaben und Ausgaben bei Langzeitpflege behandelt (Breyer et al. 2010). 5. Gesundheitsökonomische Evaluation von Langzeitpflege

Da sich Langzeitpflege wesentlich von der medizinischen Versorgung unterscheidet, ist sie eng verbunden mit der Pflegewissenschaft und nicht mit der Medizin. Interventionen und Zielgruppen sind daher von medizinischen Ansätzen deutlich zu unterscheiden, mit erheblichen Auswirkungen für die ökonomische Evaluation. Dies bezieht sich zum einen auf die Endpunkte einer Intervention. Traditionell werden in der Gesundheitsökonomie drei Formen der ökonomischen Evaluation unterschieden (Leidl 2003): Bei der Kosten-Wirksamkeitsanalyse (cost-effectiveness analysis) werden natürliche Parameter wie Lebenserwartung oder klinische (Surrogat) Parameter (etwa Blutdruck, Kolesterinspiegel, Lungenfunktionskapazität etc.) verwen14  So wurde für die USA zwischen 1980 und 2000 ein Rückgang des alterskontrollierten Pflegebedarfs festgestellt (Schoeni et al. 2008).

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det. Für die Langzeitpflege wären dagegen ganz andere Parameter von Relevanz, nämlich Erhalt und Wiedererlangung von Selbständigkeit, Autonomie und Teilhabe, aber auch Verhinderung / Verzögerung von Heimeintritten (Wolter et al. 2014). Die Kosten-Nutzwertanalyse (cost-utility analysis) erfasst die Nützlichkeit einer Intervention dagegen in einem generischen Maß, in der Regel den quality adjusted life years (QALYs). Während gesundheitsökonomische Evaluation in Bezug auf QALYs als internationaler de facto Standard gelten kann,15 ist sie in Bezug auf Langzeitpflege noch kaum angewandt worden. Notwendig hierzu wäre vor allem die Entwicklung und Validierung eigener Qualitätsmessinstrumente analog den weit verbreiteten WHO QoL oder dem Euro QoL, also eigens entwickelter Fragebogeninstrumente zur Lebensqualität bei Langzeitpflegebedürftigkeit. Schließlich werden Kosten-Nutzen-Analysen (cost-benefit-analysis) durchgeführt, bei denen auch der Effekt einer Intervention in Geldeinheiten ausgedrückt wird. Dieser monetarisierte Wert eines Effektes wird dabei durch Studien zur Zahlungsbereitschaft (willingness-to-pay) oder durch Experimente (etwa discrete choice Experimente) ausgedrückt. Grundsätzlich lässt sich dieses Instrumentarium auch auf die Langzeitpflege übertragen – entsprechende Studien liegen aber nicht vor. Entscheidend ist aber, dass sich mit der informellen Pflege ein neuer Bereich der (gesundheits-)ökonomischen Evaluation ergibt. Informelle Pflege wird – jenseits der Ausgaben für Pflegegeld, etwaige Beiträge zur Rentenversicherung oder Pflegekurse – oft als „kostenlose“ Ersetzung oder Ergänzung formeller Pflege betrachtet (Koopmanschap et al. 2008). Tatsächlich entstehen aber sehr wohl gesellschaftlich Kosten, die ebenso wie die Nutzen für die informell Pflegenden und die zu Pflegenden zu bestimmen sind. Für die Kosten können Marktpreise herangezogen werden, sofern Zeitangaben für die einzelnen Pflegeleistungen sowie deren Preise verfügbar sind. Vorausgesetzt wird hierbei die perfekte Substituierbarkeit von informeller und formeller Pflege, so dass keine Unterschiede in der Effektivität und Qualität angenommen werden (Marktpreismodell). Die Opportunitätskosten-Methode berücksichtigt dagegen die entgangenen Einkünfte der Pflegepersonen, die alternativ zur Pflege erzielt werden könnten. Für Personen, die normalerweise dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, insbesondere Partner der Pflegedürftigen, die selbst bereits Rentner sind, sind Schätzungen vorzunehmen. Allerdings sind Verzerrungen beispielsweise durch geschlechtsspezifische Lohnunterschiede nicht auszuschließen, so dass sich unterschiedliche Werte für die gleiche Leistung ergeben können. 15  Für Deutschland lehnt das IQWiG die QALYs im Wesentlichen ab, so dass sich hier eine deutsche Sonderrolle ergibt, auf die an dieser Stelle aber nicht eingegangen werden kann.



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Strukturell werden mögliche Differenzen im Zeitaufwand und Leistungsspektrum bei derartigen Vorgehensweisen negiert. Zur Bewertung der Nutzen informeller Pflegeleistungen können die Präferenzen durch Befragungen ermittelt werden (Contingent Valuation Method). Die erhobenen Daten reflektieren die Bewertung der Befragten auf hypothetische Fragestellungen, und mit der Angabe zur Zahlungsbereitschaft für die zu leistende bzw. zu erhaltende Pflege (willingness to pay) kann der Nutzen der Leistung bewertet werden (Koopmanschap et al. 2008, Berg et al. 2005; Meijer et al. 2010). Diesbezügliche Ansätze liegen teilweise vor, wurden aber bislang für Deutschland nicht genutzt. Dies gilt auch für den Gesundheitsstatus der informellen Pflegepersonen (vgl. Berg / Ferrer-i-Carbonell 2007). Richtlinien zur ökonomischen Evaluation beziehen die informelle Pflege nur teilweise ein (Koopmanschap et al. 2008). Der Hannoveraner Konsens als informeller deutscher Standard für gesundheitsökonomische Evaluationen bezieht zwar Gesundheitsrisiken für Pflegepersonen ein, erwähnt die informelle Pflege aber nicht ausdrücklich (Schulenburg et al. 2007). Die ökonomische Evaluation informeller Langzeitpflege kann daher – zumindest für Deutschland – als „blinder Fleck“ der gesundheitsökonomischen Evaluation bezeichnet werden (vgl. auch Berg et al. 2008). 6. Wettbewerb, Bedarfsplanung und Preisfindung im Pflegemarkt

Mit der Verabschiedung des Pflege-Versicherungsgesetzes hat der deutsche (Sozial-)Staat sichtbar (Mit-)Verantwortung für die Gewährleistung einer ausreichenden pflegerischen Versorgung übernommen.16 Allerdings impliziert dies – wie auch im Gesundheitssystem allgemein – nicht, dass die notwendigen Leistungen auch staatlich bereitgestellt werden.17 Die eigentliche Leistungserbringung erfolgt dabei – ebenso wie auch in der sachlich benachbarten Krankenversicherung – durch formal unabhängige Anbieter und Einrichtungen, die nur in geringem Teil in öffentlicher Trägerschaft liegen (vgl. Abschnitt II.2.). Mit diesen Einrichtungen schließen die bei den 16  Gemäß § 8 Abs. 1 SGB XI ist „die pflegerische Versorgung der Bevölkerung (…) eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.“ Bereits in dieser Formulierung kommt die seitens des Gesetzgebers vorgesehene Verantwortungsteilung zum Ausdruck. Allerdings hat allein die Verabschiedung des Gesetzes deutlich gemacht, dass Pflegebedürftigkeit als ein allgemeines Lebensrisiko angesehen wird, das nicht vom Einzelnen allein bewältigt werden kann. Insofern signalisiert das PflegeVG eine Ausdehnung des wohlfahrtsstaatlichen Versorgungsanspruchs. 17  Olk / Riedmüller (1994) haben den deutschen Sozialstaat zu Recht als Sozialversicherungsstaat gekennzeichnet. Typologisch ist das deutsche Gesundheitswesen gerade dadurch gekennzeichnet, dass Beitragsfinanzierung, korporatistische Selbstregulierung als dominanter Steuerungsmechanismus und private Leistungserbringung Hand in Hand gehen (Böhm et al. 2013).

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Krankenkassen angesiedelten Pflegekassen Versorgungsverträge. Gerade im Vergleich zu der anders gelagerten Krankenhausplanung durch die Bundesländer hat das Bundessozialgericht „darauf hingewiesen, dass auf dem Gebiet der pflegerischen Versorgung eine Bedarfsprüfung nicht stattfindet und eine staatliche finanzielle Förderung erst dann eingreifen soll, wenn sich herausstellen sollte, dass unter den Regeln des Marktwettbewerbs eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Pflegeeinrichtungen, etwa in strukturschwachen Gebieten, nicht sicherzustellen ist.“ (Igl / Welti 2012) Grundsätzlich haben daher alle ambulanten und stationären Einrichtungen bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen (Organisationsstruktur, ­Leitung durch ausgebildete Pflegekraft) einen Anspruch auf den Abschluss eines Versorgungsvertrags mit den Landesverbänden der Pflegekassen. In diesem Vertrag werden Art, Inhalt und Umfang der allgemeinen Pflegeleistungen und für ambulante Pflegedienste auch der Einzugsbereich festgelegt. Eine Bedarfsplanung findet nicht statt, weil die Leistungsansprüche durch die Deckelung der Sachleistungsansprüche und die enge Definition von Pflegebedürftigkeit begrenzt sind und eine angebotsinduzierte Nachfrage daher ausgeschlossen werden kann, so dass der Gesetzgeber eine mögliche Überversorgung ausdrücklich als unproblematisch angesehen hat. Während das Bundessozialgericht ausdrücklich vom Marktwettbewerb ausgeht, werden in der Literatur zum Teil ganz andere Ansichten geäußert. So stellt Klaus Jacobs (1995) fest, dass mit dem Pflege-Versicherungsgesetz die Anbindung einer „nicht wettbewerblich ausgerichteten Pflegeversicherung“ an eine Krankenversicherung erfolge, die nach dem Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 eine wettbewerbliche Orientierung aufweise. Entsprechend wird auch in einem Gutachten, an dem Jacobs beteiligt war (IGES  /  Igl  /  Wasem 2002), der Unterschied zwischen der wettbewerblich orientierten Kranken- und der nicht wettbewerblich organisierten Pflegeversicherung hervorgehoben. Auf der anderen Seite betont der Gesetzgeber gerade die Bedeutung des im PflegeVG realisierten Wettbewerbsgedankens18 und verleiht im Entwurf des PflegeVG seiner Hoffnung Ausdruck, durch den „Wettbewerb unter den Pflegeeinrichtungen“ (Gesetzesbegründung, BTDrs. 12 / 5262) Rationierungsreserven zu erschließen und so eine effizientere Versorgung zu ermöglichen. Diese unterschiedlichen Auffassungen beruhen darauf, dass jeweils andere Relationen im Dreieck von Finanzierungsträger (Pflegekasse) – Leistungsanbieter – Pflegebedürftigem betrachtet werden (Rothgang 2003). Jacobs rekurriert darauf, dass die Pflegeversicherung mit identischen Leistungen, identischem Beitragssatz und umfassendem Finanzausgleich letztlich 18  Vgl. die amtliche Begründung zu § 81 Abs. 3 SGB XI, der § 72 Abs. 3 des Gesetzesentwurfs (Bundestags-Drucksache 12 / 5262) entspricht.



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eine „Einheitskasse“ mit verschiedenen Filialen geschaffen hat. Entsprechend gibt es auch keine Selektivverträge der Kassen mit einzelnen Leistungsanbietern und keinen Vertragswettbewerb. Während Wettbewerb in der Krankenversicherung die Kombination von Kassenwettbewerb und Vertragswettbewerb meint, sind diese Elemente in der Pflegeversicherung nicht vorhanden. Insofern ist Jacobs zuzustimmen. Allerdings gibt es in der Pflegeversicherung eine Wettbewerbsebene, die in der Krankenversicherung keine entscheidende Rolle spielt, nämlich den direkten Wettbewerb der Leistungsanbieter untereinander um Verträge mit Pflegebedürftigen. Voraussetzung für die Funktionalität eines solchen Leistungswettbewerbs ist eine erhebliche Selbstbeteiligung der Versicherten, die ausreicht, um moral hazard auszuschließen. Sind die Pflegebedürftigen bzw. ihre Stellvertreter auch an den Kosten der Leistungsinanspruchnahme beteiligt, so werden Kosten und Nutzen bei der Inanspruchnahmeentscheidung berücksichtigt und ein einfacher Wettbewerb der Anbieter untereinander um die Nachfrager wie auf zweiseitigen Märkten wird wieder möglich. Genau diese Voraussetzungen sind aber auf dem „Pflegemarkt“ gegeben. Bei stationärer Pflege übernimmt die Pflegeversicherung regelmäßig weniger als die Hälfte des Gesamtheim­ entgeltes (Rothgang et al. 2013), der Eigenanteil ist also sehr erheblich. Ambulante Pflegeleistungen werden zwar bis zu einem Ausgabendeckel vollständig übernommen, allerdings entstehen Opportunitätskosten in Höhe des entgangenen Pflegegeldes. Da dieses in den drei Pflegestufen im Durchschnitt etwa halb so hoch ist wie der Leistungsbetrag für die Pflegesachleistung, liegt der tatsächliche Eigenanteil bei Berücksichtigung der Opportunitätskosten etwa ebenfalls bei 50 %. Wird zudem noch beachtet, dass das Angebot an stationären Pflegeeinrichtungen ausweislich der Auslastungsquoten19 in Westdeutschland inzwischen als ausreichend angesehen werden kann und dass im ambulanten Bereich nicht nur sehr niedrige Markteintrittsbarrieren bestehen, so dass sich das Angebot jederzeit erhöhen kann, sondern mit der Laienpflege auch ein potentielles funktionales Äquivalent besteht, muss die Wettbewerbsintensität als sehr hoch angesehen werden. Was heißt das für die Wettbewerbstheorie bzw. -theorieentwicklung für die Langzeitpflege? Die Wettbewerbskonzeption für den Gesundheitsmarkt, die auf der Kombination von Kassenwettbewerb und Vertragswettbewerb beruht, erfasst die Langzeitpflege nicht angemessen. Hier ist vielmehr von einem Leistungswettbewerb auszugehen, bei dem die Kassen als Finanzierungsträger keine entscheidende Rolle spielen. Auch die Analogie zu „normalen“ Wettbewerbsmärkten, auf denen Angebot und Nachfrage zusammen19  In allen westdeutschen Ländern (einschließlich Berlin) liegt die durchschnittliche Auslastung bei weniger als 90 %, in allen ostdeutschen dagegen darüber (Rothgang / Müller 2013).

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treffen, wird dem Gegenstand aber nicht gerecht, weil die Informations­ asymmetrien sehr ausgeprägt sind und nicht ohne weiteres von vollständiger Konsumentensouveränität der Pflegebedürftigen ausgegangen werden kann. Damit kommt dem Verbraucherschutz sowie der individuellen Beratung bis hin zum empowerment und zum case management eine Bedeutung zu, die weit über das sonst übliche hinausgeht. Eine gesundheitsökonomische Wettbewerbskonzeption, die diesen Besonderheiten des Marktes für Langzeitpflege gerecht wird, wäre erst noch zu entwickeln. Konsequenzen ergeben sich hieraus auch für die Preisbildung. Derzeit werden die Preise von den Pflegekassen verhandelt, die – anders als in der Krankenversicherung – aufgrund der gedeckelten und pauschalierten Leistungen von Preissteigerungen überhaupt nicht betroffen sind. Dies wird mit der advokatorischen Funktion der Kassen für ihre Versicherten gerechtfertigt. Tatsächlich stellt sich aber die Frage, ob eine Marktpreisbildung – gekoppelt mit einem Schutz vor ungerechtfertigten Preiserhöhungen im stationären Bereich, wie sie aus dem Mietrecht bekannt sind – hier die angemessenere Lösung wäre. 7. Formelle und informelle Langzeitpflege

Da die Pflegebedürftigkeit eng auf notwendige Hilfestellungen bei der Bewältigung des Alltags abstellt, können Pflegeleistungen in Abhängigkeit von dem Grad der Einschränkung auch im häuslichen Umfeld durch nichtprofessionelle Personen, insbesondere Familienangehörige, erbracht werden. Diese informelle Pflege ist daher ein wesentlicher Bestandteil des Pflegeangebots, wohingegen eine „informelle medizinische Behandlung“ weder denkbar noch rechtlich zulässig wäre. Diese Substituierbarkeit von formeller und informeller Pflege ist der wohl entscheidende Unterschied, den die Langzeitpflege im Vergleich zum Medizinsystem aufweist. Aus Sicht der Angehörigen stellt sich in Bezug auf die Sicherstellung der Pflege daher immer eine make-or-buy-Entscheidung. Die Inanspruchnahme formeller Pflegeleistungen hängt damit nicht nur vom Gesundheitszustand der Pflegebedürftigen und ihren Unterstützungsbedarfen (Bedarf) und dem Angebot an professioneller Pflege (Quantität, Qualität und Preise), sondern auch vom (alternativen) Angebot informeller Pflege ab. Schon früh wurden – teils recht komplizierte – mikroökonomische Modelle der Nachfrageentscheidung nach formeller vs. informeller Pflege formuliert (vgl. z. B. v. Zameck 1995; Eisen / Mager 1996), bei denen auch die Aushandlungsbeziehungen zwischen der Generation der Pflegebedürftigen und der Pflegepersonen aus der Kindergeneration modelliert wurden (Zweifel / Strüwe 1996; Fabel / Georgus 2000). Modelltheoretisch lassen



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sich dabei einfache Beziehungen ableiten: „The theory of demand for longterm care is straightforward. The most important factors are health status, which determines need and the out-of-pocket price relative to the price of close substitutes. Those in worse health demand more long-term care. ­Those with fewer substitutes, or whose substitutes are higher-priced, demand m ­ ore long-term care. Demand curves slope downward, and health shocks shift the demand curve outward.“ (Norton 2000) Allerdings bleiben diese Modelle häufig abstrakt, und die notwendigen empirischen Informationen zu Nutzenfunktionen, Elastizitäten etc. liegen nicht vor. Zudem sind „weiche Faktoren“ selten ausreichend berücksichtigt. So sind im internationalen Vergleich kulturelle Faktoren von entscheidender Bedeutung, die vermittelt über die empfundene „Pflicht zu pflegen“ das Niveau der informellen Pflege entscheidend prägen (vgl. Simonazzi 2009). Für Deutschland ergeben Umfragen regelmäßig eine Vorliebe für familiale Pflege, während Heimpflege für die Befragten die Pflegeform ist, die sie am wenigsten präferieren (Zok 2011; Kuhlmey et al. 2010 und 2013). Formale Pflege nimmt dabei in dem Ausmaß zu, indem das Angebot informeller Langzeitpflege zurückgeht. Das Angebot an informeller Langzeitpflege wird wesentlich bestimmt durch weibliche Angehörige. Die fundamentale Entscheidung für informelle, familienbasierte Pflegeleistungen wird zum einen durch die Verfügbarkeit und die Kosten professioneller Pflege beeinflusst wie auch durch die sozio-ökonomischen Familienstrukturen (Berufstätigkeit und Familienstand der Angehörigen, räumliche Nähe, Einkommen usw.). Ferner ist die Verfügbarkeit billiger Arbeitskräfte, insbesondere von Migranten, eine Alternative oder Ergänzung der familienbezogenen Pflege. Die Verfügbarkeit einer hinreichenden Zahl von Arbeitskräften wird auch für den formellen Sektor in Zukunft zu einer großen Herausforderung (Rothgang et al. 2012), der drohende „Pflegenotstand“ zu einem zentralen Zukunftsthema. Für eine zu entwickelnde Pflegeökonomie liegt die größte Herausforderung in diesem Bereich darin, die Substitutionsmöglichkeiten aber auch die Komplementarität von formeller und informeller Pflege so zu konzeptionalisieren, dass sie für empirische Forschung nutzbar ist, um Aussagen über mögliche und wünschenswerte zukünftige Szenarien in Bezug auf Pflegearrangements abzuleiten. IV. Ausblick Die Bedeutung der Langzeitpflege als Teil der gesundheitlichen Dienstleistungen in einer Public Health Perspektive wird bestimmt durch die demographische Entwicklung der Bevölkerung, die Entwicklung chronischer

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Erkrankungen und die altersbedingten Einschränkungen in der Bewältigung von Alltagsaufgaben (vgl. Brodsky / Clarfield 2008). Wie in Abschnitt II. dargelegt, ist Langzeitpflege schon heute von erheblicher sozioökonomischer Bedeutung. Diese Bedeutung wird in der OECD-Welt in den nächsten Dekaden aufgrund der demographischen Alterung noch deutlich zunehmen. Ohne Zweifel handelt es sich bei der Langzeitpflege daher um einen Sektor, der sowohl unter Versorgungsgesichtspunkten als auch in Bezug auf seinen Anteil an der Gesundheitswirtschaft von erheblicher und in Zukunft noch steigender Bedeutung ist. Dieser Bereich bedarf einer Analyse unter gesundheitsökonomischer Perspektive. Dabei sind aber die Besonderheiten dieses Bereichs, die zum einen in der Natur des Gegenstands liegen, und zum anderen aus seiner spezifischen sozialstaatlichen Bearbeitung resultieren, zu beachten (Abschnitt III.). Da sich Langzeitpflege wesentlich von der medizinischen Versorgung unterscheidet, ist sie eng verbunden mit der Pflegewissenschaft und nicht mit der Medizin. Interventionen und Zielgruppen sind daher von medizinischen Ansätzen deutlich zu unterscheiden, mit erheblichen Auswirkungen etwa für die ökonomische Evaluation. Die im Unterschied zur gesetzlichen Krankenversicherung begrenzte Finanzierung von Leistungen durch die Pflegeversicherung führt dazu, dass Moral Hazard bei den Sachleistungen – nicht aber bei Pflegegeld – keine Rolle spielt. Das beinhaltet Konsequenzen für den Wettbewerb von Leistungsanbietern, aber auch für das Fall-, Pflege- und Übergangsmanagement. Die große Bedeutung familiärer Pflege wirft besondere Fragen bezüglich der „make-or-buy“-Entscheidungen und im Hinblick auf Anreizsysteme auf. In Abgrenzung zu einer sehr auf das medizinisch dominierte Gesundheitswesen konzentrierten Gesundheitsökonomik ist eine Pflegeökonomik zu entwickeln, welche den sich aus den Einschränkungen alltäglicher Verrichtungen ergebenden Pflegebedarf zum Gegenstand hat. Einer der Gründerväter der Gesundheitsökonomie in Deutschland, Phillip Herder-Dorneich, hat gefordert, dass sich mit dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsökonomie auch die Ökonomik ändern müsse und eine „neue“ Gesundheitsökonomik sich entwickeln müsse. Dem ist die Entwicklung nicht gefolgt. Moderne Gesundheitsökonomik wird vielmehr heute als Anwendung der ökonomischen Theoreme und Methoden auf den Gegenstand Gesundheitswesen angesehen. Gleiches gilt für die zu entwickelnde „Pflegeökonomik“ als Teil der Gesundheitsökonomik. Nicht erforderlich ist eine neue disziplinäre Verankerung, wohl aber eine Anpassung gesundheitsökonomischer Ansätze auf die Besonderheiten des Feldes. Die Pflegeökonomik ist aus der Perspektive des Public Health eher an den Pflegewissenschaften als an der Medizin orientiert. Im Hinblick auf die



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ökonomische Evaluation ist die informelle Langzeitpflege bisher als „blinder Fleck“ der Gesundheitsökonomie zu bezeichnen, und hinsichtlich der Langzeitkosten liegen lediglich erste Schätzungen vor. Mikro-Simulationen, die für andere europäische Staaten durchgeführt wurden, sind für Deutschland noch zu entwickeln, und auch im Hinblick auf das Management und die Betriebswirtschaft von Pflegeeinrichtungen (wie auch für andere Bereiche des Gesundheitswesens) sind die Ansätze in Deutschland eher als zaghaft zu bezeichnen. Im Hinblick auf die demographische Entwicklung, die Mobilität der Beschäftigten sowie die stärkere Einbeziehung weiblicher Personen in den Arbeitsmarkt und die damit verbundene weitere Veränderung familiärer und nachbarschaftlicher Unterstützungsstrukturen, sollte die Gesundheitsökonomik die Langzeitpflege als eigenständigen Bereich gesellschaftlicher Absicherung sozialer Risiken behandeln und eine Pflegeökonomik entwickeln. Neben der ökonomischen Evaluation und dem Health-Technology-Assessment sollte dabei in Deutschland die Auswertung von Routinedaten, die Mikro-Simulation der Finanzierung und Qualität sowie das Management von Langzeitpflegeeinrichtungen im Zentrum der pflegeökonomischen Forschung stehen. Erforderlich sind die Kooperation mit der Gesundheitsversorgungsforschung, Epidemiologie, Medizin, und die Einbeziehung gesundheitsrechtlicher Expertise sowie weiterer Public Health Disziplinen. Die Forschungsaktivitäten sollten sich auf die ökonomische Evaluation, die Langzeitkosten, die Mikro-Simulation sowie das Management der Langzeitpflege konzentrieren. Literatur Arnold, R. / Rothgang, H. (2012): Pflegefinanzierung: Ein Modell für alle, G+G ­Gesundheit und Gesellschaft, 15. Jg., Heft 1, 16–17. Auth, D. (2012): Ökonomisierung von Pflege in Großbritannien, Schweden und Deutschland, Z Gerontol Geriat Vol. 45, S. 618–623, DOI 10.1007 / s00391-0120389-0. Baldini, M. / Mazzaferro, C. / Morciano, M. (2008): Assessing the implications of long term care policies in Italy: a microsimulation approach, Politica economica, No. 1, 47–72. Barr, N. (1998): The Economics of the Welfare State, 3rd edition, Oxford: Oxford University Press. Bartholomeyczik, S. (2002): Analyse des Pflegebedarfs Schwerstpflegebedürftiger im außerstationären Bereich, in: Schaeffer, D.  /  Ewers, M. (Hrsg.), Ambulant vor stationär. Perspektive für eine integrierte Pflege Schwerkranker, Bern: Hans ­Huber, 199–217.

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Feindbild Gesundheitsökonomie – Ist eine Korrektur der öffentlichen Wahrnehmung notwendig? Barbara Buchberger, Dennis Häckl, Hans Wiesmeth und David Matusiewicz I. Hintergrund Der Ruf der Ökonomie als akademische Disziplin hat in der öffentlichen Wahrnehmung nicht zuletzt durch die Finanzkrise gelitten. Doch was steckt eigentlich hinter der sog. Ökonomisierung der Medizin? Die Lehre der Ökonomie wird nach Robbins wie folgt definiert: „Ökonomik ist die Wissenschaft, die menschliches Verhalten untersucht als Beziehung zwischen Zielen und knappen Mitteln, die unterschiedliche Verwendung finden können.“ Man setze also die knappen Mittel möglichst effizient ein, denn jeder Euro kann nur einmal ausgegeben werden (Robbins 1935). Eine darauf aufbauende Definition der Gesundheitsökonomie jedoch gibt es bis dato nicht und so ist die Wahrnehmung der Disziplin auch anfällig für Irrtümer oder Unterstellungen. Ein differenzierter Blick auf Kosten und Nutzen ist ohne Frage auch in der Subdisziplin sinnvoll, fallen doch dort jährliche Ausgaben in Höhe von mehr als 10 % des Bruttoinlandsproduktes an. Ziel muss eine Neugestaltung der Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen sein, die zu einem Waffenstillstand der scheinbar gegnerischen Lager führt und in einen Neubeginn der Verhandlungen in der meistens nur polemisch geführten Debatte münden kann. Es müssen Anreize für unterschiedlichste Handlungsmotive geschaffen werden, mit deren Hilfe die Spannung zwischen dem Imperativ, alles für den Patienten Mögliche zu tun, und dem Bedarf von Gesellschaften mit begrenzten Ressourcen in Zukunft gelöst werden kann (Biller-Andorno 2013). Eine positive Wahrnehmung der Disziplin der Gesundheitsökonomie, die versucht, die in der Gesellschaft in vielerlei Hinsicht vorhandene und für die Gesundheitspolitik relevante Diversität zum Ausgleich zu bringen, ist dabei sicherlich hilfreich. Der Beitrag gliedert sich in drei Teile: Als Erstes wird die negative Seite der öffentlichen Darstellung der Gesundheitsökonomie kritisch beschrieben. In diesem Zusammenhang werden die Ängste und Vorurteile gegenüber dem Fach beleuchtet. Zweitens wird auf der Basis von soziologischen Theorien (Max Weber) diskutiert, wie der Dissens zwischen Ökonomie und Medizin

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B. Buchberger, D. Häckl, H. Wiesmeth und D. Matusiewicz

überwunden werden kann. Drittens werden Erfahrungen aus anderen stark regulierten Bereichen, wie beispielsweise der Umwelt- und Klimapolitik, genutzt, um Probleme der praktischen Gesundheitsökonomie bzw. -politik aufzuzeigen. Die Leitfragen sind in diesem Zusammenhang: Wie können theoretische Erkenntnisse in die Praxis übertragen werden, wenn doch zahlreiche Informationsdefizite bestehen? Was ist beispielsweise die beste Menge an operativen Eingriffen pro Jahr? Wann sollte ein Screening durchgeführt werden? Kann das Verhalten eines Akteurs bei einem regulatorischen Eingriff wirklich genau vorhergesagt werden oder findet er kreativ Ausweichmechanismen? Die Autoren kommen zu einem Fazit: Das Verhältnis von Ökonomie und Medizin sollte idealerweise so gestaltet werden, dass „die Ziele der Ökonomie in den Dienst der Ziele der Medizin gestellt werden“ (Maio 2011) und die Interessen der einzelnen Akteure im Sinne eines Gemeinwohls gebündelt werden – auch um Ressourcen zu schonen. Der vorliegende Beitrag ist eine Abhandlung über die Wahrnehmung der Gesundheitsökonomie in Deutschland. Er beinhaltet auch einen Appell an den Gesetzgeber, ökonomische Prinzipien stärker bei regulatorischen Eingriffen zu berücksichtigen. II. Ausgangsthesen Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf den folgenden beiden Thesen: – Die Diskussion zwischen Ärzten und Ökonomen scheint erschöpft, sollte aber dringend fortgesetzt werden. Die Beweglichkeit für einen Spagat zwischen dem Berufsethos von Ärzten und einem Diktat der Ökonomie muss trainiert werden. – Eine offene Diskussion über Rationierung ist unvermeidbar, denn eine solche tritt aufgrund der begrenzten Ressourcen ein, und es muss transparent und wohl begründet entschieden werden, wer was bekommt. Andernfalls besteht die Gefahr einer willkürlichen und ungerechten Rationierung (Brody 2012). Das Primat des Patientenwohls, der Patientenautonomie und der sozialen Gerechtigkeit darf dem Kostendruck nicht zum Opfer fallen. III. Negative Wahrnehmung der Gesundheitsökonomie Auch die Psychologie spielt in der Ökonomie eine wichtige Rolle. Das zeigt sich an neuen Beiträgen und Trends in der Gesundheitsökonomie wie bspw. der Glücksforschung (siehe Artikel von Krauth et al. in diesem Buch). Die kritische öffentliche Berichterstattung über die Gesundheitsökonomie



Feindbild Gesundheitsökonomie243

kann Ängste und Vorurteile schüren. Politiker stellen bspw. die Gesundheitsökonomen als diejenigen dar, die aus Kostengründen Krankenhausschließungen planen, und zeigen so auf eine andere Berufsgruppe, um ihren Willen durchzusetzen oder sich als Hüter der Versicherten bzw. Patienten zu positionieren. Da die Gesundheitsökonomen meist auf einer volkswirtschaftlichen oder betriebswirtschaftlichen Ebene argumentieren, wird auch behauptet, dass sie zu wenig auf das Individuum eingehen würden und der Leitsatz „der Patient im Mittelpunkt“ nur eine leere Phrase sei. Bei gesundheitsökonomischen Studien wird trotz oder wegen der Angabe des Interessenkonfliktes eine gewisse Abhängigkeit der gesundheitsökonomischen Analyseergebnisse vom Auftraggeber unterstellt. Im gleichen Atemzug wird auch das Argument genannt, dass Studien, die nicht das gewünschte Ergebnis des Auftraggebers bringen, erst gar nicht veröffentlicht werden und so in der Schublade verschwinden – was ein generelles Problem der Wissenschaft ist. Die Öffentlichkeit fordert daher Methoden, Standards und Kon­ trollinstanzen, die diesen Problemen entgegenwirken sollen. Der Gesundheitsökonomie wird oftmals unterstellt, dass einzig monetäre Interessen im Vordergrund stehen. Dies impliziert, dass die Wertschätzung des Lebens sich hinter der Finanzperspektive einzureihen hat, was wiederum die ethische Diskussion an vielen Stellen zu Tage bringt. Die öffentliche Wahrnehmung der Gesundheitsökonomie ist zudem stark geprägt von sog. Decision bzw. Policy Makers, die neben ihrem beruflichen Auftrag auch im Eigennutz agieren. IV. Anreize, negative Konnotationen und Max Webers Motive für soziales Handeln 1. Anreize

Ein Anreiz ist gemäß der Umschreibung des Wortes im Duden etwas, was jemandes Interesse erregt, ihn motiviert, etwas zu tun. Anreize sind lebensnotwendig, für beinahe alles Handeln ursächlich und daher nicht per se zu verdammen. Auch im Gesundheitswesen sind Anreize omnipräsent, und Entscheidungen hängen davon ab, was die jeweiligen Entscheidungsträger in ökonomischer, aber auch in psychologischer und gesellschaftlicher Hinsicht zu gewinnen oder zu verlieren haben. Dementsprechend sollten Gedanken über sinnvolle Anreize auch dem ganzen Spektrum von finanziellen und nicht finanziellen Möglichkeiten zur Motivation gelten, statt nur auf die Auswirkungen individueller Elemente wie z. B. pay-for-performance-Boni gerichtet zu sein (Biller-Andorno / Lee 2013).

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B. Buchberger, D. Häckl, H. Wiesmeth und D. Matusiewicz 2. Negative Konnotationen

Auf Seiten der Ethiker mag die Befürchtung bestehen, dass Anreize das professionelle Ethos von Ärzten unterminieren und eine Irreführung weg von der primären Verpflichtung gegenüber den Patienten zur Folge haben können. Auf Seiten von Managern im Gesundheitswesen hingegen können dahingehend Bedenken auftauchen, dass Anreize lediglich Konfusion und Irritation unter Patienten wie auch unter Ärzten auslösen – ohne dass eine Verbesserung der Effizienz erreicht wird (Biller-Andorno / Lee 2013). Auch der Gebrauch des Wortes ‚Wert‘ kann bei Ärzten Skepsis auslösen, die diesen Begriff als Code für Kostenreduktion missverstehen mögen (Lee 2010), und der Ausdruck ‚Wertsteigerung‘ ist im alltäglichen Gebrauch ebenfalls ökonomisch besetzt. Sinnvoll scheint es daher, von Wertigkeit und Steigerung der Wertigkeit zu sprechen, um eine ausschließlich finanzielle Konnotation zu vermeiden und den erneuten Beginn einer Diskussion zu ermöglichen. 3. Max Webers Motive für soziales Handeln

Die Theorien des Soziologen und Ökonomen Max Weber, der die Positionen des Dissens zwischen Ökonomie und Medizin in Personalunion verkörpert, wenn man die Medizin als genuin sozial betrachtet, sind dazu geeignet, einen möglicherweise einseitigen Blick zu erweitern. Gemäß Webers Definition ist soziales Handeln ein spezifisches Handeln, „[…] welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ (Weber 1968) Gründe für soziales Handeln (siehe Tabelle 1) lassen sich nach Weber mit den vier Begriffen „zweckrational, wertrational, affektuell und traditional“ bezeichnen, mit denen der Idealtypus einer Orientierung der Handelnden beschrieben werden soll. Nur in wenigen Fällen allerdings ist soziales Handeln eindeutig in der einen oder anderen Weise orientiert, und keinesfalls sind die Kategorien erschöpfend. Traditionales Handeln ist ein Verhalten aus Gewohnheit, dessen Anreiz in der Teilhabe an einer Gesellschaft besteht, die wiederum durch den sozialen Status bestimmt ist. Max Weber selbst formuliert es drastischer, nämlich dass traditionales Verhalten der rein reaktiven Nachahmung vergleichbar sei und „ganz und gar an der Grenze und oft jenseits dessen was man ein sinnhaft orientiertes Handeln überhaupt nennen kann.“ (Weber 1968). Übertragen auf das Arbeitsumfeld eines Krankenhauses können Gespräche im Kollegenkreis über die Erstellung von Rezepten und Entlassungsbriefen



Feindbild Gesundheitsökonomie245

oder die Einhaltung von Hygienemaßnahmen als Beispiel dienen. Im Fall von ausschließlich traditionalen Verhaltensweisen sind ethische Implikationen und Folgen für die Wirtschaftlichkeit, sollten sie überhaupt vorliegen, von eher rückschrittlicher Tendenz. Affektuelles Handeln ist durch das Empfangen positiver emotionaler Reaktionen und ein Gefühl von Wertschätzung durch eine Bezugsgruppe geprägt; der Beschreibung von Max Weber folgend überschreitet es in einer streng ausgeprägten Form ebenso wie das traditionale Verhalten oftmals die Grenze dessen, was als sinnhaft ausgerichtet bezeichnet werden kann: ein unerwarteter Stimulus kann hemmungsloses Reagieren zur Folge haben. Im klinischen Alltag ist bspw. eine Team-Besprechung vorstellbar, in der ein Feedback auf eine individuelle Arbeitsleistung gegeben wird. Unter ethischen Gesichtspunkten betrachtet ist dergestalt motiviertes Handeln der Gefahr einer Manipulation durch psychologische oder soziale Mittel ausgesetzt. Voraussetzung für eine effektive Wirkung ist das Vorhandensein eines entsprechend strukturierten Kollegiums, was in einer negativen Ausprägung durch die weitgehend nach wie vor bestehende Hierarchie in Krankenhäusern gegeben ist. Mit zweckrationalem Handeln beschreibt Weber ein vernunftgeleitetes Abwägen von Zwecken, Mitteln und Folgen. Anreiz ist das Erreichen individueller Ziele finanzieller oder nicht finanzieller Art. Ein Beispiel aus der Gesundheitsversorgung sind Boni im Rahmen von pay-for-performanceVereinbarungen. Diese Art der Anreiz-Setzung hat jedoch unter Umständen Interessenkonflikte, Leistungseinbußen in Bereichen außerhalb der in der Regel spezifisch getroffenen Absprachen oder einen Vertrauensverlust zur Folge. Darüber hinaus sind Auswirkungen auf die Effektivität des Handelns selten weitreichend. Wertrationales Handeln zeichnet sich durch das Verfolgen innerer Überzeugungen hinsichtlich von Pflicht, Würde, Schönheit, religiöser Weisung, Pietät oder Wichtigkeit einer Sache ungeachtet der Konsequenzen aus. Im Alltag eines Anbieters von Gesundheitsversorgung kann Letzteres zu standardisierten Leistungsberichten führen, deren Form und Inhalte von einem verantwortlichen Team gemeinsam entwickelt wurden. Positive Implikation ist eine Stärkung des beruflichen Ethos sowohl von ärztlichem als auch betriebswirtschaftlichem Personal. Allerdings ist eine effektive Verbesserung herrschender Bedingungen ohne zusätzliche Anreize für soziales Handeln unwahrscheinlich.

Ohne Einsatz anderer Motive für soziales Handeln ist Effektivität in der Verbesserung des Status quo unwahrscheinlich Funktioniert potentiell eher mit als gegen ethische Standards, Stärkung des Bewusstseins der Ärzte für moralisches Handeln

Organisatorische / betriebliche Verpflichtung zur Bewältigung von Krisen (Bsp.: höhere Mortalität als erwartet in Kardiochirurgie) oder zu anhaltender Wertverbesserung (Bsp.: Einsatz von Leistungsberichten*, die von klinischem Team entwickelt wurden)

Gemeinsame Verpflichtung zum Erreichen eines wertvollen und vereinbarten Ziels

Quelle: Biller-Andorno / Lee 2013.

* Performance report cards.

Realisiere Ziele, die als intrinsisch wertvoll gelten

Wertrational

Begrenzte Reichweite – Anreize sind in der Regel auf relativ wenig Aspekte bezogen, die der Kontrolle von Einzelnen oder einer Gruppe unterliegen Potential für Interessenkonflikte, Vertrauensverlust und Leistungseinbußen in Bereichen, die nicht im Fokus der Anreize liegen

Pay-for-performance mit finanziellen Anreizen für das Erreichen ­definierter Qualitäts- oder Effizienz-Maßstäbe

Angebot von Belohnungen unter der ­Bedingung, dass ­bestimmte Ziele ­erreicht werden

Erreiche individuelle, rational begründete Ziele (finanzieller und nicht finanzieller Art)

Zweckrational

Effektiver Gruppendruck benötigt einen sozialen Kontext, in dem sich Kliniker eines Kollegiums bewusst sind

Risiko der Manipulation durch psychologische oder soziale Techniken

Unverblindete Daten zur Qualität oder Effizienz werden in Bezugsgruppe vorgestellt

Für sich allein genommen ist eine Verbesserung des Status quo von Resultaten oder Effizienz unwahrscheinlich

Empfange positi- Individualisiertes ve emotionale Feedback zur LeisReaktionen, tung, Gruppendruck ­fühle dich ­wertgeschätzt

Nachahmung statt kritischer Reflektion und bewusster Zustimmung zu Konventionen oder Routinen

Affektuell

Gewohnheit (bspw. Organisationskultur in der Verantwortung von öffentlichen Mitteln als Teil klinischer Exzellenz)

Routinemäßige Überprüfung der Angemessenheit von Prozeduren und deren Resultaten unter ­Kollegen

Auswirkungen auf die Effektivität

Sei Teil einer Gemeinschaft, erhöhe den ­sozialen Status

Ethische Folgen

Beispiel

Traditional

Mechanismus

Anreiz

Motiv

Tabelle 1 Motive sozialen Handelns nach Max Weber 246 B. Buchberger, D. Häckl, H. Wiesmeth und D. Matusiewicz



Feindbild Gesundheitsökonomie247

V. Anregungen und Anreize für wertrationales Handeln Ein wertrational bedingtes soziales Handeln ist innerhalb von Organisationen im Gesundheitssystem alltäglich und nachhaltig nur auf der Basis einer breiten Akzeptanz von gemeinsamen Zielen möglich. Um eine solche Akzeptanz zu schaffen, müssen diese Ziele mit dem Verständnis von Werten und Nutzen des gesamten Personals übereinstimmen. Ebenfalls ist ein Umdenken von einem eindimensionalen Modell, das lediglich auf Traditionen, Eigennutz oder emotionalen Reaktionen beruht, zu einem mehrere Dimensionen von Motiven umfassenden System notwendig, um effektive und ethisch vertretbare Anreize setzen zu können. Die Erarbeitung und Kultivierung eines Konsenses inklusive der Pflege des Teamgedankens sowie eine regelmäßige Überprüfung der Ergebnisse durch Leistungsmessungen sind in dem Prozess die größten Herausforderungen. Im Folgenden werden Anregungen und Anreize für wertrationales Handeln in der Gesundheitsökonomie aufgeführt. 1. Aspekte einer Neugestaltung der Rahmenbedingungen

Bei der Ausgestaltung von Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen muss der Gesetzgeber die Interessen der einzelnen Akteure bedenken und sich der Anreizwirkungen, die von ordnungspolitischen Eingriffen ausgehen, bewusst werden. So werden bei vielen Eingriffen oftmals nicht die Ziele erreicht, die vom Gesetzgeber ursprünglich geplant waren. War originär die Einführung von Fallpauschalen im Rahmen des sog. DRG-Systems im stationären Sektor dazu gedacht, durch das partielle Verschieben des Versicherungs- bzw. Kostenrisikos von der Versicherung zum Leistungserbringer die Kosten in diesem Bereich konstant zu halten bzw. gar zu reduzieren, so zeigt sich mittlerweile eine enorme Mengenausweitung in vielen Bereichen. Offensichtlich motiviert ein niedrigeres Preisniveau zu einer Erhöhung des Mengengerüsts, so dass hierdurch sogar die Kosten steigen könnten. Hinter der Problematik der Gestaltung von „optimalen“ Rahmenbedingungen steckt das Problem der Informationsasymmetrie, wobei die jeweiligen Akteure im Gesundheitswesen unterschiedliche Informationen besitzen und diese Situation zum Eigennutz ausnutzen können. Gäbe es keinen Informationsvorsprung des Leistungserbringers gegenüber dem Patienten oder der Versicherung, so könnte auch keine (nicht medizinisch bedingte) Mengenausweitung stattfinden. So hingegen lässt sich jedoch nicht feststellen, was die „richtige“ Menge an Operationen darstellt und ob die durchgeführten Operationen medizinisch erforderlich waren oder nicht. Neben den vorhandenen Informationsasymmetrien wird die Gestaltung von Rahmenbedingungen durch oftmals diametral entgegengesetzte Interes-

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B. Buchberger, D. Häckl, H. Wiesmeth und D. Matusiewicz

sen und einflussreiche Interessenverbände im Gesundheitswesen erschwert. Hier entstehen häufig Grabenkämpfe, die die Verbreitung von Systeminnovationen nicht zulassen. Eine Lösung müsste darin bestehen, bei der Gestaltung von Rahmenbedingungen den Fokus darauf zu lenken, wie die unterschiedlichen Interessen harmonisiert werden könnten. Der neue BKK-Dachverband-Vorsitzende Franz Knieps hat schon während seiner Zeit im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gefordert, dass jeder, der im Gesundheitswesen arbeitet, einmal ein Trainee-Programm absolvieren müsste, um die Perspektive des anderen (Krankenhaus, Pharmaindustrie, ambulante Ärzte, Medizintechnik, Versicherer etc.) einzunehmen und den anderen so besser zu verstehen. Dies würde möglicherweise zu weniger Kontroversen in Form von Grabenkämpfen bis hin zu einer Harmonisierung von Interessen (der gemeinsame Feind ist die Krankheit) führen (Monitor Versorgungsforschung 2013). 2. Lee: Umgestaltung der Versorgung

Mit dem ‚integrated academic care delivery system‘, das die Realisierung sowohl ökonomischer als auch ethischer Visionen zu verbinden scheint, wird im Folgenden das Beispiel von Lee (Lee 2012) für die konkrete Umsetzung eines auf Max Weber beruhenden theoretischen Ansatzes in einer Organisation des Gesundheitswesens beschrieben. Die übergreifende Frage ist, wie sich die Spannung zwischen dem Imperativ, alles für den Patienten Mögliche zu tun, und dem Bedarf von Gesellschaften mit begrenzten Ressourcen lösen lässt. Wie bei Biller-Andorno präferiert und von Max Weber als wertrationales Handeln bezeichnet, ist der Kerngedanke die Befähigung von Teams für eine Zusammenarbeit im Sinne gemeinschaftlich verabredeter Ziele, die regelmäßig zur Überprüfung gelangen. Gemäß Lee ist nur eine Umgestaltung der Versorgung eine wirkliche Alternative zur Zahlungsreduktion durch Leistungsanbieter oder Restriktion des Zugangs von Patienten zu Leistungen. Die These, dass eine bessere Qualität die Kosten senken würde, ruft unter Klinikern Skepsis hervor sowie eine Liste von Gegenbeispielen und ist auch nur bedingt zu bejahen. Voraussetzung für ein gelungenes Verfolgen des Ansatzes ist nach Lee ein Konsens darüber, dass die Verbesserung der Versorgung aus der Patientenperspek­ tive anzustreben ist; andernfalls muss davon ausgegangen werden, dass Ärzte im Sinne ihres eigenen Portfolios (‚eminenzbasiert‘) agieren, und dass die ‚Gewinner‘ des traditionellen Vergütungssystems, die Organisationen, Abteilungen, Disziplinen oder einzelne Ärzte mit höchstprofitablen Leistungsangeboten wie bspw. Radiologen oder Kardiologen, ebensolche bleiben.



Feindbild Gesundheitsökonomie249

Zur konkreten Umsetzung müssen Teams gebildet werden, die zunächst patienten- und familienrelevante Zielgrößen definieren und deren aktuelle Kennzahlen ermitteln. In einem nächsten Schritt werden anzustrebende Richtwerte für diese Outcomes bestimmt sowie die Kosten berechnet, die zum Erreichen der Richtwerte anfallen. Der Teamgedanke und die Schaffung und Stärkung von Teamgeist ist für die Strategie von herausragender Bedeutung, denn in wirtschaftlich schwierigen Zeiten konzentrieren sich Menschen erfahrungsgemäß auf eigene Belange, und dem gilt es entgegenzusteuern; auch inakzeptable Rahmenbedingungen (s. o. ‚Gewinner‘ des Vergütungssystems) müssen von den Teams offen diskutiert werden. Zur Gewährleistung von Kontinuität und Schaffung von Verbindlichkeit müssen die Teams permanenter Bestandteil der organisatorischen Struktur werden und zur Steigerung der Effektivität Anführer bestimmen, die sich die Verbesserung der Zielgrößen auf die Fahnen geschrieben haben. Ebenfalls notwendig sind Anreize finanzieller und nicht finanzieller Art sowie regelmäßige Treffen zum Abgleich der erfassten Daten, Austausch von Erfahrungswerten und Wahrnehmung des Teamgedankens. Fundamentaler Bestandteil der Strategie ist das regelmäßige Messen / Ermitteln von aktuellen Kennzahlen von Zielgrößen in Form von Leistungsberichten (‚performance report cards‘). Zwar mag durch zu Beginn zur Verfügung stehende Daten nicht adäquat erfasst werden, was für Patienten tatsächlich relevant ist, aber Messinstrumente verbessern sich sehr schnell, wenn sie eingesetzt werden. Darüber hinaus lassen sich vorliegende Daten schlecht ignorieren und schaffen einen positiven Handlungszwang zur Verbesserung. Patientenrelevante Zielgrößen sollten nicht singulär betrachtet werden, sondern im Zusammenhang des gesamten Versorgungszyklus von Patienten. Zur Ermittlung der Wertigkeit von Versorgung werden die Zielgrößen dementsprechend multidimensional und konditionsabhängig in den Zähler der Gleichung eingesetzt und die Gesamtkosten für den vollen Versorgungszyklus in den Nenner. Zu beachten ist, dass das beste Verfahren zur Kostenreduktion oft beinhaltet, dass mehr Geld für einzelne Leistungen ausgegeben werden muss, damit der Bedarf für andere Leistungen reduziert werden kann. Zur Erfassung von Zielgrößen einer Erkrankung empfiehlt sich die Abbildung in einem dem Versorgungsaufwand entsprechend mehr oder weniger komplexen, hierarchischen Modell (Porter 2010). „Harte Outcomes“ wie die Mortalität sind unzweifelhaft von höchster Bedeutung, sind aber größtenteils durch den Schweregrad der Erkrankung bestimmt, weswegen es kompliziert oder unmöglich sein kann, darin Verbesserungen zu erzielen. Aus diesem Grund müssen Organisationen andere

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patientenrelevante Outcomes erheben, die noch nicht erfasst sind und sich ggf. aus Patienten-Interviews ermitteln lassen, wie bspw. die Zielgröße ‚Anzahl von Tagen, die Patienten innerhalb der ersten 90 Tage nach einem stationär behandelten Schlaganfall zu Hause verbringen konnten‘ anstelle von ‚Wiederaufnahme-Raten‘; obwohl diese Zielgrößen miteinander zusammenhängen, sind sie nicht identisch und stehen gelegentlich im Widerspruch zueinander. Ebenfalls sehr wichtig für Patienten können zusätzliche Informationen sein, wie in diesem Zusammenhang zu Kontinenz und Mobilität, die nicht regelhaft erfasst werden (Lee 2012). Das Erheben von Daten kann nicht von Ärzten geleistet werden, ebenso ist es in der Regel nicht realistisch, Patienten lediglich aus diesem Grund einzubestellen. Aufgrund des technischen Fortschritts ist aber davon auszugehen, dass die Verschüchterung insbesondere älterer Patienten angesichts der Nutzung traditioneller Computer mit dem Einsatz intuitiv und einfacher zu nutzender Tablet-Rechner reduziert werden kann. Hierzu muss allerdings die Anwenderfreundlichkeit der Voice-Response-Systeme berücksichtigt werden, um letztlich Akzeptanz bei den Patienten zu schaffen. Hilfreich für den Umgestaltungsprozess ist auch die Datenerfassung bei definierten Zeitpunkten im Verlauf des Versorgungszyklus wie bspw. KlinikEntlassung oder Nachsorge-Untersuchung sowie die Festlegung von Interims-Zielen, deren Erreichen mithilfe von Checklisten überprüft werden kann. Der Nutzen einer solchen Verfahrensweise ist bspw. durch die WHOCheckliste für die Patientensicherheit bei Operationen gezeigt worden (Haynes et al. 2009 und Lee 2012). Wesentlich ist auch hierbei das Testen, regelmäßige Überprüfen und Modifizieren solcher Checklisten gemäß klinischen Erfahrungen. Darüber hinaus muss bei allen Involvierten der Wille vorhanden sein, den Standards zu folgen und sie zu perfektionieren. Diese Voraussetzung kann nur dem Teamgedanken und einer gemeinsam geteilten Vision von hochwertiger Versorgung entstammen, wie die mangelnde Akzeptanz von Standards in Form von Leitlinien oder eben auch OP-Checklisten unter Ärzten zeigt, die sich übervorteilt, in ihrem individuellen ärztlichen Handeln eingeschränkt oder sogar in ihrer therapeutischen Selbstbestimmung bedroht sehen. 3. Top-five-Liste Harald Brody

Ärzte können aber durchaus auch ohne Unterstützung von Ökonomen dazu beitragen, dass Ressourcen sinnvoll eingesetzt werden. Der Arzt und Bioethiker Howard Brody beschreibt dazu die Idee einer Top-five-Liste, die sich problemlos auch zu einer Top-ten oder Top-fifty-Liste erweitern lässt: dazu verpflichtet sich jede medizinische Fachgesellschaft zur Bildung eines



Feindbild Gesundheitsökonomie251

Experten-Panels, das aus Mitgliedern mit spezieller Kenntnis in klinischer Epidemiologie, Biostatistik, Gesundheitspolitik und evidenzbasierter kritischer Beurteilung zusammengesetzt ist. Dieses Gremium erstellt eine Topfive-Liste der fünf diagnostischen Tests oder Behandlungen, die von den Ärzte der Fachgesellschaft am häufigsten verwendet bzw. verordnet werden, dabei zu den teuersten Interventionen gehören und für die keine Evidenz vorhanden ist, dass sie einen erwähnenswerten Nutzen für eine größere Population haben. Zusammengefasst gleicht diese Top-five-Liste einer Verschreibung, wie innerhalb dieser Fachgesellschaft das meiste Geld eingespart werden kann, ohne dass Patienten eine wichtige Versorgungsleistung vorenthalten wird. Beispiele sind arthroskopische Eingriffe bei Verdacht auf Osteoarthritis oder vermeidbare Computertomographien, die auch noch mit einer Strahlenbelastung einhergehen. Nach erzieltem Konsens über die Inhalte der Liste sollte jede Fachgesellschaft mit einer deutlichen NegativEmpfehlung, dafür sorgen, dass diese Interventionen von ihren Mitgliedern nicht mehr durchgeführt werden (Brody 2010). 4. Anreiz für wertrationales Handeln: der Health Impact Fund (HIF)

Ein Beispiel für das Setzen von Anreizen für wertrationales Handeln ist der Health Impact Fund (HIF), mit dem sich weltweit eine gerechtere Versorgung mit notwendigen Medikamenten erreichen lässt und die Entwicklung neuer Medikamente stimuliert werden kann. Er bietet pharmazeutischen Unternehmen (pU) eine Alternative zum jetzigen System, in dem mit Patenten, für die sich hohe Aufpreise verlangen lassen, trotz Forschungs- und Entwicklungskosten Gewinne erzielt werden können. Diese Patente verteuern allerdings auch Medikamente, deren Herstellungskosten gering sind, wodurch der Zugang vielen Menschen versagt bleibt. Darüber hinaus wecken Erkrankungen, die überwiegend arme Menschen betreffen, bei pU kein Interesse, weil nicht zu erwarten ist, dass die Forschungsausgaben durch den Vertrieb der Produkte gedeckt sind. Als Ergebnis dieser beiden Tatsachen ist die Krankheitslast unter armen Menschen sehr hoch, obwohl sie verringerbar und zu Teilen sogar vermeidbar wäre. Der HIF ist ein auf Leistung beruhender Vergütungsmechanismus, der hauptsächlich von Staaten finanziert wird. Die Anmeldung eines neuen Medikaments beim HIF ist auch der Beginn eines Vertrages mit einer Laufzeit von zehn Jahren, während der das pU sein Produkt zum geringst möglichen Kostenpreis verkauft. Außerdem sichert es zu, dass nach Ablauf dieser Frist ein Generikum vertrieben werden kann. Alle Länder bringen einen gleichen Anteil ihrer Bruttonationaleinkommen (BNE) ein. Ausgezahlt wird eine jährliche Prämie, die anteilig zum Beitrag des Medikaments für

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B. Buchberger, D. Häckl, H. Wiesmeth und D. Matusiewicz Tabelle 2 Wesentliche Merkmale des Health Impact Fund

• Weltweite Organisation, von Regierungen finanziert • Zeichnet sich durch jährliche Vergütungen für ein neues Medikament aus, die dem Anteil entsprechen, den dieses Medikament im Vergleich zu anderen im HIF registrierten zur Verringerung der weltweiten Krankheitslast beiträgt • Mit der Registrierung verpflichtet sich das pU, das Produkt 10 Jahre lang zum geringstmöglichen Kostenpreis zu verkaufen und danach Herstellung und Vertrieb eines Generikums zu erlauben • Nutzt Patienten, Steuerzahlern und pU Quelle: (nach Banerjee / Hollis / Pogge 2010).

die ermittelte Gesundheitsauswirkung aller im HIF aufgenommenen Produkte ausfällt. Diese Quote wird auf der Basis von Ergebnissen aus klinischen Studien, Stichproben aus der Nachverfolgung von in Umlauf gebrachten Medikamentenpackungen mittels der aufgedruckten Seriennummer und Statistiken über die globale Krankheitslast errechnet und in qualitätsadjustierten Lebensjahren (Quality Adjusted Life Years, QALY) ausgedrückt. Für eine jährliche Ausschüttung von bspw. 4,5 Milliarden Euro und bei einem Prozentsatz von 0,06 müssten Länder mit einem BNE von insgesamt 15 Billionen Euro aufkommen. Internationale Steuern bspw. auf Finanztransaktionen oder Emissionen könnten auch Teil des Finanzierungsmodells werden (Pogge 2011). Wesentliche Merkmale des HIF sind in Tabelle 2 dargestellt. Im HIF hängt der Gewinn vom konkreten Nutzen ab. Alle Menschen erhalten Zugang zu lebensnotwendigen Arzneimitteln, und die Anreize zur Entwicklung neuer Medikamente zur Reduktion der weltweiten Krankheitslast sind stark. Ein Nebeneffekt des HIF ist die Steigerung der Effizienz, da weniger Ressourcen für Werbungs- und Patientenkosten sowie Wohlfahrtsverluste, juristische Verfahren wegen Patentverletzung oder Kartellbildung und Lobbying aufgebracht werden müssen (Lenzen 2013). Allerdings sind nicht alle Erzeugnisse für den HIF geeignet, weswegen auch beide Systeme bestehen bleiben sollten: bspw. sind Produkte gegen Haarausfall unrentabel für den HIF, wohingegen Medikamente gegen Tropenkrankheiten weniger in das hochpreisige System passen. Andere Medikamente für Erkrankungen mit einer großen Bedeutung für die weltweite Krankheitslast wie z. B. HIV / AIDS oder koronare Herzerkrankungen sind in beiden Vergütungsformen vorstellbar (Banerjee / Hollis / Pogge 2010).



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V. Erfahrungen aus anderen Bereichen 1. Chemie-Industrie

Lange war das Image der Chemie-Industrie irgendwo zwischen Waffenund Drogenhandel angesiedelt. Mit der chemischen Industrie wurde primär Giftigkeit und besonders im Bereich der Nahrungsmittel von Künstlichkeit gesprochen. Dies wurde insbesondere durch vergangene Chemieunfälle geprägt. Hierzu zählt bspw. das Dioxin-Unglück im italienischen Seveso 1976, bei dem Blätter von Bäumen und Sträuchern in der Umgebung wegrotteten und tausende Tierkadaver gefunden wurden. Menschen wurden aus dem verseuchten Gebiet evakuiert und es wurden Entschädigungen für den erlittenen moralischen und biologischen Schaden gezahlt. Ein anderer Unfall war der Sandoz-Unfall, der sich 1986 ereignet hatte und den Rhein blutrot färbte, wie es der Stern im Jahre 2011 betitelte. Es trieben tausende tote Fische auf dem Rhein, und der Rhein wurde als Chemiefluss bezeichnet. Nur durch eine konsequente Imagekampagne änderte sich dies in den letzten Jahrzehnten nachhaltig. Das hat grundsätzlich mehrere Gründe: Zunächst einmal hat es in den letzten Jahren keine großen Chemie-Unglücke mehr gegeben. Durch Marketingkampagnen großer Chemiekonzerne wurde das Bild von „grauen Labor-Mäusen“ und „rauchenden Flüssigkeiten“ hin zu anwendungsbezogenen Lösungen für den Alltag transferiert. Die Branche zeigte sich zukunftsorientiert und ging globale Probleme an. Bei der Energieversorgung wurden Solarzellen, Brennstoffzellen und eine effizientere Nutzung von Rohöl als Chemie-abhängige Wirtschaftszweige aufgeführt. Die Chemie hat heute ein aufpoliertes und „sauberes“ Image. 2. Umwelt- und Klimapolitik

Die im Kontext des Health Impact Fund angesprochene weltweite Versorgung mit wichtigen Medikamenten wird signifikant erschwert durch unterschiedliche Zahlungsbereitschaften bzw. Zahlungsmöglichkeiten in den einzelnen Ländern. Insbesondere fällt der Gegensatz zwischen industrialisierten Ländern und Entwicklungsländern eklatant ins Auge. Die aus ethischen Gründen offensichtlich erforderliche soziale Interaktion wird durch diese ökonomische Diversität empfindlich behindert. Eine in gewisser Hinsicht vergleichbare Situation ergibt sich auch im Bereich der internationalen Umweltpolitik, im Zusammenhang mit der Allokation grenzüberschreitender Umweltgüter. Dazu zählt etwa die Emission von klimaschädlichen Treibhausgasen. Die Erfahrung zeigt, dass die in der Bevölkerung wahrgenommene Relevanz dieser Umweltänderungen von einer Einstellung abhängt, die man als „Umweltbewusstsein“ bezeichnen

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könnte (Wiesmeth 2011). Vor etlichen Jahren (Grossman / Krueger 1995) durchgeführte Untersuchungen machen deutlich, dass dieses Umweltbewusstsein insbesondere mit dem ökonomischen Wohlstand wächst und demzufolge vor allem in vielen Entwicklungsländern noch gering ausgeprägt ist. Die damit einhergehende Diversität bereitet der internationalen Umweltpolitik einige nicht leicht zu nehmende Hürden, wie etwa die Verhandlungen auf den Weltklimakonferenzen zur Einrichtung einer weiteren Verpflichtungsperiode zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen im Rahmen des Kyoto-Protokolls überaus deutlich zeigen. Konkret gesprochen: wie kann man große Schwellenländer wie China oder Indien „motivieren“, ihren notwendigen Beitrag zur Minderung der globalen Treibhausgasemissionen beizutragen? Im Unterschied zur Situation in der internationalen Gesundheitspolitik geht in diesem Fall das primäre Interesse von industrialisierten Ländern aus, wenngleich es die ärmeren Länder sein werden, die die größere Last in Folge der Klimaänderungen zu tragen haben werden. In beiden gesellschaftlich wichtigen Feldern stellt sich demnach die Herausforderung, die vorhandene, ökonomisch begründete Diversität durch geeignete Instrumente einer sozialen Interaktion zum vernünftigen Ausgleich zu bringen. In jedem Fall erscheint es aber unerlässlich, einer supranationalen Organisation das Heft des Handelns in die Hand zu geben. VI. Fazit und Ausblick Die Gesundheitsökonomie ist heute keine „kleine Pflanze“ mehr, sondern hat sich als eigenständige Disziplin an der Schnittstelle zwischen Ökonomie und Medizin etabliert. Das Fach hat allerdings immer noch kein klar herausgearbeitetes Bild in der öffentlichen Wahrnehmung. Die Relevanz des Faches hat in den letzten Jahren zwar zugenommen, worin sich Politik, Wissenschaft und Praxis einig sind. Nichtsdestotrotz fallen Begriffe wie Informationsdefizite, Ängste und Vorurteile, Rationalisierung und Rationierung, Zwei-Klassen-Medizin oder Privatisierung, die wie ein Schatten diese Disziplin begleiten. Es stellt sich die Frage, ob die hier aufgeführten Anregungen und Anreize für ein wertrationales Handeln ausreichend sind, um die negative Wahrnehmung hin zu einem positiven Gesamtbild zu wandeln, so wie es in der Chemieindustrie in den letzten Jahren auch passiert ist. Daneben sollten Gemeinsamkeiten mit anderen gesellschaftlich relevanten Feldern sowohl bei der Problemanalyse als auch bei der Lösungsfindung betrachtet werden, die zur Gestaltung der Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen als Anregung dienen könnten Die Diskussion ist sicher noch nicht am Ende angelangt. Eine Veränderung der heute meist negativen öffentlichen Wahrnehmung der Disziplin bleibt abzuwarten. Weitere kritische und vor allem lösungsorientierte Schriften hierzu sind willkommen.



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Literatur Banerjee, A. / Hollis, A. / Pogge, T. (1990): The health impact fund: incentives for improving access to medicines. Lancet 2010; 375(9709), 166–169. Biller-Andorno, N. / Lee, T. H. (2013): Ethical physician incentives – from carrots and sticks to shared purpose. NEJM 2013; 368(11), 980–982. Brody, H. (2010): Medicine’s ethical responsibility for health care reform – the top five list. NEJM 2010; 362(4), 283–285. Grossman, G. M. / Krueger, A. B. (1995): Economic growth and the environment. Quarterly Journal of Economics, vol. 110, 353–377. Haynes, A.  B. / Weiser, T.  G. / Berry, W.  R. / Lipsitz, S.  R. / Breizat, A.  H. / Dellinger, E. P. et al. (2009): A surgical safety checklist to reduce morbidity and mortality in a global population. NEJM 2009; 360(5):491–499. Lee, T. H. (2010): Putting the value framework to work. NEJM 2010; 363: 2481– 2483. – (2012): Care redesign – a path forward for providers. NEJM 2012; 367 (5): 466–472. Lenzen M. (2013): Die Logik des Marktes und die Logik der Medizin. Frankfurter Allgemeine Zeitung; 04.09.2013. Maio, G. (2011): Zur inneren Aushöhlung der Medizin durch das Paradigma der Ökonomie. ÄBW 2011; 4: 240–243. Monitor Versorgungsforschung (2013): Es gibt keinen ökonomiefreien Raum – Interview mit Franz Knieps, Ausgabe 5. Pogge T. (2013): Die richtigen Anreize schaffen: Der Health Impact Fund. Ein konkreter Beitrag zu globaler Gerechtigkeit und eine Innovation für die Weltgesundheit. Arbeitslinie „Soziale Gerechtigkeit“ 2011 [online abrufbar unter http: /  / li brary.fes.de / pdf-files / iez / 08545.pdf (letzter Zugriff am 14.10.2013)]. Porter, M. E. (2010): What is value in health care? NEJM 2010; 363(26): 2477– 2481. Weber, M. (1968): Methodologische Schriften, Frankfurt am Main. Weber, M. / Winckelmann, J. (1968): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 542. Wiesmeth, H. (2011): Environmental economics – Theory and policy in equilibrium, Heidelberg: Springer-Verlag.

Psychologische Ökonomie und Gesundheit Christian Krauth, Jonas Peltner, Anika Brümmer und Anna Mutwill I. Das Modell des homo oeconomicus Dominierender Ansatz der modernen Ökonomik ist die neoklassische Theorie (Schumann / Meyer / Ströbele 2011; Pindyck / Rubinfeld 2013), die auf dem Verhaltensmodell des homo oeconomicus (ökonomisches Standardmodell) basiert. Der homo oeconomicus bezeichnet einen Akteur, der (im Standardmodell) durch die folgenden Annahmen charakterisiert ist (Kirchgässner 2000; Franz 2004): – Er handelt vollständig rational (Rationalitätsannahme) und – eigeninteressiert (Eigennutzaxiom), – maximiert den eigenen Nutzen (Nutzenmaximierung), – reagiert auf Umweltbedingungen (Restriktionen), – hat stabile Präferenzen und – verfügt über vollständige Information. Rationalitätsannahme: Im neoklassischen Verhaltensmodell unterliegen die Akteure bei ihren Entscheidungen (über Auswahl und Realisation von Handlungsmöglichkeiten) keinen kognitiven Beschränkungen. Alle verfügbaren Informationen werden bei den Wahlhandlungen berücksichtigt. Selbstkontrollprobleme und Emotionen (die rationale Entscheidungen beeinträchtigen können) sind dem homo oeconomicus fremd. Bei den Entscheidungen wird auf den langfristigen (und nicht nur den kurzfristigen) Nutzen abgestellt (Wessling 1991; Frey / Benz 2007). Eigennutzaxiom: Der homo oeconomicus orientiert seine Entscheidungen ausschließlich an den eigenen Präferenzen. Die Auswirkungen auf den Nutzen anderer Personen werden in den Wahlhandlungen nicht berücksichtigt. Der homo oeconomicus kennt weder Neid und Missgunst noch Mitfreude am Wohlergehen der Mitmenschen. Soziale Präferenzen wie Fairness, Altruismus und Neid werden im ökonomischen Standardmodell nicht berücksichtigt (Franz 2004). Nutzenmaximierung: Oberstes Ziel des rationalen Akteurs ist die Maximierung des (eigenen) Nutzens. Der homo oeconomicus bewertet seine

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Handlungsmöglichkeiten mittels eines Kosten-Nutzen-Kalküls und wählt die nutzenmaximale Alternative aus (Wessling 1991; Franz 2004). Er handelt damit gemäß dem ökonomischen Prinzip: (1) mit gegebenen Ressourcen eine maximale Zielerreichung bzw. (2) eine definierte Zielerreichung mit minimalem Ressourceneinsatz zu realisieren (Schumann / Meyer / Ströbele 2011). Unsicherheiten über die zukünftigen Ergebnisse der Handlungsalternativen werden durch Bildung des Erwartungsnutzens (Pindyck / Rubinfeld 2013) berücksichtigt (indem der Nutzen eines potentiellen Ergebnisses mit dessen Eintrittswahrscheinlichkeit gewichtet und die gewichteten Nutzen summiert werden). Präferenzen und Restriktionen: Im ökonomischen Verhaltensmodell wird eine klare Trennung von Präferenzen des Individuums und Umweltbedingungen, die seinen Handlungsspielraum begrenzen, vorgenommen. Es ist unterstellt, dass die Präferenzen stabil sind. Änderungen des Verhaltens sind dann alleine in (beobachtbaren und messbaren) strukturellen Änderungen der Umweltbedingungen begründet. Mit der Annahme stabiler Präferenzen wird verhindert, dass jede beliebige Verhaltensänderung auf (im ökonomischen Modell nicht messbaren) Änderungen der Präferenzen zurückgeführt wird (Franz 2004). Präferenzänderungen sind im ökonomischen Verhaltensmodell nicht messbar, da in der neoklassischen Theorie Nutzen nur indirekt (über ein ordinales Nutzenkonzept) aus den Wahlhandlungen bestimmt wird und nicht direkt (über ein kardinales Nutzenkonzept) gemessen wird (Schumann / Meyer / Ströbele 2011; Pindyck / Rubinfeld 2013). Restriktionen im ökonomischen Verhaltensmodell umfassen z. B. das (aktuelle und zukünftig erwartete) Einkommen des Akteurs, die (aktuellen und zukünftig erwarteten) Güterpreise sowie die zum Konsum und Handeln benötigte Zeit. Das ökonomische Modell beansprucht, Verhaltensänderungen aus Änderungen der Umweltbedingungen prognostizieren zu können. Steigt z. B. der Benzinpreis, dann reagieren die Konsumenten gemäß ökonomischem Modell mit einer Einschränkung ihrer Nachfrage nach Benzin: kurzfristig indem sie z. B. die Fahrleistung reduzieren oder einen benzinsparenden Fahrstil übernehmen, langfristig indem sie in effizientere Motoren oder alternative Antriebe (z. B. Hybrid- oder Elektromotor) investieren. Änderungen der Präferenzen, z. B. ein zunehmendes Umweltbewusstsein, werden im ökonomischen Modell demgegenüber nicht berücksichtigt, um Verhaltensänderungen zu erklären. Es lässt sich festhalten, dass der homo oeconomicus eine heuristische Fiktion ist, die nicht auf eine realistische Abbildung des menschlichen Verhaltens zielt, sondern ökonomische Entscheidungen und Handlungen erklären soll. Im ökonomischen Modell wird ein bewusst vereinfachtes Menschenbild entwickelt. Es ist damit kein Modell, um menschliches Verhalten



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umfassend zu beschreiben, aber es beansprucht, das aggregierte ökonomische Verhalten auf Märkten erklären und vorhersagen zu können (Franz 2004). Insgesamt lässt sich konstatieren, dass das ökonomische Modell einen sehr erfolgreichen Erklärungsansatz für das aggregierte ökonomische Verhalten auf vollständigen Märkten darstellt. Es ist ein Ansatz, der zentrale mikroökonomische Analysen wie die Ableitung von Gesamtnachfragefunktionen für ein Gut oder die Bestimmung von Interdependenzen zwischen Gütermärkten über Preise und Einkommen ermöglicht (Schumann / Meyer / Ströbele 2011). Trotz der unbestreitbaren Erfolge des ökonomischen Standardmodells werden die neoklassischen Annahmen aus unterschiedlichen Richtungen kritisiert. In experimentellen Überprüfungen des Standardmodells haben sich zahlreiche Abweichungen vom prognostizierten Verhalten des homo oeconomicus (sogenannte Verhaltensanomalien) gezeigt (Frey / Benz 2007). Verhaltensabweichungen stellen sich insbesondere auf (unvollständigen) Märkten ein, die nicht den Eigenschaften eines vollständigen Marktes – (1) viele Anbieter und Nachfrager, (2) keine persönlichen und sachlichen Präferenzen, (3) vollständige Markttransparenz (Schumann / Meyer / Ströbele 2011) – genügen. Die psychologische Ökonomie kritisiert insbesondere die Annahmen der vollständigen Rationalität und des unbeschränkten Eigennutzes. Nachfolgend werden in Abschnitt II. Ansätze der psychologischen Ökonomie vorgestellt, die sich aus der Kritik am Modell des homo oeconomicus entwickelt haben: (1) Verhaltensökonomie, (2) experimentelle Ökonomik und (3) Glücksökonomie. In Abschnitt III. werden dann Anwendungen der psychologischen Ökonomie im Gesundheitssektor untersucht. In Abschnitt IV. werden abschließend die psychologischen Ansätze der Gesundheitsökonomik kritisch diskutiert und eingeordnet. II. Ansätze der psychologische Ökonomie Die Ansätze der psychologischen Ökonomie sind nicht eindeutig voneinander abzugrenzen. Insbesondere die Verhaltensökonomie wird zunehmend weit gefasst (und umfasst zuweilen die gesamte psychologische Ökonomie). Ursprünglich geht sie von der Kritik an der Rationalitätsannahme des ökonomischen Modells aus. Sie zeigt Verhaltensanomalien auf (wie z. B. Berücksichtigung von sunk cost in Entscheidungen, stärkere Gewichtung von monetären gegenüber nicht-monetären Kosten, Abhängigkeit der Entscheidungen vom Framing, also der Beschreibung eines Entscheidungsproblems, etc.) und beschreibt, wie Heuristiken in komplexen Entscheidungssituationen unter Unsicherheit gebildet werden. Die Verhaltensökonomie wurde später auf Untersuchungen zu begrenzter Willenskraft (bzw. Selbstkontroll-

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problemen) ausgedehnt (was eng mit der begrenzten Rationalität verbunden ist) und mittlerweile werden auch Ansätze zu begrenztem Eigennutz unter Verhaltensökonomie subsumiert (Mullainathan / Thaler 2000; Camerer / Loewenstein 2004; Wilkinson / Klaes 2012). Die Kritik am Eigennutzaxiom des ökonomischen Verhaltensmodells wird aber auch mit der experimentellen Ökonomik assoziiert, da der Nachweis begrenzten Eigennutzes durch ökonomische Experimente erfolgte. Die Glücksökonomie untersucht Einflussfaktoren auf das Glück (auch als Lebenszufriedenheit oder subjektives Wohlbefinden bezeichnet) und den Einfluss des Glücks auf das Verhalten (z. B. Partnerwahl oder Berufswahl), sie geht dabei von einem kardinalen Nutzenkonzept aus. Die Glücksökonomie postuliert u. a. (und stellt sich damit gegen das neoklassische Haushaltsmodell), dass Vergleiche mit einer Referenzgruppe hochrelevant sind (z. B. bzgl. des Einkommens) und dass Gewöhnungseffekte eintreten (z. B. Einkommenssteigerungen nur kurzfristig das Wohlbefinden steigern, weil Ansprüche angepasst werden). 1. Begrenzte Rationalität: Verhaltensökonomie

Abweichungen von der Rationalitätsannahme des ökonomischen Verhaltensmodells zeigen sich insbesondere (1) bei Entscheidungen unter Unsicherheit durch begrenzte Informationsverarbeitungskapazitäten. Entscheidungen werden außerdem (2) überlagert durch Emotionen und Selbstkontrollprobleme. a) Unsicherheit Bedeutendster verhaltensökonomischer Ansatz bei Unsicherheit ist die Prospect Theory von Amos Tversky und Daniel Kahneman (Kahneman / Tversky 1979; Tversky / Kahneman 1981; Tversky / Kahneman 1986; Tversky /  Kahneman 1992). Sie berücksichtigt, dass Akteure nur beschränkte Informationsverarbeitungskapazitäten besitzen und Heuristiken nutzen, um die Komplexität von Entscheidungen zu reduzieren. Es sind mittlerweile zahlreiche Abweichungen von der Theorie des Erwartungsnutzens (von Neumann / Morgenstern 1947), dem ökonomischen Standardmodell bei Unsicherheit, beschrieben worden (wie oben beschrieben ist der Erwartungsnutzen einer Handlungsalternative definiert als Summe der gewichteten Nutzen, die mit den potentiellen Ergebnissen assoziiert sind. Die Gewichtung der Nutzen erfolgt dabei mit der jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ergebnisses). Tversky und Kahneman unterstellen, dass die Entscheidungsfindung in zwei (impliziten) Arbeitsschritten erfolgt: (1) Aufbereitung der relevanten



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Informationen (editing) und (2) Bewertung der gebildeten Handlungsalternativen (evaluation). Bei der Informationsaufbereitung werden u. a. Referenzpunkte festgelegt und abweichende Ergebnisse als Gewinne respektive Verluste gegenüber dem Referenzpunkt wahrgenommen, während bei der Erwartungsnutzentheorie stets absolute Ergebnisse bewertet werden. Verhaltensanomalien lassen sich in beiden Entscheidungsschritten identifizieren. Bei der Editierung (Aufbereitung von Informationen) werden Heuristiken genutzt, um komplexe Entscheidungen zu bewältigen. Dabei können Verzerrungen des Entscheidungsproblems auftreten. Besonders häufig sind die Heuristiken der Verfügbarkeit, Repräsentativität und Verankerung (Camerer / Loewenstein 2004; Werth / Mayer 2008). Bei der Heuristik der Verfügbarkeit („was mir leicht einfällt, wird auch häufiger auftreten“) kann es zu verzerrten Urteilen (availability bias) kommen, wenn die objektive Häufigkeit von der (leichten) Verfügbarkeit von Informationen abweicht. So wird z. B. die Anzahl der Todesfälle bei Verkehrsunfällen gegenüber Todesfällen nach Myokardinfarkt häufig überschätzt, da Unfälle in den Medien stärker präsent sind (Werth / Mayer 2008). Mit der Heuristik der Repräsentativität werden Entscheidungsprobleme vereinfacht, indem die Repräsentativität (oder Ähnlichkeit) als entscheidendes Kriterium für die Schätzung von Eintrittswahrscheinlichkeiten genutzt wird. So zeigt sich, dass bei der Beurteilung, ob eine impulsive Person eher Boxer oder Bankangestellter ist, eine Mehrheit der Befragten für den Boxer plädiert. Bei der Beurteilung wird das Ähnlichkeitsprinzip herangezogen: ein Element (im Beispiel: eine Person) wird derjenigen Kategorie (im Beispiel: dem Beruf) zugeordnet, mit deren vermuteten Eigenschaften die meiste Ähnlichkeit besteht. Bei der Schätzung wird allerdings die Grundwahrscheinlichkeit der Kategorien (Anzahl Bankangestellte versus Anzahl Boxer) außer Acht gelassen: es gibt offensichtlich deutlich mehr Bankangestellte als Boxer (Camerer / Loewenstein 2004; Kahneman / Tversky 1973). Bei der Verankerungsheuristik orientieren sich Akteure an (leicht zugänglichen) Ausgangswerten, um Ergebnisse zu schätzen. Wenn der Anker schlecht gewählt ist, sind deutliche Verzerrungen von Ergebnisschätzungen zu erwarten. In einem Experiment schätzten Autoverkäufer den Wert eines Gebrauchtwagens bei einem hohen Anker („ist das Auto mehr oder weniger wert als 5.000 DM“) deutlich höher ein als bei einem niedrigen Anker (von 2.800 DM). Der Unterschied betrug über 40 % (3.563 DM versus 2.520 DM) (Mussweiler / Strack / Pfeiffer 2000). Bei der Bewertung der Handlungsalternativen (Evaluation) unterscheidet sich die Prospect Theory deutlich von dem ökonomischen Standardmodell der Erwartungsnutzentheorie (Kahneman / Tversky 1979; Tversky / Kahneman 1992; Wilkinson / Klaes 2012): Es wird angenommen,

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– dass Akteure in Gewinnen und Verlusten gegenüber einem Referenzpunkt denken (und nicht in absoluten Ergebnissen); – dass die Bewertungsfunktion bei Gewinnen konkav ist (und damit Risikoaversion abbildet) und bei Verlusten konvex (was Risikofreude impliziert), während bei der Erwartungsnutzentheorie eine gleichbleibende Risikoeinstellung (zumeist Risikoaversion) unterstellt wird; – dass die Bewertungsfunktion im Verlustbereich steiler ist als im Gewinnbereich (Verlustaversion). Anomalien durch Verlustaversion werden als Endowment-Effekt, Status Quo Bias, Sunk Cost und Framing beschrieben; – dass kleine und mittlere / große Wahrscheinlichkeiten unterschiedlich behandelt werden. Kleine versus mittlere / große Wahrscheinlichkeiten: Akteure handeln bei kleinen Wahrscheinlichkeiten nicht gemäß den Prämissen der Erwartungsnutzentheorie (Kahneman / Tversky 1979; Frey / Eichenberger 1989). In einem Experiment bevorzugen die meisten Teilnehmer eine 90  % Chance auf 3.000 USD Gewinn gegenüber einer 45 % Chance auf 6.000 USD Gewinn (Spiel 1) (Kahneman / Tversky 1979). Bei kleinen Wahrscheinlichkeiten kehren sich die Präferenzen um. Jetzt entscheiden sich die meisten Teilnehmer für eine 0,1 % Chance auf 6.000 USD Gewinn gegenüber einer 0,2 % Chance auf 3.000 USD Gewinn (Spiel 2). Gemäß Erwartungsnutzentheorie sollten aber die Präferenzen in beiden Spielen identisch sein.1 Bei mittleren und großen Wahrscheinlichkeiten ist Akteuren die Sicherheit der Gewinnrealisierung offensichtlich besonders wichtig, während bei kleinen Wahrscheinlichkeiten (wenn die Gewinnwahrscheinlichkeit ohnehin gering ist) stärker auf die Höhe des Gewinns fokussiert wird. Verlustaversion: Ergebnisse werden als Veränderungen (Gewinne oder Verluste) gegenüber einem Referenzpunkt (häufig der Status Quo) identifiziert. In zahlreichen Experimenten konnte gezeigt werden, dass Verluste stärker gewertet werden als betragsgleiche Gewinne (Kahneman / Knetsch /  Thaler 1990; Kahneman / Knetsch / Thaler 1991). Der Nutzengewinn eines Vermögensanstiegs von 95.000 EUR auf 100.000 EUR ist deutlich geringer als der Nutzenverlust einer Vermögenseinbuße von 105.000 EUR auf 100.000 EUR (z. B. durch Zu- oder Abnahme von Aktienwerten) (Kahne1  Denn die Wahrscheinlichkeit, 3.000 USD (Entscheidungsalternative 1) zu gewinnen, ist jeweils doppelt so groß wie die Wahrscheinlichkeit 6.000 USD (Entscheidungsalternative 2) zu gewinnen (90 % vs. 45 % in Spiel 1 und 0,2 % vs. 0,1 % in Spiel 2). Von Spiel 1 zu Spiel 2 sinkt der Erwartungsnutzen bei beiden Optionen um den gleichen Faktor (0,2 / 90 bei Option 1 bzw. 0,1 / 45 bei Option 2) und damit bleibt die Präferenzordnung im Modell der Erwartungsnutzentheorie erhalten.



Psychologische Ökonomie und Gesundheit263 Wert

Referenzpunkt

Y Gewinne –X X

Vermögen

Verluste –2Y

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kahneman, D./ Tversky, A. (1979): Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, Econometrica 47, 263–292.

Abbildung 1: Hypothetische Bewertungsfunktion

man / Tversky 1979). Abbildung 1 zeigt den hypothetischen Verlauf der Bewertungsfunktion. Im Verlustbereich verläuft die Kurve steiler als im Gewinnbereich. Verluste werden etwa zweimal so stark gewertet wie Gewinne (Kahneman / Tversky 1979). Deshalb sind Akteure besonders darauf fokussiert, Verluste zu vermeiden. So zögern (nichtprofessionelle) Anleger häufig, Aktien mit Verlust zu veräußern, selbst wenn die Investition des Verkaufserlöses in eine alternative Anlageoption höhere Erträge erwarten lässt (Pindyck / Rubinfeld 2013). Um Verluste zu vermeiden, wird sogar in riskante Optionen investiert (siehe unten Framing-Effekt). Das Aktienbeispiel illustriert auch den Endowment-Effekt (Besitztumseffekt). Der Wert von Gütern hängt auch davon ab, ob sie im eigenen Besitz sind oder nicht. Akteure fordern einen höheren Preis, um ein Gut aus dem eigenen Besitz abzugeben (willingness to accept), als sie umgekehrt beim Erwerb des Gutes zu zahlen bereit sind (willingness to pay) (Thaler 1980; Kahneman / Knetsch / Thaler 1991). Dies zeigt sich auch bei Immobilienbesitz. Hausbesitzer bewerten ihre Immobilie häufig deutlich über dem Marktpreis und sind erst nach Monaten bereit, einen marktgerechten Preis zu akzeptieren (Pindyck / Rubinfeld 2013). Der Besitztumseffekt verstärkt sich,

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wenn die Marktpreise in einer Region unter den Einstandspreis gesunken sind. Der Endowment-Effekt widerspricht den Annahmen des ökonomischen Verhaltensmodells und kann die Marktallokation erheblich beeinflussen. Aus der Verlustaversion folgt auch, dass Akteure häufig im Status Quo verbleiben. Eine Veränderung des bestehenden Zustands erscheint mit mehr Nachteilen als Vorteilen verbunden (Status Quo Bias) (Samuelson / Zeckhauser 1988). Insofern ändern viele Akteure ihre Vermögensanlage nur selten. Auch der Sunk Cost Effekt lässt sich auf die Verlustaversion zurückführen. Er besagt, dass Akteure vergangene Aufwendungen (sunk cost) bei ihren Entscheidungen berücksichtigen, obwohl sie bei rationalem Verhalten nur die zukünftigen Kosten und Nutzen einbeziehen sollten. In einem Experiment wird den Teilnehmern erläutert, dass sie in der Folgewoche zwei Stunden Hallenzeit gebucht haben, um Tennis zu spielen, da sie mit Regenwetter rechnen (Open Air Tennisplätze sind demgegenüber kostenfrei verfügbar). Tatsächlich ist in der Folgewoche gutes Wetter und die Teilnehmer könnten im Freien spielen. Die meisten Teilnehmer wählen dennoch den Hallenplatz, da sie die Hallengebühr (die eigentlich sunk cost darstellen) in die Entscheidung einbeziehen. Wenn keine Hallengebühr anfällt, so zeigt das Experiment weiter, entscheiden sich die meisten Teilnehmer bei gutem Wetter für das Spielen im Freien (Frank 1994). Framing: In zahlreichen Studien konnte nachgewiesen werden, dass die Bewertung von Ergebnissen davon abhängt, wie ein Entscheidungsproblem beschrieben wird (Camerer / Loewenstein 2004; Tversky / Kahneman 1986; Smith 2008). Das Verhalten (bei Unsicherheit) wird insbesondere davon beeinflusst, ob ein Ergebnis als Gewinn oder Verlust dargestellt wird. Das folgende Experiment illustriert den Framing-Effekt (Tversky / Kahneman 1981; Rice 2013). Eine Epidemie bahnt sich an, bei der 600 Todesfälle erwartet werden. Eine erste Teilnehmergruppe des Experiments sollte zwischen zwei Programmen zur Bekämpfung der Epidemie entscheiden: mit Programm (A) können 200 Personen sicher gerettet werden. Bei Programm (B) können mit 1 / 3 Wahrscheinlichkeit 600 Personen gerettet werden und mit 2 / 3 Wahrscheinlichkeit werden keine Personen gerettet. Für eine zweite Teilnehmergruppe wurden die Programme umformuliert: Bei Programm (C) versterben 400 Personen. Bei Programm (D) versterben mit 1 / 3 Wahrscheinlichkeit keine Personen und mit 2 / 3 Wahrscheinlichkeit 600 Personen. Beide Problemstellungen sind objektiv identisch. Allerdings ist Entscheidungsproblem 1 als Gewinnsituation formuliert und Entscheidungsprob­lem 2 als Verlustsituation, was die Entscheidung der Teilnehmer deutlich beein-



Psychologische Ökonomie und Gesundheit265

flusst. Im Entscheidungsproblem 1 entscheidet sich die Mehrheit der Teilnehmer (72 %) für die sichere Alternative (A), während im Entscheidungsproblem 2 die Mehrheit der Teilnehmer (78 %) für die riskante Alternative (D) optiert. Es erweist sich, dass Akteure in Gewinnsituationen risikoavers sind und in Verlustsituationen risikofreudig. Die Risikoeinstellung wird in Abbildung 1 berücksichtigt, indem die Bewertungsfunktion bei Gewinnen konkav und bei Verlusten konvex verläuft. Offensichtlich können Ergebnisse durch Framing manipuliert werden. b) Selbstkontrollprobleme Die Rationalität von Akteuren ist auch deshalb begrenzt, weil Entscheidungen durch Selbstkontrollprobleme bzw. begrenzte Willenskraft beeinflusst werden (Loewenstein 2000). Selbstkontrollprobleme sind bei intertemporalen Entscheidungen besonders relevant. Ein prominentes Beispiel ist die Altersvorsorge (Fehr 2002). Den meisten Menschen ist bewusst, dass sie während der Erwerbsphase Vermögen aufbauen sollten, um den Lebensstandard in der Rentenphase aufrechterhalten zu können. Eine Studie aus den USA zeigt aber, dass die Konsumausgaben bei Eintritt in die Rentenphase deutlich sinken, wenn die Einkommen zurückgehen (Banks / Blundell / Tanner 1998). Obwohl die Aufrechterhaltung des Lebensstandards den langfristigen Präferenzen entspricht, dominieren die kurzfristigen Konsumpräferenzen und die meisten Menschen sparen zu wenig für die Rentenphase an. Die Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse wird auch als zeitinkonsistente Präferenzen oder hyperbolische Diskontierung bezeichnet (Laibson 1997; O’Donoghue / Rabin 1999). Gegenüber der exponentiellen Diskontierung im ökonomischen Standardmodell (bei der zukünftige Nutzen mit gleichbleibender jährlicher Diskontierungsrate abgezinst werden) werden bei hyperbolischer Diskontierung die Nutzen der nahen Zukunft besonders stark abgezinst, in der weiteren Zukunft nähern sich die Diskontierungsraten denjenigen bei exponentieller Diskontierung an (siehe Abbildung 2). Die in den meisten europäischen Ländern bestehenden obligatorischen Altersversicherungen können als Strategie angesehen werden, um die langfristigen Präferenzen zu stützen.

C. Krauth, J. Peltner, A. Brümmer und A. Mutwill

Gegenwärtiger Wert zukünftigen Nutzens

266

Exponentielle Diskontierung Hyperbolische Diskontierung

Zeit bis zur Realisierung des Nutzens Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Sylvan, L. (2009): Behavioural Economics, The Australian Collaboration, Melbourne.

Abbildung 2: Hyperbolische Diskontierung

2. Begrenzter Eigennutz: Experimentelle Ökonomik

Aus Perspektive der psychologischen Ökonomie wird neben der Rationalitätsannahme auch das Eigennutzaxiom des ökonomischen Standardmodells kritisiert. Mithilfe der experimentellen Ökonomik konnten zahlreiche Abweichungen des realen Verhaltens vom Eigennutzaxiom nachgewiesen werden. In der experimentellen Ökonomik wird das menschliche Verhalten unter Laborbedingungen untersucht. Der Experimentleiter kann dabei den Informationsstand der Versuchspersonen kontrollieren. In den Experimenten wird nur ein Parameter (‚factor of interest‘) variiert und die anderen Einflussfaktoren konstant gehalten (Croson / Gächter 2010). Ökonomische Experimente sind eng verwandt mit psychologischen Experimenten. Sie unterscheiden sich aber u. a. dadurch, dass monetäre Anreize eingesetzt werden, um realistischere Bedingungen für die ökonomischen Entscheidungen zu simulieren. Laborexperimente eignen sich besonders, um ökonomische Theorien zu überprüfen, da die Modellannahmen vollständig kontrolliert werden können. Darüber hinaus lassen sich Verhaltensanomalien überprüfen und politische Interventionen testen (Croson 2002). Ein zentrales Experiment zur Überprüfung des Eigennutzaxioms ist das Ultimatumspiel (Güth / Schmittberger / Schwarze 1982), das mittlerweile häufig (und in unterschiedlichen Varianten) repliziert wurde. Im Ultimatumspiel



Psychologische Ökonomie und Gesundheit267

erhält Spieler A einen (nicht zu geringen) Geldbetrag, den er beliebig auf sich und einen Spieler B aufteilen kann. Spieler B entscheidet anschließend, ob er den zugeteilten Geldbetrag annimmt oder ablehnt. Ist Spieler B mit der vorgeschlagenen Aufteilung einverstanden, erhalten beide Spieler den vereinbarten Geldbetrag. Lehnt Spieler B aber den Vorschlag ab, gehen beide Spieler leer aus. Unter den Annahmen des ökonomischen Standardmodells müsste Spieler B auch den kleinsten angebotenen Geldbetrag annehmen, da er damit seinen Nutzen (gegenüber Ablehnung des Geldbetrags) steigert, und Spieler A sollte einen möglichst geringen Geldbetrag anbieten. Die Experimente zeigen aber ein anderes Verhalten. Spieler B verzichtet auf den Geldbetrag, wenn ihm die Teilung unfair erscheint und Spieler A bietet häufig einen substantiellen Betrag an (Weimann 2009). Mehr als die Hälfte aller Spieler B weisen Angebote unter 20 % zurück. Umgekehrt bieten zwei Drittel der Spieler A eine Beteilung von 40–50 % für Spieler B an (Fehr / Gächter 2000). Es wurde daraus geschlossen, dass unfaires Verhalten von den Akteuren bestraft wird, selbst wenn es mit eigenen Kosten verbunden ist (Kahneman / Knetsch / Thaler 1986). Das Ultimatumspiel (und viele weitere Experimente) belegen, dass Entscheidungen durch Emotionen und Gefühle beeinflusst werden (Frank 1992). Normen der Fairness und Reziprozität sind grundlegend für das Entscheidungsverhalten in (personalen) Tauschbeziehungen. Fairness beinhaltet eine gleichmäßige (oder angemessene) Verteilung der Ressourcen zwischen den Tauschpartnern. Reziprozität bedeutet, dass kooperatives Verhalten belohnt und unkooperatives Verhalten bestraft wird. Soziale Präferenzen (wie Fairness und Reziprozität) verändern das Markt­ ergebnis auf unvollständigen Märkten. So zeigte die Befragung US-amerikanischer Personalmanager (Bewley 1999), dass sie trotz einer bestehenden Rezession die Löhne ihrer Mitarbeiter nicht senkten (obwohl das ökonomische Standardmodell eine Lohnsenkung in der Rezession erwarten lässt). Die Begründung der Personalmanager war, dass Mitarbeiter eine Lohnsenkung als unfair empfinden würden und ihre Motivation und Leistungsbereitschaft einbrechen würde. Die Entlassung von Mitarbeitern in der Rezession scheint eher toleriert zu werden (vermutlich weil sie bei schlechter Auftragslage als nachvollziehbar – ‚fair‘ – empfunden wird). 3. Subjektives Wohlbefinden: Glücksökonomie

Mit Glück beschäftigen sich unterschiedliche Fachdisziplinen. Die Philosophie thematisiert seit jeher, was ein glückliches und gutes Leben ausmacht. Psychologie und Soziologie untersuchen Einflussfaktoren auf das Glück und entwickeln Verfahren zur Glücksmessung. Erst in den letzten Jahren ist Glück auch zu einem Untersuchungsgegenstand der Ökonomie geworden (Frey / Stutzer 2002; Frey / Stutzer 2010), indem – ausgehend von

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C. Krauth, J. Peltner, A. Brümmer und A. Mutwill

der Sozialpsychologie – (ökonomische) Determinanten des Glücks analysiert werden. Der Begriff des Glücks wird in der Ökonomie (wie in der Psychologie) nicht abschließend definiert. Überwiegend wird auf ein langfristiges Glücksempfinden (Zufriedenheit mit dem Leben) abgestellt (in das aber auch kurzfristige Glücksmomente eingehen). Häufig werden Glück (happiness), Lebenszufriedenheit (life satisfaction) und subjektives Wohlbefinden (subjective well-being) synonym verwendet (Easterlin 2004; Frey / Stutzer 2005; Graham 2005). Bei dem ökonomischen Glückskonzept handelt es sich – ähnlich dem Nutzenkonzept der Standardökonomie – um einen subjektiven Bewertungsansatz (des Wohlbefindens bzw. des eigenen Nutzens). Es ist (wie in ökonomischen Ansätzen üblich) unterstellt, dass Akteure ihr Wohlbefinden selbst am besten einschätzen können. Die Glücksökonomie geht von einem kardinalen Messkonzept der Lebenszufriedenheit (bzw. des subjektiven Wohlbefindens) aus. Damit wird es möglich, Glück und Lebenszufriedenheit interpersonell zu vergleichen (was im ordinalen Nutzenkonzept der Standardökonomie nicht möglich ist). Die Erhebung der Lebenszufriedenheit ist überwiegend in große repräsentative Befragungen wie das Sozio-ökonomische Panel (SOEP), das Eurobarometer oder den World Value Survey eingebunden. Teilweise sind spezifische Erhebungsinstrumente wie die Satisfaction With Life Scale (Diener / Emmons / Larsen / Griffin 1985) entwickelt worden, die aber mehr in der psychologischen als in der ökonomischen Glücksforschung genutzt werden. Im SOEP lautet die Frage zum Wohlbefinden: „Wie zufrieden sind Sie gegenwärtig, alles in allem, mit Ihrem Leben?“ (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung 2013) Die Antwortmöglichkeiten liegen auf einer Skala von 0 (ganz und gar unzufrieden) bis 10 (ganz und gar zufrieden). In Regressionsmodellen werden (aus den repräsentativen Befragungen) zahlreiche Einflussfaktoren auf das Glück wie Einkommen, Arbeit(slosigkeit), Gesundheit und Familie analysiert (während in der Standardökonomie fast ausschließlich Konsum und Freizeit als Determinanten des Nutzens berücksichtigt werden). Die Glücksökonomie unterscheidet sich darüber hinaus von der Standardökonomie durch (1) die Abweichung vom Eigennutzaxiom, (2) die Berücksichtigung von (zeitlichen) Adaptionsprozessen des Glücksempfindens auf (positive oder negative) Ereignisse und (3) die Bedeutung von Gleichheit (Layard 2005). Soziale Vergleiche: In der Glücksökonomie werden menschliche Emotionen wie Neid, Missgunst und Mitfreude zugelassen, die auf sozialen Vergleichen beruhen. Damit weicht die Glücksökonomie vom Eigennutzaxiom der Standardökonomie ab. In einem Experiment wurden Studenten gebeten, eines von den folgenden zwei Szenarien auszuwählen: In Szenario 1 verdienen sie selbst 50.000 USD und alle anderen 25.000 USD, in Szenario 2 beträgt ihr



Psychologische Ökonomie und Gesundheit269

Einkommen 100.000 USD und das der anderen 200.000 USD. Die Mehrheit der Versuchspersonen zog Szenario 1 vor, in dem sie selbst zwar absolut ­weniger verdienen als in Szenario 2, aber reicher sind als die Mitmenschen (Solnick / Hemenway 1998). Vergleiche mit Referenzgruppen aus der eigenen Umgebung – Layard (2005) bezeichnet es als soziale Vergleiche (social comparisons) – werden häufig angestellt und wirken sich deutlich auf das subjektive Wohlbefinden aus. Referenzgruppen sind z. B. Arbeitskollegen, Nachbarn oder Familienmitglieder, also Personen mit vergleichbarem soziodemographischem Hintergrund. Vergleiche werden insbesondere bzgl. Einkommen, Berufsstatus und materiellem Wohlstand vorgenommen. Wenn von zwei Arbeitskollegen A und B mit bisher gleichem Einkommen Mitarbeiter A eine Lohnerhöhung erhält, steigt – gemäß Eigennutzaxiom der Standardökonomie – sein Nutzen an, während der Nutzen von Mitarbeiter B nicht berührt wird. Demgegenüber berücksichtigt die Glücksökonomie, dass die Lohnerhöhung des Arbeitskollegen A sich negativ auf die Lebenszufriedenheit des Arbeitskollegen B auswirkt (Layard 2005). Aus dem Phänomen sozialer Vergleiche leitet sich das Easterlin-Paradoxon (Easterlin 1974) ab, eine der zentralen Thesen der Glücksökonomie. Easterlin untersuchte den Zusammenhang zwischen Einkommen und Glück anhand von Zeitreihendaten (1946–1970) aus den USA. Es zeigte sich, dass sich das subjektive Wohlbefinden der US-Amerikaner trotz gestiegenem Lebensstandard im Untersuchungszeitraum kaum veränderte. Bei internationalen Vergleichen wurde nur ein schwacher Zusammenhang zwischen subjektivem Wohlbefinden und Einkommen nachgewiesen, sobald die materiellen Grundbedürfnisse befriedigt waren. Ein höheres Einkommen macht also nicht zwingend glücklicher (siehe Abbildung 3). Adaption: Während Präferenzen in der neoklassischen Standardökonomie als stabil angesehen werden (siehe oben), berücksichtigt die Glücksökonomie, dass sich Akteure an neue (positive oder negative) Ereignisse gewöhnen. So beschreibt z. B. die Theorie der Hedonischen Tretmühle die Auswirkungen von Lohnerhöhungen auf das Glück. Demnach führen Einkommenssteigerungen kurzfristig zu einem Anstieg des subjektiven Wohlbefindens. Allerdings gewöhnen sich Akteure relativ bald an den gestiegenen Lebensstandard und sehen ihn als selbstverständlich an. Die Konsumansprüche steigen und zehren einen Teil des gestiegenen subjektiven Wohlbefindens wieder auf (Layard 2005). In einer gesellschaftlichen Analyse folgert die Glücksökonomie, dass eine Reduktion der Einkommensunterschiede (Gleichheit) in einer Gesellschaft zu einem Anstieg des gesellschaftlichen Gesamtglücks führt (Frey / Stutzer 2002), da – wie oben beschrieben wurde – ein Einkommensanstieg (jenseits der Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse) nur kurzfristig glückssteigernd wirkt und langfristig der Zusammenhang zwischen (steigendem) Einkommen und Glück eher schwach ist.

270

C. Krauth, J. Peltner, A. Brümmer und A. Mutwill 90

Anteil „sehr glücklich“ (in Prozent)

80 70

Pro -Kopf-Einkommen

60 50 40 30

Anteil „sehr glücklicher Menschen“

20 10 0 1945

1950 1955

1960

1965 1970 1975

1980

1985 1990 1995

2000

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Layard, R. (2005): Happiness: Lessons from a new science, London.

Abbildung 3: Pro-Kopf-Einkommen und Lebenszufriedenheit in den USA 1946–2000

Als zentrale Einflussfaktoren auf das Glück wurden in der Glücksökonomie identifiziert (Layard 2005): – Familienstand (Verheiratete sind glücklicher als Singles, Verwitwete oder Geschiedene), – Einkommen, solange die materiellen Grundbedürfnisse nicht gedeckt sind, – Arbeit als Einkommensquelle mit wichtiger sozialer Bedeutung (Anerkennung und soziale Relationen), was insbesondere bei Arbeitsplatzverlust erfahren wird, – Freunde und Gesellschaft, – Gesundheit, deren Bedeutung meistens erst bei längerfristiger Krankheit umfassend erkannt wird, – persönliche Freiheiten wie Religionsfreiheit sowie Möglichkeiten zur Beteiligung an sozialen und politischen Aktivitäten. Das Glücksempfinden ist auch vom Lebensalter abhängig. Es folgt einem U-förmigen Verlauf mit einem Tiefpunkt im Alter von ca. 45 Jahren (Blanchflower / Oswald 2008). Während Personen im jungen und mittleren Alter noch hochgesteckte Ziele und Erwartungen (oftmals bezogen auf ihre Karriere) haben und für die oben beschriebenen Tretmühlen anfälliger sind,



Psychologische Ökonomie und Gesundheit271

passen ältere Personen aufgrund ihrer Lebenserfahrung (und abgeschlossenen Karriereplanung) ihre Ziele und Erwartungen einem Anstieg ihres Wohlbefindens führt. Aus ökonomischer geht man dabei von einer Änderung der Präferenzen mit dem aus (was in der Standardökonomie nicht berücksichtigt wird).

einer meist an, was zu Perspektive Lebensalter

III. Psychologische Ansätze der Gesundheitsökonomie Im nachfolgenden Abschnitt werden Anwendungen der psychologischen Ansätze in der Gesundheitsökonomie diskutiert. Verhaltensökonomische Ansätze der Gesundheit beziehen sich u. a. auf die Wahrnehmung von Risiken und Unsicherheit bei Gesundheitsverhalten und Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse (z.  B. Selbst­kontrollprobleme bei Gesundheitsverhalten), Verlustaversion (z. B. in Form von Status Quo Bias) und Framing. Selbstkontrollprobleme: Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse ist beim Gesundheitsverhalten weitverbreitet. Menschen in Industrieländern ernähren sich falsch und bewegen sich zu wenig. Der kurzfristige Nutzen (wie Genuss, Zeit- und Kostenersparnis bei der Ernährung, Zeitbedarf für alternative Aktivitäten bei der Bewegung) wird gegenüber dem langfristigen Gesundheitsgewinn überbewertet. Deutlich zeigen sich Selbstkontrollprobleme bei Suchtstoffen wie Tabak und Alkohol. Obwohl das Wissen um gesundheitsschädigende Wirkungen der Suchtstoffe bekannt ist, ziehen Menschen den kurzfristigen Nutzengewinn (Genuss und Suchtbefriedigung) vor. Damit liegen zeitinkonsistente Präferenzen vor, die mit dem Modell der intertemporalen Nutzenmaximierung im ökonomischen Standardmodell nicht vereinbar sind (Frey / Benz 2007). Framing: Wie Informationen aufbereitet und transportiert werden, beeinflusst das Verhalten von Akteuren erheblich. Solche Erkenntnisse werden in der Produktwerbung seit langem genutzt. Auch in der Gesundheitspolitik – z. B. bei der Durchführung von Präventionskampagnen – wird zunehmend auf die Gestaltung von Informationen gesetzt, um das Entscheidungsverhalten der Akteure zu beeinflussen (und Verhaltensanomalien entgegenzuwirken). Mittels Framing sollen Willensstärke und Selbstkontrolle gestärkt werden, indem den Menschen Informationen vermittelt werden, die den langfristigen Nutzen (bzw. Schaden) ihrer Entscheidungen betonen (und dabei rationale wie emotionale Informationskomponenten nutzen). So werden in Australien z. B. Raucherlungen auf Zigarettenpackungen abgedruckt oder in Großbritannien Nährwertampeln auf Nahrungsmittelverpackungen eingeführt. Status Quo Bias: In Deutschland besitzen lediglich 15 % der Bevölkerung einen Organspendeausweis und haben damit ihre ausdrückliche Zustimmung

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zur Organspende gegeben, obwohl nach Umfragen (zumindest vor dem Organspendeskandal 2012) 71 % der Bevölkerung eine Organspende befürworten (Forsa 2011). In Ländern wie Spanien liegt die Spendenbereitschaft hingegen bei ca. 85 % (Rios et al. 2006). Der deutliche Unterschied lässt sich mit dem Status Quo Bias (Samuelson / Zeckhauser 1988) erklären. In Deutschland muss einer Organspende ausdrücklich zugestimmt werden, während man z. B. in Spanien, Österreich oder Italien potentieller Spender ist, solange man einer Organspende nicht ausdrücklich widerspricht. Menschen tendieren dazu, aktive Entscheidungen aufzuschieben oder vollständig zu vermeiden, und verharren offensichtlich im Status Quo (Gigerenzer 2010). Wie die Organspende geregelt wird (Zustimmungsregelung oder Widerspruchsregelung), hat erhebliche Auswirkungen auf die Spendenbereitschaft. Der Status Quo Bias konnte auch in einer experimentellen Untersuchung zu Krankenversicherungstarifen nachgewiesen werden (Krieger / Felder 2013). In dem Laborexperiment wurde einer Teilnehmergruppe ein spezifischer Tarif der Krankenversicherung als Ausgangswert zugeordnet (StatusQuo-Gruppe). Im Verlauf mehrerer Spielrunden wurde geprüft, ob die Versuchspersonen beim Ausgangstarif verbleiben oder in einen anderen Tarif wechseln, der den Erwartungsnutzen für die Versuchsperson erhöht. Gegenüber der Vergleichsgruppe, die keinen Ausgangstarif zugeordnet bekam, verharrte die Status-Quo-Gruppe deutlich länger im Ausgangstarif (erst mit zunehmender Spieldauer wurde in den optimalen Versicherungstarif gewechselt). In der Glücksökonomie spielt Gesundheit als Einflussgröße auf das subjektive Wohlbefinden eine bedeutende Rolle. Insofern sind bereits zahlreiche glücksökonomische Untersuchungen der Gesundheit durchgeführt worden. Teilweise wird Gesundheit als wichtigste Determinante des Glücks angesehen (vgl. z. B. Graham 2008). Einhellig zeigt die Literatur, dass Gesundheit positiv mit Glück korreliert (Graham 2008; Veenhoven 2008). Einige Studien finden außerdem, dass Glück stärker durch psychische Gesundheit als durch physische Gesundheit beeinflusst wird (Perneger / Hudelson / Bovier 2004; Graham 2008). Chronische Erkrankungen und Behinderungen wirken sich entsprechend negativ auf die Lebenszufriedenheit aus. Es zeigt sich, dass das subjektive Wohlbefinden umso stärker beeinträchtigt ist, je schwerer die Behinderung ist (Freedman et al. 2012). Nicht nur Erkrankungen, sondern auch Risikofaktoren wirken auf das Wohlbefinden. So zeigt eine Studie mit Paneldaten aus Australien, Deutschland und Großbritannien, dass in allen drei Ländern die Lebenszufriedenheit mit zunehmendem Body-Mass-Index (BMI) sinkt (Katsaiti 2012). Cornelisse-Vermaat et al. (2006) zeigen mit niederländischen Daten, dass ein starker indirekter Effekt von BMI via Gesundheit auf das Wohlbefinden wirkt (und



Psychologische Ökonomie und Gesundheit273

den direkten Effekt deutlich übersteigt). Demnach ist der BMI stark negativ mit der subjektiven Gesundheit korreliert und gleichzeitig wirkt Gesundheit stark positiv auf das Glück. Anders als bei gesundheitsbezogener Lebensqualität lassen sich mit dem umfassenderen Konzept des subjektiven Wohlbefindens kausale Beziehungen in beide Richtungen überprüfen. Es lässt sich also nicht nur untersuchen, ob gesunde Menschen glücklicher sind, sondern auch ob glückliche Menschen gesünder sind. Die Auswirkungen von Glück auf Gesundheit wurden in Japan am Beispiel kardiovaskulärer Erkrankungen untersucht. Über einen 12-Jahreszeitraum entwickelten Männer mittleren Alters mit geringer Lebenszufriedenheit ein verdoppeltes Schlaganfall- und gesamtkardiovaskuläres Risiko gegenüber Männern mit hoher Lebenszufriedenheit (Shirai et al. 2009). Positive Auswirkungen von Glück konnten auch auf die Lebensdauer nachgewiesen werden. Mehrere Studien zeigen, dass Menschen, die sich selbst als glücklich einschätzen, länger leben (bzw. ein geringeres Mortalitätsrisiko aufweisen) als weniger lebenszufriedene Menschen (Chida / Steptoe 2008; Diener / Chan 2011). Adaption: Wie in anderen Lebensbereichen, finden Anpassungen auch auf Veränderungen der Gesundheit statt. In einer Studie über einen 10-Jahreszeitraum (zwei Jahre vor und sieben Jahre nach Krankheitsereignis) konnten (anhand von SOEP-Daten) Anpassungen der Lebenszufriedenheit für unterschiedliche chronische Erkrankungen nachgewiesen werden (Pagán-Rodrí­ guez 2010). Bei Auftreten der Erkrankung sinkt das subjektive Wohlbefinden zunächst signifikant, steigt in den ersten drei Jahren nach Ereignis aber wieder an. Ist eine Person mehr als sechs Jahre von der Erkrankung betroffen, findet sogar eine komplette Adaption statt. Erklärt wird der Adaptionsprozess durch eine zweifache Anpassung an die Erkrankung: Zum einen verändern betroffene Personen ihr Umfeld (Haus, Arbeitsplatz etc.), um Einschränkungen durch die Erkrankung zu kompensieren. Zum anderen finden psychologische Verarbeitungsprozesse in der Person statt. Soziale Vergleiche: Am Beispiel Übergewicht lässt sich auch die Bedeutung sozialer Vergleiche der Gesundheit illustrieren. Sofern eher die relative (Gewichts-)Position in einer Gesellschaft als das absolute Gewicht über Status und Anerkennung einer Person bestimmen, werden Menschen tendenziell zunehmen (oder zumindest keine Anstrengungen unternehmen, das Gewicht zu halten), wenn der BMI von Personen in der relevanten Umgebung ansteigt – entscheidend ist nur, die relative Position in der Gesellschaft zu erhalten (Oswald / Powdthavee 2007). Damit (und wegen des Aufwands für die Erhaltung des Normalgewichts) lässt sich die zunehmende Anzahl an übergewichtigen Menschen in den westlichen Industrieländern erklären.

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IV. Diskussion Das neoklassische Standardmodell ist ein äußerst erfolgreicher Erklärungsansatz für das Verhalten auf vollständigen Märkten. In Sektoren wie dem Gesundheitswesen, die zahlreiche Marktunvollkommenheiten aufweisen (auch als ‚Marktversagen‘ bezeichnet), finden sich jedoch deutliche Abweichungen vom prognostizierten Verhalten des homo oeconomicus. Aus der Kritik am neoklassischen Standardmodell sind u. a. psychologische Ansätze der Ökonomie entwickelt worden, die zunehmende Bedeutung bei der Analyse unvollkommener Märkte erlangen. Sie akzeptieren Einschränkungen der Rationalität und die Existenz sozialer Präferenzen und tragen damit zu einem besseren Verständnis der menschlichen Entscheidungen bei. Aus der Analyse des menschlichen Verhaltens lassen sich für die Gesundheitsund Präventionspolitik einige Empfehlungen ableiten (Oehler / Reisch 2008): Informationen zu Gesundheit und Gesundheitsleistungen müssen so formuliert sein, dass Patienten und Konsumenten sie verstehen und – eingedenk begrenzter Informationsverarbeitungskapazitäten – verarbeiten können. Informationsinhalte und -form sollten bei der Zielgruppe getestet werden. Wie oben beschrieben sollten mittels Framing Willensstärke und Selbstkontrolle gestärkt werden, indem den Menschen Informationen vermittelt werden, die den langfristigen Nutzen (bzw. Schaden) ihrer Entscheidungen betonen. Potentielle Status Quo Bias sollten identifiziert und aufgelöst werden, indem Einwilligungen explizit eingeholt werden. Bei dem Beispiel Organspende sollte anstelle von Zustimmungs- oder Widerspruchsregelung auf eine aktive Entscheidung der Menschen hingewirkt werden – mit adäquater Information und hinreichendem Zeitraum für die Entscheidungsfindung. Das Phänomen trollprobleme) ist Versicherung von cherung wird auf

der Minderschätzung zukünftiger Bedürfnisse (Selbstkonin der Gesundheitspolitik wohlbekannt, soweit es um die Gesundheitsrisiken geht. Ähnlich wie in der Rentenversidas Instrument der Pflichtversicherung gesetzt.

Auch bei der Prävention von Gesundheitsrisiken (Bewegung, Ernährung, Vermeidung von Suchtstoffen) macht die Verhaltensökonomie Selbstkontrollprobleme aus. Strategien zur Überwindung von Selbstkontrollproblemen sind z. B. Unterstützung von Selbstbindungsstrategien (Weight Watchers basieren auf dieser Geschäftsidee), Ausbau von Verhältnisprävention und punktuelle Setzung von ökonomischen Anreizen. Wie oben am Beispiel Übergewicht gezeigt, können soziale Vergleiche ungesundes Verhalten fördern, indem Personen einer Referenzgruppe gleichgerichtetes und sich gegenseitig verstärkendes Gesundheitsverhalten zeigen.



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Umgekehrt können soziale Vergleiche das Gesundheitsverhalten aber auch positiv beeinflussen. Ein Beispiel ist der zunehmend weniger attraktive Tabakkonsum, dem die gesellschaftliche Anerkennung zunehmend fehlt (was flankierend durch Information, monetäre Belastung und Rauchverbote in öffentlichen Einrichtungen unterstützt wurde). Die Identifizierung und Beeinflussung von Verhaltensanomalien durch die psychologische Ökonomie birgt auch Gefahrenpotenziale. Es könnten gesellschaftspolitische Strategien gefördert werden, die den Menschen das „wohlfahrtstheoretisch Gebotene“ verordnen (Schwarz 2002). Gegner der Verhaltensökonomie sprechen von Entmündigung der Menschen. Die Verhaltensökonomie favorisiert sicherlich einen Politikstil des „libertarian paternalism“ (Thaler / Sunstein 2003), bei dem die rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen so gestaltet sind, dass Menschen sanft geleitet werden. Gleichzeitig muss im libertarian paternalism (anders als im klassischen Paternalismus) aber sichergestellt sein, dass Menschen zu geringen Kosten aus den voreingestellten Arrangements aussteigen können (Oehler / Reisch 2008). Informationen zu den Auswirkungen von Entscheidungen müssen vollständig formuliert und adäquat präsentiert werden. Ein wichtiger Kritikpunkt an der psychologischen Ökonomie bezieht sich auf die theoretischen Grundlagen. Bisher kann die Glücks- und Verhaltensökonomie keine einheitliche und umfassende Theorie des Entscheidungsverhaltens vorweisen (Beales 2008). Ob die psychologische Ökonomie das ökonomische Standardmodell langfristig ersetzen wird oder lediglich ein begrenzter, wenn auch zunehmend bedeutender Ansatz bleibt, hängt davon ab, ob die theoretische Fundierung langfristig gelingt. Literatur Banks, J. / Blundell, R. / Tanner, S. (1998): Is There a Retirement-Savings Puzzle?, The American Economic Review 88, 769–788. Beales, J. H. (2008): Consumer Protection and Behavioural Economics: To Be or Not to Be?, Competition Policy International 3, 149–167. Bewley, T. F. (1999): Why Wages Don’t Fall During a Recession, Cambridge. Blanchflower, D.  G. / Oswald, A. J. (2008): Hypertension and Happiness across Nations, Journal of Health Economics 27, 218–233. Camerer, C.  F. / Loewenstein, G. (2004): Behavioral Economics: Past, Present and Future, in: Camerer, C. F. / Loewenstein, G. / Rabin, M. (eds.), Advances in Behavioral Economics, Princeton, 3–51. Chida, Y. / Steptoe, A. (2008): Positive Psychological Well-being and Mortality: a Quantitative Review of Prospective Observational Studies, Psychosomatic Medicine 70, 741–756.

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Gesundheitsökonomie und medizinische Ethik Bernd Brüggenjürgen I. Herausforderung und Hintergrund Seit den Kostendämpfungsgesetzgebungen werden ökonomische Aspekte bei nahezu allen Fragen zu Umfang und Struktur der Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung diskutiert. Ökonomische Bewertungen in Deutschland sind erst durch die politische Forderung einer einnahmen-orientierten Ausgabenpolitik stärker in den Vordergrund getreten und werden aus ärztlicher Sicht mit einer Beschneidung der ärztlichen Therapiefreiheit assoziiert (Brandhorst et al. 2013). Insbesondere aus Sicht der Leistungserbringer führte die ökonomische Betrachtungsweise von Verfahren bzw. Strukturen daher zu einer häufig negativ besetzten Wahrnehmung. In staatlichen Gesundheitssystemen wie dem des National Health Service (NHS) in UK hat demgegenüber die ökonomische Betrachtung dazu beigetragen, die immer wieder auftretende Frage, wie sollen die Ressourcen bestmöglich verteilt werden, mit Hilfe von Zielkriterien und ökonomischen Analysen zu versachlichen. Steuerfinanzierte Gesundheitssysteme stützen ihre Ressourcenallokation auf einen zentral koordinierten institutionellen Bewertungsprozess (z. B. National Institute for Clinical Excellence (NICE) in England, das Pharmaceutical Benefits Advisory Committee (PBAC) in Australien oder dem Pharmaceutical Benefits Board (PBB) in Schweden). Mit der Einführung der gesundheitsökonomischen Bewertung wurde ein (weiteres) plausibles Zielkriterium eingeführt und der Entscheidungsprozess verbessert. Insofern ist in diesen Systemen eine positive Grundhaltung gegenüber der Gesundheitsökonomie zu beobachten, da sie als zusätzliches rationales Kriterium wahrgenommen wird (Le Pen 2009). Aus medizinischer Sicht wird mit ökonomischen Bewertungen zudem ein weiterer negativer Aspekt in Verbindung gebracht. Die finale therapeutische Entscheidung muss der behandelnde Arzt individuell für jeden Patienten treffen und reagiert auf Einschränkung der „(Be-)Handlungsfreiheit“ mit Unmut (Marckmann / in der Schmitten 2011). Obwohl oder gerade weil er der Kostenproblematik bewusst und gleichzeitig ausgesetzt ist, wird häufig das Kostenargument nicht benannt, sondern mit medizinischen Begründungen verklausuliert. Somit wird der Patient nicht im Sinne eines Informed

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Consent informiert und die Arzt-Patientenbeziehung belastet (Praetorius / Sahm 2001). Diese Vorgehensweise findet sich auch in der „futility“ (Vergeblichkeits)-Diskussion medizinischer Leistungen wieder: Während anfänglich nutzlose Übertherapie hiermit vermieden werden sollte, finden sich im Rahmen der Entscheidung des potentiellen Abbruchs lebenserhaltender Maßnahmen zunehmen auch Entscheidungen, die von Ort zu Ort und Patient zu Patient je nach Ressourcen unterschiedlich ausfallen können (Praetorius / Sahm 2001). Ethische Betrachtungen finden nicht nur in diesen extremen Fällen zunehmende Beachtung, sondern können im Rahme eines transparenten gesellschaftlichen Diskurses handlungsleitend sein. Insofern besteht die große Herausforderung moderner Gesundheitssysteme darin, die individuell für oder mit den Patienten entscheidenden Leistungserbringer mit den (geringstmöglichen) Regulierungen aus Systemsicht zu versöhnen. Hier stellt sich die Frage, inwieweit ein besseres gemeinsames Verständnis der Disziplinen dazu beitragen kann, das Dilemma des Konflikts zwischen einem generalisierenden Populationsbezug evidenz-basierter Medizin und ökonomischer Bewertung und der individuellen Therapieentscheidung zu lösen. Hier kann ggf. die ethische Betrachtungsweise vor dem Hintergrund der Kenntnis ökonomischer Rahmenbedingungen eine Brückenfunktion einnehmen. Daher soll im Folgenden die Herangehensweise der Disziplinen aufgezeigt werden, unterschiedliche Sichtweise dargelegt und dann an Beispielen potentielle Annäherungen dargestellt werden. II. Wissenschaftsdiziplinen Ökonomie, Medizin, Gesundheitsökonomie und Ethik Medizin und Ökonomie blicken als Disziplinen auf unterschiedliche historische Traditionen zurück. Für die Wirtschaftwissenschaften finden sich Vordenker in der Antike und im Mittelalter, um dann Mitte des 18. Jahrhunderts durch den französischen Arzt und Ökonom Francois Quesnay mit seinem Modell des wirtschaftlichen Kreislaufs und dessen Gesetzmäßigkeiten eine erste wissenschaftstheoretische Grundlage zu erhalten. Die Medizin hat sich mit der Abkehr von rein mythischen oder religiösen Vorstellungen als Erfahrungswissenschaft mit empirisch-rationalen Methoden dem Verständnis von Krankheitsprozessen und der damit verbundenen Therapieoptionen genähert. Mit der Entwicklung vielfältiger und zunehmend kostenintensiverer therapeutischer Optionen war auch die Notwendigkeit einer Entscheidung im individuellen Patientenkontakt verbunden, die durch die Diskussionen in der Medizinethik strukturiert aufbereitet wurden.



Gesundheitsökonomie und medizinische Ethik283 1. Ökonomie

Als Forschungsgegenstand befasst sich die Ökonomie mit dem Verhalten der Menschen und der wirtschaftlichen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten in einer Gesellschaft, die in den Disziplinzweigen der Mikroökonomie und Makroökonomie ihre Entsprechung finden. Nach Herrmann und Kliesch kann der Begriff „wirtschaftlich“ überall dort verwendet werden, „wo sich menschliche Handlungen auf einen bewussten Umgang mit knappen Ressourcen zur materiellen Bedürfnisbefriedigung beziehen“. Beziehen sich diese Handlungen auf Vermehrung und Allokation dieser Ressourcen kann von Handlungen innerhalb des Gesellschaftsbereichs Wirtschaft gesprochen werden (Dietz 2011). Ökonomie als Sozialwissenschaft wendet wie die Naturwissenschaften die Methoden der Falsifikation von Hypothesen an. Eine besondere Bedeutung wird in den letzten Jahrzehnten von der einflussreichen neoklassische Ökonomie auf drei Faktoren gelegt: Grundlage ist hier erstens das Konstrukt des rational entscheidenden Individuums, das seinen Nutzen zu maximieren versucht, zweitens betonen ökonomische Modelle die Bedeutung von Gleichgewicht als Teil der Theorie und drittens fußt die ökonomische Theorie auf der Ausrichtung auf ein Effizienzkriterium (Leininger / Amann 2013). Der so beschriebene Homo Oeconomicus bezeichnet somit einen Akteur, der eigeninteressiert und rational handelt, seinen eigenen Nutzen maximiert, auf Restriktionen reagiert, feststehende Präferenzen hat und über (zumeist vollständige) Information verfügt. Die Ökonomie sieht sich nach Samuelson als Königin der Sozialwissenschaften und wird insbesondere im letzten Jahrhundert stark vom Paradigma der neoklassischen Ökonomie geprägt, die sie von anderen Sozialwissenschaften unterscheidet (Haller 2014). Allerdings sieht sich die neoklassische Ökonomie zunehmender Kritik anderer ökonomischer Strömungen, wie z. B. der institutionalistischen, der politischen und der neueren experimentellen Ökonomie, bzw. Verhaltensökonomie ausgesetzt: In einem komplexen System wie dem des menschlichen Verhaltens mit unendlichen vielen Wechselwirkungen sind Vorhersagen nur sehr schwer möglich, da Handlungsantriebe und Wahrnehmungsmuster des Menschen bisher nicht ausreichend verstanden sind. 2. Medizin

„Medizin ist als empirische Disziplin [eine] Erfahrungswissenschaft.“ (von Engelhardt 2002). Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnis sind die naturwissenschaftlichen Prozesse der Induktion und Deduktion. Krankheit wird wissenstheoretisch als Zustand oder Vorgang gesehen, der (unbehandelt) mit Schmerz oder Leiden verbunden ist und zum vorzeitigen Tode

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führt bzw. wo das Risiko für das Auftreten von Leiden und Tod erhöht ist. Ferner wird eine Einschränkung der Fortpflanzungsunfähigkeit und der Fähigkeit zum Zusammenleben in Lebensgemeinschaften als krankhaft angesehen (Hucklenbroich 2013). Mittlerweile sind viele Krankheitsprozesse mit interdisziplinärer Unterstützung der Naturwissenschaften als Funktionsstörungen erklärbar. Dennoch stellen sich erhebliche Herausforderungen für die medizinische Wissenschaftstheorie: So stellt die Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit eine kontroverse Herausforderung dar: Neben den wissenschaftstheoretischen Herausforderungen der Komplementärmedizin, sind auch die Begriffe „Krankheit“ und „Gesundheit“ nicht eindeutig definiert und soziokulturell sehr variabel (Hucklenbroich 2013). Insbesondere angesichts eines von verschiedenen Autoren beschriebenen Erhöhen des Bedarfs durch Aufweichen der bisherigen Krankheitsdefinitionen im Sinne eines Disease Mongerings (Moynihan / Heath / Henry 2002). Die Medizin wird durch die ärztlich-therapeutische Aufgabe aber auch zur Handlungswissenschaft (von Engelhardt 2002). Hier steht die auf den individuellen Patienten bezogene Aufgabe im Vordergrund: „Medizin ist eine Kunst, ist ein von Erfahrung und Wissen geleitetes Handeln.“ (von Engelhardt 2002). Allerdings, auch wenn intuitive Elemente eine erste Hypothese generieren können, ist die ideale (wenn auch kaum für alle Einzelfälle darstellbare) Grundlage therapeutischen Handelns in der Medizin die Evidence-based Medicine. Grundlegende Handlungsprinzipien sind das Fürsorgeprinzip (principle of beneficence), das damit verbundenes Prinzip der Schadensverhütung (principle of nonmaleficence) und das Autonomieprinzip. Auch wenn man das Fürsorgeprinzip, auch schlicht als das Prinzip des guten Handelns, bzw. der Herbeiführung des Guten und Vermeidung des Nachteiligen verstehen kann, gehen die Meinungen doch weit auseinander, was als gutes Handeln verstanden werden kann. (Engelhardt 1989). Um nicht anderen vorzuschreiben, was man selbst für ein gutes Leben hält, formuliert Engelhardt hierzu in Anlehnung in Kantischer Tradition: „Tu für andere, was für sie gut ist“ (Bullinger / Kirchberger / Brüggenjürgen 1995; Engelhardt 1989). 3. Gesundheitsökonomie

Gesundheitsökonomie ist eine Schnittstellendisziplin mit überwiegenden Anteilen aus den Wirtschaftswissenschaften ergänzt um individual- und bevölkerungsmedizinisches Wissen aus der Medizin (von der Schulenburg 1999) Sie gehört zu den Kerndisziplinen der Gesundheitswissenschaften (Greiner 2011). Vergleichbar anderer ökonomischer Teildisziplinen wie z. B. der Bildungs- oder Versicherungsökonomie hat die Gesundheitsökonomie



Gesundheitsökonomie und medizinische Ethik285

keine eigene gesundheitsökonomische Theorie entwickelt, sondern versucht mit den Kernelementen der neoklassischen Wirtschaftstheorie die wirtschaftlichen Aspekte des Gesundheitswesen zu analysieren. Schwerpunkte sind die mikroökonomische Verhaltenstheorie, die Wettbewerbstheorie, die Versicherungstheorie oder auch die Evaluationstheorie. Der ökonomische Teil ist eher theorie- und methodengeleitet gegenüber einer eher erfahrungswissenschaftlichen Medizin. In der Gesundheitsökonomie werden als verschiedene gesundheitspolitische Ziele Qualität, Effizienz, Nachhaltigkeit, Partizipation und sozialer Friede genannt, die in einem starken Zielkonflikt zueinander stehen (Fleßa / Greiner 2013). Nach Fleßa und Greiner ist es Aufgabe der Gesundheitsökonomik, diese Zielkonflikte aufzuzeigen und dann die Aufgabe der Gesundheitspolitik, einen möglichst guten Kompromiss zu finden. 4. Ethik

Ethik, bzw. Medizinethik, stellt als Wissenschaftsdisziplin auf Basis philosophischer und moralischer Erfahrungen Prinzipien zur Handlungsleitung im Gesundheitswesen auf. Sie ist „eine Disziplin des systematischen Nachdenkens über das Gute“ und dient als Orientierungshilfe in Entscheidungssituationen (Maio 2012). Nach Horner ist sie ein Zweig der Philosophie, der durch formale und systematische Analyse die Richtigkeit bzw. Falschheit, die Tugendhaftigkeit bzw. Schädlichkeit kritisch zu analysieren versucht (Horner 2003). Ethik in der Medizin wird somit als Verbindung von philosophischem Denken mit konkreter Praxis verstanden, welche in systematischer Weise nach dem theoretischen Fundament der Moral fragt und diese reflektierend hinterfragt (Maio 2012). Ähnlich der Gesundheitsökonomie, wo das Ziel des optimalen Nutzens der eingesetzten Ressourcen handlungsleitend ist, versucht sie die Frage zu beantworten: „Was sollen wir tun?“ Im Vergleich zur Medizin ist der Erkenntnisgegenstand der Ethik – Werte, Normen, Regeln, Begründungsmuster – von gesellschaftlichen Entwicklungen abhängig. So können sich ethische Empfehlungen, z. B. zur Tötung ungeborenen Lebens, aufgrund historischer Entwicklungen verändern (Singer 1989). Begründungstheorien unterscheiden sich hinsichtlich der Betrachtungsweise in ex-post oder ex-ante, in die Beurteilung der Folgen der Handlung oder der ihr zugrundeliegenden Motivation. Letztere Schulen (Kantische Ethik) werden auch als deoontologische Zugänge verstanden, wohingegen der Utilitarismus die Folgen der Handlung für die Entscheidung als auschlaggebend versteht. Aus Sicht der Ethik können neben einem utilitaristisches Grundverständnis, der Kantischen Ethik bis hin zur Ethik fußend auf gelebter moralischer Praxis auch verschiedenste andere moralische Aspekte und Ansätze in eine Bewertung einfließen (Marckmann / in der Schmitten 2011).

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a) Kantische Ethik „Der Wille ist … allein durch das Wollen … gut“ (Maio 2012). Entscheidend für die Beurteilung einer Handlung sind nach Kant die zugrundeliegenden Vernunftsmomente. Eine weiterer entscheidender Aspekt der Kantischen Ethik ist das Prinzip der Wechselseitigkeit des Handelns zwischen Menschen, das sich grundlegend schon im Neuen Testament findet: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch“ (Matthäus 7, 12), „und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, also tut ihnen gleich auch ihr“ (Lukas 6, 31). Dies wird von Kant in die allgemeine Formel des kategorischen Imperativs übertragen: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Maio 2012) Entscheidend ist hierbei der Gruppenbezug, da andernfalls auf individueller Ebene ein Masochist verpflichtet wäre, andere zu quälen (Heubel / Manzeschke 2008). Zudem differenziert Kant die Handlungen in moralisch wertvolle und in nur den allgemeinen Gesetzen entsprechende Handlungen. So ist es „allerdings pflichtmäßig, dass der Krämer seinen unerfahrenen Käufer nicht überteuere, und, wo viel Verkehr ist, tut dieses auch der kluge Kaufmann nicht, sondern hält einen allgemeinen Preis für jedermann, sodass ein Kind ebenso gut bei ihm kauft als jeder andere. Man wird also ehrlich bedient“ (Heubel / Manzeschke 2008). Auch wenn dieses Prinzip heutzutage ggf. schon als moralisch wertvoll angesehen würde, entspricht dieses Vorgehen in der Kantischen Ethik nur der aus Eigenliebe und Klugheit getriebenen gesetzeskonformen Handlung mit dem Ziel einer auskömmlichen und nachhaltigen Sicherung der eigenen wirtschaftlichen Existenz. Moralisch wertvoll ist nach Kantischen Verständnis ein handlungsleitendes Prinzip erst dann, wenn es sogenannte Liebespflichten enthält – Handeln, mit dem Ziel das Wohl anderer Personen zu erreichen, soweit die eigenen Mittel reichen (Heubel / Manzeschke 2008). Die moralisch wertvolle Handlung wäre die Handlung aus Pflicht – wenn also nach derjenigen inneren Maxime gehandelt werden würde, die mit Hilfe der Vernunft des Menschen durch Überprüfung als sittliche Gesetze entwickelt wurden. Derartige Maximen müssen allgemein gewollt und gedacht werden können, wie z. B. die Verurteilung des Suizids oder die Ablehnung eines lügenhaften Versprechens beim Geldausleihen (Maio 2012). b) Utilitarismus In der Anfangsphase des Utilitarismus sah Jeremy Bentham noch das Glück der Mehrheit der Menschen im Vordergrund stehen, wohingegen aktuellere Vertreter wie Peter Singer einen sogenannten Präferenzutilitarismus vorschlagen, anstelle des Glücks soll hier die Erfüllung der persönli-



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chen Präferenzen im Vordergrund stehen (Singer 1989). „Der Utilitarismus bewertet also nicht den Handelnden (dies wäre eher das Charakteristikum der Tugendethik), sondern nur die Handlung, und auch diese allein unter dem Gesichtspunkt der aus ihr resultierenden Wirkungen.“ (Maio 2012) Ein entscheidender Kritikpunkt am Utilitarismus ist die alleinige Betrachtung der Folgen (auch als Konsequentialismus bezeichnet). So werden direkte und mittelbare Folgen, die Gewichtung unterschiedlicher Folgen und die Relevanz der Folgen und ihrer Ausrichtung allein z. B. am Gesamtglück hinterfragt und die Nichtbeachtung der Handlung kritisiert. III. Reibungspunkte zwischen den Disziplinen In der oben durchgeführten Würdigung der Disziplinen zeigen sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch potentielle Reibungspunkte zwischen Ökonomie und Medizinethik. Es werden teils tiefschürfende Diskurse ausgetragen, die nicht immer direkt mit den jeweiligen wissenschaftstheoretischen Bezügen verbunden sind. 1. Ökonomisierung

Insbesondere die Veränderungen der ärztlichen Berufsbildwahrnehmung tragen heute häufig zu einer grundsätzlichen Kritik an der Ökonomie im Gesundheitswesen bei. So werfen laut Orfanos „Bereits heute Ökonomisierung und drohende Kommerzialisierung der Medizin ihren Schatten voraus“ (Orfanos 2013). Von Ökonomisierung im Gesundheitswesen kann nach Dietz dann gesprochen werden, wenn nicht mehr der effiziente Umgang mit Ressourcen und das Ziel einer guten Gesundheitsversorgung im Vordergrund steht, sondern der Patient zum Kunden bzw. Mittel der Gewinnmaximierung wird, die eingesetzten ökonomischen Methoden nicht den spezifischen Bedürfnissen des Gesundheitswesens angepasst werden und wenn schließlich medizinische Entscheidungen nach ökonomischen Kriterien getroffen werden unter Inkaufnahme eines medizinischen Qualitätsverlusts (Dietz 2011). Die klassische, nach hippokratischem Ethos ausgeübte Medizin steht laut Orfanos im Zuge neuer Berufsprofile daher kurz vor ihrem Ende. Das tägliche ärztliche Verhalten wird vielmehr dahingehend optimiert, dass der Arzt nur noch das „Notwendige tut, um den juristischen Vorgaben, den Einschränkungen der Versicherungsträger, den Erwartungen des Patienten und seiner Angehörigen etc. gerecht zu werden und Konflikten aus dem Weg zu gehen.“ (Orfanos 2013). Wenn Gesundheit zur Dienstleistung bzw. Ware wird und medizinische Einrichtungen zur Gewinnmaximierung durch Leistungsexpansion verurteilt sind, so ist es nach Dörner nicht verwunderlich,

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dass künstliche Bedürfnisse erfunden werden, nicht notwendige Spezialisierungen erfolgen und Tendenzen entstehen, gute Kunden lebenslang zu halten und schlechte Kunden an die Konkurrenz weiterzuleiten (Dörner 2002). Diese Fehlanreize fördern ein Übermaß an Diagnosen und therapeutischen Einzelleistungen bei gleichzeitiger Reduktion des Personaleinsatzes (Brandhorst et al. 2013). Wichtig ist anzumerken, dass diese Ökonomisierung im gesamten System kritisiert wird: So finden sich bei den Krankenkassen erhebliche Anreize zur Risikoselektion in Richtung Gesunder trotz der nun morbiditätsorientierten Ausrichtung des Risikostrukturausgleiches. Es werden eher kostspielige Werbemaßnahmen zur Gewinnung gesunder Versicherter finanziert, als vielmehr eine nachhaltige Gesundheitsversorgung zu fördern, den Angestellten werden Verfahrensanleitungen für Beratungsgespräche an die Hand gegeben, zusatzbeitragssäumige Mitglieder, bei denen die Kosten voraussichtlich die Einnahmen übersteigen, zu einem Krankenkassenwechsel zu überreden oder es werden durch Erschwernisse bei der Zahlung des Krankengeldes die Ausgaben verzögert oder reduziert (Brandhorst et al. 2013). Versuchen Kritiker diese potentieller Fehlentwicklungen aufzuzeigen, wird gar von „gewissen theologischen und philosophischen Ethikern“ gesprochen, die „auf alles Ökonomische mit Vorbehalten und Verdächtigungen“ antworten (Rüegger / Lipp / Heuss / Hillewerth / Widmer 2012). Allerdings ist der Aussage dieser Autoren, dass eine Polarisierung zwischen Ökonomie und Medizin oder Sozialem nicht zielführend sei, uneingeschränkt zuzustimmen. 2. Homo Oeconomicus

Die idealtypische Annahme des Homo oeconomicus als rational wirtschaftendem Menschen wird insbesondere im Gesundheitswesen als äußerst problematisch angesehen, da umfangreiche Randbedingungen und Gleichgewichtsannahmen für das wissenschaftliche Konstrukt notwendig sind (Ruckriegel 2009). Die notwendige Rationalität wird von verschiedenen Forschern infrage gestellt, da Menschen die Auswirkungen bestimmter objektiver Veränderungen auf das eigene Nutzenniveau falsch einschätzen (Kahneman / Thaler 2006). Gerade im Gesundheitswesen ist die Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Bedingungen beträchtlich, wie sich am Beispiel der von Kübler Ross beschriebenen Phasen der Krankheitsbewältigung eindrucksvoll beobachten lässt (Kübler-Ross 2001). Einige Befürworter des Homo Oeconomicus versuchen sogar nachzuweisen, dass der Homo Oeconomicus per se tugendhaft sei. Nach Franz erfolgt bei derartigen Überlegungen eine Vermischung von deskriptiver und normativer Ebene (Franz 2004). Inwieweit das (deskriptive) Menschenbild der Ökonomie eines rationalen,



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eigeninteressierten Akteurs, der unter vollständiger Information handelt, diese auch normativ prägt, wird in der Ökonomie seiner Einschätzung nach wissenschaftlich noch kaum diskutiert (Franz 2004). 3. Quality Adjusted Life Years (QALYs)

Weitere grundsätzliche methodische Probleme bei der Ressourcenallokation auf Basis gesundheitsökonomischer Analysen zeigt Lübbe auf: So gesteht sie „den“ Gesundheitsökonomen zu, dass auch sie Gerechtigkeitsaspekte in ihre Entscheidungsalternativen mit einfließen lassen können. Allerdings besteht die größte Herausforderung bei dem Versuch eine Wertmaximierung zur erreichen in der Notwendigkeit eine konsistente Werttheorie als Grundlage zu haben. Aber allein schon die breit geteilte Meinung der unterschiedlichem Beurteilung behinderten und nichtbehinderten Lebens – zum Beispiel im Rahmen des gesundheitsbezogenen Outcomemaßes QALYs – zeigt ihrer Einschätzung nach die Unvereinbarkeit dieser theoretischen Forderung mit der Realität (Lübbe 2010). Das Ziel, die Gesundheit mittels des QALY-Ansatzes als gerechten Outcomeparameter zu operationalisieren, ist eine methodische Herausforderung (Nord 2001; Oliver 2004; von der Schulenburg / Vauth / Mittendorf / Greiner 2007). Auf der patientenindividuellen Ebene können sich die Einschätzungen und Werturteile im Krankheitsverlauf erheblich verändern. Sowohl präferenzbasierte Instrumente, wie der EQ-5D als auch psychometrische Instrumente gehen von konstant gehaltenen Randbedingungen aus: So wird einerseits angenommen, dass ein Gesundheitsstatus über die Zeit identisch ist oder die jeweiligen Dimensionen z. B. der generischen Lebensqualitätsinstrumente gleich bedeutsam sind. Generische Instrumente haben ferner den Nachteil, dass sie krankheitsspezifische Änderungen des Gesundheitszustands nicht ausreichend erfassen und so zusätzliche krankheitsspezifische Instrumente eingesetzt werden müssen (Neumann et al. 1999). Ferner treten systematische Fehler bei der Verwendung von Nutzwerten in der Ressourcenallokation auf. Benötigen beispielsweise ein Blinder (seit Geburt) und ein Normalsichtiger bei sonst identischen Parametern ein Lebertransplantat, kann der Blinde aufgrund seiner Erblindung nur vergleichsweise geringere Post-Behandlungs-QALYs erreichen. Daher würde der Normalsichtige systematisch bevorzugt werden. Andererseits sollte niemand wegen derselben gesundheitlichen Beeinträchtigung zweimal benachteiligt werden soll (Oliver 2009). Prätorius mahnt zudem an, dass zur Ethik z. B. der Pharmaökonomie aussagekräftige Studien fehlen (Praetorius / Sahm 2001).

290

B. Brüggenjürgen 4. Annahmen in Theorie und Praxis

Werturteile der Patienten verändern sich zudem hinsichtlich einzelner Aspekte der persönlichen Lebensqualität im Verlauf chronischer Erkrankungen. So wird z. B. in der Palliativsituation der amyotrophen Lateralsklerose berichtet, dass die vermeintlich gleichberechtigte Relevanz der physischen Funktionsfähigkeit mehr und mehr zugunsten der familiären oder sozialen Dimension an Bedeutung verliert (Borasio 2010). Die Einschätzung der problematischen theoretischen Fundierung führt bei einigen Autoren zur grundsätzlichen Infragestellung der Gesundheitsökonomie als hilfreiches Instrument der Entscheidungsunterstützung bei Fragestellungen der Ressourcenallokation (Lübbe 2008). Williams kritisiert wiederum aus ökonomischer Sicht die Herangehensweise der Ethiker, dass sie für ihre Beispiele sorgfältig konstruierte Szenarien hypothetischer Personen in hypothetischen Situationen heranzieht (Williams 2001). Dem kann andererseits entgegnet werden, dass für die Grundannahmen des rational agierenden Patienten wissenschaftstheoretisch nach Ruckriegel diverse Grundannahme zutreffen müssen, die ihrerseits wiederum auch nicht der Realität entsprechen (Ruckriegel 2009). 5. Steuerung durch den Markt

Die Entscheidung, marktwirtschaftliche Steuerungsinstrumente im Gesundheitswesen einzusetzen, wird stark von der Einschätzung beeinflusst, ob es sich bei der Gesundheitsversorgung um öffentliche oder meritorische Güter handelt. Sofern Konsumenten nicht ausgeschlossen werden können (Nicht-Ausschließbarkeit) und sie durch ihre Inanspruchnahme von Leistungen den Konsum Anderer nicht behindern (Nicht-Rivalität) handelt es sich um öffentliche Güter und somit sollte die Steuerung gemäß ökonomischer Wissenschaftstheorie nicht dem Markt überlassen werden – dies sei allerdings nach Dietz bei den Gesundheitsgütern tendenziell nicht der Fall (Dietz 2011). Ausnahmen würden hier nur in wenigen Fällen akzeptiert z. B. im Falle der Seuchenvermeidung oder der Versorgung im Katastrophenfall. Allerdings sind auch nicht-öffentliche Güter nicht immer der Marktsteuerung zu überlassen, da ein ethischer Konsens darüber besteht, dass z. B. bei externen Effekten eine Steuerung notwendig ist. Bleibt die Nachfrage hinter dem gewünschten Ausmaß zurück, so bei den meritorischen Gütern, müsse eingegriffen werden. Ein Großteil der „Gesundheitsgüter“ sind somit als meritorische Güter zu behandeln (Dietz 2011). Andere Autoren verstehen aufgrund der Problematik des Marktversagens die Bevölkerungsgesundheit demgegenüber als öffentliches Gut (Mühlbacher / Bethge / Tockhorn 2013).



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Nur scheinen die gesundheitspolitischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte eine Verschiebung weg von der Kontrolle des Gesundheitswesen zu vermehrter Teilsteuerung durch den Markt selbst veranlasst zu haben (Brandhorst et al. 2013). Krankenhäuser optimieren ihre Leistungen in Richtung des besten Deckungsbeitrages, Patienten mit weniger lukrativer Symptomatik werden nur zurückhaltend aufgenommen, Versorgungsangebote werden gekürzt, da sie nicht im Sinne der Fallpauschalisierung rentabel sind. Diagnostische oder therapeutische Leistungen werden sowohl ambulant also auch stationär nach Leistungsziffern ausgerichtet, und Pflege erfolgt bevorzugt und dann hocheffizient mit möglichst geringem Personalaufwand in den hohen und als rentabel eingeschätzten Pflegestufen. Sobald die Patienten jedoch vermuten, dass der Arzt Anreize akzeptiert um Krankheiten nicht zu behandeln, dann ist nach Garbutt und Davies die Sache für die Gesundheitsversorgung verloren (Garbut / Davies 2011). Hier ist Fleßa und Greiner voll beizupflichten, „dass es nicht darum geht, die Effizienz zu erhöhen, so als sei sie eine Tugend oder ein Wert per se. Ziel ist es, Leiden zu lindern, Menschen zu heilen, Ärmere besser zu stellen, Freiheitsrechte durchzusetzen“ (Fleßa / Greiner 2013). Ergänzend hierzu trifft die Warnung John Seddons zu, dass wenn Organisationen auf Stückkosten fokussieren die Kosten steigen. (Garbutt / Davies 2011). Eine Überoptimierung einzelner unverbundener Teilprozesse mit den damit schwer verständlich zu machenden Fehlanreizen und der dann wieder einzuführenden weiteren Kontrolle eben dieser Fehlentwicklung wird die Neigung der am Patienten Tätigen weiter reduzieren, sich auf den grundlegenden hippokratischen Prinzipien allein für den Patienten zu entscheiden. Eine Orientierung an Effizienzkriterien, die sich nicht nachvollziehbar nach Sektoren und Settings im Gesundheitswesen unterscheiden, ist nicht nachhaltig. Hier ist ein neues gemeinsames Verständnis der Disziplinen erforderlich, das den Beitrag der Ökonomie als eines, sich noch im gesellschaftlichen Diskurs befindendes Entscheidungskriterium versteht. Daher ist für eine weitere sinnvolle Anwendung gesundheitsökonomischer Ansätze auch aus Beachtung der soziologischen Komponente der Ökonomie eine grundlegende Diskussion der Ziele des deutschen Gesundheitswesens unabdingbar. IV. Potentielle Annäherungen Somit ist Williams möglicherweise als Brückenschlag zwischen den Disziplinen zu verstehen, wenn er sagt, dass es nicht trivial ist, Personen zu helfen, klar in ihrem Verständnis der ethischen Implikationen ihrer Handlungen zu sein. Insbesondere aus Sicht des englischen NHS sollten die Bürger in der

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Lage sein zu verstehen, welche Faktoren in der Entscheidung wie gewichtet werden. Kernproblem ist aus UK-Sicht die Frage, ob die Nutzengröße qualitätskorrigiertes Lebensjahr für jeden und in jeder Situation die gleiche Wertigkeit hat – ganz abgesehen von der Frage, ob dies der richtige Gesundheitsnutzenwert z. B. für ein Gesundheitswesen darstellt. Hier kann seiner Ansicht nach die Gesundheitsökonomie die Dinge nach vorne bringen. Immer dann wenn mehr als ein Kriterium bewertet wird, kann die ökonomische Herangehensweise beim „Trade-Off“ helfen (Williams 2001). Für diese Beurteilung können auch die Herangehensweise der Entscheidungstheorie eingesetzt werden. Gerade die Discrete-Choice Experimente helfen die latenten Präferenzstrukturen von Patienten, Versicherten und Bürgern zu erkennen und ggf. Hilfestellungen und „Informationen über die Gestaltung, die Evaluation und die Prognose der Nachfrage oder Akzeptanz von Gesundheitsprodukten oder -dienstleistungen zu gewinnen“ (Mühlbacher et al. 2013). Die ökonomische Betrachtung ist auf Gruppen von Personen ausgerichtet. Ärzte und Pflegende sehen sich im Rahmen Ihrer Tätigkeit aber einem einzelnen Patienten gegenüber, dessen Bedürfnisse sich an dem aus medizinischer Sicht möglichen und aus ethischer Sicht erlaubten Alternativen ausrichten müssen. Entscheidungen orientieren sich am traditionellen ärztlichen Selbstverständnis und gesellschaftlichen Wertpräferenzen, die aus Sicht verschiedener philosophischer oder religiöser Weltanschauungen konsensfähig sind. Weinstein versucht die Konflikte und Implikationen unterschiedlicher Anreizprinzipien auf Ebene des behandelnden Arztes zu betrachten. Selbst wenn auf Gruppenebene alle Verteilungsungerechtigkeiten gelöst sind, verbleibt ein Dilemma beim behandelnden Arzt, wenn bei individuelle Entscheidungen die für den vor ihm sitzenden Patienten von den noch zu folgenden Patienten beeinflusst werden und wenn er bei beschränkten Ressourcen auch die beste Nutzung der Ressourcen aus Sicht der Gesellschaft optimieren soll. Seiner Ansicht nach kann dieses Dilemma nur durch angemessene Anreize gelindert werden, wie Budgets, optimal gestaltete Leitlinien und den entscheidenden Versuch, die öffentliche Gesundheitserziehung zu bestärken (Weinstein 2001). Garbutt und Davie stellen daher die für die individuelle medizinische Praxis entscheidende Frage, ob die ärztliche Entscheidung deoontologisch oder utilitaristisch geprägt sein sollte. Für ihn steht Medizin für die Interaktionen zwischen Arzt-Patient und Erkrankung – die individuelle Entscheidungssituation steht im Vordergrund. Allerdings sind die Therapeuten eingebunden in einen größeren Versorgungskontext, der zunehmend von Kostendämpfungsmaßnahmen gekennzeichnet ist und in England von utilitaristischen Entscheidungsprinzipien geleitet wird. Auch Marckmann sieht die



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Notwendigkeit und ein ethisches Gebot, das ärztliche Ethos um die Verpflichtung zu ergänzen, mit den knappen Ressourcen im Gesundheitswesen verantwortungsvoll umzugehen (Marckmann / in der Schmitten 2011). Im Grunde ist dies Ausdruck der alten Spannung zwischen der Notwendigkeit, die Balance zwischen den begrenzten Gesamtsystemressourcen und den individuellen Patienten-Bedürfnissen zu finden (Garbutt / Davies 2011). Während die deontologischen Prinzipien die Konsequenzen nicht beachten, steht bei den utilitaristischen Ansätzen der Folgenutzen im Vordergrund. Auch wenn die Grundprinzipien wie Nicht-Schaden, Fürsorge, Autonomie und Gerechtigkeit weite Akzeptanz finden, stehen sie gegenseitig in Konflikt, der nur auf das Fokussieren eines einzelnen zu lösen ist. Garbutt und Davie sehen sich daher im Behandlungszimmer auf Basis rein deontologischer Prinzipien agieren, wohingegen sie es als unvermeidbar ansehen, bei Verlassen der Praxis sich utilitaristischen Prinzipien öffnen zu müssen. (Garbutt / Davies 2011). Die einzige rationale Antwort sei Priorisierung. Dennoch, die Kluft zwischen dem was gemacht werden sollte und dem was gemacht werden kann, ist der entscheidende Stressfaktor für Therapeuten und mitunter Anlass für Frustration und weniger optimalem individuellen Ergebnis (Garbutt / Davies 2011). Eine klare Lösung der initialen Frage kann es nicht geben, entscheidend ist vielmehr ein gegenseitiges Verständnis beider Seiten. V. Notwendigkeit klarer Zielsetzung Nach Culyer besteht für Ökonomen großes Interesse an Fragen nach Zielen von Gesundheitssystemen, der Verteilungsgerechtigkeit und Effizienz. Würde man einen reinen wohlfahrttheoretischen Ansatz verfolgen, entstünde bei utilitaristischer Pareto-optimierter Betrachtung das Problem, dass keine intrapersonalen Vergleiche gezogen werden könnten. Allerdings steht für viele Ökonomen in nationalen Gesundheitssystemen die Maximierung des Gesundheitnutzens im Vordergrund. Hiermit treten dann die entscheidende Frage auf, welches Ziel erreicht werden sollte und was Gesundheit oder Gesundheitsgewinn ist (Culyer 2001). Gemäß WHO sollten Entscheidungen zur Ressourcenallokation auf der Basis der folgenden drei Grundkonzepte erfolgen (WHO 1947): – Wert (benefit): Wie verhalten sich die Gesundheitsausgaben zu den damit erreichten Ergebnissen. – Erschwinglichkeit (affordability): Wie verhalten sich die Ausgaben zu den individuellen und gesellschaftlichen Ressourcen. – Gleichheit (equity): Wie beeinflusst die Finanzierung und Verteilung der Leistungen im Gesundheitswesen unterschiedliche Gruppen?

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Verschiedene Gesundheitssysteme, wie UK oder Schweden, haben sich hier auf erste Ziele einigen können. Im Rahmen des britischen NHS ist der Nutzengewinn vorzugsweise am QALY zu demonstrieren. Das US-amerikanische Institute for Healthcare Improvement (IHI) fordert, dass für eine nachhaltige Gesundheitspolitik drei miteinander verbundene Zieldimensionen („Triple Aim“) erfüllt sein müssen: die Verbesserung der Sachkenntnis der Versorgung, die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung, und die Reduktion der Pro-Kopf-Ausgaben der dafür erforderlichen Versorgung (Berwick / Nolan / Whittington 2008). Mit der Formulierung von Zielen im Gesundheitswesen kann der Begriff der Effizienz sinnvoll eingeführt werden. Sowohl die Zahlungsbereitschaft also auch die Zahlungsfähigkeit beeinflussen allerdings das Ausmaß der erreichten Effizienz (Schlander 2009). In ausgewählten Situationen kann demnach das ökonomische Kriterium der bestmöglichen Evidenz unter Bevorzugung wohlhabender Teilnehmer im Gesundheitsmarkt erreicht werden. Dies sei aber aus Gerechtigkeitserwägungen insbesondere unter Intransparenz nicht erstrebenswert, zumal das Zielkriterium selbst der entscheidende Stellfaktor im Effizienzansatz ist. Die vordergründig von Schlander durchaus als plausibel eingeschätzte Logik der Kosteneffektivität lässt die Beantwortung auf entscheidende Fragen für die Rolle der Prioritätensetzung nach Einschätzung verschiedener Autoren vermissen: Welchen Einfluss hat die Schwere einer Gesundheitsstörung, wie werden kleinere Effekte für sehr viele Personen gegenüber sehr großen Effekten für einige wenige Patienten bewertet, wie wird die Zugangschance zu einer wirksamen Therapie beurteilt und wie wird die Finanzierbarkeit bewertet (Schlander 2009). VI. Herangehensweisen in der Priorisierung Unter Bezugnahme auf die ethischen Herausforderungen könnte für das deutsche Gesundheitswesen eine kontextbezogenen Bewertungsregel auf der individuellen Allokations-Ebene sinnvoll sein (Oliver 2004). Hucklenbroich schlägt für die Bewertung der individuellen Therapiesituation folgenden Algorithmus vor: Zunächst sollte deskriptiv der Krankheitsbegriffs aufgezeigt, dann sollte die Behandlungsindikation überprüft werden, um dann die Behandlungszustimmung (informed consent) des Patienten gemäß dem Prinzip der Patientenautonomie zu erhalten. Als finalem Schritt erfolgt der Abgleich der Finanzierungszustimmung mit den Kostenträgern (Hucklenbroich 2013). Eine sinnvolle deutsche Annäherung könnte nach Brüggenjürgen ein zweistufiges Vorgehen sein, bei dem vorab überschlägig und großzügig über die potentielle technische Effizienz entschieden wird und dann diejenigen



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Verfahren, die bei dieser ersten Bewertung erfolgreich sind, in der individuellen Behandlungssituation priorisiert werden (Brüggenjürgen 2010). Auf der ersten Stufe werden die Verfahren hinsichtlich der Quantität und der Qualität der erreichten Verbesserung beurteilt. Über unterschiedliche Schwellenwerte bzgl. neu zu definierender Zielkriterien wäre auch eine Differenzierung und Gewichtung der ethischen und bevölkerungsseitig als relevant eingestuften Indikationen möglich. So kann auf der Basis indikationsbezogener Schwellenwerte eine erste priorisierende und transparente Gewichtung vorgenommen werden. Verfahren in der Onkologie werden z. B. dann als effizient betrachtet, wenn ein Schwellenwert von € 100.000 pro zusätzliches gesundheits-adjustiertes Lebensjahr erreicht wird, wohingegen ein Verfahren zur Behandlung des Tennisellbogens unter einem Schwellenwert von € 30.000 liegen könnte. Auf der zweiten Stufe würden dann für jede Indikation patientenrelevante Ergebnisparameter festgelegt und die dazugehörigen Kosten abgebildet. Die Standardisierung und damit Zurverfügungstellung dieser Outcomeskomponenten in Kombination mit Informationen zu den Kosten wäre dann in der individualtherapeutischen Situation ein unterstützendes gesundheitsökonomisches Priorisierungskriterium in Ergänzung zu ethischen Erwägungen. Marckmann sieht in seinem favorisierten Vorgehen, zunächst die Notwendigkeit, ineffektive Maßnahmen zu unterlassen, dann die Patientenpräferenzen zu beachten, den diagnostischen und therapeutischen Aufwand zu reduzieren und auf teure Maßnahmen mit geringem Nutzengewinn zu verzichten. Allerdings soll hier kein Grenzwert festgelegt werden können, da andernfalls das Kriterium der Kosten-Nutzenmaximierung alle anderen Überlegungen dominieren würde (Marckmann / in der Schmitten 2011). Das würde allerdings den Arzt wieder in die missliche Situation versetzen, seinerseits hierzu gerechtigkeitsethische Erwägungen anstellen zu müssen. VII. Ausblick Fünf relevante Themen sind daher auch aus gesundheitsökonomischer Sicht im Rahmen der Priorisierungs-Diskussion relevant: die Diskussion der Werte und Prinzipien, die Unterscheidung zwischen technischen und institutionellen Lösungen, die Problematik, Leistungen von der Erstattung auszuschließen, die Verbreitung der Evidence-based Medizin und die Einbeziehung der klinisch tätigen Gesundheitsberufe, der Patienten und der Öffentlichkeit (Logan et al. 2004). Mit der Weiterentwicklung des Homo Oeconomics könnte ein besseres Selbstverständnis der menschlichen Natur mit ihren Facetten der Kooperation, Fairness, sozialen Bindung, Hilfsbereitschaft, Dankbarkeit und Gerechtigkeit erreicht werden (Ruckriegel 2009).

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Dies kann eine weitere Grundlage einer Annäherung von Gesundheitsökonomie und Ethik sein. Die exakten Krankheitsbegriffe spielen insbesondere bei der Entwicklung entscheidungsleitender Werte und Normen eine entscheidende Rolle und nur durch ihre transparente Diskussion und der Festlegung eines gesellschaftlichen Konsens, über das was von einem Gesundheitssystem erreicht werden soll, können klare Effizienzverbesserungen in der Gesundheitsversorgung überhaupt erreicht werden. In Deutschland fehlt weiterhin ein Entwicklungsprozess und Konsens über solche Kriterien, die es erlauben, nachvollziehbare Entscheidungen zur Rangreihenbildung medizinischer Behandlungsoptionen zu erstellen und damit zwischen verschiedenen Bedürftigkeiten zu gewichten (Fuchs / Nagel / Raspe 2009). Es muss daher ein breit angelegter Diskurs über die Ziele des deutschen Gesundheitssystems initiiert werden. Abschließend sollte wie von Orfanos gefordert nicht vergessen werden, im Rahmen der Aus- und Weiterbildung die moralische Ausrüstung der jungen angehenden Ärzte als wichtiges Ziel ihrer Zunft zu erhalten (Orfanos 2013). Im vergleichbaren Umfang sollte eine Verständnis der ökonomischen Theorie und Methodik vermittelt werden, damit die in den neuen kostenorientierten Rahmenbedingungen der Versorgung agierende Heilberufe weiter als Agenten der Patienten angemessen (re)agieren können. Literatur Berwick, D. M. / Nolan, T. W. / Whittington, J. (2008): The Triple Aim: Care, Health, And Cost. Health Affairs, 27, (3), 759–769. Borasio, G. (2010): Das Leben vom Tod verstehen. Psychologie Heute, 37(4), 38– 41. Brandhorst, A. / Hildebrandt, H. / Hauffe, U. et al. (2013): „Wie geht es uns morgen?“ – Wege zu mehr Effizienz, Qualität und Humanität in einem solidarischen Gesundheitswesen, Heinrich Böll Stiftung. Brüggenjürgen, B. (2010): Aspekte gesundheitsökonomischer Evaluationen als Beitrag zur Priorisierungsdebatte. Bundesgesundheitsbl., 53(9), 890–895. Bullinger, M. / Kirchberger, I. / Brüggenjürgen, B. (1995). Allgemeine gesundheitsbezogene Lebensqualitätsmessung (SF-36 Health Survey), in: Schwarz (ed.), Lebensqualität in der Onkologie. Aktuelle Onkologie, Bd. 32, München, W. Zuckschwerdt Verlag. Culyer, A. J. (2001): Economics and ethics in health care. J.Med.Ethics, 27(4), 217–222. Dietz, A. (2011): Ökonomisierung von Krankenhaustätigkeit – Chancen, Grenzen und Risiken einer marktorientierten Medizin. Ethik Med, 23(4), 263–270.



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Die Trade Offs bei Reformen von Gesundheitssystemen Kornelia van der Beek und Gregor van der Beek I. Dilemmata und Trade Offs Schon die Alltagserfahrung lehrt uns, dass Entscheidungen, welche wir treffen, oder Handlungen, welche aus diesen Entscheidungen folgen, durchaus mit Blick auf das gerade verfolgte konkrete Ziel der Handlung zu Verbesserungen führen, diese Handlungen aber in Bezug auf andere Ziele, welche uns ebenfalls am Herzen liegen, kontraproduktiv sein können: Es treten Dilemmata auf, oder wenn mehr als zwei Ziele betroffen sind, sogar Tri-, oder gar Multilemma; in der Ökonomik werden solche Phänomene oft auch Trade Offs genannt. Solche Trade Offs werden bisweilen unterschätzt, wenn es um die Reform von Gesundheitssystemen geht. Hier wird die These vertreten, dass es bei Reformen von Gesundheitssystemen zwar oft zu Verbesserungen unter dem angestrebten Aspekt kommt, es gleichzeitig aber systematisch zu Verschlechterungen bei der Verwirklichung anderer Ziele des Gesundheitssystems kommt. Dabei sind Gesundheitsreformen ein ständiges Thema, sowohl in der praktischen Politik als auch in wissenschaftlichen Zirkeln, und zwar sowohl in den allermeisten traditionellen westlichen Demokratien als auch in den Ländern der politischen und ökonomischen Transformation (siehe z. B. Cassel / Sundmacher 2006; Böcken / Butzlaff / Esche 2003; Beek van der 2002; Beek van der / Cassel 1997). Die Einführung des Gesundheitsfonds in Deutschland, die aktuellen Obama Reformen, die Definition eines Basiskatalogs in den Niederlanden sowie die zunehmende Liberalisierung des Gesundheitsmarktes in China sind nur wenige Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit; die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. II. Das Scheitern von Reformen in der öffentlichen Wahrnehmung Zweierlei ist augenfällig, wenn wir auf solche real stattfindenden Reformen schauen: Dass es erstens bei diesen Reformen meist um Versuche geht, das Gesundheitssystem in einem bestimmten Segment oder auf einem bestimmten Gesundheitsmarkt zu „optimieren“ oder zumindest zu „verbessern“ und zweitens, dass diese Versuche oft scheitern – zumindest in der öffent-

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lichen Wahrnehmung oder auch in der subjektiven Wahrnehmung von Betroffenen und anderen Akteuren des Gesundheitssystems. Letzteres äußert sich dann darin, dass nicht alle Beteiligten und Betroffenen mit der Reform zufrieden sind, und folglich die Debatte um die Reform der Reform aufkommt. Hier wird zu zeigen sein, dass dieses (tatsächliche oder vermeintliche) Scheitern nicht (oder zumindest nicht nur) der Unwegsamkeit des politischen Prozesses geschuldet ist, sondern gewissen Trade Offs, welchen Reformer von Gesundheitssystemen kaum entgehen können. Sehr vereinfachend angedeutet führen Reformen u. U. in der Tat zu einer Verbesserung bei dem, was denn verbessert werden sollte, aber auch mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu Verschlechterungen an anderen Stellen des Systems. Dafür müssen zunächst drei einfache gesundheitsökonomische Standardmodelle in den Grundzügen rekapituliert werden, welche Probleme beschreiben, die an ganz unterschiedlichen Stellen des Gesundheitssystems auftreten. III. Struktur und Typologie von Gesundheitssystemen Um zunächst diese unterschiedlichen Stellen im System zu identifizieren sei hier – natürlich sehr vereinfacht – dargestellt, dass das Gesundheitssystem aus mindestens drei zentralen Prinzipal-Agent Beziehungen oder aus – wie sie hier im Folgenden genannt werden – drei Sub-Märkten besteht, die sich in einer einfachen Grafik darstellen lassen (siehe van der Beek / van der Beek 2011). – Der Sub-Markt für Diagnose, Behandlung und Medikation (Gesundheitsmarkt im engeren Sinne) zwischen Leistungserbringern und Patienten. – Der Sub-Markt für Krankenversicherungsschutz (Krankenversicherungsmarkt) zwischen Krankenversicherern und Versicherungsnehmern. – Der Sub-Markt (vielleicht besser Beziehung genannt) zwischen Krankenversicherungen und Leistungserbringern. Auf dem ersten Sub-Markt bieten Ärzte, Krankenhäuser, Apotheker und andere Institutionen der Gesundheitsversorgung – welche im Folgenden zusammengefasst als Leistungserbringer bezeichnet werden – Gesundheitsleistungen in Form von ambulanter und stationärer Behandlung, oder auch in Form von Medikamenten an. Auf der Nachfrageseite stehen die Patienten, bzw. die Bürger eines Landes, welche diese Güter und Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Auf dem zweiten Sub-Markt sind die Krankenversicherungen – seien es private oder gesetzliche – die Anbieterseite, diese bieten Krankenversicherungsleistungen an, welche gegen die ökonomischen Risiken von Krankheit



Die Trade Offs bei Reformen von Gesundheitssystemen301

Quelle: Eigene Darstellung.

Abbildung 1: Das Gesundheitssystem und seine drei Sub-Märkte

absichern, also zunächst gegen die Kosten der medizinischen Behandlung und Versorgung aber auch gegen die mit Krankheit einhergehenden Ausfälle bei der Einkommenserzielung. Die Nachfrager auf diesem Markt sind die Bürger eines Landes bzw. die Patienten: Waren diese die Nachfrager nach Gesundheitsleistungen in dem Marktverhältnis zwischen Patienten und Arzt, so sind diese nun die Nachfrager nach den genannten Krankenversicherungsleistungen. Auf dem dritten Sub-Markt treffen Krankenversicherungen – seien es private oder gesetzliche – und Leistungserbringer zusammen, wobei es sich hier nicht um einen echten Markt handelt, mit klar definierten Anbietern und Nachfragern, sondern um eine andere Form von Prinzipal-Agent Verhältnis. Die Krankenversicherungen vergüten – direkt oder indirekt – die Leistungserbringer für die den Patienten erbrachten Leistungen; dies auf der Grundlage der zwischen ihnen vereinbarten Vergütungsmodalitäten, also z. B. Rechnungen, bzw. Abrechnungen die den Patienten ausgestellt bzw. zugerechnet wurden. Bei zweien dieser drei Akteure auf diesen drei Submärkten, namentlich bei den Leistungserbringern und den Krankenversicherern, sind dabei wie-

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derum drei unterschiedliche Organisationsformen vorzufinden, mit entsprechenden Implikationen für die Märkte auf die diese agieren, also für den Markt für Gesundheitsleistungen – also primär die Arzt-Patient-Beziehung – einerseits, und dem Krankenversicherungsmarkt – also primär die Krankenversicherung–Patient-Beziehung – andererseits. Auf beiden Märkten sind dann drei Organisationsformen denkbar: – Erstens kann das Angebot auf diesen Märkten durch reine private Akteure geprägt sein: Für den Markt für Gesundheitsgüter bedeutet dies, dass Krankenhäuser, Ärzte und sonstige Akteure wie Apotheken etc. als private Unternehmungen sozusagen als For-Profit-Organisationen vorzufinden sind; für den Krankenversicherungsmarkt bedeutet dies, dass die Krankenversicherer gewinnorientierte Privatunternehmen sind. – Zweitens kann das Angebot auf diesen Märkten durch parafiskalische oder parastaatliche Akteure, d. h., durch nicht gewinnorientierte, Not-ForProfit-Organisationen und nicht staatliche Kollektive dominiert sein (siehe Tiepelmann / van der Beek 1992 und 1997). Für den Markt für Gesundheitsgüter bedeutet dies, dass Krankenhäuser, Ärzte etc. als gemeinnützige oder karitative Unternehmungen oder Organisationen vorzufinden sind; welche aber nicht oder nur bedingt unter staatlicher Trägerschaft stehen. Für den Krankenversicherungsmarkt bedeutet dies, dass die Krankenversicherer nicht gewinnorientierte Organisationen sind, etwa gesetzliche Krankenkassen in nicht staatlicher Trägerschaft. – Drittens kann das Angebot auf diesen Märkten durch rein staatliche Akteure – in Form staatlicher Institutionen und Verwaltungen – geprägt sein. In diesem Fall sind auf dem Markt für Gesundheitsgüter Krankenhäuser, Ärzte, Apotheken etc. Teil des Staates, z. B. als Staatsbedienstete oder als Institutionen in staatlicher Trägerschaft. Für den Krankenversicherungsmarkt bedeutet dies, dass die Krankenversicherung staatlich bereitgestellt wird oder die Absicherungsfunktion direkt in den Staatshaushalt integriert ist. Als Kombination aus diesen je drei Möglichkeiten auf dem Krankenversicherungsmarkt bzw. dem Markt für Gesundheitsleistungen ergeben sich dann die folgend genannten neun Typen von Gesundheitssystemen, welche in Abbildung 2 dargestellt sind (van der Beek / van der Beek 2011). Die extremen Formen bedingen, dass sowohl der Gesundheitsleistungsmarkt als auch der Krankenversicherungsmarkt rein privat organisiert sind oder eben rein staatlich. Eine Sonderform ist in der mittleren Box dargestellt, da hier nichtstaatliche und nicht gewinnorientierte Organisationsformen in beiden Märkten miteinander kombiniert werden, wir es also mit einem parastaatlichen System zu tun haben.



Die Trade Offs bei Reformen von Gesundheitssystemen303 Krankenversicherungsmarkt

Markt für Gesundheitsgüter

privat

parafiskalisch

staatlich

privat

reines Marktsystem

marktnahes Mischsystem

extremes Mischsystem

parafiskalisch

marktnahes Mischsystem

intermediäres System

staatsnahes Mischsystem

staatlich

extremes Mischsystem

staatsnahes Mischsystem

reines Staatssystem

Quelle: Eigene Darstellung.

Abbildung 2: Typologie der Gesundheitssysteme

Diese Typologie ist nur als grobe Orientierungshilfe für die Einordnung von Gesundheitssystemen zu verstehen (siehe für ihre Einordnung in allgemeine Sozialsysteme z. B. Lampert / Althammer 2007). Natürlich kann es in jedem Gesundheitssystem auf den verschiedenen Sub-Märkten auch unterschiedliche Organisationsformen geben, so dass sich dann getrennte SubSub-Märkte ergeben, die in einem Gesundheitssystem koexistieren, bei denen es dann aber auch wiederrum zu der angenommenen Interdependenz kommt. Das typische Beispiel in Deutschland ist die Koexistenz eines privaten und parafiskalisch geprägten Krankenversicherungsmarktes und eines ambulanten Sektors, der überwiegend private niedergelassene Ärzte aufweist und eines stationären Sektors, der mittlerweile viele private Anbieter, aber auch einen großen Anteil an staatlichen und parafiskalischen Organisationsformen bietet – nach der obigen Typologie ist die Deutsche Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ein Parafiskus, wobei die Gesundheitsgütermärkte zwar unterschiedliche private und staatliche Organisationsformen aufweisen, die Vergütung der Leistungserbringer allerdings über parafiskalische Organisationen verhandelt und erbracht wird, so dass man die GKV trotz vieler privatwirtschaftlicher Elemente hier als intermediäres System bezeichnen kann. Ein weiteres typisches Beispiel ist das US amerikanische Gesundheitssystem, welches entsprechend der obigen Typologie als reines Marktsystem eingeordnet wird, da sowohl die Krankenversicherungen überwiegend privatwirtschaftlich organisiert sind, als auch der größte Teil der Gesundheitsanbieter. Diese Einordnung erfolgt trotz der Tatsache, dass es auch schon vor Obama Care zwei überwiegend staatliche Programme im amerikanischen Gesundheitssystem gab: Medicare, welches eine staatliche Versicherung für ältere und behinderte Menschen ist und Medicaid, welches ein staatliches Gesundheitsprogramm – in unserer Terminologie eine Krankenversicherung – v. a. für Personen mit geringem Einkommen ist. Beide Beispiele zeigen, dass die obige Typologie nur eine Orientierung sein kann,

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dass aber das reale Gesamtsystem in der Regel vielfältiger und viel komplexer ist. IV. Ansatzpunkte für Reformen Gesundheitsreformen setzen nun in der Regel nicht an der Gesamtheit des Systems an, in dem von einem Typus in eine in allen Dimensionen anderen Typus im Sinne der obigen Abbildung gewechselt werden soll, sondern an einem der weiter oben genannten Teilmärkte. Aus der mikroökonomischen Analyse dieser drei Teilmärkte des Gesundheitssystems ist hinlänglich bekannt, dass auf all diesen Informationsasymmetrien bestehen, die systematisch zu Funktionsproblemen unterschiedlicher Art führen (siehe hierzu die entsprechenden Beschriftungen in der Grafik), namentlich zu den nun zu erläuternden Phänomenen: Adverse Selektion, anbieterinduzierte Nachfrage und Moral Hazard. Dass diese Funktionsprobleme bestehen führt ja erst zu der Notwendigkeit des gesundheitspolitischen Eingriffs und mithin zur Notwendigkeit der Gesundheitsreformen. Gesundheitsreformen können insofern also (mikroökonomisch) als der Versuch bezeichnet werden, diesen Funktionsproblemen – wiederum auf ganz unterschiedliche Weise – Herr zu werden. 1. Gesundheitsreformen als Versuch der Reduzierung der nicht Krankenversicherten und entstehende Dilemmata

Eines der bedeutendsten Funktionsprobleme auf Krankenversicherungsmärkten ist die Form der Informationsasymmetrie, bei der ex ante – d. h. vor dem Vertragsabschluss – die Patienten besser über ihren Gesundheitszustand informiert sind als die andere Marktseite, also als die Krankenversicherer. Handelt das Individuum, welches besser informiert ist, als Homo oeconomicus, so wird es diesen Informationsvorsprung zu seinen Gunsten einsetzen. Informationsasymmetrien dieser Art können dann zu so genannter Adverser Selektion – auch Negativauslese genannt – führen, was einen Zusammenbruch des Marktes bedeuten kann. Wie dieser Mechanismus im Modell funktioniert, wird nun näher erklärt (das Model geht auf Akerlof 1970 zurück; folgend nach van der Beek / van der Beek 2011; siehe auch Lehrbuchdarstellungen in Santerre / Neun 2013; Breyer / Zweifel / Kifman 2013; Folland / Goodman / Stano 2012; Schulenburg von der / Greiner 2013). Es sei im Modell angenommen, dass Wettbewerb auf dem Krankenversicherungsmarkt existiert und dass die Versicherungsunternehmen private Anbieter sind. Sie haben keinen gemeinnützigen Auftrag und sie unterliegen auch keinem Kontrahierungszwang; es sei also von einem freien und unre-



Die Trade Offs bei Reformen von Gesundheitssystemen305

gulierten Krankenversicherungsmarkt ausgegangen. In der privaten Krankenversicherung gilt – anders als z. B. in den gesetzlichen Krankenversicherungen in Deutschland, Österreich oder der Schweiz – bei der Versicherung eines Individuums das versicherungstechnische Äquivalenzprinzip, d. h., die Versicherungsprämie des Versicherten wird entsprechend seines Krankheitsrisikos kalkuliert. Um einen Neuzugang dem Risiko entsprechend versichern zu können, muss die Versicherung somit das Krankheitsrisiko des Versicherungsnehmers einschätzen. Die Versicherung weiß nun aber ex ante, also vor Vertragsabschluss, nicht, ob es sich bei einem bestimmten Nachfrager um ein „gutes Risiko“, also um eine Person mit einer geringen Wahrscheinlichkeit zu erkranken, oder um ein „schlechtes Risiko“, also um eine Person mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu erkranken, handelt. Verhält sich der Versicherungsnehmer rational, so wird er – sofern er ein hohes Krankheitsrisiko hat und um dieses weiß – dieses Risiko nicht offen legen, um in den Genuss einer günstigen Prämie zu kommen. Da die Versicherung aber vermutet, dass der Versicherungsnehmer sich so verhalten wird und somit nicht einschätzen kann, welche zukünftigen finanziellen Verpflichtungen mit diesem neuen Versicherten verbunden sind, wird auch sie ihr Handeln rational anpassen. Dies macht sie, indem sie den Versicherungsvertrag nicht mehr risikoäquivalent ausgestaltet, sondern eine Durchschnittsprämie – über alle Versichertenrisiken hinweg – bildet, welche garantieren soll, dass sie mit dieser Prämie keine Verluste machen wird. Diese Durchschnittsprämie ist nun aber für schlechte Risiken zu niedrig und für gute Risiken zu hoch. Da die Prämie für gute Risiken zu hoch ist, werden gute Risiken von einem Versicherungsvertrag Abstand nehmen und keine Versicherung abschließen. Nur die schlechten Risiken werden den Versicherungsvertrag nachfragen. Die guten Risiken werden also von den schlechten Risiken aus der Krankenversicherung verdrängt, es findet eine Negativauslese statt. Damit ändert sich aber die Kalkulationsbasis der Versicherung, da nun ein höherer Bestand an schlechten Risiken als den ursprünglich Erwarteten in die Berechnung mit eingeht. Die Versicherung muss die Prämie nach oben korrigieren. Die Folge ist ein erneutes Ausbleiben guter Risiken. Diese Negativauslese dauert so lange an, bis nur noch schlechte Risiken in der Versicherung verbleiben, die eine sehr hohe Prämie zahlen. Gute Risiken bekommen keinen Versicherungsschutz, auch – und dies ist das Kernproblem – wenn sie eigentlich eine Versicherung zu fairen Prämien ausdrücklich haben wollen, sie also nicht freiwillig von einem fairen Krankenversicherungsvertrag Abstand nehmen. Dieser Prozess kann sich auch fortsetzen, bis der Markt komplett zusammenbricht und auch die schlechten

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Risiken keinen Versicherungsschutz mehr erhalten, da sie die Prämien nicht mehr zahlen können. Diese Folgen der Ex-ante-Informationsasymmetrie werden häufig als Rechtfertigung für die staatliche Regulierung von Krankenversicherungsmärkten angesehen. Auf dieser Grundlage lassen einige Länder erst gar keine privaten Krankenversicherungen zu, sondern regeln die Gesundheitsversorgung komplett über ein staatliches Angebot, so dass man als Bürger dieses Landes automatisch am Gesundheitsversorgungssystem teilnimmt. Das Modell der Negativauslese kann erklären, weshalb man in sehr privatwirtschaftlich orientierten Gesundheitssystemen oft eine hohe Zahl an nicht Krankenversicherten beobachtet, und zwar in solchen Bevölkerungskreisen, die eigentlich ein gutes Risiko darstellen, und die zu einer fairen Prämie gerne einen Versicherungsschutz kaufen würden, diesen aber auf dem freien Krankenversicherungsmarkt nicht finden. Die prominenteste Reform, welche an diesem Problem ansetzt, ist die aktuelle Gesundheits­ reform in den USA, die sogenannte Obama Care. Ausgehend von 40 Mil­ lionen US-Amerikanern ohne Versicherungsschutz, welche auch und gerade gute Risiken im Sinne des gerade beschriebenen Modells inkludieren, führt Obama – sehr vereinfachend dargestellt – einen Kontrahierungszwang ein, und zwar für beide Marktseiten. Patienten müssen sich krankenversichern und Krankenversicherungen müssen zu bezahlbaren Prämien alle Patienten aufnehmen. Damit wird Obama Care dem dominanten Funktionsproblem auf dem Sub-Markt Patient Krankenversicherung Herr: dem Problem Adverser Selektion. Wie bereits mehrfach betont sind Reformen des Gesundheitswesens nun in aller Regel auf Verbesserungen in nur einem der drei Märkte gerichtet, so auch hier. Aber auch wenn sich Systemreformen meist auf einen Markt beziehen, so haben sie doch Implikationen für die (beiden) andern Märkte, genauer führen Verbesserungen auf dem einen der drei Märkte – wie hier ein Versicherungsschutz für breitere Bevölkerungskreise in den USA –, u. U. zu Friktionen auf den anderen Märkten; so z. B. auf dem SubMarkt Versicherung – Arzt; oder auch dem Sub-Markt Patient Arzt. Der Qualitätsstandard auf dem Sub-Markt Patient Arzt ist momentan in den USA extrem gut, sofern man versichert ist. Die Qualität der Krankenbehandlung in den USA ist für adäquat Versicherte sicherlich führend in der Welt. Ob diese Qualität in Zukunft flächendeckend aufrechtzuerhalten ist, für nun alle Versicherten bleibt die Frage. Oder anders ausgedrückt: war der Preis für die Spitzen Medizin bislang, dass nicht alle in ihren Genuss kommen konnten, und wird nun bei eine Versorgung mit Spitzenmedizin für alle Versicherten aufrecht zu erhalten sein. Weiterhin ist abzuwarten, wie sich die Position der Leistungserbringer gegenüber den Versicherungen oder



Die Trade Offs bei Reformen von Gesundheitssystemen307

im Rahmen einer ändert. Wenn sich plötzlich 40 Millionen mehr Versicherte in einem System befinden, bei dem das Angebot an Gesundheitsleistungen zunächst gleich bleibt, so hat dies offensichtlich Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Leistungserstellung. 2. Gesundheitsreformen als Versuch zur Verbesserung auf dem Sub-Markt Leistungserbringer-Patient und entstehende Dilemmata

Eines der bedeutendsten Funktionsprobleme auf dem Sub-Markt ArztPatient ist die Form der Informationsasymmetrie, welche zu anbieterinduzierter Nachfrage führt. Es sei zu dessen Erläuterung im Modell angenommen, dass Wettbewerb auf diesem Markt existiert und die Leistungserbringer private Anbieter sind. Ein Wettbewerbsmarkt ist also wiederum der Referenzpunkt. Für den hier geforderten Zusammenhang sind nun die Effekte einer Ausweitung des Angebots von Interesse (folgend nach Beek van der / Beek van der 2011, siehe für Lehrbuchdarstellungen z. B. auch Breyer /  Zweifel / Kifman 2013 oder Folland / Goodman / Stano 2012). Eine Ausweitung des Angebots auf dem Markt für Arztbehandlung würde im Grundmodell eines Wettbewerbsmarktes dazu führen, dass der Preis für die Arztbehandlung sinkt und die Menge der Inanspruchnahme von Ärzten steigt. Die Nachfragekurve ist beim Vorliegen von Krankenversicherungsschutz aber nicht elastisch, wie im Grundmodell angenommen, sondern vollkommen unelastisch und die Nachfrage wird bis zur Sättigungsmenge ausgedehnt. Geht man von einer normal elastischen Angebotskurve – also

Quelle: Eigene Darstellung.

Abbildung 3: Ausweitung der Anzahl der Ärzte bei vollständiger Kostenübernahme durch eine Versicherung

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Quelle: Eigene Darstellung.

Abbildung 4: Auswirkungen von Angebot und Nachfrage bei anbieterinduziertem Verhalten

einer aufsteigenden – aus und von einer vollkommen unelastischen Nachfragekurve, so würde eine Erhöhung des Ärzteangebots nur zu einer Preissenkung führen. Dies ist in der Abbildung 3 dargestellt. Die Verschiebung der Angebotskurve von A auf A’ führt nun nur zu einer Senkung des Preises von P* auf P*’, und die Mengen M* und M*’ bleiben identisch. Im Gegensatz zu dieser theoretischen Analyse stellt man aber in der Realität häufig fest, dass es trotz der unelastischen Nachfrage bei einer Ausweitung der Ärztezahl, also bei einer Erhöhung des Angebots, nicht nur zu Preissenkungen kommt, sondern dass die Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen in der Bevölkerung steigt, d. h., die Nachfrage nach ärztlichen Leistungen steigt. In der Abbildung äußert sich dies in einer Rechtsverschiebung der unelastischen Nachfragekurve, wie in Abbildung 4 dargestellt. Zunächst führt die Verschiebung der Angebotskurve von A auf A’ nur zu einer Senkung des Preises von P* auf P*’, und die Menge bleibt unverändert; die daraufhin einsetzende Verschiebung der Nachfragekurve von N auf N’ führt nun zu einer Erhöhung des Preises auf den ursprünglichen Preis von P*, und die Menge erhöht sich auf M*’. Insgesamt hat sich die Menge also erhöht und der Preis ist wieder auf das ursprüngliche Niveau gestiegen. Dieses für bestimmte gesundheitsökonomische Teilmärkte empirisch belegte Phänomen nennt man anbieterinduzierte Nachfrage, denn die Verschiebung der Nachfrage wird induziert durch eine vorherige Ausweitung des Angebots. Ein Patient fragt normalerweise „Gesundheit“ oder eine Arztbehandlung nach. Da er selbst in der Regel keine medizinischen Kenntnisse



Die Trade Offs bei Reformen von Gesundheitssystemen309

besitzt, braucht er für eine Behandlung einen Arzt seines Vertrauens. Der Erkrankte entscheidet also, ob er zum Arzt geht oder nicht; der Arzt hingegen darüber, welche Behandlung konkret nachgefragt wird. Die dazu notwendigen Gesundheitsgüter werden also nicht vom Patienten selbst nachgefragt, sondern der Arzt veranlasst die Nachfrage. Was teilweise in dem gerade beschriebenen modelltheoretischen Sinne zu unangemessenen Behandlungen führen kann. Die Ausweitung der Nachfrage hat für den Patienten insofern keine Konsequenzen, als er in der Regel die Kosten für seine Behandlung nicht aus eigener Tasche zahlen muss, sondern der Arzt mit einer Versicherung abrechnet, die wiederum oftmals keinen Einfluss auf die Qualität und Quantität der Leistungserstellung hat. Die Einführung von Health Maintenance Organisations (HMOs) – wie in den USA häufig anzutreffen – oder auch andere Managed Care Maßnahmen (siehe z. B. Amelung 2012; van der Beek / Cassel 1997; Kongstvedt 2008), welche Behandlungen und Therapien standardisieren, wie zunehmend auch in Deutschland anzutreffen, sind mögliche Antworten auf Funktionsprobleme, wie anbieterinduzierte Nachfrage. HMOs heben, im Gegensatz zum klassischen Krankenversicherungsmodell, die völlige Trennung von Leistungsfinanzierung und Leistungserstellung auf; sehr vereinfacht schaffen sie ein kombiniertes Angebot aus Krankenversicherung und Leistungserbringern, wie es v. a. in den USA anzutreffen ist. Die klassische HMO bietet umfassende Versorgung für ihre eingeschriebenen Versicherten durch ihr eigenes Netzwerk von Leistungserbringern. Wer in einer klassischen HMO versichert ist, muss in der Regel wenig Zuzahlungen leisten, ist aber verpflichtet, im Krankheitsfall nur die Leistungserbringer aus dem Netzwerk zu konsultieren und v. a. ist er verpflichtet, sich zunächst an seinen durch die HMO zugewiesenen Hausarzt zu wenden, der dann über den weiteren Behandlungsverlauf entscheidet. Zentrales Merkmal der HMO ist somit das „Versorgungsnetzwerk“, das man nur über den „Gatekeeper“ – also den Hausarzt – fast zuzahlungsfrei nutzen kann. Offensichtlich reduziert eine solche HMO Struktur den Anreiz zu unangemessenen Behandlungen im Sinne einer angebotsinduzierten Nachfrage. Dies würde ja die eigene Institution finanziell belasten. Und ganz ähnlich wirkt die Standardisierung von Behandlungen und Therapien, wie in Deutschland als wählbare Option für Patienten von verschiedenen Krankenkassen zunehmend angeboten; offensichtlich schränkt sie die Spielräume für eine überzogene angebotsinduzierte Nachfrage ein. Ähnlich mag auch die Zuzahlung in Form der Praxisgebühr gewirkt haben. Damit antworten HMOs und andere Managed Care-Maßnahmen auf ein erhebliches Funktionsproblem auf dem Markt Patient – Leistungserbringer: dem Problem der anbieterinduzierten Nachfrage. Allerdings geschieht dies

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durch Maßnahmen auf einem anderen Sub-Markt, nämlich dem Sub-Markt Krankenversicherung. Hier macht man sich die Interdependenz der SubMärkte zunutze. Die Einführung oder Förderung von HMOs ist zunächst ein Eingriff in den Sub-Markt Krankenversicherung, vorgenommen in der Hoffnung, dass die Anreizwirkungen, die von der Einheit Versicherung und Leistungserbringer ausgehen in der Tat zu einer angemesseneren Versorgung mit Gesundheitsgütern führen, da die Leistungserbringer nun „an einer Versicherung hängen“ (im Extremfall sind die Leistungserbringer Angestellte der Versicherungen). Gehen wir davon aus, dass durch die Einführung von HMOs-Organisationsformen tatsächlich eine wirksame Maßnahme gegen anbieterinduzierte Nachfrage gefunden ist, so kann dies aber nun dazu führen, dass das Problem der Negativauslese virulenter wird: nicht nur die Krankenversicherungen sind nun davon betroffen, dass schlechte Risiken gute Risiken verdrängen (hier als „Versicherungskunden“), sondern auch für Ärzte (hier als „Leistungserbringer“) ist die neue Rolle mit einer Änderung ihrer Anreizstruktur verbunden. Nun mag es für Leistungserbringer (Ärzte / Krankenhäuser) auf den ersten Blick nicht so tragisch sein, viele schwere Fälle zu haben, diese gilt es ja gerade zu behandeln; als Arzt in einer HMO gerät man aber in die widersinnige Situation, gerade solche Patienten, die nur einfache, weit verbreitete und kostengünstige Krankheitsbilder haben und damit wenig Kosten verursachen („gute Risiken“) nicht genügend im Versicherten / Patienten Pool zu haben. Es liegen also auch hier potenzielle Trade Offs vor: Verbesserungen in Form und Ausmaß der Behandlung hier, importieren Problem auf einem anderen Sub-Markt, hier dem Krankenversicherungsmarkt. 3. Gesundheitsreformen als Versuch zur Reduktion von Moral Hazard und entstehende Dilemmata

Ein Funktionsproblem auf dem Sub-Markt – oder besser in der in der Beziehung – Krankenversicherung und Leistungserbringer ist das sogenannte Moral-Hazard-Verhalten, welche ebenfalls zur Instabilität von privaten Krankenversicherungsmärkten beiträgt. Moral Hazard beschreibt hier, dass der Abschluss eines Krankenversicherungskontraktes nicht nur bei den Patienten sondern auch bei den Leistungserbringern eine Verhaltensänderung hervorruft (siehe allgemeiner zu Moral Hazard z. B. in: Blankart 2011 oder Fritsch 2011). Da die Krankenversicherung in der Regel nicht ohne weiteres beobachten kann, ob die durch die Leistungserbringer abgerechneten Leistungen auch tatsächlich im vollen Umfang beim Patienten erbracht wurden, gibt es einen Anreiz überzogene Leistungen abzurechnen. Auch hier führt also eine Informationsasymmetrie zu Verwerfungen. Die öffentlich werdenden Skandale in diesem Bereich lassen eine weitere Verbreitung vermuten.



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Offensichtlich reduzieren die im vorhergehenden Punkt besprochenen HMO Strukturen den Anreiz zu einem solchen Moral Hazard Verhalten. Wie dort dargelegt, haben sie aber den Nachteil sozusagen das Problem der Negativauslese in das Arzt-Patient-Verhältnis zu übertragen, das gleiche gilt mutatis mutandis hier. Eine weitere Variante übermäßige Leistungsabrechnungen einzudämmen hat man in Deutschland mit der Budgetierung der einzelnen Leistungen eingeführt, d. h. dass es z. B. für die Ärzte des allgemeinen ambulanten Sektors nur noch eine Gesamtvergütung gibt. D. h. die Größe des Kuchens steht i. d. R. im Vorhinein fest, die Frage ist die der Aufteilung. Trotz komplizierter Abrechnungsverfahren, versuchen die einzelnen Ärzte und auch die Krankenhäuser ihre Vergütung zu maximieren. Da dies aber nicht für alle Ärzte oder Krankenhäuser gleich möglich ist, hat die Budgetierung Auswirkungen auf die Leistungserstellung und damit auf die Beziehung oder das Angebot und die Nachfrage zwischen Arzt und Patient. So sind in den letzten Jahren – zumindest auch als Reaktion auf die Budgetierung – die Angebote von niedergelassenen Ärzten in Bezug auf zusätzliche ambulante Leistungen, den sogenannten Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL), womit die einzelnen Ärzte ihre Einkommen aufbessern können, gestiegen. Eine weitere Ausweichreaktion der Leistungserbringer ist die zunehmende Kalkulation mit privat versicherten Patienten, die v. a. den ambulant niedergelassenen Ärzten ein höheres Einkommen sichern, was allerdings in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend zu Lasten der Behandlung der gesetzlich Versicherten geht, insbesondere durch lange Wartezeiten. Dass Budgetierung im Gesundheitswesen immer einhergeht mit verlängerten Wartezeiten und Rationierung für Patienten zeigten die staatlichen Gesundheitssysteme, wie in Großbritannien oder die ehemals sozialistischen Systeme; insofern sind die Effekte, welche ausgelöst wurden durch die Einführung der Budgetierung auf dem Sub-Markt Arzt-Krankenversicherung auf den Sub-Markt Arzt-Patient sind nicht vollkommen unerwartet geschehen. V. Negatives wiegt schwerer als Positives: Politikimplikationen Mit Blick auf die öffentliche Bewertung von Gesundheitsreformen ist noch ein Weiteres zu beachten, gerade wenn das angestrebte Ziel der Reform sehr gut erzielt wurde, und sich gleichzeitig die Trade Offs und Friktionen auf den anderen Submärkten – wie sie oben angedeutet wurden – in Grenzen halten. Berücksichtigt man nämlich, dass Verschlechterung systematisch intensiver wahrgenommen werden als Verbesserungen (Kahneman 2011, S. 278–288), so befinden sich Reformer des Gesundheitssystem in einer komplizierten Situation: Selbst wenn nach „objektiven“ Kriterien die

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Verbesserungen in dem einen Sub-Markt gravierender sind, als die Verschlechterungen auf einem oder beiden der anderen Märkte des Gesundheitssystems, so wird dies doch subjektiv oft anders empfunden. Dies mag ein Grund für Reformstaus im Gesundheitswesen sein, oder auch ein Grund, weshalb so manch etablierter Politiker an Reformen im Gesundheitswesen gescheitert ist. Literatur Akerlof, G. (1970): The Market for Lemmons: Quality Uncertainty and Market Mechanism, Quaterly Journal of Economics 84, 488–500. Amelung, V.E. (2012): Managed Care – Neue Wege im Gesundheitsmanagement, 5. Aufl., Wiesbaden. Beek, K. van der / Beek, G. van der (2011): Gesundheitsökonomik – Einführung, München. Beek, K. van der (2002): Systemtransformation in den Ländern Mittel- und Osteuropas, Frankfurt. Beek, K. van der / Cassel, D. (1997): Funktionsbedingungen und Funktionsprobleme des Wettbewerbs im System der deutschen Krankenversicherung, in: Delhaes, K. / Fehl, U. (Hrsg.), Dimensionen des Wettbewerbs, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft, Bd. 52, Stuttgart. Blankart, C. B. (2011): Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 8. Aufl., München. Böcken, J. / Butzlaff, M. / Esche, A. (Hrsg.) (2003): Reformen im Gesundheitswesen: Ergebnisse einer internationalen Recherche, 3. Aufl., Gütersloh. Breyer, F. / Zweifel, P. / Kifman, M. (2013): Gesundheitsökonomie, 6. Aufl., Berlin. Cassel, D. / Sundmacher, T. (2006): Systemtransformation durch Systemwettbewerb im Gesundheitswesen, Wettbewerb und Gesundheitswesen: Konzeption und Felder ordnungsökonomischen Wirkens, in: Daumann, F. / Okruch, S. / Mantzavinos, C. (Hrsg.), Festschrift für Peter Oberender zu seinem 65. Geburtstag, Budapest. Folland, S. / Goodman, A. C. / Stano, M. (2012): The Economics of Health and Health Care, 7. Aufl., New Jersey. Fritsch, M. (2011): Marktversagen und Wirtschaftspolitik: mikroökonomische Grundlagen staatlichen Handelns, 8. Aufl., München. Kahneman, D. (2011): Thinking, fast and slow, London. Kongstvedt, P. R. (2008): Managed Care: What It Is and How It Works (Managed Health Care Handbook), 3. Aufl., Manchester. Lampert, H. / Althammer, J. (2007): Lehrbuch der Sozialpolitik, 8. Aufl., Berlin. Santerre, R. E. / Neun, S. P. (2013): Health Economics, 6. Aufl., Mason.



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Schulenburg, J.-M., Graf von der  /  Greiner, W. (2013): Gesundheitsökonomik, 3. Aufl., Tübingen. Tiepelmann, K. / van der Beek, G. (1992): Theorie der Parafiski, Berlin. – (1997): Politik der Parafiski – Intermediäre im Balanceakt zwischen Staats- und Bürgernähe, Hamburg.

Kosten- und Nutzenkomponenten grenzüberschreitender Patientenmobilität in der Europäischen Union: Theorie und Empirie Paul Marschall und Diana Brümmer I. Einführung Durch Urteile des Europäischen Gerichtshofes wurden für Patienten die Kostenerstattungsmöglichkeiten von im EU-Ausland in Anspruch genommenen Gesundheitsleistungen deutlich verbessert. Ein Meilenstein der bisherigen Entwicklung wurde am 28. Februar 2011 gesetzt, als der Europäische Rat die Richtlinie über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung beschlossen hat. Befragungen zeigen, dass europäische Bürger der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung im Allgemeinen aufgeschlossen gegenüberstehen (Gallup Organization 2007; Wagner / Dobrick et al. 2011). Dennoch entfallen in der EU auf diesen Bereich, einschließlich der Notfallversorgung, nur schätzungsweise ein Prozent der öffentlichen Gesundheitsausgaben (Bundesrat 2010). Die Ursachen dieser Diskrepanz sind unzureichend geklärt. Versteht man den mündigen Patienten als selbstbestimmten Entscheider, so kann dies die Folge einer Abwägung zwischen damit korrespondierenden Kosten- und Nutzenkomponenten sein. Im Kontext der grenzüberschreitenden Patientenmobilität sind diese Komponenten noch weitestgehend unerforscht. Ihre Ermittlung und Bewertung sind für die Beurteilung der ökonomischen Vorteilhaftigkeit grenzüberschreitender Gesundheitsversorgung erforderlich, um etwa adäquate Ansatzpunkte für die Gesundheitspolitik aufzuzeigen. Die vorliegende Arbeit versucht, einen Beitrag zur Schließung der genannten Forschungslücke zu leisten, indem sie die Kosten- und Nutzenkomponenten von Gesundheitsleistungen im EU-Ausland aus der Perspektive eines deutschen Bürgers theoretisch analysiert und anhand empirischer Fallstudien überprüft. Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Zunächst werden der Begriff der grenzüberschreitenden Patientenmobilität sowie relevante Grundlagen gesundheitsökonomischer Evaluationen erläutert, bevor die Methodik der

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durchgeführten Analysen beschrieben wird. Die dann folgenden Ausführungen widmen sich der Präsentation der Ergebnisse. Nach einer Diskussion der Ergebnisse schließt die Arbeit mit einem Fazit sowie einem kurzen Ausblick. II. Grundlagen 1. Zum Begriff der grenzüberschreitenden Patientenmobilität

Die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen im Ausland ist kein neues Phänomen. Seit langer Zeit reisen Menschen ins Ausland, um ihre Gesundheit zu verbessern: In der Antike beispielsweise gab es bereits den sogenannten Kurtourismus (Rulle 2007) und im 20. Jahrhundert reisten wohlhabende Menschen aus Entwicklungsländern in höher entwickelte Staaten, um Zugang zu modernen Gesundheitseinrichtungen und besser ausgebildetem medizinischen Personal zu erhalten. Vor dem Hintergrund bedeutender quantitativer und qualitativer Veränderungen gegenüber diesen frühen Formen grenzüberschreitender Patientenmobilität ist es wichtig, das Verständnis der EU zur Patientenmobilität von Gesundheits- und Medizintourismus abzugrenzen. Da sich die einschlägige Literatur durch eine Unschärfe der Begrifflichkeiten sowie eine vage und teilweise überlappende Abgrenzung charakterisieren lässt (Connell 2013), werden folgende Abgrenzungen gewählt: Der Gesundheitstourismus lässt sich durch eine Raumüberbrückung sowie einen Fokus auf die geplante Verbesserung des eigenen Gesundheitszustands kennzeichnen. Damit können Aktivitäten einhergehen, die über einen gewissen Freizeitwert verfügen und nicht vom nationalen Leistungskatalog abgedeckt werden, wie z. B. der Wellness-Bereich. Der Medizintourismus lässt sich wiederum als insbesondere auf invasive Maßnahmen abzielende Teilmenge des Gesundheitstourismus verstehen. Krankheiten, gesundheitliche Störungen oder Verletzungen stehen dabei im Vordergrund (Jagyasi 2008). Verglichen mit dem allgemein verstandenen Gesundheitstourismus zeichnet sich der Medizintourismus häufig durch einen akuteren Bedarf sowie größere Entfernungen aus und ist damit international ausgeprägter. Weder Gesundheits- noch Medizintourismus müssen jedoch notwendigerweise grenzüberschreitend sein. Die grenzüberschreitende Patientenmobilität im Sinne der EU hingegen kann als Initiative zur Mobilitätsförderung der EU-Bürger im Rahmen ihrer Grundfreiheiten im europäischen Binnenmarkt verstanden werden (Schaub 2001). Von besonderer Bedeutung sind dabei die spezifischen Bedürfnisse der Einwohner einzelner Grenzregionen. Den Rahmen für die Absicherung im Krankheitsfall bilden dabei die Bestimmungen der Richtlinie 2011 / 24 / EU



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mit den zugehörigen Verordnungsregelungen zur Koordinierung der sozialen Sicherheitssysteme (z. B. Verordnung Nr. 883 / 2004). Sie gelten für die krankenversicherten Staatsbürger eines Mitgliedsstaates sowie Drittstaatenangehörige, die ihren Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat haben. Von den Bestimmungen bzw. Regelungen ausgeschlossen sind beispielsweise die Langzeitpflege, Organtransplantationen und öffentliche Impfprogramme gegen Infektionskrankheiten. Grundsätzlich werden bei der gegenwärtigen Kostenerstattung von EUAuslandsbehandlungen drei Konstellationen unterschieden: – Hält sich eine Person vorübergehend (Urlaub, Dienstreise etc.) in einem anderen Land der EU als ihrem Heimatland auf, muss die zuständige Krankenversicherung alle Sachleistungen, die sich während der Aufenthaltsdauer als medizinisch notwendig erweisen, erstatten. – Wohnt eine Person nicht in dem Mitgliedsstaat, in dem sie krankenversichert ist, so hat sie Anspruch auf alle Sachleistungen, die in dem Staat, in dem sie wohnt, vorgesehen sind. Die anfallen Kosten (z. B. Behandlungs- und Arzneimittelkosten) trägt auch in diesem Fall die Krankenversicherung, bei der diese Person versichert ist. – Begibt sich eine Person in einen anderen Mitgliedsstaat, um stationäre oder ambulante medizinische Leistungen in Anspruch zu nehmen, so muss nach der Verordnung Nr. 883 / 2004 im Vorfeld für eine Kostenübernahme durch die Krankenversicherung deren Genehmigung eingeholt werden. Die Genehmigung wird erteilt, wenn die medizinische Leistung Teil derjenigen Leistungen ist, die nach dem Recht der zuständigen Krankenversicherung gewährt werden und die Leistung in Anbetracht des derzeitigen Gesundheitszustands sowie des voraussichtlichen Verlaufs der Krankheit erforderlich ist. Für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel ist eine derartige Genehmigung nicht notwendig. Kernpunkte der Richtlinie 2011 / 24 / EU, die bis Oktober 2013 in nationales Recht umgesetzt werden muss, sind die freie Arztwahl für EU-Bürger bei geplanten EU-Auslandsbehandlungen sowie deren rechtsverbindliche Kostenerstattung. In Hinblick auf die Kostenerstattung ist zu erwähnen, dass diese nur für gesetzlich Versicherte relevant ist und sich normalerweise auf die tatsächlichen Kosten beschränkt, die am Aufenthaltsort entstehen und nach dem Recht der GKV erstattungsfähig sind. Der Versicherte erhält im Behandlungsfall eine Rechnung, begleicht diese und reicht sie zur Kostenerstattung bei seiner Krankenkasse ein. Die Inanspruchnahme ungeplanter ambulanter und stationärer Behandlungen (Notfall, Unfall) fällt nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2011 / 24 / EU. In diesem Fall greift die Regelung zur Europäischen Kranken-

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versicherungskarte. Diese gewährt dem Kartenbesitzer während eines vorübergehenden Aufenthalts in einem der 28 EU-Länder sowie in Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz den Anspruch auf medizinisch notwendige Leistungen des öffentlichen Gesundheitswesens zu denselben Bedingungen und Kosten wie im Heimatland. Die Notfall- und Unfallversorgung richtet sich weiterhin nach der bereits bestehenden Wanderarbeiterverordnung. 2. Relevante Aspekte gesundheitsökonomischer Evaluationen

Gesundheitsökonomische Evaluationen bezeichnen Studien im Gesundheitswesen, die die ökonomische Bewertung medizinischer Maßnahmen zum Ziel haben (Schöffski 2012). In diesem Zusammenhang wird die Vorteilhaftigkeit einer Maßnahme gegenüber einer Vergleichsalternative untersucht (Drummond / Sculpher / Torrance / O’Brien et al. 2005; Ried 2012). Die zu beurteilende Maßnahme gilt als vorteilhaft (bzw. unvorteilhaft), wenn die daraus resultierenden Vorteile größer (bzw. kleiner) als die Nachteile sind. In der Ökonomie werden die Vorteile als Nutzen und die Nachteile als Kosten bezeichnet (Ried 2012). Der Nutzenbegriff schließt dabei jede Verbesserung der Situation einer Wirtschaftseinheit ein und kann bezogen auf das Gesundheitswesen z. B. in Verbesserungen der Gesundheit eines Individuums oder dem geringeren Aufwand eines Leistungserbringers bestehen (Ried 2012). Der Kostenbegriff umfasst, analog zum Nutzenbegriff, jede Verschlechterung der Situation einer Wirtschaftseinheit. Dazu zählen z. B. Verschlechterungen der Gesundheit eines Individuums oder geringere Erlöse eines Leistungserbringers (Ried 2012). Die Untersuchung der Vorteilhaftigkeit einer Maßnahme kann aus verschiedenen Perspektiven erfolgen. Die Perspektive beschreibt den Standpunkt, aus dessen Sicht Kosten und Nutzen analysiert werden (Schulenburg / Greiner / Jost / Klusen et al. 2007). Da in Abhängigkeit von diesem Standpunkt unterschiedliche Kosten- und Nutzenkomponenten zu berücksichtigen sind, ist die Wahl der Perspektive für das Ergebnis gesundheitsökonomischer Studien von entscheidender Bedeutung (Schulenburg / Kielhorn / Greiner / Volmer 1998). Gesundheitsökonomische Evaluationen, die aus einzelwirtschaftlicher Perspektive erfolgen, beziehen die Kosten und Nutzen nur einer betroffenen Wirtschaftseinheit ein. Dabei kann es sich z. B. um einen Patienten oder einen Arzt handeln (Ried 2012). Für den Patienten sind die Auswirkungen einer Maßnahme auf seinen Gesundheitszustand sowie seine finanzielle Situation interessant. Effekte, die aufgrund der zu beurteilenden Maßnahme in



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anderen Bereichen des Gesundheitswesens anfallen, sind für ihn oft weniger wichtig. Bei der gesamtwirtschaftlichen Perspektive werden die Kosten und Nutzen aller von einer Maßnahme betroffenen Wirtschaftseinheiten berücksichtigt (Schulenburg / Kielhorn / Greiner / Volmer 1998; Ried 2012). Diese umfassende Sichtweise wird gewählt, wenn die gesellschaftliche Vorteilhaftigkeit einer Maßnahme zu untersuchen ist (Greiner / Schöffski 2012). Ist eine gesellschaftliche bzw. gesamtwirtschaftliche Vorteilhaftigkeit gegeben, liegt die Umsetzung der Maßnahme im Interesse der gesamten Gesellschaft. Im Falle einer einzelwirtschaftlichen Vorteilhaftigkeit lohnt sich die Umsetzung der Maßnahme für die betrachtete Wirtschaftseinheit (Ried 2012). III. Methodik Vom Verständnis der EU zur Patientenmobilität ausgehend wird aus der Perspektive eines deutschen Bürgers die Motivation untersucht, Gesundheitsleistungen im EU-Ausland in Anspruch zu nehmen. Als Vergleichsalternative dient die Gesundheitsversorgung in Deutschland. Die Kosten- und Nutzenkomponenten ausländischer Gesundheitsleistungen werden zunächst theoretisch analysiert. Anschließend wird die Relevanz der identifizierten Komponenten anhand empirischer Fallstudien und Befragungen untersucht und bewertet. Dabei werden in Anlehnung an Rosenmöller / McKee et al. (2006) fünf Patiententypen unterschieden: – Personen, die sich vorübergehend im europäischen Ausland aufhalten – Pensionäre und Rentner, die ihren Lebensabend im EU-Ausland verbringen – Bewohner von Grenzregionen verschiedener EU-Länder mit wirtschaftlichen, kulturellen und / oder sprachlichen Gemeinsamkeiten – EU-Bewohner, die aufgrund erwarteter Vorteile (z. B. Kosteneinsparungen, Qualitätsverbesserungen) die Grenze überqueren – Patienten, die aus Kapazitätsgründen von Akteuren des heimischen Gesundheitssystems ins Ausland geschickt werden Bislang liegen kaum empirische Studien vor, die die Kosten- und Nutzenkomponenten ausländischer Gesundheitsleistungen direkt verdeutlichen. Deshalb wurden vornehmlich Arbeiten in die Analyse eingeschlossen, die indirekt auf diese Komponenten sowie deren Bedeutung hinweisen. Zu den genannten Arbeiten zählen Untersuchungen der Techniker Krankenkasse (TK), die bereits seit dem Jahr 2000 insbesondere ihre Mitglieder zu bestimmten Aspekten der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen im Ausland befragt. Diese Aspekte betreffen etwa die ungeplanten Inanspruch-

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nahmen, die mit den Patiententypen 1 bis 3 in Verbindung gebracht werden können. Diesbezüglich wurden alle TK-Mitglieder, die 2008 im Ausland Gesundheitsleistungen ungeplant nachfragten und dies der Krankenkasse vor dem Hintergrund einer Kostenrückerstattung mitteilten, zu ihren Auslandsbehandlungen befragt. Dadurch sollten Hinweise zu den Merkmalen (Behandlungsart, soziodemographische Faktoren, Erkrankung und Behandlungsland) der deutschen Patienten im EU-Ausland sowie zu deren Gründen für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in Erfahrung gebracht werden. Bei den Befragungen wurde ein Rücklauf von 16.446 Fragebögen bzw. 30.000 Behandlungsfällen erzielt. Dies entspricht einer Rücklaufquote von 35 % (Wagner / Verheyen 2010). In den Folgejahren wiederholte die TK diese Umfragen. Dabei erhöhte sich die Beteiligung, so dass die Befragungen die umfangreichste Informationsgrundlage für die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung darstellen. Als Grundlage für die Analyse des Kosten-Nutzen-Kalküls von Patiententyp 3 wurden zusätzlich Fallstudien verwendet, die die Situation zur grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung in europäischen Grenzregionen (Euregios) untersuchen und dabei Vor- und Nachteile aus der Perspektive deutscher Bürger berücksichtigen. Dazu zählt das EU-finanzierte Programm „Evaluation of cross-border acitivites in the European Union“. Im Rahmen dieses Programms wurde zwischen 2004 und 2007 eine systematische Bestandsaufnahme grenzübergreifender Projekte im Gesundheitsbereich per Fragebogen durchgeführt. Aus deren Ergebnissen wurden Faktoren entnommen, die die Häufigkeit der Inanspruchnahme von EU-Auslandsbehandlungen beeinflussen. Um neuere Entwicklungen in der Rechtsprechung und Änderungen von Ausgestaltungsmerkmalen zu berücksichtigen, wurden aktuelle Studien zu Grenzregionen herangezogen (z. B. Zentrum für Europäischer Verbraucherschutz e. V. 2013). Eine zentrale Studie für die Ermittlung des Kosten-Nutzen-Kalküls der Patiententypen 4 und 5 ist eine von der Europäischen Union in Auftrag gegebene Studie, die von der Gallup Organization durchgeführt wurde (Gallup Organization 2007). Per Stichprobe wurden 27.200 Bürger der Mitgliedsstaaten hinsichtlich ihrer Erfahrung und Bereitschaft, im Ausland Gesundheitsdienste in Anspruch zu nehmen, telefonisch befragt. Weiterhin ermöglichen die Befragungen der Techniker Krankenkasse Rückschlüsse auf geplante und im Ausland in Anspruch genommene Gesundheitsleistungen. Dazu gehört z. B. die Europabefragung 2007, die sich an Versicherte mit beantragter Kostenrückerstattung richtete (Wagner / Schwarz 2008). Gegenstand der Europabefragung 2012 (Wagner / Moser et al. 2013) waren die Bewertung der Leistungserbringer und Behandlungen sowie die entstandenen Kosten aus Patientensicht für das Jahr 2010.



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IV. Ergebnisse 1. Theoretische Analysen

a) Kostenkomponenten Bevor ein Patient Gesundheitsleistungen in Anspruch nimmt, informiert er sich normalerweise wo er qualifizierte Leistungserbringer findet. Wird in diese Suche das EU-Ausland mit einbezogen und steigen dadurch die Suchbzw. Informationskosten, ist dies mit einem Nachteil für den Patienten verbunden. Gesundheitsleistungen im EU-Ausland können aus der Perspektive eines Patienten mit Akzeptanzproblemen verbunden sein. Diese können beispielsweise aus sprachlichen Barrieren oder einem fehlenden Vertrauen in das Gesundheitssystem und dessen Beschäftigte resultieren. Die Erbringer von Gesundheitsleistungen sind auf die Kommunikation mit dem Patienten angewiesen. Kommt es aufgrund sprachlicher Barrieren zu Informationsverlusten, kann dies ebenfalls zu Nachteilen für den Patienten führen. So können z. B. eine längere Krankheitsdauer sowie größere physische und psychische Belastungen oder auch bleibende Beeinträchtigungen entstehen. Muss ein Patient für die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen im EU-Ausland größere räumliche Distanzen als in Deutschland überwinden, ist die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung für ihn mit längeren Wegen verbunden. In dieser Situation entstehen unter sonst gleichen Bedingungen zusätzliche Raumüberbrückungskosten. Aus der Perspektive des Patienten stellt der Anteil der Kosten, den er selbst zu tragen hat, einen Nachteil dar. Neben finanziellen Aufwendungen (z. B. für Übernachtungen oder Kraftstoff und Unterhalt des eigenen PKWs) kann es sich dabei auch um den zusätzlich erforderlichen Zeiteinsatz handeln. Sind Inanspruchnahmen von Gesundheitsleistungen im EU-Ausland für den Patienten mit längeren Wartezeiten als in Deutschland verbunden, wird er in der Regel später von seinem Leiden befreit. Aus der Sicht des Patienten stellt dies einen Nachteil, also Kosten dar. Im Fall einer erforderlichen Genehmigung durch die Krankenversicherung entsteht für den Patienten ein administrativer Aufwand, der dem dafür erforderlichen Zeiteinsatz entspricht. Aus der Sicht des Patienten stellt auch dieser Aspekt einen Nachteil dar. Werden medizinische Leistungen im Ausland durchgeführt, kann es aufgrund der räumlichen Entfernung ferner zu Schwierigkeiten bei der Nach-

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betreuung kommen. Darüber hinaus kann hinsichtlich möglicher Garantieansprüche Unsicherheit bestehen. b) Nutzenkomponenten Die Nutzenkomponente Kosteneinsparungen stellt eine zentrale Motivation dar, Gesundheitsleistungen im Ausland wahrzunehmen. Dabei können sowohl das preisgünstigere Angebot als auch eine wohnortnähere Versorgung der Kostenreduzierung dienen. Außerdem kann eine qualitativ bessere medizinische Versorgung im Ausland eine Nutzenkomponente darstellen. Geringere Preise ergeben sich für den Patienten z. B. dann, wenn er als Selbstzahler im EU-Ausland medizinische Leistungen in Anspruch nimmt, die von der Krankenkasse nicht übernommen werden, die im Ausland aber preisgünstiger angeboten werden, als im Heimatland. Sollte der ausländische Leistungsanbieter zudem geografisch näher liegen als der nächstgelegene heimische Anbieter, so kommen Kosteneinsparungen bei den Raumüberbrückungskosten hinzu. Denkbar sind auch Einsparungen ohne Anreise. Unter Einsatz von Telemedizin können ausländische Leistungen in Anspruch genommen werden, ohne dass der Inanspruchnehmer vor Ort sein muss. Der schnellere Zugang zu einer medizinischen Leistung im Ausland kann zu erheblichen Nutzen für den Patienten führen. Beispielsweise ist es möglich, dass im Notfall der nächstgelegene Versorger zwar im Ausland liegt, durch den schnelleren Zugang aber wichtige medizinische Leistungen wesentlich schneller erbracht werden können. Das kann im bedrohlichen Notfall ein lebensrettender Faktor sein. Auch kürzere Wartezeiten für Untersuchungen oder Behandlungen stellen eine Nutzenkomponente dar. Darüber hinaus können ausländische Anbieter von Gesundheitsleistungen in Einzelfällen über bessere Diagnostik- und Behandlungsmöglichkeiten verfügen. Sind beispielsweise Diagnostik und Behandlung einer seltenen Erkrankung nur im Ausland möglich, stellt das einen Vorteil für den betroffenen Patienten dar. Patienten profitieren zudem ganz allgemein von den zusätzlichen Auswahlmöglichkeiten der Versorgung. So entstehen zusätzliche Alternativen, aus denen sich der Patient die für ihn passendste aussuchen kann. Außerdem erhöht sich durch das Wissen, im Bedarfsfall für eine adäquate Behandlung mehrere Anlaufstellen zu haben, das Sicherheitsgefühl.



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2. Empirische Untersuchungen Personen, die sich vorübergehend im Ausland aufhalten (erster Patiententyp) und Gesundheitsleistungen benötigen, nehmen dort überwiegend Akut- oder Notfallbehandlungen in Anspruch. Da die Inanspruchnahme dieser ungeplanten Behandlungen vom Zufall abhängt, ist die Patientengruppe heterogen (Wagner / Verheyen 2010). Der TK zufolge waren im Jahr 2008 unfallbedingte Verletzungen, Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems sowie Zahnerkrankungen die häufigsten Gründe für Auslandsbehandlungen (Wagner / Verheyen 2010). Bezogen auf diese Verletzungen und Erkrankungen ist zu vermuten, dass Patienten die sofortige Behandlung im Ausland einer zeitlich verzögerten Behandlung in Deutschland vorziehen. Der Nutzen aus der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung resultiert dann aus der sofortigen Behandlung. Die bei der Auswahl der Leistungserbringer entstehenden Informationskosten wurden durch die Einbeziehung verschiedener Personenkreise vor Ort (z. B. Hotelpersonal, Ärzte oder Sanitäter) reduziert. Um die aus sprachlichen Barrieren resultierenden Akzeptanzprobleme zu verringern, wurden zwischen Krankenkassen und Urlaubsregionen Vereinbarungen getroffen, die gewährleisten, dass insbesondere in stationären Einrichtungen des Gesundheitswesens deutsch sprechendes Personal eingesetzt wird. Dadurch wurde eine höhere Patientenzufriedenheit erreicht (Nebling / Schemken 2006). Ausführliche Untersuchungen zum Kosten-Nutzen-Kalkül von Deutschen, die im EU-Ausland ihren Lebensabend verbringen (zweiter Patiententyp), liegen nicht vor. Allerdings ermittelte die TK im Rahmen der Europabefragung 2009, dass Senioren (d. h. Personen über 60 Jahren), die mit weniger als 1.500 Euro über ein relativ geringes monatliches Bruttoeinkommen verfügen, für einen Großteil der Auslandsbehandlungen verantwortlich sind: Sie nahmen 79 % der geplanten und mit 49 % fast die Hälfte der ungeplanten Behandlungen im EU-Ausland in Anspruch (Wagner / Verheyen 2010). Unklar ist, ob deutsche Rentner und Pensionäre während eines Auslandaufenthaltes Gesundheitsleistungen nachfragten oder ob sie dauerhaft im Ausland lebten. Weitere Informationen lassen vermuten, dass Kosteneinsparungen gegenüber einer alternativen Behandlung in Deutschland die zentrale Motivation für die Auslandsbehandlung war (Wagner / Verheyen 2010). Grenzregionen sind häufig ländlich geprägt und strukturschwach. Größere Kommunen mit modernen Gesundheitseinrichtungen sind im Ausland teilweise geografisch näher gelegen und schneller erreichbar als entsprechende Leistungsanbieter in Deutschland. Patienten (dritter Patiententyp) in den Euregios Maas-Rhein, Rhein-Waal oder Rhein-Maas-Nord profitieren auf diese Weise von einer wohnortnäheren Versorgung und den entsprechenden Behandlungsmöglichkeiten auf der ausländischen Grenzseite (Neb-

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ling / Schemken 2006). Außerdem werden Raumüberbrückungskosten eingespart. Der Gesamtnutzen für die Patienten und damit die Motivation, Auslandsbehandlungen in Anspruch zu nehmen, fällt in homogenen Grenzregionen höher aus. Diese Regionen zeichnen sich durch einen gemeinsamen Wirtschaftsraum aus, in dem die Grenzen fließend sind und keine Sprachbarrieren bestehen. Das gilt etwa für die Grenzregion Bayern-Österreich (Brand / Holleder et al. 2008) oder das Dreiländereck zwischen Deutschland, Frankreich und dem Nicht-EU-Staat Schweiz (Häußler 2009). Kooperationsprojekte sollen den erzielten Nutzen erhöhen. Im Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau beziehen sich solche Kooperationen beispielsweise auf geplante Inanspruchnahmen spezieller medizinischer Leistungen. So sollen deutsche Patienten etwa den Zugang zum einzigen PET-Scan (PositronenEmissions-Tomographie Scanner) der Region in Straßbourg erhalten, um dadurch den längeren Weg bis zum nächstgelegenen innerdeutschen PETScan nach Freiburg zu vermeiden (Zentrum für Europäischer Verbraucherschutz e. V. 2013). Glinos und Baeten (2006) weisen im Rahmen eines umfassenden Fallstudienüberblicks auf Kooperationsprojekte an der Grenze zwischen Schleswig-Holstein und Dänemark hin, bei denen deutschen Patienten der Zugang zu Krebsbehandlungen in Dänemark vereinfacht wird. Dadurch werden Kosten (z. B. die des Zeiteinsatzes oder der Raumüberbrückung) vermindert. Zudem können derartige Absprachen eine schnelle und reibungslose Kostenübernahme von geplanten und ungeplanten Auslandsbehandlungen bewirken, wenn die Vorlage der Europäischen Krankenversicherungskarte den Patienten nicht von einer Vorfinanzierung entbindet. Die Verwirklichung erwarteter Vorteile aus der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen im EU-Ausland (vierter und fünfter Patiententyp) hat laut Befragungen der TK in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Während geplante Behandlungen im Jahr 2003 noch keine Rolle spielten, wurden 2009 bereits von 40 % der TK-Mitglieder, die im Ausland Gesundheitsleistungen in Anspruch nahmen, geplante Behandlungen nachgefragt (Wagner / Verheyen 2010). Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass sich bei GKV-Versicherten die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in erster Linie auf Leistungen mit hohen Zuzahlungen und Leistungsausschlüsse konzentriert (Zimmermann 2008). Befragungen von EU-Bürgern zeigen, dass 80 % der im Ausland in Anspruch genommenen geplanten Behandlungen zuzahlungspflichtig waren (Wagner / Dobrick et al. 2011). Für die Patienten ergab sich durch geringere Zuzahlungen ein Nutzen. Dieser entsteht insbesondere in Ländern mit im europäischen Vergleich unterdurchschnittlichen Behandlungskosten. So wurden in Tschechien, Polen und Ungarn 24, 20 und 13 % aller geplanten Auslandsbehandlungen durchgeführt. Bezogen auf gesetzlich Versicherte aus Deutschland zeigt sich auch, dass vor allem Anbieter aufgesucht wurden, die sich



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auf deutsche Versicherte eingestellt hatten und Deutsch als Behandlungssprache einsetzten (Wagner / Schwarz 2008). Außerdem handelte es sich überwiegend um Behandlungen, bei denen eine Nach- und Weiterbehandlung nicht notwendig war (Wagner / Moser et al. 2013). Die Realisierung von Kostenvorteilen in Form von geringeren Zuzahlungen kann auch durch die Mitgliedschaft in einer bestimmten Krankenkasse erfolgen: AOK-Versicherten in Brandenburg war es aufgrund einer Kooperation mit polnischen Zahnärzten möglich, im Rahmen einer Behandlung mit deutschsprachigem Personal Zahnersatz nach deutschem Standard zu deutlich geringeren Preisen und mit dreijähriger Gewährleistung auf Material und Arbeit zu erhalten (Trinogga 2009). Neuere Ergebnisse der TK aus dem Jahr 2010 zeigen, dass zunehmend auch die Qualität der Behandlung an Bedeutung gewinnt (Wagner / Dobrick 2011). Von großer Bedeutung ist zudem der Zusatznutzen, der durch einen mit der Behandlung verbundenen Urlaub (Kur / Wellness) entsteht. In ungarischen Urlaubsregionen wie dem Balaton boten beispielsweise im Jahr 2007 Zahnkliniken Zahnersatzleistungen zu nicht einmal der Hälfte der Kosten für die gleiche Behandlung in Deutschland an. Die Behandlung wurde noch durch ein Pauschalpaket mit Unterkunft und Verpflegung ergänzt (Wagner / Schwarz 2008). Aufgrund der möglichen Verbindung mit einem Urlaub verwundert es nicht, dass auch Italien ein bedeutendes Land solcher Leistungserbringung ist (Wagner / Moser et al. 2013). Im Unterschied zu Gesundheitssystemen in anderen Ländern sind lange Wartezeiten im deutschen Gesundheitswesen im Durchschnitt noch immer deutlich geringer. Während Fallstudien diese Nutzenkomponente häufig als Motivation für ausländische Bürger erfassen, in Deutschland Leistungen in Anspruch zu nehmen (z. B. Glinos / Baeten 2006), sind kürzere Wartezeiten für deutsche Patienten nur in Ausnahmefällen (z. B. seltene Krankheiten) die Motivation, Gesundheitsleistungen im Ausland in Anspruch zu nehmen (z. B. Wagner / Schwarz 2008). V. Diskussion Die Motivation, Gesundheitsleistungen im EU-Ausland in Anspruch zu nehmen, wird vor allem dann gefördert, wenn diese mit Kosteneinsparungen einhergehen. Bei Leistungen, die von der GKV nicht erstattet werden und somit außerhalb des GKV-Leistungskatalogs liegen, ist dies deutlich ersichtlich. Hier gilt das gleiche Kosten-Nutzen-Kalkül wie im internationalen Medizintourismus: Leistungen werden in Anspruch genommen, sofern der Gesamtnutzen mindestens den Gesamtkosten entspricht. In Hinblick auf den GKV-Leistungsbereich müssen geplante und ungeplante Inanspruchnahmen unterschieden werden.

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Im ungeplanten Fall befindet sich der Bürger in der Regel bereits im Ausland. Aufgrund der Akutsituation stellt sich die Alternative einer Behandlung in Deutschland häufig nicht. Der unmittelbare Nutzen einer Auslandsbehandlung übersteigt dabei die Kostenbestandteile. Dazu zählt insbesondere der Rücktransport der Patienten nach Deutschland, der nur in Ausnahmefällen von der GKV getragen wird. Der Einsatz der europäischen Krankenversicherungskarte im Rahmen ungeplanter Auslandsbehandlungen stiftet dem Patienten einen Nutzen. Dieser resultiert aus der verbindlichen Übernahme der Behandlungskosten. Bei geplanten Auslandsbehandlungen stellt sich der Sachverhalt anders dar: Hier wird die Motivation, Gesundheitsleistungen im Ausland in Anspruch zu nehmen, durch die bestehende EU-Rechtsprechung bzw. die damit verbundene Regelung zur Kostenerstattung kaum erhöht. Demnach müssen Patienten die entstandenen Behandlungskosten vorfinanzieren. Dies ist für Personen aus einkommensschwächeren Schichten häufig nicht möglich. Darüber hinaus werden den Patienten die im Ausland entstandenen Behandlungskosten maximal in Höhe der Kosten für die gleiche Behandlung in Deutschland erstattet. Infolgedessen müssen die Patienten wenigstens entstandene Raumüberbrückungskosten selbst tragen. Durch die Richtlinie zur Patientenmobilität entstand für die Patienten der Vorteil, dass im Vorfeld eine Kostenübernahme durch die Krankenversicherung genehmigt werden kann. Dadurch wurde die Unsicherheit, Behandlungskosten möglicherweise nicht erstattet zu bekommen, vermindert. Empirisch lässt sich dies jedoch noch nicht adäquat belegen. Um nationale Grenzen zu überwinden, wurden in grenznahen Räumen der Europäischen Union die Euregios geschaffen. In diesen Regionen ist die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung von großer Bedeutung und verfügt insbesondere im Bereich der ungeplanten Inanspruchnahme über ein großes Potential. So können einerseits Raumüberbrückungskosten sinken. Andererseits kann die Qualität der Leistungen in einem geografisch kleineren Raum eher verglichen werden. Die durch die steigende Lebenserwartung und anhaltend niedrige Geburtenrate stattfindende Alterung der Bevölkerung kann in naher Zukunft vor allem in dünn besiedelten sowie wirtschaftlich schwachen Grenzregionen Deutschlands zu Versorgungsengpässen führen. Wird die damit verbundene geringere Haus- und Facharztdichte durch Leistungserbringer im Ausland ausgeglichen, kann auch unter diesem Aspekt zukünftig von einer steigenden Bedeutung der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung ausgegangen werden. Die Analyse empirischer Studien zeigt, dass sich zahlreiche Anbieter bereits auf die verbesserten EU-Bestimmungen eingestellt haben. So sind im



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Ausland (z. B. Polen) in unmittelbarer Grenznähe medizinische Einrichtungen errichtet worden. Liegen diese geografisch näher und sind schneller erreichbar als entsprechende Leistungsanbieter im Deutschland, verringern sich auch die Raumüberbrückungskosten für den Patienten. Vor diesem Hintergrund hat sich die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen im nahen EU-Ausland erhöht. Befragungen zeigen, dass Patienten mit den im Ausland in Anspruch genommenen Leistungen weitgehend zufrieden sind. Dadurch sind sie im Bedarfsfall bereit, erneut Leistungen im Ausland nachzufragen. Ferner werden auch andere Patienten auf ausländische Anbieter aufmerksam gemacht. Der internationale Wettbewerb im Gesundheitswesen wird dadurch gefördert. Diese Argumentationskette wird durch die Europabefragung 2010 der Techniker Krankenkasse bestätigt. Die Befragungen der TK zeigen außerdem, dass relativ hohe Raumüberbrückungskosten (z. B. bei weiter entfernten Zielen) durch den Nutzen eines mit der Behandlung gekoppelten Urlaubs kompensiert werden können. Die aufgeführten Fallbeispiele zeigen, dass das Potenzial der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung in einigen Regionen noch nicht ausgeschöpft ist, weil nationale Grenzen immer noch Barrieren darstellen, die für den Bürger mit Kostenkomponenten einhergehen können. Aufgabe der Europäischen Union muss sein, diese Hürden zu reduzieren, damit Europa weiter zusammenwachsen kann. Ökonomisch betrachtet können Effizienzgewinne entstehen, wenn durch grenzüberschreitende Kooperationen die Versorgung einer Region gesichert wird und dadurch nicht jeder der beteiligten Staaten mehr gezwungen ist, im Rahmen der Versorgungsplanung alle Gesundheitsleistungen im Heimatland anzubieten. Insgesamt zeigt die Bestandsaufnahme, dass zu den Kosten- und Nutzenkomponenten grenzüberschreitender Patientenmobilität in der EU noch umfassender Forschungsbedarf besteht. Bislang existieren nur wenige Studien, welche die Wanderungsbewegungen der Patienten detailliert erfassen. So unterscheiden vorhandene empirische Studien beispielsweise häufig nicht, ob es sich bei durchgeführten Auslandsbehandlungen um geplante oder ungeplante Inanspruchnahmen handelte. Verzerrungen entstehen auch dadurch, dass Behandlungen, bei denen die Patienten keine Kostenrückerstattung durch die jeweilige gesetzliche Krankenkasse beantragt hatten, in den vorliegenden Studien nicht erfasst wurden. Zudem fehlen empirische Studien zum Kosten-Nutzen-Kalkül der Sofortbehandlung im Ausland gegenüber der zeitlich verzögerten Behandlung in Deutschland. Auch zu den Auswirkungen der neuen EU-Richtlinien findet sich bislang keine Evidenz. Sie sind jedoch von zentraler Bedeutung, um die Gesundheitspolitik der EU-Mitgliedstaaten anpassen zu können.

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VI. Fazit und Ausblick Dieser Beitrag zielte darauf ab, die Kosten- und Nutzenkomponenten von Gesundheitsleistungen im EU-Ausland aus der Perspektive eines deutschen Bürgers theoretisch zu analysieren und anhand empirischer Fallstudien zu überprüfen. Die schrittweise Implementierung von Patientenrechten und die Einführung der verbindlichen Kostenerstattung haben die Vorteile der Inanspruchnahme ausländischer Gesundheitsleistung für den deutschen Bürger deutlich erhöht. Aufgrund des beinahe vollständigen Versicherungsschutzes deutscher GKV-Versicherter übersteigt der Nutzen der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung deren Kosten nur bei bestimmten Leistungen. Dennoch besteht Potenzial den aus der grenzüberschreitenden Patientenmobilität resultierenden Nutzen zu erhöhen, indem auch Patienten von realisierten Kosteneinsparungen profitieren. Darüber hinaus müssen Kosten reduziert werden. Dazu gehören vor allem Akzeptanzprobleme und sprachliche Hürden. Durch sinkende Reise- bzw. Transportkosten aufgrund der zunehmenden Liberalisierung des innereuropäischen Verkehrswesens kann das Kosten-Nutzen-Kalkül der Inanspruchnahme von Auslandsbehandlungen deutlich verbessert werden. Dadurch kann der Wettbewerb nationaler Gesundheitssysteme und deren Akteure gestärkt und für mehr Effizienz und Qualität gesorgt werden. Literatur Brand, H. / Hollederer, A. / Ward, G. / Wolf, U. (2008): Evaluation of the Border Regions in the European Union (EUREGIO), Düsseldorf. Bundesrat (2010): Bericht der Kommission über die Unionsbürgerschaft 2010: Weniger Hindernisse für die Ausübung von Unionsbürgerrechten, KOM(2010) 603 endg., Unterrichtung durch die Europäische Kommission, Drucksache 732  /  10 09.11.10. Connell, J. (2013): Contemporary medical tourism: Conceptualisation, culture and commodification, in: Tourism Management 34, 1–13. Drummond, M.  F. / Sculpher, M. J. / Torrance, G.  W. / O’Brien, B. J. et al. (2005): Methods for the Economic Evaluation of Health Care Programmes, 3. Aufl., Oxford u. a. Gallup Organization (2007): Cross-border health services in the EU: Analytical Report, Flash Eurobarometer No. 210, Budapest [online abrufbar unter: http: /  / ec. europa.eu / public_opinion / flash / fl_210_en.pdf (letzter Zugriff am 04.10.2013)]. Glinos, I. / Baeten, R. (2006): A Literature Review of Cross-Border Patient Mobility in the European Union, Brussels [online abrufbar unter: http: /  / www.ose.be / files /  publication / health / WP12_lit_review_final.pdf (letzter Zugriff am 04.10.2013)].



Kosten- und Nutzenkomponenten grenzüberschreitender Patientenmobilität329

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Gesundheitsökonomie in ressourcenarmen Ländern Steffen Fleßa I. Hinführung Die Ökonomie ist die Lehre von der Beschreibung, Erklärung, Bewertung und Überwindung der Knappheit (Fleßa / Greiner 2013). Aus dieser einfachen Definition leitet sich bereits die besondere Bedeutung der Ökonomie für Länder ab, deren Ausstattung sowohl an natürlichen, finanziellen und humanen Ressourcen deutlich unterdurchschnittlich ist. Die so genannten Entwicklungsländer zeichnen sich – bei allen Definitionsproblemen, die mit dem Begriff verbunden sind – eben gerade durch Knappheit aus (Hemmer /  Wilhelm 2001; Kesselring 2003; Lachmann 2003a; Lachmann 2004; ­Nuscheler 2007). Auch im Gesundheitswesen sind diese augenfällig: Verrottete Krankenhausgebäude, leere Medikamentenschränke, unmotiviertes oder schlecht ausgebildetes Personal und fehlende Finanzmittel prägen die Gesundheitseinrichtungen und -programme in diesen Ländern (Fleßa 2003). Was könnte hier näher liegen, als mit gesundheitsökonomischen Methoden diese Knappheit zu analysieren und zumindest teilweise zu überwinden? Im vorliegenden Artikel sollen überblicksmäßig einige wichtige ökonomische Herausforderungen sowie aktuelle Lösungsansätze für die Gesundheitsdienste in ressourcenarmen Ländern diskutiert werden. Wir verwenden den Begriff „ressourcenarme Länder“, wie er sich in der Praxis der Entwicklungshilfe etabliert hat. Dies liegt primär daran, dass der Terminus „Entwicklungsland“ nicht einheitlich definiert und in der Regel doch wieder auf Grundlage von Knappheit wie z. B. Sozialprodukt pro Kopf, Verschuldungsgrad, Analphabetenquote, Lebenserwartung etc. (Hemmer 2002) ausgedrückt wird. Der Begriff „ressourcenarmes Land“ trifft die Problematik durchaus: Das Sozialprodukt pro Kopf ist gering, natürliche Ressourcen können – so vorhanden – nicht in Wert bzw. für das Land nutzbar gemacht werden, der Ausbildungsstand der Bevölkerung ist entwicklungsbedürftig und es fehlen institutionelle Ressourcen (z. B. verlässliche Behörden und Rechtsgrundlagen). Das Gesundheitswesen in ressourcenarmen Ländern muss deshalb mit extrem geringen Inputfaktoren auskommen. Wie Tabelle 1 zeigt, liegen die Gesundheitsausgaben pro Kopf und Jahr in einigen Ländern unter 100 US$ (Kaufkraftparität). In der Regel ist damit maximal eine Basisversorgung aufrecht zu erhalten.

332

S. Fleßa Tabelle 1 Gesundheitsausgaben ausgewählter Länder (2011)

Land

Brutto­ national­ produkt p.c. [US$]

Gesundheitsausgaben [ % BSP]

Gesundheitsausgaben p.c. [US$]

Gesundheitsausgaben p.c. [PPP US$]

Afghanistan

620

9,58

55,93

50,47

Bangladesch

732

3,72

26,54

67,27

Benin

746

4,57

36,70

74,53

Burkina Faso

650

6,51

37,21

81,15

Burundi

247

8,73

23,37

52,38

Kambodscha

878

5,69

51,21

134,94

Zentralafrikanische Republik

488

3,79

18,28

30,90

Demokratische Republik Kongo

245

8,55

19,73

32,09

Eritrea

440

2,56

13,90

16,99

Äthiopien

355

4,65

16,61

51,96

Gambia

518

4,39

27,41

93,72

Guinea

457

5,96

29,73

67,21

Guinea-Bissau

596

6,28

37,18

73,93

Haiti

732

7,95

57,66

93,72

Laos

1.262

2,77

36,74

77,94

Mozambique

511

Myanmar



6,59

35,22

64,67

2,00

22,54

27,86

Nepal

699

5,44

33,00

68,33

Niger

364

5,32

20,11

39,32

Rwanda

570

10,76

62,72

134,64

501

18,84

68,54

165,24

1.539

8,39

103,53

179,55

Sierra Leone Sudan Tansania

530

7,28

37,33

107,41

Timor-Leste

928

5,07

46,31

82,06

Togo

569

8,01

44,88

80,10

Uganda

479

9,45

42,40

127,98

Sambia

1.409

6,12

87,22

99,32

776

5,56

42,05

81,47

42.108

12,60

5.456,93

5.160,19

Least Developed Countries High Income Countries (OECD) Quelle: Weltbank 2013.



Gesundheitsökonomie in ressourcenarmen Ländern333 100 90 80

Income [%]

70 60

50 40 30 20 10 0

0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Population [%] Quelle: Weltbank 2010.

Abbildung 1: Lorenz-Graf von Kambodscha (2004)

Man sollte allerdings nicht davon ausgehen, dass in ressourcenarmen Ländern alle Menschen gleichermaßen arm sind. Diese Länder sind hingegen häufig von einer hohen Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen gekennzeichnet. Abbildung 1 gibt beispielhaft die Einkommensverteilung von Kambodscha wieder. Es zeigt sich, dass die letzten 10 % der Bevölkerung 35 % des Einkommens beziehen, während die ersten 10 % nur 2,9 % haben. Dementsprechend gibt es in der Oberschicht eine stetig wachsende Nachfrage nach qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung, die teilweise im Ausland gedeckt wird. Städtische Eliten haben beispielsweise auch in Kenia zu einer erheblichen Erhöhung der Gesundheitsausgaben pro Kopf geführt, ohne dass dies die epidemiologischen Statistiken für die Bevölkerungsmehrheit verändert hätte. Letztlich erscheint das Entwicklungsproblem heute weniger eine Nord-Süd-Problematik als vielmehr ein Arm-Reich-Thema innerhalb des jeweiligen Landes zu sein. Damit ist auch deutlich, dass das Gesundheitswesen in ressourcenarmen Ländern nicht automatisch mit einer Basisgesundheitsversorgung für Arme gleichgesetzt werden kann. Im selben Land, in dem Tausende von Neugeborenen aufgrund von Durchfällen das erste Lebensjahr nicht erreichen, gibt es einen Markt für In-vitro-Fertilisation der Oberschicht (Crooks et al. 2011). Im Folgenden werden wir uns allerdings schwerpunktmäßig auf die Medizin für die Armutsgruppen und damit auf die Bevölkerungsmehrheit fokussieren. Hier hat die Gesundheitsökonomik bzw. die Überwindung der Knappheit stets eine existentielle Dimension: Jede Ressource, die aufgrund

334

S. Fleßa

von Inkompetenz oder Verschwendung verloren geht, kostet im wahrsten Sinne Menschenleben. Jede Ressource, die für eine bestimmte Maßnahme verwendet wird, steht unausweichlich an anderer Stelle nicht mehr zur Verfügung. Dies ist natürlich in Deutschland ebenso der Fall. In ressourcenarmen Ländern impliziert die gesundheitsökonomische Fragestellung auch immer eine Entscheidung über Leben und Tod. Victor Fuchs provozierte bereits 1974 mit dem Buch „Who shall live?“ (Fuchs 1974) – eine Fragestellung, die bis heute an Relevanz in den ressourcenarmen Ländern an nichts verloren hat. Bei allen weiteren Ausführungen sollte der Leser diese existentielle ethische Dimension der Gesundheitsökonomik in ressourcenarmen Ländern berücksichtigen. Die Herausforderungen und die Instrumente der Gesundheitsökonomik entscheiden regelmäßig über Leben und Tod. II. Ausgewählte Herausforderung der Gesundheitsversorgung in ressourcenarmen Ländern Aus der Fülle von Herausforderungen, mit denen sich das Gesundheitswesen in ressourcenarmen Ländern konfrontiert sieht, sollen im Folgenden vier Aspekte herausgegriffen werden, die von besonderer Aktualität sind. Dies impliziert nicht, dass beispielsweise die Korruption im Gesundheitswesen irrelevant wäre, aber der Schwerpunkt soll auf globalen Herausforderungen liegen, die spezifisch für das Gesundheitswesen sind. 1. Epidemiologische Transition

Die meisten ressourcenarmen Länder befinden sich noch in einer früheren Phase der demografischen Transition (Notestein 1945; Blacker 1947), d. h., ihre Bevölkerung ist vergleichsweise jung. Als Konsequenz des Altersaufbaus dominieren bis heute die Erkrankungen der WHO-Kategorie I (Communicable, maternal, perinatal and nutritional conditions). Im Jahr 2011 waren weltweit nur 24,5 % der Todesfälle in dieser Kategorie zu verzeichnen, in den ressourcenarmen Ländern (hier: „low-income countries“) jedoch 54,3 % (WHO 2013). Die Haupttodesursachen waren demnach Atemwegsinfektionen, HIV / Aids sowie Durchfälle. Bis heute leiden und sterben Menschen in Entwicklungsländern überwiegend an einer vergleichsweise geringen Zahl von Infektionskrankheiten, die sich verhältnismäßig einfach vorbeugen und behandeln lassen. Man muss aber auch bedenken, dass im Jahr 2000 in diesen Ländern noch 64 % der Todesfälle auf die erste Kategorie zurückzuführen waren



Gesundheitsökonomie in ressourcenarmen Ländern335 70 60

Anteil [%]

50 40 30 20 10 0 1976

1981

1986

1991

1996

2001

Zeit [Jahre] Infektionskrankheiten

Chronisch-degenerative Krankheiten

Unfälle

Quelle: Sozialistische Volksrepublik Vietnam 2002.

Abbildung 2: Entwicklung der Mortalität in Vietnam 1976–2001

(weltweit 31 %). Es zeigt sich daran ein klarer Trend hin zu chronisch-degenerativen Erkrankungen. Einige Länder, die noch als ressourcenarm bezeichnet werden, haben bereits vor Jahren die dritte Phase der epidemiologischen Transition erreicht (Omran 2005). Abbildung 2 zeigt diese Entwicklung beispielhaft für Vietnam. Die sinkende Geburtenrate bei gleichzeitig steigender Lebenserwartung induzierte ein sich wandelndes Krankheitspanorama. Während die junge Bevölkerung überwiegend an Krankheiten litt, die durch Viren, Bakterien und Parasiten ausgelöst wurden, starben bereits Mitte der 1990er Jahre mehr Vietnamesen an Schlaganfall, Herzinfarkt und Krebs (als Beispiele für chronisch-degenerative Erkrankungen) als an Malaria, Dengue und Durchfällen. Ebenso stieg auch die Zahl der Verkehrstoten dramatisch an. Die Transition zu chronisch-degenerativen Erkrankungen ist für die ressourcenarmen Länder in mehrfacher Hinsicht eine große Herausforderung, die häufig unterschätzt wird. Erstens haben viele Menschen dieser Länder ein größeres Erkrankungsrisiko. So ist beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, an einer chronischen Atemwegserkrankung zu leiden, in Ländern deutlich höher, in denen offene Feuerstellen in Gebäuden die normale Form des Kochens und Heizens sind. Sogar für Krankheiten, die man traditionell als „Zivilisationskrankheiten“ bezeichnet hat, besteht unter Umständen eine höhere Inzidenz in armen als in reichen Ländern, wenn die Lebensverhältnisse ähnlich sind (z. B. Bevölkerung in Ballungszentren). So zeigt eine

336

S. Fleßa

Studie, dass das Schlaganfallrisiko für die Bevölkerung von Dar-es-Salaam (Tansania) für alle Altersgruppen höher ist als das entsprechende Risiko für jene in Nord-Manhattan (Walker et al. 2010). Zweitens werden chronisch-degenerative Erkrankungen in ärmeren Ländern seltener und später diagnostiziert, was primär auf die schlechte Ausbildung der Mitarbeiter in der Diagnose von nicht-infektiösen Erkrankungen zurückzuführen ist. Drittens bestehen geringere Heilungsmöglichkeiten. So liegt das altersadjustierte Krebsrisiko in Afrika südlich der Sahara bei 120 und das Sterberisiko aufgrund von Krebs bei 95 pro 100.000 Einwohner (Ferlay et al. 2010). Die vergleichbaren Statistiken für die Europäische Union betragen 264 bzw. 115 pro 100.000 Einwohner, d. h., die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, ist in Europa 2,2-mal so hoch wie in der Subsahara Afrika, während das Sterberisiko nur 1,2-mal so hoch ist. Die späte Erkennung und schlechtere Behandlung führen dazu, dass 80 % der Krebspatienten in der afrikanischen WHO-Region an ihrer Krebserkrankung sterben, während dies in der Europäischen Union nur 44 % sind. Viertens implizieren diese Fakten, dass eine umfassende Anpassung des Gesundheitssystems erfolgen muss. Die Ausbildung in den meisten ressourcenarmen Ländern konzentriert sich überwiegend auf Infektionskrankheiten und Müttergesundheit, so dass beispielsweise die Wahrscheinlichkeit einer korrekten Krebsdiagnose gering ist. Die Transition erfordert Weiterbildung der Gesundheitsmitarbeiter sowie eine Änderung der Curricula. Die Gesundheitseinrichtungen müssen apparativ angepasst werden, und die entsprechenden Medikamente müssen beschafft, transportiert und gekühlt werden (z. B. Insulin). Dies sind logistische, personelle und finanzielle Probleme, die für viele Gesundheitssysteme eine Überforderung darstellen. Beispielsweise ist in Kambodscha außerhalb der größeren Städte praktisch nirgends Insulin verfügbar, obwohl die Zahl der Diabetiker drastisch steigt. Die Gesundheitsökonomik ist hier sehr praktisch gefordert, Bedarfe zu ermitteln, eine effiziente Logistik aufzubauen und die Bedeutung dieser Erkrankungen in den Fokus zu rücken. 2. Ressourcen

Für ärmere Länder liegt ein signifikanter Zusammenhang von Armut und Gesundheitsoutcomes vor. Beispielsweise beträgt die Korrelation von Bruttonationalprodukt pro Kopf und Lebenserwartung für die ressourcenarmen Länder (hier: Bruttonationalprodukt p. a. p. c.