Gestaltungskraft des Politischen: Festschrift für Eberhard Kolb [1 ed.] 9783428487615, 9783428087617

Die Erforschung zentraler Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte - Reichsgründung 1871, Revolution 1918, Machtüber

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German Pages 535 Year 1998

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Gestaltungskraft des Politischen: Festschrift für Eberhard Kolb [1 ed.]
 9783428487615, 9783428087617

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Gestaltungskraft des Politischen Festschrift für Eberhard Kolb

Historische Forschungen Band 63

Gestaltungskraft des Politischen Festschrift für Eberhard Kolb

Herausgegeben von Wolfram Pyta und Ludwig Richter

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Gestaltungskraft des Politischen : Festschrift für Eberhard Kolb / hrsg. von Wolfram Pyta und Ludwig Richter. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Historische Forschungen; Bd. 63) ISBN 3-428-08761-5

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 3-428-08761-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Vorwort Wer nach einem Leitmotiv des umfangreichen historiographischen Werkes von Eberhard Kolb Ausschau hält, wird bald in der Maxime von der Offenheit vergangenen Geschehens fündig werden. Daß der Lauf der Geschichte nicht vorprogrammiert ist, daß in der Historie auch der Zufall zu seinem Recht gelangt - diese Grundeinsicht hat Eberhard Kolb gegen jede offene oder verkappte Geschichtsteleologie gefeit. Sie hat ihn aber zugleich zu einer intensiven Beschäftigung mit zentralen Ereignissen der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts angehalten. Denn besonders an historischen Weggabelungen - den Jahren 1870/71, 1918/19 und 1932/33 - wird die Unberechenbarkeit des Geschehenen greifbar, verdichten sich Entwicklungstendenzen zu ergebnisoffenen Entscheidungssituationen. So gilt sein bevorzugtes Erkenntnisinteresse denn auch dem eigentlichen Hoheitsgebiet politischer Geschichte: den Entscheidungsprozessen und Handlungsspielräumen solcher historischer Wendemarken, die vom Historiker minutiös zu vermessen und exakt auszuleuchten sind. Kolbs Berufsskepsis gegen jede Form einer Reduzierung der Geschichte auf eine Abfolge von Zwangsläufigkeiten hat schon seine Dissertation geprägt. Gelang es ihm doch mit seinem Erstlingswerk, das scheinbar festgefügte Bild der deutschen Revolution von 1918/ 19 zu erschüttern. Seine Studie über die "Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918 bis 1919" erbrachte den Nachweis, daß die Arbeiterund Soldatenräte in der Novemberrevolution keineswegs der Etablierung einer parlamentarischen Regierungsform im Wege standen. Aus dieser Erkenntnis erwuchs die ungemein anregende Frage nach dem politischen Gestaltungspotential der Revolutionsregierung aufgrund dieser mehrheitlichen Ausrichtung der Arbeiterund Soldatenräte und nach der Chance einer stärkeren gesellschaftlichen Verankerung der noch ungefestigten Demokratie. Die davon ausgehenden Impulse haben entscheidend dazu beigetragen, daß die Geburtsstunde der Weimarer Republik in den 60er und 70er Jahren zu einem Schwerpunkt der Forschung avancierte und damit zu einem besonders intensiv durchleuchteten Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte zählt. Aber auch der Auflösungsphase der Republik schenkte Eberhard Kolb im Laufe seiner eingehenden Auseinandersetzung mit Weimar-Deutschland verstärkte Beachtung. Denn auch hier galt es, der Dignität des Politischen zu ihrem genuinen Recht zu verhelfen. In mehreren Aufsätzen schärfte er die Wahrnehmung dafür, daß die politische Entwicklung in der turbulenten Endzeit Weimars nicht unaufhaltsam auf eine Kanzlerschaft Hitlers zusteuerte, sondern daß ernsthafte Alternativen - wie etwa eine zeitweilige Verselbständigung der Exekutive bei Rückendeckung durch die Reichswehr - bereitstanden und erwogen wurden. Da er wie

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Vorwort

kaum ein zweiter den Staat von Weimar sowohl von seinen Ursprüngen als auch von seinem Ende her in den Blick genommen hat, war Eberhard Kolb auch dafür prädestiniert, mit seinem Grundriß der Geschichte zur Weimarer Republik eine beispielhafte Synthese des Forschungsstandes vorzulegen und dabei deutliche Akzente zu setzen. Er verschweigt darin nicht die strukturellen Schwächen und Defizite Weimars, legt eindrucksvoll die Problemlast dar, die dieser Staat zu tragen hatte - und dennoch: Die Weimarer Republik läßt sich nicht zu einem bloßen Durchgangsstadium vom Kaiserreich zur NS-Diktatur verkleinern. Die Unberechenbarkeit des Ereignishaften hat Eberhard Kolb nicht zuletzt am Beispiel des deutsch-französischen Krieges 1870/71 in einer Vielzahl von Aufsätzen und zwei Monographien beleuchtet. In seiner plastischen Darstellungsweise läßt er den Leser daran teilhaben, wie die militärischen Siege in einen politischen Erfolg für Preußen-Deutschland umgemünzt wurden - ein Prozeß, dem nur aus der Retrospektive der Charakter des Zwingenden anhaftet, der sich aber beim Durchgang durch die Quellen nicht zuletzt als das Werk staatsmännischer Kunst entpuppt. Indem Eberhard Kolb - ohne in eine Bismarckzentriertheit zu verfallen - den personalen Faktor in Gestalt von Bismarck in das rechte Licht rückt, eröffnet er den Blick für die gestalterischen Potenzen, die sich im außenpolitischen Entscheidungsprozeß speziell des 19. Jahrhunderts mobilisieren ließen. So sehr die Strukturen des Mächtesystems den Handlungsrahmen für Bismarck und seine Kollegen absteckten Strukturen können nicht handeln und keine Entscheidungen fällen. Eberhard Kolb hat aber nicht nur in seinen fünf Monographien und 52 Aufsätzen in der Forschungslandschaft unübersehbare Spuren hinterlassen - auch das editorische Handwerk zählt zu seinen Markenzeichen. Quellenkritische Akribie und Entdeckerfreude beim Aufspüren unbekannter Dokumente bildeten die Antriebskräfte für die Bearbeitung mehrerer zentraler Quellenwerke zur Geschichte der Weimarer Republik. In Gemeinschaftsarbeit mit Reinhard Rürup und Klaus Schönhoven entstanden so zwei voluminöse Bände zur Rätebewegung 1918/19 sowie gemeinsam mit Ludwig Richter eine umfangreiche zwei bändige Edition zur politischen Entwicklung der Deutschen Volkspartei von 1918 bis 1933. Die vorliegende Festschrift vereinigt insgesamt 23 Beiträge von Freunden, Kollegen und Schülern, die sich thematisch auf das Hauptarbeitsgebiet von Eberhard Kolb erstrecken: die deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Die wissenschaftliche Bandbreite der Autoren zeugt aber auch davon, wie sehr Eberhard Kolb in einer nicht von Polarisierungen verschonten Zunft für Integration und Dialogfähigkeit mit allen Seiten einsteht. Der Dank der Herausgeber gilt schließlich denen, die ein solches Unternehmen wie diese umfängliche Festschrift überhaupt ermöglichten: der Friedrich-EbertStiftung für ihren großzügigen Druckkostenzuschuß sowie Prof. Dr. Norbert Simon vom Verlag Duncker & Humblot für die Aufnahme der Festschrift in sein Verlagsprogramm. Wolfram Pyta Ludwig Richter

Inhalt 1. Das Deutsche Kaiserreich und der Erste Weltkrieg Jost Düljfer: Die zivile Reichsleitung und der Krieg. Erwartungen und Bilder 18901914 ................................................................................

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Leo Haupts: Die Reichsleitung und das Projekt der Friedenskonferenz der H. Internationale in Stockholm im Frühjahr und Sommer 1917. Der ungangbare Weg zum Frieden............ .... ................ .............. .... .... .... ............... ....

29

Ludwig Richter: ,,Auseinanderstrebendes Zusammenhalten". Bassermann, Stresemann und die Nationalliberale Partei im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches.. . . .. . .. . . ... .

55

Wolfgang Benz: Asyl und Meinungsfreiheit. Deutsche politische Emigration und eidgenössische Politik im Ersten Weltkrieg .... .. . . .. . . .. .. . . .. . . . .. . .. . . .. . . .. . .. . . .. . .

87

Klaus Hildebrand: Das deutsche Ostimperium 1918. Betrachtungen über eine historische ,,Augenblickserscheinung" ................................................... 109

2. Von Weimar zu Hitler Heinrich August Winkler: Die deutsche Abweichung vom Westen. Der Untergang der Weimarer Republik im Lichte der "Sonderwegs-These" ............................. 127 Gerhard Kock: Der Kampf um das Monopol. Die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft und der Schenker-Vertrag 1931 ..................................................... 139 Wolfram Pyta: Verfassungsumbau, Staatsnotstand und Querfront: Schleichers Versuche zur Fernhaltung Hitlers von der Reichskanzlerschaft August 1932 bis Januar 1933 .. 173 Hans Mommsen: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich. .. . ... . .... 199

3. Soziale Formationen und politische Repräsentation Wolfgang Schieder: Imperialismus im unfertigen Nationalstaat. Einige vergleichende Überlegungen zu Deutschland und Italien........................................... 211 Heinz-Gerhard Haupt: Bedingungsfaktoren des Kleinbürgertums in Deutschland und in Frankreich im 20. Jahrhundert ...................................................... 221

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Inhalt

Andreas Biefang: Modernität wider Willen. Bemerkungen zur Entstehung des demokratischen Wahlrechts des Kaiserreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 239 Gerhard A. Ritter: Politische Repräsentation durch Berufsstände. Konzepte und Realität in Deutschland 1871- 1933 ......................................................... 261

4. Dynastien und transnationale Eliten Rainer Hambrecht: Eine Dynastie - zwei Namen: "Haus Sachsen-Coburg und Gotha" und "Haus Windsor". Ein Beitrag zur Nationalisierung der Monarchien in Europa. .. 283 Jürgen Heideking: Pragmatismus und kontinentale Vision: Der Marshall-Plan als Anstoß zur europäischen Integration ................................................ 305

5. Zum aktuellen Standort der deutschen Geschichtswissenschaft Dieter Langewiesche: ,,Postmoderne" als Ende der "Moderne"? Überlegungen eines Historikers in einern interdisziplinären Gespräch .................................... 331 Jürgen Kocka: Die Geschichtswissenschaft nach der deutschen Vereinigung. . . . . . . . . . .. 349

6. Sozialdemokratie und Gewerkschaften in beiden deutschen Demokratien Heinrich Potthoff: Gewerkschaften und soziale Demokratie in Weimar und Bonn

359

Klaus Schönhoven: Entscheidung für die Große Koalition. Die Sozialdemokratie in der Regierungskrise im Spätherbst 1966 ................................................ 379

7. Persönlichkeiten in der Geschichte Johannes Kunisch: Feldmarschall Loudon im Gedächtnis der Nachwelt................ 401 Gerald D. Feldman: Hugo Stinnes, Gustav Stresemann, and the Politics of the DVP in the early Weimar Republic .......................................................... 421 Heribert Müller: ,,Eine gewisse angewiderte Bewunderung". Johannes Haller und der Nationalsozialismus ................................................................ 443 Lothar Gall: A man for all seasons? Herrnann losef Abs im Dritten Reich. . . . . . . . . . . . .. 483

Eberhard Kolb - Schriftenverzeichnis ............................................... 527

1. Das Deutsche Kaiserreich und der Erste Weltkrieg

Die zivile Reichsleitung und der Krieg Erwartungen und Bilder 1890 - 1914

Jost Dülffer

Im staatsrechtlichen Sinne gab es keine kaiserliche Regierung l , politisch gesehen müssen sowohl Zivilisten als auch Militärs zu ihr gezählt werden. Die Beziehungen zwischen zivilen und militärischen Aspekten meines Themas können zweifach charakterisiert werden: I. Es bestand keine klare Trennungslinie zwischen zivilen und militärischen Fragen. Leo von Caprivi war General, mehrere Diplomaten waren Offiziere gewesen, bevor sie in den diplomatischen Dienst gingen, und zumal einige Botschafter in St.Petersburg hatten zuvor als Militärbevollmächtigte fungiert. Darüber hinaus gilt, daß ziviles und militärisches Denken nicht klar getrennt waren, wie Fritz Fischer seit Jahrzehnten gezeigt hat2 . Die Militärs dachten über politische Entscheidungen und Ziele mit nach; die zivilen Politiker bezogen Erwartungen militärischer Entscheidungen und Risiken in ihre Überlegungen mit ein. Auf diese Weise gab es eine zweifache Militarisierung der Außenpolitik. Erstens: Ausgehend vom defensiven Zweibund 1879 entwickelte sie sich bis zur - allerdings nicht vollendeten - Zweiteilung von militärischen Blöcken in Europa, die 1911 / 12 vorhanden waren. Zweitens: Krisenverhalten und Krisenmanagement waren in der Diplomatie anfangs nicht von Maßnahmen direkter militärischer Vorbereitung, Mobilisierung oder unmittelbar nachfolgenden Maßnahmen der militärischen oder maritimen Aufrüstung begleitet gewesen. Dies erfolgte in stärkerem Maße erst nach 1905. Jedoch war das kaiserliche Deutschland in dieser Hinsicht bis zu den Jahren unmittelbar vor dem Krieg relativ vorsichtig. 11. Militärische und zivile Angelegenheiten waren verfassungsrechtlich streng getrennt. Kaiser Wilhelm 11. achtete mit Nachdruck darauf, daß sich Politiker nicht in seine Kommandogewalt einmischten. Das Militär bzw. die Marine besaßen daher ein Monopol, autoritativ Kriegsszenarien zu entwerfen, wozu zivile Politiker 1 Für den strukturellen Aspekt: Röhl, John C.G., Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm 11. und die deutsche Politik, München 1987, sowie ders. (Hrsg.), Der Ort Kaiser Wilhelms in der deutschen Geschichte, München 1991. 2 Fischer, Fritz, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland, Düsseldorf 1961 war der Anfang.

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Jost Dülffer

offiziell nicht berechtigt waren. Dennoch waren Reichskanzler und Außenminister in groben Zügen über die politische Konsequenz der Aufmarschpläne informiert insbesondere Bernhard von Bülow und Theobald von Bethmann Hollweg kannten den Schlieffenplan; aber sie beeinflußten diesen nicht direkt. Vor allem den Schlieffenplan von 1905 nahmen sie als gegeben hin, was mit der mentalen Verinnerlichung der gegebenen politischen Strukturen zu tun hatte. Es gab folglich keinen fundamentalen Gegensatz zwischen "Staatskunst und Kriegshandwerk" (Gerhard Ritter)3, vielmehr weist die Ähnlichkeit ihres Denkens darauf hin, daß beide Gruppen, Zivilisten und Militärs, dem gleichen Milieu angehörten, das mehr oder weniger vom kaiserlichen Hof bestimmt wurde. Dementsprechend äußerten sich Zivilisten normalerweise nicht zum Krieg als solchem. Eine gründliche und prinzipiell ähnlich gelagerte Analyse für die militärische Seite hat vor kurzem Stig Förster vorgelegt4 , so daß es reizvoll war, ergänzend und gelegentlich differenzierend die zivile Reichsleitung in den Blick zu nehmen. Deutsche Außenpolitik der wilhelminischen Ära kann grob in drei Phasen grundsätzlicher Orientierung gegliedert werden, die jeweils wichtige Folgen sowohl für die Einstellung zum Krieg als auch für die verschiedenen Kriegsbilder hatten. 1. Das Bündnissystem in der Endphase der Bismarckära war im wesentlichen europaorientiert. In ihm wurden direkte oder indirekte Beziehungen zu allen europäischen Staaten außer Frankreich gepflegt. Das machte es dem Deutschen Reich möglich, wie eine Spinne im Zentrum des Netzes alle anderen Beziehungen zu beobachten, weitgehend zu kontrollieren und zu beeinflussen. Das Ziel dabei war, den Frieden so lange wie möglich zu bewahren.

Das Bündnissystem basierte auf der Auffassung Bismarcks, daß ein zukünftiger Krieg ein Krieg der Volker sein werde 5 und deswegen nur für vitale Interessen geführt werden dürfe, die sehr eng definiert waren. Der Reichskanzler mußte diese Vorstellung gerade in seinen letzten Jahren gegen Ideen einer allzu leichten Hinnahme eines europäischen Krieges durch das Militär und einer jüngeren Genera3 Ritter, Gerhard, Staatskunst und Kriegshandwerk, Bd. 2: Die Hauptmächte Europas und das wilhelminische Reich (1890-1914), Bd. 3: Die Tragödie der Staatskunst. Bethmann Hollweg als Kriegskanzler (1914 -1917), München 1960/64. 4 Förster, Stig, Der deutsche Generalstab und die Illusion des kurzen Krieges, 1871- 1914. Metakritik eines Mythos, in: MGM 54 (1995), S. 61-96. 5 Dülffer, Jost, Bismarck und das Problem des europäischen Friedens, in: ders.lHübner, Hans (Hrsg.), Bismarck. Person - Politik - Mythos, Berlin 1993, S. 107 - 121. Hier und im folgenden verwende ich Argumente, die in folgenden Studien weiter entwickelt worden sind: Dülffer, Jost, Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 in der internationalen Politik, Frankfurt / M., Berlin 1981; ders. / Kröger, Martin / Wippich, Rolf-Harald, Vermiedene Kriege. Die Deeskalation von Großmächtekonflikten 1856-1914, München 1997. - Für die Außenpolitik der gesamten Periode: Hildebrand, Klaus, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, 1871- 1945, Stuttgart 1995, S. 1-380; Mommsen, Wolfgang J., Großmachtstellung und Weltpolitik 1870-1914. Die Außenpolitik des Deutschen Reiches, Frankfurt/M., Berlin 1993.

Die zivile Reichsleitung und der Krieg

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tion von Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes durchsetzen. Friedenssicherung mit diplomatischen Mitteln stellte den einzigen Ausweg gegenüber einem gefährlichen großen Krieg dar, den man vielleicht nicht gewinnen konnte. "Ein neuer Krieg zwischen Deutschland und Frankreich ist ja mit einem Feldzug nicht abgemacht; derjenige, der im ersten Feldzug, der im ersten Kriege geschlagen wird, wird nur darauf warten, um seine Kräfte zu sammeln, um den zweiten Krieg anzufangen ... Es handelt sich hier nicht um einen einmaligen Krieg, sondern um eine ganze Reihe von Kriegen, die vielleicht ein halbes Jahrhundert hindurch dauern,,6. 2. Die Jahre 1890 bis 1905106 zeigten Entwicklung, Verwirklichung und Versagen einer Politik der freien Hand. Demgemäß wurden die Bündnisbemühungen um Rußland und später um Großbritannien in der Annahme abgebrochen, daß Deutschland von einem Konflikt zwischen beiden, zwischen "Bär und Walfisch", profitieren könne. Es würde dann als Bündnispartner entweder in einem verschärften politischen Konflikt oder in einem Krieg benötigt. Somit ging die deutsche Politik ständig von der Vorstellung aus, daß ein Krieg zwischen den anderen Großmächten nicht nur nützlich für Deutschland sei, sondern man müsse deren Spannungen diskret bis zum Krieg hin fördern. Das traf grundsätzlich zu, galt aber zumal für eine militärische Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Großbritannien, wie Faschoda 1898 zeigte. Schließlich kam Kriegsgefahr auch in den beiden Venezuelakrisen zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten auf. Deutschland wäre es in diesen Fällen möglich gewesen, in einer angenehmen und friedlichen Hinterhandposition zu sitzen, ohne unmittelbar in einen Krieg verwikkelt zu werden. So konnte man dennoch hoffen, entscheidenden Einfluß auszuüben - entweder durch friedlichen Druck oder, in einem späteren Kriegsstadium, wenn die Kräfte der Kriegsparteien bereits erschöpft wären, mit militärischen Mitteln. "Eine Teilung der Balkanhalbinsel zwischen [Österreich, England, Rußland] ... würde ... vielleicht der Ausgangspunkt großer Kämpfe werden, was uns die Möglichkeit böte, unsere Hilfe je nach unserem Interesse teuer zu verkaufen, falls ein solcher Moment nicht schon vor der Teilung eingetreten wäre", hieß es 1895 für eine Orientkrise7 • Das Wesen von Großmachtpolitik sah man grundsätzlich darin, andere Mächte gegeneinander aufzubringen, und besonders Großbritannien, der einzigen Weltmacht des 19. Jahrhunderts, unterstellte man häufig, direkt an einem Krieg interessiert zu sein. So behauptete man etwa 1895, Lord Salisbury habe es auf einen großen Balkankrieg abgesehen, ein "Balkanbrandprojekt". Der gesamte Ansatz einer Kriegsförderungspolitik scheiterte hauptsächlich aus zwei Gründen. Zum einen zeigte die Erste Marokkokrise 1905 während des Russisch-Japanischen Krieges, daß die an6 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, 13. Januar 1887, 6. Wahlperiode, Bd. 4, 20. Sitzung, S. 407. 7 Bülow am 28. September 1895 an Eulenburg, in: Röhl, John C.G. (Hrsg.), Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz, 3 Bde, Boppard 1976 -1983, Bd. 3, Nr. 1139, S. 1551.

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Jost Dülffer

deren Mächte nicht im gewünschten Sinne von Deutschland abhängig waren. Auch die auf dem Papier vielversprechenden Möglichkeiten eines isolierten Krieges gegen Frankreich erwiesen sich als zu riskant, nicht zuletzt weil in diesem Falle eine britische Unterstützung für Frankreich befürchtet wurde. Zum anderen stellten sich die Briten mit dem Dreadnought-Sprung im Schiffsbau der deutschen Herausforderung. Die "Hinterhandposition" war damit ausgespielt. III. Die Konsequenz daraus war zunehmend die Wahrnehmung einer "Einkreisung" in den Jahren zwischen 1905, als Großbritannien Frankreich erstmals sichtbar diplomatisch gegen einen möglichen deutschen Angriff unterstützte, und 1914, dem Kriegsausbruch. Seitdem wurde Krieg nicht mehr als eine Möglichkeit allein unter anderen Staaten angesehen, sondern als eine Angelegenheit, die das Deutsche Reich von Anfang an als Hauptbeteiligten einschließen würde. Tatsächlich wurden die Bündnisse der anderen Mächte vor allem in Reaktion auf die deutsche Außenpolitik ausgebaut und bekamen darüber hinaus mehr und mehr offensichtliche militärische Bedeutung für den Kriegsfall; einige dieser Vereinbarungen waren darüber hinaus der Öffentlichkeit nicht bekannt. Wäre Krieg als eine so einfache Angelegenheit angesehen worden, hätte ihn das Deutsche Reich ,je eher, desto besser"s beginnen können, aber diese Möglichkeit war 1905 verworfen worden und kam in den folgenden Jahren in dieser Form nicht wieder auf. Tatsächlich versuchte die Berliner Diplomatie, die Ententes mit diplomatischen Mitteln aufzulösen, was bis zu einem gewissen Grade auch Kriegsdrohungen beinhaltete. Dazu gehörte ferner die uneingeschränkte Unterstützung für den Bündnispartner Österreich-Ungarn und die Bereitschaft, politischen Druck auszuüben, um ohne eigenes Zurückweichen diplomatische Erfolge zu erzielen. Dies ist der analytische Hintergrund des Verhaltens der Reichsleitung, das Wolfgang J. Momrnsen treffend als "self-fulfilling prophecy" des Krieges beschrieben hat9 . Diese Diskussion soll hier nicht wiederholt werden, jedoch verdient ein Punkt besondere Erwähnung: Es herrschte die Wahnvorstellung vor, daß sich die anderen Großmächte auf einen Krieg gegen Deutschland aktiv vorbereiteten, um ihn bei nächster Gelegenheit vom Zaun zu brechen. Es war eine seltene Einsicht, wenn Botschafter Paul Graf Wolff-Metternich 1907 mutig gegen die Annahme argumentierte, seit den letzten Jahrhunderten sei es ein grundsätzliches Bestreben Großbritanniens, Rivalen zerstören zu wollen: ,,Es gibt keine Partei oder Fraktion einer Partei in England, die 8 Nach Admiral von Müller zitierte, bekannte Aussage des Generalstabschefs Moltke vom 8. Dezember 1912, in: Görlitz, Walther (Hrsg.), Der Kaiser. Aufzeichnungen des Chefs des Marinekabinetts Admiral Georg Alexander von Müller über die Ära Wilhelms 11., Göttingen 1965, S. 125. 9 Mommsen, Wolfgang J., Der Topos vom unvermeidlichen Krieg. Außenpolitik und öffentliche Meinung im Deutschen Reich in den letzten Jahren vor 1914, in: Dülffer, Jost/Holl, Karl (Hrsg.), Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 18901914, Göttingen 1986, S. 194-224, bes. S. 218; Epkenhans, Michael, Die wilhelminische Flottenrüstung 1908 - 1914. Weltmachtstreben, industrieller Fortschritt, soziale Integration, München 1991; Storz, Dieter, Kriegsbild und Rüstung vor 1914. Europäische Landstreitkräfte vor dem Ersten Weltkrieg, Herford, Berlin, Bonn 1992.

Die zivile Reichsleitung und der Krieg

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den Krieg mit Deutschland wünscht oder darauf hinarbeitet. Trotzdem ist die Lage zwischen Deutschland und England ernst"w. Was für diese deutsche Einschätzung des maritimen Gegners zutraf, traf ebenso auch auf die Erwartung an die französische und russische Politik zu. Es ist richtig, daß für die französische Politik auch immer Revancheargumente zitiert werden können, aber diese waren für Paris längst nicht mehr bestimmend. Auch in der russischen Politik gab es tatsächlich aggressive Orientierungen unter panslawistischem Einfluß. Dennoch wollten die beiden kontinentalen Nachbarn Deutschlands, soweit ersichtlich ist, keinen großen Krieg aktiv herbeiführen. Demhingegen war es die feste Überzeugung der deutschen Diplomatie, daß diese Staaten vor einem Überfall nur durch die deutsche Stärke abgeschreckt würden. Und abgesehen von "moralischen" Faktoren mentaler Kriegsbereitschaft bedeutete dies militärische Stärke, um das militärische und maritime Gleichgewicht zu wahren oder wenigstens keine Verschlechterung zuzulassen. Den Ententemächten wurde dagegen unterstellt, ihrerseits jede militärische Möglichkeit beim Schopf ergreifen zu wollen. Genau diese Einschätzung veranlaßte auch Theobald von Bethmann Hollweg, die beiden Heeresvorlagen von 1912/1913 vorrangig aus militärischen Gründen zu unterstützen. So verkam deutsche Außenpolitik zu einem kurzatmigen Durchwursteln, um die momentane Situation taktisch zu verbessern, wenn die "Einkreisung" durch die Feinde selbst schon nicht zerstört werden konnte. Weil alle diese Versuche fehlschlugen, wandte man sich mehr und mehr potentiell gefährlichen Mitteln zu, wobei sich das Risiko erhöhte, die signalisierte Kriegsbereitschaft auch im Krieg einlösen zu müssen. In anderen Worten: Politik als Mittel, um grundsätzlich eine gefährliche Situation zu verändern, trat in der deutschen Wahrnehmung (und dann Aktion) zugunsten einer Erklärung mit überindividuellen Umständen, strukturellen Elementen oder sogar dem Schicksal zurück. Weil diese Faktoren alle nicht geändert werden konnten, mußten sie akzeptiert werden. Als letzter Faktor ist die innenpolitische Situation zu erwähnen, die eine aktivere und herausforderndere "vaterländische" Linie auf der internationalen Bühne zu fordern schien, um sozialintegrativ zu wirken. Diese Haltung gipfelte in dem Glauben, daß ein großer Krieg eine neue Gesellschaftsordnung mit größerer Stabilität schaffen könne, indem alle entgegenstehenden "pazifistischen" politischen Strömungen im Lande beseitigt würden. IV. Nachdem die Grundlinie der deutschen Außenpolitik für den gesamten Zeitraum verfolgt wurde, sollen individuelle Beispiele diese Erkenntnisse konkretisieren. Der rote Faden soll dabei das Bild eines zukünftigen großen Krieges sein, die Einschätzung seines Charakters. Die Frage nach konkreter Kriegsbereitschaft und Risikokalkül tritt dabei zurück, da dies eine herkömmliche Frage der Interpretation deutscher Außenpolitik darstellt 11. 10 Mettemich an Reichskanzler Bülow, 12. Mai 1907, in: Die Große Politik der europäischen Kabinette, Bd. 23,2, Berlin 1925, Nr. 8008, S. 377.

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Jost Dülffer

General Leo von Caprivi legte als Reichskanzler (1890 -1894) niemals die militärische Sichtweise seines erlernten Berufes ab. Dies bedeutete, daß er europäische Politik in erster Linie in der Perspektive eines zukünftigen Krieges sah, den er ironischerweise immer im nächsten Frühjahr erwartet haben soll. Aber das ist nur die halbe Wahrheit über diesen Mann, der von Michael Geyer "der wohl erfolgreichste Rüstungskanzler des Deutschen Reiches" genannt wurde 12. Indem er die Stärke der deutschen Armee an der Summe der Armeen Rußlands und Frankreichs maß, versuchte er, die in seiner Sicht potentiell kritische Situation durch eine Art Abschreckung zur Friedenssicherung zu stabilisieren - ein Ansatz, oder relativ neu für Deutschland war. Eines der ersten Dokumente in seiner Kanzlerschaft stellte ein Memorandum von Legationsrat Berchem über die Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages im Jahre 1890 dar: ,,Die Bestimmung des Zeitpunktes des europäischen Krieges der Zukunft wird durch den Vertrag demnach in Rußlands Hände gelegt, und es erscheint nach den vorliegenden Anzeichen nicht ganz unwahrscheinlich, daß Rußland, gedeckt durch Deutschland, ein Interesse hat, bald 10szuschlagen,,13. Die Absicht, den Vertrag als ein passendes Instrument unmittelbar für die Kriegführung zu nutzen, war ein deutliches Abweichen von dem europäischen Bündnissystem Dtto von Bismarcks. Das Dokument drückt darüber hinaus die Überzeugung aus, man brauche keine Sorge vor einem militärischen Bündnis zwischen Frankreich und Rußland zu haben, das dann doch zwei oder drei Jahre später Realität wurde. Darüber hinaus steht das Memorandum Berchems in Kontinuität zu Bismarcks Ansichten von einem zukünftigen Krieg der V6lker: ,,Fürst Bismarck hat wiederholt im Reichstag darauf hingewiesen, daß ein großer Krieg heutzutage nicht ohne lebhafte Begeisterung der V6lker geführt werden könne. Diese Begeisterung würde fehlen, unsere Haltung würde dem deutschen Volke unverständlich bleiben,.14, wenn es gleichzeitig Bündnisbeziehungen zu Österreich und Rußland gäbe. Im Kriegsfall wäre dann der Öffentlichkeit eine Hilfe für Österreich und damit eine Entscheidung gegen Rußland schwer verständlich zu machen. Dies wurde dementsprechend das zentrale Argument Caprivis in einigen Reichstagsdebatten der nächsten Jahre: "Ich will nicht auf die Folgen, auf die Art und Weise, wie ein solcher Krieg geführt werden würde, eingehen; das ist in einer so meisterhaften Weise vor einer Reihe von Jahren hier geschehen, als Ihnen der Aderlaß bis aufs Weiße vorgeführt wurde, daß ich dem nichts hinzuzufügen habe. 11 Dies traf vor allem auf die Fischer-Kontroverse zu. Eine gute Zusammenfassung der Literatur bietet: Hildebrand, Klaus, Deutsche Außenpolitik 1871- 1918, München 1989, S. 79 - 82, 133 - 136; ein neuer Sammelband: Schöllgen, Gregor (Hrsg.), Flucht in den Krieg?, Darmstadt 1991. 12 Geyer, Michael, Deutsche Rüstungspolitik 1860 - 1980, Frankfurt I M. 1984, S. 53; vgl. zum Rahmen: Lahme, Rainer, Deutsche Außenpolitik 1890 - 1894, Göttingen 1991. 13 Aufzeichnung Berchems, 25. März 1890, in: Die Große Politik, (wie Anm. 10), Bd. 7, Berlin 1924, Nr. 1368, S. 6. 14 Ebd., S. 9.

Die zivile Reichsleitung und der Krieg

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Das Bewußtsein aber, daß der kommende Krieg einen sehr ernsten Charakter annehmen wird, hat sich in der ganzen Welt verbreitet, und ich glaube nicht, daß es irgendeine Regierung gibt, die geneigt wäre, einen Krieg leicht herbeizuführen,d5. Dies diente als Vorsichtsmaßnahme gegen öffentliches Engagement für einen großen Krieg. Die Zeit der Kabinettskriege sei vorbei: "Seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts werden Volkskriege geführt, und es ist nicht die mindeste Frage, daß der nächste Krieg der Mitwirkung des Volkes nicht nur mit den Händen, sondern auch mit dem Herzen bedarf. Der Krieg muß aus dem Gefühl des Volkes hervorgehen,,16. Die Zustimmung des Volkes war offensichtlich notwendig für einen möglicherweise langen und sich dahinziehenden Krieg, und daher argumentierte der Reichskanzler in derselben Rede im Sinne der Kriegsverhinderung durch Abschreckung: "Es ist nicht ausgeschlossen, daß es zwischen Staaten zu einer Art von Kriegführung kommt, in der nicht geschossen wird, in der sie den Gesetzesparagraphen und die Tarifposition in der Hand haben": die Ersetzung des militärischen Krieges durch zukünftige wirtschaftliche Kriege ohne Waffenanwendung im herkömmlichen Sinne, nur durch Paragraphen und Zölle. Dies richtete sich gegen Generäle wie Alfred von Waldersee, der sich damals für einen Präventivkrieg einsetzte. Aber es war auch ein Plädoyer für eine neue politische Orientierung am Weltmarkt und an einer potentiellen Auseinandersetzung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten. Es kann nicht bestritten werden, daß in einer Unterströmung in Caprivis Denken ein traditionelles militärisches Kalkül über die technische Führbarkeit des Krieges erhalten blieb, die nicht mit seinen eigenen Wunschvorstellungen verwechselt werden sollten: "Vom Standpunkt der inneren Politik würde ein Krieg nicht unerwünscht sein, wenn er ein sehr populäres Motiv bekäme. Militärisch ist er uns jetzt so recht wie später,,17. Schon in Caprivis Kanzlerschaft fiel der Aufstieg einer jüngeren Generation von Diplomaten im Auswärtigen Amt, deren Einfluß in den folgenden Jahrzehnten durchschlagend wurde. Weder Reichskanzler Fürst Chlodwig von HohenloheSchillingsfürst (1894-1900) noch sein Staatssekretär des Auswärtigen Adolf Marschall von Bieberstein scheinen eigene elaborierte Konzeptionen für die Außenpolitik entwickelt zu haben, während Friedrich von Holstein, Philipp Graf Eulenburg und Bemhard von Bülow den inneren Kreis junger Politiker bildeten, die in engem Kontakt mit dem Kaiser einen Durchbruch zur Weltmacht suchten. Sie enthielten sich dabei zumeist Spekulationen über den Charakter eines dabei möglichen zukünftigen Krieges, weil er für Deutschland damals noch weit entfernt schien. Wichtiger war ihnen aber wohl der Rückzug auf das eigene Ressort der Diplomatie. Ob dieser Haltung bewußter Verzicht auf Einmischung in die kaiserliche Kommandosphäre zugrunde lag oder ob es nur eine Flucht in die Diplomatie im engeren Sinne darstellte, welche als solche keine Verantwortung für die 15 Caprivi am 27. November 1891 im Reichstag, in: Behnen, Michael (Hrsg.), Quellen zur deutschen Außenpolitik im Zeitalter des Imperialismus 1890-1911, Darmstadt 1977, S. 52. 16 Caprivi am 10. Dezember 1891 im Reichstag, ebd., S. 61, dort ebenso das Folgende. 17 Randbemerkungen Caprivis auf einern Telegramm Hatzfeldts, 31. Juli 1893, ebd., S. 77.

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Gesamtpolitik übernehmen wollte: Ihre Bilder vom Krieg blieben vage - selbst in ihren persönlichen Briefen. In der Tat schrieben sie oft über "die kommende Krise" und "nahe bevorstehende Gefahren" - aber dabei handelte es sich fast ausschließlich um innere Angelegenheiten wie die Stabilität der Regierung oder Extravaganzen des Kaisers, die zu Regierungssturz oder Verfassungskrise führen konnten. Gelegentlich wurde in diesem Kreis über den Krieg wie über einen Sport gesprochen. "Sie sollen etwas wegwerfend über Kr[ieg] gesprochen haben und meinen, ein frischer Kr[ieg] sei das beste", schrieb Hugo Fürst von Radolin im Jahre 1887 seinem Kollegen Paul Graf von Hatzfeldt nach Gerüchten über eine entsprechende Äußerung desselben in England l8 . "Ich finde, daß Ihre Äußerung die richtige war" - aber Königin Victoria schien sehr verärgert darüber gewesen zu sein. Dies traf ebenso auf die Möglichkeit einer "Hinterhandposition" zu: "Ob wir in oder nach einem großen allgemeinen Kriege uns etwa einen Teil der atlantischen Küste von Marokko aneignen können, das wird naturgemäß von den Machtverhältnissen abhängen, unter denen die einzelnen Mächte aus dem Kriege herauskommen", äußerte Holstein Ende 1896 19 • Das bedeutete auch, daß das Ergebnis des Krieges nicht mit Sicherheit berechnet werden konnte: "Ich möchte sagen, daß jeder Krieg, auch der unter günstigen Umständen begonnene, ein Glücksspiel ist, welches man ohne Notwendigkeit oder ohne große Ziele nicht unternehmen sollte", schrieb Holstein bei anderer Gelegenheit, als er dazu riet, den Frieden zu bewahren (11. 2. 1897)20. ,,Man weiß, wo ein Krieg anfängt, man weiß nicht, wo er aufhört" und fügte Worte über die "Grauen" hinzu, die sowohl die Kabinette als auch die ganze Welt beherrschten. "Ein großer Krieg ist wie ein Tunnel, jenseits dessen sich eine ganz neue Aussicht eröffnet'.21, und deswegen seien alle Möglichkeiten für die Zeit nach dem Heraustreten aus dem Tunnel in hohem Maße von Ambivalenz und Unsicherheit geprägt; Frieden bedeutete also einen hohen Wert. Wenn Diplomaten in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit eines Krieges erwähnten, bedienten sie sich dabei bisweilen der Kürzel historischer Metaphern. Bülow etwa entwickelte im Jahre 1892 mögliche neue Bündniskonstellationen und folgerte: "Österreich-Ungarn preiszugeben, wäre der grobe Fehler, den unsere Politik am Anfang dieses Jahrhunderts im Baseler Frieden [sic - tatsächlich 1795] und Napoleon III. zu seinem größten Schaden 1866 beging.'.22 Im Klartext: Der Verzicht auf ein österreichisches Bündnis im Frieden würde in vorhersagbarer Zukunft nicht nur zur Niederlage, sondern auch zum Sturz des gesamten Systems führen. "Ich teile Deine Ansicht, daß ein glücklicher Defensivkrieg vieles erleich18 Radolin an Hatzfeldt, 18. Februar 1897, in: Gerharg Ebel (Hrsg.), Botschafter Graf von Hatzfeldt. Nachgelassene Papiere 1838 -1901, Bd. I, Boppard 1976, Nr. 290, S. 567. 19 Ebd., Bd. 2, Nr. 696, S. 1121, Holstein am 30. Dezember 1896 an Hatzfeldt. 20 Ebd., S. IBO, Anm. 1: Holstein an Graf Münster, 11. Februar 1897. 21 Siehe Anm. 19. 22 Bülow an Eulenburg, 8. Februar 1892, in: Eulenburgs politische Korrespondenz, (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 762.

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tern würde", beurteilte Bülow die Situation im Inland23 . "Aber ein unglücklicher Offensivkrieg würde alles verderben ... Der schüchterne, einsilbige, hyperbescheidene Friedrich Wilhelm konnte Jena überdauern; unser stolzer Herr wird es nicht". Als Caprivi argumentierte, daß ein zukünftiger Krieg ein Kampf ums Dasein wäre, bediente er sich ebenso der Napoleonischen Kriege: Diesmal würden Wissenschaftler und Dichter nicht zuhause sitzen können wie es noch zur Zeit von Jena und Auerstedt möglich gewesen war. Auch ein zweites "Tilsit" diente im Jahre 1895 in einem offiziellen Dokument als Metapher. "Rußland würde dem Berliner Kabinett nach dem zweiten Tilsiter Frieden günstigere Bedingungen bieten als Österreich und Frankreich" 24 - aber das zielte auf ein Rußland ab, das sich vor seinem gegenwärtigen Bündnis mit Frankreich zu einem neuen mit Deutschland entschlossen hatte, wovon es sich bessere Chancen in einem zukünftigen Krieg versprach. Die historischen Analogien zu der Napoleonischen Ära zeigen, daß die Diplomaten sich keiner wesentlichen Änderung des Charakters des Krieges und der Kriegführung in den letzten hundert Jahren bewußt waren - nur General Caprivi stellte hier als Reichskanzler eine Ausnahme dar. Die meisten Politiker und Diplomaten hatten die Vorstellung von einem einzigen Feldzug, und dieser Feldzug würde oder müßte ein mehr oder weniger günstiges Ergebnis für Deutschland haben. Man stellte sich somit den Krieg als ein Mittel vor, positive Ziele wirklich zu erreichen - und im Sinne der deutschen Weltpolitik konnte dies besonders Territorialerwerb sein. Jedoch blieb der Ausgang des Krieges insgesamt unvorhersehbar - sowohl für andere, an diesem Krieg beteiligte Mächte, aber auch für das Deutsche Reich. Krieg konnte zur Existenzfrage werden - für andere Nationen, aber ebenso für Deutschland. Es war Eulenburg, der als alter Mann und Außenseiter auf diese Art argumentierte: "Würde wohl dann auf ein neues 1806 [= Jena] ein neues 1813 folgen?,,25 Aber das war schon 1912, nur zwei Jahre vor Kriegsbeginn, und der zu diesem Zeitpunkt verstoßene Politiker kritisierte die deutsche Weltpolitik energisch, insbesondere die maritime Aufrüstung gegen Großbritannien gerade zu der Zeit, in der ein Bündnis mit kontinentalen Partnern nicht in Aussicht stand. Dennoch nahm er paradox an, daß der Krieg unvermeidlich sei: "Also Krieg" - aber er zweifelte an seinem Ergebnis: "Glückt er - tant mieux. Dann mögen wir pour de bon Militärstaat sein, die eroberten Länder mit fester, militärischer Hand organisieren und führen. Rüsten um zu erobern. Ehrlich und rücksichtslos". Krieg als eine Katastrophe und Krieg als ein lohnendes Ziel blieben für ihn somit eng verbunden. Bernhard von Bülow war der einzige ausgebildete Diplomat unter den Reichskanzlern zwischen Bismarck und dem Ende des Reiches. In seine Kanzlerschaft fiel der Wechsel der Wahrnehmung von Freihand zu Einkreisung, und obwohl er Ebd., S. 1432 (Bülow an Eulenburg, 15. Dezember 1894). Von Holstein verfaßter Erlaß für Marschall, 15. November 1895, in: Eulenburgs politische Korrespondenz, (wie Anm. 7), Bd. 3, Nr. 1162, S. 1598, Anm. 3. 25 Aufzeichnung Eulenburgs, April, 1912, ebd., Nr. 1594, S. 2208; das nachfolgende Zitat ebd., S. 2207. 23

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wohl kein Mann war, der einem expliziten Programm folgte, verdienen seine Vorstellungen vom Charakter des Krieges besondere Betrachtung26 . In jüngeren Jahren hatte er die exaltiertesten Pläne ausgearbeitet, und aus seiner Feder stammte dann auch ein ganz erstaunliches Plädoyer aus dem Jahre 1887, in dem er riet, einen Krieg gegen Rußland zu führen, der einer Vernichtung des Zarenreiches nahe kam: Rußland sollte mindestens bis zur Wolga erobert werden. "Wir müssen eventuell dem Russen so viel Blut abzapfen, daß derselbe sich nicht erleichtert fühlt, sondern 25 Jahre außerstande ist, auf den Beinen zu stehen. Wir müßten die wirtschaftlichen Hilfsquellen Rußlands für lange hinaus durch Verwüstung seiner Schwarzerd-Gouvernements, Bombardierung seiner Küstenstädte, möglichste Zerstörung seiner Industrie und seines Handels zuschütten. Wir müßten endlich Rußland von jenen beiden Meeren, der Ostsee und dem Pontus Euxinus, abdrängen, auf denen seine Weltstellung beruht. Ich kann mir Rußland wirklich und dauernd geschwächt doch nur vorstellen nach Abtrennung deIjenigen Gebietsteile, welche westlich der Linie Onega-Bai-Waldaihöhe-Dnjepr liegen,m. Was für den damals achtunddreißig Jahre alten Mann charakteristisch erscheint, ist die vollkommene Vernachlässigung nicht nur jeglicher moralischer Aspekte, sondern auch militärischer Kapazitäten und internationaler Konstellationen in Europa. So ist es nicht verwunderlich, daß Otto von Bismarck neben den ersten Satz die Bemerkung an den Rand schrieb: "Das ist so leicht nicht" und später: "Dergl. exzentrische Konjekturen muß man nicht zu Papier bringen". Der erste Kanzler meinte offensichtlich nicht nur Kronprinz Wilhelm, der bald Monarch werden sollte, als er der Auflösung Rußlands ~idersprach, sondern auch den Mann, der sein dritter Nachfolger werden sollte. Bülows Ausführungen klangen nach Schreibtisch strategie und zeugen wohl von seiner persönlichen Eitelkeit, die auf Beifall und großartige Gesten abzielte - und dem nicht wirklich angestrebte politische Ziele zugrunde lagen. Da sich Bülow als Reichskanzler später für eine prorussische Orientierung einsetzte, ist sein früher Brief an Holstein, soweit ich sehe, ein einzigartiges Dokument für diese gesamte Periode, das eher seine Mentalität charakterisiert, als daß es ein politisch bedeutsames Dokument darstellte. Aber auch in den Jahren bis 1897, als er Staatssekretär des Auswärtigen Amtes wurde, war Bülow umtriebig in der Entwicklung von Möglichkeiten, die sich positiv als Folgen aus einem Krieg gegen andere Staaten für das Reich ergeben konnten. Bereits 1892 war er zu dem Ergebnis gekommen, daß Deutschland von einem Krieg gegen Rußland nicht profitieren könne und diese Erkenntnis blieb während seiner gesamten Karriere konstant. Freihandpolitik bedeutete hingegen, daß Deutschland sich in der entscheidenden Position befand; es könnte keine Mächte26 Die beste Beurteilung dazu von Winzen, Peter, Bülows Weltmachtkonzept. Untersuchungen zur Frühphase seiner Außenpolitik 1897 - 1901, Boppard 1977, bes. S. 25 - 36, vgl. ders., Der Krieg in Bülows Kalkül: Katastrophe der Diplomatie oder Chance zur Machtexpansion?, in: Dülffer, Jost/Holl, Karl (Hrsg.), (wie Anm. 9), S. 161- 193. 27 Bülowam 10. Dezember 1887 an Holstein, in: Rieh, Norman/Fisher, M.H. (Hrsg.), Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins, 4 Bde, Göttingen 1956-1963, Bd. 3, S. 214.

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konstellation geben, die stark genug sei, einen Weltkrieg "gegen oder selbst nur ohne Deutschland" zu führen 28 . Was in seinem Fall noch eine optimistische Prognose war, wurde fünfzehn Jahre später ein zentrales Problem aktueller Politik für Bethmann Hollweg: Jeder europäische Krieg mußte mit einiger Sicherheit das Deutsche Reich einbeziehen. Neben der überwiegenden Konzentration auf die Kriegführung zu Lande herrschte seit 1890 immer eine unterschwellige Befürchtung über die verheerenden Auswirkungen eines Seekrieges gegen Großbritannien. Dieses Land wäre im Falle eines französisch-russischen Angriffes imstande, die Flotten der Angreifer "abzurasieren" oder zuzusehen, wie Frankreich und Deutschland in einem gemeinsamen Krieg "in gewaltigem Kampfe sich verbluten lassen,,29. Im Falle eines Krieges zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien würden die Verluste so groß sein, daß die Lage nicht dadurch schlimmer würde, wenn die Siegermacht auch noch Hamburg einnehme, äußerte Tirpitz gegenüber Hohenlohe: "Mit Ausbruch eines Krieges mit England würden alle unsere Handelsschiffe verschwinden, unsere Kolonien uns genommen, unser Handel ruiniert werden,,3o. Dies wurde zu einer allgemeinen Überzeugung, und viele Politiker befürchteten sogar, daß der Seehandel auf mindestens eine Generation ruiniert würde. Daher würde ein "Weltkrieg" mit Großbritannien und Deutschland plus Rußland keinerlei Vorteile für Deutschland bringen. Was im Falle von Tirpitz der internen Propaganda für den Flottenbau diente, bildete in der allgemeinen Politik die feste Überzeugung aus, daß Großbritannien in keinem Fall jemals im Kriege zu Deutschlands Feinden zählen dürfe. Und genau dieser Glaube verschwand seit 1905. Der allgemeine Seekrieg würde eine Art totalen Krieg bedeuten, diese Frage wurde im Deutschen Reich schon 1904/07 in einer singulären Debatte an der Reichsspitze diskutiert31 . Bülow hatte schon einige Jahre früher in seiner Hammerund-Amboß-Rede 32 behauptet, das Hauptziel der Diplomatie bestünde darin, den Staat in die bestmögliche Position zu bringen, um einen Krieg zu führen. Diese Idee besagte in hohem Maße die Abdankung der Politik. Zumal Außenpolitik sich damit begnügte, zur Abschirmung von Aufrüstung zu dienen, ohne daß deren Endziel wiederum politisch definiert wäre. Diese Tendenz trieb auch Reichskanzler Bülow weiter voran, als er im Jahre 1905 detaillierte technische Vorschläge für die Heeresverstärkung machte und gleichzeitig den Militärs versprach, die Mittel zu finden, um diese Pläne durch den Reichstag zu bringen33 . 28 Bülow an Hatzfeldt, 17. Januar 1898, in: Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins, (wie Anm. 27), Bd. 4, S. 55. 29 Denkschrift Richthofens für Bülow, 3. Februar 1901, in: Behnen, Michael, (wie Anm. 15), S. 253. 30 Ebd., 24. Oktober 1898, S. 200. 31 Dülffer, Jost, Limitations on Naval Warfare and Germany's Future as a World Power. A German Debate 1904 - 1906, in: War & Society 3 (1985), S. 23 - 44; vgl. Ritter, Gerhard, (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 189 - 192. 32 Winzen, Peter, Der Krieg in Bülows Kalkül, (wie Anm. 26), S. 166. 33 Bemhard von Bülow, Denkwürdigkeiten, 4 Bde, Berlin 1930/31, Bd. 2, S. 226 - 229.

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Die Debatte um den Seekrieg in den Jahren 1904/05 hatte zwei Ursprünge: den russisch-japanischen Krieg zur See und die Vorbereitung für eine zweite Haager Konferenz. Auch in diesem Fall spielte der Reichskanzler die Rolle eines Förderers der Seeinteressen, obwohl er für einige Zeit dazu überging, seine Funktion dazu zu nutzen, um Vermittler zwischen den verschiedenen Ministerien darzustellen, besonders für Teile des Preußischen Staatsministeriums im Jahre 1907. Das Thema dabei war vor allem die Abschaffung der Kriegsbeute: Im Kriegsfallsollte auch Feindesgut auf gegnerischen Handelsschiffen frei sein. Dies bot für den Kriegsfall mit Großbritannien die Möglichkeit, die Schädigung des deutschen Handels zu verhindern. Deutschland hatte schon seit der Vorbereitung zur Haager Friedenskonferenz von 1898/99 verlangt, die Kriegsbeute abzuschaffen, und am 12. November 1904 hatte daraufhin eine erste ,,kommissarische Beratung" im Auswärtigen Amt diese Ansicht bestätigt, da sie auch in Zukunft im Interesse Deutschlands läge. Diese Haltung wurde zunächst vom Reichsmarineamt akzeptiert, dann aber stellte sich Tirpitz dagegen, weil sich die Interessen Deutschlands nun in die entgegengesetzte Richtung bewegten: Auch Deutschland könnte England dahingehend damit bedrohen, seine Handelsschiffe als Kriegsbeute zu nehmen. Nach einer siegreichen Schlacht könnte Deutschland in eine solche Situation an der Ostküste Englands gelangen 34 . Auf diese Weise war die Möglichkeit, Kriegsbeute zu machen - nach Tirpitz' Urteil- eine Garantie für den Frieden: Das Deutsche Reich war weniger anfällig gegenüber einer Blockade und dem Seebeuterecht, weil es auf neutrale Länder zählen konnte, während Großbritannien in größerem Maße von der überseeischen Versorgung abhängig war. Schließlich vertrat Tirpitz das Argument, falls Deutschland völkerrechtlich legal einen Wirtschaftskrieg gegen Großbritannien führen könne, sei dies doch eine ausgezeichnete Abschreckung für den Feind. "Werden diese Zufuhren gestört, so entsteht Teuerung, eventuell Hungersnot, Arbeiterentlassungen, Unruhen im Lande und dergleichen mehr,,35. Das Recht, Kriegsbeute machen zu dürfen "stellt auch tatsächlich während eines Krieges das wichtigste, wenn nicht einzige Mittel dar, England zum Frieden geneigt zu machen ... Die Drohung eines ganz rücksichtslosen Krieges gegen den englischen Handel wird fast das einzige Mittel bilden, die City zum Frieden geneigt zu machen ... Wenn man an das Bismarcksche Wort ,saigner a blanc' denkt, so begreift man nicht, daß dieses Mittel, durch das lediglich der Geldbeutel erleichtert wird, abgeschafft werden soll". Nach einiger Zeit fand Tirpitz damit die Zustimmung 36 des Admiralsstabes und des Gesandten der Hansestädte in Berlin, von Heyking, der dabei wohl kaum an die wirtschaftlichen Interessen der Hafenstädte gedacht hatte. Kriegsminister von Einem war der glei34 2. Dezember 1904, Bundesarchiv-Militärarchiv RM5/v. 997; für das Folgende: Bundesarchiv Potsdam, AA 36312, fol. 91. 35 Tirpitz an Bülow, 28. Februar 1907, in: Die Große Politik, (wie Anm. 10), Bd. 23,2, Nr. 8003, S. 350; das folgende Zitat ebd., S. 352. 36 Dülffer, Jost, (wie Anm. 31).

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ehen Meinung - aber hauptsächlich, um zu demonstrieren, daß militärische Solidarität der zivilen Einmischung entgegenstehen müßte. Anfangs hatte Bülow geurteilt, daß Deutschland im Fall eines isolierten Krieges mit Großbritannien hilflos sei, da England "uns durch Wegnahme unserer Kolonien und Schiffe, Vernichtung unserer Marine und unseres Handels und Lahmlegung unserer Industrie in absehbarer Zeit zu einem nachteiligen Frieden zwingen kann,,37. Drei Jahre später, im Jahre 1907, neigte er dazu, Tirpitz zuzustimmen: "Mir erscheinen die Ausführungen durchaus einleuchtend, praktisch und richtig. Die Frage ist sehr ernst". Indessen waren die meisten zivilen Reichsämter und die preußischen Ministerien dagegen. Innenministerium und Preußisches Handelsministerium argumentierten mit den deutschen Interessen an Handel und Schiffahrt. Deutsche Zufuhren konnten besser durch Rohstofflieferungen über neutrale Häfen geleistet werden. Der preußische Landwirtschaftsminister stellte fest, "daß nicht nur die Produktion von Getreide, sondern auch der Viehbestand Deutschlands in seinem gegenwärtigen Bestande den Anforderungen des Kriegsfalls nicht auf Dauer gewachsen sein wird,,38, und weil die deutsche Bevölkerung zunahm, würde dieses Problem in den nächsten Jahren noch größer werden. Hier wurde eindeutig ein längerer Krieg vorausgesehen, und in Ausschüssen führten Experten ausgiebige Beratungen, in denen sie zu dem Schluß kamen, daß "eine Versorgung Deutschlands aus den vorhandenen Vorräten und der eigenen Produktion auf ungefähr neun Monate gesichert sein [würde]". Jedoch legte sich niemand ausdrücklich fest, ob der Krieg in der Zwischenzeit mutmaßlich gewonnen oder verloren würde. Alle diese Annahmen entsprachen nicht einem Szenario für einen kurzen Krieg. Daher war es notwendig, für eine Versorgung des Reiches auf lange Zeit zu sorgen. Aus dieser Ansicht läßt sich eine zweite Folge für die Außenpolitik ableiten: Neutrale Länder sollten im Kriegsfall eine Art Luftröhre bilden39 . 1910 sprach Moltke die berühmte Empfehlung aus, eine Politik zu verfolgen, die darauf abzielte, die Niederlande neutral zu halten - spätestens seit diesem Zeitpunkt eignete sich die Diplomatie eine zusätzliche Rolle an, indem sie sich in diesem speziellen Fall auf einen langen Krieg vorbereitete, wie es zuvor im allgemeinen bereits Bülows Idee gewesen war. Zwei Folgen der wirtschaftlichen Kriegführung wurden in der inter37 Bülow an Holstein, 15. Dezember 1904, in: Die geheimen Papiere, (wie Anm. 27), Bd. 4, S. 287 f. 38 Bundesarchiv Potsdam, AA 36312, 9. November 1906; vgl. die Konferenz im Auswärtigen Amt am 6. Juli 1906, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn, AAa 37, Nr. 5, Bd.2. 39 Ritter, Gerhard, (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 190; vgl. Förster, Stig, (wie Anm. 4). Erste Ideen einer niederländischen Neutralität: Aktenvermerk des Admiralstabs vom 5. Mai 1906, Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, RM5/ v. 997; dazu: Frey, Mare, Spielball der Mächte. Die Niederlande im politischen und wirtschaftlichen Kalkül Deutschlands, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten in der Zeit des Ersten Weltkrieges, Diss. Köln 1995.

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nen deutschen Debatte gegeneinander abgewogen: Bestand für Deutschland die Möglichkeit, einen längeren Krieg besser zu überstehen, indem das Recht auf Kriegsbeute abgeschafft wurde, oder hatte Tirpitz recht, wenn er sich dafür aussprach, einen totalen wirtschaftlichen Krieg gegen Großbritannien zu führen und somit einen Abschreckungseffekt im Frieden zu erreichen? Ergänzend äußerte der Admiral die feste Überzeugung, daß Großbritannien im Kriege niemals wirklich der Abschaffung der Kriegsbeute zustimmen würde, und in einer anderen Situation pflichtete Bülow ihm bei: "Alle internationalen Verpflichtungen [binden] für den Ernstfall eines großen Krieges doch nur bis zu einem gewissen Grade ... Das Klügste bleibt immer: im Frieden kein Mißtrauen erwecken, im Kriege rücksichtslos vorzugehen,,4o. Zwei neue Gesichtspunkte charakterisieren demnach die innenpolitische Debatte in Deutschland in den Jahren 1906/07: Radikalisierung der Kriegführung und ein Krieg gegen alle feindlichen Ressourcen in einem langen Krieg. Man erwartete oder befürchtete zumindest in der Tat einen totalen Krieg und schätzte ihn bei rationaler Betrachtung als eine Angelegenheit von langer Dauer ein. Jedoch resultierte hieraus tatsächlich keine Vorbereitung im Innern für einen solchen Krieg, wie Lothar Burchardt vor langer Zeit gezeigt hat41 . Es war die Abdankung der Politik, die Bülow bereits im Jahre 1908 akzeptierte: "Die Grundursachen der uns umgebenden politischen Gefahren können wir nicht beseitigen, ohne uns selbst aUfzugeben,,42. Obwohl dies hier nur durch Deutschlands Wirtschaftswachstum seit 1870 begründet wird, sahen andere wie z. B. Holstein bereits im Jahre 1906 die Ursache in der Schlachtflotte 43 . Diese bildete für ihn kein gleichsam existentielles Element deutscher Politik. Dennoch erwies sich die Flotte wie alle anderen Faktoren, mit denen die Deutschen die Staatengesellschaft herausforderten, in der Definition der Reichsleitung als "essentials", die nicht aufgegeben werden durften. Das blieb so bis 1914. In diesem Kontext muß auch der berühmte Neujahrsbrief Kaiser Wilhelms 11. an Bülow gesehen werden, in dem er vor den Gefahren eines sofortigen Krieges warnte: "Erst die Sozialisten abschießen, köpfen und unschädlich machen ... und dann Krieg nach außen! Aber nicht vorher und nicht a tempo,,44. Hier wurde die Quadratur des Kreises versucht. Soziale Stabilisierung durch Bürgerkrieg gegen die Sozialdemokratie und ihre Anhänger stellte sich als eine Voraussetzung für einen äußeren Krieg in Europa dar - und solch ein Bürger-

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Bundesarchiv Potsdam, AA 36321, Randbemerkung vom 22. Juli 1907.

41 Burchardt, Lothar, Friedenswirtschaft und Kriegsvorsorge. Deutschlands wirtschaftliche

Rüstungsbestrebungen vor 1914, Boppard 1968. 42 Die Große Politik der europäischen Kabinette, (wie Anm. 10), Bd. 25, 2, Nr. 8820 (25. Juni 1908), S. 476. 43 Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins, (wie Anm. 27), Bd. 4, Nr. 1006 (20. November 1906). 44 Kaiser Wilhelm 11. am 31. Dezember 1905 an Bülow, in: Be\lnen, Michael, (wie Anm. 15), S. 358.

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krieg war außerhalb jeder ernsthaften Überlegung. Wilhelms Ausbruch mit dem Ziel, neue politische Optionen zu erlangen, war selbstverständlich weder realistisch noch durchführbar, aber er macht deutlich, welche zunehmend pathologischen Optionen in der deutschen Politik dennoch diskutiert wurden. Wenn man den Krieg vermeiden wollte, existierten in den Augen der Reichsleitung nur sehr beschränkte Möglichkeiten. Aber auch wenn sie den Krieg fördern wollten, gab es ebenso nur begrenzte Aussichten auf eine günstige Konstellation. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg (1909-1917) war noch als preußischer Innenminister 1907 an der Debatte um die Kriegsbeute beteiligt gewesen45 . Er stimmte mit den Vertretern des Innenministeriums und des Auswärtigen Amtes für die Abschaffung der Kriegsbeute, weil sie Deutschland größere Vorteile für den eigenen Handel bringen würde als Nachteile für Großbritannien. Noch stärker als sein Amtsvorgänger war er davon überzeugt, daß die grundsätzliche Orientierung der Politik nicht geändert werden könne. "Dieser Übergang der Macht von den Persönlichkeiten auf die Verhältnisse, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der formellen Machtträger ist nun freilich in den einzelnen Ländern eine ganz verschiedene", schrieb Bethmanns Vetrauter Kurt Riezler 1913 in seinen "Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart,,46. Obwohl er Deutschland in diesem Zusammenhang nicht erwähnte, war er offensichtlich der Ansicht, daß genau dies für die eigene Politik zutraf. "Wir allein sind nicht Herr darüber, ob sich unsere Zukunft friedlich oder bedrohlich gestalten wird", rief Bethmann am 7. April 1913 im Reichstag aus47 , und unterstrich dennoch gegen mächtige Strömungen, daß Deutschlands naiver Glaube an die Gewalt problematisch sei: Wir Deutschen "wissen noch nicht, daß, was die Gewalt erwirbt, die Gewalt allein niemals erhalten kann,,48. Andererseits galt, um noch einmal Riezler anzuführen: "Weltpolitik indes muß getrieben werden. Die wirtschaftliche Expansion und der Lebenswille des Volkes drängen hinaus" - und deshalb mußte Deutschland seine europäische Basis so stark wie möglich halten, um gegen alle "möglichen Konfigurationen" gerüstet zu sein. Bethmann war in seinem Urteil nicht immer konsequent, er trat verschiedenen Personen mit verschiedenen Haltungen gegenüber. Als er im Reichstag von einem "Endkampf zwischen Slawen und Germanen" sprach49, bereute er diese Worte später. Andererseits nahm er viele Möglichkeiten wahr, für patriotische Werte einzutreten und setzte sich immer für verstärkte Rüstungen ein - so auch in den beiden 45

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Brief Bethmann Hollwegs vom 23. Mai 1907, Bundesarchiv Koblenz, R 43 F, fol. 143/

46 Ruedoerffer, IJ. [d.i. Riezler, Kurt], Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart, Stuttgart, Berlin 1914, S. 241. 47 Stenographische Berichte, Bd. 289, 7. April 1913, S. 4515C. 48 Bethmann am 21. Juni 1913, zitiert in Ruedorffer, J.J., (wie Anm. 46), S. 251; für das folgende: ebd., S. 106. 49 Stenographische Berichte, 7. April 1913, S. 4515 A-D.

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Heeresvorlagen von 1912/13. Er bediente sich in der Politik eines vorsichtigeren Vorgehens, versuchte mehr Kompromisse mit den anderen großen Mächten einzugehen als sein Vorgänger, und doch blieben seine Bemühungen in den großen Fragen erfolglos. Er fühlte sich zunehmend veranlaßt, Kriegsrisiken einzugehen und Erfolge zu bieten, welche die Regierung dringend benötigte, um die Unterstützung der Öffentlichkeit aufrecht zu erhalten. Erfolge waren überdies auch erforderlich, da chauvinistische Teile der öffentlichen Meinung im Inland nicht länger kontrolliert werden konnten. Ihre vehemente Oppositionso wurde nicht nur für seine eigene Position als Kanzler gefährlich, sondern auch für die Grundlage der monarchischen Ordnung selbst. "Wird ein Krieg aufgenötigt, so werden wir ihn schlagen und mit Gottes Hilfe nicht dabei untergehen", schrieb er in einem - dann abgelehnten - Rücktrittsgesuch am 6. März 1912s1 . Gleichzeitig warnte er jedoch davor, solch einen Krieg absichtlich zu beginnen. In ähnlicher Weise wie Caprivi hatte er den Mut, öffentlich die katastrophalen Folgen eines modemen Krieges anzusprechen; wie er wollte auch Bethmann mit seinen Warnungen vor einem "Kampf ums Dasein" den Krieg verhindern: "Von den Dimensionen eines Weltbrandes, von dem Elend und der Zerstörung, die er über Völker bringen würde, kann sich kein Mensch eine Vorstellung machen. Alle Kriege der Vergangenheit werden wahrscheinlich ein Kinderspiel dagegen sein. Kein verantwortlicher Staatsmann wird gesonnen sein, leichtfertig die Lunte an das Pulver zu legen"s2. Dies ist nur eine seiner oft zitierten Charakterisierungen der Schrecken des Krieges. Nur in dieser Hinsicht konnte er zu Recht behaupten, sich Bismarcks letzten Einschätzungen des grauenhaften Charakters eines modernen Krieges aus den Jahren 1887/88 anzuschließen. Er war nicht sehr zuversichtlich, daß man siegen würde; aber er akzeptierte, daß man entsprechend dem Schlieffenplan nur einen kurzen Krieg plante. Schon in der Julikrise 1914 war dieser seiner Überzeugung nach ein "Sprung ins Dunkle und ... schwerste Pflicht"s3. Sicherlich sprach auch Bethmann wie Caprivi gelegentlich vom Krieg als einem Mittel zur Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, und besonders in den ersten Kriegsjahren freute ihn die siegesgewisse Stimmung in der Öffentlichkeit, die er doch vor dem Krieg immer gefürchtet hatte. Dies kann jedoch nicht als Beweis dafür angesehen werden, daß er vorsätzlich einen Krieg plante. In Wirklichkeit akzeptierte er das wachsende Kriegsrisiko für sich selbst und verfolgte einen Kriegskurs, weil er angesichts seiner sozialdarwinistischen Sichtweise der Weltpolitik und Deutschlands Stellung in ihr keinen Aus50 Chickering, Roger, We Men Who Feel Most German. A Cultural Study of the Pan-German League, 1886-1914, Boston u. a. 1984; Coetzee, Marilyn Shevin, The Gerrnan Arrny League. Popular Nationalism in Wilhelmine Gerrnany, New York, Oxford 1990. 51 Zitiert nach Ritter, Gerhard, (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 234. 52 Stenographische Berichte, 7. April 1913, S. 4513. 53 Kurt Riezler, Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, hrsg. von Erdmann, Karl Dietrich, Göttingen 1972,514 (14. Juli), S. 185.

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weg sah. Um noch einmal seine Reichstagsrede vom 7. April 1913 zu zitieren: "Die Chancen eines Zukunftskrieges, in dem Millionenheere, ausgerüstet mit den modernsten Waffen, gegeneinander geführt werden, sind jetzt noch schwerer vorauszusehen als früher. Aber eins wird wahr bleiben: Sieger ist, solange die Welt steht, immer nur das Volk geblieben, das sich in den Stand gesetzt hat, mit dem letzten Mann einzustehen, wenn die ehernen Würfel um sein Schicksal geworfen werden, das mit der ganzen Wucht des Volkstums dem Feinde die Stirne bietet,,54. Wie deckt sich dies mit Bethmanns Erkenntnis der existentiellen Gefahren eines großen Krieges für das eigene Volk? Es ist ein Gegensatz, den er nie überbrücken konnte; es handelt sich hier um ein strukturelles Defizit in Bethmann Hollwegs Denken und Handeln, das aber auch bei anderen zu verzeichnen ist. Vernichtungskriege, Existenzkriege, Weltbrand, Kampf um Leben und Tod und viele andere Begriffe deuteten die Überzeugung an, daß ein allgemeiner Krieg in jedem Fall katastrophal sein mußte - sowohl bei einer Niederlage als auch im Falle eines Sieges für Deutschland. Wie sicher dieser eintreten würde, war allerdings den meisten Politikern nicht ganz klar. Aber bei allen oberflächlichen Bekenntnissen zur Kriegsbereitschaft gab es eine tiefergehende Tendenz in ihrem Denken, daß Krieg mehr oder minder größeren Umfangs ein schlimmes Unheil oder sogar eine Katastrophe bedeuten konnte. Das Militär konnte keine Vorsorge für die befürchtete große Katastrophe bieten. Es plante für einen Zweifrontenkrieg auf dem Kontinent, der mit immer größerer Wahrscheinlichkeit Großbritannien als eine weitere feindliche Macht einbezog. Aber ein kurzer kontinentaler Krieg war der einzige Fall, der mit den deutschen Ressourcen und in den gegebenen sozialen Strukturen vorbereitet werden konnte. Der mögliche oder sogar wahrscheinliche lange Krieg kollidierte mit den internen militärischen Planungen, die dennoch wie selbstverständlich weiter betrieben wurden. Das Militär plante nur einen kurzen und hoffentlich siegreichen Krieg, obwohl ein langer Krieg mit mutmaßlich negativem Ausgang dagegen mindestens genauso wahrscheinlich war. Die politische Reichsleitung nahm den noch realisierbaren, nicht aber den wahrscheinlichsten Verlauf der Ereignisse als gegeben hin. Das könnte man Schicksalsglauben nennen, wie es Bethmann tat, aber es bedeutete auch, von der Verantwortung zurückzuscheuen, die Zukunft politisch zu gestalten. Die Gründe für diesen Verzicht auf verantwortungsvolle Politik sind vielfältig. Sie beruhen auf den politischen Strukturen der Reiches und einem blockierten Entscheidungsprozeß. Das reichte von der Vetoposition Kaiser Wilhelms über die Divergenzen der politischen Zusammensetzung des Reichstags und der deutschen Bundesstaaten, besonders Preußen, bis zu außerparlamentarischen nationalisti54 Stenographische Berichte, S. 4514 C; vgl. meine Einleitung zu: Theobald von Bethmann Hollweg, Betrachtungen zum Weltkrieg, Essen 1989, S. 1 - 38; die neueste Literatur dazu bei: Jarausch, Konrad, German History - Bethmann Hollweg Revisited, in: Central European History 21 (1988), S. 224 - 243; Wollstein, Günter, Theobald von Bethmann Hollweg. Letzter Erbe Bismarcks, erstes Opfer der Dolchstoßlegende, Göttingen, Zürich 1995.

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schen Pressure groups, die nicht nur in Deutschland zu finden waren. Wichtiger indessen war ein Klimawechsel, eine Mentalität in Richtung auf eine radikalere Politik. Diese betraf weite Kreise, die eine aus subjektiver Sicht defensive Haltung deutscher Politik betonten, um als Konsequenz daraus eine aggressive Politik zu betreiben. In dieser Hinsicht ist die Entwicklung von Bismarck zu Bethmann Hollweg charakteristisch: Beide hatten ein ähnliches Bild von den Gefahren eines allgemeinen Krieges, aber sie zogen verschiedene Schlüsse daraus und leiteten andere politische Strategien daraus ab. Während Bismarck entschlossen war, der Entwicklung zu wehren, fügte sich Bethmann ein. Bedeutender war der Aufstieg eines radikalen und militanten Nationalismus im Deutschen Reich, der hier in verhängnisvoller Weise die Reichspolitik unter Druck setzte, die ihrerseits gegenüber den eigenen klareren Einsichten in Fatalismus abzudanken bereit war.

Die Reichsleitung und das Projekt der Friedenskonferenz der 11. Internationale in Stockholm im Frühjahr und Sommer 1917 Der ungangbare Weg zum Frieden

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Während die Kriegsziele des kaiserlichen Deutschland und deren Entwicklung im Verlaufe des Krieges nach den bahnbrechenden und provozierenden Studien Fritz Fischers intensiv untersucht und kontrovers diskutiertl und auch die Friedensanknüpfungsversuche im Kriege immer wieder beschrieben wurden 2 , blieb die Haltung der deutschen Politik zu der - allerdings infolge der Entwicklung des Konferenzprojektes und deren Ursachen - im Krieg nicht zu einem Entscheidungsfaktor werdenden Konferenz der II. Internationale relativ wenig beachtet3 . Dabei kristallisieren sich um die Möglichkeit einer Konferenz der sozialistischen Parteien der kriegführenden Staaten und der Neutralen Probleme heraus, die einerseits für eine aktuelle Friedensanbahnung während des Krieges und schließlich für den Frieden am Ende des Krieges elementare Bedeutung gewinnen sollten und die andererseits die prekäre Lage in den Staaten bei der Weiterführung des Krieges beI Fischer, Fritz, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/ 18, Düsseldorf 1961, zit. nach der Sonderausgabe, Düsseldorf 1977; zuletzt: Soutou, Georges-Henri, Die Kriegsziele des Deutschen Reiches, Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten während des Ersten Weltkrieges: Ein Vergleich, in: Michalka, Wolfgang (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 28 - 53. Die sog. Fischerkontroverse und deren Verarbeitung stellt dar: Thoß, Bruno, Der Erste Weltkrieg als Ereignis und Erlebnis. Paradigmenwechsel in der westdeutschen Weltkriegsforschung seit der Fischer-Kontroverse, in: Michalka, Wolfgang (Hrsg.), ebd., S. 10121043. 2 Wichtige Arbeiten über Friedensanknüpfungen von Steglich, Wolfgang, Die Friedenspolitik der Mittelmächte 1917/18, Wiesbaden 1964; ders., Der Friedensappell Papst Benedikts Xv. vom 1. August 1917, Wiesbaden 1970; ders., Die Friedensversuche der kriegführenden Mächte im Sommer und Herbst 1917. Quellenkritische Untersuchungen, Akten und Vemehmungsprotokolle, Wiesbaden 1984; Quellenveröffentlichung: Scherer, Andre / Grunewald, Jacques (Hrsg.), L' Allemagne et les problemes de la paix pendant la premiere Guerre Mondiale, H, Paris 1966. 3 Erst jüngst hat Gottfried Niethart die Auswirkung der hier zu Tage getretenen Unversöhnlichkeit der Sozialisten für den Frieden nach 1919 betont, Niethart, Gottfried, Kriegsende und Friedensordnung, in: Michalka, Wolfgang (Hrsg.), (wie Anm. 1), S. 181.

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stimmten. Außerdem regt das Konferenzprojekt der Sozialisten in Stockholm im Zusammenhang mit den Friedensbemühungen des Reichskanzlers Bethmann Hollweg 4 Überlegungen zu einer möglichen alternativen Entwicklung am Ende des Krieges an. Die Bestrebungen zur Einberufung einer Konferenz der 11. Internationale in Stockholm zur Herbeiführung eines allgemeinen Friedens stellen unter den vielen Friedensbemühungen im Kriege einen Sonderfall dar. Neben den Schwierigkeiten eines zwischen Staaten nach einem Krieg der Großmächte5 zu schließenden Friedens und der Problematik, im Kriege, dessen Ergebnis die kriegführenden Parteien noch für offen halten, zu einer Friedensanbahnung zu kommen, zeigt sich hier die Möglichkeit einer sozialen Revolution, die die gesamte bisherige Staatenwelt aus den Angeln heben könnte. Am Ende des Weltkrieges tritt dann für alle Staaten neben die Frage der Gewinnung eines einträglichen Friedens bzw. der Behauptung einer wenn auch geschwächten Machtposition das Bestreben, die Revolution, die sich zunächst in Rußland noch ungefestigt durchgesetzt hat und die sich andererseits als ein erster Schritt zur Weltrevolution propagandistisch darstellt, zu verhindern oder einzudämmen6 • I. Zu Beginn des Jahres 1917 befand sich das deutsche Kaiserreich - wie im übrigen die meisten der kriegführenden Mächte - am Rande innerer und militärischer Erschöpfung. Die Vorstellung des Sieges heftete sich mehr und mehr an Illusionen (U-Bootkrieg), eine ernsthafte Möglichkeit der Kriegsbeendigung über Verhandlungen war nicht in Sicht, der Durchhaltewille der Massen konnte nur mühsam aufrecht erhalten werden, innere Reformen, Demokratisierung und Parlamentarisierung erschienen zwingend notwendig, ohne daß sie sich bei der autokratischen Struktur Preußens und des Reiches durchsetzen ließen noch von den Führungsschichten ernsthaft gewollt wurden 7 •

In diese Lage kam relativ unerwartet die Nachricht vom Ausbruch der Februarrevolution in Rußland - überraschend für die bei strenger Zensur unvorbereitete deutsche Öffentlichkeit, aber auch für die politische und militärische Füh4 Dülffer, Jost (Hrsg.), Bethmann Hollweg. Betrachtungen zum Weltkriege, Essen 1989 (mit Einleitung und Dokumentenanhang); Ritter, Gerhard, Staatskunst und Kriegshandwerk, Bd. 3: Die Tragödie der Staatskunst, Bethmann Hollweg als Kriegskanzler (1914 - 1917), München 1964, S. 482 ff.; Fischer, Fritz, (wie Anm. 1), S. 269 f.; J arausch, Konrad H., Bethmann Hollweg and the Hubris of Imperial Germany, New Haven/London 1973; zuletzt: Wollstein, Günter, Theobald von Bethmann Hollweg. Letzter Erbe Bismarcks, erstes Opfer der Dolchstoßlegende, Göttingen 1995. 5 Das hat vor allem Eberhard Kolb für den Abschluß des deutsch-französischen Krieges herausgearbeitet: Kolb, Eberhard, Der Weg aus dem Krieg. Bismarcks Politik im Krieg und die Friedensanbahnung 1870171, München 1990, S. 364; ders., Der schwierige Weg zum Frieden. Das Problem der Kriegsbeendigung 1870171, in: HZ 241 (1985), S. 51-79. 6 Immer noch grundlegend: Mayer, Arnold 1., Politics and Diplomacy of Peacemaking. Containment and Counterrevolution 1918-1919, London 1967; ferner: Maier, Charles, Recasting Bourgeouis Europe. Stabilization in France, Germany and Italy in the Decade after World War I, Princeton 1974. 7 Kielmansegg, Peter Graf, Deutschland und der Erste Weltkrieg, Frankfurt 21980, S. 442465.

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rung, die bisher mit wenig Erfolg an der Revolutionierung Rußlands gearbeitet hatte s. Das erste Signal eines kommenden Zusammenbruchs einer der führenden imperialistischen Mächte gab auf nationaler wie auf internationaler Ebene deutliche Anstöße. Die Auswirkungen der Entwicklung in Rußland blieben zunächst unklar. Wird Rußland aus dem Krieg ausscheiden? Gibt es die Möglichkeit, mit Rußland zu einem Separatfrieden zu kommen? Kann man nach einer Waffenruhe Truppen an die Westfront verlagern, um einen entscheidenden Durchbruch zu erzielen? Werden sich gegenüber einem zum Frieden gezwungenen Rußland die Ostpläne realisieren lassen oder wird ein Frieden mit Rußland die Möglichkeit zu einem allgemeinen Frieden bieten? Zunächst mußte sich die Reichsleitung mit dem Problem einer möglichen revolutionären Entwicklung im eigenen Land auseinandersetzen. Obgleich die Zensurstellen die Verbreitung von Nachrichten aus Rußland und Stellungnahmen zur Revolution verhindern wollten, eine Maßnahme, die die politische Reichsleitung als Unterdrückungsmaßnahme für unklug hielt, beschäftigten die Ereignisse in Rußland die deutsche Öffentlichkeit recht lebhaft9 . Generalleutnant Wild von Hohenborn, der preußische Kriegsminister, charakterisierte die innenpolitischen Rückwirkungen der russischen Revolution am 8. 5. 1917: "Es ist in jeder Hinsicht der Wendepunkt der Geschichte Deutschlands" 10. Der Kaiser, von der Obersten Heeresleitung (OHL) entsprechend beeinflußt, befürchtete sogleich Rückwirkungen auf den monarchischen Gedanken und bremste die mit der sog. "Neuorientierung" angestrebte innere Reform 11. Mit dem russischen Zarismus 12 war das autokratische System in Europa zusammengebrochen, mit dem man bislang die Entscheidung zum Krieg als eines Verteidigungskrieges gerechtfertigt hatte. Zudem war die Notwendigkeit demokratischer Reformen im Reich und in Preußen in ein noch dringlicheres Licht gerückt, der Zug zu Parlamentarismus und Demokratie schien allgemein. In der Tat war man sehr in der Klemme, "wenn die Entente öffentlich erklärt(e) mit dem deutschen Volk verhandeln zu wollen, nicht aber mit den Hohenzollern,,13. 8 Zechlin, Egmont, Friedensbestrebungen und Revolutionsversuche. Deutsche Bemühungen zur Ausschaltung Rußlands im Ersten Weltkrieg, in: "Aus Politik und Zeitgeschichte". Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", 1961 Nr. 20,24,25 (1961); Nr. 20, 22 (1963). 9 Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914-1918, bearb. von Deist, Wilhelm, Zwei Teile, Düsseldorf 1970, S. 686f.; Auseinandersetzungen zwischen den militärischen Stellen und der politischen Reichsleitung über Presseveröffentlichungen zur russischen Revolution: ebd., S. 690, S. 693, S. 691 f, S. 705, S. 715, S. 722. 10 Ebd., S. 746. 11 Legationsrat Grünau an Reichskanzler am 27.3., in: ebd., S. 689f. Als Anstifter sah er England. Ähnliche Argumentation in einem Schreiben des Chefs des Generalstabs an den preußischen Kriegsminister am 12.4., in: ebd., S. 711. Solche Hinweise mußten den Reichskanzler in besonderer Weise unter Druck setzen, da er im Kaiser zunehmend die letztlich entscheidende Stütze seiner Politik sah. 12 Zar Nikolaus II. war am 15. 3. 1917 zurückgetreten. England verweigerte ihm Asyl. 13 Erdmann, Karl Dietrich (Hrsg.), Kurt Riezler. Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, Göttingen 1972, S. 427: 13.4.1917.

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Aber während Präsident Wilson 14 den Sieg der demokratischen Revolution in Rußland für den Kriegseintritt der USA ideologisch zum Kreuzzug gegen die deutsche Autokratie politisch nutzen konnte, es den Ententemächten auch zunächst gelang, Rußland mit diesen ideologischen Vorgaben und massiven materiellen Unterstützungen im Krieg zu halten, wirkten sich die russischen Vorgänge für Deutschland negativ aus, wenn sie auch die Hoffnung auf ein baldiges Ausscheiden Rußlands aus dem Machtringen und eine dadurch mögliche siegreiche Beendigung des Krieges weckte. Im Frühjahr und Sommer 1917 trat noch keine entscheidende Wende ein. Die Februarrevolution in Rußland brachte keine Entscheidung. Der angestrebte Separatfrieden war vorerst nicht in Sicht. Auch das in Rußland erwartete und von der OHL im Einverständnis mit der politischen Reichsleitung u. a. im April durch den Transport russischer Revolutionäre (an erster Stelle Lenins) aus der Schweiz nach Petersburg geförderte Chaos trat vorerst nicht ein. Die zeitweilige tatsächliche Waffenruhe an der russischen Front brachte kaum Entlastung, sie wurde vielmehr durch die Brussilow-Offensive abgelöst. Erst mit der Oktoberrevolution setzten sich in Rußland die Bolschewiki unter der Führung Lenins mit einer zunächst noch ungefestigten Macht durch. Sie hatten schon seit 1914 den Krieg konsequent abgelehnt, seine Greuel vorhergesagt und seine Wurzeln im Imperialismus, in kapitalistischen Monopolen und in der internationalen Bourgeoisie gesehen l5 . Eine Wende der militärischen Lage zugunsten Deutschlands war aus dem Gesichtspunkt der Landkriegsführung nicht in Sicht, und zu allem Überfiuß wurde immer deutlicher, daß der mit großen Erwartungen begonnene uneingeschränkte U-Bootkrieg keine schnelle Wende herbeiführen werde. Trotzdem kamen Spekulationen auf eine baldige Friedenswilligkeit Englands immer wieder aufl6 . Es gab die Friedensresolution des deutschen Reichstages vom 19. Juli 1917 mit dem Vorschlag eines Verständigungsfriedens 17 . Andererseits 14 Kongreßbotschaft 2. 4.1917: "Befreiung aller Völker einschließlich des deutschen" und "Die Welt muß für die Demokratie sicher gemacht werden". Kriegseintritt der USA am 6. 4. 1917. 15 Resolution eingebracht von Rosa Luxemburg und Lenin auf dem Internationalen Sozialistenkongreß in Stuttgart 1907: "Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen", zit. nach Boll, Friedhelm, Frieden ohne Revolution? Friedensstrategien der deutschen Sozialdemokratie vom Erfurter Programm 1891 bis zur Revolution 1918, Bonn 1980, S. 206. 16 Die Überlegungen gingen davon aus, daß England, durch den U-Bootkrieg geschwächt, selbst ein Interesse daran haben mußte, den Krieg zu beenden, bevor die USA die Entscheidung herbeiführten, vgl. einen entsprechenden Bericht Leisners an das Auswärtige Amt, 5. 5. 1917, in: Deist, Wilhelm, (wie Anm. 9), S. 744ff. Die Überlegung wurde durch von Kühlmann wieder aufgegriffen. 17 Oppeland, Torsten, Reichstag und Außenpolitik im Ersten Weltkrieg. Die deutschen Parteien und die Politik der USA 1914 - 1918, Düsseldorf 1995; wenig überzeugend: Ribhegge, Wilhelm, Frieden für Europa. Die Politik der deutschen Reichstagsmehrheit 1917/ 18,

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bemühte sich der Reichskanzler, neue Wege der Friedensanbahnung zu finden. Am 26. Juni empfing der Reichskanzler den Päpstlichen Nuntius Pacelli in München, nachdem dieser zuvor das Große Hauptquartier aufgesucht hatte (24. - 25. Juni)18. Das gemeinsame Motiv zu einer Friedensaktion, die als Vennittlungsversuch Papst Benedikts am 1. August an die Öffentlichkeit trat, war deutlich. Die Sache des Friedens sollte nicht allein dem Sozialismus überlassen werden 19. Von der Entwicklung in Rußland angeregt, bemühte sich nämlich u. a. das Sekretariat des Internationalen Sozialistischen Büros, eine Konferenz der 11. Internationale einzuberufen, um die Frage des allgemeinen Friedens zu fördern. Die Internationale war bei Kriegsausbruch zerbrochen, und - ähnlich wie in den anderen Staaten - hatten sich in Deutschland die Sozialisten entgegen den Antikriegsschwüren der Vorkriegszeit hinter die nationale Regierung geschart. Die Sozialisten beugten sich in ihrer Mehrheit dem Burgfrieden und unterstützten die Regierung bei ihren Anstrengungen zur Führung eines - so die jeweilige Deutung - nationalen Verteidigungskrieges, eine Entscheidung, die in Deutschland angesichts der Diskussion um die Kriegsziele und der gewaltigen, sozial nicht eben gerecht verteilten Belastungen immer mehr abbröckelte. Die Vorstellung der Konferenzeinladung nach Stockholm war, daß eine internationale Konferenz der sozialistischen Parteien eine Beendigung des Krieges über die ihre Regierungen zum Frieden zwingenden Völker durchsetzen 20 könne. Das Konferenzprojekt 21 selbst bot nun allerdings nicht das Bild einer Unternehmung, von der schnelle und effektive Entscheidungen zu erwarten waren. Die Versammlung wurde nach längerem Hin und Her von den nach Stockholm angereisten Mitgliedern des Internationalen Sozialistischen Büros einberufen. Am 15. Mai sollten Vertreter aller sozialistischen Parteien und Gruppen in den kriegführenden und neutralen Staaten zusammentreten. Ein holländisch-skandinavisches Komitee bilEssen 1988, S. 182 - 199; auch: Ritter, Gerhard, (wie Anm. 4), S. 561 ff.;Kielmansegg, Peter Graf, (wie Anm. 7), S. 463 ff.; Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie, bearb. von Matthias, Erich / Pikart, Eberhard, 2. Teil, Düsseldorf 1966, S. 263 - 339. 18 Schon im April gingen von österreichischer Seite die Anregungen dazu aus. 19 Am 2. Mai 1917 hatte der österreichisch-ungarische Außenminister Graf Czernin an den Geschäftsträger in München geschrieben, eine päpstliche Friedensverrnittlungsaktion sei "vor allen auch im eigenen Interesse des Heiligen Stuhles gelegen ... , der es nicht wünschen kann, daß sich die Sozialisten der Friedensaktion vollständig bemächtigen.", in: Steglich, Wolfgang, Friedensappell (wie Anm. 2), Nr. 50, S. 85; ders., Friedensversuche (wie Anm. 2), Dok. 78, S. 112, Dok. 100, S. 135, Aufzeichnungen Bethmann Hollwegs vom 9. November 1919, Dok. 526, S. 640ff. 20 Ritter, Gerhard, (wie Anm. 4), S. 498. 21 Meynell, Hildemarie, The Stockholm Conference of 1917, in: International Review of Social History 5 (1960), S. 1 - 24 u. S. 202 - 225; Stillig, Jürgen, Die russische Februarrevolution und die sozialistische Friedenspolitik, Köln/Wien 1977; Welcker, Johanna M., Zwischen Wirklichkeit und Traum. Die Stockholmer Friedenskonferenz 1917, in: Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung - 19. Linzer Konferenz 1983 (Tagungsbericht); Blänsdorf, Agnes, Die Zweite Internationale und der Krieg. Die Diskussion über die Zusammenarbeit der sozialistischen Parteien 1914 - 1917, Stuttgart 1979. . 3 FS Kolb

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dete sich (3. 5.). Auch die von der 11. Internationale abgespaltene Gruppe, die sogenannte Zimmerwalder Bewegung, siedelte aus der Schweiz nach Stockholm über. Schließlich zeigte der Petersburger Arbeiter- und Soldatenrat Interesse. Letzteres führte allerdings zu neuen Verwicklungen, da er eine eigene Sozialistenkonferenz anstrebte. Erst im Juli bildete sich dann ein russisch-skandinavisch-holländisches Komitee, das eine neue Konferenzeinladung für den 15. August herausbrachte. Ob die Konferenz allerdings wirklich zustande kam, hing von der sehr ungewissen Entscheidung der Regierungen der kriegführenden Mächte ab, Vertretern der sozialistischen Parteien und Gruppen in ihren Ländern Pässe für eine Ausreise auszustellen. Der Versuch zur Belebung der Internationale zwang die Sozialistischen Parteien und Gruppen in den Staaten wie deren Regierungen, sich mit dem Internationalismus auseinanderzusetzen. Die Utopie einer friedlichen Welt durch Zerstörung der imperialistischen Staaten und Entmachtung der kapitalistischen Träger der nationalen Staaten, die sich erst in unserer Gegenwart als Illusion herausstellen sollte22 , konnte nach der Demonstration von Ohnmacht bei Kriegsausbruch im dritten Kriegsjahr erneut an Kraft und Einfluß gewinnen. Daran hefteten sich die Erwartungen von Millionen von Menschen, die allerdings immer noch hin und her schwankten zwischen der Loyalität gegenüber ihren in der Auseinandersetzung des Krieges durch Feinde bedrängten Vdlkern und der Bereitschaft, der internationalen Solidarität durch einen revolutionären Akt zum Durchbruch zu verhelfen. War auf der einen Seite die ungewisse Verheißung des Schrittes in eine neue Entwicklungsstufe der Menschheit - mit dem Sieg des internationalen Proletariats und der Überwindung nationaler Differenzen, die in der Konsequenz zwangsläufig in gewaltsamen Interessenaustragungen münden mußten - gegeben, so blieb auch die andere, wie es schien, viel konkretere Hoffnung auf einen Sieg im Kriege, der die Befriedigung materieller Wünsche, den Ausgleich erlittener Schäden und die Verbesserung der sozialen Verhältnisse zu bringen versprach 23 • Die Hoffnungen und Sehnsüchte der breiten Massen waren angesprochen, ihrer Phantasie waren Perspektiven eröffnet. Die illusionären Erwartungen vieler Menschen, die den Krieg nur als Bedrückung erfahren und nach vielen Enttäuschungen auch mit einem Sieg und einer Steigerung der Macht des Reiches nur die Vorstellung neuer Opfer und Beschwernisse verbanden, konnten hier eine mehr emotionale als rationale Erfüllung sehen. Darauf mußte man weitgehend Rücksicht nehmen. "Schon die Einberufung dieser Konferenz ist ein Symptom für das Bedürfnis der Regierten, jetzt ihren Regierungen das Friedensgeschäft aus der Hand zu neh22 Furet, Fran90is, Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1996. 23 "Wir verteidigen das Vaterland, um es zu erobern!", Ludwig Frank, in: Boll, Friedhelm, (wie Anm. 15), S. 288; "Die Friedensfrage ist ein rein theoretisches Gerede; wir sollten die praktischen Arbeiterfragen voran - und die hohe Politik zurückstellen", Gustav Bauer am 24.11. 1915, in: ebd-., S. 241; auch Eduard Davids Gespräch mit Scheidemann am 11. 8. 1914 und Notiz vom 14. 8. 1915, in: ebd., S. 229.

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men, noch nicht durch revolutionären Umsturz, aber durch stärksten Druck der öffentlichen Meinung,,24. II. Ein solches Konferenzprojekt, wie es sich in Stockholm anbahnte, brachte die ohnehin bedrängte politische Reichsleitung in eine mißliche Situation. "Die Regierung Bethmann Hollweg befindet sich in der schwierigsten Lage: Sie fürchtet mehr als alles einen Frieden von Gnaden der Soz. Demokr. Internationalen, anderseits giert sie nach Frieden und ist bereit jeden auch nur acceptablen selbst aus des Teufels Hand anzunehmen. Verzichtet sie auf alle Annexionen, so bedeutet das nach innen hin eine schwere diminatio capitis. Greift sie aber nicht zu, wo nun die demokratische Welle den Frieden bringen zu können scheint, so zeigt sich ihr erst recht die Möglichkeit einer Katastrophe,,25. Damit sind treffend die Schwierigkeiten genannt, in denen sich die politische Führung, insbesondere der Reichskanzler Bethmann Hollweg, im Frühjahr 1917 befand26. Die innere Lage war nach dem Hungerwinter 1917 äußerst prekä?7. Der Wunsch der Volksmassen nach Beendigung des Kriegs richtete sich mehr und mehr gegen die eigene Regierung, der man die Weiterführung des Krieges anlastete. Wenn sich im Kaiserreich Mißtrauen und Unwillen zunächst auch noch nicht wie in Rußland in revolutionären Akten entlud, so gab es doch allenthalben Streiks, und darüber hinaus verbreitete sich die Forderung nach Erweiterung der politischen Beteiligung. Bestrebungen nach innerer Reform, an erster Stelle des antiquierten preußischen Dreiklassenwahlrechts, gewannen ständig an Verbreitung und Intensität und wurden nur vorübergehend durch die Osterbotschaft des Kaisers am 7.4. abgemildert 28 . Riezler notiert am 10.4. 1917 angesichts drohender Streiks in Berlin: "Aber nur wenige ahnen, wie nahe wir dauernd die Katastrophe streifen" und fährt fort: "Gelingt es bis Herbst einen leidlichen Frieden zu schaffen, so wird es der größte Sieg eines Volkes über andere wie über sich selbst,,29. So ging die Erwartung an die Reichsleitung, daß jede Friedenschance wahrgenommen werde also jetzt die Möglichkeiten aus der Konferenz der 11. Internationale in Stockholm. Das Fatale war nur, daß in den Bemühungen die Kraft der Idee spürbar zu werden schien, mit deren "Gefährlichkeit" man seit den Augusttagen 1914 nicht mehr rechnen zu müssen glaubte. Besorgt schrieb am 14.4. 1917 der neue österreichische Kaiser Karl an Kaiser Wilhelm: "Wir kämpfen gegen einen neuen Feind, welcher gefährlicher ist als die Entente: Gegen die internationale Revolution ... , die in der allgemeinen Hungersnot den stärksten Verbündeten findet. Ich beschwöre Dich, diese schicksalsschwere Seite nicht zu übersehen und zu bedenken, daß uns Ritter, Gerhard, (wie Anm. 4), S. 498. Eintragung Gustav Mayers in sein Tagebuch April 1917, in: NL Mayer (Privatbesitz) 26 Ritter, Gerhard, (wie Anm. 4), S. 482ff.; Fischer, Fritz, (wie Anm. 1), S. 269f. 27 Dazu Bethmann Hollweg, Das erste Halbjahr 1917, in: Dülffer, Jost, (wie Anm. 4), S.362. 28 Ebd., S. 354 ff. 29 Erdmann, Karl Dietrich, (wie Anm. 13), S. 424 - 25. 24 25

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eine rasche Beendigung des Krieges - eventuell unter schweren Opfern - die Möglichkeit bietet, den sich vorbereitenden Umsturzbewegungen mit Erfolg entgegenzutreten ... ,,30. Waren nun die Sozialisten als Friedensvermittler akzeptabel? Welche innenpolitischen Konsequenzen mußte eine Friedensanbahnung durch sie haben? Konnten sie überhaupt einen Frieden vermitteln, und unter welchen Bedingungen konnte ein solcher Friedensschluß stattfinden? Dabei war aber zunächst die Vorfrage zu klären, ob der Reichskanzler verantwortlich über den Frieden verhandeln werde und ob er selbst die auszuhandelnden Bedingungen festlegen konnte. Während es zunehmend für den Reichskanzler lebensnotwendig wurde, zu wirklichen Friedensanbahnungen zu kommen, rief jede noch so vage Möglichkeit, daß die politische Reichsleitung in Friedensverhandlungen irgendwelcher Art eintreten könnte, den Argwohn der OHL hervor, die immer stärker auch die politischen Entscheidungen für sich beanspruchte. Schon seit Jahresbeginn stritt der Reichskanzler mit ihr um die politische Verantwortlichkeit 31 • Es ging zunächst um die Entscheidung in Zensur- und Versorgungsfragen, um die Haltung zum Reichstag und zu den politischen Parteien. Bethmann Hollwegs Position war schon Anfang 1917 einerseits gegenüber der 1lI. OHL, andererseits gegenüber den Reichstagsparteien und nicht zuletzt im Ansehen der Bevölkerung immer unsicherer geworden. ,,Es ist ein erregendes Schauspiel wie dieser (Bethmann Hollweg) sich, von allen Seiten bedrängt, in den entscheidenden Aprilwochen vergeblich bemüht, sich die Entscheidungsfreiheit seiner Politik zu wahren .. .'.32. Die OHL bemühte sich, ihre Kriegsziele durchzusetzen. Sie hatte zwar auf die Februarrevolution in Rußland so reagiert, daß sie die politische Reichsleitung drängte, sogleich Separatfriedensverhandlungen mit Rußland einzuleiten. Den Einfluß auf die Durchführung und die Ergebnisse der Verhandlungen wollte sie sich aber sichern. Für den Fall von Gesprächen und Verhandlungen irgendwelcher Art sollten der Kaiser und die politische Reichsleitung auf ein ihren Vorstellungen entsprechendes Kriegszielprogramm festgelegt werden. Sie erzwang deswegen die Kriegszielkonferenz in Bad Kreuznach am 23. 4.1917. Im Vorfeld, noch am 16. 4., lehnte der Reichskanzler Beratungen über Kriegsziele ab. Er notierte die Vorstellung, daß er bei "den unter politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu verfolgenden Kriegszielen," autorisiert sei, "über deren Feststellung ... in Anpassung an die Allerhöchsten Befehle allein unter Ausschluß anderer Stellen zu entscheiden .. .'.33. Das abgesandte Schreiben an HindenScherer, AndretGrunewald, Jacques, (wie Anm. 2), S. 104. Auseinandersetzung zwischen OHL und Reichskanzler um die politische Verantwortlichkeit des Reichskanzlers: Briefwechsel zwischen Hindenburg und Bethmann Hollweg vom 14. 3. 1917 bis 24.3. 1917, in: Deist, Wilhelm, (wie Anm. 9), S. 672 f., 677 - 680,682685. 32 Ritter, Gerhard, (wie Anm. 4), S. 495. 33 Zit. nach ebd., S. 675, Anm. 26. 30 31

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burg war dann wesentlich vorsichtiger formuliert 34 : " ... die Forderungen, die wir zu stellen haben werden, (würden) so wesentlich von der gesamten militärischen und politischen Lage bei Beginn der Friedensverhandlungen abhängig" sein, daß "ich mir einen wesentlichen Nutzen von kommissarischen Verhandlungen hierüber im gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht zu versprechen vermag". Als Verfahrensweise für einen möglichen Separatfrieden mit Rußland schlug er vor, "daß wir dem ersten unserer Gegner, der zum Frieden bereit ist, goldene Brücken bauen müssen". Er sehe "daher kaum die Möglichkeit für die Aufstellung eines unter allen Umständen durchführbaren Programms fest umschriebener Maximal- und Minimalforderungen ..." erläuterte er. "Der leitende Gedanke" müsse sein, bei allem Bestreben Forderungen durchzusetzen, "die eine Steigerung unserer militärischen Sicherheit bezwecken", und der Bereitschaft, Ziele politischer und wirtschaftlicher Art zurücktreten zu lassen, "die jetzige Koalition unserer Gegner zu sprengen und einen oder mehrere derselben für die Zukunft auf unsere Seite zu bringen". Diesem Gesichtspunkt müsse auch "das Ausmaß der ins Auge zu fassenden Annexionen" unterworfen werden 35 . Der Reichskanzler stimmte jedoch schließlich vordergründig dem weiträumigen Annexionsprograrnm der OHL zu, allerdings in dem Bewußtsein und mit dem nicht öffentlich ausgesprochenen Vorbehalt, daß es im Augenblick keine konkrete Friedensmöglichkeit gebe. In einem Aktenvermerk für die Reichskanzlei hielt er am 24. 4. fest: "Ich habe das Protokoll mitgezeichnet, weil mein Abgang über Phantastereien lächerlich wäre. Im übrigen lasse ich mich natürlich durch das Protokoll in keiner Weise binden. Wenn sich irgendwie und irgendwo Friedensmöglichkeiten eröffnen, verfolge ich sie. Was ich hiermit aktenmäßig festgestellt haben will .... ,,36. Unverkennbar suchte Bethmann Hollweg sich in irgendeiner Weise mit der OHL zu arrangieren und sich zugleich eigene Möglichkeiten offen zu halten. Er erwartete, daß bei tatsächlichen Friedensanknüpfungen und regelrechten Verhandlungen anderen, politischen Sachverhalten Priorität zukommen werde und damit die Möglichkeit entstehe, seine Vorstellungen einzubringen. Auch gegenüber dem österreichischen Verbündeten verhielt er sich ähnlich, als dieser Verhandlungen mit der Reichsleitung durchsetzte und auf Absprachen drängte 37 • Für die Reichsleitung kam es darauf an, alles daranzusetzen, erst einmal zu Verhandlungen zu kommen. "Das Sicherste wäre, nach der russischen Seite energisch und radikal nachzugeben und so erst wieder eine Position zu gewinnen, in der wir einigermaßen verhandeln können" - so die Notiz Riezlers vom 13. 4. 191738 • Für 34 Als Antwort auf dessen Aufforderung vom 5.4. angesichts sich anbahnender Friedensmöglichkeiten eine Einigung über Kriegsziele herbeizuführen, in: Scherer, Andre I Grunewald, Jacques, (wie Anm. 2), S. 114 und S. 80. 3S Reichskanzler an Hindenburg am 16.4.1917, in: ebd., S. 115. 36 Zit. nach Ritter, Gerhard, (wie Anm. 4), S. 504. 37 Besprechung am 26. März 1917, in: Scherer, Andre/Grunewald, Jacques, (wie Anm. 2), S. 50-60; Zusammenfassung vom27. 3., in: ebd., S. 60. 38 Erdmann, Karl Dietrrch, (wie Anm. 13), S. 426.

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Bethmann Hollweg waren Friedensgespräche überhaupt wichtig. Das sollte auch dann gelten, wenn ihr Ausgang offenblieb. Es galt also zunächst, Verhandlungsmöglichkeiten zu signalisieren. So wollte der Reichskanzler Gesprächsbereitschaft in Bezug auf Elsaß-Lothringen andeuten, dessen Rückgewinnung Frankreich außerhalb jeder Diskussion anstrebte. Gegenüber England stellte er deutsche Konzessionen in der Frage Belgien in Aussicht. Schließlich war er im Mai sogar aus taktischen Überlegungen bereit, dem Petersburger Arbeiter- und Soldatenrat zu versichern, daß der Frieden mit Rußland ein Frieden "ohne Annexion und Kontribution" sein solle. Die vom Petersburger Arbeiter- und Soldatenrat ausgegebene Formel sollte "ausdrücklich und pure akzeptiert werden". Dem Kaiser ließ er für eine öffentliche Erklärung - so wie es die Sozialdemokraten von ihm gefordert hatten den Satz übermitteln: "Ich zweifle nicht daran, daß sich eine Einigung erzielen ließe, die ausschließlich auf gegenseitige Verständigung gegründet ist und deshalb Annexionen und Kriegsentschädigung ausschließt,,39. Im Großen Hauptquartier wurde diese Fassung allerdings korrigiert. Sie lautete nun, der Kaiser erwarte, daß sich eine ,,Einigung finden ließe, die jeden Gedanken an Vergewaltigung ausschließt, die keine Stachel, keine Verstimmung zurückläßt,,40. Mit dieser Veränderung des Wortlauts war die Wirkung, die die Ankündigung einer deutschen Verhandlungsbereitschaft signalisieren sollte, stark beeinträchtigt. Aber auch der Kanzler blieb in den Formulierungen seiner öffentlichen Erklärungen ähnlich schwammig. Am 15. Mai äußerte er, einerseits von den Sozialdemokraten - und diplomatischen Vertretungen41 - bedrängt, sich zu der Formel "ohne Annexion und Entschädigung" zu bekennen, andererseits unter schwerem Beschuß der konservativen, aber auch der bürgerlichen Parteien im Reichstag: "Wenn aber, meine Herren, Rußland weiteres Blutvergießen von seinen Söhnen fernhalten will, wenn es alle gewaltsamen Eroberungspläne für sich aufgibt, wenn es ein dauerndes Verhältnis friedlichen Nebeneinanderlebens zu uns herstellen will- ja, meine Herren, dann ist es doch eine Selbstverständlichkeit, daß wir, die wir diesen Wunsch teilen, das dauernde Verhältnis der Zukunft nicht zerstören, seine Entwicklungen nicht durch Forderungen unmöglich machen werden, die sich mit der Freiheit und dem Willen der Völker selbst nicht vertragen, und die ins russische Volk nur den Keim zu neuer Feindschaft legen würden. Ich zweifle nicht daran, daß sich eine ausschließlich auf gegenseitige ehrliche Verständigung gegründete Einigung finden ließe, die jeden Gedanken an Vergewaltigung ausschließt, die keinen Stachel, die keine Verstimmung zurückläßt" . Daran schloß sich eine sehr positive Einschätzung der militärischen Lage an42 . 39 Wahnschaffe an Grünau, 14. 5. 1917, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn (PAAA) Wk: Rußland 31b. 40 Ebd. 41 Am 13. Mai hatten sich Romberg und Adolf Müller, Bem, mit einer entsprechenden Bitte an das Ausw. Amt bzw. die Reichskanzlei gewandt. Zimmermann hatte ihren Bericht an das Große Hauptquartier weitergegeben, in: PAAA, Wk: 2 geh, Bd. 56 und Wk: Rußland 31 b, Rußland; auch Fischer, Fritz, (wie Anm. 1), S. 325. 42 Dülffer, Jost, (wie Anm. 4), S. 375. Der Reichkanzler hat durch diese Erklärung ,jedenfalls Rußland gegenüber eine neue, von dem Protokoll vom 23. April (Bad Kreuznach) unab-

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Bethmann Hollweg war bemüht, sich alle Optionen offen zu halten. Die Erwartungen des Kanzlers richteten sich auch noch in einer sehr zugespitzten Lage 1917 darauf, daß es gelingen werde, die inneren. Gegensätze zu besänftigen oder abzumildern. Vor allem setzte er seine Hoffnungen auf den Kaiser und glaubte, "in dem Augenblick, wo eine greifbare Friedensmöglichkeit vorliegt und ich damit komme, beim Kaiser alles durchzusetzen". Dann werde der Friede gemacht auch gegen die OHL und die annexionistischen Siegfriedensmeinungen in einer breiteren deutschen Öffentlichkeit. Noch am 9. Juni 1917 notierte sein enger Mitarbeiter Kurt Riezler: ,,Einziger Ausweg, eine Friedensmöglichkeit zu schaffen, sie dem Kaiser zeigen und draufdrücken,,43. Zu Beginn des Jahres 1918, am 26. 1., hat Bethmann Hollweg dem Grafen Hertling (Reichskanzler ab 1. November 1917) seine Friedenspolitik erläutert. ,,zu wiederholten Malen habe ich in meinen Gesprächen mit Seiner Majestät den Gedanken scharf vertreten, daß, da nun einmal, wie der Verlauf des Kriegs von Anfang an gezeigt habe, eine völlige militärische Niederwerfung unserer Gegner ausgeschlossen sei, die siegreiche Abwehr unserer Feinde und die unversehrte Selbstbehauptung Deutschlands für uns den Gewinn des Kriegs bedeute ... ". Er habe inständig gebeten, "einen Friedensschluß auf solcher Grundlage nicht etwa an angeblichen militärischen Notwendigkeiten scheitern zu lassen, da niemand beurteilen könne, ob, was heute militärisch notwendig erscheine, es auch noch nach einem Menschenalter sein werde ... ,,44. Er betonte nachdrücklich: "Seine Majestät hat dem allesamt aus innerer Überzeugung zugestimmt und mich speziell am 16. Juli mit den Worten entlassen, ich könne ganz unbesorgt sein, er denke über den Friedensschluß gerade so wie ich,,45. Der Reichskanzler wollte für Friedensanknüpfungen Konzessionen machen, aber keine Schwächung der Position des Reiches, dessen militärisch und politisch gestützte hegemoniale Stellung in Miueleuropa er bejahte, in Kauf nehmen; er sah die Notwendigkeit demokratischer Veränderungen, aber wollte es bei einer konservativen Reformpolitik und nach Möglichkeit bei peripheren Lösungen belassen. Nur günstige Umstände konnten helfen; deshalb kämpfte er um das Offenhalten von "politischen" Lösungen. Die Entscheidungen sollten nach seiner Vorstellung in den Verhandlungen selbst fallen und hier nach Maßgabe des Möglichen von dem Verhandlungsführer getroffen werden46 . hängige Situation" geschaffen gesehen: Brief Bethmann Hollwegs an Hertling am 26. 1. 1918, in: Die Ursachen des Deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918, I. Abtlg. IV. Unterausschuß, Bd. 2, Gutachten des Oberst a. D. Bernhard Schwertfeger, Berlin 1927, S. 144. Meines Erachtens liegt hier ein deutliches Beispiel für die Schwäche des Kanzlers vor: Er sieht die Zweckmäßigkeit einer Erklärung zugunsten eines annexionslosen Friedens, kann sich aber gegen die Gegenkräfte nicht durchsetzen und weicht - nach allen Seiten lavierend - aus. 43 Erdmann, Karl Dietrich, (wie Anm. 13), S. 437. 44 Bethmann Hollweg an Reichkanzler Hertling am 26. 1. 1918, in: Ursachen des Deutschen Zusammenbruchs, (wie Anm. 42), S. 142 - 145. 45 Bethmann Hollweg an Hertling, in: ebd., S. 142 f. 46 Urteil des Sozialdemokraten Heine in der Sitzung der Fraktion der SPD vom I. 5. 1917: "Die Regierung will nicht annektieren. Die Regierung wagt aber nicht, das zu tun: Offen zum

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Die Entwicklungen im Frühjahr 1917 brachten einerseits keine Erfüllung solcher Erwartungen einer Friedensmöglichkeit, andererseits war es doch sehr fraglich, ob die Kalkulationen des Kanzlers mit der Haltung des Kaisers realistisch waren. Der Kaiser zeigte sich immer unfähiger, schwierige Entscheidungen von politischer Tragweite zu fällen 47 und konnte sich am wenigsten gegen Forderungen der III. OHL durchsetzen. Der konservativ eingestellte Bethmann Hollweg fiel dem Kaiser gegenüber einer ähnlichen Autoritäts-Gläubigkeit zum Opfer wie Brüning gegenüber Hindenburg am Ende der Weimarer Republik48 . Der Kanzler lavierte in den Monaten April bis Juni nach allen Seiten und suchte sich z.T. mit Zugeständnissen zu behaupten. Die immer wieder aufgeschobene Frage des Wahlrechtes in Preußen, ein zentraler Angriffspunkt innnenpolitischer Opposition, sollte entschiedener aufgegriffen werden, wobei - und darin lag sogleich die Einschränkung - eine sofortige Lösung immer noch nicht ratsam schien49 . Eine politische Reform mußte sich - nach den Vorstellungen des Reichskanzlers - ohnehin in den Grenzen halten, die für eine nach seinen Vorstellungen tragbare politische Stabilität gefordert waren. Andererseits sollte die Entwicklung in Rußland genutzt werden, um wenigstens mit diesem Kriegsgegner zum Frieden zu kommen. III. Reichskanzler Bethmann Hollweg war kein Mann kämpferischer, klarer Entscheidungen und offener Stellungnahmen 50 . Er bemühte sich eher, Entwicklungen versteckt zu steuern. Er besaß wenig Ausstrahlungskraft und vermochte es kaum, sich eindeutig und klar und für viele überzeugend für bestimmte Vorstellun-

V6lkerfrieden aufzurufen; angeblich weil sie befürchtet, das würde als Schwächezeichen aufgefaßt werden... In Wahrheit scheut sie vor den Konservativen und den Schwerindustriellen zurück. Es wächst aber auch in Kreisen, wo man es vorher nicht erwarten konnte, die Stimmung für einen Verständigungsfrieden ... ", in: Matthias, Erich/Pikart, Eberhard, (wie Anm. 17), S. 255 f. Die für Bethmann Hollweg charakteristische Diskrepanz zwischen Einsicht und Willen zur Durchsetzung des als richtig oder notwendig Erkannten spielt in diese Verschiebung von Entscheidungen hinein, Dülffer, Jost, (wie Anm. 4), Einleitung, S. 36f. 47 5. September 1918 - Ballin sucht den Kaiser auf, um ihm die sofortige Beendigung des Krieges vorzuschlagen, Görlitz, Walter (Hrsg.), Regierte der Kaiser? Kriegstagebücher, Aufzeichnungen und Briefe des Chefs des Marine-Kabinetts Admiral Georg Alexander von Müller 1914-1918, Göttingen 1959, S. 407ff. 48 Brüning, Heinrich, Memoiren 1918-1934, Stuttgart 1970, S. 597ff. 49 Dazu die Darlegungen Bethmann Hollwegs in: Dülffer, Jost, (wie Anm. 4), S. 236ff. und S. 361 ff. 50 Zur Haltung des Kanzlers in den kritischen Monaten April, Mai, Juni: Erdmann, Karl Dietrich, (wie Anm. 13), S. 435 u.ö. Riezler vergleicht im Gespräch mit Theodor Wolff nach dem Sturz Bethmanns dessen Kampf mit dem eines Löwen. ,,Einen Löwen, den die Mäuse anfallen". Wolff protestiert, "die Angriffe gegen Bethmann seien hundsgemein, nur ein Löwe sei er nicht", Sösemann, Bernd (Hrsg.), Theodor Wolff. Tagebücher 1914-1919, Zwei Teile, Boppard 1984, S. 516; weitere Urteile zu Bethmann Hollweg in: Dülffer, Jost, (wie Anm. 4), S. 35 ff. und Hildebrand, Klaus, Bethmann Hollweg. Der Kanzler ohne Eigenschaften? Urteile der Geschichtsschreibung. Eine kritische Bibliographie, Düsseldorf 1970.

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gen einzusetzen 51 . Auch wenn er die Probleme durchaus richtig erkannte, konnte er seiner Einsicht kaum Taten folgen lassen. Bei dem Bemühen, letzte Möglichkeiten und andere Optionen offen zu halten, war seine persönliche Position nicht recht faßbar, es sei denn, man wußte sie aus Einschränkungen gegenüber Vorstellungen anderer in Verneinungen und Konzessionen herauszulesen. Seine Position wurde 1917 immer undurchsichtiger, eine Vertrauenskrise war unausweichlich. Dabei hatte Bethmann Hollweg seine Aufgabe - wie sein Mitarbeiter Riezler es sah - vor Augen: ,,Eine Gesellschaft von Irrsinnigen in den Bahnen der Vernunft zu halten oder, wenn das nicht geht, den am wenigsten irren Weg zu nehmen, mitzugehen und so zu tun, als wäre es der Weg der Vernunft,,52. Konnte er die Möglichkeit einer Kontaktaufnahme der sozialistischen Parteien in Stockholm nutzen? Als Ende April 1917 sich die Möglichkeit des Zustandekommens einer Konferenz oder zumindest der Beginn der Vorbereitungs beratungen des holländisch-skandinavischen Komitees mit Delegationen der einzelnen kriegführenden Länder und der Neutralen konkretisierten, zeigten sich in der Beurteilung sogleich die Differenzen zwischen OHL und politischer Reichsleitung 53 . Die OHL, von der alleinigen Möglichkeit eines Siegfriedens überzeugt5\ ging von der Nutzlosigkeit, möglicherweise von Nachteilen solcher Gespräche von Parteipolitikern der Linken aus 55 . Schon im Vorfeld am 7.4. hatte sich die OHL für eine Verhinderung der Teilnahme deutscher Sozialisten an dem internationalen Sozialistenkongreß in Haag, der angeblich auf Betreiben amerikanischer Sozialisten stattfinden sollte, ausgesprochen 56 . Gerade hatte der umtriebige Zentrumsabgeordnete Erzberger als Parteien vertreter mit wenig Erfolg in Stockholm Gespräche geführt 57 , und auch die Kontaktaufnahmen des Mehrheitssozialisten Dr. David mit Vertretern des Petersburger Arbeiter- und Soldatenrates an der Front waren ohne 51 Riezler am 9. 5. 1917: ,,Ideen erzwingen Gefolgschaft. Das kann der Kanzler nicht. Mangel an Selbstvertrauen zum einern, notwendige Rücksicht auf den herrschenden Wahnsinn zum anderen", Riezler bewundert seine Zähigkeit "aber ohne Sprengkraft", in: Erdmann, Karl Dietrich, (wie Anm. 13), S. 435; am 8. 5.: ,,Aber R. K. muss vorn Leder ziehen, aber er selbst war leider in den letzten Tagen müde, verärgert und quietistisch.", in: ebd, S. 431. 52 Ebd., S. 433. 53 17. 4. Mitteilung Staatssekretärs Zimmermann an das Große Hauptquartier am 28.4.1917, in: Scherer, Andr6/Grunewald, Jacques, (wie Anm. 2), S. 158. 54 So hatte sie am 5. 5. 1917 den baldigen Sieg verkündet, Lersner an den Staatssekretär des Auswäriigen Amtes am 5. 5. 17, in: Deist, Wilhelm, (wie Anm. 9), S. 744ff. "Dem voraussichtlichen Sieger in einern Zermürbungskrieg ist das ihm erreichbar erscheinende Monopol an militärischer Stärke das entscheidende Ziel. Dieses Monopol - so wird er sich zu glauben veraniaßt sehen - wird ihm das Diktat aller ihm wünschenswert erscheinenden Bedingungen ermöglichen", Kescemeti, Paul, Probleme der Kriegsbeendigung, in: Nerlich, Uwe (Hrsg.), Krieg und Frieden in der modernen Staatenwelt, Gütersloh 1966, S. 121. 55 OHL an Ausw. Amt 25. 4.1917, in: PAAA, Wk 15 geh, Bd. 34. 56 OHL an Preuß. Kriegsminister 7. 4. 1917, in: Deist, Wilhelm, (wie Anm. 9), S. 707. 57 Treffen Erzbergers mit Kalyschko vorn 26.-28.3. und 19.-20.4. in Stockholm, dazu Stellungnahme Ludendorffs in Schreiben Grünaus an Ausw. Amt, 25. 4. 1917, in: Scherer, Andr6 I Grunewald, Jacques, (wie Anm. 2), S. 151 f.; Ritter, Gerhard, (wie Anm. 4), S. 490ff.

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Ergebnis geblieben. Kam eine Entsendung bzw. Gewährung von Pässen an Mitglieder der "Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands", die sich auf dem Gothaer Parteitag im April 1917 konstituiert hatte, überhaupt nicht in Frage, so hatte Ludendorff keine Bedenken gegen die Entsendung von Vertrauenspersonen wie Dr. David und Südekum "zur Einwirkung auf die Sozialdemokratie Schwedens,,58. Er hielt jedoch die ,,zeit sozialdemokratischer Kongresse" generell für nicht gekommen und jedes "offizielle Hervortreten einer politischen Partei als Friedensvermittlerin" für schädlich59 . Allerdings gab Ludendorff dieses Urteil als seine Privatmeinung aus. "Die OHL sei in dieser politischen Frage nicht kompetent und könne zu ihr nicht Stellung nehmen,,6o. Die schwierige, innenpolitisch relevante Frage mußte also die politische Reichsleitung selbst entscheiden. Mehr Hoffnungen setzte Ludendorff indessen auf Verhandlungen mit den Russen an der Front. Am 7. Mai schlug er, um die politische Reichsleitung auszuschalten, den Oberst von Winterfeld als Leiter der Verhandlungsdelegation vor, dem neben dem Gesandten von Rosenberg Vertreter der Sozialdemokratie und der nationalen Parteien und jüngere Diplomaten beigeordnet werden könnten 61. Wie sollte sich nun die politische Reichsleitung in der Frage der Entsendung sozialistischer Parteienvertreter nach Stockholm verhalten? Eine Entscheidung drängte. Zu dem Ringen mit der OHL, dem unsicheren Taktieren mit dem Kaiser, dem Hinhalten des Reichstages trat nun Ende April die Kontaktaufnahme mit den Sozialisten hinzu. Die Unsicherheiten erweiterten sich zu einem Spiel "gegen die ganze Welt, mit Revolutionären und Sozialisten, im eigenen und feindlichen Lande, in einer undurchsichtigen Machtlage kaum zu spielen". Unsicher notierte Riezler dazu: "Der Kanzler übersieht es wohl, aber was soll er ohne Menschen?,,62 Dem Reichskanzler war einerseits klar, wie sein Sekretär Riezler seinem Tagebuch anvertraute: " ... wir brauchen auf Schritt und Tritt die Soz(ial) Dem(okraten) außen wie innen,,63. Andererseits konnte er sich nicht von den Vertretern der sozialistischen Parteien in der Frage der Friedensanbahnung das Heft aus der Hand nehmen lassen64 • So pflichtete er den Überlegungen Ludendorffs am 4. 5. bei. 58 Ludendorff an Staatssekretär Ausw. Amt, 1. 5., in: Scherer, Andre I Grunewald, Jacques, (wie Anm. 2), S. 166; Lersner an Ausw. Amt am 29. 4. und Grünau an Ausw. Amt am 1. 5., in: ebd., S. 163, 166. 59 Ebd., S. 166f. 60 Lersner an Ausw. Amt am 29. 4., in: ebd., S. 163. Als der preußische Innenminister und der Kriegsminister St. S. Zimmermann die Zustimmung zu einer Erklärung vor dem Hauptausschuß des Reichstages am 30. 4. gegeben hatten - keine Bedenken der Paßerteilung an Mitglieder der USPD-Fraktion - erklärte Ludendorff, "daß er mit der Angelegenheit nichts zu tun habe", in: Deist, Wilhelm, (wie Anm. 9), S. 708, dort Anm. 3. 61 Lersner an Ausw. Amt am 7. Mai 1917, in: Scherer, Andre/Grunewald, Jacques, (wie Anm. 2), S. 176; Antwort Bethmann Hollwegs am 7. Mai, in: ebd., S. 179. 62 Notiz Riezlers vom 25. 4.1917, in: Erdmann, Karl Dietrich, (wie Anm. 13), S. 429. 63 Riezler am 11. 4.1917, in: ebd., S. 425. 64 Dülffer, Jost, (wie Anm. 4), S. 372 bzw. S. 243.

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Sozialdemokratische Kongresse seien nicht am Platze, Parteien als Friedensvermittler abzulehnen, zumal da auf diese Weise "eine Stärkung der Parlamentsmacht auf Kosten der Regierungsgewalt" eintreten müsse. Für das Reich sei diese bei Staaten mit parlamentarischer Regierungsgewalt unverfängliche Entwicklung ein nicht ungefährliches ,,Experiment,,65. Trotz seines Zögerns und Ausweichens kam er jedoch zu der Güterabwägung, ob die Folge einer Verhinderung der Konferenz durch Verweigerung von Ausreisepässen nicht weit schlimmer sei als die Genehmigung. Im In- und Ausland würde "scheinbar berechtigt" von deutscher Autokratie gesprochen werden, zumal Österreich seine Sozialdemokraten beim Konferenzbesuch unterstütze. Wenn die Sozialdemokraten nicht von der Zweckmäßigkeit des Fernbleibens überzeugt werden könnten, lasse man sie am besten ziehen. Man setze sie bei der Begegnung in Stockholm einer möglichen heilsamen Enttäuschung durch die Internationalisten der anderen Länder aus. Im übrigen - so gab der Kanzler die ihm angelastete Verantwortung an die OHL zurück - hänge alles von der militärischen Lage ab. Keine gewaltsame Unterdrückung könne die Sozialdemokraten vor gefährlichen internationalen Giftstoffen schützen, allein die günstige militärische Lage werde sie immunisieren. Aus der Perspektive der Kriegführung sei der Internationalismus praktisch eine Nervenfrage, wie u. a. der französische Wunsch auf Verschiebung des Konferenzbeginns auf den Juni zeige, da man dann positive Ergebnisse der Offensive der Entente erwarte. Am nächsten Tag, am 5. 5., trug der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Zimmermann Ludendorff diese Überlegungen, um Nuancen verändert, noch einmal vor66 . Er erwartete besonders in Rußland die nachteiligen Auswirkungen einer Diffamierung Deutschlands als autokratischer Staat und rückte die Haltung der Führung der Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) stärker ins Licht. Führende MSPDRepräsentanten zweifelten selbst an dem Erfolg der Friedensgespräche, aber sie seien bemüht, sich den Wählermassen als tätige Förderer des Friedensgedankens auszuweisen, um sich auf diese Weise gegenüber den Bestrebungen der "Arbeitsgemeinschaft" zu behaupten - ein Bemühen, das zweifellos im Reichsinteresse liege. Der erwartete Mißerfolg der Konferenz werde "die Partei im deutschen nationalen Sinne fester geschlossen und gekräftigt" hervorgehen lassen. Der aufflackernde Internationalismus werde bald vorüber sein, wenn die "nationale Aufklärungs arbeit" greife und der ,,Meinungsstreit um Annexions- und Entschädigungsfragen" durch einen siegreichen Kriegsausgang geklärt werde. "Im unmittelbaren Angesicht des Sieges wird die deutsche Sozialdemokratie nicht mehr aufs Verzichten gestimmt sein,,67, dies auch angesichts der Erfahrungen mit ihren fremden Parteigenossen. 65 Reichskanzler an OHL am 4.5. 1917, in: Scherer, AndretGrunewald, Jacques, (wie Anm. 2), S. 167. 66 In: PAAA, Wk geh. Bd. 37a. 67 Zimmermann an Grünau, PAAA, WK 15 geh. Bd. 15; auch Fischer, Fritz, (wie Anm. 1), S. 399.

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Einen Augenblick schien die Bereitschaft der politischen Reichsleitung erschüttert zu werden, als die MSPD sich am 10.5. zu den Kriegszielen äußerte, eine Erklärung, deren Veröffentlichung der Reichskanzler vergeblich zu verhindern suchte68 . Allerdings schuf eine Verlautbarung der provisorischen russischen Regierung eine neue Situation. Hier lag nach dem Urteil des Reichskanzlers offenbar ein Zeichen dafür vor, daß die Kriegspartei in Rußland der ,,radikalen Richtung" werde nachgeben müssen; außerdem war hier ein ,,indirektes Friedensangebot" zu erkennen. Dies legte eine Zustimmung zur Beteiligung deutscher Sozialisten an der geplanten Konferenz nahe und forderte eine Bekundung des deutschen Friedenswillens heraus. Die Lage im Innern hielt der Reichskanzler für so ernst, daß man sich nicht dem Vorwurf, "eine sich bietende Gelegenheit zum Frieden ausgeschlagen zu haben", aussetzen durfte 69 • Nach einigen Zwischenfällen - die Besorgnisse des Reichskanzlers, die Publikation über "sozialdemokratische Kriegsziele" könne möglicherweise "unser Konzept verderben", erwies sich als grundlos - konnten die Führer der Mehrheitssozialisten, aber auch Repräsentanten der sozialistischen Arbeitsgemeinschaft reisen. Für letztere war die Entscheidung des Kaisers erforderlich geworden, nachdem der zuständige Befehlshaber des Generalkommandos, Generaloberst von Kessel, sich geweigert hatte, Ausreisepässe auszustellen. Sofern nicht "gegen die einzelnen ein begründetes Ermittlungsverfahren eingeleitet" sei, sollte ihrer Teilnahme an der Konferenz nichts im Wege stehen70. Man erhoffte sich von dieser Entscheidung, die MSPD- Delegierten von dem möglichen Verdacht bei Neutralen und Vertretern der Entente zu befreien, sie seien Vertreter der deutschen Regierung. Trotz der Vorgeschichte war nicht ganz auszuschließen, daß es bei der Fühlungnahme der sozialistischen Parteien der kriegführenden Staaten in Stockholm "zu wichtigen Vorverhandlungen über Friedensbedingungen kommen" könne71. Wie alle Regierungen war sich auch die Reichsleitung darüber klar, daß die Parteienvertreter nur die Voraussetzungen für Verhandlungen schaffen könnten, verhandeln würden die Regierungen selbst72 . Für den Reichskanzler bedeutete das, daß er über 68 Reichskanzler an Unterstaatssekretär des Ausw. Amtes am 10. Mai. Beunruhigend hatte schon der Artikel im "Vorwärts" vom 21. 4. gewirkt, dazu Kaiser an Reichskanzler am 21. 4., in: Scherer, Andre/Grunewald, Jacques, (wie Anm. 2), S. 135; dazu auch "Die sozialdemokratische Friedensresolution" (19. April 1917), in: Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 5, Stuttgart 1978, S. 256f. 69 Reichskanzler an Grünau am 12. 4., in: Scherer, Andre I Grunewald, Jacques, (wie Anm. 2), S. 94. 70 Grünau an Zimmermann, 13.5. 1917, in: PAAA, Weltkrieg, 37a/13. 5. 71 Gesandter Rosen an Bethmann Hol1weg am 14. 5., in: Scherer, Andre I Grunewald, Jacques, (wie Anm. 2), S. 197f. 72 Gesandter Stockholm an Ausw. Amt am 28. 5.: Zwar wüßten sie (die Abgesandten) wohl, daß nicht Sozialisten, sondern Regierungen Frieden machen würden; ihre Arbeit würde aber eine ,'plattform für offiziel1e Verhandlungen" schaffen, in: PAAA, Wk 2 geh. 38; Czernin am 2. Mai zur Abreise österr. Sozialisten (Renner, Adler, Seitz) an Prinz SchönburgHartenstein: ,,Ich habe es al1erdings vermieden, den nach Stockholm abgegangenen Sozia-

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die Sozialisten eine ersehnte konkrete Friedensanbahnung erreichen und damit zugleich über den Kaiser die Fesseln, die OHL, Parteien und öffentliche Meinung seiner politischen Handlungsmöglichkeit zunehmend anlegten, durchbrechen zu können glaubte. Die OHL hingegen sah Verhandlungen der Sozialisten in Stockholm für einen Frieden in ihrem Sinne als "ziemlich hoffnungslos" an, gemäß Ludendorffs Aussage: "Dort wird ein allgemeiner Frieden propagiert, an dem uns nicht gelegen ist,m. Dies galt jedoch nicht für den Reichskanzler. Für ihn schien es durchaus sinnvoll, auch hier zu versuchen, zu Friedensgesprächen überhaupt zu kommen. Das sollte auch dann gelten, wenn nicht von vomeherein zu übersehen war, wo sie enden würden. V. Schon am 1. 4. hatte Kurt Riezler, der Sekretär des Kanzlers, angesichts des Drängens der Mehrheitssozialisten ins Tagebuch geschrieben: "Man soll (die) Gen(ossen) Sozialisten über den Frieden verhandeln lassen und beide (kriegführenden Gruppen) vereinbaren lassen, daß sie ihre Regierungen zu den und den Bedingungen zwingen - aber die Finger drin lassen,,74. Bedrängt von der OHL, mit der vagen Hoffnung auf den Kaiser, verhandelte Bethmann mit den Sozialisten75, ohne sich aber mit seiner Friedensbereitschaft eindeutig auf deren Seite zu schlagen und ohne daß er selbst sich deren Loyalität gegenüber der Regierung voll sicher sein konnte. Wolfgang Heine (MSPD) sah das in der Fraktionssitzung vom 1. Mai 1917 so: "Wenn die Regierung offen hervorzutreten wagte, dann fände sie eine Mehrheit. Aber dann müßte die Regierung ganz gewaltsame Schritte zur Sammlung der Linken tun. Aber wir stützen sie dazu nicht genug,,76. Eine Frontbildung gegen die OHL und gegen die auf Sieg gestimmte Mehrheit der öffentlichen Meinung (des Parlaments, der Presse und der Vereins- und Komiteemaschinerie, angeführt von den Alldeutschen) 77 wäre - wenn überhaupt - nur schwer haltbar gewesen, dazu war deren politische Haltung viel zu ungefestigt. Riezler notierte zum 19. 5.: "Gelistenführern ein Mandat zu erteilen ... ", Steglich, Friedensappell (wie Anm. 2), Nr. 46, S. 81. Am 10. Mai schrieb Graf Czernin an Botschafter Palavicine in Konstantinopel: Österreich sei daran interessiert, die Stockholmer Konferenz ergebnislos ablaufen zu lassen. Es komme darauf an, "bei der Sozialistenkonferenz jene Forderungen in den Vordergrund zu schieben, von denen wir glauben, daß wir selbst sie später durchsetzen werden, nicht aber die Sozialisten", in: Scharlau, Winfried S.lZeman, Zbynek A., Freibeuter der Revolution. Parvus-Helphand. Eine politische Biographie, Köln 1964, S. 264. 73 Grünau an Ausw. Amt, 25. 4. 1917; Ludendorff läßt Ansichten des österreichischen Außenministers Czernin übermitteln, in: Scherer, AndretGrunewald, Jacques, (wie Anm. 2), S. 152. Am 14. Mai meldet der Gesandte Lucius aus Stockholm, daß nach Aussage der Beobachter (Steinwachs und Jansson) wohl kein Separatfrieden zustande komme, in: PAAA. Wk Rußland 31b. 74 Erdmann, Karl Dietrich, (wie Anm. 13), S. 422. 75 Am 23. 4. Gespräche des Staatssekretärs Zimmermann und des Unterstaatssekretärs in der Reichskanzlei Wahnschaffe mit Scheidemann. 76 In: Matthias, Erich I Pikart, Eberhard, (wie Anm. 17), S. 255. 77 Dülffer, Jost, (wie Anm. 4), S. 233 f.

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mansche unserer eigenen Sozialisten ... Revolutionsdrohung von Scheidemann welche Dummheit. Wie so oft wird die Rechte durch die Sozi gerettet werden" und weiter "sie behaupten der Krieg ist verloren und ihre Formel ("Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigung. auf der Grundlage einer freien nationalen Entwicklung aller Völker") wäre eine Schutzformel für uns,,78. Allerdings notierte Riezler schon am 8. 5. angesichts des Tobens der Presse, der wilden Demagogie der Konservativen: "Wenn die Linke jetzt dem Kanzler wegbricht, ist er unhaltbar,,79. Im übrigen nahm der Kampf der Konservativen gegen die Sozialdemokratie im Sommer 1917 immer hemmungslosere Züge an 80 . Wenn auch die individuelle und kollektive Desillusionierung durch das unbarmherzige Leiden im Kriege 8! nunmehr neue Hoffnungen auf die 1914 vor dem Nationalismus der Völker kläglich zusammengebrochene internationale Arbeiterbewegung82 erwachen ließ, hielt noch die Idee der Vaterlandsverteidigung die Mehrheit der deutschen Sozialisten an der Seite der Kriegspartei 83 fest. Daran änderten auch die mit der Spaltung der sozialdemokratischen Partei sich als Unabhängige formierenden starken Befürworter eines Verhandlungsfriedens nichts 84 . Die größte Zahl der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten und wichtige Kräfte des Vorstandes der Partei blieben auf Seiten der Regierung 85 . Die sich gegen die Kriegspolitik wendenden Kräfte blieben nach heftigen inneren Auseinandersetzungen innerhalb der SPD in der Minderheit. Gleichgültig jedoch, welcher Gruppierung sich die einzelnen auch zuordnen wollten, so zwangen die Not des Hungerwinters 1916/17, der endlose, kräfteverzehrende und verlustreiche MilitärErdmann, Karl Dietrich, (wie Anm. 13), S. 434. Ebd., S. 431. Unter anderem Aspekt hielten die Militärs die Sozialisten für unzuverlässig, Ludendorff an Staatssekretär Ausw. Amt am 30.5.1917, in: Scherer, Andre/Grunewald, Jacques, (wie Anm. 2), S. 218 ff. 80 Dülffer, Jost, (wie Anm. 4), S. 255. 81 Neben den deprimierenden Erfahrungen der großen Kriegsverluste waren es Versorgungsprobleme, die die Menschen in arge Not brachten; u. a. Haupts, Leo, Deutsche Friedenspolitik 1918/19. Eine Alternative zur Machtpolitik des ersten Weltkrieges? Düsseldorf 1976, S. 78; Graf Wolf Mettemich an Solf am 16. 7. 1918, in: ebd., S. 140 vgl. weiter ebd., S. 194 und S. 76, Anm. 98 -111. 82 Miller, Susanne, Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1974. 83 Zur Entwicklung der Haltung der Mehrheitssozialisten im Kriege: Haupts, Leo, (wie Anm. 81), S. 140. 1915 hatte sich Scheidemann (MSPD) zum Jahreswechsel an seine Wähler gewandt: "Wir wollen die Absichten unserer Gegner zu schaden machen, wir wollen siegen!", in: Boll, Friedhelm, (wie Anm. 15), S. 266. Der eigentliche Burgfrieden war zu Beginn des Jahres 1917 im Ringen um die innere Reform zerbrochen. 84 Vgl. die Reichstagsrede von Hugo Haase am 30. 3. 1917, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, Bd. 309, S. 2887 - 2897 sowie eine entsprechende Resolution der Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft, ebd., Bd. 320 (Anlagen), Nr. 690. 85 Boll, Friedhelm, Verständigungsfrieden als Schutz deutscher Interessen. Anmerkungen zur Friedenspolitik der deutschen Sozialdemokratie im Krisenjahr 1917. Beitrag zur Internationalen Konferenz der Historiker der Arbeiterbewegung, Linz 1987. 78 79

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einsatz, die gedrückte Stimmung der Bevölkerung86 alle Sozialisten, sich für eine entschiedene Friedensinitiative einzusetzen87 • Dieser Druck verunsicherte zunehmend auch mehrheits sozialistische Parlamentarier. In Deutschland kriegten auch die Mehrheitssozialisten, die die Reichsleitung - wie sie immer deutlicher sah auf Schritt und Tritt brauchte, "eine rote Wolke in die Nase"ss. Was lag also näher, als daß die Fraktion der Mehrheitssozialisten den erfolgreichen russischen Revolutionären ein Begrüßungstelegramm sandte, sich zu der Friedensplattform des Petersburger Arbeiter- und Soldatenrates mit der Forderung nach einem Frieden "ohne Annexion und Kontribution" bekannte. Was das allerdings für sie bedeuten konnte, erläutertete Scheidemann später am 7. Juli in der Debatte um die Friedensresolution im Hauptausschuß des Reichstages. Es sollte damit keineswegs eine Niederlage des Reiches eingeleitet sein: "Man rede immer großsprecherisch von dem, was wir in Belgien, in Rußland, in Nordfrankreich besetzt hätten; aber es ist doch für uns viel wertvoller, daß die Engländer wieder alles herausgeben, was sie jetzt hätten, es handele sich doch auch um die ganze zukünftige Gestaltung des Weltmarktes ... ,,89. Der sofort als Verzichtfrieden verketzerte ScheidemannFrieden sah die Mehrheitssozialisten ganz in der Nähe der Regierung Bethmann HOllweg 9o . Die Situation nötigte den Reichskanzler, sich für die Teilnahme von deutschen sozialistischen Parlamentariern einzusetzen, ohne daß er hier in seiner Auseinandersetzung mit der OHL und der Siegfriedenspartei eine Stütze hätte finden können. Andererseits konnte er nur so der Verdächtigung und der daraus erwachsenden Zwangslage entkommen, eine offenbare Friedenschance vertan zU haben. Zwar war auch der durch eine Entsendung deutscher Sozialisten nach Stockholm zu erringende moralische Gewinn im Ausland vor allem in Rußland nicht zu verachten, war doch der Autokratievorwurf gegen das Deutsche Reich damit entkräftet, zumal sich die Ententestaaten schwer taten, mit ihren Sozialisten ähnlich zu ver86 Monatsberichte der stellv. Generalkommandos an das preußische Kriegsministerium vom 3.3.1917, in: Deist, Wilhelm, (wie Anm. 9), S. 666f. 87 Dülffer, Jost, (wie Anm. 4), S. 375. Durch die Unabhängigen geschürte "steigende Nervosität der Massen" läßt die Sozialdemokraten "mit zunehmender Leidenschaft" den Gedanken des Verständigungsfriedens auf Grund der russischen Formel "ohne Annexion und Kriegsentschädigung" verfechten, Huber, Ernst Rudolf, (wie Anm. 68), S. 256. 88 Tagebucheintragung Riezlers vom 25. 3. 1917, in: Erdmann, Karl Dietrich, (wie Anm. 13), S. 419. 89 Michaelis, Heinrich / Schraepler, Friedrich, Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung in Deutschland in der Gegenwart, 1958, Bd. 2, 233a, S. 9. 90 Riezler am 8. 5.1917, in: Erdmann, Karl Dietrich, (wie Anm. 13), S. 431; GrafCzemin, österr.-ungar. Außenminister, schrieb am 2. Mai an Prinz Schönburg - Hartenstein, Botschafter beim Hl. Stuhl, er sei "dadurch einigermaßen gebunden, daß die deutsche Regierung dem Vorschlag des deutschen Sozialistenführers Scheidemann ... ihre Zustimmung erteilt hat und ich mich nicht widersetzen konnte... ", in: Steglich, Friedensappell (wie Anm. 2), Nr. 46, S. 81. Zum Verhältnis des Kanzlers zum rechten Flügel der Mehrheitssozialisten: Fischer, Fritz, (wie Anm. 1), S. 272 ff.

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fahren 91 . Andererseits gewann man auf diese Weise ein innenpolitisches Ventil, selbst wenn bei den Verhandlungen, wie vorauszusehen, kein Ergebnis erzielt wurde. Im übrigen stand zu erwarten, daß die Sozialdemokraten "aus der Enttäuschung, die ihnen bevorsteht, Lehren ziehen und dann künftig weniger auf den Sirenengesang der Internationalisten hören als bisher,,92. Staatsekretär Zimmermann ergänzte und variierte die Überlegungen des Kanzlers gegenüber Ludendorff, um die eigene Position zu bekräftigen. Schon die Stärkung der Mehrheitssozialisten gegenüber der Minderheit sei im Reichsinteresse. Im Ergebnis werde "die gesamte Partei dadurch im deutsch nationalen Sinne fester geschlossen" werden und ,,im Falle des Sieges werden sie (die Sozialisten) vielmehr desto sicherer für alle zum Wohle des Vaterlandes nötigen Forderungen an den Feind zu gewinnen sein, je schlechtere Erfahrungen sie inzwischen mit ihren fremden Parteigenossen gemacht haben,,93. Die Herausforderung des "Internationalismus" mußte angenommen und durchgehalten werden, war doch das Verhalten der Mehrheitssozialisten in Stockholm geradezu eine Nagelprobe auf ihre Entscheidung vom August 1914. Im Augenblick war zwar eine Entscheidung der Mehrheitssozialisten für den Internationalismus, d. h. gegen den nationalen Krieg, nur dann gefährlich - so auch die Meinung des Kanzlers -, wenn die militärische Lage gänzlich aussichtslos werden sollte. Auch für die Sozialisten war noch nicht die Situation eingetr~ten, daß sie sich so mit den Zielen der Gegner (demokratisches, republikanisches Deutschland) identifizieren konnten, daß sie von der Niederlage des eigenen Landes den Sieg ihrer politischen Ideale erwarteten und zugleich für ihr eigenes Land mit einem Verständigungsfrieden meinten rechnen zu können94 . Ganz unvorbereitet und ohne flankierende Begleitung konnte die Reichsregierung allerdings die Parteiführer der Mehrheitssozialisten nicht nach Stockholm reisen lassen, wenn man schon damit rechnen mußte, daß eine Einflußnahme auf

91 Über die Haltung der Ententemächte zur Stockholmer Konferenz orientiert zusammenfassend Ritter, Gerhard A., Die Internationale im Ersten Weltkrieg und die Vorgeschichte der Berner Konferenz, in: ders. (Hrsg.), Die H. Internationale 1918/1919, Berlin/Bonn 1980,

S.9-18.

92 Niederschrift Bethmann Hollwegs vom 1. Mai, am 4. Mai an Grünau zur Weitergabe an Ludendorff gesandt, in: Scherer, Andre/Grunewald, Jacques, (wie Anm. 2), S. 167. 93 Zimmermann an Grünau, 4.5.1917, in: PAAA Wk 15 geh. Bd. 15; auch Fischer, Fritz, (wie Anm. 1), S. 329. Czernin erwartete für das Scheitern die Einsicht der Öffentlichkeit, "daß die Sozialdemokratie in der Friedensfrage nicht mehr Erfolg aufzuweisen hat, als die Aktion der besitzenden Klasse bzw. der aus letzterer hervorgegangenen Diplomatie ... ", in: Steglieh, Friedensappell (wie Anm. 2), Nr. 46, S. 81. 94 Noske erklärte bei der Aussprache des Reichstages über den Ausbruch der russischen Revolution am 29. 3. 1917, der deutschen Sozialdemokratie sei während des Krieges vom Ausland mehrfach der Rat gegeben worden, Revolution zu machen. "Die Befolgung dieses Rates hätte die Niederlage unseres Landes bedeutet, würde ungeheures Elend über unser Volk und nicht zuletzt auch über die Arbeiterklassen gebracht haben". David ergänzte das durch die Aussage, die Sozialdemokratie werde ein soziales Königtum unterstützen, in: Dülffer, Jost, (wie Anm. 4), S. 371.

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die linke Minderheit kaum möglich sein werde95 • Es kam darauf an, daß sie sich bei ihren Aussagen über Friedensbedingungen nicht zu Äußerungen verleiten ließen, die den Zielen der Regierung entgegen liefen. Andererseits sollten sie durch ihre Stellungnahmen den Gegnern keinen Einblick in die innenpolitische und kriegswirtschaftliche Situation des Reiches geben. Der Reichskanzler rechnete mit Profilierungssucht und Maßlosigkeit, einer Folge des Fehlens parlamentarischer Praxis der "Überlieferung und systematischen Besonnenheit", die aus dem ganzen Verfahren bei Staaten mit parlamentarischer Regierungsform erwüchsen96 . Die - wie Kurt Riezler sie nannte - "gutmütigen Kosmopoliten" der deutschen Mehrheitssozialisten mußte man von Regierungsseite gehörig instruieren und in Stockholm selbst durch Vertrauenspersonen beeinflussen und beschatten lassen. Neben dem Redakteur des "Vorwärts" Baake und dem Mitglied der Generalkommission der Gewerkschaften Jansson und weiteren Vertrauenspersonen des Auswärtigen Amtes 97 konnte dazu der linksliberale Historiker Gustav Mayer gewonnen werden. Nachdem er zuvor schon in Belgien, dessen vertragliche Bindung an das Reich nach einem militärischen Sieg er befürwortete, im Sinne einer zukünftigen Friedensregelung tätig geworden war98 , wandte er sich jetzt im Mai 1917 an St. S. Zimmermann99 . Es bestehe zwar kein Grund, an der patriotischen Gesinnung von Delegierten wie Dr. David und Scheidemann zu zweifeln, aber man könne sich ,,nicht verhehlen, daß nicht alle Gesichtspunkte, auf die das Auswärtige Amt Wert legen muß, auch ihnen stets gegenwärtig sein werden". Ganz davon abgesehen solle man versuchen, auf die internationale Konferenz selbst Einfluß zu nehmen. Für eine solche Mission war Gustav Mayer hervorragend geeignet, kannte er doch aus seiner Arbeit als Historiker und journalistischer Beobachter vieler nationaler Sozialistenkongresse eine ganze Reihe führender Persönlichkeiten sozialistischer Parteien und Gruppen. Andererseits ließ sich Gustav Mayer - wie erst jetzt deutlich wird 1oo_ neben dieser gewissermaßen offiziellen Mission, die in vielfältigen meinungsbildenden Gesprächen und Berichten nach Berlin ihren Ausdruck finden sollte, im Zusammenhang mit geheimen Stützungsaktionen für die Bolschewiki in Rußland nutzbringend einsetzen. 95 Trautmann vom Ausw. Amt notierte am 15. 6., er wolle mit Bernstein sprechen und Unterstaatssekretär Stumm solle sich Ledebour (heide USPD) kommen lassen, in: PAAA, Wk2c/2. 96 Randbemerkung Bethmann Hollwegs auf ein Schreiben Grünaus an das Ausw. Amt, 1. 5. 1917, in: Scherer, Andre I Grunewald, Jacques, (wie Anm. 2), S. 167. 97 Gustav Steffens, Saenger (Neue Rundschau), Karl Moor, Otto Lang aus der Schweiz wurden im Auftrag des Ausw. Amtes tätig. 98 Brief an Hermann Oncken vom 12. Nov. 1914, in: NL Oncken, Niedersächsisches Staatsarchiv Oldenburg, 271- 14, 334. 99 Gustav Mayer am 6. 5. 1917 an St. S. Zimmermann, Konzept im NL Mayer (Privatbesitz). 100 Haupts, Leo, Gustav Mayer und die Stockholmer Konferenz der 11. Internationale 1917, in: HZ 247 (1988), S. 551-583.

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Was die Friedensbedingungen anging, so war durch die Borbjerg-Mission bereits gut vorgearbeitet. Scheidemann, Ebert, Gustav Bauer (Generalkommission der Gewerkschaften) und der für die deutsche Regierung arbeitende zwielichtige ParvusHelphand lOl reisten im April im Auftrage des Auswärtigen Amtes nach Kopenhagen, um dort den dänischen Sozialisten Borbjerg lO2 über deutsche Friedensvorstellungen zu unterrichten. Dieser fuhr anschließend auf Geheiß der dänischen Sozialdemokraten nach Petersburg. Die Absicht der Dänen, eine Friedensinitiative der sozialistischen Parteien einzuleiten, hatte insofern Erfolg, als sich nicht nur das "Büro der sozialistischen Internationale" bemüßig fühlte, seine Anstrengungen zur Einberufung einer internationalen Konferenz zu beschleunigen, sondern auch der Petersburger Sowjet erklärte, nun seinerseits zu einer solchen Konferenz einzuladen. Offen blieb allerdings, ob die übermittelten Friedensbedingungen: Frieden ohne Zwang, Anerkennung der Unabhängigkeit Polens, keine Ansprüche auf Kurland oder Litauen, keine neue Offensive in Rußland, kleine Grenzkorrekturen, Separatfrieden - wirklich denen der deutschen Regierung entsprachen. Schon Mitte Juni zeigte sich, daß der Mißerfolg der Konferenzbemühungen bevorstand, die Erwartungen der Reichsleitung also zutrafen. Die eigentliche Konferenz konnte vorerst nicht beginnen, da die Teilnahme der Ententesozialisten bisher ungewiß geblieben war lO3 • Zudem hatten die Vertreter der deutschen Mehrheitssozialisten, wie man vielen Berichten und Meinungsäußerungen entnehmen konnte, in Stockholm die Sache der deutschen Regierung zuverlässig vertreten 104 . Die Unabhängigen fanden hingegen, als sie erst im Juli I August in Stockholm eintrafen, dank des sinkenden Vertrauens und des schon im Laufe des Juni schwindenden Interesses der internationalen Presse an der sozialistischen Friedensinitiative mit ihren Stellungnahmen nur noch begrenzte Aufmerksamkeit. In der innenpolitischen Auseinandersetzung in der Julikrise verschärfte sich allerdings der Ton der Sozialdemokraten. "Den materiellen Instinkten der Massen glaubten auch die bestgestimmten sozialdemokratischen Führer mit internationalen Ideologien begegnen zu müssen. Mit der Wahnvorstellung, daß die Friedensformel "ohne Annexion und Entschädigung" nur deshalb nicht ausgereicht habe, den Frieden zu bringen, weil die eigene Regierung die heilbringende Formel nicht wörtlich genommen hätte, wurde die Opposition der Massen mehr und mehr in ein antinationales Fahrwasser geleitet. Mehr als je redeten beide Hälften des Volkes eine völlig verschiedene Sprache. Die Lage war weder so gut, wie die Rechte, noch so schlecht, wie die Linke glaubte,,105. Scharlau, Winfried S.I Zeman, Zbynek A., (wie Anm. 72), S. 252. Borbjerg wurde von den Bolschewiki als deutscher Agent abgelehnt. 103 Ritter, Gerhard A., (wie Anm. 91), S. 9 - 18. 104 Ebert, Scheidemann, Legien und Dr. David waren Mitglieder der MSPD-Delegation; Bericht Scheidemanns vor der Reichstagsfraktion am 4.7., in: Matthias, Erich/Pikart, Eberhard, (wie Anm. 17), S. 263; ebenso Bericht Prof. Tönnies an St. S. Zimmermann am 26.6., in: PAAA Wk Rußland 31b. 105 Dülffer, Jost, (wie Anm. 4), S. 257 f. 101

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Eine Belebung erfuhr das Konferenzprojekt noch einmal durch das Auftauchen russischer Delegierter und der Vereinigung ihrer Friedensbemühungen mit den bisherigen neutralen Bestrebungen. Erneut ging es um die Teilnahme der Parteien der Ententestaaten, um die Frage der Konferenzprozedur, um die Tagesordnung und um den Vorsitz. Die Entscheidungen der alliierten Regierungen verurteilten das Konferenzprojekt jedoch endgültig zum Scheitern. Sie weigerten sich nach vielen Verhandlungen endgültig, Pässe für sozialistische Vertreter ihrer Länder auszustellen. ,,Eher einem dreijährigen Kind (wolle er) das Kommando über ein Augzeug anvertrauen als der Labour-Party erlauben, Delegierte nach Stockholm zu entsenden", erklärte Lord Cecil vor dem Unterhaus und gab damit der verbreiteten Meinung in englischen Regierungskreisen Ausdruck. Die Paßverweigerung führte allerdings in England und Frankreich zu schweren inneren Auseinandersetzungen, zu Kabinettsaustritten und nachhaltigen Zerwürfnissen 106 . Für die deutsche Regierung war diese Entwicklung höchst willkommen. Alle möglichen Komplikationen, die sich aus wirklichen Verhandlungen oder auch nur aus Annäherungen ergeben konnten und z.T. mußten, erledigten sich damit von selbst. Denn so sehr das Auswärtige Amt unter Staatssekretär Zimmermann und auch unter seinem Nachfolger von Kühlmann sich bemüht hatte, durch die Entsendung von Abordnungen Ägyptens, Persiens, Indiens und der Türkei den Kreis der Beteiligten zu seinen Gunsten zu verändern, so wenig ließ sich verkennen, daß die "ganze übrige Welt" gegen Deutschland sein werde. "Insofern wird die Stockholmer Konferenz ein kleines Vorbild für die große Friedenskonferenz sein", hieß es in dem Bericht des Sachreferenten für den neuen Staatssekretär107 . Als Konsequenz mußte bei dem Zustandekommen der Konferenz erwartet werden, daß sich die englisch-französischen Bestrebungen, die Verhandlungen über die Erörterung der Kriegsschuldfrage für Deutschland zum Tribunal zu machen, durchsetzen würden; genauso würden sie in der Lage sein, ihre Anforderungen bezüglich ElsaßLothringens und anderer territorialer Regelungen sowie der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes als Prinzip auf die Tagesordnung zu setzen. "Trotz dieser Gefahren", so faßte der Bericht zusammen, "wird es weiter nötig sein, daß die deutsche Regierung ihre bisherige Politik zur Stockholmer Konferenz beibehält. Wir können uns den Luxus nicht erlauben, eine Aktion gegen den Frieden zu unternehmen, sondern müssen möglichst versuchen, unseren Gegnern das Odium einer solchen Handlung zuzuschreiben,,108. Der Gedanke, die eigenen Sozialisten zu behindern und die Presse anzuweisen, gegen die Konferenz zu polemisieren, wie er bei der OHL nach dem Sturz Bethmann Hollwegs erneut erwogen wurde, fand nicht die Zustimmung des neuen Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes von Kühlmann. 106 Klepsch, Richard, Die britische Sozialdemokratie und das Projekt einer internationalen sozialistischen Friedenskonferenz im Fühjahr / Sommer 1917, in: Archiv für Sozialgeschichte 26 (1986),S. 239 - 280. 107 Trautmann vom Ausw. Amt an Staatssekretär Kühlmann am 20. 8. 1917, in: Scherer, Andre/Grunewald, Jacques, (wie Anm. 2), S. 353 - 357, hier S. 357. 108 Ebd.

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Fazit 1. Für den Reichskanzler Bethmann Hollweg brachte das Projekt einer Friedenskonferenz der 11. Internationale in einer sehr bedrängten Lage des Frühjahres 1917 keinerlei Erleichterung. Die Reise der Führer der deutschen sozialistischen Parteien nach Stockholm und ihre dortigen Gespräche führten nicht zu Friedensanknüpfungen, deren der Reichskanzler für die Behauptung seiner Handlungsfreiheit und damit für sein Verbleiben im Amt so dringend gebraucht hätte und für deren Zustandekommen er bereit war, die Formel ,,Frieden ohne Annexionen und Entschädigung" anzunehmen. Sein Nachfolger Michaelis (seit Juli 1917) schenkte den noch andauernden Konferenzbemühungen wenig Beachtung, da er einerseits in der Friedensfrage ganz der OHL folgte, andererseits das Scheitern der Bemühungen der sozialistischen Internationale offenkundig war. Staatssekretär von Kühlmann hoffte auf eine Verständigung mit England. 2. Bethmann Hollwegs Befürwortung einer sozialistischen Friedensmission war immer überschattet, einerseits von dem Mißtrauen, daß ein Gelingen der Mission eine ungebührliche Aufwertung der Sozialdemokraten bewirken und damit die mühsam gehaltene innere Balance zerstören und jede Steuerung der Reformfrage unmöglich machen würde; andererseits bedrängte ihn die Sorge, welche politische Entwicklung die Sozialisten nehmen könnten. Die von ihm - wie auch von der OHL - praktizierte Verwendung von Parteiführern in Auftragsmissionen hatte für die Mehrheitssozialisten die Wirkung, daß sie sich als Zuarbeiter für die professionellen Diplomaten verstanden mit der Folge, daß sie sich 1918 nicht in der Lage sahen, das Geschäft der Außenpolitik in eigene Hände zu nehmen lO9 • 3. Eine internationale Solidarität, die auch die deutsche Sozialdemokratie umfaßt hätte und die wiederherzustellen Wolfgang Heine am 1. Mai in der Fraktionssitzung der SPD als "unsere Aufgabe in Stockholm" beschrieben hatte 110, trat nicht ein. Es entstand keine Plattform, die für eine Aussöhnung der Kriegsparteien nach Beendigung des Krieges wichtig gewesen wäre und die vor allem für die junge Weimarer Demokratie eine wesentliche Stütze von außen hätte sein können. Für die Mittelmächte, zumal für das Deutsche Reich, hatten die Projekt gebliebenen Stockholmer Bemühungen um eine Friedenskonferenz eine totale Isolation offenkundig gemacht. Neben die machtpolitische 111 trat die ideologische Ausgren109 Haupts, Leo, Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau. Diplomat und Minister in Kaiserreich und Republik, Göttingen 1Zürich 1984, S. 63 f. 110 In: Matthias, Erich 1Pikart, Eberhard, (wie Anm. 17), S. 255 f. 111 1917 war die Festigkeit der gegnerischen Koalition in dem "Vertrauen auf die Unerschöpflichkeit der finanziellen, ökonomischen technischen Kräfte der bei den angelsächsischen Weltmächte" enger zusammengekittet worden. Gustav Mayer stellte bei seinen vielen Gesprächen mit Ausländern fest, daß es bei ihnen "nahezu ein beherrschendes Dogma" sei, "daß man mit ihnen verbündet, einfach nicht den kürzeren ziehen kann ... ", Gutachten Gustav Mayers für den Staatssekrär im Reichsschatzamt Graf Roedem 10. 12. 1917, in: Bundesarchiv, Abteilung Koblenz R 2/2559.

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zung 1l2 , die 1918 auch durch eine Abdankung des Kaisers, die Parlamentarisierung des Reiches und die Demokratisierung Preußens kaum zu durchbrechen war. Im Ergebnis gab die Entwicklung der Konferenz den Erwartungen der Regierungen und der Militärs recht. Verhandlungen, die einerseits zur Festlegung von Friedensbedingungen genötigt hätten und andererseits die sozialistischen Parteiführer zu dem Ruhm, im Unterschied zur professionellen Diplomatie den Frieden wirklich herbeiführen zu können, verholfen hätten, fanden nicht statt. Der Weg, über eine Erneuerung der 11. Internationale und die Wiederherstellung der Einheit der Arbeiterbewegung l13 den Krieg in Verhandlungen zu beenden, wie die Massen zu Beginn der Erörterungen um das Konferenzprojekt gehofft hatten, war nicht gangbar gewesen. Ein Verhandlungsfrieden, vorbereitet durch eine Verständigung der Arbeiterführer der kriegführenden Mächte, konnte 1917 wie 1919 114 nicht zustandekommen.

112 Gustav Mayer faßte seine Eindrücke in Stockholm für den Leiter der politischen Abteilung des Auswärtigen Amts, Gesandter von Bergen, am 13. 9.1917 zusammen: ,,Auf keinen Punkt aber wird größeres Gewicht gelegt als darauf, daß Verträge nicht bloß zwischen den Kabinetten sondern zwischen den Völkern abgeschlossen werden und, weil die Völker als Masse Kontrahenten nicht sein können, zwischen solchen Regierungen, die der unbestreitbare Ausdruck des Volkswillens sind. Dies ist die Forderung des demokratischen Kredos, und sie ist allen unseren Gegnern gemeinsam: dem amerikanischen Diktator ebenso wie den russischen Regierungssozialisten und den englischen und französischen Arbeiterparteien." Gustav Mayer an von Bergen, in: PAAA, Wk geh. 2c / 10. 113 Die Spaltung in rechte und linke Sozialisten bleibt bestehen. Die Unabhängigen sehen - wie die Konferenz der Zimmerwalder in Stockholm im September 1917 zeigte - die Möglichkeit des Friedens nur noch in der Revolution, die die herrschenden Führungsgruppen und die sie tragenden Schichten in den Staaten entmachtete und damit den Weg für den Frieden freimachte. Sowjetrußland wird Vorkämpfer der Weltrevolution. Das Programm der radikalen Linken bleibt aber unter den Arbeiterparteien in der Minderheit. 114 Vor allem: Ritter, Gerhard A., (wie Anm. 91), Einleitung.

"Auseinanderstrebendes Zusammenhalten" Bassermann, Stresemann und die Nationalliberale Partei im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches

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Nach dem Scheitern des Bülowblockes 19091öste sich die Nationalliberale Partei aus ihrer Verbindung mit den Konservativen und war unter dem maßgeblichen Einfluß ihres Parteivorsitzenden, Ernst Bassermann, seither bemüht, eine unabhängige Mittelposition einzunehmen. Obwohl sich Bassermann mit allen Kräften um eine Wahrung der Parteieinheit bemühte, war die Situation innerhalb der Nationalliberalen Partei in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg maßgeblich gekennzeichnet durch scharfe innere Gegensätze. Ein "linker" und ein ,,rechter" Parteiflügel standen sich unversöhnlich gegenüber. 1912 erreichte die Erbitterung des rechten Flügels über die vermeintlich ausschließlich nach links orientierte Politik der Parteileitung einen Höhepunkt, die sich nach Lage der Dinge vor allem gegen den Parteivorsitzenden Bassermann und seinen politischen Ziehsohn und engsten Mitarbeiter, den Syndikus des Verbandes sächsischer Industrieller, Gustav Stresemann, richtete. Auf der konstituierenden Sitzung des Zentralvorstandes, des formal höchsten Führungsgremiums der Partei, nahm der rechte Parteiflügei, vor allem repräsentiert durch die Landesverbände Westfalen und Schleswig-Holstein, den offenen Kampf um die Macht in der Partei auf, der auch und gerade ein Kampf um den zukünftigen politischen Kurs der Nationalliberalen war. Zwar gelang es Bassermann, die drohende Spaltung der Partei zu verhindern, doch war die Folge keineswegs eine Beruhigung der innerparteilichen Situation. Vielmehr hielten die Auseinandersetzungen zwischen beiden Flügeln an und gewannen noch eine besondere Schärfe dadurch, daß der Konflikt nun von eigenen organisatorischen Zentren (dem ,,Jungliberalen"- und dem "Altnationalliberalen Reichsverband") aus weiterging. Der Kriegsausbruch 1914 überdeckte zunächst die innerparteilichen Gegensätze. Dieser labile Burgfrieden zerbrach jedoch 1917, als zu den Meinungsverschiedenheiten über die Kriegsziele ein scharfer Konflikt über das Ausmaß der anzustrebenden innenpolitischen Reformen hinzutrat. Das Jahr 1917 stellt in der allgemeinen Geschichte des Ersten Weltkriegs wie in der Entwicklung der deutschen Innenpolitik einen tiefen Einschnitt dar. Die Entscheidungen und Ereignisse des ersten Halbjahres 1917 - das Scheitern des Wilsonschen Vermittlungsangebots, der Übergang zum uneingeschränkten U-Boot-

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Krieg, die Russische Revolution, der Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg - verliehen dem Krieg eine neue Richtung und einen neuen Charakter und stellen damit den Scheitelpunkt der Weltkriegsentwicklung dar. Auch im Bereich der inneren Politik muß das Jahr 1917 als Epochenjahr gelten. Seit der Jahreswende 1916 / 17 änderte sich die innenpolitische Lage dramatisch, drängten die ungelösten innenpolitischen Probleme unter dem Druck des Weltkrieges mit Macht an die Oberfläche und forderten Entscheidungen. Die weggeschobenen, im "Burgfrieden" von 1914 nur scheinbar aufgehobenen Konflikte gewannen nun nicht nur neue Aktualität, sondern auch eine gänzlich andere Qualität. Die schweren, überaus verlustreichen Materialschlachten vor Verdun und an der Somme und die Erfahrungen des Hungerwinters 1916/ 17, der die Proteststimmung in der Bevölkerung beträchtlich verschärfte, zerstörten nicht nur die Fassade nationaler Geschlossenheit, sondern verwandelten auch das politische Klima fühlbar: Unsicherheit, nervöse Spannung, unruhige Aktivität bestimmen seither die Atmosphäre in Deutschland. Kriegslage und innenpolitische Situation sind auf das engste miteinander verwoben und lassen die Notwendigkeit innerer Reformen, aber auch die Unumgänglichkeit, aus einem Krieg herauszufinden, der militärisch nicht mehr gewonnen werden konnte, für zahlreiche Parlamentarier notwendig erscheinen. Die Friedensfrage wurde, nach der Freigabe der Kriegszieldiskussion im November 1916, zunehmend ein Streitthema der Parteien; auch die Frage der Reformen - bezogen auf das preußische Wahlrecht, den Einfluß des Reichstages und letztlich die politische und soziale Verfassung des Kaiserreiches überhaupt - wurden zu Themen, über denen sich die Mehrheiten grundlegend verschoben 1• Zielsetzung der Untersuchung ist - neben einer Nachzeichnung des Weges der Nationalliberalen Partei von den Reichstagswahlen 1912 bis zum Tode Bassermanns im Juli 1917 - eine Klärung der Entscheidungsfunktionen der Führungsgremien für den politischen Kurs der Partei. Ein weiteres Schwergewicht bildet das außerordentlich enge, mit zunehmender Dauer des Weltkriegs jedoch immer problematischer werdende Verhältnis zwischen dem Parteivorsitzenden Ernst Basser1 Obwohl die Forschung über den Ersten Weltkrieg in der letzten Zeit eine gewisse Renaissance zu verzeichnen hat, fehlt eine neuere, die letzten Einzelergebnisse der Forschung integrierende Gesamtdarstellung bislang; siehe einstweilen die Arbeiten von Kielmansegg, Peter Graf von, Deutschland und der Erste Weltkrieg, Stuttgart 21980 (I. Aufl. 1968); Gutsehe, Willibald, (Leiter des Autorenkollektivs), Deutschland im Ersten Weltkrieg, Bd. 2, Berlin 1968; Kocka, Jürgen, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 19141918, Göttingen 1973; Geiss, Imanuel, Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, München 1978. Zu Bethmann Hollweg siehe die kritische Bibliographie von Hildebrand, Klaus, Bethmann Hollweg. Der Kanzler ohne Eigenschaften?, Düsseldorf 1970; Jarausch, Konrad, Gerrnan History - Bethmann Hollweg Revisited, in: Central European History 21 (1988), S. 224 - 243 sowie die biographische Studie von Wollstein, Günter, Theobald von Bethmann Hollweg, Göttingen 1995 (mit weiterer Lit.). Die bis heute eindringlichste Analyse der Politik der Reichsleitung im Jahr 1917.und den Verlauf der Julikrise bietet Ritter, Gerhard, Staatskunst und Kriegshandwerk, Bd. 3: Die Tragödie der Staatskunst. Bethmann Hollweg als Kriegskanzier 1914-1917, München 1964; siehe aber auch Fischer, Fritz, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914 - 1918, Düsseldorf 1961.

"Auseinanderstrebendes Zusammenhalten"

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mann und seinem politischen Ziehsohn und engsten Mitarbeiter, dem Syndikus des Verbandes sächsischer Industrieller, Gustav Stresemann2 .

I. Die seit 1910 schwelende Krise in der Nationalliberalen Partei verschärfte sich nach den Reichstagswahlen vom Januar 1912. Das schlechte Abschneiden bei der Reichstagswahl - immerhin ein Verlust von sieben Mandaten (1907: 52; 1912: 45)3, die zunehmende Distanzierung der Schwerindustrie vom vermittelnden Kurs Bassermanns und das Verhalten der Fraktion bei der Wahl des Reichstagspräsidiums4 führten unmittelbar nach der Wahl zu schweren Auseinandersetzungen innerhalb der Partei. Zum offenen Ausbruch kamen diese Spannungen am 24. März 1912, als sich der Zentralvorstand für die Dauer der neuen Legislaturperiode konstituierte. Getragen wurde die Kritik an der Parteiführung vor allem von den rechtsoppositionellen Landesverbänden Westfalen und Schleswig-Holstein, deren Kurs - wenn auch verdeckt - ebenfalls durch den Vorsitzenden der preußischen Landtagsfraktion, Robert Friedberg, unterstützt wurde5 . 2 Eine Gesamtdarstellung zur Politik der NLP im Kaiserreich fehlt. Für die Iahre 19141918 siehe die ausgezeichnete Überblicksdarstellung bei Langewiesche, Dieter, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt 1988 sowie die wichtigen Hinweise bei Sheehan, Iames I., Deutscher Liberalismus, München 1983; White, Dona1d S., The Splintered Party. National Liberalism in Hessen and the Reich 1867 - 1918. Die Politik der nationalliberalen Fraktion des preußischen Abgeordnetenhauses im Weltkrieg ist ausführlich behandelt bei Thieme, Hartwig, Nationaler Liberalismus in der Krise, Boppard 1963. Zu Stresemanns politischem Weg im Ersten Weltkrieg siehe bes. die Arbeit vom Edwards, Marvin L., Stresemann and the Greater Germany 1914-1918 sowie die in der Einleitung von Michalka, Wolfgang, in: ders./Lee, Marshall (Hrsg.), Gustav Stresemann, Darmstadt 1982 und bei Baumgart, Constanze, Stresemann und England, Köln u. a. 1996, genannten Arbeiten; zu der Frage einer adäquaten Bewertung Stresemanns siehe Kolb, Eberhard, Probleme einer modernen Stresemann-Biographie, in: Franz, Otrnar (Hrsg.), Am Wendepunkt der europäischen Geschichte, Göttingenl Zürich 1981, S. 107 - 134. 3 Eine ausführliche Analyse des für die NLP niederschmetternden Wahlergebnisses bietet Bertram, Iürgen, Die Wahlen zum deutschen Reichstag von 1912, Düsseldorf 1964, S. 59ff. Auch Stresemann verlor sein Reichstagsmandat, das er 1907 im 21. (sächsischen) Reichstagswahlkreis Annaberg-Schwarzenberg erkämpft hatte. 4 Bei der Stichwahl zwischen Peter Spahn (Zentrum) und August Bebel (SPD) gaben etwa 15 Nationalliberale ihre Stimme für Bebel ab, der so beinahe zum Präsidenten gewählt worden wäre. Zudem unterstützte die überwiegende Mehrheit der Fraktion die Wahl Philipp Scheidemanns zum ersten Vizepräsidenten, siehe Verhandlungen des Reichstags. Stenographisehe Berichte (VRT), Bd. 316, S. 31 ff. Daß es sich bei der Stimmabgabe für Bebel um ein fehlgeschlagenes taktisches Manöver handelte (man hoffte, daß Bebel die Wahl ablehnen würde, um dann den Prinzen zu .Schoenaich-Carolath durchzubringen), erweist die Aufzeichnung Bassermanns - der dieses Vorgehen ablehnte - im Bundesarchiv Koblenz (BAK), 3031 10; siehe auch Egelhaaf, Gottlop, Lebenserinnerungen, bearb. v. Rapp, Adolf, Stuttgart 1960, S. 125 f. 5 Friedberg, Vorsitzender des Geschäftsführenden Ausschusses der Gesamtpartei und der preußischen Landtagsfraktion, charakterisiert Theodor Eschenburg, Das Kaiserreich am

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Um die Partei auf einen strikteren Rechtskurs festzulegen und Basserrnanns Position zu schwächen, lehnte die Rechtsopposition die bei der Wahl des Ersten Vorsitzenden beantragte Akklamationswahl ab und setzte eine Zettelwahl durch, bei der Basserrnann bei 109 abgegebenen Stimmen mit 30 Enthaltungen eine schwere persönliche Niederlage hinnehmen mußte 6 . Auch Stresemann, der seinen Mentor nach der Wahl vehement vor einem zu nachgiebigen Kurs sowie einer drohenden Partei spaltung gewarnt hatte 7 und ihn noch kurz vor der Sitzung beschwor, gegen eine geplante Gegenkandidatur Eugen Schiffers energisch vorzugehen8 , wurde ein Opfer der Rechtsopposition. Bei der Neukonstituierung des Geschäftsführenden Ausschusses erreichte sie es mit Hilfe vorbereiteter Listen, Stresemann und den ehemaligen Vorsitzenden des Jungliberalen Reichsverbandes, Herrnann Fischer, aus dem Ausschuß herauszuwählen und durch Fritz Hausmann und Paul v. Schwabach, zwei ausgesprochene Exponenten des rechten Parteiflügeis, zu ersetzen9 . Obwohl es Basserrnann auf dieser turbulenten Sitzung unter Einsatz aller Kräfte gelang, die drohende Parteispaltung abzuwenden, war dieser Erfolg jedoch mit einer deutlichen Rechtsschwenkung und einem offensichtlichen Kohäsionsverlust der Partei erkauft 10. Der Vorstoß gegen den Jungliberalismus, in dem die Rechtsopposition die treibende Kraft für den "Abmarsch nach links"ll sah, hatte Scheideweg. Bassermann, Bülow und der Block, Berlin 1929, S. 268 ff. treffend als den Typus des ,,konservativen, vermögenden preußischen Bürgers ... norddeutsch, konservativ ... antidemokratisch"; weniger treffend dagegen Thieme (wie Anm. 2), S. 207. 6 Siehe die bei Reiß, Klaus Peter (Bearb:), Von Bassermann zu Stresemann. Die Sitzungen des nationalliberalen Zentralvorstandes 1912-1917, Düsseldorf 1967, als Dok. Nr. Ha abgedruckte Aufzeichnung des Leiters der Reichsgeschäftsstelle, Paul Breithaupt, über den Verlauf der Sitzung. 7 In einem Schreiben vom 27. 1. 1912 machte Stresemann Bassermann heftige Vorwürfe, er habe Jakob Becker, dem Direktor des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie für Südwestdeutschland und politischen Vertrauten des auf dem äußersten rechten Parteiflügel stehenden Heyl zu Herrnsheym (Worms), den "Weg zum Reichstag" geebnet, erschien dieser doch als Garant für die mögliche Spaltung der Partei: "Schon jubelt Otto Arendt, daß die nationalliberale Fraktion sich bei der ersten besten Gelegenheit spalten werde", Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA) Nachlaß (NL) Stresemann 136. 8 So teilte er Bassermann am 2. 3. 1912 mit: ,,Mir ist zweifelhaft, ob Sie einen freundlichen Abschluß ihrer politischen Tätigkeit erleben werden, wenn Sie die richtige Taktik immer nur im Nachgeben erblicken". Wie Stresemann ausführte, wurde die Gegenkandidatur Schiffers tatkräftig unterstützt von dem Leipziger Tageblatt, dem Chemnitzer Nationalliberalen Verein und der Wormser Zeitung, ebd. 9 Bei der Wahl scheiterten mit Oskar Poensgen und Johannes Junck zwei weitere Vertreter des linken Flügels, siehe Reiß (Anm. 6), S. 92. 10 So lautete die Schlagzeile des Berliner Tageblatts (25. 3. 1912, Nr. 155, 156) am Morgen nach der Zentralvorstandssitzung ,,Niederlage Bassermanns und Stresemanns", und die Abendausgabe titelte: "Krach bei den Nationalliberalen. Friedberg gegen Bassermann". 11 So der Jungliberale Bruno Marwitz in: Die Grenzboten 17 (1912), S. 157. Zur Gründung des Jungliberalen Reichsverbandes 1900 und zu seinen Zielen siehe ausführlich Nipperdey, Thomas, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, Düsseldorf 1961, S. 94ff.; 126ff.; Köhler, Christian, Der Jungliberalismus, Köln 1908; Eschenburg (wie Anm. 5), S. 81 ff.

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überraschend klaren Erfolg. Mit 63 zu 43 Stimmen wurde einem - seitens der Landesverbände Schleswig-Holstein und Westfalen inaugurierten 12, aus Gründen der Tarnung jedoch von Rudolf Heinze (Dresden) begründeten - Antrag stattgegeben, der praktisch auf eine Auflösung der Jungliberalen Reichsverbandes hinauslief13 • Obwohl die Jungliberalen diesen Vorstoß mit der Forderung nach einer endgültigen Beschlußfassung auf einem Allgemeinen Vertretertag der Partei zu kompensieren suchten, machte der Verlauf der Sitzung doch deutlich, daß die Opposition innerhalb der Parteiorganisation - vor allem in der preußischen Landtagsfraktion, aber auch in einzelnen Landesverbänden - über mächtige Stützpunkte verfügte. Bassermann selbst, der das politische Kalkül der Altliberalen noch kurz vor der Zentralvorstandssitzung gegenüber Stresemann präzise (und durchaus bedrückt) analysiert hatte 14 , gab sich jedoch nach der Sitzung trotz der vehementen Flügelkämpfe betont optimistisch. Im April 1912 teilte er Fürst Bülow mit, er müsse zwar "schwere Zeiten in der Partei" durchstehen, "werde aber durchhalten und siegen", betonte jedoch gleichzeitig: "Wenn die Nationalliberale Partei in dem Kielwasser Heydebrands und Erzbergers fahrt, hat sie jede Bedeutung für die Zukunft verloren" 15. Wenn auch der Manövrierraum für die Parteiführung erheblich enger geworden war, so wußte Bassermann doch einen entscheidenden Vorteil auf seiner Seite: Die Altnationalliberalen hatten keine Führungspersönlichkeit, die sie präsentieren konnten. Ihre führenden Exponenten Schiffer, Bartling und Schwabach waren in der Reichstagsfraktion isoliert und bildeten überdies mit dem preußischen Nationalliberalismus unter der Führung Friedbergs keine homogene Gruppe16. Für Stresemann bedeuteten der Verlust des Reichstagsmandats und das Scheitern bei der Wahl in den Geschäftsführenden Ausschuß demütigende Niederlagen. 12 Siehe dazu die Schreiben Anton Schifferers, preußisches Landtagsmitglied, Vorsitzender der schleswig-holsteinischen Organisation und einer der bösartigsten Frondeure gegen die von Bassermann und Stresemann verfochtene politische Linie, an Walter Bacmeister vorn 2. und 4. 4. 1912, Landesarchiv Schleswig-Holstein (Schleswig), NL Schifferer. 13 Wortlaut des Antrages bei Reiß (wie Anm. 6), S. 27. Bassermann vermutete hinter diesem Antrag das Zentralbüro der Partei unter der Leitung von Generalsekretär Breithaupt, siehe sein Schreiben an Stresemann vorn 28.3. 1912, PA NL Stresemann 136. 14 So teilte er Stresemann am 18. 3. 1912 mit: "Der Kampf gegen die Jungliberalen ist gleichzeitig der Kampf gegen den H[ansa]B[und], den Bauernbund und letzten Endes wird es der Kampf gegen die liberale Richtung, und der Jungliberalismus, der als Organisation wenig bedeutet, ist das Aushängeschild. Ist es erst so weit, dann wird man die Kandidaturen Stresemann, Weber, Amim, Wachhorst bekämpfen und nach rechts umleiten, die Politik wird zum Untergang der Nationalliberalen Partei und zur Stärkung des Freisinns führen", ebd. 15 Schreiben Basserrnanns an Bülow vorn 3. 4. 1912, zit. nach: Spickernagel, Wilhelm, Fürst Bülow, Berlin 1921, S. 164. 16 Bassermann sah in Friedberg, dem als Vorsitzenden des Geschäftsführenden Ausschusses das Zentralbüro unterstand, einen der maßgeblichen Drahtzieher der Opposition. So teilte er Stresemann am 28. 3. 1912 mit: ,,Die Wahlen zum Geschäftsführenden Ausschuß sind unerhört. Das war des Zentralbüros Geschoß", PA NL Stresemann 136.

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Zwar hatte er noch während der Sitzung (und offenbar unmittelbar nach der entscheidenden Abstimmung) auf einem Notizzettel festgehalten: ,,In voller Ruhe das Ergebnis hinnehmen, trotzdem ein Stück Zukunft für meine politische Entwicklung davon abhängt. Mir hat vieles geschadet ... Das Vaterland [Konservative Sächsische Zeitung, L.R.] wird jubeln, die Wormser Ecke ebenfalls,,17, doch war er von den Begleitumständen seiner Abwahl äußerst aufgebracht l8 • Tief erbittert teilte er Bankdirektor August Weber in einem ausführlichen Schreiben mit, er neige "mehr und mehr zu der Ansicht, daß unsere Partei allmählich von dem Zentralverband Deutscher Industrieller aufgekauft wird. Die ganze Aktion gegen Bassermann und gegen die Führung der Reichstagsfraktion geht meines Erachtens vom Zentralverband Deutscher Industrieller aus". Aufgabe der Parteiführung müsse es nun sein, die Opponenten, die in der Reichstagsfraktion einen "Staat im Staate" gebildet hätten und als deren Führer er neben Hirsch (Essen) vor allem Flathmann (Kattowitz) und Leidig (Berlin) ansah, zu veranlassen, "ihre Plätze bei den Freikonservativen zu nehmen". Andernfalls bestünde die Gefahr, daß eine "größere Anzahl von Mitgliedern der Reichstagsfraktion nach dem 12. Mai zur Fortschrittlichen Volkspartei übertrete". Es wäre besser, eine Parteikrise in Kauf zu nehmen, als eine "Politik der Versöhnung und Verkleisterung der Gegensätze" zu betreiben, die letztlich nur darauf hinauslaufen müsse, "sich zu einer "illiberalen Politik ... mißbrauchen zu lassen,,19. Unterstützt in diesem entschiedenen Drängen auf eine klare Entscheidung der Parteileitung über den künftigen Kurs wurde Stresemann durch den Vorsitzenden des Jungliberalen Reichsverbandes, Robert Kauffmann, der ihm Ende März 1912 mitteilte, er sei der "Ansicht, daß der Kampf diesmal 17 Aufzeichnung Breithaupts über den Verlauf der Zentralvorstandssitzung, PA NL Stresemann 136; bei Reiß (wie Anm. 6) gedruckt als Dok. Nr. Ib. Die Verwendung dieser persönlichen Notiz Stresemanns für das interne Sitzungsprotokoll des Zentralbüros wurde Stresemann bekannt und hatte für Breithaupt noch ein unangenehmes Nachspiel, siehe ebd., Nr. 118, 136. 18 Wie Breithaupt in seiner Aufzeichnung hämisch notierte (siehe Anm. 17), habe sich Stresemann aufgrund seiner "Vielgeschäftigkeit und seiner Eitelkeit ... mehr Gegner geschaffen, als er selber weiß". Welche Rolle Stresemanns enge Verbindung mit dem Hansabund (dessen 2. Geschäftsführer, Kurt Kleefeld, der Schwager Stresemanns war) und bei dem Stresemann für den 1. Geschäftsführerposten im Gespräch war, bei seiner Abwahl gespielt hat, läßt sich an dieser Stelle nicht klären. Sicher ist jedoch, daß seine Erklärung, den Posten nicht annehmen zu wollen (siehe Deutscher Geschichtskalender (DGK) 1912 I, S. 190 f), den Zentralvorstand wenig beeindruckt hat, siehe auch das Schreiben von Stresemanns Privatsekretär Miethke an Illgen vom 1. 4. 1912, PA NL Stresemann 118. Noch im März hatte Bassermann Stresemann in seinem Entschluß bestärkt, nicht zum Hansabund überzuwechseln und sich für eine möglichst enge Verklammerung von Hansabund und Bund der Industriellen (BdI) ausgesprochen, siehe ebd., Nr. 136. Im Mai 1912 avancierte v. Richthofen als Nachfolger Knoblochs zum Geschäftsführer des Hansabundes, Stresemann wurde als Direktoriumsmitglied Beirat für Industrie, Handel und Angestelltenfragen, siehe dazu auch Stegmann, Dirk, Die Erben Bismarcks, Parteien und Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands, Köln 1970, S. 314. 19 Streng vertrauliches Schreiben Stresemanns an Weber vom 29. 3. 1912, PA NL Stresemann 120.

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durchgefochten" werden müsse. Zudem zeigte er sich überzeugt, daß die zu erwartende Sezession der Rechtsstehenden ,,keinen gefährlichen Umfang" annehmen werde; dies solle Stresemann auch Bassermann deutlich machen 2o . Auf dem Berliner Vertretertag der Nationalliberalen am 12. Mai 1912 zeigte sich jedoch schnell, daß Bassermann nicht gewillt war, die Parteikrise durch eine klare Unterstützung der Jungliberalen weiter zu verschärfen. Vielmehr wandte er sich in seiner Hauptrede entschieden gegen den "total verfehlten Gedanken" der Sammlungspolitik Bethmanns, die nichts als ein "politischer N~nsens" sei 21 . Gleichzeitig machte er jedoch deutlich, die Nationalliberale Partei dächte nicht daran, etwa eine "Großblockpolitik von Bassermann bis Bebei" zu unterstützen und betonte das Festhalten an einer Zusammenarbeit mit der Fortschrittspartei. Friedberg dagegen forderte in erster Linie eine kompromißlose Bekämpfung der Sozialdemokratie "mit aller Schärfe" und unterstrich, daß auch die Grenzlinien zur bürgerlichen Linken stärker akzentuiert werden müßten 22 . Hinsichtlich der Jungliberalen einigte man sich darauf, daß sich ihre Vereine den Landesverbänden der Partei anschließen sollten, während der Reichsverband selbst zukünftig als außerhalb der Parteiorganisation stehend betrachtet werden sollte - gleichzeitig wurde der Zu schuß aus der Parteikasse an den Reichsverband - bislang jährlich etwa 3.000 Mark23 - gestrichen. Darüber mußte der Reichsverband von der nächsten Legislaturperiode an auf seine Vertretung im Zentralvorstand verzichten 24 . Um jede weitere Verschiebung der Gewichte innerhalb der Partei zu vermeideIl und den Eindruck der Uneinigkeit nicht weiter zu verstärken, wurden die Anträge der Reichstags- und der preußischen Landtagsfraktion auf eine geschlossene Aufnahme in den Zentralvorstand dem sie bislang nicht angehörten - abgelehnt25 . Nicht zuletzt, damit die schwelenden Gegensätze in der Partei sich nicht zu einem Flächenbrand ausweiteten, hatte Bassermann in den Mittelpunkt seiner Rede einen "begeisterten Hymnus auf Militarismus, Marinismus und Imperialismus,,26 gestellt. Bei der starken Betonung einer imperialistischen Politik konnte Bassermann auf allseitige Zustimmung in der Partei rechnen, da in diesem Sektor nur geringfügige Meinungsverschiedenheiten Schreiben Kauffmanns an Stresemann, 27.3. 1912, ebd. 14. Allgemeiner Vertretertag der Nationalliberalen Partei. Protokoll aufgrund stenographischer Aufnahme, Berlin 1912, S. 45. 22 Ebd., S. 67. 23 Siehe dazu detailliert BAK R 45 1/5, p. 2 ff. 24 Vertretertag 1912 (wie Anm. 21), S. 3 f; !Off.. 25 Ebd.; zu dem komplizierten Besetzungsmodus des Zentralvorstandes siehe § 13 der Satzung von 1912, Reiß (wie Anm. 6), S. 54f.; Nipperdey (wie Anm. 11), S. 130ff. Die preußische Landtagsfraktion hatte für den Fall, daß allein die - mit ihrer großen Mehrheit auf Seiten Bassermanns stehende - Reichstagsfraktion aufgenommen werden sollte, dem Zentralbüro sowohl mit dem Entzug ihrer (beträchtlichen) finanziellen Unterstützung als auch mit der Gründung einer selbständigen preußischen Parteiorganisation gedroht, siehe Nationalliberale Correspondenz (NLC) 12.4. 1912, Nr. 82. 26 So die Welt am Montag am 13.5. 1912. 20

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zwischen den divergierenden Gruppen existierten 27 , hier bot sich dem Parteiführer der Kitt für die von Stresemann verworfene "Verkleisterung" der Gegensätze. Bassermann hatte zwar durch geschicktes Taktieren die drohende Partei spaltung vermieden und sich erneut, um ein treffenden Wort Rudolf Oldens aufzugreifen, als eigene ,,Mittelpartei in der Mittelpartei,,28 erwiesen, doch hatte er dafür einen hohen Preis bezahlt. Wie Friedrich Meinecke, selbst Delegierter auf dem Berliner Vertretertag, hervorhob, war es allein die ,,imperialistische Idee", die die Partei ,,im Innersten heute noch zusammenhält,,29. Zwar war es Bassermann gelungen, die Wogen zu glätten, doch war die Rechtsopposition mit dem Ergebnis der Vertretertages äußerst unzufrieden. Als Reaktion auf das Fortbestehen des Jungliberalen Reichsverbandes und als ausgesprochene Gegenorganisation zu diesem bildete sich am 12. Mai 1912 der sogenannte "Altliberale Reichsverband" als Sammelbecken des äußerst rechten Parteiflügeis. Geschäftsführer der neuen Organisation wurde der bisherige zweite Generalsekretär der Partei, Paul Fuhrmann, der mit dem beachtlichen Jahresgehalt von 15.000 Mark aus dem Lager der westfalischen Nationalliberalen angestellt wurde3o . Die undurchsichtigen Vorgänge bei der Gründung lösten bei zahlreichen Parteimitgliedern vehemente Proteste aus 31 , die sich noch verstärkten, nachdem bekannt wurde, daß die Altnationalliberalen für ihre Werbung auf vertrauliche Mitgliederlisten der Nationalliberalen Partei zurückgegriffen hatten 32 . August Weber bezeichnete das 27 So betonte Marwitz (wie Anm. 11) noch im April 1912, daß die Jungliberalen in den nationalen Forderungen "eher zu den Alldeutschen neigten". 28 Olden, Rudolf, Gustav Stresemann, Berlin 1929, S. 54. 29 Meinecke, Friedrich, Nationalliberal und Altliberal (22. 5. 1912), in: Kotowski, Georg (Hrsg.), Werke, Bd. 2, Darmstadt 1958, S. 62 . 30 Siehe das Schreiben Stresemanns an Bassermann vom 30. 5. 1912, PA NL Stresemann 136. Das Programm der ,,Altnationalliberalen" mit einer vehementen Verurteilung jeder "Großblockpolitik" und der SPD als Partei "des staatlichen und wirtschaftlichen Umsturzes", gegen die nur ein "national zuverlässiges liberales Bürgertum ... einen sicheren Wall" bilden könne, wurde von Fuhrmann am 29. 5. 1912, Nr. 123 im "Tag" entwickelt. Sprachrohr des Verbandes wurde die im Juni 1912 gegründete "Altnationalliberale Reichskorrespondenz". 31 Siehe dazu besonders die von den Vorsitzenden der Landesorganisationen in Kurhessen (Hebel), Pommern (Ludewig), Württemberg (Kübel), Berlin (Marwitz) und der Rheinprovinz (Moldenhauer) unterzeichnete Protesterklärung, Nationalzeitung vom 21. 6. 1912, Nr. 144. Nur kurze Zeit später schlossen sich dem Protest zahlreiche Reichstags- (u. a. Bollert, Götting, List, Stöve, Roland-Lücke) und preußische Landtagsabgeordnete (u. a. Lucas, Maurer, Wendlandt) sowie die Vorsitzenden der nationalliberalen Organisationen in Hannover, Westund Ostpreußen, Schlesien, Baden, Posen, Mecklenburg und Bremen an, siehe Berliner Tageblatt Nr. 319 vom 25.6. 1912. 32 Vor seinem Ausscheiden aus dem Berliner Zentralbüro versuchte Fuhrmann, sich möglichst umfangreiches Adreßmaterial für altliberale Werbezwecke zu sichern. Der dem Parteivorsitzenden nahestehende Generalsekretär und Leiter der Finanzabteilung im Zentralbüro, Hermann Kalkoff, entdeckte Angestellte dabei, wie sie aufgrund von Spendenlisten Adressenverzeichnisse für den Altnationalliberalen Reichsverband anfertigten und protestierte gegen die Weiterarbeit. Nach der Veröffentlichung dieser Vorkommnisse durch die Junglibe-

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altnationalliberale Programm verächtlich als "Phrasen" und warf ihm vor, nur das "Werkzeug" zu sein für ,,Männer, die Bassermann und uns beseitigen wollen'.33. Stresemann seinerseits vermutete als treibende Kraft hinter der Gründung vor allem "viele unserer Kollegen, die dem Zentralverband Deutscher Industrieller nahestehen,,34 und Bassermann warnte er: "Die Herren wollen durch die Gelder des Zentralverbandes die Partei in ihre Gewalt bekommen und namentlich auf die Kandidatenaufstellungen einwirken,,35. Auch Bassermann selbst zweifelte nicht daran, daß die "altnationalliberale Bewegung von Hirsch (Essen) und anderen des Zentralverbandes ausgeht,,36. Obwohl der Altnationalliberale Reichsverband - als institutionalisierter Protest gegen die von Bassermann und Stresemann verkörperte Politik der vorsichtigen sozialen und liberalen Reform - innerhalb der Gesamtpartei im wesentlichen isoliert blieb37 und auch, da Friedberg ihm nicht beitrat, über keine Führungspersönlichkeit verfügte, bedeutete seine Gründung dennoch eine weitere Schwächung der Nationalliberalen Partei. Da beide Flügel der Partei nun über eigene Sonderorganisationen verfügten, mußte es erstes Ziel der Parteiführung sein, die tiefaufgewühlten Gegensätze zu beruhigen. Um eine Wiederholung der heftigen Auseinandersetzungen im Zentralvorstand zu vermeiden, wurde die von der rheinischen Organisation beantragte Einberufung des Zentralvorstandes vom Geschäftsführenden Ausschuß vorerst zurückgestellt38 . Landesorganisationen, die sich zu stark für einen der Flügel engagierten, wurden von der Parteileitung unmißverständlich gemaßregele9 . Folge dieser Maßnahmen war eine allmähliche Beruhigung der Lage im Winter 1912/13. Um die mühsam zugeschütteten innerparteilichen Gräben nicht erneut aufzureißen zu lassen, stellte Bassermann die Auswärtige Politik in den Mittelpunkt seines Referates auf der nächsten Zentralvorstandssitzung am 9. Februar 1913. Er beralen Blätter (1912, Nr. 26), dementierte die NLC die Vorgänge, nachdem Friedberg erklärt hatte, er nehme alle Verantwortung auf sich, siehe die Aufzeichnung Stresemanns über ein Gespräch mit Kalkoff am 28. 8. 1912, PA NL Stresemann 118. 33 Von Weber an Stresemann gesandte Abschrift eines Schreibens an Fuhrmann, PA NL Stresemann 121. 34 Schreiben Stresemanns an Jaenicke vom 8. 7. 1912, PA NL Stresemann 130. 35 Schreiben an Bassermann vom 30. 5. 1912, ebd., Nr. 135. 36 Schreiben Bassermanns an Stresemann vom 26.7. 1912, ebd., Nr. 136. 37 Ausdrücklich begrüßt wurde seine Gründung nur durch die Vorsitzenden der Landesorganisationen in Westfalen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Hessen, Braunschweig und Sachsen, siehe die Aufzeichnung Stresemanns, PA NL Stresemann 118. 38 Siehe NLC vom 31. 10. 1912, Nr. 217. 39 Nachdem der Vorsitzende der pommersehen Landesorganisation, Ludewig, Bassermann in einem scharfen Artikel eine zu nachgiebige Haltung gegenüber den Altliberalen vorgeworfen hatte, siehe Jungliberale Blätter 2 (15. 1. 1913), führte Bassermann einen Beschluß des Geschäftsführenden Ausschusses herbei, der das Verhalten Ludewigs als "parteischädigend" verurteilte (NLC vom 24. 12. 1912, Nr. 254). Stresemann teilte er am 28. 1. 1913 mit, für den Fall neuer Angriffe müsse ein Beschluß des Zentralvorstandes herbeigeführt werden, "daß die Pommern als außerhalb der Partei stehend zu betrachten sind", PA NL Stresemann 135.

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tonte, die auswärtige Lage sei ernster geworden und trat für weitere Heeresvermehrungen und eine Reform des Auswärtigen Dienstes ein, die den bürgerlichen Beamten Gleichberechtigung gewähren sollte4o . Bassermanns geschickt abgewogene Rede stieß auf einhellige Zustimmung und erzeugte eine einheitliche Grundstimmung in der Versammlung, so daß es Friedberg gelang, den von Jungliberaler Seite vorliegenden Antrag auf Einsetzung einer Kommission zur Untersuchung der Arbeit der Parteizentrale zu einer harmlosen Resolution abzuschwächen41 - ein Paradebeispiel sowohl für Bassermanns Führungsstil als auch für die Rolle des Zentralvorstandes im Instanzenzug einer noch immer stark vom Honoratiorenturn geprägten Partei 42 . Wie schon auf dem Vertretertag 1912 bildete eine vehemente imperialistische Agitation die zentrale Klammer für die divergierenden Parteiflügei; die Folge dieser "alldeutschen Wendung,,43 war vor allem einen ungehemmte Agitation gegen den außenpolitischen Kurs der Regierung Bethmann. Daß die Nationalliberalen auf breiter Front an der traditionellen Prärogative der Regierung in außenpolitischen Fragen zu rütteln begannen, verschlechterte das ohnehin getrübte Verhältnis zwischen Bassermann und Bethmann Hollweg weiter44 ; gleichzeitig barg die Infragestellung der Leistungsfähigkeit einer monarchischen Kanzlerregierung 40 Zur Rede Bassermanns siehe Reiß (wie Anm. 6), Dok. Nr. Ha, S. 109 - 130. Zum sich ständig steigernden Interesse Bassermanns an außenpolitischen Fragen siehe die Sammlung seiner Reichstagsreden bis 1914: Mittelmann, Fritz (Hrsg.), Ernst Bassermann. Sein politisches Wirken und. Reden und Aufsätze, Berlin 1914. Gerade die Wehrvorlage galt in weiten Kreisen der nationalliberalen Reichstagsfraktion geradezu als Folge der schlechten Diplomatie. So bemerkte Bollert in der Fraktionssitzung vom 3. 4. 1913, die Militärvorlage sei "die Bankerotterklärung unserer Diplomatie" und Hagen-Lücke plädiert dafür, daß die Fraktion ihre Zustimmung von einer Umgestaltung der Diplomatie abhängig machen sollte (womit er jedoch nicht durchdrang), siehe BAK R 45 1/10, p. 13 ff. Zu den engen Beziehungen zwischen NLP und Deutschem Wehrverein (dessen Vizepräsident der nationalliberale Abgeordnete Hermann Paasche war) siehe detailliert Hans Herzfeld, Die deutsche Rüstungspolitik vor dem Weltkriege, Bonn I Leipzig 1923, S. 82 ff. 41 Siehe dazu Reiß (wie Anm. 6), Dok. Nr., Ha, S. 151 ff. Die Kosten des Zentralbüros hatten sich seit 1906 nahezu verdoppelt (1906: 67246 Mark; 1913: 116885 Mark), siehe BAK R 45 1/5 sowie Nipperdey (wie Anm. 11), S. 154. Bereits auf der Zentralvorstandssitzung von 1912 hatte der Vorsitzende der pommersehen Landesorganisation, Ludewig, versucht, "grundlegende Änderungen im Zentralbüro" durchzusetzen, hatte aber zur Begründung seines Antrags aber nicht mehr das Wort erhalten, siehe den Durchschlag eines Schreibens von Ossent an einen ungenannten Empfänger (höchstwahrscheinlich Friedberg) vom 14. 4. 1912 im PA NL Stresemann 118 sowie Anm. 32. 42 Siehe dazu Reiß (wie Anm. 7), S. 37 ff. Stresemann folgte in der Weimarer Republik in der Behandlung des Zentralvorstandes durchaus den Spuren Bassermanns, siehe die Einleitung bei: Kolb, Eberhard/Richter, Ludwig (Bearb.), Nationalliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Volkspartei zwischen 1918 und 1933 (unveröffentlichtes Manuskript; erscheint voraussichtlich Düsseldorf 1998). 43 So die Frankfurter Zeitung in ihrem Bericht über die Zentralvorstandssitzung, 11. 2. 1912, Nr. 42; zudem stellte das Blatt heraus: ,,Es liegt nahe, die übertriebene Betonung der Rüstungsfragen mit den inneren Parteischwierigkeiten in Zusammenhang zu bringen". 44 Siehe dazu Bassermann, Karola, Ernst Bassermann, Berlin 1924, S. 151 ff.; Wollstein (wie Anm. 1), S. 66 ff.

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besonders auf diesem Sektor aber auch große Risiken für eine Partei, für die das "Nationale" so pointiert im Vordergrund stehen mußte. Dieser so harmonische Verlauf der Zentralvorstandssitzung sorgte jedoch nur kurze Zeit für Ruhe in der Partei. Im Winter 1913 eröffnete der altliberale Flügel der kurz zuvor die endgültige Zusammensetzung bekanntgegeben hatte45 - neue Angriffe auf die Reichstagsfraktion und auf Bassennann mit dem Ziel, sie im Reichstag näher an die Konservativen heranzubringen. Die Hessische Landeszeitung sprach offen aus, es sei ,,höchste Zeit für die Nationalliberalen, sich einen wirklich nationalen Führer zu bestellen" und forderte ein klares, nationales Programm46 . Bassennann, der seit Herbst 1913 seine Hauptaufgabe in der Partei darin sah, "Auseinanderstrebendes zusammen(zu)halten,,47, kam aufgrund der fortwährenden Pressefehden zwischen beiden Sonderorganisationen zu dem Schluß, daß die Partei unter keinen Umständen einer neuerlichen Zerreißprobe ausgesetzt werden dürfe. Dem Zentralvorstand lag daher bei seiner nächsten Sitzung im März 1914 ein - maßgeblich von Bassennann inaugurierter - Antrag vor, den "Geschäftsführenden Ausschuß zu beauftragen, Verhandlungen einzuleiten, um die gleichzeitige Auflösung des jungliberalen wie des altliberalen Verbandes unverzüglich herbeizuführen,,48. Obwohl dieser Antrag gegen die fünf Stimmen der jungliberalen Vertreter angenommen und eine Kommission unter dem Vorsitz von Krauses eingesetzt wurde, die den Entschluß durchführen sollte, scheiterte dieser Beschluß endgültig Ende Mai 1914, da beide Organisationen sich weigerten, dem Beschluß des Zentralvorstandes nachzukommen - was erneut ein vielsagendes Licht auf die Durchsetzungs- und Integrationskraft des Zentralvorstandes wirft49 . 45 Von den 11 Mitgliedern des Geschäftsführenden Ausschusses des Altnationalliberalen Reichsverbandes gehörten 6 der preußischen Landtagsfraktion, bis 1916 (als Hirsch gewählt wurde) aber niemand dem Reichstag an, siehe auch Thieme (wie Anm. 2), S. 49. 46 Zit. nach Hannoverscher Kurier, 21. 11. 193, Nr. 545; siehe auch die zahlreichen Attakken gegen die Parteiführung in der Bismarckwarte, dem Organ der Ende 1912 konstituierten politischen Arbeitsgemeinschaft der nationalliberalen Organisationen in Hamburg, Lauenburg, Lübeck und Schleswig-Holstein. 47 Schreiben an Schoenaich-Carolath vorn 3. 10. 1913, zit. nach Maenner, Ludwig, Prinz Heinrich zu Schoenaich-Carolath. Ein parlamentarisches Leben der wilhelminischen Zeit (1852-1920), Berlin/Stuttgart 1931, S. 123. . 48 NLC vorn 30. 3. 1914, Nr. 68; siehe auch die ausführliche Berichterstattung der Kölnischen Zeitung (30. 3. 1914, Nr. 362) über die Zentralvorstandssitzung. Trotz der bei Reiß (wie Anm. 6), S. 3D, zitierten beruhigenden Worte Friedbergs kann keine Rede davon sein, daß aus dem politischen Richtungsstreit "weitgehend eine organisatorische Frage" geworden sei, wie Reiß, ebd., behauptet. Vielmehr handelt es sich hier um einen Versuch der Parteileitung, neuerliche altliberale Vorstöße durch die formelle Auflösung beider Organisationen zu unterbinden, so daß von der bei Reiß, ebd., S. 31 konstatierten "erstaunlichen Einmütigkeit" keine Spur bleibt. 49 Generalsekretär Breithaupt berichtete vor dem rheinischen Vertretertag der NLP am 14. 6. 1914 über die Verhandlungen: "Der Verlauf ist der gewesen, daß am Ende der Verhandlungen die vollste Harmonie und die größte Herzlichkeit zwischen den Herren auf der rechten Seite, den Altnationalliberalen, und den Herren auf der Linken Seite, den Jungnationalliberalen, sich offenbarte und daß die beiden sich zusammenfanden und sagten: ,Was wollt ihr

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Bassennann war durch die weiter andauernden Pressefehden zwischen den beiden Flüge1organisationen so angeschlagen, daß er im Sommer 1914 gegenüber Stresemann mehnnals von Rücktritt sprach5o . Bevor ein Vertretertag, der allein eine endgültige Entscheidung hätte herbeiführen können, einberufen werden konnte, brach der Erste Weltkrieg aus, in den die Nationalliberale Partei tiefgespalten hineinging.

11. Die rauschhafte nationale Begeisterung, die mit dem Kriegsausbruch im August 1914 einherging, überdeckte zunächst die Gegensätze innerhalb der Nationalliberalen Partei. Angesichts der Parole des Burgfriedens wurde die Parteiarbeit außerhalb der Parlamente in den ersten beiden Kriegsjahren nahezu sistiert. Kennzeichnend für die politische Szene der ersten Kriegsjahre ist es, daß die Nationalliberalen sich zu entschiedenen Fürsprechern expansiver deutscher Kriegsziele machten 5 !. Nahezu einhellig herrschte die Deutung des Krieges als eines letztlich wirtschaftlich bedingten Konkurrenzkampfes mit England vor, der auch in der Nachkriegszeit seine Fortsetzung finden werde 52 • Die weitgehende Einigkeit über die einzuschlagende Kriegszielpolitik - nicht überraschend bei einer Partei, die das Nationale stets als oberste Leitlinie politischen Handeins verfochten hatte -, war es aber auch, die in den ersten Kriegsjahren zur engeren Zusammenarbeit der verfeindeten Parteiflügel auf diesem Gebiet der Außenpolitik führte. Bassennann, der trotz seines fortgeschrittenen Alters im August 1914 eingerückt war53 , betrachtete die neugewonnene Einigkeit mit der Gruppe um Hirsch und Fuhnnann zwar mit einiger Skepsis, erachtete sie aber im nationalen Interesse für unabdingbar. Zudem sah er die Gefahr, vom rechten Parteiflügel in der Agitation für weitgreifende eigentlich? Die Störenfriede seit ihr in der Mitte!''', Nationalliberale Korrespondenz für die Rheinprovinz, 26. 6. 1914. 50 So besonders deutlich in einem Schreiben an Stresemann vom 4.6. 1914, in dem er den Gedanken äußerte, anläßlich seines 60. Geburtstages am 26. 7. 1914 "den Parteivorsitz niederzulegen", PA NL Stresemann 135. 51 Siehe dazu u. a. Kielmansegg (wie Anm. 1), S. 244; Thieme (wie Anm. 2), S. 55 ff.; Fischer (wie Anm. 1), S. 132 ff.; Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck zu Hitler, Stuttgart 1995, S. 339 ff. 52 So führte Stresemann in einem Artikel für die Weserzeitung Bremen (PA NL Stresemann 139) am 11. 12. 1914 aus: "Die inneren Grundursachen, die England bestimmt haben, diesen schrecklichen Krieg vom Zaune zu brechen, liegen begründet in unserem Welthandel und unserer Kolonial- und Flottenmacht ... England duldet Deutschland nicht auf dem Weltmarkt mit seinem schöpferischen Geiste". Siehe auch seine Broschüre ,,Englands Wirtschaftskrieg gegen Deutschland" (Berlin / Stuttgart 1915); etwas undifferenziert: Baumgart, (wie Anm. 2), S. 44 ff. 53 Bassermann, der als Abteilungskommandeur einer Munitionskolonne am Einmarsch in Belgien teilnahm (wo er, wie seine Gattin am 8.11. 1914 Stresemann mitteilte, "selbst Franktireurs totschießen" mußte, PA NL Stresemann 135), bemühte sich schon im Dezember 1914 um eine Versetzung nach Berlin, die jedoch nicht erfolgte.

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Kriegsziele überrannt zu werden - um so mehr, da er sich oft weitab vom Zentrum des politischen Geschehens aufhielt. Es bedeutete für ihn eine beträchtliche Erleichterung, daß Stresemann im Dezember 1914 wieder in den Reichstag gewählt wurdes4 . Stresemann, dem so die tatsächliche Fraktionsführung zufiel, gelang es zwar schnell, seine Position in der Fraktion zu festigen, doch hatten sich die Fronten innerhalb der Partei vollständig verschoben. Vor allem auf dem Gebiet der Innenpolitik vertrat die Gruppe um Fuhrmann und Hirsch Anschauungen, die denen Bassermanns und Stresemanns vollständig entgegengesetzt waren. Als sich Hugenberg Anfang November 1914 vor dem Unterausschuß des Kriegsausschusses der Deutschen Industrie mit den deutschen Kriegszielen beschäftigte und ausführte, Deutschland sei auf Eroberungen angewiesen, da es gelte, "die Aufmerksamkeit des Volkes abzulenken und der Phantasie Spielraum zu geben in bezug auf die Erweiterung deutschen Gebietes", um "inneren Schwierigkeiten vorzubeugen", lehnte Stresemann diese Begründung einer Notwendigkeit deutscher Expansion ab, da die Möglichkeit, die Forderungen der Arbeiter durchzusetzen, immer von der wirtschaftlichen Struktur abhängig seis5 . Innenpolitisch gingen die Ansichten in der Partei allerdings, wie Stresemann in seinem Sylvesterbrief 1914 Bassermann mitteilte, "völlig durcheinander. Während Richthofen und einige andere der Meinung sind, daß wir einer Demokratisierung entgegengehen, und die Arbeiterschaft die Belohnung für ihre nationale Haltung in Gestalt der Erringung neuer politischer Freiheiten fordern würde, ersieht man aus manchen anderen Auslassungen, daß die Reaktion Morgenluft wittert. Sie glaubt wahrscheinlich, daß nach dem Krieg mit einer militärischen Herrschaft regiert werden soll, weil das Militär jetzt populär ist"s6. Einig waren sich Bassermann und Stresemann zudem darin, daß die in ihren Augen wenig energische Kriegszielpolitik Bethmann Hollwegs das Deutsche Reich um den erhofften "Siegespreis"s7 brin54 Stresemann gewann die durch den Tod Johannes Semlers notwendig gewordene Ersatzwahl im Wahlkreis Aurich-Wittmund. Obwohl die anderen Parteien im Zeichen des Burgfriedens nicht mit Gegenkandidaten antraten, verzichtete Stresemann nicht auf zahlreiche Wahlreden, siehe PA NL Stresemann 140. Wie Stresemann am 15. 1.1915 an Hugo schrieb, sei seine erneute Wahl "vielen Leuten auf die Nerven gefallen", ebd., Nr. 135. 55 Das Protokoll der Sitzung vom 7. 11. 1914: PA NL Stresemann 139; zur Gründung des Kriegsausschusses der deutschen Wirtschaft siehe Feldman, Gerald D., Army, Industry and Labor in Germany 1914-1918, Princeton 1966, S. 136; Stegmann (wie Anm. 18), S. 451 ff. Zur Furcht vor sozialen Unruhen aufgrund mangelnder Kriegsentschädigung und darum steigender Steuerbelastung siehe das Schreiben Hirschs an Schifferer vom 21. 3. 1915, LASH NL Schifferer 6. Hier ist auch der persönliche Erlebnishintergrund dieser Generation zu berücksichtigen: Erst vor zehn Jahren hatte der Verlust eines Krieges zu schweren Unruhen im russischen Kaiserreich geführt, zudem hatten viele Abgeordnete erlebt, wie die militärische Niederlage 1870 zum Sturz des französischen Kaisertums führte. Die (beträchtliche) Rückwirkung beider Ereignisse auf die deutschen Parteien verdiente eine eingehende Untersuchung. 56 Schreiben Stresemanns an Bassermann, 31. 12. 1914, PA NL Stresemann 135. 57 So Stresemann in einem Schreiben an Fabrikbesitzer Uebel vom 16. 1. 1915, PA NL Stresemann 145.

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gen werde; der Kanzler mit seinem "Harmoniegedusel" sei nicht nur ein "Schwächling", sondern in der jetzigen Situation ein "Unglück für Deutschland"s8. Obwohl diese Auffassung innerhalb der Nationalliberalen Partei im Frühjahr 1915 zweifellos auf größte Zustimmung rechnen konnte, sah Stresemann immer noch die Gefahr, daß die "Partei von der Volksstimmung völlig in den Hintergrund gedrängt"S9 werde und fürchtete, sie verpasse "führerlos die größte Zeit in ihrer Geschichte,,60. Vor allem forderte er eine öffentliche Festlegung des Kanzlers auf bestimmte Kriegsziele - namentlich in der belgischen Frage. Auch der Geschäftsführende Ausschuß der Partei beschloß auf seiner Sitzung am 16. Mai 1915 in Berlin die Forderung des "zur Sicherung und Verstärkung unserer Machtstellung zu Wasser und zu Lande nötigen Gebietes,,61. Obwohl Bethmann Hollweg sich bemühte, durch eine Intensivierung seiner Kontakte mit den Nationalliberalen die bestehenden Gegensätze abzubauen 62 , gelang dies nicht. Im Gegenteil: Die Kampagne gegen den Kanzler erreichte am 18. Juli 1915 einen neuen Höhepunkt, als Bassermann, Stresemann, Fuhrmann und Bacmeister auf einer gemeinsamen Sitzung der Provinzialvorstände der nationalliberalen Parteiorganisationen der Rheinprovinz und Westfalens scharfe Angriffe gegen Bethmann richteten 63 . Infolge eines Mißverständnisses wurde der Pressebericht über die Verhandlungen Bassermann vorher nicht mehr vorgelegt; so kam es zu der peinlichen Situation, daß die Berichterstattung der Nationalliberalen Correspondenz für die Rheinprovinz "sachlich referierend" war, während die den Kreisen um Hirsch und Fuhrmann nahestehenden Westfälischen Politischen Nachrichten "gerade die scharfen Äußerungen von Bassermann, mir und anderen Herren in hervorgehobener Weise" wiedergaben64 . Schreiben Bassennanns an Stresemann vom 24. 12. 1914, PA NL Stresemann 135. Schreiben Stresemanns an Otto Hugo, den Chefredakteur des Hapnoverschen Kuriers, vom 3.2. 1915, PA NL Stresemann 145. 60 Streng vertrauliche Aufzeichnung, Stresemanns über ein Gespräch mit Heinrich Rippler am 15. 2. 1915, ebd. 61 DGK 1915 I, S. 730f. sowie Nationalliberale Blätter vom 6. 6. 1915; siehe auch die Notizen Stresemanns über die Sitzung, PA NL Stresemann 145. 62 Siehe dazu Thieme (wie Anm. 2), S. 60; Wollstein (wie Anm. 1), S. 121 ff.; Mommsen, Wolfgang J., Die Regierung Bethmann Hollweg und die öffentliche Meinung 1914 - 1917, in: Vfz 17 (1969), S. 117 -159 (hier: S. 137ff.). 63 Stresemann spricht in seiner (undatierten) Aufzeichnung über die Sitzung von einem Teilnehmerkreis von "etwa 80 Mitgliedern aus den Provinzen", PA NL Stresemann 160. 64 Ebd. Die Westfälischen Politischen Nachrichten betonten besonders: "Ganz offen sprach Bassermann es aus, daß, wenn trotz unseres glänzenden Heeres und seiner Taten, trotz der glänzenden wirtschaftlichen Organisation unserer Industrie doch vielfach starkes Unbehagen sich breitmache, das einzig und allein auf das Mißtrauen manchen Staatsmännern gegenüber zurückzuführen sei, ob diese dem deutschen Volk aus dem Frieden wirklich das heimbrächten, was unbedingt erforderlich sei ... Die völlig zusammengebrochene Politik der Illusion zeige uns eines mit Unerbittlichkeit: Bliebe alles beim alten und bekämen wir lediglich eine unzureichende Kriegsentschädigung und ein paar Kolonien, dann sei dieser Krieg für uns verloren, weil der nächste mit ungünstigeren Verhältnissen für uns geschlagen würde als alle bisherigen", zit. nach einem Schreiben Stresemanns an Hebel vom 10. 8. 1915, ebd., Nr.152. 58

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Um dem in zahlreichen Tageszeitungen lebhaft kommentierten "Vorstoß der Nationalliberalen gegen den Kanzler,,65 die Spitze zu nehmen und die nationalliberale Parteiführung wieder auf eine loyale Politik gegenüber der Reichsleitung festzulegen, lud Bethmann Hollweg führende Abgeordnete auf den 2. August 1915 zu einer Besprechung nach Berlin ein66 . Wenige Tage vor der Besprechung fiel dem Kanzler jedoch ein Telegramm Bassermanns an den auf dem äußersten rechten Flügel der Partei stehenden Reichsrat Franz v. Buhl in die Hände, in dem jener aufgefordert wurde, den König von Bayern gegen die von Bethmann Hollweg entworfene, angeblich "flaue" Kundgebung des Kaisers zum ersten Jahrestag des Kriegsbeginns zu mobilisieren: "Der Lange plant auf 1. August Allerhöchste Kundgebung gegen jede Annexion. Ist deshalb Hauptquartier. Tut sofort dagegen Schritte in München. Periculum in mora,,67. Daraufhin lud der Reichskanzler Bassermann wieder aus und unternahm auf der Besprechung am 2. August einen gewagten Gegenangriff, der Bassermann als Parteiführer isolieren und der kanzlertreuen Richtung um Schiffer, Kahl und Friedberg die Oberhand verschaffen sollte. Vor allem stellte er heraus, es sei unnational und verderblich, die Regierung in einer solchen Zeit mit dieser Schärfe anzugreifen; zudem betonte er, es sei doch wohl mit den nationalliberalen Grundsätzen absolut unvereinbar, die partikularistischen Tendenzen gegen die Reichsregierung auszuspielen68 . Die mit einiger Schärfe vorgetragenen Beschwerden des Kanzlers - von Stresemann nicht zu Unrecht als eine Mischung von "Drohungen und Versprechungen,,69 interpretiert - verfehlten ihre Wirkung auf die Anwesenden nicht. Zwar lehnten sie eine förmliche Kritik an dem Vorgehen Bassermanns ab, legten aber dar, von einem Mißtrauen der Fraktion gegenüber dem Reichskanzler könne keine Rede sein. Sie erklärten sich zudem bereit, Bethmann in einer offiziellen Erklärung das Vertrauen der Nationalliberalen Partei auszusprechen 70. Bassermann, der im Reichstag von Friedberg unmittelbar

So das Berliner Tageblatt vom 29. 7. 1915, Nr. 382. Siehe dazu bes. Eugen Schiffer, Um Bassermann und Bethmann, in: Historisch-Politisches Archiv zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts 1 (1930), S. 199 ff.; Maenner (wie Anm. 47), S. 147. Neben Schiffer waren eingeladen: Friedberg, v. Krause, Bassermann, Schoenaich-Carolath, Vogel, Kahl und Junck. 67 Text des Telegramms u. a. bei: Mommsen (Anm. 62), Anm. 59; Wortlaut der Proklamation zum Jahrestag des Kriegsbeginns: DGK 1915 11, S. 303 f. Bassermann versuchte gleichzeitig (allerdings erfolglos), Tirpitz zu einer Intervention bei Bethmann oder dem Kaiser zu bewegen, siehe Tirpitz, Alfred v., Erinnerungen, Berlin 1919, S. 482 f. Nach den Tagebuchnotizen Kurt Riezlers herrschte beim Kanzler "große Freude" über das abgefangene Telegramm. Riezler hielt Bassermann nur für eine "eitle Blase, er platzt, wenn man sie ansticht", Kurt Riezler. Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, hrsg. v. Erdmann, Karl Dietrich, Göttingen 1972, S. 290. 68 Das Protokoll der Besprechung findet sich im BA Berlin RK 2447/3. Riezler notierte in sein Tagebuch, der Kanzler habe sich "entschlossen, die Sache bis aufs letzte auszunützen. Amusante Szene mit dem Vorstand ohne Bassermann, die er sich bestellte, um ihnen die Depesche unter die Nase zu halten", Riezler (wie Anm. 67), S. 290. 69 Schreiben Stresemanns an Hebel vom 10. 8. 1915, PA NL Stresemann 152. 65

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nach dem Ende der Unterredung von ihrem Ergebnis unterrichtet wurde, "lehnte es jedoch ab, seine Einwilligung zu einer solchen Erklärung zu geben" und teilte Friedberg mit, er werde den Zentralvorstand einberufen "und diesem die Angelegenheit zur Entscheidung vortragen,,71. Obwohl Friedberg schließlich Bassermanns vehementem Drängen nachgab und in der parteioffiziellen Nationalliberalen Correspondenz lediglich eine farblose Erklärung veröffentlichte, wonach der Parteileitung von einem Mißtrauen gegen den Kanzler nichts bekannt sein, wirkte diese Verlautbarung, die an der Spitze des Blattes in Fettdruck erschien, dennoch wie eine Bombe. Es schien, als ob die Partei ihren Führer in der Öffentlichkeit desavouierte und fallenließ. Aus vielen Parteikreisen kamen erregte Proteste gegen Friedbergs Erklärung, die auch nicht dadurch gedämpft werden konnten, daß Friedberg drei Tage später verlautbarte, die Stellungnahme richte sich nicht gegen Bassermann, sondern gebe die Auffassung der Vorstände von Reichstags- und Landtagsfraktion sowie die des Geschäftsführenden Ausschusses, dessen Vorsitzender Friedberg war, wieder73 • Daraufhin erschien in der Tagespresse die Mitteilung, daß weder der Geschäftsführende Ausschuß noch die Fraktionsvorstände zu dieser Frage Stellung bezogen hätten, also auch niemand in der Lage sei, verbindliche Erklärungen in ihrem Namen abzugeben74 . Friedberg, der glaubte, Bassermann weit entgegengekommen zu sein und dafür nur mit Mühe Schiffer hatte gewinnen könne, war vom Verhalten Bassermanns empört. Am 9. August teilte er dem Parteiführer mit, die "Illoyalität und Rücksichtslosigkeit ... aus dem Kreise Threr Freunde" entbinde ihn nun von jeder Rücksicht: "Ich habe deshalb heute die anfängliche Erklärung dem Wolffbüro zur Veröffentlichung übergeben,,75. Damit geriet die Krise auf ihren Höhepunkt. Die Partei war völlig gespalten. Auf der einen Seite stand die Gruppe der Kanzlergegner mit Bacmeister, Bassermann, Fuhrmann, Hirsch und Stresemann, auf der anderen Seite mit Friedberg, Schoenaich-Carolath, Kahl, Schiffer und Junck diejenigen, die Bethmanns "Politik relativer Mäßigung,,76 unterstützten. 70 Wie Stresemann am 9. 8. 1917 erbost an Brües schrieb, hätten "die Herren, die beim Reichskanzler waren, sich von diesem und Herrn Wahnschaffe anscheinend einseifen lassen und merken zum Teil nicht, daß sie als Sturmbock gegen Bassermann benutzt werden", PA NL Stresemann 152. 71 So Stresemann in seiner undatierten Aufzeichnung, ebd., Nr. 160. 72 Erschienen in der NLC vom 4. 8. 1915; auch abgedruckt in: DGK 1915 II, S. 302 (hier unter dem Datum des 3.8. 1915). Bereits am nächsten Tag verbreitete die Telegraphen-Union die Mitteilung, daß dieser Erklärung kein parteiamtlicher Charakter beizumessen sei, siehe Berliner Tageblatt, 5. 8. 1915, Nr. 396. Vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuß verschob Stresemann die Vorgänge irrtümlich auf das Frühjahr 1916, siehe Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassunggebenden Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919-1928 (WUA), 4. Reihe: Die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918, Bd. 7/2, Verhandlungsbericht: Der Deutsche Reichstag im Weltkriege, Berlin 1928, S. 303. 73 NLC vom 7. 8. 1915, Nr. 83 . 74 Berliner Tageblatt vom 11. 8. 1915, Nr. 406. 75 Abschrift eines Schreiben Friedbergs an Bassermann vom 9. 8. 1915, BAK NL Bassermann 303/8.

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Eine Entscheidung brachte die Zentralvorstandssitzung vom 15. August 1915, die sich geradezu zum Scherbengericht über die Anhänger Bethmanns gestaltete. Bassermann, der wie immer das Hauptreferat hielt, gewann den Zentralvorstand für seine annexionistischen Ziele77. Friedberg dagegen, der "so schwach sprach wie nie,,78, kapitulierte völlig und stimmte für die nur von Schiffer und Junck abgelehnte Resolution, die Bassermann "einmütig und herzlich für seine vom Vertrauen der gesamten Partei getragene Tätigkeit zur Durchsetzung nationaler Kriegsziele" dankte und einen Frieden forderte, "der unter Erweiterung unserer Grenzen in Ost und West und Übersee uns militärisch, politisch und wirtschaftlich gegen neuen Überfall sichert,,79. Damit war Bethmann Hollwegs Versuch, Bassermanns Stellung zu erschüttern, vollständig fehlgeschlagen. Gesamtpolitisch bedeutete diese Resolution nicht nur einen wichtigen Markstein in der fortschreitenden Erosion des Burgfriedens, sondern sie brachte für den Kanzler auch das Scheitern seiner Konzeption, die sich auf eine politische Mitte um die Nationalliberalen stützte. Angesichts des offenen Einschwenkens der Nationalliberalen in die Phalanx der Kanzlergegner SO rückte nun eine Stärkung des rechten Flügels der Sozialdemokratie stärker in das Kalkül Bethmanns. Bassermann hatte so erneut die Nationalliberalen - mit tatkräftiger Hilfe Stresemanns - durch die "gewitterschwangeren Tage dieser Parteikrise"Sl geführt, doch verdankte er diesen glänzenden innerparteiliche Sieg, wie Schiffer rückblickend schrieb, ,,hauptsächlich dem Eintreten der Schwerindustrie zu seinen Gunsten"S2 und war damit aus Sicht zahlreicher Parteimitglieder zu teuer erkauft. 76 So Bethmann in einern Schreiben an Graf Westarp vorn 23. 4. 1915, in dem er sich nachdrücklich von den Annexionsforderungen Hirschs (Nordfrankreich, Linien VerdunBelfort sowie Tschenstochau-Peipussee) distanziert: ,,Ich könnte mir denken, daß auch im Falle einer gänzlichen Niederwerfung aller unserer Gegner ... ich doch gegen die Anhänger solcher Ideen im Geiste Bismarcks eine Politik relativer Mäßigung durchzukämpfen hätte", abgedruckt bei Westarp, Kuno Graf v., Konservative Politik im letzten Jahrzehnt des Kaiserreiches, Bd. 2, Berlin 1935, S. 48. 77 Der dem äußersten rechten Parteiflügel zuzurechnende Schifferer, der als Rittmeister an der Front stand, war am 10. 8. 1915 brieflich von Fuhrmann beschworen worden, sich Urlaub erteilen zu lassen (LASH NL Schifferer). Wie Stresemann in seiner undatierten Aufzeichnung (PA NL Stresemann 160) festhielt, führte Schifferer in seiner Rede aus, ..er sei von der Front zu der Zentralvorstandssitzung geeilt, um dagegen zu protestieren, daß die Nationalliberale Partei etwa auch [I] Schwächlichkeit an den Tag lege ... Weit über die Kreise der Parteiangehörigen hinaus habe die Basserrnanns Politik gerade die vollste Zustimmung gefunden". 78 So Stresemann in einern Schreiben an Uebel vorn 16. 8. 1915, PA NL Stresemann 144. 79 Text der Resolution bei Reiß (wie Anm. 6), Dok. Nr. 11Th. Inhaltlich schloß sich die Resolution eng an das Kriegszielprogramm an, das am 16. 5. 1915 vorn Geschäftsführenden Ausschuß und den Landesvorsitzenden aufgestellt worden war, siehe Anm. 61. 80 Riezler (wie Anm. 67), S. 305, notierte in sein Tagebuch, Basserrnann ,,richtet wie immer seine Politik nach der aura popularis von vorgestern". 81 So Stresemann in seiner undatierten Aufzeichnung, PA NL Stresemann 160. 82 Schiffer (wie Anm. 66), S. 200.

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Stresemann hatte immer öfter Briefe von Parteifreunden zu beantworten, die das "unnatürliche Zusammengehen" von Bassermann mit der Gruppe um Hirsch scharf kritisierten 83 • Tatsächlich beschränkte sich das Zusammengehen zwischen Bassermann und Stresemann einerseits und der schwerindustrielIen Gruppe um Hirsch und Fuhrmann andererseits allein auf die Fragen der Außenpolitik. Trotzdem entbehrte diese Zusammenarbeit nicht einer gewissen - und auch von zahlreichen Parteimitgliedem deutlich wahrgenommenen - Ironie: Stresemann, der ursprünglich zu der betont liberalen Gruppe in der Reichstagsfraktion gehört hatte, fand sich durch seine Kriegspolitik (und nicht zuletzt durch seine bedingungslose Unterstützung Bassermanns) plötzlich im Bunde mit den reaktionären Kräften in der Partei. Politische Freunde, die ihn auf die Gefahr dieser Konstellation aufmerksam machten, beschied er: "Hirsch ist in innenpolitischen Fragen ein Reaktionär, aber in bezug auf Wirtschaftspolitik ein kenntnisreicher Mann, von weitgehender persönlicher Liebenswürdigkeit mit einem ausreichenden Verständnis für politische Notwendigkeiten und Kompromisse,,84. Das Zusammenspiel der schwerindustrielIen Gruppe, die ihren Rückhalt in der preußischen Landtagsfraktion hatte, und der Führungsgruppe der Reichstagsfraktion um Bassermann und Stresemann wurde in den ersten Kriegsjahren nur möglich, da innenpolitische Fragen zunächst vollkommen in den Hintergrund traten und keine Entscheidungen erforderten. Beide Gruppen trafen sich in der Ablehnung Bethmann Hollwegs und seiner Außenpolitik, hier trafen sie sich unter dem Schlagwort "national". Eine stärkere Gewichtung der Rolle der Innenpolitik mußte jedoch sofort die gegensätzlichen Auffassungen über das, was "liberal" war, offenbaren - Stresemann war sich darüber ganz im klaren, wie seine Meinung über Hirsch zeigt85 . Im Frühjahr 1916, als die Frage des uneingeschränkten U-Boot-Krieges86 in den Mittelpunkt der Erörterungen rückte, zeigte sich jedoch, daß die Opposition inner83 So Richard Bahr in einem Schreiben an Stresemann vom 25. 10. 1915, PA NL Stresemann 149; zahlreiche Schreiben ähnlichen Tenors ebd., Nr. 152, 161. 84 Schreiben Stresemanns an Zöphel vom 3. 1. 1916, PA NL Stresemann 161. Stresemann wies jedoch weit von sich, daß er oder Bassermann etwas für die Kandidatur Hirschs zum Reichstag getan hätten, die im Januar 1916 zu Hirschs Nachwahl im Wahlkreis Merseburg führte. 85 Bei einer Besprechung über die Kriegsziele am 21. 4. 1916 in Berlin (Teilnehmer: v. Westarp, Bassermann, Stresemann, Hirsch, Hugenberg, Stinnes, A. Weber, Erzberger) hatten die nationalliberalen Vertreter laut einer Niederschrift Stresemanns übereinstimmend erklärt, "daß es jetzt nicht in erster Linie auf die künftige innere Politik Deutschlands, sondern darauf ankomme, daß Deutschland in diesem gewaltigen Völkerringen mit gesicherten Grenzen gegen künftige Kriege hervorgehe", PA NL Stresemann 153. 86 Siehe dazu die bei Kielmansegg (Anm. 1), S. 710, 726f. genannte Literatur. Immer noch beste Darstellung der politischen Vorgeschichte des uneingeschränkten U-Boot-Krieges und zu dem täglich stärker werdenden Druck der öffentlichen Meinung bei Ritter (wie Anm. 1), S. 183ff.; siehe auch Gutsche (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 371 ff. Zu den völkerrechtlichen Problemen des U-Boot-Krieges siehe detailliert WUA, 3. Reihe: Das Völkerrecht im Weltkrieg, Bd. 4: Der Gaskrieg. Der Luftkrieg. Der Unterseebootkrieg. Der Wirtschaftskrieg, Berlin 1927.

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halb der Partei ihre schwere Niederlage vom August 1915 überwunden hatte. Eine nationalliberale Resolution zur Aufnahme eines verschärften U-Boot-Krieges fand in der Reichstagsfraktion nur eine Mehrheit von 34 zu 10 Stimmen87 . In der Beratung über diesen Plenarantrag, die nach einer scharfen Intervention Bethmann Hollwegs in der Budgetkomrnission stattfand, einigten sich die Parteien schließlich auf eine gemeinsame Resolution, die nicht auf die Frage einging, ob der U-Boot-Krieg eingeschränkt oder uneingeschränkt geführt werden sollte88 . Dieses Votum führte auf der Zentralvorstandssitzung vom 21. Mai 1916 zum ersten offenen Bruch zwischen Reichs- und preußischer Landtagsfraktion. Trotz eines auf Einigkeit gestimmten Hauptreferates von Bassermann verurteilten zahlreiche preußische Landtagsmitglieder (u. a. Hirsch und v. Campe) das Verhalten der Reichstagsfraktion scharf. Im Gegensatz zum August 1915 war aber die opponierende Gruppe zu stark, um über sie ein ähnliches Ketzergericht wie seinerzeit abzuhalten. Also schlug v. Campe eine Fassung der Schlußresolution zum U-Boot-Krieg vor, die einen ausdrücklichen Dank an die Reichstagsfraktion bewußt vermied. Sie fand zwar eine große Mehrheit im Zentralvorstand - aber auch hier enthielten sich zehn Mitglieder89 . Dieses auf den ersten Blick klare Votum des Zentralvorstandes trug jedoch nicht dazu bei, den Auseinandersetzungen innerhalb der Partei die Spitze zu nehmen. Im Gegenteil: die zentrifugalen Kräfte innerhalb der Partei erstarkten im Laufe des Jahres immer mehr - dies nicht zuletzt infolge einer zunehmenden Führungsschwäche Bassermanns, der die Führung der Reichstagsfraktion (auch infolge eines sich immer stärker bemerkbar machenden Herzleidens) im Sommer 1916 gänzlich Stresemann überließ 90. Darüber hinaus stieß das Zusammengehen von 87 In dem Antrag wurde der Kanzler ersucht, "dahin zu wirken, daß deutscherseits von der Unterseebootwaffe in der Kriegszone auch im Handelskriege, abgesehen von der lediglich der Personenbeförderung dienenden Passagierdampfern, deIjenige Gebrauch gemacht wird, der sich aus der technischen Eigentümlichkeit der Waffe ergibt", VRT (Anlagen), Bd. 317, Nr. 231. Zu den als Reaktion darauf eingebrachten Anträgen von Zentrum, Sozialdemokraten und Konservativen siehe ebd., Nr. 232, 233, 245. Nicht unterzeichnet hatten: Bärwinkel, van Calker, Junck, Keinath, Marquart, Paasche, v. Richthofen, Schiffer, Schoenaich-Carolath, Schwabach, siehe NLC 22.3.1916, Nr. 45. 88 Zu den Verhandlungen vom 28.3. 1916 siehe Schiffers, Reinhard/Koch, Manfred (Bearb.), Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915 -1918, Düsseldorf 1981, Dok. Nr. 51; eine streng vertrauliche Zusammenfassung der Verhandlungen im Hauptausschuß für die Vorsitzenden der nationalliberalen Landesorganisationen findet sich im PA NL Stresemann 153. Für den Zusammenhang wichtig auch die in den Stenographischen Berichten über die öffentlichen Verhandlungen des 15. Untersuchungsausschusses der Nationalversammlung, Berlin 1920, Bd. 2, S. 137 - 168 abgedruckten Dokumente. 89 Siehe dazu Reiß (Anm. 6), Dok. Nr. IV (Abstimmung: S. 282). Da die Resolution die Zensur nicht zu passieren vermochte, nutzte die Reichstagsfraktion eine Plenarsitzung, um den Wortlaut zu veröffentlichen, siehe VRT, Bd. 307, S. 1268 f. (25. 5. 1916). 90 So beschwerte sich List in einem Schreiben an Stresemann vom 1. 5. 1916 vohement über das immer wiederkehrende "partei widrige Vorgehen eines Teils unserer Außenseiter ... Wir lähmen unsere Stoßkraft, wenn wir derartige Quertreibereien zulassen. Leider ist es aber bekanntlich sehr schwer, Bassermann zu einem entschiedenen Auftreten zu bringen", PA NL Stresemann 153.

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Bassermann und Hirsch, die "in der Frage der Kriegsziele eine systematische Bekämpfung der Person des Reichskanzlers" betrieben, innerhalb der Parteiorganisationen auf zunehmenden Widerstand91 . Verschärft wurden diese parteiinternen Auseinandersetzungen noch durch die Gründung des "Unabhängigen Ausschusses für einen Deutschen Frieden", der sich im Juli 1916 endgültig konstituierte 92 ; seine Geschäftsführung übernahmen Dietrich Schäfer und Paul Fuhrmann. Konzipiert als direkte Gegengründung zu dem der Regierung nahestehenden "Deutschen Nationalausschuß,,93 sammelte der Ausschuß alle Verfechter einer harten Linie in der Kriegszielfrage - so verlangte er weitgehende östliche Gebietserweiterungen, im Westen die militärische, wirtschaftliche und politische Beherrschung Belgiens und die Annexion der französischen Erzgebiete, in Übersee eine Erweiterung der kolonialen Machtsphäre. Zwischen dem Ausschuß und den Nationalliberalen bestanden engste Beziehungen: Fuhrmann als stellvertretender Vorsitzender leistete den Hauptteil der Arbeit, Hirsch hatte die westfälische Schwerindustrie zur Bereitstellung finanzieller Mittel gewonnen. Auch Stresemann wurde Mitglied des Ausschusses - nicht zuletzt, da er nach den scharfen parteiinternen Zusammenstößen in der Kriegszielfrage unter allen Umständen den Eindruck vermeiden wollte, die Parteiführung sei nicht ebenso national zuverlässig wie der schwerindustrielle Flügel -, lehnte aber wegen Fuhrmanns führender Stellung eine Wahl in den Vorstand ab94 . Diese Haltung behielt er in der Folgezeit bei, obwohl sowohl seitens der schwerindustrielIen Gruppe um Hirsch als auch seitens des Ausschusses stärkster Druck auf ihn ausgeübt wurde, sich zur Übernahme einer leitenden Stellung bereitzuerklären95. 91 Siehe besonders das Schreiben Kochs (Frankfurt/M.), der seitens der Frankfurter und Offenbacher Organisationen scharf die Stellungnahme Hirschs gegen die Politik Bethmann Hollwegs auf der Zentralvorstandssitzung zurückwies und betonte: "Der Einfluß, den sich die Schwerindustrie bei vielen zur Zeit noch maßgebenden Abgeordneten unserer Partei zu verschaffen gewußt hat, ist Gift für unsere Partei", PA NL Stresemann 153; Schreiben ähnlichen Tenors ebd., Nr. 154, 162, 163. 92 Siehe dazu Schäfer, Dietrich, Mein Leben, Berlin/Leipzig 1926, S. 171 ff.; Stegmann (wie Anm. 18), S. 465 f; Mommsen (wie Anm. 62), S. 147 f; Thieme (wie Anm. 2), S. 70ff. Von der preußischen Landtagsfraktion gehörten ihm zunächst Fuhrmann, Hirsch und Röchling, von der Reichstagsfraktion Stresemann und List an. 93 Zur Gründung des "Deutschen Nationalausschusses" am 6. 7. 1916 unter Vorsitz des ehemaligen Botschafters in Wien und Statthalters von Elsaß-Lothringen, Fürst Karl von Wedel, siehe Mommsen, Wolfgang J., Die deutsche öffentliche Meinung und der Zusammenbruch des Regierungssystems Bethmann Hollweg im Juli 1917, in: GWU 19 (1968), S. 656671 (hier: S. 659); Gutsche (wie Anm. 1), S. 725 f. 94 Medizinalrat Peters teilte er am 11. 8. 1916 diesbezüglich mit: "Meine Stellung zum Schäferschen Ausschuß habe ich dahin zum Ausdruck gebracht, daß ich ihm beigetreten bin, aber gebeten habe, mich nicht in eine leitende Stellung zu wählen. Mich geniert an der Sache ... , daß sich Fuhrmann zur Führung herandrängt und die ganze Sache dadurch eine etwas starke altnationalliberale Färbung bekommt", PA NL Stresemann 154. Schäfer ließ er unter dem selben Datum wissen, er halte es für richtiger, "daß sich der Unabhängige Ausschuß in seinen Organen nicht durch Abgeordnete zusammensetzt" (ebd., Nr. 164) und Hirsch teilte er am 18. 8. 1916 mit, die Person Fuhrmanns schrecke zahlreiche Parteimitglieder ab, ebd.

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Im Herbst 1916 änderte sich dann die politische Lage in Deutschland merklich. Die durch den Burgfrieden von 1914 nicht aufgehobenen, sondern nur vertagten innenpolitischen Probleme gewannen zunehmende Aktualität, besonders die Rolle des Reichstags erfuhr eine grundlegende Wandlung96 • Hatte sich in der Nationalliberalen Partei bis zu diesem Zeitpunkt nur eine verschwindende Minderheit um v. Richthofen und Schiffer für eine Stärkung der Parlamentsrechte eingesetzt97 , so vollzog Stresemann - der schon im Januar 1916 im Reichstag mit der Erklärung vorgeprescht war, seine Partei arbeite gemeinsam mit der Linken an einer Stärkung der Reichstagsrechte 98 - in einer bedeutenden Rede auf dem Vertretertag der Thüringer Nationalliberalen Anfang September 1916 eine Kehrtwendung. Angesichts der Erfahrungen des Weltkrieges, so führte er aus, sei es dem Volk nicht mehr zuzumuten, "sich von der tatsächlichen Mitwirkung an den Reichstagsgeschäften ... zu enthalten. Ich will nicht dem parlamentarischen System das Wort reden, obwohl manche Vorwürfe, die wir dagegen erhoben haben, sich nach dem Ergebnis der Kriegführung und der Volksstimrnung in den Ländern, in denen es herrscht, nicht mehr erheben lassen". Notwendig sei daher eine Berufung von Parlamentariern in die Regierung 99 . Nach dieser Rede galt Stresemann als Exponent der Neuorientierung in den Mittelparteien; zudem bereitete sie die nationalliberale Initiative vom 29. September im Haushaltsausschuß vor, wo die Partei in einem Antrag forderte, einen besonderen Reichstagsausschuß für Auswärtige Angelegenheiten einzurichten. Auch die Fortschrittliche Volkspartei hatte einen in die gleiche Richtung zielenden Antrag vorgelegt; das Zentrum wollte in einer Parallelaktion den Haushaltsausschuß zur Behandlung von außenpolitischen Fragen ermächtigen 100. Alle drei Anträge beabsichtigten die Schaffung eines parlamentarischen Gremiums, das 95 Siehe bes. die Abschrift eines Schreibens von Schäfer an Kommerzienrat Friedrich vom 15.8. 1916 und das Schreiben Hirschs an Stresemann vom 21. 8. 1916, ebd. Die Namensnennung Stresemanns in leitender Position war ohne dessen Zustimmung erfolgt, siehe das Schreiben Stresemanns an Hirsch vom 18.8. 1916, ebd. 96 Zur Machtsteigerung des Reichstags seit dem Frühjahr 1916 siehe bes. die ausgezeichnete Arbeit von Bredt, Johann Victor, Der Deutsche Reichstag im Weltkrieg, Berlin 1926, S. 158ff. (WUA, 4. Reihe: Die Ursachen des Deutschen Zusammenbruches im Jahre 1918, Bd. 8); siehe auch Bermbach, Udo, Vorformen parlamentarischer Kabinettsbildung in Deutschland, Köln/Opladen 1967, S. 43 f; Rauh, Manfred, Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977, S. 394 f. 97 Siehe dazu Grosser, Dieter, Vom monarchischen Konstitutionalismus zur parlamentarischen Demokratie, Den Haag 1970, S. 112 f. 98 Siehe VRT, Bd. 306, S. 739. 99 Manuskript der Rede vom 3. 9.1916 im PA NL Stresemann 156. 100 Siehe dazu Schiffers I Koch (Anm. 88), Dok. Nr. 86 sowie Schiffers, Reinhard, Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915 -1918, Düsseldorf 1979, S. 63 ff. Vor dem Zentralvorstand führte Stresemann am 23. 9. 1917 aus: "Der Ruf nach Parlamentarismus war der Aufschrei gegenüber dem Niederbruch diplomatischer Staatskunst bei unserem heutigen System", Reiß (wie Anm. 6), S. 341. Entgegen der Auffassung von Gutsehe (Anm. I), S. 727 ist die Änderung von Stresemanns Haltung jedoch eindeutig nicht auf die Russische Revolution zurückzuführen.

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auch während der Vertagung des Plenums eine laufende Kontrolle der Außenpolitik garantiere. In der Plenarsitzung vom 27. Oktober wurde der (leicht modifizierte) Zentrumsantrag dann mit eindrucksvoller Mehrheit angenommen, zweifellos "ein Fortschritt in Richtung auf das parlamentarische Regiment"IOI. In der Plenardebatte vom vorhergehenden Tag hatte Stresemann nachdrücklich für das parlamentarische Regierungssystem Stellung bezogen, dem es allein gelinge, "den Begriff der Staatsidee in das Volk" übergehen zu lassen. Unterstützt wurde er durch v. Richthofen, der gegen die konservativen Angriffe und die Vorbehalte der Reichsregierung sprach lO2 • Das Ziel Stresemanns, die Parlamentarisierung als Weg zu einer starken Regierung, als einziges Mittel einer Versöhnung von Volk und Staat zu nutzen, traf jedoch auf den entschiedenen Widerstand der konservativen Kräfte innerhalb der Partei. So wandte sich Friedberg am 16. Februar 1917 im preußischen Abgeordnetenhaus entschieden gegen die Haltung Stresemanns, die keine Basis in der Gesamtpartei habe. Das parlamentarische System führte nach seiner Auffassung nur zu ständigen Regierungskrisen; aus diesem Grunde empfahl er ein "gemischtes System", nach dem die Fachminister durch Politiker aus den Reihen des Parlaments ergänzt werden sollten 103. Stresemann dagegen sah als wichtigste Grundlage der Neuorientierung ein wesentlich verändertes Verhältnis zwischen Reichstag und Reichsregierung. In zahlreichen Reden und Artikeln warb er im Februar und März 1917 für seine Vorstellungen einer parlamentarischen Regierungsform, in der zwar das Kabinett wie in England und Frankreich das Vertrauen der Parlamentsmehrheit besitzen mußte, gleichzeitig aber dem Kaiser das Recht einräumte, auch Nichtparlamentarier zu Kabinettsmitgliedern zu ernennen. Selbst unter einem voll ausgebildeten parlamentarischen System brauche ein Kaiser jedoch kein Schattenkaisers zu sein - dies zeige das Beispiel Edwards vn 104 . In der großen innenpolitischen Debatte des Reichstags vom 29. und 30. März 1917, die nach dem epochemachenden Ereignis der russischen Revolution und nach den scharfen Angriffen seitens der Konservativen im preußischen Herrenhaus gegen die Neuorientierungspolitik 105 in einer äußerst gespannten Atmosphäre statt101 So Bredt (wie Anm. 96), S. 48. Zur Abstimmung (302:31) siehe VRT, Bd. 308, S.1864ff. 102 Ebd., S. 1820 (Stresemann), S. 1832 (v. Richthofen). 103 Stenographische Berichte der Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, Bd. 5, Sp. 3638. 104 Siehe die zahlreichen Artikel im PA NL Stresemann 166, 167 sowie seine Rede anlä~­ lieh des 50-jähigen Bestehens der Nationalliberalen Partei am 28. 2. 1917 (Wortlaut dieser Rede auch in seiner Veröffentlichung Macht und Freiheit, Halle 1918, S. 22-37). Am 22. 2. 1917 hatte Stresemann im Reichstag ausgeführt, das Ergebnis des Krieges werde ein neues Verhältnis von Volk und Staat sein. Die den Deutschen auszeichnende "philisterhafte Opposition des Einzelnen gegenüber dem Staatsgedanken" müsse aufhören, vielmehr zeige sich das neue Verhältnis von Staat und Volk vor allem "im organischen Fortschreiten der Rechte des Parlaments", VRT, Bd. 309, S. 2477. 105 Zu den Attacken Graf Yorck v. Wartenburgs und Leopold v. Buchs (beide Angehörige der "Alten Fraktion" des Herrenhauses) vom 9.3. 1917 siehe Stenographische Berichte der

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fand, brachte die Fortschrittliche Volkspartei nun einen Antrag ein, das Reichstagswahlrecht durch Reichsrecht für alle Einzelstaaten einzuführen 106. In einer aufsehenerregenden Rede faßte Stresemann noch einmal alle Gesichtspunkte zusammen, die für eine sofortige Neuorientierung sprachen und betonte, in Deutschland werde das engere Zusammenwirkung von Reichstag und Regierung nicht zur Schmälerung ihrer Rechte - oder der der Krone - führen, sondern zur Festigung des Exekutive und zur Erhöhung des Verantwortlichkeitssinns der Legislative: "Wenn man fürchtet, daß irgendwie in diesem Parlament vielleicht gerade nach diesem Kriege sich große demagogische Kräfte geltend machen könnten, die auch gegen das altbewährte anstürmten, dann umgürte man das Parlament mit größerer Verantwortlichkeit, und man wird die Demagogie zum Teufel jagen. Wer für das, was er zu vertreten hat, verantwortlich ist, ist in ganz anderer Weise fähig, Gesetzesarbeit zu tun als wenn jemand, unverantwortlich, in der Lage ist, Opposition zu machen, ohne jemals in die Lage versetzt zu sein, das von ihm theoretisch Vertretene auch praktisch zu vertreten". Aus diesen Erwägungen heraus forderte er die Einsetzung eines Verfassungsausschusses zur Prüfung aller zu klärenden Verfassungsfragen lO7 • Am folgenden Tag nahm der Reichstag diesen Antrag mit großer Mehrheit an 108 . Obwohl der Antrag auf Einsetzung eines Verfassungsausschusses nicht zuletzt aus parteitaktischen Gründen erfolgte und in der Reichstagsfraktion "einmütige Zustimmung,d09 gefunden hatte, setzten sofort lebhafte Auseinandersetzungen Verhandlungen des Preußischen Herrenhauses 1916 - 1918, S. 386 ff.; zu der Stellungnahme v. Kleists und v. Roons vom 28.3. siehe ebd., S. 412 ff.; zu Bethmanns beschwörendem Bekenntnis zur politischen Neuorientierung vom 14.7. siehe Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses (wie Anm. 103), Bd. 5, S. 5206ff. 106 Antrag Ablaß vom 29.3. 1917, VRT, Bd. 321, Nr. 736. 107 VRT, Bd. 309, S. 2851 ff. 108 Ebd., S. 2934 ff. (228 gegen 33 Stimmen bei 6 Enthaltungen). Gegen den Antrag stimmten von der NLP Bartling, Bärwinkel, Hirsch und Schlee. Zum großen Aufsehen, die die Annahme dieses Antrags auslöste, siehe die Tagebucheintragung von Theodor Wolff vom 31. 3.1917, Theodor Wolff. Tagebücher 1914-1919, Erster Teil, hrsg. und bearb. v. Sösemann, Bernd, Boppard 1984, Dok. Nr. 544. Zur Tatigkeit und zur Zusammensetzung des Verfassungsausschusses, der sich am 2.5. 1917 unter dem Vorsitz von Scheidemann (SPD) konstituierte, siehe Bredt (wie Anm. 96), S. 162 ff.; Schiffer, Eugen, Der Verfassungsausschuß und seine Arbeit, Berlin 1917. Die seitens der NLP in den Ausschuß entsandten Mitglieder (Junck, Schiffer, List, anfangs auch v. Richthofen) standen innenpolitisch Stresemann nahe. 109 So Stresemann in einem Schreiben an Bassermann vom 31. 3. 1917, PA NL Stresemann 133. Zur Genese des Antrags teilte er Bassermann folgendes mit: "Dem fortschrittlichen Antrag hätte ... eine große Anzahl von Mitgliedern unserer Fraktion zugestimmt ... Hätte eine solche Abstimmung stattgefunden, so dann wäre die Fraktion nach außen hin weitgehend gespaltet gewesen, indem ein linker und ein rechter Flügel sich gegenübergestanden hätten. Es galt, diesen unerwünschten Zustand zu beseitigen. Diesen taktische Erwägungen entsprang der Gedanke, die für uns unangenehme Abstimmung über den fortschrittlichen Antrag dadurch zu beseitigen, daß wir eine Verfassungskommission forderten und den fortschrittlichen Antrag an diese ohne Abstimmung verwiesen ... Man sah es als besonderen Gewinn dabei an, daß die Neuorientierung im Reichstag nicht etwa mit einem Antrag Bernstein

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über die von Stresemann eingeschlagene neue Richtung ein l1o . Kern der Opposition waren die Abgeordneten, die im Plenum gegen den Antrag gestimmt hatten. Fuhrmann, der "böse Geist der Partei"lll, agitierte energisch gegen Stresemann und Bartling warf ihm vor, er plane, die Reichstagsfraktion in Abwesenheit des erkrankten Bassermann nach links drängen zu wollen 1l2. Hatte Stresemann die Opposition der Hirsch-Gruppe und die konservativen Neigungen Friedbergs in der Innenpolitik in sein Kalkül einbezogen, so wurde sein meisterhafter taktischer Schachzug plötzlich von einer Seite durchkreuzt, bei der er am wenigsten mit Widerstand gerechnet hatte. Bassermann, dessen Herzleiden ihm seit Anfang Februar 1917 nicht mehr erlaubte, am parlamentarischen Leben teilzunehmen 113, trat im April sehr energisch gegen das parlamentarische System auf. Im Gegensatz zu Stresemann betonte er die Unvereinbarkeit von Kaisergewalt und Parlamentarismus, bestritt überhaupt dessen Funktionsfähigkeit und behauptete, nach dem Kriege werde keine V6lkerversöhnung kommen, sondern Deutschland werde ein gewaltiges Heer unterhalten müssen - für diese Aufgabe sei ihm eine starke Monarchie lieber als eine "vor dem Parteikampf nie zur Ruhe kommende parlamentarische Regierung,,1l4. Stresemann, der alles versucht hatte, die Veröffentlichung dieses Aufsatzes zu verhindern, von dem er "eine geradezu völlige Zerklüftung in der Partei und den heftigsten Kampf aller gegen aller,,1l5 erwartete, wich jedoch trotz dieser Kritik im Grundsätzlichen nicht zurück. In einem ausführlichen, stark auf die Mentalität seines Mentors abgestimmten' Schreiben begründete er seine Haltung. Gegen Bassermanns Ablehnung des parlamentarischen Systems führte er an, die Nationalliberalen könnten doch nicht dem Kaisers das Recht geben, "zum Reichskanzler zu ernennen, wer ihm paßt, ohne Rücksicht auf die Volks- und Parlamentsstimmung", und damit theoretisch die Möglichkeit herbeiführen, "daß ein und Genossen, auch nicht mit einem Vorstoß der Fortschrittler, sondern mit einem Vorstoß der Nationalliberalen begann". 110 Stresemann selbst empfand seine Rede als Beginn eines neuen Parteikurses - nicht umsonst überschrieb er den Wiederabdruck der Rede in der Sammlung "Macht und Freiheit" (wie Anm. 104), S. 38-59, mit ,,Neue Zeiten" und List teilte er am 9.4.1917 mit: "Es gibt Augenblicke, in denen man den Mut haben muß, durch Handhabung des Steuers dem Schiff eine bestimmte, wenn auch neue Richtung zu geben", PA NL Stresemann 170. III So Stresemann in seinem Schreiben an Bassermann vom 31. 3.1917, ebd., Nr. 133. 112 Schreiben Bartlings an Stresemann vom 23. 4. 1917, ebd., Nr. 189. 113 Seit dem 4.2. 1917 hielt sich Bassermann in Mannheim auf; Anfang April begab er sich dann zur Kur nach Bad Kissingen. Die Frage des Vertreters Bassermanns als Fraktionsvorsitzender war sehr umstritten; da sich gegen den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Schoenaich-Carolath "eine ziemlich starke Opposition erhob", wurden List, Schiffer und Stresemann zu weiteren Stellvertretern gewählt, Schreiben Stresemanns an Bassermann vom 22.2.1917, PA NL Stresemann 133; siehe auch NLC vom 23.2. 1917, Nr. 44. 114 Ernst Bassermann, "Die Nationalliberale Partei und die Neuorientierung", Nationalliberale Rundschau (Osternummer 1917). 115 Schreiben Stresemanns an Bassermann vom 9.4. 1917, PA NL Stresemann 133. Mehrere Versuche Stresemanns, die Differenzen mit Bassermann in einem persönlichen Gespräch zu klären, scheiterten an Bassermanns schlechtem Gesundheitszustand.

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Mann, von dem 65 Millionen abhängen und der letzten Endes das Volk in den Abgrund führt, Zeit seines Lebens bleiben kann, weil das Volk wie ein unmündiges Kind sich das gefallen lassen muß". Bassennann selbst sei doch der Auffassung, daß Kaiser und Kanzler Deutschland ins Verderben führten: "Soll denn Wilhelm ll. in dem Kriege ein Vertrauensvotum für auswärtige und innere Politik gegeben werden? Parlamentarisches System bedeutet doch nicht nur die volle Parlamentsherrschaft. Parlamentarisches System würde es schon sein, wenn der Kanzler gehen müßte, wenn er ein Mißtrauensvotum im Reichstag erhält,,1l6. In den nächsten Wochen gelang es Stresemann zwar, seinen Rückhalt in der Reichstagsfraktion zu verstärken. Der Preis dafür war jedoch ein erneutes Aufbrechen der Spaltungen der Vorkriegszeit und eine zunehmende Entfremdung von Bassennann, der nach "seiner ganzen Natur mehr zu Kompromissen neigt und klaren Entscheidungen weit eher ausweicht als sie herbeizuführen sucht"ll7. Besonders erbittert war Stresemann darüber, daß Bassennann mit seinem "großen politischen Einfluß,,1l8 die Hirsch-Gruppe zu decken bereit war und eine "große Verbeugung vor der Industrie,,1l9 gemacht habe. Die Auseinandersetzungen zwischen Stresemann und Hirsch verschärften sich zunehmend - Kristallisationskern für den Widerspruch gegen den neuen Kurs der Reichstagsfraktion waren die westfälischen Landesorganisationen. Hirsch, der im März 1917 mit Geldern der Industrie den "Deutschen Kurier" und die "Berliner Neuesten Nachrichten" aufgekauft hatte und ihre politische Leitung in die Hände von Fuhrmann legte 120, entfesselte eine heftige Pressekampagne gegen Stresemann und die Reichstagsfraktion, in der den Anschein erweckt werden sollte, "als wenn sich in der ganzen Nationallibera116 Ebd. In der Wahlrechtsfrage erinnerte er Bassermann an sein Schreiben vom 31. 3. 1917: "Es kann uns mit dem Wahlrecht gehen wie mit den sybillinischen Büchern. Der Preis wird immer teuerer. Geht die Radikalisierung weiter, dann macht sie beim Pluralwahlrecht nicht mehr Halt, sondern springt sofort zum allgemeinen Wahlrecht über ... Meiner Meinung nach ist es jetzt aber so ungefähr der letzte Augenblick, wo wir noch die Möglichkeit haben, das Pluralwahlrecht in den Hafen zu bringen"; siehe dazu auch Patemann, Reinhard, Der Kampf um de preußische Wahlreform im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1964. ll7 Schreiben Stresemanns an List vom 9. 4. 1917, PA NL Stresemann 170. List teilte ihm am folgenden Tag mit, er stimme dieser Auffassung ganz zu und unterstrich, "daß Bassermann die Kraft und die Nerven nicht mehr hat, um die Politik unserer Partei bei den kommenden großen Aufgaben in einheitlicher Richtung und selbst gegen mächtige Einflüsse zu führen", ebd. 118 Schreiben Stresemanns an Bassermann vom 31. 3. 1917, ebd., Nr. 133 . 119 Schreiben an List vom 9. 4. 1917, PA NL Stresemann 170. Direkte Folge dieses Verhaltens sei, wie er List am 18.4. mitteilte, nicht nur eine öffentliche Desavouierung seiner Person, sondern auch eine "heillose Verwirrung" über den Kurs der Partei: "Unsere Politik macht den Eindruck der Echternacher Springprozession", ebd. 120 Siehe dazu das ausführliche Schreiben Stresemanns an Ballin vom 4.5. 1917, in dem er sich darüber beklagte, mit Hirsch sei "auf Dauer keine Politik mehr zu treiben", sein Vorgehen erschwere eine einheitliche Führung der Partei "ganz erheblich", PA NL Stresemann 171. Zu den monatelangen scharfen Auseinandersetzungen um die beiden Blätter, in dem beide Seiten nicht vor dem Vorwurf der Illoyalität und Gemeinheit zurückschreckten, siehe den Briefwechsel zwischen Hirsch und Stresemann, ebd., Nr. 192.

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len Partei eine Entrüstung über meine Rede geltend machte und alles vor einer Neuordnung zurückbebte, mit der wir doch vielleicht zu allererst bei uns selbst anfangen müßten"l2l. Darüber hinaus versuchten die Altnationalliberalen nun verstärkt, weitere Publikationsorgane der Partei unter ihre Kontrolle zu bringen. Der "Nationalliberalen Correspondenz" spendeten sie einen beachtlichen Betrag (10.000 Mark), versandten Agitationsmaterial direkt an die Vertrauensmänner der Partei in den einzelnen Wahlkreisen und wollten über den industriellen Wahlfonds der Partei - der im Sommer 1917800.000 Mark umfaßte - Einfluß auf Provinzialblätter nehmen 122 . Die Auseinandersetzungen nahmen ein solches Maß an, daß der Geschäftsführer der Reichstagsfraktion, List - in diesen Wochen der engste Verbündete Stresemanns -, meinte, jetzt sei die Gelegenheit günstig, "die Richtung Hirsch vor die Frage zu stellen, ob sie nachgeben oder ausscheiden und sich damit zur politischen Bedeutungslosigkeit verdammen Will,,123. Zwar schreckten sowohl Stresemann als auch Hirsch vor diesem Schritt, der eine Spaltung der Partei bedeutet hätte, zurück, doch sah die Parteileitung sich nun zum Handeln gezwungen, nicht zuletzt aufgrund des zunehmenden Druckes der Landesorganisationen, die eine klare politische Linie einforderten 124. Als zu den Gegensätzen in innenpolitischen Fragen noch Zweifel darüber laut wurden, ob die Reichstagsfraktion an der bisherigen Kriegszielpolitik festhalte 125 , mußte "nach irgendeiner Richtung hin ein Ventil geöffnet,,126 werden. Am 16. Juni 1917 fand eine Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses mit den Vorsitzenden der Landesorganisationen statt. In erregten Debatten scheiterte Röchling mit seiner Resolution, die für die Dauer des Krieges jede innenpolitische Reform ablehnte ebenso wie die westfälische Gruppe, die auf sofortige Einberufung des Zentralvorstandes drängte I27 • Vielmehr stellte sich die Versammlung in einer vorsichtigen Resolution - die allerdings nicht auf die von Stresemann in die Debatte gebrachte Frage einer nationalliberalen Beteiligung an einem KoalitionsSchreiben Stresemanns an Zöphel vom 19.4. 1917, ebd., Nr. 170. Siehe dazu die Schreiben Stresemanns an Brües vom 19.4. 1917 (ebd., Nr. 170) und an Stöve vom 14. 11. 1917 (ebd., Nr. 178) sowie das undatierte Pressemanuskript ebd., Nr.I72. 123 Schreiben Lists an Stresemann vom 10.4.1917, ebd., Nr. 170. 124 Siehe dazu die zahlreichen Schreiben im BAK R 45 1/6, p. 1 ff. 125 Siehe dazu Nationalliberale Blätter 29 (1917), S. 349f. Gegenüber Bassermann äußerte Stresemann am 9. 6. 1917 die Empfindung, "daß die Gegensätze in der Partei sich zusammenziehen" und betonte: "Die überwiegende Mehrheit der Partei steht in den Kriegszielen geschlossen hinter uns", PA NL Stresemann 133. 126 So Stresemann in einem Schreiben an Schoenaich-Carolath vom 13. 6. 1917, ebd., Nr.I72. 127 Siehe Stresemanns handschriftliche Notizen aus der Sitzung (ebd.) sowie seine Schreiben an Schoenaich-Carolath vom 13. und 17.6.1917, ebd. Wie Stresemann am 19.6.1917 an Bassermann schrieb, hielten sich die opponierenden Landesverbände Westfalen, Pommern, Posen und Oldenburg sogar beim anschließenden gemeinsamen Abendessen abseits, ebd., Nr. 133. 121

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ministerium einging -, teilweise hinter die Reichstagsfraktion, indem sie ein engeres Zusammenwirken zwischen Parlament und Regierung und einen stärkeren parlamentarischen Einfluß forderte, lehnte aber die "Herbeiführung einer Parlamentsherrschaft nach fremdem Muster" dezidiert ab - wobei diese auf Betreiben Friedbergs zustandegekommene Formulierung eine Spitze gegen Stresemanns politische Linie beinhaltete. In der Frage der Kriegsziele beschloß man nach kurzer Debatte, an dem weitausgreifenden Programm vom Mai 1915 festzuhalten 128 • Diese einmütig verabschiedete Resolution konnte jedoch den weit vorangeschrittenen Zersetzungsprozeß in der Partei nur mühsam überdecken. Angesichts des "Vorhandenseins einer ganzen Reihe von Strömungen", ,,riesengroßer Spannungen" und einer "Fülle von Problemen", so bilanzierte Stresemann in einem Schreiben an Bassermann, bliebe der Parteiführung nur die Wahl, geradewegs ,,hindurchzusteuern,,129. Weit pessimistischer und unter dem Gesichtspunkt mangelnder Führung und erheblich nachlassender Integrationsfähigkeit beurteilte der Jungliberale Bruno Marwitz die Lage der Partei. Verlauf und Ergebnis der Sitzung vom 16. Juni hätten die "absolute Unmöglichkeit" erwiesen, "daß unsere Partei in irgendeiner Richtung auch nur einigermaßen geschlossen marschieren kann, weil zwischen den maßgeblichen Instanzen ein Zusammenhang nicht besteht,,13o. Nur wenige Wochen später starb Ernst Bassermann. Die Auseinandersetzungen um Bassermanns Nachfolger als Parteivorsitzender riß die gerade mühsam zugeschütteten Gräben zwischen den verschiedenen Gruppen erneut auf - hinzu kam, daß das Deutsche Reich die tiefe innenpolitische Krise, die schließlich zum Rücktritt Bethmann Hollwegs am 13. Juli 1917 fülnte, noch nicht überwunden hatte 131 . Vor der Zentralvorstandssitzung, die auf für Ende September 1917 einberufen war, spitzten sich die Gegensätze zwischen Stresemann und Friedberg zu. Unmittelbar im Anschluß an Bassermanns Beerdigung startete der mit Stresemann eng befreundete Berliner Bankier August Weber eine Briefaktion, in der er für Stresemann als 128 Text der Resolution bei Schulthess 1917 I, S. 641 f. Erste konkretere Vorstellungen zur Bildung eines Koalitionsministeriums (Westarp, Spahn, Payer, Bassermann, Scheidemann) finden sich in einem Schreiben an Schrnidthals vom 21. 4. 1917, PA NL Stresemann 170. Am 3. 5. 1917 schrieb Stresemann an den Oberbürgermeister von Dresden, Blüher, man dürfe den Gedanken an ein Koalitionsministerium nicht so "leichtfertig abtun". Deutschland werde einen viel besseren Frieden erreichen, "wenn es nach außen durch die Führer seiner Parteien vertreten wäre ... Dazu kommt ein zweites, daß der Frieden voraussichtlich nicht allen Erwartungen entsprechen wird, die man daran stellt. Wenn dann als Ergebnis des Friedens mehr als eine Million Tote und 100 Milliarden Schulden bleiben, dann ist dieser Friede für die Krone außerordentlich schwer zu tragen". 129 Schreiben an Bassermann vom 19.6. 1917, ebd., Nr. 133. 130 Schreiben an Stresemann vom 20. 6. 1917, ebd., Nr. 172. 131 Die "aktive Rolle" Stresemanns (so seine Aussage in seinem letzten Brief an Bassermann vom 14.7. 1917, ebd., Nr. 133) bei dem Sturz von Bethmann Hollweg ist bislang noch nicht adäquat untersucht. Ohne näher darauf einzugehen, muß jedoch festgehalten werden, daß die - in verschiedenen Nuancierungen - in der Forschung vorherrschende Erklärung, Stresemann habe den Kanzlersturz nur betrieben, um eine offen annexionistische Regierung durchzusetzen, allzu stark vereinfacht und nicht aufrechterhalten werden kann.

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Nachfolger Bassermanns warb l32 • Stresemann war jedoch Realist genug, um zu erkennen, daß seine Wahl die ohnehin gespaltene Partei noch weiter polarisiert hätte. Nach seiner Rückkehr von einer Kur in Binz auf Rügen teilte er Weber mit, er habe zu viele Gegner auf beiden Flügeln der Partei; auch die älteren Fraktionskollegen machten ihm oft Schwierigkeiten 133. Stresemann und die ihm nahestehenden Abgeordneten und Zentralvorstandsmitglieder kamen daraufhin überein, sich für die Wahl Friedbergs als die "gegenwärtig beste Lösung,,134 einzusetzen. Damit sollte "einstweilen die Tradition ... , die durch die alten Mitglieder mehr repräsentiert wird" gewahrt werden, während Stresemann, dessen Wahl als stellvertretender Partei vorsitzender vorgesehen war, zunächst in einer Wartestellung verbleiben sollte. "Ist er [Stresemann, L.R.] erst einmal im Präsidium des Zentralvorstandes", so teilte Weber einem Parteifreund mit, "so liegt darin eine Qualifizierung für die Zukunft, wie Sie mir ohne weiteres zugeben werden,,135. Der Plan hatte Erfolg. In der Zentralvorstandssitzung vom 23. September 1917 wurden Friedberg zum Parteivorsitzenden und Stresemann zu seinem ersten Stellvertreter bestellt; beide Wahlen erfolgten per Akklamation ohne Gegenstimmen. In seinen Dankesworten bezeichnete Stresemann den 66-jährigen Friedberg als seinen "Freund,,136.

III.

"Wir sind und müssen bleiben eine Mittelpartei, die bestrebt sein muß, den Ausgleich zu schaffen zwischen rechts und links,,137. Diese Stellungnahme Bassermanns umreißt exakt das nationalliberale Selbstverständnis im Parteienspektrum des Kaiserreichs, beschreibt gleichzeitig aber auch die Sollbruchstellen der Partei. Bereits die scharfen Auseinandersetzungen der Vorkriegszeit zeigten, daß die Integrationskraft der Partei und ihrer Führung in geradezu dramatischen Maße nachließ. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, daß es der Reichstagsfraktion immer weniger gelang, die Richtung der Partei zu bestimmen. Zwar setzten sich Bassermann und Stresemann entschieden für liberale Reformen ein, doch vollzog sich diese Schwenkung unter schweren Kämpfen, zumal ihre Gegner über beachtliche inner132 Siehe dazu die Abschriften zahlreicher Schreiben Webers (datiert alle zwischen Ende Juli und Anfang August 1917) im PA NL Stresemann 173. Die Auffassung von Reiß (Anm. 6), S. 32, Weber habe sich sofort für die Wahl Friedbergs ausgesprochen, ist zu korrigieren. J33 Schreiben Stresemann an Weber vom 4. 8. 1917, PA NL Stresemann 173; ähnliche Auffassungen finden sich auch in einem Schreiben an Julie Bassermann vom 18. 7. 1917, ebd., Nr. 133. 134 Schreiben Stresemann an Meyersahm vom 17. 8.1917, ebd., Nr. 173. 135 Abschrift eines Schreiben Webers an Zöphel vom 28. 7.1917, ebd. 136 Reiß (wie Anm. 6), Dok. Nr. 5, S. 297; zweiter Stellvertreter blieb Paul Vogel. Am 25. 9. 1917 wählte die Reichstagsfraktion Stresemann zum Vorsitzenden, siehe NLC, 26.9. 1917, Nr. 188. 137 12. Allgemeiner Vertretertag der Nationalliberalen Partei. Protokoll aufgrund Stenographischer Aufnahme, Berlin 1912, S. 27.

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parteiliche Machtbasen verfügten. An erster Stelle muß hier die nationalliberale Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus genannt werden, deren Führer Friedberg der stärkste Protagonist des Widerstandes gegen den neuen Kurs war. Als Vorsitzender des Geschäftsführenden Ausschusses hatte er sowohl beherrschenden Einfluß auf das Zentralbüro wie auf die offizielle Parteikorrespondenz. Auch der Zentralvorstand, in dem sich in hohem Maße das Eigengewicht der an Selbstbewußtsein gewinnenden regionalen Verbände manifestierte, stand sowohl vor als auch während des Krieges weiter ,,rechts" als die Reichstagsfraktion. Diese Tatsache ermöglichte zwar Bassermann jederzeit, das Gewicht das Zentralvorstandes gegen linksliberale Stömungen in der Partei ins Feld zu führen, zwang die Parteiführung aber auch zu ständigem Lavieren. Wie gering die Integrationskraft des Zentralvorstandes gegenüber den vitalen innerparteilichen Gegensätzen war, zeigt die Weigerung der beiden Flügelorganisationen, dem Zentralvorstandsbeschluß zu ihrer Auflösung Folge zu leisten. Die nationalliberale Kriegsbegeisterung überdeckte in den ersten Kriegsjahren zunächst die innerparteilichen Gegensätze. Angesichts der Spaltungen der Vorkriegszeit war der Versuch der Nationalliberalen, sich als Wortführer des Nationalismus zu stilisieren, jedoch wenig mehr als ein (wirklichkeitsferner) Wunsch; weit eher handelt es sich hier um ein aus der Not geborenes Produkt der Parteitaktik. Das Nationale stets als oberste Leitlinie politischen Handeins zu verfechten, darin waren sich auch Bassermann und Stresemann bis 1916 einig - letztlich ermöglichte nur diese außenpolitische Prioritätensetzung das Zusammenspiel mit der schwerindustriellen Gruppe um Hirsch. In dem Moment, als die innenpolitischen Fragen in steigendem Maße an Gewicht gewannen, brach innerhalb der Partei sofort ein scharfer Konflikt über die Frage der anzustrebenden inneren Reformen aus. Dieser Streit belastete auch das Verhältnis von Bassermann und Stresemann erheblich. Plädierte Bassermann gegen eine Parlamentarisierung und für eine Verschiebung innerer Reformen bis nach Kriegsende, so wandte sich Stresemann im Streit um die Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts von der konstitutionellen Monarchie ab - ein Wendepunkt in der Geschichte des deutschen Liberalismus. Die Motive für Stresemanns Politik, die ihn in der Partei beträchtlichen Risiken aussetzte, lassen sich nicht mit der vereinfachenden Formel erfassen, er habe eine Machtsteigerung des Reichstags nur verlangt, um den Sturz des Kanzlers herbeizuführen und eine offen annexionistische Regierung durchzusetzen. Weit eher ließ er sich seit Ende 1916 von dem Motiv leiten, die Sozialdemokraten in der nationalen Einheitsfront zu halten, da er nur bei - wenigstens äußerlicher Geschlossenheit der großen Parteien die erfolgreiche Weiterführung des Krieges für möglich hielt. So versuchte er, das auf den ersten Blick Unvereinbare wenigstens zeitweilig zu vereinen: Durch begrenzte innere Reformen, vor allem aber durch die Beseitigung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen und durch die Berufung von Parlamentariern in die Regierung wollte er die Sozialdemokratie veranlassen, sich an einem Koalitionsministerium zu beteiligen. Die im Winter 1916 mit Macht erneut einsetzende Krise - nicht zuletzt auch das Symptom einer Führungs6*

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schwäche - läßt sich jedoch nicht nur als Streit um die Frage verstehen, in welche Richtung Deutschlands künftige innere Entwicklung verlaufen sollte. Sie zeigt mit ihren schroffen Fronten zwischen Zentralvorstand einerseits und Reichstagsfraktion andererseits auch das ständig virulente Problem eines tatkräftigen Führungsorgans in einer noch stark vom Honoratiorenturn geprägten Partei. Verkörperte sich im Zentralvorstand mehr als in irgendeinem anderen Parteigremium die Kontinuität der Nationalliberalen Partei, so steuerte die Reichstagsfraktion unter dem maßgeblichen Einfluß Stresemanns seit dem Herbst 1916 einen eigenen (und wenn man so will: "linkeren") Kurs. Beharrung und Wandel: Hatte Bassermann als Parteiführer und Fraktionsvorsitzender bei harten Meinungskämpfen im Zweifel seinen ganzen Einfluß im Zentralvorstand zugunsten der ersten Option in die Waagschale geworfen, so versuchte Stresemann, durch ein flexibleres Agieren die antagonistischen Kräfte miteinander zu verbinden, so die lähmende Kraft der alten Gegensätze zu umgehen und die Partei durch Skylla und Charybdis hindurch auf einen neuen Kurs zu steuern. Führte Bassermann die Partei, indem er als Mittler die divergierenden Kräfte auszugleichen oder zu integrieren suchte, so scheute Stresemann den Konflikt weniger als sein Mentor. Wichtigste Basis für ihn war die Reichstagsfraktion, hier suchte und fand er Rückhalt für seine Politik - dies bedeutete auch eine gewisse Entmachtung des Zentralvorstandes, dem in politischen Angelegenheiten kaum mehr eine Entscheidungsfunktion zukam. Dennoch darf der Einfluß des Zentralvorstandes auf die Politik der Partei nicht zu gering geschätzt werden. Sowohl die Auseinandersetzungen 1912 als auch 1917 zeigen, daß Reichstagsfraktion und Parteiführung nicht in dauerndem Gegensatz zu ihm operieren konnten. Allein der Zentralvorstand als Organ der Willensklärung und Willenskundgebung (und darüber hinaus als ein nicht zu unterschätzender Faktor der öffentlichen Meinung) konnte der Parteileitung das geben, was sie dringend brauchte: Resonanz und Repräsentanz. Darauf basierte sein Einfluß auf die Parteiführung, in diesem Sinne war der Zentralvorstand ein wichtiger Faktor bei der zentralen Willensbildung in der Partei. Dazu tritt noch ein dritter Aspekt. Wie kaum ein anderer Politiker - vielleicht mit Ausnahme Erzbergers - verkörpert Stresemann einen neuen Typus des Parlamentariers. Relativ jung, taktisch denkend, ehrgeizig und von immenser Arbeitskraft zeigte er Initiative, Risikobereitschaft und ein starkes Streben nach politischer Macht. Damit setzte er sich in deutlichem Gegensatz zu der alten parlamentarischen Führungsschicht, wie sie sich beispielhaft in seinem Mentor Bassermann verkörperte. Genügte es diesem, vor Gesetzesvorlagen der Regierung gehört zu werden und im Vorraum von Entscheidungen gewissen Einfluß auszuüben, so gab Stresemann sich mit dieser begrenzten Rolle, die nicht zuletzt auch von einer Interessenidentität mit der Regierungsbürokratie herrührte, nicht zufrieden. Vorurteilsloser gegenüber der Sozialdemokratie als sein Mentor, nicht so eingewurzelt in seinen Bindungen an das konstitutionelle System und seine Ideologie, verlangte er nach stärkerer Initiative - und zögerte im März und im Juli 1917 nicht, die monarchische Kanzlerregien)Dg zu zerschlagen und mit der Macht des Parlaments auch

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die eigene zu stärken. Auf diesem Weg der Verbindung von nationaler Machtstaatsidee und liberaler Gestaltung der inneren Verhältnisse wollte und konnte ihm Bassermann nicht folgen.

Asyl und Meinungsfreiheit Deutsche politische Emigration und eidgenössische Politik im Ersten Weltkrieg* Wolfgang Benz

Die auf ihre Neutralität bedachte Schweiz war im Ersten Weltkrieg zugleich Tummelplatz kriegerischer Propaganda der kämpfenden Parteien, die dort außer ihren diplomatischen Missionen, Pressebüros und Agenturen auch eigene Zeitungen unterhielten - wobei die Gegensätze und konträren Sympathien zu den Kriegführenden zwischen den frankophonen und den deutschsprachigen Kantonen eine erhebliche Rolle spielten I - als auch Refugium für Emigranten, die freundlich geduldet Asyl genossen, ohne in der Regel im Heimatland ausdrücklich durch Verfolgung charakterisiert zu sein. Im folgenden soll die Rede sein von deutschen Oppositionellen, die sich als Kritiker des Wilhelminischen Obrigkeitsstaates oder doch seiner Kriegsführung exponiert und von Deutschland abgewendet hatten, die von der Schweiz aus publizistisch gegen das kaiserliche Deutschland Agitation trieben. Motive und Ziele dieser Publizistik sind ebenso von Interesse wie die eidgenössischen Reaktionen. I.

Zu den deutschen Emigranten gehörten nicht nur bekannte Pazifisten wie Alfred H. Fried, der sich mit der Friedens-Warte in die Schweiz zurückgezogen hatte, sondern auch der Sohn des einstigen Reichskanzlers Alexander Prinz von HohenloheSchillingsfürst (1862-1924), der Reichstagsabgeordneter und Bezirkspräsident im Elsaß gewesen war, der, nachdem er sich als Herausgeber der "Denkwürdigkeiten" seines Vaters den Zorn Wilhelms 11. zuzog, bis August 1914 als Privatmann in Paris gelebt hatte und dann in die Schweiz übersiedelte, wo er gelegentlich durch Artikel für die Neue Zürcher Zeitung und für Organe wie die Friedens-Warte oder die Weltbühne in Erscheinung trat.

* Der Beitrag beruht auf Archivstudien des Vf. in Bern, zu danken ist den eidgenössischen Archivbehörden für ihre Unterstützung. Die Ausarbeitung wurde ermöglicht durch die Einladung zu einer Gastprofessur an der University of Adelaide, Australien. Die Gastfreundschaft des Departements of German Studies sei mit herzlichem Dank erwähnt. 1 Vgl. Ruchti, Jacob, Geschichte der Schweiz während des Weltkrieges 1914-1919, 2 Bde, Bern 1928 und 1930; Thimme, Hans, Weltkrieg ohne Waffen, Stuttgart, Berlin 1932.

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Der bayerische General Max Graf von Montgelas, der 1915 Probleme mit der Obersten Heeresleitung hatte und zur Disposition gestellt war, sich aus Empörung über die Mißachtung der belgischen Neutralität zum Pazifismus wandte und zum engagierten Gegner des deutschen Militarismus wurde (was ihn später nicht daran hinderte, sich im Rahmen des parlamentarischen Untersuchungsausschusses des Reichstags gegen den Kriegsschuldartikel des Versailler Vertrages zu engagieren), wartete in Bern das Ende des Krieges ab. Wie offen im Vergleich zur Emigration aus Hitlerdeutschland die Situation war, wie wenig von einer hermetisch abgeschlossenen, von Verfolgung bedrohten Existenz der Exilanten gegenüber ihrem Heimatland die Rede sein konnte, geht auch daraus hervor, daß etwa Friedrich Wilhelm Foerster, Inhaber eines Lehrstuhls für Pädagogik an der Münchner Universität, trotz kritischer Artikel in deutschen Zeitungen, trotz unverhohlener Sympathien für Frankreich, trotz der Forderung Ludendorffs nach seiner Verhaftung zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich hin- und herreisen konnte, ebenso wie der Redakteur der sozialdemokratischen Münchner Post, Adolf Müller, der sich oft in Bern aufhielt2 . Mehr noch als der umtriebige (und deshalb ins Zwielicht geratende) Foerster, der für eine Minderheit deutscher Intellektueller stand, die ihre kulturelle Neigung zu Frankreich nicht blindlings auf dem Altar des deutschen Patriotismus zu opfern bereit waren, geriet die intellektuelle Existenz einer Annette Kolb als bewußt gelebter deutsch-französischer Schriftstellerin durch den Krieg in äußerste Gefährdung, der sie sich schließlich nach Behinderungen und Verboten in Deutschland um die Jahreswende 1916/17 in die Schweiz entzog, wo sie sich (am 5. April 1917) in einem offenen Brief im ententefreundlichen Journal de Geneve gegen die "Boches" in Deutschland wandte. Rene SchickeIe, mit dem sie befreundet war, stand als Elsässer zwischen den Fronten und lebte deshalb ab 1916 in der Schweiz3 . Ähnlich motiviert war der elsässische Sozialdemokrat Salomon Grumbach 4 , der freilich auch im Sinne der französischen Sozialisten von der Schweiz aus Politik machte, u. a. als Herausgeber einer Serie politischer Broschüren unter dem Titel "Republikanische Biblio2 Beide wurden nach der Novemberrevolution offizielle diplomatische Vertreter in der Schweiz: Foersters Mission als bayerischer Gesandter (von Eisner wegen seiner Verbindung zu Frankreich im Hinblick auf die Lebensmiuelversorgung berufen) blieb eine Episode der Revolutionszeit; der Sozialdemokrat Müller amtierte von 1919 bis zum Ende der Weimarer Republik als Deutscher Gesandter in Bern. 3 Vgl. Toleranzgesuch des Advokaturbureau Brüstlein an die Kantonale Polizeidirektion Bern, 28. 4. 1917, Staatsarchiv Bem, Akten Polizeidirektion 1917 /2197. 4 Im Toleranzgesuch des Advokaten Brüstlein für Salomon Grumbach vom 30. 1. 1915 heißt es, er sei "weder Deutscher noch Franzose geworden, sondern ein Elsässer im vollsten Sinne des Wortes geblieben, d. h. ein Mensch, der seine engere Heimat innig liebt und deren kulturelle Beziehung zu Deutschland und Frankreich gleich hoch einschätzt. Für einen Mann von dieser Gesinnung war die Teilnahme am Kriege auf der einen Seite wie auf der anderen Seite eine psychologische Unmöglichkeit.", Staatsarchiv Bern, Akten Polizeidirektion, 1915/557.

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thek", die in Lausanne erschien und in der die Klassiker der These der deutschen Kriegsschuld publiziert wurden, argwöhnisch beobachtet von der Schweizer Zensur. Zu den großen Namen deutscher Kultur, die sich während des Ersten Weltkriegs in der Schweiz aufuielten, gehören auch die Schriftsteller Hermann Hesse und Rainer Maria Rilke, Leonhard Frank, Claire und Iwan Goll. Letztere sympathisierten besonders mit dem in Genf lebenden französischen Pazifisten Romain Rolland, der sich wie seine deutschen Gesinnungsgenossen im Kampf gegen den Wilhelminismus in der Auflehnung gegen den französischen Chauvinismus exponiert und isoliert hatte. Eine nicht unbeträchtliche Rolle sollte auf der Schweizer Bühne in den Kriegsjahren auch ein Diplomat spielen, der bis 1914 deutscher Konsul in Belgrad gewesen war. Hans Schlieben (1865 - 1943) hatte sich nach Kriegsausbruch pensionieren lassen, war dem pazifistischen Bund Neues Vaterland 5 beigetreten wie auch die regimekritischen Diplomaten Fürst Lichnowsky (ehemals Botschafter in London), Graf von der Gröben (Paris), Graf von Leyden (Stockholm) und Graf Monts (Rom), die alle erhebliche Zweifel an der Integrität Deutschlands hegten und artikulierten. Ab 1917 war Schlieben erst hinter den Kulissen, dann auch öffentlich die wesentliche Gestalt der "Freien Zeitung", von der noch ausführlich die Rede sein wird. 1917 war Schlieben durch ein Pamphlet hervorgetreten, das unter dem Titel "Die deutsche Diplomatie, wie sie ist und wie sie sein sollte" erschienen war6 . Am rigorosesten im moralischen Engagement und nicht zuletzt deshalb von großem Einfluß auf die deutsche Emigration in der Schweiz war die regimekritische, gegen den Wihelminischen Obrigkeitsstaat und gegen den preußischen Militarismus gerichtete Haltung Wilhelm Muehlons, der nie zur organisierten Friedensbewegung gehörte, der sich selbst nicht zu den Pazifisten rechnete und der, eine weitere Ironie, bis zum Herbst 1914 Direktor der Abteilung für Kriegsmaterial bei Krupp in Essen gewesen war. Muehlon hatte im Juli 1914 nach Gesprächen und Erkundigungen wirklich gut unterrichteter Kreise - Helfferich, Krupp von Bohlen und Halbach, Staatssekretär Jagow - den Eindruck gewonnen, daß Berlin den Krieg unbedingt wollte. Muehlon zog daraus zunächst persönliche Konsequenzen und gab seine glänzend bezahlte Position bei Krupp auf. Im Auftrag des Auswärtigen Amts erwarb er sich in der Folgezeit Verdienste um Lebensmittellieferungen an das Deutsche Reich aus Ungarn und Rumänien, die er aufgrund persönlicher Beziehungen zuwege brachte7 • So sehr er den Krieg verabscheute, hielt er diese diplomatischen Sondennissionen doch für seine Pflicht, jedenfalls bewies er damit seinen Patriotismus, der ihm bald danach öffentlich abgesprochen wurde. Im Spät5 Vgl. Lehmann-Russbueldt, Otto, Der Kampf der Deutschen Liga für Menschenrechte vormals Bund Neues Vaterland für den Weltfrieden 1914 - 1927, Berlin 1927. 6 Schriftwechsel betr. Aufenthaltsbewilligung Staatsarchiv Bem, Akten Polizeidirektion 1918/2402. 7 Benz, Wolfgang, Der "Fall Muehlon". Bürgerliche Opposition im Obrigkeitsstaat während des Ersten Weltkriegs, in: VfZg 18 (1970), S. 343 - 365.

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herbst 1916 war er in die Schweiz übergesiedelt, wo er im Interesse eines Verständigungsfriedens freiwillig in der deutschen Gesandtschaft mitarbeitete. Nach der Ankündigung des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs durch Deutschland am 1. Februar 1917 brach er jedoch den Verkehr zu allen offiziellen Stellen in Deutschland ab. In einem sorgfältig fonnulierten Brief an den Reichskanzler Bethmann Hollweg motivierte Muehlon Anfang Mai 1917 seine Verurteilung der deutschen Kriegsführung und sagte sich fönnlich und "endgültig von den Männem des heutigen deutschen Regimes" los: "So zahlreich und schwer auch die Irrtümer und Verfehlungen auf deutscher Seite von Kriegsbeginn an waren", schrieb Muehlon nach Berlin, "so glaubte ich lange Zeit hoffen zu können, daß eine bessere Einsicht und Gesinnung bei unseren maßgebenden Persönlichkeiten allmählich durchdringen werde. In dieser Hoffnung hatte ich während des Krieges meine Mitarbeit in Rumänien in gewissem Maße zur Verfügung gestellt, und war ich bereit, auch in meinem jetzigen Aufenthaltslande, der Schweiz, mitzuhelfen, soweit das Ziel der Bemühungen Annäherung der feindlichen Parteien sein sollte ... Seit Anfang dieses Jahres ist mir jede Hoffnung hinsichtlich der heutigen Leiter Deutschlands geschwunden. Das Friedensangebot ohne Angabe der Kriegsziele, der verschärfte Unterseebootskrieg, die Deportationen der Belgier, die Verwüstungen in Frankreich, die Versenkung englischer Hospitalschiffe sind Beispiele der Handlungen, die immer wieder von neuem unsere verantwortlichen Persönlichkeiten derartig disqualifiziert haben, daß sie nach meiner Überzeugung für eine gutwillige, gerechte Verständigung überhaupt nicht mehr in Betracht kommen". Im August 1917 verfaßte Muehlon über seine persönlichen Beobachtungen zu den Kriegsvorbereitungen im Juli 1914 ein Memorandum, das nur den Abgeordneten des Deutschen Reichstags zugedacht war, jedoch seinen Weg in die Öffentlichkeit fand und ab Ende 1917 als Beweis der deutschen Schuld am Kriege zusammen mit der Denkschrift des Fürsten Lichnowsky von der gegnerischen Propaganda in großem Stil benutzt wurde 8 • Der Hauptausschuß des Reichstages beschäftigte sich im März 1918 mit dem Fall und erledigte ihn auf die damals übliche Weise, indem der Verfasser des gefährlichen Memorandums als nervenkranker Phantast abqualifiziert und seine Ausführungen als "Ausgeburt einer kranken Phantasie" diffamiert wurden. Muehlon reagierte mit der Veröffentlichung seines Tagebuchs aus dem Herbst 1914. Die Publikation in einem Schweizer Verlag erreichte große Verbreitung, wurde in viele Sprachen übersetzt und brachte unter dem Titel "Die Verheerung Europas" den Verfasser, weil die Entente Raubdrucke des Büchleins über deutschen Schützengräben abwarf, endgültig in den Ruch des Vaterlandsverräters und Söldlings der Feinde Deutschlands 9 . 8 Grumbach, Salomon (Hrsg.), Die Schuldfrage, Lausanne 1918, enthält die Denkschrift Lichnowskys, das Memorandum Muehlons und dessen Brief an Bethmann Hollweg; vgl. Fürst Lichnowsky, Meine Londoner Mission 1912-1914, Zürich 1918; vgl. Röhl, John c.G. (Hrsg.), Zwei deutsche Fürsten zur Kriegsschuldfrage. Lichnowsky und Eulenburg und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, Düsseldorf 1971.

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Nichts hatte Muehlon, einem Mann liberaler und demokratischer Überzeugung, der aber Bindungen an Parteien und Vereinigungen auswich, ferner gelegen. Er hatte Zeichen setzen wollen auf dem Weg zu Neubesinnung und Umkehr, und das blieb auch nach 1918 sein Anliegen. Er war der Mittelpunkt eines illustren Kreises von deutschen Friedensfreunden und Gegnern des Wilhelminismus und Militarismus, zu ihm gehörten die schon genannten Schriftsteller ebenso wie Prinz Alexander Hohenlohe, der ehemalige bayerische General Montgelas, der in Zürich lehrende Professor Hermann Staudinger und zeitweise auch die Radikaldemokraten um die "Freie Zeitung" und viele andere Leute mit gutem Namen. Seinem Credo von der "versöhnenden Kraft ehrlicher Selbstanklage" hatten nur wenige folgen mögen; im Sommer 1918 hatte er geschrieben, die wirkliche Aussöhnung nach dem Weltkrieg scheine ihm "nur dann möglich zu sein, wenn eine der streitenden Parteien damit beginnt, ihre eigene Schuld, die den Kampf verursacht hat, zu untersuchen, zu erkennen und auf sich zu nehmen, nicht aber die des Gegners"lO. Möglicherweise war das naiv oder doch im Anspruch zu hoch, jedenfalls war in der ersten Nachkriegszeit des Jahrhunderts in Deutschland kaum jemand in der Lage, diesen Weg zu beschreiten. Muehlon war das Vorbild für die politischen Publizisten in der Schweiz, die in reichlicher Anzahl Bücher und Pamphlete erscheinen ließen, die je nach Perspektive als deutschfeindliche Propagandaschriften erst Gegenstand des Protestes der deutschen Gesandtschaft in Bern, daraufhin Objekt der Untersuchung durch die Eidgenössische Presskontrollkommission bzw. Element radikaldemokratischer Aufklärung waren, in deren Mittelpunkt die Erörterung der Schuldfrage stand, die von den Autoren mit eindeutiger Zuweisung an die deutsche Regierung, die deutsche Schwerindustrie und das deutsche Militär beantwortet wurde. Kaiser Wilhelm 11. und das Haus Hohenzollern waren in das Verdikt einbezogen und die Forderung nach dem Sturz der Monarchie war stets Bestandteil der Anklage. Protagonist dieser Literatur war ein Publizist, der im Gegensatz zu seiner einstigen politischen Bedeutung völlig vergessen ist. Richard Grelling war von Haus aus Jurist, und als Schriftsteller und Mitgründer der "Literarischen Gesellschaft" in Berlin hatte er einen guten Namen. Er war Syndikus des Deutschen Schriftstellerverbandes und mit Bertha von Suttner und Alfred Hermann Fried 1892 einer der Geburtshelfer der Deutschen Friedensgesellschaft. Bis zur Jahrhundertwende führte er als Vizepräsident deren Geschäfte. Er propagierte, etwa in einer damals stark verbreiteten pazifistischen Werbeschrift, auf der Linie des aufklärerischen Fortschrittsoptimismus einen Rüstungsstop 9 Muehlon, Wilhelm, Die Verheerung Europas, Zürich 1918; Dr. Muehlon's Diary, London 1918; L'Europa devastee, Lausanne 1918; vgl. auch Wilhelm Muehlon, Fremder im eigenen Land. Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen eines Krupp-Direktors 1908 - 1914, hrsg. von Benz, Wolfgang, Bremen 1989. 10 Muehlon, Wilhelm, Die versöhnende Kraft ehrlicher Selbstanklage, in: Wissen und Leben 9 (1918), Heft 21, S. 268 - 269.

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durch übernationale Abkommen: "Nur durch internationale Vereinbarungen kann dem Rüstungsfieber Einhalt geboten werden. Das ist vielleicht schon heute die öffentliche Meinung Europas, wenn sie auch in der Tagespresse nicht genügend zum Ausdruck kommt. Das ist das Heilmittel, über dessen Notwendigkeit und Nützlichkeit in wenigen Jahren - wenigstens bei den Regierten - kein Zweifel mehr bestehen wird. II " Grelling plädierte durchaus moderat nicht für vollständige Abrüstung, sondern lediglich für einen Stillstand: "Mögen sie vorläufig ,jeden Mann und jeden Groschen' behalten. Aber nur keine neuen Männer und keine neuen Groschen!" 12 Grelling zog sich 1903 auf ein Landgut bei Florenz ins Privatleben zurück, er schrieb auch nichts mehr. Die Julikrise 1914 lockte ihn freilich wieder nach Berlin. Er kam zur Überzeugung, daß der Kriegsausbruch von Deutschland provoziert war, daß Deutschland einen Angriffskrieg führte, und diese Überzeugung machte ihn zum Ankläger. 1915 ließ Grelling anonym in der Schweiz im betont ententefreundlichen Verlag Payot in Lausanne eine Schrift erscheinen, die unter dem Titel ,)'accuse" sensationellen Erfolg hatte l3 . Ermuntert hatten ihn drei Männer aus der sozialdemokratischen Minderheit, die sich über die Verweigerung der Kriegskredite dann zur USPD zusammenfand: Eduard Bernstein, Karl Kautsky und Hugo Haase. Grellings Anklageschrift erregte den Abscheu aller vaterländisch Gesonnenen, und das um so mehr, als das Buch in viele Sprachen übersetzt und von der alliierten Propaganda gegen Deutschland benutzt wurde. Phantastische Vorstellungen kursierten über die Summen, die der Verfasser aus den Reptilienfonds der Entente-Mächte erhalten haben sollte. Im Mai 1918 wurde Grelling vom Oberreichsanwalt in Abwesenheit des Landesverrats angeklagt. Nach dem Krieg blieb er in Acht und Bann, als sich in der Kriegsschuld-Debatte die Reihen fest geschlossen hatten: Wer an der Unschuld des Deutschen Reiches zu zweifeln wagte, galt als Nestbeschmutzer, Vaterlandsverräter, als ein von der Entente gedungenes Subjekt. Richard Grelling, der noch eine Reihe von Büchern zur Kriegsschuldfrage verfaßte und als einer der besten Kenner der diplomatischen Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges galt, kam in Deutschland nur noch in pazifistischen und linksrepublikanischen Blättern zu Wort, etwa in der "Weltbühne", in der Zeitschrift "Die Menschenrechte" oder in "Das Andere Deutschland". Grelling, Richard, Quosque tandem. Ein Friedenswort, Dresden, Leipzig 1894, S. 6. Ebd. 13 J'accuse! Von einem Deutschen, Lausanne 1915. Jacob Ruchti rechnete in seiner Geschichte der Schweiz während des Weltkriegs das Buch zu den "Schimpfereien gemeinster Sorte": "Bei Payot in Lausanne erschien bald nach Kriegsausbruch eine dickleibige wütende Tendenzschrift gegen Deutschland: ,J'accuse von einem Deutschen'; später folgte ein ähnliches: "Das Verbrechen, vom Verfasser des Buches ,J'accuse'. Das anonyme Machwerk wurde von der ententefreundlichen Presse der Westschweiz begeistert aufgenommen, von kompetenter Seite, so z. B. von alt Bundesrichter Leo Weber, scharf abgelehnt mit der Bemerkung, nur ein degenerierter Sohn eines Volkes könne das geschrieben haben. Der tapfere Anonymus wagte es erst nach Abschluß des Waffenstillstandes im Jahre 1918, aus seinem Inkognito hervorzutreten. Er entpuppte sich als ein gewisser Richard Grelling, angeblich Dr. jur., deutscher Refraktär, früher Rechtsanwalt in Berlin.", Ruchti, Jacob, (wie Anm. I), S. 135. II

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11. Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges beschloß die eidgenössische Bundesversammlung Maßnahmen zum Schutz des Landes und zur Aufrechterhaltung der Neutralität. Dazu gehörte, außer der Erklärung des Bundesrats an die Garantiestaaten der Neutralität von 1815 und an weitere Regierungen ein Aufruf an das Schweizer Volk und die Einführung von Zensur für militärische Nachrichten; nach einer Verordnung vom 10. August 1914 wurde sie von militärischen Behörden ausgeübt. An eine allgemeine politische Zensur war zunächst nicht gedacht, vielmehr rief ein zweiter Aufruf am 1. Oktober 1914 den Eidgenossen noch einmal die Pflichten und Opfer ins Gedächtnis, die eine neutrale Haltung des von kriegführenden Nachbarn umgebenen Landes erforderte und ausdrücklich wurde zur Zurückhaltung in der Beurteilung der Ereignisse und in der Sympathiebekundung für die einzelnen kriegführenden Nationen aufgefordert, insbesondere habe die Presse "die hehre Aufgabe, überbordende Leidenschaft zurückzudämmen, die zentrifugalen Strömungen zu bekämpfen und überall ihren mäßigenden, versöhnenden Einfluß geltend zu machen,d4. Der Appell war so notwendig wie vergeblich, denn die Schweiz war in ihren Sympathien für die Kriegsparteien gespalten: während die Alemannen überwiegend für Deutschland und die Mittelmächte Partei ergriffen, hielten die Welschen die Sache der Entente für die gerechte, und in den Zeitungen wurde das jeweils unübersehbar bekundet. Die Kriegführenden taten ein übriges, die Schweiz mit Propagandaliteratur, mit Flugblättern, Postkarten und Broschüren zu überschwemmen. Einzelne Kantone erließen Anordnungen zum Schutze der Neutralität wie z. B. Zürich, wo ab 1. April 1915 folgendes galt: ,,1. Der Strassenverkauf von Zeitungen aus einem der kriegführenden Staaten wird vom 1. April 1915 an verboten. Der Verkauf solcher Zeitungen bleibt auf die Abgabe in geschlossenen Räumen und die Kiosks beschränkt. Sie dürfen nicht ausgerufen werden. 2. Gegenüber inländischen Zeitungen, welche die Neutralitätspflicht dadurch verletzen, dass sie ihre Parteinahme oder Sympathie für Teile der Kriegführenden in verletzenden Verleumdungen der andern Teile Ausdruck geben, wird der Ausschluss vom Strassenverkauf und das Verbot des Anschlages auf öffentlichem Grund angedroht. 3. Die Schaufensterauslagen und der Verkauf von Ansichtskarten und der Kriegsbilderkarikaturen mit neutralitätswidrigem Inhalt (Bild und Text) wie die Verbreitung aufreizender, die Gefühle und Stimmung einseitig aufreizender Kriegsschriften ist verboten" 15. Am 2. Juli 1915 erließ der Bundesrat die Verordnung betreffend Beschimpfung fremder Volker, Staatshäupter oder Regierungen. Damit waren Verunglimpfungen in Wort, Bild oder Darstellung unter Strafe gestellt und zur Sicherung des Zwecks der Verordnung wurde nach einer heftigen Zensurdebatte durch Bun14 Zit. nach Welti, A., Die Pressezensur während der Kriegszeit, in: Das Buch der schweizerischen Zeitungsverleger 1899 - 1924, Zürich 1925, S. 271- 294, Zitat S. 273. 15 Ebd., S. 276.

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desratsbeschluß mit Wirkung vom 3l. Juli 1915 die Kontrolle der Presse "während der Kriegswirren" verfügt. Zuständig war für die politische Zensur, die keine Präventivzensur war, sondern eine jeweils nachträgliche Pressekontrolle, ein füntköpfiges Gremium, die Presskontrollkommission, die vom Bundesrat bestellt war und der zwei Mitglieder aus dem Kreis und auf Vorschlag des Vereins der Schweizer Presse angehörten, unter ihnen der Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung Welti, der von Anfang an dabei war und ab April 1916 den Vorsitz führte. An Sanktionen standen der Kommission, die grundsätzlich zwischen Presserzeugnissen (inländischen und ausländischen) und Pressorganen (inländische periodische Drucksachen) unterschied, die Anzeige inländischer Blätter beim Bundesrat mit dem Antrag auf Verwarnung oder Suspendierung zur Verfügung sowie gegen Presserzeugnisse das Verbot der Einfuhr, der Beförderung in unverschlossenen Postsendungen, der Ausstellung oder des Vertriebs, schließlich der Einziehung oder gar der Einziehung der zur Herstellung bestimmten Werkzeuge. Die Presskontrollkommission machte von ihren Möglichkeiten einen sehr behutsamen Gebrauch, insbesondere unterschied sie zwischen Artikeln in Zeitungen, die als für den Tag geschrieben milder beurteilt wurden, und selbständigen Druckschriften, die als Bücher oder Broschüren vertrieben wurden 16 . Verstöße gegen die Neutralitätsgebote ahndete die Zensurkommission zunächst mit Mahnbriefen an die Redaktionen oder Verlage, in denen an die entsprechenden Bundesratsbeschlüsse bzw. die "Ordnung betr. die Maßnahmen der Presskontrollkommission,,17 erinnert wurde, und die Kommission, die einmal wöchentlich tagte, war insgesamt bestrebt, die Pressefreiheit als hohes demokratisches Gut nicht mehr als unbedingt notwendig zu tangieren. III.

Das Selbstbewußtsein der politischen Agitatoren, die Parteinahme des Publikums, die Unterstützung, die die Propagandisten von diplomatischen Vertretungen und Regierungsagenten erfuhren, schränkten die Wirksamkeit der politischen Zensur (die militärische blieb unverändert in der Zuständigkeit der militärischen Behörden), die ja auch nicht die präventiven und prohibitiven Möglichkeiten einer Vorzensur hatte, erheblich ein. Die Affäre Rösemeier ist dafür vielleicht das beste Beispiel. An dem deutschen Journalisten Dr. Hermann Rösemeier sollte im 16 Vgl. die Sitzungsprotokolle der Presskontrollkommission vom 4.8.1915 - 8.2. 1919 im Bundesarchiv Bem, Bestand Eidgenössisches Militär Departement, Aktivdienst 1914 -1918, Bd. 222 (künftig: BA Bem, EMD, AD 1914-1918). Einen zusammenfassenden Rückblick auf die Tätigkeit der Kommission bietet das Schlußwort des Präsidenten Welti am 8. 2. 1919, das teilweise auch in dessen Aufsatz (siehe Anm. 14) aufgenommen wurd. Siehe auch Feldmann, M., Schweizer Pressenotrecht während des Ersten Weltkrieges, in: Jahrbuch der eidgenössischen Räte 1945, S. 190-200. 17 Teilweise abgedruckt bei Welti, A., (wie Anm. 14), S. 285 f.

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November 1918 ein Exempel wegen Verletzung der Schweizer Neutralität statuiert werden. Rösemeier war schon wiederholt aufgefallen, und zwar als Mitarbeiter der "Freien Zeitung", vor allem aber durch einen offenen Brief an das französische Volk, der im August 1918 in französischen Tageszeitungen, ebenso in Genf, erschienen war. Auf Veranlassung des schweizerischen Bundesrates ermittelte die Bundesanwaltschaft gegen Rösemeier und berichtete, daß er am 21. März 1870 in Bückeburg geboren war, daß er in Kehrsatz bei Bern lebe, als Beruf Schriftsteller angebe, gelegentlich geringfügige Mittel aus Deutschland und manchmal auch aus Frankreich erhalte. Bei der Vernehmung gab Rösemeier zu, Verfasser des inkriminierten Briefes zu sein und erklärte, daß er die Absicht hatte, "dem von den Alldeutschen entfachten "furor teutonicus" einen "furor gallicus" entgegenzusetzen" 18. Die von der Bundesanwaltschaft zutage geförderten Zitate aus dem, ursprünglich in deutscher Sprache verfaßten, Aufruf Rösemeiers an die Franzosen waren hysterische Haßorgien ohne argumentativen Gehalt; so hieß es etwa, man habe es "mit einer Nation zu tun, die dem Teufel verfallen, die dem Bösen verschrieben" sei: ,,Mit einer Nation, die im Gefolge der satanischsten, infamsten, grausamsten und scheußlichsten Verbrecherbande einhertrottet, die die Welt je gesehen hat". In dem Tone ging es weiter, etwa zur Aufforderung: "Sieh dir die höllischen Gesichtszüge des Kaisers, die freche Idiotenfratze seines Sprösslings, des Lausbuben von Kronprinzen an, betrachte aufmerksam das abstoßend grausame Gesicht des größten aller Schurken, des Ludendorff, und du weißt, was deiner wartet,,19. Bereits im August 1916 war Rösemeier als Verfasser zweier Broschüren aufgefallen. In der ersten hatte der Verfasser auch seine berufliche Legitimation im Titel angeführt: "Die Vorgeschichte des Krieges, von Dr. phil. Hermann Rösemeier, bis zum September 1914 Redacteur der "Berliner Morgenpost" Selbstverlag des Verfassers Depot: Payot u. Comp. Lausanne 1916". Rösemeier konstatierte in dieser Druckschrift, daß das deutsche Volk durch eine "blutbeschuldete, raubgierige, skrupel- und gewissenlose Klique" in den Krieg gehetzt worden sei, Hauptübeltäter sei der Kronprinz: "und doch wagt es die Verbrecherbande, die es um den von Langeweile geplagten, von blöder Abenteuersucht gekitzelten und von nichtswürdigen Ohrenbläsern umlagerten Kronprinzen geschart, das deutsche Volk in den Krieg gehetzt hat, fortwährend von dem ,,ruchlos überfallenen Deutschland" zu faseln. Wann werden endlich dem deutschen Volk die Augen aufgehen? Wann wird es seine Regierenden dahin sperren, wohin sie gehören, in die Zuchthäuser?,,2o Im gleichen polemischen Stil ging es weiter: ,,Da die Berliner Gewaltigen seit Kriegsausbruch bestrebt die Riesenschuld von sich abzuwälzen, ob sie gleich fester an ihnen klebt als Duncans Blut an Macbeths Hand, durch ihre Schornalisten alles 18 Bericht Schweizer Bundesanwaltschaft an das Justiz- und Polizeidepartement 25.10.1918, BA Bern, EMD, AD 1914-1918, Bd. 242. 19 Ebd. 20 Rösemeier, Hermann, Die Vorgeschichte des Krieges, S. 14.

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veröffentlichen lassen, was an gefundenen oder gestohlenen Documenten, angeblichen oder wirklichen, öffentlichen oder privaten Gesprächen ihnen unter die Augen oder zu den Ohren kommt ... .'.21. In einer zweiten Broschüre beschuldigte Rösemeier die deutschen Großindustriellen der Kriegshetze, niemand, auch die Sozialdemokratie nicht, habe es gewagt, sich dagegen aufzulehnen, die amtliche Darstellung des Kriegsausbruchs sei frecher Schwindel und Teil eines Lügengewebes 22 • Beide Broschüren waren durch Beschluß der Presskontrollkommission am 28. August 1916 vom Vertrieb ausgeschlossen worden, auf eine Strafverfolgung hatte die Schweizer Bundesanwaltschaft verzichtet, obwohl sie auf Grund einer Verordnung des Schweizer Bundesrats vom 2. Juli 1915 betr. die Beschimpfung fremder Völker, Staatsoberhäupter oder Regierungen möglich gewesen wäre. Da die beiden Druckschriften im März 1917 - nach Protesten deutscher Internierter, denen die Broschüren zugesandt worden waren - bis Kriegsende sequestiert waren und angesichts der auch in anderen Publikationen geführten gehässigen Sprache wollte die Bundesanwaltschaft von einer Strafverfolgung absehen. Sie gab in ihrem Bericht an das Justiz- und Polizeidepartement aber zu verstehen, daß der Verfasser der Broschüren bei weiteren "Ausschreitungen gegen die Neutralität unseres Landes" als Ausländer ausgewiesen werden könne 23 • Dieser Fall war mit Rösemeiers Aufruf an die Franzosen eingetreten. Am 8. November 1918 stellte der Schweizer Bundesrat nach dem Studium des Berichts der Bundesanwaltschaft vom 25. Oktober fest, daß "Rösemeier von der Schweiz aus in einem kriegführenden Lande eine unzulässige propagandistische Tätigkeit gegen ein anderes kriegführendes Land betrieben und dabei des letztem Volk und Regierung aufs Gröbste beschimpft hat". Da Rösemeier damit das ihm gewährte Asyl in der Schweiz in einer Weise mißbraucht habe, die geeignet sei, die Sicherheit des Landes zu gefährden, wurde beschlossen, ihn wegen Verletzung der schweizerischen Neutralität auszuweisen 24 • Der Beschluß wurde zum Vollzug dem Kanton Bem übermittelt, allerdings erhielt die Polizeidirektion Bem schon am 21. November 1918 ein Schreiben des Justiz- und Polizeidepartements, in dem es hieß, es seien Umstäßde eingetreten, nach denen die "Ausschaffung des Genannten aus der Schweiz nicht tunlich" sei 25 . Die Umstände, die der Ausweisung Rösemeiers hinderlich waren, bestanden nicht etwa im Ende des Krieges oder darin, diß die durch Rösemeiers SchriftstelleEbd., S. 25. Rösemeier, Hermann, Deutsche Worte. Offener Brief an die Bürger und Arbeiter Deutschlands, o.O.o.J. (1916), S. 21. 23 Bericht Schweizer Bundesanwaltschaft 4.4. 1917, BA Bem, EMD, AD 1914-1918, Bd.242. 24 Protokoll der Sitzung des Schweizerischen Bundesrats vom 8. 11. 1918, BA Bem, EMD, AD 1914-1918, Bd. 242. 25 Staatsarchiv Kanton Bem, Akten Polizeidirektion 1918/7549 (Rösemeier). 21

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rei beleidigte Hohenzollernmonarchie am Tag nach dem Ausweisungsbeschluß zusammengebrochen war, und die Angelegenheit damit eigentlich erledigt war, es wurde vielmehr Druck auf die Schweizer Behörden ausgeübt und die Gegensätze zwischen ententefreundlichen Welschen und germanophilen Deutschschweizern spielten ebenfalls eine Rolle. Im Bundesrat hatte der für das Bundespräsidium 1919 designierte Bundesrat Müller energisch Maßnahmen gegen Rösemeier betrieben, aber auch zu bedenken gegeben, daß die Sache viel Staub aufwirbeln werde. Bundesrat Motta hatte sich ihm angeschlossen und zu Protokoll gegeben, daß er in "punkto Beleidigung eines fremden Volkes noch nichts scheußlicheres gesehen habe wie den Brief, den Rösemeier in französischen Blättern veröffentlichen ließ,,26. Am 22. November 1918 teilte Bundespräsident Calonder im Bundesrat mit, daß der Beschluß zur Ausweisung Rösemeiers bei der Entente und vor allem in Amerika auf Widerspruch stoße und daß zu befürchten sei, der Schweiz würden Nachteile entstehen. Er beantragte, den Beschluß aufzuheben, wogegen Bundesrat Müller verlangte, ihn, um Mißverständnisse in der Öffentlichkeit zu vermeiden, zu veröffentlichen und zu vollziehen. Gegen die Stimme Müllers wurde dann beschlossen, den Vollzug der Ausweisung bis auf weiteres zu sistieren27 . Müller, der von den ententefreundlichen Welschschweizern mit großem Mißtrauen betrachtet wurde, hat später die Hintergründe der Intervention publiziert. Vira B. Whitehouse, die Direktorin des Schweizer Büros des "Committee on Public Information" der Vereinigten Staaten, also der offiziellen amerikanischen Propagandaagentur, war beim Bundespräsidenten erschienen und hatte gegen die Ausweisung Rösemeiers protestiert, gleichzeitig drohte sie ein Telegramm an die amerikanische Presse abzusenden, wenn der Bundesrat auf seinem Beschluß beharre: Dies werde beträchtliche Wirkungen und Folgen für die Schweiz haben. Frau Whitehouse war der Meinung, Rösemeier sollte wegen seiner Mitarbeit an der Freien Zeitung ausgewiesen werden. Über dieses Organ hielt das "Committee on Public Information" nicht nur, wie auch bei anderer Gelegenheit festzustellen war, seine schützende Hand, auch die Finanzierung des Unternehmens erfolgte zumindest teilweise aus amerikanischen Geldern28 . Rösemeier wurde jedenfalls nicht 26 Notiz betreffend meinen Verzicht auf das Bundespräsidium für 1919 von Bundesrat Müller seI., in: Zürcher Post 2. 12. 1921. 27 Protokoll der Sitzung des Schweizerischen Bundesrates, 22. 11. 1918, BA Bem, EMD, AD 1914-1918, Bd. 242. 28 Vira Whitehouse hatte am 28.8. 1918 der Presskontrollkommission eine Art Antrittsbesuch gemacht, sich über die Neutralitätsbestimmung betr. Presse erkundigt und die Absicht erklärt, daß das a,merikanische Informationsbüro beabsichtigte, neben der Bedienung der Schweizer Blätter mit Nachrichten über die USA Leseräume zu unterhalten und Privatpersonen auf Wunsch amerikanische Presseerzeugnisse zur Verfügung zu stellen. BA Bem, EMD, AD 1914-1918, Bd. 222; Vgl. auch Whitehouse, Vira, A Year as a Govemment Agent, New York, London 1920. Mitarbeiter des amerikanischen Informationsbüros (und der Freien Zeitung) war auch der Deutschamerikaner Frank Bohn, der sich Jahre später um die Rettung prominenter Flüchtlinge aus Hitlerdeutschland bzw. dem deutsch besetzten Frankreich 1940 im Auftrage amerikanischer Hilfsorganisationen große Verdienste erwarb.

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aus der Schweiz gejagt29 , zum großen Ärger des Bundesrats Müller, der die Affäre resümierte: "Der Verzicht auf unsere berühmte ,Unabhängigkeit' war damit evident. Die Intervention einer fremden Zeitungsdame hatte den Bundesrat veraniaßt, auf ersten Anhieb zusammen zu klappen. Mir aber war dies Verhalten ein Stich ins Herz,,30. Seltsam war die Willfährigkeit gegenüber der amerikanischen Intervention schon, nicht zuletzt auch der am 21. November 1918 in geheimer Sitzung des Bundesrats gefaßte Beschluß (nachdem Bundespräsident Calonder ausgeführt hatte, Frau Whitehouse habe erklärt, "die Ausweisung Rösemeiers mache in Amerika einen sehr schlechten Eindruck, besonders da in der Presse diese Ausweisung mit Beschimpfung des deutschen Kaisers begründet worden sei)": Frau Whitehouse solle der Ausweisungsbeschluß vorgelegt und erläutert werden, "damit sie sich selbst davon überzeugen kann, daß es sich um die Beschimpfung des deutschen Volkes und seiner Behörden gehandelt" habe, bei gleichzeitiger Suspendierung des Beschlusses31 . IV. Aus den kleineren Geistern der deutschen politisch und kulturell motivierten Emigration, die vielfach mehr durch Eifer und Fanatismus als durch Talent und staatsmännische Klugheit, öfter durch Leidenschaft als durch Augenmaß auffielen, ragten zwei Protagonisten hervor: Hugo Ball und Ernst Bloch. Ball war im Mai 1915 zusammen mit seiner späteren Frau, der Literatin Emmy Hennings, in die Schweiz gekommen. Nachträglich bekannter durch seine Mitwirkung auf der künstlerischen Szene in Zürich, als Mitgründer der Bewegung des Dadaismus, trat er vom Herbst 1917 bis Frühjahr 1920 vor allem als politischer Publizist in Erscheinung und als treibende Kraft in der Freien Zeitung und im Freien Verlag in Bern32 • Ab Frühjahr 1917 lebte Ernst Bloch, er war Anfang 30 und mittellos, zwei Jahre lang in der Schweiz. Es war sein erstes freiwilliges Exil. Unterstützt von Wilhelm Muehlon, dem ehemaligen Krupp-Direktor, der als mäzenatischer und anregender Mittelpunkt des heterogenen Kreises von Literaten und politisierenden Kritikern des Wilhelminischen Deutschland in Bern lebte33 , schrieb Bloch politische Kom29 Rösemeier lebte nach Auskunft der Polizeidirektion des Kantons Tessin arn 12. 1. 1922 mit Frau und Sohn in Gentilino, wo er ein Pressebüro betrieb, von dessen Erträgnissen er bescheiden lebte. BA Bem, Best. PB, Bd. 263. 30 Müller (wie Anm. 26). 31 BA Bem, geh. Bundesratsbeschluß vorn 21. 11. 1918. 32 Vgl. Schlichting, Hans Burkhard (Hrsg.), Hugo Ball. Der Künstler und die Zeitkrankheit, Frankfurt/M. 1984. 33 Der Nachlaß Wilhelm Muehlon befindet sich im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte in München (ED 142). Er enthält zahlreiche Korrespondenz mit dem ganzen Personenkreis der politischen deutschen Emigranten in der Schweiz.

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mentare und Artikel, die vor allem in der Freien Zeitung, gelegentlich auch in der Friedens-Warte und in der von Rene Schickeie redigierten pazifistischen und dem literarischen Expressionismus verschriebenen Zeitschrift "Die Weißen Blätter" publiziert wurden. Thema der politischen Publizistik des promovierten Philosophen Bloch war scharfe antiborussische Kritik an Deutschland, getragen von der Überzeugung der deutschen Kriegsschuld und beseelt vom Wunsch nach radikaler Demokratisierung Deutschlands. Die hauptsächlichen Angriffsziele waren die Hohenzollemdynastie und die Oberste Heeresleitung, personifiziert durch Hindenburg und Ludendorff, dazu gehörten aber auch der von Ludwig Quidde geführte bürgerliche Pazifismus sowie der Sozialismus der Zimmerwalder Konferenz von 1915 und die Bolschewiki nach dem Frieden von Brest-Litowsk. Unter dem Pseudonym "Dr. Fritz May, Nürnberg" erschien im Oktober 1917 eine Artikelfolge aus der Feder Ernst Blochs in der Freien Zeitung mit dem Titel "Was schadet und was nützt Deutschland ein feindlicher Sieg?,,34 Bloch schrieb übrigens unter einer Reihe verschiedener Pseudonyme in der Freien Zeitung 35 , veröffentlichte aber 1918 im Freien Verlag Bern unter seinem richtigen Namen die Broschüre von 23 Seiten Umfang "Schadet oder nützt Deutschland eine Niederlage seiner Militärs?", die im wesentlichen aus der Artikelserie bestand (nach einem Vermerk in der Broschüre wurde sie aber ,,im Juni 1918 geschrieben", jedoch in dramatischerer und appellierender Form ("An Volk und Heer"). Die deutsche Gesandtschaft beschwerte sich im Oktober 1918 gegen das Traktat, worauf die Presskontrollkomrnission es von der Ausstellung ausschloß 36 . Dagegen protestierte der mit der Freien Zeitung identische Freie Verlag und verlangte, daß das "aus sachlichen und moralischen Gründen zu Unrecht erfolgte Verbot revidiert und aufgehoben werde" und bekräftigte den Protest mit der Drohung, daß "der Verfasser vor die Oeffentlichkeit treten würde, was dem Ansehen unserer demokratischen Republik gerade im gegenwärtigen Zeitpunkt einer demokratischen Erneuerung Deutschlands schaden könnte,,37. Blochs Gedankengänge spiegeln in beiden veröffentlichten Versionen den Geist der radikaldemokratischen republikanischen Opposition gegen den Wilhelminismus prototypisch, eine genauere Betrachtung erscheint daher lohnend, und dies umso mehr, als sie stilistisch den Durchschnitt der zahlreichen Artikel und Pamphlete des Kreises erheblich überragen. Das Ziel der Argumentation ist in beiden Publikationen gleich, es ging Bloch um den Nachweis, daß das demnächst Verlorene - Elsaß, Lothringen, Posen, die Kolonien - ohnehin nicht zu halten, der Besitz 34 Wieder abgedruckt in der von Martin Korol herausgegebenen Sammlung Ernst Bloch, Kampf nicht Krieg. Politische Schriften 1917 - 1919, Frankfurt/M. 1965, S. 75 - 86. 35 Die Pseudonyme sind in einem Brief Blochs an Muehlon vom 13. 6. 1918 entschlüsselt, ebd., S. 9. 36 Sitzung der Presskontrollkommission am 23. 10. 1918, BA Bem, EMD, AD 19141918, Bd. 222. 37 Ebd.

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auch nicht erstrebenswert war, daß die befreiende Wirkung der Niederlage in der Möglichkeit zu Reform, in der moralischen und kulturellen Erneuerung, bestünde. In der Artikelfolge von 1917, in der Bloch stärker als im Traktat von 1918 mit einem idealistisch-romantischen Freiheitsbegriff und mit eher ethisch motivierter als marxistisch operierender Kapitalismuskritik arbeitet, stellt sich als Aufgabe und Problem, "aus der militärischen Niederlage die Auferstehung des preußisch vernichteten, alten, kulturvollen Deutschlands zu betreiben,,38, und die Schlußfolgerung lautet: "so bildet es keinen Verrat am Sozialismus und noch weniger an der deutschen Nation, auch den Sieg der Entente, diese Kehrseite preußischer Niederlage zu wünschen, der unter allen Umständen dem Sieg des geliebten Deutschlands, des Reichs der Tiefe, näher steht als der Triumph Preußens, und der, wie die Dinge liegen, die unerläßliche Voraussetzung zu einer Reformatio Germaniae in capite et membris bildet,,39. In der Broschüre von 1918 geht es direkter gegen die preußische Militärkaste, gegen lunkertum, Feudalismus, es wird angesichts des fortgeschritteneren Kriegsverlaufs stärker appelliert als deduziert (wie in der Artikelserie 1917), der Generalnenner lautet "Wie lange wehren sich deutsche Menschen noch gegen ihr Erwachen?,,4Q und die moralischen Implikationen sind noch griffiger herausgearbeitet.

Sie zeigen deutlich den Einfluß Wilhelm Muehlons, dessen Absagebrief an den Reichskanzler Bethmann Hollweg vom 8. Mai 1917 für die politischen Emigranten in der Schweiz eine Art Schlüsseldokument darstellte41 . Aus diesem Brief, mit dem der ehemalige Krupp-Direktor seine Beziehungen zum offiziellen Deutschland abbrach, zitierte Bloch den Satz: ,,Es ist keine Ungerechtigkeit, daß das deutsche Volk dem Odium der ganzen Welt verfallen ist, so fehlerhaft und unvollkommen diese auch sein möge: der Triumph unserer bisherigen militärischen und politischen Kriegsführung würde eine Niederlage der höchsten Gedanken und Hoffnungen der Menschheit sein !,,42 Bloch machte sich in seinen Ausführungen über den sittlichen Gewinn einer militärischen Niederlage Muehlons Postulat nach einem deutschen Schuldbekenntnis zu eigen43 und kündete in ähnlichem Pathos, wie es ein Vierteljahrhundert später der bürgerliche Widerstand gegen den Nationalsozialismus gebrauchte, die Rückkehr zu den Idealen der Menschheit, wenn erst "ein furchtbares Gewitter vom 38 Zit. nach dem vollständigen Abdruck bei Korol, Martin (Hrsg.), (wie Anm. 34), S. 81; dort (S. 7 f.) auch Erläuterungen zu den verschiedenen Überlieferungen der Texte. 39 Ebd., S. 86. 40 Auch dieser Artikel vollständig ebd., S. 457 - 474, Zitat S. 473. 41 Vgl. Benz, Wolfgang, (wie Anm. 7), S. 357. 42 Korol, Martin (Hrsg.), (wie Anm. 34), S. 460. 43 Muehlon, Wilhelm, Das Schuldbekenntnis, in: Die Friedens-Warte 20 (1918), S. 203204; wieder abgedruckt in: Benz, Wolfgang, Pazifismus in Deutschland. Dokumente zur Friedensbewegung 1890-1939, Frankfurt/M. 1988, S. 132-135; siehe auch Muehlon, Wilhelm, (wie Anm. 10), S. 268 - 269.

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Westen und Osten" über diese moralische Zennürbung Deutschlands niedergegangen sei: "Dann aber wollen wir uns aufrichten und reuig alles hinter uns werfen, was uns in dieses Elend führte. Nur die Freiheit sei unser erwähltes Teil, damit der Anblick Deutschlands wieder eine Freude und Ehre und nicht wie jetzt vor der Welt ein Gestank und ein Abscheu sei,,44. Noch ein anderer Vergleich bietet sich an, wobei freilich die Dimensionen dessen, wogegen die Warnungen und Aufrufe gerichtet waren, gewertet werden müssen, um eine unzulässige Gleichsetzung von preußischem Militarismus und Wilhelminischer Überheblichkeit mit dem Nationalsozialismus zu venneiden: Thomas Manns Appelle während des Zweiten Weltkriegs, über BBC nach Deutschland ausgestrahlt45 , waren ebenso vergebliche wie dringende und notwendige Aufrufe, der Welt Zeichen zu setzen, daß Regime und Regierte nicht in deckungsgleicher Harmonie lebten. Der Zweck von Thomas Manns Beschwörungen war damit den Anstrengungen deutscher Demokraten im Ersten Weltkrieg ähnlich, nämlich nach der Devise Muehlons der Gegenseite zu signalisieren, daß aus moralischem eigenen Antrieb Erneuerung möglich gewesen wäre, daß das besiegte Deutschland nicht nur als von Verstockten repräsentiertes Objekt strenger Behandlung durch die Sieger denkbar war.

v. Die Freie Zeitung war länger und vehementer als alle anderen publizistischen Mittel Sprachrohr der Kritik am kaiserlichen Deutschland, sie war das repräsentative regimekritische Organ, an ihr schieden sich die Geister, nachdem ihr jeder Kontakt zur Realität verloren gegangen war und nachdem evident war, daß das Blatt in Diensten der Entente stand46 . Das Blatt erschien ab 14. April 1917 zweimal wöchentlich, mittwochs und samstags, im Umfang von vier Seiten. Als Redakteur traten bis Oktober 1917 Siegfried Streicher und dann Hans Huber in Erscheinung, beide waren Schweizer Bürger und hatten die Funktion, den Charakter des Blattes als Schweizer Organ zu manifestieren. Wohl auch aus diesem Grund war der Schriftsteller Carl Albert Loosli als Teilnehmer der Gründungsveranstaltung willkommen; im weiteren sorgte er mehr für Hohn und Spott der Koro!, Martin (Hrsg.), (wie Anm. 34), S. 471. Vgl. Mann, Thomas, Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland aus den Jahren 1940 bis 1945, Frankfurt/M. 1987. 46 Zur Freien Zeitung vgl. Thimme, Hans, (wie Anm. 1), S. 81 ff.; in der Einleitung zu Ernst Bloch, Kampf nicht Krieg. Politische Schriften (wie Anm. 34), hat Korol sehr viel Material zur Geschichte des Blatts zusammengetragen, S. 37 f.; eine ungedruckte Münsteraner Dissertation bietet wenig zur Erhellung: Bruns, Arnold, Die Grundsätze und BeweisgrUnde der Ententepropaganda, dargestellt an der schweizerischen ,,Freien Zeitung" von Amerikas Eintritt in den Weltkrieg bis zur deutschen Revolution (1917 - 1918), Münster 1923. Die Finanzierung des Blatts ist noch nicht geklärt; siehe auch die Anthologie von Ball, Hugo (Hrsg.), Almanach der Freien Zeitung, Bern 1918. 44 45

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Gegner, weil er als publizistischer Vorkämpfer der freien Liebe und als Streiter wider die Institution von Strafanstalten unter den Eidgenossen nur eine zweifelhafte Reputation genoß. Erst ab Herbst 1917 trat derjenige öffentlich auf den Plan, der von Anfang an hinter den Kulissen die Sache betrieb: der ehemalige deutsche Konsul in Belgrad Hans Schlieben. Die wichtigsten Köpfe waren Hugo Ball und Ernst Bloch, zu den regelmäßigen Mitarbeitern gehörten Edward Stilgebauer, Hermann Fernau, Richard Grelling, aber auch Friedrich Wilhelm Foerster, Iwan Goll, Otfried Nippold, Hellrnut von Gerlach schrieben gelegentlich für die Freie Zeitung und vertreten waren schließlich, zum Teil durch Nachdrucke aus anderen Publikationen auch Franz Pfemfert, Maximilian Harden und andere. Von den Schweizer Behörden mit Argwohn beobachtet, da das Blatt ganz offensichtlich mehr Geld zur Werbung zur Verfügung hatte, als es einnehmen konnte47 , war die Freie Zeitung die Stimme entschiedener deutscher Republikaner und Demokraten im Exil, sie berief sich auf die Traditionen von 1848 und propagierte die Ideen des amerikanischen Präsidenten Wilson. Dafür sorgte nicht zuletzt der amerikanische Pazifist George Davis Herron, der als Privatier in der Schweiz lebte, dort in offiziöser Mission in Wilsons Sinne tätig war und den Frieden zu fördern suchte, indem er Kontakte zu oppositionellen und gemäßigten Politikern der Mittelmächte pflegte48 . Die Freie Zeitung kämpfte für den Sieg der "Prinzipien der demokratisch-republikanischen Volkerrechte,,49 und verfocht einen radikalen Pazifismus, propagierte den Sturz der Hohenzollern und der Habsburger, die Beseitigung der preußischen Hegemonie in Deutschland, und sie zeigte sich von der Kriegsschuld der Mittelmächte überzeugt. Die Spalten der Freien Zeitung standen allen offen, die dafür Beweise hatten oder denen die moralische Verurteilung Deutschlands (und Österreich-Ungarns) ein Anliegen war. Das Blatt wollte den bürgerlichen Demokraten, wenn sie nur radikal genug waren, ebenso als Forum dienen wie sozialistischen Republikanern, wenn sie nur nicht zu parteidogmatisch dachten. Als Ziel galt die "Erreichung und Errichtung der demokratisch-republikanischen Staatsform in allen jenen Staaten ... , die sie noch nicht besitzen", und den Weltkrieg verstanden sie als "Krieg gegen Autokratie und Despotismus, gegen Gottesgnadentum und dynastische Regierungsmethoden. Nicht Volker werden also in ihm besiegt werden, son47 Die Presskontrollkommission konstatierte in ihrer Sitzung am 13. 6. 1917 nach einer vom Bundespräsidenten übermittelten Beschwerde, sie verkenne "die scharfe Sprache dieses Blattes nicht", sehe "sich jedoch nicht veraniaßt, auf Grund der bisherigen Äußerungen einzuschreiten. Dem Blatte soll weiterhin die gebotene Aufmerksamkeit geschenkt werden" und unter dem 1. 8. 1917 steht im Protokoll zu lesen: "Die Presskontrollkommission hatte stets ein wachsames Auge auf dieses sog. ,Unabhängige Organ für Demokratische Politik', das ganz im Dienste der Entente steht.", BA Bem, EMD, AD 1914-1918, Bd. 222. 48 Vgl. Schwabe, Klaus, Deutsche Revolution und Wilson-Frieden, Düsseldorf 1971. 49 Geleitwort zur ersten Nummer, 14. 4. 1917, zit. nach Ball, Hugo (Hrsg.), (wie Anm. 46), S. VII f.

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dem Regierungssysteme, die nicht mehr in unsere Zeit gehören,,5o. Weil die Leute der Freien Zeitung aber so radikal waren und so offen sagten, daß sie auf die Niederlage der Deutschen hofften, blieb ihre Wirkung auch unter den Friedensfreunden begrenzt. Die größte Aufmerksamkeit fanden die deutschen Emigranten um die Freie Zeitung 1917 und 1918, auch weil die Ententemächte ihre Artikel als Arsenal für anti-deutsche Flugblätter benutzten. Nach dem Krieg wurde es stiller um sie, und 1920 war die Zeitung (mit der letzten Nummer am 27. März) am Ende. Der deutschen Gesandtschaft in Bem war die Freie Zeitung natürlich ein Dom im Auge. Sie beschwerte sich nicht nur laufend beim Politischen Departement und verlangte das Einschreiten der eidgenössischen Behörden, sie unterstützte auch das in Zürich ab Ende August 1917 bis 7. November 1918 erscheinende hohenzollemfromme und regierungsfreundliche Gegenstück der Freien Zeitung, "Das Freie Wort - Zeitschrift für Wahrheit und Frieden", in dem die deutschen Republikaner und Radikaldemokraten ständig und aufs schärfste attackiert wurden51 . Aber auch in der Schweiz wurde Anstoß genommen an der Gazette; so forderte der Bemer Rechtsanwalt Altherr das Politische Departement zum Einschreiten auf: "Die Haltung des betreffenden Blattes steht in krassem Widerspruch zur Neutralität, welche wir Schweizer einhalten sollten. Mit einer Unverfrorenheit, die ihresgleichen sucht, wird da kühn und keck die Absetzung der Hohenzollemdynastie in Deutschland gefordert. Die politischen Verhältnisse in Deutschland werden in der einseitigsten Weise dargestellt, und der Endzweck aller Artikel läßt sich nur schwer verdecken. Was würde Frankreich sagen, wenn wir eine solche Zeitung gegen jenes Land herausgeben würden? Es gäbe gewiß an Frankreich auch vieles zu kritisieren, ebenso an England und Italien. Wenn aber ein Schweizer Blatt die Absetzung der Dynastie von Koburg-Sachsen-Gotha in England, der Savoyer in Italien und des Präsidenten Poincare forderte, so würde gewiß auch die Meinung vorherrschen, daß man sich da in Dinge mische, die uns nichts angehen. Das Gebahren der ,Freien Zeitung' ist für einen neutralen Schweizer empörend, und ich bitte Sie im Namen vieler guter Patrioten, dem unwürdigen Treiben ein Ende zu bereiten,,52. Die Zensurkommission ließ es bei einer Ermahnung der Redaktion der Freien Zeitung bewenden. Deren Antwortschreiben vom 6. August 1917 wird man kaum noch zutreffend als "selbstbewußt" charakterisieren können, es ist vielmehr ein Dokument prototypischer Frechheit und darf in dieser Hinsicht den Rang der Mustergültigkeit beanspruchen, weshalb es hier im Wortlaut wiedergegeben ist: "Wir bestätigen Ihnen den Empfang Ihres geehrten Schreibens vom 2. Aug. a.c. 50

Ebd.

Vgl. Korol, Martin (Hrsg.), (wie Anm. 34), S. 38 u. S. 66; siehe auch Wemsdorf, Julius, Dieses Buch gehört dem Bundesrat. Eine Studie über die "deutschen Republikaner in der Schweiz" während des Weltkrieges, Zürich 1918 ("Blätter der Aufklärung Nr. 1 Die Schweiz als Deutsche Reichs-Schmiede"). Der Verfasser war Rechtsanwalt in Zürich und betrieb ein "Büro für Rechtsschutz und Publizistik" sowie den Verlag "Der Kampf um die Wahrheit". 52 Eingabe vom 23.7.1917, BA Bem, EMD, AD 1914-1918, Bd. 226. 51

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sowie eines Exemplars Threr Presskontrollordnung. Sie erklären zu dieser Sendung veranlasst zu sein durch fortgesetzte Angriffe unseres Blattes gegen eine der Kriegsparteien und gegen den deutschen Kaiser im besonderen. Wir sind, wie Sie ganz richtig bemerkt haben, ein unabhängiges Organ für demokratische Politik, und wenn wir ein Land angreifen, so nicht, weil es kriegführend ist, sondern nur, soweit und so lange in ihm undemokratische Zustände herrschen. Unsere Angriffe, die übrigens keineswegs nur eine kriegsführende Partei, sondern, wie Sie aus einer aufmerksamen Lektüre der EZ. leicht feststellen können, Regierungen beider Kriegslager betrafen und sogar, wie Sie vielleicht ebenfalls bemerkt haben dürften, vor undemokratischen Vorgängen auch neutraler Länder nicht halt machte, hatten stets nur den Sinn, die verderblichen Folgen der undemokratischen Regierungsweise zu kennzeichnen. Das Gleiche ist von unseren bisherigen und kommenden Angriffen auf den deutschen Kaiser zu sagen. Als Person geniesst dieser Herr auf unserer Redaktion, nach der Anschauung unserer Herren, mehr oder weniger Sympathien. Im Prinzip jedoch ist er uns völlig gleichgültig. Kritisiert wird er nur, wenn er sich undemokratische Äusserungen oder Handlungen zu schulden kommen läßt. Diese Kritik hielt sich bisher unserer Ansicht nach durchaus im Rahmen der demokratischen Meinungsfreiheit. Da Sie, sehr geehrte Herren, anderer Ansicht zu sein scheinen (sonst hätte Thre Zuschrift keinen Sinn), müssen wir Sie höfliehst um Mitteilung der Aufsätze und Stellen unseres Blattes bitten, wo dieser Rahmen Threr Meinung nach überschritten worden ist. Nur dann wird es uns möglich sein, tatsächlich unzulässige Kritik künftig zu vermeiden. Sie empfehlen ferner die Artikel 1 und 2 der ,Presskontrollordnung' unserem ,besondern Studium' und bemerken gleichzeitig, dass diese Artikel in erster Linie Pressprodukten ,propagandistischer Art' gelten. Wir müssen Sie erst um nähere Definition des Begriffs ,propagandistisch' bitten. Ist darunter auch die Propagierung politischer Ideale, wie z. B. des Ideals der Demokratie zu verstehen oder verstehen Sie darunter nur Propaganda geschäftlicher Art, oder Propaganda im Dienste von Regierungen? Sollte dies letztere zutreffen, so könnten wir das gewünschte ,besondere Studium' als für uns überflüssig unterlassen. Wir bitten Sie deshalb um geHillige prompte Aufklärung und zeichnen Hochachtungsvoll Die Redaktion"s3. Unterzeichnet war der Brief von Siegfried Streicher der, gerade 24 Jahre alt, als Chef der Redaktion fungierte. Solange die Freie Zeitung sich nicht in innerschweizerische Angelegenheiten mischte, konnte sie aber auch in der Öffentlichkeit der alemannischen Schweiz mit Sympathien rechnen. So schrieb die freisinnige Wochenzeitung "Der Eidgenosse" über das Blatt: ,,Es kämpft mit heiligem Eifer und Ingrimm für eine Demokratisierung Deutschlands, geißelt mit unbarmherziger Schärfe dasjenige, was man gewöhnlich unter ,Preußentum' im schlimmen Sinne versteht und ficht mit scharfer Klinge gegen die alldeutschen Prätensionen"s4. Soweit fand die Freie Zeitung aus53 54

Brief vom 6. 8. 1917, ebd. Der Eidgenosse. Freisinnige Wochenzeitung, 9. 6. 1917.

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drücklich den Beifall der Freisinnigen, die sich aber anschließend energisch das Ironisieren eidgenössischer Ideale und das "saudumme Schimpfen" über die Schweizer Politik verbaten. Dem offiziellen Argwohn gegen die Freie Zeitung bot sich bald eine Chance. Am 31. Juli 1917 wurde in der Schweiz eine Ausgabe der Frankfurter Zeitung verbreitet, deren Leitartikel sich mit der Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges beschäftigte und zwar in der Form vehementer Anklage an die deutsche Reichsregierung und den Kaiser. Diese als Nr. 299, zweites Morgenblatt vom 31. 7. 1917 der renommierten liberalen deutschen Zeitung furnierende Version war eine Fälschung und die Urheber machten dies auf der ersten Seite mit folgender Notiz publik: "Diese Nummer der ,Frankfurter-Zeitung' wurde von Deutschen und zwar von deutsch-amerikanischen, sowie von deutschen Demokraten in neutralen Ländern verfasst und herausgegeben. Man wird die Herausgeber der Fälschung bezichtigen. Die Herausgeber haben aber diese Aufmachung und Art der Verteilung nur gewählt, weil es die einzige Form ist, in der heutigen Tages in Preussen-Deutschland die Wahrheit verbreitet werden kann". Nach Feststellungen der Schweizer Behörde war das FalsifIkat auch in großen Mengen von einer Genfer Spedition nach Basel transportiert worden, bereits in adressierte und frankierte Umschläge verpackt, die dort der Post übergeben wurden und wohl vor allem in Deutschland verbreitet werden sollten. Der Leitartikel war von Hermann Fernau verfaßt und bereits am 23. Juni 1917 in der in Bern erscheinenden "Freien Zeitung" veröffentlicht worden. Die eidgenössische Bundesanwaltschaft, die die Fälschung als Verstoß gegen die Schweizer Neutralität betrachtete, vermutete in der ,,Freien Zeitung" auch die Urheber des FalsifIkats, nicht zuletzt weil ihr der Publizist Fernau (den sie als den am 15. 8. 1883 geborenen Hermann Latt, Journalist aus Breslau, seit Mai 1916 in Zürich gemeldet, identifIzierte) als Spiritus rector der Freien Zeitung galt. Aufgefallen war Hermann Fernau zunächst als Autor einer Broschüre mit dem Titel "Gerade weil ich Deutscher bin: Eine KlarsteIlung der in dem Buche ,J'accuse' aufgerollten SChuldfrage"ss. Die Schweizerische Bundesanwaltschaft, die ein Complott vermutete, zu dem die gefälschte Frankfurter Zeitung ebenso gehörte wie eine angeblich in Bern neu gegründete Partei aus Reichsdeutschen, deren Zweck der Sturz der Monarchie und die Einführung der Republik in Deutschland sei, richtete den Hauptverdacht gegen die Freie Zeitung und veranlaßte eine Durchsuchung der Redaktionsräume und die Vernehmung verdächtiger Mitarbeiter. Die Vermutung, daß die Freie Zeitung mit der Fälschung zu schaffen habe, konnte nicht erhärtet werden, auch wurde nichts über die Hintermänner und die Finanzierung des Blattes in Erfahrung gebracht. Der vernommene Redakteur Streicher behauptete, die Zeitung erhalte sich von den über 7000 Abonnements und von Zuwendungen durch Gönner, die Namen der Mitglieder der Vereinigung, die das 55

Eine andere Broschüre Fernaus hatte den Titel "Durch zur Demokratie".

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Blatt herausgab, konnte er nicht nennen, für das Protokoll wünschte er die Formel, "Die Vereinigung, welche der ,Freien Zeitung' nahesteht". Ein Cassa-Buch mit Eintragungen über Honorarzahlungen an Mitarbeiter wurde sistiert, aber weiteren Aufschluß über die Natur der Freien Zeitung ergab die Aktion nicht56 . Dafür gab es aber Streit im Bundesrat, als sich, nach einer Beschwerde des Advokaten Brüstlein, der in Bem im Ruf eines Anwalts der Entente stand, die Angelegenheit zur öffentlichen Affäre entwickelte. Die Bundesanwaltschaft artikulierte die verbreitete Meinung, die Mentalität der Mitarbeiter der Freien Zeitung erinnere "mitunter an die Geistesverfassung jener deutschen Particularisten die nach der Schlacht bei Sedan Tränen vergossen, weil die Preußen nicht Schläge bekommen hatten,,57. Die frankophone Presse der Schweiz reagierte mit großer Entrüstung, aber auch die Basler Nationalzeitung hatte kein Verständnis für das Vorgehen der Behörden und schrieb, man könne nicht begreifen, welches Verbrechen durch die Haussuchung bei der Freien Zeitung hätte aufgedeckt werden können oder sollen. Die Tendenz des Blattes spiele keine Rolle, aber: "Das öffentliche Interesse an der freien politischen Diskussion ist viel größer, als dasjenige an der Bestrafung eines Artikelschreibers, der über die Schnur gehauen hat,,58. Der Bundesrat war in Bedrängnis, zum einen, weil die Affäre zum schweizer Problem zu werden drohte, zum anderen, weil neben Falschmeldungen in der Presse auch politische Indiskretionen aus dem Bundesrat zu lesen waren und schließlich, weil auch berichtet wurde, die Vereinigten Staaten nähmen Anteil, weil die Freie Zeitung vermeintlich wegen ihrer Wilson-Propaganda unter Beschuß geraten sei. Jedenfalls wurden weitere Untersuchungen eingestellt, die beschlagnahmten Dokumente zurückgegeben und man war bemüht, Gras über die Sache wachsen zu lassen. Die Presskontrollkommission hatte jedoch praktisch in jeder ihrer Sitzungen in den Jahren 1917 und 1918 Anlass, meist bot ihn eine Beschwerde der deutschen Gesandtschaft in Bem, sich mit Artikeln der Freien Zeitung zu beschäftigen. Die Zensurkommission war aber keineswegs, wie vor allem die deutschen Republikaner vermuteten, willfährig gegenüber den deutschen Forderungen, sondern durchaus auf kritische Distanz bedacht. So wurde am 30. Januar 1918 mit Befremden konstatiert, daß die deutsche Vertretung auch länger zurückliegende und vereinzelte Ausfalle in Zeitungsartikeln zum Gegenstand von Beschwerden machte und es wurde beschlossen, die deutschen Diplomaten darauf hinzuweisen, daß die Zeitung, im Gegensatz zum Buch oder zur Broschüre, dem Tag angehöre. Beanstandet worden war von deutscher Seite u. a. ein Artikel über Wilhelm 11., in dem 56 Bericht schweizerische Bundesanwaltschaft an den Chef des PoHt. Departements, Bundesrat Ador, 13. 8. 1917; vgl. am 13. 8. 1917 übermittelte Aufzeichnung der Deutschen Gesandtschaft über die Freie Zeitung, BA Bem, EMD, AD, 1914-1918, Bd. 226. 57 Bericht Bundesanwaltschaft, ebd. 58 National-Zeitung Basel 16. 8. 1917; siehe auch Neues WinterthurerTagblatt, 15.8. 1917; BemerIntelligenzblatt, 15.8. 1917.

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der Kaiser als "Mondsüchtiger" tituliert war, was als Zitat aus einer amerikanischen Zeitung aber auch formal keine Handhabe zum Einschreiten bot59 . Schon in der nächsten Sitzung, am 6. Februar 1918, mußte sich das Gremium mit einer "über den gewöhnlichen Ton einer Gesandtschaftsbeschwerde" hinausgehenden Verbalnote der deutschen Gesandtschaft beschäftigen. Es ging wieder um die Freie Zeitung und deren Tendenz, das deutsche Volk zur Revolution aufzurufen. Die Erörterung der inkriminierten Artikel erweiterte sich zur Grundsatzdiskussion. Die Kommission war sich über den Charakter der Freien Zeitung, als von amerikanischem Geld unterstütztes Propagandablatt im klaren. Alt-Bundeskanzler Ringier plädierte für eine einschneidende Maßnahme, da das Blatt die Neutralität der Schweiz gefährde, dem wurde entgegengehalten, daß die Kommission nicht die Tendenz eines Blattes zu treffen hätte. Die Existenz von Propagandaliteratur sei an sich eine unabänderliche Tatsache, lediglich gegen einzelne Artikel könne vorgegangen werden, wobei allerdings unterschieden werden müsse zwischen eigentlichen Schweizerblättem und Propaganda-Zeitungen, die in der Schweiz gedruckt würden. Die Presskontrollkommission beschloß, der Zeitung einen scharfen Mahnbrief zu senden und eine Intervention des Bundesrats anzudrohen. Die auch im Zensurausschuß zur Geltung kommenden konträren Positionen zwischen ententefreundlichen Welschschweizem gegenüber den mit den Mittelmächten sympathisierenden deutschsprachigen Eidgenossen machten deren Aufgabe, zwischen politischer Opportunität, staatsmännischer Klugheit und Gerechtigkeit - Gleichbehandlung der Kontrahenten im Propagandakrieg - nicht leichter. Das zeigte sich in der gleichen Sitzung der Kommission, als sie auf eine französische Insinuation reagieren mußte. Nach einem Ende Dezember 1917 ausgesprochenen Ausstellungsverbot gegen das Buch von Georges Clemenceau "La France devant l'allemagne", das 1916 im Verlag Payot in Lausanne erschienen war, hatte der französische Außenminister Dunant dem Politischen Departement in Bem gegenüber die Befürchtung ausgesprochen, "dass diese Verfügung die Laune des Herrn Ministerpräsidenten übel stimmen könnte". Der Zensurausschuß fühlte sich unter Rechtfertigungszwang. Man habe seinerzeit erwogen, heißt es im Protokoll, ob die Presskontrollkommission aus rein opportunistischen Erwägungen von Maßnahmen Abstand nehmen sollte, "ob der Umstand, daß aus dem Verfasser des Buches inzwischen der französische Ministerpräsident geworden ist, die vollständige Freigabe der Publikation gebiete. Sie glaubte, der politischen Opportunität eine genügende Konzession zu machen, indem sie sich mit der Maßnahme des bloßen Ausstellungsverbots begnügte, gegen eine vollständige Freigabe wehrte sich ihr Rechtsgefühl,,6o. Die Kommission, die sich auch der Tatsache bewußt war, daß sich das Buch mit den politischen Reden Clemenceaus nach dem Verbot verstärkter Nachfrage in der frankophonen Schweiz erfreute, blieb in ihrer Haltung fest und antwortete dem Politischen Departement entsprechend. 59 Sitzung Presskontrollkommission 30. I. 1918, BA Bem, EMD, AD 1914-1918, Bd.222. 60 Sitzung Presskontrollkommission 6. 2. 1918, ebd.

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Der Sturz der Hohenzollem und die Gründung der Weimarer Republik waren Folgen der militärischen Niederlage und nicht Wirkungen radikal-demokratischer Propaganda aus dem Ausland. Nicht zuletzt ist die damalige politische Emigration an ihrer Maßlosigkeit gescheitert, aber auch daran, daß wesentliche Protagonisten von der Entente abhängig und damit auch für deutsche Regimekritiker unglaubwürdig geworden waren. Das machte sie letztlich wirkungslos. Die Agitation der deutschen Dissidenten in der Schweiz ist aber auch ein Lehrstück für den Umgang mit politisch agierenden Exilanten: Im Ersten Weltkrieg haben es die Schweizer Behörden jedenfalls an Augenmaß, Zuwendung und Toleranz gegenüber einer schwierigen Klientel von Asylbegehrenden nicht fehlen lassen.

Das deutsche Ostimperium 1918 Betrachtungen über eine historische ,,Augenblickserscheinung" Klaus Hildebrand

Mit den Vereinigten Staaten von Amerika und mit Sowjetrußland traten im Jahre 1917 zwei weltgeschichtliche Potenzen auf den Plan, die den Gang des 20. Jahrhunderts in maßgeblicher Art und Weise bestimmen sollten. Von Beginn an erhoben beide den ideologischen Anspruch, den Plan der Geschichte zu kennen; und jeweils auf ihre Art, die sich von derjenigen der anderen bis zur Unversöhnlichkeit unterschied, war jede darum bemüht, das Ende der Geschichte herbeizuführen. Die eine war damals, bis zur Gefährdung ihrer eigenen Existenz, in militärischer Hinsicht schwach, und ganz im Gegenteil dazu war die andere über Gebühr stark. Für das Deutsche Reich, dem sich durch die neue Konstellation der Weltpolitik ebenso ungeahnte Möglichkeiten wie unvermutete Schwierigkeiten eröffneten, lagen darin Chance und Scheitern in einem: Einen historischen Moment lang schien ihm ein scheinbarer Triumph gewiß zu sein, bevor sich die tatsächliche Niederlage einstellte. Aber das, was sich so kurz vor dem Ende des "Großen Krieges" vollzog, warf einen langen Schatten voraus auf das, was ein knappes Menschenalter später schreckliche Wirklichkeit wurde und was dann viel mehr als eine militärische Niederlage und einen politischen Regimewechsel nach sich zog, nämlich die Zerstörung und Aufspaltung des von Bismarck gegründeten Nationalstaates selbst.

I. In der zweiten Hälfte des Ersten Weltkrieges kämpfte das Reich, weil West und Ost sich zur großen Koalition gegen die Mitte zusammengefunden hatten, um sein Überleben. Der Versuch der Reichsleitung, der verzweifelt anmutete und doch niemals bedingungslos unternommen wurde, die geschrumpfte Bewegungsfreiheit durch Abschluß eines separaten Friedens mit einer kriegführenden Seite zurückzugewinnen, um sodann alle Kraft gegen die andere Front konzentrieren zu können, wurde durch die Begebenheiten des Jahres 1917 zugleich begünstigt und erschwert: Die Revolution der Sowjets brachte eine vorläufige Entlastung für das Reich mit sich, die Intervention der Amerikaner eine zusätzliche Belastung. In der Mitte Europas, das sich gleichsam selbst verzehrte, waren die Deutschen von nun an mit dem zentralen Thema konfrontiert, das die Geschichte des 20. Jahrhunderts

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prägen sollte: Zwei globale Missionsideen rangen miteinander; sie kämpften um die Seelen der Völker in Europa und in der Welt; die eine wollte über die andere herrschen. "Die beste auswärtige Politik ist gar keine"! - davon waren die schließlich im Novemberputsch an die Macht gekommenen Bolschewisten überzeugt, als sie den revolutionären Frieden weltweit dekretierten. Krieg zu führen, um eine von der Geißel des Krieges befreite Epoche einzuleiten und um den Grundsatz zu verwirklichen, die Welt "safe for democracy,,2 zu machen, lautete die Botschaft Amerikas, das in das bis dahin weitgehend europäische Völkerringen eingetreten war. Mit dem Aufbau ihrer großen Flotte hatten sich die Amerikaner vom Jahre 1916 an darauf vorbereitet, dem künftigen Sieger der militärischen Auseinandersetzung, wer immer das sein mochte, gewachsen zu sein. Die ins Trudeln geratene Balance der Alten Welt sollte durch das Gewicht der Neuen Welt dauerhaft gefestigt werden. Weil die Mehrheit der Deutschen weder Lenins kommunistischer Idee noch Wilsons amerikanischem Traum folgen wollte, begab sie sich, eben in diesem schicksals trächtigen Jahr 1917, auf einen Weg, der alles in ihrer Geschichte bisher Dagewesene hinter sich ließ. Den Herausforderungen der Modeme erteilte sie eine spezifische Antwort, die verhängnisvoll und destruktiv ausfiel. Insgesamt: Der Kampf der beiden für das Schicksal des 20. Jahrhunderts ausschlaggebenden Weltmächte um den alten Kontinent hatte 1917 begonnen. Gleichzeitig wurden in diesem Entscheidungsjahr wesentliche Voraussetzungen für den deutschen Weg durch die jüngste Geschichte gelegt. Um machtpolitische und ideologische Eigenständigkeit gegenüber Ost und West bemüht, wollten die Deutschen der übermächtigen Enge, die von seiten der sowjetischen und angelsächsischen Welt drohte, mit dem Durchbruch zur Weltmacht entkommen. In dieser Perspektive entwarf General Erich Ludendorff ein Konzept, das über sich hinaus bereits in eine mit Adolf Hitlers Namen verbundene Zukunft wies. Die fatale Entwicklung zu erwähnen bedeutet nicht, die Identität des einen mit dem anderen zu behaupten. Verkannt werden soll auch keineswegs, daß zwischen einer flüchtig Realität gewordenen Idee im Ersten Weltkrieg und ihrer zur verbrecherischen Wirklichkeit gesteigerten Tat im Zweiten Weltkrieg qualitative Unterschiede bestehen. Erst einmal fiel die eine der militärischen Fronten, die das Reich über zwei Jahre lang eingeschnürt hatten, kraftlos in sich zusammen. Gewiß, zunächst hielt die Provisorische Regierung Rußlands, nach dem Ende des alten Regimes am 12. bzw. 15. März 1917, besonders nachdem sie im Mai umgebildet und Alexander Kerenski Kriegsminister geworden war, am Kampf gegen die Deutschen an der Seite der 1 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. V. Legislaturperiode. 1. Session 1881/82, Berlin 1882, S. 920: Wilhelm Liebknecht am 24. Januar 1882. 2 The Papers of Woodrow Wilson, edited by Link, Arthur S., Bd. 41, Princeton, N. J. 1983, S. 525: ,,An Adress to a Joint Session of Congress" vom 2. April 1917.

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Alliierten fest. Die russische Schwächung war indes unübersehbar, zumal Lenin und andere führende Bolschewisten bereits im April aus dem Exil nach Petrograd zurückkehrten. Die deutschen Behörden hatten bei der Fahrt des Revolutionärs von der Schweiz nach Rußland, die durch das Hohenzollernreich führte, tätig mitgeholfen. Denn sie spekulierten bewußt auf einen Auflösungsprozeß, der durch die radikalen Kommunisten vorangetrieben wurde. Welche weltgeschichtliche Tendenz sie damit beförderten, war ihnen wohl kaum klar. Dem Horizont des Zeitgenossen blieben, wie es in der Regel zu sein pflegt, die Einsichten der Späterlebenden verschlossen. Diese Feststellung bewahrt ihre grundsätzliche Gültigkeit, wenngleich schon bald die Diskussion darüber auf deutscher Seite einsetzte, ob man sich der Bolschewisten als eines Ferments der Dekomposition weiterhin bedienen oder sie als revolutionäre Bedrohung jeder Tradition kriegerisch bekämpfen sollte. Zunächst schien für die deutsche Seite zu gelten, was der Diplomat Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau bereits im Dezember 1915 so umschrieben hatte: "Der Sieg und als Preis der erste Platz in der Welt ist aber unser, wenn es gelingt, Rußland rechtzeitig zu revolutionieren und dadurch die Koalition zu sprengen,,3. Aus der Sicht der Westmächte, aber auch aus der der Amerikaner, zeichnete sich eben in dieser Perspektive seit dem März 1917 eine reale, wachsende Gefahr ab. Vor diesem Hintergrund fällte die Regierung in Washington am 20. März ihren Entschluß, in den Krieg einzutreten - gegen die Autokratie und für die Demokratie, wozu mittlerweile auch das neue Regiment im revolutionären Rußland gezählt wurde. Die eigentlichen Gründe für den amerikanischen Entschluß, der am 6. April zur Kriegserklärung an das Deutsche Reich führte, hoben sich also von den spektakulären Anlässen ab, die beileibe nicht ohne Gewicht waren. Mit der leichtsinnigen Eröffnung des unbeschränkten U-Boot-Krieges am 1. Februar 1917 und, mit dem törichten Angebot der Zimmermann-Depesche vom 17. Februar dieses Jahres hatten die Deutschen kapitale Fehler begangen, die sich rascher und ernster rächen sollten, als die militärischen Experten das erwartet hatten. Diese Entwicklung hatte nicht zum geringsten mit den spezifischen Bedingungen zu tun, die das englischamerikanische Verhältnis charakterisierten. Bereits seit der Jahrhundertwende lebten Briten und Amerikaner in einer "ungeschriebenen Entente,,4. Nunmehr wuchs mit dem Sturz des Zarenreiches die Gefahr des russischen Zusammenbruchs; eine deutsche Herrschaft über Ostmittel- und Osteuropa rückte in den Bereich des Möglichen. Der herkömmlichen Gestalt der internationalen Ordnung drohte ein revolutionärer Wandel. Ruckartig verstärkte sich daraufhin noch einmal Amerikas Neigung zur Hilfe für die Entente. 3 Fischer, Fritz, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszie1politik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorl 3 1964, S. 180: Denkschrift Brockdorff-Rantzaus vom 6. Dezember 1915. 4 Dehio, Ludwig, Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte, Zürich 1996, S. 328.

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Als der amerikanische Präsident Woodrow Wilson schließlich den entscheidenden Schritt in den "Großen Krieg" tat, begleitete ihn ein gleichsam missionarischer Trieb. Er wollte den Deutschen seine universale Idee einer neuen Weltordnung diktieren, um sein zentrales Kriegsziel zu erreichen, einen Bund der Völker zu begründen, der sich die Aufgabe der Friedensbewahrung angelegen sein ließ: "A league to enforce peace". Dagegen verwies sein Außenminister Robert Lansing auf das machtpolitische Motiv, das für den amerikanischen Kriegseintritt am 6. April ausschlaggebend war. Auch wenn Deutschland die amerikanischen Rechte nicht so flagrant verletzt hätte, wären die Vereinigten Staaten dazu gezwungen gewesen, den Alliierten zu Hilfe zu kommen: "Denn wir durften niemals zulassen, daß der deutsche Kaiser zum Herrn von Europa aufstieg, da er ansonsten die Welt beherrschen konnte und unser Land das nächste Opfer seiner Gier sein würde"s. Der dramatische Wandel der weltpolitischen Lage, vor allem der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten von Amerika, förderte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollwegs Bereitschaft, den mittlerweile mit Nachdruck vorgetragenen Forderungen des österreichischen Allianzpartners nach einem Friedensschluß nachzugeben und dem sich immer stärker bemerkbar machenden Verlangen nach innenpolitischen Reformen entgegenzukommen. Allein, es war gerade dieser akute Zustand der internationalen Konstellation, vor allem der gar nicht zu übersehende Schwächezustand Rußlands, der Ludendorff auf ausgreifenden Kriegszielen im Osten, nicht zuletzt dem Baltikum, seinem "Königreich,,6, bestehen ließ. Daher existierte auch kaum eine Chance, hätte der Reichskanzler diesem Gedanken jemals wirklich näherzutreten versucht, die Entente mit dem Angebot eines Friedens auf der Basis des Status quo ante in Verlegenheit zu bringen. Daß die andere Seite nicht versöhnungsbereiter war als sie selbst, ließen sich die Deutschen unter Beweis zu stellen entgehen. Weil sie sich im unübersichtlichen Spannungsfeld von Friedensschluß und Kriegszielen nicht eindeutig zu entscheiden imstande waren, gaben sie deutlich zu erkennen, daß sie nicht friedenswilliger als die anderen waren. Im Gegenteil: Vom Sommer 1917 an, vor allem nach dem Abschied Bethmann Hollwegs, nahm der Einfluß der Obersten Heeresleitung auf die äußere Politik des Reiches noch einmal maßgeblich zu. Die vom Kanzler aus taktischen Gründen widerwillig akzeptierten Kriegszielplanungen der Militärs gewannen entscheidende Bedeutung für die Fortsetzung des Waffenganges. Vor diesem Hintergrund blieben die Friedensresolution des Reichstages vom 19. Juli, die der Nachfolger Bethmann Hollwegs, Georg Michaelis, im Grunde unmißverständlich abgelehnt 5 Hubrich, E. w., Zur amerikanischen Intervention in Europa 1914-1919: Außenminister Robert Lansing und Präsident Woodrow Wilson im Spiegel der Lansing Papers, in: Jürgensen, Kurt/Hansen, Reimer (Hrsg.), Historisch-politische Streiflichter. Geschichtliche Beiträge zur Gegenwart, Neumünster 1971, S. 137: Tagebucheintrag Lansings vom 7. April 1917. 6 Ritter, Gerhard, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des ,,Militarismus" in Deutschland, Bd. 3, München 1964, S. 493.

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hatte, und die päpstliche Friedensnote vom 1. August, die bei keiner kriegführenden Macht auf Zustimmung gestoßen war, vorläufig nichts anderes als Episoden. Nachdem die letzte große Offensive der Russen unter General Alexei Brussilow im Juli gescheitert und die Schlacht um Riga mit der Einnahme der Stadt am 3. September für die Deutschen gewonnen war, witterten die militärischen "Halbgötter" der Dritten Obersten Heeresleitung und die deutsche Kriegszielbewegung Morgenluft. Nach dem bolschewistischen Putsch in Petrograd Anfang November 1917 zeichnete sich ab, daß die programmatische Forderung der neuen Machthaber nach einem umgehenden Ende des Krieges die deutsche Aussicht auf einen separaten Frieden plötzlich realisierbar erscheinen ließ. Dagegen scheiterten alle Versuche, die der nach Bethmann Hollwegs Sturz neu ins Amt gekommene Staatssekretär des Äußeren Richard von Kühlmann einleitete und die sich bis in den März 1918 hineinzogen, mit dem belgischen ,,Faustpfand" in der Hand und im Stile der überlieferten Geheimdiplomatie mit Großbritannien zum Frieden zu kommen. Von Bethmann Hollwegs Kurs der Mäßigung und Selbstbehauptung, der mittlerweile, im großen und ganzen jedenfalls, mit einem Zustand des Status quo ante identisch sein mußte, versuchte er zu retten, was noch zu retten war. Seiner eigenen Einschätzung nach klang es "wie ein Märchen aus längst vergangenen Zeiten", als Kühlmann im September 1917 dem Hauptausschuß des Deutschen Reichstages den fast schon in Vergessenheit geratenen Zustand Europas vor dem August 1914 mit beschwörender Melancholie vor Augen führte: ,,Es steht uns allen noch klar im Gedächtnis, das alte Europa, und ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte, daß für keinen der Staaten in diesem alten Europa der Zustand, wie er in den letzten vierzig Jahren bestanden hat, so unerträglich war, daß er auf die Gefahr der Selbstvernichtung hin seine Abstellung erreichen mußte. Daß Europa nicht zugrunde gehe, ist vielleicht heute noch, mitten in diesem gewaltigen Krieg, ein gemeinsames Interesse aller Großstaaten"7. Ob es den Diplomaten um Kühlmann gelingen würde, von dem verblassenden Ziel der herkömmlichen Ordnung Europas so viel zu bewahren, wie ihnen unverzichtbar erschien, oder ob sie sich den Militärs um Ludendorff beugen mußten, die ein großräumiges Imperium im Osten zu erobern planten, hatte sich zu erweisen. Die Entscheidung darüber stand an, als die Mittelmächte sich dazu bereit erklärten, auf den sowjetischen Vorschlag eines Waffenstillstandes einzugehen, den Leo Trotzki am 28. November 1917 den Kriegführenden unterbreitete.

7 Schulthess' Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge 33 (1917), Erster Teil, S. 825: Staatssekretär von Kühlmann am 28. September 1917 vor dem Hauptausschuß des Deutschen Reichstages.

8 FS Kolb

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11. Als am 15. Dezember 1917 zwischen dem Deutschen Reich und Rußland dieser Waffenstillstand tatsächlich geschlossen wurde, eröffnete sich den Deutschen geradezu schlagartig eine große Gelegenheit. Im Verlauf des Krieges oftmals beschworen, hatte sie sich in weit vorgerückter Stunde unerwartet ergeben. Sie bot die erträumte Möglichkeit, das Schicksal doch noch zu wenden: Lebensgefährlich balancierte der deutsche Nationalstaat auf dem schmalen Grat zwischen "Weltmacht" und "Niedergang,,8. Die russische Revolution, die, bis zu einem gewissen Maß, die Gefahr des ,,Finis Germaniae" in letzter Minute abwendete, schaffte umgehend die Voraussetzung dafür, daß die Deutschen den "Griff nach der Weltmacht" wagten. Längst vergangen war jene erste Phase des Krieges, in der sich das Reich als europäische Großmacht zu behaupten versuchte und seine außenpolitische Position durch territoriale Korrekturen zu verbessern trachtete. Was die Deutschen in diesem Zusammenhang verlangten, die Sprengung der gegnerischen Entente und eine Verschiebung des europäischen Gleichgewichts zu ihren Gunsten, erschien den anderen Mächten bereits als der deutsche Anspruch auf die Hegemonie über den alten Kontinent. Der Eindruck verfestigte sich noch, als der Entwurf eines deutschen Mitteleuropa, der das von den Zweibundmächten besetzte Polen umfassen sollte, als Kampfmittel und Kriegsziel in das Zentrum der deutschen Außenpolitik und Kriegführung rückte. Damals veröffentlichte Friedrich Naumann sein mächtiges Plädoyer für ein vor allem ökonomisch geeinigtes "Mitteleuropa". Die weltwirtschaftliche Orientierung, die für das Reich während der Vorkriegszeit verbindlich gewesen war, trat unter dem ehernen Zwang der militärischen Notwendigkeiten zurück und diente nur noch wenigen, wie dem Reichskanzler Bethmann Hollweg, als Leitidee für eine kommende Friedenszeit. Nunmehr, an der Jahreswende 1917 /18, bot sich ein scheinbar ohne Einschränkung günstiger Augenblick der Geschichte - und beschrieb rückblickend doch nichts anderes als die Hybris, die dem Fall vorausgeht. Vorläufig schien es jedenfalls so zu sein, daß sich für das Reich die einmalige Gelegenheit bot, die verbindlichen Kategorien der überkommenen Großmachtpolitik, ja sogar der europäischen Hegemonialpolitik hinter sich lassen zu können. Die unerhörte Möglichkeit, ein kontinentales Ostimperium zu errichten, tat sich verheißungsvoll auf. Seine unüberwindbare Existenz sollte die Voraussetzung für den militärischen Sieg im Westen legen: In großem Stil winkten europäische und überseeische Erwerbungen; verführerische Illusionen von einer Weltrnachtstellung des Reiches grassierten. Bevor die deutsche Niederlage auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges besiegelt wurde, ergab sich im Verlauf des Jahres 1918 die verlockende Aussicht, 8 Fischer, Fritz, Weltmacht oder Niedergang. Deutschland im Ersten Weltkrieg, Frankfurt/Mo 1965.

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auf gleicher Stufe mit den anderen Weltmächten der Zeit stehen, ja diese sogar überwinden und beerben zu können. Das war, vom scheinbar geschlagenen Frankreich ganz abgesehen, zum einen Rußland, dessen lange gefürchtete Kraft im Strudel der inneren Revolution versank, während die neue Missionsidee des jungen Sowjetstaates von den Deutschen verkannt wurde. Das war zum anderen Großbritannien, dessen zivilisatorische Magnetwirkung nachzulassen schien; sein Empire zu besiegen, hatte Deutschland jetzt augenscheinlich Gelegenheit. Und das waren schließlich die Vereinigten Staaten von Amerika, die sich in militärischer, politischer und wirtschaftlicher Perspektive zum globalen Handeln aufgeschwungen hatten und deren demokratische Sendungsidee eine ungeheure Anziehungskraft ausübte. Auch diesen Gegner, den die Deutschen weit unterschätzten, galt es nunmehr im kriegerischen Duell entscheidend zu treffen. Ohne selbst von einer mit der sowjetischen oder amerikanischen Weltanschauung vergleichbar zugkräftigen Ideologie getragen zu werden, trat das Kaiserreich, voll siegesgewisser Zuversicht, zum Entscheidungskampf an. Erneut verließ es sich auf die schiere Macht der militärischen Mittel, die in einem ebenso überwältigenden wie überraschenden Ausmaß anzuwachsen versprachen. Als die Friedensverhandlungen zwischen den Mitte1mächten und Rußland am 22. Dezember 1917 begannen, war es freilich keineswegs so, daß die Delegationen aus Berlin und Wien das ehrgeizige Ziel kontinentaler Imperiumsbildung einhellig verfolgt hätten. Dem stand entgegen, daß die Divergenzen zwischen den deutschen und österreichischen Kriegszielvorstellungen beträchtlich waren; und dem stand vor allen Dingen entgegen, daß die Unterschiede innerhalb der deutschen Delegation zwischen dem, was das Auswärtige Amt, und dem, was die Oberste Heeresleitung wollte, erheblich waren, sich sogar qualitativ voneinander abhoben. Der differenzierenden Bemerkung muß freilich umgehend, als Erläuterung und Einschränkung, die entscheidende Feststellung hinzugefügt werden, daß solche Abweichungen der am Verhandlungstisch sitzenden Gegenseite und den anderen Mächten der Staatenwelt oftmals nur als taktische Variante, mithin als fast unerhebliche Quisquilien vorkamen. Letztlich zählte allein das Ergebnis dessen, was ausgehandelt wurde, gleichgültig, ob dafür die Diplomaten oder die Militärs des Reiches verantwortlich zeichneten. Was die Vertreter der "Staatskunst" und des "Kriegshandwerks" tatsächlich tief voneinander trennte, waren die Erwartungen, die sie jeweils mit dem russischen Friedensschluß verbanden. Staatssekretär von Kühlmann wollte über den Weg des Verhandlungsfriedens mit Rußland an das Ziel eines allgemeinen Ausgleichs mit den Gegnern des Reiches gelangen; er wollte den zerstörerischen Krieg beenden und Europa einen stabilen Frieden zurückgeben. General Ludendorff wollte Rußland den Separatfrieden diktieren, um die geballte Kraft des Heeres nach Westen zu verlagern und den "Siegfrieden" zu erringen. Stärker als die Idee vom künftigen Frieden bewegte die Offiziere bei den Verhandlungen in Brest-Litowsk der Gedanke an den nächsten Krieg. "Die Militärs denken immer nur an den Kriegsfall", seufzte der neue Reichskanzler Georg Friedrich Graf von Hertling, der Michaelis 8*

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am 2. November abgelöst hatte. Wenn er auch Kühlmanns Vorstellung, über einen maßvollen Frieden mit Rußland zu einem für alle Beteiligten erträglichen Kriegsende zu gelangen, nicht in allem und jedem teilte, war ihm doch ohne weiteres klar: ,,Man muß aber auch an den Frieden denken,,9. Die maßvolle Empfehlung des Staatssekretärs des Äußeren lautete, auf keinen Fall den zum Scheitern verurteilten Versuch zu unternehmen, "die Russen in die Knie zu zwingen und in ihnen das Gefühl zu erwecken, daß man nun einer hoffnungslos geschlagenen Nation mit harter Faust schwere Bedingungen auferlegt". Sein Ratschlag ging vielmehr dahin, "sobald die schweren Nachwehen des Krieges beseitigt sind, die Verhältnisse wieder herzustellen, die anderthalb Jahrhunderte lang die Grundfesten und die Grundbedingungen des Erfolges der preußisch-deutschen Politik gewesen sind"lO. Aber Kühlmann kämpfte mit abnehmendem Erfolg dagegen an, die Schaffung eines ,,zustand[es]" zu riskieren, "der mit absoluter Sicherheit einen dauernden deutsch-russischen Gegensatz schaffen und zu einem künftigen Kriege führen muß"ll. Daher warnte er davor, nach einer "Abtrennung ... großer Landesteile von einer seit über hundert Jahren konsolidierten Großmacht ersten Ranges" zu streben; "nach allen historischen Erfahrungen" würde dies nichts anderes als "eine schwere Erschütterung,,12 der europäischen Staatenordnung mit sich bringen. Wahrend die einen darum bemüht waren, alles zu tun, um einen künftigen Krieg zu vermeiden, waren die anderen darauf bedacht, alles zu unternehmen, um einen künftigen Krieg zu bestehen. Ludendorff zeigte sich davon überzeugt, "die militärische Lage" sei "so günstig, wie sie während der dreieinhalb Kriegsjahre überhaupt nicht gewesen ist,,13. Die Kriegsziele der Militärs fielen dementsprechend aus. In einer bizarren Vermischung von rassischen und kriegerischen Elementen schwebte dem Generalquartiermeister vor, "einen Wall deutscher Menschen gegen das Slawenturn zu schaffen,,14. Vor allem im Hinblick auf das Baltikum wollte er jetzt die Basis dafür legen, den bereits 1915 geäußerten, unheimlich anmutenden Gedanken zu verwirklichen, ,,zuchtstätten für Menschen [zu gewinnen], die für weitere Kämpfe nach Osten nötig sind,,15. Sich für den ,,zweiten Punischen Ritter, Gerhard, (wie Anm. 6), Bd. 4, München, 1968, S. 121. Der Interfraktionelle Ausschuß 1917/18. Zweiter Teil, bearb. v. Matthias, Erich unter Mitwirkung von Morsey, Rudolf, Düsseldorf 1959, S. 12. 1. Januar 1918: Besprechung mit den Fraktionsführern bei Staatssekretär von Kühlmann. 11 Der Friede von Brest-Litowsk. Ein unveröffentlichter Band aus dem Werk des Untersuchungsausschusses der Deutschen Verfassunggebenden Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages, bearb. v. Hahlweg, Wemer, Düsseldorf 1971, S. 691: Staatssekretär von Kühlmann (Bukarest) an das Auswärtige Amt vom 9. März 1918. 12 Ebd., S. 223: Staatssekretär von Kühlmann an Reichskanzler Graf von Henling vom 7. Januar 1918. 13 Ritter, Gerhard, (wie Anm. 6), S. 103. 14 Ebd., S. 102. 9

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Krieg"16 zu wappnen, über die baltischen Länder zur Entfaltung der linken Flanke, so Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg am 18. Dezember 1917, im nächsten Krieg 17 verfügen zu können, darauf kam es der Obersten Heeresleitung damals an. In furchtgebietendem Umriß zeichneten sich die Schattenlinien eines kontinentalen Imperiums ab, das, wirtschaftlich unabhängig und geostrategisch praktisch unverwundbar, allen künftigen Gefahren zu trotzen imstande sein sollte. Anders als der aus der europäischen Geschichte bekannte Gedanke der kontinentalen Hegemonie, der seinerseits bereits mit der Gestalt Europas unverträglich war, hätte die Existenz eines autarken Großraumes eine Revolution der politischen Weltordnung mit sich gebracht. Daß sie für einen Augenblick in die Nähe der Realität vordrang und aufgrund der allgemeinen Bedingungen des sich hinziehenden Krieges doch nur zu sehr eingeschränkter Wirksamkeit gelangen konnte, verweist auf das Ergebnis der mit den Sowjets geführten Friedensverhandlungen und den sich daran anschließenden Verlauf deutscher Ost- und Rußlandpolitik. Entscheidend erleichtert wurde die Aufgabe der deutschen Verhandlungsdelegation in Brest-Litowsk durch die Tatsache, daß es Lenin am 19. Januar 1918 gelang, die neu gewählte Volksvertretung durch bolschewistisches Militär auseinanderjagen zu lassen. An die Stelle der parlamentarischen Demokratie trat eine Räterepublik. Damit setzte sich in Rußland diejenige Kraft durch, die um nahezu jeden Preis, den die Deutschen verlangten, den Frieden einzugehen bereit war. Denn aus der Sicht der revolutionären Putschisten ging es allein darum, dem gefährdeten Fortbestand der bolschewistischen Machtübernahme die dringend benötigte "Atempause" zu verschaffen. Am 9. Februar 1918 kam es zum Abschluß eines separaten Friedens der Mittelmächte und des Osmanischen Reiches mit der Ukraine. Der in bedingte Selbständigkeit entlassene Staat, dem Unabhängigkeit versprochen wurde, verpflichtete sich zu umfangreichen Getreidelieferungen an die Sieger. Insofern mag einleuchten, daß es sich bei dem, was mit der Ukraine vereinbart wurde, stärker um einen "Brotfrieden" gehandelt hat, der aus der Not der Kriegslage geboren wurde, und weniger um ein Ergebnis langfristiger Planung, die Ukraine von Rußland abzusprengen. Daß sich die für das Reich lebenswichtige Kornversorgung aus dieser zur Botmäßigkeit verpflichteten Region künftig weit schwieriger gestaltete als ursprünglich angenommen, beschreibt die eine Seite deutscher Rußlandpolitik: Ein erheblicher Aufwand an militärischer Präsenz und bürokratischer Organisation blieb nach wie vor erforderlich. Daß die Ukraine, die zunehmend stärker unter deutschen Einfluß geriet, zum Ausgangspunkt für Ludendorffs "Alexanderzüge" in 15 Zechlin, Egmont, Ludendorff im Jahre 1915. Unveröffentlichte Briefe, in: Ders., Krieg und Kriegsrisiko. Zur deutschen Politik im Ersten Weltkrieg. Aufsätze, Düsseldorf 1979,

S.225.

Ritter, Gerhard, (wie Anm. 6), S. 103. Vgl. Wheeler-Bennett, John W., Brest- Litovsk. The Forgotten Peace. March 1918, London 1956, S. 109. 16

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den Süden Rußlands wurde, verweist auf ihre andere Seite: Auch ein aus wirtschaftlicher Bedrängnis entstandener Frieden bot militärische Ausfalltore für eine bald grenzenlose Expansionssucht. Wie so oft lagen Defensive und Offensive, Furcht und Hochmut, Notwehr und Maßlosigkeit eng beieinander. Einen Tag nach Abschluß des ukrainischen Sonderfriedens wurden die sich in Brest-Litowsk hinschleppenden Verhandlungen von den Mittelmächten abgebrochen. Der kluge Versuch des neuen russischen Delegationsleiters Trotzki, mit der verwirrenden Parole "Weder Krieg noch Frieden" Zeit zu gewinnen, scheiterte. Sein virtuoses Experiment, gleichzeitig den Kriegszustand für beendet zu erklären und die deutschen Friedensbedingungen nicht zu akzeptieren, stieß selbst im eigenen Lager auf Ablehnung. Vor allem Lenin wollte endlich uneingeschränkten Frieden haben, um die Revolution in Rußland vollenden zu können und sie - in unmittelbarem Anschluß daran - nach Europa hineinzutragen. Angesichts der unübersichtlichen Sachlage gingen die Deutschen mit sich zu Rate, welche neuen Schritte gegen Rußland in Betracht zu ziehen seien. Nach dem entscheidenden Kronrat in Bad Homburg, auf dem Ludendorff sich am 13. Februar mit seinen kompromißlosen Vorstellungen durchsetzte, wurde fünf Tage darauf der russische Krieg erneut aufgenommen. Zügig kam der deutsche Vormarsch voran und zwang die Sowjetregierung zur vollständigen Kapitulation. Am 3. März 1918 wurde in Brest-Litowsk der Friede zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn, dem Osmanischen Reich sowie Bulgarien auf der einen und Sowjetrußland auf der anderen Seite geschlossen: Es handelte sich um einen Diktatfrieden, der den Besiegten oktroyiert wurde. Ungeachtet aller Differenzen zwischen den Militärs und den Diplomaten bildete er das Ergebnis einer deutschen Außenpolitik! Sowjetrußland verzichtete auf Polen, Litauen und Kurland, die im Einvernehmen mit dem Deutschen Reich, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker gemäß, über ihre Zukunft entscheiden sollten. Estland und Livland blieben von deutschen Polizeikräften besetzt, bis sie sich im August 1918 von Sowjetrußland trennten. Finnland und die Ukraine wurden, wenngleich ohne Zweifel im deutschen Einflußbereich, als selbständige Staaten anerkannt. Das, was den Russen rücksichtslos zugemutet wurde, trug karthagische Züge. In Deutschland geriet es nach dem Ende des Ersten Weltkrieges rasch in Vergessenheit. Denn der dem Reich auferlegte Versailler Frieden, der nach Lenins Urteil "hundertmal erniedrigender, gewaltsamer und räuberischer,,18 war als der von Brest-Litowsk, verdrängte das, was von ihnen in jüngster Vergangenheit brutal angerichtet worden war, aus dem kollektiven Gedächtnis der Nation. Übrigens brachte der maßlose Friedensschluß gegenüber Sowjetrußland, der auf dem fragwürdigen Grundsatz der puren Gewalt beruhte, bei weitem nicht soviel Nutzen mit sich, wie man sich auf deutscher Seite erhofft hatte. Ganz gewiß aber richtete er mehr Schaden an, als erwartet worden war. 18 Lenin, Wladimir 1., Werke, Bd. 28, Berlin 1959, S. 206: Versammlung der Moskauer Parteiarbeiter 27. November 1918.

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Weil eine Million deutscher Soldaten in den riesigen Territorien Osteuropas gebunden blieb, wendete sich Ludendorffs militärische Misere nicht zum besten. Mitte Mai 1918 bilanzierte er: "Wenn ich jetzt einige Hunderttausend Mann frischer Truppen aus der Heimat bekäme, könnte der Feldzug [Krieg im Westen] in wenigen Wochen beendet sein,,19. Stattdessen erforderten die militärischen Unternehmungen, zu denen Ludendorff in Rußland aufbrach, zusätzliche Kräfte. Sogar Kohle und Öl, die eigentlich aus den östlichen Territorien bezogen werden sollten, mußten zusätzlich dorthin geschafft werden, um das aufwendige Besatzungsregime zu unterhalten und für die weiträumigen Expeditionen gerüstet zu sein. Ausschlaggebender noch war, daß das Diktat von Brest-Litowsk den Widerstandswillen der Gegner, vor allem der Amerikaner, anfachte: "Gewalt", rief Woodrow Wilson mit ablehnender Empörung aus und schleuderte den deutschen Siegern im Osten die unversöhnliche Drohung entgegen: "Gewalt bis zum Äußersten!,,20 Richard von Kühlmanns vernünftiges Ideal, Europa nach dem Vorbild des vergangenen Jahrhunderts neu einzurichten, vor allem den Frieden als Normalzustand der Staatenwelt zu verstehen, war längst gescheitert. Dagegen triumphierte Ludendorffs beängstigende Vision, die bereits angebrochene Zukunft als ein Zeitalter der Kriege zu begreifen, deren kontinuierliche Regelhaftigkeit lediglich durch die Pausen von Waffenstillständen unterbrochen wurde. Daher hatte Kühlmanns Erwartung, der er damals noch einmal mit banger Zuversicht Ausdruck verlieh, keine Chance mehr. Der Staatssekretär gab sich der bereits überholten Hoffnung hin, "beim allgemeinen Friedensschluß" sei "das in Brest-Litowsk Beschlossene und Unterzeichnete nur als Provisorium zu betrachten ... Erst der allgemeine Friedensschluß würde aufzeigen, was von diesem Vertragswerke als endgültig gesichert übrigbleiben würde,,21. Das plausible Bestreben des Diplomaten, die überlieferte Gestalt des alten Europa zu retten, unterlag den rohen Gegenkräften in Deutschland ebenso, wie darüber hinaus der böse Geist einer kriegerischen Zeit inzwischen von allen kämpfenden Völkern verhängnisvoll Besitz ergriffen hatte. Die nicht gerade knapp bemessenen Absichten, die von seiten der französisch-britisch-russischen Koalition gegenüber dem Deutschen Reich, der Habsburgermonarchie und dem Osmanischen Reich, mit allerdings wechselnder Intensität, verfolgt wurden, hätten, wären sie zum Zuge gekommen, die Landkarte Europas erheblich verändert. Diese Feststellung gilt ebenfalls für die nicht verwirklichten Aufteilungspläne, die von den Briten und Franzosen im Hinblick auf Sowjetrußland ventiliert wurden. Und tatsächlich haben 19 Das Werk des Untersuchungsausschusses der Deutschen Verfassunggebenden Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919 - 1926. Verhandlungen. Gutachten. Urkunden, Vierte Reihe, Bd. 2, Berlin 1925, S. 371: Auszüge aus einem Ende 1918 der O.H.L. erstatteten dienstlichen Berichte des Obersten von Haeften über seine Tätigkeit 1918, Anlage 12. 20 Zit. nach Mamatey, Victor S., The United States and East Central Europe 1914-1918. A Study in Wilsonian Diplomacy and Propaganda, Princeton 1957, S. 236: Rede vom 6. April 1918. 21 Kühlmann, Richard von, Erinnerungen, Heidelberg 1948, S. 547.

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die territorialen Umgestaltungen im Nahen Osten, in Südosteuropa und in Ostmitteleuropa als Ergebnisse des "Großen Krieges" die überlieferte Beschaffenheit der Staatenwelt schließlich tiefgreifend gewandelt. Das trotz aller Widrigkeiten, die nach wie vor auf ihm lasteten, durch seine gewaltigen Gewinne zu ungeahnter Machtfülle aufgestiegene Reich blieb vorläufig dem gesteigerten Widerstandswillen und dem kaum mehr zu überbietenden Mißtrauen seiner Gegner ausgesetzt. Der am 3. März 1918 diktierte Frieden von BrestLitowsk, den ein vier Tage darauf mit Finnland abgeschlossener Sonderfrieden ergänzte, wurde am 22. März mit großer Mehrheit im Reichstag angenommen. Einen Tag nachdem im Westen die deutsche Offensive eingesetzt hatte, deren Scheitern den Auftakt zum Ende markierte, war es im wesentlichen nur die Sozialdemokratie, die zu diesem Gewaltfrieden der Annexionen auf Distanz ging. Nach dem Friedensschluß der Mittelmächte mit Rumänien am 7. Mai 1918, der Deutschland die Ausnutzung der Ölquellen des südosteuropäischen Landes einräumte, erfuhr die deutsche Expansions- und Machtpolitik in Rußland noch einmal eine Steigerung, die nach gerade grundlegend in das niemals komplikationsfreie Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn eingriff. Im Frieden von Bukarest war es Staatssekretär von Kühlmann zwar gelungen, die arg ramponierten Beziehungen zum österreichischen Alliierten noch einmal zu verbessern. Sein bescheidener Erfolg war freilich von notdürftiger Qualität und kaum auf Dauer angelegt. Denn nicht allein Ludendorff gab angesichts des Friedensschlusses von BrestLitowsk seiner Genugtuung darüber Ausdruck, daß die Existenz des seit Bismarcks Tagen bestehenden Zweibundes endlich überflüssig geworden war: Der russische Gegner, gegen den man das Gewicht der Doppelmonarchie benötigt hatte, war praktisch nicht mehr vorhanden; auf Österreich-Ungarn ließ sich nach deutscher Einschätzung der Lage nunmehr verzichten. Dieser Eindruck, der ganz neue Perspektiven eröffnete, festigte sich, als Ludendorff über das, was in Brest-Litowsk erworben worden war, hinaus während des Frühjahrs und Sommers 1918 zu weiteren militärischen Expeditionen in Rußland aufbrach. Seine Intervention richtete sich vor allem gegen die in offenem Aufruhr stehende Ukraine, galt es doch, wenn auch am Ende mit nicht allzu großem Erfolg, sich die als lebenswichtig angesehene Verfügung über die wirtschaftlichen Ressourcen des reichen Landes zu sichern. Allein, ohne Maß und Ziel strebte der von Raumgier und Machtrausch befallene Feldherr darüber noch hinaus: Im Süden stießen deutsche Truppen bis ans Schwarze Meer vor, besetzten die Krim und marschierten nach Transkaukasien, während sie im Norden, von den Finnen willkommen geheißen, gegen die Bolschewisten kämpften. Sieht man einmal von den längst überlebten Phantasien ab, deutsche Dynastien, vor allem im Norden und Osten Europas, zu begründen, ging es Ludendorff, von Finnland bis Georgien, darum, Soldaten zu rekrutieren und für kommende Kriege strategische Ausgangsstellungen zu beziehen. Daher kann es kaum verwundern, daß Großbritannien damals, unter dem beängstigenden Eindruck des deutschen Vordringens in die südlichen

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Provinzen des zerfallenen Zarenreiches, schon die zukünftige Bedrohung Indiens von dem übennächtig gewordenen Reich ausgehen sah. Besiegelt wurden die in den russischen Weiten geradezu ins Endlose schweifenden Eroberungszüge der Militärs, die vom Auswärtigen Amt als ein "Wandeln in napoleonischen Bahnen,,22 verurteilt, als "uferlos" und "utopisch,,23 abgelehnt wurden, in den Berliner ,,zusatzverträgen" vom 27. August 1918, die den Vertrag von Brest-Litowsk komplettierten. Sie brachten Sowjetrußland insgesamt in deutsche Abhängigkeit und trennten Estland, Livland und Georgien vom untergegangenen Vielvölkerstaat der Zaren ab. Die vergleichsweise machtlosen Vertreter des Auswärtigen Amtes, an dessen Spitze seit dem 9. Juli 1918 Staatssekretär Paul von Hintze stand, sahen diese Rußlands Zertrümmerung vorantreibende Entwicklung als verhängnisvoll an. Dennoch glaubten sie, mit den Berliner Ergänzungsvereinbarungen die Chance gewahrt zu haben, im Hinblick auf einen allgemeinen Friedensschluß und eine friedliche Zukunft der Staatenwelt die radikale Dekomposition, ja eine völlige Auflösung des russischen Reiches verhindert zu haben. Wie auch immer: Nachdem sich das Kriegsgeschehen am 8. August 1918, dem "schwarze[n] Tag,,24 für das deutsche Heer im Westen, endgültig zu Ungunsten des Reiches gewendet hatte, gerieten seine östlichen Ambitionen in den nicht zu umgehenden Sog seiner westlichen Niederlagen. Doch vorläufig blieb der zwingend voneinander abhängige Zusammenhang zwischen dem russischen und dem französischen Kriegsschauplatz verdeckt. Während die deutschen Truppen im Westen der alliierten Übennacht, vor allem den frischen Kräften der Amerikaner, weichen mußten, standen sie im Osten ,,in Finnland, hielten die Linie von Narwa im Norden über Orscha und Mogilew am Dnjepr bis zum Don östlich von Rostow,,25. Die Krim befand sich in deutschem Besitz, bis nach Transkaukasien reichte die militärische Präsenz des Reiches. Rußland, das vor dem Krieg wie ein böser Alpdruck auf vielen Zeitgenossen in Deutschland gelastet hatte, während es von anderen lediglich als tönerner Koloß eingeschätzt worden war, schien endgültig besiegt zu sein. III.

Die Eroberung des Großraumes im Osten, der wehrwirtschaftliche Blockadefestigkeit und strategischen Vorteil zu garantieren versprach, ging mit zeitgleichen Planungen einher, die von bäuerlichen Siedlungs- und Kolonisationsgedanken getragen waren, die "völkische Flurbereinigung" und demographische Verschie22 Zit. nach Baumgart, Winfried, Deutsche Ostpolitik 1918. Von Brest- Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Wien/München 1966, S. 377. 23 Zit. nach ebd. 24 Ludendorff, Erich, Meine Kriegserinnerungen 1914-1918, Berlin 31919, S. 547. 25 Hillgruber, Andreas, Die gescheiterte Großmacht. Eine Skizze des Deutschen Reiches 1871-1945, Düsseldorf 1980, S. 58.

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bungen ins Auge faßten. Es waren diese Ideen und Tatsachen, welche die geschichtliche "Augenblickserscheinung,,26 des deutschen Ostimperiums, sieht man von der rassischen Vernichtungspolitik des "Dritten Reiches" ab, in eine "Analogie zum ,nationalsozialistischen Amoklauf",27 rücken: "Hitlers in den 1920er Jahren fixiertes Fernziel, ein deutsches Ost-Imperium auf den Trümmern der Sowjetunion aufzubauen, war somit nicht bloß eine aus Wunschvorstellungen erwachsene ,Vision'. Diese Zielvorstellung besaß vielmehr einen konkreten Ansatzpunkt in dem 1918 schon einmal Erreichten. Das deutsche Ost-Imperium war - wenn auch nur für kurze Zeit - bereits einmal Wirklichkeit,,28. Sogar der grauenerregende Tatbestand einer physischen Vernichtung von unschuldigen Menschenleben, der in die "Ära der Tyranneien" (Elie Halevy) und auf den "V6Ikerkampf' der ,,zukunft,,29 vorauswies, schlug seine verhängnisvollen Wurzeln während dieses düsteren Zeitraums, als der totale Krieg die lange zuvor begonnene Umwertung aller Werte des alten Europa grausam vollendete. Staatssekretär von Kühlmann, der im Sommer 1918 seinen Abschied nehmen mußte, als er auf einem Höhepunkt der in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung vorwaltenden Siegeszuversicht von einem Verständigungsfrieden als dem Ziel der Kriegführung und Außenpolitik des Reiches gesprochen hatte, berichtete, einer rückschauenden Überlieferung zufolge, bereits im November 1917 mit Abscheu von einem unvorstellbaren Verbrechen: Die Serben würden von den "unersättlich" erscheinenden Bulgaren "auf dem Verwaltungswege ,erledigt' ... , man bringt sie der Reinigung wegen in Entlausungsanstalten und eleminiert sie durch Gas,,30. Im mittlerweile eisernen Zeitalter von Krieg, Tod und Vernichtung waren alle Hoffnungen auf einen Frieden des Ausgleichs, der Vernuft und der Versöhnung zerstoben. Die alldeutschen Forderungen, unmittelbar nach Ausbruch des Krieges massiv vorgetragen und nach Freigabe der Kriegszieldiskussion im November 1916 öffentlich propagiert, schienen, ungeachtet der im Volk weit verbreiteten Friedenssehnsucht, vor ihrer Verwirklichung zu stehen. Die vor allem zwischen Diplomaten und Militärs in Deutschland geführte Auseinandersetzung darüber, wie mit dem revolutionären Regime in Rußland zu verfahren sei, reduzierte sich im Banne des zum Greifen nahen "Siegfriedens" scheinbar auf das rein Taktische. Ludendorff hatte im Verlauf des Jahres 1918 erwogen, einen militärischen Feldzug gegen die Bolschewisten zu unternehmen, um ihre Herrschaft ein für allemal, wie er mit leichtfertigem Optimismus mutmaßte, zu beseitigen. Das Auswärtige Amt, allen voran Staatssekretär von Hintze, plädierte, zweifellos von Illusionen über die Beständigkeit des neuen Systems geleitet, dafür, das Gesamte in der Haffner, Sebastian, Von Bismarck zu Hitler. Ein Rückblick, München 1987, S. 141. Baumgart, Winfried, (wie Anm. 22), S. 378 f. 28 Hillgruber, Andreas, (wie Anm. 25), S. 58. 29 Guttmann, Bernhard, Schattenriß einer Generation 1888-1919, Stuttgart 1950, S. 146: Wiedergabe einer Äußerung von Kühlmanns. 26 27

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Ebd.

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Schwebe zu halten und die Genossen um Lenin gewähren zu lassen. Es gelte, umschrieb er seine ganz von den Bedürfnissen der Stunde geprägte Haltung wenige Tage nach Abschluß der ,,zusatzverträge" vom 27. August 1918, "mit den Bolschewisten zu arbeiten oder sie vielmehr zu benutzen, und zwar in einer Weise'.3l, die der eigenen Sache am meisten dienlich sei, nämlich zur ,,Erhaltung Rußlands in seiner Schwäche und zur weiteren Förderung der Eigenentwicklung der abgetrennten Randgebiete im Rahmen unserer Interessen,m. Weil die Diplomaten darüber hinaus das, was in Brest-Litowsk vereinbart worden war, sowieso eher als vorläufig, kaum aber als endgültig ansahen, widersetzten sie sich Ludendorffs Idee, "einen kurzen Schlag auf Petersburg" und "auch einen in Richtung auf Moskau zu führen,m. Dieses Mal obsiegten die Zivilisten aus dem Auswärtigen Amt sogar über die militärischen Heroen der Obersten Heeresleitung. Von dem zwiespältigen Erfolg der deutschen Diplomaten, der für die allgemeine Entwicklung des deutsch-russischen Verhältnisses seit dem Brest-Litowsker Frieden symptomatisch war, profitierte ohne Zweifel Lenin, der die bolschewistische Herrschaft in der gewünschten "Atempause" zu konsolidieren vermochte. "Brest ist dadurch bedeutsam, daß wir es hier zum erstenmal in gigantischem Maßstab, unter unermeßlichen Schwierigkeiten verstanden haben, die Gegensätze zwischen den Imperialisten so auszunutzen, daß zuletzt der Sozialismus dabei gewann", beschrieb er mit rückblickender Gewißheit seine in die Zukunft weisende Strategie, die zu Lasten des sogenannten imperialistischen Lagers und zugunsten der bolschewistischen Herrschaft wirkte: "Wenn wir durchgehalten haben, obwohl unsere militärische Stärke gleich Null war, obwohl wir wirtschaftlich nichts aufzuweisen hatten und uns ununterbrochen auf absteigender Linie dem Abgrund des Chaos zu bewegten; wenn wir durchgehalten haben, so geschah dieses Wunder nur, weil wir den Zwist zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Imperialismus richtig ausnutzten ... dadurch, daß wir der einen imperialistischen Gruppe Zugeständnisse machten, schützten wir uns zugleich vor den Verfolgungen beider imperialistischer Gruppen,,34. Dessen ungeachtet hatte die bolschewistische Revolution dem Deutschen Reich, zumindest vorläufig, einen unschätzbaren Vorteil gebracht: Ihre Existenz hatte sein vorzeitiges, wahrscheinlich sein definitives Ende verhindert. Beinahe schlagartig war dem deutschen Nationalstaat durch eine frappierende Kehrtwendung der unberechenbaren Weltpolitik noch weit mehr zuteil geworden: Der drohende Untergang schien sich gleichsam über Nacht in einen strahlenden Sieg zu verkehren! Für einen historischen Moment wurde den Deutschen im Osten Europas ein riesiges Imperium in die Hände gespielt, das, im Rückblick, über sich hinaus in eine dunkle Baumgart, Winfrled, (wie Anm. 22), S. 254. Ebd.: Denkschrift von Hintzes vom 30. August 1918. 33 Ludendorff, Erlch, (wie Anm. 24), S. 529. 34 Lenin, Wladimir 1., Werke, Bd. 31, Berlin 1964, S. 435: Rede in der Aktivversammlung der Moskauer Organisation der KPR(B), 6. Dezember 1920. 31

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Zukunft verwies. Das tolldreiste Ausmaß und die unnatürliche Gestalt der deutschen Eroberungen trugen ihrerseits dazu bei, das Ende der Hohenzollernmonarchie zu beschleunigen: Als der zweite Anlauf, den die Deutschen im 20. Jahrhundert unternahmen, um eine auf das eroberte Ostimperium gegründete WeltmachtsteIlung zu errichten, knapp ein Menschenalter später erneut scheiterte, waren der Preis und die Opfer, die dafür zu entrichten waren, unvergleichlich höher.

2. Von Weimar zu Hitler

Die deutsche Abweichung vom Westen Der Untergang der Weimarer Republik im Lichte der "Sonderwegs-These" Heinrich August Winkler

Im Jahre 1934 veröffentlichte der Staatsrechtler earl Schmitt eine Studie mit dem Titel "Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches". Der Untertitel lautete: "Der Sieg des Bürgers über den Soldaten". Die Schrift war ein Versuch, die Machtübertragung an Hitler als logisches Resultat der deutschen Verfassungsentwicklung seit dem Jahre 1866 erscheinen zu lassen. Am 5. August 1866 hatte König Wilhelm I. von Preußen das Abgeordnetenhaus auf Veranlassung Bismarcks um Indemnität für die während des Verfassungskonflikts seit 1862 getätigten Staatsausgaben ersucht. Schmitt zufolge war das eine aus der Situation heraus zwar verständliche, aber der Wirkung nach verhängnisvolle Weichenstellung: Der preußische Soldatenstaat glaubte sich damals, gestärkt durch den eben errungenen Sieg über Österreich, eine Anpassung an das Rechts- und Verfassungsdenken des bürgerlichen Liberalismus leisten zu können. Tatsächlich geriet er durch dieses Zugeständnis auf eine schiefe Bahn, nämlich in die Defensive gegenüber den Liberalen, die ihrerseits den ominösen "Geist der Zeit" auf ihrer Seite wußten. "Ihm hat die königliche Regierung durch ihre Bitte um Indemnität das geistige Kampffeld überlassen"!. Das nächste fatale Datum war der 4. August 1914 - der Tag, an dem der deutsche Reichskanzler von Bethmann Hollweg vor dem Reichstag den Einmarsch des deutsches Heeres in Belgien für ein "Unrecht" erklärte, das man wieder gutmachen müsse, womit er laut Schmitt "das deutsche Volksheer an die Verfassungsideale und Rechtsbegriffe seiner außen- und innenpolitischen Feinde" verriet. Auf die "schändliche Kapitulation" vom 4. August 1914 folgte die Verfassungsänderung 1 Schmitt, earl, Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Der Sieg des Bürgers über den Soldaten, Hamburg 1934, S. 19. - Einen wichtigen Anstoß verdanken die folgenden Überlegungen der kritischen Feststellung Eberhard Kolbs von 1990, daß die Weimarer Republik in der Argumentation der meisten Verfechter der These vorn "deutschen Sonderweg" zu kurz kommt; ders., Die Weimarer Republik und das Problem der Kontinuität vorn Kaiserreich zum "Dritten Reich", in: ders., Umbrüche deutscher Geschichte 1866/71. 1918/19.1929/33. Ausgewählte Aufsätze, München 1993, S. 358-372 (361). Im Hinblick auf den Essaycharakter dieses Aufsatzes habe ich den Anmerkungsapparat bewußt knapp gehalten und im wesentlichen auf den Nachweis wörtlicher Zitate beschränkt.

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vom 28. Oktober 1918: Die Einführung der parlamentarischen Monarchie bedeutete den "offenen Verzicht auf den preußischen Soldatenstaat und die verfassungsmäßig sanktionierte Unterwerfung unter die Staats- und Rechtsideale eines eben dadurch siegreichen, erbarmungslosen Feindes. Die Logik der geistigen Unterwerfung vollendete sich in einer widerstandslosen politischen Knechtschaft,,2. Die Weimarer Verfassung, die aus der Niederlage von 1918 hervorging, war aus Schmitts Sicht "nur die verspätete Auseinandersetzung mit dem nicht mehr vorhandenen Soldatenstaat" und insoweit "eine Antwort auf eine entfallene, von der Gegenwart gar nicht mehr gestellte Frage". Der Weimarer Pluralismus, der an die Stelle des Dualismus von Soldat und Bürger trat, konnte die versprochene Einheit noch viel weniger bringen als das Kaiserreich. Daß sich der deutsche Staat trotz der pluralistischen Auflösung zu halten vermochte, verdankte er Schmitt zufolge nur dem plebiszitär legitimierten Reichspräsidenten, dem Gegenpol des parlamentarischen Systems, und der Reichswehr, der es gelungen war, eine parteipolitisch neutrale Kraft zu bleiben. Als die Reichswehr am 20. Juli 1932 auf Weisung des Reichspräsidenten von Hindenburg die geschäftsführende Weimarer Koalitionsregierung in Preußen ihres Amtes enthob, bewies sie noch einmal die "Kraft des alten Staates". Aber der "schwache Rest des preußischen Soldatenstaates" hatte nicht Kraft genug, um das Deutsche Reich politisch zu führen. Das Reich mußte sich wegen des Preußenschlags vor die Schranken des Staatsgerichtshofes ziehen lassen, also der Neutralität unpolitischer Richter unterwerfen. "So fand der folgerichtig zu Ende gedachte bürgerliche Konstitutionalismus seinen Gipfelpunkt eben dort, wo der Nullpunkt des Willens zur politischen Führung lag ... Die Rettung Deutschlands konnte nicht aus dem System einer solchen Legalität kommen. Sie kam aus dem Volke selbst, aus der nationalsozialistischen Bewegung, die im Widerstand gegen die Mächte des Zusammenbruchs von 1918 entstanden war". Erst mit der Machtübertragung an den "politischen Soldaten" Adolf Hitler wurde der erste Schritt auf einen neuen Verfassungsboden getan. ,,Jetzt öffnete sich ein Weg, um klare innenpolitische Entscheidungen zu treffen, das deutsche Volk von der hundertjährigen Vewirrung des bürgerlichen Konstitutionalismus zu befreien und, statt normativer Verfassungsfassaden, das revolutionäre Werk einer deutschen Staatsordnung in Angriff zu nehmen,,3. Es mag dahingestellt bleiben, inwieweit earl Schrnitt mit dieser Deduktion Spuren zu verwischen gedachte. Bis zum 30. Januar 1933 hatte der Kronjurist der Präsidialkabinette die Krisenlösung, die an jenem Tag zustandekam, verhindern wollen - bis hin zur Rechtfertigung eines Staatsnotstands, der nur mit Hilfe der Reichswehr zu exekutieren war. Beschäftigen soll uns an dieser Stelle ein anderes Problem: Das Verhältnis von Kontinuität und Bruch in der politischen Entwicklung zwischen Bismarckreich und "Drittem Reich". Die Thesen Schmitts geben eine 2 3

Schmitt, earl, (wie Anm. 1), S. 41 f. Ebd., S. 43, 47, 49.

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ideologisch verzerrte Antwort auf eine historisch nach wie vor klärungsbedürftige Frage: Inwieweit ist die Machtübertragung an Hitler aus spezifischen Eigenarten der politischen Entwicklung Deutschlands seit Bismarcks Reichsgründung, aus einem "deutschen Sonderweg" oder einer "deutschen Abweichung vom Westen", zu erklären? Die Lösung der deutschen Frage durch Bismarck wurde schon von Zeitgenossen unterschiedlichster Couleur, von den Altkonservativen über die Liberalen bis zu den Sozialisten, als eine ,,Revolution von oben" begriffen. Der Reichsgründer seinerseits hatte gegen diese Kennzeichnung nichts einzuwenden. ,,Revolutionen machen in Preußen nur die Könige", hat er einmal in den sechziger Jahren bemerkt4 . Seine, Bismarcks "Revolution von oben" war die historische Antwort auf eine gescheiterte Revolution von unten: die Revolution von 1848/49. Sie war gescheitert, weil das liberale Bürgertum durch seine doppelte Zielsetzung, gleichzeitig die Einheit und Freiheit Deutschlands herzustellen, objektiv überfordert war. Bismarck erfüllte den Teil der liberalen Forderungen, der mit den Interessen der von ihm repräsentierten altpreußischen Führungsschicht, des Junkertums, vereinbar war: die Einigung Deutschlands unter preußischer Führung. Die Forderung nach Freiheit, nach einem, wenn nicht formell, so doch de facto parlamentarischen System westeuropäischer Prägung, gedachte er hingegen nicht zu verwirklichen. Eine Parlamentarisierung Preußens und Deutschlands hätte die Machtfrage in jedem Fall gegen Rittergutsbesitz und Militär entschieden. Es verstand sich von selbst, daß Bismarck diese Lösung nicht wollen, geschweige denn gegen den König verwirklichen konnte. Für Europa war Bismarcks Lösung der deutschen Frage akzeptabler als die des Parlaments in der Frankfurter Paulskirche. Die Liberalen von 1848 hatten sich nur notgedrungen damit abgefunden, daß Österreich keinen Teil des deutschen Nationalstaats bilden wollte; längerfristig gingen ihre Ambitionen in Richtung auf "Großdeutschland", ja letztlich auf die deutsche Hegemonie über den europäischen Kontinent. Bismarck hingegen erklärte das Deutsche Reich nach 1871 für saturiert und erstrebte für Deutschland nicht mehr Hegemonie, als ihm ohnehin nach der Niederlage Frankreichs und der Annexion Elsaß-Lothringens zugefallen war. Innenpolitisch beruhte das "System Bismarck" nach 1866 für die Dauer von zwölf Jahren auf der Indemnitätsvorlage, die sich als ein nachträgliches Ermächtigungsgesetz charakterisieren läßt. Jenem Teil der bisherigen liberalen Opposition, der auf Bismarcks Ersuchen einging, ist in der Geschichtsschreibung nach 1945, insbesondere von Friedrich C. SeIl, der Vorwurf gemacht worden, er habe vor dem außenpolitisch erfolgreichen Ministerpräsidenten kapituliert5 . Von der historischen Wahrheit ist diese These etwa gleich weit entfernt wie Carl Schmitts gegenteilige Behauptung, im Sommer 1866 habe sich der preußische Soldatenstaat dem libera4 5

Bismarck, Otto von, Die gesammelten Werke, Bonn 1924ff., Bd. 8, S. 459. SelI, Friedrich c., Die Tragödie des deutschen Liberalismus, Stuttgart 1953, S. 208 ff.

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len Zeitgeist gebeugt. Zwischen Bismarck und den späteren Nationalliberalen kam ein Kompromiß zustande, der zunächst beiden Seiten nützte. Der Ministerpräsident und spätere Bundes- und Reichskanzler erhielt innenpolitische Rückendeckung für seine Außenpolitik; die Nationalliberalen konnten der inneren Politik bis 1878 weitgehend ihren Stempel aufdrücken. In der Militärfrage, dem Kern des preußischen Verfassungskonflikts der Jahre 1862 bis 1866, brachte das Indemnitätsgesetz allerdings wirklich nicht mehr als das, was Carl Schmitt in seiner "Verfassungslehre" von 1928 einen "dilatorischen Formelkompromiß" genannt hat6 . Bismarcks Eingeständnis, seine Regierung habe vier Jahre lang gegen die Verfassung verstoßen, enthielt nicht das Versprechen, in einer vergleichbaren Konstellation nicht wieder genauso zu handeln. Der Heereshaushalt des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches wurde der jährlichen Haushaltsbewilligung entzogen und damit gegenüber allen anderen Sektoren des Staatshandelns herausgehoben. Anordnungen des preußischen Königs in seiner Eigenschaft als oberster Kriegsherr bedurften weiterhin nicht der Gegenzeichnung des "verantwortlichen" Kriegsministers. Der von Carl Schmitt so genannte "Dualismus" zwischen Militär- und Verfassungsstaat existierte realiter. Die liberale Ära der Bismarckzeit endete mit der "inneren Reichsgründung" von 1878/79. Daß die Nationalliberalen nicht davon abließen, auf eine Parlamentarisierung des Reiches und Preußens zu drängen, gab Bismarck Anlaß, Kurs auf die Spaltung der bisher wichtigsten ,,Regierungspartei" zu nehmen und ein "Kartell" zwischen den konservativen Parteien und dem gouvernementalen Rest der Nationalliberalen anzusteuern. Der wichtigste materielle Hebel zur Herbeiführung der neuen Kräftekombination war der Übergang vom Freihandel zum Schutzzoll für Eisen und Getreide. Ideologisch flankiert wurde die Umorientierung der Wirtschaftspolitik durch einen Funktionswandel des Nationalismus. Die nationale Parole, noch in den 1860er Jahren eine Waffe des liberalen Bürgertums im Kampf gegen die partikularstaatliche Zersplitterung, mutierte im folgenden Jahrzehnt zu einem Instrument der politischen Rechten. National sein hieß fortan nicht mehr liberal, sondern in erster Linie anti-international, anti-ultramontan und antisozialistisch, häufig auch bereits antisemitisch sein7 • Daß das nationalliberale Bürgertum seine Energien nach 1871 ganz auf den Kampf gegen die sogenannten "Reichsfeinde" konzentrierte - die "schwarzen" während des Kulturkampfes, die ,,roten" im Zeichen des Sozialistengesetzes -, machte das Wesen dessen aus, was der Historiker Wolfgang Sauer als "sekundäre Integration" bezeichnet hats. In gewissem Maß kompensierte die "sekundäre InteSchmitt, earl, Verfassungslehre, Berlin 1928, S. 32 f. Winkler, Heinrich August, Vom linken zum rechten Nationalismus: Der deutsche Liberalismus in der Krise von 1878/79, in: ders., Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1979, S. 36-51. 8 Sauer, Wolfgang, Das Problem des deutschen Nationalstaates, in: Wehler, Hans-U1rich (Hrsg.), Modeme deutsche Sozialgeschichte, Köln 1966, S. 407 -436 (bes. S. 430). 6

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gration" den Mangel an realer Integration, der aus der Vorenthaltung des parlamentarischen Systems resultierte. Es fragt sich allerdings, ob das deutsche Parteiensystem der Bismarckzeit eine parlamentarische Regierungsweise dauerhaft überhaupt gestattet hätte. Die Nationalliberalen hatten für sich allein in den 1870er Jahren keine Mehrheit; sie hätten allenfalls im Verein mit Freikonservativen und Fortschrittspartei regieren können. Aber eine feste Zusammenarbeit zwischen den drei Parteien war fast so schwer vorstellbar wie eine alternative Kombination, die an die Stelle dieses Parteienbündnisses hätte treten können. Erst die Rechtsschwenkung der Rest-Nationalliberalen machte nach den "Kartellwahlen" von 1887 vorübergehend eine parlamentarische Mehrheit aus Nationalliberalen und beiden konservativen Parteien möglich. Aber in der Praxis erwies sich diese Majorität als nicht aktionsfähig, so daß sie die Legislaturperiode nicht überlebte. Die Wahlen von 1890 erbrachten eine Mehrheit der Sitze für Zentrum, Linksliberale und Sozialdemokraten, die alle in Opposition zu Bismarck standen, unter sich jedoch nicht bündnisflihig waren. Gegen Ende von Bismarcks Regierungszeit war die innenpolitische Krise evident. Die Staatsstreichsgedanken des Reichsgründers, die am 2. März 1890 in dem spekulativen Projekt einer Auflösung und Neugründung des Reiches gipfelten, kamen einem Offenbarungseid gleich. Aber auch außenpolitisch war sein "System der Aushilfen" (Lothar Gall) in eine Sackgasse geraten. Bereits Ende 1887 ahnte der Kanzler: "Nach Lage der europäischen Politik ist es wahrscheinlich, daß wir in nicht zu ferner Zeit den Krieg gegen Frankreich und Rußland gleichzeitig zu bestehen haben werden". Es waren nicht erst die Nachfolger Bismarcks, die von dem berühmten "Spiel mit den fünf Kugeln" überfordert wurden9 • Daß Deutschland sich in der Zeit zwischen Bismarcks Entlassung und dem Beginn des Ersten Weltkriegs auf dem Weg einer "stillen Parlamentarisierung" befunden habe, ist eine mittlerweile nicht mehr neue, aber deswegen noch lange nicht richtige Interpretation der verfassungspolitischen Entwicklung. Zutreffender ist eher die These von der wachsenden Polarisierung der deutschen Innenpolitik in den Jahren vor 1914. Das Erstarken der Linken, namentlich der Sozialdemokratie, löste neue Sammlungsbestrebungen von rechts aus. earl Schmitt meint in seiner eingangs zitierten Studie, daß für den preußischen Soldatenstaat nach dem Jahrhundert des Liberalismus nur noch eine "Weiterführung dieser Verfassungslage" in Betracht gekommen sei, nämlich ,,heroischer Untergang im vollen Bewußtsein des verlorenen Postens"lO. Das ist, falls sich dieses Verdikt auch auf die Lagebeurteilung am Vorabend des Ersten Weltkrieges beziehen sollte, gewiß viel zu sehr ex eventu gesehen. Aber soviel läßt sich über die Haltung der maßgeblichen Militärs in der Julikrise von 1914 sagen: Ihr Wille zum Krieg war nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch motiviert - und zwar auf beiden Ebenen im Sinne einer Flucht nach vom. 9 10

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GaU, Lothar, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Berlin 1980, S. 636, 642. Schmitt, earl, (wie Anm. I), S. 37.

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Nachdem diese Flucht im Frühherbst 1918 definitiv gescheitert war, sollten nach dem Willen des starken Mannes des deutschen Militärs, des Generalquartiermeisters Erich Ludendorff, diejenigen Kräfte die politische Verantwortung übernehmen, die seit 1917 einen Verständigungsfrieden gefordert hatten: die Mehrheit des Reichstags, bestehend aus Sozialdemokratie, Zentrum und Fortschrittlicher Volkspartei. Das Kalkül war klar: Die Parlamentarisierung Deutschlands sollte als Vehikel einer Dolchstoßlegende dienen. Ludendorff wollte das Heer von den politischen Folgen der Niederlage dispensieren und die Mehrheitsparteien dadurch diskreditieren, daß sie den zu erwartenden Diktatfrieden gegenzeichneten 11 • Die Mehrheitsparteien des Reichstags, die Parteien der späteren Weimarer Koalition, wollten ihrerseits durch die Oktoberreform von 1918, die das Reich in eine parlamentarische Monarchie verwandelte, Deutschland günstigere Friedensbedingungen verschaffen. Aber der neue Verfassungsstaat stand nur auf dem Papier, weil sich der "Soldatenstaat" mit ihm in der Praxis nicht abfinden wollte: Der Befehl der Seekriegsleitung, die Hochseeflotte gegen England auslaufen zu lassen, richtete sich innenpolitisch gegen die parlamentarische Regierung des Prinzen Max von Baden, war also in der Sache ein Staatsstreichsversuch. Als am 29. Oktober 1918, einen Tag nach dem Inkrafttreten der Verfassungsreform, Kaiser Wilhelm 11., einer Empfehlung des Generalstabschefs von Hindenburg folgend, sich ins Hauptquartier im belgischen Spa begab, notierte der Religionsphilosoph Ernst Troeltsch, ein scharfsinniger Kommentator des Zeitgeschehens, das sei nicht mehr und nicht weniger als eine endgültige Teilung der Regierung: Die monarchisch-militärische und die parlamentarisch-bürokratische Gewalt seien "völlig getrennt und im Kampf,12. Die parlamentarische Monarchie, so urteilt Wolfgang Sauer, sei nicht durch die Revolution gestürzt worden, sondern durch Krone und Militär, die sich von dem neuen Regime genau in dem Augenblick losgesagt hätten, als es "Wirklichkeit anzunehmen drohte, statt, wie geplant, eine bloße Fata Morgana zur Täuschung Wilsons zu bleiben,,13. Die Gegenrevolution gegen die Revolution von oben, als die sich die Oktoberreform durchaus begreifen läßt, ging der Revolution von unten nicht nur zeitlich voraus, sie war die unmittelbare Ursache der letzteren: Als die Matrosen in Wilhelmshaven und Kiel sich gegen die heroische Aufopferung auflehnten, die zumindest vielen von ihnen zugedacht war, traten sie zugleich einem Anschlag auf die neue Verfassungsordnung entgegen. Das Ende des Kaiserreiches enthüllte damit nochmals den grundlegenden "Dualismus" oder, anders gewendet, jenen unaufgelösten Widerspruch zwischen Mili11 Thaer, Albrecht von, GeneraIstabsdienst an der Front und in der OHL. Aus den Briefen und Tagebuchaufzeichnungen 1915 - 1919, hrsg. v. Kaehler, Siegfried A., Göttingen 1958, S.234f. 12 Troeltsch, Ernst, Spektator-Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918/22, Tübingen 1924, S. 21. 13 Sauer, Wolfgang, Das Scheitern der parlamentarischen Monarchie, in: Kolb, Eberhard (Hrsg.), Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, Köln 1972, S. 77 - 99 (93).

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tär- und Verfassungsstaat, der das Bismarckreich seit seiner Gründung prägte. Weil dieser Konflikt bis 1918 nicht wirklich ausgetragen, sondern immer nur - in Gestalt des wiederholten Ringens um einen mehrjährigen Heeresetat - vertagt worden war, muß man dem "deutschen Konstitutionalismus" den Rang eines eigenständigen Verfassungs- und Regimetyps neben der parlamentarischen und der absoluten Monarchie absprechen. Gegenüber Ernst Rudolf Huber, der die gegenteilige Position vertritt, hat Carl Schmitt mit seiner These recht, daß 1866 die entscheidende Machtfrage durch einen dilatorischen Formelkompromiß umgangen wurde l4 . Auf einen Scheinkompromiß aber ließ sich kein dauerhaftes Staatswesen gründen; eine das System qualitativ verändernde Entscheidung mußte früher oder später fallen. Sie fiel 1918/ 19 auf revolutionärem Weg, weil die Revolution von oben, anders als 1866, keinen hinreichenden Rückhalt in der Machtelite hatte, vom "Soldatenstaat" vielmehr im entscheidenden Augenblick desavouiert wurde. Die deutsche Revolution von 1918/19 ist weithin durch das Faktum geprägt, daß sie die erste Revolution in einer hochentwickelten Industriegesellschaft war. Der für eine solche Gesellschaft typische Bedarf an administrativer Kontinuität rief jenen revolutionsfeindlichen "Anti-Chaos-Reflex" hervor, in dem Richard Löwenthai den tieferen Grund dafür sieht, daß es 1918/19 nicht zu einem wirklichen gesellschaftlichen Bruch mit dem Kaiserreich kam 15. Aber nicht nur der Grad der Industrialisierung setzte einer Revolution in Deutschland von vornherein Grenzen. Deutschland kannte gegen Ende des Ersten Weltkrieges seit rund einem halben Jahrhundert das allgemeine gleiche Wahlrecht für Männer und damit einen verbrieften Anspruch der Massen auf politische Teilhabe. Aus diesem Grund lag nach dem 9. November 1918 der Ruf nach baldigen Wahlen zu einer Verfassunggebenden Nationalversarnrnlung gewissermaßen in der Luft. Innerhalb der zehn Wochen zwischen dem Sturz der Monarchie und der Wahl der Nationalversammlung am 19. Januar 1919 hätte dennoch einiges geschehen können, was geeignet gewesen wäre, der erstrebten parlamentarischen Demokratie eine festere gesellschaftliche Grundlage zu geben: erste Schritte zu einer Republikanisierung von Militär und ziviler Verwaltung sowie eine Vergesellschaftung des Steinkohlebergbaus, einer Hochburg der industriellen Demokratiegegner. Die regierenden Sozialdemokraten, denen im November 1918 die Macht unverhofft zugefallen war, scheuten jedoch vor solchen Schritten zurück. Sie trauten sich selbst den für Leitungsaufgaben nötigen Sachverstand nicht zu, fühlten sich nicht im Besitz des für tiefgreifende Umgestaltungen erforderlichen demokratischen Mandats 14 Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3: Bismarck und das Reich, Stuttgart 31988, S. 3ff.; Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 -1918), Köln 1972, S. 146-170. 15 Löwenthal, Richard, Bonn und Weimar: Zwei deutsche Demokratien, in: Winkter, Heinrich August (Hrsg.), Politische Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland 1945 - 1953, GG, Sonderheft 5, Göttingen 1979, S. 9- 25 (11).

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und hielten die Bewältigung der Tagesaufgaben für vordringlicher als die Lösung von Strukturproblemen, die sie der Nationalversammlung vorbehalten wollten. Die Folge der Versäumnisse der ersten Wochen war, was man die Überkontinuität zwischen Kaiserreich und Republik nennen kann. Zu diesem Phänomen trug auch bei, daß die Weimarer Koalitionsparteien - SPD, Zentrum und Deutsche Demokratische Partei - von der Kriegsschuld der deutschen Reichsleitung nicht so offen reden wollten, wie es nach Lage der Akten bereits im Frühjahr 1919 möglich und notwendig gewesen wäre. Sie förderten damit ungewollt die Agitation der nationalistischen Rechten, die ihre Kampagne gegen das "Diktat von Versailles" zu wesentlichen Teilen mit einer deutschen Kriegsunschuldlegende bestritt. Bei den ersten Reichstagswahlen im Juni 1920 gerieten die Parteien der Weimarer Koalition, die im Jahr zuvor die Reichsverfassung noch mit breiter Mehrheit verabschiedet hatten, in die Minderheit. Die Dauerkrise der parlamentarischen Demokratie war damit vorgezeichnet. In ihr entscheidendes Stadium trat diese Krise im Frühjahr 1930. Im März jenes Jahres scheiterte die letzte "Große Koalition", die von den Sozialdemokraten bis zu der unternehmernahen Deutschen Volkspartei (DVP) reichte. Vordergründig zerbrach das von dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller geleitete Parteienbündnis an einem Streit um die Sanierung der Arbeitslosenversicherung. Aber es gab tiefere Gründe für das Zerbrechen der Großen Koalition. An praktische Regierungsarbeit nicht gewöhnt, fielen auch die republikanischen Parteien und nicht zuletzt die Sozialdemokraten immer wieder in Verhaltensmuster der konstitutionellen Monarchie zurück. Sie fühlten sich auch dann gern als Opposition, wenn die eigene Partei an einer Koalitionsregierung beteiligt war. Die Kritiker der parlamentarischen Demokratie auf der Rechten nahmen die offenkundige Instabilität dieses Systems zum Anlaß, seine Abschaffung zu betreiben und die politische Macht auf den Reichspräsidenten zu verlagern. Ein Hebel dazu war die Aufkündigung der Großen Koalition, und eben darauf drängte seit dem Herbst 1929 ein Kartell aus DVP, Schwerindustrie, Großlandwirtschaft, Reichswehrführung und konservativer "Kamarilla" um den Reichspräsidenten von Hindenburg. Daß die SPD in Sachen Arbeitslosenversicherung an einem auf Kabinettsebene bereits erzielten, aber von der DVP inzwischen nicht mehr mitgetragenen Kompromiß festhielt, kam den Architekten der Krise überaus gelegen. Mit der Großen Koalition waren die Möglichkeiten parlamentarischer Regierung in der Tat erschöpft. Wenige Monate nach dem Sturz der Regierung Müller, im Juli 1930, kam, ganz im Sinne des Krisenszenarios der Rechten, die ,,Reserveverfassung" der Weimarer Republik, die Regierung mit Hilfe der Notstandsvollmachten des Reichspräsidenten nach Artikel 48, zum Zuge. Nach den Reichstagswahlen vom September 1930, bei denen die Nationalsozialisten ihren ersten großen Durchbruch erzielten, entschieden sich die Sozialdemokraten, die Minderheitsregierung des Zentrumskanzlers Brüning, das erste Präsidialkabinett, zu tolerieren. Sie taten es nicht nur, weil sie eine Reichsregierung mit Einschluß der Nationalsozialisten oder Deutschnationalen verhindern wollten, sondern weil es ihnen darauf ankom-

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men mußte, im größten deutschen Staat, Preußen, an der Macht zu bleiben. Dort regierte die SPD zusammen mit dem Zentrum und der Deutschen Staatspartei, der Nachfolgerin der Deutschen Demokratischen Partei. Brachte die Sozialdemokratie im Reich Brüning zu Fall, mußte sie damit rechnen, daß unmittelbar darauf der sozialdemokratische Ministerpräsident Preußens, Otto Braun, stürzte. Mit der Regierungsgewalt in Preußen hätte die SPD aber auch die Kontrolle über die preußische Polizei, das wichtigste staatliche Machtrnittel im Kampf gegen den Nationalsozialismus, verloren. Die Tolerierungspolitik gab Weimar noch eine Gnadenfrist. Die Zusammenarbeit zwischen der Sozialdemokratie und den gemäßigten bürgerlichen Parteien gipfelte im Frühjahr 1932 in der Wiederwahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten. Die Unterstützung des ehemaligen Generalfeldmarschalls und überzeugten Monarchisten war für viele Sozialdemokraten eine schwer erträgliche Zumutung. Aber jeder andere Kandidat wäre damals von Ritler geschlagen worden; das "Dritte Reich" hätte nicht am 30. Januar 1933, sondern am 10. April 1932, dem Tag des zweiten Wahlgangs der Reichspräsidentenwahlen, begonnen. Die Kehrseite der Medaille wurde wenige Monate später,.am 20. Juli 1932, sichtbar, als Brünings Nachfolger Franz von Papen das preußische Kabinett Otto Braun, das aufgrund des Ausgangs der Landtagswahlen vom 24. April nur noch geschäftsführend amtierte, auf dem Weg des kalten Staatsstreichs absetzen ließ. Das Ausbleiben von Widerstand seitens der Sozialdemokratie und der Freien Gewerkschaften hatte viele Gründe: die Massenarbeitslosigkeit und die daraus resultierende Furcht, Erwerbslose könnten bei einem Generalstreik die frei gewordenen Arbeitsplätze besetzen; das Mißtrauen gegenüber den Kommunisten, die noch im Jahr zuvor zusammen mit den Rechten die Regierung Braun durch einen Volksentscheid hatten stürzen wollen; die Furcht vor einem Bürgerkrieg, den die demokratische Linke angesichts der überlegenen Machtmittel der Reichswehr und der Kampfverbände der Rechten nur verlieren konnte. Zu den tieferen Gründen der sozialdemokratischen Passivität gehörten aber auch die zwanzig Monate Tolerierungspolitik vom Oktober 1930 bis zu Brünings Sturz Ende Mai 1932. Formell in Preußen und informell im Reich Regierungspartei zu sein und gleichzeitig eine außerparlamentarische Massenbewegung mobilisieren zu wollen, das kam einer Quadratur des Kreises gleich. Die SPD verlor am 20. Juli 1932 die Macht, die sie nur solange hatte behaupten können, weil sie alles auf eine Karte gesetzt hatte: das Festhalten an der Legalität und der Zusammenarbeit mit den gemäßigten bürgerlichen Kräften. Es war das Gesetz, nach dem Weimar angetreten war. Weimar erscheint uns rückblickend als ein Versuch, den Grundwiderspruch des Kaiserreiches, den Gegensatz zwischen wirtschaftlicher und kultureller Modernität auf der einen und der Rückständigkeit des politischen Systems auf der anderen Seite, zu überwinden, Deutschland also auf das politische Niveau der westlichen Demokratien zu heben. Die Wiederherstellung eines bürokratischen Obrigkeitsstaates

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unter Brüning markierte das Scheitern dieses Versuches. Aber nun zeigte sich, daß sich das Rad der Geschichte nicht einfach zurückdrehen ließ. Es gab, dank des allgemeinen Wahlrechts, das 1918 auf die Frauen ausgedehnt wurde, ein tradiertes Recht auf Partizipation, und ebenfalls seit 1918 galt der Grundsatz, daß Regierungen des Vertrauens der Volksvertretung, also auch eines Rückhalts bei der Mehrheit der Bevölkerung, bedurften. Die fortschreitende Ausschaltung des Massenwillens durch die Präsidialkabinette mußte daher massenhaften Protest hervorrufen, und niemand artikulierte diesen Protest geschickter als die Nationalsozialisten. Die Partei Hitlers profitierte davon, daß die Sozialdemokraten seit dem Herbst 1930 als Oppositionspartei ausfielen. Die Nationalsozialisten konnten sich infolgedessen als die einzige wirklich oppositionelle Kraft rechts von den Kommunisten und gleichzeitig als die Alternative zum "Marxismus" sowohl in seiner bolschewistischen wie auch in seiner sozialdemokratischen Spielart ausgeben. Die NSDAP appellierte nicht nur an den überlieferten Anspruch der Massen auf politische Teilhabe, sondern auch an das verbreitete Ressentiment gegenüber dem neuen, angeblich von den Siegern des Weltkriegs oktroyierten, also undeutschen parlamentarischen System, das den Willen des Volkes verfälsche. Was die Nationalsozialisten der parlamentarischen Demokratie und dem Präsidialregime entgegensetzten, war ein System, das sie als Ausdruck des wahren Volkswillens ausgaben, den durch Akklamation sich legitimierenden "Führerstaat". Es war der pseudodemokratische Charakter des Nationalsozialismus, der diesen so attraktiv machte, und in ebendiesem Charakter erwies sich Hitlers Bewegung als Nutznießerin der widerspruchsvollen Modernisierung Deutschlands seit Bismarcks ,,Revolution von oben". Die Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie von Weimar war um die Jahreswende 1932/33 längst keine Option mehr. Die Mehrheit der Wähler hatte gegen Weimar votiert. Die letzten Alternativen zur Machtübertragung an Hitler waren zwei Varianten von Verfassungsbruch: eine "milde" in Gestalt der Ignorierung des Mißtrauensvotums einer nicht regierungsfähigen Reichstagsmehrheit (von Carl Schmitt schon 1928 in seiner "Verfassungslehre" gerechtfertigt) und, sehr viel schärfer (und ebenfalls, nämlich im September 1932, von Schmitt sanktioniert), die Auflösung des Reichstags unter Verzicht auf Neuwahlen innerhalb der von der Verfassung gesetzten Frist von 60 Tagen. Ernsthaft Zur Debatte stand in der Spätphase Weimars nur die zweite Krisenlösung, die auf eine mehr oder minder verhüllte Diktatur der Reichswehr hinausgelaufen wäre. Im August und November 1932 hatte sich Reichspräsident von Hindenburg zweimal bereit erklärt, diesen Weg zu gehen. Als sich das Kabinett von Schleicher am 16. Januar 1933 für die Auflösung des Reichstags und den Aufschub der Neuwahlen bis in den Herbst aussprach, verweigerte Hindenburg die Zustimmung. Er machte damit die Bahn frei für die Kanzlerschaft Hitlers 16 . 16 Kolb, Eberhard I Pyta, Wolfram, Die Staatsnotstandsplanung unter den Regierungen Papen und Schleicher, in: Winkler, Heinrich August (Hrsg.), Die deutsche Staatskrise 19301933. Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992, S. 155 -181; Schrnitt, earl,

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Daß Hindenburg sich zuletzt, wenn auch widerstrebend, für Hitler entschied, ging auf den Druck seiner Umgebung zurück, in der das ostelbische Preußen dominierte. Die Vertreter des hochverschuldeten Rittergutsbesitzes verfügten über das (von Carl Schmitt so genannte) Privileg des ,,zugangs zum Machthaber", nämlich dem Reichspräsidenten, und damit über einen politischen Einfluß, der, entgegen einer nicht nur unter Marxisten vertretenen Meinung, der wirtschaftlich sehr viel potenteren Großindustrie abging 17 . Im Mai 1932 hatten die Agrarier diesen Einfluß genutzt, um Brüning als "Agrarbolschewisten" zu denunzieren und seinen auch von der Reichswehr betriebenen Sturz zu beschleunigen. Im Januar 1933 richteten sie ähnliche Vorwürfe gegen Schleicher und begründeten dies unter anderem damit, daß der Kanzler nichts unternehme, um parlamentarische Enthüllungen über den "Osthilfeskandal", den Mißbrauch staatlicher Subventionen für die ostdeutschen Rittergüter, zu verhindern. Wie im Jahr zuvor fand die Kampagne der Junker Anfang 1933 bei Hindenburg ein offenes Ohr. Die Kontinuität zwischen Kaiserreich und Republik wurde damit in der Schlußphase von Weimar nochmals augenfällig: Eine Machtelite, die wie keine andere das vorindustrielle Deutschland verkörperte, deren gesellschaftliche Position auch durch die Revolution von 1918 / 19 nicht ernsthaft erschüttert worden war, spielte bei der Zerstörung der ersten deutschen Demokratie und der Machtübertragung an Hitler eine bis heute von vielen verkannte Schlüsselrolle. Der 30. Januar 1933 bedeutete nicht nur das Ende der Weimarer Republik, sondern auch das Ende des Deutschen Reiches als Rechts- und Verfassungsstaat. So gesehen, markiert dieses Datum den tiefsten Kontinuitätsbruch seit der Gründung des Deutschen Reiches. Möglich wurde die Auslieferung der Macht an Hitler aber nur auf Grund der historischen Verschleppung der Freiheitsfrage, die zu den Hypotheken von Bismarcks "Revolution von oben" gehört. Die Revolution von 1918/ 19 beseitigte diese historische Erblast nur zu einem geringen Teil. Die Überkontinuität zwischen Monarchie und Republik bildet damit ein wichtiges Glied in der Kette der Bedingungen, die den 30. Januar 1933 ermöglichten. Was an diesem Tag begann, war nicht, wie Carl Schmitt 1934 meinte, die Befreiung des "deutschen Volkes von der hundertjährigen Verwirrung des bürgerlichen Konstitutionalismus,,18. Es war vielmehr die äußerste Zuspitzung der historischen Abweichung Deutschlands vom Westen und zugleich das letzte Stadium der Selbstzerstörung des von Bismarck gegründeten ersten deutschen Nationalstaats.

(wie Anm. 6), S. 345; Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Das Kabinett von Papen, 1. Juni bis 3. Dezember 1932,2 Bde., bearb. von Minuth, Karl-Heinz, Bd. 2, Boppard 1989, S. 580 (Ministerbesprechung vom 14.9. 1932). 17 Schrnitt, earl, Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, PfuIIingen 1954. 18 Ders., (wie Anm. 1), S. 49.

Der Kampf um das Monopol Die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft und der Schenker-Vertrag 1931

Gerhard Kock

Wer Anfang dieses Jahrhunderts von einem Ort in Deutschland zum anderen reisen oder Güter versenden wollte, bediente sich der Eisenbahn. Aufgrund seiner Überlegenheit über jede andere Landbeförderung hatte dieses modeme, wirtschaftliche und schnelle Verkehrsmittel zumindest für den Fernverkehr ein Beförderungsmonopol erlangt und brachte den deutschen Ländern als seinen Eigentümern satte Rendite. Nach dem Ersten Weltkrieg blieb die aus den Ländereisenbahnen zusammengefügte Reichsbahn das wichtigste und größte Unternehmen Deutschlands, das als größter Arbeitgeber und Investor in Deutschland die gesamte deutsche Volkswirtschaft maßgeblich beeinflußte. In diesen Jahren entwickelte sich jedoch aus dem natürlichen Monopol der Reichsbahn ein Wettbewerbsmarkt, in dem das Automobil als neuer Konkurrent durch die rasante technische Entwicklung seine anfänglichen Nachteile - Unzuverlässigkeit, Unwirtschaftlichkeit und Unsicherheit - zunehmend kompensieren konnte. Im Weltkrieg hatten die Kraftfahrzeuge erstmals ihre Alltagstauglichkeit bewiesen. Seit 1916 von den Militärverwaltungen aus Lastkraftwagen aufgebaute "Immobile Kraftfahrkolonnen" bildeten die Keimzelle eines regelmäßigen Kraftfahrzeuggüterverkehr, der nach Kriegsende in harte Konkurrenz zu dem Güterverkehr der Eisenbahn trat. Im folgenden soll der sich entwickelnde Konkurrenzkampf zwischen Eisenbahn und Lastkraftwagen untersucht werden I. Im Mittelpunkt steht dabei ein Anfang 1 Eine Monographie zu den Anfangen des Schiene-Straße-Konflikts in Deutschland steht noch aus. Die wenigen Arbeiten, die bisher zu diesem Thema entstanden sind, sind in der Regel dadurch gekennzeichnet, daß sie den Konflikt auch heute noch aus einer parteilichen Perspektive - der der Eisenbahn oder der des LKW - betrachten (Vgl. den Literaturbericht von Kühne, Thomas, Massenmotorisierung und Verkehrspolitik im 20. Jahrhundert: Technikgeschichte als politsche Sozial- und Kulturgeschichte, in: NPL 41 (1996) S. 196 - 229). Die dadurch bedingte Verengung der Fragestellung auf das Pro oder Contra eines bestimmten Verkehrsmittels blendet aber weiterreichende Problemkreise aus, die in dem Konflikt Schiene-Straße durchaus angelegt sind. Zu nennen ist hier zum einen die Frage nach der Modernisierung der Gesellschaft, vor allem aber die nach der Interdependenz von politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungsprozessen. Dies ist um so bedeutsamer, als sich die Anfange des Schiene-Straße-Konfliktes parallel zur letztlich gescheiterten

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1931 zwischen der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft und der Speditionsfirma Schenker geschlossener Vertrag, der im gesamten öffentlichen Leben in Deutschland eine heftige Reaktion auslöste und, wie der damalige Reichskanzler Brüning in seinen Memoiren später schrieb, "zweimal fast den Sturz der Regierung herbei [geführt hat]"2. Die mit großer Leidenschaft geführte Auseinandersetzung um den sogenannten Schenker-Vertrag war das zentrale Ereignis in einem vielschichtigen Entwicklungsprozeß, der die unterschiedlichsten gesellschafts-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Fragen der Zeit berührte. Nicht zu Unrecht hieß es in der zeitgenössischen Publizistik, der Vertrag sei geeignet, "das deutsche Verkehrs gewerbe auf eine vollständig neue Grundlage zu stellen,,3. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich an jedem Bahnhof einzelne Fuhrbetriebe angesiedelt, die den Transport der Güter vom Kunden bis zum Bahnhof und vom Bahnhof bis zum Kunden selbständig durchführten und mit diesem abrechneten. Dieser sogenannte Rollfuhrdienst wurde durch den Vertrag nun exklusiv der Spedition Schenker übertragen. Der Kunde sollte hierfür erstmals für das ganze Reich einheitliche und von der Reichsbahn festgelegte Sätze bezahlen. Schenker versprach im Gegenzug, sich der Fuhrunternehmer zu bedienen, die bislang auf eigene Rechnung für den Rollfuhrdienst gesorgt hatten. Der Preis, den die von ihr beauftragten Fuhrunternehmer dafür zu zahlen hatten, war der völlige Verzicht auf jeden Güterfernverkehr mit Lastkraftwagen. Die Reichsbahn wollte also ihr noch bestehendes Transportmonopol nutzen, um sich mit Hilfe der Speditionsfirma Schenker der unliebsamen Konkurrenz der LKW-Transporteure zu entledigen. In einem Zusatzvertrag hatte die Deutsche Reichsbahn die Firma Schenker zudem aufgekauft, diese Tatsache jedoch geheimgehalten. Aber auch ohne Kenntnis von diesem Kauf war die öffentliche Ablehnung des sogenannten Bahnspeditionsvertrages allgemein und fast einhellig. In die Forderung, den Vertrag nicht in Kraft treten zu lassen, stimmten neben dem direkt betroffenen organisierten Speditionsgewerbe und dem Reichsverband der deutschen Automobilindustrie alle im Reichstag vertretenen Parteien, die Reichsregierung und die Gewerkschaften ein. Die Gründe für die Ablehnung betrafen unterschiedliche Aspekte. An erster Stelle stand hier das Verfahren der Vertragsverhandlungen und der Bekanntmachung. Empört wurde zur Kenntnis genommen, daß nicht einmal die Reichsregierung über ersten deutschen Demokratie entwickelten und vielfältig mit ihren Ausgangsbedingungen und neuen Institutionen verwoben waren. Zur Auseinandersetzung zwischen Eisenbahn und Kraftwagen im Personenverkehr ausführlich: Zatsch, Angela, Staatsmacht und Motorisierung am Morgen des Automobilzeitalters, Konstanz 1993, und Kirchberg, Peter, Die Motorisierung des Straßenverkehrs in Deutschland von den Anfangen bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Niemann, Harry I Hermann, Armin (Hrsg.), Die Entwicklung der Motorisierung im Deutschen Reich und den Nachfolgestaaten, Stuttgart 1995, S. 9 - 22. 2 Brüning, Heinrich, Memoiren 1918 - 1934, Stuttgart 1970, S. 259. 3 Teubner, Der Lastkraftwagenverkehr nach dem Schenker-Vertrage, in: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen 71 (1931), 12.3.1931, S. 285.

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diesen einschneidenden Vertrag informiert worden war. Im Hintergrund stand dabei die Frage, ob die Regierung als Besitzer der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft einen Vertrag genehmigen durfte, der augenscheinlich eine akute Gefahr für einen ganzen Gewerbezweig - nämlich das Speditions- und Fuhrgewerbe - zu werden drohte. Besorgt äußerten sich viele Kommentatoren auch über die Tatsache, daß das wichtigste deutsche Unternehmen mit einem scheinbar in ausländischer Hand befindlichen Konzern kooperieren sollte. Dabei spielte die Tatsache eine Rolle, daß die Reichsbahn als Pfand für die deutschen Reparationsleistungen von immenser Bedeutung war. Darüber hinaus wurde die Frage öffentlich diskutiert, unter welchen Bedingungen die deutsche Gesellschaft überhaupt Maßnahmen eines Quasi-Monopolisten zur Wahrung seiner Monopolstellung unterstützen wollte. Die Reichsbahn war aus verschiedenen Gründen das volkswirtschaftlich wichtigste Unternehmen in Deutschland. Sie war erst nach dem Krieg aus Länderbesitz auf das Reich übergegangen und hatte sich in den frühen zwanziger Jahren zu einer wichtigen Einnahmequelle für den Staat entwickelt. In den Verhandlungen mit den Alliierten wurde die Reichsbahn als wertvollster Teil des deutschen Volksvermögens in die Reparationsfrage mit einbezogen und schließlich 1924 aus der unmittelbaren staatlichen Verwaltung herausgelöst. Als Aktiengesellschaft mit dem Namen Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft (DRG) war sie nun ein selbständiges Unternehmen, das in den meisten unternehmerischen Entscheidungen unabhängig war, jedoch in hundertprozentigem Staatsbesitz verblieb und unter der Kontrolle der Alliierten stand4 . In der Folge hatte das Unternehmen eine ganze Reihe unterschiedlicher und sich teilweise widersprechender Aufgaben zu erfüllen. Es mußte betriebswirtschaftlich arbeiten, da sich sein Besitzer - das Deutsche Reich - in einem internationalen Vertrag verpflichtet hatte, aus dem Erlös des Unternehmens einen wesentlichen Teil seiner Reparationsverpflichtungen zu bestreiten. Zudem sollte es den Reichshaushalt durch weitere Überschüsse entlasten. Auf der anderen Seite mußte es durch infrastrukturelle Maßnahmen der gesamten deutschen Volkswirtschaft dienen und durch Arbeitsbeschaffung zu einer Belebung der Konjunktur beitragen. Die Reichsbahn war die größte Auftraggeberin für die deutsche Wirtschaft, wodurch sich zusätzliche politische Aufgaben und Erwartungen ergaben. Der Förderung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung diente die Reichsbahn auch durch die sich aus der Eisenbahnverkehrsordnung ergebende Verpflichtung, Waren und Personen im gesamten Reich für alle zu den gleichen Kosten zu transportieren, sowohl auf rentablen wie auf nicht-rentablen Strecken. Der gesetzlich festgelegte Tarif- und Beförderungszwang sorgte für die gleiche Behandlung aller Verfrachter. Auch das Tarifsystem war in den Dienst der volkswirtschaftlichen Interessen gestellt. Das Transportgut war in verschiedene "Preisklassen" eingeordnet, um wichtige Massengüter wie Kohle zum Teil unter dem Selbstkostenpreis befördern zu können, während zum Ausgleich dafür die Tarife für Fertigfabrikate, die 4

Vgl. hierzu Ruser, Ursula-Maria, Die Reichsbahn als Reparationsobjekt, Freiburg 1981.

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sogenannten oberen Wagenladungsklassen und das Stückgut, erheblich teurer waren. Die Tarife mußten zudem von der Reichsregierung genehmigt werdens. LKW und Eisenbahn: ein neues Konkurrenzverhältnis

Der Erste Weltkrieg bedeutete den Beginn der wirtschaftlichen Verwendung des Lastkraftwagens 6 . Für den Einsatz an der Front von den Militärs noch für untauglich befunden, tat er für die Versorgung der "Heimatfront" seit 1916 nützliche Dienste, als die Militärverwaltungen über das gesamte Reich ein flächendeckendes Netz von stationären Kraftwagenkolonnen legten. Diese sollten die durch die Beschlagnahmungen der meisten Zugpferde und Bahnwaggons entstandenen Lücken in der Versorgung der Bevölkerung schließen. Hieraus entwickelte sich die Infrastruktur für einen neuen Verkehrsträger: den gewerblichen Güterkraftverkehr. Nach dem Krieg gab es 107 LKW-Kolonnen mit 2.000 Kraftwagen, die sich auf 14 Kraftverkehrsämter verteilten 7 • In der Folgezeit erweiterte der LKW die Transportmöglichkeiten entscheidend, und auch private Fuhrunternehmer nutzten neben ihren Pferdefuhrwerken immer häufiger den Lastkraftwagen. Der sich entwickelnde LKW-Verkehr, der in der Nachkriegszeit einen Ausfall wesentlicher Teile des Eisenbahnnetzes kompensieren mußte, erforderte natürlich eine gesetzliche Regelung 8 . Bereits am 24. Januar 1919 wurde eine erste Kraftfahr5 Dieser Zwiespalt zwischen betriebswirtschaftlicher und volkswirtschaftlicher Prioritätensetzung sorgte während der gesamten Weimarer Republik für Konfliktstoff, da zum einen die politische Bewertung von Unternehmensentscheidungen immer schwierig ist und zum anderen die Politik in der kritischen Situation der Weltwirtschaftskrise seit 1929 von ihrem wichtigsten Besitz starke Impulse zur Überwindung der Krise erwartete. Zu nennen sind hier z. B. der Konflikt um die Tariferhöhung 1928 und die Dorpmüller-Kontroverse. Vgl. hierzu verschiedene Aufsätze von Alfred Mierzejewski: The Dorpmüller Controversy of 1926. Cabinet Politics, Reparations and Railways in the Weimar Republic, in: The International History Review (1992), S. 701-716, und The German National Railway Company, 1924 - 1932: Between Private and Public Enterprise, in: Business History Review 67 (1993), S. 65 - 85. 6 Für das folgende vgl. Borscheid, Peter, LKW kontra Bahn. Die Modernisierung des Transports durch den Lastkraftwagen in Deutschland bis 1939, in: Niemann/Hermann (wie Anm. 1), S. 23 - 38. 7 "Im Krieg war also ein staatliches Fuhrunternehmen gegründet worden, das der Öffentlichkeit bereits sehr eindrucksvoll die vielfaltigen Vorteile des Lastkraftwagens demonstrierte und die Automobilindustrie ermunterte, an der technischen Fortentwicklung weiter zu arbeiten." (Ebd., S. 25) Zahlen bei Piepenhagen, Günther, Die Stellung des gewerblichen Kraftverkehrs in der deutschen Verkehrswirtschaft, Bühl-Baden 1936, S. 8. 8 Die Vater der Weimarer Reichsverfassung hatten vorausblickend dafür gesorgt, daß für eine zukünftige Gestaltung des Verkehrswesens keine Einigung zwischen den Ländern erzielt werden mußte, wie es bei der Verreichlichung der deutschen Eisenbahnen 1919/1920 noch notwendig war, denn aufgrund des Artikels 7 der Weimarer Reichsverfassung war die Gesetzgebung für den Verkehr mit Kraftfahrzeugen von Anbeginn an dem Reich vorbehalten: "Das Reich hat die Gesetzgebung über ( ... ) die Eisenbahnen, die Binnenschiffahrt, den Verkehr mit Kraftfahrzeugen zu Lande, zu Wasser und in der Luft, sowie den Bau von Landstraßen,

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linien verordnung verabschiedet, welche die regelmäßige Beförderung von Personen und Sachen gegen Entgelt auf bestimmten Strecken konzessionspflichtig machte 9 • Damit wurden allerdings nur unzureichende gesetzliche Grundlagen geschaffen, denn der sich entwickelnde gewerbliche Güterfernverkehr mit Kraftfahrzeugen füllte nicht nur die Lücken im bestehenden Eisenbahnnetz und ersetzte das Pferdefuhrwerk für Transporte in von den Eisenbahnstrecken weit abgelegene Ortschaften. Durch den Wettbewerb mit anderen LKW-Betreibern dazu gezwungen, richteten mehr und mehr Fuhrbetriebe Parallelverkehre zu den verkehrsreichen und damit profitablen Schienensträngen ein, wo allein noch Aussicht auf eine gewisse Rentabilität der Betriebe bestand. Dort entwickelte sich der Wettbewerb mit dem bereits bewährten Schienenverkehr zum ,,ruinösen Konkurrenzkampf'lO um das tariflich wertvollste Reservat der Eisenbahn, nämlich den Stückgutverkehr und den Wagenladungsverkehr der hochtarifierten Klassen. Da die Anlagen der Reichsbahn nicht nur einen beträchtlichen Wert besaßen, sondern auch erhebliche Fixkosten verursachten, bedurfte es für einen wirtschaftlichen Betrieb dieser Anlagen einer hohen Auslastung. Der Versender von Waren machte seine Entscheidung für LKW oder Bahn von den vier Faktoren Regelmäßigkeit, Sicherheit, Schnelligkeit und Preis abhängig. Diese Perspektive war für die Reichsbahn bedrohlich, da der LKW nicht nur technisch immer zuverlässiger, schneller und bequemer wurde, sondern zudem auch billiger. Das beim Bahntransport notwendige mehrfache Auf- und Umladen auf dem Weg vom Versender bis zum Kunden sorgte dafür, daß die Bahn erst auf große Entfernungen ihre Vorteile ausspielen konnte. In einer zeitgenössischen Studie erklärte Heder den Kraftwagen deshalb zum schnelleren Beförderungsmittel, "besonders auf Nahentfernungen bis zu 200 bis 300 kmul1 • Bei der Frage der Transportkosten arbeitete die Zeit ebenfalls gegen die Eisenbahn. In Heders Berechnung lag die kostenmäßige Wettbewerbsgrenze eines lO-t-Lastzuges bei einer Streckenentfernung von etwa 56 bis soweit es sich um den allgemeinen Verkehr und die Landesverteidigung handelt." (Zit. n. Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. 8. 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis von G. Anschütz, Berlin 91929, S. 55). 9 Das am 26. 8. 1925 erlassene Kraftfahrliniengesetz übernahm die Bestimmungen der Verordnung von 1919, verzichtete aber wie schon die Verordnung auf eine eindeutige Klärung des Begriffes ,Kraftfahrlinien'. Damit blieb unklar, welche LKW-Transporte unter die Regelungen fielen. Diese Definition lieferte erstmals die am 20. 10. 1928 erlassene Kraftfahrlinienverordnung. Demnach sprach man von einer Kraftfahrlinie, wenn diese dem öffentlichen Verkehr diente und mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit betrieben wurde. 10 Hammer, Karl-Heinrich, Der deutsche Eisenbahn- und Kraftfernverkehr. Entwicklung und Krisen seit dem ersten Weltkrieg und die Zukunftsaufgaben der deutschen Verkehrspolitik. Kiel 1951, S. 91. 1l Heder, Ladislaus von, Die Konkurrenzfähigkeit der Kraftwagen und Kraftwagenlinien gegen Eisenbahn und Kleinbahn unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in Deutschland. Berlin 1931, S. 105.

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75 km, die tarifmäßige bei 145 bis 170 Entfernungskilometern bei Transportgut, das auf der Eisenbahn nach der Wagenladungsklasse A berechnet wurde l2 . Die privaten Fuhrunternehmer stellten trotz des raschen Anwachsens des LKWBestandes für die Bahn während der gesamten 20er Jahre noch keine unmittelbare Gefahr dar. Die Betriebsleistungen der Reichsbahn im Güterverkehr waren nach dem Krieg - unterbrochen lediglich durch die Zeit der Ruhrbesetzung - bis Ende der zwanziger Jahre von gut 63 Milliarden Tarif-Tonnen-Kilometern auf über 76 Milliarden Tarif-Tonnen-Kilometern angestiegen. Seit Mitte 1929 sanken sie jedoch und 1930 fiel der Wert mit gerade mal 61 Milliarden Tarif-Tonnen-Kilometern unter den von 1921 13 . Auf der anderen Seite stieg die Zahl der Lastkraftwagen von 30.267 im Jahr 1921 auf 157.432 im Jahre 1930. Auch wenn dieser Zuwachs überproportional auf die Lastkraftwagen mit einer Nutzlast unter drei Tonnen zurückzuführen ist, die vor allem für den innerörtlichen Lieferverkehr eingesetzt wurden und damit nicht die Bahn, sondern das Pferdefuhrwerk verdrängten, verdoppelte sich in diesem Zeitraum auch die Zahl der direkt mit der Eisenbahn konkurrierenden schweren LKW mit einer Nutzlast von über zehn Tonnen von 20.835 auf 48.174 LKW I4 . Für die Reichsbahn ergaben sich also bedrohliche Perspektiven. Der neue Konkurrent entwickelte sich zu einer wachsenden Herausforderung, der die Reichsbahn mit unterschiedlichen Abwehrmaßnahmen begegnete. Sie erhöhte die Qualität ihrer Leistungen durch transporttechnische Maßnahmen, veränderte ihre Tarifpolitik, um über den Preis mit dem LKW zu konkurrieren und bemühte sich unter Verweis auf ihre volkswirtschaftlichen Aufgaben um eine zu ihren Gunsten ausfallende gesetzliche Regelung des Verhältnisses Schiene und Straße. Durch den verstärkten Einsatz von Durchgangszügen sorgte die Reichsbahn bereits seit Mitte der zwanziger Jahre für eine Verkürzung der Transportdauer. In die gleiche Richtung zielte die Einführung sogenannter leichterer Güterzüge (Leigs) im Jahr 1926. Diese bestanden aus zwei kurzgekoppelten Wagen, einem Packwagen und der Lokomotive. 1932 besaß die DRG 270 solcher Leigs, die immerhin vier Prozent aller Güterleistung erbrachten 15. Einen nennenswerteren Beitrag zur Rationalisierung leistete die Einführung eines modemen Bremssystems, der sogenannten Kunze-Knorr-Bremse, die den Einsatz von Bremsern überflüssig machte l6 . Vielversprechend war zudem die in diesen Jahren einsetzende Entwicklung 12 Ebd., S. 98. Emil Merkert hatte für das Bezugsjahr 1925 noch wesentlich höhere Kosten errechnet. (Merkert, Emil, Der Lastkraftwagenverkehr seit dem Kriege, insbesondere sein Wettbewerb und seine Zusammenarbeit mit den Schienenbahnen, Berlin 1926). 13 Genaue Zahlen bei Hammer, wie Anm. 10, S. 70. 14 Hammer unterscheidet wohl richtig zwischen den LKW unter und über drei Tonnen Nutzlast, "da nur die letzteren für einen etwaigen Wettbewerb mit der Schiene als bedeutungsvoll angesehen werden." (Ebd., S. 77, Zahlen S. 76). 15 Piepenhagen, wie Anm. 7, S. 12. 16 Ebd.

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des Behälterverkehrs, der auch für eine Zusammenarbeit von Schiene und Straße große Erfolge versprach. Seit 1933 wurde zudem an der Entwicklung des sogenannten "fahrbaren Anschlußgleises" für einen Haus-zu-Haus-Verkehr gearbeitet. Alle diese Maßnahmen konnten aber mit der technischen Entwicklung des LKW nicht Schritt halten, der durch die sich langsam durchsetzende Luftgummibereifung immer höhere Transportgeschwindigkeiten erzielen konnte. Auch über den Preis bekämpfte die Reichsbahn den ungeliebten neuen Konkurrenten. Seit 1927 entwickelte die DRG das System der sogenannten K-Tarife. Das K stand sowohl für Kraftfahrzeug wie auch für Kampf und bedeutete eine Bezuschussung der Transporte, auf denen die Bahn mit dem LKW konkurrierte. Ende 1929 gab es 190 dieser K-Tarife, die keine Wettbewerbstarife waren, sondern Maßnahmen zur direkten Bekämpfung des LKW-Verkehrs. Sie wurden solchen Kunden gewährt, die entweder bereits auf den LKW umgestiegen waren oder die mit dem Umstieg drohten. Da jeder einzelne dieser Tarife jedoch vom Reichsverkehrsminister genehmigt werden mußten, waren diese Tarifrnaßnahmen ein Politikum, die Zuschußpolitik der Reichsbahn wohl das umstrittenste Kapitel in der Auseinandersetzung Schiene - Straße l7 . Letztendlich konnten die K-Tarife den Aufstieg des LKW-Verkehrs nicht stoppen. Seit 1929 verschärfte sich im Zuge der Weltwirtschaftskrise der Konflikt zwischen der Reichsbahn auf der einen und dem Spediteursgewerbe sowie dem Reichsverband der Automobilindustrie auf der anderen Seite. In einer nun in verschärfter Form und mit großem Engagement geführten öffentlichen Auseinandersetzung, die im folgenden etwas genauer aufgerollt werden soll, forderte die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft von der Regierung den Schutz ihres Monopols durch künstliche Tarifhaltung mit Argumenten der Volkswirtschaft (Beförderungszwang, politische Lasten der DRG). Das Speditionsgewerbe, das durch die Vertreter der Automobilindustrie unterstützt wurde, wehrte sich mit Argumenten der Gewerbefreiheit, des technischen Fortschritts und der Arbeitsplatzsicherung 18 • Den Auftakt zu diesem Schlagabtausch bildete eine Rede des Generaldirektors der Reichsbahn, Julius Dorpmüller, am 30. Januar 1929 vor Parlamentariern, Wirtschaftsführern und Pressevertretern 19 . Dorpmüller warnte hier vor den angeblichen Gefahren des Kraftwagenverkehrs für die deutsche Volkswirtschaft. Die EinnahmeausflilIe der Reichsbahn durch den LKW betrügen etwa 250 Millionen ReichsEbd., S. 25. Diese direkte Auseinandersetzung zwischen Reichsbahn und Spediteursgewerbe wurde' von vermeintlich unabhängigen Veröffentlichungen flankiert, die sich der Argumente entweder der einen oder der anderen Seite bedienten. Im Einzelnen soll diese Literatur nicht analysiert werden. Als Fürsprecher der Bahn seien vor allem die von der Reichsbahn herausgegebene Zeitschrift Die Reichsbahn sowie die Zeitschrift des Vereins der deutschen Eisenbahnverwaltungen genannt, aber auch z. B. Heinrich, Alfred, Die Wettbewerber der Reichsbahn, Berlin 21930, und Walter, Georg, Eisenbahn und Kraftwagen. Ein dringendes Verkehrsproblern, Berlin 1929. Fürsprecher des LKW-Gewerbes ist z. B. Heder, wie Anm. 11. 19 Dorpmüller, Rede vom 30. I. 1929, abgedr. in: Die Reichsbahn 5 (1929), S. 109 - 116. 17

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mark jährlich - eine Summe, die im Laufe der folgenden Jahre auf 500 Millionen RM ansteigen könnte. Auf der Reichsbahn lägen zudem kriegs bedingte erhebliche Pensionslasten, die 1929 etwa 40 Prozent der Gehälter betrügen. Diese seien eine nur schwer zu tragende Hypothek, die die Kraftverkehrswirtschaft ihrerseits nicht auszuhalten habe2o . Zudem sei die Belastung der Reichsbahn durch die von ihr zu leistende Verkehrssteuer bezogen auf den Umsatz neun- bis zwanzigfach höher als die der Autos. Auch der Beitrag der Reichsbahn zu den Reparationen betrage das 3,8 fache der Belastung, die dem Kraftwagenverkehr auferlegt sei. Aber nicht nur in bezug auf die Abgaben werde das Auto einseitig bevorzugt. Die Kraftfahrzeuge trügen lediglich ein Drittel der Kosten für die Unterhaltung und den Ausbau der Straßen, während die Eisenbahn selber für Unterhalt, Überwachung und Sicherung ihrer Anlagen und Strecken sorgen müsse, schließlich sei die Haftpflicht der Eisenbahnen wesentlich umfangreicher als die des LKW-Gewerbes. Insgesamt ergebe sich somit eine starke Benachteiligung der Eisenbahnen, die ihre Zukunft als Verkehrsträger insgesamt infrage stellen würde, so daß eine gesetzgeberische Abwehr der neuen Konkurrenz notwendig sei 2!. Der Vortrag Dorpmüllers erregte öffentliches Aufsehen und eine Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Im Mai 1929 überreichte der Reichsverband der Automobilindustrie (RDA) der Reichskanzlei eine als direkte Antwort auf die Dorpmüller-Rede konzipierte Schrift22 . Der Kraftwagen - so die Schrift des RDA bedeute eine Bereicherung des Transportwesens, mit dem jene verkehrswirtschaftlichen Probleme bewältigt werden könnten, "die in der Zeit der Schienenbahnen nur zu Teillösungen geführt zu werden vermochten,,23. Der Verkehr werde beschleunigt und verbilligt. Die Entwicklung habe dahin geführt, "daß der Kraftwagen vom Zubringer für die Eisenbahn in allmählich wachsendem Umfang zum Konkurrenten wird,,24. Die Bahn sei jedoch nicht in einen fairen Wettbewerb eingetreten, sondern versuche, die Ausbreitung des Kraftwagens mit aller Gewalt zu behindern. Die von der DRG vorgebrachten Belege für die angebliche Bevorzugung des Kraftfahrzeugs seien falsch. So ziehe die Verbreitung des Kraftverkehrs nicht nur Verkehr von der Reichsbahn ab, sondern führe ihr auch neuen zu. In Wirklichkeit habe die Reichsbahn einen Rückgang ihrer Einnahmen aufgrund des Kraftwagenverkehrs gar nicht zu verzeichnen. Auch die Behauptung, die ReichsEbd., S. 112f. Ebd., S. 114f. 22 Scholz, W., Kraftwagen und Eisenbahn, hrsg. vom Reichsverband der Deutschen Automobilindustrie, Berlin 1929, S. 32. Staatssekretär Pünder vermerkte hierzu: "Die Behauptung der Automobilindustrie, daß die Reichsbahn die Konkurrenz des Lastkraftwagens und der Personenverkehrslinien mit allen Mitteln bekämpfe, enthält einiges Wahre." Insgesamt mußte er zu diesem Zeitpunkt die Sachlage allerdings noch als "umstritten" bezeichnen. (Vermerk des Staatssekretärs der Reichskanzlei, Pünder, vom 18. 5. 1929: Betrifft Denkschrift des Reichsverbandes der Automobilindustrie e.V. über ,Kraftwagen und Eisenbahn', Bundesarchiv (BA) R 43 1/728, BI. 228). 23 Scholz, wie Anm. 22, S. 6. 24 Ebd., S. 9. 20

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bahn trage den größten Teil der Reparationslasten, erscheint dem RDA als nicht haltbar. Da das Reichsbahnvermögen bestehend aus Gleisanlagen und fahrbarem Material sowie zahlreichen Eisenbahnbauten bei der Gründung der DRG ohne weitere finanzielle Gegenleistungen vom Staat zur Verfügung gestellt worden sei, müsse man die Reparationsleistungen lediglich als ,,zinsendienst für Kapital" verstehen, der mit etwa drei Prozent der Gesamtsumme zu veranschlagen sei und damit wesentlich geringer ausfalle als die von der Privatwirtschaft an Banken bei Investitionenkrediten zu leistende Verzinsung 25 . Das gleiche gelte für die Beförderungssteuer. Bei der Berechnung der Kosten, die das Auto für den Unterhalt der Straßen tragen müsse, verzichte die Reichsbahn auf die Feststellung, daß der Neubau von Schienenstrecken in der Regel durch die öffentliche Hand finanziert werde 26 . Das Argument der Reichsbahn, der LKW-Verkehr würde den Eisenbahnen lediglich den hochpreisigen Verkehr der Wagenladungsklassen A und B abspenstig machen, die kaum zu Selbstkosten zu transportierenden Massengüter der unteren Wagenladungsklassen aber der Eisenbahn überlassen, erschien dem RDA ebenfalls als nicht stichhaltig, da die Preise der unteren Wagenladungsklassen sich in unmittelbarer Konkurrenz zur Binnenschiffahrt bilden würden. "Die natürliche Überlegenheit der Eisenbahn liegt eben in der Beförderung großer Gütermengen auf weiten Strecken, und sie wird in dieser Richtung nur begrenzt durch die Binnenschiffahrt,,27. Durch eine entsprechende Gestaltung des Tarifsystems könne sie unrentable Transporte auf die Binnenschiffahrt einerseits und den Kraftwagen andererseits abgeben. "Aber anstatt eine organische Zusammenarbeit mit diesen Verkehrsmitteln zu ihrer Entlastung anzustreben, sucht die Reichsbahn durch K-Tarife den Tätigkeitsbereich dieser beiden Verkehrsmittel soweit wie möglich einzuengen,,28. Voraussetzung einer erfolgreichen Zukunft der Reichsbahn sei, so resümiert der Autor, "daß in allen maßgeblichen Stellen der Reichsbahn-Gesellschaft sich die Erkenntnis durchsetzt, daß das bloße Abwehrwollen des im Kraftwagen gegebenen Fortschritts keine Lösung des Problems Kraftwagen-Eisenbahn bringen kann,,29. Mit diesen beiden Stellungnahmen war das Terrain für die weitere Auseinandersetzung abgesteckt. Ende Januar 1930 übergab die Reichsbahn der Öffentlichkeit eine umfangreiche Denkschrift mit dem Titel "Reichsbahn und Kraftverkehr,,3o. Ebd., S. 16f. Ebd., S. 23 f. 27 Ebd., S. 25. 28 Ebd., S. 28. 29 Ebd., S. 31. 30 Reichsbahn und Kraftwagenverkehr, Denkschrift hrsg. von der Deutschen ReichsbahnGesellschaft, Hauptverwaltung, Berlin Januar 1930. Der Inhalt der Denkschrift stimmt im wesentlichen mit der ein Jahr zuvor veröffentlichten Dorpmüller-Rede überein. Habe sich die Reichsbahn bisher nur gegen die Konkurrenz der Binnenschiffahrt wehren müssen, sei 2S

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Erneut forderte die Reichsbahn eine Verkehrsteilung durch gesetzliche Maßnahmen und hier in erster Linie eine Verschärfung der Konzessionsgesetzgebung für den Kraftfahrlinienverkehr. "Die verschärften Konzessionsbestimmungen würden ... zugleich den ungesunden Wettbewerb beschränken und die von allen Seiten angestrebte Zusammenarbeit der beiden Verkehrsarten fördern,,31. Beide Seiten reklamierten für sich, von der Gesetzgebung benachteiligt zu werden. Aus der Perspektive der Befürworter des LKW-Verkehrs behinderte die Reichsregierung mit ihren gesetzlichen Maßnahmen die Ausbreitung eines neuen und überlegenen Verkehrsträgers. Nach Meinung der Reichsbahn verhinderten die der Reichsbahn durch den Gesetzgeber auferlegten volkswirtschaftlichen Pflichten die Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem LKW. Eine ,neutrale' Stellungnahme in dieser Auseinandersetzung versprach der Deutsche Industrie- und Handelstag (DIHT), dessen Ende 1929 eigens eingerichteter ,Studienausschuß Eisenbahn und Kraftwagen' im März 1930 ebenfalls eine Denkschrift veröffentlichte, in der "das Problem einer eingehenden Untersuchung ,sine ira et studio' unter Berücksichtigung allen nur irgendwie erreichbaren Materials" unterzogen werden sollte 32 . Die umfangreiche Schrift enthält eine sorgfältig erarbeitete Zusammenfassung der Diskussion und eine Abwägung der von den beiden Seiten vorgetragenen Argumente. Der DIHT forderte eine unbedingte Beibehaltung des Paragraphen 6 der Eisenbahnverkehrsordnung, der bestimmte, daß die von der Reichsbahn aufgestellten Tarife für alle Kunden gleich sein müßten33 . Als Ausgleich dafür hielt der DIHT eine Genehmigungspflicht für jeden gewerbsmäßigen Güterverkehr per LKW ab einer Entfernung von etwa 50 Kilometern erforderlich, die durch eine Sonderabgabe an das Reich ergänzt werden sollte. Mit dieser Aufteilung betrat der DIHT eine Linie, die später auch von dem Reichsverkehrsministerium anvisiert wurde. Der verbale Schlagabtausch zwischen Reichsbahn und Vertretern des LKW-Gewerbes ging trotzdem in unversöhnlicher Form weiter. Der Reichsverband der Automobilindustrie veröffentlichte eine Antwort auf die Denkschrift des DIHT, in der er sich vor allem gegen den Vorschlag einer besonderen Abgabe für den Güterfernverkehr wandte 34 . nun ein "noch weit gefährlicherer Wettbewerber in der Gestalt des Kraftwagens" entstanden. (ebd. S. 5). In äußerst detaillierter Form werden in der Denkschrift zunächst die Auswirkungen des Kraftwagenverkehrs auf die Finanzen der Reichsbahn behandelt. Für den Güterverkehr errechnet sich hier ein Nettoverlust von 200 bis 210 Millionen Reichsmark (ebd., S. 16f.). Für das Jahr 1929 sei mit einem Gesamteinnahmeausfall - also einschließlich des Personenverkehres von410 Millionen Reichsmark zu rechnen nach 320 Millionen RM im Jahre 1928 (ebd., S. 24). Insgesamt sei aber die Kraftwagenbeförderung um ein mehrfaches teurer als der Eisenbahnweg. Lediglich im Nahverkehr sei der Kraftwagen unter Umständen billiger (ebd., S. 32). 31 Ebd., S. 86. 32 Eisenbahn und Kraftwagen, Tatsachen und Gedanken zur Neugestaltung des deutschen Verkehrswesens, Denkschrift des Studienausschusses ,Eisenbahn und Kraftwagen' beim Deutschen Industrie- und Handelstag März 1930, Berlin 1930. 33 Ebd., S. 69.

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In direkten Gesprächen mit dem Reichsverkehrsministerium forderte die Reichsbahn bereits seit Anfang 1929 eine stärkere Besteuerung des Kraftfahrzeugs sowie eine Verschärfung der Konzessionsbestimmungen, zunächst ohne Erfolg erzielen können 35 . Ein Jahr später - am 24. Januar 1930 - wiederholte Dorpmüller gegenüber dem Reichsverkehrsministerium die Forderungen der Bahn36 • Im Mai erklärte Reichsverkehrsminister von Guerard jedoch im Reichstag, daß die Frage einer steuerlichen Sonderbe1astung des Lastkraftwagenverkehrs zUTÜckgestellt worden sei. Die Reichsbahn wandte sich nun direkt an Reichskanzler BTÜning und drohte mit Konfrontation, falls die Regierung nicht zu Maßnahmen zur ZUTÜckdrängung des Kraftfahrzeugs greifen würde: Der Verwaltungsrat hoffe, "daß die Reichsregierung einen Weg sehen möge, ihn in seinem Bestreben zu unterstützen, das finanzielle Gleichgewicht zu erzielen, ohne durch weitere Tariferhöhungen das wirtschaftliche Leben immer mehr erschweren, die Arbeitslosigkeit vergrößern zu müssen, und dadurch in Deutschland die Auswirkung der Steigerung der Kaufkraft des Geldes ... auf die notwendigen Lebensgüter des Volkes zu verhindern,m. Doch auch diese 34 ,Eisenbahn und Kraftwagen', Zur Denkschrift des Deutschen Industrie- und Handelstags, hrsg. vom Reichsverband der Automobilindustrie e.V., Berlin 1930. Dennoch wiederholte der Studienausschuß wenig später die Forderung nach einer Einführung der Genehmigungspflicht für allen gewerbsmäßigen Kraftwagenverkehr. (Stellungnahme des Deutschen Industrie- und Handelstages zur Denkschrift der Reichsbahn ,,Reichsbahn und Kraftverkehr", in: Deutsche Wirtschafts-Zeitung, 17.7. 1930). 35 Hierzu hatte die DRG auf einer Chefbesprechung im Reichsverkehrsministerium am 18. 1. 1929 und einer daraufhin angesetzten Referentenbesprechung am 7. 2. 1929 ihre Position deutlich gemacht und die von ihr geforderten Maßnahmen zur Abwehr des Kraftwagenwettbewerbs aufgelistet. Dorpmüller erklärte im Nachhinein zum Ergebnis der Gespräche: ,,Eine Unterstützung der Reichsbahn in dieser Frage, deren baldige Lösung im Interesse nicht nur der Finanzlage der Reichsbahn, sondern auch der Allgemeinheit schon damals dringlich war, lehnte der Vertreter des Reichsverkehrsministeriums ausdrücklich ab." (So erinnerte Dorpmüller den Reichsverkehrsminister zumindest im September 1930, vgI. das Schreiben vom 12.9. 1930, als Drucksache Nr. 526 der Niederschrift zur 39. Sitzung des Verwaltungsrates der DRG am 22. /23.9. 1930 beigefügt, Archiv der Deutsche Bahn AG, Reichsbahndirektion Erfurt (DB AG, RBD Erfurt), Nr. 984, BI. 190). 36 Die dort gemachten Ausführungen deckten sich mit dem Inhalt der Schrift ,,Reichsbahn und Kraftwagenverkehr", die die DRG zur gleichen Zeit der Öffentlichkeit übergab. Die geäußerten Zweifel wurden in einigen weiteren Referentenbesprechungen mündlich sowie mit einem zusammenfassenden Schreiben vom 30. 6. 1930 erwidert, ebenso Stellungnahmen zu einem Gutachten des Reichssparkommissars vom 1. 4. 1930. "Angesichts der sich täglich verschlechternden Finanzlage der Reichsbahn" erinnerte Dorpmüller im September an diese Gespräche, "um damit klarzustellen, daß wir unsererseits schon frühzeitig immer wieder auf die schädlichen Auswirkungen des Kraftwagenverkehrs hingewiesen und die Notwendigkeit wirksamer Abwehrrnaßnahmen, auch gesetzgeberischer Natur, betont haben, ganz abgesehen von den Selbsthilfemaßnahmen, die wir auf betrieblichem und tarifarischem Gebiet sowie zum Teil auch durch Einsatz des Kraftwagens im Dienste der Reichsbahn getroffen haben." (Schreiben des Generaldirektors der DRG, Dorpmüller, an den Reichsverkehrsminister, von Guerard, vom 12. 9. 1930, als Drucksache Nr. 526 der Niederschrift zur 39. Sitzung des Verwaltungsrates der DRG am 22. / 23.9. 1930 beigefügt, DB AG, RBD Erfurt, Nr. 984, BI. 193). 37 Schreiben des Vorsitzenden des Verwaltungsrates der DRG, von Siemens, an den Reichskanzler Brüning vom 18. 6. 1930, BA R 43 1/1069, BI. 68 -72, hier BI. 71.

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Drohung nützte nichts, obgleich die Reichsregierung - wie Dorpmüller den Reichskanzler erinnerte - "grundsätzlich die schwierige Lage der Deutschen Reichsbahn und den Wettbewerb, der ihr zunehmend durch den Kraftwagen, namentlich im Güterdienst, bereitet wird, noch einmal ausdrücklich anerkannt" hatte 38 . Im September forderte Dorpmüller von der Reichsregierung erneut eine ausgleichende Besteuerung des LKW-Fernverkehrs oder eine Verschärfung der Konzessionsbestimmungen für jeden Lastwagenverkehr über eine Entfernung von mehr als fünfzig Kilometern. Den Fuhrunternehmern sollte zudem untersagt werden, die Eisenbahntarife zu unterbieten. Darüber hinaus hielt er schärfere arbeitsrechtliche Bestimmungen für das Verkehrsgewerbe auf der Landstraße für erforderlich. Eine Erfüllung dieser Forderungen bedeute "einerseits im Fernverkehr eine zwangswirtschaftlieh gebundene Reichsbahn neben dem künftig gleichfalls zwangswirtschaftlich gebundenen gewerbsmäßigen Kraftwagenverkehr, dagegen anderseits für die Nahzone volle Freiheit für beide Verkehrsmittel,,39. Ziel sei "eine grundsätzliche Gleichstellung des Schienenverkehrs mit dem Frachtverkehr in den Vorbedingungen des Wettbewerbs,,4o. Im Reichsverkehrsministerium gab es zu diesem Zeitpunkt bereits konkrete Überlegungen zu einer Neufassung des Gesetzes über Kraftfahrlinien41 . Der ursprüngliche Gesetzentwurf hatte sich allerdings in erster Linie gegen den von der Reichspost betriebenen Personenverkehr gerichtet und war deshalb für den Güterverkehr von untergeordneter Bedeutung42 . Durch die Reichsbahnpolitik dazu veranlaßt, versuchte das Reichsverkehrsministerium bei seiner Überarbeitung des Gesetzentwurfes nun auch der Auseinandersetzung zwischen Reichsbahn und Lastkraftwagen gerecht zu werden. Ende Dezember 1930 stellte Reichsverkehrsminister von Guerard schließlich der Reichskanzlei für den folgenden Januar einen entsprechenden Entwurf in Aussicht; der Weg für eine gesetzliche Lösung der Auseinandersetzung schien damit frei zu sein43 . In diese Situation platzte die Nachricht 38 Schreiben des Generaldirektors der DRG, Dorpmüller, an den Reichsverkehrsminister, von Guerard, vorn 12. 9. 1930, als Drucksache Nr. 526 der Niederschrift zur 39. Sitzung des Verwaltungsrates der DRG arn 22./23. 9. 1930 beigefügt, DB AG, RBD Erfurt, Nr. 984, BI. 194. 39 ,,Maßnahmen zum Schutze der Reichsbahn gegenüber den Schädigungen durch den Kraftwagenverkehr", Anlage zum Schreiben des Generaldirektors der DRG, Dorpmüller, an den Reichsverkehrsminister, von Guerard, vorn 12. 9. 1930, als Drucksache Nr. 526 der Niederschrift zur 39. Sitzung des Verwaltungsrates der DRG am 22./23.9. 1930 beigefügt, DB AG, RBD Erfurt, Nr. 984, BI. 217. 40 Ebd., BI. 201 f. 41 Entwurf zu einern Gesetz über Reichskraftfahrlinien des Reichsverkehrsministers, o.D. (Mitte 1930), BA R 431/ 1072, BI. 20. 42 Hintergrund für diesen Entwurf ist zu diesem Zeitpunkt vor allem der Machtkampf zwischen Reichsverkehrs- und Reichspostministerium: "Eine einheitliche Reichsverkehrspolitik wird aber unmöglich gemacht, wenn ein ausgedehnter Verkehrszweig, wie es der Kraftpostbetrieb heute ist, außerhalb des Machtbereichs des Reichsverkehrsministers steht." (Begründung zum Entwurf zu einern Gesetz über Reichskraftfahrlinien, BA R 43 1/ 1072, BI. 23).

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von dem Abschluß des Schenker-Vertrags, der alle bisherigen Überlegungen der Reichsregierung Makulatur werden ließ. Wahrend des Jahres 1930 hatte sich die Einnahmesituation der Reichsbahn drastisch verschlechtert44 . Der Reichsverkehrsminister hatte zwar einige den Kraftwagen betreffende gesetzgeberische Maßnahmen wie z. B. eine Erhöhung der Benzinund Benzolsteuer und eine stärkere Kontrolle der Überlastung der LKW durchgeführt. Eine ,,irgendwie in Betracht kommende Hilfe" konnte die Reichsbahn in diesen Maßnahmen jedoch nicht sehen. Für die DRG-Hauptverwaltung drängte die Lage auf eine "grundsätzliche Lösung des Problems,,45, bei der sie infolge der unbefriedigenden Resonanz ihrer Vorstöße bei Reichskanzlei und Reichsverkehrsministerium nicht mehr auf eine gesetzliche Lösung hoffte. Die Reichsbahn konzentrierte sich in ihrem Kampf gegen den Wettbewerber LKW deshalb nunmehr auf einen Bereich, in dem sie über ein monopolistisches Zugriffsrecht verfügte und der Regierung nicht bedurfte: die Zu- und Abfuhr der Güter zum Bahnhof. Hier lag nicht nur die Hauptquelle für die oft weit über dem LKW-Transport liegenden Preise der Eisenbahn, sondern auch die ,Lücke' auf dem Weg der Bahn zum Kunden und damit der Schwachpunkt der Eisenbahn im Gütertransport46 .

Die Entstehung des Schenker-Vertrages Mit der größten in Deutschland tätigen Spedition, der Firma Schenker, war die Reichsbahn bereits seit 1925 eng verbunden, ohne daß dieses offiziell bekannt war. Aufgrund eines sogenannten ,Werbevertrages', mit dem die Spedition von der Reichsbahn ein Darlehen von 17 Millionen Reichsmark erhalten hatte, hatten die Schenker-Fi1ia1en für die Reichsbahn in Deutschland ein Informationssystem über Güter- und Verkehrsströme aufbauen müssen47 . Schenker verfügte zwar über eine 43 Schreiben des Reichsverkehrsministers von Guerard an den Staatssekretär in der Reichskanzlei, Pünder, vorn 29. 12. 1930, BA R 431/1072, BI. 92. 44 Im Verlauf des Jahres 1930 hatte die Reichsbahn einen immens wachsenden Einnahmeausfall verkraften müssen, der bis Ende August 469 Millionen RM betrug. Daran war der Güterverkehr mit 403 Millionen RM beteiligt. So teilte es wenigstens die DRG-Hauptverwaltung dem Verwaltungsrat mit. (Niederschrift über die 39. Sitzung des Verwaltungsrates der DRG am 22./23. 9. 1930, DB AG, RBD Erfurt Nr. 993, BI. 232). 45 Niederschrift über die 39. Sitzung des Verwaltungsrates der DRG am 22./23. 9. 1930, DB AG, RBD Erfurt Nr. 993, BI. 242. 46 Ein Blick auf die Eisenbahnen anderer Länder zeigt, daß es die Ausnahme war, wenn eine Eisenbahn diesen Verkehr in eigener Regie übernahm. Von den großen Industriestaaten war dies lediglich in England der Fall. Die meisten Länder wie die Schweiz, die Niederlande und Italien überließen diesen Verkehr einer einzigen und nur zu diesem Zwecke gegründeten Firma oder beauftragten mehrere Unternehmen mit der Aufgabe wie in den USA. Vgl. hierzu den Anhang der Denkschrift des Studienausschusses ,Eisenbahn und Kraftwagen' beim DIHT, Berlin 1930. 47 Für dieses und die folgenden die Firma Schenker unmittelbar betreffenden Ausführungen vgl. Matis, Herbert / Stiefel, Dieter, Das Haus Schenker, Die Geschichte der internationa-

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große Flotte eigener Lastkraftwagen, bediente sich für den Güterferntransport jedoch ausschließlich der Reichsbahn. Gegen Ende 1928 präsentierten die Berliner Schenker-Filiale und der zuständige Reichsbahnreferent der DRG-Hauptverwaltung gemeinsam ein Memorandum über den "Automobil-Güterverkehr" mit dem Ziel einer intensiveren Zusammenarbeit48 • Hierin erklärten die Autoren, die Vorteile des LKW bestünden vor allem in der größeren Geschwindigkeit des gesamten Transports und seinen sich immer weiter verringernden Kosten. Dem Autoverkehr fehlte jedoch noch eine große und flächendeckende Organisation mit Stützpunkten und Lagerhalien in ganz Deutschland, um seine Vorteile ausspielen zu können, wie sie die der Reichsbahn verbundene Firma Schenker bereits besitze49 • Die Bahn, so das Memorandum, müsse sich eines Spediteurs bedienen, der als ihr verlängerter Arm den Kampf gegen die Konkurrenz des LKW führen könnteSO, und "die Organisation schaffen, die für die Reichsbahn den Kampf gegen das Auto zu führen hat"Sl. Damit war ein Weg für die Reichsbahn vorgezeichnet, auf dem ohne staatliche Unterstützung die Konkurrenz zurückgedrängt werden konnte. Der Reichsbahn bot sich mit der größten deutschen Spedition ein "privatwirtschaftliches Instrument, um den ,Kampf' gegen das Auto aufzunehmen"s2. Das Memorandum stieß in Reichsbahnkreisen auf große Zustimmung und die DRG gihg nun daran, ihre technischen und tariflichen Maßnahmen zur Abwehr des Lastkraftwagens durch den Aufbau des komplizierten Vertragssystems zu ergänzen, das unter dem Namen "Schenker-Vertrag" für Aufregung sorgen sollte. Der Anfang Februar 1931 geschlossene Vertrag zwischen der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft und der eigens hierzu gegründeten Schenker-Tochter "Deutsche Bahnspedition Schenker & Co. GmbH"s3 sollte vor allem zwei Ziele erfüllen: "die len Spedition 1872 - 1931, Wien 1995, S. 315 - 329. Das Schenker-Archiv in Wien, das einzig über Material zu dem Themenkomplex verfügt, ist völlig ungeordnet und dementsprechend nicht benutzbar. Deshalb mußte auf das in der umfänglichen Firmengeschichte publizierte Material zurückgegriffen werden. 48 Memorandum über den ,Automobil-Güterverkehr', zit. n. Matis/Stiefel, wie Anm. 47, S.317f. 49 ,,Es ist gut, daß die Firma Schenker die Interessen der Reichsbahn vertritt und daß dadurch keine Speditionsfirma mehr vorhanden ist, die über nötigen Einrichtungen und Verbindungen an allen verkehrswichtigen Punkten verfügt, um das Gerippe zu einer großen Spediteur-Autounternehmung abzugeben." (Ebd.). 50 "Dieser Spediteur konnte schon von der notwendigen Potenz her unausgesprochen nur Schenker & Co. sein." (Ebd., S. 321). 51 Memorandum über den ,Automobil-Güterverkehr', zit. n. ebd. Da Schenker bei der DRG bei einem ausgewiesenen Gewinn von jährlich ca. 1 Million RM bereits unter großem Einfluß der Reichsbahn stünde, biete sich eine enge Zusammenarbeit von Reichsbahn und Schenker geradezu an. Ansonsten sei die Rückzahlung des 17 Millionen Mark großen Kredits an die reichsbahneigene Deutsche Verkehrs-Kredit-Bank nur schwer möglich. 52 Ebd. 53 Mit dem Vertrag kam Schenker & Co. offiziell unter die Aufsicht der Reichsbahn, die hierfür einen Kommissar bestellte.

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Güterverkehrskosten der deutschen Wirtschaft herabzumindern und für den Güterverkehr der Reichsbahn zu werben,,54. Zukünftig sollten für den Rollfuhrdienst einheitliche und gegenüber dem Durchschnitt der bisherigen Gebühren erheblich ermäßigte Gebühren gelten (§ 1 Abs. 2a). Die Verfrachter bekamen die Möglichkeit, zukünftig von der Bahn eine Frei-Haus oder Haus-zu-Haus-Beförderung in Anspruch zu nehmen (§ 1, Abs. 2b). Der Sammelgutverkehr sollte "unter Einfluß der Reichsbahn und Mitwirkung der Reichsbahnstellen" weiter ausgebaut werden (§ 1, Abs. 2c). Hatte die Reichsbahn bis zu diesem Zeitpunkt mit der Zu- und Abfuhr der Güter einen Fuhrunternehmer oder Spediteur beauftragt, der als sogenannter ,bahnamtlicher Rollfuhrunternehmer' auf eigene Rechnung tätig wurde, übernahm nach dem neuen Bahnspeditionsvertrag diese Aufgabe an allen Orten die SchenkerTochter. Sie konnte entweder selber für die Beförderung sorgen oder andere Speditionsunternehmen jeweils für ein Jahr damit beauftragen (§ 2, Abs. 1- 4). Der beauftragte Bahnspediteur sollte von der Reichsbahn für seine Tatigkeit die Selbstkosten zuzüglich einer Provision von zehn Prozent erhalten. Dafür behielt diese sich das Recht vor, die Gebühren selber und einheitlich für das ganze Reich - unabhängig von der Entfernung zum Bahnhof - festzusetzen 55 . Die beauftragten Spediteure mußten sich im Gegenzug nicht nur verpflichten, auf jeden eigenen LKWFernverkehr über 50 Kilometer zu verzichten, sondern darüber hinaus auch Informationen über Güterverkehrsströme an die Bahn weitergeben. 56 Die Reichsbahn machte sich auf diesem Wege alle Spediteure abhängig, die wenigstens einen Teil ihres Verkehrs mit Hilfe der Reichsbahn abwickeln wollten. Die Zusammenarbeit zwischen der Spedition und der Reichsbahn ging über die Abmachungen des Bahnspeditionsvertrages jedoch weit hinaus. Am 29. Januar 1931 hatte die Reichsbahn die gesamte Firma für den Preis von 24,9 Millionen Reichsmark gekauft57 . Sie hielt diese Tatsache vor der Öffentlichkeit und der Reichsregierung jedoch geheim und dementierte erfolgreich jede öffentliche Spekulation 58 . Zur Tarnung des Eigentumsübergangs blieben die Vorbesitzer als treu54 § 1, Art. 1 des Vertrags über Rollfuhrdienst, Sammelspedition und Verkehrswerbung (Schenker-Vertrag), abgedr. in: Die Eisenbahnverkehrsordnung vom 16. Mai 1928, kommentiert von Theodor Kittel, Kurt Friebe, Edward Hay. Berlin 31932, Anlage IV, S. 315. 55 Auch für den Sammelladungsverkehr wurden einschneidende Neuregelungen getroffen mit der Absicht, den gesamten Sammelladungsverkehr bei der Deutschen Bahnspedition zu zentralisieren, ebd. 56 ,,zur Verkehrswerbung gehört insbesondere auch die fortlaufende Beobachtung des gesamten Güterverkehrs. Sendungen, die auf andere Verkehrsmittel abgewandert sind, müssen, soweit sie den Fernverkehr über 50 Kilometer hinaus oder den regelmäßigen Nahverkehr betreffen, gemeldet werden unter Angabe der Gründe der Abwanderung und der Möglichkeiten, wie der Verkehr wieder zur Schiene zurückgeführt werden kann." (Die Reichsbahn 71 (1931),12.2.1931, S. 183). 57 Zu der Frage des Verkaufs vgl. Matis I Stiefel, wie Anm. 47, S. 320 - 336. 58 Auch wenn die DRG den Großteil des Kaufpreises mit dem 17 Millionen RM-Darlehen der Verkehrs-Kredit-Bank verrechnen konnte, mußte die DRG-Hauptverwaltung dennoch

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händerische Inhaber aller Schenkerfinnen weiterhin eingetragen, lediglich der Schwerpunkt des Konzerns wurde zu einer neu geschaffenen Zentralstelle nach Berlin verlegt59 . Die Gründe für die Geheimhaltung des Kaufs der Spedition erläuterte DRGVerwaltungsratspräsident von Siemens gegenüber Reichsverkehrsminister von Guerard erst einige Wochen später: Schenker habe eine sehr verzweigte Organisation, deren ausländische Tochtergesellschaften bereits seit dem Abschluß des Kreditvertrages von 1925 der Reichsbahn "wesentliche Dienste" leisten würden. Die Reichsbahn hoffte, von ihnen frühzeitig Kenntnis von anfallenden großen internationalen Transporten und ihren Bedingungen zu erhalten und durch sie solche Transporte für den Verkehr durch Deutschland oder nach deutschen Häfen zu gewinnen. Die Reichsbahn-Spitze betrachtete den Erwerb dieser ausländischen Organisationen der Finna Schenker aber nur als eine wertvolle Hilfe, solange die Tatsache des Erwerbs der Öffentlichkeit verheimlicht werden könnte. "Es besteht unserer Ansicht nach ein sehr großer Unterschied, ob über eine Beteiligung der Deutschen Reichsbahn nur unbestimmte Gerüchte zirkulieren, oder ob die Tatsache einwandfrei feststeht,,6o. Auch innerhalb der Reichsbahn war deshalb nur sehr wenigen Personen der Kauf der Finna bekannt gemacht worden61 . Die Strategie der Reichsbahn ging auf. Zwar wurde in der öffentlichen Diskussion um den Bahnspeditionsvertrag schon bald die Vennutung laut, die Reichsbahn habe Schenker aufgekauft; in zahlreichen Einwendungen gegen den Bahnspedi4,4 Millionen Mark sofort aufbringen und einen Restbetrag von 3,5 Millionen Mark bis Ende 1935 bereitstellen, ohne daß diese Summe in ihren Bilanzen auftauchen durfte. Zur Verschleierung des Kaufes entwickelte die Reichsbahn darum eine verdeckte Finanzierungsstrategie: Das Protokoll der Verwaltungsratssitzung vom 26. / 27. Januar 1931, also zwei Tage vor dem Kauf, vermochte den Vorgang so zu verschlüsseln, daß er ohne die Kenntnis von der Übernahme nicht erkennbar blieb: Ein vom Verwaltungsrat eingesetzter Ausschuß zur Prüfung der Organisation des Haus-zu-Haus-Verkehrs und der Senkung der Rollfuhrgebühren teilte dem Verwaltungsrat mit, einem vom Generaldirektor Dorpmüller unterbreiteten und nicht näher erläuterten Vorschlag mit gewissen Abänderungen zugestimmt und dementsprechend genehmigt zu haben, "daß die Deutsche Verkehrs-Kredit-Bank neben dem vor 6 Jahren zur Verfügung gestellten Kredit von 17 Mio. RM einen weiteren Betrag bis zu 7,9 Mio. RM aufwenden darf." (Niederschrift über die 41. Sitzung des Verwaltungsrates der DRG am 26. / 27.1. 1931, DB AG, RBD Erfurt Nr. 993, BI. 309). 59 Sowohl die Firma Schenker als auch die Reichsbahn traten zukünftig gemeinsam allen anders lautenden Spekulationen entgegen. Auf dem Titelbild einer Schenker-Festschrift im Jahr 1932 präsentierte man z. B. der Öffentlichkeit die alte Konstruktion eines traditionsreichen Familienunternehmens, alle ehemaligen Eigentümer wurden nach wie vor als geschäftsführende Gesellschafter ausgewiesen. Der Vorgang ist ausführlich dargestellt Matis / Stiefel, wie Anm. 47, S. 332- 334. 60 Vertrauliches Schreiben des Präsidenten des Verwaltungsrates der DRG, von Siemens, an den Reichsverkehrsminister von Guerard (Abschrift), BA R 431/ 1072, BI. 287. 61 So taucht in den Protokollen des DRG-Verwaltungsrates das Thema Schenker erst nach der Veröffentlichung des Vertrages auf. Auch dann heißt es lediglich: ,,In vertraulicher Sitzung wird die Angelegenheit Schenker-Vertrag besprochen." (Niederschrift über die 42. Sitzung des Verwaltungsrates der DRG am 24.3. 1931, DB AG, RBD Erfurt Nr. 993, BI. 371).

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tionsvertrag forderte der Verein Deutscher Spediteure über diese Frage Aufklärung 62 . Reichsbahn wie Reichsregierung blieben jedoch so lange bei ihrer Behauptung, bis diese nicht mehr in Frage gestellt wurde. Der Konflikt mit der Reichsregierung

Die Verhandlungen über den Bahnspeditionsvertrag hatten hinter verschlossenen Türen und hinter dem Rücken der Reichsregierung stattgefunden63 . Auch als die Reichsbahn nach Vertragsabschluß am 5.2.1931 die Vertreter des Deutschen Speditions- und Fuhrgewerbes unterrichtete und den Vertrag der deutschen Presse bekannt gab 64, verzichtete sie zunächst auf eine Information der Regierung. Für diese war die Lage deshalb mehr als unglücklich. Reichsverkehrsminister von Guerard mußte schließlich vor dem Reichstag eingestehen, daß er von dem Bahnspeditionsvertrag erst vom Reichstagsabgeordneten der Wirtschaftspartei Jacob Ludwig Mollath 65 erfahren hatte. Auch der Reichsbahn-Hauptverwaltung gegenüber konnte er nur seinem Befremden über die Veröffentlichung Ausdruck geben, "ohne daß der Reichsregierung bisher von dem Inhalt und dem Abschluß des Vertrages von der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft irgendwe1che Mitteilung gemacht worden ist,,66. Von Guerard lehnte aber nicht nur die Informationspolitik der Reichsbahn, sondern auch den Inhalt des Bahnspeditionsvertrages ab. Nach seiner Meinung bestanden gegen den Vertrag die "erheblichsten Bedenken, sowohl wegen allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen wie wegen der Vorschriften des Reichsbahngesetzes", nach denen die Reichsbahn für den Abschluß des Vertrages die Genehmigung der Reichsregierung hätte einholen müssen67 . Gegenüber dem Reichskanzler mußte von Guerard erklären, ob sein Ministerium durch seinen Vertreter im DRG-Verwaltungsrat, Ministerialdirektor Vogel, 62 VgI. z. B. die Schreiben des Vereins Deutscher Spediteure an Reichskanzler Brüning vom 29.6. 1931, BA R 43 II 1072, BI. 419-422, und vom 4.7. 1931, ebd., BI. 409 -412. 63 Selbst die Präsidenten der Reichsbahndirektionen - also die zweite Ebene innerhalb der Reichsbahn-Hierarchie - wurde erst am 4.2. 1931 informiert. Der Kauf der Firma Schenker wurde der Präsidentenkonferenz allerdings nicht mitgeteilt. In dem Protokoll der entsprechenden Sitzung heißt es: "Herr Generaldirektor richtet an die Herren Präsidenten die Bitte, unter allen Umständen mit der Firma Schenker & Co zusammenzugehen und nicht einen Fremdkörper, sondern eine zwar außerhalb der Reichsbahn stehende, aber befreundete Neuorganisation in ihr zu erblicken." (Niederschrift über die 27. Präsidentenkonferenz, 4. 2.1931, DB AG, RBD Erfurt Nr. 9, BI. 140). 64 Boerner, Volkmar, Der Deutsche Bahnspeditionsvertrag, seine Vorgeschichte, Entwicklung und wirtschaftliche Bedeutung, Jena 1933, S. 52. 65 Mollath war gleichzeitig Ehrenmitglied des Reichsverbandes der deutschen Fuhrbetriebe. 66 Abschrift des Schreibens des Reichsverkehrsministers von Guerard an die DRG-Hauptverwaltung vom 7.2.1931, BA R 43 II 1072, BI. 120. 67 Ebd.

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von den Verhandlungen Kenntnis gehabt und bewußt auf eine Information der Reichsregierung verzichtet hatte. Von Guerard mußte zwar einräumen, daß Dorpmüller ihm persönlich am 24. November 1930 Kenntnis von Plänen der Reichsbahn gegeben habe, nach denen erwogen worden sei, mit einem Speditionsunternehmen einen Vertrag mit dem Ziel einer Verbilligung der An- und Abfuhr der Frachtgüter abzuschließen. An dem Ausschuß, der diesen Vertrag vorbereiten sollte, habe sich Vogel auf von Guerards Anweisung allerdings nicht beteiligt. Auch nachdem ihm Siemens am 27. Januar 1931 erklärt habe, Dorpmüller werde einen Vertrag mit der Firma Schenker abschließen, sei ihm kein Vertragsentwurf übersandt worden68 . Im Reichskabinett wurde über den Schenker-Vertrag erstmals zwei Wochen nach seiner überraschenden Veröffentlichung und immer noch in Unkenntnis von dem Kauf der Firma durch die Reichsbahn diskutiert. Die Ministerrunde war sich in der Forderung, die Reichsbahn müsse den Vertrag rückgängig machen, einig69 . Am folgenden Tag diskutierte das Kabinett unter Hinzuziehung des Reichsbahn-Generaldirektors den Sachverhalt. Von Guerard wiederholte hier seine Bedenken gegen 68 Schreiben des Reichsverkehrsministers von Guerard an Reichskanzler Brüning vom 24.2.1931, BA R 431/1072, BI. 238-241. Von Guerard mußte in diesem Schreiben aber auch Kommunikationsdefizite innerhalb seines Ministeriums zwischen seinem Vertreter im Verwaltungsrat, Vogel, Staatssekretär Gutbrod und ihm selber einräumen. Es habe sich herausgestellt, daß in seinem Ministerium der Vertragsentwurf zu dem später veröffentlichten Vertrag seit "mehreren Wochen" vorhanden war, aber auf dem Schreibtisch Gutbrods ohne weitere Bearbeitung liegengeblieben sei (ebd., BI. 240). Den Vertragstext erhielt von Guerard auch nach Abschluß zunächst nicht von der Reichsbahn, sondern von der Interessenvertretung der Kraftwagen-Spediteure, der GEDEKRA, zugesandt. Dieser war versehen mit zahlreichen Kommentierungen, welche die Sicht der Spediteure verständlich machen sollten (Schreiben der GEDEKRA an die Reichskanzlei vom 10. 2. 1931 und Abdruck des Bahnspeditionsvertrag "mit Bemerkungen vom Spediteur Adolf Koch", BA R 43 1/ 1072, BI. 133 - 147). Erst nach einer zweiten Bitte reagierte die DRG-Hauptverwaltung und sandte gleichfalls Material, "das eine Einsichtnahme in dieses geschlossene Abkommen gibt" (Schreiben des Reichsbahndirektors Baumann an den Staatssekretär in der Reichskanzlei, Pünder, vom 11. 2. 1931, BA R 431/1072, BI. 148), wie es in dem Begleitschreiben hieß, tatsächlich jedoch lediglich aus dem Vertragstext bestand. Auf ein mahnendes Schreiben, in dem von Guerard um nähere Auskünfte ersuchte und seiner Meinung Ausdruck gab, daß es wohl neben dem veröffentlichten Vertrag noch einen weiteren geben müsse, erhielt er nach eigener Auskunft keine Antwort (Schreiben an Reichskanzler Brüning vom 24. 2.1931, R 43 1/ 1072, BI. 239). Die Reichskanzlei bemühte sich in diesen Tagen, die verschiedenen Interessenvertreter "im Beisein von Herrn Reichsverkehrsminister von Guerard" an einen Tisch zu bringen. (Aktenvermerk von Staatssekretär Pünder vom 12.2. 1931, BA R 431/ 1072, BI. 127). 69 Akten der Reichskanzlei, Die Kabinette Brüning I und II, bearb. von Tilman Koops, Bd. 2, Boppard/Rh. 1990, Dok. Nr. 244, S. 871 f. Nach Meinung von Guerards war vor allem die Ausdehnung des Betriebsrechtes der Reichsbahn auf fremde Völker und Nationen "vom Standpunkt der Reparationspolitik" unmöglich. Spekuliert wurde auch über die Frage, inwieweit die Firma Schenker sich in den Händen der Reichsbahn befinden würde. So glaubte Brüning, daß die Reichsbahn die Verwaltung von Schenker "bereits in den Händen hätte". (ebd., S.872). .

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den Vertragsabschluß. Empört zeigte er sich vor allem über die Tatsache, daß die Reichsbahn solche weitreichenden Verhandlungen zum Abschluß gebracht habe, ohne die Reichsregierung zu informieren. Erst in einer ihm auf sein Drängen am Tag zuvor gewährten Besprechung habe ihm Dorpmüller "unter der Forderung vollster Vertraulichkeit" mitgeteilt, daß die Reichsbahn die Firma Schenker gekauft habe. Der erste Vertrag sei also ein Scheinvertrag, durch den die Öffentlichkeit getäuscht worden sei, der geheime zweite Vertrag bedürfe hingegen ohne Zweifel der Genehmigung durch die Reichsregierung 7o . Die Reichsregierung befinde sich nun in der Frage der Genehmigung in einem Dilemma. Da die Firma Niederlassungen in zahlreichen ausländischen Staaten betreibe und bisher vorwiegend in österreichischen Händen gelegen habe, sei der Vertrag einerseits nicht zu verantworten, andererseits dürfe sein Entstehen nicht bekanntwerden, "weil sonst mit anderen Ländern größte Schwierigkeiten entstünden,m. Dorpmüller rechtfertigte sein Vorgehen mit dem Ziel, die aufgrund ungünstiger Bestimmungen im Versailler Vertrag ins Ausland abgewanderten Transportmengen wieder nach Deutschland zurückzuholen72 • Dies sei mit Hilfe von Schenker gelungen. Jährlich habe die Firma Waren im Wert von immerhin 120 Millionen RM nach Deutschland überführt. Daraus sei ein Gewinn von 3,5 Millionen RM jährlich erwachsen. Das durch die Verkehrskredit-Bank an Schenker geliehene Geld habe sich so mit 21 Prozent verzinst und sei auch inzwischen zurückgezahlt. Aufgrund der "Mißbräuche im Rollfuhrwesen" seien zudem von der Reichsbahn gewährte Tarifermäßigungen den Verbrauchern oft nicht zugute gekommen. Um auch in dieser Richtung eine Besserung der Verhältnisse herbeizuführen, habe sich die Reichsbahn Ende 1930 mit der Firma Schenker in Verbindung gesetzt und einen Options vertrag geschlossen, damit nicht ausländisches Kapital die Firma aufkaufen könnte. Zu dieser Zeit habe aber auch die amerikanische Firma Bush eine ernsthafte Kaufofferte gemacht, um in Deutschland einzudringen, so daß sich die Reichsbahn gezwungen gesehen habe, "von ihrem Optionsrecht Gebrauch zu machen und den Verkauf zu verhindern,m. Dorpmüller gab sich überzeugt, daß dieses Vorgehen rechtmäßig gewesen sei und keiner Zustimmung der Reichsregierung bedurft habe. Falls die Regierung dies nicht zu akzeptieren bereit sei, müsse die Entscheidung des Reichsbahngerichts angerufen werden74 • Dann ließe sich aber die Geheimhaltung des Vertrages nicht aufrechterhalten, so daß Ausländer sich der Firma Schenker nicht mehr in dem Maße bedienen würden wie bisher. Ebd., Dok. Nr. 245, S. 877. Ebd., S. 878. 72 Vgl. ebd., S. 878 - 880. 73 Ebd., S. 879. 74 Ebd. Das Reichsbahngericht war im Zuge der Gründung der Deutschen Reichsbahngesellschaft eingerichtet worden und sollte bei Streitigkeiten zwischen DRG und Reichsregierung eine rechtsverbindliche Entscheidung treffen. 70 71

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In den Bemerkungen der Regierungsmitglieder spiegelt sich zum einen Erbitterung über die Tatsache, daß über das Kabinett hinweg ein Vorgang solcher Tragweite in Gang gesetzt worden war. Andererseits dokumentiert sich aber auch ein prinzipielles Einverständnis mit dem Versuch der Reichsbahn, das Speditionsgewerbe neu zu ordnen, um den Reichsbahnbetrieb auch für die Zukunft konkurrenzfähig zu halten 75. Insofern erscheint es unverständlich, daß die Reichsbahn die Regierung in ihre Entscheidungen nicht einbezogen hat, denn von Guerard zeigte sich nun unversöhnlich. Durch Verweis auf die Genehmigungspflicht des Vertrages durch die Reichsregierung gelang es ihm nun nach Vertragsabschluß jedoch, wieder Einfluß auf die Angelegenheit zu erlangen. Deshalb erklärte er, Verhandlungen über den Vertrag kämen für ihn erst dann in Frage, wenn die Reichsbahn das Recht des Reiches anerkannt habe, dessen Genehmigung zu fordern 76. Das Kabinett schloß sich am folgenden Tag seiner Meinung an und beschloß, die Genehmigung nicht zu erteilen, das Verhalten der DRG aber zunächst zu tolerieren. Unter dem Vorsitz des Reichsverkehrsministers müsse in einer kleinen Kommission über die Gestaltung der Vertragsverhältnisse verhandelt werden. Daran teilnehmen sollten Vertreter des Verkehrsgewerbes und der Spitzenorganisationen der Wirtschaft. "Die Entscheidung soll dem Generaldirektor der Reichsbahn mitgeteilt werden,,77. Unter Federführung der Reichskanzlei konnte im Verlauf der nächsten Wochen der Streit zwischen Reichsbahn und Regierung beigelegt werden. Am 10. 3. 1931 empfing Brüning von Siemens und von Guerard und vereinbarte mit ihnen ein Abkommen, nach dem die Reichsbahn zunächst einen an die Öffentlichkeit gelangten Brief zurückziehen sollte, in dem sie dem Reichsverkehrsminister gegenüber Auskünfte abgelehnt und das Recht zur Genehmigung des Vertrages durch die Reichsregierung bestritten hatte. Ferner sollte eine Neuformulierung und Ergänzung der bisher vorgesehenen Verträge derart stattfinden, daß auch der zweite Vertrag publiziert werden könnte. Schließlich sollten noch weitere Verhandlungen mit den Spediteuren stattfinden, "um sie über die Dinge näher aufzuklären und zur Zustimmung zu bringen,,78. Auch wenn es zwischen Reichsbahn und Reichsregierung Differenzen über die Notwendigkeit einer Genehmigung des veröffentlichten Bahnspeditionsvertrags gab, hatte die Reichsbahn also akzeptieren müssen, daß das Zustimmungsrecht der Reichsregierung für den geheimgehaltenen Kaufvertrag aufgrund des Reichsbahn75 So erklärte Brüning, die Notwendigkeit, die Rollgebühren herabzusetzen, sei "stark in die Erscheinung getreten." (Ebd., S. 881). 76 Ebd., S. 882. 77 Ebd., S. 883. 78 Aktenverrnerk des Staatssekretärs in der Reichskanzlei, Pünder, vom 12. 3. 1931, BA R 43 1/1072, BI. 254. Über die Frage des rechtlichen Anspruchs der Reichsregierung auf Genehmigung war "eine private Meinungsäußerung des Reichsgerichtspräsidenten Burnke in Aussicht genommen."

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gesetzes unstrittig war, die Bahn also auf eine Verhandlungslösung mit der Regierung angewiesen war79 • Letztendlich blieb es unerheblich, ob auch für den Bahnspeditionsvertrag ein Genehmigungsrecht bestand oder nicht. Die Einigung vollzog sich schließlich in einer komplizierten Doppelstrategie auf dem Weg eines veröffentlichten und eines gleichzeitigen weiteren vertraulichen Schriftwechsels. In seinem offenen Schreiben leugnete von Siemens die Existenz eines Kaufvertrages und äußerte in bezug auf den Bahnspeditionsvertrag die Erwartung, "daß der Abschluß des Vertrages der Reichsregierung genehm ist"so. In dem gleichzeitig versandten geheimen Schreiben bestätigte er den Kauf der Firma Schenker und bat um Geheimhaltung, ohne jedoch das Genehmigungsrecht der Reichsregierung ausdrücklich anzuerkennen, wie es bei den von Reichskanzler Briining moderierten Gesprächen zwischen Dorpmüller und VOn Guerard vereinbart worden warS!. Am 23. März wandte sich VOn Guerard deshalb erneut an den Reichskanzler s2 und versagte drei Tage später dem bekannt gemachten Bahnspeditionsvertrag wie auch dem geheim gehaltenen Kaufvertrag in zwei getrennten Schreiben die Zustimmung S3 . In dem vertraulichen Schreiben verlangte er erneut, die Reichsbahn müsse um die Genehmigung des Kaufes formell nachsuchen s4 . Da von Guerard gedroht hatte, die Öffentlichkeit zu informieren und eine offizielle Entscheidung anzurufen, erklärte sich von Siemens schließlich hierzu bereitS5 . Dennoch bestritt er das formale Genehmigungsrecht noch einmal. Er sei aber bereit, den gewünschten Antrag zu stellen s6 . Damit waren die Auseinandersetzungen zwischen Reichsregierung und Reichsbahn zu einem Kompromiß gelangt, über die Tatsache des Kaufes der Firma wurde in der Folge nicht mehr gesprochen. Der Weg für eine Einigung zwischen Speditionsgewerbe und Reichsbahn war nun von seiten der Regierung frei, auch wenn diese erst ein dreiviertel Jahr später unter von Guerards Nachfolger Treviranus gelang.

79 Gemäß Paragraph 31, Abs. 4 des Reichsbahngesetzes war der Reichsregierung unter anderem ausdrücklich die "Genehmigung zur Gründung zum Erwerb von anderen Unternehmungen oder zur Beteiligung an anderen Unternehmungen" vorbehalten. (abgedr. in: Die Eisenbahnverkehrsordnung, wie Anm. 54, Anhang VI, S. 331). 80 Schreiben des Reichsbahn-Verwaltungsratspräsidenten, von Siemens, an die Reichsregierung vom 14. 3.1931 (Abschrift), BA R 43 II 1072, BI. 290. 81 Vertrauliches Schreiben des Reichsbahn-Verwaltungsratspräsidenten, von Siemens, an die Reichsregierung vom 14.3. 1931 (Abschrift), BA R 43 II 1072, BI. 285 - 287. 82 Vertrauliches Schreiben des Reichsverkehrsministers von Guerard an Reichskanzler Brüning vom 23.3.1931, BA R 43 II 1072, BI. 265 f. 83 Abschrift des offiziellen Schreibens in BA R 43 I 11072, BI. 280, des geheimen ebd. BI. 281 f. 84 Schreiben des Reichsverkehrsministers an die Reichsbahn-Hauptverwaltung vom 26.3. 1931 (Abschrift), BA R 43 II 1072, BI. 279 - 282. 85 Vermerk Pünders in BA R 43 II 1072, BI. 283. 86 Schreiben von Siemens' an den Reichsverkehrsminister vom 7. 4. 1931 (Abschrift), BA R 43 II 1072, BI. 312 - 315.

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Bevor der Weg zu dieser Einigung skizziert werden soll, ist der andere, mindestens ebenso wichtige Handlungsstrang der öffentlichen Diskussion über den Vertrag nachzuzeichnen, die wohl einen größeren Einfluß auf die Kompromißbereitschaft der Reichsballn gehabt hat als die Kritik aus den Reihen der Reichsregierung 87 . Die Tatsache, daß die Reichsbahn-Hauptverwaltung es nicht für nötig gehalten hatte, den Reichsverkehrsminister frühzeitig über den Vertragsabschluß zu informieren, dokumentiert, wie stark sich die Reichsbahn gegenüber der Regierung fühlte. Die Kritik an ihrem Vorgehen konnte in ihren Augen deshalb nur eine unter vielen sein. Die Reaktionen der Öffentlichkeit

Die Reichsbahn bezeichnete den Schenker-Vertrag in ihrer am 5. Februar an die gesamte Presse weitergeleiteten Erklärung als großen Erfolg für die deutsche Wirtschaft. Diese Einschätzung wurde am folgenden Tag von den Zeitungen unkommentiert oder mit positiven Randbemerkungen versehen wiedergegeben. So erklärte die Vossische Zeitung am 6. 2. 1931, die Reichsbahn habe sich "endlich" entschlossen, ,,ihre reine Abwehr-Stellung gegen die Konkurrenz des Kraftwagen aufzugeben und eine planvolle Zusammenarbeit zwischen ihr und dem Auto herzustellen,,88. Das Berliner Tageblatt - um ein anderes Beispiel zu zitieren stellte am gleichen Tag fest, die Reichsbahn habe in ihrem Kampf gegen den Kraftwagen "die Offensive ergriffen,,89. Aber bereits am folgenden Tag vermeldete die Zeitung unter der Überschrift "Reichsbahn-Speditionsmonopolvertrag" die Bedenken des Reichsverkehrsministeriums 90 . Das Berliner Tageblatt machte sich in den folgenden Wochen, in denen der Vertrag fast täglich Thema war, zum engagierten Sprachrohr der Gegner des Vertrages. Andere Zeitungen bewerteten die Auseinandersetzung zwischen Reichsbahn und Spediteursgewerbe allerdings differenzierter. So bezeichnete die Vossische Zeitung die Situation als "Kampf eines Riesenuntemehmens um Rationalisierung und Rentabilität" auf der einen und "Kampf des Mittelstandes um seine Existenz" auf den anderen Seite91 . Die Öffentlichkeit diskutierte das Thema in diesen Tagen leidenschaftlich und zwang dadurch wiederum jede politische Partei zu einer öffentlichen Stellungnahme. Die NSDAP lehnte den Vertrag im Völkischen Beobachter unter der Überschrift "Reichsbahn und Schenker enteignen das Speditionsgewerbe" ab. Es handele sich bei dem Vertrag um eine ,,kalte Sozialisierung zugunsten einer inter87 Die Spitzenorganisationen des Speditions- und Fuhrgewerbes bekämpften den Vertrag, wie die Reichsbahn feststellen mußte, "auch in der Form mit ungewöhnlicher Schärfe." (Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen 71 (1931),26.2. 1931, S. 233). 88 Vossische Zeitung, 6. 2. 1931. 89 Berliner Tageblatt, 6.2.1931, Morgenausgabe. 90 Berliner Tageblatt, 7.2.1931, Abendausgabe. 91 Vossische Zeitung, 10.2. 1931.

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nationalen Finna", der durch Artikel 164 der Weimarer Reichsverfassung gewährleistete Schutz des Mittelstandes werde verletzt92 • Verhalten positiv über den Vertrag äußerte sich das SPD-Organ Vorwärts. Das Projekt erschien der Zeitung nur annehmbar, "wenn eine ausreichende öffentliche Kontrolle gewährleistet ist, die vennutlich ohne maßgebliche Beteiligung der Bahn an der neuen Bahnspeditionsgesellschaft nicht zu erreichen ist,,93. Der Vorwärts glaubte jedoch, "daß die Reichsbahn über das Ziel hinausschießt, wenn sie die Kraftwagenfemtransporte möglichst überhaupt unterbinden oder zum mindesten sehr stark erschweren will." Zudem seien die Pläne der Reichsbahn "zu schematisch und zu einseitig reichsbahnorientiert." Es sei deshalb in jedem Fall notwendig, daß "das oberste Aufsichtsorgan, das Reichsverkehrsministerium, und auch, in Anbetracht der großen volkswirtschaftlichen Bedeutung der gesamten Neuordnung, der Reichstag sich mit diesen Fragen beschäftigen." Entsprechend rückte der Schenker-Vertrag in das Zentrum der zufälligerweise nur wenige Tage nach seiner Veröffentlichung stattfindenden Reichstagsdebatte über den Haushalt des Verkehrsministeriums. Dort wurde der Vertrag allgemein abgelehnt. Zum schärfsten Kritiker machte sich der Vertreter der Spediteurslobby im Reichstag, der Wirtschaftspartei-Abgeordnete Mollath, der den Bahnspeditionsvertrag als "Versailler Vertrag für das deutsche Transport- und Fuhrgewerbe" bezeichnete 94 . Der SPD-Abgeordnete Hünlich kritisierte zwar weniger den Inhalt des Vertrages, lehnte aber die "Art und Weise des Verfahrens" seines Zustandekommens aufs schärfste ab95 . Verwies die Staatspartei lediglich auf die Genehmigungspflicht durch die Reichsregierung, welche von der Reichsbahn ignoriert worden sei96, stellte sich die DVP voll und ganz hinter das Speditionsgewerbe. Ihr Redner Hugo betonte vor allem, daß der Vertrag zu undurchsichtig sei und aufgrund des "Ausbaus des Monopolgedankens,,97 problematisch werde, da von ihm nicht nur die 3.800 bahnamtlichen Spediteure, sondern das gesamte Speditionsgewerbe betroffen seien. Ihm schlossen sich in ihrer Ablehnung die Deutsch-Hannoveraner, 92 Völkischer Beobachter, 18.2. 1931. Der Art. 164 lautete: "Der selbständige Mittelstand in Landwirtschaft, Gewerbe und Handel ist in Gesetzgebung und Verwaltung zu fördern und gegen Überlastung und Aufsaugung zu schützen." (Zit. n.: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. 8.1919, wie Anm. 8, S. 417). 93 Vonvärts, 17. 2. 1931. Damit forderte die Zeitung genau das, was in Wirklichkeit bereits passiert war, nämlich den Kauf der Firma Schenker, von dem die Öffentlichkeit aber nicht erfahren sollte. 94 Stenographische Berichte des Reichstags, Bd. 445, S. 1065. 95 Ebd., S. 1077. Bei einer genauen Betrachtung des Speditionsgewerbes würden schließlich eine ganze Reihe von Mißständen in der Verkehrswirtschaft zutage treten, "und wenn die Reichsbahn ihnen zu Leibe gehen will, so kann man ihr dabei nicht ohne weiteres in den Arm fallen". 96 Ebd., S. 1087. Ihr Redner Winschuh forderte vor allem, daß anderen Speditionen ein leichterer Zugang zu den Regelungen des Bahnspeditionsvertrages ermöglicht werden sollte. 97 Ebd., S. 1080.

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das Deutsche Landvolk sowie das Zentrum und die Bayerische Volkspartei an 98 . In verschiedenen Entschließungsanträgen verwies der Reichstag die Angelegenheit schließlich an den Verkehrsausschuß 99 . Dieser berichtete am 24. März über seine Beratungen, am 25. März wurde über die Anträge abgestimmt, das Ergebnis war eine einhellig ausgesprochene Aufforderung der Reichstagsabgeordneten an die Reichsbahn, die Rechte der Reichsregierung zu wahren 1OO • Mit diesem Beschluß wandte sich der Reichstag also weniger gegen den Inhalt des Vertrages als gegen das Verfahren seines Zustandekommens. So einhellig die öffentliche Ablehnung des Vertrages war, so unterschiedlich waren die Gründe für diese Ablehnung. Nur in einer Frage war sich die gesamte Öffentlichkeit, die Presse wie auch Partei- und Wirtschaftsvertreter, einig: Die Tatsache, daß der Vertrag ohne Konsultation und hinter dem Rücken der Reichsregierung entstanden war, erschien als nicht akzeptabel 101 . In allen weiteren Fragen war die öffentliche Ablehnungsfront gegen den Vertrag aber weniger geschlossen. Lediglich das Speditionsgewerbe und seine Lobby bestritten die Gültigkeit des Schenker-Vertrages insgesamt und erklärten ihn für unvereinbar mit dem Reichsbahngesetz von 1924 102 . Die Reichsbahn wies diese Vorwürfe natürlich zurück. Die vertragliche Gegenseitigkeit von Leistung und Gegenleistung begründe nicht Ebd., S. 1090, und 28. Reichstagssitzung, 20. 2.1931, S. 1100. 50. Reichstagssitzung, 20.3.1931, ebd., S. 1119. 100 51. Reichstagssitzung, 25. 3. 1931, ebd., S. 2003. 101 Die Reichsbahn entgegnete auf diese Vorwürfe, nicht die Frage, ob die Reichsregierung informiert worden sei, sondern lediglich die, ob sie den Vertrag hätte genehmigen müssen, stünde zur Diskussion. Aber dieser Streit sei "in der formellen Art, wie er geführt wird, ganz gleichgültig." (Kienitz, R. von, Reichsbahn und Schenker-Vertrag, in: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen 71 (1931),9.4. 1931, S. 405) Nach dem Reichsbahngesetz sei von der Notwendigkeit einer derartigen Genehmigung "nicht die Rede" (ebd., S. 406). Einziger Anhaltspunkt im Reichsbahngesetz hierfür war ihrer Meinung nach der § 31 Nr. 4 des Reichsbahngesetzes, nach dem die Genehmigung lediglich für "Beteiligung an anderen Unternehmungen" erforderlich war. Da die Öffentlichkeit von der Schenker-Übernahme jedoch nicht informiert worden war - und auch durch die Reichsregierung nicht informiert wurde - konnte die Reichsbahn öffentlich erklären, dieser Tatbestand sei nicht eingetreten. Vgl. hierzu Reichsbahnoberrat von Beck, Reichsbahn und Spedition, in: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen 71 (1931),26.2.1931, S. 240. 102 Nach einem Gutachten, weIches der Rechtsanwalt Isaac im Auftrag des Vereins deutscher Spediteure anfertigte, verstieß der Vertrag unter anderem gegen den § 2 RBG, der besagte, daß die Reichsbahn ihren Betrieb unter Wahrung der Interessen der deutschen Volkswirtschaft nach kaufmännischen Gesichtspunkten zu führen hätte. Es vertrage sich nicht mit den Interessen der deutschen Volkswirtschaft, daß ein ganzes Gewerbe durch einen Vertrag zwischen zwei monopolartigen Gebilden aufgesogen werde. Der Vertrag verstoße darüber hinaus gegen den § 31, nach dem "allgemeine grundlegende Neuerungen" nur mit Genehmigung der Reichsregierung vorgenommen werden durften. Außerdem hätte hierfür nach § 38 auch die Zustimmung des Reichspräsidenten eingeholt werden müssen. In einem weiteren Rechtsgutachten wurde der Bahnspeditionsvertrag mit dem § 6 der Eisenbahnverkehrsordnung für unvereinbar erklärt, da die von der Reichsbahn gewährten Zuschüsse unzulässige Begünstigungen einzelner Spediteure seien. (Die Gutachten sind abgedr. in der Speditionsund Schiffahrts-Zeitung 1931, S. 107 u. 213). 98 99

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automatisch eine gegenseitige Beteiligung. "Wo hier [beim Schenker-Vertrag, G.K.] im Sinne des deutschen Sprachgebrauchs eine ,Beteiligung' liegen soll, ist unerfindlich ,,103. In erster Linie verwendeten die Spediteure das Argument der juristischen Unzulässigkeit, weil sie den Vertrag aus wirtschaftlichen Gründen ablehnten. Es gelang ihnen aber auch mit wirtschaftlichen Argumenten, wenigstens Teile der Öffentlichkeit auf ihre Seite zu ziehen. Der Vertrag, so verkündeten sie in zahlreichen Presseverlautbarungen, sei ein Verstoß gegen den freien Wettbewerb, da die durch Schenker autorisierten bahnamtlichen Unternehmen Betriebszuschüsse erhielten. Seine Durchführung werde das selbständige Speditions- und Fuhrgewerbe im großen Maß ausschalten, "die Existenz tausender, zum Teil alter, angesehener Unternehmungen werde mit einem Schlage vernichtet,,104. Im Gegenzug erklärte die Reichsbahn, die Maßnahmen würden im ganzen eine "Verbilligung der Gesamtkosten der Eisenbahnbeförderung bei den Einzelsendungen und hochwertigen Ladungen von erheblichem Ausmaß" bewirken 105 . Da die bahnamtlichen Rollgebühren auch künftig lediglich als Höchstsätze gelten würden, sei der Wettbewerb weiterhin frei 106. Mit der Firma Schenker sei lediglich deshalb exklusiv verhandelt worden, weil diese bereits eine der größten Speditionsfirmen mit einem Anteil von über einem Drittel des Samme1gutverkehrs der gesamten deutschen Speditionen sei l07 . Die Reichsbahn gestand zu, daß der Vertrag Arbeitsplätze vernichten würde, eine Rationalisierung des Rollfuhrdienstes aber sei praktisch ausgeschlossen, "wenn man jedem gegenwärtig in der An- und Abfuhr tätigen Speditions- und Fuhrbetrieb seine bisherigen Betätigungsmöglichkeiten auch für künftig gewährleisten will,,108. Den vor allem aus nationalen Kreisen erhobenen Vorwurf, der Vertrag öffne ausländischem Einfluß Tor und Tür, da sich Schenker ja vorwiegend in österreichischer Hand befände, stellte die Reichsbahn nicht richtig. Sie erklärte vielmehr, es habe die Gefahr bestanden, daß Schenker, der von der DRG als deutscher Speditionskonzern bezeichnet wurde, unter amerikanischen Einfluß hätte geraten können. "Diese Gefahr wird jetzt abgewendet oder jedenfalls in ihrer Bedeutung erheblich herabgesetzt werden, wenn es auf dem Boden des jetzt geschlossenen Vertrags gelingt, einerseits das deutsche Speditionswesen dem Zugriff derartiger 103 Kienitz, R. von, Reichsbahn und Schenker-Vertrag, in: Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen 71 (1931),9.4.1931, S. 406. Auch hier ist zu bedenken, mit welcher Selbstverständlichkeit die Reichsbahn über die Tatsache hinweggeht, daß sie in dem geheimen Kaufvertrag genau diese Beteiligung realisiert hat. Die Taktik der Reichsbahn ging in diesem Punkte auf. Im Laufe der Auseinandersetzung verschwand der Vorwurf der juristischen U nzulässigkeit völlig aus der öffentlichen Diskussion. 104 Speditions- und Schiffahrts-Zeitung 1931, S. 108. 105 Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen 71 (1931), 12.2. 1931, S. 181. 106 Ebd., S. 182. 107 Angabe in: von Beck, Reichsbahn und Spedition, wie Anm. 101, S. 240. 108 Ebd.

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ausländischer Pläne zu entziehen und andererseits in einem Bündnis mit der Reichsbahn einen gesunden Lastkraftwagenverkehr in Deutschland auch in den Überlandverkehrsbeziehungen zu entwickeln"I09. Auf dem Weg zum Kompromiß: Die Notverordnung vom 6. Oktober 1931 und der Bahnspeditionsvertrag Während die Öffentlichkeit leidenschaftlich über den Schenker-Vertrag diskutierte, begann bereits Mitte Februar hinter verschlossenen Türen der Versuch, eine Einigung zwischen Reichsbahn, Spediteuren und Reichsregierung herbeizuführen. Den Beginn konstruktiver Verhandlungen bildete eine von Reichskanzler Brüning initiierte Besprechung mit Vertretern des Speditionsgewerbes, an der die Reichsbahn nicht beteiligt war llO • Während der Reichsverband des Deutschen Speditionsgewerbes seine vollständige Ablehnung des Vertrages zum Ausdruck brachte, erkannte der Reichsverband der deutschen Industrie in diesem Gespräch die Zielsetzung des Vertrages ausdrücklich an. Da ein allgemeines Interesse daran bestehe, "die Reichsbahn gesund zu erhalten," müsse das Vorgehen der Reichsbahn zu einer Ordnung des Rollfuhrwesens grundsätzlich begrüßt werden. Das Speditionsgewerbe sei übermäßig zersplittert und dadurch unwirtschaftlich organisiert. Der Vertrag sei sehr klar und enthalte "gesunde Gedanken", die von einer zu bildenden Kommission aus Vertretern des Speditionsgewerbes und der Spitzenverbände der Wirtschaft in einer Einigung berücksichtigt werden müßten. Auch in den Augen des Deutschen Industrie- und Handelstags versprach der Vertrag eine ,,Reihe von Verbesserungen des gegenwärtigen Zustandes, die vom Standpunkt der Verfrachter und damit der gesamten Wirtschaft zu begrüßen sind"lll. Dies sei vor allem die Vereinheitlichung und Verbilligung der Rollgebühren und die Ausdehnung der Haftungsbestimmungen der Eisenbahnverkehrsordnung auf den Rollfuhrdienst. Andererseits biete das Abkommen jedoch Anlaß zu sehr schweren Bedenken, "von deren Beseitigung es der Deutsche Industrie- und Handelstag abhängig machen muß, ob er dem Vertrag als im ganzen im Interesse der Wirtschaft gelegen seine Billigung auszusprechen vermag." Diese betrafen in erster Linie die befürchtete Ausschaltung von Konkurrenz und damit von Wettbewerb. In den nächsten Wochen folgten zahlreiche Gesprächsrunden mit den beteiligten Interessengruppen, denen der wichtigste Zusarnmenschluß von LKW-FuhrEbd., S. 239. Aufzeichnung über die Verhandlungen mit Vertretern des Speditionsgewerbes am 18. 2. 1931 "wegen des Rollspeditions-Vertrages der Reichsbahn", BA R 43 111072, Bi. 109

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213 - 215.

III Die Stellungnahme ist wiedergegeben in einem Schreiben des Präsidiums des Deutschen Industrie- und Handelstages an Reichskanzler Brüning vom 20. 2. 1931, BA R 43 11 1072, Bi. 219f.

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betrieben, der Verein Deutscher Spediteure (VDS), allerdings ab Ende März fernblieb ll2 . Der VDS beschränkte sich in der folgenden Zeit auf eine Fundamentalablehnung des Vertrages und versicherte sich hierbei der verschiedenen regionalen Zusammenschlüsse von Spediteuren 113. Mit immer neuen Eingaben an die Reichskanzlei forderte er von der Reichsregierung die Rücknahme des Vertrages l14 . Im Mai 1931 bot der Reichsverband der Automobilindustrie (RDA) für die Vertreter des LKW-Gewerbes an, einer Konzessionierung des Fernverkehrs, der Einführung eines verbindlichen und überwachten Tarifsystems auf der Grundlage der LKW-Selbstkosten sowie einer Zusammenfassung des Gewerbes in zwei oder drei große Organisationen zur Überwachung der Abmachungen zuzustimmen. Als Ausgleich verlangte der RDA von der Reichsbahn dafür eine Aufgabe der K-Tarife, die Änderung des Schenker-Vertrages sowie die Öffnung des Sammelladungsverkehrs der Bahn. Lediglich eine Nahzone bis 75 km sollte künftig ungeregelt bleiben. Darüber hinaus sollte die für die Eisenbahn geltende Betriebs- und Beförderungspflicht auf den LKW-Güterverkehr ausgedehnt werden. Verkehrsarme Strecken sollten durch einen Ausgleichsfond subventioniert werden, in den drei Prozent aller Frachteinnahmen fließen sollten 115. Die Reichsbahn lehnte diesen Vorschlag jedoch ab. Um eine größere Kompromißbereitschaft seitens der Reichsbahn zu erzwingen, koppelte die Regierung in der Folge die Gespräche über den Bahnspeditionsvertrag an die gleichzeitig schwebenden Verhandlungen über den seit Dezember 1930 angekündigten Entwurf zur Neuregelung des gewerblichen Kraftverkehrs. Eine Neuregelung des Kraftfahrliniengesetzes von 1925 erschien dem Reichsverkehrsministerium zum einen notwendig, weil dieses nur für den regelmäßigen Güterverkehr galt und damit "so gut wie gar keine Anwendung" fand, wie von Guerard in seiner Begründung für den neuen Gesetzentwurf erklärte l16 • Der nunmehr ausgearbeitete Gesetzentwurf unterstellte jeden Güterverkehr über eine Strecke von mehr als 50 Kilometern dem Genehmigungszwang l17 . Der Reichsverkehrsminister legte darüber hinaus für das ganze Reich einheitliche Mindestbeförderungspreise fest, die VgI. hierzu den Vennerk vom 31. 3.1931, BA R 43 II 1072, BI. 316. Diese überfluteten die Reichskanzlei in den folgenden Wochen mit Aufforderungen, an einer Ablehnung des gesamten Vertrages festzuhalten. VgI. die verschiedenen Telegramme in BA R 43 II 1072, BI. 321 (Zentralverband der deutschen Seehafenspediteure, Verein Hamburger Spediteure), BI. 322 (Verein Bremer Fuhrherren), BI. 327 (Reichsverband des deutschen Speditionsgewerbes), BI. 337 (Kölner Spediteurverein), BI. 338 (Verband westdeutscher Spediteure), BI. 339 (passauer Spediteurverein), BI. 340 (Magdeburger Spediteure im Verband Transport- und Verkehrsgewerbe) . 114 VgI. den entsprechenden Vennerk Pünders vom 7.5. 1931, BA R 43 II 1072, BI. 329. 115 Die Vorschläge werden referiert bei Anton Heimes, Vom Saumpferd zur Transportindustrie, Bonn/Bad Godesberg 1978, S. 85 - 87. 116 Erläuterung des Reichsverkehrsministers von Guerard zur Neuregelung des Überlandverkehrs mit Kraftfahrzeugen vom 1. 7.1931, BA R 431/ 1072, BI. 400-403, hier BI. 400. ll7 Entwurf der "Verordnung des Reichspräsidenten über den Überlandverkehr mit Kraftfahrzeugen", BA R 43 II 1073, BI. 20 - 25. 112

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weitgehend den Reichsbahntarifen angeglichen werden sollten, "so daß die bisherige Unterbietung der Bahntarife nicht mehr möglich ist" II 8. Das Gesetz, so glaubte von Guerard, sei die "Lösung der seit Jahren umkämpften Probleme Eisenbahn und Kraftwagen"ll9, und entspreche damit weitgehend des Wünschen der Reichsbahn. Ohne den Verein deutscher Spediteure und gegen deren Vertreter im Reichstag, Mollath, ließ sich so mit der Reichsbahn und den Wirtschaftsverbänden bis Anfang Juli ein Kompromiß für den Bahnspeditionsvertrag aushandeln. Die vereinbarten Veränderungen waren nach Ansicht der Reichsregierung "für die Wirtschaft und das Speditionsgewerbe von größter Bedeutung" und stellten "wesentliche Verbesserungen" dar 12o. Der Monopolcharakter des Rollfuhrspeditionsvertrags sei ganz verschwunden, "sowohl formell wie materiell". Zwar würden Arbeiterentlassungen in größerem Ausmaße nicht zu vermeiden sein, "die von der Opposition genannten Zahlen von über 100.000 seien aber glatter Schwindel, allerhöchstens könne es sich um einige tausend Arbeitsplätze handeln,,121. Die nunmehr unter dem Namen "Deutsche Bahnspedition" firmierende Firma sollte lediglich dann selber den örtlichen Rollfuhrdienst übernehmen, wenn die Firma Schenker an dem betreffenden Ort schon vorher bahnamtlicher Spediteur gewesen war und keine andere Rollgemeinschaft unabhängiger Spediteure den Dienst übernehmen könnte. Zudem sollte die von den Spediteuren abgelehnte kurze Vertragslaufzeit für Provisionstätigkeit von einem Jahr auf bis zu fünf Jahre verlängert und der Provisionsspediteur von den zunächst vorgesehenen Bindungen hinsichtlich der Verkehrsbeobachtung und Verkehrswerbung befreit werden. Keine Einigung war bis zu diesem Zeitpunkt hinsichtlich der Frage der Rollgebühren erzielt worden. Hier beharrte die Reichsbahn auf der Möglichkeit, diese beliebig senken zu können, wenn sie dem Spediteur "Schadloshaltung" zusicherte. Der Reichsverkehrsminister wiederum beharrte auf seiner Forderung, diese Tarife genehmigen zu können. Die Reichsbahn akzeptierte nach anfänglichem Zögern diese Forderung, nicht zuletzt, weil von Guerard ein Junktim zwischen diesem Kompromiß und der angekündigten Einführung des Kraftwagengesetzes ausgesprochen hatte und an diesem "trotz aller Bemühungen" der Reichsbahn festhielt 122 • Damit schien der Weg zu einer Beilegung des Konflikts frei zu sein. Mitte Juli sandte von Guerard die Entwürfe für den Bahnspeditionsvertrag und die Notverordnung über den Überlandverkehr mit Kraftfahrzeugen an die Reichskanzlei und bat um Stellungnahme und Behandlung im Reichskabinett 123 • Unter Hinweis auf Ebd., BI. 402. Ebd., BI. 403. 120 Bericht des Reichsverkehrsministers von Guerard über das Verhandlungsergebnis vorn 1. 7.1931, BA R 4431/1072, BI. 390. 121 Vermerk des Staatssekretärs Pünder vorn 3. 7.1931, BA R 431/1072, BI. 383 - 385. 122 Niederschrift über die 44. Sitzung des Verwaltungsrates der DRG am 1. 7. 1931, DB AG, RBD Erfurt Nr. 994, BI. 56. 123 Begründung des Reichsverkehrsministeriums zum Verordnungsentwurf über die Neuregelung des Überlandverkehr mit Kraftfahrzeugen, BA R 43 1/1073, BI. 2 - 31. 118 119

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einen bedrohlichen Einnahmerückgang bei der Reichsbahn forderte er am 28. Juli eine beschleunigte Verabschiedung der Vorlage 124. Am 5. August erhielt von Guerard das grundsätzliche Einverständnis des Kabinetts 125. Am gleichen Tag konnte Dorpmüller dem DRG-Verwaltungsrat mitteilen, daß es zur Einigung mit dem Reichsverkehrsminister gekommen sei 126 . Der Verein Deutscher Spediteure und der Reichsverband sowie die Vereinigung der Fuhrbetriebe Deutschlands verweigerten allerdings ihre Zustimmung 127. Ihre Bedenken sollten auf einer für den 4. September von Reichskanzler Brüning anberaumten Besprechung aus dem Weg geräumt werden 128 • Die beiden Spediteursvereinigungen hielten dort jedoch an ihrer Ablehnung fest. Nach der Regelung des Wettbewerbs zwischen Eisenbahn und Kraftwagen durch das Gesetz über Kraftfahrlinien könne für die Durchführung des Schenker-Vertrages kein Bedürfnis mehr anerkannt werden 129. Der VDS hatte erkannt, daß die Verordnung den Bahnspeditionsvertrag eigentlich überflüssig gemacht hatte. Dieser war lediglich durch den geheimgehaltenen Kauf der Firma Schenker weiterhin für die Reichsbahn wichtig. Von Guerard befand sich nun in einer Zwickmühle. Nach Verabschiedung des Gesetzes über den Kraftwagenverkehr war der Hauptzweck des Schenker-Vertrages, nämlich die Bekämpfung des Kraftwagens, erreicht. Die Reichsbahn wäre wohl von einer Verfolgung des Schenker-Vertrages zurückgetreten, "wenn eben nicht der unglückliche Kauf der Firma Schenker erfolgt wäre"I3o. Ein Rücktritt von dem Kaufvertrag hätte die Reichsbahn aber voraussichtlich regreßpflichtig gemacht. 124 Schreiben des Reichsverkehrsministers von Guerard an den Staatssekretär in der Reichskanzlei, Pünder, vom 28.7. 1931, ebd., BI. 51 - 53. 125 Die Kabinette Brüning, wie Anm. 69, Dok. Nr. 431, S. 1521 f. Allerdings mußten die Länder dem Vertrag noch zustimmen. Deren Vertreter forderten lediglich eine Herabsetzung der Genehmigungsgrenze von 50 auf 20 Kilometer, da auch die Kleinbahnen gegen die Konkurrenz des LKW geschützt werden müsse. (Aktenvermerk der Reichskanzlei vom 20. 8. 1931, BA R 431/ 1073, BI. 103) Der Verband Deutscher Verkehrsverwaltungen und der Deutsche Landkreistag machten die gleichen Bedenken geltend. (V gI. das Schreiben des Verbandes Deutscher Verkehrsverwaltungen an die Reichskanzlei vom 20.8. 1931, BA R 43 1/ 1073, BI. 145, und die Stellungnahme des Deutschen Landkreistags vom 13. 8. 1931, BA R 43 1/1073, BI. 118) Außerdem wies der preußische Ministerialrat Strunden auf die tatsächlich in der Folge zu einem großen Problem werdende Frage nach der Kontrollierbarkeit der Verordnung hin. Die Konsultation der Länder hatte aber nur noch kleinere Änderungen der Verordnung zur Folge, die vor allem eine eindeutigere Bestimmung der Länderrechte bei der Genehmigung der Kraftfahrlinien beinhalteten. (Auflistung der Änderungen im Schreiben des Reichsverkehrsministers an den Staatssekretär in der Reichskanzlei, Pünder, vom 20.8. 1931, BA R 431/ 1073, BI. 147f.). 126 Niederschrift über die außerordentliche Sitzung des Verwaltungsrates vom 5.8. 1931, DB AG, RBD Erfurt Nr. 994, BI. 94. 127 VgI. die Schreiben 25. 7. 1931 und 31. 7. 1931 an die Reichskanzlei in, BA R 43 1/ 1073, BI. 71 -77 u. BI. 88. 128 Protokoll der Besprechung vom 4.9. 1931 in BA R 431/ 1073, BI. 226 - 228. 129 Ebd. BI. 226. 130 Vertrauliches Schreiben von Guerards an Reichskanzler Brüning vom 8. 9. 1931, BA R 43 1/ 1073, BI. 229.

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Als das Gesetz über Kraftfahrlinien am 6. Oktober 1931 schließlich im Rahmen der Notverordnung des Reichspräsidenten in Kraft trat 131 , wurde deshalb über die Ausgestaltung des Schenker-Vertrages immer noch verhandelt. Erst das Revirement des Reichskabinetts am 9. Oktober 1931 machte den Weg zu einer Einigung frei. Zähe Verhandlungen zwischen Reichsbahn, Wirtschaftsvertretern und Reichsverkehrsministerium führten schließlich zu der Idee, neben den Schenker-Vertrag ein zweites Abkommen zu stellen, nach dem die Reichsbahn die Zuschüsse, die sie zur Senkung der Rollgebühren den bahnamtlichen Unternehmern zahlen wollte, auch allen anderen Spediteuren gewährte. Als Gegenleistung mußten sich diese verpflichten, den von der Reichsbahn vorgegebenen Tarif einzuhalten und sich einer Kontrolle zu unterwerfen. Fernverkehr durften die Spediteure nur im Einverständnis mit der Reichsbahn betreiben oder benutzen. Diese Idee stieß auf allen Seiten auf Zustimmung. Hinsichtlich der Senkung der Rollgebühren und der Bindungen für den Kraftwagenverkehr war durch das neue Abkommen das Ziel des Bahnspeditionsvertrages aus der Perspektive der Reichsbahn im großen und ganzen erreicht. Die Erweiterung des Kreises der Zuschußberechtigten führte jedoch zu einer Erhöhung des Aufwands für Zuschußleistungen. Den zusätzlichen Mehraufwand bezifferte Reichsbahnoberrat von Beck vor dem Verwaltungsrat auf bis zu 30 Millionen RM jährlich. Er empfahl dennoch dringend die Annahme des zweiten Abkommens, "da ohne diese Maßnahmen die Verordnung über die Regelung des Kraftwagenverkehrs für die Reichsbahn nahezu wertlos sei,,132. Der neue Reichsverkehrsminister Treviranus genehmigte den Bahnspeditionsvertrag schließlich genau zwei Monate nach Erlaß der Notverordnung am 6.12.1931 133 • I3\ Das neue Gesetz sollte nicht auf ordentlichem Weg über den Reichstag in Kraft gesetzt werden, sondern im Rahmen einer neuen umfassenden Notverordnung, "weil dadurch die Sicherung der neuen Notverordnung verstärkt werde." (Vermerk des Staatssekretärs Pünder vom 3. 7. 1931, BA R 43 111072, BI. 384) Das neue Kraftfahrliniengesetz hätte also nach Einschätzung der Reichsregierung problemlos den normalen Weg über den Reichstag nehmen können. Der einzige Grund für die Entscheidung, dieses auch im Rahmen einer Notverordnung zu erlassen, war das Kalkül, daß die anderen Bestimmungen der Notverordnung so eine größere öffentliche Akzeptanz erhalten sollten. Gegen den Erlaß der Verordnung als Notverordnung wandte sich vor allem die preußische Landesregierung. (Vgl. das Schreiben des preußischen Ministerpräsidenten, Braun, an Reichskanzler Brüning vom 25. 8. 1931, in dem er seinen "erheblichen rechtlichen Bedenken" Ausdruck verleiht. BA R 43 111073, BI. 180). 132 Niederschrift über die 46. Sitzung des Verwaltungsrates der DRG am 24. 11. 1931, DB AG, RBD Erfurt Nr. 994, BI. 163. Das Berliner Tageblatt meldete Mitte November den bevorstehenden Komprorniß zwischen Reichsbahn und Spediteuren und sprach dabei der Reichsbahn ein außerordentliches Geschick in der Behandlung der ganzen Frage zu. ,,Aus einer verfehlten Kreditpolitik an die Firma Schenker erwuchs der Reichsbahn die Notwendigkeit, diesen Speditionskonzern zu übernehmen, um die Kredite ... zu retten. Um die Rentabilität dieses Konzerns sicherzustellen, hat sie den berühmten Monopolvertrag geschlossen, den sie gleichzeitig zu einer scharfen Waffe gegen den gegenwärtigen und zukünftigen Kraftwagenwettbewerb schmiedete." (Berliner Tageblatt, 16. 11. 1931, Abendausgabe).

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Ab März 1932 wurde der Bahnspeditionsvertrag im gesamten Reichsgebiet umgesetzt, die von der Reichsbahn erstrebte Verbilligung der Rollfuhrgebühren und der Nebenkosten in dem von ihr erhofften Umfange erreicht 134 . Zuschüsse waren entgegen den Erwartungen nur an verhältnismäßig wenigen, größeren Orten notwendig geworden. An dem Rollfuhrdienst waren mehr als 3.000 Spediteure beteiligt, darunter außer fast allen bisherigen bahnamtlichen Rollfuhrunternehmern und die meisten großen Speditionsflrmen. Da es der Reichsbahn gelungen war, die Zahl der durch das zweite Abkommen an die Bahn gebundenen Spediteure auf etwa 200 zu begrenzen, schien ihr auch der Rationalisierungserfolg "im wesentlichen gesichert,,135. Zudem hatten sich mehrere große Spediteure, die bisher ihre Güter größtenteils auf Lastwagen befördert hatten, dem Bahnspeditionsvertrag angeschlossen und sich zur Rückführung ihrer gesamten Güter zur Schiene verpflichtet. Nach Einschätzung der Reichsbahn hatte sich das Speditionsgewerbe mit dem Vertrag abgefunden. Die Tätigkeit der Firma Schenker wurde von der Reichsbahn positiv bewertet l36 . Im ganzen waren in den ersten 6 Monaten für allgemeine Zuschüsse insgesamt 3,6 Millionen RM aufgewendet worden 137 • Dafür war eine durchschnittliche Gebührensenkung von zehn bis zwanzig Prozent bei den kleineren Orten erzielt worden, von 30 bis 40 Prozent bei den mittleren Orten und sogar 50 bis 80 Prozent bei den größeren Orten, was nach Einschätzung der Reichsbahn für die Verfrachter eine Gesamtentlastung für das erste halbe Jahr von mindestens 10 Millionen RM bedeutete 138 .

133 Vgl. den entsprechenden Aktenvermerk, BA R 43 111073, BI. 310. Mit der Genehmigung des Bahnspeditionsvertrages durch Treviranus war die Diskussion über den Vertrag jedoch noch nicht beendet. Der Reichstag hatte sich noch einmal mit dem Problemkreis zu beschäftigen, weil der Abgeordnete Mollath von der Wirtschaftspartei als Sprachrohr des Vereins der Spediteure erneut dafür sorgen wollte, daß der Reichstag die Reichsregierung aufforderte, auch dem Kompromißvertrag die Zustimmung zu verweigern. (56. Reichstagssitzung, 16. 10. 1931, in: Stenographische Berichte des Reichstags, Bd. 446, S. 2223) Im Verkehrsausschuß, an den sein Antrag verwiesen wurde, konnte sich Mollath allerdings nicht mehr durchsetzen. (Vgl. den Bericht des 15. Ausschuß (Verkehrsangelegenheiten) vom 25.2.1932, in: Stenographische Berichte des Reichstags, Bd. 452, Anlagen, Nr. 1395). 134 Protokoll der Tarifausschußsitzung des Verwaltungsrates der Deutschen ReichsbahnGesellschaft vom 8. 3. 1932, OB AG, RBD Erfurt Nr. 994, BI. 235 f. 135 Ebd., BI. 236. 136 Laut Reichsbahnoberrat von Beck ergab sich "für das bei der Firma Schenker & Co arbeitende Kapital eine reichliche Verzinsung", ebd. 137 Bericht zur Durchführung des Bahnspeditionsvertrags und der in seinen Bereich gehörenden Maßnahmen von Reichsbahndirektor Beck, Beilage b zur Niederschrift der 38. Präsidentenkonferenz am 28. 9. 1932, OB AG, RBD Erfurt Nr. 11, BI. 26. Damit waren an sehr viel weniger Plätzen Zuschüsse notwendig geworden, als ursprünglich angenommen wurde, nämlich nur an 25 Orten. Auch dem Ausmaß nach haben sich diese Zuschüsse wesentlich niedriger als erwartet halten lassen. "Hauptsächlich liegt das an den stark zurückgegangenen Verkehr, zum Teil aber auch an den im Laufe der letzten 1 1/2 Jahre verbilligten Selbstkosten des Fuhrgeschäfts", ebd. 138 Ebd., BI. 27.

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An dem Zustand der ruinösen Preisunterbietung durch die einzelnen Unternehmer des gewerblichen Güterkraftverkehrs im Parallelverkehr Schiene-Straße änderte sich allerdings trotz Bahnspeditionsvertrag und Kraftfahrliniengesetz nur wenig, da dieses zwar den erwünschten Genehmigungszwang für den Güterfernverkehr über 50 km und einen für das ganze Reichsgebiet einheitlichen Kraftwagentarif eingeführt, nicht aber die zur Überwachung notwendigen Kontrollmöglichkeiten geschaffen hatte. Beklagte die Reichsbahn vor allem dieses Fehlen hinreichender Kontrollbestimmungen 139 , lehnte das Speditionsgewerbe auf der anderen Seite die Verordnung wegen der durch die dennoch durchgeführten Kontrollen entstehenden Verzögerungen ab. Zu einer Beilegung des Konfliktes Schiene Straße hatten Schenker-Vertrag und Kraftfahrliniengesetz also nicht beigetragen. Die Reichsbahn hielt die "Lösung der Kraftwagenfrage" weiterhin für dringend notwendig. Seit Anfang 1932 favorisierte sie deshalb zunehmend die Idee eines staatlich überwachten Kraftfahrmonopols als neuen Weg zur Überwindung der Konkurrenz 140 . Nach der Errichtung des Dritten Reichs wurde der Monopolgedanke auch von politischer Seite forciert. Hatten die Spediteure in Hitlers Machtübernahme zunächst noch die Chance gesehen, den Schenker-Vertrag zu suspendieren, so gelang es Dorpmüller am 16. März 1933, das neue Reichskabinett von seiner Idee eines staatlich gelenkten Verkehrssystems unter der Führung der Reichsbahn zu überzeugen 141 . Durch das Gesetz über die Errichtung eines Unternehmens ,Reichsautobahnen' wurde die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft am 27. 6. 1933 mit der Errichtung eines leistungsfähigen Netzes von Kraftfahrbahnen beauftragt, "weil der Streit zwischen Schiene und Kraftwagen letzten Endes nur dadurch beizulegen ist, daß der gesamte gewerbliche Güterfernverkehr einheitlicher Leitung unterstellt wird", wie es in der Begründung des Gesetzes hieß 142 . Das am 26. 6. 1935 erlassene Gesetz über den Güterfernverkehr mit Kraftfahrzeugen realisierte die Idee des zentral gelenkten Verkehrs 143 . Der Bahnspeditions139 "Herr von Beck berichtet, daß das Kraftverkehrsgesetz der Reichsbahn zunächst kaum Vorteil gebracht habe, weil eine allgemeine Regelung der Kontrolle der Durchführung der Gesetzesbestimmungen gefehlt und der Reichsverkehrsminister die Länderregierungen um Nachsicht gegenüber Gesetzesverletzungen während der ersten Monate gebeten habe." (Protokoll der Tarifausschußsitzung des Verwaltungsrates der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft vom 8. 3.1932, DB AG, RBD Erfurt Nr. 994, BI. 237). 140 Niederschrift über die Sitzung des Tarifausschusses der DRG am 10.6. 1932, DB AG, RBD Erfurt Nr. 995, BI. 6. Dabei sollte in keiner Weise "die von der überwiegenden Mehrzahl begrüßte Initiative der Hauptverwaltung bei Verfolg des Monopolgedankens irgendwie beschränkt werden". 141 Vermerk des Oberregierungsrats Willuhn über einen Vortrag des Generaldirektors der Deutschen Reichsbahngesellschaft zur Frage des Wettbewerbs zwischen Reichsbahn und Kraftverkehr am 16. 3. 1933, Akten der Reichskanzlei, Regierung Hitler 1933 - 1938, Teil I, bearb. v. Karl-Heinz Minuth, Bd. I, Boppard 1983, Dok. Nr. 64. 142 Gesetz über die Errichtung eines Unternehmens ,Reichsautobahnen' vom 27. 6. 1933, Reichsgesetzblatt 1933, Teil I, S. 509 f. 143 Gesetz über den Güterfernverkehr mit Kraftfahrzeugen, RGB1. 1935 I, S. 788 -793.

Der Kampf um das Monopol

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vertrag wurde damit außer Kraft gesetzt, alle Unternehmer von Güterfernverkehr zwangsweise im ,Reichskraftwagen-Betriebsverband' zusammengeschlossen, der direkten Aufsicht des Reichsverkehrsministerium unterstellt und als gleichberechtigter Verkehrsträger neben der Reichsbahn behandelt. Nur eineinhalb Jahre später wurde Dorpmüller neuer Reichsverkehrsminister. Damit war seine Idee von einer zentralen Lenkung des gesamten Verkehrs in Deutschland unter der Führung der Reichsbahn Wirklichkeit geworden.

Verfassungsumbau, Staatsnotstand und Querfront: Schleichers Versuche zur Fernhaltung Hitlers von der Reichskanzlerschaft August 1932 bis Januar 1933 Wolfram Pyta

I. Daß der 30. Januar 1933 - der Tag der Übertragung der Regierungsgewalt an Hitler - zu den einschneidensten und verhängnisvollsten Daten der deutschen Geschichte zählt, dürfte unbestritten sein. Um so heftiger drängt sich die Frage auf, ob jener Schritt unvermeidlich war, bis zu welchem Zeitpunkt noch eine praktikable Alternative zu Hitlers Reichskanzlerschaft zur Verfügung stand. Bis weit in die 80er Jahre hinein identifizierten die meisten Weimar-Experten den "point of no return", von dem aus die politische Entwicklung mehr oder minder zwangsläufig auf Hitler zulief, mit der Installierung der ersten Präsidialregierung unter Reichskanzler Heinrich Brüning am 30. März 1930. 1 Unzweifelhaft stellt die Etablierung des Präsidialkabinetts Brüning den Übergang zu einer schleichenden Transformation des politischen Systems weg von der parlamentarisch zentrierten Demokratie und hin zu einem auf die Autorität des Reichspräsidenten gestützten Präsidialregime mit antiparlamentarischer Stoßrichtung dar. Nur diese Verlagerung des politischen Koordinatensystems schuf die Konstellation, in der die NSDAP prächtig gedeihen, ihre Massenbasis gewaltig vermehren und damit erst ihren Anspruch auf die Regierungsrnacht einklagen konnte. An der politischen Verantwortung jener Kräfte auf Seiten der politischen Rechten, welche seit 1930 die NSDAP als Bundesgenossen bei der Unterminierung der parlamentarischen Demokratie zu instrumentalisieren suchten, läßt sich also ernsthaft nicht rütteln. Doch darf bei dieser Feststellung nicht übersehen werden, daß gerade aus diesem Lager in der Zeit vom August 1932 bis zum Januar 1933 die wohl aussichtsreichsten Versuche zur Unterbindung einer Kanzlerschaft Hitlers LI ternommen wurden. Nachdem die autoritär-konservativen Kräfte im Umkreis VOll Reichspräsident und Reichswehr die parlamentarische Demokratie entscheidend geschwächt und sich dabei der Dienste der Hitler-Partei versichert hatten, blieb es

J , .,

1 Diesen Gang der Weimar-Forschung gibt wieder: Kolb, Eberhard, Die Weimarer Republik, München 31993, S. 211- 215 und S. 221.

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ihnen vorbehalten, Hitlers Weg an die Regierungsrnacht so zu behindern, daß der "Führer" mehr als einmal kurz vor dem Zerplatzen seiner politischen Hoffnungen stand. Wenn der Historiker also nach den wirklich aussichtsreichen Alternativen zu Hitler Ausschau hält, dann muß er sein Hauptaugenmerk auf solche Bestrebungen aus den Kreisen der antiparlamentarischen, aber eben auch antinationalsozialistischen Rechten richten. Damit ist zugleich gesagt, daß ab dem August 1932 eine bloße Rückkehr zur Weimarer Demokratie politisch aussichtslos war. Eine Wiederherstellung des bis 1930 nie reibungslos funktionierenden parlamentarischen Regierungssystems mag zwar in normativer Perspektive als wünschbar erscheinen; angesichts eines Parlamentes, in dem Nationalsozialisten und Kommunisten seit der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 zusammen über die absolute Mehrheit der Sitze verfügten, mutet eine solche Vorstellung in hohem Maße irreal an. 2 Worum es seitdem nur noch gehen konnte, war die Verhinderung einer nationalsozialistischen Parteidiktatur bei Inkaufnahme der Schwächung der parlamentarischen Elemente des Verfassungsstaates. Dies aber hätte bedeutet, daß Hitler der Weg zur Macht versperrt und die Substanz des Verfassungsstaates hinübergerettet worden wäre mit der Option auf eine spätere Reaktivierung des parlamentarischen Prinzips. In diesem Zusammenhang fällt zweifellos der Person des Reichswehrrninisters und späteren Reichskanzlers Kurt von Schleicher eine Schlüsselrolle zu. Denn dieser politisierende General war im fraglichen Zeitraum der wohl entschiedenste und taktisch beschlagenste Gegenspieler Hitlers aus dem antiparlamentarischen Lager der ,,nationalen Rechten". Gewiß ist Schleichers Beitrag in diesem Machtpoker schon Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen. Doch lassen sich nun verrnittels neuer Quellenfunde die Grundzüge der Schleichersehen Konzeption genauer als bisher rekonstruieren, auch wenn dies im gedrängten Rahmen eines Aufsatzes nur in sehr komprimierter Weise geschehen kann. Beispielsweise lassen sich die bislang meist anonymen politischen Querverbindungen des Generals nun zumindest in einem Fall auch personifizieren. Zudem dürfte auch durch die intensive Auswertung des Nachlasses von Carl Schmitt erwiesen sein, daß dieser ambitionierte Staatsrechtier eine höchst bedeutsame Rolle als der Berater Schleichers in Verfassungsfragen spielte. Daher läßt sich aus archivalischen Hinterlassenschaften aus dem Nachlaß Carl Schmitt das politische Kalkül Schleichers indirekt erschließen. Schleichers Kräftemessen mit Hitler läßt sich in drei Phasen einteilen: a) die Mobilisierung der Staatsrnacht gegen die Nationalsozialisten in Gestalt des Staatsnotstandsplans vom August 1932; b) die Versuche zur politischen Einbindung des Strasser-Flügels in der NSDAP bei Verzicht auf die den Verfassungsbruch ein2 So auch die Auffassung in der großen Gesamtdarstellung von Heinrich August Winkler, Der Weg in die Katastrophe, Berlin/Bonn 1987, S. 861: ,,Nach dem Scheitern der Großen Koalition im Frühjahr 1930 gab es keine Chance mehr, Weimar als parlamentarische Demokratie wiederherzustellen".

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schließende Konfrontation mit der Reichstagsmehrheit (November-Dezember 1932); c) die Absage an den Machtanspruch Hitlers durch den Umbau der Weimarer Verfassung zu einem Präsidialsystem während Schleichers Reichskanzlerschaft (Januar 1933).

11. Zeichnen wir zunächst die Ausgangslage nach, wie sie seit dem 13. August 1932 vorlag. 3 An jenem Tag hatte Reichspräsident Hindenburg den Anspruch Hitlers auf die Kanzlerschaft in einer mit allen präsidialen Befugnissen ausgestatteten Regierung schroff zurückgewiesen. Damit war dem seit dem 1. Juni 1932 amtierenden Kabinett unter Reichskanzler Franz von Papen die ursprüngliche Geschäftsgrundlage - eine Tolerierung durch die Nationalsozialisten im Reichstag entzogen worden. Der starke Mann und Königsmacher dieser Regierung war kein geringerer als Schleicher, dessen ausschlaggebende Position auf zwei Fundamenten beruhte: zum einen zehrte er vom Vertrauen des Reichspräsidenten, das sich nicht zuletzt aus seinen freundschaftlichen Beziehungen zu Hindenburgs "in der Verfassung nicht vorgesehenem" Sohn Oskar speiste. Unter den Bedingungen eines immer weiter voranschreitenden Präsidialregimes stellte diese Vertrauensstellung das gewichtigste politische Kapital dar. Zum zweiten gebot Schleicher im Unterschied zu seinem politischen ,,ziehkind" Papen, der sich ebenfalls des Vertrauens des Hauses Hindenburg erfreuen durfte, über eine eigenständige Machtbasis in Gestalt der Reichswehr, als deren politischer Kopf und Minister er fungierte. Ein nicht zuletzt gegen die Nationalsozialisten gerichteter Konfrontationskurs, wie er seit dem 13. August 1932 fast unausweichlich geworden war, ließ sich nicht ohne die aktive Unterstützung der bewaffneten Macht exekutieren. Schleicher fiel in der Auseinandersetzung mit der Hitler-Partei um die Machtfrage mithin eine Schlüsselposition zu. Dabei zeichnete sich seit dem 13. August überdeutlich ab, daß eine konsequente Absage an Hitlers Machtanspruch die Regierungspolitik mindestens bis hart an den Rand eines Verfassungsbruchs manövrierte. Dies lag daran, daß die NSDAP nach der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 ein wichtiges Verfassungsorgan - nämlich den Reichstag - in den Dienst ihrer Machteroberungsstrategie stellen konnte. Diese Wahl hatte der Hitler-Partei nämlich nicht weniger als die Schlüsselposition beschert: Mit ihren 37,3 % aller abgegebenen Stimmen konnte sie jegliche positivparlamentarische Arbeit der Volksvertretung blockieren, da sie sich in der Destruktion und im Haß gegen das parlamentarische System mit den ansonsten befehdeten Kommunisten einig wußte. NSDAP und KPD legten also in schöner Eintracht den 3 Eine komprimierte Darlegung der politischen Konstellation vom Sommer 1932 findet sich bei: Eberhard Kolb/Wolfram Pyta, Die Staatsnotstandsplanung unter den Regierungen Papen und Schleicher, in: Heinrich August Winkler (Hrsg.), Die deutsche Staatskrise 19301933, München 1992, S. 155 - 181.

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Reichstag als positiv-gestaltendes Verfassungsorgan lahm; ja, die NSDAP vermochte ihre Machtansprüche sogar aus ihrer Stellung als bei weitem stärkster politischer Kraft im Reichstag pseudodemokratisch abzuleiten. Wollte die Regierung Papen-Schleicher ihrer Absage an eine Kooperation mit Hitler zu dessen Konditionen treu bleiben, dann führte kein Weg an einer Entmachtung dieses Reichstags vorbei. Zwar konnte das Kabinett auf die Notverordnungsvollmacht des Reichspräsidenten zurückgreifen, der mittels Artikel 48 der Reichsverfassung ohne Zustimmung des Parlaments einschneidende Maßnahmen verordnen konnte. Doch verbrauchte sich die autoritäre Kraft des Artikels 48 rasch, da dem Reichstag das verfassungsmäßige Recht zustand, solche Notverordnungen mit einfacher Mehrheit außer Kraft zu setzen. Gewiß konnte der Präsident in diesem Fall mit Hilfe von Artikel 25 einen solch "widerspenstigen" Reichstag gewissermaßen als Strafaktion auflösen, was den Vorteil bot, in der so herbeigeführten parlamentslosen Zeit ohne jede Rücksicht auf eine "lästige" Volksvertretung regieren zu können. Jedoch mußten nach dieser Auflösung Neuwahlen innerhalb von 60 Tagen anberaumt werden. Damit war die Anwendung der Auflösungsbefugnis ein nur begrenzt einsetzbares Druckmittel gegenüber einem regierungsfeindlichen Reichstag, insofern dessen Neuwahl keine grundlegend veränderten Mehrheitsverhältnisse hervorrief. Da also die präsidiale Machtbefugnis in einer solchen Konstellation auf ihre von der Verfassung gezogene Grenze stieß, half der Regierung Papen-Schleicher nur eine feindosierte Umgehung einzelner Verfassungsbestimmungen oder ein offener Verfassungsbruch weiter. Hindenburg, Schleicher und Papen hatten mit ihrer zielgerichteten Zerstörung der unter Brüning noch vorhandenen parlamentarischen Basis des Regierungssystems mithin den Staat in eine Situation hineinmanövriert, in der nach Lage der Dinge die Ausschaltung des Reichstags als politischer Machtfaktor der einzig erfolgversprechende Weg war, um Hitler von der Kanzlerschaft fernzuhalten. Jede Aktivierung des Parlaments, jedes Pochen auf Wiederherstellung parlamentarischer Verhältnisse lief unter den obwaltenden Bedingungen letztlich darauf hinaus, der Hitler-Partei mit ihrer strategischen Mehrheit im Reichstag das Einfallstor zur Regierungsrnacht zu öffnen. Daß dies so kam, daß also das parlamentarische Prinzip auf diese Weise gegen den Verfassungsstaat ausschlug, ging - und dies sei noch einmal in aller Deutlichkeit herausgestellt - auf das politische Konto der autoritären Kräfte im Umfeld von Reichspräsident und Reichswehr. Sie hatten mit den Nationalsozialisten diejenigen politischen Geister gerufen, deren nachträgliche Bändigung ihnen nun so schwer fiel. Aber eine erfolgreiche Eindämmung des NS-Machtanspruchs war seit dem August 1932 nur noch mit einer zumindest am Rande des Verfassungsbruchs lavierenden Politik möglich. 4 4 So auch nachdrücklich Heinrich August Winkler, Weimar, München 1993, S. 520; ders., (wie Anm. 2), S. 713, 792 f. und 861 ff.; Thilo Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP, Stuttgart 1962, S. 402 f.

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Und damit fiel der juristischen Absicherung eines solchen Vorgehens entscheidende Bedeutung zu. Es spricht für den politischen Spürsinn Schleichers, daß er schon zu einem Zeitpunkt durch seine Emissäre Fäden zu einflußreichen Staatsrechtlern spinnen ließ, als sich die Aktionen der Regierung noch mit Hilfe von Artikel 48 legitimieren ließen. Vordergründig lag der Anlaß für diese Kontaktaufnahme gewiß in der Suche nach geeigneten Vertretern der Position der Reichsregierung im Prozeß vor dem Staatsgerichtshof des Deutschen Reiches um die Rechtmäßigkeit des sogenannten "Preußen-Schlages", also der Absetzung der preußischen Regierung durch einen vom Reichspräsidenten eingesetzten Reichskommissar am 20. Juli 1932. Doch Schleicher wollte sich damit zugleich einen juristischen Beraterstab schaffen, der auch für andere Fälle einsetzbar war. Zwar verkündete am 25. Juli 1932 Reichskanzler Papen in der Kabinettsrunde, daß die Reichsregierung die Staatsrechtler earl Schmitt (Berlin), Erwin Jacobi (Leipzig) und earl Bilfinger (Halle) als Prozeßvertreter ausgewählt habe. Doch den dazu erforderlichen Findungsprozeß hatte weder Papen noch Innenminister Gayl gesteuert, sondern der Reichswehrminister, also Kurt von Schleicher. Mit anderen Worten: in den besonders heiklen Verfassungsangelegenheiten zeichnete nicht der eigentlich dafür zuständige "Verfassungsminister" Gayl, sondern der Reichswehrminister für die operative Planung verantwortlich. Schleicher konnte die Verfassungspolitik in seinem Ressort konzentrieren, da er für diese Fälle eine eigene Abteilung aufgebaut hatte, die sogenannte "Wehrmachtsabteilung", die von seinem engen Vertrauten Oberstleutnant Ott geleitet wurde. Zudem hatte er "Horchposten" in anderen Ressorts plaziert. So leitete einer seiner engsten Weggefährten, der Major Erich Marcks, seit dem 17. August 1932 die Pressestelle der Reichsregierung und war dafür eigens aus der Reichswehr ausgeschieden und auf den Posten eines Ministerialdirigenten gewechselt. Ott und Marcks waren es, die Schleicher mit politischen Interna versorgten und die zugleich vertrauliche Kontakte zu politischen Helfern einfädelten. Es entsprach Schleichers Politikstil, dabei ganz im Hintergrund zu bleiben und persönlich nie selbst in Erscheinung zu treten, sondern immer nur vermittels Dritter. Auf diese Weise wurde auch der Kontakt zu dem Mann angebahnt, der sich seit August 1932 im Verborgenen als juristischer Berater Schleichers betätigte: earl Schmitt. 5 Schleicher selbst hat sich strikt davor gehütet, jemals persönlich mit Schmitt zusammenzutreffen; desto intensiver verkehrten seine Mittelsmänner mit ihm. Sowohl die Entstehung als auch die Verfestigung der Beziehung SchleicherSchmitt ist charakteristisch für das konspirative Gebaren, das beide Personen pflegten. Hier traf sich das Verlangen des politisierenden Generals nach einer 5 Andreas Koenen spricht in seiner auf intensiver Auswertung des Schmitt-Nachlasses beruhenden Studie von Schmitt als dem "Verfassungsberater" Schleichers: Andreas Koenen, Der Fall Carl Schmitt, Paderborn 1995, S. 211; ein ähnliches Urteil auch bei Ernst Rudolf Huber, Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit, in: Helmut Quaritsch (Hg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, Berlin 1988, S. 61-64.

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staatsrechtlichen Fundierung seines gewagten Kurses mit dem brennenden politischen Ehrgeiz eines durch seine Lehrverpflichtungen nicht ausgelasteten Professors an der Berliner Handelshochschule, als juristischer Experte des starken Mannes der deutschen Politik zu wirken. Schmitts Ambitionen wären wohl unerfüllt geblieben, wenn er nicht die seltene Gabe besessen hätte, in Berlin einen Kreis von jungen Intellektuellen um sich zu scharen. Viele der aufstrebenden jungkonservativen Publizisten besuchten seine Seminare an der Berliner Handelshochschule. Und der ,,Meister" kümmerte sich in einem ganz ungewöhnlichen Maße um seine "Jünger": Er lud sie zum Essen in seine Privatwohnung ein, unternahm mit ihnen gemeinsame Freizeitgestaltungen usw. 6 Schmitt warb ohne professoralen Dünkel ganz gezielt um diese junge akademische Elite nicht zuletzt deswegen, weil er so auch ins politische Geschäft zu gelangen hoffte. Schon seine Annahme der akademisch nicht sonderlich ehrenvollen Professur an einer Handelshochschule war von solchen politischen Überlegungen gespeist worden. 7 Schmitt hatte es 1928 mit aller Macht nach Berlin gedrängt, da sich für einen Akademiker ohne parteipolitischen Rückhalt nur im politischen Zentrum solche Chancen eröffneten. Speziell ein immer weiter voranschreitendes Präsidialregime mit seiner Mediatisierung der Parteien schuf geradezu ideale Bedingungen für einen solchen politischen Seiteneinsteiger. Schmitts zähes Werben um die jungkonservative Elite zahlte sich rasch aus. In einem seiner Seminare schloß er Bekanntschaft mit Horst Michael, dem Assistenten des bekannten Historikers Erich Marcks am Historischen Seminar der Universität Berlin. 8 Es war dieser Kontakt zu Horst Michael, der Schmitt erstmals in die wirkliche Nähe politischer Macht brachte, als er bei einer Abendeinladung im Hause des umtriebigen Historikers die rechte und die linke Hand Schleichers kennenlernte, Eugen Ott und Erich Marcks junior, den Sohn des Geschichtsprofessors. 9 Schmitt geriet also durch die Vermittlung von Horst Michael in den Gesichtskreis Schleichers. Als Kontaktmann und Briefträger zwischen dem Reichswehrmini ster und Carl Schmitt spielte Michael seit Mitte 1932 eine herausragende Rolle 6 Der Nachlaß earl Schmitt ist volI von derartigen Begebenheiten, vgl. nur das Schreiben von Horst Grueneberg an Schmitt, 3. November 1931, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (im folgenden: HStAD), RW 265 - 5373. 7 Vgl. Koenen, (wie Anm. 5), S. 90ff. 8 Der als Bismarckforscher ausgewiesene Michael nahm 1930 auf eigenen Wunsch hin an einer der staatswissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaften Schmitts teil; vgl. das Schreiben Michaels an Schmitt vom 18. Mai 1930, HStAD, RW 265- Karton 59/K 77. 9 Dieses Treffen fand am 12. Februar 1931 statt, wie sich aus dem Namensregister der Tagebücher Schmitts ergibt (HStAD, RW 265 - 340, BI. 6 ff.); vgl. auch das Schreiben von Erich Marcks an Schmitt, 11. Mai 1931 (HStAD, RW 265- Korrespondenz Marcks) sowie eine nachträgliche Erinnerung Michaels in einem Schreiben vom 19. Dezember 1969 an einen seiner Söhne (Korrespondenz in Privatbesitz).

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im politischen Berlin, die erstmals an dieser Stelle anband neu aufgetauchter Quellen erhellt werden kann. Auf diese Weise in den Beraterstab Schleichers gelangt, bestand Schmitts erste Aufgabe im Juli 1932 darin, die Liste der Prozeßvertreter des Reiches beim Leipziger Prozeß zu komplettieren. Aufgrund der Fürsprache Schmitts wurden der in Halle lehrende StaatsrechtIer Carl Bilfinger und der Leipziger Erwin Jacobi in diesen exklusiven Kreis aufgenommen. 1O Bilfinger galt in diesem Trio als Föderalismusspezialist ll und sollte mit seinem juristischen Sachverstand dazu beitragen, die Bedenken der süddeutschen Länder gegen die auch mit dem "Preußenschlag" verbundene Reichsreform zu zerstreuen. Jacobi hatte sich schon 1924 anläßlich einer Staatsrechtslehrertagung 12 als einer der damals noch wenigen Fachkollegen profiliert, die - wie Carl Schmitt - für eine extensive Auslegung der präsidialen Befugnisse gemäß Artikel 48 eintraten. Diese Eigenschaften prädestinierten alle drei Juristen aber nicht nur dafür, als Prozeßvertreter für das Handeln einer Regierung einzustehen, dessen Rechtmäßig~eit in erster Linie von der zugestandenen Reichweite von Artikel 48 abhing. Schmitt, Jacobi und Bilfinger waren auch zur Lösung des noch viel heikleren Problems einsetzbar, wie denn eine formal verfassungswidrige Ausschaltung des Reichstags rechtlich zu legitimieren war. Das juristische Schlüsselwort dazu hieß "Staatsnotstand": die Ansicht, daß durch eine gegenseitige Blockade von Reichsregierung und Reichstag eine Lähmung der Staatsfunktionen eingetreten sei, die nur durch die Abkehr von einzelnen Verfassungsbestimmungen zu beheben sei. An dieser Stelle ist noch einmal der Hinweis angebracht, daß Schleicher und Hindenburg durch die Auflösung des am 14. September 1930 gewählten, handlungsfähigen Reichstages erst jene Staatskrise heraufbeschworen hatten, zu deren Überwindung sie nunmehr die Verletzung der geltenden Verfassung als einzigen Ausweg proklamierten. Trotz dieser Feststellung wird man sich aber auch der Einsicht kaum verschließen können, daß in der politisch verfahrenen Situation seit dem August 1932 nur ein großzügiger Umgang mit der Verfassung den Nationalsozialismus von der Macht femzuhalten vermochte. Jeder verfassungspolitische Purismus, der auf eine Revitalisierung der Position des Reichstags pochte, ebnete in letzter Konsequenz Hitler den Weg ins Reichskanzleramt. 13 10 Die Vermittlerfunktion Schmitts wird ersichtlich aus der Korrespondenz BilfingerSchmitt im Nachlaß Carl Schmitt, vgl. dort Bilfingers Schreiben vom 24. Juli, 25. Juli, 6. August und 21. Oktober 1932, in: HStAD, RW 265- 1365, 1366, 1367 und 1372; siehe auch Koenen, (wie Anm. 5), S. 194. 11 Daher ging Bilfinger in seinem Schreiben an Schmitt vom 24. Juli 1932 ausführlich auf die Auswirkungen des "Preußenschlages" auf eine mögliche ,,Rückbildung der Verfassung" im unitarischen Sinne ein, in: HStAD, RW 265 - 1365. 12 Dort hielt Jacobi - wie Schmitt - einen Vortrag über "Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung"; abgedruckt in: Der deutsche Föderalismus. Die Diktatur des Reichspräsidenten. Referate von Gerhard Anschütz, Karl Bilfinger, Carl Schmitt und Erwin Jacobi, Berlin/Leipzig 1924, S. 105 -136.

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Im August 1932 trafen die drei Staatsrechtler in Berlin zu mehreren Arbeitstreffen zusammen, bei denen allem Anschein nach auch all jene juristischen Argumente zusammengetragen wurden, mit denen Schleicher das noch ausstehende Plazet des Reichspräsidenten für einen eventuellen Verfassungsbruch zu erwirken trachtete. Das Ergebnis dieser juristischen Prüfung wurde dann Schleicher, Papen und Gayl mit auf den Weg gegeben, als diese am Abend des 29. August 1932 zu ihrer Überzeugungstour nach Gut Neudeck in Ostpreußen aufbrachen, wohin sich der Reichspräsident in die Sommerfrische zurückgezogen hatte. Symptomatisch für die Aufgabenverteilung zwischen den drei Reisenden war, daß Gayls Innenministerium - eigentlich für solche Verfassungsfragen zuständig überhaupt nicht in diese Staatsnotstandsplanungen eingeweiht war. Auch der Reichskanzler dürfte auf der Reise nach Neudeck erstmals detailliert von Schleicher über den Stand dieser Vorbereitungen informiert worden sein. Der "Drahtzieher" Schleicher konnte sich daher bei der entscheidenden Besprechung in Neudeck - wie es seiner Art entsprach - bewußt im Hintergrund halten und Papen und Gayl gewissermaßen vorschicken, um Hindenburg von der Notwendigkeit einer verfassungswidrigen Verschiebung von Neuwahlen nach vorher erfolgter Reichstagsauflösung zu überzeugen. 14 Und Papen wußte, wie der "alte Herr" zu nehmen war und wie man ihm seine eigene Position schmackhaft machte. 15 Doch Schleicher hatte sich und seine beiden Kabinettskollegen nicht nur für die präsidiale Billigung der Staatsnotstandsplanungen argumentativ munitioniert. Generalstabsmäßig hatte er den juristischen Sachverstand earl Schmitts auch dazu genutzt, um sich eine zweite politische Option offenzuhalten: das Verbot der NSDAP samt ihrer Wehrorganisationen. Hitler selbst hatte Schleicher den juristischen Vorwand für ein solches Eingreifen durch sein Verhalten im Potempa-Mord geboten. Im oberschlesischen Potempa hatten mehrere Nationalsozialisten am 10. August 1932 einen Kommunisten auf brutalste Weise zu Tode gequält, woraufhin ein Sondergericht fünf der Tater zum Tode verurteilt hatte. Hitler hatte sich am 22. August öffentlich mit den verurteilten Mördern solidarisiert und zwei Tage später zum offenen Kampf gegen das angebli\3 "Die blinde Verfassungstreue, der jedes Wort der Verfassungsurkunde tabu ist, läuft Gefahr, daß bei unberührter Verfassungsurkunde von der Verfassung selbst nicht mal mehr ein Schatten übrigbleibt. Verfassungstreue darf niemals zum Verfassungsfetischismus werden, wenn nicht im Ergebnis das Einstehen für die Demokratie die unbewußte und tragische Mitarbeit bei deren Beseitigung sein soll", so der Sozialdemokrat Ernst Fraenkel in seinem eindringlichen Plädoyer "Verfassungsreform und Sozialdemokratie", in: Die Gesellschaft 9 (1932 II), S. 486 - 500, Zitat S. 491. 14 Über die Neudecker Unterredung sind wir nur durch eine von Staatssekretär Meißner angefertigte Niederschrift informiert; abgedruckt in: Akten der Reichskanzlei (im folgenden AdR). Das Kabinett von Papen 1. Juni bis 3. Dezember 1932, Bd. I, Boppard 1989, S. 474479. 15 Vgl. die plastische Darstellung der Neudecker Unterredung bei: Volker Hentschel, So kam Hitler, Düsseldorf 1980, S. 71 ff.

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che Bluturteil aufgerufen. 16 Dies ließ sich als Abkehr vom bisherigen Legalitätskurs der NSDAP deuten und lieferte Schleicher einen wohlfeilen Anlaß, um sich auch für einen großen Schlag gegen die NSDAP zu wappnenY Daher setzte sich der Leiter der Wehnnachtsabteilung, Oberstleutnant Ott, unverzüglich mit earl Schmitt in Verbindung. lacobi und Bilfinger wurden in diese Geheimplanungen nicht eingeweiht. In den nächsten Tagen steckte Schmitt zusammen mit Ott die juristische Marschroute für ein solches Vorgehen ab. 18 Daher konnte er die rechtstechnische Endredaktion dem wohl hoffnungsvollsten seiner Schüler, dem jungen Bonner Privatdozenten für Staatsrecht Ernst Rudolf Huber, überlassen. Hubers Gesinnung und Verschwiegenheit standen für Schmitt so außer Frage, daß er diesem hoffnungsvollen Stern am luristenhimmel mit einer höchst konspirativen Mission beauftragte. Huber sollte nämlich in Schmitts Berliner Privatwohnung die bereits ausgearbeiteten Entwürfe zweier Notverordnungen zusammen mit den Verfassungsexperten der Wehrmachtsabteilung in rechtstechnischer Hinsicht abklopfen. 19 Die eine Notverordnung verfügte dabei das Verbot von NSDAP und SA, während die zweite auf die Sicherung der neuerworbenen preußischen Machtstellung gegen die NSDAP abzielte, indem die preußische Polizei im nicht ganz auszuschließenden Falle einer Koalitionsregierung aus NSDAP und Zentrum in Preußen dem Reichsinnenministerium zu unterstellen war. Die Einbeziehung der preußischen Polizei - numerisch fast so stark wie die Reichswehr - war für die exekutive Abschinnung des Regierungskurses schlichtweg unabdingbar. 2o Und der ReichspräsiVgl. dazu Paul Kluke, Der Fall Potempa, in: vtZG 5 (1957), S. 279 - 297. So die aufgrund eigener Mitwirkung glaubhafte Darstellung von Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 6: Ausbau, Schutz und Untergang der Weimarer Republik, Stuttgart 1984, S. 1078. Die Ullstein-Presse erfuhr aus zuverlässiger Quelle aus dem Reichswehrministerium, daß schon die Notverordnung vom 9. August 1932 zur Bekämpfung politischen Terrors von der Reichswehrführung lanciert worden sei, um die SA in die Illegalität zu treiben: ,,Man rechne damit, daß die erste Zuwiderhandlung gegen die neuen Notverordnungen, auf die Todesstrafe erkannt würde, durch einen SA-Mann begangen würde"; Tagebuch Schäffer, 10. August 1932, Institut für Zeitgeschichte, München (im folgenden: ItZ), ED 93, Bd. 22, S. 728. 18 Vgl. die Erlebnisschilderung bei Huber, earl Schmitt (wie Anm. 5), S. 40. 19 Die telegraphische Einladung zu dieser Mission ließ Schmitt bezeichnenderweise durch Horst Michael besorgen, vgl. das diesbezügliche Schreiben Hubers an Schmitt, 23. August 1932, in: HStAD, RW 265 - 6255. Siehe weiterhin die "Vollzugsmeldung" Hubers an den in Plettenberg auf Urlaub weilenden Schmitt, 28. August 1932, RW 265 - 6256, auch abgedruckt bei Paul Noack, earl Schmitt, Berlin 1993, S. 149. Hubers Erlebnisberichte sind daher in höchstem Maße glaubwürdig, vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, (wie Anm. 17), S. 1078 sowie Huber, earl Schmitt, (wie Anm. 5), S. 40 f. und S. 52. 20 Die Forderung nach einer Vereinheitlichung der Exekutivgewalt durch Reichsorgane bei der Bekämpfung innerer Unruhen war die wichtigste Lehre, welche die Reichswehrführung aus den Erfahrungen bei der Verhängung des militärischen Ausnahmezustands im Jahre 1923 gezogen hatte; vgl. hierzu eine entsprechende Denkschrift des Reichswehrministeriums über den Ausnahmezustand, 12. August 1924, abgedruckt in: Heinz Hürten (Bearb.), Das 16

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dent zögerte auch nicht, in Neudeck diese vorsorgliche Notverordnung in Fonn einer Blanko-Verfügung zu unterzeichnen?! Die erstgenannte Notverordnung wurde hingegen in der Neudecker Zusammenkunft überhaupt nicht thematisiert. Allem Anschein nach brach Schleicher seinen Vorstoß gegen die NSDAP ab, weil Hindenburg zu Beginn der Unterredung unmißverständlich seiner Überzeugung Ausdruck verliehen hatte, daß die PotempaMörder zu begnadigen seien. 22 Damit entzog er der Begründung für das anvisierte Vorgehen gegen die NSDAP die Grundlage. Eine verfassungswidrige Verschiebung von Neuwahlen - als Staatsnotrecht begründet - hieß Hindenburg hingegen als letzten Ausweg gut, womit die drei Regierungsvertreter ihr Hauptziel erreicht hatten. Es war nicht zuletzt der von Papen vorgebrachte Hinweis, daß der Reichspräsident durch seinen Eid angehalten sei, auch zu unkonventionellen Mitteln zu greifen, um Schaden für das deutsche Volk abzuwenden, der seine Wirkung bei Hindenburg nicht verfehlte. 23 Und es spricht für die Genese des Neudecker Treffens Bände, daß diese starke argumentative Hervorhebung des Eides nicht Papens ureigenste Eingebung war. Papen bediente sich hier vielmehr einer Argumentationsstrategie, welche der Adlatus von earl Schmitt, Horst Michael, entwickelt und auch öffentlich verbreitet hatte. Nicht zufällig erschien just am 30. August 1932 in der Morgenausgabe des einflußreichen "Berliner Börsencouriers" ein Beitrag Michaels, den man als eine Vertiefung jener Argumentation deuten kann,24 die Papen am selben Tage in Neudeck vortrug. Nach dem Neudecker Treffen war die Reichsregierung mit den nötigen präsidialen Vollmachten ausgestattet, um die Konfrontation mit dem nationalsozialistisch Krisenjahr 1923. Militär und Innenpolitik 1922 - 1924, Düsseldorf 1980, S. 334 - 362, vor allem S. 352 f. Die in Neudeck vorgelegte Notverordnung griff also ein zentrales Anliegen der Reichswehrführung auf, was noch einmal unterstreicht, wie sehr Schleicher die treibenden Kraft hinter der Neudecker Zusammenkunft war; zur Rolle der Reichswehr bei der Zentralisierung der Exekutivgewalt siehe auch Jürgen Bay, Der Preußenkonflikt 1932/33, Diss. Erlangen 1965, S. 188 f. 2! Siehe die Niederschrift Meißners, AdR, Kabinett Papen, (wie Anm. 14), S. 479. 22 Vgl. ebd., S. 476. 23 Siehe ebd., S. 477. 24 Horst Michael, "Legal" und "legitim", in: Berliner Börsen-Courier, Nr. 403 vom 30. August 1932. Michael führte darin u. a. aus: Der Reichspräsident "trägt in seinem Eid das Reich, er sorgt durch seinen Eid für das Wohl des gesamten Volkes und, - wenn die Verfassung mit ihren Widersprüchen keinen Weg mehr zeigt - dann wird der seinem Volk verbundene greise Feldmarschall abermals wie 1918 einen Weg zur Erneuerung des Reiches bahnen". Michael hatte kurz zuvor in der zusammen mit seinem Freund Karl Lohmann, ebenfalls ein jungkonservativer Schmitt-Schüler, verfaßten Programmschrift "Der Reichspräsident ist Obrigkeit!" (Hamburg 1932) auf die Bedeutung des Amtseides des Reichspräsidenten verwiesen; siehe dort S. 31 und S. 76. Gegenüber Fritz Ullstein, dem Sohn des Mitinhabers des UllsteinVerlags, hatte Horst Michael bereits im August 1932 durchsickern lassen, daß sich Hindenburg bei seinem politischen Verhalten "auf seine Eidesformel" stützen wolle; vgl. dazu die Tagebucheintragung des Generaldirektors des Ullstein-Verlages, Hans Schäffer, vom 22. August 1932, ItZ, ED 93, Bd. 22, S. 775.

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dominierten Reichstag aufzunehmen. Diese günstige Ausgangsposition wurde jedoch durch die Ungeschicklichkeit Papens verspielt. Er verpaßte es nämlich, die präsidiale Auflösungsorder bei der zweiten Sitzung des Reichstags am 12. September 1932 rechtzeitig einzubringen, so daß der Reichstag noch über ein von der KPD eingebrachtes Mißtrauensvotum gegen die Reichsregierung abstimmen konnte. Dieses stellte dem Kabinett Papen mit 517 gegen 42 Stimmen ein an Deutlichkeit kaum noch zu überbietendes Verdikt der Unpopularität aus, das auch diese Regierung nicht gänzlich ignorieren konnte. In dieser psychologischen Situation konnte es sich das Papen-Kabinett nicht mehr leisten, den Reichstag und seine Mehrheitsparteien durch die verfassungswidrige Verschiebung der Neuwahl frontal zu attackieren. Die nun unausweichlich gewordene Neuwahl fand daher fristgerecht am 6. November 1932 statt; das Thema Staatsnotstand wurde zunächst vertagt. III.

Schleicher dürfte höchstwahrscheinlich das dilettantische Vorgehen Papens mit Kopfschütteln registriert haben. Das einstmals enge Verhältnis zwischen dem General und seiner ,,Erfindung" Papen hatte sich ohnehin zu lockern begonnen. Denn Papen begann sich politisch von Schleicher zu emanzipieren und profilierte sich durch öffentliche Reden als Verfechter einer Verfassungsänderung im restaurativen Sinne. Während Papen den Reichstag als Machtfaktor eliminieren wollte, um in der parlamentslosen Zeit die Weichen für eine neue, restaurativ-monarchische Verfassung zu stellen,25 lehnte Schleicher solche autoritären Verfassungsexperimente strikt ab. Für ihn stellte die Ausschaltung des Reichstags nur das der verfahrenen Situation angemessene Mittel dar, falls die Staatsrnacht nicht an Hitler ausgeliefert werden sollte. An einer Perpetuierung dieses Zustandes und damit an einem Marsch in einen "Neuen Staat" zeigte der General kein Interesse. Zwar bekundete er keine Sympathien für eine Rückkehr zum parlamentarischen System, wie es bis 1930 bestanden hatte. Doch zwischen der von ihm befürworteten Stärkung der Exekutive durch Ausschöpfung der in der Weimarer Verfassung liegenden präsidialen Möglichkeiten und dem von Papen anvisierten Systembruch klaffte ein tiefer Graben. 26 25 Über solche Absichten hat sich Papen öffentlich natürlich nicht verbreitet. Jedoch hatte Schleicher dank seiner exzellenten Informationsquellen Wind davon bekommen und durch einen seiner Vertrauensmänner, den Journalisten Steinborn, den SPD-Fraktionsvorsitzenden Breitscheid darüber informiert; vgl. die Aktennotizen Breitscheids über zwei Unterredungen mit Steinborn, 8. und 14. Oktober 1932, in: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn (im folgenden: AsD), Bestand ADGB, Mappe 9. Fast zeitgleich wurde auch der SPD-Reichstagsabgeordnete Landsberg von einem weiteren Emissär Schleichers, dem Chefredakteur der "B.Z. am Mittag", über entsprechende Pläne aus dem Papen-Umkreis in Kenntnis gesetzt, vgl. eine Aktennotiz Breitscheids vom 11. Oktober 1932, ebd. 26 Zur Schleicherschen Ablehnung reaktionärer Verfassungsexperiment vgl. Vogelsang, Reichswehr, (wie Anm. 4), S. 311.

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Und auch in wirtschaftlicher Hinsicht trennte beide Gegenspieler Welten. Papen profilierte sich immer deutlicher als Sachwalter von Großindustrie und Großlandwirtschaft und Gegner der noch vorhandenen sozialstaatlichen Errungenschaften; Schleicher hingegen legte Wert auf einen sozial ausgewogenen Ausgleich der divergierenden Wirtschaftsinteressen. 27 Seine soziale Empfänglichkeit gründete sicherlich zuletzt in seinen ehrgeizigen Aufrüstungsplänen - dem Ausbau des l00.000-Mann-Heeres der Reichswehr zu einem wirklichen Volksheer. Daher wollte Schleicher das überparteiliche Ansehen der bewaffneten Macht nicht dadurch aufs Spiel setzen, daß er das Los der Truppe an das politische Schicksal einer Regierung kettete, die immer breitere Volksschichten gegen sich autbrachte. Schleicher scheute nicht davor zurück, die Reichswehr notfalls gegen die Nationalsozialisten einzusetzen; doch er wollte sie nicht zur Stabilisierung eines "Kabinetts der Barone" verschleißen. 28 Und der Berliner Verkehrsarbeiterstreik vom 3. bis zum 7. November 1932 hatte Schleicher einen Vorgeschmack davon vermittelt, welche gefährlichen politischen Energien Papens Politik freigesetzt hatte. Denn hier hatten sich Nationalsozialisten und Kommunisten erstmals zu einer militanten Aktion zusammengefunden, deren Relevanz über einen bloßen Lohnstreik hinausreichte. Wenn schon eine geplante Kürzung der Stundenlöhne der Berliner Verkehrsarbeiter um 2 Pfennige gewalttätige Reaktionen und Sabotageakte provozierte und die beiderseitige Feindschaft kurzzeitig ruhen ließ, welche Attacken würde die Zielscheibe Papen als Exponent der "sozialen Reaktion" noch auf sich ziehen? Am 17. November 1932 trat das Kabinett Papen zurück, und die politischen Karten wurden neu gemischt. Schleicher wollte nichts unversucht lassen und im Lichte der jüngsten Erfahrungen die Einsatz- und Belastungsfähigkeit der Reichswehr für den Fall einer erneuten Ernennung Papens zum Kanzler testen. Einen Tag darauf lud der Chef des Ministeramtes, von Bredow, die zuständigen Stellen der Reichswehr für den 25. und 26. November nach Berlin zu einer Planübung ein. 29

Das politische Kalkül des Ministeriums läßt sich aus dem diesem Planspiel zugrundegelegten Szenario erschließen: eine von politischen Streiks bedrohte Reichsregierung, die in ihrer bedrängten Lage zu Notverordnungen Zuflucht suchte, vermittels derer solche Aktionen unterbunden werden sollten. Diese Reaktion aber - so die Ausgangslage der Planübung - zog einen Generalstreik nach 27 Schleicher "hat offenbar sowohl vom Großgrundbesitz wie vom gewerblichen Kapital einen sehr schlechten Endruck bekommen", so der bestens unterrichtete Hans Schäffer, Generaldirektor des Ullstein-Verlags, in einem Gespräch mit dem Hamburger Bankier Melchior, einem Kandidaten Schleichers im Falle einer Neubesetzung des Reichsfinanzministeriums, 27. August 1932, in: IfZ, ED 93, Bd. 22, S. 801. 28 Dazu siehe: Vogelsang, Reichswehr, (wie Anm. 4), S. 316. 29 Die wichtigsten Dokumente zu diesem Planspiel sind abgedruckt bei: Wolfram Pyta, Vorbereitungen für den militärischen Ausnahmezustand unter Papen / Schleicher, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 51 (1992), S. 385 - 428.

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sich, an dem sich eine Einheitsfront aus Sozialdemokraten und Kommunisten unter Billigung der Nationalsozialisten beteiligte?O Mit anderen Worten: Die Reichswehrführung rechnete bei einer erneuten Kanzlerschaft Papens schlimmstenfalls mit einem Generalstreik und wollte sich auf diesen "worst case" planerisch einrichten. Das Ergebnis dieser Überprüfung fiel negativ aus: Die vorhandenen Kräfte von Reichswehr und Polizei reichten nicht aus, um gegen eine so breite politische Front die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung zu gewährleisten, zumal die Planer auch außenpolitische Spannungsfaktoren in Rechnung stellten. Diese Absage an die Durchsetzbarkeit des militärischen Ausnahmezustandes bezog sich jedoch nur auf eine bürgerkriegsähnliche Konstellation, wie sie im Falle einer Neuauflage der Papen-Regierung erwartet wurde. Sie bedeutete hingegen keinen generellen Verzicht auf dieses Instrument. Schleicher war weiterhin bereit, die Reichswehr notfalls zur Exekutierung einer mit Staatsnotstandserwägungen begründeten Verfassungsdurchbrechung einzusetzen;3! aber nur als letzten Ausweg aus der selbst geschaffenen Staatskrise, nicht als militärischen Flankenschutz für eine von Papen geführte Kampfregierung gegen den Parlamentarismus schlechthin. Schleicher fiel damit die Aufgabe zu, eine politische Alternative zum PapenKurs zustandezubringen und den Reichspräsidenten dafür einzunehmen. Nach der Reichstagswahl vom 6. November 1932, die an der strategischen Schlüsselstellung der NSDAP im Reichstag trotz Stimmenverlusten nicht gerüttelt hatte, aktivierte er das ursprüngliche Konzept einer Sammlung aller "nationalen Kräfte" unter Verzicht auf den Führungsanspruch Hitlers?2 Eine Ein- und Unterordnung der Nationalsozialisten entsprach gewiß am ehesten den weitreichenden Wehrplänen Schleichers, die auf eine Verbreiterung der Wehrgrundlage zielten und daher in der SA ein in dieser Hinsicht ausschöpfbares Potential erblickten. 33 Hinzu bekundete der General auch offenkundiges Interesse am Wehrverband der Linken, dem "Reichsbanner", so daß seine Vorstellungen auf die Konzentration aller "aufbauwilligen" Kräfte von rechts bis links unter der Schirmherrschaft der Reichswehr hinausliefen. 30 Die Ausgangslage der Planübung wird ersichtlich aus den ebd., abgedruckten Doku'menten, insbesondere aus Dokument 2, S. 396 f. 31 Deswegen sind die Vorbereitungen für einen militärischen Ausnahmezustand auch in der Kanzlerschaft Schleichers vorangetrieben worden, vgL ebd., S. 415 - 428. 32 VgL Vogelsang, Reichswehr, (wie Anm. 4), S. 328. 33 Eine Vortragsnotiz aus der Wehrmachtsabteilung des Reichswehrministeriums vom 29. August 1932 markierte als politische Zielvorgabe der Reichswehr 1931132 das "Heranführen der Nazis an den Staat" (abgedruckt bei Vogelsang, Reichswehr, (wie Anm. 4), S. 480); vgl. auch eine Aufzeichnung der Wehrmachtsabteilung vom 16. September 1932: "Der Reichspräsident hat entscheidendes Gewicht darauf gelegt, die nationale Bewegung des Volkes im Sinne einer aktiven nationalen Politik für den Staat zu gewinnen"; abgedruckt bei: Thilo Vogelsang, Zur Politik Schleichers gegenüber der NSDAP 1932, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 6 (1958), S. 86 - ll8, hier S. 102 ff.; vgL auch Winkter, Weg, (wie Anm. 2), S. 737.

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Am 10. November ermächtigte das Kabinett auch förmlich den General zu politischen Sondierungen in alle Richtungen. Papen ließ Schleicher gewähren, weil er davon ausging, daß sich alle "Querfront"-Konzepte Schleichers wenigstens am unbeugsamen Machtanspruch Hitlers zerschlagen würden. Zunächst aber konnte Schleicher mit offizieller Billigung seine weitverzweigten politischen Querverbindungen aktivieren, auf deren Pflege er seit vielen Jahren erhebliche Anstrengungen verwandt hatte. Der uns bereits bekannte Horst Michael diente auch hier als politischer Emissär des Reichswehrministeriums, indem er dank persönlicher Kontakte als einer der wichtigsten Verbindungsleute der Reichswehr ins gewerkschaftlichsozialdemokratische Lager fungierte. 34 So bahnte Michael schon seit Mai 1932 den Weg für eine Kontaktaufnahme mit dem Reichsbannerchef Höltermann; seit August 1932 sondierte er die Möglichkeiten eines politischen Arrangements mit den Exponenten eines prononciert "nationalen Kurses" im sozialdemokratisch ausgerichteten Allgemeinen Deutschen Gewerschaftsbund. 35 Schleichers Offerte einer "Gewerkschaftsfront" vom ADGB bis zum StraßerFlügel in der NSDAP versprach sich den erhofften Effekt auf die umworbenen Gewerkschafter durch das Aufgreifen gewerkschaftlicher Wirtschaftspläne und durch den ausdrücklichen Verzicht auf alle autoritären Verfassungsexperimente. Die Einigungsbasis zwischen sozialdemokratischen, christlichen und nationalsozialistischen Gewerkschaften sollten gezielte Eingriffe des Staates in die privatkapitalistische Wirtschaftsordnung sein. Deshalb ließ die Reichswehrführung über Michael im sozialdemokratischen Gewerkschaftslager anfragen, ob eine "Verstaatlichung der Kommandohöhen der Wirtschaft,,36, ob eine in Aussicht gestellte 34 Vgl. die treffende Charakterisierung Michaels in einem Schreiben Karl Thiemes, eines religiösen Sozialisten mit besten persönlichen Kontakten speziell zum Reichsbanner, an Walter Pahl, 24. Juli 1932: Michael "ist aber nun einmal der faktisch vorhandene Mittelsmann"; HZ, Nachlaß Thieme, ED 163, Bd. 61. Michael hatte zahlreiche persönliche Kontakte zu gleichaltrigen Intellektuellen auf der "Linken" geknüpft, die er nun im Auftrage Schleichers politisch mobilisieren konnte; vgl. dazu nur: Sigmund Neumann (Hochschule für Politik) an Karl Thieme, 8. Juni 1932 (HZ, ED 163, Bd. 59); Thieme an den Reichsbannervorsitzenden und SPD-Reichstagsabgeordneten Höltermann, 25. Mai und 30. Juli 1932 (ltZ, ED 163, Bd.38). 35 Dazu gehörte auch, daß Michael im Dezember 1932 den Kontakt von Schleichers Vertrautem Dtt mit den Exponenten dieses Kurses im ADGB, Erdmann und Pahl, vermittelte; siehe dazu die Tagebuchaufzeichnung Erdmanns vom 18. 12. 32 (bei: Frank Deppe/Wittich Roßmann, Wirtschaftskrise, Faschismus, Gewerkschaften, Köln 1981, S. 242f.) sowie vom Januar 1933 (AsD, ADGB-Archiv, Nachlaß Erdmann 262). 36 So Michael in einer Unterredung mit Walter Pahl, Geschäftsführer der gewerkschaftlichen Zentralstelle für den freiwilligen Arbeitsdienst, gemäß der von Pahl am 24. August 1932 angefertigten Aktennotiz, AsD, Bestand ADGB, Mappe 9. Bereits am 18. August hatte Dtt dem sozialistischen Pädagogen Adolf Reichwein ein Gesprächsangebot des Reichwehrministeriums über die "Sozialisierungsfrage" offeriert; siehe dazu eine Aktennotiz Lothar Ermanns, des Schriftleiters des ADGB-Drgans "Die Arbeit" vom 20. August, ebd.; hierzu auch Winkler, Weg, (wie Anm. 2), S. 720. Auch dieser Kontakt dürfte durch Michael vermittelt worden sein, der aus gemeinsamen Studientagen engen Kontakt zu diesem Sozialdemo-

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"Errichtung einer Volksordnung auf staatssozialistischem Fundament,,37 als eine solche Geschäftsgrundlage ausreiche. Die Reichswehrführung quälten dabei im Unterschied zum strikt privatwirtschaftlich denkenden Papen keine weltanschaulichen Skrupel. Erwies sich aus ihrer Sicht das bestehende Wirtschaftssystem als ungeeignet, um die sozialen Grundbedürfnisse der Volksrnassen zu befriedigen, dann sprachen keine prinzipiellen Bedenken dagegen, es mit staats sozialistischen Elementen zu vermischen. 38 Aus Schleichers Einstellung zu Wirtschaftsfragen sprach der Paternalismus eines für das Wohlbefinden seiner Untergebenen verantwortlichen militärischen Vorgesetzten: "Sozial ist er auf dem alten Offiziersstandpunkt. Die Leute müssen Quartier und Essen haben, wie bei der Truppe".39 Die Fühler, die Michael in das gewerkschaftliche Lager ausgestreckt hatte, hatten das Eis soweit aufgebrochen, daß sich der ADGB-Vorsitzende Leipart und sein Stellvertreter Eggert am 28. November 1932 zu einem intensiven Meinungsaustausch mit Schleicher zusammenfanden. Schleicher baute den Gewerkschaftern dabei in zweifacher Hinsicht eine Brücke: In Wirtschaftsfragen brachte er zwar die Sozialisierung der Schlüsselindustrien noch nicht zur Sprache, umwarb beide Geschäftspartner aber mit dem Versprechen, energisch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einzuleiten. In der heiklen Verfassungsfrage distanzierte er sich entschieden von allen Plänen einer autoritären Verfassungsreform, wie sie seit Wochen von Papen und Gayl öffentlich thematisiert wurden. 4o Daß diese Versicherung Schleichers keine taktische Finte war, geht nicht zuletzt aus einem im Nachlaß earl Schmitt vorhandenen Dokument hervor, das durch Quellen im Nachlaß Hans Schäffer abgesichert wird. So wußte ein vertraulicher Bericht an den Generaldirektor des Ullstein-Verlages Hans Schäffer, der zu den kraten hielt, vgl. dazu das Schreiben Michaels an seinen Sohn Theo, 19. Dezember 1969 (Privatbesitz). 37 Mit der Ausarbeitung derartiger Pläne wurde Horst Michael beauftragt, der Ende August 1932 Mitarbeiter der von Marcks geleiteten Pressestelle der Reichsregierung wurde, vgl. dazu Michaels streng vertrauliches Schreiben an Karl Thieme, 21. August 1932, HZ, Nachlaß Thieme, ED 163/55; vgl. auch Michaels rückblickende Erinnerung in seinem Schreiben an seinen Sohn Theo, 19. Dezember 1969 (Privatbesitz). 38 Daß in der nächsten Umgebung Schleichers unter Mitwirkung Michaels Sozialisierungspläne ins Auge gefaßt wurden, geht aus einer Mitteilung Michaels an seinen Kontaktmann Fritz Ullstein hervor, die dieser am 31. August 1932 in der politischen Besprechung des Ullstein-Verlagshauses weitergab; in: Tagebuch Schäffer,lfZ, ED 93, Bd. 21, S. 820; vgl. auch Winkler, Weg, (wie Anm. 2), S. 720. 39 Bericht des Verbindungsmannes der dem Ullstein-Konzem gehörenden ,,BZ am Mittag" zu Schleicher, Günther Stein, über ein Gespräch mit Schleicher, mitgeteilt im Tagebuch Schäffer, 3. Dezember 1932, in: IfZ, ED 93, Bd. 23, S. 1020. Die enge Verbindung Schleichers zur Ullstein-Presse wird auch daran ersichtlich, daß Schleicher Stein in dieser Unterredung versicherte, "daß er Tag und Nacht für Anrufe zur Verfügung stünde", ebd. 40 Dazu siehe Winkler, Weg, (wie Anm. 2), S. 794; vgl. auch das Protokoll einer ebenfalls am 28. November stattgefundenen Unterredung Schleichers mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Breitscheid, Historische Kommission Berlin, ADGB-Restakten NB 112.

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bestinfonnierten politischen Beobachtern zählte,41 schon am 25. November 1932 zu vermelden, welchen Weg Schleicher in der Verfassungsfrage einzuschlagen gedachte: nicht die Hinwegsetzung über Artikel 25 und damit den offenen Verfassungsbruch, sondern bloß die Ignorierung aller zu erwartenden Mißtrauensanträge, welche der Reichstag mit seiner nationalsozialistisch-kommunistischen Mehrheit beschließen würde. 42 Und damit kommt ein durchaus zukunftsweisender Gedanke ins Spiel, dem besonders erfolgsträchtige Aussichten attestiert werden müssen, die verfassungspolitische Sackgasse zu verlassen. Der Reiz dieser Überlegung bestand darin, daß nur die negativen Willensäußerungen eines Reichstages ihre Geltungskraft einbüßen sollten. Zwar befand sich die Mißachtung solcher Mißtrauensvoten in nicht unerheblichem Spannungsverhältnis zu Artikel 54 der Weimarer Reichsverfassung, dem Herzstück des verfassungsrechtlich verbürgten Einflusses des Parlaments. 43 Doch die staatsrechtliche Diskussion zeigte sich über alle Parteigrenzen hinweg einer flexiblen, der momentanen Situation angemessenen Interpretation dieser Verfassungsbestimmung gegenüber aufgeschlossen. Die Reichswehrführung dürfte durch earl Schmitt und Horst Michael Bekanntschaft mit diesem Konzept gemacht haben. Schon im August 1932 hatte Michael diesen Weg favorisiert,44 der als Notbehelf taugte, um die schwierige verfassungsrechtliche Lage zu meistem. Dennoch handelte es sich dabei um eine verfassungspolitische Gratwanderung, die deswegen durch eine öffentliche Proklamation des Reichspräsidenten nach außen hin abgesichert werden sollte. Der Entwurf dieser Kundgebung hat sich im Nachlaß earl Schmitt erhalten und ist mit ziemlicher Sicherheit von Horst Michael in enger Absprache mit earl Schmitt angefertigt worden. 45 Während das Ergebnis der Schleicherschen Sondierungen durchaus Anlaß zu berechtigten Hoffnungen gab, daß einer von Schleicher geführten Reichsregierung ein gewisser Vertrauensvorschuß von seiten der Gewerkschaften eingeräumt werden könnte,46 blieb die NSDAP bei ihrem ablehnenden Kurs. Zwei Treffen 41 Zum Informationsvorsprung der Leitung des Ullstein-Verlages vgl. auch: Gerhard Schulz, Von Brüning zu Hitler, Berlin/New York 1992, S. 968. Schulz hat darin den in dieser Hinsicht äußerst ergiebigen Schäffer-Nachlaß intensiv ausgewertet. 42 Vertraulicher Brief vom 25. 11. 1932, Schäffer zur Kenntnisnahme zugeleitet, in: ItZ, ED 93, BI. 37 - 44. 43 Artikel 54 lautete: "Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht". 44 Vgl. die Aktennotiz Pahls über seine Unterredung mit Michael vom 22. August 1932, AsD, Bestand ADGB, Mappe 9. 45 Der Entwurf dieser Proklamation in: HStAD, RW 265/206. Auch hier wird Bezug auf den Amtseid des Reichspräsidenten genommen. So heißt es u. a.: "Durch meinen Eid bin ich verpflichtet, die Verfassung des Reiches zu wahren. Ich werden zu ihrem Schutze alle erforderlichen Maßnahmen treffen".

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Schleichers mit Hitler sowie ein letzter Versuch von Schleichers Emissär Ott, den in Weimar weilenden Hitler doch noch umzustimmen, förderten immer wieder das Resultat zutage, daß für Hitler eine Regierungsbeteiligung nur dann in Frage kam, wenn ihm die Führung eines Präsidialkabinetts übertragen wurde. 47 Als der Reichspräsident die beiden Rivalen Papen und Schleicher am Abend des

1. Dezember 1932 zu sich bat, konnte Schleicher daher nur "mit leeren Händen,,48

vor Hindenburg treten und ihm nicht eine parteiübergreifende Tolerierungsmehrheit im Reichstag in Aussicht stellen. Papen hatte mit kühler Reserve zugesehen, wie sein politischer Konkurrent am rigorosen Nein Hitlers aufgelaufen war. Er war nun in der komfortablen Lage, den Reichspräsidenten auf sein Konzept einer reinen Kampfregierung gegen den Reichstag und alle größeren Parteien bei Inkaufnahme des Verfasssungsbruchs festzulegen. Denn Hindenburg erklärte sich bereit, die Außerkraftsetzung einzelner Verfassungsartikel mit seinen präsidialen Befugnissen zu decken. 49 Diese Zusage Hindenburgs war zwar eine Wiederholung der am 30. August 1932 in Neudeck ausgesprochenen Versicherung, bedeutete politisch jedoch ganz und gar nicht dasselbe. Denn mit den im August einer Regierung Papen-Schleicher zugestandenen Vollmachten sollte in erster Linie der NS-Machtanspruch bekämpft werden; die Erneuerung dieser Zusage im Dezember galt hingegen einem "Kampfkabinett" Papen, dessen Geschäftsgrundlage die völlige Eliminierung des Parlaments als politischer Machtfaktor und damit der Weg in einen autoritären Obrigkeitsstaat war. Die in beiden Fällen erwogene Verfassungsdurchbrechung diente mithin zwei verschiedenen Zielsetzungen: Im ersten Fall sollte sie einen Ausweg aus der Blockade zwischen Regierung und Reichstag weisen; im zweiten Fall lief sie auf einen politischen Systemwechsel hinaus, der die Konfrontation mit nahezu sämtlichen gesellschaftlichen Großgruppen nach sich gezogen hätte. Für diesen riskanten Kurs hatte Papen zwar am 1. Dezember 1932 die Rückendeckung Hindenburgs erhalten. Doch bei einer am nächsten Tag einberufenen Kabinettssitzung offenbarte sich überdeutlich, wie isoliert Papen damit im Kreise seiner Kabinettskollegen dastand. Die Mehrheit des Kabinetts hatte ebenso wie Schleicher den weitreichenden Verfassungsplänen von Papen und Gayl wenig abgewinnen können. Eine erneute Betrauung Papens mit der Aufgabe des Regierungschefs widersprach daher ihrem vitalen Interesse an einer Fortführung der Regierungsgeschäfte ohne drohende Bürgerkriegsgefahr. Daher verweigerten naheVgl. Winkler, Weg, (wie Anm. 2), S. 720, 748 und 818 f. Siehe Vogelsang, Reichswehr, (wie Anm. 4), S. 330. 48 So die treffende Formulierung in der instruktiven Skizze Schleichers aus der Feder eines Redakteurs der "Vossischen Zeitung": Georg Huneus, Der General, Vossische Zeitung, Nr. 593 vom 11. Dezember 1932. 49 Über die Besprechung vom 1. Dezember existiert eine Aktennotiz Meißners, abgedruckt bei Vogelsang, Zur Politik Schleichers, (wie Anm. 33), S. 105 ff.; vgl. auch Vogelsang, Reichswehr, (wie Anm. 4), S. 332. 46

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zu alle Minister des alten Kabinetts Papen auf diesem Wege die Gefolgschaft, wobei sie von Schleicher in ihrer Ablehnung bestärkt wurden. 50 Denn der Reichswehrminister spielte seinen stärksten Trumpf aus und formulierte ein nur leicht verklausuliertes Veto der Reichswehr gegen eine erneute Kanzlerschaft Papens. Er ließ nämlich seinen Adlatus Ott auf der besagten Kabinettssitzung das Ergebnis der Planübung der Reichswehr vom 25./26. November 1932 vortragen, das ja auf dem Szenario eines "Kampfkabinetts" Papen aufgebaut war und die politische Unmöglichkeit der Bewältigung der daraus erwachsenden inneren Unruhen aufgezeigt hatte. Nun kapitulierte Papen: Er nahm seine Nominierung zum Kanzler nicht an, so daß der Weg für Schleicher frei wurde. 51

IV. Als neuer Kanzler setzte Schleicher zunächst auf die Reaktivierung seines Querfrontkonzeptes. Doch auch beim zweiten Anlauf war ihm hierbei kein durchschlagender Erfolg beschieden. Damit tauchte wieder das Kardinalproblem auf, vor dem sämtliche Präsidialkabinette seit Papen gestanden hatten: das Regieren gegen ein Parlament mit einer regierungsfeindlichen Mehrheit. Die Auflösung des Reichstags mit anschließender - verfassungswidriger - Verschiebung der Neuwahl bot dabei allerdings nur eine von mehreren Möglichkeiten, um aus diesem Dilemma herauszukommen, wenn man auf gewagte Verfassungsexperimente verzichtete. Papen hatte die offene Konfrontation mit Reichstag und Verfassung auch deswegen favorisiert, weil nur dieser Kurs die Aussicht auf einen totalen Bruch mit dem ungeliebten Parlamentarismus und die Einleitung eines grundlegenden politischen Systemwechsels eröffnete. Papen wollte sich nicht mit der Möglichkeit begnügen, die politischen Umstände zu nutzen, um das im Werden begriffene Präsidialregime durch einen erfolgreichen Präzedenzfall in ein faktisches Präsidialsystem umzuwandeln. Seine politischen Absichten liefen letztlich auf eine Restauration der Hohenzollernmonarchie hinaus mit dem Reichspräsidenten Hindenburg als Platzhalter. 52 Wer aber wie Schleicher auf solche restaurativen Pläne verzichtete, der 50 Vgl. dazu die Tagebuchaufzeichnungen des Reichsfinanzministers Schwerin von Krosigk über den Verlauf der Ministerbesprechung vom 2. Dezember 1932, abgedruckt in: AdR, Kabinett Papen, (wie Anm. 14), Bd. 2, S. 1036ff. 51 Vgl. die Tagebuchaufzeichnung Schwerin von Krosigks, ebd., siehe auch Vogelsang, Reichswehr, (wie Anm. 4), S. 333 f. 52 Zu entsprechenden Absichten im Umfelde Papens vgl. Schulz, (wie Anm. 41), S. 998f. und S. 1003; daß der Kronprinz entsprechende Ambitionen hegte, wird aus einer Unterredung des Kronprinzen mit dem politischen Beauftragten der Hugenberg-DNVP, Schmidt-Hannover, vom 4. September 1932 deutlich; siehe dazu Schmidts "streng vertrauliche" Mitteilung in seinem Schreiben an Hugenberg, 5. September 1932, Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Hugenberg, Nr. 38, BI. 277.

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war für einen Ausweg aus der Staatskrise empfänglich, der die in der Weimarer Reichsverfassung angelegten präsidialen Elemente53 so verstärkte, daß die Kompetenz des Reichstags auf die Legislative und die Kontrolle der vom Reichspräsidenten ernannten Regierung reduziert wurde. Dazu bedurfte es nicht der Ausarbeitung einer neuen Verfassung oder spektakulärer Verfassungsreformpläne. Denn der Umgang mit Artikel 48 der Reichsverfassung hatte eindringlich demonstriert, zu welchen Gewichtsverlagerungen innerhalb des Verfassungsgefüges die Weimarer Verfassung taugte, wenn man von einem positivistischen Verfassungsverständnis abkehrte. earl Schmitt hatte in seiner Programmschrift "Legalität und Legitimität" einem solchen intrakonstitutionellen Verfassungsumbau den Weg gewiesen54 und hatte damit der Politik einen erheblichen verfassungspolitischen Spielraum eröffnet. Und genau dies machte ihn für das Umfeld Schleichers so interessant!55 Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß Schleicher die Ratschläge Schmitts in seiner Politik beherzigte: seine Ablehnung von lauthals proklamierten, restaurativen Verfassungsexperimenten56 korrespondierte mit der für Schleicher ohnehin charakteristischen Vorliebe für möglichst geräuschlose, elastisch die bestehenden Möglichkeiten nutzende - wenn man so will: schleichende - politische Verschiebungen. 53 Vgl. dazu die Ausführungen des ehemaligen Reichsgerichtspräsidenten Walter Simons: Die Stellung des Reichspräsidenten, in: Deutsche Juristen-Zeitung 38 (1933), Sp. 22 - 27. Ähnliche Äußerungen fielen auch innerhalb des ,,Freien Ausschusses für Verfassungsreform", eines auf Initiative Eugen Schiffers im Januar 1933 ins Leben gerufenen unabhängigen Gremiums vorwiegend liberaler StaatsrechtIer (Thoma, Poetzsch-Heffter) und Politiker (HöpkerAschoff, Schiffer); vgl. etwas das Referat des Wiener VerfassungsrechtIers Merkl zu "Fragen des Verhältnisses zwischen Legislative und Exekutive, insbesondere das Mißtrauensvotum", Februar 1933, in: Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Joel I, BI. 272; die meisten aktenkundigen Aktivitäten dieser Vereinigung sind publiziert bei: Gerhard Schulz, Sand gegen den Wind, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 44 (1996), S. 295 - 319. 54 Vgl. zu den dadurch eröffneten verfassungspolitischen Möglichkeiten: Dieter Grimm, Verfassungserfüllung - Verfassungsbewahrung - Verfassungsauflösung. Positionen der Staatsrechtslehre in der Staatskrise der Weimarer Republik, in: Heinrich August Winkler (Hg.), Die deutsche Staatskrise 1930 - 1933, München 1992, S. 183 -199, vor allem S. 193 ff. Schmitt selbst hat sich in einern Vortrag vorn 4. November 1932 ausdrücklich zu dieser Methode bekannt, die Stärkung der Exekutivgewalt "unter einer gewissen Ausnutzung von Interpretationsmöglichkeiten" "ohne irgendeine Verfassungsänderung" herbeizuführen: earl Schmitt, Konstruktive Verfassungsprobleme, in: earl Schmitt, Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, Berlin 1995, S. 55 -70, Zitate S. 62 f. 55 Welchen Gebrauch die Reichswehrführung um Schleicher von "Legalität und Legitimität" zu machen gedachte, geht u. a. aus einern Schreiben von Erich Marcks an earl Schmitt, 6. September 1932 (HStAD, RW 265 Marcks), hervor: "In der strengen Wissenschaftlichkeit seines Aufbaus und seiner Deduktion und in dem Reichtum seines Inhalts ist es für uns ein vorzügliches Arsenal im Kampf um die Zukunft". 56 Schleicher hatte sich niemals grundSätzlich gegen eine Verfassungsreform ausgesprochen, sondern immer nur gegen deren politische Stoßrichtung und politische Inszenierung durch Papen und Gayl; vgl. dazu seine Bemerkungen im Gespräch mit Leipart und Eggert, 28. November 1932, Historische Kommission Berlin, ADGB-Restakten NB 112.

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Carl Schmitt und Horst Michael haben den General denn auch im Januar 1933 mit entsprechendem juristischen Rüstzeug versehen. Ihr Ansatzpunkt griff Überlegungen aus einer breiten überparteilichen Diskussion auf, die sich am Unbehagen über die rein destruktive Kompetenz des Reichstags entzündete, der zwar jeder Reichsregierung das Mißtrauen aussprechen konnte, aber nicht verpflichtet war, aus seiner Mitte eine neue Regierung mit parlamentarischer Mehrheit zu nominieren. Artikel 54 der Reichsverfassung ließ nach Ansicht von Verfassungsexperten aus fast allen politischen Lagern durchaus die Auslegung zu, daß ein solches, rein negatives Mißtrauensvotum des Reichstags unwirksam sei und die Reichsregierung nicht zum Rücktritt verpflichte. 57 Es waren Horst Michael und Carl Schmitt, welche diese politische vagabundierenden Vorschläge in den politischen Prozeß einspeisten und sie der Schleicher-Regierung als einen politischen Ausweg offerierten, der zwar einen Verfassungswandel hin zu einem Präsidialsystem, aber keinen systemtranszendierenden Verfassungsbruch zuließ. ,,Man muß das Ziel der Verfassungswandlung im Auge behalten und darf nicht davon abweichen. Dieses Ziel ist aber nicht die Auslieferung der Volksvertretung an die Exekutive (der Reichspräsident beruft und vertagt den Reichstag), sondern es ist die Stärkung der Exekutive durch Abschaffung oder Entkräftung von Art. 54 bzw. durch Begrenzung des Reichstages auf Gesetzgebung und Kontrolle. Dieses Ziel ist aber durch die authentische Interpretation über die Zuständigkeit eines Mißtrauensvotums geradezu erreicht. Man würde durch einen erfolgreichen Präzedenzfall die Verfassung gewandelt haben ...58 Als Legitimationsbasis wurde wiederum der Amtseid des Reichspräsidenten herangezogen. 59 Damit sollte einerseits 57 Instruktive Auflistung solcher Stimmen bei: Achim Kurz, Zur Interpretation des Artikels 48 Abs. 2 WRV 1930-33, in: Rolf Grawert (Hg.); Offene Staatlichkeit, Berlin 1995, S. 395 -413, hier S. 4IOf.; zur Verfassungsdebatte in der SPD siehe Winkler, Weg, (wie Anm. 2), S. 802 - 809. Beispielhaft für die politische Bandbreite entsprechender Meinungsäußerungen seien hier nur angeführt aus liberaler Sicht die Position des ehemaligen preußischen Justizministers Hermann Hoepker-Aschoff: Verfassungsreform, in: Vossische Zeitung, Nr. 607 vom 20. Dezember 1932; aus sozialdemokratischer Perspektive die anregenden Überlegungen von Ernst Fraenkel: Verfassungsreform und Sozialdemokratie, in: Die Gesellschaft 9 (1932 Ir), S. 493 f.; aus christlich-sozialer Sicht die Ausführungen des Reichstagsabgeordneten Simpfendörfer, die dieser Schleicher am 19. Januar 1933 anläßlich einer Aussprache zukommen ließ, abgedruckt in: AdR, Das Kabinett von Schleicher, Boppard 1986, S. 297300; vgl. auch die Position des offiziösen Organs des Reichswehrministeriums, der "Täglichen Rundschau": ,,Zehn Tage der Entscheidung", in: Tägliche Rundschau, Nr. 18 vom 21. Januar 1933. Entsprechende Positionen finden sich gehäuft auch im juristischen Schrifttum, vgl. nur: Hans Fritz Abraham: Kein Ausweg aus der Staats- und Rechtskrise?, in: Deutsche Juristen-Zeitung 37 (1932), Sp. 1509-1512. 58 Denkschrift Horst Michaels "Wie bewahrt man eine arbeitsfähige Präsidialregierung vor der Obstruktion eines arbeitsunfähigen Reichstages mit dem Ziel, "die Verfassung zu wahren" bzw. zu retten", in: HStAD, RW 265-Karton 5/M9. Diese Mitte Januar 1933 entstandene, acht Schreibmaschinenseiten lange und mit zwei Anlagen versehene Ausarbeitung wurde earl Schmitt von Michael mit der Bitte um Vertraulichkeit überreicht. 59 Vgl. dazu die kurz zuvor entstandene Ausarbeitung Horst Michaels "Der Eid des Reichspräsidenten", in: HStAD, RW 265 - 422.

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Hindenburg selbst in die Pflicht genommen, andererseits jeder monarchischrestaurativen Verfassungsänderung ein Riegel vorgeschoben werden. Denn indem Hindenburg auf seinen Eid, "die Verfassung zu wahren", moralisch und politisch festgelegt wurde, eröffneten sich nur solche verfassungspolitischen Spielräume, die in der Verfassung selbst angelegt waren oder zumindest von ihr nicht ausgeschlossen wurden. Carl Schmitt leitete entsprechende Überlegungen am 13. Januar 1933 an den neuen Reichsinnenminister Bracht weiter,60 mit dem ihn seit längerem ein Vertrauensverhältnis verband. 61 Horst Michael besorgte die Weiterleitung dieser Vorschläge an das Reichswehrministerium, dessen Wehrmachtsabteilung am 20. Januar 1933 einen ausführlichen, juristischen Feinschliff verratenden Bericht über die Möglichkeiten eines "Vorgehen(s) gegen den Reichstag" ausarbeitete. Darin plädierten die Verfassungsexperten Schleichers mit nahezu deckungsgleichen Argumenten für den von Carl Schmitt empfohlenen Weg. Diese "Lösung entspricht auch den Grundsätzen, nach denen eine Verfassungsreform wahrscheinlich verfahren muß: Beschränkung des Reichstages im wesentlichen auf die Legislative. Rechtswirksamkeit eines Mißtrauensvotums nur, wenn hinter ihm der positive Wille einer Mehrheit zu anderer Gestaltung der Politik steht". 62 Damit war Schleicher ein politischer Kurs gewiesen, der die Fernhaltung Hitlers von der Kanzlerschaft mit dem Umbau des politischen Systems hin zu einer präsidialen Demokratie verband. Dieses Konzept konnte mit parteiübergreifender Zustimmung rechnen, es nahm den Reichspräsidenten aus der politischen Schußlinie, in die er mit einem offenkundigen Verfassungsbruch geraten wäre und es beraubte nicht zuletzt Hitler der Möglichkeit, sich als Hüter der Verfassung und Sachwalter der Legalität zu maskieren. Doch warum machte Schleicher von dieser naheliegenden, alle politischen Vorteile vereinenden Option keinen Gebrauch? Warum entschied er sich für die wesentlich riskantere Variante, den Reichstag aufzulösen und Neuwahlen unter 60 Schmitt hatte seine Ratschläge in Form von "Stichworten" gekleidet (in: HStAD, RW 265 - 206), die er am 13. Januar 1933 an Bracht weiterleitete (HStAD, RW 265 - 2061 K 167), wofür sich der Reichsinnenminister am 17. Januar bei Schmitt bedankte (HStAD, RW 2651976); hierzu auch Koenen, (wie Anm. 5), S. 211 f. Wie weit im Reichsinnenministerium die Vorarbeiten für eine Verfassungsreform bereits gediehen waren, wird aus einem Vermerk des Ministerialrats Neumann vom 17. Januar 1933 ersichtlich, in: AdR, Kabinett Schleicher, (wie Anm. 57), S. 267 ff. Bezeichnend für den Einfluß der von Schmitt 1Michael propagierten Gedanken ist dabei vor allem das Resümee Neumanns: "Aus dem vorstehenden ist ersichtlich, 1.) daß eine vom Reichspräsidenten einzuleitende Verfassungsänderung nicht nur (Herv. d. Verf.) durch seinen Eid gerechtfertigt werden kann ... , sondern, daß eine Initiative des Reichspräsidenten zur Verfassungsänderung sich staatsrechtlich auch noch durch andere, auf das Wesen des Verfassungslebens zurückgehende Erwägungen begründen läßt. ....~ ebd., S.269. 61 Dazu siehe Koenen, (wie Anm. 5), S. 211 f. 62 Diese schriftliche Vorlage ist abgedruckt in: AdR, Das Kabinett von Schleicher, (wie Anm. 57), S. 241 ff., Zitat S. 243.

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Bruch des Artikels 25 auf unbestimmte Zeit zu verschieben?63 Da Schleicher im Unterschied zu Papen verfassungsändernde Pläne nicht mit restaurativen Absichten verband, liegt es nahe, die Gründe für Schleichers Verhalten beim Reichspräsidenten zu suchen. Denn wir müssen uns in Erinnerung rufen, daß der Reichskanzler auch bei der abgeschwächten Version eines Vorgehens gegen den Reichstag die uneingeschränkte Rückendeckung des Reichspräsidenten benötigte. Wollte sich aber Hindenburg wirklich nur mit einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses zu Lasten des Parlaments und zu Gunsten des Amtes des Reichspräsidenten begnügen? Wollte er nicht eher die günstige Gelegenheit der Staatskrise nutzen, um die Weichen in Richtung monarchische Restauration zu stellen? War ihm etwa gar nicht an der Etablierung eines Präsidialsystems gelegen, weil dieses seine demokratische Wurzeln64 - der Reichspräsident wurde vom Volke gewählt und bezog von dort seine Legitimation - nicht verleugnen konnte? Für solche Vermutungen spricht die Beharrlichkeit, mit der Hindenburg Ende November 1932 am Papenschen Konfrontationskurs festgehalten hatte, auch wenn der dadurch unvermeidliche Verfassungsbruch das Amt des Reichspräsidenten schweren Belastungen aussetzen mußte. Die über beste Kontakte zur Umgebung des Reichspräsidenten verfügenden Ullstein-lournalisten vermochten damals schon den Grund für diese Haltung anzugeben: Hindenburg dränge geradezu auf den Verfassungsbruch, 65 weil nur so die von ihm sehnliehst herbeigewünschte monarchische Restauration eingeleitet werden könne. 66 Daraus läßt sich erklären, warum der Reichspräsident das Schleichersehe Konzept der Querfront so argwöhnisch beäugte. Wenn Schleicher schon durch das Veto 63 In der Ministerbesprechung vom 16. Januar 1933 sprach sich Schleicher wie das gesamte Kabinett für eine - verfassungswidrige - Verschiebung von Neuwahlen nach erfolgter Reichstagsauflösung aus; Protokoll in: ebd., S. 230 - 238. 64 Darauf hob der ehemalige Reichsjustizminister Eugen Schiffer, ein überzeugter Liberaler, in einer im September 1932 erschienenen einflußreichen Schrift ab, welche die Verfassungsdiskussion neu belebte: Eugen Schiffer, Die neue Verfassung der Deutschen Reiches, Berlin 1932, hier S. 18 ("Das Volk behält also die Zügel immer in der Hand, auch wenn die Zuständigkeiten zwischen dem Reichspräsident und dem Reichstag anders geordnet werden als bisher"). 65 So berichtete Max Reiner, der über exzellente Verbindungen zur Reichskanzlei verfügte, am 12. November 1932 an Schäffer: "Der Reichspräsident sei wie ein junges Mädchen, das ihr großes Erlebnis nicht erwarten könne. Er dränge Papen geradezu die Diktaturvollmachten auf', IfZ, ED 93, Bd. 23, S. 971; vgI. auch den Bericht Schäffers auf einer politischen Lagebesprechung vom 17. November 1932, ebd. S. 979. 66 Der in engen Verbindungen zu Meißner und Döhle (Ministerialrat im Reichspräsidialamt) stehende Stein von der ,,BZ am Mittag" wußte am 15. November 1932 zu berichten, daß Hindenburg seinen Nachfolger für den Rest seiner Amtszeit selbst bestimmen wolle und dabei den Kronprinzen in Erwägung gezogen habe; ebd., S. 975; im Hauptquartier des "Stahlhelm" hoffte man auf eine Reichsverweserschaft nach ungarischem Vorbild, vgI. dazu einen ,,Bericht über die Stimmung im Bundeskanzleramt des Stahlhelms", 16. September 1932, in: IfZ, MA 12711, BI. 11649ff.; siehe weiterhin Schulz, Von Brüning zu Hitler, (wie Anm. 41), S.1012.

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der Reichswehr seinen Favoriten Papen zu Fall gebracht hatte, sollte er wenigstens einen autoritären Kurs weitersteuern und sich nicht mit systemimmanenten Korrekturen begnügen. Hindenburgs Staatssekretär Meißner warnte in diesem Sinne in der Kabinettssitzung vom 16. Januar 1933 ausdrücklich vor "einem Verlassen des Gedankens des Präsidialkabinetts.,,67 Und vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, daß der Reichspräsident in einer Unterredung mit Schleicher geradezu auf die Auflösung des Reichstages - und damit verbunden gewiß auch auf die Verschiebung der Neuwahl- drängte. 68 Im Unterschied zu seinen Verfassungsberatern wußte Schleicher um die verfassungspolitische Position Hindenburgs. Daher konnte er nicht umhin, die Vorgaben Hindenburgs formal zu erfüllen und plädierte daher in der Kabinettssitzung vom 16. Januar 1933 für den radikalen Weg zur Ausschaltung des Reichstags. Doch inhaltlich dachte er gar nicht daran, ein zweiter Papen zu werden und schnurstracks auf die Diktatur zuzusteuern. Er wollte durch die Suspendierung des Reichstags einfach Zeit gewinnen, um den politischen Radikalismus abklingen zu lassen und den politischen Unterbau seines Kabinetts zu erweitern, indem er es um Repräsentanten des Zentrums, der Deutschnationalen und des Straßer-Flügels der NSDAP erweiterte. 69

Eine solche "Untermauerung des Kabinetts,,70 stand in krassem Gegensatz zu Papens Diktaturgelüsten. Doch inzwischen war Papen nicht untätig geblieben und hatte Schleichers Stellung dort unterhöhlt, wo sie ohnehin auf bereits brüchigem Fundament ruhte: beim Reichspräsidenten. Hindenburg wurde der "versöhnlerische" Schleicher-Kurs ohnehin immer suspekter; und in dieser Lage konnte Papen den Reichspräsidenten für eine Alternative erwärmen, gegen die sich Hindenburg zwar bislang gesträubt hatte, die aber jetzt anscheinend unvermeidbar wurde: die Reichskanzlerschaft Hitlers. Papen selbst schlüpfte in die Rolle des Vermittlers zwischen den Vertretern der politischen Restauration und den Nationalsozialisten, um so wieder ins politische Geschäft zu kommen. Am 22. Januar 1933 konnte er die engsten Vertrauten Hindenburgs, dessen Sohn Oskar und Staatssekretär MeißProtokoll in: AdR, Kabinett Schleicher, (wie Anm. 57), S. 235. Diese Unterredung dürfte am 14. oder 15. Januar 1933 stattgefunden haben; siehe hierzu Vogelsang, Reichswehr, (wie Anm. 4), S. 362f. und einen Briefentwurf Schleichers an die Schriftleitung der ihm früher sehr nahestehenden "Vossisehen Zeitung", 30. Januar 1934, abgedruckt in: Vogelsang, Zur Politik Schleichers, (wie Anm. 33), S. 89f.; siehe auch eine Tagebuchnotiz Schwerin-Krosigks über ein Gespräch mit Schleicher am 17. Januar 1933: IfZ, ZSI A-20, Tagebuch Schwerin-Krosigk, Bd. 4a, BI. 12. 69 Diese Kabinettserweiterung war auch Gegenstand der Ministerbesprechung vom 16. Januar 1933; Protokoll in AdR, Kabinett Schleicher, (wie Anm. 57), S. 233 - 236; vgl. auch Vogelsang, Reichswehr, (wie Anm. 4), S. 365 f. 70 So Schleicher am 10. Januar 1933 in einer Unterredung mit Max Reiner von der "Vossisehen Zeitung"; Gesprächsniederschrift in: IfZ, Nachlaß Hans Schäffer, ED 93, Bd. 33, BI. 16 - 20; vgl. auch den Bericht Reiners über ein Pressegespräch Schleichers vom 13. Januar, ebd., BI. 21 - 24. 67

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ner, für die Grundzüge der Hitler-Lösung gewinnen. 71 Damit aber war das politische Schicksal Schleichers besiegelt, seine politische Lebensversicherung - der Rückhalt beim Reichspräsidenten - wurde ihm bereits tags darauf gekündigt. Denn als Schleicher am Vormittag des 23. Januar von Hindenburg alle präsidialen Vollmachten für die Ausschaltung des Reichstags erbat, wurde ihm vom Reichspräsidenten beschieden, daß er sich dazu wegen der Gefahr eines Verfassungsbruchs nicht hergeben könne. 72 Hindenburgs Weigerung erfolgte aber nicht aus verfassungspolitischen Skrupeln, sondern weil Schleicher diese Vollmachten nicht im verfassungsprengenden Sinne anzuwenden gedachte. Für ein bloßes Interim, für einen Wandel zu einem Präsidialregime unter dem Dach der Weimarer Verfassung wollte Hindenburg die Autorität seines Amtes nicht hergeben. Daß Hindenburg jedoch prinzipiell sehr wohl am Gedanken einer verfassungswidrigen Ausschaltung des Parlaments festhielt, wird an der Beharrlichkeit ersichtlich, mit der er auf eine erneute Kanzlerschaft Papens drängte. 73 Papen mit seinem eindeutigen Restaurationskurs blieb Hindenburgs eindeutiger Wunschkandidat nicht ein Kabinett Hitler-Papen mit dem "böhmischen Gefreiten" als Kanzler!74 Doch sein erklärter Favorit Papen hatte sich im Unterschied zum November / Dezember 1932 diesmal zum Fürsprecher einer Kanzlerschaft Hitlers gemacht, womit Hindenburg die personelle Alternative zu Hitler abhanden gekommen war. Zudem unternahmen auch Schleicher und die Reichswehrgenerale alles Erdenkliche, um die erneute Betrauung Papens zu verhindern. Denn ihnen ging es darum, aus Rücksicht auf die Interessen der Reichswehr die bewaffnete Macht nicht zugunsten einer reaktionären Regierung in einer zu befürchtenden bürgerkriegsähnlichen Situation zu verschleißen. 75 Ein von Ritler geführtes Kabinett bot aus ihrer Sicht den Vorzug, die stärkste politische Kraft des Landes in die Regierungsverantwortung einzubinden, womit die bedrückende Vorstellung hinfallig wurde, "mit Maschinengewehren auf der Straße,,76 eine erneute Papenregierung gegen politi71 VgI. dazu Vogelsang, Reichswehr, (wie Anm. 4), S. 371 f.; Winkler, Weg (wie Anm. 2), S. 845 ff.; ausführlichste Darstellung bei Henry Ashby Turner, Hitler's Thirty Days to Power: January 1933, Bloomsbury 1996, S. 112 - 116. 72 Niederschrift dieser Unterredung in AdR, Kabinett Schleicher, (wie Anm. 57), S. 294 f., vgI. hierzu auch Vogelsang, Reichswehr, (wie Anm. 4), S. 373. 73 VgI. dazu nur Vogelsang, Reichswehr, (wie Anm. 4), S. 374 und S. 376 sowie Turner, (wie Anm. 71), S. 135. 74 Ergiebigste Quelle hierzu sind die Tagebuchaufzeichnungen Schwerin von Krosigks über die politischen Vorgänge zwischen dem 23. und 28. Januar 1933, in: AdR, Kabinett Schleicher, (wie Anm. 57), S. 316-319. 75 Siehe Vogelsang, Reichswehr, (wie Anm. 4), S. 377, S. 382, S. 385 und S. 388 f.; Turner, (wie Anm. 71), S. 148 f. sowie Kunrat Freiherr von Hammerstein, Spähtrupp, Stuttgart 1963, S. 39-49. 76 Im Pressegespräch vom 13. Januar hatte Schleicher die Verhinderung einer erneuten Kanzlerschaft Papens ausdrücklich damit begründet, daß sonst "drei Tage später die Reichswehr mit Maschinengewehren auf der Straße gestanden (hätte). Es wäre nicht gut ausgegangen"; IfZ, Tagebuch Schäffer, ED 93, Bd. 33, BI. 22.

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schen Aufruhr im Amt zu halten. So hat Schleicher nach seinem Sturz tragischerweise noch dazu beigetragen, die Bedenken Hindenburgs gegen eine Kanzlerschaft Hitlers zu zerstreuen! Schleicher ist aber letztlich nicht an Hitler, sondern an Hindenburg gescheitert. Der alte kaiserliche Generalfeldmarschall war eben nicht für eine, den Rahmen der Weimarer Verfassung nutzende Transformation der parlamentarischen Demokratie hin zu einer präsidialen Demokratie zu gewinnen, weil er sich nur für eine Restauration der Monarchie erwärmen konnte und nur dafür die Autorität seines Amtes einbringen wollte. Für eine Weiterentwicklung der präsidialen Befugnisse innerhalb der bestehenden Verfassungsordnung fehlte Hindenburg der politische Wille und wohl auch der erforderliche Mut und die Gestaltungskraft. Damit schrumpfte die "letzte deutsche Legende,,77 zu einem politischen Versager vom Schlage des französischen Präsidenten Mac Mahon, der in einer vergleichbaren Lage die Aussicht auf eine Umgestaltung der 3. französischen Republik zu einem Präsidialsystem verspielt hatte. earl Schmitt notierte am 27. Januar 1933 desillusioniert in sein Tagebuch, nachdem er gerade von Erich Marcks erfahren hatte, daß Hindenburg diejenige politische Möglichkeit ausschlug, welche die Berater Schleichers ihm schmackhaft zu machen versucht hatten: "Es ist etwas Unglaubliches geschehen. Der Hindenburg-Mythos ist zu Ende. Der Alte war schließlich auch nur ein Mac Mahon.,,78 Per Saldo läßt sich bilanzieren, daß die hochbewegte Zeit zwischen dem August 1932 und dem Januar 1933, die hier mit groben Strichen nachzuzeichnen versucht wurde, als Lehrbeispiel für die Offenheit politische Entscheidungssituationen taugt. 79 Gewiß war seit August 1932 das Schicksal der alten Weimarer Republik besiegelt, die nationalsozialistische Herrschaft jedoch alles andere als unvermeidlich. Kurt von Schleicher hat daran zweifellos einen herausragenden Anteil besessen: als Totengräber der parlamentarischen Demokratie, aber auch als Wegweiser eines nicht ganz aussichtslosen Auswegs aus der von ihm selbst herbeigeführten Staatskrise.

77 Tagebucheintragung earl Schmitts vom 28. Januar 1933, in: Noack, (wie Anm. 19), S.159. 78 Ebd., S. 159; schon die Denkschrift Michaels vom Januar 1933 hatte das Beispiel Mac Mahon herangezogen als Exempel für einen fehlgeschlagenen Verfassungswandel (HStAD, RW 265 - Karton 5/M9). 79 Ein ähnliches Urteil auch in der Studie Henry Ashby Turners, welche die letzte Phase der Machtübertragung an Hitler auf die bislang ausführlichste Weise nachzeichnet: Turner, (wie Anm. 71),S.166f.

Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich 1 Hans Mommsen

Die Volkswagenwerk GmbH, die auf die Initiative der DAF 1938 ins Leben trat, repräsentierte in mancher Hinsicht den Typus eines nationalsozialistischen Unternehmens analog zu den Reichswerken Hermann Göring. Die DAF betrachtete es als gemeinnütziges Unternehmen, das keine Steuern abzuführen hätte. Erst 1942 ließ sich die Geschäftsführung auf Drängen des Reichsfinanzministeriums dazu herbei, die durch den Einstieg in das Rüstungsgeschäft entstandenen Gewinne ordentlich zu versteuern. Anders als Salzgitter, als die STEAG und die Chemischen Werke Hüls, deren Gründung auf die Initiativen des Vierjahresplans zurückging und die in den Dienst der Aufrüstung gestellt wurden, war das Volkswagenwerk, das die Massenmotorisierung in Deutschland vorantreiben sollte, ausschließlich für die Friedensproduktion bestimmt.. Prompt stand das Werk bei Kriegsausbruch noch im Bau und, da die notwendigen Rohstoffe und Arbeitskräfte fehlten, in Gefahr, als Schattenfabrik an die Junkers A.G. überstellt zu werden, die ursprünglich eine reguläre Flugzeugherstellung im späteren Wolfsburg anstrebte, aber angesichts der unzureichenden Rohstoffressourcen das Werk im wesentlichen auf die Reparatur von Ju 88 und Ju 188 beschränkte, die nur einen Teil der Produktionskapazität ausfüllte. Ferdinand Porsche suchte die Gefahr, daß das Werk in die Zuständigkeit des Junkers-Konzerns überging, dadurch abzuwenden, daß er in Verhandlungen mit dem Heereswaffenamt eine Vielzahl kleinerer Rüstungsaufträge hereinnahm. Die Umwidmung des Volkswagenwerkes in einen Rüstungsbetrieb erfolgte somit in weitgehend improvisiert und verwies es darauf, als eine Art "Lumpensammlerbetrieb" jene Rüstungsaufträge auszuführen, die der übrigen Industrie nicht attraktiv genug erschienen. Ein Paradebeispiel dafür bildete die Produktion hölzerner Zusatztanks für die Luftwaffe im Zusammenhang mit der Luftschlacht über dem Kanal. Immerhin führte dieser Auftrag, für den das metallverarbeitende Unternehmen keinerlei Qualifikation mitbrachte und für den polnische Arbeiterinnen eingestellt wurden, das Werk frühzeitig zur Beschäftigung von Zwangsarbeitern. Die Pläne, das Volkswagenwerk nach dem Vorbild des modernsten Ford-Betriebes in River Rouge als integrierten Betrieb zu gründen, der neben der Automobil1 Für Einzelbelege siehe die umfassende Darstellung von Mommsen, Hans I Grieger, Manfred, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996.

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herstellung im engeren Sinne ein Stahlwerk, eine Glas-, eine Textil- und Gummifabrik urnfaßte und damit gleichsam innerindustriell autark war, mußten nach Beginn des Krieges weitgehend ad acta gelegt werden. Gleichwohl war das Hauptwerk mit den modernsten Pressen und Maschinen ausgestattet und für eine Produktion von zunächst 500 000 Fahrzeugen jährlich ausgelegt und befand sich technologisch gesehen an der Spitze der europäischen metallverarbeitenden Industrie. Durch die Ausrichtung am amerikanischen Vorbild und die Übernahme der von der Opel A.G. entwickelten Kontrollsysteme war das Volkswagenwerk ein herausragendes Beispiel für technologische Modernisierungsschübe, die das NS-Regime, indem es rechtliche und finanzielle Barrieren beiseite schob, in einigen Bereichen ermöglichte. Es steht auf einem anderen Blatt, daß Porsches grandioses Projekt der Volksmotorisierung unter Regimebedingungen zum Scheitern verurteilt war. In einer von Mangel und Rohstoffen und Arbeitern geprägten Volkswirtschaft fehlten die notwendigen Rahmenbedingungen dafür, ganz abgesehen davon daß trotz der, wie sich zeigte, fiktiven Preisfestsetzung des KdF-Wagens, der mit 990 RM ein Drittel billiger sein sollte als das preisgünstigste Opel-Modell, die erforderliche Massenkaufkraft angesichts der stagnierenden Nominallöhne nicht vorhanden war. Sektorale Modernisierungsschübe dieser Art mußten sich daher totlaufen, und der Krieg ersparte der DAF den Offenbarungseid, daß sie zu dem versprochenen Preis nicht würde liefern und die eingegangenen Zusagen an die Volkswagensparer nicht einhalten können. Für Ferdinand und Ferry Porsche wie für Anton Piech gilt, daß sie sich vorbehaltlos in den Dienst der Aufrüstung des NS-Systems stellten, da dies die alleinige Chance darstellte, den verzögerten Werks aufbau im Schatten von sich steigernden Rüstungsaufträgen auch unter Kriegsbedingungen voranzutreiben. Die Tatsache, daß das Volkswagenwerk als Spätkömmling im kriegswirtschaftlichen System auftrat, verstärkte die Bereitschaft, Rüstungsaufträge hereinzuholen, zumal das Unternehmen, im Unterschied zu herkömmlichen Betrieben, keine Möglichkeit besaß, zivile Produkte herzustellen. Es war in dieser Beziehung ein reiner Rüstungsbetrieb. Die Unternehmensleitung unter FerdinandPorsche und Bodo Lafferentz, der für die NS-Gemeinschaft "Kraft durch Freue" von der DAF dorthin entsandt worden war, verfolgte gleichwohl das Ziel, im Schatten der Aufrüstung die Voraussetzungen dafür zu schaffen, das ursprüngliche Produktionsziel zu erreichen, doch fehlten bis 1940 die Voraussetzungen dafür, weil eine militärische verwendbare Variante des Volkswagens - der sog. Kübelwagen - noch nicht verfügbar war. Da sich das Heer an der Verwendung von kleineren PKW desinteressiert zeigte, suchte Porsche erfolgreich die Unterstützung der Waffen-SS, die sich technologischen Veränderungen gegenüber aufgeschlossener verhielt als die Wehrmacht und bei der Entwicklung des Schwimmwagens unentbehrliche Hilfestellung gab. Desgleichen scheiterten Pläne, was Werk in die Herstellung von Flugzeug- und Panzermotoren einzubeziehen. Immerhin gelang es dem Management, durch die

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Abzweigung von für die Rüstung bestimmten Rohstoffen und Arbeitskräften nach und nach die Produktionsbänder für die Fahrzeugherstellung auszubauen. Obwohl sich der Kübelwagen als technisch erfolgreich erwies und Hitler 1942 dazu gewonnen werden konnte, ihn als einzigen PKW für die Wehnnacht zu verwenden, blieben, auch nachdem die notwendigen Dringlichkeitsstufen erteilt worden waren, die Produktionsziffern mit ca. 2 500 bis 4 000 Fahrzeugen monatlich vergleichsweise gering. Die Gesamtproduktion von Kübel- und Schwimmwagen sowie Limousinen betrug bis 1945 nicht mehr als 55 000 Stück, machte also nur einen kleinen Anteil an der Gesamtproduktion aus, der freilich beträchtliche finanzielle Gewinne abwarf, zumal der erzielte Stückpreis ein Mehrfaches des für den KdF-Wagen projektierten Preises ausmachte. Für die nationalsozialistische Rüstungsplanung war es vermutlich kennzeichnend, daß sie sich nicht in der Lage erwies, die technischen Qualitäten dieses damals modernsten europäischen Metallverarbeitungsbetriebes angemessen zu nutzen. Abgesehen von der Groteske, daß sich das Unternehmen durch den Bau von hölzernen Zusatztanks für die Luftschlacht über dem Ärmelkanal und die Massenproduktion von OT-Öfen, später mit Mischproduktionen am Leben erhielt, war dessen Produktion im wesentlichen auf Reparaturen und Teilefertigung für die Ju 88, später auch die Ju 188 begrenzt, während Planungen zur Schaffung eines 1000-Motorenwerks für die Luftwaffe, später auch für die Panzerherstellung nicht realisiert wurden, z. T. trotz erheblicher Anlaufkosten. Als dem Werk 1943 die Fi 103-Fertigung übertragen wurde, ging der Auftrag eben zu dem Zeitpunkt, als die Serienproduktion relativ störungsfrei angelaufen war und die Planzahlen einigermaßen erfüllt wurden, an die von der SS-kontrollierten Mittelwerke, bekannt unter der Bezeichnung Dora-Mittelbau, über. Die fließfertigung, die für die Fi 103 installiert wurde, stellte keinen wirklichen Rationalisierungsfortschritt dar, da sie auf die Beschäftigung von angelernten Ostarbeitern ausgelegt war und wegen des Mangels an Einwegmaschinen technisch eher rückschrittlich blieb. Nur im Bereich der Fahrzeugfertigung, die erst 1940 in Gang kam, schlugen die technologischen Fortschritte zu Buche, doch stagnierte die Produktion des Kübelwagens, da es nicht gelang, die erforderlichen Zulieferungen sicherzustellen. Auch bei den übrigen Fertigungen, die das Werk herein nahm, ergab sich ein extremes Mißverhältnis zwischen Planvorgaben und effektivem Ausstoß: Das galt vor allem für die Großaufträge zur Fi 103-Fabrikation, bei der sich zudem zunächst extrem hohe Ausschußzahlen ergaben, da die Produktionseinrichtungen erst umgestellt werden mußten und da die fortlaufenden Änderungen an der Konstruktion die Serienfertigung erschwerten. Teilweise erklärt sich die Nichterfüllung der Sollziffern daraus, daß das Volkswagenwerk bis 1943 nur begrenzte praktische Erfahrungen in der fließfertigung hatte sammeln können. Vor allem aber ging das Mißverhältnis auf die für die gesamte Rüstungswirtschaft kennzeichnende Unstetigkeit der Produktion und Produktionsvorbereitung und die sich ständig ändernden Planvorgaben

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und Konstruktionsänderungen zurück. Der durch unzureichende Rüstungssteuerung verursachte Leerlauf in den Betrieben des Volkswagenwerkes war eine allgemeine Erscheinung in der NS-Kriegswirtschaft, machte sich aber bei einem Unternehmen, das ausschließlich auf Rüstungsaufträge angewiesen war, in gesteigertem Umfang bemerkbar. Dies verstärkte sich im Zusammenhang mit der vom Volkswagen werk nachdrücklich begrüßten Untertageverlagerung, durch die Porsche die wertvollen Maschinen, insbesondere die Großpressen vor Zerstörungen durch Bombenangriffe zu bewahren hoffte. Die Verlagerung der Produktion unter Tage und in Zweigbetriebe zwang zu ständigen Improvisationen, die im Grunde jede geregelte Produktion ausschlossen. Die vorgesehenen Untertagebetriebe gelangten vor dem Kriegsende nicht mehr zur Produktion und mußten teilweise vor dem Angriff der alliierten Verbände geräumt werden. Nominell gelang es durch die Verlagerung, die Produktionsfläche des Werkes signifikant zu vergrößern. Gleichzeitig sank jedoch die Produktqualität und ging der Vorzug der guten technischen Grundausstattung immer mehr verloren. Obwohl das Volkswagenwerk, abgesehen von der Flugzeugreparatur, hinter den Auftragsvorgaben weit zurückfiel, wurden ihm vom Jäger- und dann vom Rüstungsstab immer neue Produktionsaufgaben zugewiesen. Teils erfolgte dies als Kompensation für den Verlust der Fi l03-Produktion, teils weil dem Unternehmen das Odium anhaftete, über freie Kapazitäten zu verfügen und für Massenproduktionen besonders geeignet zu sein. Die Vereinbarung von Lieferverträgen bis in die letzen Kriegswochen hinein abstrahierte vollständig von den tatsächlich verfügbaren begrenzten Kapazitäten und dem Fehlen von Arbeitskräften und der erforderlichen Werkzeuge und Einrichtungen. Außer der im Hauptwerk verbliebenen Kübel- und Schwimmwagenherstellung und der relativ bedeutungslosen Produktion von Tellerminen und Panzerfäusten erzeugte das Werk seit den mit größtem Aufwand durchgeführten Untertageverlagerungen keinerlei relevante Rüstungsgüter mehr. Die beim Management vorherrschende Mentalität eines Produzierens um jeden Preis hatte nur noch wenig mit der betrieblichen Realität zu tun. Jedenfalls müssen auf der Grundlage der empirischen Befunde begründete Zweifel gegen die Vorstellung erhoben werden, daß es Albert Speer gelungen sei, die Produktivität der deutschen Rüstungswirtschaft entscheidend und auf längere Sicht zu erhöhen. Aus der betrieblichen Perspektive des Volkswagenwerkes ergibt sich ein anderes Bild. Ständig geänderte Planvorgaben, verfrühte Produktionsaufnahmen und abgebrochene Projektplanungen verhinderten eine kontinuierliche Produktion, bis die Verlagerung der rüstungs wichtigen Fertigungen in die Ausweich- bzw. Untertagebetriebe sie weithin unmöglich machte. Hierin unterschied sich das Volkswagenwerk nicht wesentlich von vergleichbaren Rüstungsbetrieben wie denjenigen der Daimler-Benz AG.

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Das Endstadium des Werkes - die Nahverlagerung der Kübelwagen-Fertigung in die engere Umgebung des heutigen Wolfsburg und die Auflösung der Fabrik in eine Vielzahl von handwerklich geprägten Kleinbetrieben, durch die die Zulieferungen für die noch funktionsfähigen Bandstraße im Hauptwerk erfolgten - stellte, ebenso wie die Übernahme von so bedeutungslosen Produkten wie Tellenninen und Panzerfäusten im Grunde einen Rückfall in vormoderne Produktionsmethoden dar. Darin verdichtet sich spiegelbildlich die relative Unfahigkeit des Regimes, Modernisierungsimpulse, wie sie sich im Volkswagenwerk verkörperten, in die Realität umzusetzen. Im Hinblick auf die jüngst von Rainer Zitelmann und Prinz entfachte Modernisierungsdiskussion ist zu betonen, daß die Entwicklung des Volkswagenwerks von den Anfängen bis zum Kriegsende eher als Scheitern eines bemerkenswerten Impulses zur technischen Modernisierung betrachtet werden muß. Ganz abgesehen von dem moralischen Aspekt ergab sich ein unübersehbares Mißverhältnis zwischen dem begrenzten rüstungs wirtschaftlichen Ertrag und der dafür in Kauf genommenen Beschäftigung von Zwangs- und KZ-Arbeitern aller Kategorien. Das Volkswagenwerk nahm in dieser Beziehung eine Sonderstellung innerhalb der Rüstungsbetriebe ein, da es bis zum Kriegsausbruch noch keine Stammbelegschaft hatte ausbilden können und von vornherein auf die Verwendung ausländischer Arbeitskräfte, zunächst auf Italiener, dann auf niederländische und dänische Arbeiter, dann auf polnische Dienstverpflichtete und französische Kriegsgefangene angewiesen war. Mit bis zu drei Vierteln von dienstverpflichteten oder Zwangsarbeitern aus allen Teilen Europas hatte das Werk den höchsten Anteil an unfreien Beschäftigten, zu denen seit 1941 sowjetische Kriegsgefangene, in großem Umfange Ostarbeiter, italienische Militärinternierte und schließlich KZHäftlinge traten. Auf Grund der Gewöhnung an die Beschäftigung von mittels staatlichen Zwangs rekrutierten dienstverpflichteten Arbeitskräften wurde das schrittweise Absinken zur Ausbeutung von Zwangsarbeitern und immer schlechteren sanitären und persönlichen Bedingungen zunehmend selbstverständlich. Jedenfalls scheinen sich keine nennenswerten Widerstände gegen die Heranziehung von Zwangsarbeitern aller Kategorien, schließlich die Beschäftigung von KZ-Häftlingen, erhoben zu haben, wenngleich auch das Volkswagenwerk wie die übrige Industrie deutsche Arbeiskräfte bevorzugt hätte, die jedoch immer weniger verfügbar waren. Dabei waren es keineswegs einseitige rüstungspolitische Zwänge, die zur Forcierung der Zwangsarbeiterbeschäftigung beitrugen. Trotz der ausschließlichen Rüstungsorientierung war die Betriebsführung bis in die letzten Kriegsmonate hinein bestrebt, ein Fenster für die Friedensproduktion offen zu halten. Die Verstrickung des Werkes in die Beschäftigung von Juden und KZ-Häftlingen seit 1941 hing nicht zuletzt mit den Anstrengungen zusammen, das Werk für die Friedenszeit konkurrenzfähig zu machen. Der Bau der Leichtmetallgießerei und die Errichtung des ersten KZ-Arbeitslagers im industriellen Bereich, die in Zusammenabeit mit

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Hans Mommsen

der SS vollzogen wurden, sowie der dann gescheiterte Plan, jüdische Zwangsarbeiter für den Stadtbau heranzuziehen, gehören in diesen Zusammenhang. Auch in der zweiten Kriegshälfte, in der die verbrecherischen Züge des NSSystems und der deutschen Kriegführung immer mehr zutage traten, finden sich in den allerdings fragmentarischen Quellen keine Anzeichen dafür, daß das Management insbesondere in der Zwangsarbeiterfrage Zurückhaltung geübt hätte. Vielmehr nahm der DAF-Betrieb in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle ein, indem er sich neu öffnende Chancen zur Heranziehung von Arbeitskräften bereits ausnutzte, bevor sie vom Regime offiziell angeboten wurden, so im Hinblick auf die Beschäftigung von italienischen Arbeitskräften 1938, von dienstverpflichteten und Zwangsarbeitern aus den Benelux-Ländern, aus Polen im Herbst 1939 und 1940 aus Frankreich und Südosteuropa, seit 1941 auf die industrielle Verwendung sowjetischer Kriegsgefangener, später italienischer Militärinternierter bis hin zu jüdischen und nicht-jüdischen KZ-Häftlingen. Namentlich im Zusammenhang mit der Untertageverlagerung seit Oktober 1943 scheute sich Porsche nicht, unter Umgehung der zuständigen Arbeitsverwaltung und des Jägerstabes 3.500 KZ-Häftlinge durch die Vermittlung Himmlers direkt bei Oswald Pohl anzufordern. Ebensowenig scheint die Werksleitung Skrupel gehabt zu haben, jüdische Häftlinge aus Auschwitz für die Produktion der Fi 103 auszusondern und die Auswahl vor Ort durch eigene Beauftragte vorzunehmen (dies war zuvor auch im Hinblick auf sowjetische Kriegsgefangene geschehen). Auch die Beschäftigung von ungarischen Jüdinnen, die auf dem Umweg über Auschwitz ins Werk gelangten und in der Halle I im Souterrain des Hauptwerkes eingesperrt waren, ging auf die Initiative der Werksleitung zurück. Das Motiv dafür bestand, so weit das heute noch auszumachen ist, in der Ausnützung sämtlicher vorhandenen Kapazitäten. Im Falle der sowjetischen Kriegsgefangenen lassen sich Bemühungen von seitens Porsches feststellen, sich für deren bessere Verpflegung einzusetzen. Im übrigen scheint sich die Werksleitung um die Lage der Insassen des KZ-Außenlagers Laagberg ebenso wie dasjenige der jüdischen Frauen in der Halle 1 nicht gekümmert zu haben. Man gewinnt den Eindruck, daß auch gegenüber den Ostarbeitern und Kriegsgefangenen die starren und in vieler Hinsicht diskriminierenden Vorschriften durchweg angewandt worden sind, wenngleich in der Regel nicht durch Wach- oder Aufsichtspersonal, das der Werksleitung unterstand. Die Verhältnisse scheinen sich von denjenigen vergleichbarer Betriebe nicht signifikant unterschieden zu haben. Sicherlich befand sich das Management des Volkswagenwerkes unter einem gewissen psychologischen Druck, den Anforderungen der Rüstungsbehörden nachzukommen. Aber es kann nicht gesagt werden, daß die Beschäftigung von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen der Werksleitung aufgezwungen worden sei. Am Beispiel des Volkswagenwerkes läßt sich vielmehr ein beträchtlicher eigener Handlungsspielraum der Unternehmensführung ausmachen, die eine Vielzahl selbständiger Initiativen entfaltete, welche die Schlußfolgerung nahelegen, daß es als

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aktiver Komplize des Regimes fungiert hat. Für die Beschäftigung von jüdischen und anderen KZ-Häftlingen gab nicht kriegswirtschaftlicher Zwang, sondern die Sorge, den Übergang zur Friedenswirtschaft sicherzustellen bzw. die Maschinen vor Zerstörungen zu bewahren, vielfach den Ausschlag. Das Volkswagenwerk stand damit nicht allein. Auch bei Daimler-Benz war, wie die Untersuchung von Neil Gregor2 zeigt, das Motiv, den Bestand des Unternehmens zu sichern, maßgebend für die Entscheidung zum umfassenden Einsatz von in der Regel jüdischen KZ-Häftlingen. Sicherlich lagen beim Volkswagen werk die Dinge insofern anders, als in der Regel das Management und die mittlere Führungsschicht des Werkes dem NSRegime ihre Karriere verdankten und ihm und der DAF ein Hohes Maß an Loyalität entgegenbrachten, Das schloß indessen handfeste Interessenkonflikte nicht ausschloß, nicht zuletzt seit Porsche die Geschäftsführung an seinen Schwiegersohn Anton Piech übergeben hatte. Piech war bestrebt, das Unternehmen als normalen kapitalistischen Betrieb zu führen und die Leitungspositionen in die Hände von Persönlichkeiten zu legen, die Porsche besonders ergeben waren. Gleichwohl unterschied es sich von vergleichbaren Firmen dadurch, daß es gestützt auf das ungewöhnlich große Prestige, das Ferdinand Porsche bei Hitler besaß, immer wieder interne Kanäle ausnützte, um bestimmte Interessen gegenüber der widerstrebenden Rüstungsbürokratie durchzusetzen. Andererseits war der Grad der unmittelbaren Politisierung eher gering. Obwohl es sich um einen DAF-Betrieb handelte, besaßen die örtliche NSDAP und der DAF-Betriebsobmann keinen größeren Einfluß. So weit das festgestellt werden kann, gab es keine DAF-Werkscharen im Betrieb, und der DAF-Vertrauensrat spielte eine höchst untergeordnete Rolle. Allerdings wurden regelmäßig Betriebsversammlungen der DAF durchgeführt, und sie nahm in der Freizeit-Betreuung großen Raum ein und prägte insbesondere die Lehrlingsausbildung im Vorwerk Braunschweig. Für das Management ist die Wirkung der nationalsozialistischen Propaganda eher niedrig zu veranschlagen. Vielmehr prägte die Persönlichkeit Ferdinand Porsches den eher autoritären Führungsstil innerhalb des Unternehmens. Porsche selbst war trotz seiner engen Beziehungen zu Hitler und Himmler im Grunde apolitisch eingestellt und handelte in erster Linie nach der Maxime, den weiteren Ausbau des Werkes voranzutreiben. Das ursprüngliche Ziel, mit dem Bau des Volkswagens die deutsche Massenmotorisierung durchzusetzen, verlor er nicht aus den Augen, wenngleich er seine Energien zunehmend auf den Panzerbau, die Gewinnung von Windkraft, das Volkstraktorprojekt und die technische Fortentwicklung des Volkswagenmodells verwandte. Apologetische Schutzbehauptungen, das Management hätte ausschließlich unter dem Zwang der kriegswirtschaftlichen Notwendigkeiten gehandelt, greifen daher in der Regel zu kurz. 2

Gregor, Neil, Stern und Hakenkreuz. Daimler-Benz im Dritten Reich, Berlin 1997.

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Hans Mornrnsen

Eine andere Frage ist, wie weit die Handlungsfreiheit der Unternehmen reichte, die im Falle von Verweigerung den Abzug von Rohstoffkontingenten und Arbeitskräften zu befürchten hatten. Unzweifelhaft waren die Handlungsspielräume des Managements durch die Weisungshoheit des Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition und die Rüstungskontrollbehörden sowie die direkte Unterstellung einzelner Produktionszweige unter staatliche Beauftragte, wie im Volkswagenwerk im Fall der Fi 103 Produktion, eng begrenzt. Angesichts der unangreifbaren Stellung, die Porsche bei Hitler einnahm, waren Befürchtungen dieser Art nicht sehr real. Vielmehr verstand es Porsche trotz der starken persönlichen Spannungen zu Albert Speer, immer wieder Sonderinteressen des Unternehmens durchzusetzen. Andererseits gibt es keine Anzeichen dafür, daß sich bei der Unternehmensführung ein innerer Widerstand gegenüber der Politik des Regimes bemerkbar gemacht hätte. Vielmehr stellten sich Porsche und Piech bis zuletzt und offenbar vorbehaltlos in den Dienst des kriegswirtschaftlichen Systems. Dabei wirkte die Vorstellung ein, daß die Heimatfront der kämpfenden Truppe bedingungslos zur Seite stehen müsse. Jedenfalls stellten die Zweigbetriebe des Volkswagenwerks die Produktion erst ein, als die alliierten oder russischen Verbände unmittelbar ante portas standen. Die Durchhaltementalität, die beim Management, dem mittleren Führungspersonal und der deutschen Belegschaft des Volkswagenwerkes fast ohne Ausnahme bis zuletzt anzutreffen war, ging zum großen Teil auf die die relativ starke ideologische Indoktrination innerhalb des NS-Musterbetriebes zurück. Gerade was die Einstellung der deutschen Belegschaftsmitglieder auf die Zwangsarbeiter und sowjetischen Kriegsgefangenen betrifft, so wirkte eine spezifisch rassistische Mentalität ein, welche die antislawischen Vorurteile konservierte und die Minderheit, die sich kooperativ und gelegentlich auch hilfsbereit verhielt, Pressionen durch die im Werk tätige Gestapo und andere Sicherheitsorgane aussetzte. Die gedankenlose Gewöhnung an tägliches Unrecht und offenbare Mißhandlung der Zwangsarbeiter scheint dabei ebenso großes Gewicht gehabt zu haben. Die Regimeloyalität von Teilen der deutschen Belegschaft entsprang jedoch vornehmlich jener psychologischen Reaktion auf die zunehmende Desorientierung und mangelnder Zukunftsgewißheit im letzten Kriegsjahr, die Wolfgang Werner für die Arbeiterschaft als "Flucht in den Betrieb" umschrieben hat. 3 Die Flucht in die jeweilige Aufgabe, auch wenn diese angesichts der Kriegssituation keinen Sinn mehr hatte, galt auch für die leitenden Angestellten und das Management, die andere Handlungsalternativen nicht mehr zu entwickeln vermochten. Zwar verwandte Porsche zunehmende Energie auf die Konstruktion des von Robert Ley propagierten Volksschleppers. Desgleichen betrieb das Konstruktionsbüro der Porsche KG in Stuttgart-Zuffenhausen die Weiterentwicklung der Limousine und ent3 Vgl. Wemer, Wolfgang, "Bleib übrig!" Deutsche Arbeiter in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft, Düsseldorf 1983.

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wickelte zahlreiche zivile Anwendungen für den Volkswagen. Aber im wesentlichen war das Unternehmen auf die Rüstung angewiesen. Das mag erklären. daß sich die Werksleitung keine konkreten Vorstellungen von der künftigen Friedenswirtschaft machte. Die Übernahme der Patenschaft bei Peugeot zielte offenbar nicht darauf, die Stellung auf dem europäischen Automobilmarkt zu erweitern, wenngleich Piech vorübergehend erwog, ein Automobilwerk von Renault in Paris zu erwerben. Wie weit es Überlegungen gab, die Produktion einer künftigen Kontinentalherrschaft des Reiches anzupassen, muß offen bleiben. Überlegungen des vorübergehenden Technischen Direktors Otto Dyckhoff und die Durchführung der Bauten auf dem Laagberg als stationäre Anlagen sprechen dafür. Offen bleibt die Frage, inwieweit es Bestrebungen auf seiten der Porsche-Familie gab, das Werk aus der Zwangsehe mit der DAF zu lösen und zu einem normalen Unternehmen zu machen, in dem Porsche eine maßgebende Rolle ausfüllte. Das scheint der Hintergrund der späten Verhandlungen zur materiellen Absicherung Porsches gewesen zu sein, die infolge des Kriegsendes erst 1948 mit dem Reichenhaller Abkommen einen Abschluß fanden. Auch in dem Versuch Anton Piechs, im April 1945 die Werksleitung von Zell am See aus fortzuführen, könnte die Absicht gelegen haben, die Verbindung des Unternehmens mit dem in Auflösung befindlichen Regime zu lösen. Inwieweit der Entschluß Louise Piechs, das österreichische Vermögen aus der Porsche K.G. und damit aus dem Unternehmen herauszunehmen, den Kriegsausgang antizipierte, ist bislang nicht geklärt. Indessen ist es nicht angebracht, die in vieler Hinsicht schuldhafte Verstrickung des Volkswagenwerks in die verbrecherischen Züge der NS-Rüstungspolitik nur unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung einzelner zu betrachten, so wenig bestritten werden kann, daß hier wie anderswo, die Unternehmer ebenso zu Komplizen des Regimes geworden sind, wie dies im Hinblick auf die Reichswehr oder den Auswärtigen Dienst der Fall ist. Die Vorstellung jedenfalls, daß es so etwas wie eine bloß unternehmerischen Gesetzen folgende autonome Wirtschaftsführung geben könne, die von den politischen Rahmenbedingungen abstrahiert, erweist sich am Beispiel gerade des Volkswagenwerkes als falsch. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie die Wiederkehr einer solchen Fehlentwicklung in den Anfangen unterbunden werden kann.

3. Soziale Formationen und politische Repräsentation

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Imperialismus im unfertigen Nationalstaat Einige vergleichende Überlegungen zu Deutschland und Italien

Wolfgang Schieder

Wer sich mit dem modemen Imperialismus beschäftigt, stößt immer noch auf eine "verwirrende Fülle der Positionen und Meinungen"l. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems und dem Verschwinden des dieses ideologisch legitimierenden Marxismus-Leninismus scheinen freilich solche Forschungsansätze das Feld zu beherrschen, die das ,,zeitalter des Imperialismus" (Heinrich Friedjung) ausschließlich politikgeschichtlich interpretieren 2 . Der globale Wettlauf der europäischen und (mit den USA und Japan) außereuropäischen Mächte um die Herrschaft über die übrige Welt wird danach als eine unmittelbare Folge einer ausschließlich außenpolitischen Dynamik interpretiert. Ursache für den imperialen Herrschaftsantagonismus sei danach die Auflösung des Systems der ,Großen Mächte' gewesen, das den außenpolitischen Antagonismus des europäischen Staatensystems seit Beginn des 19. Jahrhunderts gebändigt habe. An die Stelle des sogenannten ,Konzerts' der Mächte sei ein außenpolitisches Konkurrenzsystem getreten, in dem es nur noch wenige Möglichkeiten zu einem konsensualen Interessenausgleich gegeben habe. Diese, hier nur angedeutete Interpretation des 1914 manifest werdenden imperialistischen Debakels in Europa hat sicherlich einiges für sich. Sie sieht zum ersten historische Kontinuitäten, wo andere Imperialismustheorien nur Krisen und Brüche konstatieren. Zweitens hebt sie auf reale außenpolitische Entscheidungsprozesse der Regierungen im imperialistischen Zeitalter ab, anstatt strukturelle - vor allem ökonomische oder gesellschaftspolitische - Gegebenheiten als hinreichende Erklärungsmuster für die Entstehung des Imperialismus anzusehen. Und drittens schließlich macht sie deutlich, daß es auch im Zeitalter des Imperialismus nicht anonyme Prozesse oder gesellschaftlich bedingte Klassenkonflikte waren, die zum außenpolitischen Handeln führten, sondern daß zunächst einzelne Regierungen und deren angegliedertes Personal dafür verantwortlich waren. Mommsen, Wolfgang J., Imperialismustheorien, Göttingen 1977, S. 5. Vgl. z. B. Schrnidt, Gustav, Der europäische Imperialismus, München 1985 und sehr viel einseitiger noch Baumgart, Winfried, Der Imperialismus. Idee und Wirklichkeit der englischen und französischen Kolonialexpansion 1880-1940, Wiesbaden 1975 und vor allem Schöllgen, Gregor, Das Zeitalter des Imperialismus, 3. Aufl., München 1994. 1

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Wolfgang Schieder

Gleichwohl erscheint es mir unbefriedigend zu sein, sich mit einer rein außenpolitisch argumentierenden Interpretation des imperialistischen Zeitalters zufrieden zu geben. Zum einen ist evident, daß Außenpolitik seit dem Beginn der hochimperialistischen Ära zu Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts kein bloßes Arcanum von Staatsmännern und Diplomaten mehr war. Außenpolitische Entscheidungsprozesse fanden gerade in den am meisten imperialistisch aktiven Staaten ein zunehmend breiteres öffentliches Interesse. Die expansionistische Politik der in den Nationalstaaten verantwortlichen Politiker wurde mehr und mehr in einen öffentlichen Diskurs, ja schließlich in eine organisierte politische Bewegung zurückgebunden, bis schließlich beides einander bedingte. Imperialistische Außenpolitik war deshalb zweifelsohne ein Teil der Innenpolitik. Das hatte es im Zeitalter der klassischen Kabinettsdiplomatie nicht gegeben. Was in der internationalen Politik geschah, bewegte die Völker zuvor so wenig, daß die Regierung auf diesem Feld kaum Rücksicht auf innenpolitische Bedürfnisse und Stimmungen zu nehmen brauchte. Selbst wenn es um die Entscheidung von Krieg und Frieden ging, ließ sich das relativ leicht handhaben, wie der klassische Fall von Bismarcks Manipulation der sogenannten Emser Depesche zeigte. Außenpolitik war bis zum Beginn des imperialistischen Zeitalters im wesentlichen tatsächlich nur Außenpolitik. Zum zweiten ist festzustellen, daß es eine künstliche Verengung des Politikbegriffs darstellt, wenn man diesen für den Imperialismus auf die professionellen Amtsträger in Regierung, Diplomatie und Bürokratie reduziert. Neben den offiziellen zwischenstaatlichen Beziehungen bildete sich in dieser Zeit bekanntlich das vielfältige Geflecht transnationaler Kontakte heraus. Angefangen bei der hochindustrialisierten Wirtschaft und den großen Banken über Kultur und Wissenschaft bis hin zur bürgerlichen Friedensbewegung und der sozialistischen Internationale entstanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts - wenn auch häufig nur vorübergehend - transnationale Institutionen, die jeweils von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen getragen wurden. Diese agierten nicht in politikfreiem Raum, sondern waren selbstverständlich Teil der Politik. Je mehr solche transnationalen Beziehungen in die internationale Politik hineinwirkten, desto mehr veränderte diese ihre Fonn. An die Stelle eines geschlossenen Systems staatlicher Politik bildete sich ein differenziertes System mit verschiedenen außenpolitischen Handlungsebenen heraus, die miteinander zusammenhingen, aber sich nicht unbedingt gegenseitig bedingten. Drittens schließlich war es eine der Ursachen imperialistischer Politik, daß diese häufig von einem bestimmten Typus von Politikern initiiert wurde, der gerade nicht den traditionellen Habitus des Diplomaten, Bürokraten oder Militärs hatte. Ein CecilRhodes, ein Pierre Brazza oder ein Carl Peters hatte jeweils den Charakter eines politischen Desperados. Daß sie von der überseeischen Peripherie her auf die Außenpolitik der europäischen Metropolen einwirkten, ja diese zeitweise mitbestimmen konnten, zeigt ebenfalls die historische Fonnveränderung des außenpolitischen Entscheidungshandelns im Zeitalter des Imperialismus an.

Imperialismus im unfertigen Nationalstaat

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Wenn die innenpolitisch bedingte Entstehung der imperialistischen Politik somit plausibel zu sein scheint, bleibt freilich erklärungsbedürftig, um welche inneren Faktoren und Prozesse es sich dabei handelte. Die Forschung ist sich in diesem Punkt bisher durchaus nicht einig. Es sei nur an die Differenz zwischen marxistisch und von Schumpeter inspirierten Forschern erinnert, wonach der Imperialismus seine Entstehung entweder der immanenten Dynamik des kapitalistischen Industriesystems oder gerade umgekehrt dem Beharrungsvermögen traditionaler, d. h. vormoderner Strukturen verdankte, die gewissermaßen dysfunktional zum vorherrschenden Modernisierungsprozeß standen. Diesen systemtheoretischen Kontroversen entsprechen ebenso kontroverse sozialgeschichtliche Forschungsansätze. Wenn im ersten Fall die neue industrielle Klasse des Großbürgertums historisch für die in den Ersten Weltkrieg führende imperialistische Rivalität verantwortlich gemacht wird, sind es im zweiten Fall die traditionalen Eliten der Aristokratie, der Bürokratie und des Militärs. Es liegt auf der Hand, daß sich daraus zwei ganz unterschiedliche historische Interpretationen ergeben. Im ersten Fall wäre davon auszugehen, daß der Drang zu imperialer Expansion seine Ursache im bürgerlichen Willen zur politischen Herrschaft hatte. Im anderen Fall wäre der Imperialismus eher als eine konservative Abwehrreaktion gegen die bürgerliche Machtentfaltung zu interpretieren. Wenn sich die Forschung bisher nicht darüber einigen konnte, welche dieser beiden Interpretationen der historischen Realität eher angemessen ist, so hängt das sicherlich damit zusammen, daß die theoretische Diskussion über das Problem des Imperialismus in letzter Zeit stark abgeebbt ist. Mir scheint jedoch, daß die im Hinblick auf die innenpolitischen Ursachen des Imperialismus so kontrovers geführte wissenschaftliche Debatte in einem zentralen Punkt von falschen Voraussetzungen ausgeht. Man sucht generell nach den inneren Antriebskräften für die Expansionspolitik aller am Imperialismus beteiligten Staaten. Ist es aber angemessen, die imperialistische Politik Großbritanniens und Frankreich mit der Deutschlands und Italiens oder mit der der überseeischen Staaten Japan und USA einfach gleichzusetzen? Und wie kann man die Politik der alten, in ihrer gesellschaftlichen und politischen Verfassung rückständigen Kolonialmächte Spanien und Portugal in diesem Zusammenhang gewichten? Damit will ich nicht einer historischen Interpretation das Wort reden, wonach jeder Imperialismus sich von dem anderen grundsätzlich unterschieden habe und folglich jeder historische Vergleich problematisch sei. Vielmehr schlage ich vor, idealtypisch zumindest vier verschiedene historische Erscheinungsformen von Imperialismus zu unterscheiden: Erstens die der altkolonialen Staaten Spanien und Portugal, die in der Zeit des Hochimperialismus noch kolonialpolitisch präsent sind, ohne indessen auch schon von innen her expansionistisch gesteuert zu werden; zweitens die der alten Nationalstaaten Großbritannien und Frankreich mit einer weit zurückreichenden kolonialen Tradition, zu deren Erhaltung und Ausbau eine starke imperialistische Bewegung drängte; drittens die der neuen Nationalstaaten Deutschland und Italien

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ohne jede koloniale Tradition, deren späte äußere Staatsgründung zu einer Verrnengung von innerer Nationalstaatsbildung und imperialer Politik führte; viertens schließlich die der überseeischen Staaten Japan und USA, zu deren historischer Legimitation - besonders im Falle der USA - eigentlich ein antikolonialistischer Affekt gehörte, die aber gleichwohl imperialistische Antriebskräfte entwickelten. An dieser Stelle kann kein umfassender Vergleich der Politik dieser vier imperialistischen Typen durchgeführt werden. Ich beschränke mich darauf, die besondere historische Qualität des Imperialismus in den beiden unfertigen Nationalstaaten Deutschland und Italien zu beschreiben. Dabei soll 1914 als Schlußpunkt gesetzt werden, obwohl für Italien eigentlich auch noch das faschistische Kolonialabenteuer Mussolinis einbezogen werden könnte, das 1935/36 zur militärischen Eroberung Äthiopiens führte. Anders als Italien hatte Deutschland zu diesem Zeitpunkt aber seine kolonialen Besitzungen längst verloren. Der faschistische Spätimperialismus entsprang im übrigen einem historischen Kontext, der sich von dem vor 1914 deutlich unterscheidet. Es empfiehlt sich deshalb den Vergleich auf die imperialistische Vorkriegszeit zu beschränken. Bei der Annahme, daß die beiden unfertigen Nationalstaaten Deutschland und Italien eine Sonderform von imperialistischer Politik entwickelt haben, ist von dem historischen Tatbestand auszugehen, daß die meisten europäischen Staaten im Laufe des 19. Jahrhunderts auf drei verschiedenen, freilich aufeinander eng bezogenen Ebenen gesellschaftliche Wandlungen durchgemacht haben: auf der Ebene der nationalen Identitätsfindung, auf der Ebene der politischen Verfassungsbildung und auf der Ebene des gesellschaftlichen Strukturwandels. Der Prozeß der nationalen Integration umfaßte zum einen die äußere Nationsbildung im Sinne staatlicher Souveränitätsabgrenzung und zum anderen die innere Nationsbildung im Sinne gesellschaftlich-kultureller und rechtlich-politischer Homogenisierung. Unter politischer Verfassungsbildung ist der Prozeß zu verstehen, der, schlagwortartig ausgedrückt, vom Obrigkeitsstaat zum liberal-demokratischen Verfassungsstaat führte. Der Prozeß des gesellschaftlichen Strukturwandels schließlich wurde in erster Linie durch die fortschreitende Industrialisierung herbeigeführt, durch die die nationalen Gesellschaften Europas anstelle von überwiegend agrarischen überwiegend gewerbliche Erwerbsstrukturen erhielten. Die mit diesen historischen Entwicklungsprozessen verbundenen Probleme stellten seit dem 18. Jahrhundert fast alle europäischen Staaten vor große Anforderungen. In besonderer Weise betroffen waren aber Staaten wie Deutschland und Italien, in denen sich alle drei Modernisierungsprozesse relativ gleichzeitig vollzogen. Die nationalen Eliten waren hier angesichts einer anhaltenden Konfliktkumulierung konzeptionell und in ihrem politischen Verhalten in hohem Maße überfordert. Das innenpolitische Krisenpotential war in diesen Ländern daher besonders hoch. Vor allen aber wurden innenpolitische Antagonismen in besonders hohem Maße auf die Außenpolitik übertragen. Die Krisenanfälligkeit erst spät konsolidierter Nationalstaaten verlieh der imperialistischen Politik daher eine besondere innere Dynamik.

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Sowohl Deutschland als auch Italien standen zu Beginn der hochimperialistischen Epoche, also zu Anfang der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts, ohne koloniale Besitzungen in Übersee da. In der Jahrhunderte zurückreichenden Geschichte des europäischen Kolonialismus als einer Form der imperialen Herrschaftsbildung waren beide Nationen nicht zum Zuge gekommen. Deutsche und Italiener besaßen beim Eintritt in das Zeitalter des modernen Imperialismus keine kolonialistische Tradition. Das hatte zur Folge, daß sich der Gedanke überseeischer Expansion in beiden Ländern zunächst nur langsam durchsetze, um dann aber in einer zweiten Phase um so heftiger hervorzubrechen. Die erste Phase des Imperialismus deckt sich in Deutschland mit der Regierungszeit Bismarcks, in Italien mit der Regierungszeit Crispis. Sowohl Bismarck wie Crispi orientierten ihre koloniale Politik am sogenannten Primat der Außenpolitik und den dadurch gegebenen außenpolitischen Erfordernissen. Sie betrieben sozusagen ,Imperialismus von oben', ohne breite innenpolitische Diskussion oder gar Zustimmung. Ein "ideologischer Konsensus" über den Imperialismus, den Hans-Ulrich Wehler für die Bismarekzeit glaubte feststellen zu können 3 , fehlte in dieser Zeit gerade. In einer zweiten Phase war dagegen sowohl in Deutschland wie in Italien jeweils eine bereite imperialistische Massenbewegung vorhanden, die jetzt umgekehrt Regierungen auf imperialistischen Kurs zwang, die diesen ursprünglich nicht einschlagen wollten. In Italien war dies in der Ära Giolitti (1901-1914), in Deutschland unter der Reichskanzlerschaft Caprivi (1890 -1894) und in gewissem Sinne nochmals unter der Bethmann Hollwegs (1909 - 1917) der Fall. Die imperialistische Politik war in dieser zweiten Phase in beiden Staaten jeweils das Produkt massiver gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen, deren innere Fronten jeweils nach außen verlagert wurden. Daß der Imperialismus als Mittel gesellschaftspolitischer Konfliktregulierung benutzt werden konnte, hing mit der kolonialen Traditionslosigkeit Deutschlands und Italiens zusammen. Je geringer die kolonialen Erfahrungen waren, je weniger volkswirtschaftliche Rentabilitätsrechnungen über den praktischen Nutzen von überseeischen Kolonien Auskunft gaben, desto leichter konnten kolonialistische Hoffnungen und Erwartungen in die Welt gesetzt werden. Anders ausgedrückt: weil imperialistische Utopien nicht an der eigenen historischen Wirklichkeit kontrolliert werden konnten, ließen sie sich in Deutschland und Italien besonders gut in der Innenpolitik instrumentalisieren. Deutschland und Italien hatten, anders als die westeuropäischen Nationen, erst kurz vor Eintritt in die Ära des Imperialismus ihre nationale Identität nach außen hin durch Festlegung von Staatsgrenzen bestimmen können. Der Prozeß der inneren Nationsbildung hatte noch nicht einmal richtig begonnen. Konservativer Adel und liberales Bürgertum waren die alleinigen Träger der Nation, wobei der Adel allerdings in Deutschland mehr Vorbehalte gegen die Reichsgründung hatte als der in Italien. Der katholische Bevölkerungsteil blieb in Italien seit dem ,Non expedit' des Papstes von 1874 ebenso abseits wie in Deutschland seit dem ,Kulturkampf'. 3

Wehler, Hans-Ulrich, Bismarck und der Imperialismus, Köln I Berlin 1969, S. 112 ff.

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Die Arbeiterschaft stand in beiden Ländern erst recht noch vor der Tür. Das nationale Selbstbewußtsein der politisch verantwortlichen Eliten des Bürgertums und des Adels war sowohl in Deutschland wie in Italien schwach entwickelt. Es konnte unvermittelt in einem nach innen wie nach außen aggressiven Nationalismus umschlagen, der die Vollendung des Nationalstaats bewußt zu verhindern suchte. Ein Nationalismus dieser Art liegt sowohl dem deutschen wie dem italienischen Imperialismus zugrunde. Als im europäischen Vergleich relativ spät entstandene Nationen kamen sowohl Deutschland wie Italien zu einer widersprüchlichen Verfassungsgebung. Der ,Statuto Albertino' und die Deutsche Reichsverfassung von 1871 sind zwar inhaltlich kaum vergleichbar. Beide Verfassungen ließen sich jedoch mit dem gesellschaftlichen Fortschritt in Deutschland bzw. Italien nur schwer vereinen. Fehlte es in Italien an einer demokratischen Perspektive des konstitutionellen Parlamentarismus, so behielt in Deutschland umgekehrt das in der Verfassung verankerte allgemeine Wahlrecht einen eher plebiszitären Zug, solange die Parlamentarisierung der Regierung fehlte. In beiden Fällen bestand ein latenter Verfassungskonflikt zwischen den den Staat tragenden und den diesen ablehnenden Kräften der Gesellschaft. Der fehlende Fundamentalkonsens in der Verfassungsfrage war eine der Ursachen für die verschärfte Konfrontation in außenpolitischen Grundsatzfragen. Nationsbildung und modeme Verfassungsschöpfung waren - wiederum anders als in Westeuropa - in Deutschland und in Italien engstens mit dem Übergang zum Industriestaat verbunden. Wirtschaftliche Wachstumskrisen wie die von 1879 in Deutschland und die von 1907 in Italien wirkten sich deshalb schwerer aus als in anderen Ländern. Vor allem hatten sie politische Folgen, die an die Grundlagen des politischen Systems beider Länder rührten. Diese ergaben sich aus der Reaktion der Wirtschaftsgruppen auf die Krise. Sowohl in Italien wie in Deutschland fanden sich Großagrarier und Unternehmer der Schwerindustrie, die bis dahin durchaus gegensätzliche Interessen hatten, zu einer protektionistischen Koalition zusammen. Diese drängte den Staat auf den Weg zum Interventionismus. Aus der Gleichzeitigkeit von innerer Nationsbildung, latentem Verfassungskonflikt und ökonomischer Wachstumskrise ergab sich für die jungen Nationalstaaten Deutschlands und Italiens eine Strukturkrise, die sich mit dem Begriff der Partizipation beschreiben läßt. ,Partizipation' heißt in diesem Zusammenhang Teilhabe am politischen Entscheidungsprozeß. Diese Teilhabe wurde in Deutschland und Italien auf unterschiedliche Weise eingeschränkt. Die politische Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten war jedoch eingeleitet. Kleinbürgerliche Schichten, Arbeiter und politische Katholiken erhoben Anspruch auf politische Mitbestimmung. Die traditionellen Herrschaftsschichten vertraten gegenüber dieser Herausforderung zwei alternative Strategien: die der Integration und die der Verhinderung von Integration. ,Integration' bedeutete in diesem Zusammenhang politische und gesellschaftliche Reform, ihre Verhinderung lief auf imperialistische Politik hinaus.

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Der Imperialismus des deutschen und italienischen Typs läßt sich jeweils auf eine ganz bestimmte historische Konstellation zurückführen, nämlich auf das Ende einer autoritären Repressionspolitik in beiden Staaten. Diese Unterdrückungspolitik war in Deutschland durch den Kulturkampf und durch das Sozialistengesetz gekennzeichnet. In Italien reichte diese Politik von Crispis "Ausrottungskampf gegen den Sozialismus" (Benedetto Croce) Anfang der 90er Jahre bis zu den Militärregierungen um 1900. Die Repression konnte den Aufstieg der auf Partizipation drängenden Emanzipationsbewegungen jedoch nicht aufhalten. Es lag daher nahe, den Versuch zu machen, mit Hilfe einer begrenzten sozialen und politischen Reform den status quo des konstitutionellen Systems zu erhalten. Diesen Weg ist in Deutschland die Regierung Capri vi. in Italien die Regierung Giolitti gegangen. Hatte Bismarck die agrarisch orientierten Führungsschichten noch für die "zuverlässigsten Stützen" der Monarchie gehalten. so fragte sich Capri vi. ob es für den Staat noch lohne. für diese einseitige Opfer zu bringen. Es ist bekannt. daß er das preußische Dreiklassenwahlrecht zu reformieren suchte. Die katholische Partei des Zentrums machte er praktisch zur Regierungspartei. Den Arbeitern kam er durch die Aufhebung des Sozialistengesetzes und durch Arbeiterschutzgesetze entgegen. Giolitti bezeichnete 1899 radikale Reformen als eine "eminent konservative Aufgabe" und er fügte hinzu. daß die italienische Monarchie eine Basis haben müsse. die nicht nur auf dem "Interesse kleiner privilegierter Klassen". sondern der •.zuneigung der ungeheuren Mehrheit des Landes" beruhe. 4 Auch er erkannte die Notwendigkeit einer Einbeziehung von Katholiken und Sozialisten in den bürgerlichen Staat. Er ließ der Gewerkschaftstätigkeit der Industriearbeiter freien Lauf. wehrte sich allerdings gegen die gewerkschaftliche Organisierung der in Italien so wichtigen Landarbeiter des Mezzogiorno. Schließlich bejahte er die Entwicklung des industriellen Systems zum Interventionsstaat. hielt es aber bezeichnenderweise nicht für die Aufgabe des Staates. den "Interessen weniger Kapitalisten" zu dienen. 5 Sowohl Caprivis wie Giolittis politisches Programm enthielten zahlreiche Gegensätze und Unvereinbarkeiten. wie es überhaupt schon ein Widerspruch war. eine nationale Integrationspolitik zu betreiben. um die politische Hegemonie des Adels bzw. des Bürgertums zu erhalten. Jedoch enthielt diese Politik soviel Elemente für eine durchgreifende Modernisierung von Staat und Gesellschaft. daß sie auf lange Sicht den Ansatz zu einer Vollendung des Nationalstaats auf demokratischer Basis bot. Sowohl Caprivi als auch Giolitti sind jedoch gescheitert. Gegen sie formierte sich jeweils ein heterogener Oppositions block. der vor allem über die Außenpolitik zu innenpolitischer Gemeinsamkeit fand. In Deutschland stand diese Politik unter 4

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Giolitti, Giovanni, Discorsi Extraparlamentari, Torino 1952, S. 220. Ders., Discorsi Parlamentari, t.3, Roma 1954, S. 1431.

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dem Schlagwort der ,Sammlung'. Sie wurde von dem preußischen Finanzminister Johannes von Miquel initiiert und bedeutete zunächst Sammlung aller bürgerlichen Kräfte zur politischen Bekämpfung der Sozialdemokratie. In der Praxis hieß das zunächst Aufhebung der politischen Gegensätze von Industriellen und Agrariern. Man sprach in diesem Zusammenhang von einem "Kartell der gesamten bürgerlichen Gesellschaft". 6 Das war die Maxime für eine Politik, die im Kaiserreich zeitweise zur Errichtung eines agrarisch-industriellen "Kondominiums" (Eckart Kehr) führen sollte. Miquel reflektierte auch die außenpolitischen Implikationen dieser Politik. Der Imperialismus sollte dazu dienen, die Ablenkung des ,,revolutionären Elements" zu fördern sowie "die Gefühle der Nation durch die Beschäftigung mit auswärtigen Fragen zu begeistern und auf einen gemeinsamen Boden zu bringen".7 Die liberalkonservative Sammlungspolitik sollte also im Zeichen der imperialistischen "Weltpolitik" stehen. Sie hatte damit im Sinne Schumpeters eindeutig eine sozialimperialistische Funktion. Auch in Italien formierte sich ein bürgerlicher Oppositionsblock gegen das "System Giolitti", wie Luigi Albertini abschätzig zu sagen pflegte. Doch hier fanden Altkonservative wie Sidney Sonnino mit den industriellen Eliten zusammen, die 1906 die Lega industriale und 1909 die Confederazione italiana dell'industria bildeten. Seit 1910 lag das gemeinsame Ziel dieser vereinigten Opposition in Tripolis. Indem sie Giolitti zu einem imperialistischen Eroberungskrieg in Libyen drängte, trennte die Opposition diesen sowohl von den Sozialisten wie von den Katholiken und zerstörte damit sein Werk der sozialen Integration. In einer Rede warnte Giolitti am 7. Oktober 1911 noch wenige Tage vor Beginn des Libyenkrieges davor, durch außenpolitische Probleme von der Aufgabe des inneren Fortschrittes abzulenken. Und noch in seinen Memoiren versicherte er, immer eine Aversion dagegen gehabt zu haben, "auswärts Ablenkungen für die Konflikte der Innenpolitik zu suchten". 8 Genau auf diesen Weg wurde Giolitti jedoch von der integrationsfeindlichen Mehrheit der politischen Eliten Italiens gedrängt. In Deutschland war der Helgoland-Sansibar-Vertrag vom 1. August 1890 das Startzeichen für den neuen Imperialismus. In diesem, im Vergleich zum LibyenKrieg zwar weniger spektakulären, aber gleichermaßen folgenreichen Unternehmen hatte der Reichskanzler Caprivi die koloniale Rivalität mit England durch Grenzbegradigungen in Afrika und den Rücktausch der Nordsee-Insel Helgoland zu beendigen versucht. Der begrenzte koloniale Verzicht war der Anlaß, Caprivi den Verrat an Deutschlands weltpolitischem Interesse vorzuwerfen und ihn mit Hilfe des Kaisers zur neuer imperialistischer Politik zu zwingen. Die auf Imperialismus drängende Sammlungspolitik hatte somit in Deutschland ebenso Erfolg wie Strecker, Arthur, Kartell?, In: Deutsche Volkswirtschaftliche Correspondenz, 14. 02. 1896. Rede Johannes von Miquels im Preußischen Abgeordnetenhaus vorn 15.02. 1897, zit. in Johannes Miquels Reden, 4. Band: 1892 - 1901, Halle 1914, S. 282. 8 Giolitti, Giovanni, Memorie della rnia vita, t.2, Milano 1922, S. 328. 6

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in Italien. Nicht ein kolonialer Ausgleich mit anderen imperialistischen Ländern war gefragt, sondern die außenpolitische Konfrontation zum Zwecke der interessenpolitischen Frontbildung im Innern. Die Gegner der innenpolitischen Versöhnung verdankten ihren Erfolg dem in beiden Ländern neu formierten Nationalismus. Dieser neue Nationalismus war extrem außenorientiert. Er erhob die unbegrenzte territoriale, vor allem überseeische Expansion zum Kriterium erfolgreicher Politik und er machte die Zustimmung zu diesem bedingungslosen Imperialismus zum Kriterium politischer Loyalität im Staate. Weder in Italien noch in Deutschland war dieser Nationalismus in organisatorischer Hinsicht sehr erfolgreich. Die Associazione Nazionalista Italiana von 1910 kam vor dem Ersten Weltkrieg nie über den Stand einer Vereinigung locker verbündeter Intellektuellenzirkel hinaus. Auch der Alldeutsche Verband von 1891 hatte in Deutschland nie mehr als 40 000 Mitglieder. Entscheidend war jedoch, daB der neue Nationalismus in beiden Ländern eine imperialistische Massenpropaganda betrieb, die als eine Art von Ersatzideologie große Teile des mittleren und gebildeten Bürgertums erfaBte und sogar in Teile der Arbeiterschaft hineinreichte. Quer durch die traditionellen bürgerlichen Richtungen und Parteien hindurch entstand auf diese Weise eine chauvinistische Ideologie, die im Innern wie im Äußeren des Landes politische Kompromisse ausschloß und den von der Arbeiterschaft geforderten Klassenkampf annahm. Dieser Nationalismus war das Ferment, das die heterogene imperialistische Fronde sowohl gegen die innenpolitische Versöhnungspolitik Caprivis als auch Giolittis miteinander verband. Ohne diesen Nationalismus wäre der Imperialismus in Deutschland und in Italien nicht denkbar gewesen. Er verschuf diesem die Massenbasis, die den Imperialismus vor 1914 zu einem beherrschenden Prinzip sowohl der deutschen wie der italienischen Politik machte. Die Verbindung von nationalistischer Mobilisierung und außenpolitischer Aggressivität unterschied den Imperialismus Deutschlands und Italiens deutlich von dem der saturierten Nationalstaaten des Westens mit ihrem altkolonialen Erbe. Auch in diesen Ländern, in besonderem Maße in Frankreich, entstand um 1900 ein militanter, deutlich reaktionär orientierter Nationalismus, man denke nur an Charles Maurras und Maurice Barres. Weder war dieser in Frankreich jedoch politisch dominant noch konnte er die außenpolitischen Entscheidungsprozesse wesentlich beeinflussen. Und sozialimperialistische Strategien haben sich, wenn überhaupt irgendwo, nur in Deutschland und Italien durchsetzen können. Ihrem historischen Gewicht nach hatte der deutsche und der italienische Imperialismus rein quantitativ bemessen selbstverständlich nicht den gleichen Rang. Es mußte Europa weit mehr beunruhigen, wenn man in Deutschland einen ,Platz an der Sonne' forderte, als wenn in Italien von D' Annunzio der "Klassenkampf der Völker" ausgerufen wurde. Aber ihrer besonderen historischen Qualität nach waren die beiden Imperialismen durchaus ähnlich. Beide hatten auch am Ende ein ähnliches Ergebnis. Der Erste Weltkrieg rief, anders wiederum als in Frankreich oder

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in Großbritannien, nur in Deutschland und Italien - wenn man von dem ganz anders gelegenen Fall Rußlands einmal absieht - eine fundamentale Gesellschaftskrise hervor, die bei Kriegsende in Italien nach nur drei und in Deutschland nach vierzehn Jahren - ohne daß das selbstverständlich zwangsläufig war - zur Etablierung eines faschistischen Systems führte. Der Imperialismus im unfertigen Nationalstaat war insofern eine historische Ursache für das Aufkommen des Faschismus.

Bedingungsfaktoren des Kleinbürgertums in Deutschland und in Frankreich im 20. Jahrhundert Heinz-Gerhard Haupt

"Die Dilettanten der Soziologie fanden meistens, daß die Kleinbürger jene geheimnisvolle Klasse wären, mit deren Hilfe Hitler und Mussolini ihre Siege erfochten haben. Der Gemüsehändler Fritz Schulze wuchs empor zu dämonischer Größe. Mit der einen Hand hält er das Proletariat nieder und mit der anderen den Kapitalismus." 1 Mit dieser bissigen Formulierung karikierte Arthur Rosenberg zeitgenössische Analysen zur Sozialstruktur der faschistischen Bewegung und, so könnte man hinzufügen, auch manche spätere historische Deutungsversuche, die über der Betonung der kleinbürgerlichen Mitglied- und Wahlerschaft von NSDAP und Movimento Fascisto die Bedeutung traditioneller Eliten für die faschistische Machtergreifung unterschätzen. Über diese Kritik an gängigen Interpretationen hinaus machte Rosenberg aber auch auf konzeptionelle Schwierigkeiten aufmerksam, vor denen eine sozialgeschichtliche Analyse des Kleinbürgertums im 20. Jahrhundert steht. Denn diese hat sich nicht nur mit Selbstinszenierungen von Kleinbürgern, sondern auch mit die Klasse betreffenden Deutungsmustern und Fremdzuschreibungen der jeweiligen politischen Öffentlichkeit auseinanderzusetzen und deren Inhalte nicht als adäquate Beschreibung sozialer Realität, sondern als interessengeleitete Konstruktionen zu werten. Dies gilt vor allem für jene in der zeitgenössischen Publizistik zahlreich auftretenden Wesenbestimmungen des Kleinbürgertums. Am Beispiel der Angestellten sprach Ernst Bloch bekanntlich von den "Aufständen älterer Schichten gegen die Zivilisation" und siedelte den Mittelstand im Bereich jener ,,zwischentätigkeiten" an, mithin fern "von der gesellschaftlichen Kausalität, so daß sich immer ungestörter ein alogischer Raum bilden kann, worin Wünsche, und Romantizismen, Urtriebe und Mystizismen rezent werden. ,,2 Auch Fritz Marbach sah in seiner 1942 erschienen Theorie des Mittelstandes diesen wenn auch in einer weniger emphatischen Formulierung - als Hort des Konservativismus: "Er hält darauf, die Tradition zu wahren und Bestehendes, das irgendwie Die Anmerkungen wurden bewußt kurz gehalten. I Zit. in: F. Lenger, Mittelstand und Nationalsozialismus? Zur politischen Orientierung von Handwerkern und Angestellten in der Endphase der Weimarer Republik, in: Archiv für Sozialgeschichte 29 (1989), S. 173 - 198, hier: S. 180. 2 E. Bloch, Erbschaft dieser Zeit (1935), Frankfurt/M. 1973, S. 104.

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verteidigungswert erscheint, zu konservieren. Daher ist er eben konservativ." Ernst Niekisch schließlich, einer der Herolde der konservativen Revolution, führte die politische Haltung des Kleinbürgertums einlinig auf die proletarische Bedrohung zurück. Der Nationalismus - schrieb er - ,,ist ein Strohhalm, an den sich der Kleinbürger klammert, um nicht im antibürgerlichen Sozialismus zu ertrinken ... 3 Diese kurzen Hinweise mögen genügen, um zu illustrieren, daß in den 1920er und 1930er Jahren verschiedene politische Richtungen dem Kleinbürgertum Werte und Verhaltensweisen zuschrieben, oft mit dem Ziel, dieses zu beeinflussen oder in eine bestimmte politische Richtung zu ziehen. In dem Maße, in dem etwa die Bedrohung der Kleinbürger durch das Kapital betont wurde, wie das in der Agitation der kommunistischen Partei Frankreichs der Fall war,4 wird die Allianz mit antikapitalistischen Kräften schmackhaft gemacht; in dem Maße, in dem die Distanzierung von den Arbeitenden hypostasiert wird, wird die Integration ins konservative oder reaktionäre Lager nahegelegt. Ohne hier genauer die strategische Bedeutung einzelner Interpretamente entschlüsseln zu wollen, ist doch festzuhalten, daß für die Zwischenkriegszeit sowohl in Deutschland wie in Frankreich ein Überschuß an politischen und kulturellen Definitionen gegenüber soziologischen oder wirtschaftlichen Beschreibungen des Kleinbürgertums bestand. Dies gilt selbst für Frankreich, wo die Diskursgeschichte des Kleinbürgertums deutlich kürzer als in Deutschland war. Bekanntlich geriet die Beschwörung der Mittelklassen nach 1848 zunehmend in den Geruch, ständische Strukturen neubeleben zu wollen und stieß damit auf den entschiedenen Widerstand der Republikaner. Setzte der Bezug auf die "Classes Moyennes" schon nach 1919 stärker als vor dem ersten Weltkrieg ein, so wurde, wie Klaus Peter Sick und jetzt auch Jean Ruhlmann gezeigt haben, der Begriff erst in den 1920er Jahren vom gesamten politischen Spektrum in Frankreich benutzt. 5 Nun wird die Sozialgeschichte jenen Diskurs nicht als quantite negligeable abtun können, beeinflußte er doch die Zeitgenossen, sprach Dispositionen an oder versuchte, diese zu schaffen, bot Interpretationsangebote der Realität an oder aber verarbeitete deren Veränderungen. Wie allerdings welche Teile des Kleinbürgertums die Definitionen rezipierten und dabei natürlich auch transformierten, welche ideologischen Versatzstücke zu ihrem mentalen Horizont gehörten, diese relevanten 3 Zit. in: B. Franke, Die Kleinbürger. Begriff, Ideologie, Politik, Frankfurt/New York 1988, S. 136, 184; vgl. dazu in einer internationalen Perspektive M. Salvati, Da Berlino a New York.Crisi della classe media e futuro della democrazia nelle scienze sociali degli anni Trenta, Bologna 1989. 4 S. A. Wirsching, Kleinbürger im Klassenkampf? Theorie und Praxis kommunistischer Mittelstandspolitik in Frankreich 1924-1936, in: H. Möller u. a. (Hrsg.), Gefährdete Mitte? Mittelschichten und politische Kultur zwischen den Weltkriegen. Italien, Frankreich und Deutschland, Sigmaringen 1993, S. 95 -116. 5 K. P. Siek, Von der politischen Formel zum Begriff der Repräsentation. Die Geschichte von "classes moyennes" in Frankreich vom 18. zum 20. Jahrhundert, in: Möller (wie Anm. 4), S. 57 - 82.

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Fragen könnten nur beantwortet werden, wenn wir Genaueres über kulturelle Praktiken im Kleinbürgertum vom Kirchen- bis zum Kinobesuch, von der Lektüre bis zur Geselligkeit wüßten und mehr Autobiographien besäßen, in denen sich auch die Folgen öffentlicher Diskurse - wie immer vermittelt - ablesen ließen. Wenn mithin auch das öffentliche labelling von Klassen und Schichten nicht ohne Folgen auf deren Selbstinterpretation bleibt, so wäre es verfrüht über diese Selbstdeutung oder das kulturelle Milieu gegenwärtig allgemeine Aussagen machen zu wollen. Neben dem Überangebot an kulturellen Deutungsmustern, denen in der Zwischenkriegszeit keine gleichgewichtige soziographische Analyse kleinbürgerlicher Lebenswelten entsprach, haben zudem zwei Interpretationsansätze den Zugang zur sozialgeschichtlichen Untersuchung des Kleinbürgertums erschwert. Angesprochen wird hier sowohl die These von der Faschismusanfälligkeit der Kleinbürger wie die Niedergangshypothese. Bekanntlich ist sowohl von Zeitgenossen als auch von Vertretern der Sonderwegsthese auf die Bedeutung von Handwerksmeistern und Detaillisten in der Mitgliedschaft und unter den Wählern der NSAP seit 1930 hingewiesen und in der kontinuierlichen Rechtsentwicklung kleinbürgerlicher Wähler und der teilweise schon vor 1933 erfolgten Gleichschaltung von nationalen Dachverbänden ein Beweis für die These gesehen worden, daß Kleinbürger als Teil der antimodernen, vorkapitalistischen Kräfte für den Sieg der Nazis verantwortlich seien. Die historischen Arbeiten, die sich dieser Interpretation verschrieben, vielen voran Heinrich August Winkler, privilegierten die politische und die verbands geschichtliche Sicht gegenüber der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte und konnten wenig Aufschluß über die Breite der Zustimmung zur NSDAP oder gar über Widerstand gegen diese geben. 6 Wahlsoziologische Untersuchungen haben jüngst die Prämissen der Argumentation zumindest stark in Zweifel gezogen und einen Ansatz problematisiert, der ziemlich vorschnell aufgrund einer nationalen Entwicklung ein soziologisches Gesetz, nämlich den Extremismus der Mitte, formulierte.? Die Faschismusanfälligkeit in Deutschland scheint vor 1933 indes stark differiert zu haben: Zwar fehlten die Kleinbürger unter den NS Wählern nicht, aber Detaillisten wählten offensichtlich häufiger für die Nationalsozialistische Partei als Handwerksmeister, sie taten dies öfter in Nord- als in Süddeutschland, in protestantischen als in katholischen Gegenden. Mit dem Hinweis auf die Bedeutung proletarischer Wähler unter den Stimmgewinnen der NSDAP wird die These von der kleinbürgerlichen Massenbasis des Faschismus überdies stark erschüttert. Die offenere Frage nach den politischen Optionen von Kleinbürgern und ihrer Erklärung sollte jene lineare Zuordnung zum Faschismus ersetzen. 8 6 S. H. A. Winkler, Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk und Kleinhandel in der Weimarer Republik, Köln 1972. 7 S. den revisionistischen Ansatz in R. Koshar (Hrsg.), Splintered Classes: Politics and the Lower Middle Classes in Interwar Europe, New York 1990. 8 S. R. F. Hamilton, Who Voted for Hitler?, Princeton 1982; T. Childers, The Nazi Votes. The Social Foundations of Fascism in Germany, 1919-1933, Chapel Hill N.C. 1983; J. W. Falter, Hitlers Wähler, München 1991; P. Manstein, Die Mitglieder und Wähler der NSDAP

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Schließlich hat sowohl die These vom unausweichlichen Untergang des handwerklichen und kommerziellen Kleinbetriebs, die bereits Karl Marx formuliert hatte, als auch die Argumentation gegen diese katastrophische Sicht die Forschungen eher in wirtschafts- als in sozialgeschichtliche Richtung geleitet. Von Wilhelm Stieda bis Wolfram Fischer hat sich dabei die Ansicht durchgesetzt, daß neben jenen Sektoren, die von der kapitalistischen Industrialisierung in ihrer Existenz bedroht waren, jene zu beachten seien, in denen sich Kleinbetriebe sehr wohl halten oder gar expandieren konnten. In einer genuinen Historikerargumentation ist dabei die Vielfalt kleinbetrieblicher Produktions- und Existenzweisen gegen das Konzept einer Verfallsgeschichte gesetzt worden. An diesen Ergebnissen gilt es anzuknüpfen und zu ermitteln, welche sozialstrukturellen Folgen und sozialen Formen die ökonomischen Entwicklungen im Kleingewerbe besaßen. 9 Wenn diese drei Faktoren mithin auch als Hindernisse für eine Sozialgeschichte des Handwerks und des Kleinhandels anzusehen sind, so liegen doch inzwischen - wenn auch unterschiedlich dicht für die einzelnen Forschungsgebiete - Ergebnisse vor, die zumindest die Formulierung von Forschungsperspektiven und Hypothesen für die Diskussion möglich machen. Diese soll nicht so sehr nach der Bürgerlichkeit des Kleinbürgertums fragen, - die Antwort auf diese Problem würde nämlich kultur- und mentalitätsgeschichtliche Arbeit voraussetzen, die es bisher noch nicht gibt - sondern nach der Bürgertumsähnlichkeit der Kleinbürger. Damit geht die Klassenproblematik zentral in die Fragestellung ein, comme il faut in ihrer weberschen und bourdieuschen Formulierung. 1o Im einzelnen soll es darum gehen nachzufragen, - welche Charakteristika das Kleinbürgertum als Marktklasse mit dem Bürgertum teilte? Damit stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Selbständigkeit ebenso wie nach dem Platz und der Funktion von Kleinbürgern auf unterschiedlichen Märkten? - inwiefern das Kleinbürgertum eine soziale Klasse bildete, deren Ränder vor allem gegenüber bürgerlichen Positionen scharf ausgezogen waren, oder ob es sich in eine breite Formation von Mittelklassen integrierte, die ebenso bürgerliche wie kleinbürgerliche Situationen umfassen könnte - wie dies jüngst etwa Klaus Tenfelde suggeriert hat. 11 - inwiefern politisches Engagement, Verbandstätigkeit und Staatsintervention dazu beitrugen, die Kleinbürger eher in klassenübergreifende Strukturen zu verankern als ihre Eigenständigkeit zu betonen? Hier wird die These aufzunehmen 1919-1933. Untersuchungen zu ihrer schichtenmäßigen Zusammensetzung, Frankfurt/M. u. Bern 1990, S. 46ff. 9 S. die Zusammenfassung in G. Crossick/H. G. Haupt, The Petite Bourgeoisie in Europe 1780 - 1914. Enterprise, Family and Independence, London/New York 1995, S. 38 - 63. 10 Ebd., S. 4 ff. 11 K. Tenfelde, Stadt und Bürgertum im 20. Jahrhundert, in: ders./H.U. Wehler (Hrsg.), Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994, S. 317 - 353.

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sein, daß im 20. Jahrhundert sozialökonomische Definitionen gesellschaftlicher Positionen zunehmend gegenüber diffuseren, variantenreichen Zuschreibungsmechanismen zurücktreten und daß die Bestimmung über deren Pertinenz Teil von sozialen Auseinandersetzungen ist. 12 Jene drei Problemkreise sollen im deutsch-französischen Vergleich auf gesamtgesellschaftlicher Ebene diskutiert werden. Die Vergleichseinheit des Nationalstaates ist dabei für die Analyse der Staatstätigkeit und der politischen Organisationen sicher angebracht, würde bei der Untersuchung des Kleinbürgertums als Marktoder soziale Klasse aber besser niedriger und kleinräumiger, d. h. eher auf eine Stadt oder eine Region begrenzt. 13 Dies ist beim gegenwärtigen Forschungsstand allerdings noch nicht machbar. Die Entscheidung darüber, ob der Vergleich synoder diachron angesetzt wird, hängt von der jeweiligen Fragestellung ab. Stünden etwa die Reaktionen auf die Kapitalisierung des gewerblichen und kommerziellen Sektors, auf Urbanisierungsschübe und die Etablierung von Kooperationsbeziehungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern im Mittelpunkt, dann böte sich ein Vergleich der Zwischenkriegszeit in Deutschland mit den 1950er, 1960er und 1970er Jahren in Frankreich an. Die Panik im Mittelstand könnte dann mit den Protesten des CID-UNATI, die Mittelstandspartei mit der Poujade-Bewegung sinnvoll verglichen werden, um unterschiedliche politische Dispositionen, Vorstellungen und Sichtweise in Handwerk und Kleinhandel in der Reaktion auf als bedrohlich wahrgenommene gesamtgesellschaftliche Entwicklungen herauszuarbeiten. 14 Hier wird allerdings der synchrone Vergleich gewählt, um für die Zwischenkriegszeit nach den Folgen einer Epoche für das Kleinbürgertum zu fragen, in der durch Krisen und Phasen schnellen Wachstums, die Entfaltung der Konsumgesellschaft und des Wohlfahrtsstaates die Exklusivität des Bürgertums erschüttert wurde. Ob im Zuge dieser Erschütterung auch das Kleinbürgertum einbezogen wurde und ob es zu neuen gesellschaftlichen Strukturprinzipien kam, wäre eine der Fragen, die es zu beantworten gilt. Deutschland und Frankreich stehen dabei für zwei unterschiedliche Entwicklungstypen. Wahrend hier die Entfaltung des "organisierten Kapitalismus" den alten Mittelstand politisch und ökonomisch im Vergleich zum Kaiserreich peripherer machte, spielte er im weiterhin von Klein- und Mittelbetrieben geprägten und republikanisch regierten Frankreich eine wichtige Rolle als dynamischer Wirtschaftsbereich wie auch als politischer Bündnispartner. Wahrend bereits für die Zwischenkriegszeit von Erosionserscheinungen im Bürgertum Deutschlands ge12 S. dazu U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Modeme, Frankfurt! M. 1986, S. 220ff. 13 S. H. G. Haupt! J. Kocka, Historischer Vergleich: Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt! M. u. New York 1996, S. 9 - 46, hier S. 29 ff. 14 S. dazu jetzt S. Guillaume, Les classes moyennes au coeur du politique sous la IV Republique, Talence 1997; G. Lavau u. a. (Hrsg.), L' univers politique des classes moyennes, Paris 1983.

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sprochen wird, das sich nicht nur durch ökonomische Krisen oder den Regimewechsel, sondern auch durch Demokratisierungsprozesse in seiner Exklusivität bedroht fühlte, scheinen die französischen Eliten weniger in ihrer Kohäsion und Reproduktionsbasis getroffen worden zu sein. 15 Schließlich dient die Einbeziehung eines Vergleichslandes - hier Frankreich - dazu, die empirische Basis bei der Beantwortung der systematischen Fragen zu verbreitern, ohne daß es jedoch in jedem Fall möglich wäre, gleichwertige Vergleichsaussagen zu machen. Im Mittelpunkt der folgenden skizzen- und lückenhaften Ausführungen wird das traditionelle Kleinbürgertum stehen, d. h. mit Handwerk und Kleinhandel jene Gruppe, die über Kapital verfügte, aber dennoch Handarbeit verrichtete und die traditionell als jene Klasse galt, in der sich mit den Prinzipien des selbständigen Unternehmenstums genuin bürgerliche Werte herausgebildet haben - zumindest wenn man Max Weber glaubt, der an einer abgelegenen Stelle seiner ..protestantischen Ethik" formuliert hat: ..Das zum Unternehmenstum aufsteigende Mittel- und Kleinbürgertum war ... typischer Träger kapitalistischer Ethik.,,16

I. Die kleinbürgerliche Marktklasse oder die "Selbständigkeit als Bindeglied zum Bürgertum"?

Zeitgenossen haben immer wieder auf den massiven Proletarisierungsschub und -druck abgehoben, der im Zuge großbetrieblicher Organisation und Rationalisierung in der Folge von Inflation und Weltwirtschaftskrise die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Kleinproduzenten bedroht habe. Dabei wurde von links wie von rechts die Marxsche These fortgeschrieben und der Industrie die Rolle zugeschrieben, ..die bisher hartnäckig verschanzten Schlupfwinkel der mittelalterlichen Handwerke" zu erstürmen. Denn - wieder Marx - ,je ein Kapitalist schlägt viele tOt."17 Bei genauerer Betrachtung verliert nicht nur jene allgemeine These an Relevanz, sondern verloren auch nationale Durchschnittsberechnungen über Gewinne, Umsatz oder Zahl von Handwerksbetrieben an erklärender Kraft für soziale Situationen. Denn Krisen und Boomphasen hatten überaus verschiedene Folgen im Kleinbürgertum. Es ist bekannt, daß die Inflation jene Handwerksmeister und Detaillisten, die Sachwerte wie Immobilien besaßen, entschuldete, während sie Spareinlagen und Lebensversicherungen, die oft der Altersversorgung dienten, vernichtete. 18 Auch die Weltwirtschaftskrise traf weder alle Handwerker gleichzeitig 15 Die Forschungen zum französischen Bürgertum im 20. Jahrhundert stehen allerdings noch arn Anfang; s. dazu jetzt auch L. Dupeux u. a. (Hrsg.), Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2, München 1996. 16 M. Weber, Die protestantische Ethik, I, hrsg. von J. Winkelmann, Gütersloh 1981, S. 92. 17 Zit. in Franke (wie Anm. 3), S. 97. 18 S. P. J. Lyth, Inflation and the Merchant Economy: The Harnburg Mittelstand 19141924, Oxford 1990; E. Bokelmann, Die französische Handwerkerschaft in der Zwischenkriegszeit. Zur Neuformierung eines Standes, Bonn 1993, S. 78 ff.

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oder ähnlich stark. Das 1929 besonders krisengeschüttelte Baugewerbe war keineswegs typisch, denn einzelne Handwerkergruppen wie die Schuster oder Schuhmacher erzielten im Deutschen Reich im gleichen Jahr durchaus positivere Ergebnisse. Je nach Konjunktur, Branche und Region schlug sich die Krise in einzelnen Berufen unterschiedlich nieder. So scheinen die agrarischen Gegenden Krisenfolgen stärker abgepuffert zu haben als die urbanen Zentren. Die für den festen Bedarf arbeitenden Handwerker oder verkaufenden Detaillisten zogen sich besser aus der Affäre als diejenigen, die den fluktuierenden oder Luxusbedarf versorgten.!9 Auch in Frankreich hatte die Weltwirtschaftskrise, die hier als Beispiel zitiert wird, zwar gravierende, aber ungleiche Folgen, die überdies länger spürbar waren als in Deutschland, weil die Krise in Frankreich bekanntlich später einsetzte, aber bis in die zweite Hälfte der 1930er Jahre andauerte. Textilindustrie, Handschuhherstellung und Papiergewerbe ebenso wie der Bausektor und die Luxusindustrie der Porzellanhandwerker oder Vergolder waren die wesentlichen Opfer. Aber auch in Frankreich wirkte sich die Krise überaus unterschiedlich je 'nach Sektor, Betriebsgröße und Region aus?O Die von vielen Zeitgenossen an die Wand gemalte Proletarisierung fand mithin nicht generell statt. Zu den bereits genannten Faktoren, die Krisenfolgen minderten oder filterten, gehörte schließlich auch die Betriebsgröße. Läden und Werkstätten mit Kapitalrücklagen konnten ebenso wie die Kleinstbetriebe, die lediglich ein Zubrot zum Familieneinkommen oder einen kurzfristigen Ersatz für Löhne erwirtschafteten, besser eine wirtschaftliche und finanzielle Durststrecke überstehen als jene, die ohne Rücklagen, aber mit dem Anspruch der Entlohnung für Vollerwerbstätigkeit antraten. Die Funktion, die die Betriebe für die Erwirtschaftung eines Familieneinkommens hatten, differenzierte das Kleinbürgertum ebenso wie der Umfang der Kapitalausstattung, der generell in kleinen Betrieben und Läden gering war, wenngleich mit der besseren maschinellen Ausstattung sich auch hier Ausnahmen abzeichneten. Die Marktlage der Kleinbürger im Zeichen der Weltwirtschaftskrise war mithin überaus verschieden. Damit setzte sich in der Zwischenkriegszeit eine Struktur fort, die auch in dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bereits bestanden hatte, ja teilweise schon zuvor?! Die unterschiedlichen Entwicklungsperspektiven schlugen sich in der heterogenen Sozialstruktur des Kleinbürgertums nieder. Während die generelle Tendenz hin zur Zunahme der Beschäftigten in Großbetrieben, der Abnahme der Zahl der 19 S. dazu auch H. G. Haupt, Mittelstand und Kleinbürgertum in der Weimarer Republik. Probleme und Perspektiven ihrer Erforschung, in: Archiv für Sozialgeschichte 26 (1986), S. 217 - 238; F. Lenger, Sozialgeschichte der deutschen Handwerker seit 1800, Frankfurt / M. 1988, S. 166ff. B. Zarca, L'artisanat fran~ais du metier traditionnel au groupe social, Paris 1986; S. Zdatny, The Politics of Survival.Artisans in Twentieth Century France, Oxford 1990. 20 S. u. a. Bokelmann (wie Anm. 18), S. 87 ff. 21 S. zu einer längerfristigen Perspektive: Lenger, Sozialgeschichte (wie Anm. 19), S. 88 ff., sowie Crossick/Haupt (wie Anm. 9), S. 41 ff.

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Unternehmer, die zwischen einem und fünf Angestellten beschäftigten, und der AIleinbetriebe ging, lebten zwischen 1900 und 1939 noch zahlreiche Kleinbetriebe fort. Jene Unternehmen, die Theodor Geiger als proletaroid und Werner Sombart als proletarische Eintagsfliegen bezeichnet hat, blieben vornehmlich im Handel bestehen, wo sie relativ und absolut sogar zunahmen. 22 Aber auch im handwerklichen Bereich wurden in Frankreich 1,4 Mill. Werkstätten nur von dem Meister und seiner Familie betrieben, während in Deutschland 44 % aller Läden Alleinbetriebe waren. Da zahlreiche Läden und Werkstätten von Frauen geleitet wurden - ein Drittel der Läden im Deutschland des Jahres 1925 und ein Zehntel der Werkstätten - ist anzunehmen, daß in ihnen eher eine Ergänzung zum familiären Einkommen oder eine Versorgung für alleinstehende oder verwitwete Frauen gesucht wurden?3 Für einzelne Regionen ist auch auf die unterschiedliche Altersstruktur der Betriebsinhaber verwiesen worden. Je jünger und je älter diese waren, desto kleiner war der Betrieb oder anders ausgedrückt: Kleinstläden und -werkstätten dienten Berufsanfangern, für die sie auch eine Übergangslösung sein konnten, bzw. Personen über 50 Jahren, die in ihnen ihre Altersversorgung suchten. In diesem Bereich der prekären Beschäftigungen ist anzunehmen, daß die Fluktuation besonders groß war. Lebensmittelläden und Kneipen gehörten so auch im Lyon der Zwischenkriegszeit zu jenen Bereichen, in denen der turn over massiv und die Instabilität permanent war. Auch für Deutschland und selbst für die eher begüterten Bäckermeister ist das Ausmaß der Bewegung innerhalb des Berufes nicht zu unterschätzen. In Bremen schloß etwa die Hälfte aller im Jahre 1919 aktiven Bäckermeister bis 1933 ihre Werkstatt, im Bereich der Handwerkskammer Dortmund machten im Jahr 1931/32 18,6 Prozent aller Werkstätten ihre Tore zu, während eine gleich große Anzahl neugegegründet wurde. 24 Wenn diese Veränderung auch hin zu besser bezahlten Positionen stattfinden konnte und mithin nicht notwendig sozialen Abstieg nach sich zog, so spielte doch die Fluktuation zwischen Facharbeiterpositionen und handwerklicher und kleinhändlerischer Selbständigkeit eine wichtige Rolle. Mit guten Gründen ist auf den Charakter des Kleinbürgertums als Durchgangsklasse hingewiesen worden, in die man selten hineingeboren wurde, die man aber ansteuerte, durchlief und für andere, teilweise privilegiertere Positionen verließ. 25 Wenn diese Annahme auch nicht für die Gesamtheit der Kleinbürger zutraf, so betont sie doch zurecht, wie prekär zahlreiche Positionen waren und wie weit sie von der zwar oftmals überstilisierten, gleichwohl aber auch realen bürgerlichen 22 S. W. Sombart, Die Entwicklungstendenzen im modernen Kleinhandel, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik 88, Berlin 1899, S. 153; T. Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Darmstadt 1967, S. 31. 23 S. H. G. Haupt, La petite bourgeoisie en France et en Allemagne dans l'entre-deuxguerres, in: Möller (wie Anm. 4), S. 35 - 55, hier S. 41 ff. 24 S. Haupt, Mittelstand (wie Anm. 19). 25 Resümee der Forschung in Crossick/Haupt (wie Anm. 9), S. 64ff., zu Frankreich s. F. Gresle, L'univers de la boutique. Famille et metier chez les petits patrons du Nord (19201975), Lille 1981.

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Selbständigkeit entfernt waren. Theodor Geiger zählte zu dieser Gruppe etwa ein Drittel aller Handwerker im Deutschland der 1920er Jahre, in mancher Gegend mögen es jedoch mehr gewesen sein. Es ist anzunehmen, daß jene mittleren Existenzen, die über eine solidere Kapitalbasis verfügten, stabiler waren, besonders dann, wenn sie sich in Marktnischen ansiedelten, zu denen in Frankreich etwa das Bauwesen und die Lebensmittelherstellung, die Reparatur und Wartung ebenso wie die persönlichen Dienstleistungen gehörten. In Deutschland wird man sie eher unter Lebensmittelhandwerkern, Automechanikern und Installateuren suchen. Aber auch in diesen Sektoren kann die Unabhängigkeit oftmals eher fiktiv sein, da handwerkliche Betriebe seit dem 19. Jahrhundert zunehmend in die Abhängigkeit von Großbetrieben des Produktionsund Konsumsektors gerieten. 26 Warenhäuser beschäftigen in Frankreich in einer Region nahezu alle Handschuhmacher, Großunternehmen lagerten - wie M. LevyLeboyer nachgewiesen hat - zunehmend Teile der Produktion in Zulieferbetriebe aus, und im Einzelhandel konnten die Grossisten durch Kredit- und Warengeschäfte Detaillisten von sich abhängig machen. 27 Nachweise für das Ausmaß jener finanziellen Abhängigkeit schlummern weitgehend noch in Firmenarchiven. Daß diese aber häufig zu einem relevanten Alltagsproblem der Kleinbürger wurden, läßt sich für beide Länder an der immer wieder aufflammenden Debatte um den Kredit ablesen, der dem Kleinbetrieb fehle und für den staatliche Organisationen sorgen sollten. 28 Wenn dieser Mittelbereich auch eher jener gewesen ist, in dem sich bürgerliche Ansprüche und Formen verwirklichen ließen, so stand auch hier in einem schwer zu bestimmenden Ausmaß die Selbständigkeit periodisch oder ständig in Gefahr und blieb eher eine Zielvorstellung als eine gesicherte Größe. Ob - wie bisweilen behauptet wird - die Kleinstädte stärker als die Großstädte günstige Entwicklungschancen für Kleinbetriebe boten, wird zu belegen sein. Bekanntlich waren Kleinstädte auch Zentren verlagsmäßig organisierter Produktion und keineswegs generell den Marktbeziehungen entzogen. Die wirtschaftliche Selbständigkeit, die das Kleinbürgertum mit dem Unternehmertum verbinden könnte, war im 20. Jahrhundert nur für Teile des Bürgertums prägend, in Frankreich offensichtlich noch stärker als in Deutschland. Sie charakterisierte aber auch nur begrenzte Segmente des Kleinbürgertums. Die Lebensführung stand oft unter dem Diktat der Knappheit, der prekären Einkommenssituation, der bedrohten Unabhängigkeit, wenngleich dies für die reichen in Innenstädten angesiedelten Manufaktur- oder Konfektionsläden oder die größeren Bäckereien und S. Crossick/Haupt (wie Anm. 9), S. 59ff. S. M. Levy-Leboyer, Le patronat francais a-t-il ete malthusien?, in: Le Mouvement social 89 (1974), S. 15. 28 S. H. G. Haupt, Zur ökonomischen Entwicklung und Struktur des Kleinhandels in Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: ders. (Hrsg.), "Bourgeois und Volk zugleich?" Zur Geschichte des Kleinbürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/New York 1978, S. 128 ff. 26

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Schlachtereien kaum zutreffen dürfte. Zudem trennte die Handarbeit, die in Läden und Werkstätten von Prinzipalen und Meistem geleistet wurde, zumindest jedoch das erhebliche Ausmaß der persönlichen Mitarbeit und die Einbeziehung der Familie in die Produktion und den Verkauf die Welt des Kleinbürgertums von der des Bürgertums. Gleichwohl nahmen vor allem die gesicherten kleinbürgerlichen Existenzen auch die bürgerliche Rekonversionsstrategie auf, im 20. Jahrhundert ihren sozialen Status durch akademische Abschlüsse und Titel zu erwerben und abzusichern, bevor die Bildungsrevolution in beiden Gesellschaften nach 1960 diese Strategien in Frage stellte. 29 Dies zeigt sich daran, daß kleine Teile der Handwerksmeister und Kleinhändler in beiden Gesellschaften ihre Söhne und Töchter auf weiterführende Schulen schickten. Bei den Angaben des sozioökonomischen Panels, das für die Weimarer Republik die Schulabschlüsse von 118 Interviewten angibt, tritt diese Tendenz zur besseren Schulausbildung deutlich hervor. Hatte die erste Generation noch zu 93,8 % nach der Volksschulzeit die Lehre begonnen, so besuchten in der zweiten in der Weimarer Republik bereits 30,4 % über das 14. Lebensjahr hinaus die Schule. Selbst in jenen Familien, in denen der Vater nur die Volksschule absolviert hatte, ging ein gutes Viertel der Söhne und ein Fünftel der Töchter auf weiterführende Schulen. Auch nach einer in Paris organisierten Untersuchung verfügten 28 % aller Handwerker und Kleinhändler in der Zwischenkriegszeit über eine über den Elementarunterricht hinausgehende Schulausbildung. Diese war offensichtlich im Handel verbreiteter als im Handwerk. Wahrend unter Schuhmachern und Möbeltischlern, Maschinenschlossern und Installateuren sowie im gesamten Bereich des Nahrungsmittelhandwerks in Deutschland der Volksschulabschluß die Regel war, konnten unter den Leitern von Handelsbetrieben mit bis zu 9 Beschäftigten acht einen Realschulabschluß, drei den Besuch einer Fachschule und vier sogar das Abiturzeugnis vorweisen. Wenn man auch nicht notwendig höheres schulisches Kapital für die Führung eines größeren Ladens benötigte, so ist doch wahrscheinlich, daß die Bildungsinvestition in jenen Läden, die in besserer Geschäftslage und über längere Zeit hinweg bestanden, größer waren als in jenen, für die die Geschäftseröffnung lediglich eine kurzfristige Erwerbstätigkeit war. Die Investition in eine bessere Schulausbildung der Kinder, die zu den sozialen Plazierungsstrategien des Kleinbürgertums zählte, war indes keineswegs generell. Denn folgt man dem sozio-ökonomischen Panel, dann brachen 9,6% der Söhne, aber 51,3% der Töchter von Selbständigen im Deutschland der Zwischenkriegszeit ihre Schulausbildung ab und mußten eine Stellung in unsicheren Erwerbszweigen, wie unter Händlern, in Wäschereien, Gastwirtschaften oder Versicherungen suchen. 3o Sucht man nach einer vorläufigen Schlußfolgerung, so könnte diese folgendermaßen lauten: Stärker in seiner Selbst- und Fremdeinschätzung als in der Realität der ökono29 S. P. Bourdieu, Classement, declassement, reclassement, in: Actes de la recherche en sciences sociales 24 (1978), S. 2 - 22. 30 Zum sozio-ökonornischen Panel s. U. Hanefeld, Das Sozioökonomische Panel. Grundlagen und Konzeption, Frankfurt I New York 1987.

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mischen Lage erschien das Kleinbürgertum als Hort der Selbständigkeit und hielt mithin einen bürgerlichen Wert hoch, der im Zuge der Akademisierung des Bürgertums nurmehr von den Unternehmern verkörpert wurde. 11. Das Kleinbürgertum als eigenständige Klasse oder als Teil breiter Mittelklassen? Zur Beantwortung dieser Frage ist der Blick auf das connubium und comercium, mithin auf strategisch wichtige Berufs- und Karriereentscheidungen notwendig. Generell gilt die Phase der Weimarer Republik als Zeit geringer sozialer Mobilität in Deutschland, die erst in der Nachkriegszeit wieder zunehme. 31 Ob sich in dieser Zeit die in mehreren deutschen Städten festgestellte Persistenz der beruflichen Situation über Generationen hinweg erhalten hat, oder ob die Berufsvererbung im Übergang zum 20. Jahrhundert zurückgegangen ist, wird im folgenden zu ermitteln sein. Fragt man das sozioökonomische Panel, so fallt im Vergleich zur Mitte des 19. Jahrhunderts das geringe Ausmaß der Berufsvererbung auf. Nur ein Viertel der Selbständigen hatten Vater, die ihrerseits am Ende des 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts selbständig waren. Liegen die Angaben bei den von R. Schüren ausgewerteten Stadtstudien auch teilweise höher, so ist das möglicherweise daraus zu erklären, daß dabei zu den Handwerkern auch Gesellen gezählt wurden. Mit der Veränderung der Produktionsstrukturen, der zunehmenden Kommerzialisierung und der Entwicklung von Dienstleistungen löste sich auch die geschlossene Welt eines selbstbewußten handwerklichen Kleinunternehmertums, in dem die berufliche Kontinuität ein Indiz für stabile Zukunftsplanung war, zumindest teilweise auf. 32 Denn gleichzeitig zeigen sich traditionelle handwerkliche Charakteristika im sozioökonomischen Panel darin, daß der Anschluß der einzelnen Status passagen der Handwerker weiterhin direkt erfolgte. Auf das Ende der Volksschulzeit setzte unmittelbar die Lehre ein, dieser folgte die Gesellentätigkeit, die schließlich durch die Meisterprüfung abgeschlossen wurde. Im Vergleich zu anderen Berufen machte diese Geschlossenheit der Karrieren eine Besonderheit des Handwerks aus, die auch durch die sozialen und ökonomischen Umwälzungen der Zwischenkriegszeit nicht fundamental in Frage gestellt wurde. Der Bruch zwischen einzelnen Phasen, das Einlegen von Status schleifen - wie Soziologen formulierten -, d. h. die durch Arbeitslosigkeit bedingten oder durch berufsfremde Beschäftigung gefüllten Lücken des Erwerbslebens, stellten bis auf wenige Ausnahmen für diese Generation der selbständigen Männer kein besonderes Problem dar. ;

Anstatt in die Fußstapfen des Vaters zu treten, suchten die Söhne von Handwerksmeistern ihre Zukunft stärker im Angestelltenbereich oder im Handel. Gehobene Angestelltenpositionen, freie Berufe oder hohe Beamtenstellen lagen indes 31 S. zu einem Überblick auf der Basis von Fallstudien R. Schüren, Soziale Mobilität: Muster, Veränderungen und Bedingungen im 19. und 20. Jahrhundert, St. Katharinen. 32 Ebd.

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meist auBerhalb ihres sozialen Horizonts. Wahrend der Abstand zu den bürgerlichen Berufen zumindest fortbestand, blieb auch in der Zwischenkriegszeit das selbständige gewerbliche und kaufmännische Kleinbürgertum für beruflich mobile Arbeiter offen. Rund ein Sechstel von ihnen stammte im Sozioökonomischen Panel, auf das sich für die Deutschland die folgenden Bemerkungen beziehen, nämlich aus Arbeiterfamilien und nahezu 20 % von ihnen versuchten nach 1920 als Arbeiter ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Nahezu ebenso groB wie der Anteil der beruflichen Kontinuität war mithin der Austausch mit Arbeiterkreisen, den R. Schüren mit 50 % sogar noch viel höher ansetzte. Dieser Befund deckt sich mit der Bedeutung, die Läden und Werkstätten für Arbeiter besaßen. Für diese waren sie nicht nur Ziele sozialer Aufstiegshoffnung, der Mythos der Selbständigkeit scheint dabei eine wichtige Rolle gespielt zu haben, sondern waren auch Teil von Strategien, die eigene Subsistenz zu sichern. Auch gegenüber der Angestelltenschaft öffnete sich das Kleinbürgertum. 13,6 % ihrer Kinder gingen einfachen, ein ebenso großer Anteil qualifizierten Angestelltentätigkeiten nach, während sich 5,4 % sogar zu den hochqualifizierten Angestellten zählten. Eine wesentliche Unsicherheit bei der Zuordnung resultiert daraus, daß sie sich auf retrospektive Interviews und mithin Selbstaussagen der Befragten stützt. Die Verteilung auf die verschiedenen Angestelltenpositionen hing danach vom Geschlecht ab. Vor allem Töchter von Selbständigen waren in den unteren Angestelltenpositionen zu finden, während die Söhne generell bessere Positionen besetzten. Wenn man nach Piere Bourdieus Fonnulierung den sozialen Raum abzustecken sucht, in dem sich das Kleinbürgertum bewegte und die Beziehungen benennen will, die in diesem Raum strukturierten,33 so lebte das Kleinbürgertum der Zwischenkriegszeit stärker in Kontakten mit Arbeitern und Angestellten und mit seinesgleichen als mit bürgerlichen Kreisen. Griff es in seiner Berufsplanung auch über die Kragenlinie hinaus, so hielt es offensichtlich in der überwiegenden Mehrheit der Fälle an der Klassengrenze zu bürgerlichen Berufen inne. Von der Ausbildung und dem ökonomischen Kapital her gelang es ihnen nicht, in signifikantem Umfang Zugang zu dem Bürgertum als soziale Klasse zu finden. Leider fehlen Angaben zu Heiratsstrategien, um diese These zu überprüfen, denn bei Heiraten waren die gesellschaftlichen Gruppen weniger hermetisch abgeschlossen, besonders wenn es sich um die Verheiratung der Frauen handelte. Gleichzeitig verlor das Kleinbürgertum in Deutschland innerhalb des Mittelstandes die dominante Rolle, die es in dem Kaiserreich noch innegehabt hatte. Wenn auch immer noch Anlaufstelle für aufstiegs- und veränderungssuchende Facharbeiter und im Handwerk auch Ort geregelter und kontinuierlicher Berufsarbeit, trat seine soziale Bedeutung relativ zurück gegenüber der Angestellten- und Beamtenschaft, die im Zuge zunehmender Akademisierung und des wachsenden Gewichts des Dienstleistungsberufes stärker als soziale Aufstiegsposition in bürgerliche Berufe wahrgenommen und angepeilt wurde. Theodor Geiger hatte 1930 diese Entwicklung hellsichtig mit folgenden Worten angesprochen: 33 P. Bourdieu, Espace sociale et genese des "classes", in: Actes de la recherche en sciences 52 -53 (1984), S. 3 - 12.

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"Vor 50, 60 Jahren noch ausschlaggebende Macht in der damaligen Gesellschaft, ist der Mittelstand der gewerblichen Selbständigen der Zahl nach und nach vielmehr in seiner gesellschaftsdynamischen Bedeutung abgefallen. Diese Geltungseinbuße scheint mir - bewußtermaßen oder im psychischen Untergrund - sehr viel mehr als die wirtschaftliche Bedrängnisse die nervöse Gereiztheit des Besitzmittelstandes zu motivieren. Der relative Schwund seines Gewichts und Prestiges drückt den gewerblichen Mittelstand gar sehr und läßt ihn seine wirtschaftlichen Schwierigkeiten noch schwärzer sehen als sie sind. ,,34 Der Platz des Kleinbürgertums in der französischen Gesellschaft ist nicht grundsätzlich anders, wenn man es ausgehend von den Forschungen von Francois Gresle zu Nordfrankreich und von Francoise Cribier zu Paris bestimmt. 35 Freilich scheint in Frankreich der Kleinhandel sozial stabiler als das Handwerk gewesen zu sein, aber dies könnten auch die Folgen terminologischer Abgrenzungen sein. Der soziale Mechanismus der Berufsvererbung funktionierte auch in Frankreich weiterhin, wenn auch wie in Deutschland nur in einem begrenzten Ausmaß. Denn in Nordfrankreich stammten 28 % aller Meister und Detaillisten der Zwischenkriegszeit aus Selbständigenfamilien. Dieser Anteil stimmt mit jenem überein, die aufgrund einer Erbschaft ihr Geschäft oder ihre Werkstatt eröffnen konnten. Wie in Deutschland übernahm mithin nur eine Minderheit der Kinder von Selbständigen den Beruf des Vaters. Aus diesen wie aus anderen Angaben zieht die französische Forschung den Schluß, daß es sich beim Kleinbürgertum um eine "c1asse de transition" handelte, in die man leicht aufsteigen, die man aber ebenso leicht verlassen könne?6 Diese Offenheit wird im Paris der Zwischenkriegszeit sehr deutlich. Dort fand sich im Zuge der intergenerationellen Mobilität das Gros der Kinder von Meistern und Kleinhändlern als Arbeiter wieder, während sich die anderen auf unterschiedliche Angestelltenberufe (Handlungsgehilfen, Büro- und technische Angestellten) verteilten. 37 Nun können diese Beschäftigungen als Handlungsgehilfen freilich auch der erste Schritt auf dem Weg zur Selbständigkeit, als Sozialisation im Handel gedeutet werden. Aber dennoch sind die Verbindungen mit Arbeiterkreisen zumindest ebenso stark wie mit Angestelltenpositionen. Die Analyse der Heiratskreise bestätigt die Offenheit des kleinbürgerlichen Milieus ebenso wie die Mannigfaltigkeit der dort gepflegten sozialen Kontakte. Wenn auch die Selbständigen ihre Frauen vorwiegend in Arbeitermilieus suchten, so stammten 16 % von ihnen vom Lande, 15 % aus Techniker- und 14 % aus Kleinbürgerfamilien. Sofern sich indes bereits installierte Kleinhändlerinnen verheirateten, so stammten die Ehegatten in der überwiegenden Mehrheit aus Arbeiterkreisen. Selbständige heiraGeiger (wie Anm. 22), S. 85. F. Gresle, L'univers (wie Anm. 25); F. Cribier, L'origine sociale des c1asses moyennes du Grand Paris: la generation nee en 1906-12 (fonctionnaires exc1us), in: Bulletin du Centre Pierre Leon 4 (1993), S. 15 - 24. 36 Gresle (wie Anm. 25), S. 24; s. auch B. Zarca, L'artisanat. La plus populaire des c1asses moyennes, in: Vingtieme Siec1e 37 (1993), S. 55 - 68 .. 37 Cribier (wie Anm. 25). 34 35

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teten mithin nicht nur stärker über die Klassengrenze hinaus als Bürger oder Bauern, sondern sie suchten sich ihre Berufe in einem Teil der lohnabhängigen Mittelklassen oder in Facharbeiterkreisen. Aus alledem folgt, daß die kleinen Selbständigen und das große und mittlere Unternehmertum zu - wie F. Gresle formuliert"sozial und ökonomisch verschiedenartigen Welten gehörten, wenn man ihre Ausbildung und Herkunft ebenso wie ihre Lebensweise betrachtet. .. 38 Im Frankreich der Zwischenkriegszeit war das Kleinbürgertum mithin ebenso wie in Deutschland weit davon entfernt, sich in einer verschiedene bürgerliche und kleinbürgerliche Berufe umspannenden neuen gesellschaftlichen Formation zu integrieren und in ihr aufzugehen. Vielmehr gehört es einem gesellschaftlichen Bereich an, dessen Eckpunkte einerseits durch Facharbeiter, andererseits durch mittlere Angestellte und Beamte gebildet werden. IH. Die politische Konstruktion des Kleinbürgertums Schließlich stellt sich die Frage, ob das Kleinbürgertum sich als politisches Milieu, als durch Verbände organisierte Strukturen und als besondere sozialökonomische Gruppe durchgehalten hat oder ob es sich unter dem Einfluß von allgemeinen Demokratisierungsprozessen, der Kommerzialisierung des Lebens und dem Vordringen des Wohlfahrtsstaates aufgelöst habe und ob mithin die einzelnen Teile eines vormals relativ geschlossenen Standes als Bruchstücke für eine neue Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit gleichsam bereitstanden? In diesem Zusammenhang ist auf den grundSätzlichen Unterschied zwischen Handwerk und Kleinhandel und innerhalb des Handwerks zwischen Deutschland und Frankreich zu verweisen. Bekanntlich war das Ausmaß der innerberuflichen und korporativen Organisation der Handwerksmeister in Deutschland höher als das der Detaillisten, die immer neidisch auf die Innungen, die Handwerkskammern und den Reichsverband des Deutschen Handwerks wie auf die einflußreichen Branchenverbände blickten. 39 Seit der Auflösung der Zünfte hatten die Handwerksmeister - in einem regional unterschiedlichen Ausmaß - Nachfolgeorganisationen geschaffen und Mechanismen durchgesetzt, die zunehmend die Berufsausbildung in den Händen der Meister monopolisierten, einen gewissen Organisationszwang einführten und die Eröffnung einer Werkstatt den Meistern vorbehalten wollten. Dagegen sahen die Organisationsbemühungen der Detaillisten bescheidener aus, von denen die überwiegende Mehrheit in den Handelskammern eine Plattform für die Verteidigung ihrer Interessen suchen mußten. 40 Im Vergleich zum Handwerk war der Kleinhandel in Deutschland weniger organisiert, genoß eine lange Zeit geringere Gresle (wie Anm. 25), S. 23. S. Winkler (wie Anm. 6); zur Fragestellung s. auch G. Crossick, Formation ou invention des classes moyennes? Une analyse comparee: Belgique-France-Grande Bretagne 18801914, in: Revue beIge d'histoire contemporaine 26 (1996),105 - 138. 40 S. Crossick / Haupt (wie Anm. 9), S. 133 ff. 38

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Sozialprotektion und war als Verband weniger mächtig. Von der organisatorischen Stärke und Kohäsion des vom Kaiserreich zum "alten Mittelstandes" zusammengefaßten Handwerks und Kleinhandels in Deutschland stach indes die Unorganisiertheit ihrer französischen Kollegen ab. Hier hatten die Zünfte kaum Nachfolger gefunden, die Handwerksmeister sich seit 1884 in den branchenmäßig organisierten "Chambres syndicales" der Unternehmer und die Kleinhändler sich in den Handelskammern durchsetzen müssen. Im Unterschied zu Deutschland schufen sich die französischen Prinzipale bereits im Zuge der Großen Depression und damit vor den Meistern erste, lokal begrenzte Verteidigungsorgane, die Handwerksmeister - in den 20er Jahren war der Begriff "artisan" immer noch ein Neologismus - hingegen versuchten erst nach 1919 und stark beeinflußt von den elsässisehen Meistern gewerbe- und verbandspolitisch aktiv zu werden. Die Definition dessen, was offiziell unter Handwerk verstanden wurde, ebenso wie die 1925 beschlossene, erst im Laufe 30er Jahre allmählich realisierte Gründung von Handwerkskammern ähnlichen, wenngleich hauptsächlich auf konsultative Funktionen begrenzten "Chambres de Metiers" und die Gründung von nationalen Dachverbänden können als Erfolge dieser von Straßburg ausgehenden Initiativen gelten. 41 Gleichwohl blieb für die bestehende handwerkliche und kleinhändlerische Interessenvertretungen Deutschland ein nicht erreichtes Modell. Wenn das deutsche Handwerk auch innerhalb der Innungen die nach außen proklamierten Regeln keineswegs gleichmäßig und allgemein durchsetzte, so konnte es doch den Bereich der handwerklichen Arbeit stärker strukturieren als das französische Handwerk. Berufspartikulare Besonderheiten standen hier einer Erosion traditioneller Rollen und Funktionen stärker entgegen als in Frankreich, wo die Fluktuation und Mobilität innerhalb des Handwerks und zwischen Handarbeitertätigkeiten und handwerklicher Selbständigkeit ungehinderter stattfinden konnten. Die Politik der staatlichen Instanzen beförderte überdies in Frankreich keineswegs Bestrebungen zur Ausbildung korporativer Besonderheiten. Die gesellschaftliche Leitvorstellung ihrer Politik war nicht die Bewahrung oder Schaffung einer handwerklichen Berufs- und Organisationsstruktur wie in Deutschland, sondern die Erhaltung einer zahlenmäßig breiten Mittelklasse, zu der auch die Kleinsthandwerker zählten42 • Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts richteten die unterschiedlichen Regierungen deshalb ihre Aufmerksamkeit immer wieder auf die Heimarbeiter, Alleinmeister oder Witwen von Selbständigen und nahmen sie mehrfach von der Gewerbesteuer aus. Während in Deutschland offensichtlich die Bewahrung der Zunftähnlichkeit der handwerklichen Produktions- und Lebensweise bei Beseitigung hoheitsrechtlicher und konkurrenzhemmender Bestandteile der Zünfte im Mittelpunkt staatlicher Gewerbepolitik stand, richtete diese sich in Frankreich auf 41 S. H. G. Haupt, Zur gesellschaftlichen Bedeutung des Kleinbürgertums in westeuropäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S.296-317. 42 Crossick/Haupt (wie Anm. 9), S. 150ff.

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die Bewahrung der Familienarbeit in Kleinbetrieben, die als "zentrales Element des sozialen Gleichgewichts" wahrgenommen wurde. In dieser französischen Schwerpunktsetzung schlug sich einmal der Einfluß der Ideen von Frederic Le Play und der von ihm inspirierten einflußreichen katholischen Sozialreformer des lahrhundertendes nieder, zum anderen aber auch die Sorge um die demographische Zukunft Frankreichs. 43 Fragt man weiterhin nach dem Platz der Kleinbürger in den Sozialmilieus und danach, ob es eine spezifische kleinbürgerliche Gruppenidentität gab, so wird man diese eher im Fortwirken bestimmter ideologischer Versatzstücke der Selbstdefinition als in der Treue zu bestimmten Parteien und sozialen Milieus sehen können. Selbst in Frankreich, wo die radikale Partei programmatisch und in der Alltagspolitik vor 1914 mit den Mittelklassen gleichgesetzt wurde und sich gleichsetzte, orientierten sich vor allem nach 1930 Teile der Kleinbürger hin zu konservativen, ständischen Positionen. Nach 1937 bedurfte es eines kräftigen Rechtsschwenks der Radikalen, um die Unmutsäußerungen der über die Volksfrontpolitik aufgebrachten Meister und Prinzipale aufzufangen. Die nach 1935 in Verordnungen und Gesetzen durchgesetzten ProtektionsrnaBnahmen unter anderem gegen ausländische Konkurrenten standen denn auch stärker in der Tradition des konservativen Sozialprotektionismus als der radikalsozialistischen Politik. In der Zwischenkriegszeit wurden die traditionellen Mittelklassen in Frankreich von allen Parteien umworben, u. a. auch von katholischen Gruppierungen, die allerdings zuvor nie die Rolle des Zentrums in Deutschland besessen hatten. Wenn sie zu einem relevanten Teil auch weiterhin der radikalen Partei treu blieben, so mußte diese Treue - wie bereits erwähnt - durch eine deutliche Rechtsentwicklung der Partei erworben, ja erkauft werden. 44 Für Deutschland ist die politische Heimatlosigkeit des alten Mittelstandes nach 1918, sein Weg durch die verschiedenen Parteien und das Parteienspektrum der Weimarer Republik vielfach beschrieben worden. Wenngleich dabei offen bleibt, welche Teile des Kleinbürgertums diese politische Standortverschiebung erfaBte, so verdeutlichen die vorliegenden Forschungsergebnisse doch, wie wenig die Meister und Prinzipale festen Sozialmilieus zuzuordnen waren, die ihrerseits ja auch im Vergleich vom Kaiserreich weniger strukturprägend waren. 45 Das Suchen nach den politischen Kräften, die die Forderungen von Meistem und Kleinbürgern aufgriffen und verteidigten, charakterisierte den "alten Mittelstand" stärker als eine feste politische Bindung. Es scheint mithin eher angebracht, in gewissen zentralen kulturellen Werten die Grundlage von Gruppenidentitäten zu suchen. Diese könnten sich, ohne daß dies hier im einzelnen ausgeführt ist, auf die S. S. Berstein, Histoire du Parti radical, 2 Bde., Paris 1980 und 1982, passim. S. Berstein,Le parti radical-socialiste de la defense du peuple a ce1le des c1asses moyennes, in: Lavau (wie Anm. 14), S. 71 - 94, hier 82 ff. 45 S. dazu jetzt K. Tenfelde, Historische Milieus - Erblichkeit und Konkurrenz, in: M. Hettling/P. Nolte (Hrsg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays, München 1996, S. 247 - 268. 43

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Verteidigung des Eigentums, der Familie und der engeren Heimat stützen. 46 Dabei würden die unterschiedlichen Werte jedoch eine je nach Interessenlage und Konjunktur unterschiedliche Ausprägung erfahren. Schließlich ist dem Wohlfahrtsstaat u. a. von Thomas H. Marshall die Funktion zugeschrieben worden, neue Sozialkategorien zu schaffen, und ältere Ordnungsschemata in Frage zu stellen. Wenn dieser Ansatz auch zu Recht auf die Herausbildung neuer sozialer Ideale im Zuge der Verallgemeinerung des Wohlfahrtsstaates verweist, so erfaßt dieser Prozeß kaum das Kleinbürgertum der Zwischenkriegszeit. Dieses litt eher unter einer wohlfahrtsstaatlichen Unterversorgung, als daß es einem massiven Definitionsdruck durch die Kategorien staatlicher Sozialpolitik ausgesetzt war. 47 Freilich hatten die Arbeitsschutzbestimmungen in beiden Ländern seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch die Kleinbetriebe einbezogen und hatten sich dort nur schwer durchsetzen lassen. Der geringe wirtschaftliche Handlungsspielraum der Betriebe einerseits, die geringe Marktmacht der Angestellten andererseits führten immer wieder dazu, daß die Bestimmungen unterlaufen wurden und die dort Arbeitenden sogar den Gesetzesverletzungen zustimmten. Von den allgemeinen staatlichen Regelungen für Altersrenten und Krankenversicherungen blieben die Meister und Prinzipale indes ausgeschlossen, die in Innungskrankenkassen oder Hilfskassen organisiert waren. Auch die 1910 in Frankreich eingeführte Rentenversicherung für Arbeiter und Bauern, die ausdrücklich Versicherungsmöglichkeiten für Handwerker und Kleinhändler vorsah, stieß dort auf relativ geringe Resonanz, so daß auf Kongressen die bessere soziale Absicherung der Kleinbürger in der Zwischenkriegszeit immer wieder lauthals gefordert wurde. Der Wohlfahrtsstaat schliff mithin nicht die Grenzen des Kleinbürgertums ab, sondern bezog vor 1945 dieses kaum ein. Wenn man als eine Tendenz der westeuropäischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert den zunehmenden Abbau harter Gruppenidentitäten und den Aufbau neuer Sozialformationen verstehen will, dann stellt sich in wichtigen Bereichen das Kleinbürgertum quer zu dieser Tendenz. Freilich wurden vor 1914 verbreitete politische Zuordnungen brüchiger und die politische Polyvalenz des Milieus größer. Aber das Handwerk ragte als interessenpolitisch hochorganisierter Beruf in Deutschland und als sich in der Zwischenkriegszeit zunehmend stärker strukturierender Bereich in Frankreich als relativ scharf umrissene Gruppe in die sich flexibilisierende Gesellschaft hinein. In ihrer Berufswahl und im Heiratsverhalten blieben Meister und Prinzipale auf einen größeren gesellschaftlichen Mittelbereich konzentriert, zu dem ebenso Facharbeiter als auch Angestellte und kleine Berufe gehörten. Wenn auch nicht alle diesen sozialen Kategorien der Selbständigkeit und Unabhängigkeit die gleiche Bedeutung zuschrieben, die Facharbeiter und Kleinbürger anvisierten oder verteidigten, so ist die Bedeutung dieser Mittelklassen als sozialer Raum für Crossick/Haupt (wie Anm. 9), S. 191 ff. S. etwa das Beispiel in H. G. Haupt, Sozialpolitik und ihre gesellschaftlichen Grenzen in Frankreich vor 1914, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1995, S. 171 -192. 46 47

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soziale Veränderungsstrategien nicht zu unterschätzen. Er grenzte sich scharf ab von den bürgerlichen wie von unterbäuerlichen Schichten oder ungelernten Arbeitern. Aufgrund dieser Ergebnisse scheint es mir weniger sinnvoll, den Begriff der Mittelklassen auf die sich verändernden bildungs- und besitzbürgerlichen Schichten auszuweiten und ihnen auch die Kleinbürger traditioneller und moderner Prägung zuzuschlagen. Zumindest für die Zwischenkriegszeit trennte weiterhin ein "cordon sanitaire" die kleinen von den größeren Bürgern.

Modernität wider Willen Bemerkungen zur Entstehung des demokratischen Wahlrechts des Kaiserreichs Andreas Biefang

1. In den vergangenen Jahren hat sich das Urteil der Historiker über das Deutsche Kaiserreich merklich gemildert. Die von der Vorstellung eines deutschen "Sonderwegs" in die industrielle Modeme geprägten Interpretationen haben an Überzeugungskraft eingebüßt. Es werden nicht mehr vorwiegend die obrigkeitsstaatlichen Elemente des politischen Systems sowie die Dominanz traditionaler Eliten in Politik, Bürokratie und Militär herausgestellt, sondern daneben auch die modemen, zukunftsweisenden Elemente beachtet und die "Verbürgerlichung" von Kultur und Gesellschaft sowie der Anteil des Liberalismus an der Ausgestaltung des Reiches schärfer herausgearbeitet. Die jetzt vorliegenden großen Synthesen betonen ebenso wie knappere Überblicksdarstellungen das eigentümliche Mischungsverhältnis von Altem und Neuern, das als eigentliches Kennzeichen einer Epoche "zwischen den Zeiten" (Ullmann) betrachtet wird. Ähnlich urteilt auch HansUlrich Wehler, der allerdings mit Blick auf "das politische Herrschaftssystem und die es tragende soziale Kräftekonstellation" an dem Begriff des Sonderweges festhalten möchte. 1 1 Vgl. z. B. Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. 2, München 1992; Mommsen, Wolfgang J., Das Ringen um den nationalen Staat 1850-1890, Berlin 1993; Loth, Winfried, Das Kaiserreich. Obrigkeitsstaat und politische Mobilisierung, München 1995; Wehler, Hans-UIrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 1995, bes. S. 459461, 1284-1295 (Zitat S. 1295); Ullmann, Hans-Peter, Das Deutsche Kaiserreich 18711918, Frankfurt a. M. 1996; UJIrich, Volker, Die nervöse Großmacht 1871 -1918. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs, Frankfurt a. M. 1997. Bei Nipperdey führt die durchgängige Betonung der Ambivalenzen zu einer gewissen UrteiJsschwäche, wobei sich seine Abneigung gegen eindeutige moralisierende Werturteile gelegentlich auch auf pointierte SachurteiJe überträgt, die sich aus begrenzten Fragestellungen und methodischem Vorgehen ergeben. Auch die fortwährende Betonung des "Normalen" als Kennzeichen des Kaiserreichs, mit der Nipperdey die Vorstellung eines deutschen "Sonderwegs" zurückweist, erweist sich als eine untaugliche Kategorie, die den größten Mangel der Sonderwegsthese nämlich das Fehlen einer verbindlichen Referenzgröße - ebenfalls in sich trägt und zugleich implizit alle bereits von den Zeitgenossen diskutierten alternativen Entwicklungsmöglichkeiten als "unnormal" abqualifiziert. V gl. auch die Kritik bei Chickering, Roger, Zu Tmomas Nipperdeys Kaiserreich, in: NPL 38 (1993), S. 81 - 85.

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Wenn von den modemen Elementen im politischen System des deutschen Kaiserreichs die Rede ist, so herrscht insofern Übereinstimmung, daß das allgemeine, gleiche, direkte und geheime (Männer-) Wahlrecht für den Reichstag unter diesen einen herausragenden Platz einnimmt. 2 Es war, wie das Handbuch der Nationalliberalen Partei 1907 nicht ohne Stolz feststellte, "das freieste Wahlrecht, das in einem großen Kulturstaate besteht. ,,3 Weniger eindrucksvoll bot sich jedoch die Machtausstattung des Reichstags dar: die Parlamentarisierung des politischen Systems hatte nicht stattgefunden, und die Zusammensetzung der Regierung, die Außenpolitik, das Militär und die Bürokratie blieben der Kontrolle des Reichstags entzogen. Bei der Gesetzgebung war die Zustimmung des Reichstags allerdings unabdingbar, hier boten sich dem Nationalparlament erhebliche Einflußmöglichkeiten. Darüber hinaus verfügte der Reichstag über das faktisch allerdings eingeschränkte Budgetrecht und konnte durch Anfragen, Interpellationen sowie die Behandlung von Petitionen zunehmend wirksamere Kontrollfunktionen wahmehmen. 4 Aus der Diskrepanz zwischen der umfassenden Legitimation des Reichstags und seinen begrenzten Rechten resultierte die "dramatische Spannung" (Nipperdey) in der politischen Verfassung des Deutschen Kaiserreichs. Diese Spannung ist ursächlich für die von der Forschung mehrheitlich vertretene Auffassung, daß es sich bei dem Verfassungskompromiß von 1867171 um ein "System umgangener Entscheidungen" (W. J. Mommsen) handelte, dessen künftige Entwicklung - sei es hin zu einem neoabsolutistischen Regime, zu einem parlamentarischen Regierungssystem oder zu einem Zustand der Agonie - von dem Verhalten der politischen Akteure abhängig blieb. Wie ist das demokratische Wahlrecht in die Verfassung des Kaiserreichs gelangt? Fest steht immerhin soviel, daß der Liberalismus weder in seiner nationalliberalen noch in seiner fortschrittlichen Variante zu den prinzipiellen Befürwortern eines egalitären Gesellschaftsmodells zählte. Auch die Linksliberalen zogen mehrheitlich ein Wahl verfahren vor, das die politische Partizipation auf die durch 2 Vgl. etwa Nipperdey (wie Anm. 1), S. 104; Mommsen (wie Anm. 1), S. 340; Loth (wie Anm. 1), S. 39 f.; Ullmann (wie Anm. 1), S. 50. 3 Politisches Handbuch der Nationalliberalen Partei, hrsg. v. Centralbüro der Nationalliberalen Partei, Berlin 1907, S. 901. 4 Die von Manfred Rauh zuerst 1973 vertretene und 1977 weiter zugespitzte These von der "stillen Parlamentarisierung" des Kaiserreichs ist von der Forschung nahezu einhellig zurückgewiesen worden. Die Debatte hat zwar zu einer Klärung der Begrifflichkeiten - namentlich zur systematischen Unterscheidung des Machtzuwachses des Reichstags von der Parlamentarisierung des politischen Systems - geführt, jedoch sind weitergehende empirische Arbeiten zur Rolle des Reichstags bislang ausgeblieben. Vgl. ders., Föderalismus und Parlamentarismus im Wilhelminischen Reich, Düsseldorf 1973; ders., Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977. Zur Kritik etwa Langewiesche, Dieter, Das deutsche Kaiserreich. Bemerkungen zur Diskussion über Parlamentarismus und Demokratie in Deutschland, in: AfS 19 (1979), S. 628 - 642; Zwehl, Konrad v., Zum Verhältnis von Regierung und Reichstag im Kaiserreich (1871 - 1918), in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Regierung, Bürokratie und Parlament in Preußen und in Deutschland von 1848 bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1983, S. 90 - 116.

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Bildung und Besitz ausgewiesenen Kreise beschränkte und die unterbürgerlichen Schichten ausschloß. Noch weniger kann man die Konservativen der unterschiedlichen Schattierungen, die sich nur zum Teil und unter großen Mühen aus ihren altständischen Traditionen lösen konnten, als Anhänger des Repräsentativprinzips - schon gar nicht in seiner demokratischen Variante - betrachten. Als gleichsam "natürliche" Anhänger des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts blieben im Grunde nur Sozialisten und bürgerliche Demokraten. Beide Richtungen konnten allerdings aufgrund ihrer politischen Schwäche kaum Einfluß auf den Verfassungs- und Gesetzgebungsprozeß erlangen: die im Entstehen begriffene organisatorisch eigenständige und sozialistisch ausgerichtete Arbeiterbewegung nicht, weil sie zahlenmäßig noch ganz unbedeutend war, die verbliebenen 1848-Demokraten nicht, weil sie in der sich ausdifferenzierenden Klassengesellschaft zwischen dem bürgerlich-liberalen und dem sozialistischen Lager dauerhaft keinen Platz mehr fanden. 5 Weil das demokratische Wahlrecht augenscheinlich "nicht aufgrund von Massenbewegungen, als eine Folge anhaltenden Drucks von Wahlrefonnforderungen, sondern von oben verliehen" wurde 6 , überwiegt in der Forschung eine auf Bismarck konzentrierte, funktionale Deutung. Danach hat der preußische Ministerpräsident sich vor allem aus drei Gründen für die Einführung des demokratischen Wahlrechts entschieden: erstens um den habsburgischen Rivalen deutschlandpolitisch auszustechen, zweitens um die anvisierte preußische Machterweiterung durch den Appell an die Nation außenpolitisch abzusichern, und drittens um den auf angemessene Beteiligung an der Macht drängenden Liberalismus dauerhaft in die Schranken zu weisen. Auch wenn über die Unbrauchbarkeit des BonapartismusModells zur Beschreibung des Bismarckschen Herrschaftssystems inzwischen Einigkeit besteht7, so betont die Forschung bis in die jüngste Zeit hinein, daß es 5 Eine zeitweilige Ausnahme bot der deutsche Südwesten, vor allem Württemberg und Frankfurt. Vgl. Langewiesche, Dieter, Liberalismus und Demokratie in Württemberg zwischen Revolution und Reichsgründung, Düsseldorf 1974; Wolf, Siegbert, Liberalismus in Frankfurt am Main vom Ende der Freien Stadt bis zum Ersten Weltkrieg (1866-1914), Frankfurt a. M. 1987. 6 Pollmann, Karl Erich, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund 1867 - 1870, Düsseldorf 1985, S. 67. Pollmann bietet auch die beste zusammenfassende Darstellung der Entstehung, Funktion und Bedeutung des Wahlrechts; vgl. S. 42-47, 66-92, 223-231, 314-335. Zur Bedeutung des Wahlrechts für die Entstehung eines "politischen Massenmarktes" und die Entwicklung des Parteiensystems vgl. Rohe, Karl, Wahlen und Wählertraditionen in Deutschland. Kulturelle Grundlagen deutscher Parteiensysteme im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1992, S. 57 - 97. 7 Maßgeblich dazu Fehrenbach, Elisabeth, Bonapartismus und Konservatismus in Bismarcks Politik, in: dies., Politischer Umbruch und gesellschaftliche Bewegung. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Frankreichs und Deutschlands im 19. Jahrhundert, München 1997, S. 367 - 380 (zuerst 1977); Gall, Lothar, Bismarck und der Bonapartismus, in: ders., Bürgertum, liberale Bewegung und Nation. Ausgewählte Aufsätze, München 1996, S. 256 - 271 (zuerst 1976). Vgl. jetzt auch Wehler (wie Anm. 1), S. 363 - 368, der seine früheren Positionen verwirft.

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sich bei der Einführung des allgemeinen Wahlrechts um ein bonapartistisch inspiriertes Herrschaftsmittel gegenüber dem Parlamentarismus handelte. "Klassisch" ist diese Argumentation bei Theodore S. Hamerow durchgeführt, der das Angebot Bismarcks als "strategy for defeating the parliamentary opposition" bezeichnet. 8 Auch Lothar GaU urteilt in seiner Bismarck-Biographie, daß der preußische Ministerpräsident mit seinem Vorstoß in der Wahlrechtsfrage keine konstruktiven, sondern rein destruktive Ziele verfolgt und vor allem bezweckt habe, die liberale Opposition "unter Druck zu setzen. ,,9 Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, so läßt sich diese Deutung mit den Worten Nipperdeys zusammenfassen, "sollte das Parlament nicht etwa stärken, sondern schwächen.,,10 Zweifellos erfaßt diese Interpretation zutreffend einen wesentlichen Teil der Intentionen, die Bismarck bei seinen Wahlrechtsvorschlägen leiteten. Für eine umfassende Erklärung der Genese des demokratischen Wahlrechts des Kaiserreichs reicht sie jedoch nicht aus. So unterschätzt diese Deutung zum einen den Druck, der aus der Gesellschaft selbst, insbesondere durch die Organisationen der nationalen Verfassungsbewegung, hinsichtlich der Einführung des demokratischen Wahlrechts ausgeübt wurde. Zum zweiten, eng damit zusammenhängend, wird in der Forschung meist nicht deutlich genug zwischen der preußischen und der deutschen Diskussions- und Handlungsebene unterschieden, obwohl der jeweilige Kontext prägenden Einfluß auf die Wahlrechtsdebatten gewann. Im folgenden soll deshalb der Versuch unternommen werden, aufbauend auf dem bisherigen Forschungsstand die Entstehung des Reichstagswahlrechts seit 1848/49 nachzuvollziehen und deren Ergebnisse durch Einbeziehung der genannten Aspekte neu zu gewichten. 2. Der Übergang von älteren Formen der ständischen Repräsentation zur parlamentarischen Repräsentation des Volkes in gewählten Körperschaften stand seit der Französischen Revolution und der napoleonischen Besetzung auch in Deutschland auf der politischen Tagesordnung. Vollzogen wurde er zunächst in den neuarrondierten Staaten Süddeutschlands, die durch Verfassungsgebung und den Aufbau moderner Verwaltungs strukturen eine das monarchische Prinzip ergänzende Form der Legitimität zu gewinnen suchten. 11 In den Wahlreglements der Königreiche Bayern und Württemberg und der Großherzogtümer Baden und Hessen8 Hamerow, Theodore S., The Origins of Mass Politics in Gerrnany 1866 - 1867, in: Imanuel Geiss/Berndt-JÜfgen Wendt (Hrsg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1973, S. 105 -120, Zitat S. 111. Der Gegensatz von "cäsaristischer" Demokratisierung und bürgerlich-liberaler Parlamentarisierung bildet das strukturierende Argument der Untersuchung von Stürmer, Michael, Regierung und Reichstag im Bismarckstaat 1871 - 1880. Cäsarismus oder Parlamentarismus, Düsseldorf 1974. 9 Gal1, Lothar, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt a. M. u. a. 1980, S. 352 f., 388 - 393; so auch Pol1mann (wie Anm. 5), S. 68. 10 Nipperdey (wie Anm. 1), S. 108. 11 Vgl. dazu zuletzt die Fal1studie von Jäger, Wolfgang, Staatsbildung und Reformpolitik. Politische Modernisierung im Herzogtum Nassau zwischen französischer Revolution und Restauration, Wiesbaden 1993.

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Darmstadt sowie des Herzogtums Nassau waren auf jeweils unterschiedliche Weise Sicherungen gegen die Partizipationswünsche der unteren Bevölkerungsschichten eingebaut, seien sie wie Grundbesitz oder Bürgerrecht ständischer Natur, oder seien sie - wie der Zensus - materieller Natur. 12 Während sich die verfassungspolitischen Diskussionen zunächst beinahe ausschließlich auf die einzelstaatlichen Regierungssysteme bezogen hatten, erhielten sie im Gefolge der französischen Februarrevolution 1848 eine neue Qualität. Allenthalben wurden in den deutschen Ländern die sogenannten "Märzforderungen" laut, die neben einer Reihe von rechts- und verfassungspolitischen Punkten auch die Errichtung einer Nationalvertretung beim Deutschen Bunde urnfaßten. Die Forderung nach der Wahl einer nationalen Repräsentation wurde zunächst nur in ganz unspezifischer Form erhoben. Im demokratischen Offenburger Programm vom September und im liberalen Heppenheimer Programm vom Oktober 1847 war lediglich von einer »Vertretung des Volkes beim Bund« bzw. einer »Vertretung der Nation bei der Bundesversammlung« die Rede. Auch die Anträge Friedrich Daniel Bassermanns und Heinrich von Gagerns im badischen bzw. hessischen Landtag sowie die Heidelberger Erklärung der Sler-Versammlung und das Einladungsschreiben des SiebenerAusschusses zum Vorparlament enthielten keine Hinweise auf die nähere Ausgestaltung des Wahlrechts. 13 Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Problem erfolgte erst im Vorparlament, das am 31. März 1848 in Frankfurt am Main zusammentrat. 14 Gegenstand der dort geführten Debatten war vor allem die Frage des indirekten oder direkten Wahlverfahrens. Dabei zeigte sich erneut die Uneinigkeit, ja Gegnerschaft zwischen Konstitutionellen und Demokraten, die durch die gemeinsame vormärzliche Opposition der »Partei der Bewegung« gegen die konservativen Ministerien lediglich verdeckt gewesen war. 15 Durch die allgemeine Politisierung im Gefolge der Revolution wurden die Vertreter der Oppositions bewegung gezwungen, außerhalb ihrer vertrauten Milieus auf der nationalen Ebene zu agieren und unter enormem Zeitdruck Entscheidungen von großer Tragweite zu treffen. Dies 12 Vgl. Ehrle, Peter Michael, Volksvertretung im Vormärz. Studien zur Zusammensetzung, Wahl und Funktion der deutschen Landtage im Spannungsfeld zwischen monarchischem Prinzip und ständischer Repräsentation, Frankfurt a. M. 1979, S. 496 - 692; eine tabellarische Übersicht der Wahlverfahren des Vormärz bei Vogel, Bernhard/Dieter Nohlen/Rainer-Olaf Schulze, Wahlen in Deutschland. Theorie - Geschichte - Dokumente 1848 - 1970, Berlin 1 New York 1971, S. 70 f. 13 Für den Wortlaut vgl. Huber, Ernst Rudolf, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, Stuttgart 1961, Nr. 68 - 71. 14 Vgl. dazu Botzenhart, Manfred, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848 -1850, Düsseldorf 1977, S. 123 - 126; ferner Schilfert, Gerhard, Sieg und Niederlage des demokratischen Wahlrechts in der deutschen Revolution 1848/49, Berlin (Ost) 1953, S. 86 - 107. 15 Zum dualistischen Staatsverständnis des Vormärzes vgl. Gall, Lothar. Das Problem der parlamentarischen Opposition im deutschen Frühliberalismus, in: ders., Bürgertum, liberale Bewegung und Nation. Ausgewählte Aufsätze, München 1996, S. 126 -143 (zuerst 1968).

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führte sofort zur Ausdifferenzierung in konkurrierende Fraktionen und Parteien. Als wichtigste parteibildende Streitfrage erwies sich zunächst die nach der sozialen Begrenzung oder weiteren Öffnung der Revolution, die sich vor allem im Streit um die Staatsform - Monarchie oder Republik - manifestierte. 16 Im engen Zusammenhang damit stand die gleichfalls polarisierende, aber doch mit größeren Möglichkeiten zum lagerübergreifenden Kompromiß behaftete Wahlrechts frage. Während die Linke für direkte Wahlen eintrat, da nach ihrer Auffassung nur so der Volkswille unverfälscht zum Ausdruck gebracht werden konnte, plädierte die Rechte für ein indirektes, nach Möglichkeit öffentliches Verfahren, um die Gefahr "demagogischer" Einflüsse geringzuhalten und den Einfluß der örtlichen Honoratioren in den Wahlmännergremien zu gewährleisten. Der Kompromiß bestand schließlich darin, daß das Vorparlament zwar "die direkte Wahl im Prinzipe für die zweckmäßigste" erklärte, aber darauf verzichtete, diese Empfehlung zur bindenden Vorschrift für die Wahlgesetzgebung der Einzelstaaten zu machen. 17 Über eine Beschränkung des Wahlrechts wurde ausweislich der Verhandlungsprotokolle des Vorparlaments nicht diskutiert. Dazu hieß es in der vom FünfzigerAusschuß des Vorparlaments veröffentlichten Liste der Beschlüsse ausdrücklich, daß die Wahlberechtigung nicht durch Zensus beschränkt werden dürfe - eine Bestimmung, die auf ein allgemeines und gleiches Wahlrecht zu zielen schien. Auf bis heute nicht ganz geklärte Weise gelang es den Konstitutionellen jedoch, nachträglich eine Formulierung in der Liste unterbringen, die eine Wahlrechtsbeschränkung durch die Hintertür ermöglichte: demnach sollte das Recht zur Wahl nur jeder "volljährige selbständige Staatsangehörige" erhalten (Hervorhebung d. Verf.). Da der Begriff der Selbständigkeit nicht näher definiert wurde, war hier der einzelstaatlichen Gesetzgebung ein weiter Spielraum eröffnet und führte - nachdem der Bundestag durch Beschluß vom 7. April 1848 die revolutionären Akte des Vorparlaments legalisierte hatte l8 - in der Tat zu erheblich voneinander abweichenden Wahlbestimmungen. Obwohl mindestens 75 Prozent der volljährigen männlichen Bevölkerung an den Wahlen zur Nationalversammlung teilnehmen durfte, kann von einem "allgemeinen" Wahlrecht daher nur mit gewissen Einschränkungen die Rede sein. 19 16 Vgl. Langewiesche, Dieter, Konstitutionelle Monarchie, Republik und "soziale Frage". Grundprobleme der deutschen Revolution von 1848/49, in: HZ 230 (1980), S. 529-548; einen Überblick über die Entwicklung des Vereins- und Parteienwesens bietet Wettengel, Michael, Parteibildung in Deutschland: Das politische Vereinswesen in der Revolution von 1848/49, in: Dieter Dowe/Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hrsg.), Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998, S. 701-738. 17 Die Beschlüsse des Vorparlaments sind abgedruckt bei Huber, Bd. I (wie Anm. 13), Nr.78. 18 Für den Beschluß des Bundestages vgl. ebd., Nr. 80. 19 Die Angaben über die Zahl der Wahlberechtigten beruhen aufgrund des mangelhaften statistischen Materials zu einem erheblichen Teil auf Schätzungen. Hier wurde dem Vorschlag Wolfram Siemanns gefolgt, der zu einer zurückhaltenderen Einschätzung als Botzenhart (80 Prozent) gelangt. Vgl. ders., Die deutsche Revolution von 1848/49, Frankfurt a. M.

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Nach der Konstituierung der Nationalversammlung verlagerte sich die Wahlrechtsdiskussion zunächst in den Verfassungsausschuß. Eine Unterkomrnission erarbeitete binnen weniger Wochen den Entwurf eines Wahlgesetzes, der am 2. Januar 1849 dem Gesamtausschuß vorlag. 20 Nachdem der Ausschuß über das direkte Wahlverfahren und die Festlegung des Wahlalters auf das vollendete 25. Lebensjahr schnell Einigkeit erzielen konnte, rankte sich die Auseinandersetzung um die Frage, an welche materiellen Voraussetzungen die Erteilung der Wahlberechtigung geknüpft werden sollte. Da im Verfassungsausschuß die in der Casino-Fraktion vereinigten konstitutionellen Mitglieder eine sichere Mehrheit besaßen, trug der am 8. Februar 1849 dem Plenum der Nationalversammlung vorgelegte Gesetzentwurf eine ausgesprochen restriktive Handschrift, indem er ganze Bevölkerungsgruppen wie Dienstboten, Tagelöhner, Handwerksgesellen und Fabrikarbeiter rundweg von der Wahl ausschloß. Wäre dieser hauptsächlich von den Liberalen Georg Waitz, Karl Theodor Welcker und Friedrich Dahlmann verantwortete Entwurf in Gesetzeskraft getreten, hätte zum Beispiel in Preußen mehr als die Hälfte der Bürger, die an den Wahlen zur Nationalversammlung im Mai 1848 hatten teilnehmen können, das Wahlrecht wieder verloren. In den ausführlichen Plenardebatten, die sich vom 8. Februar bis zum 1. März 1849 hinzogen 21 , stieß der Entwurf der Verfassungskomrnission selbst bei der Casino-Fraktion auf Kritik und wurde schließlich am 20. Februar 1849 mit 422 zu 21 Stimmen zurückgewiesen. Stattdessen wurden aus den Fraktionen der rechten und linken Mitte verschiedene, weniger diskriminierende Vorschläge zur Wahlrechtsbeschränkung unterbreitet, darunter etwa die Bindung des Wahlrechts an die Entrichtung direkter Steuern, an Einkommensgrenzen bzw. an Grundbesitz. Andere Vorschläge zielten auf die ungleiche Gewichtung der Stimmen durch ein abgestuftes Wahlrecht. In den Fraktionen der Linken dagegen plädierte man uneingeschränkt für das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht. So standen sich die beiden Lager mit im Grunde unvereinbaren Positionen gegenüber. Daß die Linke schließlich ihre Vorstellungen von der Ausgestaltung des Wahlrechts durchsetzen konnte, erklärt sich aus dem umfassenden politischen Kompromiß, der unter dem 1985, S. 85. Zu den Wahlgesetzen und Wahlverfahren der einzelnen Staaten vgl. ausführlich Obermann, Karl, Die Wahlen zur Frankfurter Nationalversammlung im Frühjahr 1848, Berlin (Ost) 1987; zu den Protesten gegen die Wahlrechtsbeschränkungen vgl. ders., Die Protestbewegung gegen die Einschränkung des Wahlrechts zur Frankfurter Nationalversammlung 1848, in: ZfG 24 (1976), S. 49 - 64; Köhler, Manfred, Die nationale Petitionsbewegung zu Beginn der Revolution 1848 in Hessen. Eingaben an das Vorparlament und an den Fünfzigerausschuß aus Hessen (März bis Mai 1848), Marburg/Darmstadt 1985, S. 94ff. 20 Vgl. dazu Botzenhart (wie Anm. 14), S. 663-667; Schilfert (wie Anm. 14), S. 169185; ferner Hübner, Rudolf, (Hrsg.), Aktenstücke und Aufzeichnungen zur Geschichte der Frankfurter Nationalversammlung aus dem Nachlaß von Johann Gustav Droysen, Berlinl Leipzig 1924, S. 175,370-405. 21 Vgl. Botzenhart (wie Anm. 14), S. 667-79; Schilfert (wie Anm. 14), S. 196-251; Gagei, Walter, Die Wahlrechtsfrage in der Geschichte der deutschen liberalen Parteien 18481918, Düsseldorf 1958, S. 7 - 16.

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Namen "Simon-Gagem-Pakt" in die Geschichte eingegangenen ist. Als Gegenleistung für die Zustimmung einer hinreichenden Zahl konstitutioneller Abgeordneter zu dem demokratischen Wahlrecht mußte sich die kompromißbereite Linke mit dem preußischen Erbkaisertum abfinden. Nur im Rahmen dieser generellen Übereinkunft, die den Verfassungskompromiß von 1849 ermöglichte, war das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht mehrheitsfähig gewesen. Diejenigen Teile des konstitutionellen Lagers, die dem Wahlgesetz schließlich ihre Zustimmung gaben, taten dies ohne innere Überzeugung. Die am 2. März 1849 in erster Lesung mit 256 zu 194 Stimmen bei vier Enthaltungen angenommene Fassung des Entwurfs enthielt nur noch geringfügige Beschränkungen des allgemeinen Wahlrechts und entsprach weitgehend dem am 12. April 1849 endgültig verabschiedeten Wahlgesetz. Es erteilte jedem unbescholtenen männlichen Deutschen über 25 Jahren das aktive Wahlrecht, ausgeschlossen blieben lediglich Personen, die unter Vormundschaft standen, über deren Vermögen ein Konkursverfahren eröffnet war oder die Unterstützung aus öffentlichen Mitteln bezogen. Die Wahlhandlung hatte öffentlich stattzufinden, die Wahl selbst wurde jedoch geheim auf Stimmzetteln ohne Unterschrift vollzogen. Gewählt wurde direkt und in Einmannwahlkreisen, wobei im Falle, daß kein Kandidat die absolute Mehrheit erreichte, ein zweiter Wahlgang und notfalls ein dritter Wahlgang durchgeführt werden mußte, bei dem jedoch die relative Mehrheit der Stimmen genügte. 22 3. Das Wahlgesetz kam im Jahre 1849 jedoch nicht mehr zur Anwendung. An die Stelle einer nationalen Volksvertretung mit zugehöriger Zentralgewalt trat im Mai 1851 der restituierte Deutsche Bundestag als Organ der verbündeten einzelstaatlichen Regierungen. Auch in den Einzelstaaten wurden spätestens infolge des Bundesreaktionsbeschlusses die meisten Errungenschaften der Revolution rückgängig gemacht. Neben den Grundrechten zählten dazu durchgängig auch die revolutionären Wahlreglements. Die größte Bedeutung kam dabei zweifellos der Einführung des Dreiklassenwahlrechts in Preußen durch Oktroi vom 30. Mai 1849 zu. 23 Auch hier waren - wie in die oktroyierten preußischen Verfassungen Elemente der revolutionären Rechtstexte eingeflossen: die Allgemeinheit der Wahl wurde beibehalten, dabei jedoch durch die Gewichtung der Stimmen nach Steuerdritteln ihres demokratischen Gehalts beraubt; darüber hinaus wurde ein indirektes und öffentliches Wahlverfahren vorgeschrieben. Diese Verbindung von allgemeinem Stimmrecht und ungleicher Stimmengewichtung kam dem Anliegen der Konstitutionellen entgegen, die politische Partizipation auf die durch Bildung und Besitz qualifizierten Schichten zu beschränken. Für die preußischen Demokraten Für den Wortlaut des Wahlgesetzes vgl. Huber, Bd. 1 (wie Anm. 13), Nr. 103. Für den Wortlaut vgl. Huber, Bd. 1 (wie Anm. 13), Nr. 167; Grünthai, Günther, Das preußische Dreiklassenwahlrecht. Ein Beitrag zur Genesis und Funktion des Wahlrechtsoktrois vom Mai 1849, in: HZ 226 (1978), S. 17 -66. Für eine tabellarische Übersicht der Wahlreglements der Reaktionszeit vgl. VogellNohlen I Schulze (wie Anm. 12), S. 87f. 22 23

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bot das Wahlgesetz jedoch den Anlaß, die Wahlen zu boykottieren. Nach zaghaften Ansätzen bei den Abgeordnetenhauswahlen von 1858 beteiligte sich die preußische Linke erst seit 1861 wieder mit verstärktem Engagement am politischen Leben. 24 Der Wiedereintritt der verdrängten 1848er-Linken in die Politik, die allmähliche Zuspitzung des Konfliktes über die verfassungsrechtliche Stellung des Heeres im Konstitutionalismus und vor allem die vorsichtige, den Legalitätsstandpunkt wahrende "deutsche Politik" der preußischen Regierung führte im Sommer 1861 zur Gründung der oppositionellen Fortschrittspartei. 25 In den Reihen der neuen Partei sammelten sich 1848er-Konstitutionelle und 1848er-Demokraten, der Kompromißcharakter des Unternehmens lag von vornherein auf der Hand und war erwünscht. Bei den Prograrnmberatungen, die sich bis zum Juni 1861 hinzogen, gelangte man rasch zu einer Einigung über nationalpolitische und innenpolitische Fragen. Die Grenzen der Verständigungsbereitschaft zeigten sich hauptsächlich bei der Ausgestaltung des Wahlrechts. Da eine Einigung nicht möglich schien, klammerte man die Frage kurzerhand aus: in einem öffentlichen Begleitschreiben zum Wahlprogramm hieß es dazu nur, "daß man die Frage des allgemeinen Wahlrechts als offene betrachte". 26 Mit ihrem Programm hatte sich die Fortschrittspartei nicht nur ausdrücklich auf den Boden der oktroyierten Verfassung gestellt, sondern sie hatte sich durch die Umgehung der Wahlrechtsproblematik de facto für die Beibehaltung des bestehenden Dreiklassenwahlrechts ausgesprochen, und zwar noch ehe die Wahlerfolge der Jahre 1861 bis 1863 das ungleiche Wahlrecht zum scheinbaren Garanten liberaler Erfolge gemacht hatte. Damit war - was den Zeitgenossen nicht bewußt sein konnte - eine Entscheidung von langfristiger Bedeutung gefallen: das Dreiklassenwahlrecht blieb mit nur geringfügigen Modifikationen bis 1918 in Kraft und war maßgeblich dafür verantwortlich, daß sich Preußen zu einem Hemmfaktor auf dem Wege der Modernisierung Deutschlands entwickelte. Auch in diesem Punkte manifestierte sich die Schwäche des demokratisch-republikanischen Bürgertums, dem es nach dem Scheitern der Revolution von 1848 /49 nicht mehr gelang, eine eigenständige politische Rolle zu spielen. 24 Vgl. Grünthai, Günther, Parlamentarismus in Preußen 1848/49 - 1857/58. Preußischer Konstitutionalismus - Parlament und Regierung in der Reaktionsära, Düsseldorf 1982; ders., Die Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus von 1858, in: Jürgen Kocka/Hans-Jürgen Puhle/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Von der Arbeiterbewegung zum modemen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München u. a. 1994, S. 329 - 345. 25 Vgl. Winkler, Heinrich August, Preußischer Liberalismus und deutscher Nationalstaat. Studien zur Geschichte der Deutschen Fortschrittspartei, Tübingen 1964, S. 6 - 15; Biefang, Andreas, National-preußisch oder deutsch-national? Die deutsche Fortschrittspartei in Preußen 1861- 1867, in: GG 27 (1997), S. 360 - 383. 26 Abgedruckt bei Parisius, Ludolf, Deutschlands politische Parteien und das Ministerium Bismarck, Berlin 1878, S. 38 f.; zur Wahlrechtsdiskussion der Liberalen nach 1850 vgl. Gagel (wie Anm. 21), S. 20 - 37; Sheehan, James J., Der deutsche Liberalismus. Von den Anfangen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770 -1914, München 1983, S. 125 - 128.

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Wendet man sich von der preußischen Entwicklung ab und richtet den Blick auf die nationale Verfassungsbewegung insgesamt, so ergibt sich ein etwas anderes Bild. Seit den 1850er Jahren hatte in den Reihen der gescheiterten Revolutionspolitiker ein Reflexionsprozeß eingesetzt, der vor allem um die Frage kreiste, wie die begangenen Fehler bei einem zweiten Anlauf zur Nationalstaatsgründung vermieden werden könnten. 27 Als wichtige Gründe für die Niederlage wurden die organisatorische Schwäche der Reformbewegung sowie vor allem die Spaltung in einander bekämpfende Fraktionen und Vereine erkannt. Bei den Bemühungen um einen tragfähigen programmatischen Kompromiß spielte die Reichsverfassung von 1849 eine erhebliche Rolle, da durch sie bereits die Frage der Staatsform geklärt und das großdeutsche Problem zumindest entschärft worden war. Ihren organisatorischen Ausdruck fanden diese Überlegungen in dem 1859 gegründeten Deutschen Nationalverein, der als nationsweite Organisation nicht nur den Kompromiß zwischen Konstitutionellen und ehemaligen Demokraten verkörperte, sondern zugleich Rücksicht auf die verschiedenen regionalen Traditionen und Bedürfnisse zu nehmen hatte. In seinem programmatischen Äußerungen nahm der Nationalverein von Anfang an auf die Reichsverfassung Bezug, allerdings zunächst nur in sehr allgemeiner Form. Die Resolution der ersten Generalversammlung vom September 1860 sprach sich lediglich für eine bundes staatliche Einigung Deutschlands aus, wie sie in der Reichsverfassung von 1849 ihren ,,rechtlichen Ausdruck" gefunden habe. Dazu gehörte ein ..deutsches Parlament"?S Erst im Oktober 1862, nachdem der Verfassungskonflikt in Preußen in die entscheidende Phase getreten und Bismarck zum Ministerpräsidenten ernannt worden war, verkündete er die Durchführung der Reichsverfassung als wichtigstes Ziel seines Wirkens, und zwar, wie es jetzt ausdrücklich hieß, inklusive des Wahlgesetzes von 1849. Dieser Beschluß besaß die Zustimmung der gesamten Führung der preußischen Fortschrittspartei, wurde aber auch von einer Reihe von Konstitutionellen mitgetragen, von denen man mit Sicherheit annehmen kann, daß sie zu den Gegnern des demokratischen Wahlrechts zählten - jedenfalls im Prinzip.29 Die Propagierung von Reichsverfassung und Wahlgesetz durch den Nationalverein stellte keinesfalls ein unwiderrufliches, auf prinzipiellen Überlegungen basierendes Bekenntnis dar. Vielmehr gilt es auch hier, die taktischen, situationsbedingten Momente zu beachten. In den Jahren 1862/63 sah sich der Nationalverein mit erheblichen Problemen konfrontiert: sein nationalpolitisches Programm schien 27 Vgl. Biefang, Andreas, Politisches Bürgertum in Deutschland. Nationale Organisationen und Eliten 1857 -1868, Düsseldorf 1994, S. 38 -48,249 - 255; Jansen, Christian, Einheit, Macht und Freiheit. Die Paulskirchenlinke und die deutsche Politik in der nachrevolutionären Epoche, masch. Habilitationsschrift Bochum 1997, S. 210 - 263. 28 Für den Wortlaut vgl. Biefang, Andreas (Bearb.), Der Deutsche Nationalverein. Vorstands- und Ausschußprotokolle 1859 - 1867, Düsseldorf 1995, S. 66, Anm. 6. 29 Vgl. ebd. S. 198; Biefang, Politisches Bürgertum (wie Anm. 27), S. 248 - 259.

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durch den preußischen Verfassungskonflikt vorläufig blockiert, gleichzeitig machten sich in der allmählich sich reformierenden politischen Linken eigenständige Organisationsbestrebungen bemerkbar. Schließlich ging die österreichische Regierung, nachdem sie mit dem Erlaß der Februarverfassung von 1861 die innenpolitischen Voraussetzungen geschaffen hatte, mit der Präsentation umfassender Bundesreformvorschläge in die deutschlandpolitische Offensive. Für alle daraus resultierenden Probleme schien die Berufung auf Reichsverfassung und revolutionäres Wahlrecht eine Lösung zu bieten, indem sie die von der preußischen Regierung unabhängige, eigenständige verfassungspolitische Position des Nationalvereins unterstrich, der Paulskirchenlinken eine Heimat zu bieten schien und vor allem den großdeutsch gesinnten Kreisen vor Augen führte, daß es einen prinzipiellen Unterschied zwischen dem von Österreich angestrebten reformierten Deutschen Bund und einem echten deutschen Bundesstaat mit demokratisch gewählter Nationalversammlung gab. Kurz: die Berufung auf Reichsverfassung und Wahlgesetz sollte die auseinanderdriftenden Strömungen und Interessen auf einen gemeinsamen Nenner bringen, sie diente dem "nation-building". So erklärt es sich auch, daß die preußische Fortschrittspartei, die die Wahlrechtsfrage im eigenen Lande ausklammerte, auf der nationalen Ebene das allgemeine Wahlrecht mittrug. Nationalverein und Fortschrittspartei verhielten sich ganz entsprechend den Überlegungen, die der Redakteur der "Wochenschrift des Nationalvereins", August Ludwig Rochau, bereits 1854 angestellt hatte, als er die Vorzüge und Nachteile der verschiedenen Wahlverfahren möglichst unvoreingenommen nebeneinander gestellt hatte, ganz in der Absicht, aus einer Prinzipienfrage eine Frage der politischen Zweckmäßigkeit zu machen. 3o Wichtiger als die überwiegend taktisch bedingte Motivation bleibt jedoch das Faktum, daß die unbezweifelbar mächtigste Organisation des national orientierten Bürgertum seit 1862 für Reichsverfassung und demokratisches Wahlrecht agitierte. 4. Angesichts der Erfolge der Fortschrittspartei unter dem Dreiklassenwahlrecht richteten sich die Überlegungen in preußischen Regierungskreisen seit Oktober 1862 verstärkt darauf, durch eine Veränderung des Wahlrechts den Oppositionsparteien den Boden zu entziehen. 31 Dabei ging die preußische Regierung von zwei Beobachtungen aus. So war man erstens zu der Auffassung gelangt, daß die 30 Vgl. Rochau, August Ludwig, Grundsätze der Realpolitik. Angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands, hrsg. v. Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt a. M. 1972, S. 87 - 95 (zuerst 1853). 31 Vgl. Pollmann (wie Anm. 6), S. 68 -74; Saile, Wolfgang, Hermann Wagener und sein Verhältnis zu Bismarck. Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Sozialismus, Tübingen 1958, S. 87 - 97; Hornung, Klaus, Preußischer Konservatismus und Soziale Frage - Hermann Wagener (1815 - 1889), in: Hans-Christof Kraus (Hrsg.), Konservative Politiker in Deutschland. Eine Auswahl biographischer Porträts aus zwei Jahrhunderten, Berlin 1995, S. 157184; Becker, Otto, Bismarcks Ringen um Deutschlands Gestaltung, Heidelberg 1958, S. 171 f.; Otto Pflanze, Bismarck. Der Reichsgründer, München 1997, S. 228-231; aus der älteren Literatur Augst, Richard, Bismarcks Stellung zum parlamentarischen Wahlrecht, Leipzig 1917, S. 35 - 100.

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Gewichtung der Wahlerstimmen nach Steuerklassen vor allem denjenigen Schichten entgegenkam, in denen der Liberalismus die meisten Anhänger besaß: nämlich den besitzenden, vornehmlich in den Städten beheimateten Schichten. Umgekehrt schien das Wahlverfahren diejenigen ländlichen Schichten zu benachteiligen, von denen man annahm, daß sie monarchisch gesinnt seien und im Zweifel konservativ votieren würden - zumindest bei einem öffentlichen Wahlakt. Der zweite Ansatzpunkt betraf das indirekte Wahl verfahren. Es war ein offenes Geheimnis, daß die Wahlerfolge der Fortschrittspartei weniger auf der Erschließung neuer Urwählerpotentiale beruhten - die Wahl beteiligung der dritten Klasse blieb auch während des Verfassungskonfliktes vor allem auf dem Lande gering und kam nie über 30 Prozent der Berechtigten hinaus -, sondern auf der Politisierung der von hoher Kontinuität geprägten Wahlmännergremien. 32 Indem die preußische Regierung die Einführung eines allgemeinen und direkten Wahlrechts erwog, wollte sie die Wahlentscheidung auf die Ebene der Urwähler verlagern, bei denen sie sich besseren Erfolg versprach. Die antidemokratische Tendenz dieser Absichten kam auch darin zum Ausdruck, daß nach den maßgeblich von dem konservativen Abgeordneten Hermann Wagener entwickelten Plänen das allgemeine und direkte Wahlrecht durch ständische Elemente seiner demokratischen Wirksamkeit entkleidet werden sollte. Es ging, wie Wagener in seiner Denkschrift für Bismarck vom Oktober 1862 formulierte, um ,,standeswahlen mit allgemeinem Stimmrecht".33 Bismarck ließ sich jedoch nicht nur von den konservativen Kreisen um Wagener beeinflussen, sondern er sondierte auch bei den linken, revolutionären Gegnern der Fortschrittspartei. Auf Initiative Bismarcks kam es zwischen Mai 1863 und Februar 1864 zu wohl zwei Gesprächen und einem kurzen Briefwechsel zwischen Bismarck und Ferdinand Lassalle, wobei zunächst die soziale Frage, dann aber auch Pläne zur Auflösung des Abgeordnetenhauses und zur Oktroyierung eines allgemeinen und direkten Wahlrechts zur Sprache kamen. 34 Bei den völlig unterschiedlichen Ausgangspunkten und Absichten beider verlief der Meinungsausstausch erwartungsgemäß ohne greifbare Ergebnisse. Die Verhandlungen sind als bloßes Faktum und zur Charakterisierung der beiden Ausnahmepersönlichkeiten von hohem Interesse, aber auf den Gang der Ereignisse gewannen sie nur insofern Einfluß, als sie den liberalen Befürchtungen eines Zusammengehens der feudalen mit der roten Reaktion neue Nahrung gaben. 32 Zu der spezifischen "Wahlkultur", dem liberalen "Wahlterror" und der Notwendigkeit, vor allem die Wahlmänner, die den eigentlichen Gegenstand der Agitation bildeten, zu überzeugen, vgl. Kühne, Thomas, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867 - 1914. Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt, Düsseldorf 1994, S. 49-127. 33 Vgl. Saile (wie Anm. 31), S. 89. 34 Vgl. Mayer, Gustav, Bismarck und Lassalle. Ihr Briefwechsel und ihre Gespräche, Berlin 1928. Gegen die dort anzutreffende Überschätzung der Kontakte vgl. Naaman, Shlomo, Lassalles Beziehungen zu Bismarck - ihr Sinn und Zweck. Zur Beleuchtung von Gustav Mayers ,,Bismarck und Lassalle", in: AfS 2 (1962), S. 55 - 85.

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Wichtig ist, daß alle diese Überlegungen und Gespräche im wesentlichen innerhalb des preußischen Staatsministeriums und im Beraterkreis Bismarcks stattfanden, während sie in der Öffentlichkeit vornehmlich von Wagener und seinem Preußischen Volksverein vertreten wurden. Sie wurden aber nicht zum Gegenstand regierungsamtlicher Maßnahmen oder Gesetzentwürfe, und sie wurden auch nicht - wie wiederholt erwogen - mittels eines Staatsstreichs in die Wirklichkeit umgesetzt. In der Praxis unternahm die preußische Regierung vielmehr ungewöhnliche Anstrengungen, um auf dem Boden des bestehenden Dreiklassenwahlrechts Wahlerfolge zu erzielen. 35 Im Vorfeld der Herbstwahlen von 1863 versuchten Karl Ludwig Zitelmann und Hermann Wagener - hierzu von Bismarck beauftragt - mit erheblichem finanziellen und organisatorischem Aufwand, Einfluß auf die Wahlmännergremien zu gewinnen. Die Bemühungen brachten zwar keine nennenswerten Zuwachs an Mandaten, aber die Wahlerfolge der Fortschrittspartei fielen in den einzelnen Wahlkreisen sichtbar knapper aus. Es zeigte sich bereits jetzt, daß auch das Dreiklassenwahlrecht kein Garant fortschrittsliberaler Mehrheiten war. Als sich diese Erfahrung in den Abgeordnetenhauswahlen von 1866 und 1867 bestätigte, verlor die Wahlrechtsreform in Preußen aus konservativer Sicht an Dringlichkeit. 5. Es waren deshalb auch nicht die innerpreußischen Belange, die Bewegung in die Wahlrechtsfrage brachten, sondern die sich zuspitzende Auseinandersetzung zwischen Preußen und Österreich um die Vorherrschaft in Deutschland. Als der Bundestag im Januar 1863 über den Vorschlag einer österreichisch-mittelstaatlichen Koalition beriet, eine Delegiertenversammlung zur Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung zu berufen, ging Bismarck in die Offensive. In Anknüpfung an ältere Überlegungen ließ er am 22. Januar 1863 durch seinen Gesandten von Sydow die projektierte Delegiertenversammlung als "ein neues Element der Schwerfälligkeit und Verschleppung" zurückweisen und empfahl statt dessen die Einrichtung einer "Vertretung, welche nach Maßgabe der Bevölkerung jedes Bundesstaats aus letzterer durch unmittelbare Wahl" hervorgehe und dem Bundestag als "gesetzgebende Gewalt für das Bundesgebiet" zur Seite treten sollte. Nur in einer solchen Vertretung, hieß es zur Begründung, könne "die deutsche Nation das berechtigte Organ ihrer Einwirkung auf die gemeinsamen Angelegenheiten finden. ,,36 Ganz auf derselben Linie bewegte sich die Antwort, die die preußische 35 Vgl. Gruntha1, Günther, Wahlkampfführung der Konservativen im preußischen Verfassungskonflikt, in: Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Wahlen und Wahlkämpfe in Deutschland von den Anfangen bis zur Bundesrepublik, Düsse1dorf 1997, S. 63 -78. 36 Erlaß an von Sydow v. 19. 1. 1863, Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. 4, Nr. 24. Zur Gedankenbildung Bismarcks vgl. Pflanze (wie Anm. 31), S. 76 f., 155 -161. Allgemein zur Deutschlandpolitik Bismarcks Becker (wie Anm. 31), S. 108 - 289; sowie jetzt Kaernbach, Andreas, Bismarcks Konzepte zur Reform des Deutschen Bundes. Zur Kontinuität der Politik Bismarcks und Preußens in der deutschen Frage, Göttingen 1991; Kolb, Eberhard, Großpreußen oder Kleindeutschland? Zu Bismarcks deutscher Politik im Reichsgrundungsjahrzehnt, in: ders., Umbruche deutscher Geschichte 1866/71 - 1918/19 - 1929/33. Ausgewählte Aufsätze, München 1993, S. 11 - 34.

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Regierung auf den von den deutschen Fürsten im August 1863 in Frankfurt am Main beschlossenen Bundesreformplan vom August 1863 gab. In der Note an die Regierungen vom 22. September 1863 plädierte sie für "eine Volksvertretung, welche nicht aus Delegation, sondern aus directen Wahlen nach Maßgabe der Bevölkerung der einzelnen Staaten" hervorgehe. 37 In beiden Fällen parierte Preußen die Pläne zur Berufung einer Delegiertenversammlung mit dem Vorschlag direkter Wahlen und berief sich dabei auf die Rechte der "Nation". Allerdings blieb der Verweis auf das Wahlverfahren für die Volksvertretung ebenso unpräzise wie alle Hinweise auf die Aufgaben des Parlamentes fehlten. Damit blieb die preußische Initiative weit hinter den Forderungen der nationalen Verfassungsbewegung zurück, die darin kaum mehr als einen propagandistischen Coup erkennen konnte. Erst im Rückblick zeigte sich, daß es Bismarck durchaus Ernst gewesen war. Waren die Parlamentsvorschläge beim Bundestag zunächst vor allem gegen österreichische Bundesreformpläne gerichtet, so kam bei dem preußischen Antrag auf Bundesreform vom 9. April 1866 ein weiteres Motiv ins Spiel: es ging darum, den immer wahrscheinlicher werdenden Krieg mit Österreich um die künftige Stellung beider Staaten in Deutschland durch den Appell an die Nation innen- bzw. nationalpolitisch abzusichern. Zu diesem Zweck ging der Antrag inhaltlich einen wesentlichen Schritt über die bisher unterbreiteten Vorschläge hinaus: zur Mitwirkung an den Beratungen über die Bundesreform sollte "eine allgemeine deutsche Versammlung von deutschen Vertretern berufen" werden, und zwar nach dem "Grundsatz der directen Volkswahl". Dabei sei, wurde präzisierend hinzugefügt, das "allgemeine Stimmrecht" das "allein Mögliche".38 Die Berufung auf das "allgemeine Stimmrecht" signalisierte eine weitere Annäherung an die nationale Verfassungs bewegung, indem sie die Bereitschaft zum nationalrevolutionären Bruch mit dem Bundestag anzudeuten schien, sie blieb aber im konservativen Sinne Wageners interpretierbar, da sie weder auf das Wahlgesetz von 1849 Bezug nahm noch Hinweise auf die generelle - nicht bloß innerhalb des jeweiligen Standes gewährte - Gleichheit der Wahl enthielt. 39 Die Forschung hat vor allem mit Blick auf die preußische Fortschrittspartei überwiegend die Meinung vertreten, daß Bismarck mit der Absicht kläglich gescheitert sei, durch den Bundesreformantrag die öffentliche Meinung auf seine Seite zu ziehen. In der Tat gab es erhebliche öffentliche Proteste und nur wenig offene Zustimmung. Allerdings zeigt sich bei näherem Hinsehen, daß die Ablehnungsfront bei weitem nicht so fest gefügt war: der Nationalverein, der Abgeordnetentag und die einzelstaatlichen Fortschrittsparteien sprachen sich zwar mit scharfen Worten gegen den drohenden "Bruderkrieg" aus, setzten dagegen allerdings die Forderung nach der Neutralität der Mittelstaaten und forderten die sofor37 V gl. Huber, Ernst Rudolf, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Stuttgart u. a. 31986, Nr. 110. 38 Ebd., Nr. 163. 39 So auch Becker (wie Anm. 31), S. 172 f.

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tige Berufung eines deutschen Nationalparlaments nach dem Wahlgesetz von 1849 - angeblich, um den Krieg zu verhindern. In Wirklichkeit stützten sie damit jedoch indirekt die den kriegerischen Konflikt einkalkulierende Politik der preußischen Regierung, mit der sie durch informelle Kanäle in Verbindung stand. Die ernsthaften Gegner der sich anbahnenden "Revolution von oben", seien sie konservativer oder demokratischer Provenienz, haben das deutlich gesehen. 4o Im Frühjahr 1866 kam die Kooperation zwischen maßgeblichen Vertretern der liberalen Parteien und Verbände und Bismarck in Gang, zaghaft zwar zunächst, aber doch bereits zu begrenzten Ergebnissen führend. Bevor sie in den umfassenden Gründungskompromiß der Norddeutschen Bundesverfassung einmündete, mußte Bismarck allerdings weitere Vorleistungen erbringen. Einen entscheidenden Schritt unternahm er, als er am 10. Juni 1866 der Bundesversammlung die Grundzüge einer neuen Bundesverfassung vorlegte. Darin war unter Artikel IV erstmals die ausdrückliche Berufung auf das Reichswahlgesetz vom 12. April 1849 enthalten. 41 Mit der offiziellen Anknüpfung an die Errungenschaften der 1848er-Revolution traten die nationsbildenden Aspekte des Wahlrechts in den Vordergrund, denn nur eine nationaldemokratische Legitimierung konnte dem neuen Staatsgebilde, das an die Stelle des in Auflösung begriffenen Deutschen Bundes treten würde, Stabilität verleihen. An dieser Politik hielt Bismarck nach dem militärischen Sieg über Österreich fest: der Vertrag zur Begründung des Norddeutschen Bundes vom August 1866 verpflichtete die Unterzeichner, Wahlen zu einer parlamentarischen Versammlung zur "Mitwirkung" an den Beratungen über eine Bundesverfassung auszuschreiben, und zwar auf Grund des Wahlgesetzes von 1849. Das entsprechende preußische Wahlgesetz vom 15. Oktober 1866 entsprach in den wichtigsten Passagen wörtlich dem 184gerGesetz, lediglich hinsichtlich der Durchführung der Wahlen läßt sich das angestaute Mißtrauen der Konfliktjahre spüren: es hieß nun, daß das Wahlrecht "in Person durch verdeckte, in eine Wahlurne niederzulegende Stimmzettel ohne Unterschrift" ausgeübt werde, während 1849 nur von einer Wahl "durch Stimmzettel ohne Unterschrift" die Rede gewesen war. 42 Vor allem gegenüber seiner konservativen Umgebung hat Bismarck sein Eintreten für das allgemeine Wahlrecht wiederholt mit der Auffassung begründet, daß die Mehrheit der Bevölkerung konservativ gesonnen sei und deshalb ihr neues Recht im monarchischen Sinne ausüben werde. Im Reformantrag vom 9. April 1866 hatte er behauptet, daß das allgemeine Wahlrecht "für das conservative Princip förderlicher" sei als ein anderer, auf "künstlichen Combinationen" beruhender Wahlmodus. 43 Es ist im Einzelfall nicht zu entscheiden, inwieweit Bismarck tatVgl. Biefang, Politisches Bürgertum (wie Anm. 27), S. 389 - 415. Vgl. Huber, Bd. 2 (wie Anm. 37), Nr. 173. 42 Für den Wortlaut der Rechtstexte vgl. Huber, Bd. 2 (wie Anm. 37), Nr. 196 f. 43 Vgl. Huber, Bd. 2 (wie Anm. 37), Nr. 163; weitere Belege bei Kaernbach (wie Anm. 36), S. 222 f.; Pollmann (wie Anm. 6), S. 70 - 73,75 f. 40 41

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sächlich an die konservative Wirkung des allgemeinen Wahlrechts glaubte und inwieweit er seine Argumente aus taktischen Erwägungen wählte, um die Skeptiker im altkonservativen Lager und nicht zuletzt den preußischen Monarchen selbst zu beruhigen. Es spricht einiges dafür, daß er in Bezug auf die preußischen Verhältnisse seinen Überzeugungen entsprechend argumentierte, daß jedoch in Bezug auf die dem Bundestag präsentierten, der Sache nach nationalrevolutionären Wahlrechtsvorschläge die taktischen Gesichtspunkte im Vordergrund standen. Verfolgt man die auf die nationale Ebene bezogenen Wahlrechtsvorschläge Bismarcks, so läßt sich eine allmähliche Konkretisierung seiner Vorstellungen beobachten, die sich von vagen Andeutungen über "unmittelbare" Wahlen hin zu einem eindeutigen Bekenntnis zum demokratischen Wahlrecht entwickelten. Parallel erfolgte eine Verschiebung der Debatte von der innerpreußischen auf die nationale Ebene. Waren die gegen die österreichischen Bundesrefompläne ins Feld geführten Wahlrechtsvorschläge, aber auch noch derjenige vom 9. April 1866, so formuliert, daß sie mit den von Hermann Wagener entwickelten Vorstellungen nicht notwendig in Widerspruch standen, so änderte sich dies im Sommer 1866. Wenn Wagener dennoch im April 1866 auf den Kurs Bismarcks einschwenkte und zu einem Verteidiger des (zu diesem Zeitpunkt noch nicht endgültig im demokratischen Sinne definierten) allgemeinen Wahlrechts wurde, mochte dies aus der Einsicht in die Chancenlosigkeit seiner eigenen Pläne entspringen oder dem Irrtum zu verdanken sein, daß das demokratische Stimmrecht nur eine "Durchgangsstation für eine ständische Form des Wahlrechts" sei. 44 Für die hier interessierende Fragestellung sind die jeweils unterschiedlich geschnürten Motivbündel von nachgeordneter Bedeutung. Entscheidend ist, daß Bismarck sich im Sommer 1866 bezüglich der Wahlen zu einer Nationalvertretung öffentlich auf das revolutionäre Wahlrecht von 1849 festlegte und dafür den Rückhalt des preußischen Monarchen fand. Dahinter gab es keinen Weg zurück. In den Wahlrechtsdebatten des Konstituierenden Reichstags und des Norddeutschen Reichstags wurde das allgemeine Wahlrecht nur noch von vereinzelten Rednern bekämpft. Während der Beratungen über den das Wahlrecht betreffenden Verfassungsartikel am 28. März 1867 ging es vor allem darum, durch weitere rechtsstaatliche Garantien - Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinsrecht, Diäten die befürchteten reaktionären Auswirkungen eines "cäsaristisch" verwendeten Wahlrechts zu mindern. 45 Auf Seiten der Konservativen sprach vor allem Hermann Wagener für das neue Wahlrecht, indem er seine skeptischen Fraktionskollegen durch den Verweis auf die konservativen, gegen den Parlamentarismus gerichteten Intentionen des Entwurfs zu gewinnen versuchte. Das Mißtrauen der Liberalen wurde zudem dadurch bestärkt, daß im Verfassungsentwurf der verbündeten RegieVgl. Saile (wie Anm. 31), S. 94-96. Für die Debatte über Art. 21 der Reichsverfassung am 28. März 1867 vgl. Stenographisehe Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, 1867/1, S. 414 - 437; dazu Gagel (wie Anm. 21), S. 51 - 59; Pollmann (wie Anm. 6), S. 223 - 231. 44 45

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rungen lediglich von allgemeinem und direktem Wahlrecht die Rede war, während Hinweise auf ein geheimes Wahlverfahren fehlten. 46 Eine solche Bestimmung wurde bekanntlich erst auf Antrag des Abgeordneten Hugo Fries nachträglich eingefügt. In ähnlicher Weise wurde auch das passive Wahlrecht für Beamte erst durch nachträglichen Druck der Liberalen gesichert. Analysiert man die Reden der Liberalen, so fällt ins Auge, daß die Befürwortung des allgemeinen Wahlrechts vor allem mit nationalen Argumenten begründet wurde, während gleichzeitig auf die zahlreichen mit diesem Wahlmodus verbundenen Gefahren hingewiesen wurde. Insgesamt waren die Redebeiträge der Liberalen durch eine eigentümliche Ambivalenz bestimmt, bei der eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem allgemeinen Wahlrecht mit der Zustimmung im konkreten Fall verbunden war. Offen gegen das Wahlrecht plädierte lediglich der konservativ tendierende Nationalliberale Heinrich von Sybel. Dieselbe Konstellation wiederholte sich während der parlamentarischen Beratungen über den Regierungsentwurf zur Durchführung des Artikels 21 der Verfassung, die sich von März bis Mai 1869 hinzogen. 47 Auch dort wurde das Prinzip des allgemeinen Wahlrechts nicht mehr in Frage gestellt. Allerdings wurden verschiedene einschränkende Bestimmungen eingefügt, so etwa der Ausschluß des Militärs vom aktiven Wahlrecht. Die einhellige Zurückweisung des Antrags von August Bebei, das aktive Wahlrecht auch an diejenigen zu verleihen, die öffentliche Armenunterstützung bezogen, machte bereits Konfliktlinien sichtbar, die erst Jahre später zum offenen Austrag kamen. Waren es schon im Reichstag vor allem altpreußische, der Fortschrittspartei entstammende Liberale, die ihre Skepsis gegenüber dem demokratischen Wahlrecht zum Ausdruck brachten, so zeigte sich dieses Mißtrauen im Preußischen Abgeordnetenhaus noch deutlicher. Die zweite Kammer hatte sich zweimal, nämlich bei der Beratung über das Wahlgesetz für den Konstituierenden Reichstag am 11. und 12. September 186648 sowie bei der Beratung der Norddeutschen Verfassung vom 6. - 8. Mai 1867, mit dem demokratischen Wahlrecht auseinanderzusetzen. 49 Auf Seiten der Konservativen traten neben Karl Strosser erneut vor allem Wagener und der Vorsitzende der konservativen Fraktion, der Bismarck-Vertraute Moritz von Blanckenburg, mit den bekannten Argumenten für das neue Wahlrecht ein. Die 46 Für die Liberalen sprachen vor allem Grumbrecht, Planck, Schulze-Delitzsch und Weber. 47 Für die Debatte über Wahlgesetz des Norddeutschen Bundes am 13. März, 19. März und 21. Mai 1869, vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, 1869/I, S 40-48,156-179, u. 1869/I1, S. 968 -972; dazu Pollmann (wie Anm. 6), S. 320 - 335. 48 Für die Debatte über das preußische Wahlgesetz zum Konstituierenden Reichstag vom 12. September 1866 vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses 1866/67 (9. Legislaturperiode), Bd. I, S. 277 - 340; dazu Gagel (wie Anm. 21), S. 42-45; Pollmann (wie Anm. 6), S. 80- 86. 49 Für die Debatte über die Artikel 21 der Norddeutschen Bundesverfassung vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses 1867 (9. Legislaturperiode), S. 24-110; dazu Gagel (wie Anm. 21), S. 60.

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Bedenken der Fortschrittspartei richteten sich nunmehr nicht allein gegen die plebiszitären Momente, sondern vor allem auch gegen die befürchtete Konkurrenz eines womöglich reaktionär zusammengesetzten Reichstags. Insbesondere der Berichterstatter Twesten sowie Waldeck, beide ausgesprochen "preußisch" denkende Liberale, wiesen auf die Gefahr hin, daß das demokratisch weniger legitimierte Abgeordnetenhaus durch den Reichstag entmachtet werden könne. Sie traten deshalb für die Beschränkung der Kompetenz des Konstituierenden Reichstags von einer vereinbarenden auf eine lediglich beratende Versammlung ein. Bei aller Berechtigung ihres Arguments zeigt sich hier auch die Wirksamkeit eines annexionistischen preußischen Nationalismus, der den Mittelpunkt der deutschen Nation im Preußischen Abgeordnetenhaus sah. 50 Die Mehrheit für das allgemeine Wahlrecht wurde vor allem von denjenigen Liberalen garantiert, die sich bereits im Nationalverein auf gesamtdeutschen Terrain engagiert hatten. Für sie stand der langjährige informelle Parteichef der Fortschrittspartei, Hans-Viktor von Unruh, der im Herbst 1866 das Signal zur Konstituierung der Nationalliberalen Partei gab. Damit wurde eine Zusammenarbeit mit den neupreußischen Liberalen sowie den auf Beitritt orientierten Liberalen des südlichen Deutschlands erheblich erleichtert. Es waren vor allem diese "nationalpolitischen" Gründe, die zur Spaltung der Fortschrittspartei führte. 51 6. Nachdem die Nationalliberalen die Festlegung auf ein geheimes Wahlverfahren nachträglich durchgesetzt hatten, bestimmte die im April 1867 verabschiedete Verfassung des Norddeutschen Bundes, daß der Reichstag "aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abstimmung" hervorzugehen habe. Die Einzelheiten wurden in einem Reichswahlgesetz geregelt, das am 31. Mai 1869 vom Norddeutschen Reichstag verabschiedet wurde und durch Beschluß des Reichstags im April 1871 auch für das Kaiserreich Gültigkeit erlangte. 52 In ihrem Aufruf für die Wahlen zum Norddeutschen Reichstag vom Juni 1867 konnte die Nationalliberale Partei mit Recht behaupten: "Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht ist unter unserer Mitwirkung zur Grundlage des öffentlichen Lebens gemacht". Zwar setzte schon im Norddeutschen Reichstag bei Teilen der Liberalen eine heftige Kritik ein, die sich angesichts der Wahlerfolge zunächst des Zentrums und dann der Sozialdemokratie weiter verschärfte. Dennoch gelang es der wachsenden Zahl konservativer und liberaler Gegner des demokratischen Wahlrechts nicht, ein durch ständische oder Zensusbestimmungen beschränktes Wahlrecht an seine Stelle zu setzen. Denn damit wäre die Axt an die Wurzeln des jungen Nationalstaats gelegt worden. Treffend hieß es im Politischen Handbuch der Nationalliberalen von

50 Zur Rivalität zwischen der preußischen und der deutschen Nationalversammlung 1848 vgl. jetzt Hachtmann, Rüdiger, Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Bonn 1997, S. 671-686. 51 Vgl. Biefang, Fortschrittspartei (wie Anm. 25); ferner das Urteil Pollmanns (wie Anm. 6), S. 50. 52 Für den Wortlaut der Rechtstexte vgl. Huber, Bd. 2 (wie Anm. 37), Nr. 198,209 u. 261.

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1907: "Das Reich ist mit ihm [dem Wahlrecht] durch den Fürsten Bismarck im Zusammenwirken mit den nationalen und liberalen Kreisen der Nation gegründet worden und unlöslich mit ihm verbunden. ,,53 Die ungeachtet aller inneren Konfliktlinien verhältnismäßig rasche "Nationalisierung" des Kaiserreichs wäre ohne das revolutionäre Wahlrecht kaum denkbar gewesen. 54 War das demokratische Wahlrecht also auf nationaler Ebene notwendig, um dem neuen Staatswesen Legitimität nach innen sowie gegenüber den europäischen Großmächten zu sichern, so lagen die Verhältnisse in Preußen anders. Hier gewannen sehr schnell die antiegalitären Reflexe der Konservativen und der Nationalliberalen die Oberhand. Zwar hatten im Oktober 1867 sowohl die Nationalliberalen als auch die geschwächte Fortschrittspartei sich für das allgemeine Wahlrecht auch zum Preußischen Abgeordnetenhaus ausgesprochen 55 , aber die Debatte schlief nach den Abgeordnetenhauswahlen vom Oktober 1867 gleich wieder ein, zumal sich keine signifikanten Unterschiede in der Zusammensetzung der nach verschiedenen Wahlrechten beschickten preußischen und norddeutschen Parlamente ergaben. Sie wurde lediglich Anfang 1869 von der Fortschrittspartei nochmals mit geringem Engagement aufgegriffen, ohne zu Ergebnissen zu gelangen. 56 Bis zum Ende des Kaiserreichs blieben alle weiteren sozialdemokratischen und linksliberalen Versuche erfolglos, das preußische Dreiklassenwahlrecht durch ein demokratisches Verfahren zu ersetzen. Hier widersetzte sich ein zumindest in dieser Frage festgefügter "schwarz-blauer Block" aus Konservativen und Zentrum, der - zumeist mit nationalliberaler Unterstützung - aus jeweils unterschiedlichen Gründen an dem überkommenen Wahlrecht festhielt. 57 53 Für die Zitate vgl. Programmatische Kundgebungen der Nationalliberalen Partei 18661909, Berlin 1909, S. 10; Handbuch der Nationalliberalen Partei (wie Anm. 3), S. 901. 54 Vgl. die Fallstudien von Steinbach, Peter, Die Politisierung der Region. Reichs- und Landtagswahlen im Fürstentum Lippe 1866-1881, 2 Bde., Passau 1989 sowie Weichlein, Siegfried, Sachsen zwischen Landesbewußtsein und Nationsbildung 1866 - 1871, in: Simone Lässig/Karl Heinrich Pohl (Hrsg.), Sachsen im Kaiserreich. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch, Weimar/Köln/Wien 1997, S. 241-270. Theodor Schieder hat mit der Formel vom "unvollendeten" Nationalstaat darauf hingewiesen, daß durch die Gründung des Kaiserreichs der Prozeß der Nationsbildung nicht abgeschlossen, sondern lediglich auf eine neue Ebene gehoben worden ist. Damit hat er zahlreiche weiterführende Forschungen angeregt. Vgl. ders., Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Köln/Opladen 1961. Allerdings impliziert die Rede vom "unvollendeten" Nationalstaat notwendig den Gegenbegriff des "vollendeten" Nationalstaats. Die mehr international vergleichend ausgerichtete Forschung hat inzwischen das Bewußtsein dafür geschärft, daß auch die ,,klassischen" Nationalstaaten wie Frankreich und Großbritannien keineswegs "vollendet" waren, sondern stets - und bis in die Gegenwart - mit größeren Bevölkerungsgruppen zu tun hatten, die sich einer vollständigen Integration in den jeweils unterschiedlich definierten Nationalstaat widersetzen. Ein "vollendeter" Nationalstaat ist im Grunde nur als totalitärer Staat denkbar. 55 Vgl. Parisius (wie Anm. 26), S. 110; Programmatische Kundgebungen (wie Anm. 53), S. 17. Vgl. Pollmann (wie Anm. 6), S. 314- 317. 56 Vgl. Gagel (wie Anm. 21), S. 62f.

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Bei der Betrachtung der Genese des demokratischen Wahlrechts des Kaiserreichs sind somit zwei Dinge gegenüber dem bisherigen Forschungsstand deutlicher zu akzentuieren: Erstens gilt es, sorgfältiger zwischen "preußischen" und "deutschen" Debatten über das allgemeine Wahlrecht zu unterscheiden. Es konnte gezeigt werden, daß sowohl verschiedene Politiker der Fortschrittspartei, aber auch Bismarck oder Wagener im jeweiligen Zusammenhang unterschiedliche, zum Teil sogar entgegengesetzte Auffassungen vertraten. Während in Preußen die Frage der Entmachtung der liberalen Opposition die Debatte bestimmte, ging es im nationalen Rahmen vor allem um die Durchsetzung und Legitimierung einer nationalstaatlichen Ordnung. Zweitens muß das Wechselverhältnis von gouvernementalen und gesellschaftlichen Akteuren stärker berücksichtigt werden. Gegenüber solchen Interpretationen, die die gegen die liberale Bewegung (vor allem in Preußen) gerichteten Aspekte in den Vordergrund stellen, gilt es, den Anteil der nationalen Verfassungsbewegung nicht nur am gesamten Prozeß der Nationalstaatsgründung, sondern auch am Zustandekommen der Wahlgesetze stärker zu gewichten. Daß ein demokratisch gewähltes Parlament zu den notwendigen Voraussetzungen der Konsolidierung des Nationalstaats zählte, war auch den meisten Liberalen geläufig. Sie waren durchaus in der Lage, ihre Argumente nach wechselnden strategischen Bedürfnissen zu wählen. Dieser Umstand wurde von der Forschung häufig schon methodisch ignoriert, wenn sie Äußerungen von Liberalen, sei es aus Briefen, Zeitungsartikeln, Parlamentsreden oder Broschüren, ohne Berücksichtigung der jeweiligen historischen Umstände als gleichwertig nebeneinander gestellt hat, ganz so, als ob die mehrheitlich protestantisch geprägten Liberalen mit lutherischer Wahrhaftigkeit stets gesagt hätten, was sie tatsächlich dachten. Künftig wird es verstärkt darum gehen, die neueren Forschungen zu Nationalismus, Bürgertum und Liberalismus mit der weit vorangeschrittenen Bismarck-Forschung in Bezug zu setzen. 58 Letztere hat überzeugend nachgewiesen, daß Bismarck stets bemüht war, die Festlegung auf eine einzige politische Option zu vermeiden. Das gilt auch für die verschiedenen Denkmodelle über Bundesreform und Nationalstaatsgründung. Wenn der preußische Ministerpräsident unter mehreren Optionen gleichwohl die ,,Revolution von oben" favorisierte, so nicht zuletzt deshalb, weil diese Option dem von Bismarck selbst oft beschworenen "Strom der Geschichte" am besten entsprach. Will man die Entstehung des demokratischen Wahlrechts des Kaiserreichs zusammenfassend bewerten, so läßt sich feststellen, daß das Kaiserreich diesen Teil seiner Modernität einer politischen Konstellation verdankte, in der die verfassungprägenden Akteure aus situationsbezogenen Motiven für die Einführung des demo57 Vgl. dazu Kühne (wie Anm. 32), S. 529 - 568; Patemann, Reinhard, Der Kampf um die preußische Wahlreform im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1964. 58 Nur unzureichend gelungen ist dies bei der im übrigen verdienstvollen Arbeit von Kaernbach (wie Anm. 36). Sein pointiertes Urteil, der Liberalismus habe für das Handeln Bismarcks "nur geringe politische Bedeutung" besessen, ist mehr eine Behauptung als das Resultat einer systematischen Prüfung (vgl. bes. S. 133 -136,142,187 -191, 222f.).

Modernität wider Willen

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kratischen Wahlrechts plädierten, obwohl sie aufgrund ihrer weltanschaulichen oder theoretischen Position eine wesentlich restriktivere Ausgestaltung des Wahlrechts vorgezogen hätten. Insofern erscheint es berechtigt, von der "ungewollten Modernität" des Kaiserreichs zu sprechen.

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Politische Repräsentation durch Berufsstände Konzepte und Realität in Deutschland 1871 - 1933

Gerhard A. Ritter

Seit der Entstehung moderner Parlamente am Beginn des 19. Jahrhunderts erstreckte sich breite Kritik nicht nur auf den Parlamentarismus als Verfassungsprinzip, sondern auch auf die von einer ungegliederten Wählerschaft gewählten Parlamente, die als angemessene Institutionen zur Repräsentation der Bevölkerung und geeignete Instrumente der Gesetzgebung und der Festsetzung des Staatshaushalts in Zweifel gezogen wurden. Wahrend der Anti-Parlamentarismus seit langem als typisches Kennzeichen des politischen Denkens und der politischen Praxis in Deutschland bekannt ist, wurden alternative Konzepte zu den bestehenden Formen parlamentarischer Vertretung bisher kaum systematisch untersuchtl. Die wohl wichtigsten dieser Vorstellungen und konkreten Vorschläge beruhten auf Versuchen, die berufsständische Gliederung der Bevölkerung zur Grundlage ihrer politischen Org~nisation und zur Vermittlung zwischen Gesellschaft und Staat vor allem bei der Gesetzgebung zu machen. Der vorliegende Beitrag untersucht das Aufkommen solcher berufsständischer Ideen, die in vielen Bereichen von Gesellschaft und Wirtschaft wirksam waren und sind, und deren spezielle Bedeutung für das Wahlrecht und den Charakter parlamentarischer Repräsentation im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. I.

Im Unterschied zum älteren Ständewesen mit der traditionellen Vorstellung einer im wesentlichen statischen Gesellschaft von Adel, Geistlichkeit, Bürgern und Bauern gehen die in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommenden neuen berufsständischen Ideen vom grundlegenden Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft durch die Auflösung der feudalen Ordnung, die Gewerbefreiheit und die Industria1 Die Studie von Herrfahrdt, Heinrich, Das Problem der berufs ständischen Vertretung von der französischen Revolution bis zur Gegenwart, Stuttgart I Berlin 1921 geht nur auf einige Aspekte des Themas ein und ist durch eine parlaments- und parteienkritische Haltung und eine von der Theorie der konstitutionellen Monarchie herrührende vordemokratische Auffassung von einer überparteilichen Staatsgewalt, die nicht dem bloßen Stimmzettel-Parlamentarismus ausgeliefert werden dürfe, gekennzeichnet.

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lisierung aus und versuchen, der neuen Vielfalt der Gesellschaft und den in ihr vorhandenen Interessen gerecht zu werden. Wenn es auch später im Kaiserreich erfolgreiche Beispiele für die Integration berufs ständischer Komponenten in die bestehenden Parteien gibt, so sind diese doch zunächst überwiegend gegen die politischen Parteien und deren Dominanz im Parlament gerichtet und betonen im Gegensatz zur Vorstellung einer aus dem Parlament hervorgehenden parlamentarischen Regierung die zentrale Funktion des monarchischen Staates und seiner Beamtenschaft beim Ausgleich divergierender ökonomischer und sozialer Interessen. Ein früher Vertreter solcher berufsständischer Ideen war der katholische Sozialphilosoph Franz Xaver von Baader, der zur ,,Einbürgerung des Proletariats" in die Gesellschaft 1835 für besondere Arbeitervertretungen eintrat, die, von Priestern als ihren Anwälten unterstützt, in den Ständeversammlungen Bitten und Beschwerden vortragen, aber nicht abstimmen sollten2 • Schon vorher hatte Hegel mit deutlicher Wendung gegen die Parteien 1821 in seinen "Grundlinien der Philosophie des Rechts" die Auffassung vertreten, daß die Abgeordneten mit den speziellen Bedürfnissen und Interessen der einzelnen Stände, Berufe und Gewerbezweige vertraut sein und diesen angehören sollten. Er sah dies aber durch die Zufälligkeit des Wählens "durch die vielen Einzelnen" nicht gewährleistet3 • In der politischen Praxis hatten berufsständische Ideen bei der Schaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts, der detaillierte Untersuchungen zur Sozialstruktur Preußens vorangegangen waren, eine Rolle gespielt4 • Das Grundproblem jeder berufs ständischen Repräsentation, eine der Vielfalt der Interessen und Berufe gerecht werdende Abgrenzung von Einzelwahlkörpern zu definieren, ließ sich jedoch nicht lösen, so daß schließlich statt der Qualität des Besitzes und der Berufe die Quantität des Besitzes und die daraus resultierende Steuerleistung zum Kriterium der Einteilung der Wähler in drei Klassen gemacht wurde. In der Zeit zwischen der Revolution von 1848/49 und der ReichsgTÜndung wurden die ersten voll ausgebauten Konzepte einer sogenannten "organischen" berufs ständischen Volksvertretung etwa von Karl Levita und H. M. Chalybäus vorgelegt5 . In der praktischen Politik setzten sich aber seit den I 860er Jahren die vor allem an politischen Grundideen und Verfassungsvorstellungen orientierten politischen Parteien und die Tendenzen zur Demokratisierung des Wahlrechts immer mehr durch. Allerdings gab es im Wahlrecht und den parlamentarischen Vertretungen einiger deutscher Staaten eine Mischung neuer berufs ständischer und älterer ständischer Elemente, die besonders in den in der Forschung bisher zu Unrecht vernachlässig2 Baader, Franz Xaver von, Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen, Schrift von 1835, wiederabgedruckt in: ders., Gesellschaftslehre, München 1957, S. 235 - 250, bes. 241 f. 3 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). Mit den von Gans redigierten Zusätzen aus lfegels Vorlesungen, Leipzig 1911, § 311. 4 Grünthal, Günther, Das preußische Dreiklassenwahlrecht. Ein Beitrag zur Genesis und Funktion des Wahlrechtsoktrois vom Mai 1849, in: HZ 226 (1978), S. 17 - 66. 5 Vgl. Herrfahrdt, Heinrich, (wie Anm. 1), S. 45 -49.

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ten Ersten Kammern der Landtage verankert waren6 . Dagegen wurde unter dem Einfluß Bismarcks, der nicht zuletzt aus politisch-taktischen Motiven handelte 7 , bei der Wahl zum Konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes 1867 das allgemeine, gleiche, geheime, direkte Männerwahlrecht eingeführt, das in die Verfassung des Kaiserreichs übernommen wurde. Es bewirkte eine politische Mobilisierung der Massen der Bevölkerung, die Entstehung eines "politischen Massenmarktes"g und die langsame Umwandlung der Parteien von Honoratiorenzu Massenparteien mit einem sich allerdings nur allmählich herausbildenden Apparat hauptamtlicher Funktionäre9 • Da diese Mobilisierung der Wähler, insbesondere bei den Katholiken, in der Arbeiterschaft und bei nationalen Minderheiten mit dem Aufkommen scharf oppositioneller Parteien verbunden war, hat sie die Bildung parlamentarischer Mehrheiten für die Regierungspolitik erschwert und den Handlungsspielraum der Regierung eingeengt. Das Vordringen berufsständischer Ideen bei den alten politischen Eliten und den Spitzen der Regierung hängt mit dieser politischen Grundkonstellation, noch entscheidender aber mit der von Bismarck in deutlicher Wendung gegen den politischen und wirtschaftlichen Liberalismus seit dem Ende der 1870er Jahre eingeleiteten Übergang zum Interventions- und Sozialstaat zusammen 10. Die Überwindung der konjunkturellen Krise seit 1873, die Stärkung der Finanzen des Reiches durch die neu eingeführten Schutzzölle, aber auch die Veränderung der parteipolitischen Landschaft und des Charakters der parlamentarischen Repräsentation waren die wesentlichen Motive für diese sogenannte "zweite Reichsgründung"ll. Bismarck wollte sich von der Abhängigkeit vom linken Flügel der Nationalliberalen Partei befreien, das katholische Zentrum unter langsamem Abbau der Kulturkampfgesetze an die Regierung heranführen, die Konservativen stärken, die Links6 Vgl. dazu aber neben den älteren Arbeiten von Rheinbaben, Georg-Wilhelm von, Die Erste Kammer in Baden 1818 - 1918, Freiburg i.Br. 1949 und Ostadel, Hubert, Die Kammer der Reichsräte in Bayern von 1819 bis 1848. Ein Beitrag zur Geschichte des Frühparlamentarismus, München 1968, neuerdings die wichtigen Studien von Löffler, Bernhard, Die bayerische Kammer der Reichsräte 1848 - 1918. Grundlagen, Zusammensetzung, Politik, München 1996 und Spenkuch, Hartwin, Das preußische Herrenhaus 1854 - 1918. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages, Düsseldorf 1998. 7 V gl. dazu Ritter, Gerhard A. unter Mitarbeit von Niehuss, Merith, Wahl geschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871-1918, München 1980, S. 26. 8 Rosenberg, Hans, Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschafts ablauf, Gesellschaft und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967, S. 123. 9 Vgl. Nipperdey, Thomas, Die Organisation der deutschen Parteien vor 1918, Düsseldorf 1966. 10 V gl. Ritter, Gerhard A., Der Übergang zum Interventions- und Wohlfahrtsstaat und dessen Auswirkungen auf Parteien und Parlamente im deutschen Kaiserreich, in: Treue, Wilhelm (Hrsg.), Geschichte als Aufgabe. Festgabe für Otto Büsch zu seinem 60. Geburtstag, Berlin 1988, S. 437 -459. 11 Böhme, Helmut, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848 - 1881, Köln / Berlin 1966 spricht sogar von einer "Neugründung des Reiches" (S. 566).

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liberalen politisch isolieren und die Parteien insgesamt von politisch-verfassungsrechtlichen Fragen auf die wirtschaftlich-soziale Interessenvertretung abdrängen. So teilte er in einem "vertraulichen" Runderlaß vom 13. März 1879 den preußischen Gesandten an den Höfen der deutschen Staaten im Zusammenhang mit seinen Plänen zur Änderung der Wirtschaftspolitik mit, daß "der Schutz der materiellen Interessen im Parlament mehr in den Vordergrund" treten solle und daß er seine Vorstellungen notfalls auch durch Auflösung des Reichstages, in dem "zuviel Gelehrte, Rhetoren und negative Kritiker", aber zuwenig Personen mit unmittelbarer Verbindung zum praktischen Leben säßen, durchsetzen würde 12. Auch später ist Bismarck immer wieder, so in einer Reichstagsrede vom 15.3. 1884, auf das nach seiner Meinung notwendige Verschwinden oder doch wenigstens die grundlegende Umwandlung der politischen Parteien zurückgekommen. Deren Gruppierung "nach hoher Politik und politischen Programmen" habe sich überlebt: ,,sie werden allmählich, wenn sie es nicht freiwillig tun, gedrängt werden, daß sie Stellung nehmen zu den wirtschaftlichen Fragen und mehr als bisher Interessenpolitik treiben. Es liegt das im Geist der Zeit, der stärker ist, als sie sein werden ... die Parteien werden in der Politik wie Eis und Schnee verschwinden und schmelzen. Sie werden genötigt sein, sich nach neuen Programmen auf wirtschaftlichem Gebiet umzusehen, und ich zweifle nicht, daß auch auf wirtschaftlichem Gebiete die Wahl er, die das gleiche Interesse haben, sich zusammenfinden und es als nützlich einsehen werden, daß sie sich vorzugsweise durch Leute aus ihrer Mitte vertreten lassen, daß sie sich von dem Glauben losmachen werden, daß der beste Redner auch der geschickteste und loyalste Vertreter ihrer Interessen sei" 13 . Bismarcks Rechnung ist allerdings nur teilweise aufgegangen; zwar gelang es ihm, die tendenzielle Umformung der Parteien von Weltanschauungsparteien zu Interessenparteien zu fördern, die Entstehung politisch mächtiger Interessensverbände zu initiieren und die Parteienlandschaft zu verändern. So wurde die Nationalliberale Partei durch die Abspaltung ihres linken Flügels geschwächt und der Rest der Partei fest an die Regierung gebunden; die konservativen Parteien wurden, wenn auch nur zeitweise, gestärkt; das Zentrum, das eine Schlüsselfunktion für die Verabschiedung sozial- und wirtschaftspolitischer Gesetze erhielt, war jedoch weder zu spalten noch zu domestizieren; die Sozialdemokratie entwickelte sich - trotz ihrer scharfen Repression durch das Sozialistengesetz von 1878 und der Versuche zur Trennung der Arbeiterschaft von ihren Führern mit Hilfe der Sozialgesetzgebung der 1880er Jahre - bereits vor Bismarcks Sturz 1890 zur Mas12 Abgedruckt in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, I. Abteilung: Von der Reichsgründungszeit bis zur Kaiserlichen Botschaft (18671881), 1. Bd.: Grundfragen staatlicher Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite vom preußischen Verfassungskonflikt bis zur Reichstagswahl von 1881, bearb. von Tennstedt, Florian/Winter, Heidi unter Mitarbeit von Ayass, Wolfgang/Nickel, Karl-Heinz, Stuttgartl Jena/New York 1994, S. 567 - 570. l3 Abdruck der Rede in: Bismarck. Die gesammelten Werke, Reden, bearb. von Schüßler, Wilhelm, Bd. 12: 1878 bis 1885, Berlin 1929, S. 416-429, Zitat 424f.

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senbewegung 14; die Linksliberalen wurden nach ihrer Vereinigung mit dem linken Flügel der Nationalliberalen Anfang 1884 vorübergehend zur stärksten Partei des Reichstages und zur möglichen parlamentarischen Basis einer gegen Bismarck gerichteten liberalen Politik des Kronprinzen nach dem von vielen erwarteten baldigen Tod des über 85jährigen greisen Kaisers. Insgesamt wurde die parlamentarische Mehrheitsbildung nicht erleichtert, sondern erschwert.

In dieser Situation der tiefen Unzufriedenheit mit dem bestehenden Parteiensystem und der massiven Widerstände gegen seine Politik im Reichstag hat Bismarck im Herbst 1880 das Projekt eines durch königliche Verordnung 15 und nicht durch die Gesetzgebung geschaffenen preußischen - als Vorstufe eines deutschen Volkswirtschaftsrates lanciert. Er bestand aus je 25 Mitgliedern der Sektionen Handel, Gewerbe sowie Land- und Forstwirtschaft. Von diesen wurden je 15 vom König auf Ratschlag der zuständigen Minister nach Präsentationswahlen der Handelskammern, kaufmännischen Korporationen und landwirtschaftlichen Vereine aus einer doppelt so großen Zahl von Kandidaten, über deren gesellschaftliche und politische Stellung die Oberpräsidenten der preußischen Provinzen ausführliche Informationen vorlegten 16 , berufen; die restlichen 30 Mitglieder wurden direkt ernannt. Sie sollten zur Vertretung der Provinzen, die keine entsprechenden Organe für die Präsentationswahlen hatten, vor allem aber zur Berücksichtigung von Kleinhandel, Kleinindustrie, Handwerk und Arbeiterschaft dienen 17. Eine Ausdehnung auf das Reich durch die Ernennung weiterer 50 Personen durch die Regierungen der Einzelstaaten war vorgesehen. Die offizielle Aufgabe dieser berufsständischen Vertretung, die aus sich heraus einen permanenten Ausschuß von 25 Personen wählte 18 , war die sachverständige Beratung der Regierung in der wirtschaftsund sozialpolitischen Gesetzgebung. Die Notwendigkeit der Institution wurde mit dem mangelnden Sachverstand der Behörden auf Grund der einseitigen theore14 Vgl. Ritter, Gerhard A., Die Sozialdemokratie und die Reichstagswahlen 1877 - 1890. Der Durchbruch der Partei zur Massenbewegung in der Zeit des Sozialistengesetzes, in: Rudolph, Karsten/Wickert, Christi (Hrsg.), Geschichte als Möglichkeit. Über die Chancen von Demokratie. Festschrift für Helga Grebing, Essen 1995, S. 120 - 146. 15 Königliche Verordnung betr. die Errichtung eines Volkswirtschaftsrats in Preußen vom 17. November 1880, in: Gesetzsammlung für die Königlich Preussischen Staaten 1880, Nr. 35, S. 367 - 372. Zum Volkswirtschaftsrat vgl. neben Herrfahrdt, Heinrich, (wie Anm. I); weiter: Curtius, Julius, Bismarcks Plan eines deutschen Volkswirtschaftsrats, Heidelberg 1919; Marzisch, Kurt, Die Vertretung der Berufsstände als Problem der Bismarckschen Politik, Marburg 1934. 16 Vgl. Marzisch, Kurt, (wie Anm. 15), S. 17. 17 Vgl. Entwurf einer Verordnung über die Errichtung eines Volkswirtschaftsrates mit Begründungsschreiben Bismarcks vom 15. 10. 1880, in: Kohl, Horst (Hrsg.), Die politischen Reden des Fürsten von Bismarck. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 8: 1879 -1881, ND der Ausgabe 1893, Aalen 1970, S. 197 - 206. 18 Protokolle des Volkswirthschaftsraths, Session 1881, Berlin 1881, S. 5 -9. Je fünf Mitglieder des Ausschusses wurden von den drei Sektionen durch Akklamation gewählt; weitere zehn Mitglieder wurden von den zuständigen preußischen Ministern benannt.

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tischen Ausbildung der Beamten, der ungenügenden Kompetenz der Parlamentarier in diesen Fragen und dem Wunsch, den Sachverstand der im aktiven Wirtschaftsleben stehenden Personen zu mobilisieren, begründet 19 . Politische Nebenabsichten hat Bismarck bestritten2o • Tatsächlich spielten diese aber eine entscheidende Rolle und haben mittelfristig das Scheitern des Projektes bewirkt. Zunächst lehnte der Reichstag die Bewilligung von Tagegeldern und Fahrtkosten für die Mitglieder des vorgesehenen Deutschen Volkswirtschaftsrates am 10. Juli 1881 und erneut am l. Dezember 1881 mit klaren Mehrheiten ab 21 . Sehr scharf betonte dabei vor allem der Zentrums führer Windthorst und der führende Linksliberale Eugen Richter22 die Verletzung der bestehenden bundesstaatlichen Struktur des Reiches. Zweifellos hätte ein wirtschaftlicher Reichsrat, in dem Preußen über 3/5 der Stimmen verfügen sollte, während es im Bundesrat nur 17 von 58 Stimmen besaß, eine Unitarisierung der Reichsverfassung und einen Machtverlust des Bundesrates als der wichtigsten föderalistischen Institution bewirkt. Entscheidender war aber wohl die Furcht, daß ein Deutscher Volkswirtschaftsrat die Tatigkeit des Reichstages auf wirtschafts- und sozialpolitischem Gebiet austrocknen würde und zu einem Nebenparlament, wenn nicht sogar nach einem Staatsstreich von oben, mit dem Bismarck in den I 880er Jahren immer wieder drohte 23 , zu einem Ersatzparlament werden könne. Nachdem die Ausdehnung des preußischen Volkswirtschaftrates auf das Reich gescheitert war, besaß dieser seine eigentliche Legitimation nicht mehr. Es war kaum einzusehen, wieso eine preußische Institution in der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung, die in die Kompetenzen des Reiches fiel, eine wesentliche Rolle spielen sollte. Der preußische Volkswirtschaftsrat hat nach seiner Eröffnung am 27. Januar 1881 nur wenige Sessionen abgehalten, in denen er vor allem die ersten Sozialversicherungsgesetze, aber auch ein Gesetz zur Neugestaltung des Innungswesens und weitere Gesetzesvorlagen zur Wirtschaftspolitik beriet. Dabei wurde die für Bismarcks sozial- und finanzpolitische Ziele zentrale Vorlage zur Einführung eines Tabakmonopols des Reiches, die später auch im Reichstag scheiterte, abgelehnt24 • Wahrscheinlich ist bereits damit das Interesse Bismarcks an dieser neuen Institution, deren Etat zudem am 7.3. 1883 vom preußischen AbgeordnetenRede Bismarcks bei der Eröffnung des Volkswirtschaftsrats am 27. I. 1881, ebd., S. 1-3. Vgl. seine Rede im Reichstag am I. 2. 1881, in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, V. Legislaturperiode, I. Session, Bd. 1, S. 131-133. 21 Am 10. 6. 1881 stimmten 153 gegen und 102 Abgeordnete für den beantragten Nachtragshaushalt (ebd., IV, IV, Bd. 2, S. 1609ff.). Am I. 12. 1881 wurde der Etat für den Volkswirtschaftsrat mit 169 gegen 83 Stimmen abgelehnt (ebd., V, I, Bd. I, S. 144ff.). 22 Reden Windthorsts am 24. 5. 1881 (ebd., IV, IV, Bd. 2, S. 1286-1288) und Richters am 10.6. 1881 (ebd., S. 1603 -1607). 23 Vgl. Stürmer, Michael, Staatsstreichgedanken im Bismarckreich, in: HZ 209 (1969), S. 566 - 615. 24 Marzisch, Kurt, (wie Anm. 15), S. 31. 19

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haus abgelehnt wurde25 , zurückgegangen. Die Entscheidung des Landtages verhinderte vor allem eine angemessene Teilnahme der neun Handwerksmeister und sechs Arbeiter des Rates, die durch das Wegfallen der vorgesehenen Tagegelder und schließlich auch der Freifahrscheine in ihrer Mehrzahl bereits 1884, zum Teil mit der ausdrücklichen Begründung des Geldmangels, den Sitzungen fernblieben. Damit war auch der Versuch, die Arbeiterschaft gleichsam von oben in das System des organisierten Interessenausgleichs zu integrieren, gescheitert26 und der Preußische Volkswirtschaftsrat trat nach der Beratung der "Grundzüge zur Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter" im Dezember 1887 nicht mehr zusammen. Eine der Schwächen der Idee einer berufsständischen Vertretung war im Kaiserreich das Fehlen eines entsprechenden Unterbaus in der Gesellschaft. Bismarck hat auf verschiedenen Wegen letztlich vergeblich versucht, diesen Mangel zu beheben. Eine entscheidende Rolle spielte dabei zunächst die Sozialversicherungsgesetzgebung. Nachdem der ursprüngliche Plan, die Unfallversicherung über eine Reichsversicherungsanstalt mit Zuschüssen des Reiches zu institutionalisieren, am Widerstand des Reichstags gescheitert war, übernahm Bismarck im Herbst 1881 vermutlich von dem früheren österreichischen Handelsminister, dem Nationalökonomen Professor Albert Schäffle, die Idee, die Unfallversicherung korporativ durch obligatorische Berufsgenossenschaften zu organisieren27 • Es ist nicht eindeutig zu bestimmen, seit wann Bismarck mit diesem Plan politische Neben- oder sogar Hauptabsichten verband. Schon am 31. Dezember 1881 lehnte er in einer Randbemerkung kommunale Versicherungsgesellschaften für Arbeiter, die aus verschiedenen Gründen nicht in die bestehenden Berufsgenossenschaften aufgenommen werden konnten, ab, da solches das berufsgenossenschaftliche Prinzip durchbreche und es 25 Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 2. November 1882 einberufenen beiden Häuser des Landtages, Haus der Abgeordneten, 2. Bd., S. 1237. 26 Abelshauser, Werner, Freiheitlicher Korporatismus im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, in: ders. (Hrsg.), Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat. Zum Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Industriegesellschaft, Stuttgart 1987, S. 147 -l70, bes. 155 f. 27 Teildruck eines von Schäffle am 10. 10. 1881 an Bismarck übersandten Artikels aus der Augsburger Allgemeinen Zeitung vom 7. und 8. 10. 1881 mit einem Plädoyer für eine körperschaftliche Gestaltung einer zwangs weisen Altersversicherung mit Randbemerkungen Bismarcks, in: Quellensammlung, 1. Abt., 2. Bd.: Von der Haftpflichtgesetzgebung bis zur Ersten Unfallversicherungsvorlage, bearb. von Tennstedt, Florian I Winter, Heidi unter Mitarbeit von Domeinski, Heinz; Brief Schäffles an Bismarck vom 10. 10. 1881 und Antwort Bismarcks vom 16. 10. 1881, in: Quellensammlung, II. Abt.: Von der Kaiserlichen Sozialbotschaft bis zu den Februarerlassen Wilhelms II. (1881-1890),2. Bd., 1. Teil: Von der Zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884, bearb. von Tennstedt, Florian I Winter, Heidi unter· Mitarbeit von Domeinski, Heinz I Roeder, Elmar, Stuttgartl Jena/New York 1993 und 1995, S. 670-677 bzw. 26, 31 f. Zu den Ideen SchäffIes und seine Zusammenarbeit mit Bismarck in Fragen der Sozialversicherung vom Oktober 1881 bis Januar 1882 vgl. weiter Schäffle, Dr. Albert Eberhard Friedrich, Aus meinem Leben, Bd. 2, Berlin 1905,S. 143-179.

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"politisch unverwendbar" mache 28 . Auch die 1882 erstmals vorgenommene umfassende statistische Erhebung über die berufliche und soziale Gliederung des deutschen Volkes, die von Bismarck forciert wurde 29 , und die parallele Gewerbestatistik hängen vermutlich nicht nur mit dem Wunsch, genauere Unterlagen für die geplante Sozialversicherung zu erhalten, sondern auch mit seinen weiterreichenden Plänen zur Schaffung von berufsständischen Vertretungen zusammen. Für die mit der Vorbereitung der Unfallversicherung befaßten Beamten wurden die politischen Motive, die Bismarck mit den Berufsgenossenschaften verband, jedoch offenbar erst im Herbst 1883 deutlich. Das zeigt sich in der berühmten Auseinandersetzung mit Theodor Lohmann, dem wichtigsten Mitarbeiter, aber auch Gegenspieler Bismarcks im preußischen Handelsministerium und später im Reichsamt des Innern bei der Sozialversicherungsgesetzgebung. Lohmann lehnte prinzipiell Zwangsgenossenschaften und auch die Finanzierung der Versicherung durch ein Umlageverfahren statt eines Kapitaldeckungsverfahrens ab, so daß es zum Bruch zwischen den beiden und zum Ausscheiden Lohmanns aus der Mitarbeit an den Versicherungsgesetzen bis zum Sturz Bismarcks kam. Bismarck erklärte bei diesem Anlaß: "Die Unfallversicherung an sich sei ihm Nebensache, die Hauptsache sei ihm, bei dieser Gelegenheit zu korporativen Genossenschaften zu gelangen, welche nach und nach für alle produktiven Volksklassen durchgeführt werden müßten, damit man eine Grundlage für eine künftige Volksvertretung gewinne, welche anstatt oder neben dem Reichstage ein wesentlich mitbestimmender Faktor der Gesetzgebung werde, wenn auch äußersten Falls durch die Mittel eines Staatsstreichs,,3o. Diese Idee, die Berufsgenossenschaften zu Trägem weiterer politischer Rechte, "gar zur Basis der Wahlen für den Reichstag" zu machen 31 , wurde auch von den anderen führenden Mitarbeitern in der Unfallversicherung registriert. Sie fand einen gewissen Niederschlag in einer unter dem Titel "Korporative Bestrebungen im deutschen Gewerbeleben" von der offiziellen Provinzialkorrespondenz veröffentlichten Artikelserie 32 und wird auch 28 Randbemerkungen Bismarcks zu einer Ausarbeitung des Legationsrates Edmund Freiherr von Heyking vom 31. 12. 1881. Heyking war seit Juli 1881 als Sekretär Bismarcks tätig, später im Auswärtigen Dienst. Zitat der Randbemerkungen in: Quellensammlung, 11. Abt., Bd.2. 1, S. 121. 29 Erlaß Bismarcks an Staatssekretär des Innern Karl Heinrich von Boetticher, 10. 10. 1881, in: ebd., S. 27 f. Vgl. weiter Ritter, Gerhard A., Social Welfare in Germany and Britain. Origins and Development, Leamington/New York 1986, S. 124f. 30 Brief Lohmanns an Ernst Wyneken vom 5. 10. 1881, abgedruckt in: Machtan, Lothar (Hrsg.), Mut zur Moral. Aus der Privatkorrespondenz des Gesellschaftsreformers Theodor Lohmann, Bd. 1 (1850 - 1883), Bremen 1995, S. 635 - 640, Zitat S. 636. 31 Notiz über eine Äußerung Bismarcks von Tonio Bödiker, einem der führenden Mitarbeiter bei der Entstehung der Dritten Unfallversicherungsvorlage und späteren ersten Präsidenten des Reichsversicherungsamtes, mitgeteilt in: ebd., S. 637. 32 Artikelserie der "Provinzialkorrespondenz" vom 17.,24. 10. und 14. 11. 1883, erwähnt in: Quellensammlung, II. Abt., Bd. 2. 1, S. 381. Der Verfasser war vermutlich Julius von Eckhardt, seit Frühsommer 1882 Redakteur der Provinzialkorrespondenz.

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in einem Bericht des bayerischen Gesandten in Berlin Lerchenfeld-Koefering vom 4. November 1883 erwähnt33 . Es ist kaum möglich, die Ernsthaftigkeit der Pläne Bismarcks und deren genauen Inhalt, der ihm wahrscheinlich selbst nicht klar war, zu bestimmen. Es scheint, daß der klerikal-konservative Kompromiß 34, der schließlich entgegen den Erwartungen Lohmanns als "Frucht des meisterhaften Schachspiels des Fürsten"35 Ende Juni 1884 zur Annahme der dritten Unfallversicherungsvorlage führte, den aktuellen Anlaß der Pläne beseitigte und sie von Bismarck jedenfalls bis zu seinem Sturz 1890 - danach finden sich immer wieder Andeutungen über die Wünschbarkeit eines berufsständischen Wahlrechts 36 - stillschweigend fallengelassen wurden. Ein allgemeines Gesetz über korporative Berufsgenossenschaften, wie es der Kathedersozialist Adolph Wagner, der im Reichstagswahlkampf 1881 massiv Bismarcks Forderung eines Tabakmonopols des Reiches vertrat, schon im Dezember 1881 vorschlug 37 , ist jedenfalls nie von der Regierung eingebracht worden. Auch der ursprüngliche Plan der Regierung, die Berufsgenossenschaften zum Träger der Invaliditäts- und Altersversicherung zu machen, wurde zugunsten der Organisation in bürokratischen Landesversicherungsanstalten aufgegeben, da er auf den massiven Widerstand des Centralverbandes Deutscher Industrieller stieß, der seinen AIleinvertretungsanspruch für die Industrie gefährdet sah38 .

11. Nach 1890 hat sich das System der Interessengruppen immer weiter differenziert, und der Einfluß der Verbände auf die Verwaltung, aber auch die Parteien und Parlamente wurde noch verstärkt. Das gilt insbesondere für die Organisationen einer in den 1890er Jahren aufkommenden agrarischen Massenbewegung, die die "bürgerlichen" Parteien zwang, agrarische Forderungen in viel stärkerem Maße als vorher zu berücksichtigen und Vertreter agrarischer Interessen als ihre Kandidaten aufzustellen. Weiter entstand eine sehr einflußreiche Angestelltenbewegung, die schließlich 1911 trotz der Reserve der Regierung und des Widerstandes großer 33 Abdruck des Berichtes an den bayerischen Staatsminister des königlichen Hauses und Außenminister Krafft Freiherr von Crailsheim, in: ebd., S. 396 - 399. 34 Vgl. dazu ebd., Ir. Abt., Bd. 2. I, S. 599 - 623. 35 Brief Lohmanns an Ernst Wyneken vom 1. 7. 1884, in: ebd., S. 632 f. 36 Vgl. Herrfahrdt, Heinrich, (wie Anm. 1), S. 65 - 67. 37 Gutachten Prof. Adolph Wagners zur Erstfassung der Zweiten Unfallversicherungsvorlage vom 29. 12. 1881, abgedruckt in: Quellensammlung, 11. Abt., Bd. 2. I, S. 116 - 118. 38 Vgl. Oldenberg, K., Zur Alters- und Invalidenversicherung der Arbeiter, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich (= Schmollers Jahrbuch), N.F. 13 (1889), S. 398 - 422, bes. 405 - 410; Ullmann, Hans Peter, Industrielle interessen und die Entstehung der deutschen Sozialversicherung 1880 - 1890, in: HZ 229 (1979), S. 574 - 610, bes. 605 - 607.

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Teile der Industrie und des gewerblichen Mittelstandes die Schaffung einer Renten- und Hinterbliebenenversicherung für Angestellte durchsetzte, die erheblich höhere Leistungen als die Arbeiterversicherung boe9 . Alle Parteien haben aus Furcht, die Stimmen der Angestellten zu verlieren, schließlich dem Gesetz, das auch zum Modell für Forderungen nach Reform und Weiterentwicklung der bestehenden Sozialversicherung wurde, zugestimmt. Neben den frei gebildeten Interessenorganisationen, zu denen auch die allerdings politisch weitgehend isolierten und von der Regierung bis 1914 offiziell ignorierten sozialistischen Freien Gewerkschaften gehörten, bestand ein System anerkannter öffentlich-rechtlicher Organe zur institutionalisierten Zusammenarbeit der wichtigsten sozialen und wirtschaftlichen Interessen mit Regierung und Verwaltung. Dazu gehörten das Landes-Ökonomiekollegium als öffentlich-rechtlicher Dachverband privater landwirtschaftlicher Vereine und als Beirat des preußischen Landwirtschaftsministeriums und die auf Grund eines Gesetzes von 1894 geschaffenen Landwirtschaftskammern. Eine wesentliche Rolle spielten in fast allen deutschen Staaten die Handelskammern mit ihrem Recht des unmittelbaren Zugangs zur Verwaltung. Bismarcks Versuche, die Handelskammern durch Gewerbekammern, die vor allem auch die Handwerker vertreten sollten, zu ergänzen oder radikal umzubilden und damit auch eine häufige Quelle freihändlerisch-liberaler Opposition gegen seine Wirtschafts- und Sozialpolitik zu beseitigen40 , blieben allerdings ohne größere Wirkung, da z. B. in Preußen die Provinzialvertretungen die zum Aufbau der Gewerbekammern benötigten Gelder vielfach nicht bewilligten. Dagegen wurden durch ein Gesetz von 1897 Handwerkskammern geschaffen, in denen die neu belebten Innungen eine wichtige Rolle spielten41 • Eine Ergänzung dieses Systems durch paritätisch aus Arbeitern und Arbeitgebern gebildete Arbeitskammern oder reine Arbeiterkammern ist nicht erfolgt. Pläne zu einer derartigen korporativen Einbindung der Arbeiter in Staat und Gesellschaft wurden schon in der Bismarckzeit immer wieder vorgeschlagen 42 und fanden schließlich Eingang in die bekannten sozialpolitischen Erlasse Wilhelms 11. vom 4. Februar 189043 . Die Gesetzgebungsversuche zur Verwirklichung des 39 Vgl. Bichler, Barbara, Die Fonnierung der Angestelltenbewegung im Kaiserreich und die Entstehung des Angestelltenversicherungsgesetzes von 1911, Frankfurt / M. etc. 1997. 40 Vgl. Pflanze, Dtto, Bismarck and the Development of Germany, Bd. 3: The Period of Fortification, 1880-1898, Princeton 1990, S. 157f. . 41 Vgl. Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. IV: Struktur und Krisen des Kaiserreichs, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1969, S. 1010-1014; Winkler, Heinrich August, Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus. Die politische Entwick-' lung von Handwerk und Kleinhandel in der Weimarer Republik, Köln 1972, bes. S. 40 - 57. 42 Vgl. z. B. das Votum Bismarcks für das preußische Staatsministerium mit Gesetzentwurf vom 19. 2. 1870, in: Quellensammlung, I. Abt., Bd. I, S. 181-188; Aufzeichnung des Regierungsrates Theodor Lohmann vom 20. 4. 1872, in: ebd., S. 287 - 296. 43 Deutscher Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischer Staatsanzeiger 1890, Nr. 34, 5. Februar, Abends, S. 1.

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kaiserlichen Versprechens, Vertretern der Arbeiter Organe zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Verhandlungen mit den Arbeitgebern und der Regierung zu geben, sind jedoch gescheitert. Die Sozialdemokratie schlug bereits in einem Gesetzentwurf zum Ausbau des Arbeiterschutzes von 1877 paritätisch aus Arbeitern und Arbeitgebern gebildete Gewerbekammern (später Arbeitskammern genannt) vor. 1911 hat die Partei diese Konzeption zugunsten der Forderung nach Bildung reiner Arbeiterkammern, die 1905 vom Kongreß der sozialistischen Freien Gewerkschaften erhoben worden war, fallengelassen 44 . Auf der Ebene der Parlamente fanden berufs ständische Ideen einen Niederschlag in dem von der sächsischen Regierung 1903 vorgeschlagenen, aber von den sächsischen Parteien erfolgreich abgelehnten Plan zur Ergänzung des seit 1896 für den sächsischen Landtag bestehenden Dreiklassenwahlrechts: Hinzutreten sollten demnach Abgeordnete, die von den landwirtschaftlichen Kreisvereinen, den Handelskammern und den Gewerbekammern zu wählen waren45. Real fanden berufs ständische Elemente nach der Jahrhundertwende stärkeren Eingang in die Ersten Kammern Badens und Württembergs durch Verfassungsänderungen vom 24. 8. 1904 bzw. 16. 7. 1906. In Bayern wurden entsprechende Ergänzungen der Zusammensetzung der Kammer der Reichsräte erst unter dem Druck der Niederlage und der sich abzeichnenden Revolution am 2. November 1918 in einem Abkommen zwischen der Regierung und den Landtagsparteien vorgesehen; in Preußen kam ein noch 1918 beratener Gesetzentwurf zur Änderung der Zusammensetzung des preußischen Herrenhauses durch die Aufnahme von Vertretern der verschiedensten Berufe nicht zur Verabschiedung 46 . Noch weniger Realisierungschancen hatten die vielfältigen zeitgenössischen Vorstellungen und Entwürfe für berufsständische Wahlsysteme, die von Einzel44 Für die Entwicklung der sozialdemokratischen Politik vgl. SchippeI, Max, Sozialdemokratisches Reichstags-Handbuch. Ein Führer durch die Zeit- und Streitfragen der Reichsgesetzgebung, Berlin o.J. [1902], Artikel Arbeiterschutz, S. 67 -102; Gesetzentwurf der sozialdemokratischen Fraktion des Reichstags auf Errichtung eines Reichsarbeitsamtes, von Arbeitsämtern, Arbeitskammern und Einigungsämtern, eingebracht im Reichstag am 9. 12. 1903, Stenogr. Berichte Reichstag, XI, I, 1. Anlageband, Nr. 67, S. 472-476. Zu den gescheiterten Ansätzen zur Gesetzgebung und zur Position der Organisationen der Arbeiterbewegung vgl. weiter Teuteberg, Hans Jürgen, Geschichte der industriellen Mitbestimmung in Deutschland. Ursprünge und Entwicklung ihrer Vorläufer im Denken und in der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1961, S. 465 - 490. 45 Oppe, E., Die Reform des Wahlrechts für die II. Kammer der Ständeversammlung im Königreich Sachsen, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts 4 (1910), S. 374-409, bes. 378f.; Königlich Sächsische Landtags-Akten von den Jahren 1903/04, Königliche Dekrete, Bd. 3, Nr.24. 46 Für Baden und Württemberg vgl. Huber, Ernst Rudolf (Hrsg.), Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1: Deutsche Verfassungsdokumente 1803 - 1850, Stuttgart 1961, S. 159, 184f.; für Bayern vgl. Löffler, Bernhard, (wie Anm. 6), S. 519-525; für Preußen Tatarin-Tamheyden, Edgar, Die Berufsstände, ihre Stellung im Staatsrecht und die deutsche Wirtschafts verfassung, BeTUn 1922, S. 138 -140.

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personen - auch von Schäffle - vorgelegt wurden47 • Die Parteien, die in ihren Programmen zum Teil berufs ständische Ideen anklingen ließen, haben sich den entscheidenden Einfluß auf die Wahlen und die Organisation der Parlamente in Fraktionen nicht mehr nehmen lassen. Allerdings veränderten sie angesichts der zunehmenden Bedeutung wirtschafts- und sozialpolitischer Fragen unter Einfluß der Interessenverbände ihre Politik und ihren Charakter. Das drückte sich vor allem in der Haltung zur Regierung und in der Rekrutierung von Kandidaten bei Parlamentswahlen aus. Mit der detaillierten Mitwirkung an einer immer komplizierter werdenden Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung in den Parlamenten gewannen die Parteien an konkretem politischem Einfluß. Da dieser aber weitgehend von der Zusammenarbeit mit Regierung und Verwaltung abhängig war - kein Gesetzentwurf konnte ohne Zustimmung der verbündeten Regierungen im Bundesrat verabschiedet werden - wurde damit auch ihre politische Opposition gleichsam entschärft. Das läßt sich besonders deutlich an den Beispielen des Zentrums und der Linksliberalen zeigen, die zur Erweiterung ihrer Bündnismöglichkeiten mit der Regierung und den anderen bürgerlichen Parteien - im Gegensatz zu der politisch isolierten Sozialdemokratie - auf ihre ursprüngliche prinzipielle Opposition in den "nationalen Fragen" der Wehr-, Flotten- und Kolonialpolitik weitgehend verzichteten48 . Zudem traten verfassungspolitische Fragen gegenüber dem Primat des parteieninternen Interessenausgleichs immer mehr zurück. Das Vordringen neuer sozialer Kräfte und Interessen hat aber dazu geführt, daß unter dem Vorzeichen eines Sozialproporzes die vorhandenen hierarchischen Strukturen der "bürgerlichen" Parteien gelockert und die sozialen Integrationskräfte der Parteien gestärkt wurden. Das ist vor allem am Beispiel der Wahlen für das preußische Abgeordnetenhaus, in dem die Mehrzahl der Sitze - wie lange Zeit in England - über Mehr-Mann-Wahlkreise vergeben wurde, von Thomas Kühne überzeugend gezeigt worden49 • In der Katholiken aller sozialen Schichten umfassenden Partei des Zentrums ist die ursprüngliche Aufteilung zwischen den lokalen Honoratioren der Wahlkreise und der Fraktion in Berlin, die ein Interesse an der Wahl qualifizierter und renommierter Parlamentarier hatte, seit den späten 1880er Jahren durch die Aufstellung berufs ständischer Kandidaten ergänzt und teilweise ersetzt worden. Dabei handelte es sich zunächst um Bauern und Handwerker, seit der Jahrhundertwende vor allem um Vertreter der katholischen Arbeiterbewegung. Bei den Konservativen, die zunächst vor allem darauf achteten, daß die Partei in 47 Vgl. Herrfahrdt, Heinrich, (wie Anm. 1), S. 86 f.; Kühne, Thomas, Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867 -1914. Landtagswahlen zwischen korporativer Tradition und politischem Massenmarkt, Düsseldorf 1994, S. 473 f. 48 Ritter, Gerhard A., Die deutschen Parteien 1830-1914. Parteien und Gesellschaft im konstitutionellen Regierungssystem, Göttingen 1985, S. 27 f. 49 V gl. Kühne, Thomas, Zur Genese der deutschen Proporzkultur im wilhelminischen Preußen, in: Politische Vierteljahresschrift 36 (1995), S. 220 - 242.

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den Doppelwahlkreisen für jeden der meist zwei Landkreise einen eigenen Kandidaten benannte, hat sich später ein Sozialproporz durch die allerdings begrenzte Aufstellung von Handwerkern, Klein- und Mittelbauern und sogar vereinzelten Arbeitern wenigstens in Ansätzen entwickelt, um mittelständische Wähler und nationale Arbeiter an die Partei heranzuführen. Die Linksliberalen und die Nationalliberalen haben sich der Aufstellung von berufsständischen Kandidaten, die ihrem Verständnis von einer am Gemeinwohl orientierten parlamentarischen Repräsentation, aber auch den Interessen der Führungsgruppen widersprachen, am stärksten widersetzt. Die mangelnde Bindung ihrer sozial sehr heterogenen Anhängerschaft war eine der Folgen. Vergleichbar verhielten sich die Liberalen in England, wo die Gründung des Labour Representation Comrnittee 1900 als Vorläufer der Labour Party auch eine Reaktion auf die ungenügende Bereitschaft der Liberalen zur Förderung von Arbeiterkandidaten war50 . Die Sozialdemokratie, die unter den Bedingungen des preußischen Dreiklassenwahlrechts wenig Chancen zur Gewinnung parlamentarischer Mandate besaß, hat im Kaiserreich keinen ernsthaften Versuch zur Gewinnung von Bauern gemacht. Auch der von der Parteiführung unterstützte Entwurf eines Agrarprogramms auf dem Parteitag von Breslau 1895 scheiterte an der Abweichung von marxistischen Grundsätzen, aber auch der befürchteten Vernachlässigung von ArbeiterinteressenSI. Sie hat auch erst in der Reichstagswahl von 1912 versucht, im größeren Umfang neben den städtischen Arbeitern - unter bewußtem Verzicht auf Gewinnung des Landproletariats und unter Ausnützung des sich verschärfenden Stadt-LandGegensatzes - Angestellte und untere Beamte in den Städten gezielt anzusprechen52 , ohne allerdings - von einzelnen Angestelltenführern abgesehen - führende Exponenten des "neuen Mittelstandes" als Kandidaten zu gewinnen53 . Das Vordringen eines berufsständischen Proporzes bei der Kandidatenaufstellung in einigen Parteien war dabei weniger ein Ausdruck alter ständischer Traditionen oder eines latenten Antiparlamentarismus als vielmehr ein Versuch, mit dem "Verlangen nach lebensweltlicher Identität zwischen Wählern und Gewählten"54 50 Zu den Ursachen für die Gründung des Labour Representation Comittee vgl. Ritter, Gerhard A., Zur Geschichte der britischen Labour Party 1900 - 1918. Die Umbildung einer parlamentarischen Pressure Group in eine politische Partei, in: ders., Parlament und Demokratie in Großbritannien. Studien zur Entwicklung und Struktur des politischen Systems, Göttingen 1972, S. 125 - 181, bes. 132 - 135. 51 Vgl. Ritter, Gerhard A., Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich. Die sozialdemokratische Partei und die Freien Gewerkschaften 1890-1900, Berlin-Dahlem 21963, S.128-148. 52 Nonn, Christoph, Verbraucherprotest und Parteiensystem im wilhelminischen Deutschland, Düsseldorf 1996, S. 240 ff. 53 Zur sozialen Zusammensetzung der sozialdemokratischen Fraktionen vgl. Schröder, Wilhelm Heinz (Bearb.), Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867 -1933. Biographien - Chronik - Wahldokumentation. Ein Handbuch, Düsseldorf 1995. 54 Kühne, Thomas, (wie Anm. 49), S. 236. 18 FS Kolb

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überkommene Verkrustungen der Honoratiorenpolitik aufzubrechen, den Sachverstand der Fraktionen für Sozial- und Wirtschaftspolitik durch Männer aus der wirtschaftlichen Praxis zu verbessern und mittlere und untere soziale Schichten zur Mitwirkung an der parlamentarischen Politik heranzuziehen. IU. Das System der Kooperation von Regierung und Verwaltung mit den Vertretern der wichtigsten Interessen in Verbänden und öffentlich-rechtlichen Institutionen erfaßte im Ersten Weltkrieg auch die bisher weitgehend ausgeschlossenen Gewerkschaften durch ihre Mitwirkung bei der Lösung sozialer Probleme - wie der Arbeitslosigkeit in den ersten Kriegswochen - oder später bei der Organisation der Kriegswirtschaft55 • Die während des Krieges in einzelnen Wirtschafts bereichen eingeleitete Zusammenarbeit der Gewerkschaften mit Organisationen der Arbeitgeber wurde unmittelbar nach Ausbruch der Revolution 1918 und nach einer Einigung über grundlegende soziale und wirtschaftspolitische Fragen56 in einer paritätisch zusammengesetzten Zentralarbeitsgemeinschaft (ZAG) und Arbeitsgemeinschaften für einzelne Industrien und Gewerbezweige institutionalisiert 57 • Die ZAG als vertikale berufsständische Organisation der gewerblichen Wirtschaft hat jedoch die von vielen in sie gesetzte Hoffnung, auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet die staatliche Bürokratie und das Parlament durch die direkte Zusammenarbeit der Produzenten weitgehend an den Rand zu drängen, nicht erfüllt. Differenzen innerhalb der beiden Lager, die Unterminierung der Arbeitsgemeinschaften durch konkurrierende Organisationen, das Wiedererstarken von Bürokratie und Parlamenten, politische Gegensätze, wie sie in etwa im Kapp-Putsch 1920 auftraten, vor allem aber die Zuspitzung sozialer Auseinandersetzungen seit 1922 und besonders nach der Stabilisierung der Währung seit 1923 haben der institutionellen Zusammenarbeit schon vor der formalen Auflösung der ZAG am 31. März 1924 den Boden entzogen58 . 55 Vgl. Reidegeld, Eckart, Staatliche Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und theoretische Analyse von den Ursprüngen bis 1918, Opladen 1996, bes. S. 304ff.; Feldman, Gerald D., Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918, Berlin/Bonn 1985. 56 Vereinbarung zwischen Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften vom 15. 11. 1918, abgedruckt in: Reichsanzeiger, Nr. 273 vom 18. 11. 1918. 57 Abdruck der vorläufigen Satzung der ,,Arbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Deutschlands" vom 4. 12. 1918 in: Ritter, Gerhard A.lMiller, Susanne (Hrsg.), Die deutsche Revolution 1918/1919. Dokumente, Hamburg 21975, S. 239 - 24l. 58 Vgl. Feldman, Gerald D./Steinisch, Irmgard, Industrie und Gewerkschaften 1918 - 1924. Die überforderte Zentralarbeitsgemeinschaft, Stuttgart 1985; vgl. weiter die grundlegende Studie über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der ersten Jahre nach Kriegsende von Feldman, Gerald D., The Great Disorder. Politics, Economics and Society in the German Inflation, 1914-1924, New York/Oxford 1993, bes. S. 125 -127,139 f, 196 f, 479 ff., 674 f, 807 f.

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Die ZAG und die Arbeitsgemeinschaften sind jedoch. als Versuche einer möglichst autonomen Regelung der Wirtschafts-und Sozialpolitik durch die betroffenen Interessen kennzeichnend für die damals weit verbreitete Ansicht, daß die von Parteien dominierten politischen Parlamente mit der sachgemäßen Lösung der sozialen und wirtschaftlichen Probleme des modernen Industrie- und Sozialstaates überfordert wären. Diese Vorstellung lag auch der sogenannten "Verankerung des Rätewesens" im Artikel 165 der Weimarer Reichsverfassung zugrunde. Die darin vorgesehene Einführung von Arbeiter- und Betriebsräten und die Mitwirkung von gemeinsamen Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei Sozialisierungsmaßnahmen und der Kontrolle sozialisierter Betriebe und Gewerbezweige sowie bei der Begutachtung und selbständigen Einbringung wirtschafts- und sozialpolitischer Gesetze sind erst auf Grund des massiven Drucks einer Welle von Streikbewegungen von der Regierung in einer Erklärung vom 5. März 191959 grundsätzlich zugestanden worden. Die Regierung wollte damit die Rätebewegung vom politischen auf das wirtschaftliche System umleiten und sie durch die Schaffung von öffentlich-rechtlichen Institutionen entradikalisieren und kanalisieren. Die Gewerkschaften, die zunächst die Räte als Konkurrenzorganisationen scharf ablehnten, modifizierten ihre Haltung, als die Regierung die ausschließliche Zuständigkeit der Tarifparteien für die Regelung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse zusicherte und sie die Chance erkannten, die Räte - vor allem in den Betrieben - zu Instrumenten der Gewerkschaften zu machen 60 . Von den Parteien hat sich die links sozialistische USPD, in der sich schließlich die Forderung nach Übertragung der gesamten politischen und wirtschaftlichen Macht auf Arbeiterräte als Organe einer Diktatur des Proletariats durchsetzte 61 , auch bei den Beratungen der Verfassung am stärksten für möglichst weitgehende Rechte der Räte eingesetzt. Allerdings lehnte die im Rahmen der Gesamtpartei gemäßigte Fraktion der USPD in der Nationalversammlung politische Parlamente nicht völlig ab, wollte aber den Arbeiterräten ein Vetorecht gegen die 59 Abdruck der ,,Erklärung über die gesetzgeberischen Absichten der Regierung vom 5. März 1919" in: Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Stenogr. Berichte, Bd. 335, Berlin o.J., S. 231. Zur Herausbildung des Räteartikels vgl. weiter Ritter, Gerhard A., Die Entstehung des Räteartikels 165 der Weimarer Reichsverfassung, in: HZ 258 (1994), S. 73 -112. 60 Vgl. insbesondere die "Richtlinien für die künftige Wirksamkeit der Gewerkschaften", die auf einer Konferenz der Verbandsvorstände am 25. 4. 1919 angenommen wurden. Abdruck der "Richtlinien" und der Diskussion über das Verhältnis der Gewerkschaften zu den Arbeiterräten in: Schönhoven, Klaus (Bearb.), Die Gewerkschaften in Weltkrieg und Revolution. Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Bd. 1, Köln 1985, S. 706-755; vgl. weiter Potthoff, Heinrich, Gewerkschaften und Politik zwischen Revolution und Inflation, Düsseldorf 1979, S. 123 - 141. 61 USPD, Protokoll über die Verhandlungen des außerordentlichen Parteitages in Leipzig vom 30. November bis 6. Dezember 1919, Berlin 1919, S. 5. Zu den Differenzen in der USPD über die Haltung zu den Räten vgl. auch die grundlegende Studie zu den ersten Monaten der Rätebewegung von Kolb, Eberhard, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918 - 1919, Düsseldorf 1962, bes. S. 36 - 45, 157 - 169.

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im Parlament beschlossenen Gesetze geben. Die USPD war zudem grundsätzlich gegen gemeinsame Institutionen von Unternehmern und Arbeitnehmern und sah die Hauptaufgabe der Räte in der Förderung der Sozialisierung, der entscheidenden Mitwirkung an der Leitung der Betriebe und der Kontrolle der Verwaltung von Reich, Ländern und Gemeinden 62 . Auf der rechten Seite des politischen Spektrums sah die Deutschnationale Volkspartei in dem vorgesehenen Reichswirtschaftsrat nur ein Übergangsstadium zu einer "berufsständischen Kammer" als "Gegengewicht gegen die Überspannung des Parlamentarismus und gegen die Herrschaft des Parlaments,,63. Die anderen "bürgerlichen" Parteien, die linksliberale DDP, die rechtsliberale Deutsche Volkspartei und das Zentrum haben sich mit Nuancen im einzelnen gegen eine zu starke Stellung der Räteinstitutionen gewandt und vor allem gesonderte Vertretungen der Angestellten neben denen der Arbeiter gefordert64 • Sie haben sich mit dieser Forderung aber nur teilweise durchsetzen können: So wurden Angestellte neben den Arbeitern im Artikel 165 ausdrücklich genannt und die Zusage gemacht, daß für die Angestellten bei der Wahl zu Betriebsräten besondere Wahlkörper geschaffen und ihre spezifischen Interessen gesondert behandelt werden wÜfden65 . Der Mehrheit der Sozialdemokratie kam es vor allem auf die Verstärkung des Einflusses der Arbeiter auf die Wirtschaft an. Eine umfassende Konzeption über die Rolle der Räte bei der Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft und ihr Verhältnis zum Staat ist dabei von Hugo Sinzheimer, dem Berichterstatter über den Räteartikel im Verfassungsausschuß und Plenum der Nationalversammlung, vorgelegt worden. Sinzheimers Grundgedanke war der der "sozialen Selbstbestimmung,,66 der wirtschaftlichen und sozialen Kräfte, die er - einer der Pioniere bei der Schaffung des deutschen Arbeitsrechts - zunächst an Hand der Tarifverträge, in denen objektives Recht durch autonome gesellschaftliche Gruppen gesetzt wurde, entwickelte67 . 1919 vertrat er die Übertragung dieses Konzepts auf die Gesamtordnung von Wirtschaft und Gesellschaft zur Ergänzung der politischen durch eine 62 Vgl. die Reden und Anträge von Abgeordneten der USPD im Verfassungsausschuß und im Plenum der Nationalversammlung, Verhandlungen Nationalversammlung, Bd. 328, S. 1778-1783; Bd. 336, S. 393, 397f.; Bd. 337, S. 358f. 63 So der Vertreter der DNVP im Verfassungsausschuß, der frühere Staatssekretär des Innem und Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums Clemens von Delbrück, in einer Rede im Plenum der Nationalversammlung am 21. 7. 1919, ebd., Bd. 328, S. 17721775; vgl. weiter seine Reden im Verfassungsausschuß vom 2.6. und 18. 6. 1919, ebd., Bd. 336, S. 398 f. und 538 f. 64 Vgl. Ritter, Gerhard A., (wie Anm. 59), S. 98 - 100. 65 Erklärungen des Reichsarbeitsministers Schlicke am 21. 7. 1919 und 31. 7. 1919 in der Nationalversammlung, in: Verhandlungen Nationalversammlung, Bd. 328, S. 1795 und Bd. 329, S. 2187. 66 Rede Sinzheimers im Verfassungsausschuß vom 2.6. 1919, ebd., Bd. 336, S. 393. 67 Vgl. Sinzheimer, Hugo, Der korporative Arbeitsnormenvertrag. Eine privatrechtliche Untersuchung, 2 Teile, Leipzig 1907/08; ders., Ein Arbeitstarifgesetz. Die Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht, Berlin 21977 [1. Auf!. 1916].

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wirtschaftliche Demokratie. Neben der Staatsverfassung sollten die wirtschaftlichen Kräfte im Rahmen einer "eigenen und besonderen Wirtschaftsverfasssung ... die Bestimmungen und Normen treffen, die erforderlich sind, um das Wirtschaftsleben unabhängig vom Staate, wenn auch im Staate auf Grund von Staatsgesetzen, zu regulieren,,68. Die neuen Organisationen waren dabei als Instrumente einer nicht bürokratischen, flexiblen Planwirtschaft, die die Wirtschaft den allgemeinen Interessen der Gesellschaft unterordnen sollte, gedacht. Sie sollten auch die notwendigen Voraussetzungen für eine Sozialisierung schaffen und später Träger einer sozialistischen Wirtschaft sein. Vieles im Konzept Sinzheimers blieb unklar: So die genauen Funktionen der verschiedenen Organe der neuen Wirtschaftsverfassung und ihr Verhältnis zueinander, die Frage, ob die Wirtschaftsräte vertikal nach Gewerbezweigen und Berufen oder horizontal nach territorialen Einheiten gegliedert werden sollten, und das Verhältnis der geplanten neuen Institution zu den bestehenden Arbeitsgemeinschaften. Schließlich ist zu fragen, ob eine so weitgehende Trennung der Staatsverfassung von der Gesellschafts- und Wirtschaftsverfassung nicht zu ständigen, kaum zu überbrückenden Spannungen zwischen den Institutionen der politischen und der wirtschaftlichen Demokratie und zur Entstehung zweier weitgehend paralleler Bürokratien geführt hätte. Die Konzeption Sinzheimers wurde nicht Gemeingut der Sozialdemokratie, die kein eigenes Programm der Wirtschaftsverfassung entwickelte. Auch die Idee der Gemeinwirtschaft, die in dem unter sozialdemokratischer Leitung stehenden Wirtschaftsministerium besonders vom Unterstaatssekretär Wichard von Moellendorff vertreten wurde, traf nicht nur bei den Anhängern der Marktwirtschaft, sondern auch bei vielen Sozialdemokraten, die über die gesellschaftliche Kontrolle der Wirtschaft hinausgehend die volle Sozialisierung wünschten, auf Ablehnung. Mit dem schließlichen Scheitern der Idee der Gemeinwirtschaft wurden den im Artikel 165 der Verfassung vorgesehenen Organisationen von Arbeiterräten auf der Ebene der Betriebe, der Bezirke und des Reiches, die "mit den Vertretern der Unternehmer und sonst beteiligter Volkskreise zu Bezirkswirtschaftsräten und zu einem Reichswirtschaftsrat" zusammentreten sollten, die eigentliche Aufgabe und damit ihre Grundlage entzogen. Von den vorgesehenen neuen sozialen und wirtschaftlichen Institutionen wurden nach erbitterten Auseinandersetzungen nur die Betriebsräte, die den Arbeitnehmern weitgehende Mitbestimmungsrechte auf sozialem, nicht aber auf wirtschaftlichem Gebiet in den Betrieben gaben, durch ein Gesetz vom 18. Januar 1920 geschaffen. Eine Einigung über den Reichswirtschaftsrat kam nicht zustande. Nach scharfen Kontroversen über die Vertretung der einzelnen Wirtschaftszweige, der Berufe und der Konsumenten, über das relative Gewicht fachlicher oder territorialer Gliederungsprinzipien sowie über die zur Benennung seiner Mitglieder legitimierten Ver68 Rede im Plenum der Nationalversammlung am 21. 7. 1919, in: Verhandlungen Nationalversammlung, Bd. 328, S. 1750.

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bände und Institutionen wurde durch eine Verordnung vom 4. Mai 1920 der mit 326 Mitgliedern sehr schwerfällige Vorläufige Reichswirtschaftsrat 69 geschaffen, dem der Unterbau und das Recht zur Vertretung seiner Vorlagen im Reichstag fehlte. Seit 1923 fast nur noch in Ausschüssen tagend, wurde er faktisch zu einem Gutachtergremium der Reichsregierung und blieb ohne größeren Einfluß auf die Wirtschaftsund Sozialgesetzgebung7o • Das weitgehende Scheitern des Konzepts wirtschaftlicher Räte hatte mehrere Ursachen. Zu diesen gehören auf politischer Ebene der schnelle Zusammenbruch der Rätebewegung, die Spaltung der Arbeiterbewegung und die Stärkung der Position der Unternehmer und der "bürgerlichen" Parteien seit Frühsommer 1919. Wesentlich waren aber auch die Unklarheit über den konkreten Aufbau der Räteinstitutionen und vor allem die bereits erwähnten unüberbrückbaren Differenzen der Parteien über die den Räten zugedachten Aufgaben. Die in Deutschland in allen politischen Lagern so manifesten Tendenzen zu korporativen politischen Ordnungssystemen sind auch in anderen europäischen Ländern der Zwischenkriegszeit anzutreffen71. Sie waren einmal ein Reflex der traditionellen sozialen Eliten auf revolutionäre Umbrüche und der Zweifel der politischen Linken, mit dem "bürgerlichen" Parlamentarismus grundlegende Veränderungen zu erreichen. Daneben waren aber auch der Gedanke einer institutionalisierten Heranziehung des Sachverstandes der betroffenen Interessen bei politischen Entscheidungsprozessen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich oder die Idee der weitgehenden Selbstregulierung dieses Bereicll,es durch autonome gesellschaftliche Kräfte, die auch dem Tarifvertragswesen zugrunde liegt, eine typische Begleiterscheinung des Übergangs zum Interventions- und Sozialstaat, der die bestehenden politischen Institutionen zunächst offenbar überforderte. Hier ist etwa für Österreich auf den Ständigen Beirat des Arbeitsstatistischen Amtes als Beispiel einer paritätischen Interessenvertretung in der späten Habsburger Zeit oder die 1920 geschaffene gesonderte berufständische Vertretung der Arbeiter in Arbeiterkammern 72, für Großbritannien auf die 1919 aus Vertretern von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gebildete "National Industrial Conference" als einer Art Parlament für Fragen des Arbeitsrechts und der Beziehungen der Sozialpartner zu verweisen, die allerdings keine größere Bedeutung erlangte und 1921 wieder zusammenbrach73. 69 Vgl. Schäffer, Hans, Der Vorläufige Reichswirtschaftsrat. Kommentar der Verordnung vom 4. Mai 1920, München/Berlin/Leipzig 1920, S. 29. 70 Vgl. zu seiner konkreten Tatigkeit bis 1926: Dr. Hauschildt, Der vorläufige Reichswirtschaftsrat 1920 - 1926. Denkschrift, Berlin 1926. 71 Vgl. dazu Maier, Charles, Recasting Bourgeois Europe. Stabilisation in France, Germany and ltaly in the Decade after World War I, Princeton 1975, bes. Teil III: Paths Toward Corporative Stability, S. 355 - 578. 72 Vgl. Ritter, Gerhard A., Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 21991, S. 166f. 73 Vgl. Johnson, P. B., Land fit for Heroes: The Planning of British Reconstruction, Chicago 1968, S. 376-384,473 -477.

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Der Fehlschlag des Aufbaus einer umfassenden Räteorganisation und die untergeordnete Rolle des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates ist aber nicht mit einer geringen Bedeutung berufsständischer Organisationen und Vorstellungen in der Politik der Weimarer Republik gleichzusetzen. In der Sprache des politischen Diskurses haben vielmehr berufsständische Kategorien eine zentrale Rolle gespielt74 . Alle Parteien, auch die NSDAP, in der berufs ständische Vorstellungen noch in der Anfangsphase des Regimes eine - allerdings bald wieder stark zurückgedrängte Rolle spielten75, gingen von der zentralen Bedeutung des Berufes für die soziale Identität des Einzelnen aus und haben sich in ihrer Werbung um Wähler des Mittelstandes gezielt an Handwerker, Kleinhändler, Angestellte, Bauern und Beamte gewandt. Es ist auch kein Zufall, daß dabei in der politischen Rechten und der Mitte bewußt der Begriff des Standes - Bauernstand, Beamtenstand, Angestelltenstand, Handwerkerstand, Arbeiterstand (die NSDAP allerdings sprach in bewußter Ablehnung des sozialistischen Begriffs der "Arbeiterklasse" eher von Arbeiterschaft und Arbeiterturn) - neu belebt wurden. Darin ist jedoch kein Rückfall in vorindustrielle feudale Vorstellungen, sondern vielmehr eine allerdings ideologisch aufgeladene Betonung der Bedeutung spezieller Interessen in einer hochdifferenzierten Industriegesellschaft zu sehen. Die Parteien versuchten, die wichtigsten Interessen u. a. durch die Plazierung führender Verbandsfunktionäre auf aussichtsreichen Plätzen ihrer Reichsliste 76 und die Schaffung spezifischer innerparteilicher Organisationen für einzelne Interessen und Berufe zu integrieren. Sie haben aber nicht verhindern können, daß vor allem in den Jahren 1924 bis 1928 eine Reihe neuer Parteien entstanden, die die Organisation spezieller Interessen schon in ihrem Namen - z. B. Aufwertungs- und Wiederaufbaupartei, Bayerischer Bauernbund, Christlich-nationale Bauern- und Landvolkpartei, Deutsche Arbeitnehmerpartei, Deutsche Bauernpartei, Deutsche Haus- und Grundbesitzerpartei, Deutscher Wirtschaftsbund für Stadt und Land, Landbund, Partei der Mieter, Radikaler Mittelstand, Volksblock der Inflationsgeschädigten, Wirtschaftspartei des Deutschen Mittelstandes - zum Ausdruck brachten. Auf ihrem Höhepunkt bei der Reichstagswahl 1928 haben die reinen Interessenparteien, die sich fast alle gegen das bestehende System der Parteipolitik und den Parlamentarismus der Weimarer Republik wandten und für die Schaffung einer neuen korporativen politisch-ökonomischen Ordnung eintraten, mit 14 % aller Stimmen etwa 1 /3 der mittelständischen Wähler und damit mehr Anhänger als die beiden liberalen Parteien DVP und DDP zusammen gewonnen77 . 74 Vgl. Childers, Thomas, The Social Language of Politics in Germany: The Sociology of Political Discourse in the Weimar Republic, in: AHR 95 (1990), S. 331 - 358. 75 Broszat, Martin, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 41974, S. 77f., 211 f., 216f., 221-223. 76 Vgl. Bredt, Johann Viktor, Das politische Parlament und die berufsständischen Vertretungen, in: Harms, Bernhard (Hrsg.), Volk und Reich der Deutschen. Vorlesungen gehalten in der Deutschen Vereinigung für Staatswissenschaftliche Fortbildung, Bd. 2, Berlin 1929, S. 282 - 300, bes. 289 - 291.

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Die Einbindung der wichtigsten Interessen und der sie vertretenden Verbände, die in Deutschland im internationalen Vergleich besonders früh entstanden, ist auch heute noch eine der zentralen Aufgaben jedes Staates. Die Erfahrungen des Kaiserreiches und der Weimarer Republik zeigen jedoch, daß man weder durch die Schaffung besonderer Wirtschaftsparlamente noch durch den Aufbau spezifischer Organisationen der Wirtschaft und Gesellschaft, wie sie im Artikel 165 der Weimarer Verfassung vorgesehen waren, dieser Aufgabe gerecht werden kann. Auch sind Interessenverbände und spezifische Interessenparteien zur politischen Organisation der Wähler und zur Gesetzgebung wenig geeignet. Öffentlich-rechtliche Kammern können zwar Sachverstand mobilisieren, Interessen kanalisieren und spezielle Fragen eigenständig regeln. Sie können aber politische Lösungen auch im Bereich der Sozial- und Wirtschaftspolitik nicht ersetzen. Offenbar sind demokratisch gewählte Regierungen, politische Parteien und Parlamente weiterhin die einzigen Institutionen, die durch die Integration verschiedener Interessen lind die Aushandlung von Kompromissen in der Lage sind, den rechtlichen und politischen Rahmen für die flexible Anpassung moderner demokratischer Industriegesellschaften an sich ständig ändernde Bedingungen zu schaffen. Manchmal allerdings hat man heute den Eindruck, daß angesichts der Blockierung von Entscheidungsprozessen durch unüberwindliche Gegensätze mächtiger Interessenverbände und die Tendenzen zur scharfen politischen Polarisierung die Problemlösungskapazität dieser Institutionen an ihre Grenzen gelangt ist und neue Impulse und Ideen notwendig sind, um Stagnationen in demokratischen politischen Systemen zu überwinden und damit deren Existenz und Steuerungsfahigkeit zu erhalten.

77 Vgl. Childers, Thornas, Interest and Ideology: Antisystem Politics in the Era of Stabilization 1924-1928, in: Feldman, Gerald D. (Hrsg. unter Mitarbeit von Müller-Luckner, Elisabeth), Die Nachwirkungen der Inflation auf die deutsche Geschichte 1924 - 1933, München 1985,S. 1-20

4. Dynastien und transnationale Eliten

Eine Dynastie - zwei Namen: "Haus Sachsen-Coburg und Gotha" und "Haus Windsor" Ein Beitrag zur Nationalisierung der Monarchien in Europa Rainer Hambrecht

I. Der Unfalltod der englischen Prinzessin Diana, der geschiedenen Gemahlin von Thronfolger Charles, rückte die Royal Family, das Haus Windsor, im September 1997 wie kaum ein anderes Ereignis der letzten Jahre in den Mittelpunkt öffentlicher Erörterungen. In einer Fernsehdiskussion des britischen Senders "Sky Channel" kam dabei am 4. September 1997 der Namenswechsel der deutschstämmigen Herrscherfarnilie durch König Georg V. - von Haus Sachsen-Coburg und Gotha in Haus Windsor - im Juli 1917 zur Sprache. Ihn erklärte ein Teilnehmer als Reaktion auf deutsche Luftangriffe gegen London, bei denen in Gothaer Flugzeugwerken gebaute Bomber eingesetzt wurden - eine Annahme, die auch in Gotha erzählt wird. 1 Dort aber, d. h. genauer in den Herzogtümern Sachsen-Coburg und Gotha, regierte von 1905 an Herzog Carl Eduard, gebürtiger englischer Prinz, Enkel Queen Victorias und unmittelbarer Cousin König Georgs V. von Großbritannien. Mit anderen Worten, im Ersten Weltkrieg standen sich in England und dem deutschen Bundesstaat Coburg-Gotha Angehörige ein und derselben Herrscherfarnilie auf Grund ihrer unterschiedlichen Nationalität feindlich gegenüber. Letztere basierte eher auf den Zufallen dynastischen Erbrechts als auf dem Willen der Betroffenen. Beide Herrscher führten darum Namen und Titel des jeweils anderen Landes. Alles Fremde aber, und sei es ein Sprachakzent, weckte in der aufgeheizten nationalistischen Weltkriegsstimmung in Deutschland wie in England öffentliches 1 Auf die Fernsehsendung vom 4.9. 1997, aus der der Beitrag von Pierce Brandon zitiert wird, wies mich freundlicherweise mein verehrter Kollege vom Thüringischen Staatsarchiv Gotha, Archivdirektor Dr. Uwe Jens Wandel, hin. Hierfür sowie für sonstige Unterstützung habe ich ihm aufrichtig zu danken. - Für großzügig gewährte Hilfen und Anregungen bin ich außerdem zu Dank verpflichtet: Lady Sheila de Bellaigue (Royal Archives, Windsor Castle), Herrn Andreas Fahrmeir, MA, PhD (Deutsches Historisches Institut London), Herrn Dr. Grupp (Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn), Herrn Prof. Dr. Jürgen John (Universität Jena) sowie Herrn Prof. Dr. Hartrnut Pogge v. Strandmann (University College Oxford) und Herrn Heinz Wiegand (Museumsdirektor LR., Gotha), die mir entgegenkommenderweise Einblick in noch unveröffentlichte Manuskripte gewährt haben.

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Mißtrauen, bis hin zur Hysterie. Folglich mußten Staatsoberhäupter ausländische Namen und Titel zum Beweis ihrer unzweideutigen Parteinahme ablegen. So lautet jedenfalls eine weniger vordergründige Erklärungsvariante für den Namenswechse1. 2 Oder sollte das Motiv in einem Coburg-Gothaer Landesgesetz vom März 1917 zu suchen sein, das alle Familienangehörigen des Hauses Sachsen-Coburg und Gotha, deren Heimatstaaten mit dem Reich im Krieg lagen, von der Thronfolge in den Herzogtümern ausschloß?3 So naheliegend und so einleuchtend diese Erklärungen wegen des zeitlichen Zusammentreffens auch sein mögen, sie können allenfalls letzte Anstöße gegeben haben. Die Ursachen liegen tiefer.

11. Die Namensänderung des britischen Königshauses spielte sich gleichzeitig auf mehreren Handlungsebenen ab: Sie zerschnitt bestehende Familienbande (1), um in Großbritannien ein innenpolitisches Signal zu setzen (2), das wiederum das deutsch-englische Verhältnis beeinflußte (3). Der Versuch einer Erklärung des Vorgangs ist auf alle drei Sphären angewiesen. Unter gänzlich anderen verfassungspolitischen Bedingungen als 1917 hatte das Haus Sachsen-Coburg und Gotha erste familiäre Beziehungen nach England geknüpft. Sie reichten in die Zeit unmittelbar nach dem Wiener Kongreß zurück, als man im Bewußtsein, daß jeder Krieg die monarchische Herrschaft gefährden konnte, auf der internationalen Solidarität der Monarchen eine neue Friedensordnung aufbaute. Die deutschen Fürsten, die meisten europäischen Herrscher sowie die Mehrzahl ihrer Untertanen dachten dynastisch und nicht national, jedenfalls nicht nach heutigen Maßstäben. Problemlos konnten Fürsten wie in den vorangegangenen Jahrhunderten auf fremde Throne transferiert werden. Denn Nationalität bezog sich auf den monarchischen Einzelstaat, wurde von der Staatsspitze, der Dynastie, definiert, nicht durch die ethnische oder die Sprach- und Kulturgemeinschaft und schon gar nicht durch demokratische Selbstbestimmung. 4 Noch in Zeiten des Nationalstaats wandte Bismarck den Terminus in diesem Sinn auf die deutschen Bundesstaaten an: "Die besondern Nationalitäten, die sich bei uns auf der Basis des dynastischen Familienbesitzes gebildet haben, begreifen in sich in den meisten Fällen Heterogene, deren Zusammengehörigkeit weder auf der Gleichheit 2 Vgl. u. a. Nicolson, Harold, King George the Fifth, London 1970, S. 309f. - Rose, Kenneth, King George V, London 1983, S. 173 f. 3 Facius, Friedrich, Politische Geschichte von 1828 bis 1945, in: Patze, Hans!Schlesinger, Walter, Geschichte Thüringens Bd. 5, Teil 2 (Mitteldeutsche Forschungen Bd. 48), Köln! Wien 1978, S. 294. 4 Hanisch, Manfred, Nationalisierung der Dynastien oder Monarchisierung der Nation? Zum Verhältnis von Monarchie und Nation in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Birke, Adolf M. u. a. (Hrsg.), Bürgertum, Adel und Monarchie (Prinz-Albert-Studien Bd. 7), München u. a. 1989, S. 71-91, bes. 76f.

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des Stammes noch auf der Gleichheit der geschichtlichen Entwicklung beruht, sondern ausschließlich auf der Thatsache einer in vielen Fällen anfechtbaren Erwerbung durch die Dynastie.,,5 Unberücksichtigt ließ er, daß sich zwischen 1815 und 1871 das Verhältnis zwischen Monarchie und Nation grundlegend gewandelt hatte. 6 Der moderne Nationalstaatsgedanke hatte die "monarchische Nation" und damit das dynastische Prinzip, das die europäische Politik bis ins 19. Jahrhundert bestimmte, fast verdrängt. In einem letzten, verzweifelt zu nennenden Versuch, den existenzbedrohenden Kräften Einhalt zu gebieten, setzte sich der nur mühsam dynastisch zusammengehaltene Vielvölkerstaat Österreich gegen den extremen Nationalismus zur Wehr und zog dabei eine ganze (nicht nur geographisch gemeinte) Welt mit in den Untergang. Der Erste Weltkrieg beendete eine mehrhundertjährige Epoche, in der die Gesamtzahl der von einer Dynastie regierten Untertanen, gleich welcher ethnischen oder kulturellen Herkunft, dem Umfang der "Nation" entsprach. Der moderne Nationalismus hatte sich als herrschendes Staatsprinzip in Europa längst durchgesetzt, als die Umbenennung des britischen Königshauses reichlich retardiert den absoluten Schlußpunkt dieser Entwicklung markierte. So betrachtet paßte der symbolträchtige Vorgang ins Epochenjahr 1917, war er mehr als ein marginales Ereignis, selbst wenn man die Wertung - "weltbewegend" - der Schriftleitung des Gothaischen Hofkalenders7 nicht übernimmt. In den einschlägigen Handbüchern zur europäischen Geschichte bleibt er meist unerwähnt. 8

III. Begünstigt durch den monarchischen Internationalismus der Reaktionszeit nach dem Wiener Kongreß stieg das Haus Coburg in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer der führenden dynastischen Familien in Europa auf. Hatte das Haus Habsburg einst von sich sagen können, Bella gerant alii! Tu, felix Austria, nube!, so galt die sinnentsprechende Abwandlung des Distichons im 19. Jahrhundert mit mindestens gleichem Recht für das Haus Sachsen-Coburg-Saalfeld9 , das nach der letzten der vielen Erbteilungen unter den ernestinischen Wettinern ab 1826 den Namen Sachsen-Coburg und Gotha führte. Damals hatte es unter Abtretung des Fürstentums Saalfeld das Herzogtum Sachsen-Gotha erhalten. Die in Personalv. Bismarck, Dtto, Gedanken und Erinnerungen, Stuttgart und Berlin 1928, S. 266. Hanisch, Manfred, (wie Anm. 4), S. 75. 7 Schreiben an den coburg-gothaischen Staatsminister vom 17. 8. 1917 (Thüringisches Staatsarchiv Gotha [künftig: ThStAGj, Staatsministerium Dep. I Loc. [künftig: Staatsmin. Ij Ib Nr. 67 fol. 27. 8 z. B. Herzfeld, Hans, Die modeme Welt 1789-1945, Teil II, Braunschweig 1960. Handbuch der europäischen Geschichte (hrsg. v. Theodor Schieder), Bd. 6, Stuttgart 1973. Schieder, Theodor, Staatensystem als Vormacht der Welt 1848-1918 (Propyläen Geschichte Europas Bd. 5), Frankfurt a. Main 1980. 9 Zum Herzogtum Sachsen-Coburg-Saalfeld vgl. Klein, Thomas, Grundriß der deutschen Verwaltungsgeschichte Bd. 15: Thüringen, Marburg/Lahn 1983, S. 91-99. 5

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union verbundenen Herzogtümer bildeten keine territoriale Einheit; zwischen sie schoben sich Sachsen-Meiningen und die preußischen Kreise Suhl (Regierungsbezirk Erfurt, Provinz Sachsen) und Schmalkalden (Regierungsbezirk Kassel, Provinz Hessen-Nassau).10 Ein gemeinsames Staatsbewußtsein, also eine "monarchische Nation", zu schaffen, wollte für die beiden miteinander rivalisierenden und sich innerlich fremden Landesteile trotz der Dynastie als "Bindemittel"ll und des gemeinsamen Staatsgrundgesetzes von 1852 nicht gelingen. 12 Die schmale territoriale und wirtschaftliche Machtbasis in den Stammlanden dürfte den Aufstieg der "Coburger" begünstigt haben, da die Großmächte in ihnen keine Gefahr für die eigenen Hegemonialambitionen sahen. Am Ende des Jahrhunderts verkörperte das Haus Coburg-Gotha geradezu idealtypisch den dynastischen Gedanken. Eingeleitet hatte die familiäre Expansionspolitik des Hauses 13 die spätere Herzogin Auguste, Gemahlin Herzog Franz Friedrich Antons; gezielt fortgesetzt wurde sie durch ihren jüngsten Sohn Leopold, den nachmaligen König der Belgier. Alles begann mit der Einladung Katharinas d. Großen von Rußland an die Erbprinzessin von Coburg-Saalfeld und ihre drei heiratsfähigen Töchter. Zurück blieb in St. Petersburg die jüngste, die spätere Anna Feodorowna, als Gemahlin (1796) Großfürst Konstantins, des Enkels der Zarin. 14 20 Jahre danach ehelichte Leopold die präsumptive Thronerbin von Großbritannien Charlotte, einziges Kind des späteren Königs Georg IV. Wenn auch die an diese Verbindung geknüpften Hoffnungen schon 1817 mit dem Tod der jungen Frau im Kindbett zerrannen, so galten doch coburgische Prinzen (und natürlich Prinzessinnen) hinfort als erste Wahl auf dem monarchischen Heiratsmarkt sowie als aussichtsreiche Anwärter auf vakante Throne. Und Leopold selbst war es, der zumeist vermittelte. Bereits 1818 stiftete .er eine Ehe zwischen seiner Schwester VIktoria (Victoire), der verwitweten Fürstin Leiningen, und Herzog Eduard von Kent, einem Bruder des englischen Königs. Das einzige Kind aus dieser Verbindung erhielt den Namen seiner coburgischen Mutter - Victoria; es war die spätere Queen. 1830 schlug Leopold die angebotene griechische Krone aus, um sich dann ein Jahr später mit englischer Unterstützung zum ersten König der Belgier wählen zu lassen. 15 In dieser Position, die er durch einen ehelichen Bund mit dem französischen Königshaus Orleans absicherte, Ebd., S. 200 - 253. Bismarck, Otto v., (wie Anm. 5), S. 266. 12 Harnbrecht, Rainer, "Nicht durch Krieg, Kauf oder Erbschaft" (Ausstellungskataloge der Staatlichen Archive Bayerns Nr. 34), München 1995, S. 27 - 30. 13 Posse, Otto, Die Wettiner. Genealogie des Gesamthauses Wettin, Leipzig / Berlin 1897, Taf. 20 - 27. - Pellender, Heinz, Ein Herzogtum macht Weltgeschichte, Coburg 1983. 14 Bachmann, Gertraude, Die Reise der Coburger Erbprinzessin Auguste Caroline Sophie an den Hof der Zarin Katharina 11. in St. Petersburg 1795, in: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung 37 (1992), S. 13 - 60. 15 Fürstenheim, Ernst Gerhart, Prinz Leopolds Brautwerbung um die britische Thronerbin, in: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung 27 (1982), S. 129 - 160. - ders., Die englischen Jahre des Prinzen Leopold, in: ebd. 33 (1988), S. 55 - 172. 10

II

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spielte er über Jahrzehnte einen nicht leicht überzubewertenden Part im Konzert der europäischen Mächte. 16 Nicht ohne sein Zutun heiratete Neffe Ferdinand, Nachkomme aus der Ehe seines gleichnamigen Vaters mit der begüterten ungarischen Magnatentochter Antonia v. KoMry, 1836 die portugiesische Königin Maria 11. da Gloria, womit er das bis 1910 regierende Königshaus SachsenCoburg-Braganza begründete. 17 Sein Meisterstück lieferte Leopold mit dem langfristig betriebenen Heiratsprojekt zwischen seiner Nichte Victoria, der englischen Königin, und seinem Neffen Albert, Sohn seines Bruders Ernst 1., des regierenden Herzogs von Sachsen-Coburg und Gotha. 1840 kam die Ehe zustande, die sich nicht nur für Victoria und Albert persönlich, sondern auch für das Land als Glücksfall erweisen sollte. 18 Noch heute verdankt die britische Monarchie dem politischen Weitblick des Prinzgemahls (seit 1857) ihren Fortbestand. Sowohl Leopold als auch Albert verloren nie die Verbindung zu ihrem Herkunftsland; aktiv versuchten sie von außen Deutschlands Zukunft nach dem Vorbild ihrer liberaleren Staaten zu beeinflussen. 19 Partner und Mitstreiter war ihnen der Coburger Neffe bzw. Bruder, Herzog Ernst 11. 20 Einen weiteren Verbündeten in diesem Bestreben suchte Albert durch die Ehe seiner Tochter Vicky (Victoria) mit dem preußischen Kronprinzen Friedrich zu gewinnen. Die nur 99 Tage währende Regierungzeit Kaiser Friedrichs III. machte 1888 die Hoffnungen einer ganzen Generation zunichte. Über einen Cousin besaß Ernst daneben einen direkten Draht nach Wien; auf dem Höhepunkt des preußisch-österreichischen Gegensatzes bestimmte Graf Alexander von Mensdorff-Pouilly 1864 bis 1867 die österreichische Außenpolitik?1 Am klarsten sah vermutlich Bismarck die politischen Möglichkeiten, die der coburgischen Dynastie zeitweise zu Gebot standen. Nicht zuletzt deshalb bekämpfte er deren Einfluß, wo immer er auf ihn traf. 22 Durch Ehen zwischen Angehörigen des Hauses Coburg-Gotha und Mitgliedern nahezu aller europäischen Monarchien war das europaweite Netz verwandtschaftlicher Beziehungen immer 16 Corti, Egon Cäsar, Leopold I. von Belgien, Wien u. a. 1922. - Leopold I. und Coburg (hrsg. von der Historischen Gesellschaft Coburg e.V.), Coburg 1982. 17 Ehrhardt, Marion, Die Dynastie der Coburger in Portugal, Spanien und Brasilien, in: Henker, Michael/Brockhoff, Evamaria (Hrsg.), Ein Herzogtum und viele Kronen. Coburg in Bayern und Europa (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur Nr. 35/97), Augsburg 1997, S. 59-64. 18 Hobhouse, Hermione, Prince Albert: His life and work, London 1983. 19 Fischer-Aue, H.R., Die Deutschlandpolitik des Prinzgemahls Albert von England 1848-1852, Untersiemau/Hannover 1953. 20 Brüuing, Rolf, Fürstlicher Liberalismus und deutscher Nationalstaat, in: Jahrbuch der Coburger Landesstiftung 36 (1991), S. 19 - 219. 21 Bachmann, Harald, Coburger im Dienste Österreich-Ungarns im 18./19. Jahrhundert, in: Gietl, Petronilla (Hrsg.), Vom Wiener Kongreß bis zur Wiedervereinigung Deutschlands (Festschrift Hubert Rumpel), Stamsried 1997, S. 1- 31, bes. 28 - 31. - Brütting, Rolf, (wie Anm. 20), S. 147 -157. 22 vgl. dazu Bismarck, Duo. v. (wie Anm. 5), S. 600 f. - Durchgängig auch: Brütting, Rolf, (wie Anm. 20).

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dichter geknüpft worden. In Coburg und Gotha kreuzten sich ungezählte politische Fäden. Vor diesem Hintergrund ist der Namenswechsel der britischen "CoburgGothaer" zu sehen.

IV. Nach der Reichsgründung fuhren die Coburg-Gothaer zwar in den vertrauten politischen Geleisen fort, wer aber näher zusah, konnte deutliche Risse in einem System entdecken, das nur noch äußerlich festgefügt erscheinen mochte. Nicht gerade zur Begeisterung seiner Mutter heiratete der zum Nachfolger in CoburgGotha ausersehene Herzog Alfred von Edinburgh 23 , zweiter Sohn der Queen und Alberts sowie britischer Flottenadmiral, 1874 Großfürstin Marie Alexandrowna, die Tochter Zar Alexanders 11. Der machtpolitische englisch-russische Gegensatz24 ließ sich im Zeitalter eines weltweiten Imperialismus durch eine dynastische Ehe längst nicht mehr überbrücken. Als Störfaktor in der europäischen Politik erwies sich auch Prinz Ferdinand von Sachsen-Coburg und Gotha aus der Linie Kohary, der 1887 die angebotene Krone von Bulgarien annahm, u. a. gegen den Willen Ernsts 11., des Chefs seines Hauses. 25 Die von ihm begründete bulgarische Dynastie behauptete sich bis 1944 / 46. Zwar kam der Coburg-Clan weiterhin bei familiären Anlässen zusammen, aber die Treffen entsprachen eher bürgerlichen Familienfesten; politische Weichen wurden nicht mehr gestellt. Beispielhaft dafür ist das strahlende Bild einer Coburger Hochzeitsgesellschaft (1894)26, auf dem außer Queen Victoria auch Kaiser Wilhelm 11., Zarewitsch Nikolaus (11.) und der spätere König Ferdinand I. von Rumänien posieren und das in zahllosen Geschichtsbüchern die verwandtschaftliche Verflechtung des europäischen Hochadels illustriert! Trotzdem lagen sich 20 Jahre später ihre Völker im Schützengraben gegenüber. Nur die äußere Fassade stand noch; das Bauwerk selbst, der dynastische Gedanke, hatte sich längst überlebt, war ausgehöhlt und seines ursprünglichen Inhalts beraubt. Konnte monarchische Solidarität - und besonders die unter nahverwandten Fürsten - nach dem Wiener Kongreß noch eine friedens stiftende und -sichernde Funktion besitzen, so hatte sie sich im Zeitalter des Nationalismus und des wachsenden Einflusses der Parlamente zur Fiktion verflüchtigt. Nicht die Fürsten wiesen ihren Völkern den Weg, jene hatten vielmehr - wenn auch teils widerstrebend - ihren Nationen und deren Stimmungen 23 Van der Kiste, John I Jordaan, Bee, Dearest Affie ... Alfred Duke of Edinburgh, Gloucester 1984. 24 vgl. dazu: Grenville, John A. S., Imperial Germany and Britain: From cooperation to war, in: Birke, Adolf M.lRecker, Marie Louise (Hrsg.), Das gestörte Gleichgewicht (PrinzAlbert-Studien Bd. 8), München u. a. 1990, S. 81-95, bes. 88-91. 25 Staatsarchiv Coburg [künftig: StACo], LA A Nr. 7232 -7235. - v. Königslöw, Joachim, Ferdinand von Bulgarien (Südosteuropäische Arbeiten Nr. 69), München 1970, S. 62 - 87. 26 Eheschließung zwischen der Tochter Herzog Alfreds, Prinzessin Victoria Melitas, und dem Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein (Hessen-Darmstadt).

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zu folgen. Das zeigte der gescheiterte Verteidigungspakt zwischen dem Deutschen Reich und Rußland, den (die Teilnehmer am Coburger Hochzeitsfest 1894) Kaiser Wilhelm 11. und Zar Nikolaus 11. in autokratischer Manier 1905 in Björkoe geschlossen hatten. Nur in der Reichsverfassung von 1871 besaß das monarchische Prinzip formal einen starken Rückhalt; denn offiziell begründete den deutschen Nationalstaat ein Bund seiner Fürsten (und freien Städte).27 In Wahrheit waren diese längst "nationalisiert". Damit war noch vor der Jahrhundertwende auch die europäische Sendung des Hauses Coburg zu Ende gegangen.

v. Nach der Heirat des Prinzen Albert mit Queen Victoria bewegte sich das Verhältnis zwischen Coburg-Gotha und Großbritannien zunächst in den herkömmlichen Bahnen verwandtschaftlicher Kontakte unter Monarchen, d. h. im Austausch persönlicher Briefe, politischer Ratschläge und Memoranden sowie im Versuch, zu gemeinsamer Politik zu gelangen. 28 Frühzeitig verständigte sich Herzog Ernst 11., der ohne sukzessionsfähige Erben geblieben war, mit seinen nächsten Verwandten in Großbritannien auf die Nachfolge in den Herzogtümern. Spätestens 1863, als der Prince 01 Wales für sich und seine Nachkommen zugunsten seiner Brüder förmlich auf das deutsche Erbe verzichtete,29 um eine nach der coburggothaischen Verfassung30 unzulässige Personalunion zwischen Großbritannien und den deutschen Stammlanden auszuschließen, stand der zweite Sohn Queen Victorias und Alberts, Alfred, der Herzog von Edinburgh, als künftiger Thronerbe fest. 31 Alfred hatte sich in der britischen Marine bis zum Oberbefehlshaber der Mittelmeerflotte und schließlich zum Admiral ofthe Fleet hochgedient; auf die Nachfolge in Coburg und Gotha, das schlicht als dynastischer Hausbesitz betrachtet wurde, war er dagegen nicht vorbereitet. Nationale Rücksichten erschienen nicht nötig. Zudem konnten sich die Coburg-Gothaer 30 Jahre lang an den Gedanken gewöhnen, künftig von einem Briten regiert zu werden. Wenigstens zeitweise war Alfred noch zu Lebzeiten des Onkels mit einer eigenen Hofhaltung und einem durch den Dienst in der preußischen Armee deutsch geprägten Sohn in Coburg präsent. Der Regierungswechsel warf 1893 keine erkennbaren Probleme auf. Aber ein deutscher Bundesfürst, der hörbar im Kampf mit der deutschen Sprache lag und kaum Neigung zum Herrscherberuf in den kleinen Fürstentümern besaß, war bei aller dynaRGBI 1871, S. 64 (Präambel). vgl. die Korrespondenz im StACo, LA A Nr. 6970 - 6979, 7000 f., 7051. 29 Gemeinsame Gesetzsammlung der Herzogtümer Sachsen Coburg und Gotha von 1863, S.347f. 30 Staatsgrundgesetz für die Herzogtümer Coburg und Gotha. Vom 3. Mai 1852, Paragraph 9 (Gesetzsammlung für das Herzogtum Coburg Nr. ISO, S. ll). 31 Auf Wunsch des Landtags, der sich damit erstmals bei der Thronfolgeregelung - wenn auch am Rande - einschaltete, wurde der Verzicht in der Gesetzsammlung publiziert. 27 28

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stischen Anhänglichkeit dann doch nicht nach jedermanns Geschmack. Herrscher und Bevölkerung waren sich innerlich fremd. 32 Der Herzog blieb Ausländer. Auch das Verhältnis zwischen dem deutschen Bundesstaat Coburg-Gotha und Großbritannien hatte sich gewandelt; nicht mehr der persönliche Kontakt unter den Herrschern - zwischen Mutter (Queen Victoria) und Sohn (Herzog Alfred) - prägten es; seine institutionalisierte Pflege oblag einem "Kgl. Großbritannischen Geschäftsträger" in Coburg?3 Das bedeutete nicht Intensivierung, sondern zunehmende Distanz. Sie trat offen zutage, als der Erbprinz, der einzige Sohn Alfreds, am 6. Februar 1899 seinem Vater im Tod voranging und damit die Nachfolgefrage von neuem akut wurde. Erschwert wurde die neuerliche Sukzession eines britischen Prinzen durch ein Gemisch explosiver Elemente, die sich gegenseitig bedingten und in ihrer Wirkung steigerten: 1. Im Gegensatz zur vorhergehenden Nachfolgeregelung war Coburg-Gotha nicht mehr Teil eines losen Staatenbundes, sondern eines Nationalstaates. 2. Den wachsenden Nationalismus mit betont anti-britischer Zielrichtung im Deutschen Reich - und natürlich auch in Coburg-Gotha - hatte der Kolonialkonflikt um Samoa (1899) weiter angeheizt.

3. Die coburg-gothaischen Parlamente betrachteten die Thronfolgefrage nicht länger als Angelegenheit, die allein die Angehörigen der Dynastie betraf und die sie nach selbstgegebenen Normen unter sich aushandeln konnten; sie wollten beteiligt sein. 4. Auch die persönliche Intervention Kaiser Wilhelms erleichterte das Problem nicht. Zum einen wollte er seinem Coburger Onkel demonstrieren, daß der kaiserliche Führungsanspruch über alle deutschen Bundesfürsten auch für ihn gelte; zum andern wechselten seine ambivalenten Gefühle gegenüber dem Land der Mutter und Großmutter zwischen Bewunderung, was ihn um Sympathien werben ließ, und - wie in diesem Fall - dem Argwohn, das Deutsche Reich bzw. er selbst würden dort nicht für voll genommen. 34 Hatten der coburg-gothaische Staats minister v. Strenge und mit ihm Herzog Alfred noch Ende März 1899 gemeint, die Thronfolgefrage lasse sich im Stil der lahrhundertmitte behandeln, so mußten sie sich rasch eines andern belehren lassen. 35 Die Zusage des nach dem Staatsgrundgesetz (1852) und dem Hausgesetz Facius, Friedrich, (wie Anm. 3), S. 228 f. Adreßbuch der Hz!. Residenzstadt Coburg 1895, S. 157; 1897, S. 164; 1905, S. 143. Nach dem Regierungsantritt Herzog Carl Eduards läßt sich der britische Geschäftsträger nicht mehr nachweisen. 34 Röhl, John C. G., Der Kaiser und England, in: Rogasch, Wilfried (Hrsg.), Victoria & Albert, Vicky & The Kaiser, OstfiIdem-Ruit 1997, S. 165 - 184. 35 Vg!. Memorandum des Staatsministers v. Strenge für Herzog Alfred vom 28.3.1899, in dem jener die Dringlichkeit einer baldigen Regelung ansprach (StACo, LA A Nr. 9511 fo!. 1 - 5). 32 33

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(1855) nächsterbberechtigten Herzogs Arthur von Connaught (dritter Sohn Alberts und der Queen und somit ein Bruder Alfreds) traf umgehend am 6. April ein: " ... Ich und Mein Haus [sind] bereit, Unsere Pflichten gegen die Uns angestammten Herzogthümer Coburg und Gotha zu erfüllen." Namens der Regierung dankte der Staatsminister "für diesen Beweis der Treue und Anhänglichkeit an Land und Bevölkerung in den Herzogthümern". Mit der Unterrichtung des Gemeinschaftlichen Landtags schien die Thronfolgefrage abschließend geregelt. 36 Nun brach jedoch ein Sturm der Entrüstung in der deutschen Öffentlichkeit los, der auch die Herzogtümer erfaßte. Beispielhaft dafür ein Kommentar in den Leipziger Neuesten Nachrichten 37 : "Wie demütigend aber ist das für den Landtag, wie beschämend für das ganze Volk, in fremde Hände gegeben zu werden wie ein totes Erbstück der Familie ... " Besonders erboste, daß angeblich die englische Königsfamilie in Nizza38 unter Vorsitz Queen Victorias "ohne den verantwortlichen Staatsminister des deutschen Staates und ohne irgend eine Instanz der Reichsbehörden zuzuziehen" über die Thronfolge in einem deutschen Herzogtum zu Rate gesessen hatte. Der antibritische Artikel gipfelte in der Forderung, "deutsche Throne nur von deutschen Prinzen" besetzen zu lassen. In die Reichsverfassung aufzunehmen sei der Grundsatz von 1849: "In die Regierung und Verwaltung des deutschen Landes dürfen nur deutsche Staatsbürger berufen werden. ,,39 Unter dem Eindruck der nationalen Erregung empfing Kaiser Wilhelm 11. am 21. März seine beiden Onkel, die Herzöge von Connaught sowie von SachsenCoburg und Gotha, auf der Wartburg in Audienz. Er ließ keinen Zweifel daran, daß, sofern sich Herzog Arthur als Thronerbe ansehe, "dies sein Ausscheiden aus dem englischen Unterthanenverbande, das Aufgeben seiner Commandostelle in England und die Uebersiedlung seines Sohnes nach Deutschland behufs Eintritt in ein Cadettencorps oder eine Kriegsschule bedinge... Falls der Herzog auf sein englisches Commando nicht verzichten koenne, wäre es für ihn besser, auf die Thronfolge zu verzichten.,,4o Dem Reichskanzler ließ der Kaiser anschließend mitteilen, die herzogliche Regierung in Gotha offiziell von seiner und seiner Regierung Auffassung in Kenntnis zu setzen. Besonders erboste ihn, daß der Herzog von Connaught ihn, den Kaiser, nicht vorab von seiner Absicht unterrichtet hatte, in den Kreis der deutschen Fürsten eintreten zu wollen. Seine Ausführungen bewegten sich im Stil der zitierten Pressereaktionen: Die deutsche Öffentlichkeit gehe davon aus, "daß kein Fürst, der einen deutschen Thron besteigt, politische Verpflichtungen aus seinem früheren Verhältniß zu außerdeutschen Mächten herüberc 36 Verhandlungen des gemeinschaftlichen Landtags der Herzogtümer Coburg und Gotha [künftig: Verhandlungen], 18. Sitzung vom 10.4. 1899, S. 223 f. 37 Zit. nach: Friedrichsrodaer Zeitung, Nr. 64 vom 22. 4. 1899. 38 Ebd. - Richtig ist daran nur, daß sich die Queen in Cirniez (Frankreich) aufhielt und dort auch eine Unterredung mit ihrem Sohn, Herzog A1fred, in der Nachfolgefrage hatte (vgl. Weintraub, Stan1ey, Queen Victoria, Zürich 1987, S. 509f.). 39 Reichsverfassung vom 28. März 1849, Art. 2 Satz 2. 40 StACo, LA A Nr. 9511 fol. 29 f.

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nehmen kann". Sie befürworte zudem, durch ein Reichsgesetz "ein für alle Mal" Ausländer von deutschen Thronen auszuschließen. 41 In den folgenden Verhandlungen betonte Staatsminister v. Strenge, daß ein Ausschluß ausländischer Prinzen von der Thronfolge der coburg-gothaischen Staatsverfassung widerspreche und auch die Reichsverfassung solches nicht gebiete. Von ausländischen Thronprätendenten könne man billigerweise nicht verlangen, einer ungewissen Anwartschaft wegen ihre sichere Existenz (Apanage, Ansprüche) in den Heimatstaaten aufzugeben. Doch der Unterhändler ging nicht von der kaiserlichen Forderung ab, da sich der Kaiser "in völliger Uebereinstimmung mit den nationalgesinnten Kreisen des deutschen Volkes" erachte. Auch am vorherigen Benehmen "mit dem Kaiser, den übrigen deutschen Fürsten und dem Bundesrath" hielt er fest, da "die Succession eines auswärtigen Prinzen die Intereßen und die Sicherheit des Reichs gefährde[n]" könnte. Die Thronfolge in einem deutschen Staate sei nicht lediglich Sache der Landesgesetzgebungen und - unausgesprochen - eines Familienrats. Und dann fast entschuldigend: "Der Kaiser müsse dieser öffentlichen Meinung nachgeben." v. Strenge hakte nach, inwiefern die coburg-gothaische Thronfolge das Reich in Gefahr bringen könne und ob die kaiserlichen Forderungen nicht vielmehr auf die Absicht hinausliefen, die Reichsverfassung zu ändern. Beim kaiserlichen Vertreter verfing auch sein Argument nicht, es sei mit dem monarchischen Prinzip unvereinbar, wenn dem Landtag bei der Thronfolgeregelung eine über das nötige Maß hinausgehende Mitsprache eingeräumt werde, wie sie sich bei einem erzwungenen Verzicht des Herzogs Arthurs zwangsläufig ergebe. Jener blieb "dabei stehen, daß die Thronfolge auswärtiger Prinzen in Deutschland von Garantien für die Wahrung der Interessen des Reiches abhängig gemacht werden müßten".42 Vorbehaltlos hatte der forsch auftretende Kaiser in dieser Frage die veröffentlichte Volksmeinung übernommen und ihr als williges Sprachrohr gedient. Nur verbal hatte er am dynastischen Gedanken festgehalten. Er, der Nahverwandte, und seine Regierung trugen so dazu bei, daß sich der noch immer enge Familienzusammenhalt über die Landesgrenzen hinweg im Haus Sachsen-Coburg und Gotha erkennbar zu lockern begann. Denn was im Gespräch mit dem Kaiser abzusehen war, trat ein. Unter den genannten Bedingungen standen der Herzog von Connaught und auch sein Sohn nicht länger für die Regierungsnachfolge in den Herzogtümern zur Verfügung. Wenn auch der offizielle Verzicht auf sich warten ließ, so sickerte doch genug durch, um Anlaß zu - aus dynastischer Sicht unerwünschten - öffentlichen Diskussionen zu geben. Gerade dies hatte der konservative Staatsminister Ende März verhindern wollen. Denn der Verzicht eröffnete u. a. dem Landtag die Möglichkeit zur Mitwirkung in einer Frage, deren Behandlung ursprünglich ausschließlich dem 41 Kaiserliche Weisung an Reichskanzler Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, vom 23. 4. 1899 (StACo, LA A Nr. 9511 fol. 27 - 30). 42 Protokollnotiz Staatsministers v. Strenge für Herzog Alfred über seine Verhandlungen mit dem preußischen Gesandten Graf Mettemich vom 24. 4. 1899 (StACo, LA A Nr. 9511 fol. 42 - 47).

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Haus Coburg vorbehalten war. 43 Noch am 31. Mai hatte der coburgische Abgeordnete Max Oskar Arnold im gemeinschaftlichen Landtag den Antrag gestellt: Jener "wolle die Herzogliche Staatsregierung ersuchen, an Höchster Stelle darauf hinzuwirken, daß der nach menschlichem Ermessen dereinst zur Thronfolge berufene Prinz Arthur von Connaught [Sohn Herzog Arthurs], Königliche Hoheit, baldmöglichst seinen Aufenthalt in den Herzogthümern Coburg und Gotha nehme, hierselbst eines deutsche Erziehung erhalte und mit den Verhältnissen seiner neuen Heimath sich vertraut mache.,,44 Zwischen Berlin, Gotha und London setzte nun eine rege "Krisendiplomatie" ein; die Monarchen, d. h. der Kaiser (Neffe und Enkel), der Herzog (Onkel und Sohn) und die Queen (Mutter und Großmutter), suchten in persönlichen Briefen und Gesprächen, zu denen Herzog Alfred und später sein Staatsminister nach London reisten, einen Ausweg aus der Sackgasse. Rasch verfiel man auf den 15jährigen Charles Edward, Herzog von Albany, Postumus des vierten Sohnes45 von Albert und Victoria, als nächsten Anwärter. Besonders Wilhelm 11. sprach sich für die Kandidatur dieses britischen Cousins, "little Albany", aus, "der noch jung, ohne eigene Meinung, daher bildungsfähig und zur Erziehung als deutscher Fürst geeignet" sei. 46 Zudem sei seine Mutter Helene, eine geborene Prinzessin von Waldeck, eine Deutsche. Einverständnis herrschte darüber, daß Carl Eduard, wie er hinfort genannt wurde, baldmöglichst zur Erziehung nach Deutschland überzusiedeln habe. Herzogin Helene konnte in den langwierigen und schwierigen Verhandlungen ihre Bedingungen, die ihr den vorherrschenden Einfluß auf ihren einzigen Sohn sichern sollten, nur unvollkommen durchsetzen. 47 Nichts sollte die Entwicklung Carl Eduards zum nationalgesinnten deutschen, den Volkswünschen entsprechenden Fürsten stören. In der Zwischenzeit hatte sich der Landtag, der von den neuen "Arrangements" zugunsten des Herzogs von Albany aus der Presse erfuhr, immer mehr des Themas Thronfolge bemächtigt. Der Staatsminister, der auf Anfrage am 9. Juni nur zu erklären wußte, daß offiziell Herzog Arthur unverändert "die hausgesetzlichen Rechte des nächsten Agnaten des Herzoglichen Hauses" ausübe, konnte aber nicht umhin, die bestehenden Schwierigkeit anzudeuten. An der in Kürze zu erwartenStACo, LA A Nr. 9511 fo!. 5. Gegen die sieben sozialdemokratischen Stimmen aus Gotha wurde der Antrag angenommen (Verhandlungen, 21. Sitzung vom 31. 5.1899, S. 271 f.). Die herzogliche Regierung mußte sich damit grundSätzlich einverstanden erklären (ebd., 26. Sitzung vom 9. 6. 1899, S.305). 45 Leopold, Herzog von Albany, der an der Bluterkrankheit litt (vg!. Eilers, Marlene A., Queen Victoria's Descendants, New York 1987, S. 131). 46 Brief an Herzog Alfred vom 7. 6. 1899. Im gleichen Sinn sprach sich der Kaiser in einem undatierten Brief gegenüber der Queen aus: " ... littIe Albany ... is young still and accordingly better suited and more easily moulded. The more so as he has not yet developed his ideas or fixed his interests." (StACo, LA A Nr. 9511). 47 StACo, LA A Nr. 9511. 43

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den Entscheidung werde sowohl die Staatsregierung als auch der Landtag beteiligt. 48 Mitte des Monats drängte letzterer immer ungeduldiger auf Informationen: " ... es hat etwas Demüthigendes für das Land, wenn es über diese für seine Zukunft so wichtige Frage im Dunkeln gelassen wird. ,,49 Vertraulich unterrichtete ihn daraufhin die Regierung in geheimer Sitzung. 50 Erst die Rückkehr des Ministers von seiner Englandmission brachte völlige Klarheit; nun lag den Abgeordneten die Verzichtserklärung der beiden Connaughts (vom 24. Juni) vor und die Annahme der Thronfolge durch den Herzog von Albany (vom 28. Juni). Nicht überrascht, aber tief bewegt habe ihn, den Minister, bei Queen Victoria und allen Mitgliedern der englischen Königsfamilie das "Verständniß und Entgegenkommen gegenüber den Interessen und Wünschen unserer Herzogtümer" und die "Anhänglichkeit an das Stammland des verewigten Prinzen Albert", wodurch der enge ,,zusammenhang des Landes und der Dynastie gewährleistet" werde. 51 Die rechtlichen Grundlagen für die geänderte Thronfolge legte die Regierung dem Landtag arn 3. Juli vor. Nicht ohne Stolz kommentierte M.O. Arnold: Nach dem Verzicht des Herzogs von Connaught habe "der Landtag die Initiative zur endgültigen Lösung der Thronfolgefrage ergriffen".52 In geraffter Form nahm die Debatte die politische Entwicklung der folgenden 20 Jahre vorweg. Zunächst beschwor die Vorlage noch einmal das alte dynastische Prinzip mit seiner Internationalität des Fürstenrechts. Denn, so argumentierte sie, "den Zusammenhang zwischen den Herzogthümern und dem von dem Prinzen Albert Hoheit begründeten Zweige des Herzoglichen Hauses zu erhalten, liegt ebenso in dem dringenden Wunsche Ihrer Majestät der Königin von England und der Kinder und Kindeskinder derselben als im Interesse des Landes selbst. ,,53 Die Landtagskomrnission dagegen schlug - wenn auch noch ohne Konsequenzen - nationalistische Töne an; sie hatte nämlich zeitweise erwogen, "ob nicht durch Abänderung der Verfassung Mitglieder des Herzoglichen Hauses, solange sie im Besitz eines außerdeutschen Indigenats sind, von der Thronfolge in den Herzogtümern ausgeschlossen werden sollten".54 Aus dem sozialistischen Lager dagegen kam die zukunftsweisende "ernste Frage: ob die Herzogtümer überhaupt einen Herzog haben" oder "nicht lieber Reichsland sein" wollten. 55 Die Landtagsmehrheit jedenfalls war sich im Hinblick auf den neuen Herzog einig, "daß er in jeder Weise deutsch erzogen werden soll, ... daß er deutsch reden, deutsch fühlen und deutsch denken lernt".56 Ergebnis war das 48 49 50 51

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54 55 56

Verhandlungen, Verhandlungen, Verhandlungen, Verhandlungen, Verhandlungen, Ebd., S. 372. Ebd., S. 376. Ebd., S. 378. Ebd., S. 380.

26. Sitzung vom 9. 6. 1899, S. 305. 30. Sitzung vom 15.6. 1899, S. 339. 31. Sitzung vom 16.6.1899, S. 346f. 34. Sitzung vom 30. 6. 1899, S. 371. 35. Sitzung vom 3. 7. 1899, S. 382.

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"Gesetz, die Thronfolge in den Herzogtümern Coburg und Gotha betreffend, vom 15. Juli 1899".57 Es beschäftigte in der Folge eine Reihe von Staatsrechtlern. 58 Mit dem Tod Herzog Alfreds am 30. 7. 1900 trat früher als erwartet der Erbfall ein. 59 Für den minderjährigen Erben führte dessen Vormund, Erbprinz Ernst von Hohenlohe-Langenburg, verheiratet mit einer Tochter Herzog Alfreds, bis zu Carl Eduards Regierungsantritt 1905 die Regentschaft. Er steuerte einen liberalen Kurs. 60 Zwischenzeitlich durchlief der zuletzt in Eton englisch erzogene Prinz ein vom kaiserlichen Vetter zusammengestelltes Erziehungsprogramm: Kadetten- und Offiziersschule in Lichterfelde und Potsdam, Studienzeit in Bonn sowie Einführung ins deutsche Hofleben in Stuttgart, Potsdam und Berlin. 61 Unter dem öffentlichen Druck und dem Zwang, der ausländischen Herkunft wegen stets seine nationale Gesinnung beweisen zu müssen, wandelte sich der englisch-liberale Prinz - wie von ihm erwartet! - zu einem deutschen Chauvinisten. 62 Gleichwohl führte er stolz seine englischen Titel. 63 Gegen latente Vorbehalte bezüglich seiner nationalen Zuverlässigkeit hatte er verstärkt bei Kriegsausbruch 1914 anzukämpfen. 64 Davor bewahrte ihn auch nicht Gesetzsammlung für das Herzogtum Coburg, 1899, Nr. 1287, S. 45 -48. U.a. Pfizer, Gustav, Lippe und Koburg, in: Die Zukunft, Bd. 26, S. 333 - 337. - Kekule von Stradonitz, Stephan, Die Thronfolge in Sachsen Coburg und Gotha, in: Die Grenzboten 58 (5. 10. 1899); Wiederabdruck in: ders., Ausgewählte Aufsätze aus dem Gebiete des Staatsrechts und der Genealogie, Berlin 1905, S. 1- 18. - Bornhak, Conrad, Zwei Fragen des herzoglich sächsischen Thronfolgerechts, in: Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, 37 (1904), S. 411-422 (Bornhaks Argumentation, eine englische Erbfolge in den Fürstentümern sei künftig schon wegen des deutschen Ebenbürtigkeitsrechts nicht mehr möglich, wurde zwar gelegentlich aufgegriffen, spielte aber bei den späteren Erörterungen keine Rolle. Durch die Ehe Georgs V. mit Mary v. Teck, deren Großvater eine nicht standesgemäße Ehe eingegangen war, gehörten ihre Nachkommen nach dem Hausgesetz (Art. 94) nicht mehr dem Haus Coburg-Gotha an. Nachträglich sei der Mangel nicht zu beheben). 59 Eilers, Marlene A., (wie Anm. 45), S. 189. 60 Hess, Ulrich, Geschichte Thüringens 1866 bis 1914, Weimar 1991, S. 469 f. 61 Facius, Friedrich, (wie Anm. 3), S. 320. 62 Äußere Zeichen dafür waren der Ehrenvorsitz im "Bund der Kaisertreuen" (gegr. Anfang Dezember 1917), der sich, ohne damit auf Gegenliebe zu treffen, als innenpolitische Ergänzung zur "Deutschen Vaterlandspartei" verstand (Hagenlücke, Heinz, Deutsche Vaterlandspartei (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Bd. 108), Düsseldorf 1997, S. 360 - 362. - Ulrich, Robert, Bund der Kaisertreuen (BK) 1917 - 1919, in: Lücke, Dieter, u. a. (Hrsg.), Lexikon der Parteiengeschichte, Bd. I, Leipzig 1983, S. 235 f.) und seine unheilvolle politische Rolle in der extremen Rechten der Weimarer Republik, u. a. als früher Förderer der aufkommenden NSDAP (u. a. Hambrecht, Rainer, Der Aufstieg der NSDAP in Mittel- und Oberfranken 1925 - 1933, Nümberg 1976, S. 32, 165, 311,356,360,429,537,558). 63 ThStAG, Staatsmin. I Ib Nr. 67 fol. 10. 64 Staatsminister v. Bassewitz an Staatsrat Dr. Paulssen vom 5. 10. 1914: " ... trotzdem wird seiner deutschen Gesinnung wegen seiner [Herzog Carl Eduardsl englischen Abstammung Mißtrauen entgegengebracht." (ThStAG, Staatsmin. I la Nr. 49 fol. 3). 57

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sein Dienst im Stab der 38. Infantrie-Division. 65 Mit sichtbaren Zeichen versuchte er der Öffentlichkeit immer wieder ostentativ seine Distanz zum Land seiner Herkunft zu beweisen - durch die Aufgabe des Ehrenkommandos über das Regiment Seaforth Highlanders ("dessen Land uns in schändlicher Weise überfallen hat"),66 durch Befehl, die englischen und belgisehen Orden seines Flügeladjutanten zu veräußern 67 oder den Nichtgebrauch seiner englischen Tite1. 68 In den ersten Kriegswochen lebte die Thronfolgediskussion von 1899 bis in die Wortwahl hinein - und nun verschärft - erneut auf. Am 5. Oktober 1914 ersuchte der Gemeinschaftliche Landtag die Staatsregierung um eine Gesetzesvorlage, durch die "Angehörige außerdeutscher Staaten von der Nachfolge in die Regierung der Herzogtümer" ausgeschlossen werden sollten. 69 Die Initiative fand die Zustimmung des Herzogs. Unklar bleibt, ob sich Carl Eduard nur dem Druck der öffentlichen Meinung beugte70 oder ob er selbst den Impuls gab. 71 In der gesamten deutschen Presse rief der Vorgang ein ungeahntes Echo hervor. 72 Einhellig wurde er als Kundgebung gegen das englische Königshaus, als Entschluß, "das Band des Fürstenrechts, das ihn [Carl Eduard] noch mit dem englischen Thron vereint, zu zerreißen", begrüßt. 73 Auch die Reichstagsparteien bemächtigten sich des Themas. 74 Für die Regierung wäre deshalb verständlicherweise eine reichsrechtliche Regelung, möglichst über eine Änderung der Reichsverfassung oder durch einen förmlichen Verzicht der betroffenen Dynastien in einem künftigen Friedensvertrag, am sympatischsten gewesen. 75 Ihr Vorschlag löste in Berlin eine lebhafte Diskussion unter den zuständigen Reichsämtern aus. 76 Am 13. November lehnte das ReichsFacius, Friedrich, (wie Anm. 3), S. 293. ThStAG, Staatsmin. I K Tit. 1 Nr. 128 fol. 96 - zit. nach Wiegand, Heinz (Thron- und Erbfolgestreit im Hause Sachsen-Coburg und Gotha 1914 - 1918, noch unveröffentlichtes Manuskript, S. 6). 67 Gothaische Zeitung vom 9. 9. 1914 - zit. nach Wiegand, ebd. 68 Gesetzsammlung für das Herzogtum Gotha, 1915 Nr. 6, S. 15 - zit. nach Wiegand, ebd. 69 ThStAG, Staatsmin. I la Nr. 49 fol. 1. - Diesem Antrag trat am 6. 11. 1914 auch der Ausschuß für den Landtag des Herzogtums Gotha bei: ebd., fol. 16. 70 So Facius, Friedrich, (wie Anm. 3), S. 294 und (ihm folgend) Pogge v. Strandmann, Hartmann, Georg V. Die Monarchie in der Defensive, unveröffentlichtes Manuskript, S. 22 f. - Persönliche Zeugnisse Carl Eduards zu dieser Frage sind nicht bekannt. 71 Das ließe sich u.V. aus einem Artikel des Coburger Tageblatts vom 7. 10. 1914 herauslesen: ,,Bereits vor Wochen kündeten die Zeitungen diese Absicht des Herzogs [Ausschluß von Ausländern von der Erbfolge] an ... ". 72 Siehe die Zeitungsausschnittsammlung als Anhang zu ThStAG, Staatsmin. I la Nr. 49. 73 Coburger Tageblatt vom 7. 10. 1914. 74 Schiffer an Dr. Quarck vom 10. 11. 1914 (ThStAG, Staatsmin I I a Nr. 49 fol. 45). 75 Staatsminister v. Bassewitz an Staatsrat Dr. Paulssen vom 5. 10. 1914 (ThStAG, Staatsmin. I la Nr. 49 fol. 2 f.). 65

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amt des Innern ein Tätigwerden schließlich ab. Zwei Gründe waren entscheidend: Zum einen würde es sich um einen unzulässigen Eingriff in die verfassungsmäßigen Rechte der Bundesstaaten handeln, zum andern entstammten - so das Auswärtige Amt - "die Mehrzahl der Fürsten auf ausländischen Thronen - England, Rußland, Dänemark, Norwegen, Griechenland, Rumänien, Bulgarien, Belgien sowie die zukünftige Erbin der Niederlande - deutschen Fürstenhäusern" - weshalb "in Zukunft eine Besetzung fremder Throne mit Mitgliedern deutscher Fürstenhäuser" bei einem solchen Vorgehen unmöglich gemacht werde. Angesichts der patriotischen Haltung Herzog earl Eduards und der durch zwei gesunde Söhne gesicherten Erbfolge bestehe zudem kein Handlungsbedarf. 77 Damit wollten sich Landtag und Regierung nicht abfinden. Im Weg der Landesgesetzgebung arbeitete die Staatsregierung einen vom Herzog genehmigten Gesetzentwurf aus, der das Thronfolgerecht an den Besitz der Reichsangehörigkeit band. Die erneute Frage nach der außenpolitischen Opportunität beantwortete Reichskanzler v. Bethmann Hollweg am 2. März 1915 unter Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Bundesstaaten wieder mit seiner Unzuständigkeit und machte die bekannten Gegengründe geltend. 78 In nichtöffentlicher Sitzung informierte von Bassewitz am 17. März 1915 den Gemeinschaftlichen Landtag, daß die Regierung den Gesetzentwurf wegen der Reichsinteressen in außerdeutschen Staaten - also aus zeitgebundenen, taktischen Erwägungen - nicht zur Abstimmung vorlegen werde. Nach seiner Einschätzung sei die wohlwollende Neutralität verschiedener Staaten, u. a. "Bulgariens und Rumäniens für die Stellung Deutschlands im Weltkampfe von allergrößter Bedeutung".79 Aber der Landtag ließ nicht locker; er forderte vielmehr die Herzogliche Staatsregierung auf, zu günstigerer Zeit "ohne Verzug ... die Thronfolgefrage im Sinne des Ausschußantrags vom 5. Oktober 1914" mit ihm gemeinsam zu regeln. so Dazu schien dem Staatsministerium unter dem fortwährenden Druck des Landtags Anfang 1917 der rechte Zeitpunkt gekommen. Innen- und außenpolitisch hatte sich die Lage geändert. Nach dem Wechsel der Obersten Heeresleitung im August 1916 und den zeitweisen Erfolgen auf dem Balkan (Niederlage Rumäniens!) setzte man im Stil Ludendorffs auf betont selbstbewußtes Auftreten. Nicht zufällig wurde gleichzeitig um die Wiederaufnahme des vor allem gegen England gerichteten, uneingeschränkten U-Boot-Kriegs gerungen. Außenpolitische Rücksichten schie76 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes [künftig: PA], R 3335 f. - ThStAG, Staatsmin. I la Nr. 49. 77 Richter an Dr. Paulssen (PA, R 3335, - ThStAG, Staatsmin. I la Nr. 49, fol. 48). 78 Reichskanzler v. Bethmann Hollweg an Staatsminister v. Bassewitz vom 2.3. 1915 (PA, R 3336, - ThStAG, Staatsmin. I la Nr. 49). 79 ThStAG, Staatsmin. I la Nr. 49 fol. 92 - 94. - Verhandlungen, 6. Sitzung vom 16.3. 1915, S. 102. 80 Geheime Anzeige des Landtags an den Herzog vom 17.3. 1915 (ThStAG, Staatsmin. I la Nr. 49).

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nen nicht mehr am Platze. Nun konnte auch ein kleiner Bundesstaat seiner Bevölkerung zeigen, daß er die britische Blockadepolitik, die verbunden mit einer Mißernte den berüchtigten Kohlrübenwinter 1916/17 beschert hatte 8I, nicht mehr tatenlos hinzunehmen bereit war. Bassewitz fragte neuerlich bei der Reichskanzlei an, welche Haltung sie unter den gewandelten Verhältnissen zum geplanten, vom Herzog genehmigten Thronfolgegesetz in den Herzogtümern einnehme. 82 Die Antwort des Reichskanzlers unterschied sich im Tenor kaum von der des Jahres 1915; sie betonte, daß der Entwurf "gegenwärtig der Auffassung der überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes" zwar entspreche, aber aus den bekannten Gründen noch immer zu einer Schädigung der deutschen Interessen führen könne. 83 Trotzdem las der coburg-gothaische Staatsminister dieses Mal nur Zustimmung heraus und kündigte an, den Gesetzentwurf im Landtag einbringen zu wollen. Mit ihm sollten nicht einzelne Agnaten von der Thronfolge ausgeschlossen werden, sondern, wie der Herzog von Anfang an "auch aus persönlichen Gründen" billigte, bestimmte Eigenschaften zur Voraussetzung für die Regierungsnachfolge gemacht werden. "Nach ernsten Erwägungen" pflichtete dem der Herzog am 8. Februar bei. Um eine "Kränkung" der österreichischen und bulgarischen Verwandten (denen das Gesetz die Thronfolge nicht grundsätzlich versperrte) zu vermeiden, ließ sie Carl Eduard durch seinen Minister persönlich informieren. 84 Am 5. März begannen die Beratungen im Landtag, wo sich ein extremer Nationalismus zu Wort meldete. 85 Darüber herrschte weitgehend Einigkeit: Agnatische Thronfolgeansprüche dürften auch gegen den Willen der Erbberechtigten im Wege der Verfassungsgesetzgebung entzogen werden. Und: Der Entzug sollte England treffen, "wo man bis in die neueste Zeit geneigt war, die Herzogtümer als einen Familienbesitz zu betrachten, dessen Übertragung an ein Mitglied des Hauses nach Beschließung eines englischen Familienrats erfolgte".86 Nur die sieben Gothaer Sozialisten stimmten gegen das Gesetz, dem Herzog Carl Eduard am 12. März mit seiner Unterschrift Rechtskraft verlieh. Neben der deutschen Reichsangehörigkeit durch Geburt und dem protestantischen Bekenntnis forderte sein wesentlichster Punkt: "Mitglie81 Zur Versorgungslage des Herzogtums Coburg s. Harnbrecht, Rainer, "Nicht durch Krieg", (wie Anm. 12), S. 60 - 62, 68 -72. 82 Staatsminister v. Bassewitz an Unterstaatssekretär Wahn schaffe vom 2. 1. 1917 (ThStAG, Staatsmin. I la Nr. 49 fo!. 109 f.). 83 Reichskanzler v. Bethmann Hollweg an Staatsminister v. Bassewitz vom 17. 1. 1917 (PA, R 3336; dg!. ThStAG, Staatsmin. I la, Nr. 49 fo!. 112f.). 84 Staatsminister v. Bassewitz an Hofkammerpräsident v. Bassewitz vom 8. 2. 1917 (ThStAG, Staatsmin. I la Nr. 49 fo!. 132 - 135). 85 Dazu einige Redesplitter: "Auf deutschen Thronen nur Deutsche! ... Auch der gehässigste und gefährlichste Feind [Großbritannien], der Anstifter des namenlosen Elends zittert ... Verfassungsrecht von undeutschen Flecken befreien ... Angehörige von Staaten, die erbitterte Feinde des Deutschen Reiches sind und die sich die Vernichtung des deutschen Wesens zur Aufgabe gemacht haben ... " (Verhandlungen, 14. und 15. Sitzung vom 5. und 10. 3.1917, S. 201 - 206). 86 Ebd., S. 204.

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der des Herzoglichen Hauses, die einem außerdeutschen Staat angehören, verlieren das Recht der Regierungsnachfolge für sich und ihre Nachkommen, wenn ihr Heimatstaat Krieg gegen das Deutsche Reich führt. ,,87 Als Ergebnis einer jahrzehntelangen Entwicklung war damit das dynastische Band zwischen der deutschen und der englischen, belgischen und portugiesischen Linie des Hauses Sachsen-Coburg und Gotha von den Stammlanden aus zerschnitten; aus dem Verwandtschaftsverhältnis erwuchsen hinfort keine Rechtsfolgen mehr. Der deutsche Zweig des Hauses Sachsen-Coburg und Gotha war nationalisiert, besser noch "germanisiert". VI.

In Großbritannien nahm man von den antibritischen Vorgängen in den Herzogtümern und vor allem vom coburg-gothaischen Thronfolgegesetz kaum oder gar keine Notiz. Das gilt auch für König Georg v., der nach bisheriger Kenntnis nichts davon gewußt zu haben scheint. Weder die amtliche noch die private Korrespondenz liefern einen Anhaltspunkt. 88 Wenn dem so ist, und nichts berechtigt zu Zweifeln, dann kann es zwischen den beiden Aktionen - Neuregelung der Thronfolge in Coburg-Gotha und Änderung des Namens für die englische Monarchie - trotz des auffallenden zeitlichen Zusammentreffens keine kausale Verknüpfung gegeben haben. Wie kam es dann zur Proklamation Georgs V. am 17. Juli 1917 im Kronrat (Privy Council), wie kam es zum neuen Hausnamen "Windsor"? Der deutschen Anglophobie des ausgehenden 19. Jahrhunderts entsprachen in Großbritannien wachsende Vorbehalte gegenüber dem Deutschen Reich. Damals waren gerade die dynastischen Verflechtungen, die eine Klammer zwischen beiden Staaten hätten sein können und sollen, die Wurzel für eine zunehmende Verstimmung. Mit Unterstellungen und Taktlosigkeiten hatte Kaiser Wilhelm 11., ein weiterer Enkel Queen Victorias, Rivalitäten mit den englischen Verwandten heraufbeschworen. Die Familienkrise übertrug sich - etwa anläßlich der sogen. KrügerDepesche von 1896 - auf das Verhältnis der Länder zueinander und steigerte die in der englischen Bevölkerung bereits vorhandenen antideutschen Haßgefühle. "Die 87 Gesetz über die Abänderung des Staatsgrundgesetzes vom 3. Mai 1852 und des Gesetzes, betreffend die Thronfolge in den Herzogtümern Coburg und Gotha vom 15. Juli 1899. Vom 12. März 1917 (Gesetzsammlung für das Herzogtum Coburg, Jg. 1917, Nr. 8, S. 19-22). - Nachtrag zum Hausgesetz für das Herzoglich Sachsen-Coburg-Gothaische Haus vom 1. März 1855. Vom 10. Juli 1917 (ebd. Nr. 16, S. 51- 54). In ihm wurde auch die Erbfolge in den Genuß des Domänengutes geregelt, die vor allem am Schluß mit der Frage der Thronfolge gekoppelt worden war. In der vorliegenden Untersuchung bleibt sie ausgeklammert. - Als Folge des Thronfolgegesetzes wurde auch der Vertrag zwischen dem Herzog und dem Herzogtum Gotha über die ,,Ergänzung zum Domänenteilungsgesetz vom 19. Juli 1905. Vom 20.3.1917" am selben Tag zum Gesetz erhoben (Gesetzsammlung für das Herzogtum Gotha, Jg. 1917, Nr. 17, S. 37f.). 88 Freundliche Auskunft von Lady Sheila de Bellaigue, Registrar (Royal Archives, Windsor Castle) vom 7. 11. 1997. - Vgl. auch Pogge v. Strandmann, (wie Anm. 70), S. 22f.

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Verschlechterung der Familienbeziehungen war umso gefährlicher, als die dynastische Verbindung eine der wenigen Gemeinsamkeiten war, welche die beiden Länder noch zusammenhielt. ,,89 Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs erfaßte fast ganz England - analog zur Volksstimmung im Reich - eine Hysterie gegen alles Deutsche. Ein deutscher Namen genügte oder ein deutscher Akzent, um als Verräter und Spion verdächtigt und verhaftet zu werden. Admiral Prince Louis of Battenberg mußte allein seiner deutschen Herkunft wegen den Dienst quittieren; nicht anders erging es dem früheren Kriegsminister Lord Haldane, weil er Deutschland einmal seine "geistige Heimat" genannt hatte. 9o König Georg V. suchte sich zunächst dieser Massenpsychose zu entziehen. Dem Ansinnen, dem Kaiser und seiner Familie die Ehrenkommandos über britische Regimenter abzuerkennen oder - in diesem Fall vergeblich - die verhaßten deutschen Fahnen in der St. Georg Kirche in Windsor zu entfernen, widersetzte er sich mit bemerkenswerter Zivilcourage. 91 Doch diese Stärke hielt er nicht durch: Ihm fehlte die persönliche Festigkeit; er war empfindlich gegenüber Kritik und leicht zu entmutigen. 92 So traf es ihn ganz persönlich, von dem Schriftsteller H.G. Wells 1917 in dessen aufsehenerregenden offenen Brief über ,,Republican Feeling in England" u. a. als Ausländer bezeichnet zu werden - ,}'lI be damned if I'm an alien.· m Wichtig dazu der historische Kontext: Die Februarrevolution in Rußland war dieser Verbalattacke unmittelbar vorausgegangen. Nicht ganz grundlos mochte er in solchen Unterstellungen eine Gefahr für die englische Monarchie sehen, die während seiner Regierungszeit keineswegs unangefochten geblieben war. 94 Geduldig und nicht selten unter Selbstverleugnung setzte er sich für deren Fortbestand ein; die Monarchie um jeden Preis zu erhalten, war sein vorrangiges Anliegen, möglicherweise sein Lebensziel. Dazu warb er um die Gunst des Volkes. 95 Deshalb muß es ihn zutiefst alarmiert haben, als ihm im Mai 1917 Gerüchte hinterbracht wurden, die seinen rückhaltlosen Einsatz für die Sache der Alliierten auf Grund des deutschen Familiennamens anzweifelten und pro-deutsche Gefühle bei ihm vermuteten. 96 Aber nicht nur er selbst trug deutsche Namen und Titel; er war vielmehr umgeben von Trägem deutscher Namen 97 - die v. Teck (die Verwandten seiner Frau und die Familie der Schwester Herzog Carl Eduards)98, die v. Battenberg (Familie seiner Cousine Röhl, John, (wie Anm. 34), S. 165 - 184, bes. 174. Rose, Kenneth, (wie Anm. 2), S. 171 f. 91 Ebd., S. 173. 92 Nicolson, Harold, (wie Anm. 2), S. 309. 93 Nicolson, Harold, (wie Anm. 2), S. 308. - Rose, Kenneth, (wie Anm. 2), S. 174. 94 Pogge v. Strandmann, (wie Anm. 70), S. 11 f. 95 Ebd., S. 15. 96 Nicolson, Harold, (wie Anm. 2), S. 309. - Rose, Kenneth, (wie Anm. 2), S. 174. 97 Prince Louis of Battenberg, Prince Alexander of Battenberg, Duke of Teck, Prince Alexander of Teck, Princess Helena Victoria und Princess Marie Louis of Schleswig-Holstein. 98 Eilers, Marlene A., (wie Anm. 45), S. 215 f. 89 90

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Victoria, einer Enkelin Queen Victorias)99 und die v. Schleswig-Holstein (Familie seiner Tante Helena, einer Tochter Queen Victorias).lOo Wie ernst König Georg V. die Gefahr für die englische Monarchie nahm - ob zu recht oder unrecht, spielt dabei keine Rolle -, läßt sich an seinem Verhalten in einem anderen, nahezu gleichzeitigen Fall ablesen, das so gar nicht den Charakterzügen entsprach, die ihm sein Biograph Rose sonst zuschreibt 101 Mit dem beständigen Argument, die Monarchie sei gefährdet, widersetzte er sich nachdrücklich dem von seiner Regierung bereits zugesagten Exil für den abgedankten Zaren Nikolaus 11. und dessen Gemahlin Alexandra Fjodorowna (Alix) in England. Dabei hatte zu diesen nahen Verwandten - er ein Cousin mütterlicherseits, sie eine Cousine väterlicherseits - bisher ein geradezu freundschaftliches Verhältnis bestanden. Doch die Zarina war eine deutsche Prinzessin (Hessen-Darmstadt), wodurch bei einem Aufenthalt in England der König selbst vor der Öffentlichkeit kompromittiert werden konnte. Eine wachsende Opposition gegen die Asylzusage bestärkten Georg V. in seiner Haltung; schließlich ließ die Regierung die Angelegenheit auf sich beruhen. 102 Seine Angst um die englische Monarchie könnte Georg V. auch beim N amenswechsel geleitet haben. Zunächst äußerte der König im Mai 1917 den Wunsch, die deutschen Namen und Titel seiner näheren Verwandtschaft (also der Tecks, Battenbergs und Schleswig-Holsteins) durch englische ersetzt zu sehen. "ln this delicate & difficult matter" versuchte der königliche Privatsekretär Lord Stamfordham in einem Memorandum vom 15. Mai die v. Teck und v. Battenberg als Nachkommen Georgs III. durch den gemeinsamen Familiennamen "Tudor-Stewart" mit dem Rest der königlichen Familie zu verknüpfen. 103 Vom früheren Premierminister Lord Rosebery wurde dagegen der Name "Fitzroy" vorgeschlagen; darüber entzündete sich eine wochenlange Diskussion, während der auch mit den Betroffenen über ihre Wünsche bezüglich des Namens und Titels gesprochen wurde. Auf die Frage Georgs V. nach seinem Hausnamen wußte das Royal College of Heralds keine rechte Antwort. Weder "Welf' (für das Haus Hannover) noch "Wettin", (für das Haus, dem Prinz Albert entstammte) sei je verwendet worden. 104 "Sachsen-Coburg und Gotha" hatte man erst gar nicht in Betracht gezogen. Als man schließlich den Namen "Windsor" "entdeckte", war zwar das ursprüngliche Problem eines verbindenden Namens für alle Familienzweige nicht gelöst, 105 Ebd., S. 181, 183,223,228. Ebd., S. 205 f. 101 Rose, Kenneth, (wie Anm. 2), S. 170 - 173. 102 Pogge v. Strandmann, (wie Anm. 70), S. 16 -19. 103 Royal Archives, GV 0 1153/345b. - Freundliche Auskunft von Lady de Bellaigue vom 7. 11. 1997. 104 Nicolson, Harold, (wie Anm. 2), S. 309. - Rose, Kenneth, (wie Anm. 2), S. 174. 105 Die Tecks hießen lieber "Cambridge" und die Battenbergs "Mountbatten". 99

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aber die Beteiligten erklärten ihn spontan zum idealen Name für die engere Königsfamilie. Am 26. Juni schrieb Lord Rosebery enthusiastisch an Lord Stamfordham: "Do you realize that you have christened a dynasty? ... It is really something to be historically proud of ,,106 Von Queen Victoria sollte das neue Haus Windsor künftig seinen Ausgangspunkt nehmen. Das machte nach Starnfordhams Meinung - auch jetzt noch! - künftig nicht etwa den Namen "Saxe-Coburg and Gotha" entbehrlich, der ihm im Zusammenhang mit der Dynastie offenbar nicht in den Sinn kam, sondern bezeichnenderweise die Namen "Hannover" und "Braunschweig".107 Soweit hatten sich die dynastischen Verbindungen gelöst, daß selbst im Bewußtsein der Hofbeamten das englische Königshaus kein Teil des Hauses Sachsen-Coburg und Gotha mehr war. 108 Die mindestens seit dem Mai zu beobachtenden Bestrebungen des Königs, die Namen seiner Familien zu ändern, könnten im Frühsommer 1917 einen zusätzlichen Impuls erhalten haben. Am 13. Juni waren nämlich 17 zweimotorige Bomber-Doppeldecker des in Gotha (also in einer der Residenzstädte seines Cousins Herzog Carl Eduard) produzierten Großkampfflugzeugs G V ("Gothas") bis London vorgestoßen, wo sie ihre todbringende Fracht über der Tower-Bridge, verschiedenen Docks und Lagerhäusern sowie einer Reihe von Wohnhäusern abluden. 160 Menschen waren ums Leben gekommen, 432 verletzt worden. 109 Der König persönlich überzeugte sich vorn Ausmaß des Bombardements 110; es mag ihn in seiner Absicht bestärkt haben, sich unmißverständlich vorn Herkunftsland seiner Familie zu distanzieren. Allerdings wurde der britischen Öffentlichkeit am 19. Juni zunächst nur bekanntgegeben: "The King has deemed it desirable in the conditions brought about by the present War that those Princes of his Family who are his subjects and bear German names und titZes shouZd relinquish these titZes and henceforth adopt British sumames. ,,111 In einern ersten Schritt zur Anglisierung des Königshauses waren dessen Seitenlinien in den britischen Hochadel integriert worden. Dessen für Royal Archives, 0 1153,xVI/354; zit. nach Rose, (wie Anm. 2), S. 310. Lord Stamfordham an den früheren Premierminister Asquith vom 13. 6. 1917 (Royal Archives, GV 0 1153/358). 108 Das ließe sich allerdings auch darauf zurückführen, daß nach einer englischen Verfassungstheorie, die aber nicht die Zustimmung der Queen gefunden hatte, der Hausname der Herrscherin vor dem des Gemahls rangierte und daher für die Nachkommen maßgeblich geworden wäre (Freundliche Auskunft von Lady de Bellaigue vom 7.11. 1997). 109 Henker, Michael (wie Anm. 17, aber Nr. 36/97), S. 339, Nr. 6-13 (Renate Weber). HO Dr. Paulssen, stellvertretender Bevollmächtigter zum Bundesrat, an das coburg-gothaische Staatsministerium vom 23. 7. 1917 (ThStAG, Staatsmin.I Ib Nr. 67). 111 Zugleich verlieh er neue Titel an den Herzog und den Prinzen Alexander von Teck sowie die Prinzen Louis und Alexander von Battenberg; die Prinzessinnen Helena Victoria und Marie Louise von Schleswig-Holstein verloren den deutschen Namensbestandteil ohne Ersatz. - Pressemitteilung Serial Nr. C. 4406 vom 19.6. 1917 (Royal Archives, GV 0 1153/ 19). - The Times vom 20.6. 1917 (Royal Archives GV CC 50/1352). - Norddeutsche Allgemeine Zeitung Nr. 169 vom 21. 6. 1917, zweite Ausgabe (PA, R 5898). 106 107

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den Kontinentaleuropäer ungewohnte Konventionen bei der Vererbung von Adelsprädikaten galten nunmehr auch für sie. Recht spät, nämlich erst im Verlauf der langen Diskussionen wurde den Ratgebern Georgs V. bewußt, daß alle Nachkommen des verstorbenen Königs, folglich auch Georg V., durch Geburt ,,Dukes or Duchesses of Saxony" sowie "Princes or Princesses of Saxe-Coburg and Gotha" waren. 112 Nach dem Vorausgegangenen war ein Verzicht des engeren Königshauses auf diese Titel unvermeidlich. So konnte Georg V. in einer symbolträchtigen Geste der britischen Öffentlichkeit seine enge Verbundenheit mit dem Land beweisen, indem er seine deutschen Titel und den deutschen Familiennamen ablegte und für sich und sein Haus einen englischen wählte. Seine Ratgeber, u. a. der Garter King of Arms, schlugen vor, daß ersteres zusammen mit der beabsichtigten Bekanntgabe des neuen Namens für sein Haus geschehen könne. 113 So bestimmte König Georg V. von Großbritannien und Irland am 17. Juli 1917 vor dem Kronrat: Sein königliches Haus solle den Namen Windsor tragen; für sich und seine Nachkommen gebe er den Gebrauch der Ränge, Titel, Würden und Ehren von Herzögen und Herzoginnen von Sachsen sowie von Prinzen und Prinzessinnen von Sachsen-Coburg und Gotha auf. 114 Sein gleichzeitig gefaßter Entschluß, seinen Kindern nunmehr auch die Einheirat in britische Farnilien zu gestatten, 115 läßt erkennen, daß es dem König weniger um die Abgrenzung nach außen gegangen sein muß, als vielmehr darum, seine Familie im Land zu verwurzeln. Als rein englische bot sie weniger Angriffspunkte. Mit anderen Worten: Die Namensänderung war ein Nebenprodukt der Anglisierung seines Hauses. Über britische Titel, die Ausländer führten - also etwa Herzog Carl Eduard-, sollte dagegen das Parlament entscheiden. Im In- und Ausland erregte der Namenswechsel große Aufmerksamkeit. Zu lange und mit zu großer innerer Konsequenz hatte sich die Entwicklung auf diesen Endpunkt zubewegt, als daß die Einschätzung K. Roses, eines Biographen Georgs v., dies sei das Ergebnis eines vorübergehenden Verlustes der Nerven gewesen,116 überzeugen könnte. Eher könnte man den König als Opfer der öffentlichen Meinung sehen. Ihr zuliebe hatte Georg V. wie übrigens auch Kaiser Wilhelm 11. und Herzog Carl Eduard - ein Zeichen gesetzt, das verstanden und im Lande mit wieder auflebender patriotischer Begeisterung einhellig begrüßt wurde. Er hatte sein Haus unter Aufgabe des dynastischen ll2

Vgl. Gothaischer Genealogischer Hofkalender, 152. Jg. (1915), S. 28.

m Sir Scott-Gatty, Garter, an Lord Stamfordham vom 26. 6. 1917 und dessen Antwort

vom 28. 6.1917 (Royal Archives, GV 01153/253-254). Die Antwort Stamfordhams berichtete bereits von der Absicht des Königs, zum einen den Namen "Windsor" anzunehmen und zum andern seine deutschen Titel abzulegen. - Prophetische Gaben hatte Ernst Devrient in der Dorfzeitung Hildburghausen vom 13. 6. 1915 [!] entwickelt, der schon damals vom "Verhältnis des Hauses Coburg-Gotha zum Haus Windsor [!]" schrieb. 114 Text z. B. in Daily Mai! vom 25. 7. 1917. - Wolffs' Telegraphisches Büro (Nr. 1892 vom 17. 7. sowie Nr. 1901 und 1902 vom 18. 7. 1917) machten den Namenswechsel in Deutschland bekannt (PA, R 5898). 115 Tagebucheintrag vom 17.7.1917. - zit. nach: Ei!ers, Marlene A., (wie Anm. 45), S. 51. 116 Rose, Kenneth, (wie Anm. 2), S. 174.

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Prinzips, das seinem Wesen nach international sein mußte, nationalisiert. An jenem Tag im Jahr 1917, als König Georg V. eines Krieges wegen seinen Namen änderte, so kommentierte Albrecht Graf v. Montgelas, starb die wahre monarchische Tradition. ll7 VII.

Obwohl man selbst auf dem Weg der Nationalisierung der coburg-gothaischen Dynastie vorausgegangen war, reagierte die deutsche Öffentlichkeit auf die englischen Nachrichten mit einhelliger Empörung. Das Auswärtige Amt verbreitete einen Stimrnungsbericht "Über die Deutschenhetze in England".1l8 Kaiser Wilhelm II. fand für den Namenswechsel nur Spott, wenn er seinen Cousin wissen ließ, wie gern er einer Aufführung der bekannten Oper "Die lustigen Weiber von Sachsen-Coburg-Gotha" beiwohnen würde. 1l9 Herzog Carl Eduard dagegen informierte seine Behörden am 15. August darüber, daß er die Titel "Königlicher Prinz von Großbritannien und Irland, Graf von Clarence, Baron Arklow,,120 in Zukunft nicht mehr führen wolle; allerdings - und hier scheint er sich eine Hintertüre offengelassen zu haben - sollte dieser Entschluß nicht in der Presse bekannt gegeben werden. 121 Betrachtet man, wie sich die Abneigung gegen die jeweils andere Nation in beiden Ländern - in Deutschland und in Großbritannien - aufgeschaukelt hatte, so erscheint keineswegs ausgeschlossen, daß unabhängig und unbeeinflußt voneinander beide dynastischen Zweige der einen Herrscherfamilie unter dem Druck der öffentlichen Meinung Zeichen der Abgrenzung setzten. Die Konsequenz war eine Nationalisierung der Monarchien.

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Zit. nach ebd., S. 174. ThStAG, Staatsmin. I Ib Nr. 67 fol. lOf. Rose, Kenneth, (wie Anrn. 2), S. 174. Gothaischer Genealogischer Hofkalender 1915, S. 85. ThStAG, Staatsmin. I Ib Nr. 67, fol. 26.

Pragmatismus und kontinentale Vision: Der Marshall-Plan als Anstoß zur europäischen Integration Jürgen Heideking

Als die Bürger von Philadelphia im Juli 1788 die Ratifizierung der neuen Bundesverfassung mit einer prächtigen Parade feierten, bildete ein Segelschiff die Hauptattraktion des Umzugs, das, auf einen Wagen montiert, von 13 Pferden gezogen und mit 13 Matrosen bemannt war und dessen Steuerrad ein als George Wash,ington kostümierter Schauspieler hielt I. Das altehrwürdige Bild des "Staatsschiffes,,2 begegnet uns wieder auf einem farbigen Plakat, mit dem die MarshallPlan-Behörde für das European Recovery Program warb: unter dem Motto "All our Colours to the Mast" zeigt die preisgekrönte Arbeit des niederländischen Künstlers Reyn Dirksen das "Schiff Europa", dessen Segel, von einer frischen Brise gebläht, die Nationalfarben der 16 Teilnehmerstaaten am Marshall-Plan tragen. Diese Analogie der symbolischen Föderalismus-Darstellung ist kein Zufall, denn das "Vorbild Amerika,,3 war bereits in den Anfangen der europäischen Integration präsent. Die Urheber des Marshall-Plans legten den Europäern - offen oder auf indirekte Weise - nahe, sich die erfolgreiche amerikanische Union der einst dreizehn und nun 48 Bundesstaaten zum Beispiel zu nehmen und die wirtschaftliche und politische Integration des Kontinents als einen Prozeß des gemeinsamen Bauens und Wachsens zu verstehen4 . 1 Zum Hintergrund und zur historischen Bedeutung der Feierlichkeiten, die auch in anderen Küstenstädten stattfanden, siehe Heideking, Jürgen, Die Verfassungsfeiern von 1788. Das Ende der Amerikanischen Revolution und die Anfänge einer nationalen Festkultur in den Vereinigten Staaten, in: Der Staat 34 (1995), S. 391-413. 2 Schiffe wurden schon von Ägyptern, Griechen und Römern bei Prozessionen und Triumphen mitgeführt. Eine besondere Rolle spielte das "Staatsschiff' (Bucentoro) in Venedig, wenn sich auf dem höchsten Fest des Jahres, La Sensa (Ascension), die weltliche und kirchliche Flotte vereinigten. Über die Stadtstaaten der Renaissance fand das Symbol offenbar seinen Weg nach England und von dort gelangte es nach Amerika. Vgl. Schreiber, Hermann, Venedigs goldener Herbst. Barocke Vermählung mit dem Meer, in: Schultz, Uwe (Hrsg.), Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1988, S. 198209. 3 Siehe allgemein Beyme, Klaus von, Vorbild Amerika? Der Einfluß der amerikanischen Demokratie in der Welt, München 1986. 4 Vergleichbar ist auch die Gebäudemetapher: In Amerika stellte man die Union häufig als einen Tempel dar, dessen Dach - die Verfassung - von den Säulen der Staaten getragen

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Wenn man anläßlich des 50. Jahrestages der Harvard-Rede von US-Außenmini ster George C. Marshall die Forschungsliteratur zum Marshall-Plan sichtet, dann wird offenbar, daß über die Motive und den konkreten Einfluß der Amerikaner noch keineswegs Konsens erzielt worden ist. In den 1970er und 1980er Jahren war es üblich, hinter dem amerikanischen Engagement hauptsächlich ökonomischen Eigennutz und hegemoniale Absichten zu vermuten 5 . Parallel dazu fand Werner Abelshausers These, die Bedeutung der Marshall-Plan-Hilfe für den ökonomischen Wiederaufstieg Westdeutschlands sei eher gering zu veranschlagen, immer mehr Zustimmung 6 . Auch der Zusammenhang zwischen Marshall-Plan und europäischer Einigung wurde kontrovers beurteilt: Auf der einen Seite warf Walter Lipgens, der die Konföderationspläne des Widerstands erforscht hatte, den Amerikanern vor, nach 1945 nicht entschieden genug für ein föderales Europa eingetreten zu sein: Da die Einigungsbewegung "längst vorhanden gewesen sei", habe der MarshallPlan "nur bestimmte Formen der Realisierung begünstigt, höchstens veranlaßt, keineswegs verursacht"; möglich sei sogar, daß die Amerikaner lediglich "Immunisierung gegen den Kommunismus" gewünscht hätten, nicht jedoch "das Entstehen einer Föderation, die in Zukunft den USA auch unangenehm werden könnte,,7. Auf der anderen Seite attestierte der Engländer Alan S. Milward den Marshall-Planern "eine Art puritanischen, missionarischen Eifers", der an den harten Realitäten der europäischen Politik vorbeigegangen sei. Die Amerikaner hätten "wirtschaftliche Integration als Teil des Marsches der Geschichte und Geschichte als Marsch des Fortschritts mit den USA an der Spitze" gesehen, doch die wirkliche ,,Rekonstruktion" Europas habe die Naivität dieser Vorstellungen schonungslos enthüllt: Der wirtschaftliche Wiederaufstieg sei nämlich in erster Linie den europäischen Natiowurde. Bei uns ist seit den Zeiten des Marshall-Plans vom "gemeinsamen europäischen Haus" die Rede, in dem jeder Nation ein Raum zusteht, und das von supranationalen Institutionen überwölbt wird. S Vgl. Schmidt, Eberhard, Die verhinderte Neuordnung 1945 - 1952, Frankfurt/M. 1970; Gimbel, John, The Origins of the Marshall Plan, Stanford, Cal., 1976; Daniel, Ute, Dollardiplomatie in Europa. Marshallplan, Kalter Krieg und US-Außenwirtschaftspolitik 1945 - 52, Düsseldorf 1982. Zur Historiographie siehe v.a. die Beiträge in Haberl, Othmar Nikola/Niethammer, Lutz (Hrsg.), Der Marshall-Plan und die europäische Linke, Frankfurt/M. 1986; Schröder, Hans-JÜfgen (Hrsg.), Marshallplan und westdeutscher Wiederaufstieg. PositionenKontroversen, Stuttgart 1990. 6 Abelshauser, Wemer, Wiederaufbau vor dem Marshall-Plan. Westeuropas Wachstumschancen und die Wirtschaftsordnungspolitik in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, in: VfZg 29 (1981), S. 545 - 578; ders., Hilfe und Selbsthilfe. Zur Funktion des Marshallplans beim westdeutschen Wiederaufbau, VfZg 37 (1989), S. 85 -113. Eine wirtschaftswissenschaftlich begründete Gegenposition bezogen Borchardt, Knut und Buchheim, Christoph, Die Wirkung der Marshallplan-Hilfe in Schlüsselbranchen der deutschen Wirtschaft, VfZg 35 (1987), S. 317 -347. 7 Lipgens, Walter, Marshall-Plan und europäische Integration, in: HaberI, Othmar Nikola/ Niethammer, Lutz, (wie Anm. 5), S. 443 -463, v.a. S. 443, 459; vgl. ders., Die Anfänge der europäischen Einigungspolitik 1945 -1950. Erster Teil: 1945 -1947, Stuttgart 1977; Loth, Wilfried, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939 - 1957, Göttingen 1990.

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nalstaaten zu verdanken gewesen, die ihre Souveränität verteidigt und ihr ,,narrow self-interest" verfolgt hätten 8 • Eine Neubewertung kündigte sich mit der GesamtdarsteIlung des Marshall-Plans an, die der Amerikaner Michael J. Hogan 1987 vorlegte 9 . Schlüsselbegriffe in Hogans Werk sind ,,integration", verstanden als übergreifendes Konzept ("interlocking concept") im. zeitgenössischen amerikanischen Denken sowie "vision", ein erstaunlich kohärentes Zukunftsbild, das die Marshall-Planer den Europäern als Alternative zu Nationalismus und Machtpolitik vor Augen stellten. Damit waren zwei zentrale Aspekte angesprochen, die nach dem Fall der Mauer auch von deutschen Historikern aufgegriffen wurden und den Marshall-Plan wieder in einem positiveren Licht erscheinen ließen. Mit fortschreitendem zeitlichem Abstand verbreitet sich offenbar die Einsicht, daß der MarshallPlan nicht isoliert, sondern nur im Gesamtzusamrnenhang der amerikanischen Außenpolitik nach 1945 verstanden werden kann und daß seine Bedeutung weit über die rein wirtschaftliche Sphäre hinausreicht lO • In diesem Sinne widmet sich der folgende Beitrag etwas ausführlicher der politischen Vision, die dem MarshallPlan zugrundelag, und dem Integrationskonzept, mit dem das Zukunfts bild eines geeinten Kontinents verwirklicht werden sollte. Als unerläßlich erweisen sich dabei einige biographische Informationen über die ,,Marshall-Planer" sowie über die politisch-ökonomische Ausgangslage des Jahres 1947.

8 Milward, Alan S. (= Milward I), The Reconstruction of Western Europe 1945 - 51, London 1984, v.a. S. 211, 492; vgl. ders., The European Rescue of the Nation-State, London 1992. 9 Hogan, Michael J., The Marshall Plan. America, Britain, and the Reconstruction of Western Europe, 1947 -1952, Cambridge 1987. Auch Hogan bescheinigt den Amerikanern ein missionarisches Bewußtsein und das Verlangen, "die Alte Welt nach dem Bilde der Neuen umzuformen" (S. 19). Insgesamt wird er aber den Motiven und Leistungen der MarshallPlaner besser gerecht als Lipgens oder Milward. \0 Als Beispiele seien genannt: Knapp, Manfred, Wiederaufbau und Westintegration. Die Auswirkungen des Marshall-Plans auf Deutschland, in: Adams, Willi Paul/ Krakau, Knud (Hrsg.), Deutschland und Amerika: Perzeption und historische Realität, Berlin 1985, S. 111133; Schwabe, Klaus, Der Marshall-Plan und Europa, in: HZ 1995, Supplement 21, S. 167189; Herbst, Ludolf, Der Marshallplan als Herrschaftsinstrument? Überlegungen zur Struktur amerikanischer Nachkriegspolitik, Berlin 1992; ders./Bührer, Werner/Sowade, Hanno (Hrsg.), Vom Marshallplan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Welt, München 1990; Hardach, Gerd, Der Marshall-Plan. Auslandshilfe und Wiederaufbau in Westdeutschland 1948 - 1952, München 1994; Berger, Helge / Ritschl, Albrecht, Die Rekonstruktion der Arbeitsteilung in Europa. Eine neue Sicht des Marshallplans in Deutschland 1947 - 1951, in: VfZg 43 (1995), S. 473 -519; Schröder, Hans-JÜfgen, 50 Jahre Marshall-Plan in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 22-23 (1997), S. 18-29. Günter Bischof weist allerdings in einer vergleichenden Betrachtung darauf hin, daß die einzelnen Teilnehmerländer recht unterschiedlich von der Marshall-Hilfe profitierten: Der Marshall-Plan in Europa 1947 - 1952, Aus Politik und Zeitgeschichte 22- 23 (1997), S. 3 - 17.

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I. Die "Marshall-Planer" als transnationale Elite

Zu Beginn muß Harry S. Truman genannt werden, der vom unscheinbaren Provinzpolitiker aus Kansas zum Führer der Weltmacht USA aufstieg, der die Nachkriegsepoche entscheidend mitprägte und heute, nach Jahrzehnten relativer Geringschätzung in der amerikanischen Öffentlichkeit, als einer der bedeutendsten Präsidenten des 20. Jahrhunderts gilt. Das europäische Wiederaufbauprogramm ist jedoch untrennbar mit dem Namen von Außenminister George C. Marshall verbunden, einem General und engen Vertrauten Präsident Franklin D. Roosevelts, der im Krieg den Vorsitz der Joint Chiefs of Staff innegehabt und die alliierte Strategie maßgeblich beeinflußt hatte, und der nach der historischen Harvard-Rede all seine Energie in die Propagierung und politische Umsetzung dieses zivilen Projekts steckte. Seine Nachfolge trat 1949 Dean G. Acheson an, der Sohn des anglikanischen Bischofs von Connecticut, der nach dem Jurastudium an der Yale University als Anwalt praktiziert hatte und während des Krieges im State Department zum assistant secretary of state for economic affairs und 1945 zum undersecretary 0/ state avanciert war. Kaum weniger Einfluß übte W. Averell Harriman aus, dessen Vater die Union Pacific Railroad gegründet hatte, und der aus dem Geschäftsleben auf den wichtigen Botschafterposten in der Sowjetunion gewechselt war. Nach dem Krieg wurde er Botschafter in London, Sonderbeauftragter für den MarshallPlan, Wirtschaftsminister und special assistant Trumans während des KoreaKrieges. In der "zweiten Reihe" der Truman-Administration standen Männer wie Charles E. Bohlen, George F. Kennan, John J. McCloy und William L. Clayton ll . Bohlen, ein Nachfahre des ersten amerikanischen Botschafters in Frankreich, war 1934 an die neueröffnete US-Mission in Moskau gegangen, hatte 1943/44 Roosevelt nach Teheran und Jalta begleitet, fungierte später als persönlicher Assistent von Marshall und Acheson und wurde 1949 zum Botschafter in Frankreich ernannt. Kennan, der aus Milwaukee stammte, hatte in den 1930er und 1940er Jahren diplomatische Posten in Berlin und Moskau innegehabt, schickte im Februar 1946 das berühmte "lange Telegramm" über die Expansionsabsichten der sowjetischen Führung nach Washington und wurde ab 1947 als Vorsitzender des Policy Planning Staffirn Außenministerium zum Architekten der "containment"-Politik; 1951 kehrte er als US-Botschafter nach Moskau zurück. McCloy, von Beruf Anwalt, 11 Die Literatur zu diesen Persönlichkeiten ist sehr umfangreich und wächst weiter. Besonders wichtig sind McCullough, David, Truman, New York 1992; Pogue, Forrest c., George Marshall. Statesman 1945 - 1949, New York 1987; McLellan, David S., Dean Acheson. The State Department Years, New York 1976; Miscamble, Wilson D., George F. Kennan and the Making of American Foreign Policy, 1947 - 1950, Princeton, N.J. 1992; Ruddy, M.T., The Cautious Diplomat. Charles E. Bohlen and the Soviet Union, 1929-1969, Kent 1986; Schwartz, Thomas A., America's Germany. John J. McCloy and the Federal Republic of Germany, Cambridge, Mass.-London 1991; zu verweisen ist ferner auf die faszinierende Kollektivbiographie von Isaacson, Walter I Thomas, Evan, The Wise Men. Six Friends and the World They Made. Acheson, Bohlen, Harriman, Kennan, Lovett, McCloy, New York 1986; wichtig für das Thema ist auch Harper, J.L., American Visions of Europe: Franklin D. Roosevelt, George F. Kennan, and Dean G. Acheson, Cambridge 1994.

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diente als Assistant Secretary im Kriegsministerium, war dann Präsident der Weltbank und ab 1949 Hoher Kommissar in der Bundesrepublik Deutschland. Clayton hatte in der entscheidenden Phase der Vorbereitung und parlamentarischen Umsetzung des Marshall-Plans das Amt des Unterstaatssekretärs für Wirtschaft im Außenministerium inne. Zu nennen sind ferner Richard M. Bisseil, Präsidentenberater für Auslandshilfe; Theodore Geiger, Mitglied der amerikanischen Wirtschaftsdelegation in London; Charles P. Kindleberger und Walt W. Rostow, zwei jüngere Fachleute, die im Außenministerium für deutsche und österreichische Wirtschaftsfragen zuständig waren 12 ; und Paul G. Hoffman, Unternehmer und Präsident der Studebaker-Automobilgesellschaft, den Truman auf Drängen des Kongresses zum Chef der Economic Administration Cooperation, des amerikanischen Gegenstücks zur europäischen OEEC, bestimmte. Eine bedeutende Rolle außerhalb der Truman-Administration spielten die Brüder John Foster Dulles und Allen W. Dulles, die als Diplomaten und Wall Street-Anwälte Europa schon seit der Versailler Friedenskonferenz kannten. John Foster repräsentierte den amerikanischen Protestantismus im Genfer Ökumenischen Rat der Kirchen und galt als Präsidentschaftshoffnung der Republikanischen Partei; Allen hatte von 1942 bis 1945 den Außenposten des US-Geheimdienstes Office of Strategie Services in Bern geleitet, übernahm nach dem Krieg den Vorsitz des privaten, aber überaus einflußreichen Council on Foreign Relations und wurde 1947 von Truman zusammen mit Universitätsprofessoren, Bankiers, Unternehmern und Gewerkschaftsführern in das sog. Harriman Committee berufen, das die Möglichkeiten der amerikanischen Auslandshilfe prüfte und sich entschieden für ein europäisches Wiederaufbauprogramm aussprach. Hinter den Kulissen und in der Öffentlichkeit engagierten sich die beiden Dulles-Brüder geradezu leidenschaftlich für eine Verwirklichung des Marshall-Plans, der ihrer Überzeugung nach den Grundstein für die Vereinigten Staaten von Europa legen sollte 13 • Die Marshall-Planer, deren Kreis auf diese Weise einigermaßen umrissen ist, waren ausgeprägte Individualisten und stimmten keineswegs in allen Punkten überein. Auffallender sind jedoch die vielen Gemeinsamkeiten, die diese Gruppe in der Nachkriegszeit zu einer relativ homogenen außenpolitischen Elite der USA 12 Einen guten Einblick in die Arbeitsweise und das Denken der Experten vermitteln die Erinnerungen von Kindleberger, Charles P., Marshall Plan Days, Boston 1987. 13 Allen Dulles verfaßte sogar eine umfangreiche Werbeschrift für den Marshall-Plan, die allerdings ungedruckt blieb, weil sie erst nach der Annahme des Programms durch den Kongreß fertig wurde. Heute stellt das von Michael Wala herausgegebene Buch The Marshall Plan, Providence, R.I.-Oxford 1993, allerdings eine wichtige Quelle für die Vorstellungen, Überzeugungen und Stimmungen im Kreis der Marshall-Plan-Befürworter dar. Zur europäischen Integration heißt es dort u. a.: "The slogan ,Europe must federate or perish', which many European statesmen have endorsed, must not be forgotten. The aid which we may furnish under the Marshall Plan might afford, with skillful handling, the strongest incentive toward a greater degree of unity in Europe ... The idea of a European econornic union, a United States of Europe, is not a project of mere dreamers ... We can help to show that only such a unity will give driving force to the ideals of protecting human liberty. It is only thus that our aid can be effective.", S. 80, 112.

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zusammenschweißte: Bis auf den "Außenseiter" Kennan gehörten alle dem Ostküsten-,,Establishment" an, hatten Spitzenuniversitäten wie Harvard, Yale und Princeton besucht und waren stark nach Europa orientiert; als konservative Demokraten oder liberale Republikaner repräsentierten sie die Mitte des politischen Spektrums und traten für "bipartisanship", eine konsensorientierte, parteiübergreifende Außenpolitik ein; ausnahmslos befanden sie sich im Lager der "Internationalisten", die unbedingt einen Rückfall der USA in den Isolationismus der Zwischenkriegszeit verhindern wollten; auf Grund ihrer Ausbildung oder ihrer Erfahrungen im Geschäftsleben maßen sie der Wirtschaft entscheidende Bedeutung für die internationalen Beziehungen bei; und als "Pendler" zwischen big business und govemment verstanden sie es, in ihrem Denken und Handeln einen pragmatischen Sinn für das Machbare mit Prinzipientreue und historischer Perspektive zu verbinden. Ökonomischer Sachverstand, Weltoffenheit, Dialogbereitschaft und der Glaube an einen amerikanischen Führungsauftrag waren die hervorstechenden Merkmale dieser "transnationalen Elite", wie der Harvard-Historiker Charles Maier die Marshall-Planer genannt hat 14 • Ihre große Stunde kam 1947, als die amerikanische Außenpolitik nach einer Periode der Ungewißheit und des Schwankens in eine neue, aktivistische Phase eintrat - wobei allerdings inhaltlich in vieler Hinsicht an Ideen und Pläne angeknüpft werden konnte, die während des Krieges in den Washingtoner Ministerien und Stäben geschmiedet worden waren und die oft sogar bis zu den Reparationskonferenzen der 1920er Jahre zurückreichten. Den Auslöser für das Angebot Marshalls im Juni 1947 bildete die Erkenntnis, daß sich die USA nicht nur Schwierigkeiten im besetzten Deutschland oder in einzelnen Ländern wie Griechenland und der Türkei gegenübersahen 15 , sondern mit einer Krise von gesamteuropäischer Dimension konfrontiert waren. Die Sowjetunion schien eine Friedensrege1ung hinauszögern zu wollen, um aus dem wachsenden wirtschaftlichen Chaos politische Vorteile zu ziehen. Unter diesen Umständen machte eine fortgesetzte Unterscheidung zwischen ehemaligen Gegnern und Alliierten und eine ökonomische ,,Entwaffnung" Deutschlands im Sinne des Morgenthau-Plans keinen Sinn mehr. ,,Die Kräfte der Desintegration machen sich bemerkbar. Der Patient stirbt, während die Ärzte beraten", erklärte Marshall im Rundfunk mit Blick auf ganz Europa, als er am 28. April von der erfolglosen Moskauer Außenministerkonferenz zurückkehrte 16. Nicht minder dramatisch fiel Claytons vertraulicher Bericht über seine 14 Siehe Maier, Charles S./Bischof, Günter (Hrsg.), The Marshall Plan and Germany. West Gerrnan Development Within the Framework of the European Recovery Program, New York 1991; Maier, Charles S., The Two Postwar Eras and the Conditions for Stability in Twentieth-Century Western Europe, in: AHR 86 (1981), S. 327 - 352. 15 Die Verhältnisse in Südosteuropa und der Türkei waren zum Auslöser der TrumanDoktrin vom 12. März 1947 geworden: Public Papers of the Presidents of the V.S.: Harry S. Truman, Jan. 1 to Dec. 31,1947, Washington, D.C., 1963, S. 176. 16 "Disintegrating forces are becoming evident. The patient is sinking while the doctors deliberate." New York Times, 29. 4. 1947. Ausführlich zur Vorgeschichte Hogan, Michael J., (wie Anm. 9), S. 26ff.; Jackson, Scott, Prologue to the Marshall Plan: The Origins of the

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Europareise im Mai aus: "Ohne sofortige und substantielle Unterstützung aus den USA wird Europa von wirtschaftlicher, politischer und sozialer Desintegration überwältigt werden." Ein solcher Kollaps werde allein der Sowjetunion und den von ihr gesteuerten kommunistischen Parteien zugutekommen. Wenn die USRegierung nicht umgehend handle, müßten die Amerikaner mehr als 9 Milliarden Dollar abschreiben, die sie seit Kriegsende als Nothilfe bilateral oder über die UNO nach Europa vergeben hatten 17 • Die Expertenkommissionen, die daraufhin in Washington zu beraten begannen, hatten jedoch bald einen - angesichts dieser Ausgangslage - optimistisch anmutenden Lösungsvorschlag parat, der auf dem Prinzip der "Hilfe zur Selbsthilfe" beruhte: Vorausgesetzt, die Europäer oder zumindest die Westeuropäer ergriffen die Initiative und zögen an einem Strang, dann konnten die USA durch ein konzentriertes, auf vier Jahre und 17 Mrd. Dollar (d. h. etwa 5 Prozent der Kriegskosten) begrenztes Hilfsprogramm den Zusammenbruch verhindern und die Wende zum Aufschwung schaffen. Zunächst gelte es, die "Dollarlücke" zu schließen, d. h. den europäischen Ländern die Einfuhr lebenswichtiger Nahrungsmittel, Rohstoffe und Investitionsgüter aus dem Dollarraum zu ermöglichen. Um die dauerhafte Gesundung und Selbsterhaltung ("viability") der europäischen Wirtschaft zu erreichen, müsse die Washingtoner Regierung aber auf einer institutionell abgesicherten Kooperation der Teilnehmerstaaten bestehen, womit ein erster Schritt zur Einheit Europas getan seilS. Auf dieser Grundlage verabschiedete der Kongreß im April 1948 den Economic Cooperation Act als Teil eines umfassenden Foreign Assistance Act. Zur Durchführung des im Economic Cooperation Act vorgesehenen European Recovery Program (ERP) wurde die Economic Cooperation Administration (ECA) eingerichtet, die einen Sonderbeauftragten in Paris sowie eigene Missionen in sämtlichen Teilnehmerländern unterhielt. Gemeinsam mit der Organization for European Economic Cooperation (OEEC), in der die europäischen Regierungen vertreten waren, sollte sie die praktische Arbeit leisten. Eine der wichtigsten Aufgaben der Marshall-Planer bestand in diesen Monaten darin, das Programm den Abgeordneten und Senatoren in Washington schmackhaft zu machen und die Milliardenaufwendungen gegen öffentliche Angriffe zu verteidigen. Die Kritiker von links und rechts nahmen viele American Commitment for a European Recovery Program, in: JAH 65 (1978179), S. 10431068. 17 Memorandum Claytons an Acheson vom 27. 5. 1947, in: Foreign Relations of the United States (FRUS), 1947, vo!. III, S. 230 - 232. Zu Clayton siehe Fossedal, Gregory A., Our Finest Hour: Will Clayton, the Marshall Plan and the Triumph of Democracy, Stanford, Ca!., 1993. 18 Im Schlußabsatz des Harriman-Reports vom 16.11. 1947 hieß es: "The hope ofWestern Europe depends primarilyon the industry and straight thinking of its own people. The United States has a vital interest - humanitarian, economie, strategie, and political - in helping the participating countries to achieve economic recovery ... It is safe to say that at no time in history has there been more need for Western Europe and the United States to stand firmly together. And who will say that, if we apply to the making of the peace the same spirit which triumphed in war, we may not see an equally dramatic vindication of the ideals and principles offree men everywhere?", abgedr. in Dulles, Allen, (wie Anm. 13), S. 57 f.

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Argumente der ,,revisionistischen" Geschichtsschreibung vorweg, wenn sie etwa behaupteten, der Marshall-Plan werde Europa auf Dauer in zwei feindliche Blöcke spalten, oder wenn sie nachzuweisen versuchten, daß die wirtschaftliche Erholung bereits in vollem Gange sei und die Europäer deshalb gar keine zusätzliche Unterstützung benötigten 19. In dieser Debatte erfüllte - ebenso wie bei den internen Planungen - die Idee des geeinten Europas eine wichtige Funktion: Die Aussicht auf eine den USA vergleichbare Föderation oder Union der europäischen Staaten trug ganz wesentlich dazu bei, daß die Mehrheit im Kongreß und in der Bevölkerung den "Sprung ins Ungewisse" wagte und an den Erfolg des präzedenzlosen Unternehmens glaubte 2o . Die Vorstellungen der Marshall-Planer von einem zukünftigen vereinten Europa wurzelten in der föderativen Verfassungstradition der USA und in ihren eigenen historischen Erfahrungen. Ein wesentliches Element war die negative Beurteilung des Versailler Vertrags, dessen unnötig harte Grenz- und Reparationsregelungen ihrer Meinung nach den Nationalismus geschürt und wirtschaftliche Stabilität verhindert hatten. Selbstkritisch wurde auch immer wieder die Weigerung der USA vermerkt, dem Völkerbund beizutreten und politische Verantwortung für den Frieden in Europa zu übernehmen. Auf der positiven Seite stand die noch frische Erinnerung an Franklin Roosevelts New Deal und die Leistungen der USA während des Zweiten Weltkrieges. Der New Deal wurde als Beweis dafür angesehen, daß eine modeme Wirtschaft nicht ohne lenkende Eingriffe des Staates auskommen konnte, die notfalls auch zu Lasten der Rechte der Bunöesstaaten gehen durften. Im Kampf gegen die "Große Depression" hatte sich erwiesen, daß eine maßvolle staatliche Regulierung nicht nur mit dem Grundsatz des Privateigentums vereinbar war, sondern sogar ganz wesentlich zur Sicherung einer marktwirtschaftlich-demokratischen Ordnung beitrug. Hinzu kam ein psychologisches Moment: Viele Amerikaner hatten noch Roosevelts Ausspruch auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise im Ohr, daß sie nichts zu fürchten hätten als die Furcht selbst, die ihre Initiative zu lähmen drohe. Auf Europa übertragen hieß das, die Schwierigkeiten ließen sich bewältigen, wenn es gelang, die Völker aus ihrer kollektiven Lethargie und Mutlosigkeit aufzurütteln. Vielleicht noch wichtiger als der Rückblick auf den New Deal war für die Marshall-Planer das Miterleben der enormen Mobilisie19 Die inneramerikanische Opposition kam von "linken" Gegnern eines "Gennany-firstapproach" wie dem ehemaligen Vizepräsidenten Henry A. Wallace, von Befürwortern einer Rückkehr zum Isolationismus oder zur "Politik der freien Hand" und von konservativen Kritikern einer interventionistischen Wirtschaftspolitik wie Herbert Hoover und Robert A. Taft (letztere lehnten aber eine Hilfe für Westeuropa nieht prinzipiell ab): siehe Hogan, Michael J., (wie Anm. 9), S. 94 ff. Zur Haltung der Wirtschaft Sanford, William F., The American Business Community and the European Recovery Program 1947 -1952, New York 1987. 20 Wala, Michael, Selling War and Selling Peace: The Non-Partisan Committee for Peace, the Committee to Defend America, and the Committee for the Marshall Plan, in: Amerikastudien/ American Studies 30 (1985), S. 91- 105; ders., Selling the Marshall Plan at Horne: The Committee for the Marshall Plan to Aid European Recovery, in: Diplomatie History 10 (1986), S. 247 - 265.

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rungsleistung, mit der die USA seit 1941 zum "Arsenal der Demokratie" geworden waren. Obwohl die Nation einen mehrjährigen Zweifrontenkrieg geführt und die Verbündeten dazu noch materiell unterstützt hatte, waren im Innern keine schmerzhaften Einschränkungen nötig gewesen. Ganz im Gegenteil: Dank der gemeinsamen Anstrengung von Regierung, Unternehmern und Gewerkschaften war die Produktivität dermaßen angestiegen, daß Wirtschaft und Verbraucher am Ende des Krieges besser dastanden als jemals zuvor. Mit unvergleichlich geringeren Opfern als die übrigen beteiligten Mächte hatten die USA den größten Erfolg in ihrer Geschichte verbuchen können. Zweifellos trug diese Erkenntnis zu einer deutlichen Stärkung des ohnehin recht ausgeprägten amerikanischen Selbstvertrauens bei. 11. Wirtschaftliche Integration und einheitlicher Binnenmarkt

Aus diesen bewußtseins- und mentalitätsmäßigen Quellen schöpften die Marshall-Planer ihre Inspirationen für die Zukunft Europas. Nimmt man die amerikanische "Vision" eines geeinten Europa etwas genauer unter die Lupe, dann lassen sich drei eng miteinander verknüpfte Einze1aspekte unterscheiden: die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Binnenmarktes, die schrittweise politische Integration unter demokratisch-föderativem Vorzeichen, und die kulturelle Anpassung überkommener Verhaltensweisen an die Erfordernisse einer modemen Massenkonsumgesellschaft. Schon das erste Teilelement, die Beseitigung innereuropäischer Handelsschranken, barg Ende der 1940er Jahre revolutionäre Sprengkraft. Um diese Zeit existierten allein in Westeuropa über 200 bilaterale Handels- und Zahlungsabkommen, und eine gewaltige Fülle bürokratischer Bestimmungen hemmte den Waren-, Personen- und Devisenverkehr zwischen den einzelnen Staaten Z1 • Von sich aus machten die europäischen Regierungen wenig Anstalten, diese Barrieren abzubauen; häufig waren sie nur darauf aus, ihren eigenen Unternehmen eine bessere Ausgangsposition gegenüber denen der Nachbarstaaten zu verschaffen. Der US-Botschafter in Paris, Jefferson Caffery, sowie Clayton, Hoffman und dessen Kollegen in der ECA wiesen immer wieder auf die Nachteile hin, die dadurch entstünden, daß die europäischen Staaten in ,,kleine wasserdichte Abteilungen" aufgeteilt seien, daß man ,,270 Millionen Menschen in 17 unwirtschaftliche Fürstentümer separiere"zz. Nur durch die Beseitigung dieser Schranken, für die Hogan, Michael J., (wie Anm. 9), S. 19. Ebd., S. 42 f., 69 - 72, 108 f., 162. Berühmt wurde in diesem Zusammenhang Hoffmans Rede vor der OEEC vorn 31. 10. 1949, in der er die europäische Integration als eine "practical necessity" bezeichnete (ebd., S. 273 f.). Im Januar 1950 forderte Hoffman erneut "a single European market" durch den Abbau von Handelsschranken, die Multilateralisierung des Zahlungsverkehrs und die Koordinierung der europäischen Volkswirtschaften (ebd., S. 302f.). Siehe auch Hoffman, Peace Can Be Won, New York 1951, sowie Raucher, Alan R., Paul G. Hoffman. Architect of Foreign Aid, Lexington, Ky., 1985. Allen Dulles hatte 1948 schon den ersten OEEC-Bericht optimistisch kommentiert: "Here is evidence that Europe is roused to the fact that smalI, cIosely compartmented sovereignties, with customs barriers, as weil as 21

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ECA und OEEC sorgen sollten, ließen sich die notwendigen Produktionssteigerungen erzielen und der längst fallige Modernisierungsschub auslösen. Am Ende müßte der voll integrierte Binnenmarkt stehen, den die USA schon seit dem 19. Jahrhundert besäßen, dessen ganze Vorteile aber auch sie erst im Zuge der New Deal-Reformen auszunutzen begonnen hätten. Die Erfolgsrezepte lauteten "pooling and sharing of resources" - das Zusammenlegen und die gemeinsame Nutzung von Ressourcen -, "economies of scale" - die optimale Anpassung der Unternehmen an die Größe des Marktes - sowie "technological innovation" und "scientific management". Nur ein produktives Europa war in der Lage, in anderen Teilen der Welt zu konkurrieren und die Devisen zu erwirtschaften, mit denen die bedrohliche "Dollarlücke" gegenüber Nordamerika geschlossen werden konnte. Die USA selbst mußten nach Meinung der Marshall-Planer durch eine allmähliche Absenkung der immer noch sehr hohen amerikanischen Einfuhrzölle zur generellen Liberalisierung des Welthandels beitragen. Die Beseitigung von Industriemonopolen, die unter Hinweis auf die amerikanische Anti-Trust-Gesetzgebung propagiert wurde, sollte den Wettbewerb und die Leistungsfähigkeit in den einzelnen Ländern und in Europa insgesamt stärken. Die sog. Dekartellisierung der deutschen Wirtschaft fügte sich in diesen Rahmen ein, auch wenn die sicherheitspolitische Komponente zunächst im Vordergrund stand. Schon früh gingen die amerikanischen Experten davon aus, daß der einheitliche Binnenmarkt eine neue Währungsordnung erforderte. Die Europäische Zahlungsunion (EZU) , die 1950 eingerichtet wurde, bedeutete einen wichtigen Marlcstein auf dem Weg zur Konvertierbarkeit der Währungen und vom bilateralen zum multilateralen Handelsverkehr23 . Um diese Zeit lag in den Schubladen der ECA aber bereits der Plan für eine europäische Zentralbank und eine gemeinsame Währung, deren Zahlungseinheit - die vorerst nur zur internen Verrechnung bestimmt war - ,,European Currency Unit" (ECU) oder ,,Europa" heißen sollte24 • Wenn die Planer hier wie in manch anderer Hinsicht dem tatsächlichen Geschehen auch weit vorauseilten, so kann man aus solchen Projekten doch schließen, daß ihre Absicht gerade nicht darin bestand, Westeuropa von den USA ökonomisch abhängig zu machen; vielmehr wurde die amerikanische Hilfe als lebensrettende Bluttransfusion konzipiert, als vorübergehende "Hilfe zur Selbsthilfe" oder als "aid to end all aid", die jede weitere Unterstützung überflüssig machen würde. Eine andere Metapher für den Marshall-Plan war der ,,zündfunke", der den Motor der europäischen Wirtschaft wieder anspringen ließ. Im wesentlichen ging es darum, die seit dem Ersten Weltkrieg unterbrochene europäische Arbeitsteilung zu rekonstruieren, den Wirtschaftskreislauf innerhalb Europas anzukurbeln und die Europäer in Stand zu setzen, durch Produktivitätssteigerungen und technische Innoquota and currency restrictions, have little chance of enduring in the world today. They are rnoving and rnoving fast in the direction which rnay yet rnean that out of the tragedy of World War 11 a closer union, sornething approaching the United States of Europe, rnay develop.", Dulles, Allen, (wie Anrn. 13), S. 46. 23 Ebd., S. 295 ff., 320 ff. 24 Milward, Alan (I), (wie Anrn. 8), S. 284ff.

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vationen in den USA selbst und in anderen Teilen der Welt die Devisen zu verdienen, die sie für Importe aus dem Dollarraum dringend benötigten. Nach der "Initialzündung" durch den Marshall-Plan würde, so sah man voraus, privates amerikanisches Investitionskapital das Aufbauwerk zum beiderseitigen Nutzen fortsetzen 25 . Die wirtschaftliche Integration sollte es Europa also erleichtern, wieder auf eigenen Beinen zu stehen und eine wechselseitig vorteilhafte Handelspartnerschaft mit den USA zu begründen. III. Politische Integration, "special relationship" und deutsche Frage

Auch im zweiten Punkt, der politischen Gestaltung Europas, setzten sich die Amerikaner ehrgeizige Ziele, aber hier waren sie noch mehr zum Improvisieren gezwungen. Ihrem Verständnis nach gehörten die osteuropäischen Länder durchaus zu Europa, und Marshalls ursprüngliches Angebot hatte sich auf alle Gebiete westlich des Ural bezogen. Zwar rechnete kaum jemand damit, daß Moskau die gestellten Bedingungen, etwa die gemeinsame europäische Bedarfsplanung und die Offenlegung von Wirtschaftsdaten, erfüllen würde. Insgeheim hofften die Verantwortlichen in Washington jedoch, mit dem Marshall-Plan zumindest Polen und die Tschechoslowakei vor einer einseitigen Bindung an die Sowjetunion bewahren und stärker zum Westen hin orientieren zu können. Daran änderte sich auch wenig, als der sowjetische Außenminister Molotow die Pariser Vorbereitungskonferenz unter Protest verließ und Stalin den osteuropäischen Regierungen Anfang Juli 1947 die Teilnahme am Marshall-Plan untersagte. In der Truman-Administration überwog die Erleichterung, weil man befürchtet hatte, Moskau könnte versuchen, das Wiederaufbauprogramm durch eine pro-forma-Mitwirkung zu sabotieren, oder der Kongreß werde sich weigern, Geld für Länder zu bewilligen, die unter kommunistischem Einfluß standen26 . Obwohl das sowjetische Veto das Hilfsprogramm auf Westeuropa beschränkte, blieb die Erwartung bestehen, daß ein wirtschaftlich starkes, demokratisches und geeintes Westeuropa wie ein Magnet auf den Osten wirken und letztlich die Teilung des Kontinents überwinden würde. So heißt es etwa in der grundlegenden außenpolitischen Direktive NSC-68 vom Frühjahr 1950, der Aufbau eines erfolgreichen politischen und ökonomischen Systems in der "freien Welt" werde auf lange Sicht die Unabhängigkeit der "Satellitenstaaten" 25 In der "Outline of a European Recovery Program", die Truman am 19. 12. 1947 im Rahmen seiner Marshall-Plan-Botschaft an den Kongreß übergab, führte das State Department aus: "To the greatest extent possible, even at the start, and progressively as the program develops, the emphasis should be on the use of normal channels of trade and on meshing the program into the long-run objective of freer multilateral world trade.", zit. nach Dulles, Alan, (wie Anm. 13), S. 94 f. 26 Siehe Lundestad, Geir, Der Marshall-Plan und Osteuropa, in: Haberl, Othmar Nikolal Niethammer, Lutz, (wie Anm. 5), S. 59 - 73; Heideking, Jürgen, Die USA und die Beteiligung Osteuropas am Marshall-Plan, in: George Marshall, Deutschland und die Wende im OstWest-Konflikt, bearb. v. Christof Dahm und Hans-Jakob-Tebarth, Bonn 1997, S. 75 - 88.

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fördern und einen "fundamentalen Wandel in der Natur des sowjetischen Systems" bewirken27 . Das kommunistische Feindbild, das zweifellos bewußt gemalt und von der Propaganda übersteigert wurde, richtete sich nach amerikanischer Auffassung nur gegen die "Kreml-Herrscher" und gegen "moskauhörige" Regierungen und Parteien, keinesfalls jedoch gegen die Völker Osteuropas. Das langfristige Ziel war ein freies Gesamteuropa, wobei die "Befreiung" nicht durch äußere Gewalteinwirkung, sondern durch das Handeln der betroffenen Völker, auch des russischen Volkes, erfolgen sollte. Inwieweit der Westen diesen Prozeß durch ökonomischen Druck und "psychologische Kriegführung" beschleunigen konnte, blieb eine Frage, die sich jede US-Regierung von neuem stellen mußte. In Westeuropa drängten die Amerikaner nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus politischen und strategischen Gründen auf einen möglichst engen Zusammenschluß. Dabei wollten sie allerdings die Nationalstaaten ebensowenig abschaffen, wie sie im eigenen Land die Bundesstaaten für überflüssig hielten. Generell brachten sie der europäischen Föderalismusbewegung Sympathie entgegen, aber die Vorstellungen von einem Europa als "dritter Kraft" zwischen Amerika und Rußland, zwischen Kapitalismus und Kommunismus, kam ihnen angesichts der tatsächlichen Kräfteverhältnisse doch recht unausgegoren, wenn nicht gefährlich vor. Zunächst ging es darum, das in Europa bis zum Exzeß getriebene Prinzip der nationalen Souveränität, die - wie lohn Foster Dulles es ausdrückte - "tradition of complete national independence" zu überwinden28 • Da die Marshall-Planer die historischen Voraussetzungen kannten und um die Beharrungskraft nationaler Regierungen und Bürokratien wußten, war es ihnen klar, daß die politische Einigung des Kontinents nur allmählich und schrittweise zu bewerkstelligen sein würde. Sie bestanden aber darauf, daß sich die Europäer nicht mit der unverbindlichen Zusammenarbeit zwischen den Regierungen und mit einer von den souveränen Staaten gebildeten Freihandelszone zufriedengeben durften. Wirkliche europäische Integration bedeutete in ihrem Verständnis die Einrichtung permanenter gemeinsamer Institutionen, die so weit wie möglich unabhängig von den nationalen Regierungen das europäische Gemeinwohl verfolgen sollten - etwa so, wie in den USA 27 Der Text der Direktive ist abgedruckt in FRUS 1950, I, S. 235 - 292; vgl. Leffler, Melvyn P., The United States and the Strategie Dimensions of the Marshall Plan, in: Diplomatie History 12 (1988), S. 277 - 306. Die sog. "Magnet-Theorie", die vielfach Konrad Adenauer zugeschrieben wird, formulierte der spätere Außenminister John Foster Dulles bereits 1950 in seinem Buch War or Peace. Siehe dazu Larres, Klaus (= Larres I), Die Welt des John Foster Dulles (1939 - 1953), in: Historische Mitteilungen 9 (1996), S. 256 - 282 . 28 "There is nothing in the differences of the European peoples that prevents their geuing together ... 1t does not happen because the tradition of complete national independence has become so deeply rooted that many politicians, officeholders, businessmen, and beneficiaries of state aid feel that the least change would involve risks for them. The status quo is always supported by vested interests, and in Europe the vested interests have always been powerful enough to prevent peaceful change to unity.", Dulles, J.F., War or Peace, zit. nach Larres, Klaus (I), (wie Anm. 27), S. 266. Larres verweist zu Recht auf die tiefe religiöse Fundierung der außenpolitischen Vorstellungen von J.F. Dulles.

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die Federal Trade Commission oder die Federal Commerce Commission die übergeordneten Belange der Union gegenüber den Interessen der Einzelstaaten durchsetzten. Diese Erwartungen verbanden die Marshall-Planer zunächst mit der OEEC, an deren Spitze sie gern einen starken Generalsekretär wie Paul Renri Spaak gesehen hätten 29 , dann seit 1950 mit der Montanunion und der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft EVG. Von der festen Grundlage gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen aus, so hoffte man, werde der Einigungsprozeß dann auf weitere Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens übergreifen. Das Konzept der europäischen Integration verlangte nicht die Überwindung der Nationalstaaten, sondern setzte vielmehr die Existenz nationaler Regierungen voraus, die allerdings vertraglich und institutionell in ein neues Ganzes eingebunden waren. Tatsächlich wurde der Begriff "Integration" in seiner dynamischen, uns heute geläufigen Bedeutung erst von den Marshall-Planern und ihren wissenschaftlichen Beratern in die europäische Debatte eingebracht3o . Wenn solch ein Integrationsprozeß in Gang kam, dann konnte es getrost den Europäern selbst überlassen bleiben, ob sie ihr Werk eines Tages mit einer Bundesverfassung nach amerikanischem Vorbild krönen wollten oder ob sie es vorzogen, ein eigenes föderales Modell zu entwickeln. Dringlicher war 1949/50 die Lösung einer anderen Frage: Wie konnte Westdeutsch land, die gerade entstehende Bundesrepublik Deutschland, in das neue Europa einbezogen werden? Das Argument, daß die Ankurbelung der deutschen Wirtschaft für den europäischen Wiederaufbau unerläßlich sei, zieht sich wie ein roter Faden durch alle Planungsdokumente; es war gewissermaßen ein - vom Morgenthau-Plan nur kurzfristig beeinträchtigtes - Grunddogma der amerikanischen Europapolitik31 • Verständlicherweise begegnete man den Deutschen 29 Dies scheiterte am Widerstand der britischen Regierung: Hogan, Michael J., (wie Anm. 9), S. 155ff., 283ff. 30 Diesen Nachweis führt überzeugend Herbst, Ludolf, Die zeitgenössische Integrationstheorie und die Anfange der Europäischen Einigung 1947 -1950, in: VfZg 34 (1986), S. 161205. Nach Hogan war die Integrationsidee "the interlocking concept in the American plan for Western Europe, the key to a large single market, a workable balance of power among the Western states, and a favorable correlation of forces on the Continent.", Hogan, Michael J., (wie Anm. 9), S. 294. Siehe neuerdings Lundestad, Geir, "Empire" by Integration. The United States and European Intregration 1945 - 1997, Oxford 1998. 31 Schon in seinem Memorandum "The Rehabilitation of Europe as a Whole" vom 22. 7. 1945 hatte Kriegsminister Stimson Präsident Truman nahegelegt: "The problem which presents itself... is how to render Germany harmless as a potential aggressor, and at the same time enable her to play her part in the necessary rehabilitation of Europe.", FRUS 1945, Potsdam Conference, 11, S. 809. Im April 1947 stellten die Joint Chiefs of Staff lakonisch fest: "The complete resurgence of German industry... is essential for the economic recovery of France - whose security is essential for the combined security of the United States, Canada, and Great Britain.", FRUS 1947, I, S. 740. Bis Mitte 1947 hatte sich Morgenthaus Vorstellung, die von der NS-Besatzung befreiten westlichen Länder könnten Deutschlands Rolle einer ,,Lokomotive" der europäischen Wirtschaft übernehmen, endgültig als illusorisch erwiesen. Siehe hierzu neuerdings Mausbach, Wilfried, Zwischen Morgenthau und Marshall. Das wirtschaftspolitische Deutschlandkonzept der USA 1944-1947, Düsseldorf 1996.

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noch mit Mißtrauen, sei es daß man einen neuen Rechtsradikalismus oder eine neutralistische "Schaukelpolitik" zwischen Ost und West (oder eine Kombination von beidem) befürchtete. Nicht die Wiedervereinigung hatte deshalb höchste Priorität für Washington, sondern die Integration Westdeutschlands in das demokratische Europa 32 . Wenn die "wirtschaftliche Entwaffnung" Deutschlands und die Abtrennung des Ruhrgebiets keine Lösung versprachen, dann blieb als einziger Weg zu einem dauerhaften Frieden die Reaktivierung der ökonomischen Kraft der Bundesrepublik im Dienste der anderen europäischen Länder. Dekartellisierungsund andere Kontrollrnaßnahmen mochten hilfreich sein, aber einen wirklichen Schutz bot letztlich nur die Verschmelzung des deutschen Wirtschaftspotentials mit dem der ehemaligen europäischen Kriegsgegner. Philip Jessup, ein Berater Außenminister Achesons, erklärte deshalb im Mai 1949, "daß das Problem ... nicht Deutschland an sich, sondern die Zukunft Europas als Ganzes ist. Deutschland ist nur ein Teil des Problems. Daher ist das Hauptziel nicht die Wiedervereinigung Deutschlands als ein Ziel an sich. Das Ziel, das wir anstreben, ist die Unterstützung der Stärke Europas, die bereits erreicht worden ist, und ihr Ausbau,,33. George F. Kennan brachte diese Haltung auf die prägnante Formel: "There is no solution of the German problem in terms of Germany, there is only a solution in terms of Europe,,34. Um die Einbindung der Bundesrepublik in den Westen strategisch abzusichern, schwebte den Amerikanern ein Ausbalancieren der künftigen deutschen Macht durch Frankreich und Großbritannien vor. Deshalb traf es sie hart, daß die Briten zwar am Marshall-Plan teilnahmen, sich aber mit dem Hinweis auf das Commonwealth und ihre Großmachtrolle jeglicher politischen Integration widersetzten. Das galt sowohl für die Labour-Regierung unter Premierminister Attlee, die den Sozialisierungsplänen Priorität einräumte, als auch für den Oppositionsführer Churchill, dessen Europa-Reden sich stets nur auf die Festlandsstaaten bezogen, die zukünftige Position Großbritanniens hingegen offenließen35 . An diesem nationalen Konsens prallten alle Versuche Washingtons ab, London durch 32 Schwabe, Klaus, Die amerikanische Deutschlandpolitik 1945 - 1953, in: Die Deutschlandfrage von der staatlichen Teilung Deutschlands bis zum Tode Stalins (Studien zur Deutschlandfrage, Bd. 13), Berlin 1994, S. 37 - 62; ders., Der Marshall-Plan und Europa, in: Poidevin, Raymond (Hrsg.), Histoire des debuts de la construction europeenne, Brusse11986; ders., Die Rolle der USA, in: Loth, Wilfried, (Hrsg.), Die Anfänge der europäischen Integration 1945 - 1950, Bonn 1990. Vgl. neuerdings Diefendorf, Jeffrey M. /Frohn, Axel/Rupieper, Hermann-Josef (Hrsg.), American Policy and the Reconstruction of West Germany 19451955 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts, Washington, D.C.), New York 1993; Leffler, Melvyn P., The Struggle for Germany and the Origins of the Cold War (Sixth Alois Mertes Memorial Lecture), Occasional Paper No.16, published by the German Historical Institute, Washington, D.C. 1996. 33 Zitiert nach Rupieper, Hermann-Josef, Der besetzte Verbündete. Die amerikanische Deutschlandpolitik 1949 -1955, Opladen 1991, S. 201. 34 Zitiert nach Hogan, Michael J., (wie Anm. 9), S. 197. 35 Larres, Klaus (=Larres 11), Integrating Europe or Ending the Cold War? Churchill's Post-War Foreign Policy, in: Journal of European Integration History / Zeitschrift für Geschichte der Europäischen Integration 2 (1996), S. 15 -49.

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Argumente oder finanziellen Druck auf einen integrationsfreundlichen Kurs zu bringen. Es bedurfte aber noch heftiger interner Debatten, bevor die US-Regierung Großbritannien 1949 einen Sonderstatus zugestand, der gewährleistete, daß das Vereinigte Königreich - dem Wunsch Außenminister Bevins entsprechend - nicht "wie irgendein europäisches Land", sondern als privilegierter Partner behandelt wurde 36 . Diese - aus Sicht der Marshall-Planer schmerzhafte - Grundsatzentscheidung zugunsten einer "special relationship" mit London bürdete den Franzosen die Hauptverantwortung für die Einbindung und das "containment" Westdeutschlands auf, und sie zwang darüber hinaus die USA selbst, als Vormacht der neu gegründeten NATO politisch und militärisch stärker in der Alten Welt präsent zu bleiben als ursprünglich beabsichtigt37 . Erst vor diesem Hintergrund wird die Erleichterung der Amerikaner über den Schuman-Plan verständlich, mit dem die Franzosen 1950 die Initiative im Einigungsprozeß übernahmen und die Weichen für ein kontinentales "Kerneuropa" stellten. Obwohl es sich zunächst nur um eine Union im Kohle- und Stahlbereich handelte und obwohl aus amerikanischer Sicht die Gefahr neuer Monopolbildungen und protektionistischer Abschottung gegeben war, nannte John Foster Dulles den Vorschlag "brilliantly creative", Außenminister Acheson sprach von einer "major contribution toward the resolution of the pressing political and economic problems of Europe" und Präsident Truman würdigte den Plan als "an act of constructive statesmanship"38. Großes Vertrauen setzten die Amerikaner in den eigentlichen Autor des Schuman-Plans, Jean Monnet, den sie gut kannten und von dem sie wußten, daß er viele ihrer Europa-Vorstellungen teilte 39 . In der Bundesrepublik 36 Hogan, Michael J., (wie Anm. 9), S. 238 ff. In seinem Buch War or Peace bestand J.F. Dulles noch 1950 auf einer Einbeziehung Großbritanniens: "Great Britain is needed as part of Western Europe. Perhaps the United States also should become more fully identified with Western Europe.", zitiert nach Larres, Klaus(I), (wie Anm. 27), S. 267; vgl. Felken, Detlef, Dulles und Deutschland. Die amerikanische Deutschlandpolitik 1953-1959, Bonn 1993, S. 63 ff. Kennans 1949 entwickelte Alternativ-Idee einer "strictly continental union under German leadership", verbunden mit einem "superpower disengagement", wurde von Außenminister Acheson abgelehnt: Hogan, Michael J., (wie Anm. 9), S. 258 ff.; vg!. Frohn, Axel, Neutralisierung als Alternative zur Westintegration. Die Deutschlandpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika 1945 - 1949, Frankfurt/M. 1985. 37 Hierzu grundlegend Leffler, Melvyn P., A Preponderance of Power: National Security, the Truman Administration, and the Cold War, Stanford, Ca!. 1992. 38 Zitiert nach Hogan, Michael J., (wie Anm. 9), S. 367; vg!. Schwabe, Klaus, ,Ein Akt konstruktiver Staatskunst' - die USA und die Anfange des Schuman-Plans, in: ders. (Hrsg.), Die Anfange des Schuman-Plans 1950/51, Baden-Baden 1988, S. 235 ff. Generell zur Vorgeschichte Bührer, Werner, Ruhrstahl und Europa. Die Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie und die Anfange der europäischen Integration 1945 - 1952, München 1986; Gillingharn, John, Coal, Steel, and the Rebirth of Europe, 1945 - 1955. The Germans and the French from Ruhr Conflict to Economic Community, Cambridge, Mass., 1991. 39 Im Mai 1950 erklärte Monnet allerdings gegenüber Armand B6rard, Europa sei zu divers, um wie die USA föderativ organisiert zu werden: Duchene, Fran"ois, Jean Monnet. The First Statesman of Interdependence, New York-London 1994. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich aber auch die meisten US-Politiker schon von der Idee einer raschen Föderation der

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war US-Hochkornmissar McCloy hinter den Kulissen unermüdlich tätig, um die deutsch-französische Verständigung zu erleichtern und voranzubringen. Dabei trat eine weitgehende Interessenparallelität mit Konrad Adenauer zutage, die nicht nur dem Bundeskanzler selbst politischen Nutzen einbrachte, sondern von der die deutsch-amerikanischen Beziehungen insgesamt profitierten 40 . Die Amerikaner gaben sich jedoch nicht der Illusion hin, die europäische Integration werde von nun an quasi automatisch voranschreiten: Wie das wenig später einsetzende Ringen um die EVG bewies, erforderte jeder neue Schritt politische Willensentscheidungen und Kompromisse, an deren Zustandekommen die USA zwar mitwirken, die sie aber nicht erzwingen konnten41 • 1953, ein Jahr nach Auslaufen des Marshall-Plans, konstatierten amerikanische Europa-Experten noch eine beträchtliche Lücke zwischen der emotionalen Befürwortung von Konzepten wie Integration, Föderation oder Vereinigung auf der einen Seite und "den notwendigen individuellen Schritten und Mechanismen der Integration" auf der anderen. Sie sahen es deshalb als ihre Hauptaufgabe an, diese gefühlsmäßige Akzeptanz der Europaidee "bis zu dem Punkt zu stärken, an dem politische oder demagogische Kritik auf unfruchtbaren Boden fallen". Speziell die Westdeutschen, die den Verlockungen des Neutralismus ausgesetzt seien, müßten davon überzeugt werden, daß nur eine europäische Integration den Frieden sichern und die Sache der deutschen Einheit voranbringen könne42 .

europäischen Staaten verabschiedet und die Alternative einer schrittweisen Integration ins Auge gefaßt. 40 Schwartz, Thomas, (wie Anm. 11); vgl. auch die Beiträge von Norbert Wiggershaus, Manfred Görtemaker, Werner Link und Frank A. Mayer in dem von Klaus Schwabe herausgegebenen Sammelband Adenauer und die USA (Rhöndorfer Gespräche, Bd. 14), Bonn 1994. 41 Außenminister J.F. Dulles kündigte am 14. 12. 1953 vor dem Nordatlantik-Rat sogar ein "agonizing reappraisal" der US-Außenpolitik für den Fall an, daß die EVG scheitern sollte. Die europäischen Mächte hätten "so repeatedly fought each other that they have sapped their own vitality and diminished their authority and their prestige in the world. If the West cannot now build a safer horne for its civilization, then its statesmanship will be judged bankrupt and men everywhere will look elsewhere for leadership ... " Nach amerikanischer Auffassung sollte die EVG eine Ordnung ermöglichen, in der die ehemals verfeindeten· Länder "would be woven together in a European fabric of mutual understanding and common endeavor.", Zitate nach Pruessen, Ronald W., Cold War Threats and America's Commitment to the European Defense Community: One Corner of a Triangle, in: Journal of European Integration History I Zeitschrift für Geschichte der Europäischen Integration 2 (1996), S. 51 69. Der Autor bescheinigt Präsident Eisenhower und Außenminister Dulles eine "deep passion for European integration", die sie veranlaßt habe, nach dem EVG-Fehlschlag sofort Ersatzlösungen in Form der WEU und dann der EWG zu unterstützen (S. 69). 42 Zitiert nach Schumacher, Frank, Kalter Krieg und Propaganda. Die USA und die ideelle Westintegration der Bundesrepublik Deutschland, 1949 - 1955, unveröff. Diss., Univ. zu Köln 1997, S. 87, 149.

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IV. Die Kultur der demokratischen Marktgesellschaft

Damit ist bereits der Aspekt des Bewußtseinswandels angesprochen, der im Zusammenhang der amerikanischen ,,Europa-Vision" besondere Aufmerksamkeit verdient. In politischer Hinsicht wollten die Marshall-Planer den Europäern die Augen dafür öffnen, daß ihr Kontinent trotz aller Unterschiede und Gegensätze im wesentlichen eine Einheit bildete. 1914 und 1939 markierten aus dieser Sicht den Beginn "europäischer Bürgerkriege", die zur Selbstzerstörung Europas, zur Desintegration der Weltwirtschaft und zum Zusammenbruch des weltpolitischen Gleichgewichts geführt hatten. Nur dem Eingreifen der USA war es zu verdanken, daß Freiheit und Demokratie in Europa nach 1945 überhaupt noch eine Chance besaßen. Das Ergebnis dieser Diagnose konnte nur Kooperation, Integration und europäische Einigung lauten. Konkret wollten die Amerikaner den "liberalen Konsens" nach Europa übertragen, der sich im New Deal und im Zweiten Weltkrieg in den USA selbst herausgebildet hatte43 • Er beruhte zum einen auf der weitgehend ideologiefreien Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den großen gesellschaftlichen Interessengruppen, zum anderen auf einer Strategie des Wachstums, mit der die sozialen Spannungen gemildert und allgemeiner Wohlstand geschaffen werden sollten. Teil des Marshall-Plans war deshalb das Bemühen, die skeptischen europäischen Eliten und eine zwischen Hoffen und Bangen schwankende Bevölkerung mit den Werten, Prinzipien und Verheißungen der Massenproduktionsund Massenkonsumgesellschaft vertraut zu machen. Grundvoraussetzung war der friedliche Interessenausgleich zwischen Regierungen, Unternehmern und Gewerkschaften, das amerikanische Modell des "Korporatismus", dessen Vorzüge ECAPräsident Hoffman unablässig predigte 44 . Nur solche korporativen Strukturen, die ein gewisses Maß an ökonomischer Planung und sozialer Absicherung beinhalteten, schienen geeignet, den engstirnigen Nationalismus ebenso wie das Denken in Klassengegensätzen zu überwinden und das Leistungspotential der Gesellschaft voll auszuschöpfen45 • Das half nicht nur der einzelnen Volkswirtschaft, sondern Von einer ,,New Deal synthesis" spricht Hogan, Michael J., (wie Anm. 9), S. 22 f. Zur wissenschaftlichen Debatte über den amerikanischen "corporatism" siehe v.a. die Beiträge von Michael J.Hogan und John L. Gaddis in Diplomatic History 10 (1986), S. 357372. In der Einleitung zu seinem Buch von 1987 deutet Hogan den Marshall-Plan als "an international projection of the corporate political economy that had evolved in the Uni ted States": Hogan, Michael J., (wie Anm. 9). 45 Insofern ist die soziale Komponente der Marktwirtschaft keine deutsche "Erfindung", sondern Bestandteil der "New Deal-Synthese." Die Marshall-Planer mahnten ihre europäischen Ansprechpartner wiederholt, die Interessen und Bedürfnisse der Arbeitnehmer stärker zu beachten. Laut Hogan verfolgten die deutschen Wirtschaftspolitiker demgegenüber "an orthodox stabilization that curtailed public spending, curbed consumption, and restrained inflation" (S. 436). Den Neoliberalen um Ludwig Erhard und Erwin Hielscher mißfielen die planerisch-bürokratischen Elemente des ERP, die sie in ihrer Zeitschrift "Währung und Wirtschaft" kritisierten. Zu den "Fehlkonstruktionen" zählten sie auch den "blendenden Plan, West-Europa zu einer Wirtschafts-Einheit zusammenzuschließen" (Jg. 1950, Heft 13 / 14). 43

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Westeuropa insgesamt würde in einen dynamischen Wachstums- und Modernisierungsprozeß eintreten, und letzten Endes könnten Europa und die USA im Rahmen einer atlantischen Gemeinschaft gemeinsam wachsen. Integration, technischer Fortschritt und Wachstum waren aus amerikanischer Sicht die Schlüssel zur Beseitigung des übertriebenen Konkurrenzdenkens und der nationalen Feindbilder in Europa, und sie versprachen auch, die unvermeidlichen Interessenkonflikte zwischen einem wiedererstarkten Europa und den USA zu entschärfen und in friedliche Bahnen zu lenken. Die Stabilisierung und Modernisierung Westeuropas sowie eine enge europäisch-amerikanische Zusammenarbeit sollten den Boden für die liberale Weltwirtschaftsordnung bereiten, deren Etablierung 1945/46 im "ersten Anlauf' über UNO, Weltbank und Internationalen Währungsfond am Widerstand der kommunistischen Staaten gescheitert war46 . Ein wichtiges Instrument zur praktischen Umsetzung dieser Philosophie stellte das technical assistance program der ECA dar, das Führungskräfte der Wirtschaft, Gewerkschafter und Facharbeiter in productivity teams zusammenbrachte und ihnen Erfahrungsreisen in die USA ermöglichte. Auf einer sehr individuellen, persönlichen Ebene leistete es einen Beitrag zu dem, was der Historiker Volker Berghahn die "Teilamerikanisierung" der deutschen und europäischen Wirtschaft nach 1945 genannt hat47 • Der im Januar 1948 vom Kongreß verabschiedete SrnithMundt Act, der auch als "kultureller Marshall-Plan" bezeichnet wurde, bildete die Grundlage für ein umfangreiches Austauschprogramm im Bereich der Erziehung, der bildenden Künste und der Naturwissenschaften48 . Darüber hinaus starteten die Amerikaner eine breit gefächerte Public Relations-Kampagne für den MarshallPlan, die den Mann und die Frau "auf der Straße" ansprechen sollte. Ein Beispiel für diese handfeste Form von Öffentlichkeitsarbeit ist der berühmte ,,Europa-Zug", der im Auftrag der ECA durch die Teilnehmerländer des Marshall-Plans rollte und 46 Siehe Schild, Georg, Bretton Woods and Dumbarton Oaks: American Econornic and Political Postwar Planning in the Summer of 1944, New York 1995. 47 Berghahn, Volker, Zur Amerikanisierung der westdeutschen Wirtschaft, in: Herbst, Ludolf I Bührer, Werner ISowade, Hanno, (wie Anm. 10), S. 227 - 256. Die sog."Teilamerikanisierung" beschreibt er als "eine eigenartige Mischung amerikanischer industriekultureller Exporte und einheimischer Organisationen und Praktiken" (S. 253). Vgl. ders., The Americanization of West German Industry, 1945 - 1973, Oxford 1986. Zur "transnationalen Kooperation" zwischen den USA und den europäischen Ländern im Rahmen des Marshall-Plans siehe auch Hogan, Michael J., (wie Anm. 9), S. 135 ff.; Link, Werner, Deutsche und amerikanische Gewerkschaften und Geschäftsleute 1945 - 1975. Eine Studie über transnationale Beziehungen, Düsse1dorf 1978; Schwartz, Thomas A., The United States and Germany after 1945: Alliances, Transnational Relations, and the Legacy of the Cold War, in: Diplomatie History 19 (1995), S. 549-569. 48 Vgl. Rupieper, Hermann-Josef, Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie. Der amerikanische Beitrag 1945 - 1952, Opladen 1993; Tent, James F., Mission on the Rhine. Re-education and Denazification in American-Occupied Germany, Chicago, Ill., 1982; Heideking, Jürgen/Herbst, Jürgen/Depaepe, Mare (Hrsg.), Mutual Influences on Education: Germany and the United States in the 20th Century (Sonderheft von Paedagogica Historica, XXX,I), Gent 1997.

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den allein in Deutschland 1,5 Millionen Menschen erlebten. Jeder Waggon repräsentierte ein Land der atlantischen Gemeinschaft, und in den Wagen selbst wurden die amerikanische Hilfe und die Wiederautbauerfolge mittels Fotos, Graphiken und Filmen visuell dargestellt. Meinungsumfragen zufolge identifizierten sich zwischen 80 und 95 Prozent der deutschen Besucher mit dem zentralen Thema des Europa-Zuges, "dem Appell zur wirtschaftlichen und politischen Vereinigung als Grundlage der Stärke Europas und als Schutz gegen den Osten,,49. Auch auf anderen großen Wanderausstellungen versuchten die Amerikaner den Europäern die Vorteile der wirtschaftlichen Integration und der transatlantischen Zusammenarbeit anschaulich nahezubringen. Als Blickfang der Marshall-Plan-Ausstellung, die ab Herbst 1949 gezeigt wurde, diente eine fast 100 Quadratmeter große, mit Wasser gefüllte Reliefplatte, auf der man die Ostküste der USA, den Atlantik und Westeuropa sehen konnte. Elektrisch angetriebene und ferngesteuerte Schiffe brachten ERP-Güter aus den USA und Kanada in europäische Häfen, wo die Fracht auf Modelleisenbahnen umgeladen und in die einzelnen Teilnehmerländer weitertransportiert wurde. Auf diese Weise sollten die zunehmende infrastrukturelle Vernetzung zwischen Nordamerika und Westeuropa sowie die materielle Stärke des nordatlantischen Raumes sichtbar gemacht werden 5o • Eine weitere Ausstellung präsentierte unter dem Motto "Wir bauen ein besseres Leben" qualitativ hochwertige und ästhetisch anspruchsvolle Konsumprodukte aus den verschiedenen Marshall-PlanLändern, die allesamt in Massenproduktion hergestellt worden waren. Den Mittelpunkt bildete ein von oben einsehbares Musterhaus, in dem eine vierköpfige Familie den durchschnittlichen Wohn- und Konsumstandard der nahen Zukunft demonstrierte. Die Besucher sollten erkennen, "daß ein höherer Lebensstandard durch steigende Produktivität und zunehmende Integration erreicht werden kann ... und daß gutes Design ohne weiteres mit Massenproduktion vereinbar ist". Auch in diesem Fall ergaben Umfragen, daß es gelungen war, das Interesse der Menschen zu wecken, Vorurteile abzubauen und Zukunftshoffnung zu wecken 5 !. Der ECA in Paris war eine eigene "European Film Unit" angegliedert, die Dokumentarfilme über die Erfolge des Marshall-Plans herstellte und in Westeuropa verbreitete52 . Solche mit dem Marshall-Plan verbundenen Werbeaktivitäten trugen offenbar nicht unerheblich zu dem Bewußtseins- und Mentalitätswandel bei, den Historiker und Soziologen heute unter Begriffen wie "Amerikanisierung" oder "Westernization" wissenschaftlich zu erfassen versuchen53 . Diese "Amerikanisierung" darf aber 49 HICOG Report No.98 vom 13.9.1951, zitiert nach Schumacher, Frank, (wie Anm. 42), S.186. 50 Ebd., S. 187. 51 HICOG Information Bulletin, Februar 1953, zitiert ebd. 52 Zu den Hauptaufgaben der Filmemacher gehörte, "to assess the unfinished business of European Unity", sowie für "free trade and international cooperation" zu werben. Hemsing, Albert, The Marshall Plan's European Film Unit 1948 - 1955: A Memoir and Filmography, in: Historical Journal of Film, Radio and Television 14 (1994), Heft 3. 53 Einen Forschungsüberblick gibt Doering-Manteuffel, Anse1m, Dimensionen von Amerikanisierung in der deutschen Gesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995),

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nicht als platter Materialismus mißverstanden werden: Hinter den materiellen Anreizen stand stets das Bild der demokratischen "civil society" und des Rechtsstaates, der weder politische noch geistige oder religiöse Unterdrückung zuließ. Diese Botschaft wurde auch in den Amerika-Häusern verkündet, von denen Ende 1949 bereits 25 auf deutschem Boden existierten. Sie hatten sich von Agenturen der "Reeducation" zu kulturellen Gemeindezentren mit zahlreichen Nebenstellen im ländlichen Raum entwickelt, deren breitgefächertes Programm - Literatur, Musik, Kunst, politische Bildung - eine wachsende Zahl insbesondere junger Menschen anzog. Wenn im State Department oder beim US-Hochkommissar in Bonn die Aufgaben und Ziele der Amerika-Häuser definiert wurden, dann stand während dieser Zeit stets die Propagierung der europäischen Integration an erster Stelle54 . Auch auf deutscher Seite wurde - insbesondere von dem Marshall-Plan-Ministerium unter Franz Blücher - die Werbung für das ERP eng mit der Förderung des Europagedankens verknüpft55 . Wenn man den Marshall-Plan aus dieser Perspektive betrachtet, wird deutlich, ·daß er weit über ein ökonomisches Krisenbekämpfungsprogramm hinausging, sein Wert folglich wesentlich höher zu veranschlagen ist, als die insgesamt 13,75 Milliarden Dollar besagen, die von den USA zwischen 1948 und 1952 aufgewendet wurden (und von denen 10 Prozent Westdeutschland zugutekamen)56. Vielmehr S. 1 -34; umfassend und differenziert untersucht das Konzept neuerdings Pells, Richard, Not Like USo How Europeans Have Loved, Hated, and Transformed American Culture Since World War 11, New York 1997. 54 Hein-Kremer, Maritta, Die Amerikanische Kulturoffensive. Gründung und Entwicklung der amerikanischen Information Centers in Westdeutschland und West-Berlin 1945 - 1955, Köln-Weimar-Wien 1996, S. 368, 381, 395. Mit der indirekten Meinungsbeeinflussung durch die CIA und andere amerikanische Organisationen befassen sich Pisani, Sallie, The CIA and the Marshall Plan, Lawrence, Ks., 1991, sowie eine Tübinger Dissertation, die demnächst veröffentlicht werden wird: Hochgeschwender, Michael, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen (1996). 55 So etwa in der ERP-Fibel, hrsg. v. Bundesministerium für den Marshall-Plan, Bonn 1950. Zu den Kompetenzstreitigkeiten zwischen Blücher und Erhard siehe Wengst, Udo, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948 - 1953. Zur Geschichte der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1984, S. 170f. In einer Rundfunkansprache vorn 28. 6. 1952 erklärte Blücher: "Der Marshall-Plan hatte sich von vornherein das Ziel gesetzt, nicht nur den einzelnen europäischen Ländern zu helfen, sondern die europäische Einheit zu fördern aus der Erkenntnis, daß nur durch Überwindung der nationalen Gegensätze und durch Beseitigung der Wirtschafts- und Währungsschranken Europa lebendig bleiben und erfolgreich gegen drohende Gefahren verteidigt werden kann". 56 Genaue Zahlenangaben finden sich bei Hardach, Gerd, (wie Anm. 10), S. 244 f., 336. Umgerechnet auf den Dollarwert von 1990 betrug die gesamte Marshall-Plan-Hilfe ca. 76 Mrd. Dollar. Im Jahr 1950 machten die aufgewendeten Mittel für ERP und GARIOA 1,2 Prozent des Grass National Product der USA aus. Die 3,5 Mrd. Dollar ERP-Mittel im US-Bundeshaushalt von 1950 bedeuteten einen Anteil von 8,5 Prozent am Gesamthaushalt von 41 Mrd. Dollar. Hätten die USA im Jahr 1995 einen entsprechenden Anteil bereitstellen wollen, so hätten sie ca. 130 Mrd. Dollar (bei einern Gesamthaushalt von 1,5 Billionen Dollar 1995) aufwenden müssen. Über vier Jahre wären dann insgesamt mehr als 500 Milliarden Dollar zu transferieren gewesen. Solche Berechnungen sind natürlich theoretischer Art, doch sie lassen

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handelte es sich um einen großen Entwurf, der im Ansatz auf die wirtschaftliche und politische Integration Europas zielte, der zukünftige Kriege zwischen den europäischen Staaten unmöglich machen sollte und der die Interdependenz von Nordamerika und Europa im beiderseitigen Interesse verstärkte. Die Amerikaner hatten nicht die Absicht, ihr eigenes Verfassungssystem und ihre Lebensweise den Europäern aufzudrängen, aber sie waren überzeugt, daß man in Europa, wie John Foster Dulles meinte, vieles "along American lines" und damit besser machen könne 57 • Entscheidend war, daß sich die Marshall-Planer nicht von engen politischen oder materiellen Interessen leiten ließen, sondern von einer kontinentalen Vision, die vielen Europäern damals wie ein naiver Wunschtraum vorkam. Eine solche Vision konnten sie nur entwickeln, weil sie die Geschichte der USA als föderatives Experiment und Integrationsgeschichte verstanden und verinnerlicht hatten. Das Prinzip der demokratischen Selbstbestimmung, das dieser Geschichte zugrundelag, hielt sie davon ab, den Europäern die Formen der politischen Zusammenarbeit vorschreiben oder gar oktroyieren zu wollen. Schon beim Zustandekommen des Marshall-Plans legte man in Washington Wert darauf, daß die Europäer nicht passiv blieben, sondern Eigeninitiative entwickelten: Die USA konnten Hilfestellung leisten, Kompromisse erleichtern, für Ideen und Konzepte werben und gelegentlich auch Druck ausüben; die wesentlichen Entscheidungen zu treffen, blieb Sache der Europäer selbst, die auch das tägliche Geschäft der Integration betreiben mußten. V. Die Vereinigten Staaten, Europa und die "Dritte Welt" Der exakte Einfluß der JjSA auf die europäische Integration während der letzten 50 Jahre muß erst noch grundlich erforscht und beschrieben werden. Offensichtlich ist die Geschichte der europäisch-amerikanischen Beziehungen nicht unkompliziert und geradlinig verlaufen, sondern verzeichnet auch Ungereimtheiten, Widersprüche und Rückschläge. Insbesondere gab es eine ständige Spannung zwischen dem Versprechen einer gleichberechtigten atlantischen Partnerschaft, das Präsident John F. Kennedy am 4. Juli 1962 an der Geburtsstätte der Vereinigten Staaten, in Philadelphia, feierlich erneuerte, und dem se1bstbewußten Führungsanspruch der Weltmacht USA58. Auf der anderen Seite entsprach das Verlangen der Europäer den tatsächlichen finanziellen Umfang der Hilfe besser erkennen. Die Bundesrepublik erhielt von den ca. 3,2 Mrd. Dollar ERP- und GARIOA-Mitteln gut zwei Drittel als Zuschuß, während sie eine Milliarde später zurückzahlen mußte. . 57 Zitiert nach Larres, Klaus (I), (wie Anm. 27), S. 263. 58 Zum Hintergrund und politischen Kontext der Rede, in der Kennedy die "europäischen Freunde" aufforderte, "to go forward in forming the more perfect union which will some day make this partnership possible", siehe Winand, Pascaline, Eisenhower, Kennedy, and the United States of Europe, London 1993, S. 238 ff. Die Hegemonie-Problematik behandelt auch Conze, Eckart, Die gaullistische Herausforderung. Die deutsch-französischen Beziehungen in der amerikanischen Europapolitik 1958 - 1963, München 1995; ders., Hegemonie durch Inte-

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nach Konsultation und Mitentscheidung häufig nicht ihrer Fähigkeit, sich auf eine gemeinsame Position zu einigen und mit einer Stimme zu sprechen. Erschwerend kam noch hinzu, daß die USA und die europäischen Mächte in der Frage der DekoIonisierung oft recht unterschiedliche Positionen bezogen. Erst die Suez-Krise von 1956 scheint den Europäern schmerzhaft bewußt gemacht zu haben, daß die Epoche ihrer weltpolitischen Vorherrschaft endgültig beendet war und Russen und Amerikaner sich anschickten, das Schicksal der "Dritten Welt" zu bestimmen. In jüngerer Zeit hat es gelegentlich den Anschein, als sei die als übermächtig empfundene wirtschaftliche Konkurrenz der USA der Hauptantrieb für eine weitere europäische Integration. Ob der Integrationsprozeß zu einer der amerikanischen Verfassung ähnelnden föderativen Ordnung oder zu einem originär europäischen, "postmodernen" System führen wird, ist immer noch eine offene Frage59 . Dieses ambivalente Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und dem zusammenwachsenden Europa in allen seinen Phasen und Verästelungen nachzuzeichnen, ist ein großes Desiderat der Zeitgeschichtsforschung 6o . Es fällt nicht schwer, dabei auf Versäumnisse, Irrtümer und Mißverständnisse hinzuweisen. Wenn man sich jedoch die Ausgangslage von 1947 vergegenwärtigt und die objektiven Schwierigkeiten des Integrationsprozesses bedenkt, dann besteht aller Anlaß, das bisher Erreichte positiv zu würdigen. Heute, wo das europäische Haus wieder einmal umgebaut wird und das Schiff "Europa" zusätzliche Segel setzt, propagieren die Nachfolger der Marshall-Planer schon eine neue Vision: Unter der Überschrift ,,From Marshall Plan to True Globalization" schreibt Donald Johnston, der Generalsekretär der OECD, am 26. März 1997 in der International Herald Tribune: "Was in Europa geschehen ist, muß nun für die Welt geschehen. Eine globale Handels- und Investitionswirtschaft sollte bedeuten, daß niemand zurückgelassen wird, daß Hunger, Elend und Krankheiten in der sich entwickelnden Welt auf eine Weise und mit einer Geschwindigkeit beseitigt werden können, von denen frühere Generationen keine Vorstellung hatten. Wir müssen auf globaler Ebene das tun, was wir innerhalb jedes einzelnen Nationalstaats zu tun versuchen, nämlich sicherstellen, daß die offenkundigen Vorteile des marktwirtschaftlichen Systems der Gesellschaft als ganzem zugutekommen,,61. Diese Äußerung mag als Beleg für eine übertriebene gration? Die amerikanische Europapolitik und ihre Herausforderung durch de Gaulle, in: vtZg 43 (1995), S. 297 - 340. 59 Siehe dazu Heideking, Jürgen, Federalism and Integration in the History of the United States: Lessons for a Unifying Europe?, in: Knipping, Franz (Hrsg.), Federal Conceptions in EU Member States: Traditions and Perspectives, Baden-Baden 1994, S. 11 - 23. 60 Wichtige Vorarbeiten sind natürlich bereits geleistet worden. Neben den Büchern, Sammelbänden und Aufsätzen von Milward, Schwabe, Herbst, Winand und Conze sind für die frühe Periode v.a. zu nennen Melandri, Pierre, Les Etats-Unis face a l'unification de I'Europe, 1945 - 1954, Paris 1980, und Young, John w., Britain, France, and the Unity of Europe 1945-1951, Leicester 1984. 61 Die Wurzeln des Entwicklungshilfekonzepts reichen übrigens bis zum Marshall-Plan und zu Trumans "Point IV Prograrn" vom Januar 1949 zurück; vgl. Falkner, Robert, Auslandshilfe und Containment, Münster-Hamburg 1994; Painter, David S., Explaining U.S.

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Fortschrittsgläubigkeit erscheinen, die alle mit der "Globalisierung" verbundenen Risiken und Probleme ausblendet. Im Grunde handelt es sich aber nur um die Neuformulierung des Ideals der "Einen. Welt" und der integrierten, arbeitsteiligen Weltwirtschaft, das schon die Marshall-Planer beflügelte. Vermutlich benötigen die Menschen solche Zukunftsperspektiven als Ansporn, um Leistungen von historischem Rang zu vollbringen. Das trifft auf die amerikanische Verfassung zu, die Washington, Madison und Harnilton nicht nur für die dreizehn ehemaligen Kolonien, sondern als Grundlage einer den nordamerikanischen Kontinent umspannenden Republik konzipierten; und das trifft auch auf den Prozeß der europäischen Integration zu, der durch den Marshall-Plan mit angestoßen wurde. Ohne die hier nicht behandelten innereuropäischen Wurzeln der Einigung abwerten zu wollen, erscheint es doch sehr fraglich, ob die Europäer nach 1945 von sich aus den Mut und die Kraft gefunden hätten, diesen Weg zu gehen. Im Rückblick erweist sich das European Recovery Program als Teil eines säkularen Schöpfungsaktes, aus dem das moderne Europa hervorging, und der dem deutschen Volk die Möglichkeit der politischen und moralischen Rehabilitierung eröffnete62 .

Relations with the Third World, in: Diplomatie History 19 (1995), S. 525 - 548. Heute ist allerdings in den USA das Vertrauen auf die Initiative der Privatwirtschaft und die Kräfte des Weltmarktes weit größer als in der Nachkriegsphase. 62 So gesehen, hat der Titel von Dean Achesons Memoiren durchaus seine Berechtigung: Present at the Creation. My Years in the State Department, New York 1969.

5. Zum aktuellen Standort der deutschen Geschichtswissenschaft

"Postmoderne" als Ende der "Moderne"? Überlegungen eines Historikers in einem interdisziplinären Gespräch Dieter Langewiesehe

I. Moderne, Posthistoire, Postmoderne als EpochenbegritTe Epochenschwellen auszumachen gehört zur Lieblingsbeschäftigung von Historikern. Sie wird auch weiterhin gepflegt, oft allerdings eher beiläufig, wenn z. B. Neuzeithistoriker für ihre Vorstellung von dem Neuen in der Epoche, über die sie reden, ein Gegenbild brauchen, um das Neue erkennbar zu machen. Auch wer grundsätzlich größten Wert darauf legt, die ideale Farbe des Historikers sei das milde, Gegensätze abtönende Grau, malt dann schroffes Schwarz-Weiß. Selbst Thomas Nipperdey, der unermüdlich ein historisch gerechtes Sowohl-als-auch einzufordern pflegte - selbst er begann seine Trilogie des modemen Deutschlands mit dem gar nicht grau getönten Satz: "Am Anfang war Napoleon". Das ist z. B. eines der Angebote von Historikern, wann man die Modeme beginnen lassen könnte. Bevor ich ein breiteres Angebotssortiment vorlege und einen Auswahlversuch meinerseits erprobe, muß zunächst etwas zu der Doppelaufgabe gesagt werden, die für das Kolloquium, auf dem diese Überlegungen referiert wurden, allen Rednern gestellt war: "Anfang und Ende der Moderne".l Für Historiker ist der zweite Teil der Aufgabe unlösbar. Das bedeutet keine mutwillige, unkollegiale Gesprächsverweigerung, sondern professionelle Selbstbescheidung. Wenn Historiker in die Zukunft schauen, werden sie aus Fachleuten mit spezifischer Fachkompetenz zu dilettierenden Zeitgenossen, die sich in den großen Kreis der Hobbyfuturologen einreihen. Denn Historiker, die Zukunft voraussagen, um dort etwa das Ende der Modeme auszumachen, tun das ohne Kompetenz. Kompetent sind Historiker nur für Rückblicke. Als Fachleute sind sie grundsätzlich nicht prognosefähig, weil die Vergangenheit nicht linear in die Zukunft hochrechenbar ist. Zwar bestimmen Geschichtsbilder, die in einer Gesellschaft umlaufen, die Zukunftsoptionen dieser 1 Im Oktober 1992 fand im Heinrich-Fabri-lnstitut in Blaubeuren, der Tagungsstätte der Universität Tübingen, ein Kolloquium "Epochenschwellen. Anfang und Ende der Modeme" statt. Auf Einladung von Hans Küng nahmen neben Theologen Philosophen, Musikwissenschaftler, Kunsthistoriker, Literaturwissenschaftler und Historiker daran teil, um darüber nachzudenken, was für sie in ihrer Disziplin ,,Postmoderne" und ,,Modeme" bedeuten mag. Dieser Aufsatz geht auf meinen dort gehaltenen Vortrag zurück. Er zielt also nicht auf eine Insider-Diskussion unter Historikern, sondern auf ein Gespräch über Disziplingrenzen hinweg.

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Gesellschaft mit. Aber das ist etwas anderes als aus der Geschichte die Zukunft voraussagen zu wollen. Das wäre historiographisches Kaffeesatzlesen. Es kann amüsant sein, soll aber hier nicht versucht werden. Dieser rigide Standpunkt, das läßt sich nicht leugnen, wird allerdings in der Praxis auch von denen, die ihn in der Theorie teilen, oft durchbrochen. Historiker, die Postmoderne als Epochenbegriff verwenden wollten, müßten überzeugt sein, sich als Zeitgenossen schon jenseits der Modeme zu befinden, auf die sich als eine abgeschlossene, wenn auch weiterwirkende Epoche zurückblicken ließe. Wie das beharrliche Schweigen der Historikerzunft in der so lebhaften Diskussion über die Postmoderne erkennen läßt, sehen sie offensichtlich die Modeme noch nicht als beendet an. 2 Aber auch unter denen, die diese Diskussion führen - überwiegend keine Historiker -, ist es außerordentlich umstritten, ob man Modeme und Postmoderne als zwei voneinander geschiedene Epochen begreifen kann. Wolfgang Welsch z. B. nennt sein bilanzierendes Buch "Unsere postmoderne Moderne,,3, um zu signalisieren, daß er die Postmoderne als eine Radikalform der Modeme begreift, die weiterbestehe. Die Postmoderne habe nur gesellschaftlich verallgemeinert, was zuvor das Lebensgefühl einer Minderheit bestimmt habe: Pluralität. Pluralität als Grundinhalt oder Verfassung der Postmoderne, wie Welsch es formuliert, ist eine Definition, mit der Historiker arbeiten können - nicht um das Ende der Modeme zu behaupten, sondern um nach Zäsuren innerhalb des langen Kontinuums zu fragen, das Historiker die Modeme zu nennen pflegen. Es geht also um Zäsuren in der Entwicklungsgeschichte der Modeme. Wenn ich es recht sehe, hat sich unter den deutschen Fachhistorikern bislang nur Lutz Niethammer ausführlicher mit dem Problem der Postmoderne beschäftigt. 4 Er spricht zwar von Posthistoire und nicht von Postmoderne, doch beiden Begriffen liegt eine gemeinsame Grunderfahrung zugrunde: Die heutigen Industriegesell2 Davon abzugrenzen ist die Verwendung des Begriffs Postmoderne in Sinne von Poststrukturalismus, wie er mit dem linguistic turn auch in der Geschichtswissenschaft verbunden ist. Zu dieser Herausforderung an die "große Geschichtserzählung" durch eine "Geschichte ohne Zentrum" vgl. den gleichnamigen Einführungsaufsatz von Conrad, Christoph und Kessel, Martina in dem von ihnen hrsg. Band: Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994. Der Band enthält auch eine Bibliographie zu dem Thema. 3 Weinheim 1988 (3. Auf!. 1991). 4 Niethammer, Lutz, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Reinbek 1989. Unergiebig für die hier erörterten Fragen, weil er nur auf die Geschichtsschreibung blickt, nicht aber nach der Bedeutung des Begriffs Postmoderne für den Geschichtsverlauf fragt, ist hingegen der Aufsatz von Rüsen, Jörn, Historische Aufklärung im Angesicht der Post-Modeme. Geschichte im Zeitalter der ,neuen Unübersichtlichkeit', in: ders., Zeit und Sinn. Strategie historischen Denkens, Frankfurt/M. 1990. Das gilt auch für die einschlägigen Aufsätze in den Bänden Geschichtsdiskurs; zuletzt Band 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880 - 1945, hrsg. v. Küttler, Wolfgang / Rüsen, Jörn / Schulin, Ernst, Frankfurt/Mo 1997.

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schaften haben ihre frühere Fortschrittsperspektive verloren. Deshalb biete auch die Geschichte keine Orientierung mehr. Gesellschaftliche Großstrukturen wie Klassen und die dazu gehörigen Ideologien und Organisationen verflüchtigen sich, weil sie keinen Rückhalt in der gesellschaftlichen Realität mehr hätten. Individualisierung und Pluralität seien an ihre Stelle getreten. Die Herolde des Posthistoire teilen diesen Befund der Postmodernisten, deuten ihn aber negativ. Pluralität meint für sie Be1iebigkeit und Belanglosigkeit; Individualisierung sei damit nur insofern verbunden, als niemand mehr in den Selbstlauf der Machtmaschinen eingreifen und ihn steuern könne. Posthistoire ist also eine kulturpessimistische Weltdeutung, die Niethammer als "Wille zur Ohnmacht"S charakterisiert. Alle Posthistoire-Autoren, die Niethammer betrachtet, sehen die Weltzivilisation als erstarrt an. Sie sprechen vielfach von der Kristallisierung - eine Metapher, die sie der biologischen Evolutionstheorie entlehnt haben. Sie besagt, daß Gattungen genetisch erstarren können und sich dann so lange reproduzieren, wie sie sich in ihrer Umwelt behaupten. Im Sinne des Posthistoire auf die Geschichte übertragen, heißt das: Indem die technisch-industrielle Zivilisation sich weitgehend von der Natur unabhängig mache und sich weltweit durchsetze, reproduziere sie sich ständig, unterliege keinem Anreiz zur Veränderung mehr und erstarre. Das aber bedeute das Ende der Geschichte im Sinne einer Geschichte von Freiheit und Sinn. Die Brücken zur Vergangenheit sind abgebrochen. Von ihr hätten wir uns in einer Art gesellschaftlicher Mutation getrennt, also könne Geschichte keine Orientierung für Gegenwart und Zukunft mehr bieten. Und die Gegenwart werde selber auch nicht mehr zur Geschichte werden, weil sie sich nicht mehr durch den Menschen gestalten lasse. Insofern sei die Geschichte zu Ende - das Zeitalter des Posthistoire. Es beginne nicht mit einem spektakulären Untergang der geschichtlichen Welt, sondern die Geschichte verflüchtige sich still, von den meisten unbemerkt, in das Einerlei und Beliebige, aus dem sich jeder bedienen könne, ohne damit irgend etwas zu bewegen, also ohne Geschichte zu machen. Niethammer teilt diese Vorstellung nicht, ebensowenig wie sonst ein Historiker, sofern ich niemanden übersehe,6 sondern er macht das, was Historiker in solchen Fällen zu tun pflegen: Er untersucht die Geschichte dieser Idee vom Ende der Geschichte, und also auch vom Ende der Modeme. Jene Weltdeutung vom Ende der Geschichte, die heute Posthistoire genannt wird, hatte ihren ersten Höhepunkt nach dem Zweiten Weltkrieg - eine Reaktion, so deutet es Niethammer, auf die Zerstörung der Utopien und Ideologien, die im späten 19. Jahrhundert entstanden waren, durch die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges eine Massenbasis erhalten hatten und dann in den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges ihre Glaubwürdigkeit verloren. Niethammer (wie Anm. 4), S. 158. Fukuyama. Francis, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München 1992, hat wohl doch nur eine kurzfristige Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit gefunden. V gl. allgemein Gall, Lothar, Das Argument der Geschichte. Überlegungen zum gegenwärtigen Standort der Geschichtswissenschaft, in: HZ 264 (1997), S 1 - 20. 5

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Alle Autoren, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu den Kündern des Posthistoire wurden, waren zeitweise in die Versuche verstrickt gewesen, diese Utopien mit den Machtmitteln des Staates einzulösen, entweder auf seiten der Faschisten oder der Kommunisten. Niethammer versteht die Hinwendung dieser Personen zur Posthistoire als den Versuch, ihr eigenes Scheitern und die Mitverantwortung an dem, was geschehen war, gewissermaßen weltgeschichtlich aufzulösen, indem eine Weltdeutung kreiert wurde, die sinnhafte Geschichte, die der Mensch zu verantworten hat, für beendet erklärt: Posthistoire als eine geschichtsphilosophische Form der kollektiven Selbstentlastung. Er zeigt das u. a. an Hendrik de Man und Bertrand de Jouvenel, an Jünger, Gehlen und Freyer, und vor allem an dem in Frankreich einflußreichen Exilrussen Alexandre Kojeve. Posthistoire trieb in diesem Umfeld die ersten Blüten, wurde aber später, vor allem seit den siebziger Jahren auch und gerade auf der Linken aufgenommen. Ein Beispiel dafür ist in Deutschland Peter Brückner, in Frankreich Jean Baudrillard, ein anderes sind die neuen Bewegungen, die zum Ausstieg aus der Gesellschaft aufrufen, um in der erstarrten Welt Nischen für ein selbstgestaltes Leben zu finden. Diese Vorstellungen vom Posthistoire geben auf unsere Frage nach dem Verlauf der Modeme, vor allem nach ihren entwicklungsgeschichtlichen Zäsuren, eine extreme Antwort: Die Modeme sei beendet und ihr folge eine geschichtslose Zeit. Eindeutig ist diese Antwort bzw. ihre Begründung nicht nur in ihrer Kompromißlosigkeit, sondern auch in ihrer Standortgebundenheit. Es ist die Antwort von Intellektuellen, die ihre Zukunftshoffnungen durch die Geschichte vernichtet sehen und deshalb die Geschichte für beendet erklären. Für uns ist es ein Hinweis auf eine mögliche Bruchstelle in der Entwicklungsgeschichte der Modeme. Als weitere Annäherung an unser Thema wäre es wichtig, eine vergleichbare Skizze über die Geschichte der Idee der Postmoderne zu haben, wie sie Lutz Niethammer für den Posthistoire bietet. Doch diese Studie ist noch nicht geschrieben. Deshalb kann hier nur versucht werden, als einen ersten Entwurf einige Beobachtungen zusammenzutragen. Sie sind, so hoffe ich, aufschlußreich, weil die Grundmerkmale, die heutzutage zur Definition von Postmoderne geläufig sind, dem Historiker Orientierungspunkte bieten können bei der Suche nach dem Beginn ,unserer Modeme'. In der Geschichtswissenschaft ist dies ein unüblicher Zugang, wie auch die Formulierung ,unsere Modeme' nicht gebräuchlich ist. Deshalb zunächst ein paar Hinweise, was Historiker üblicherweise sagen, wenn sie nach dem Beginn der Modeme gefragt werden. Am Anfang steht die banale Feststellung: Es gibt keine einheitliche Antwort. Das liegt daran, daß Profanhistoriker, wie Hans Küng auf dem erwähnten interdisziplinären Kolloquium die Historikerzunft beharrlich nannte, kein einheitliches, homogenes Untersuchungsobjekt haben. Sie tun nur oft so, als hätten sie es. Wie irrig das ist, verdeutlicht der Band Studien zum Beginn der modemen Welt, den Reinhart Koselleck 1977 im Auftrag des Arbeitskreises für modeme Sozialgeschichte herausgegeben hat. Damals wurden eine Reihe von Exper-

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ten für Teilbereiche der Geschichte befragt, und alle nannten andere Kriterien und kamen zu anderen Antworten. Einige Beispiele: Wolfgang Köllmann 7, führender deutscher Bevölkerungshistoriker, setzt den Beginn des demographischen Wandels hin zur modemen Bevölkerungsweise auf ein bis zwei Generationen nach dem Beginn der Industrialisierung an. Voll ausgebildet habe sie sich in den Industriestaaten erst in unserer Gegenwart. Erst wir also sind demographisch in die Modeme eingetreten. Dieses Ergebnis wiegt schwer, denn Köllmann betrachtet kein Randgebiet der Geschichte, sondern einen Bereich, aus dem ein zentrales Problem der Gegenwart erwächst: die Überbevölkerung der Welt mit all ihren Folgen, nicht zuletzt den großen Wanderungsbewegungen, vor denen sich die reichen Gesellschaften so sehr fürchten. Eng mit diesem Problem verbunden ist ein anderer Beitrag, der nach dem Beginn der Modeme in der Volksernährung fragt. s Seine Antwort: Um die Mitte des 19. Jahrhunderts endete für die entstehenden Industriegesellschaften das Mittelalter - charakterisiert durch periodisch wiederkehrende Hungerkrisen und eine demographische Entwicklungsgrenze: Die Bevölkerungszahl, die eine Gesellschaft ernähren konnte, hing von der Ertragskraft der Landwirtschaft ab. Erst im vergangenen Jahrhundert fielen die Fesseln, die das Leben der Menschen bis dahin bestimmt hatten und in den nicht industrialisierten Gesellschaften noch heute bestimmen. Ein großer Teil der heutigen Weltbevölkerung hat also in dieser Perspektive - und hier geht es um die Grundbedingungen der Lebensmöglichkeit, der Fähigkeit zum Überleben - noch gar nicht die Modeme erreicht. Sie lebt noch unter den Verhältnissen der europäischen Vor-Modeme, in der die Landwirtschaft diktierte, wieviele Menschen überleben konnten. In Europa dagegen ereignete sich die letzte Hungerkrise des vormodernen Typs im Jahre 1846. Messen wir aber die Produktions- und Arbeitsbedingungen der europäischen Landwirtschaft an denen des industriellen Sektors, dann - so belehrt uns der Agrarhistoriker in diesem Sammelband 9 - hat die Modeme in Deutschland erst um die Mitte unseres Jahrhunderts begonnen. Das soll genügen, um anzudeuten, daß Historiker mit guten Gründen sehr unterschiedliche Datierungen für den Beginn der Modeme nennen können. Gleichwohl gibt es aber in der Geschichtswissenschaft eine Art Konsens, daß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Beginn der Modeme in der europäisch-atlantischen Welt anzusetzen ist - eine Art Konsens, denn Mediävisten und auch Frühneuzeitler erheben immer wieder Einspruch, ohne jedoch die Spät-Neuzeitler davon abbringen zu können. Der Grund für diesen brüchigen Konsens ist trivial: Politik- und 7 Zur Bevölkerungsentwicklung der Neuzeit, in: Koselleck, Reinhart (Hrsg.), Studien zum Beginn der modemen Welt, Stuttgart 1977, S. 68 -77. 8 Teuteberg, Hans-Jürgen, Zur Frage des Wandels in der deutschen Volksernährung durch die Industrialisierung, ebd., S. 78 - 96. 9 Henning, Friedrich-Wilhelm, Der Beginn der modemen Welt im agrarischen Bereich, ebd., S. 97 - 114.

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Geistesgeschichte haben zwar ihre frühere Dominanz in der Geschichtswissenschaft verloren, die in den letzten Jahrzehnten unter der Meinungsführerschaft der Sozialhistoriker stand, doch für die Diskussion um den Beginn der Modeme spielt das eine untergeordnete Rolle. Mit der Aufklärung, mit der Französischen und der Amerikanischen Revolution begann etwas Neues - die Modeme: Diese Deutung war ursprünglich politik- und geistesgeschichtlich bestimmt, doch sie behauptete sich weithin gegenüber sozial- oder wirtschaftsgeschichtlichen Perspektiven. Begriffsgeschichtliche Studien, wie sie vor allem Reinhart Koselleck vorgelegt und angeregt hat, bestätigten diese Sicht. ,Fortschritt' wurde nun, wie Koselleck grundlegend untersucht hat, zu einem "geschichtsphilosophischen Universalbegriff", der Zukunft entwarf, einforderte und legitimierte. "Der ,Fortschritt' ist der erste genuin geschichtliche Begriff, der die zeitliche Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung auf einen einzigen Begriff gebracht hat." Diese Differenz zwischen geschichtlichem ,,Erfahrungsraum" und auf die Zukunft gerichtetem ,,Erwartungshorizont" markiere einen Kontinuitätsbruch, der die Neuzeit auszeichne und sie abgrenze von dem, was davor war. "Was der Fortschritt auf den Begriff gebracht hat, daß - verkürzt formuliert - Alt und Neu aufeinanderprallen, in Wissenschaft und Kunst, von Land zu Land oder von Stand zu Stand, von Klasse zu Klasse, das war seit der Französischen Revolution zum Erlebnis des Alltags geworden.,,10 Aber in wessen Alltag? Das fragt Koselleck nicht. Er analysiert Texte, die Gebildete für Gebildete schrieben, um ihre neuen Welterfahrungen zu verarbeiten. Koselleck tritt in diesen Diskurs ein, indem er sich auf die gleiche Ebene stellt wie diejenigen, die ihn damals führten. Der Begriffshistoriker von heute belauscht Ideenproduzenten von gestern und präsentiert uns deren historische Erfahrung vom Umbruch in eine neue Zeit, die wir die Modeme nennen. Aber wie weit durchdrang diese Umbruchserfahrung die damalige Gesellschaft? Danach kann KoselIeck nicht fragen, weil seine Texte darüber keinen Aufschluß geben. Denn in ihnen reflektiert eine sehr kleine Gruppe von Gebildeten die Erfahrungen dieser bildungselitären Gruppe. Über die Erfahrungen der übergroßen Mehrheit der Menschen sind wir schlechter informiert. Doch immerhin gut genug, um sagen zu können, daß die allermeisten Menschen in Europa, von der außereuropäischen Welt ganz zu schweigen, mit der neuartigen Fortschrittserfahrung, die Historiker als ein Grundelement der Modeme auffassen, noch sehr lange nicht in Berührung kamen. Die Landbevölkerung etwa, also die Mehrheit der europäischen Bevölkerung im gesamten 19. Jahrhundert, lebte, gemessen an diesem Kriterium, noch längst nicht in der Modeme. Ein großer Teil der städtischen Bevölkerung ebenfalls nicht - auch nach der Französischen Revolution noch nicht. Denn sozialgeschichtlich und ökonomisch bewirkte diese wenig. In einer neuen Studie z. B. heißt es, der eigentliche Bruch in der französischen Geschichte seien die 1840er Jahre gewesen. Bis dahin habe das Ancien regime überdauert, über die Revolutionen von 1789 und 1830 hin10 Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtliche Zeiten, Frankfurt/M. 1989, S. 367.

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weg. 11 Das mag überzogen sein, erinnert aber daran: Wenn Historiker den Beginn der Moderne datieren, schließen sie sich gewöhnlich den Reflexionen der Gebildeten von damals an, in deren Erfahrungshaushalt die Französische Revolution den Übergang in die Moderne markiert. Warum ist die Selbstreflexion der Gebildeten über den Beginn der Moderne, den sie als revolutionären Umbruch erlebten,12 so überzeugungskräftig, daß er sich im allgemeinen Bewußtsein seit dem 19. Jahrhundert bis heute weitestgehend durchgesetzt hat? Die Antworten, die gegeben werden, haben in der Regel einen gemeinsamen Kern: Die Französische Revolution beseitigte nicht nur ein bestimni.tes politisches Regime, sondern sie habe im Prinzip, wenn auch nicht durchweg in der Praxis, eine jahrhundertealte Gesellschaftsform mit der dazugehörigen Herrschaftsordnung, den Feudalismus, ersetzt durch die auf individuelle Eigentums- und Freiheitsrechte gegründete "bürgerliche Gesellschaft". Mediävisten haben gegen diese Sicht immer wieder angeschrieben. Otto Gerhard Oexle, Mediävist und zugleich exzellenter Kenner auch der neuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte, hebt in seiner Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann hervor, die Individualisierungsthese, die dazu dient, das Mittelalter von der Moderne abzusetzen, habe bislang völlig offenlassen müssen, "ob diese Moderne denn schon im 11. Jahrhundert begann, - oder ob das Mittelalter erst um 1800 endete.,,13 In dem "traditionellen modernen Diskurs über das Mittelalter", so schreibt Oexle zu Recht, werde nicht das Mittelalter betrachtet, sondern "anhand des Mittelalters über die Moderne geredet,,14. Das ärgert natürlich Mediävisten, aber es nutzt nichts: Das Zeitalter der Französischen und der Amerikanischen Revolution, der atlantischen Doppelrevolution, wie manche sagen - dieses Zeitalter nimmt seit damals bis heute im Wettbewerb der Argumente bei der Suche nach dem Beginn der Moderne mit weitem Abstand den ersten Platz ein. In den politischen und intellektuellen Diskursen des 19. Jahrhunderts ist diese Datierung des Beginns der Moderne für breite Bevölkerungsschichten weit über das gebildete Bürgertum hinaus gewissermaßen zum Alltagswissen geworden. So hat z. B. die Sozialdemokratie viel dazu beigetragen, einen Teil der Arbeiter und - in geringerem Maße - der Arbeiterinnen mit der Französischen Revolution bzw. ihrer Interpretation dieser Revolution vertraut zu machen. Mit dieser sozialen Ausweitung, zu der auch diejenigen beitrugen, die einen spezifisch ,deutschen Pinkney, David, Decisive Years in France, 1840-1847, Princeton 1986. Auch hier ist aber eine genaue zeitliche Differenzierung angebracht, wie eine noch ungedruckte Studie zeigt: Becker, Ernst Wolfgang, Zeit der Revolution! - Revolution der Zeit? Zeiterfahrungen in Deutschland in der Ära der Revolutionen 1789 - 1848/49, phi!. Diss. Tübingen 1997: Auch die Gebildeten haben erst mit zeitlicher Distanz zur Französischen Revolution diese als weltgeschichtliche Zäsur ,erfahren'. 13 Oexle, Otto Gerhard, Luhmanns Mittelalter, in: Rechtshistorisches Journal, 10 (1991), S. 53 - 66, 59. Oexle bezieht sich insbes. auf Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt/M. 1989. 14 Oexle (wie Anm. 13), S. 61. 11

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Weg' im Kontrast zum westeuropäischen forderten, gewann das Wissen um die Qualität der Französischen Revolution als Epochenscheide eine mentalitätsgeschichtliche Qualität. In zeitlicher Distanz zum Ereignis entstand eine mentalitätsgeschichtliche Basis, die - das mag paradox erscheinen - nicht auf eigener Erfahrung und eigenem Erleben beruhte, sondern über eigene oder durch andere vermittelte nachträgliche Reflexion erzeugt wurde. Mit wachsendem zeitlichen Abstand zur Französische Revolution wuchs die Überzeugung, in ihr den Beginn der Modeme sehen zu müssen, gesellschaftlich in die Breite. 15 Am Ende des 19. Jahrhunderts dürften weit mehr Menschen vom Zeitenumbruch, bewirkt durch die Französische Revolution, überzeugt gewesen sein, ja überhaupt davon Kenntnis gehabt haben, als zu Beginn des Jahrhunderts, als man noch in der Nähe dieses grundstürzenden Ereignisses lebte. Die Geschichtswissenschaft hat zu diesem Bedeutungswachstum des Zeitalters der Französischen Revolution erheblich beigetragen - auch und gerade in ihren anspruchsvollen theoretischen Zugriffen. Die Begriffsgeschichte, wie sie das Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe präsentiert und von Koselleck theoretisch fundiert wurde, ist ein prominentes Beispiel dafür. Ein weiteres Beispiel ist die sog. Strukturgeschichte, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Sie sieht in der industriellen Revolution, die mit der politischen zu einer Doppelrevolution zusammenwuchs, einen Zeitensprung, durch den erst die Frühgeschichte der Menschheit beendet worden sei. 16 Ein anderes außerordentlich wirkungsmächtiges Beispiel bietet die marxistische Geschichtssicht. Damit meine ich nicht nur die dogmatisch erstarrte Variante des Marxismus-Leninismus, die nun mit den Staaten, die sie als sakrosankt vorschrieben, wahrscheinlich verschwinden wird. Die Grundposition, nach der langfristige evolutionäre Umformungen innerhalb einer bestimmten Gesellschaftsformation schließlich zu einem revolutionären Umbruch in eine neue, höherrangige Gesellschaftsformation führen, teilt der Marxismus mit vielen Entwicklungstheorien. Die Liberalen des 19. Jahrhunderts waren genauso wie die Sozialisten davon überzeugt, daß dem Zeitalter des Feudalismus zwangsläufig das der "bürgerlichen Gesellschaft" folgen müsseP In den Modernisierungstheorien unseres Jahrhunderts ist diese auf Fortschritt gestimmte Entwicklungssicht ebenso grundlegend. 15 Genauere Analysen dieses Prozesses fehlen noch. Für die Diskurse der Gebildeten und für die sozial breiter unterfütterten Diskurse der 48er-Revolution vgl. die Studie von Becker (wie Anm. 12); für die deutsche Sozialdemokratie s. Bouvier, Beatrix, Französische Revolution und die deutsche Arbeiterbewegung. Die Rezeption des revolutionären Frankreich in der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung von den 1830er Jahren bis 1905, Bonn 1982. 16 Unter den wichtigen Studien von Conze, Wemer, vgl. vor allem: Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht, Opladen 1957. Als Überblick: Kocka, Jürgen, Sozialgeschichte. Begriff - Entwicklung - Probleme, Göttingen 21986. 17 Vgl. Langewiesche, Dieter, ,,Fortschritt" als sozialistische Hoffnung, in: Schönhoven, Klaus / Staritz, Dieter (Hrsg.), Sozialismus und Kommunismus im Wandel. Hermann Weber

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All diese historischen Entwicklungslehren haben eines gemeinsam: Als geistige Erben der Aufklärung gehen sie von einer Fortschrittsidee aus, die Geschichte als einen ständig über sich hinausführenden Prozeß des Fortschritts in die Zukunft begreift. Wie intensiv diese Fortschrittsidee alten heilsgeschichtlichen Mustern folgte, hat Karl Löwith 18 gezeigt. Geschichte galt als zukunftsoffen, aber progressiv zielgerichtet: sei es auf die klassenlose Bürgergesellschaft des europäischen Frühliberalismus oder auf die klassenlose Gesellschaft der Marxisten aller Spielarten, um nur die beiden wirkungsmächtigsten Beispiele zu nennen. Die sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorien unseres Jahrhunderts, die auf die Geschichtswissenschaft der westlichen Welt einen überaus starken Einfluß ausgeübt haben, stehen ebenfalls in dieser Tradition. Thre Ziel vorgabe war eine Modernisierung nach dem anglo-amerikanischen Modell. Daran wurden alle anderen historischen nationalgeschichtlichen Entwicklungen gemessen, vor allem der deutsche Katastrophenweg in den Nationalsozialismus. Das westliche Entwicklungsmodell wurde aber auch der Dritten Welt als von der Ersten bereits erfolgreich erprobter Königsweg in die Zukunft vorgegeben. Neuere Fassungen der sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorien haben sich bemüht, das Entwicklungsmodell Modernisierung so zu bestimmen, daß der anglo-amerikanische Weg in die Modeme nicht mehr als eine Art säkularisierter Spielart der altvertrauten Heilsgeschichte der ganzen Welt als Zukunftsziel verheißen und als Aufgabe aufgetragen wird. Modernisierung in dieser entkolonialisierten Form definiert M. Rainer Lepsius, als Soziologe und Historiker gleichermaßen kompetent, als einen "Prozeß beabsichtigten sozialen Wandels zur Erreichung eines Zieles, für dessen Erreichung die entsprechenden Modernisierungseliten ausreichende Ressourcen mobilisieren können. In dieser Fassung ist sowohl der Prozeß der Modernisierung wie der Begriff der Modeme bestimmt durch die Erwartungen, Zielbestimmungen und ihre Durchsetzungschancen. Der jeweilige konkrete Inhalt ist abhängig von je unterschiedlichen kulturellen, politischen, ökonomischen und sozialen Wertvorstellungen in einer historischen Konstellation von sozialen Kräften einer Gesellschaft. Diese relationale Bestimmung der Modernisierung impliziert keinen übergreifenden Entwicklungssinn und keine notwendige Entwicklungstendenz ... 19 zum 65. Geburtstag. Köln 1993, S. 39 - 55: Langewiesche, Dieter, Liberalismo e Marxismo. Contrasti e punti in una prospettiva storica, in: Marxismo e Liberalismo. Una riflessione critica di fine secolo, a cura di Claudia Naloli/Francesco Saverio Trincia, Milano 1995, S. 160171. 18 Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart 1953. 19 Lepsius, Rainer, M., Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der "Modeme" und die "Modernisierung", in: Koselleck (wie Anm. 7), 10 - 29, 23. Als Überblick mit weiterer Literatur: Mergel, Thomas, Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: ders.lWelskopp, Thomas (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft, München 1997, S. 203 - 232.

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Die Aufgabe, den Begriff Modeme inhaltlich zu füllen, wird damit zurückgegeben an die jeweiligen Gesellschaften mit ihren je eigenen Wertvorstellungen und materiellen Möglichkeiten. In dieser relationalen Bestimmung von Modernisierung und Modeme ist eine allgemeine Definition von Modeme nicht mehr möglich und auch nicht notwendig. Modeme, ihr Beginn und ihr eventuelles Ende können in dieser Sicht nur noch kontextbezogen definiert werden. Soweit geht Lepsius in seiner Entkolonialisierung der Modernisierungstheorien aber doch nicht; diese Konsequenz zieht er nicht. Er nimmt vielmehr an, daß trotz des Fehlens eines allgemeinen "Entwicklungssinns" "dennoch die Entwicklungsprozesse in einer gewissen Tendenz ablaufen". Das bedinge erstens der "Prozeß internationaler Vergleiche und Abhängigkeiten" und zweitens die "Einführung demokratischer Herrschaftsformen". Letzteres institutionalisiere den Prozeß der Modernisierung, stelle ihn also auf Dauer, da die Eliten Macht nur gewinnen oder behaupten können, wenn sie die Leistungskraft des gesellschaftlichen Systems für die Nichteliten ständig erhöhen. 2o Auch dieser re1ationalen Form der Modernisierungstheorie ist also ,Fortschritt' als ständige Aufgabe eingeschrieben. Ein gesellschaftliches System, das keinen Fortschritt mehr erzeuge, verliere seine politische Legitimation. Das besagt auch diese relativierte Fassung der Modernisierungstheorie, und darin stimmt sie mit allen anderen modemen Entwicklungslehren überein, einschließlich der marxistischen. Sie alle sind der Fortschrittsidee verpflichtet, die seit der Aufklärung als Kern der Modeme gilt und deren Beginn historisch datiert. 11. Wann begann die Krise der Moderne?

Nachdem zunächst einige Antworten auf die Frage nach dem Beginn der Modeme in der Geschichte oder - genauer gesagt - in unseren Geschichtsbildern skizziert wurden, soll nun in einem zweiten Schritt gefragt werden: Wann wurde das auf Fortschritt gestimmte Geschichtsbild der Modeme erschüttert? Wann also beginnt die Krise der Modeme? Wie skizziert, gilt nach gesellschaftlicher Übereinkunft, die im 18. Jahrhundert entstand, eine Gesellschaft als modem, wenn sie nach Fortschritt strebt. Hans Freyer hat dafür eine erhellende Formulierung gefunden, als er in seiner "Weltgeschichte Europas" den "Entschluß zur Zukunft" "das geschichtliche Wesen des 19. Jahrhunderts" nannte. 21 Wenn wir diesen Ausgangspunkt akzeptieren, bedeutet Krise der Modeme: Das überkommene Fortschrittsbewußtsein wird in Frage gestellt. Das aber ist ein zentrales Kriterium in den Definitionen von Posthistoire und Postmoderne. Damit sollen diese beiden Positionen nicht gleichgesetzt werden. Posthistoire dünkt sich in einem Raum ohne geschichtliche Zeit. Postmoderne 20 21

Ebd. Weltgeschichte Europas, 2 Bände, Wiesbaden 1948, Bd. 2, S. 901.

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glaubt sich dagegen nur nach der Modeme, aber doch neue, vielfältige Entwicklungen erwartend und erhoffend. In den Worten von Wolfgang Welsch: "Die Posthistoire-Diagnose ist passiv, bitter und zynisch und allemal grau. Die Postmoderne-Prognose hingegen ist aktiv, optimistisch bis euphorisch und jedenfalls bunt.,m Aber auch Welsch betont, die Postmoderne habe dem Fortschrittsglauben der ,alten' Modeme abgesagt. In seiner Begrifflichkeit heißt das: Absage an den "Modernismus - der paradoxen Verbindung von Ausschließlichkeit und Überholung".23 "Ausschließlichkeit und Überholung" halte ich für eine gute Umschreibung des Fortschrittsglaubens der Modeme, wie sie im 18. Jahrhundert entstanden ist: - Ausschließlichkeit: Seit damals meinte ,,Entschluß zur Zukunft" stets Kampf gegen konkurrierende Zukunftsmodelle, nicht etwa deren Pluralität, wie es das Hauptmerkmal des Begriffs Postmoderne ist. - Überholung: Das Fortschrittsmodell der Modeme war linear, war auf Progression fixiert. Das Bestehende wird ständig überholt und als Geschichte abgelagert. Pluralität in dem Sinne, daß Ungleichzeitiges als gleichermaßen legitim nebeneinander bestehen kann, war nicht eingeplant. Die Vorstellung von Modeme, die unserem Jahrhundert vom achtzehnten und neunzehnten vererbt wurde, ist nicht pluralistisch, sondern im Gegenteil final und agonal. Das gilt sogar für den Liberalismus, der zwar tolerant gegenüber den ZuflilIen der Wirklichkeit, aber doch zugleich zutiefst überzeugt war, als einziger die ,wirklichen' Interessen der gesamten Gesellschaft zu kennen und zu vertreten. Als dann seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Darwinismus eine naturwissenschaftliche Entwicklungslehre in die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Fortschrittsideologien einfloß, schien deren Kampfcharakter durch die Natur selber beglaubigt zu werden. Das gilt z. B. für den marxistischen Sozialismus, so wie er sich im späten 19. Jahrhundert ausformte. Es gilt in weitaus aggressiverer Weise für den Kommunismus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Und es gilt erst recht für alle Formen des Nationalismus, einschließlich seiner rassistisch-biologistischen Zuspitzung in Fomm des Nationalsozialismus. Final und agonal waren auch die Entwicklungslehren, mit denen der Westen und der Osten nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit konkurrierten. Auch diese Entwicklungslehren waren aus dem Modernitätsrepertoire des 19. Jahrhunderts geschöpft. Sie verfolgten zwar unterschiedliche Ziele, wandten zu deren Durchsetzung unterschiedliche Mittel an und zeigten sich in unterschiedlicher Weise lernfahig. Aber gemeinsam war ihnen doch die Vorstellung von der agofilll voranschreitenden Modeme. Wann wurde diese Vorstellung brüchig? Anders gesagt, in der Begriffssprache unserer Gegenwart und mit Blick in die Zukunft, aber ohne den Historiker mit dem Verlangen nach Prognose zu überfordern: Wann begann sich die Postmoderne 22 23

Welsch (wie Anm. 3), S. 18. Ebd., S. 83.

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anzukündigen? Postmoderne verstanden als eine Gesellschaftsform der bejahten Pluralität. Bei meinem Versuch, eine Antwort zu geben, werde ich mich auf Deutschland beschränken. Das ist zum einem pragmatisch begründet - es geht um Kompetenz und Darstellbarkeit, hat aber auch einen theoretischen Grund. Nimmt man die Definition von Postmoderne als Gesellschaftsform der Pluralität ernst, wird man deren Vorgeschichten nicht im globalen Zugriff entschlüsseln können, sondern nur im Blick auf die vielen Besonderheiten in diesen Vorgeschichten. Die Bauform des Bunten braucht auch bunte Geschichten. Nutzen wir für die Suche nach der Entwicklungsgeschichte der Postmoderne in Deutschland noch einmal die Analyse von Wolfgang Welsch. Die Postmoderne sei, argumentiert er, kein Gegensatz zur Moderne, sondern in der Postmoderne werde zur Alltagsform, was in der Moderne nur in kleinen Zirkel erprobt werden konnte. ,Der einschneidende Pluralismus, den die Postmoderne erkennt und vertritt, war als Möglichkeit sogar schon vor der Moderne entdeckt, kam aber nicht zum Tragen ...24 Den Versuch zu verwirklichen, was zuvor als Möglichkeit schon gedacht worden war, unternehme erst die Postmoderne. Von dieser Definition ausgehend, wird man sagen dürfen, eine postmoderne Gesellschaft begann sich in der deutschen Geschichte erstmals in Westdeutschland während der sechziger und siebziger Jahren abzuzeichnen. 25 In Ostdeutschland gab es dazu keinen Spielraum, weil die DDR an einer der finalen und agonalen Entwicklungslehren der Moderne als verbindlicher Staatsideologie festhielt. Eine Gesellschaft mit postmodernen Werten zu fordern, wäre in der DDR ein Staatsverbrechen gewesen, denn es hieße, einen anderen Staat zu verlangen. Ob sich unterhalb der offiziellen Staatsideologie einer alt gewordenen, versteinerten Moderne, ob sich in der vielbeschworenen Nischengesellschaft der DDR bereits postmoderne pluralistische Verhaltensmuster entwickeln konnten, wird erst zu erkennen sein, wenn die Ergebnisse der nun boomenden Forschung zur DDR-Geschichte vorliegen. Postmoderne Wertemuster begannen sich zwar erst seit den sechziger Jahren in Westdeutschland durchzusetzen, doch deren Geschichte reicht weiter zurück. Historische Vorläufer postmoderner Einstellungen in der deutschen Gesellschaft - und zwar nicht nur bei einzelnen Vordenkern oder in elitären, auf sich selber begrenzten Zirkeln, sondern in sozial breiteren, in der Gesellschaft wahrgenommen, sie beeinflussenden Bewegungen - lassen sich erstmals im wilhelminischen Deutschland nachweisen. Die deutsche Gesellschaft war in den letzten beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg in Bewegung geraten. Sie empfand das auch selEbd. Vgl. dazu insbes. die Political-Culture-Forschung mit den Pionierstudien von G.A. Almond und S. Verba; als Einstieg und mit der wichtigsten Literatur: Greiffenhagen, Martin und Sylvia, Ein schwieriges Vaterland. Zur politischen Kultur im vereinigten Deutschland, Munchen 1993. 24 25

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ber so. Auf die Bismarckära blickte man schon wie auf eine vergangene Epoche zurück, mit der man nicht mehr viel gemein habe. Ich nenne nur einige Stichworte, um anzudeuten, das damals sich in einer ersten Welle ankündigte, was man heute als postmoderne Verhaltensmuster bezeichnen würde: Lebensreformbewegungen vielfältigster Art von Heimat- und Naturschützern über Förderer von Reformkleidung bis zu Vegetariern und Anhängern einer Naturmedizin erfaßten mehrere Millionen Menschen. Sie wollten die Fortschrittsvorstellungen der Modeme korrigieren, propagierten aber nicht simple antimodernistische Vorstellungen - die gab es auch, aber sie waren nicht das Charakteristische. Gefordert wurde vielmehr eine Korrektur innerhalb der Modeme. Themen, die heute der Postmoderne zugerechnet werden, kamen damals auf, angestoßen durch diese Bewegungen: zum Beispiel die Forderung nach sparsamerem Verbrauch von Natur durch die Industrie und die wuchernden Städte?6 Bei den Vegetariern findet man sogar eine Art ökologischer Imperialismustheorie. Zur gleichen Zeit entwickelten Marxisten ihre ökonomische Theorie vom Imperialismus als der letzten Phase des Kapitalismus - eine Theorie, die lange überdauerte und mit dazu beigetragen haben dürfte, daß für die sowjetkommunistische Variante des Marxismus Ökologie stets ein Fremdwort geblieben ist. Eine andere Reformbewegung, die inzwischen festetablierte Gesellschaftsbilder der Modeme aufbrechen wollte, waren die Emanzipationsbewegungen der Frauen, die damals organisatorisch, nach ihrer Mitgliederzahl und in ihrem Auftreten in der Öffentlichkeit einen ersten Höhepunkt erreichten. Der Soziologe Ulrich Beck hat in seinem Buch "Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne,,27 plausibel argumentiert, daß die gesellschaftliche Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern ein ständegesellschaftliches Element in der Modeme konserviert hat. Ob es konstitutiv für die Modeme und erst durch sie so entstanden sei, muß hier nicht erörtert werden. Unbestreitbar ist aber, daß unter dem Blickwinkel geschlechtsspezifischer Rollenzuweisung die auf Individualisierung angelegte Gesellschaft der Modeme eine Ständegesellschaft geblieben war - d. h. eine Gesellschaft mit angeborener Statuszuweisung. Die modeme Gesellschaft erlaubte also in ihrem Fundament keine Pluralität eigen verantworteter Lebenswege und Lebensentwürfe. Aber die Forderung danach wurde nun drängender als je zuvor. 28 Ein anderer Bereich, in dem eine neuartige Form von Pluralität entstand, war die Kunst. Davon war vor allem das Bildungsbürgertum peinlich berührt oder doch große Teile davon. Sie reagierten zutiefst verstört, als nun Künstler ständig neue Kunststile kreierten und Kunst das wurde, was Künstler Kunst nannten. Die Reaktionen von Bildungsbürgern darauf waren symptomatisch dafür, wie die Gesell26 Den besten Einstieg bietet Brüggemeier, Franz J., Das unendliche Meer der Lüfte. Luftverschmutzung, Industrialisierung und Risikodebatten im 19. Jahrhundert, Essen 1996. 27 Frankfurt / M. 1986. 28 Vgl. als Überblick Frevert, Ute, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt/M. 1986.

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schaft insgesamt auf die Tendenzen zur Pluralisierung der Modeme reagierte: mit tiefer Verunsicherung. 29 Wenn wir die wilhelminische Ära als den ersten Schritt in Richtung postmoderner Pluralität sehen - das ist meine These -, dann heißt das zugleich: Die Entstehungsgeschichte der Postmoderne verlief in Deutschland als eine Geschichte der Verunsicherung und der Gegenwehr?O Der Erste Weltkrieg, genauer: die Verlusterfahrung, die dieser Krieg und seine Folgen vor allem für das Bürgertum bedeutete, hat die Abwehr gegen eine neue, eine pluralistische Form der Modeme noch gesteigert. Gleichwohl läßt sich die erste deutsche Demokratie, die aus dem Zusammenbruch des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg hervorging, als ein weiterer großer Schritt in Richtung einer neuen gesellschaftlichen Pluralität verstehen. Als Stichworte seien nur genannt: A'Uflösung oder Abschwächung der alten sozialmoralischen Milieus, mehr politi&'che Beweglichkeit; Experimente mit neuen Lebensformen - Kameradschaftsehe, freiere Sexualität auch für Frauen, Erziehungsreformen. 31 Auch in dieser zweiten Phase auf dem Weg in eine postmoderne Modeme dominierte die Abwehr. Der Nationalsozialismus profitierte davon am meisten. Aber auch die nationalsozialistische Diktatur blockierte diesen Weg nicht gänzlich. Wie auch immer man zu der These von der Modernisierung der deutschen Gesellschaft durch den Nationalsozialismus stehen mag 32 - es ist nicht zu bestreiten, daß sich in dieser Zeit charakteristische gesellschaftliche Großstrukturen der Modeme weiter auflösten. Das gilt z. B. für die Klassenstrukturen, die Klassenideologien und Klassenorganisationen - in der heutigen Diskussion um die Postmoderne stets ein markantes Unterscheidungsmerkmal gegenüber der Modeme. Die Postmoderne, so wird argumentiert, unterscheide sich von der Modeme nicht zuletzt durch das Fehlen solcher Großstrukturen. In Deutschland sind sie teilweise durch die Nationalsozialisten gewaltsam zerschlagen worden, ohne daß sie in der Lage gewesen 29 V gl dazu Langewiesche, Dieter, Bildungsbürgertum und Liberalismus im 19. J ahrhundert, in: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhunden. Band IV, hrsg. v. Kocka, Jürgen, Stuttgart 1989, S. 95 - 121. Thomas Nipperdey (Wie das Bürgertum die Moderne fand, Berlin 1988) hebt dagegen auf den aktiven Teil des Bildungsbürgertums ab, der jedoch in seiner Aufgeschlossenheit für die kulturelle Avantgarde nicht verallgemeinert werden darf. Grundlegend zu den Entwicklungen, die hier als Ansätze zu einer postmodernen Pluralität gedeutet werden: Kondylis, Panajotis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991. 30 Das hat früh Detlev Peukert in seinen zahlreichen Studien hervorgehoben. V gl. insbes. sein Buch: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt/M. 1987; vgl. Bajohr, Frank, Detlev Peukerts Beiträge zur Sozialgeschichte der Moderne, in: ders. /Johe, Werner / Lohalm, Uwe (Hrsg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken, Hamburg 1991, S. 7 - 16. 31 Als Einstieg mit der weiterführenden Literatur s. vor allem Kolb, Eberhard, Die Weimarer Republik, München 419?8. 32 Eine präzyize Bilanz der Diskussionen bietet Frei, Norbert, Wie modern war der Nationalsozialismus?, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 367 - 387.

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wären, etwas Neues und ,Modemes' an deren Stelle zu setzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden diese Strukturen und Organisationen nicht wieder in der alten Form. Auch die Konfessionsgrenzen, eine der schärfsten Trennlinien in der deutschen Gesellschaft, schotteten nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr so rigide voneinander ab wie zuvor. Die Gründe für diese Entwicklungen sind komplex. Nicht alles, was während der nationalsozialistischen Herrschaft sich entwickelte, wurde durch sie verursacht. Viele Entwicklungen liefen durch sie hindurch. Dieses Gemenge aufzudröseln, muß hier nicht versucht werden. Es geht lediglich darum, markante Etappen herauszuarbeiten auf dem Wege zur Umformung der Modeme in eine Gesellschaft, die heute als postmodern bezeichnet wird.

III. Resümee: Nutzen und Grenzen des Epochenbegriffs Postmoderne Weil Geschichte immer eine von Menschen erinnerte, von Menschen konstruierte Geschichte ist, sind auch Epochenschwellen Setzungen, die davon abhängen, unter welcher Perspektive "Gedächtnisbilder,,33 geschaffen werden. Eine Pluralität von Epochenschwellen ist deshalb nichts Beunruhigendes; sie muß nicht einmal Konkurrenz um die höhere Angemessenheit bedeuten. Jede Perspektive auf die Geschichte mit ihren je eigenen, perspektivenbedingten Epochenschwellen kann plausibel sein. Welche Epochenschwellen sich im Geschichtsbewußtsein einer Gesellschaft durchsetzen und warum diese und nicht andere, die auch plausibel gemacht werden können, sagt viel über die Gesellschaft aus, über ihre Selbsteinschätzung und ihre Zukunftsvorstellungen. Gründungsmythen - so lassen sich Epochenschwellen auch definieren - sind Orientierungshilfen bei der Arbeit an der Zukunft. Es ist ein großer Unterschied, ob eine Nation sich auf eine Revolution zurückführt, wie die französische, oder ob sie ihren Gründungsmythos bindet an einen Staat, seine Herrschaftsdynastie und an die von dieser geführten Einigungskriege, wie es lange Zeit in Deutschland geschah. Nipperdeys Fanfarenstoß, mit dem er seine Geschichte des modemen Deutschland beginnen läßt, verweist auf die nationalgeschichtlichen Eigenheiten bei der Suche nach Epochenschwellen. Franzosen streiten sich darüber, ob Napoleon noch zur Revolutionsära zu zählen ist oder diese abschloß, aber es ist schwer vorstellbar, daß ein französischer Historiker auf die Idee kommen könnte zu schreiben: Am Anfang war Napoleon. Wer über deutsche Geschichte schreibt, kann das tun; wer über spanische schreibt - auch. Die Modeme in Spanien lassen die Historiker in aller Regel 1808 beginnen: mit dem Einmarsch napoleonischer Truppen und dem Beginn des Volkskrieges, der revolutionäre Züge annahm. Beides, die franzö33 Mead, George H., Das Wesen der Vergangenheit (1929), in: ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, hrsg. v. Joas, Hans, Frankfurt / M. 1987. S. 337 - 346. 337.

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sischen Reformen und die Revolution begannen nun, die gesellschaftliche Bauform Spaniens zu verändern. 34 Die Verortung des Beginns der Modeme im Umkreis der Französischen und der Amerikanischen Revolution entspricht der Konvention, der zwar oft widersprochen wird, die sich aber zumindest im europäisch-nordatlantischen Geschichtsbewußtsein durchgesetzt hat. Begründet wird diese Epochenschwelle sehr unterschiedlich. Viele haben die Legitimation von staatlicher Herrschaft vor Augen, die nun fundamental umbricht oder doch fundamental in Frage gestellt wird, wenn auch die Realisierung der neuen Ansprüche, die damit verbunden sind, zu einem langfristigen Prozeß wurde. Er ist bis heute unabgeschlossen, so daß in dieser Perspektive die Modeme weiterhin ein Zukunftsversprechen ist. Beginn der Modeme im späten 18. Jahrhundert - diese Konvention läßt sich aber auch mentalitätsgeschichtlich begründen. Diese Sicht habe ich in den Vordergrund gestellt - Fortschrittsbewußtsein als Chiffre für die neue Zeit. Allerdings, das wurde nur beiläufig angedeutet, ist diese mentalitätsgeschichtliche Sicht bislang vornehmlich geistes- und begriffsgeschichtlich eingelöst worden. Eine Mentalitätsgeschichte der Modeme ist nach wie vor eine Zukunftsaufgabe aller historisch ausgerichteten Wissenschaftsdisziplinen. Ende der Modeme - diese Frage kann für Historiker nur heißen: Welche Zäsuren lassen sich in der Entwicklungsgeschichte der Modeme erkennen? Es gab, so lautet die zentrale Argumentationslinie dieses Aufsatzes, einen Umbruch, der das Fundament der Modeme angreift: ihre Fortschrittsidee oder doch zentrale Elemente dieser Idee, vor allem die Erwartung ständig wachsender gesellschaftlicher Ressourcen. Die Vorgeschichte dieses Umbruchs in der Modeme, für den sich der Begriff Postmoderne eingebürgen hat, konnte mangels einschlägiger Forschungen nur nationalgeschichtlich skizziert werden. Es dürfte aber deutlich geworden sein: Der Einbruch postmoderner Zweifel in die Modeme war an den großen Krisen des 20. Jahrhunderts beteiligt. Zum Abschluß sei noch ein Punkt hervorgehoben, der bislang nicht angesprochen wurde, obwohl er auf einen zentralen Schwachpunkt der Diskussion um die Postmoderne zielt: Die Künder und Analytiker der Postmoderne sprechen meist so, als handle es sich um eine universale Entwicklung. Ob aber außerhalb des industriegesellschaftlichen reichen Teils der Welt überhaupt Voraussetzungen für eine Gesellschaft der Postmoderne bestehen, ist durchaus fraglich. Die Risikogesellschaft, von der Ulrich Beck schreibt, besteht weltweit. Die Theorie der Postmoderne hingegen könnte sich als eine weitere Spielart von Entwicklungsmodellen erweisen, die der Westen in der eigenen Geschichte entdeckt und dann universalisiert. Dann wäre die Theorie der Postmoderne nur eine neue Form der altvertrauten Modernisierungstheorien: Beide würden kolonialisieren, indem sie der Welt als Zukunftsaufgabe vorgeben, was sie in ihrem Kulturkreis wahrnehmen oder 34

Vgl. etwa Carr, Rayrnond, Spain 1808 - 1939, Oxford 1966 u.ö.

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wünschen. Das würde in anderer Weise, als sie es selber wahrnehmen, diejenigen bestätigen, die in der Postmoderne keinen Bruch mit der Moderne sehen, sondern eine Fortentwicklung. Denn der europäisch-nordatlantischen Moderne fehlte es nie an dem Willen, ihre Werte und Lebensformen als universell gültig zu erklären. Ob die Postmoderne mit diesem Universalisierungsanspruch bricht - es wäre ein wahrhaft radikaler Bruch -, ist eine Frage an die Zukunft.

Die Geschichtswissenschaft nach der deutschen Vereinigung* Jürgen Kocka

"Wer hat die entscheidende Rolle im Zweiten Weltkrieg beim Sieg über den Faschismus, über Deutschland gespielt?" 1995, anläßlich des 50. Jahrestags der Niederlage Hitler-Deutschlands, stellte das Institut für Demoskopie in Allensbach diese Frage an eine repräsentative Auswahl von Bürgern und Bürgerinnen in den alten und neuen Bundesländern. 69 % der Westdeutschen antworteten: "Die Vereinigten Staaten", 87 % der Ostdeutschen erklärten: "Die Sowjetunion". 91 % der Westdeutschen meinten, daß die Gründung der Bundesrepublik 1949 "richtig" gewesen sei, aber nur 43 % der Ostdeutschen - weniger als die Hälfte - teilten diese Auffassung. Umgekehrt wurde die Gründung der DDR lediglich von 8 % der Westdeutschen, immerhin aber von 30 % der Ostdeutschen bejaht. Eklatant unterscheidet man sich in der Bewertung Konrad Adenauers. Auf die Frage, "Welcher große Deutsche hat Ihrer Ansicht nach am meisten für Deutschland geleistet?" nannten ihn (1992) 34 % der Westdeutschen, aber nur 9 % der Ostdeutschen!. Was bei Umfragen zu den bei uns vorherrschenden Bildern zur älteren deutschen Geschichte nicht deutlich wird, ist mit Bezug auf die neueste Geschichte, die Zeitgeschichte, ganz klar: Es gibt typische, durchschnittliche West-Ost-Unterschiede im Geschichtsbewußtsein 2 , so z. B. auch in bezug auf die Interpretation des Nationalsozialismus. Zwar gleicht man sich in der Ablehnung dieser dunkelsten Phase deutscher Geschichte, eine Ablehnung, die in Ostdeutschland nicht viel weniger entschieden ausfallt als in Westdeutschland (im großen und ganzen)3. Aber das Gewicht, das der Katastrophe von 1933 - 1945 zugeschrieben wird, scheint im Osten

* Überarbeitete Fassung eines Vortrags zum 40jährigen Jubiläum des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes am 8. 4. 1997 in Potsdam. 1 Vgl. Noelle-Neumann, Elisabeth, Der geteilte Himmel. Geschichtsbewußtsein in Westund Ostdeutschland oder Zwei Ansichten deutscher Geschichte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 102 vom 3.5. 1995, S. 57. 2 Vgl. Jeismann, Karl-Emst/Borries, Bodo von, Geschichtsbewußtsein, in: Bergmann, Klaus u. a. (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, Seelze 1Velbert 51977, S. 42 - 51. 3 Von unterschiedlich intensiver Ablehnung des NS durch West- und Ostdeutsche berichtet allerdings Wolffsohn, Michael, Von der äußerlichen zur verinnerlichten "Vergangenheitsbewältigung", in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitschrift "Das Parlament", B3-4/1997, S. 14-22, hier S. 19 f.

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geringer als im Westen zu sein. Empirische Erhebungen lassen wenig Zweifel daran, daß die NS-Zeit, der Zweite Weltkrieg, der deutsche Völkermord an den Juden und die unmittelbaren Nachkriegsentwicklungen einen prägenden Einfluß auf das historische Selbstverständnis einer großen Mehrheit von Westdeutschen hatten und haben. Die Nazi-Zeit fungiert für die Mehrheit der Westdeutschen heute sehr deutlich als negativer Hintergrund, als Bezugspunkt, als Vergleichsfolie für die - auf diesem Vergleichshintergrund - besonders zustimmungsfähige Bundesrepublik. Die Nazi-Zeit ist sehr präsent. Im Geschichtsbild der Ostdeutschen dagegen ist die Katastrophe 1933 -1945 weniger zentral. Und bei der Erinnerung an das nationalsozialistische Deutschland scheint im Osten eher der Angriffskrieg mit seinen Verwüstungen, im Westen dagegen der Genozid an den Juden im Mittelpunkt zu stehen4 . Auch andere Indizien weisen darauf hin: Wir sind in Deutschland noch weit von einem West und Ost einvernehmlich verbindenden Geschichtsbewußtsein entfernt. Von einem gemeinsamen Blick auf die geteilte Geschichte kann noch keine Rede sein. Nach mehr als vier Jahrzehnten sehr unterschiedlicher Entwicklung und nach sieben Jahren sehr verschieden wirkender Vereinigungserfahrungen sollte man sich darüber nicht wundem. Doch wer weiß, wie wichtig die Verständigung über die eigene Geschichte für die Herausbildung einer demokratischen politischen Kultur und für den mentalen Zusammenhalt einer Gesellschaft, einer Nation ist, wird gleichwohl den Befund nicht ohne Bedenken zur Kenntnis nehmen. Was tut die Geschichtswissenschaft in dieser Situation, was kann sie tun? Im siebten Jahr nach dem Ende der DDR spricht manches dafür, die Vereinigung der beiden deutschen Wissenschaftssysteme als einigermaßen abgeschlossen anzusehen. Sie ist im wesentlichen, wie die Wiedervereinigung insgesamt, als Übertragung des westdeutschen Modells auf den Osten unter westdeutscher Regie vor sich gegangen. Die rechtlich-institutionelle Ordnung des bundesrepublikanischen Wissenschaftssystems wurde auf die beitretenden Länder ausgedehnt. Ein erheblicher west-östlicher Ressourcen-Transfer fand statt. Wissenschaftliches und administratives Personal strömte aus dem Westen in den Osten und rückte dort zum Teil an die Stelle von ostdeutschen Kräften, die in der Konkurrenz um die neudefinierten Stellen den kürzeren zogen, bisweilen auch als politisch belastet gingen oder zum Abtreten gezwungen wurden. Dem Abbruch zahlreicher ostdeutscher Berufswege entsprach spiegelverkehrt die sprungartige Zunahme von westdeutschen Karrierechancen. Personell ergaben sich ostdeutsch-westdeutsche Mischungsverhältnisse, 4 Lutz, F. Tb., Verantwortungsbewußtsein und Wohlstandchauvinismus: Die Bedeutung historisch-politischer Einstellungen der Deutschen nach der Einheit, in: Weidenfeld, Wemer (Hrsg.), Deutschland. Eine Nation - doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen Selbstverständnis, Köln 1993, S. 157 -173; Borries, Bodo von, "Geschichtsbewußtsein" der Jugend in Deutschland: Ein Ost-West-Vergleich, in: ebd., S. 291- 307; ders. u. a., Das Geschichtsbewußtsein Jugendlicher. Erste repräsentative Untersuchung über Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartswahmehmungen und Zukunftserwartungen in Ost- und Westdeutschland, Weinheim 1995.

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die allerdings nach Personalkategorien und Fächern extrem variieren. Die verbindliche Staatsideologie der DDR, der auch die Wissenschaften tief beeinflussende Marxismus / Leninismus, brach zusammen. Mit den Personen, Institutionen und Ressourcen haben die in sich vielfältigen Fragestellungen und Methoden, Inhalte und Paradigmen der westlichen Wissenschaft im Osten Einzug gehalten5 . All dies gilt auch für die Geschichtswissenschaft, sogar in besonders ausgeprägter Weise. In diesem politiknahen, in der DDR stark durch marxistisch-leninistische Vorgaben bestimmten Fach war der Personalwechsel besonders gründlich. In der Kategorie der Hochschullehrer und Institutsleiter gibt es kaum personelle Kontinuität auf dem Weg von der DDR in die "Neuen Bundesländer", in der Mitarbeitergruppe etwas mehr, doch diese wurde scharf reduziert und in der Regel auf befristete Positionen umgestellt. Allerdings findet sich sehr viel mehr personelle Kontinuität in den Kollegien der Schulen und somit auch unter den Geschichtslehrern. Die Inhalte von Forschung, Lehre und Unterricht sind im östlichen Teil Deutschlands in der Geschichte sehr gründlich verändert worden, wie jeder Schulbuch- oder Zeitschriftenvergleich zwischen der Zeit vor und nach 1989/90 zeigt. Vom marxistisch-leninistischen Geschichtsbild ist in Wissenschaft und Unterricht nichts - oder sehr wenig - übriggeblieben. Die Inhalte und Methoden der - in sich allerdings vielfältigen - westdeutschen Geschichtswissenschaft wurden auch in den Neuen Bundesländern maßgebend, und sie haben sich als Folge der Vereinigung nicht tief verändert6 . Im Osten also nichts Neues? Die Geschichtswissenschaft der Berliner Republik eine lineare Fortsetzung der Geschichtswissenschaft der Bonner Republik? Nicht ganz. Die folgenden Überlegungen dienen dazu, einigen Veränderungen nachzugehen, die man - wenngleich teils noch sehr undeutlich - sehen kann. Ich konzentriere mich auf die Zeitgeschichte und spreche nacheinander von einigen institutionellen, thematischen und paradigmatischen Veränderungen in der Konsequenz der Vereinigung. Institutionell hat sich in der Tat wenig verändert. Man hat so rasch wie möglich, und zunächst die Kosten nicht scheuend, das System der westdeutschen Hochschulen und anderen Wissenschaftsinstitutionen auf den Osten übertragen, zugleich eigenständige ostdeutsche Entwicklungen, wie die umfangreiche Akademie der Wissenschaften, abgebrochen - zu rasch, zu radikal, zu westdeutsch-selbstbewußt, wie manche meinen. Und doch sind auch institutionell einige Neuentwicklungen zu beobachten, teils gewollt, teils ungewollt. In bezug auf die Wissenschaften insgesamt wie auch für die Geschichtswissenschaft insbesondere gilt, daß der Anteil außeruniversitärer Forschung zugenommen hat, ablesbar etwa an der Ausweitung 5 Dazu zuletzt Kocka, Jürgen/Mayntz, Renate (Hrsg.), Wissenschaften und Wiedervereinigung, Berlin 1997; Pastemack, Peter, Geisteswissenschaften in Ostdeutschland 1995. Eine Inventur, Leipzig 1996. 6 Vgl. Kocka, Jürgen, Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995, S.64-80.

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der "Blauen Liste". In der Geschichtswissenschaft zeigen sich ein paar Neuansätze im kleinen, ich nenne als Beispiel das neu entstandene und für die Zukunft viel versprechende Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung, eines von sechs neuen geisteswissenschaftlichen Zentren, die in Berlin und den neuen Bundesländern generell errichtet wurden - Forschungseinrichtungen eines neuen Typs, die zwar einerseits außeruniversitär sind, aber andererseits eng mit den Hochschulen verbunden. Thematisch hat sich die Geschichtswissenschaft, jedenfalls die Zeitgeschichte, dadurch geändert, daß die Geschichte der DDR zu einem ihrer großen Themen geworden ist. Die Archive der ehemaligen DDR sind seit 1990 so weit geöffnet wie man das sonst nur von Ländern kennt, die in einem großen Krieg eine tiefe Niederlage erlitten haben. Die Auseinandersetzung um Schuld und Verantwortung, Opfer und Täter, Kollaboration und Widerstand hat das zeitgeschichtliche Interesse an der DDR lange beflügelt, das nimmt jetzt ab. Lange lagen Tagespolitik und ein Teil der DDR-Zeitgeschichte in engstem Gemenge?, das sollte man nicht fortsetzen. Es bekommt der Geschichte nicht, wenn sie zur Munition im politischen Tageskampf wird. Man weiß, wie die DDR zu Ende gegangen ist - eine gute Voraussetzung für zeithistorische Forschung, die sich immer schwer tut, wenn sie Geschichten rekonstruieren soll, deren Ausgang sie nicht kennt. In den letzten Jahren haben sich viele meist jüngere Forscher aus West- und aus Ostdeutschland, aus Amerika und anderen Ländern den plötzlich zugänglichen Archiven zugewandt. Es ist schon bemerkenswert, wieviele Dissertationen, Habilitationen, Monographien, Projekte und Zeitschriftenartikel zur DDR-Geschichte entstehen. Es fällt auf, daß die Geschichte der DDR zu einem erheblichen Teil in neuen Institutionen erforscht wird: im Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ich nannte es schon), im Hannah-Arendt-Institut für Geschichte des Totalitarismus in Dresden, in der Berliner Außenstelle des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, in der Forschungsabteilung der Gauck-Behörde, in der Enquete-Kommission des Bundestages, die ihre Arbeit nun in Form einer Stiftung auf Dauer stellen will - also teilweise in sehr politiknahen Institutionen. Um so wichtiger ist es, daß die Geschichte der DDR auch in solchen Institutionen erforscht wird, die nicht ausschließlich oder primär DDR-Geschichte betreiben, sondern diese als einen Teil der allgemeinen Geschichte behandeln, vor allem in den Hochschulen.

Das Ende der DDR und die Vereinigung Deutschlands haben also massenhaft neue Themen auf die Tagesordnung der Zeitgeschichtsforschung gesetzt. Aber hat dieser letzte große Wendepunkt deutscher Geschichte auch zu einer Veränderung des Blicks auf die Zeitgeschichte, zu einer paradigmatischen Veränderung geführt? Es entsprach der deutschen Zweistaatlichkeit, ihrem zwingenden Charakter und ihrer breiten Akzeptanz auf beiden Seiten, daß sich nicht nur die deutsche Histo7 Beispielsweise in einigen Veröffentlichungen des Forschungsverbundes "SED-Staat" an der PU Berlin. Dazu und zum folgenden Kleßmann, Christoph 1Sabrow, Martin, Zeitgeschichte in Deutschland nach 1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 39/1996, S. 3 -14.

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rikerprofession teilte, sondern auch die meisten Schriften zur deutschen Zeitgeschichte die Teilung als Interpretationsrahmen nahmen. Je später, desto selbstverständlicher ist die deutsche Nachkriegsentwicklung als Geschichte der Bundesrepublik einerseits, als Geschichte der DDR andererseits dargestellt worden. Es gab Ausnahmen. Aber insgesamt herrschte unter westdeutschen Historikern die Tendenz vor, die Bundesrepublik getrennt von der DDR zu behandeln, manchmal stillschweigend westdeutsche mit deutscher Geschichte gleichzusetzen und die Geschichte des anderen deutschen Staates einer speziellen Forschungsdisziplin zwischen Zeitgeschichte, Politikwissenschaft und Soziologie zu überlassen: der DDRForschung. In der DDR gab es spiegelbildlich ähnliche Entwicklungen. Die Vereinigung hat nun plötzlich den Fluchtpunkt verändert, auf den hin die deutsche Geschichte der Nachkriegszeit bewußt oder unbewußt, gezwungenermaßen oder freiwillig geschrieben worden war. Natürlich entstehen weiterhin Darstellungen, die sich entweder ausschließlich bundesrepublikanischen oder ausschließlich DDR-Entwicklungen widmen. Dafür gibt es gute Gründe. Gleichzeitig aber richtet sich nach der staatlichen Vereinigung Deutschlands das Interesse verstärkt auf den Zusammenhang zwischen den beiden deutschen Nachkriegsgeschichten. Dabei geht eigentlich niemand ernsthaft so weit, die deutsche Geschichte 1945 - 90 als eine Nationalgeschichte zu konstruieren. Das täte der Wirklichkeit Gewalt an, entspräche auch nicht dem historischen Selbstverständnis der meisten Westdeutschen und meisten Ostdeutschen. Vielmehr werden zwei methodische Ansätze, zwei Interpretationsverfahren genutzt, manchmal in Verbindung miteinander. Zum einen der Vergleich. Man konzipiert die Geschichten der beiden deutschen Staaten, der beiden deutschen Gesellschaften als Parallelgeschichten und fragt nach Ähnlichkeiten und Unterschieden. Zum Beispiel: In welchen der beiden Nachfolgestaaten wurden Aspekte der älteren deutschen Sonderentwicklung stärker konserviert? Entsprach der Verwestlichung der BRD eine Veröstlichung der DDR? Der Vergleich verknüpft die beiden deutschen Teilgeschichten in lockerer Form, ohne ihre Eigenarten zu verwischen8 . Zum anderen ist da der beziehungsgeschichtliche Ansatz, der Phänomene der Abgrenzung und Verflechtung zwischen BRD und DDR betont9 . Sicherlich war die Beziehung zwischen den beiden deutschen Staaten sehr asymmetrisch. Die Regierung und die Bevölkerung der DDR waren in viel höherem Maße auf die Bundesrepublik orientiert als umgekehrt. Die Geschichte der Bundesrepublik läßt sich ohne Bezug auf die Geschichte der DDR eher schreiben als umgekehrt. Doch allmählich wird klar, daß auch die Geschichte der Bundesrepublik vielfältig von 8 Vgl. Kocka, Jücgen, Die Geschichte der DDR als Forschungsproblem, in: ders. (Hrsg.), Historische DDR-Forschung, Berli,n 1993, S. 9 - 26; Jarausch, Konrad Hugo/ Siegrist, Hannes (Hrsg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1954-1970, Frankfurt/M. 1997. 9 Vgl. Kleßmann, Christoph, Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B29-3011993, S. 30-41.

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ihrer Beziehung zur DDR geprägt war. Am stärksten fallen hierbei die Kontrastbeziehungen auf. Zum Beispiel beeinflußte das abschreckende Beispiel der Zwangsfusion von KPD und SPD im Osten das Denken und die Lage der SPD im Westen. Auf die westdeutsche "Magnetwirkung" antwortete umgekehrt die SED-Führung mit ideologischer Härte und schließlich dem Bau der Mauer. Beide Staaten schöpften einen wesentlichen Teil ihrer Legitimität aus der Ablehnung des anderen. Vor allem der Vergleich und die auf Verflechtung und Abgrenzung achtende Beziehungsgeschichte sind geeignet, dem nach der Wende sich stellenden Bedürfnis zu entsprechen, auch historiographisch so etwas wie eine allmähliche Vereinigung zu vollziehen und schrittweise die Möglichkeit eines gemeinsamen Blicks auf die geteilte Geschichte der zurückliegenden Jahrzehnte zu erarbeiten. In diesem Prozeß ändert sich auch unser Bild von der Bundesrepublik. Nicht nur der Vergleich zwischen DDR und Bundesrepublik hat in den letzten Jahren eine zunehmende Rolle gespielt, auch der Vergleich zwischen DDR und Nazireich, und zwar sowohl in der Geschichtswissenschaft wie in der Öffentlichkeit lO • Bezeichnenderweise mündete die jahrelange Arbeit der ersten EnqueteKommission des Bundestages zur "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" in publizistisch stark beachteten Hearings ,,zur Auseinandersetzung mit den beiden Diktaturen in Deutschland in Vergangenheit und Gegenwart". Immer wieder hat man die sehr viel intensivere und vorbehaltlosere "Vergangenheitsbewältigung" seit 1990 mit der gehemmten und gedämpften, nur langfristig an Schwung gewinnenden nach 1945 verglichen. Für die Geschichtswissenschaft gilt, daß der NS-DDR-Vergleich auf einigen Gebieten große Chancen bietet, die vor 1989/90 kaum oder gar nicht gesehen wurden. Der Vergleich zwischen NS-Diktatur und SED-Diktatur birgt zweifellos Gefahren und die Versuchung zur verzerrenden Polemik, nämlich dann, wenn der Vergleich zur Gleichsetzung wird und die erheblichen Unterschiede zwischen beiden Systemen verwischt werden - etwa der Unterschied im Ausmaß des menschenverachtenden oder menschenvernichtenden Unrechts, worin das Dritte Reich die DDR bei weitem übertraf. Doch leistet dieser Diktaturenvergleich auch viel: für die Erkenntnis der Eigenarten beider Systeme einerseits und für die Klärung und Festigung eines aufgeklärten, demokratischen Geschichtsbewußtseins andererseits. Zwei Ergebnisse der bisherigen Debatte seien abschließend hervorgehoben. Die bisweilen nach der Wende geäußerte Befürchtung, daß der kritische Blick auf die zweite deutsche Diktatur den klaren Blick auf die erste verstellen und die engagierte Auseinandersetzung mit dem SED-Staat die klare Distanzierung vom Dritten Reich relativieren könnte, hat sich nicht erfüllt. Eher war das Gegenteil der 10 Dazu und zum folgenden die Vorträge und Diskussionen in: Materialien der EnqueteKommission ,,Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. v. Deutschen Bundestag, Bd. IX, Frankfurt/Mo 1995, S. 576 -748; Sühl, Klaus (Hrsg.), Vergangenbeitsbewältigung 1945 und 1989: Ein unmöglicher Vergleich? Eine Diskussion, Berlin 1994.

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Fall. Die Abrechnung mit der SED-Diktatur und der Versuch, ihre Funktionsmechanismen aufzuklären, haben mit gewisser Regelmäßigkeit die Aufmerksamkeit für die NS-Diktatur reaktiviert. Jedenfalls hat die Vergegenwärtigung des Nationalsozialismus, seiner Untaten und seines bösen Erbes in den letzten Jahren noch einmal zugenommen. Vom Ziehen eines Schlußstrichs sind wir heute weiter entfernt denn je. Es gingen neue Wellen der Erinnerung durch das Land, zum Teil mit Kontroversen verbunden: 1995 anläßlich der Veranstaltungen zum 50. Jahrestag des 8. Mai 1945, den die große Mehrheit der Deutschen - 72 % nach einer Umfrage rückblickend als Tag der Befreiung identifizierte; 1996 im Zusammenhang mit der Rezeption des Goldhagen-Buches; Anfang 1997 anläßlich der kontrovers aufgenommenen Wehrmachts-Ausstellung in München. Viele andere Beispiele ließen sich nennen, so die Dauerdiskussion in Berlin über die dort geplante Errichtung eines Denkmals zur Erinnerung an die ermordeten Juden Europas. Zu diesen Erinnerungsveranstaltungen und Erinnerungswellen wäre vieles zu sagen. Das richtige Maß und die richtige Form der Erinnerung sind offenbar nicht leicht zu finden, wenn es um das monströse Ausmaß der Untaten geht, die vom nationalsozialistischen Deutschland ausgingen. Die Erinnerung schmerzt und führt zu aufwühlenden Kontroversen. Doch andererseits beweist diese Fähigkeit zur kritischen Vergegenwärtigung einer bösen Vergangenheit auch die Kraft des Gemeinwesens. Es braucht solche Erinnerung, wenn es sich in der distanzierenden Absetzung von einer schlimmen Vergangenheit definieren will, mit dem selbstbewußten Anspruch, etwas Neues, Besseres zustande bekommen zu haben. Die ehrliche und kritische Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Katastrophe, die entschiedene Absetzung davon und die daraus folgende Motivation zum Engagement für öffentliche Dinge gehören zusammen. Als zentrale Säule des historischen Bewußtseins kann sie den Westdeutschen und Ostdeutschen gemeinsam sein. Zum anderen: Richtig betrieben, kann der Diktaturenvergleich den anti-diktatorischen, anti-totalitären, freiheitlich-demokratischen Konsens bekräftigen, der in Deutschland - mit erheblichen Nuancen und Abstrichen im einzelnen - wohl derzeit besteht, nach der doppelten Diktaturerfahrung besonders verankert ist, aber gleichwohl immer neuer Bestätigung bedarf. Das historische Bewußtsein in Deutschland bleibt heterogen. Dies wurde oben gezeigt. Es speist sich aus vielen, von Person zu Person, Gruppe zu Gruppe, Region zu Region variierenden Quellen. In einer offenen Gesellschaft und einem liberalen Staat wäre die Herstellung eines homogenen Geschichtsbewußtsein auch kein legitimes Ziel. Andererseits kann gesellschaftliche Konsensbildung über Geschichte die nötige Kohärenz und Solidarität eines Gemeinwesens stützen. Die auf kritische Verständigung zielende, die deutsche Geschichte in ihrer inneren Verflechtung neu interpretierende und sie zugleich in größere europäische Zusammenhänge stellende Geschichtswissenschaft kann dazu einen Beitrag leisten.

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6. Sozialdemokratie und Gewerkschaften in beiden deutschen Demokratien

Gewerkschaften und soziale Demokratie in Weimar und Bonn Heinrich Potthoff

"Bonn ist nicht Weimar", so lautet ein geflügeltes Wort l , mit dem über Jahre und Jahrzehnte die demokratisch-soziale Stabilität der Bundesrepublik Deutschland beschworen wurde. Heute, im Zeichen von Massenarbeitslosigkeit, wachsender Einkommensdiskrepanz und gefährdetem sozialen Konsens klingt dies nicht mehr so selbstverständlich. Schon werden Stimmen laut, die Vergleiche zur Arbeitslosigkeit Anfang der 30er Jahren ziehen. Mögen die Einwände gegen derartige Simplifizierungen noch so begründet sein, so spricht aus solchen Worten doch etwas wie Verunsicherung und ein Gefühl krisenhafter Bedrohung einer lange als selbstverständlich erachteten Stabilität. Dies weist darauf hin, wie sehr die Bundesrepublik ihre Identität aus einer auf wirtschaftliche Prosperität gegründeten Akzeptanz bezog. Der Umbruch im östlichen Europa, die friedliche Revolution in der DDR und die deutsche Einigung bedingten eine Zäsur, die in ihrer ganzen Bedeutung bisher nur sehr unzureichend ins Bewußtsein gedrungen und weit einschneidender ist, als alles, was in und mit dem geteilten Land seit 1949 geschah. Die "neue", geeinte Bundesrepublik, schon gelegentlich die "Berliner Republik" genannt, markiert das Ende eines Abschnittes deutscher Geschichte und den Beginn einer neuen Phase, mit der die Deutschen ihren Platz in Europa und in der Welt politisch und mental noch stärker werden verinnerlichen müssen, als das bisher der Fall war. Durch das Ende einer Epoche, der "alten" Bundesrepublik, bietet sich nun ein rückblickender Vergleich mit der Weimarer Republik an, die nach wenig mehr als einem Jahrzehnt in Agonie versank. Am Beispiel der Rolle der Gewerkschaften sollen einige Momente und Merkmale markiert werden, die Stabilität wie Instabilität, Konsens und Konfrontation, Akzeptanz und Distanz zur demokratisch-sozialen Ordnung bedingten. Die historische Wirklichkeit der Jahre zwischen 1918 und 1933 wurde von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen geprägt, während die "alte" Bundesrepublik sich über Jahrzehnte eines wachsenden Wohlstandes, nur unterbrochen von kurzen Phasen der Stagnation, und einer fast beispiellosen politischen lAlemann, Fritz Rene, Bonn ist nicht Weimar, Köln I Berlin 1956.

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und sozialen Stabilität erfreute. Die Stellung der Gewerkschaften in Staat und Gesellschaft wurde davon natürlich maßgeblich beeinflußt. Ihre Rolle in der ersten und zweiten deutschen Republik scheinen insofern kaum vergleichbar. Hinzu kommen gravierende organisations strukturelle Unterschiede - Richtungsgewerkschaften, Berufs-, Regie- und Industrieverbände in "Weimar", Einheitsgewerkschaftsprinzip und Industriegewerkschaften nach 1945 - wie Veränderungen in der Berufs-, Arbeits- und Lebenswelt, Wandlungen in Wirtschaft und Unternehmerschaft, und - nicht zu vergessen - die Erfahrungen mit der NS-Diktatur, dem Scheitern der Weimarer Republik und die Wirkungen des Ost-West-Konfliktes. Es gibt also gute Gründe, sich nicht zu eilfertig auf Vergleiche einzulassen. Oberflächliche, nur scheinbar naheliegende Rückschlüsse werden der historischen Komplexität nicht gerecht. Sie taugen weder als ernsthaftes Argument noch fördern sie die kritische Reflexion. Massenarbeitslosigkeit, Lohneinbußen und Wirtschaftskrisen trafen die Menschen in der Weimarer Republik weit härter als in der Bundesrepublik mit ihrem ungleich höheren Maß an sozialer Sicherung, Löhnen, Einkommen und öffentlichem wie privatem Vermögen. So lag das Volkseinkommen je Einwohner in der Weimarer Zeit in den meisten Jahren unter dem Niveau von 1913, der sogenannten Kaiserzeit 2 . In der Bundesrepublik stieg es von einer 1913 vergleichbaren Ausgangsbasis im Jahr 1949 bis 1960 auf ca. das Zweieinhalbfache, 1970 auf etwa das Fünffache und 1980 ca. das Sechsfache 3 . Derartige Diskrepanzen im Einkommens- und Lebensniveau aber sind nicht ohne Wirkung für die Bewertung und Akzeptanz des politisch-gesellschaftlichen Systems und seiner tragenden Säulen. Doch was vordergründig eher auf Unvergleichbarkeit weist, gehört mit zu den Elementen, die beim Versuch eines Vergleichs als konstitutiv zu berücksichtigen sind. Denn nur vor dem Hintergrund der ökonomischen, sozialen und politischen Bedingungsfaktoren läßt sich sinnvoll über die Gewerkschaften sprechen. Ihre Rolle darf nicht isoliert gesehen und nicht so binnenorientiert debattiert werden, wie das häufiger geschieht, sondern sie muß in das Gefüge des politisch-gesellschaftlichen Systems, der wirtschaftlich-sozialen Faktoren und der Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse eingebettet werden. In unserem Kontext sind dabei einige Themenkomplexe von besonderer Bedeutung. Sie betreffen die Rolle bei der Grundlegung, Festigung, Sicherung der parlamentarischen Demokratie, das Verhältnis von Gewerkschaften, Unternehmern und Staat, die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft als Unterbau für Wohlstand und soziale Sicherung, die Wirkung von Arbeitslosigkeit und Krisen, die soziale Verfassung, gewerkschaftliche Strukturen und die Verankerung in Arbeitnehmerschaft und Betrieb. 2 Quellen: Das deutsche Volkseinkommen vor und nach dem Kriege. Bearbeitet im Statistischen Reichsamt. Einze1schriften zur Statistik des Deutschen Reichs, Bd. 24, Berlin 1932, Statistisches Jahrbuch des Deutschen Reiches 1934 und 1941/42. 3 Statistisches Taschenbuch 1990. Arbeits- und Sozia1statistik. Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), Bonn 1990, 1.8.

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I. Das organisatorisch-institutionelle Feld Schon ein Blick auf die Entwicklung der Mitgliederzahlen in der Weimarer Republik und nach 1945 weist auf erhebliche Unterschiede hin. In der Bundesrepublik bewegten sich seit 1949 die Quoten langsam, aber stetig nach oben. Nach dem Zenit im Jahre 1981 zeigte sich allerdings eine leicht rückläufige Tendenz 4 . Die trotz der hohen Arbeitslosigkeit noch viele Jahre hohe Stabilität zeugte davon, wie befestigt die Gewerkschaften waren. Davon konnte in Weimar so nicht die Rede sein. Nach großen Anfangserfolgen in den ersten Jahren der Republik sackten die Mitgliederquoten im Gefolge der Inflationskrise dramatisch ab. Dieser Aderlaß wurde trotz partieller Erholungstendenzen nicht wettgemacht, bis es mit der Massenarbeitslosigkeit auch zum Massenexodus karnS. Doch es war nicht nur die Abhängigkeit von Konjunktur und Arbeitsmarkt, die von einer ungleich größeren Labilität zeugten. Verglichen mit Bonn zeigten sich deutliche strukturelle Defizite. Dazu gehörte das Nebeneinander unterschiedlicher Organisationssysteme (vom kleinen Berufs- bis zum großen Metallarbeiterverband)6, die Reibungsverluste produzierten und die Anpassung an die sich wandelnde Industrie- und Arbeitswelt erschwerten, wie die Existenz weltanschaulich geprägter konkurrierender Richtungsgewerkschaften von Freien, Christlich-nationalen, Hirsch-Dunckerschen, syndikalistischen, unionistischen, kommunistischen und - in der Spätphase - noch nationalsozialistischen Organisationen. Nicht zuletzt gab es in Weimar gravierende Schwachstellen gerade in Sektoren, die vielen als eine traditionelle gewerkschaftliche Bastion gelten. In der vom Herrim-Hause-Standpunkt geprägten Eisen- und Stahlindustrie und im Bergbau mit seinen überkommenen autoritären Strukturen vermochten die Gewerkschaften in der Weimarer Republik nicht dauerhaft zu reüssieren. Kurzfristige Erfolge in der revolutionären Umbruchperiode gingen schnell wieder verloren. Nach der Inflationskrise wies die Eisen- und Stahl erzeugende Industrie die niedrigste Organisationsquote im Bereich Industrie und Handwerk auf, noch schlechter als die schon dürftige im Bergbau? 4 Eine Tabelle mit den Mitgliederzahlen für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) für die Jahre 1951-1987 findet sich u. a. in Schneider, Michael, Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfangen bis heute, Bonn 1989. Quelle sind die Statistischen Jahrbücher für die Bundesrepublik 1952 ff. In den neueren Jahrbüchern finden sich die Angaben für die Jahre 1988 -1995. 5 Übersichtliche Zusammenstellungen finden sich in: Petzina, Dietmar / Abelshauser, Werner/Faust, Anse1m, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch III. Materialien zur Statistik des Deutschen Reiches 1914-1945, München 1978, S. 111 und in: Matthias, Erich/Schönhoven, Klaus (Hrsg.), Solidarität und Menschenwürde. Etappen der deutschen Gewerkschaftsgeschichte von den Anfangen bis zur Gegenwart, Bonn 1984, S. 370. 6 Die größte Einzelgewerkschaft, der Metallarbeiterverband, hatte in den Jahren 19201922 über 1,6 Mio. Mitglieder, andere, wie etwa die Asphalteure, Chorsänger, Glaser zählten nur wenige Tausend.

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Erst nach 1945 ist diese anti-gewerkschaftliche und demokratie-resistente Fronde aufgebrochen worden. Die Zerschlagung der großen Konzerne von Kohle, Eisen und Stahl durch die Alliierten, u. a. durch die Entflechtung, und die Verankerung der paritätischen Mitbestimmung 1951 im Montanbereich 8 schufen wichtige Voraussetzungen für durchgreifende Veränderungen, d. h. für eine wirkliche Befestigung der Gewerkschaften, für eine wenigstens partielle Kontrolle wirtschaftlicher Macht und für den Wandel der von Kohle und Eisen dominierten Regionen zu Gewerkschaftsbastionen und schließlich zu Hochburgen der Sozialdemokratie. Gerade nach den Erfahrungen von Weimar markierte die Montanmitbestimmung so etwas wie die Grundlegung einer "materiellen Verfassung,,9 und wurde für die Bundesrepublik zum Symbol für eine Gleichrangigkeit von Kapital und Arbeit und die Bereitschaft zur Zähmung wirtschaftlicher Macht. Vielleicht, so möchte man hinzufügen, macht auch dies eines der heutigen Probleme aus, daß es durch den Bedeutungsverlust dieses Sektors und den rapiden Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft nun an einem solchen Äquivalent fehlt. In Deutschland kaum reflektiert, doch von immenser Bedeutung für die innere und äußere Stärke der Gewerkschaften in der Bundesrepublik, ist das System der Industriegewerkschaften. Zwar war schon in Weimar eine Umstrukturierung in Richtung auf das Industrieverbandsprinzip angegangen worden (mit unterschiedlichem Erfolg, am wirkungsmächtigsten im öffentlichen Dienst) 10. Ohne die Zerstörung der gewachsenen Organisationen durch die NS-Diktatur hätte es sich wohl auch in Deutschland schwerer durchgesetzt. Das System der Industriegewerkschaften förderte den Binnenausgleich, verhinderte einseitige Profilierungen und Profite relevanter kleiner Schlüsselgruppen (Stichwort Fluglotsen) und wirkte in Richtung einer breiteren SolidaritätlI. Es führte zu einer Konzentration der Tarifauseinandersetzungen und schuf die Basis für eine Reduktion der Arbeitskämpfe und für den sozialen Frieden, der zu einem Markenzeichen der Bundesrepublik wurde. Zudem stand es im Grundsatz beruflichen, betrieblichen und ökonomischen Moderni7 Siehe dazu besonders Potthoff, Heinrich, Freie Gewerkschaften 1918 -1933, Düsseldorf 1987, S. 54f. und 366f. sowie 370 (Tabellen über Organisationsgrade). 8 Vgl. Müller-List, Gabriele (Bearb.), Montanmitbestimmung. Das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie vorn 21. Mai 1951, Düsseldorf 1984. 9 Diesen Begriff gebrauchte zunächst Knut Borchardt zur Kennzeichnung der 1918 zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften begründeten Zentralarbeitsgemeinschaft; Borchardt, Knut, Wirtschaftliche Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik, in: Erdmann, Karl Dietrich / Schulze, Hagen (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, Düsseldorf 1980, S. 236. 10 Mit dem Zusammenschluß verschiedener Organisationen zum "Gesamtverband der Arbeitnehmer der Öffentlichen Betriebe" entstand, so der ADGB-Vorsitzende Leipart auf dem Gewerkschaftskongreß 1931 (S. 90), "eine neue gewerkschaftliche Großmacht mit 700.000 Mitgliedern". 11 Dies ist weitgehend Konsens.

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sierungsprozessen nicht im Wege, wie das bei berufsbezogenen Organisationsstrukturen eher der Fall ist. Es war eine Errungenschaft, die auf Seiten der Arbeit ein Äquivalent zum Typus moderner Produktions- und Unternehmensstrukturen konstituierte, beiden Tarifparteien Kompromißfähigkeit abforderte und eine Güterabwägung intendierte, von der letztlich Arbeitsmarkt und Gesellschaft profitierten. Aus internationaler Perspektive erschien über Jahre besonders die Einheitsgewerkschaft als eine große, bewunderte Leistung und ein Schlüssel zum "Modell Deutschland" und seiner Erfolgsbilanz 12, die beide heute kritisch hinterfragt werden. Die Einheitsgewerkschaft ist jedenfalls eine historische Errungenschaft der deutschen Arbeiterbewegung, die für die Grundlegung, Festigung und Stabilität der Nachkriegsdemokratie von fundamentaler Bedeutung war. Daß sich dieses System nach 1945 durchsetzte und im Unterschied zu anderen westeuropäischen Ländern (ungeachtet kleinerer Absplitterungen) hielt, hatte maßgeblich auch mit bitteren Erfahrungen der Jahre vor 1945 zu tun. Es dominierte ein Grundgefühl, daß die Zerstörung der Weimarer Republik und die NS-Herrschaft bei einer einheitlichen Gewerkschaftsbewegung wohl hätte vermieden werden können. Das schuf eine feste Klammer, wie sie so in anderen Ländern nicht vorhanden war, und trug erheblich zum inneren Zusammenhalt der Gewerkschaften in der Nachkriegszeit und in der Bundesrepublik bei 13 • In der SBZ/DDR wurde allerdings das Streben nach gewerkschaftlicher Einheit dazu mißbraucht, mit dem FDGB einen willfährigen Transmissionsriemen der Partei zu implantieren, dem jede echte gewerkschaftliche Legitimation fehlte 14• Ob eine organisations strukturelle Einheit das gewerkschaftliche Handlungspotential vor 1933 tatsächlich so nachhaltig verbessert hätte, erscheint jedoch zweifelhaft. Zwar erwies sich 1918 -1933 das Nebeneinander von Richtungsgewerkschaften als Hemmschuh für eine geschlossenere Vertretung von Arbeitnehmerinteressen in der direkten Konfrontation mit den Arbeitgebern und besonders in Krisen. Dennoch hat der "gewerkschaftliche Pluralismus" das Wirken nicht so nachhaltig beeinträchtigt, wie das im Rückblick scheinen mag. Solange die Arbeitsmarktbeziehungen leidlich funktionierten und die republikanisch-demokratische Staatsordnung trug, empfanden weder Freie Gewerkschaften noch ihre christ12 Vgl. etwa Dahrendorf, Ralf, in: Vetter, Heinz Oskar (Hrsg.), Aus der Geschichte lernen - die Zukunft gestalten. Dreißig Jahre DGB, Köln 1980, S. 301. 13 Dazu bes. Niethammer, Lutz, Strukturreform und Wachstumspakt. Westeuropäische Bedingungen der einheitsgewerkschaftlichen Bewegung nach dem Zusammenbruch des Faschismus, in: Vetter, Heinz Oskar (Hrsg.), Vom Sozialistengesetz zur Mitbestimmung. Zum 100. Geburtstag von Hans Böckler, Köln 1975, S. 275 - 299, hier S. 289 ff. 14 Auch der frühere ADGB-Vorsitzende Theodor Leipart tappte dabei in die Falle ,,Einheit" und ließ sich letztlich so durch die SED mißbrauchen. Vgl. dazu die biographische Skizze von Deutschland, Heinz, in: ders. / Lange, Ernst Egon (Hrsg.), Weggefährten, 32 Porträtskizzen, Berlin (Ost), 21988, S. 260 - 272, und Beier, Gerhard, Schulter an Schulter, Schritt für Schritt. Lebensläufe deutscher Gewerkschafter, Köln 1983, S. 128 -132.

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lichen und liberalen Konkurrenten das Fehlen einer Einheitsgewerkschaft als wirklich gravierendes Manko l5 . Erst unter dem Schock der Zerschlagung der Demokratie wurde sie zum Anker der Hoffnung für die schiffbrüchig dahintreibende Gewerkschaftsbewegung 16. Es zeigt sich das merkwürdige Phänomen, daß historisches Erinnern in einer Art relevant wurde, bei der sich Erfahrung und Argument vermengten und scheinbare einfache Erklärungsmuster eine bedeutsame positive Eigendynamik entfalteten. Die erst aus dem Widerstehen in der NS-Zeit gewachsene ,,Einheit", wie sie sich am prägnantesten im dem Leuschner-Wort "Schafft die Einheit" niederschlug 17, wurde gleichsam als Erklärungsmuster zurückprojiziert, warum die Gewerkschaften Weimar nicht hatten retten können. Es half dabei mit, eigenes individuelles Fehlverhalten zu übertünchen und Versäumnisse ins Positive zu wenden. Aber die entscheidenden Ursachen für die vergleichsweise Schwäche der Gewerkschaften vor 1933 lagen auf anderen Feldern - kränkelnder Wirtschaft und einschneidender Krisen, autoritärer Unternehmermacht und überforderter Demokratie. Die Einheitsgewerkschaft hat sich in der Bundesrepublik bewährt. Nur daß sie entstehen, sich halten und bewähren konnte, basierte auch auf dem veränderten sozialen Klima, der Autbrechung tradierter Milieus und einer gewandelten politischen Kultur. Umgekehrt hat die Einheitsgewerkschaft allein schon durch ihre Existenz zur Integration politisch-sozial unterschiedlicher Strömungen, Interessen und Milieus, zur KompromiBbildung und zur Herausformung eines demokratischen Konsenses maßgeblich beigetragen 18. Sie war und ist eine Schule pluralistischer Demokratie und weltanschaulich-politische Gräben überbrückender Toleranz und Solidarität und eine der gewichtigen Säulen und Garanten der inneren Verfassung der Bonner Demokratie.

11. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der "sozialen Verfassung" von Weimar und Bonn

Jede Verfassung eines Staates, auch die einer parlamentarischen Demokratie, ist letztlich nur so gut wie ihre soziale Fundierung. Vergleicht man die Verfassung von 1919 und das Grundgesetz auf ihren sozialen Gehalt, so sprach der Buchstabe Vgl. Potthoff, Heinrich, (wie Anm. 7), S. 76f. und 95. Vgl. Beier, Gerhard, Einheitsgewerkschaft. Zur Geschichte eines organisatorischen Prinzips der deutschen Arbeiterbewegung, in: Archiv für Sozialgeschichte 13 (1973), S. 207243; Borsdorf, Ulrich/Hemmer, Hans Otto/Martiny, Martin (Hrsg.), Grundlagen der Einheitsgewerkschaft. Historische Dokumente und Materialien, Köln / Frankfurt / M. 1977. 17 Nach Beier, Gerhard, Die illegale Reichsleitung der Gewerkschaften 1933 - 1945, Köln 1981, S. 83. 18 Das dokumentiert sich auch darin, daß Ansätze zur Belebung eigener christlicher Gewerkschaften versandeten. 15

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ganz für die "Weimarer". In dieser "freiheitlichsten Verfassung,,19 der Welt waren auch die sozialen Rechte weiter gefaßt und selbst Grundelemente einer wirtschaftlichen Demokratie verbindlich vorgeschrieben - von Betriebsräten bis zu einem Reichswirtschaftsrat 2o. Neben dem Staat als Sozialstaat im engeren Sinne gehört zur Kemsubstanz einer sozialen Verfassung das kollektivrechtliche System sozialer Gestaltung. Seine Basis ist die Tarifhoheit autonomer Vertragsparteien, d. h. der Gewerkschaften wie der Arbeitgeber- und Unternehmerverbände, und ihr Recht und ihre Fähigkeit, über rechtsetzende Vereinbarungen soziale Wirklichkeit, vor allem im Bereich des Arbeitslebens, zu konstituieren. Erst mit der Revolution und der Weimarer Republik hat sich das System der Tarifverträge überhaupt umfassender durchgesetzt. So waren für 14,5 Millionen Beschäftigte im Jahr 1922 die Arbeitsverhältnisse tarifvertraglich geregelt, zum Vergleich: vor dem Weltkrieg galt dies nur für ca. 2 Millionen 21 . Doch das Tarifvertragssystem blieb in Weimar gefährdet: Im Ruhrbergbau und der eisen- und stahlerzeugenden Industrie kam die Tarifautonomie kaum wirklich zur Geltung 22 , und seit der Schlichtungsverordnung vom 30. Oktober 1923 sprach der Staat in der Tarifpolitik kräftig mit23 . In der Entwicklung der sozialen Beziehungen in der Weimarer Republik markierte sie eine Zäsur. An die Stelle eines Konfliktaustrages durch die zuständigen Tarifparteien trat eine Art wirtschaftliche Notstandsverfassung, gewissermaßen eine Art Vorläufer des politischen Notstandsregiments am Ende der Republik24 . 19 Diese heute gerade von eher Konservativen häufig für das Grundgesetz gebrauchte Bezeichnung zeugt sowohl von Unkenntnis wie dem Verlust der Einsichten der Verfassungsmütter und -väter des Grundgesetzes, die sich gerade nach den Weimarer Erfahrungen für eine kämpferische und stabilitätsorientierte Demokratie einsetzten und sich gegen unbegrenzte Freiheiten für Feinde der Freiheit verwahrten. Für die auf die Weimarer Verfassung weit eher zutreffende Kennzeichnung vgl. die Schlußworte von Reichsinnenminister Eduard David zur 3. Lesung in der Nationalversammlung: "Nirgends in der Welt ist die Demokratie konsequenter durchgeführt als in dieser Verfassung ... Die deutsche Republik ist fortan die demokratischste Demokratie der Welt", Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte, Bd. 329, S. 2193. 20 Dazu Potthoff, Heinrich, Das Weimarer Verfassungswerk und die deutsche Linke, in: Archiv für Sozialgeschichte 12 (1972), S. 433 - 483. 21 Ein guter systematischer Überblick über die Entwicklung des Tarifvertragssystems und seiner Geltung findet sich schon bei Weber, Adolf, Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in Deutschland, Tübingen 41954. 22 Detailliert dazu Mommsen, Hans, Soziale Kämpfe im Ruhrgebiet nach der Jalrrhundertwende, in: ders. u. a. (Hrsg.), Glück auf Kameraden. Die Bergarbeiter und ihre Organisationen in Deutschland, Köln 1979, S. 249-272; ders., Soziale und politische Konflikte an der Ruhr 1905 bis 1924, in: ders. (Hrsg.), Arbeiterbewegung und industrieller Wandel. Studien zu gewerkschaftlichen Organisationsproblemen im Reich und an der Ruhr, Wuppertal 1980, S.64ff. 23 Mit dieser von Reichsarbeit~minister Brauns erlassenen Verordnung wurde die staatliche Zwangsschlichtung fester Bestandteil der Weimarer Sozialverfassung. V gl. Oltmann, Uwe, Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns in der Staats- und Währungskrise 1923/24, phil Diss., Kiel 1969, S. 276ff.

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Diese Art von Staatsinterventionismus entfiel in der Bundesrepublik. Nachdem zuerst für Unternehmer und Wirtschaft die Zügel freigegeben wurden, während Zwangsvorschriften bei den Löhnen noch weiter galten und die Gewerkschaften hemmten, fielen 1949 diese Schranken. Der rechtliche Rahmen wurde durch das Tarifvertragsgesetz vom 9. April 1949 abgesteckt25 . Die Tarifautonomie, d. h. die durch keine Zwangsschlichtungsbefugnisse des Staates eingeengte Unabhängigkeit und Selbstverantwortung der Tarifparteien, bildete den Kern des bundesrepublikanischen Tarifvertragsystems. Diese umfassende Tarifautonomie resultierte - neben anderen Faktoren (Einfluß der USA) - auch aus den Erfahrungen mit dem Staatsinterventionismus vor 1933. Sie unterschied Bonn von Weimar. Sie ist ein Fundament der "Kompromiß- und Legitimitätsproduktion der Sozialordnung in der Bundesrepublik,,26 und liefert den Schlüssel zu der verantwortungsbewußten Tarifpolitik der deutschen Gewerkschaften, die aus internationaler Sicht stets besonders gewürdigt wurde. Politiker, Parteien und Regierungen wären klug beraten, wenn sie diese Tarifautonomie respektieren würden, auch dann, wenn sie ihnen unbequem zu sein scheint. Sie hat sich bewährt und ist flexibel. Sie ist ein Eckstein unserer "sozialen Verfassung" und ein unverzichtbares Element für soziale Stabilität. Sie zwingt die Tarifparteien in die Verantwortung und bewahrt den Staat davor, in den Strudel der unmittelbaren Verteilungskonflikte gezogen zu werden. Wer sonst von Deregulierung redet, aber bei Tarifauseinandersetzungen die Gewerkschaften bedrängt, sollte bedenken, was er tut, oder er handelt verantwortungslos. Wer an der Tarifautonomie rüttelt, gefährdet eine der Grundlagen, auf der unser System einer pluralistischen parlamentarischen Demokratie beruht. Wenn schon nicht aus eigener Einsicht, so sollten doch die Weimarer Erfahrungen zu Vorsicht und Zurückhaltung mahnen. Die direkte Involvierung des Staates in die Lohnregelung führte in Weimar dazu, daß die Verantwortung der Tarifparteien ausgehöhlt wurde und der Staat direkt in die Schußlinie geriet. Mit den Attacken gegen das "System der politischen Löhne" zielte die Stoßrichtung besonders der Schwerindustrie auf die als Schutzmacht der Arbeiter angeprangerte Weimarer Demokratie27 . Der sog. Ruhreisenstreit von 1928 mit seinen Massenaussperrungen und seiner offenen Kampfansage gegen den 24 Grundlegend dazu auch Hartwich, Hans-Herrmann, Arbeitsmarkt, Verbände und Staat 1918 -1933. Die öffentliche Bindung unternehmerischer Funktionen in der Weimarer Republik, Berlin 1967; ferner Winkler, Heinrich August, Von der Revolution zur Stabilisierung, Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Bonn 1984, S. 404 ff. und 686 f; ders., Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924 bis 1930, Bonn 1985, S. 472ff. und 557 ff. 25 Erlassen wurde dieses grundlegende Gesetz noch vom Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes. 26 Lepsius, Rainer M., Die Rolle der Sozialpolitik in der Bonner Republik und der DDR, in: Grebing, Helga/Hemmer, Hans Otto (Hrsg.), Soziale Konflikte, Sozialstaat und Demokratie in Deutschland, Essen 1996, S. 43. 27 Eingehender dazu Hartwich, Hans-Herrmann, (wie Anm. 24).

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Schlichter Staat war ein Fanal. Nicht nur die Gewerkschaften wurden zu Zugeständnissen gezwungen, die ihre Schwäche enthüllten, sondern die Autorität des demokratischen Staates wurde nachhaltig erschüttert und untergraben28 • Am Ende, als die Republik in ihre Agonie verfiel, schrieben Präsidialkabinette die Bedingungen vor. Das NS-System konnte daran fast bruchlos anknüpfen29 . In der Bundesrepublik wurde bisher der Versuchung widerstanden, Weimar in diesem Punkt nachzuahmen. Auch die konzertierte Aktion Karl Schillers unterschied sich gravierend von den Weimarer Modellen einer Verzahnung von Wirtschaft, Gewerkschaften und Staat. Sie respektierte die Autonomie und Verantwortlichkeit. Darin lag ihre Weisheit und ihr Erfolg 3o. Jeder staatliche Zwang wäre verfehlt und kontraproduktiv. Aufgabe des Staates ist es, Rahmenbedingungen für eine annähernde Gleichgewichtigkeit der autonomen Tarifparteien zu schaffen. Mit dieser Verpflichtung ist die Erleichterung der ,,kalten Aussperrung" durch die Änderung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes (vom 1. Mai 1981)31 nur schwer zu vereinbaren. Der unverkennbare Trend zu einer gewissen arbeitgeberund unternehmerlastigen Politik in Bonn wiegt um so schwerer, als die Arbeitnehmerseite durch die Massenarbeitslosigkeit nun schon seit Jahren. nachhaltig geschwächt ist. Die notwendige Balance ist nicht mehr gegeben und damit ein Eckpunkt der langjährigen sozialen Stabilität der Bundesrepublik bedroht. III. Arbeitslosigkeit und Krisen

Die Massenarbeitslosigkeit Anfang der 30er Jahre galt in der Bundesrepublik als Verhängnis, das die Weimarer Republik in die Kastastrophe und in den Untergang trieb, während sich die Bonner Republik lange in der Sonne der Vollbeschäftigung wähnte. Als von 1975 -77 die Arbeitslosigkeit über 1 Million lag 32 , beschlich ei28 Für den Ruhreisenstreit vgl. bes. Hüllbusch, Ursula, Der Ruhreisenstreit in gewerkschaftlicher Sicht, in: Mommsen, Hans/Petzina, Dietmar 1Weisbrod, Bernd (Hrsg.), Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsse\dorf 1974, S. 271 ff.; Schneider, Michael, Auf dem Weg in die Krise. Thesen und Materialien zum Ruhreisenstreit 1928/29, Entorf bei Harnburg 1974; Winkler, Heinrich August, Schein der Normalität, (wie Anm. 24), S. 557 ff. 29 Verwiesen sei dafür vor allem auf die betreffenden Passagen des Beitrags von Michael Schneider in: Tenfelde, Klaus 1Schönhoven, Klaus 1Schneider, MichaelI Peukert, Detlef J.K., Geschichte der deutschen Gewerkschaften von den Anfängen bis 1945, Köln 1987, S. 472 ff. sowie den Abschnitt "Die Durchsetzung der nationalsozialistischen Arbeitsverfassung", S. 452ff. in dem Part von Detlef J.K. Peukert. 30 Dazu u. a. schon Möller, Alex (Hrsg.), Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft und Art. 109 Grundgesetz. Kommentar, Hannover 21969. 31 Vgl. dazu Kittner, Michael (Hrsg.), Gewerkschaftsjahrbuch 1986, Köln 1986, S. 403 ff. und Gewerkschaftsjahrbuch 1987, Köln 1987, S. 360ff. 32 Die Zahlen der Arbeitslosen bis 1989 nach Statistisches Taschenbuch 1990, (wie Anm. 3), 2.10. Sie finden sich jeweils u. a. auch in den Statistischen Jahrbüchern für die Bundesrepublik Deutschland.

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nige schon die Sorge vor Weimarer Verhältnissen. Nach einigen Jahren hatten sich Bürger und Politiker mehrheitlich an die Arbeitslosigkeit gewöhnt und Weimar wirkte kaum mehr als mahnendes Argument. So wie die über 2 Millionen Arbeitslosen von 1983 bis zum Umbruchjahr 1989, so wurden die bald ca. 4 Millionen im vereinten Deutschland von großen Teilen von Politik und Gesellschaft fast wie ein unabänderliches Geschick hingenommen. Das schwere Los der Betroffenen, die soziale Brisanz und die Folgen für die Akzeptanz der demokratischen Ordnung wurden vielfach verdrängt. Erst der rapide Anstieg auf fast 5 Millionen im Januar 1997 schreckte die Bonner hoch 33 . Doch danach scheint schon wieder der Alltag eingekehrt zu sein. Dennoch läßt sich die heutige Arbeitslosigkeit kaum mit der Massenarbeitslosigkeit der 30er Jahre vergleichen. Die soziale Abfederung und die Maßnahmen zur Bekämpfung mögen unzulänglich sein, doch in Weimar waren die Folgen katastrophal- materiell wie mental. Das Desaster der 30er Jahre ging einher mit der Weltwirtschaftskrise, die nun schon seit den 70er Jahren andauernde heutige Arbeitslosigkeit ist vor allem strukturell bedingt. Gerade das sollte jedoch nicht beruhigen. Denn auch in Weimar gab es schon in den Jahren der "scheinbaren Normalität" eine hohe Sockelarbeitslosigkeit, die auf Rationalisierung, nicht ausgelastete Kapazitäten und demographische Faktoren zurückzuführen war. (1926 wurden 2 Millionen Arbeitslose gezählt; in den Jahren einer vergleichsweisen Konjunkturblüte 1927/28 lag sie im Jahresschnitt bei 1,4 Millionen)34. Die Sockelarbeitslosigkeit heute liegt schon seit Jahren ungleich höher, und in den neuen Ländern übersteigt sie jedes erträgliche Maß. Eine wirkliche Wende ist nicht in Sicht. Jede Arbeitslosigkeit trifft nicht nur die direkt Betroffenen und ihre Familien. Sie schwächt die Position der Arbeitnehmerschaft und der Gewerkschaften generell. Sie wirkt desintegrierend und entsolidarisierend. Sie treibt Keile in die Reihen der Arbeitnehmer und -sucher, die von der Arbeitgeberseite genutzt werden, und führt zu einer Segmentierung 35 . Schwäche und Einflußverlust der Gewerkschaften in der Bundesrepublik (wie früher in Weimar) hängen ursächlich damit zusammen. 33 Die Arbeitslosenzahlen für die Jahre 1990 bis 1995 im Statistischen Taschenbuch 1996, Arbeits- und Sozialstatistik, hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit- und Sozialordnung, Bonn 1996, 2.10, beziehen sich für 1990 nur auf das alte Bundesgebiet, ab 1991 auf das geeinte Deutschland. Für die Zeit danach vgl. die offiziellen Angaben der Nürnberger Bundesanstalt, wie sie monatlich veröffentlicht wurden. 34 Angaben über die Arbeitslosen wurden u. a. veröffentlicht in: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, hrsg. vom Statistischen Reichsamt, Jge. 40ff., 1919 ff.; eine Zusammenstellung mit quellenkritischen Anmerkungen bei: Lohr, Manfred unter Mitwirkung von Rothenbacher, Frank, Langfristige Entwicklungstendenzen der Arbeitslosigkeit in Deutschland, in: Wiegand, Erich/Zapf, Wolfgang (Hrsg.), Wandel der Lebensbedingungen in Deutschland, Frankfurt/M.-New York 1982, S. 237 - 333. 35 Vgl. dazu insbesondere Homburg, Heidrun, Vom Arbeitslosen zum Zwangsarbeiter. Arbeitslosenpolitik und Fraktionierung der Arbeiterschaft in Deutschland 1930-1933 am Beispiel der Wohlfahrtserwerbslosen und der kommunalen Wohlfahrtshilfe, in: Archiv für Sozialgeschichte 25 (1985), S. 251 - 298.

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Weitere externe Faktoren kamen hinzu - wie 1982 die "Wende" in Bonn, aber auch interne wie die Krise und der Skandal um die "Neue Heimat", die fast sämtliche gemeinwirtschaftliche Unternehmen mit in den Strudel rissen und das Ansehen der Gewerkschaften nachhaltig diskreditierten 36 . Der Substanzverlust der Gewerkschaften wiegt um ~o schwerer, als die Bundesrepublik sich über Jahrzehnte im Wohlstand sonnte, die Arbeitslosigkeit scheinbar ohne Turbulenzen verkraftete und selbst die Einheit sie in ihrer Normalität kaum nachhaltig aufstörte. Die Bundesrepublik blieb, verglichen mit Weimar, bisher von gravierenden Krisen verschont. Aber selbst schon kleinere konjunkturelle Dellen (nach Mitte der 60er, Mitte der 70er und Anfang der 80er Jahre)37 wurden als problematisch empfunden und beeinträchtigten die gewerkschaftlichen Erfolgsaussichten. Die Weimarer Republik aber wurde in den nur 13 Jahren ihres Bestehens von zwei wirklich verheerenden Krisen getroffen: die bekannte der 30er Jahre und das zumeist vergessene Desaster im Zuge der Hyperinflation und des Ruhrkampfes. Am Ende des Jahres 1923 sackte die Industrieproduktion auf etwa 2/5 des letzten Vorkriegsjahres ab und ca. 4 Millionen waren völlig oder überwiegend arbeitslos 38 . Von diesen ökonomisch-sozialen Verheerungen hatte sich Weimar gerade eben erholt und sich Ende der 20er Jahre auf das Friedensniveau von 1913 hochgearbeitet, als dann mit der Weltwirtschaftskrise der nächste Schlag erfolgte, über 6 Millionen auf der Straße standen, die Wirtschaft am Boden lag und die Republik zugrunde ging. Schon in der Inflationskrise erhielten die Gewerkschaften einen entscheidenden Stoß: ihre finanziellen Ressourcen wurden vernichtet, die Mitglieder liefen in Scharen davon, die Demontage sozialer Errungenschaften begann und die 1918 mit der Zentralarbeitsgemeinschaft kodifizierte Kooperation der Sozialpartner und -kontrahenten zerbrach 39 . Von diesen Schlägen hat sich die Gewerkschaftsbewegung auch in der kurzen Aufschwungphase in der zweiten Hälfte der 20er Jahre nicht mehr richtig erholt. Der Fortschrittsoptimismus war dahin, das Vertrauen zur Bewältigung schwieriger Konflikte aus eigener Kraft getrübt und die Vorstellung von einem Gleichgewicht der Klassenkräfte als Trugbild entlarvt. In ihrer Not klammerten sie sich an den rettenden Nothelfer Staat und gerieten damit auf eine abschüssige Bahn40 . 36

37

67.

Knapp, aber konzis bringt Michael Schneider, (wie Anm. 4), S. 359 dies auf den Punkt. Beispielhaft dafür sind die Reaktionen auf die ersten konjunkturellen Einbrüche 19661

38 Zum Zusammenhang siehe vor allem Cipolla, Curt 1Borchardt, Knut, Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. V, Stuttgart 1980, S. 47 -60; Borchardt, Knut, Wachstum und Wechsellagen, in: Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1976, S. 685 ff.; Petzina, Dietmar, Die deutsche Wirtschaft in der Zwischenkriegszeit, Wiesbaden 1977. Die jeweils hier und in anderen Werken genannten Zahlen weichen zum Teil absolut, aber im Trend kaum voneinander ab. 39 Der Beschluß zum Austritt, den der Bundesausschuß des ADGB am 16. Januar 1924 faßte, bestätigte nur den bereits vollzogenen Bruch. Obwohl Christliche und Hirsch-Dunckersche Gewerkschaften die ZAG nicht aufgekündigten, war sie damit faktisch beendet.

24 FS Kolb

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In der Wirtschafts- und Staatskrise der 30er Jahre reduzierten sich gewerkschaftliche Macht und Möglichkeiten fast auf ein Minimum. Durchhalteparolen, WTBPlan41 und Zeugnisse von Kampfbereitschaft vermittehi ein falsches Bild. Tatsächlich dominierte von der Basis bis zur Führung Niedergeschlagenheit und Lähmung. Unter den Präsidialkabinetten wurden die Gewerkschaften in ein System staatlicher Zwänge eingebunden, vom nationalsozialistisch-konservativen Block mit seiner Massenwirkung in die Ecke gedrängt und durch Segmentierung und Fraktionierung ausgezehrt. Sie besaßen kaum noch Handlungsspielräume und hofften darauf, durch einen Kurs des Durchlavierens das Desaster zu überstehen. Die Fundamentalkrisen in Weimar schließen eigentlich jeden Vergleich mit der Bundesrepublik aus. Aber sie sind ein warnender Hinweis, daß "SchönwetterOrganisationen", die bei guter Konjunktur Erfolge erreicht haben, auf einschneidende Krisen kaum vorbereitet sind. Gewerkschaften und Gesellschaft der alten Bundesrepublik hatten sich an Zustände gewöhnt, in denen Wachstum und Wohlstand als Selbstverständlichkeit galten. Arbeitslosigkeit und deutsche Einheit wurden die ersten richtigen Herausforderungen für eine sich oft selbstgenügende bundesrepublikanische Normalität, die nun im Zeichen von Globalisierung, Maastricht-Kriterien und leerer Kassen unter erheblichen Druck gerät. Ob die Gewerkschaften gegen schwerste ökonomisch-soziale Krisenlagen heute besser gewappnet sind oder ob sie dabei Schiffbruch erleiden, ist eine offene Frage. Die Nagelprobe bleibt ihnen hoffentlich erspart. Nur starke, eigenständige und eigenverantwortliche Gewerkschaften haben eine Chance als gesellschaftlich verantwortlich mitgestaltende Kraft. Jede innere und äußere Schwächung in Zeiten einer Normalität oder Scheinnormalität reduziert ihre Möglichkeiten, sich in einer wirklichen Krise zu bewähren. IV. Überforderung der Wirtschaft oder des sozialen Konsenses? Die Debatte um den Standort Deutschland, Dauerklagen über zu hohe Lohnund Lohnnebenkosten und unverhohlene Tendenzen nicht nur zu einem Umbau, sondern einem Abbau des Sozialstaates beherrschen seit Jahren die Schlagzeilen. Als Argument für die sozialen Einschnitte diente zumeist der drohende Verlust 40 Der Vorsitzende des Fabrikarbeiterverbandes August Brey fonnulierte auf einer Bundesausschußsitzung 1923 den bezeichnenden Satz: "Wir müssen als Nutzanwendung die Autorität des Staates stärken, um ihn in den Stand zu setzen, den Untemehmerorganisationen und ihren Maßnahmen begegnen zu können", Ausschuß des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, 2. Geschäftsperiode, Protokoll vorn 4./5. Juli 1923, S. 8. 41 WTB nach den Initialen der drei Hauptakteure Wladirnir Woytinsky, Fritz Tarnow und Fritz Baade. Zum Kontext Schneider, Michael, Das Arbeitsbeschaffungsprogramm des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Zur gewerkschaftlichen Politik in der Endphase der Weimarer Republik, Bonn 1975; Zollitsch, Wolfgang, Einzelgewerkschaften und Arbeitsbeschaffung. Zum Handlungsspielraum der Arbeiterbewegung in der Spätphase der Republik, GG 8 (1982), S. 87 - 115.

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internationaler Wettbewerbsfähigkeit, zunächst vor allem mit Blick auf Japan und Südostasien, später mehr generalisiert. Eine ähnliche Debatte wurde schon um die Wende von den 70er zu den 80er Jahren geführt, als sich in Bonn die sog. politische "Wende" anbahnte und vollzog, damals allerdings vorrangig in Form eines historischen Rekurses auf Weimar. Ausgelöst wurde sie durch Thesen des Wirtschaftshistorikers Knut Borchardt über "Wirtschaftliche Ursachen des Scheiterns der Weimarer Republik,,42. Borchardt und seine Apologeten konstatierten schon vor der Weltwirtschaftskrise eine internationale Konkurrenzunfähigkeit und Wirtschaftsmisere in Deutschland, für die sie zu hohe Löhne bei zu niedriger Arbeitsproduktivität verantwortlich machten. Sie rechtfertigten in diesem Punkt die Klagen von Unternehmern über ruinöse Löhne und Soziallasten (auch im Blick auf die Bundesrepublik) und orteten den Grund für den ökonomisch-sozialen Niedergang der Weimarer Republik letztlich bei den Gewerkschaften und einem ihnen gegenüber zu nachgiebigen Staat43 . Nun ist es richtig, daß statistisch gesehen der Anteil der Einkommen aus Unternehmertätigkeit in Weimar sank und deIjenige der abhängig Beschäftigen wuchs. Dies resultierte aber zu einem erheblichen Teil aus dem Wandel in der Berufswelt (Rückgang der Zahl der Selbständigen; Anstieg der Zahl der Beamten und Angestellten), der Ausweitung des tertiären Sektors und der Krise im Agrarsektor44 . Doch obwohl in der Bundesrepublik unter der Regierung Kohl die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen kräftig zulegten, ihre Nettoquoten in der Geschichte der Bundesrepublik einmalige Höchststände erreichten 45 und die Arbeitsproduktivität stetig wuchs46 , sind fast die gleichen Klagen über die Überforderung der Wirtschaft zu vernehmen wie in der Weimarer Zeit. Offenkundig geht es eben nicht nur um objektive ökonomische Fakten und Faktoren, sondern auch um durchaus eigennützige finanzielle und machtpolitische Interessen. Diese spielten in Weimar, in einer für die Unternehmer sicherlich ungünstigeren Markt- und Absatzlage, unzweideutig mit hinein. Nichts dokumentiert dies so sehr wie die Tatsache, daß bis in die 30er Jahre hinein hohe übertarifliche Zuschläge 42 So lautete das Thema des Beitrags von Knut Borchardt in: Weimar, (wie Anm. 9), S. 211 - 250. Präsentiert hatte er seine Thesen zuvor schon unter dem Titel: Zwangslagen und Handlungsspielräume in der großen Wirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre: Zur Revision des überlieferten Geschichtsbildes, in: Bayerische Akademie der Wissenschaften, Jahrbuch 1979, München 1979. In der dadurch ausgelösten sog. Borchardt-Kontroverse äußerten sich zahlreiche Forscher. Die betreffenden Beiträge können hier aus Platzgründen nicht alle genannt werden. 43 Exemplarisch für die damalige Kritik von Unternehmern ist die Denkschrift des Präsidiums des Reichsverbandes der Deutschen Industrie: Aufstieg oder Niedergang? Deutsche Wirtschafts- und Finanzreform, Berlin 1929. 44 Dazu detailliert Potthoff, Heinrich, (wie Anm. 7), S. 133 - 151. 45 Siehe Statistisches Taschenbuch 1990, 1.10 und 1996, 1.10. 46 Berechnet sowohl nach der Erwerbstätigenstunde wie nach der Produktivität je Erwerbstätigem, vgl. ebd., 1.7. 24*

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gezahlt wurden und dies gerade in Branchen wie der kränkelnden Eisen- und Stahlindustrie47 . Zumindest Teilen der Unternehmerschaft, besonders der Schwerindustrie, ging es um mehr: die Rückgewinnung der privaten Verfügungsgewalt, die Ausbootung der Gewerkschaften und die Aushebelung der demokratischen Ordnung in ihrer Sozialstaatsfunktion. Die Ursachen für die Probleme der Wirtschaft lagen nicht einer zu starken Marktrnacht der Gewerkschaften und einem ihnen zu willfährigen Staat. Die hohen Lohnquoten waren nicht die Krankheit der Wirtschaft, so wenig wie in manchen Betrieben und Branchen der neuen Länder. Sie waren Symptome einer schlechten Wirtschafts- und Auftragslage und einer ungünstigen Konjunktur. Die Wirtschaft krankte an hemmenden Handelsbarrieren, einem hohen Zinsniveau, unzulänglichem Eigenkapital und hoher Verschuldung, fehlgeleiteten Produktionskapazitäten und Leistungsbilanzdefiziten48. Die Funktion des alten Mittelstandes als Geld- und Kapitalgeber ging mit der Inflation verloren, ohne daß sie der neue unselbständige Mittelstand und die Arbeiterschaft zu ersetzen vermochten. Eine Umlenkung von Arbeitnehmereinkünften vom Konsum zur Bildung von investiven Kapital ist nicht gelungen und war auch angesichts der geringen, noch durch Sozialabgaben geschmälerten Einkünfte schwer möglich. Selbst wenn das Problembewußtsein der Gewerkschaften dafür stärker ausgebildet gewesen wäre, als es nach ihren Kenntnissen und Erfahrungen war, hätte ein solche Umlenkung vom Konsum zur investiven Kapitalbildung ihre Handlungsmöglichkeiten überfordert. Wege dazu hätten sich nur durch eine große gemeinschaftliche Anstrengung von Staat, Kapital und Arbeit, bei dem dem demokratischen Staat die Schlüsselrolle zufiel, finden lassen. Unter den politischen und sozialen Bedingungen der Weimarer Republik gab es dazu kaum eine realistische Chance. In der alten Bundesrepublik wurden andere Wege eingeschlagen. Insofern wurde aus Weimar gelernt, doch in einer Art, die zunächst Kapital und Vermögen zugute kam. In der ersten Aufbauphase wurde die Expansion der Wirtschaft durch die steuerliche und finanzielle Begünstigung von Unternehmensinvestitionen durch den Staat und den Lohnverzicht der Arbeitnehmerschaft gefördert. Entsprechend rapide und weit stärker als das Bruttosozialprodukt wuchsen in den 50er Jahre die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen (von 1950 bis 1955 netto um 20,9 %, 1955 - 1960 um 13,0 %; zum Vergleich BSP plus 11,8 % bzw. 8,8 %)49. 47 Die Forschung hat sich zumeist nur mit den tariflichen Löhnen befaßt. Durch Erhebungen des Statistischen Reichsamtes seit September 1927 wurden jedoch auch die tatsächlich gezahlten Löhne erfaßt, die oft er.heblich von den Tariflöhnen abwichen. Die Ergebnisse wurden in Wirtschaft und Statistik, hrsg. vom Statischen Reichsamt, veröffentlicht, und zusammenfassend präsentiert in der jur. Diss. von Dora Straube, Die Veränderungen von Lohn und Preis nach der Stabilisierung in Deutschland, Jena 1935. 48 Vgl. Potthoff, Heinrich, (wie Anm. 7), S. 150 f. 49 Siehe Statistisches Taschenbuch 1990, 1.1 und 1.1 O.

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Zwar legten im Jahrzehnt von 1955 -1965 auch die Löhne kräftig zu, doch sprengten sie fast nie den vom Wachstum der Produktivität markierten Rahmen 5o . Weder über den Lohn noch durch die Ausgabe von "Volksaktien" und das 312-MarkGesetz von 1961 (1971 auf 624 Mark erhöht) wurde eine Änderung der Verteilung des Produktivvermögen bewirkt. Die in den Anfangsjahren der alten Bundesrepublik festgeschriebene Quotierung blieb zementiert. Selbst in den Jahren der sozial-liberalen Koalition hat sich an den Grundstrukturen der Vermögensverteilung kaum etwas geändert. Im wesentlichen wurden nur die Zuwächse über eine expansivere Lohnpolitik, höhere Renten und Sozialleistungen anders verteilt. Ab 1983 öffnete sich die Schere drastisch zugunsten der Einkommen aus Unternehmenstätigkeit und Vermögen, die bis 1989 jährlich um das zwei- bis dreifache stärker wuchsen als Einkommen aus unselbständiger Arbeit51 . Die Förderung und Finanzierung des Aufbaus in den neuen Ländern, so richtig und notwendig sie ist, hat diese Umverteilungseffekte nur noch bestärkt. Im Ergebnis ist sie eine Privilegierung der reichen Geld- und Vermögen besitzenden Schichten aus der alten Bundesrepublik durch hohe steuerliche Sonderabschreibungen nicht nur für Investitionen in Betrieben und Produktion, sondern für Luxusimmobilien, also eine Art Ausverkauf des Osten an die Reichen im Westen, Reduzierung der steuerpflichtigen Einkommen und dazu eine Art Duldung von Steuerflucht. Auf der anderen Seite stehen die Heranziehung auch der niedrigen Einkommen zu dem Solidarzuschlag, die Aufbürdung von eigentlich aus allgemeinen Steuermitteln zu erbringenden Milliardenlasten auf die Rentenversicherung 52 und die Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit53 und der Zugriff bei Abgaben, Gebühren und indirekten Steuern. Das Schwet1 der gewerkschaftlichen Lohn- und Tarifpolitik wirkt dagegen stumpf. Durch offene Handelswege und freien Kapitalverkehr sind ihr die Hände heute sichtlich gebunden. Die Angebotstheorie hat, so scheint es, der Kaufkrafttheorie den Rang abgelaufen, mit der die Gewerkschaften in Weimar noch agitieren konnten, und das, obwohl die Binnenkonjunktur lahmt, es also offenkundig an Nachfrage und Kaufkraft fehlt. Nur über Löhne und Arbeitszeit läßt sich von den Gewerkschaften zu wenig bewirken. Es ist der Staat und das von ihm zu verantwortende Finanzierungssystem sozialer Leistungen, der den Faktor Arbeit zu sehr belastet. Gewerkschaften und Sozialdemokratie begaben sich in die Defensive, als So das Urteil von Schneider, Michael, (wie Anm. 4), S. 277. Statistisches Taschenbuch 1990, 1.10 und 1.12 und 1996, 1.10. und 1.12. 52 So betrug der Anteil der "Fremdleistungen" an den Rentenausgaben im Jahr 1993 ca. 32 %, also weit mehr als der Bundeszuschuß von 20 % der Rentenausgaben. 53 Für aktive Arbeitsmarktpolitik sah die Bundesanstalt für Arbeit 1995 DM 55,9 Mrd. vor; der Bundeszuschuß für die Bundesanstalt betrug nur DM 19,8 Mrd. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung hat diese Effekte in Studien gut dokumentiert. Vgl. Lang, Oliver, Steuervermeidung und -hinterziehung bei der Einkommenssteuer: Eine Schätzung von Ausmaß und Gründen, in: Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, ZEW Newsletter, Nr. 1, April 1993. 50 51

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sie sich von vorgeblichen Spitzensteuersätzen ins Bockshorn jagen ließen; die tatsächliche Steuerbelastungskurve, berücksichtigt man Abschreibungen, indirekte Steuern, Abgaben und Gebühren, sieht anders aus und offenbart, wie dringlich eigentlich mehr Offenheit und Gerechtigkeit beim Steuersystem ist. Die Strategie der Gewerkschaften müßte wohl wieder umfassender und das heißt politischer angelegt sein. Die ungerechte Einkommensverteilung und -belastung, zu verantworten von einer selbstgerechten Regierung, bei der Besserverdienende und ihre Freunde überproportionalen Einfluß haben, ist ein Kernproblem und ein gesellschaftspolitischer Skandal. Sie birgt einen sozialen Sprengsatz, der hinter der Fassade von Schönfarbereien verborgen wird, und auf den die Gewerkschaften stetig den Finger zu zeigen hätten. Vielleicht hilft der Rückblick auf die Weimarer Republik, die mit an den Verteilungskonflikten und den von der demokratischen Republik Enttäuschten scheiterte, wenigstens dabei mit, den Blick etwas zu schärfen. Eine Umkehr zu einer Politik annähernder sozialer Gerechtigkeit scheint dringend geboten, wenn nicht die Akzeptanz der Berliner Republik Schaden nehmen soll. Diese noch einem Konrad Adenauer bewußte Lehre von Weimar droht unter der Kanzlerschaft seines Enkels allmählich in Vergessenheit zu geraten. Der sozialpartnerschaftliche Konsens von Arbeit, Kapital und demokratischen Staat, der zum Markenzeichen für die Bundesrepublik wurde, scheint heute ernsthaft gefährdet.

v. Stütze der Demokratie -

Bekenntnis und Wirklichkeit

In der Weimarer Republik wie in der Bundesrepublik galten die Gewerkschaften als eine Stütze der Demokratie, als Wachter der freiheitlichen Verfassung und als Triebkraft für eine soziale Fundierung der Demokratie. Im eigenen Selbstverständnis war es vor allem der Generalstreik 1920 beim Kapp-Putsch, der den Ruf als machtvolle Schutz- und Trutzmacht der parlamentarischen Demokratie begründete54 . Nach 1945 prägten vorrangig die Rolle der Gewerkschaften bei der Grundlegung und Festigung der jungen Demokratie und der fast vergessene Kampf gegen eine Notstandsverfassung in den 60er Jahren das Bild55 . Solche positiv besetzten Traditionen haben für die eigene Selbstvergewisserung wie für die Außenerscheinung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Doch bei nüchterner Betrachtung sind auch gewisse legendenhafte Züge dabei nicht zu übersehen. Die gleichen Gewerkschaften, die sich 1920 für die Weimarer Republik in die Schanze warfen, standen der Zerstörung dieser Republik in den 30er Jahren eher hilflos gegenüber. Die 1979 auf einem großen historisch-politischen Kongreß (anläßlich der DGBS4 Vgl. besonders Potthoff, Heinrich, Gewerkschaften und Politik zwischen Revolution und Inflation, Düsseldorf 1979, Abschnitt: "Der Kapp-Putsch und seine Nachwehen". ss Ausführlich dazu Schneider, Michael, Demokratie in Gefahr? Der Konflikt um die Notstandsgesetze. Sozialdemokratie, Gewerkschaften und intellektueller Protest (1958 - 1968), Bonn 1986.

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Gründung 1949) gestellte Frage, "Hätten die Gewerkschaften die Weimarer Republik retten können,,56, führt auf einen Holzweg. Das Verhältnis von Gewerkschaften und parlamentarischer Demokratie, so wie es sich in der Weimarer Verfassung und dem Bonner Grundgesetz manifestierte, ist keine Einbahnstraße. Die Verantwortung der Gewerkschaften für die freiheitlichesoziale Demokratie und die Bestandsgarantie des demokratischen Staates für freie Gewerkschaften als legitime Vertreter der Arbeit und eigenständige Gestaltungsfaktoren des gesellschaftlichen Lebens sind miteinander verwoben. In der Phase der Entstehung und Grundlegung beider Demokratien stellten die Gewerkschaften jeweils einen besonders gewichtigen Faktor dar. Für diese spezifische Rolle zogen sie ihre Nahrung aus dem Vertrauen auf eigene Kraft, aus einer - faktischen oder vermeintlichen - Schwächung der Unternehmermacht, und aus den erweiterten Aufgaben und der gesteigerten Verantwortung in einer Umbruchzeit, die ihnen durch den Zusammenbruch des Bismarckstaates 1918 und die Niederwerfung und Zerschlagung des NS-Systems 1945 zufielen. Als gesellschaftlich-politische Macht, die sich für den Bestand des demokratischen Staates verantwortlich fühlte, sich für ihn 1920 beim Kapp-Lüttwitz-Putsch in die Schanze warf und 1922 bei der Republikschutzkampagne 57 erneut tatkräftig engagierte, bildeten die Gewerkschaften einen tragenden Pfeiler der Weimarer Republik. Auf ihrem ersten Nachkriegskongreß hatten sich die "Freien" 1919 (in Nürnberg) dazu bekannt, "daß die Gewerkschaften mit dem Parlamentarismus, mit der Demokratie stehen und fallen,,58. Darin steckte eine Wahrheit, die 1919 so niemand vorhersah. Neben dem Bekennen ging es mehr noch um die Bereitschaft und Fähigkeit, sich aktiv für den Bestand der Republik einzusetzen. Gegenüber der Rätebewegung von links und putschistischen Anschlägen von rechts stellten die "Freien" dies in den Anfangsjahren der Weimarer Republik unter Beweis. Aber damals standen die Gewerkschaften im Zenit einer sich ihrer Stärke bewußten Bewegung, die in der Umbruchphase in eine herausgehobene eigenständige politische Rolle hineingewachsen war und sich bereitwillig die Last staatspolitischer Verantwortung für die demokratische Republik auf die Schultern lud. Selbst zu dieser Zeit war "Weimar" weder ein Gewerkschaftsstaat, noch etablierte sich eine "gewerkschaftliche Nebenregierung,,59. Doch diese Attacken waren erste Warnsignale. Der machtvolle, kurzfristig erfolgreiche Generalstreik erwies sich mit Blick auf die Folgen als Pyrrhussieg. Der blutige Bürgerkrieg weckte nachhaltige Ängste, die politischen Potentiale wurden polarisiert, die demokratische Mitte schrumpfte zusammen und die Kräfte wurden gestärkt, die auf eine 56 So lautete der Untertitel einer Arbeitsgruppe "Stabilisierung, Krise, Diktatur". Die Debatten sind abgedruckt in: Vetter, Heinz Oskar, (wie Anm. 12), S. 139 - 208. 5? Vgl. Potthoff, Heinrich, (wie Anm. 54), S. 306ff. 58 Protokoll der Verhandlungen des 10. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands zu Nürnberg vom 30. Juni bis 5. Juli 1919, Berlin 1919, S. 494. 59 Vgl. zusammenfassend Potthoff, Heinrich, (wie Anm. 7), S. 296.

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Zurückdrängung der bei der Abwehr des Putsches aktiven Organisationen und Gruppen zielten. Die langfristige Wirkung war eher eine Destabilisierung statt der erstrebten Stabilisierung des politischen und ökonomischen Systems. Die suggestive Beschwörung des Generalstreik-Mythos förderte Selbsttäuschungen und Fehleinschätzungen; er lud den Gewerkschaften etwas auf, das sie überforderte und in einem Gegensatz zu dem Realismus der Praxis stand. Die schweren Substanzverluste der Inflationsperiode haben die Gewerkschaften auch als Stütze der demokratischen Republik nachhaltig geschwächt. "Jeder von uns weiß", so skizzierte Fritz Tarnow 1925 die Lage, "daß im Seelenleben der deutschen Arbeiterbewegung etwas zerbrochen ist,,60. In den kurzen sogenannten "goldenen" Jahren, die wohl bestenfalls bronzene waren, konnte dieser Bruch nicht gekittet werden. Den eigenen Anspruch, "mitverantwortlicher Träger des demokratisch-republikanischen Staates" zu sein (so der ADGB 1925)61, konnten die Gewerkschaften nicht mehr ausfüllen. Gewerkschaftliches Handeln verengte sich weitgehend auf lohn- und sozialpolitische Interessenwahrnehmung. Sie gewöhnten sich an einen Staatsinterventionismus selbst auf dem ureigensten Terrain der Tarifpolitik. Durch die soziale- und wirtschaftliche Katastrophe im Zuge der Weltwirtschaftskrise gerieten sie nur noch stärker in die Abhängigkeit vom Staat. Gerade weil die soziale Komponente so dominierte und sich die für die Gewerkschaften relevanten Entscheidungsprozesse nun bei autoritären Präsidialkabinetten konzentrierten, drifteten sie auf eine abschüssige Bahn, in der die Identifikation mit der parlamentarischen Demokratie denaturierte und sie zumindest partiell in den Sog nationalautoritärer Strömungen gerieten. Durch Kampagnen gegen den "Gewerkschaftsstaat" bedrängt, durch Kommunisten und Bürgerkriegsängste verunsichert, durch die großen Krisen innerlich und äußerlich entscheidend geschwächt und gebrochen und in einer zu weitgehenden Abhängigkeit vom Staat schlitterten sie auf den Kurs, der in Anpassung und selbst Anbiederung mündete und sie doch nicht vor der Zerschlagung bewahrte. Durch die schleichende Entmachtung und Auszehrung der Gewerkschaften verlor die Demokratie von Weimar eine Stütze, die in ihrer letzten kritischen Phase nicht mehr trug. Die Etappen dieses Prozesses waren gleichzeitig Stationen auf dem Weg zum Grab der ersten deutschen Republik. Die Situation in der Bundesrepublik ist damit gewiß nicht vergleichbar. Dennoch gibt es einige Momente, die Anlaß zum Nachdenken geben. Auch in der Entstehungsphase der Bundesrepublik haben die Gewerkschaften eine deutlich gewichtigere Rolle für den Aufbau und die Unterfütterung der Demokratie gespielt. 60 Protokolle der Verhandlungen des 12. Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands (2. Bundestag des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes), abgehalten in Breslau vom 31. August bis 4. September 1925, Berlin 1925, S. 231. 61 Jahrbuch 1925 des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, Berlin 1926, S. 47.

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"Die Erfahrungen der Jahre 1918 bis 1933 haben gelehrt", so lautete ein Credo auf dem Gründungskongreß des DGB 1949, "daß die formale politische Demokratie nicht ausreicht, eine echte demokratische Gesellschaftsordnung zu verwirklichen. Die Demokratisierung des politischen Lebens muß deshalb durch die Demokratisierung der Wirtschaft ergänzt werden,,62. Die Montanmitbestimmung von 1951 bedeutete für die Kontrolle der Industrien, die in Weimar die antigewerkschaftliche und antiparlamentarische Fronde aus der Wirtschaft anführten, einen wichtigen Schritt. Danach aber hielten sich die Erfolge in Grenzen (Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes 1971 und Mitbestimmungsgesetz 1976, beide unter der sozial-liberalen Koalition)63. Von einer Ausweitung der Wirtschaftsdemokratie war praktisch nicht mehr die Rede; eher zeigten sich Tendenzen zur Eingrenzung, und selbst die Diskussion um mehr Partizipation versandete weitgehend. Die Westorientierung und Westintegration der frühen Bundesrepublik haben die Gewerkschaften nicht nur mitgetragen, was zu manchen Konflikten mit der SPD Kurt Schumachers führte, sondern sie aktiv gefördert. Die Entscheidung für den Westen war eine gegen den Kommunismus, aber nicht einfach für den Kapitalismus. Sie war vor allem eine Entscheidung für die Freiheit, für die Autonomie der Gewerkschaften, für die Demokratie, für die Wahrung der Menschenrechte und für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse in Verbindung mit politischer Freiheit. Trotz des anzuerkennenden Engagements von Einzelnen war das Profil der Gewerkschaften in diesem Punkt später nicht immer so deutlich und scharf, wie man es sich mit Blick auf den Osten Deutschlands und Europas vor 1989 hätte wünschen mögen. Mit Blick auf rechts haben die Gewerkschaften ihre Wächterfunktion in der Bundesrepublik stets erfüllt und für Frieden und Entspannung, Verständigung mit Israel und den östlichen Nachbarn mehr geleistet, als man ihnen eigentlich abfordern konnte. Im Innern profilierten sich besonders Gewerkschafter wie Otto Brenner64, Ludwig Rosenberg 65 u. a. als Fürsprecher von Liberalität und offener Demokratie. Mit der Kampagne gegen die Notstandsgesetze, bei der eigene Interessen und das Weimarer Trauma sich vermengten, gerieten die Gewerkschaften an einen kritischen Punkt. Sie hatten große Verdienste an einer liberaleren Gestaltung der Notstandsverfassung und trugen zu einer Einbindung außerparlamentarischen Strömungen bei. Aber partiell gerieten einzelne Sektionen in den 60er und 70er Jahren auch in die Gefahr, für nicht-gewerkschaftliche politische Zwecke instrumentalisiert zu werden. 62 Protokoll Gründungskongreß des Deutschen Gewerkschaftsbundes für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, München 12./13. und 14. Oktober 1949, Düsseldorf 1950, S.318-326. 63 Dazu besonders: Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), Mitbestimmung, Bonn 1979, S. 83 ff. 64 Otto Brenner, seit 1952 neben H. Brümmer gleichberechtigter, von 1956 bis 1972 alleiniger Vorsitzender der IG Metall, der größten Einzelgewerkschaft der Welt. 65 Ludwig Rosenberg, von 1962 bis 1969 Vorsitzender des DGB.

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Die Politisierung ist geschwunden, die Konstellationen haben sich verändert, die Bereitschaft und Fähigkeit zu solchen politischem Engagements sind nicht mehr in gleicher Weise vorhanden, ein Rückzug auf die engeren Aufgabenfelder ist nicht zu übersehen. Für Gewerkschaften, die sich nur als "Trade Unions" verstehen, wäre das so etwas wie ,,Normalität". Für die deutschen Gewerkschaften, die sich mehrheitlich in ihrer Geschichte stets auch als Emanzipations- und Demokratiebewegung verstanden, gleicht dies einem Verlust an Tradition und Substanz. Auf lange Sicht gesehen haben die Gewerkschaften trotz Anfang der 70er Jahre wieder aufkeimender Erwartungen und tatsächlich erreichter Erfolge einen schleichenden EinfIuß- und Substanzverlust erlitten, der mit der Wende zu den 80er Jahren gravierende Ausmaße annahm. Dieser kommt bestimmten politischen wie wirtschaftlichen Kräftegruppen durchaus gelegen, bzw. wird von ihnen mehr oder weniger offen gefördert und betrieben. Damit wird jedoch nicht nur ein Grundprinzip unserer sozialen Verfassung, ein einigermaßen austariertes Gleichgewicht autonomer Tarifparteien, ausgehöhlt, sondern in letzter Konsequenz auch eine Stütze der demokratisch-pluralistischen Ordnung tangiert. Für eine gefestigte Demokratie scheint das zunächst ohne unmittelbare Folgen. Aber ob dies die ,,Normalität" für die Berliner Republik sein kann und darf, daran gibt es im Blick auf Weimar doch Zweifel. Nur starke, gefestigte und der Demokratie verpflichtete Gewerkschaften können eine wirkliche Säule und Schutzmacht der freiheitlich-sozialen Demokratie sein. Dies ist nicht nur eine Lehre von Weimar, sondern eine Wahrnehmung aus vielen Ländern dieser Welt, die auf dem schwierigen Weg zu einer demokratischpluralistischen und sozial verträglichen Ordnung sind.

Entscheidung für die Große Koalition Die Sozialdemokratie in der Regierungskrise im Spätherbst 1966

Klaus Schönhoven

Am 1. Dezember 1966 wurde der baden-württembergische Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger mit 340 Stimmen zum Bundeskanzler gewählt. Das erforderliche Quorum von 249 Stimmen hatte der Nachfolger Ludwig Erhards damit deutlich übertroffen, aber dennoch war sein Ergebnis alles andere als glanzvoll, verfügte doch das Regierungsbündnis aus CDU / CSU und SPD im Bundestag über 447 Mandate. Der neue Kanzler und die neue Koalition stießen ganz offensichtlich in den eigenen Reihen auf erhebliche Reserven. Namentlich die SPDSpitze sah sich "mit viel Skepsis oder auch mit offener Ablehnung" konfrontiert!. Dieses Eingeständnis des SPD-Vorsitzenden Willy Brandt verdeutlichte, wie schwer es seiner Partei gefallen war, in die Große Koalition mit der CDU / CSU einzuwilligen. Kritische Einwände gegen diese ungewöhnliche Allianz kamen aus Ortsvereinen, Unterbezirken und Bezirken der SPD; die Jungsozialisten formulierten Protestresolutionen, der Sozialdemokratische Hochschulbund veranstaltete zusammen mit anderen linken Studentenverbänden Kundgebungen und organisierte Unterschriftenaktionen gegen das schwarz-rote Regierungskarte1l. Aber auch in der Bundestagsfraktion und im Parteirat der SPD, die erst nach kontrovers verlaufenden Marathonsitzungen den Kurs der Parteiführung billigten2, war die Skepsis groß. Während der seit Sommer 1966 schwelenden Regierungskrise 3 , deren dramatische Schlußphase mit dem Rücktritt der FDP-Minister am 27. Oktober 1966 be1 So Willy Brandt auf einer Konferenz der SPD am 17. und 18. Dezember 1966 in Bad Godesberg: Protokoll, o. 0., o. J., S. 6. 2 Die Bundestagsfraktion stimmte nach einer zehnstündigen Nachtsitzung am 27./28. November 1966 der Koalition zu. Das Sitzungsprotokoll ist abgedruckt in: Potthoff, Heinrich (Bearb.), Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1961-1966, Düsseldorf 1993, S. 1029-1070. Der Parteirat entschied sich am 28. November 1966 mit 73 zu 19 Stimmen für die Große Koalition. Siehe dazu das masch. Sitzungsprotokoll im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) Bonn, SPD-PV, Box 26. 3 Vorgeschichte und Verlauf der Krise des Kabinetts Erhard schildern ausführlich: Hildebrand, Klaus, Von Erhard zur Großen Koalition 1963 - 1969, Stuttgart-Wiesbaden 1984, S. 202ff.; Hentschel, Volker, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München/Landsberg am Lech 1996, S. 622ff.; Knorr, Heribert, Der parlamentarische Entscheidungsprozeß während

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gann und einen Monat lang andauerte, zog Herbert Wehner für die SPD in Bonn die Fäden. Er führte anstelle des schwer erkrankten Fraktionsvorsitzenden Erler die sozialdemokratische Bundestagsfraktion und nutzte die Gunst der Stunde mit der ihm eigenen Zähigkeit und Zielstrebigkeit aus, um das von ihm schon jahrelang angestrebte Bündnis der beiden Volksparteien zu verwirklichen. Der Parteivorsitzende Brandt gehörte dem Bundestag nicht an und konnte als Regierender Bürgermeister von Berlin nicht jederzeit auf der Bonner Bühne präsent sein. Seine Versuche, während der Agonie von Erhards Kabinett selbst die Regie in der SPD zu übernehmen, kanalisierte und konterkarierte Wehner immer wieder geschickt, wobei er in Helmut Schmidt einen Bundesgenossen fand, dessen Kompaßnadel ebenfalls eindeutig in Richtung Große Koalition ausgerichtet war. Dies macht eine Analyse der Koalitionsbildung deutlich, die im November 1966 mehrere Stadien durchlief. In den fünf Wochen zwischen dem Rücktritt der FDP-Minister und der Wahl Kiesingers zum neuen Bundeskanzler gestaltete sich der Prozeß der Entscheidungsfindung nämlich schon deshalb besonders schwierig, weil auch noch Landtagswahlen in Hessen und Bayern stattfanden. In der CDU / CSU rivalisierten mehrere Bewerber um die Nachfolge Erhards, was die Kanzlersuche komplizierte. Zeitweise war die Situation völlig unübersichtlich, als von den drei im Bundestag vertretenen Parteien alle denkbaren Koalitionsmöglichkeiten ausgelotet wurden. Zusätzliche Verwirrung entstand, weil innerhalb der Verhandlungsdelegationen unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten favorisiert wurden und eine klare Strategie bei keiner Partei erkennbar war. Das Vorspiel zur Regierungsbildung von 1966 hatte eigentlich schon nach der Bundestagswahl von 1961 begonnen, als Adenauer erste Fühler zur SPD ausstreckte, die angesichts der schwierigen nationalen Lage seit dem Mauerbau für eine Allparteienregierung votierte 4 • Ein Jahr später, im Herbst 1962, kam es im Gefolge der "Spiegel-Affäre" zu intensiveren Kontakten zwischen Spitzenpolitikern von SPD und CD U / CS U, deren Höhepunkt ein Koalitions gespräch der Sozialdemokraten Ollenhauer, Erler und Wehner mit Adenauer Anfang Dezember war. Diese zunächst geheim gehaltenen Verhandlungen brachten den sozialdemokratischen Unterhändlern in der eigenen Fraktion scharfe Kritik ein, weil viele Abgeordnete sich weder auf eine unbegrenzte Verlängerung der Kanzlerschaft Adenauers einlassen wollten, noch ohne weiteres mit der geplanten Wahlrechtsreform anfreunden konnten. Eine grundsätzliche Bereitschaft zu Koalitionsverhandlungen mit den Unionsparteien war jedoch in der Fraktion vorhanden, wie man in einer Resolution abschließend feststellte 5 . Zur Probe aufs Exempel kam es dann aber im Dezember 1962 nicht. der Großen Koalition 1966 bis 1969. Struktur und Einfluß der Koalitionsfraktionen und ihr Verhältnis zur Regierung der Großen Koalition, Meisenheim am Glan 1975, S. 49ff. 4 Vgl. dazu Soell, Hartmut, Fritz Erler. Eine politische Biographie, Bd. 2, Berlin 1976, S.722ff. 5 Zu den Diskussionen in zwei Fraktionssitzungen arri 5. Dezember 1962 siehe Potthoff, Heinrich, (wie Anm. 2), S. 178 ff.

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In der Folgezeit rissen die Kontakte zwischen einflußreichen CDU /CSU-Politikern und Rerbert Wehner nicht mehr ab. Auch Bundespräsident Lübke schaltete sich mehrfach ein und erregte vor allem mit seinem öffentlichen Bekenntnis zur Großen Koalition an Weihnachten 1965 viel Aufsehen6 . Die an diesen vertraulich geführten Gesprächen Beteiligten verfolgten unterschiedliche Ziele. Wahrend es den Unionspolitikern hauptsächlich darum ging, den von ihnen wenig geschätzten Bundeskanzler Erhard möglichst schnell abzulösen, verfolgte Wehner die Strategie, seine Partei endlich aus der Rolle der Daueropposition in Bonn zu befreien und die sozialdemokratische Regierungsfähigkeit auch auf Bundesebene unter Beweis zu stellen. Die Große Koalition war aus seiner Sicht eine Zwischenetappe auf dem Weg zum Machtwechsel, ein "zeitweiliges Zusammenregieren zweier großer Parteien", auf das die Ablösung der Union an der Regierungsspitze folgen sollte7 .

Wehner hatte seinen Gemeinsamkeitskurs bereits mit seiner berühmt gewordenen Bundestagsrede vom 30. Juni 1960 eingeleitet, in der er eine außenpolitische Frontbegradigung der SPD-Politik vollzog und betonte, innenpolititisch zusammen mit der Union "das höchsterreichbare Maß an Übereinstimmung bei der Bewältigung der deutschen Lebensfragen" erzielen zu wollen 8 . Dieses Konzept einer konstruktiven Oppositionspolitik, die sich an den Postulaten des Godesberger Programms orientierte, überkommene Frontstellungen aufgab und auch den Stil der parlamentarischen Auseinandersetzung mit der Union moderater gestaltete, vertrat Wehner jedoch nicht allein. In den frühen sechziger Jahren wandelte sich das Image der SPD. Unter der Regie einer aus ihren Spitzenpolitikern zusammengesetzten Regierungsmannschaft präsentierte sich die Sozialdemokratie als Partei der Fachleute und des Fortschritts, die ohne ideologische Scheuklappen die Zukunftsaufgaben in Angriff nehmen und das "moderne Deutschland" schaffen wollte 9 . Für die Koalitionspartei im Wartestand war der Wahlausgang von 1965 allerdings eine herbe Enttäuschung. Er brachte die SPD keinen entscheidenden 6 Auf diese Gespräche, an denen seitens der CDU / CSU vor allem Innenminister Paul Lücke und der fränkische CSU-Abgeordnete Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg beteiligt waren, während Adenauer und Heinrich Krone sich als Stichwortgeber im Hintergrund hielten, geht Rudolf Morsey ausführlich ein: Die Vorbereitung der Großen Koalition von 1966. Unionspolitiker im Zusammenspiel mit Herbert Wehner seit 1962, in: Kocka, Jürgen/Puhle, Hans-Jürgen/Tenfelde, Klaus (Hrsg.), Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München u. a. 1994, S. 462 - 478; zur Rolle Lübkes siehe Morsey, Rudolf, Heinrich Lübke. Eine politische Biographie, Paderborn 1994, S. 468 ff. 7 So Wehner in einem langen Interview mit Günter Gaus im Sommer 1966, in dem er seine Aktivitäten zur Bildung einer Großen Koalition seit 1962 schilderte: Gaus, Günter, Staatserhaltende Opposition oder Hat die SPD kapituliert? Gespräche mit Herbert Wehner, Reinbek 1966, Zitat S. 119. 8 Verhandlungen des Deutschen Bundestages. Stenographische Berichte. 3. Wahlperiode. 122. Sitzung vom 30. Juni 1960, S. 7052 B. 9 Vgl. dazu ausführlich Bouvier, Beatrix W., Zwischen Godesberg und Großer Koalition. Der Weg der SPD in die Regierungsverantwortung. Außen-, sicherheits- und deutschlandpolitische U morientierung und gesellschaftliche Öffnung der SPD 1960 - 1966, Bonn 1990.

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Schritt näher an die Regierungsverantwortung heran, sondern stabilisierte vielmehr das von Erhard programmatisch verteidigte Bündnis von Christdemokraten und Liberalen. Ein Jahr später hatte sich die Situation jedoch grundlegend gewandelt. Nach den schweren Verlusten der CDU bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen Anfang Juli 1966 wuchs in der Union die Skepsis über den politischen Kurs des "Volkskanzlers" Erhard, dessen Kredit als Wirtschaftsfachmann wenige Monate später aufgebraucht war, weil seine Regierung die Haushaltsprobleme nicht mehr in den Griff bekam. Innerhalb der Union formierte sich eine Fronde gegen Erhard, mit der Herbert Wehner alte Kontakte auffrischte. Erneut sprach man im Herbst 1966 über ein Parteiengesetz und eine Wahlrechtsreform, auch der Wechsel an der Spitze des Kanzleramtes stand wieder zur Debatte. ,,Eine grundlegende Regierungsumbildung" hielt Innenminister Lücke, der wichtigste Gesprächspartner Wehners, jedoch "für die nächste Runde nicht für möglich" 10. Wehner selbst warnte in einem Interview davor, daß die demokratischen Parteien "zueinander in einem Feindverhältnis leben" und betonte die Übereinstimmung in nationalen Fragen. Selbst mit der Rückkehr von Strauß auf die Bonner Bühne wollte er sich abfinden und distanzierte sich von einer "Anti-Strauß-Sonderpolitik". Für ihn war der weiß-blaue Parteiführer, der nach der "Spiegel-Affäre" sein Ministeramt in Bonn verloren hatte, ein denkbarer Koalitionspartner: "Strauß wird zwar nicht der nächste Bundeskanzler sein, aber er hat Geschick und ist der Mann im Kommen"lI. Im Oktober 1966 verdichteten sich die Anzeichen, daß innerhalb der CDU/CSU die Front der Erhard-Gegner immer breiter wurde. Die Kette der Gespräche, die auf einen Kanzlersturz hinausliefen, riß überhaupt nicht mehr ab; die zum "Königsrnord" bereite Gruppe der Unionspolitiker wuchs ständig 12• Vor der SPDFraktion betonte Wehner, man werde sich nicht "als Blitzableiter für die Schwierigkeiten innerhalb der CDU ICSU mißbrauchen lassen,,13, während Brandt davor warnte, die Parteikrise der Union ,,mit Schadenfreude oder engem Parteidenken" zu betrachten 14 • Noch deutlicher wurde der SPD-Vorsitzende in einer Sitzung des Partei vorstandes und des Parteirates am 22. Oktober in Berlin, als er vor der Gefahr einer Staatskrise warnte. Welche Lösungsmöglichkeit er sah, ließ Brandt 10 So Wehner in einem Schreiben vom 11. September 1966 an Erler, zit. bei Potthoff, Heinrich, (wie Anm. 2), S. 936 f.; vgl. Morsey, Rudolf, Die Vorbereitung der Großen Koalition von 1966, (wie Anm. 6), S. 468f., der auf die Dauerkontakte zwischen Wehner, Lücke und Guttenberg im Herbst 1966 hinweist. II Interview mit der Mainzer Allgemeinen Zeitung, Nr. 223 vom 25. September 1966. 12 Vgl. dazu die Einzelheiten bei Hentschel, Volker, (wie Anm. 3), S. 638 ff., der die Aktivitäten von Strauß, Barzel, Gerstenmaier im Oktober 1966 nachzeichnet; siehe auch Knorr, Heribert, (wie Anm. 3), S. 50 ff. 13 In der Fraktionssitzung am 11. Oktober 1966, siehe Potthoff, Heinrich, (wie Anm. 2), S.959. 14 So in einer Fraktionssitzung, die am 18. Oktober 1966 in Berlin stattfand, ebd., S. 972.

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offen. Er wollte sich weder auf eine Große Koalition noch auf eine Allparteienregierung festlegen und riet zum Abwarten: "Die Frage wird schon in wenigen Monaten gar nicht die sein, ob die SPD drängelt, sondern die, was sie macht, wenn man sie drängt,,15. Diese Situation war dann aber bereits fünf Tage später gegeben, als die FDP-Minister das Bundeskabinett verließen. Wehner war schon in der Nacht zum 27. Oktober über den bevorstehenden Bruch der Koalition unterrichtet worden und hatte seinem Gesprächspartner - vermutlich Innenminister Lücke - bedeutet, eine Mitwirkung der SPD an einer Lösung der Regierungskrise könne nur durch die ,,Erörterung von Sachfragen" entschieden werden. Der SPD käme es darauf an, daß die Bundesrepublik ,,stabilität im Innern und Handlungsfähigkeit nach außen gewinne,,16. Auf mögliche Koalitionskonstellationen wollte sich Wehner nicht festlegen. Über den Pressedienst der Partei ließ er verbreiten, "in dieser nächsten vor uns liegenden Zeit" gebe es keine konkreten Entscheidungen der SPD. Die Partei werde aber nicht den Eindruck aufkommen lassen, "als ob sie der Stock sei, den die eine oder andere Seite nach ihren Willen zurechtschnitzen könnte". Für ein "Pokerspiei" stehe man jedenfalls nicht zur Verfügung 17. Gleichzeitig intensivierte Wehner hinter den Kulissen seine Kontakte zu führenden Unionspolitikern und hielt ständig Verbindung zu Lücke und Guttenberg 18 . Eine Woche vor der Landtagswahl in Hessen, die am 6. November stattfand, war es das Bestreben der sozialdemokratischen Führung, sich alle theoretisch denkbaren Optionen - von Neuwahlen bis zur Allparteienregierung - offenzuhalten und zunächst einmal den internen Klärungsprozeß im Lager der zerfallenden kleinen Koalition abzuwarten. Mittlerweile waren nämlich in der CDU / CSU die Diadochenkämpfe um die Nachfolge Erhards voll entbrannt, ohne daß sich bereits ein klarer Favorit herauskristallisiert hatte. Die Namen von Barze!, Schröder, Gerstenmaier und Kiesinger wurden parteiintern und öffentlich immer wieder genannt, wobei Kiesingers Rivalen die Zielstrebigkeit, mit der der baden-württembergische Ministerpräsident seine Kandidatur betrieb, zweifellos unterschätzten 19. Gleichzeitig herrschte in der FDP alles andere als Klarheit über den weiteren Kurs der Partei. Während Wolfgang Schollwer, der Pressereferent der Bundesgeschäfts-

Zit. nach dem Sitzungsprotokoll, AdsD Bonn, SPD-PV, Box 26. Zit. nach Potthoff, Heinrich, (wie Anm. 2), S. 993. 17 Parlamentarisch-Politischer Pressedienst (PPP) vom 27. Oktober 1966. 18 Vgl. die Hinweise bei Morsey, Rudolf, Die Vorbereitung der Großen Koalition von 1966, (wie Anm. 6), S. 469. 19 Zu Kiesingers Kandidatur siehe ausführlich Kroegel, Dirk, Einen Anfang finden! Kurt Georg Kiesinger in der Außen- und Deutschlandpolitik der Großen Koalition, München 1997, S. 19 ff. Wehner berichtete Brandt am 31. Oktober 1966 in einem Privatbrief, daß "der Ölige" - gemeint war Barzel - "im Bereich der Kerntruppe der CDU zunehmender Distanzierung begegnet", auch wenn er "der aktivste, zielstrebigste unter allen" sei, AdsD Bonn, Nachlaß Willy Brandt, Mappe 53. 15

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stelle, in einem Artikel das Ende der Koalition schon zum "Ende einer Epoche" stilisierte20 , plädierte der von Erich Mende angeführte Ministerflügel der Partei für eine Fortführung des Bündnisses mit der Union nach.einer "Abkühlungsfrist" der Krise 21 . Die Frage, ob die FDP als liberales Korrektiv in einer Dauerehe mit der CDU / CSU bleiben sollte oder ob sie als dritte Kraft zwischen den beiden Volksparteien eine unabhängige Rolle übernehmen wollte, spaltete und lähmte die Spitzengremien der Partei. Der SPD fiel es in dieser personell und strategisch ebenso verworrenen Situation relativ leicht, die "Kopfgrippe" der Union zu attacki~ren22 und die Lösung der Sachfragen als das Hauptproblem zu bezeichnen. Bereits am 2. November veröffentlichte der Vorstand der Bundestagsfraktion einen Aufgabenkatalog, dessen acht Punkte die Positionen der Sozialdemokratie klar absteckten. Bündnispolitisch sei das Verhältnis zu Washington und Paris wieder in Ordnung zu bringen und der "Ehrgeiz auf atomaren Mitbesitz" aufzugeben. In der Ostpolitik müsse eine neue Bundesregierung "aktiv für die Normalisierung unseres Verhältnisses zu den östlichen Nachbarvölkern und für die Versöhnung mit ihnen eintreten"; ferner müsse sie "Klarheit schaffen über unseren eigenen Handlungsspielraum gegenüber den Ostberliner Machthabern". Wirtschaftlich gehe es um Maßnahmen, die einen neuen Aufschwung brächten und für die Zukunft "Stabilität und Wachstum gleichermaßen" sicherten. Voraussetzung dafür sei eine Ordnung der Staatsfinanzen und das Abwenden einer "Haushaltskatastrophe für 1967". Bund, Länder und Gemeinden müßten "gleichberechtigt" die Grundlagen für die finanzielle Neuordnung schaffen. "Wirtschaftliches Wachstum, finanzielle Ordnung und soziale Stabilität" seien die innenpolitischen Fundamente des Fortschritts23 . Dieser Katalog enthielt die Konturen für das spätere Regierungsprogramm der Großen Koalition und diente der SPD als Grundlage für ihre Verhandlungen mit den Unionsparteien und der FDP. Der Umstand, daß von den Parteien der noch regierenden Koalition keine eigenen Positionspapiere vorgelegt wurden, dokumentiert das Ausmaß ihrer Orientierungslosigkeit und inneren Zerrissenheit im Spätherbst 1966. Am 28. Oktober 1966 im Pressedienst der FDP. So Mende in seinen Memoiren, in denen er betont, Ende Oktober seien zwei Drittel der Fraktion zu einer Weiterführung der Koalition, auch unter einem neuen Kanzler, bereit gewesen: ders., Von Wende zu Wende 1962-1982, München-Berlin 1986, S. 240. Für einen Koalitionswechsel optierten vor allem die ehemaligen ,,Jungtürken" um Walter Scheel, HansDietrich Genscher, Wolfgang Mischnick, Willi Weyer und Hans Wolfgang Rubin, siehe Hildebrand, Klaus, (wie Anm. 3), S. 220ff. 22 So Wehner in einem Interview (PPP vom 31. Oktober 1966), in dem er betonte, "die fiebrige Krise" der "führungs- und direktionslosen" CDU drohe den Staat anzustecken. 23 Der Katalog wurde von der Pressestelle der SPD-Fraktion veröffentlicht: Die SPD-Fraktion teilt mit, Nr. 463 vom 2. November 1966, abgedruckt bei Potthoff, Heinrich, (wie Anm. 2), S. 1000, Anm. 7. Zur Entstehungsgeschichte des Acht-Punkte-Programms, an dem Helmut Schmidt entscheidend mitwirkte, siehe Soell, Hartrnut, Fraktion und Parteiorganisation. Zur Willensbildung der SPD in den 60er Jahren, in: Politische Vierteljahrsschrift 10 (1969), S.604ff. 20

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In einer erweiterten Präsidiumssitzung, die zwei Tage vor den hessischen Landtagswahlen in Frankfurt stattfand24 , diskutierte die Führungsriege der Sozialdemokratie ihre Verhandlungsstrategie. In dieser sehr ausführlichen Grundsatzdebatte wurde deutlich, daß kein Konsens über die anzupeilende Koalition und das konkrete weitere Vorgehen bestand. Während Wehner ausführlich über seine Gespräche mit CDU / CSU-Politikern referierte und deren Interesse an den sozialdemokratischen Sachpunkten betonte, plädierte Alex Möller dafür, "Bewegungsfreiheit nach beiden Seiten hin zu behalten". Brandt wollte, wie er auch in einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk unterstrich, eine Koalition mit der FDP trotz der knappen Mehrheit nicht ausschließen 25 • Zugleich warnte er davor, sich ,,in die Forderung nach Neuwahlen" hineinzusteigern. Den Ausweg einer Allparteienregierung konnte man seiner Meinung nach nur unter einem sozialdemokratischen Kanzler anstreben. Helmut Schmidt fand, ein konstruktives Mißtrauensvotum sei "sehr spektakulär", wenn man auf diesem Wege einen sozialdemokratischen Bundeskanzler bekommen könne. Dieser müsse aber nach einer gewissen Zeit die Vertrauensfrage stellen, um über Neuwahlen seine parlamentarische Position zu stärken, was aber psychologisch gegen die SPD wirken würde. Schmidts verklausulierte Absage an eine SPD-FDP-Koalition, der er offensichtlich nicht genügend Durchhaltevermögen zutraute, unterstützte auch Karl Schiller, der von einem konstruktiven Mißtrauensvotum in der gegebenen Situation "nicht viel" hielt und zunächst abwarten wollte, wen die CDU als neuen Kanzlerkandidaten präsentierte. Am Ende der Sitzung entwickelte sich noch eine Debatte um eine Änderung des Wahlrechts, die Brandt keinesfalls führen wollte, weil damit alle Brücken zur FDP abgebrochen worden wären. Wehner stimmte schließlich dem Kompromiß zu, die Wahlrechtsfrage vorerst auszuklammern und meinte, "daß die CDU eine solche Haltung im gegenwärtigen Augenblick auch verstehen werde".

Nach den hessischen Landtagswahlen begann der zweite Akt der Regierungskrise, in dem zunächst SPD und FDP gemeinsam den Abgang Erhards beschleunigten, dann die CDU / CSU Kiesinger als Kanzlerkandidaten kürte und schließlich alle drei Parteien miteinander Koalitionsgespräche aufnahmen, ohne jedoch zu einem Ergebnis zu kommen. Diese Phase des gegenseitigen Abtastens dauerte vierzehn Tage lang an, bis zu den bayerischen Landtagswahlen am 20. November, von deren Ergebnissen sich jede Partei neue Fingerzeige erhoffte. Die Hessenwahlen hatten nämlich weder mit einem Desaster für die CDU noch mit einem Triumph für die SPD geendet. Vielmehr waren sie zu einem Menetekel für alle Bonner 24 An dieser Sitzung am 4. November 1966 nahmen neben den Präsidiumsmitgliedern auch führende Landespolitiker der SPD teil, AdsD Bonn, SPD-PV, Präsidium, Protokolle. Danach die folgenden Zitate. 2S In diesem Interview am 4. November 1966 betonte Brandt, seine Partei habe ,,keine Präferenzen" für eine bestimmte Koalition; ein Zusammengehen- mit der FDP schloß er nicht aus, "zumal dann nicht, wenn der Zustand der CDU gar keinen anderen Weg läßt". Wortlaut des Interviews nach einer Aufzeichnung, AdsD Bonn, SPD-Bundestagsfraktion, 5. Wahlperiode, Personalia, Mappe 2140.

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Parteien geworden: Fast acht Prozent der Wähler hatten sich für die NPD entschieden und mit diesem Ausbruch nach rechts auch ihren Protest gegen die politischen Zustände an der Spitze der Republik: artikuliert. Den ersten Zug im Koalitionsschach zwischen den beiden Landtagswahlen machten SPD und FDP, als sie am 8. November im Bundestag gemeinsam den Antrag einbrachten, Bundeskanzler Erhard solle die Vertrauensfrage stellen. Um diesen schon am 30. Oktober von der SPD-Fraktion formulierten Antrag hatte es in der ersten Novemberwoche ein längeres verfahrensrechtliches Gerangel gegeben, in dem sich die CDU mit der Erwägung, eine Instrumentalisierung der Vertrauensfrage durch das Parlament habe die Wirkung einer im Grundgesetz nicht vorgesehenen Aufforderung zur Abwahl des Kanzlers, jedoch nicht durchzusetzen vermochte. Eine gewollte politische Machtdemonstration ließ sich mit juristischen Argumenten nicht mehr verhindern, zumal man auch in der Union das Ende der Agonie der Kanzlerschaft Erhards herbeisehnte und deswegen über die gemeinsame Attacke von SPD und FDP nicht besonders unglücklich war. Als sich die FDP-Fraktion nach einer fünfstündigen hitzigen Diskussion für eine Unterstützung des sozialdemokratischen Antrags entschloß 26 , wollte sie mit diesem Schritt die Sozialdemokratie davon überzeugen, daß man zusammen handlungsfähig sei und auch mit der knappen Mehrheit von 251 gegenüber 245 Mandaten eine sozialliberale Koalition bilden könne. Für die SPD hatte diese liberale Kraftanstrengung einen doppelten Nutzeffekt. Man konnte die Geschlossenheit der FDP ohne eigenes Risiko testen und zugleich der CDU / CSU durch eine gemeinsame parlamentarische Aktion mit den Liberalen die sozialliberale Koalitionsalternative vor Augen führen. Auf diese Drohgebährde kam es Wehner vor allem an, der mit diesem Manöver die Union in ernsthafte Koalitionsverhandlungen mit der SPD zwingen wollte 27 • Außerdem mußte die CDU /CSU nun die Kanzlerfrage rasch klären, denn die am 8. November mit 255 gegen 246 Stimmen beschlossene Aufforderung des Parlaments, Erhard solle die Vertrauensfrage stellen, hatte faktisch die Wirkung eines Mißtrauensvotums. Allerdings signalisierte dieses indirekte Mißtrauensvotum auch, daß SPD und FDP zu einem konstruktiven Mißtrauensvotum - der gemeinsamen Wahl eines Erhard-Nachfolgers - nicht oder noch nicht in der Lage waren. Wehners Wamschuß zeigte Wirkung. Noch am 8. November begann in der Union die heiße Phase der Nachfolgediskussion, in der sich schließlich zwei Tage später in einer Kampfabstimmung der von der CSU und den süddeutschen Landesfür26 Mende berichtet über diese Sitzung, die Mehrheit der Fraktion habe mit 27 gegen 15 Stimmen seinen Antrag, sich nicht an diesem taktischen Verfahren zu beteiligen, abgelehnt und beschlossen, für den SPD-Antrag zu stimmen, in: ders., (wie Anm. 21), S. 242. 27 Vgl. dazu seine Ausführungen in der Fraktionssitzung am 8. November 1966, in der er betonte, bislang seien "immer nur Einzelpersonen der CDU /CSU, die nur für sich selbst und nicht für die Fraktion oder eine Mehrheit sprechen konnten, zu Lagebesprechungen an die SPD herangetreten", zit. nach Potthoff, Heinrich, (wie Anm. 2), S. 997.

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sten der CDU auf den Schild gehobene Kiesinger gegen Barzel und Schröder durchsetzte 28 . Seine Nominierung stieß in der SPD auf ein geteiltes Echo, wo man nicht genau abschätzen konnte, für welche Koalition Kiesinger optieren werde. Wehner suchte sofort den Kontakt zum Kanzlerkandidaten der Union und ließ in einer ersten Meldung verbreiten, der baden-württembergische Ministerpräsident werde es nicht leicht haben, sich "in dem ihm ungewohnt gewordenen Gelände" der Bundespolitik wieder zurechtzufinden 29 . Brandt betonte in einem Rundfunkinterview, Kiesinger sei der "Kanzlerkandidat einer Minderheit im Bundestag"; SPD und FDP hätten die parlamentarische Mehrheit und "eine Vielzahl von Berührungspunkten", wohingegen es in der Union "sehr viel innere Streitigkeiten" gebe3o . Diese offenkundige Dissonanz zwischen Wehner und Brandt konnte durch eine gemeinsame Presseerklärung nicht überspielt werden, in der es lapidar hieß, die CDU /CSU-Fraktion habe keinen neuen Bundeskanzler gewählt, sondern einen Kandidaten benannt. Die im Bundestag vertretenen Parteien müßten nun gemeinsam über die zu lösenden Sachfragen sprechen und auf diesem Weg testen, ob "sich eine Mehrheit herausbildet, die durch die Überzeugung einer sachlich notwendigen Politik zusammengeführt wird und zusarnmenhält,,31. Hinter diesen Formeln konnten die unterschiedlichen Koalitionspläne von Brandt und Wehner nicht verborgen werden. Nachdem der Weg zu Neuwahlen versperrt war, weil die FDP an dieser für sie wenig attraktiven Krisenlösung nicht mitwirken wollte 32, konzentrierten sich die Debatten im SPD-Präsidium, als es am späten Abend des 10. November zusammentrat, auf die sich anbietenden Koalitionslösungen 33 . Sie reichten von einer Neuauflage der kleinen Koalition von CDU / CSU und FDP über eine sozialliberale Koalition oder eine Große Koalition bis hin zu einer Allparteienregierung. Wehner ließ das Präsidium wissen, Kiesinger habe ihm mitgeteilt, er stehe "zu einem Gespräch mit ihm zur Verfügung". Brandt konterte mit der Information, die ,,Mehrheit bei der FDP" sei der Ansicht, "daß man es mit der SPD versuchen solle, auch wenn die Mehrheit sehr knapp sei". Schmidt meinte, die Bildung einer sozialliberalen Koalition wäre "ohne eine große öffentliche Kampagne nicht zu machen". Möller vertrat die Auffassung, bei der 28 Vgl. zur Vorgeschichte seiner Wahl ausführlich Kroegel, Dirk, (wie Anm. 19), S. 19 ff.; Knorr, Heribert, (wie Anm. 3), S. 73 ff. 29 Erklärung gegenüber dem Deutschlandfunk arn 10. November 1966, veröffentlicht in: Die SPD-Fraktion teilt mit, Nr. 479 vorn 10. November 1966. Zu den Kontakten zwischen Wehner und Kiesinger siehe die Hinweise bei Kroegel, Dirk, (wie Anm. 19), S. 36 ff. 30 Wortlaut des Interviews vorn 10. November 1966 nach einer Aufzeichnung, AdsD Bonn, SPD-Bundestagsfraktion, 5. Wahlperiode, Personalia, Mappe 2140. 31 SPD-Pressemitteilungen und Informationen, Nr. 540 vorn 10. November 1966. 32 Dies hatten Sondierungsgespräche von Brandt ergeben, vgl. Potthoff, Heinrich, (wie Anm. 2), S. 999 f. Verfassungsrechtlich wäre dieser Weg nur über die Vertrauensfrage zu beschreiten gewesen. 33 Die folgenden Zitate stammen aus dem Protokoll dieser erweiterten Präsidiumssitzung vorn 10. November 1966, AdsD Bonn, SPD-PV, Präsidium, Protokolle.

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gegenwärtigen Zusammensetzung des Bundestages habe die SPD "keine Chance", den Bundeskanzler zu stellen. Erwin Schoettle erklärte, "nach langem Überlegen" sei er geneigt, den Versuch mit der FDP zu machen. Karl Mommer setzte sich "mit großem Enthusiasmus für eine Koalition mit der FDP ein". Schiller sah hingegen keine Möglichkeit, "mit der FDP die schwierigen finanzpolitischen Fragen zu lösen". Alfred Nau meinte, "ihm seien drei Jahre unter einem anderen Kanzler lieber" als der Verbleib in der Oppositionsrolle. Dagegen forderten Mommer und Gerhard Jahn, die SPD müsse Brandt als ihren Kanzlerkandidaten benennen, um ihren Führungsanspruch deutlich zu machen. Vor dieser "Kampfansage an die CDU" warnte wiederum Fritz Schäfer, während Brandt es zu diesem Zeitpunkt nicht für richtig hielt, einen eigenen Kanzlerkandidaten zu benennen. Schließlich einigte man sich auf eine Verhandlungskommission, für die man Brandt, Wehner, Möller, Schiller und Schmidt nominierte. Welchen Koalitionskurs diese Kommission einschlagen sollte, ließ das Präsidium nach dieser vielstimmigen Diskussion offen. Auch in der am 11. November tagenden Bundestagsfraktion erfolgte keine Präzisierung der sozialdemokratischen Verhandlungsstrategie. Übereinstimmung bestand lediglich darüber, wie Brandt vermerkte, "daß die SPD in der Krise nicht die Rolle eines bloßen Zuschauers spielen könne". Als ein Abgeordneter forderte, die Partei solle gleich zum Mittel des konstruktiven Mißtrauensvotum greifen, zumal man gemeinsam mit Kiesinger wegen dessen NS-Vergangenheit "auf keinen Fall" einem Kabinett angehören könne, intervenierte Wehner sofort und warnte davor, "sich jetzt im Modell einer bestimmten Regierung zu verfangen,,34. Die Fraktion stimmte schließlich der im Präsidium bereits vereinbarten Generallinie zu, mit den anderen Parteien zunächst die innen- und außenpolitischen Sachfragen zu erörtern. Der Presse teilte man mit, die Partei behalte es sich vor, "im Verlauf oder als Ergebnis der Sacherörterungen von der Möglichkeit des konstruktiven Mißtrauensvotums Gebrauch zu machen,,35. Diese Botschaft war allerdings keine besonders wirksame Drohung gegen einen praktisch demissionierten Kanzler. Auch die Union wurde nicht sehr beunruhigt, weil die Koalitionsfrage offen blieb. Das lag völlig auf der strategischen Generallinie von Wehner, der den sofortigen Griff nach dem konstruktiven Mißtrauensvotum und damit die Bildung einer sozialliberalen Gemeinschaftsfront gegen die 34 Zitate nach Potthoff, Heinrich, (wie Anm. 2), S. 1008 ff. Dort finden sich auch Informationen über Kiesingers Tlitigkeit in der NS-Zeit (S. 1010). Brandt kommentierte rückblickend Kiesingers Eintritt in die NSDAP im Februar 1933: "Kiesinger war zu gescheit und wohlerzogen, als daß er Nazi mehr denn übers Mitgliedsbuch hätte werden können.", Erinnerungen, erw. Ausgabe, Frankfurt-Berlin 1993, S. 169. Brandt selbst hätte Gerstenmaier als Kanzler der Großen Koalition vorgezogen. In einem Antwortschreiben an Klaus Harpprecht vom l3. Dezember 1966, der ihn am 17. November aufgefordert hatte, Gerstenmaier als Kanzler wieder ins Spiel zu bringen, meinte Brandt: "Du weißt, daß ich E. G. schätze, aber zuletzt hat ihm wohl der zupackende Griff gefehlt.", AdsD Bonn, Nachlaß Brandt, Bundesminister des Auswärtigen, Allgemeine Korrespondenz, Mappe 5. 35 SPD-Pressemitteilungen und Informationen, Nr. 543 vom 11. November 1966.

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CDU / CSU energisch abgeblockt hatte. Für sein Projekt der Großen Koalition war damit ein wichtiger Zeitgewinn erzielt. Der Verzicht auf die Nominierung eines eigenen Kanzlerka..'1didaten signalisierte zudem, daß die SPD nicht mit Macht an die Regierungsspitze drängte, sondern sich auch mit der Rolle des Juniorpartners abfinden konnte. Trotz des parlamentarischen Schulterschlusses mit der FDP gegen Erhard mißtraute man in den Führungsgremien der SPD der Stabilität einer sozialliberalen Alternativregierung, deren Handlungsfähigkeit von nationalkonservativen Abgeordneten der FDP abhing. Zwischen der hessischen und der bayerischen Landtagswahl hielten alle Parteien ihre Karten im Koalitionspoker noch bedeckt. Innerhalb der SPD steckten die Kontrahenten nochmals ihre Ausgangspositionen ab. Schmidt war sich nicht sicher, daß Kiesinger "endgültig der letzte Kandidat der CDU / CSU bleiben muß"36, vermied es aber, Brandt als eigenen Kanzlerkandidaten zu nennen. Brandt meinte auf die Frage, ob SPD und FDP ,/mit voller Kraft auf eine Kleinst-Koalition zusteuern", beide Parteien "könnten gemeinsam ein eindrucksvolles Kabinett bilden,m. Wehner distanzierte sich ebenso klar von einer sozialliberalen Koalition mit dem Hinweis, man könne nicht "mit der FDP auf Sparflamme gegen eine Obstruktion der CDU /CSU regieren", um dann "eines Tages durch ein konstruktives Mißtrauensvotum am Regieren gehindert" zu werden 38 . Gemeinsam vertraten die drei sozialdemokratischen Spitzenpolitiker jedoch das Programm für die Sachverhandlungen, das unter der Überschrift "Aufgaben einer neuen Bundesregierung" am 14. November 1966 veröffentlicht wurde und inhaltlich eine ausgearbeitete Fassung des ACht-Punkte-Katalogs vom 2. November war 39 . In der Woche vor den bayerischen Landtagswahlen trafen sich die Verhandlungsdelegationen der Union und der SPD am 15. und 18. November zu zwei ausführlichen Gesprächsrunden, in denen dieser Sachkatalog der Sozialdemokraten im Mittelpunkt stand. Mit der FDP kam es nur zu informellen Kontakten am 16. November, weil die Liberalen erst den Ausgang der Bayernwahlen vom 20. November abwarten wollten4o • Deren Ergebnis war für sie aber niederschmetternd, denn sie scheiterten an den Hürden des bayerischen Wahlrechts, das den Einzug 36 Interview mit dem WDR am 12. November 1966, AdsD Bonn, SPD-Bundestagsfraktion, 5. Wahlperiode, Personalia, Mappe 2193. 37 Interview mit der Welt am Sonntag am 12. November 1966, veröffentlicht am 13. November 1966. 38 PPP, Nr. 220 vom 15. November 1966. Ähnlich hatte er sich auch auf einer erweiterten Delegiertenversammlung der Hamburger SPD am 14. November 1966 geäußert, AdsD Bonn, SPD-PV, Büro Herbert Wehner, 2558 J. 39 Diese sozialdemokratische Verhandlungsgrundlage für die Gespräche mit CDU / CSU und FDP war von einer Gruppe von Abgeordneten ausgearbeitet worden, zu der Helmut Schmidt, Karl Schiller, Alex Möller und Ernst Schellenberg gehörten, vgl. Soell, Hartrnut, (wie Anm. 23), S. 613. 40 Über dieses Gespräch mit Mende, Scheel und Weyer informierte Brandt das SPD-Präsidium in seiner Sitzung am 18. November 1966, in der man ein Zwischenfazit über die Verhandlungen zog, AdsD Bonn, SPD-PY, Präsidium, Protokolle.

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in den Landtag von einem Stimmenanteil von 10 Prozent in einem der sieben Regierungsbezirke abhängig machte. Erfolgreicher als die Liberalen war die NPD, die - wie vierzehn Tage vorher in Hessen - auch in Bayern ins Parlament einzog, weil sie in den mittelfränkischen Hochburgen der FDP mehr als ein Zehntel der Stimmen erhalten hatte. Die CSU verteidigte wider Erwarten ihre absolute Mehrheit, während die SPD ihr Wahlziel, die Alleinherrschaft der Union im weiß-blauen Freistaat zu brechen, klar verfehlte. Dieses bayerische Signal mußte natürlich ebenfalls Auswirkungen auf die Bonner Verhandlungen haben. Personell war beispielsweise die Rückkehr von Strauß in eine Bundesregierung, an der die Union beteiligt war, kaum mehr zu verhindern 41. Während die FDP anschließend "verkrampft und lustlos" in die Koalitionsgespräche ging42, interpretierte man in der Union das bayerische Wahlergebnis als eine überzeugende Bestätigung des eigenen Führungsanspruchs in Bonn. Für die SPD bot ihr enttäuschendes Abschneiden hingegen keinen Ansatz, um nun in die Offensive zu gehen. Vielmehr mußte man sich mit dem Gedanken vertraut machen, daß es in Bonn auch zu einer Renaissance der kleinen Koalition kommen konnte. Wehner warnte deshalb in einer ersten Reaktion nach dem Wahltag die Union vor der Versuchung, "auf die billige Weise über die Runden oder gar davonkommen" zu wollen. Dann werde die CDU / CSU "wohl oder übel allein weitermarschieren müssen bis zum bitteren Ende,,43. Diese Warnung wiederholte Wehner in drastischer und aufsehenerregender Form am 23. November im Bundestag, nachdem er aus den am gleichen Tag zwischen CDU / CSU und FDP geführten Koalitionsgesprächen den Eindruck gewonnen hatte, daß eine Neuauflage der alten Koalition möglich sei: Die Union könne mit den Sozialdemokraten "nicht umgehen wie mit Schulbuben" und "ein Spiel treiben, wie sie es bisher mit Koalitionspartnern getrieben" habe44 . Mit dieser Attacke im Plenum des Bundestages verunsicherte der sozialdemokratische Fraktionschef vor allem die eigenen Reihen. Eine Gruppe von jüngeren Abgeordneten erzwang gegen den Willen des Fraktionsvorstandes sofort nach Wehners Auftritt im Parlament eine Sondersitzung der Fraktion. Hatten Brandt und Wehner am 22. November noch in einer relativ ruhigen Atmosphäre den Abgeord41 Kiesinger hatte bereits im Wahlkampf betont, daß Strauß "selbstverständlich" Mitglied seines Kabinetts sein werde; als Führer einer großen Partei sei Strauß nicht zu übersehen und zu übergehen, PPP, Nr. 220 vom 15. November 1966. Zur Rolle von Strauß bei der Nominierung Kiesingers siehe Kroegel, Dirk, (wie Anm. 19), S. 22. 42 So die Erinnerung von Alex Möller, Genosse Generaldirektor, München-Zürich 1978,

S.305.

43 Interview mit dem PPP, Nr. 223 vom 21. November 1966. Wehner war über eine Äußerung des Generalsekretärs der CDU im Fernsehen, die Union habe wieder "Tritt gefaßt", verärgert. Hinzu kam, daß Heck in einem Gespräch mit Wehner auch für Nordrhein-Westfalen den Abschluß einer Großen Koalition gefordert hatte, vgl. dazu Kroegel, Dirk, (wie Anm. 19), S. 52 ff. 44 Zit. nach Potthoff, Heinrich, (wie Anm. 2), S. 1021, Anm. 2; vgl. Knorr, Heribert, (wie Anm. 3), S. 86 f.

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neten über die Koalitionsgespräche berichtet und vor vorschnellen Entscheidungen gewamt45 , so forderten jetzt einzelne Parlamentarier ..eine Abstimmung über die Koalitionswünsche,,46. Karl Mommer brachte die allgemeine Beunruhigung auf folgenden Nenner: ..Für unsere Fraktion sei jetzt auch Eile geboten, wenn wir den Zug nicht verpassen wollten,,47. Die Frage, wer im Koalitionszug sitzen sollte, wurde jedoch nicht vorentschieden, weil Wehner und Schmidt mit vereinten Kräften die geforderte Probeabstimmung über die Koalitionsbildung verhinderten und die Fraktion zum Stillhalten überredeten. Schmidt hatte sich mittlerweile in einem Pro-und-Contra-Papier die Plus- und Minuspunkte aller denkbaren Regierungskonstellationen systematisch zusammengestellt und wollte damit sich und anderen die ..Bildung von Urteilsgrundlagen,,48 erleichtern. Für eine Große Koalition führte er ins Feld, daß sie eine wirtschaftliche und soziale Stabilisierung ,,relativ schnell" erreichen werde, daß die Verabschiedung einer Finanzreform und Notstandsverfassung parlamentarisch möglich sei und daß sich auch ..außenpolitische Weichenstellungen in sehr begrenztem Umfang" vornehmen ließen. Ferner werde das Prestige der SPD durch eigene Minister ..wesentlich" gehoben. Auf der Passivseite verbuchte er als kurzfristige Folge einen innerparteilichen und öffentlichen Streit über einen Bundesminister Strauß, die Stärkung der FDP sowie rechter und linker Flügelparteien wegen des schwarzroten Proporzes, eine ..Verwischung der Konturen" und einen ..Autoritäts verfall des demokratischen Systems". Eine Wahlrechtsänderung werde ..als Manipulation des Wählerwillens verstanden". In der Außen-, Sicherheits- und Deutschlandpolitik sei der Handlungsspielraum unzureichend. Ein Pluspunkt einer sozialliberalen Koalition war für ihn die ..Stärkung des Selbstbewußtseins der Demokraten" in der Bundesrepublik, weil der Wechsel funktioniert habe. Auch innerparteilich werde das Selbstbewußtsein der SPD wachsen, zumal sie ihre personelle Führungsfrage für die nächste Bundestagswahl ..unproblematisch erscheinen" lassen könne. Außerdem sei eine ..öffentliche Bestandsaufnahme" in der Außen-, Sicherheits- und Deutschlandpolitik möglich. Die Chancen der NPD würden sich verkleinern, weil die Union als Opposition den rechten Flügel abdecke. Unter seinen Gegenargumenten standen an oberster Stelle das Risiko der Kanzlerwahl und das Risiko wechselnder Mehrheiten im Bundestag sowie die Gefahr eines Koalitionsbruches ohne anschließende Neuwahl. Er befürchtete die ,,Lähmung" der Außenpolitik durch den Block der Union und ..weiter Teile der seriösen Meinungspresse", hielt die Durchführbarkeit der Finanzreform und anderer Verfassungsergänzungen für ..sehr fraglich", sah auf die SPD eine VerVgl. das Sitzungsprotokoll bei Potthoff, Heinrich, (wie Anm. 2), S. 1Ol3 ff. So Hans Apel, den Klaus Dieter Amdt unterstützte, vgl. zum Verlauf dieser dramatischen Sitzung ebd., S. 1021 ff. 47 Ebd., S. 1026. 48 Eine auf den 23. November 1966 datierte maschinenschriftliche Fassung ist überliefert in: AdsD Bonn, Fraktionsvorstand / Fraktionsvorsitzender Helmut Schmidt, Mappe 5077. Dort auch die folgenden Zitate. 45

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schärfung der Konflikte mit den Gewerkschaften und den Unternehmern zukommen, was die Chance für eine kommunistische Partei verbessere. Ferner prognostizierte er einen erschwerten Zugang der SPD zum katholischen Wählerreservoir, weil es zu einer "partiellen Rückwendung des niederen katholischen Klerus zur CDU / CSU" komme. Diese werde unter "neuer Führung weit nach rechts" gehen und als "nationale Opposition" auftreten. Damit könne die Union ihre "innere Uneinigkeit" verdecken, während sich bei den nächsten Wahlen die Gefahr einer großen absoluten Mehrheit der CDU / CSU ergebe. Ähnliche Positiv- und Negativbilanzen stellte Schmidt auch noch für eine Wiederauflage der christlich-liberalen Koalition, für eine Allparteienregierung und für ein Fortbestehen der Rumpfregierung Erhard auf. Seine Einschätzungen basierten auch auf in den Koalitionsverhandlungen mit der CDU / CSU und der FDP gewonnenen Eindrücken, an denen er als Mitglied der sozialdemokratischen Delegation beteiligt gewesen war49 • Im Mittelpunkt der Gespräche mit der FDP stand in der ersten Verhandlungsrunde am 22. November zunächst die Haushaltslage des Bundes, wobei die Sozialdemokraten vom Ende Oktober zurückgetretenen FDP-Finanzminister Dahlgrün vor allem konkrete Angaben über die Höhe der Deckungslücke forderten. Schiller breitete - auch begrifflich - sein fachwissenschaftliches Instrumentarium aus, stieß aber bei den Liberalen auf Skepsis, denen die ökonomische Rhetorik des sozialdemokratischen Wirtschaftsexperten nicht ganz geheuer war. Formulierungen wie "Aufschwung in Stabilität" oder ,,konzertierte Aktion" wollten die liberalen Wortführer vermeiden, um zumindest semantisch nicht vor Schiller kapitulieren zu müssen. Sachlich hatten sie massive Bedenken in der Mitbestimmungsfrage und gegen die von der SPD vorgeschlagene Gemeindefinanzreform. In Wirtschaftsund Finanzfragen wollte FDP-Vorsitzender Mende trotz dieser erheblichen Divergenzen dennoch eine "erfreulich große Übereinstimmung"SO mit der SPD entdeckt haben, was man dort allerdings anders sah. In der Außen-, Sicherheits- und Deutschlandpolitik paßten die Auffassungen beider Parteien, wie Brandt während der zweiten Gesprächsrunde am 25. Novem49 Über diese Gespräche existieren umfangreiche Niederschriften, die auf der Basis von Mitschriften entstanden sind, die sich Helmut Schmidt während der Verhandlungen machte. Aus den 26 Seiten langen ,,Notizen" über die Gespräche mit der FDP entstammen die folgenden Zitate, AdsD Bonn, Fraktionsvorstand I Fraktionsvorsitzender Helmut Schmidt, Mappe 5077. In diesem Bestand befindet sich auch ein handschriftliches "ErgebnisprotokoIl", in dem Schmidt für jeden Unterpunkt aus dem Sachkatalog der SPD die Positionen von CDU I CSU und FDP auflistete. 50 Dies konstatierte auch der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Fraktion Starke, der sich mit Schiller Rededuelle geliefert hatte, in der Sitzung des Bundesvorstandes und der Bundestagsfraktion der FDP am 22. November 1966: Er sehe zwischen beiden Parteien keine "grundsätzlichen Schwierigkeiten bestehen, die nicht überwunden werden könnten.", zit. nach Schiffers, Reinhard (Bearb.), FDP-Bundesvorstand. Die Liberalen unter dem Vorsitz von Erich Mende. Sitzungsprotokolle 1960- 1967, Düsseldorf 1993, S. 715; vgl. Knorr, Heribert, (wie Anm. 3), S. 85.

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ber unterstrich, "fast nahtlos zueinander". Mende betonte, "das Maß der Übereinstimmung" sei mit der SPD größer als mit der Union. Seine Partei sei bereit, "eine sozialdemokratische Bundesregierung mitzutragen und dazu mit 50 Abgeordneten zu stehen". Dieser Bündnisofferte, die Willi Weyer auf die direkte Frage zuspitzte, "er wolle wissen, ob es eine Chance gäbe, unter dem Bundeskanzler Willy Brandt eine Regierung zu bilden oder nicht mehr", entzog sich der SPD-Vorsitzende mit dem Hinweis, die sozialdemokratische Verhandlungskommission habe ,,kein Mandat, eine Koalition einzugehen". Da beide Parteien noch in Verhandlungen mit der Union standen, vereinbarte man schließlich, sich am nächsten Tag darüber zu verständigen, "was weiter geschehen könnte". Zu diesem Zeitpunkt - am späten Vormittag des 25. November - konnte die SPD zwischen zwei Koalitionspartnern wählen, denn Mende hatte unmittelbar nach den Gesprächen mit der sozialdemokratischen Delegation vor der Presse eine ziemlich eindeutige Option für ein sozialliberales Bündnis abgegeben 51 • Diese von Kiesinger als Affront bewertete Äußerung brachte die CDU ICSU in Zugzwang. Sie mußte nun das Taktieren zwischen zwei Koalitionsmöglichkeiten aufgeben. Nur in einer Großen Koalition blieb ihr der Weg in die Opposition erspart. Auch die SPD-Führung wollte nun die Hängepartie zwischen zwei Koalitionsoptionen beenden, weil ein weiteres Zuwarten die innerparteiliche Zerreißprobe zwischen den Befürwortern und Gegnern eines Bündnisses mit der Union noch mehr dramatisiert hätte. Außerdem ließen sich in der hektischen Atmosphäre von einander widersprechenden Meldungen und Gerüchten kaum noch überlegte Züge im Koalitionsschach machen. Da sich die CDU I CSU in den drei Verhandlungsrunden am 15., 18. und 24. November ungewöhnlich kompromißbereit gezeigt hatte und man sich politisch sehr nahe gekommen war, stand einer definitiven Entscheidung für die Große Koalition eigentlich nichts mehr im Wege. Zunächst hatte man am 15. November sehr ausführlich über die Außen- und Deutschlandpolitik gesprochen und war dabei vom Acht-Punkte-Katalog der SPD als Diskussionsgrundlage ausgegangen. In ihm hatte Kiesinger, der mit großem Selbstbewußtsein in die Verhandlungen ging, ,,keine unüberwindlichen Probleme"S2 entdeckt. Er sprach sich "für eine Politik der offenen Tür innerhalb der EWG" aus und distanzierte sich von jeder einseitigen Festlegung auf eine gaullistische oder atlantische Option in der Bündnispolitik. Dem sozialdemokratischen Wunsch nach einer Normalisierung des Verhältnisses zu den osteuropäischen Ländern stimmte er ebenfalls zu, wollte jedoch diplomatische Beziehungen in Osteuropa aufbauen, "ohne daß es einen Dammbruch gibt". In der Deutschlandpolitik einigte man sich im Prinzip auf die SPD-Forderung, unterhalb der Schwelle einer völkerrechtlichen Anerkennung der DDR bestehende kulturelle Kontakte, Behördengespräche und Handelsbeziehungen zu intensivieren, um die nationale SubVgl. Hildebrand, Klaus, (wie Anm. 3), S. 253. Die folgenden Zitate entstammen den über 80 Seiten langen ,,Notizen" über die Verhandlungen mit der CDU / CSU, siehe Anm. 49. 51

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stanz zu erhalten und jeden nur möglichen Ansatz zur Überwindung der Teilung zu verfolgen. Strittig blieb, ob man auf einen Friedensvertrag mit den Siegermächten hinarbeiten sollte, was Brandt für besonders wichtig hielt, während Strauß dafür plädierte, die Probleme erst reifen zu lassen. In der zweiten Gesprächsrunde am 18. November stand zunächst die Wirtschafts- und Finanzpolitik im Mittelpunkt, über die namentlich Schiller und der amtierende Wirtschaftsminister Schmücker als Experten verhandelten. Nachdem Schmücker die aktuellen Haushaltszahlen vorgelegt und damit - wenigstens intern - den von den Sozialdemokraten immer wieder geforderten finanziellen "Offenbarungseid" geleistet hatte, kam man sich sehr schnell näher, weil beide Seiten für eine Verzahnung von Stabilität und Wachstum plädierten. Dann listete Innenminister Lücke seine umfangreichen Reformpläne auf, die nach seiner Schätzung insgesamt achtzig Änderungen des Grundgesetzes erforderlich machten. Der Katalog reichte von der Finanzverfassung und der Verabschiedung eines Parteiengesetzes über die Notstandsverfassung bis hin zu einem neuen Wahlrecht. Brandt meinte, eine neue Regierung täte gut daran zu sagen, "was sie im Laufe dieser Legislaturperiode zu ändern beabsichtigt". Ihm gingen einzelne Vorhaben ganz offensichtlich zu weit, wie sich in der dritten Verhandlungsrunde noch zeigen sollte. Am 24. November sprachen beide Delegationen anfangs erneut über Probleme der internationalen Politik. Die sozialdemokratische Forderung, die Bundesrepublik müsse "den Ehrgeiz auf atomaren Mitbesitz" aufgeben, löste eine lange Diskussion aus, in der Strauß sich gegen eine Blanko-Zustimmung zum Atomwaffensperrvertrag wehrte, während Kiesinger betonte, eine Unterschriftsverweigerung würde die Bundesrepublik ,,in eine fürchterliche Lage bringen". Da Brandt an diesen Verhandlungen erst in der Schlußphase teilnahm - widrige Wetterbedingungen hatten seine Anreise aus Berlin um Stunden verzögert -, profilierte sich Helmut Schmidt als flexibler Gesprächspartner, der Mißverständnisse immer wieder ausräumte und nach gemeinsamen Formeln zwischen SPD und Union suchte. Auch Wehner schaltete sich intensiv ein, um die deutschlandpolitischen Vorstellungen der SPD klarzustellen: Es gehe nicht darum, "Ulbricht eine Tür zur Bundesrepublik zu öffnen", sondern darum, "den Menschen das Leben im gespaltenen Deutschland erleichtern zu helfen und damit den Zusammenhalt der Deutschen zu fördern". Strauß brachte den deutschlandpolitischen Konsens zwischen den beiden Parteien, der eine Anerkennung der DDR ausschloß, auf die Formel, man wolle so "flexibel und elastisch wie möglich" sein. Schließlich verständigte man sich auf den Satz: "Es muß darauf geachtet werden, daß nichts geschieht, was völkerrechtlich oder faktisch in der Weltmeinung als ein Abrücken von unserem Grundsatz der Nichtanerkennung der sowjetisch besetzten Zone als eines zweiten deutschen Staates verstanden werden könnte". Nach diesem deutschlandpolitischen Durchbruch fiel den Delegationen die Verständigung über wirtschafts- und gesellschaftspolitische Fragen relativ leicht, zumal man heiße Eisen wie die Mitbestimmung ausklammerte. Der erzielte sozial-

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politische Konsens, der übrigens auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall einschloß, war schließlich Strauß - mit Blick auf die Haushaltslücke - "etwas unheimlich". Schiller versuchte ihn mit dem Hinweis zu beruhigen, daß jede sozialpolitische Reformmaßnahme "über die Zuwachsraten" finanziert werden müsse, die er "auf mittlere Frist" auf vier bis viereinhalb Prozent schätzte. Schließlich konnte Kiesinger befriedigt konstatieren, man habe in diesem Gespräch ,,keinerlei Punkte festgestellt, bei denen wir prinzipiell Schwierigkeiten für eine gemeinsame Koalition sehen würden". Ganz am Ende dieser Diskussionsrunde kam es aber dann doch noch zu Dissonanzen, als Innenminister Lücke die Frage einer Änderung des Wahlrechts ansprach. Der mittlerweile anwesende Brandt bekannte sich zwar als ein Anhänger des relativen Mehrheitswahlrechtes, opponierte aber gegen eine sofortige Änderung für die nächsten Bundestagswahlen. Auch Schiller plädierte für eine gründlichere Auseinandersetzung mit den Problemen. Als Barzel meinte, das Wahlrecht sei ,,nur der potentielle Punkt für das Zusammengehen", provozierte er erneut den Widerspruch Brandts. Schließlich einigte man sich grundsätzlich auf eine Wahlrechtsreform. Man wollte sie noch vor der nächsten Bundestagswahl gemeinsam verabschieden, sie sollte aber erst für die übernächste Bundestagswahl in Kraft treten53 . Als sich der Parteivorstand und der Fraktionsvorstand der SPD am Nachmittag des 25. November zu einer Abwägung der beiden Koalitionsmöglichkeiten trafen, waren die Würfel zugunsten einer Großen Koalition praktisch bereits gefallen. Brandt hatte nämlich unter dem Eindruck der Verhandlungen mit der Union seine inhaltlichen Vorbehalte gegen dieses Bündnis weitgehend revidiert, während er nach den Gesprächen mit der FDP "das beklemmende Gefühl" nicht los geworden war, "die übernehmen sich,,54. Ausschlaggebend für ihn war aber letztlich, daß die FDP-Fraktion bei der Kanzlerwahl nicht geschlossen für einen Kanzler Brandt gestimmt hätte, weil mindestens zwei Abgeordnete - der Hesse Alexander Menne und der Bayer Josef Ertl - dies "aus Gewissensgründen" ablehnten55. Das unkalkulierbare Risiko der Kanzlerwahl, die unsicheren Mehrheitsverhältnisse im Bundestag und die fehlende Übereinstimmung in sozial- und gesellschaftspolitischen Fra53 Dieser Kompromiß wurde endgültig in der letzten Besprechung der bei den Delegationen am 26. November 1966 vereinbart. 54 Diese Äußerung machte Brandt in der gemeinsamen Sitzung von Partei- und Fraktionsvorstand am 25. November 1966. Über sie liegt ein maschinenschriftliches Protokoll vor, AdsD Bonn, SPD-PV, Parteivorstand, Box 26 sowie handschriftliche Aufzeichnungen von Helmut Schmidt, AdsD Bonn, Fraktionsvorstand/Fraktionsvorsitzender Helmut Schmidt, Mappe 5077. Dort findet sich das Zitat von Brandt. Schmidt ging die Bereitschaft der FDP, das Acht-Punkte-Programm der SPD zu akzeptieren, "gefühlsmäßig und logisch zu weit", vgl. dazu Knorr, Heribert, (wie Anm. 3), S. 83. 55 Vgl. dazu Schiffers, Reinhard, (wie Anm. 50), S. 715. Daß drei Tage später - am 28. November 1966 - Ertl "um der Partei willen" für eine sozialliberale Koalition stimmen wollte (ebd., S. 717) hatte keinen Einfluß mehr. Zu den Debatten in der SPD-Fraktion über dieses Problem siehe Potthoff, Heinrich, (wie Anm. 2), S. 1027 ff.

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gen gaben für Brandt letztlich den Aussschlag, sich gegen die eigentlich von ihm gewünschte sozialliberale Koalition auszusprechen. Daß ihm diese Korrektur seiner ursprünglichen Position nicht leicht gefallen war, betonte er in den nächsten Tagen intern und öffentlich immer wieder: ,,ziemlich widerwillig trabte er an die Spitze der Karawane,,56. Nach Brandts Einlenken in der Koalitionsfrage konnten sich die Befürworter der Großen Koalition im Partei- und Fraktionsvorstand schnell durchsetzen: In der Sitzung am 25. November sprachen sich nur drei Mitglieder dieser beiden Führungsgremien eindeutig für ein Bündnis mit der FDP aus, drei schwankten oder wollten die Entscheidung nochmals vertagen, mehr als zwanzig Sprecher votierten für die Große Koalition. Da in der Diskussion keine neuen Argumente mehr auftauchten, die nochmals einen Meinungsumschwung hätten bewirken können, waren die Weichen für das Modell der Machtteilhabe mit der Union gestellt: Die beiden Vorstände stimmten einer Großen Koalition zu, forderten aber, daß "das Gewicht der SPD in dieser Regierung deutlich erkennbar sein" müsse und ein Sozialdemokrat Außenminister werde 57 . Am nächsten Tag ging es "Schlag auf Schlag" - so wie es sich Kiesinger am Ende der Verhandlungsrunde zwei Tage zuvor gewünscht hatte. Am Vormittag des 26. November kamen CDU /CSU und SPD zu einer letzten Besprechung zusammen, in der nochmals ausführlich über die geplante Wahlrechtsänderung gesprochen wurde. Als Strauß nach einer kurzen Debatte, die Brandt angeregt hatte, auch noch das Eingeständnis machte, er hätte sich während der "SpiegelAffäre" im Bundestag vielleicht mißverständlich ausgedrückt, war auch der personelle Sprengstoff für eine Koalitionsbildung entschärft. Bedenken gegen einen Minister Strauß hatte Brandt ohnehin nicht, war er doch der Meinung, daß dieser "außerhalb der Regierung gefährlicher sein kann, als wenn er mit dabei ist,,58. Beide Seiten kamen überein, an personellen Fragen die Koalition nicht scheitern zu lassen und ihren Parteigremien die Bildung einer gemeinsamen Bundesregierung vorzuschlagen. Für die SPD-Unterhändler begann nun ein Wochenende voller Dramatik, mußten sie doch die Bundestagsfraktion, die regionalen Parteigremien und die Parteimitglieder von ihrer Entscheidung überzeugen. Die zehnstündige Sondersitzung der Fraktion in der Nacht vom 26. auf den 27. November59 verlief ebenso emotio56 So Egon Bahr in seinen Memoiren Zu meiner Zeit, München 1996, S. 193. Brandt wollte eigentlich nur das Forschungsministerium übernehmen; ihm widersprach Wehner mit dem Argument, der SPD-Vorsitzende müsse Außenminister und Vizekanzler sein. Dieser Forderung beugte sich auch Kiesinger, der das Außenministerium Gerstenmaier bereits zugesagt hatte, vgl. Kroegel, Dirk, (wie Anm. 19), S. 55 f. 57 Vgl. das Protokoll der Sitzung, (wie Anm. 54) .. 58 So in der Sitzung des Partei- und Fraktionsvorstandes am 28. November 1966, AdsD Bonn, SPD-PV, Parteivorstand, Box 26. 59 Das Protokoll ist abgedruckt bei Potthoff, Heinrich, (wie Anm. 2), S. 1029ff. Zu den Abstimmungsergebnissen im Parteirat siehe Anm. 2.

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nal und leidenschaftlich wie die Sitzung von Parteirat und Parteivorstand am Nachmittag des 27. November. In beiden Gremien lieferten sich die Anhänger und Gegner einer schwarz-roten Koalition erbitterte Wortgefechte. Letztlich gab die Entschlossenheit, aber auch die Geschlossenheit der Parteiführung den Ausschlag. Der enge Schulterschluß von Brandt, Wehner und Schmidt sowie ihr gemeinsames Plädoyer für die Große Koalition, das auch der schwer erkrankte Fraktionsvorsitzende ErIer in einem offenen Brief mittrug 60, beeindruckten viele Skeptiker und machten einen Meinungsumschwung möglich. Die Mehrheit in Fraktion und Parteirat akzeptierte nolens volens die Gründe, die gegen ein koalitionspolitisches VabanqueSpiel mit der FDP und für ein zeitweises Zusammengehen mit der Union sprachen. Man glaubte, daß in einer wirtschafts- und innenpolitisch schwierigen Phase die Bündelung der parlamentarische Kräfte der beiden Volksparteien das Gebot der Stunde sei. In einem Brief an die Parteimitglieder betonte Brandt nochmals, nicht aus "Mangel an Mut" habe man sich gegen eine sozialliberale Koalition entschlossen: "Ein kalkuliertes Risiko wäre zu rechtfertigen gewesen, aber ein Abenteuer durften wir weder unserer Partei noch unserem Volk zumuten,,61. Drei Jahre später, nach der Bundestagswahl im Herbst 1969, entschied sich Brandt für dieses "Abenteuer" und damit für den Machtwechsel in Bonn.

Vgl. dazu Soell, ~artmut, (wie Anm. 4), S. 796. Vgl. zu diesem "im Dezember 1966" an die Mitglieder der SPD gerichteten Brief AdsD Bonn, SPD-Bundestagsfraktion, 5. Wahlperiode, Mappe 2125. 60 61

7. Persönlichkeiten in der Geschichte

Feldmarschall Loudon im Gedächtnis der Nachwelt lohannes Kunisch

Die in letzter Zeit so außerordentlich vertiefte Erforschung des kulturellen Gedächtnisses hat - fußend auf den Vorentwürfen des Soziologen Maurice Halbwachs und des Kunsthistorikers Aby Warburg - die Erkenntnis unterstrichen, daß Erinnerung nicht einfach als eine Gegebenheit, sondern als ein gesellschaftliches Konstrukt in Erscheinung tritt, das von der Gegenwart und dem Erfahrungshintergrund des Erinnernden hergeleitet ist!. Memoria entsteht nicht durch das Zusammenfügen und die Bündelung individueller Gedächtnisinhalte; vielmehr ist kulturelles Gedächtnis von Anfang an ein gruppenbezogenes Phänomen. Es bildet sich durch Kommunikation und Interaktion und in der Tradierung gruppenspezifischer Verhaltensmuster. Das Individuum des Schriftstellers etwa erinnert sich, indem es sich "auf den Standpunkt der Gruppe stellt". Das Gedächtnis der Gruppe manifestiert sich "in den individuellen Gedächtnissen,,2. So muß die spezifische Prägung, die der Mensch durch seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaft und deren Kultur erfährt, als ein Vorgang betrachtet werden, der über Sozialisation und Überlieferung zustande kommt 3 . Diese Prägung partizipiert an einem kulturellen Gedächtnis, das als Sammelbegriff für alles Wissen zu verstehen ist, "das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht,,4. Eine Gruppe - so die über Halbwachs hinausführende Auffassung lan Assmanns stützt das "Bewußtsein ihrer Einheit und Eigenart" eben auf diesen Wissensvorrat und bezieht aus diesem Fundus die formativen und normativen Kräfte, "um ihre Identität zu reproduzieren"s. Das kulturelle Gedächtnis ist gekennzeichnet durch die scharfe Markierung der Grenzen zwischen dem Zugehörigen und NichtzugehöIAssmann, Jan, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Ders./Hölscher, Tonio (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/M. 1988, S. 9 - 19; ders., Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; Oexle, Otto Gerhard, Memoria als Kultur, in: Ders. (Hrsg.), Memoria als Kultur, Göttingen 1995, S. 9 - 78, hier vor allem 22 ff. (jeweils mit umfangreichen Literaturhinweisen). 2 Halbwachs, Maurice, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin/Neuwied 1966, S. 17. Vgl. auch ders., Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967. 3 Assmann, Jan, Kollektives Gedächtnis (wie Anm. 1), S. 9. 4 Ebd. Vgl. überdies ders., Das kulturelle Gedächtnis (wie Anm. 1), S. 12ff. 5 Assmann, Jan, Kollektives Gedächtnis (wie Anm. 1), S. 12. 26 FS Kolb

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rigen und zwischen der Eigenheit und der Fremdheit. Nur so ist die Identitätsstiftung einer Gruppe durch ein kulturelles Gedächtnis vorstellbar. Wichtig in unserem Zusammenhang ist überdies ein Aspekt, den Assmann in seiner "Theorie des kulturellen Gedächtnisses" als "Rekonstruktivität" bezeichnet hat. "Kein Gedächtnis", schreibt er, "vermag Vergangenheit als solche zu bewahren", sondern - und nun wieder in Anlehnung an Maurice Halbwachs - nur jene Ausschnitte und Wahmehmungsbereiche, die eine gesellschaftliche Gruppe in einer konkreten Epoche "mit ihrem gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann. Das kulturelle Gedächtnis verfährt rekonstruktiv, d. h. es bezieht sein Wissen immer auf eine aktuelle gegenwärtige Situation. Es ist zwar fixiert auf unverrückbare Erinnerungsfiguren und Wissensbestände, aber jede Gegenwart setzt sich dazu in aneignende, auseinandersetzende, bewahrende und verändernde Beziehung,,6. Dabei ergeben sich unterschiedliche Grade der Verbindlichkeit und ein "Relevanzgefälle", das den kulturellen Wissensvorrat im Sinne wichtiger und unwichtiger, zentraler und peripherer, markanter und belangloser Eigenschaften strukturiert. Die Auswahlkriterien für dieses identifikatorische Aneignungsverfahren liefern nicht das objektive Erscheinungsbild, sondern die Funktion und Brauchbarkeit, die ihnen für die Produktion und Reproduktion des Selbstbildes zugemessen werden 7 • Als ein sinnfälliges Beispiel für ein solches Anverwandlungsverfahren kann die Geschichte des Erinnerns an den österreichischen Feldmarschall Ernst Gideon Frhr. von Loudon (1717 - 1790), eines Zeitgenossen und Gegenspielers Friedrichs des Großen, gelten 8 • An ihm ist mit besonderer Eindringlichkeit nachweisbar, wie das kulturelle Gedächtnis ein eigenes, von der Quellenüberlieferung im engeren Sinne durchaus abweichendes Bild zu entwerfen vermag. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Loudon eigentlich und objektiv betrachtet nur als Feldherr in exzeptioneller Weise in Erscheinung getreten ist. Das Bild jedoch, das sich schon Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. 8 Im folgenden ist mehrfach auch von ,,Laudon" die Rede. Er nannte sich ursprünglich tatsächlich so, ließ sich dann aber (1759) zu einer neuen Schreibweise überreden, als ihm am Wiener Hof seine angeblich schottische Herkunft insinuiert wurde. Vgl. im einzelnen Kunisch, Johannes, Ernst Gideon Frhr. von Laudon, in: NDB 13 (1982), S. 700ff., und ders., Feldmarschall Loudon oder das Soldatenglück, zuletzt in: Ders., Fürst - Gesellschaft - Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition des absoluten Fürstenstaates, Köln / Weimar / Wien 1992, S. 107 - 129. Umfassend vor allem auch in rezeptionsgeschichtlicher Perspektive der Lexikonartikel in: Wurzbach, Constant von, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich, Bd. 16, Wien 1867, S. 66 - 92. Mir schwebt vor, bei dieser erneuten Beschäftigung mit Ernst Gideon Frhr. von Loudon die noch nie als solche thematisierte Geschichte seines Nachruhms zunächst einmal in großen Zügen zu skizzieren. Der Gesamtkomplex der Loudon betreffenden kollektiven Erinnerung, dem neben den Texten im umfassenden Sinne auch die umfangreiche Bildüberlieferung und die dem Feldmarschall gewidmeten Monumente, also ein breites rezeptionsästhetisches Umfeld, zuzurechnen sind, muß nicht zuletzt aus Platzgründen an anderer Stelle zur Sprache kommen. 6

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die Zeitgenossen, in besonderer Weise dann aber die Nachwelt von ihm gemacht haben, läßt Züge dieses schließlich allenthalben als verehrungswürdig erscheinenden Mannes hervortreten, die sich vom Ruhm des Feldherrn und seinen Verdiensten beinahe völlig gelöst haben. Es ist im Konkreten schwer nachvollziehbar, auf welche Wurzeln ein solches, sich im Laufe der Jahrzehnte immer mehr verfestigendes Meinungsbild zurückzuführen ist. Eine maßgebliche Rolle in diesem Prozeß einer unwillkürlichen Sinnstiftung dürfte jedoch dem Dichter, Schriftsteller und Gelehrten Christian Fürchtegott GelIert zuzumessen sein. Dieser vielumworbene und überaus einflußreiche Mann, der Präzeptor Germaniae und Tugendmeister zumindest des protestantischen Teils der Nation, der mit seinen Schriften und Vorlesungen einer ganzen Generation moralischen Halt zu geben vermocht hatte, war längst zu einer Instanz geworden, die in allen Fragen menschlichen Wohlverhaltens und literarischen Geschmacks den Ton angab. "Wenn jemand", äußerte Hans-Jürgen Schings, "das empfindsame Bürgertum der Jahrhundertmitte repräsentiert, dann Christian Fürchtegott Gellert,,9. GelIert also war während eines Kuraufenthaltes in Karlsbad im Juli und August 1763 mehrfach mit Loudon zusammengetroffen, der sich damals ebendort von den Strapazen des letzten Feldzugs erholte. GelIert berichtete über diese Begegnungen am 26. August 1763 unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Karlsbad an Demoiselle Christiane Caroline Lucius - eine Freundin und "liebe Corresdpondentinn", mit der er lange Jahre hindurch einen intensiven Briefwechsel führte. Dieses 13 Seiten umfassende Handschreiben wurde erstmals in Band 10 von Gellerts Sämtlichen Schriften veröffentlicht, also 1774 dem Lesepublikum bekanntgemacht 10 . Und obwohl Loudons Name damals noch mit einem ,,L" verschlüsselt genannt wurde, hat es den Anschein, als wenn die Zeitgenossen doch sehr frühzeitig schon über die Identität des Gesprächspartners dieses so außerordentlich hochgeschätzten Schriftstellers informiert warenlI. Die präzisen Ortsangaben ließen im Grunde ja auch keinen Zweifel zu. In diesem Brief wird ein Charakterbild des damaligen Feldzeugmeisters entworfen, das für seine Rezeptionsgeschichte von prägender Wirkung geworden ist. Loudon habe ihn zuweilen auf dem Schimmel, den er auch in der Schlacht von Hochkirch geritten habe, zu Ausflügen begleitet. Er war, schrieb GelIert, eine der ersten und liebsten Bekanntschaften, die ich gemacht habe l2 : "ein Mann von einem 9 Schings, Hans-Jürgen, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977, S. 127. 10 Geliert, Christian Fürchtegott, Sämmtliche Schriften, 10 Theile, Leipzig 1769-1774, hier Bd. 10; vgl. auch Cramer, Johann Andreas, Gellerts Leben, Leipzig 1774, S. 130 - 138. 11 Ebert, Friedrich Adolf (Hrsg.), Briefwechsel Gellerts mit Demoiselle Lucius, Leipzig 1823, S. 229; hier wird angemerkt, daß in dieser Fassung die auf die Anfangsbuchstaben verkürzten Personennamen erstmals dem Original entsprechend wiedergegeben würden. 12 Zitiert nach der textkritischen Ausgabe: Reynolds, John F. (Hrsg.), c.F. Gellerts Briefwechsel, Bd. m (1760-1763), Berlin/New York 1991, S. 318-322 bzw. 519f., hier 318.

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besonderen Charakter; ernsthaft, bescheiden, halb traurig, fast wie ich; der wenig redte, fast wie ich, aber richtig u. wahr redte, nichts von seinen Thaten, wenig vom Kriege sprach, der aufmerksam zuhörte und in seinem ganzen Betragen, in seiner Art sich zu kleiden eben die gefällige Einfalt und Anständigkeit zeigte, die in seinen Reden herrschte. Er ist nicht groß von Person, aber wohlgewachsen; hager, aber weniger, als ich; hat nachsinnende, tief im Kopfe eingeschloßne lichtgraue Augen, oder auch wohl bläuliche, fast wie ich, und etwas röthliche Augenbrauen, nicht wie ich. Die Ähnlichkeit unsers traurigen Wesens und vielleicht auch die Unähnlichkeit unsers Ruhms machte uns bald zu Freunden. Anfangs mochte er sich vor mir fürchten, so wie ich mich vor ihm. 0 sagte er einmal zu mir, als er mich allein in der Allee fand: ieh käme oft gern zu Dmen; aber ich fürchte mich, ich weis nicht, ob Sie mich haben wollen. Ein andermal fieng er an: Sagen Sie mir nur, Herr Professor, wie es möglich ist, daß Sie so viele Bücher haben schreiben können, und so viel Muntres u. Scherzhaftes? Ich kanns gar nicht begreifen, wenn ich Sie so ansehe. - Das will ich Ihnen wohl sagen, antwortete ich. Aber sagen Sie mir erst, Herr General, wie es möglich ist, daß Sie die Schlacht bey [ ... ] die Schlacht bey Kunnersdorf haben gewinnen und Schweidnitz in einer Nacht einnehmen können. Ich kanns gar nicht begreifen, wenn ich Sie so ansehe. - Damals habe ich ihn das erstemal herzlich lachen sehen, sonst lachte er nur halb. Er hatte sich genau nach meinem Geschmacke erkundiget. Er bat mich nicht eher zu Tische, als wenn er allein war, ließ meistens weiche Speisen zubereiten, ließ meinen eignen Wein kommen, ließ mich vom Herzen heraus reden, u. redte selbst so, ließ mich bald nach der Tafel gehn; kurz er nahm meinen Willen fast ganz an. Ich habe aus seinem Munde nichts als erlaubtes u. Gutes gehört, und immer gemerket, daß er religiös war. Wollte Gott, er gehörte noch zu unsrer Kirche! Ich mußte ihm eine kleine Bibliothek aufsetzen; denn das war seine Klage, daß er nicht studiret hätte. Aber in der That ersetzte sein natürlich scharfer Verstand und seine große Aufmerksamkeit auf alles, bey ihm den Mangel der Wissenschaften. Über dieses liest er auch gern" 13. Geliert charakterisierte seinen Gesprächspartner und Gefährten während des Karlsbader Kuraufenthaltes durch die rhetorische Figur eines Vergleichs mit seiner eigenen, zu Selbstbeobachtung und Schwermut neigenden Person. Anfangs, äußerte er, habe es den Anschein gehabt, als wenn sich Loudon vor ihm fürchtete, so wie er sich auch vor ihm. Aber dann habe sie die Ähnlichkeit ihres traurigen Wesens vielleicht auch die Unähnlichkeit ihres Ruhmes zu Freunden gemacht. Loudon erschien GelIert als furchtsam und scheu, ernsthaft und bescheiden und fast so traurig wie er selbst. In seinem ganzen Betragen habe er jene "gefällige Einfalt und Anständigkeit" gezeigt, die auch in ihren Gesprächen hervortrat. Er redete nicht über seine Taten und wenig über den Krieg, aber immer aus ganzem Herzen. Mit Bedauern konstatierte GelIert, daß er als urspünglicher Lutheraner konvertiert sei. Loudon äußerte auch seinen Kummer, nicht studiert zu haben. Aber den Man13

Ebd., S. 319.

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gel an Wissenschaft habe er durch seinen "natürlich (offenbar im Sinne von angeboren) scharfen Verstand" und seine Wißbegierde wettzumachen vermocht. Alles deutet in diesem Bericht auf authentische Wahrnehmungen hin, auf die Schilderung des wirklichen Erscheinungsbildes eines Mannes, der auch von anderen Zeitgenossen so gesehen wurde 14• Aber zugleich ist unverkennbar, daß am Beispiel Loudons ein Tugendkanon entfaltet wird, der mit wenigen Attributen zusammenfaßt, was in einer sich bürgerlich definierenden Öffentlichkeit unter einem "Biedermann" verstanden wurde: ernsthaft, bescheiden, etwas schwermütig und an Bildung und Gelehrsamkeit interessiert. Loudon wurde demzufolge in keiner Weise als der hochgerühmte Schlachtenheld wahrgenommen, als der er populär geworden war. Vielmehr war er in seiner unprätentiösen Schlichtheit, seiner Empfindsamkeit und seinem stillen, aufmerksamen Wesen der Sphäre höfischer Selbstdarstellung und Eitelkeit so weit entrückt, daß er als das Muster aller Tugenden erscheinen konnte, denen bürgerliche Moralisten wie GelIert unermüdlich Geltung zu verschaffen bestrebt waren 15 . Besonders Ernsthaftigkeit und Bescheidenheit sind Tugenden geblieben, denen bis heute hohe Wertschätzung entgegengebracht wird; sie werden übrigens zur Charakterisierung Loudons auch in anderen Texten noch eine Rolle spielen. Aber wie verhält es sich mit dem Hinweis auf Loudons trauriges Wesen, das mit Gellerts eigener Befindlichkeit so augenscheinlich zu korrespondieren schien? Geht es hier um jene Melancholie, die in der neueren Forschung als ein Schlüssel zur Pathogenese der bürgerlichen Welt betrachtet worden ist? Wolf Lepenies hat diesen Weltschmerz in seinem 1969 erschienenen Buch über die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Melancholie in einer aus heutiger Sicht doch allzu schlicht und vordergründig erscheinenden Weise auf den Ausschluß der bürgerlichen Intelligenz von der realen Macht zurückzuführen versucht und besonders die Literatur und Poesie des 18. Jahrhunderts als Erscheinungsform einer gesellschaftlich bedingten Resignation hingestellt 16 • Für GelIert könnten solche Mutmaßungen immerhin nicht auszuschließen sein - allerdings unter der entscheidenden Voraussetzung, daß Schriftsteller wie er die Partizipation an politischer Machtausübung auch tatsächAuf entsprechende Äußerungen wird an anderer Stelle einzugehen sein. Vgl. im einzelnen Martens, Wolfgang, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1971, vor allem S. 285 -403; Sauder, Gerhard, Empfindsamkeit, Bd. I: Voraussetzungen und Elemente, Stuttgart 1974, und ders., "Bürgerliche" Empfindsamkeit?, in: Vierhaus, Rudolf (Hrsg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, Heidelberg 1981, S. 149 - 164. Von der Semantik bürgerlicher Tugendhaftigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist an anderer Stelle noch ausführlicher zu handeln. Vgl. als Wegweiser in die Komplexität des damaligen Sprachgebrauchs einstweilen Stanitzek, Georg, Blödigkeit. Beschreibungen des Individuums im 18. Jahrhundert, Tübingen 1989. 16 Lepenies, Wolf, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt I M. 1969, S. 79 - 117 und 200 - 209. Über das Gesamtspektrum der geisteswissenschaftlichen Melancholieforschung unter besonderer Berücksichtigung des 18. Jahrhunderts Schings, Hans-Jürgen, Melancholie (wie Anm. 9), S. 1 - 10, zum Forschungsansatz von W. Lepenies im besonderen, S. 3 ff. 14 15

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lich angestrebt und unter ihrer Zurückweisung gelitten haben 17 . Aber wie steht es mit Loudon? Er hatte es im Jahre 1763 allen Widrigkeiten zum Trotz immerhin zum Feldzeugmeister, dem zweithöchsten Generalsrang in der österreichischen Armee, gebracht und konnte im übrigen auf eine adlige Abstammung verweisen, die freilich in Wien nicht ganz zu unrecht als wenig reputierlich eingeschätzt wurde. Er war also einer höfisch orientierten Ranghierarchie zuzuordnen, die angesichts eines in Gesellschaft fugenlos aufgehenden Daseins keine Traurigkeit zuließ, weil der Hof im Zeitalter des Barock der permanenten Inszenierung irdischen Glücks verpflichtet war. Der Hof konnte keine Trauer dulden, weil in seiner Sphäre sogar die Affekte geregelt waren. Hoftrauer fand deshalb auf obrigkeitlichen Befehl statt und war eine durch Etikette verordnete Ausnahmesituation 18 . Loudon zeigte seine Schwermut dennoch in einer für seine Umgebung auffälligen Weise. Sie könnte tatsächlich, wie auch GelIert überliefert hat, in der Scham über seine unzureichende Bildung und die geringe Vertrautheit mit höfischen Umgangsformen begründet gewesen sein. Er las deshalb und bat GelIert, ihm bei der Zusammenstellung einer Bibliothek behilflich zu sein. Aber durch sein ganzes Leben - das berichten alle Zeitzeugen übereinstimmend - zog sich zugleich auch die Klage über ungerechte Zurücksetzungen und Intrigen, denen er von seiten des Hofes und der Rivalen in der Generalität ausgesetzt gewesen sei; davon wird unten noch eingehender die Rede sein. Wie immer jedoch die Wahrnehmung einer solchen Außenseiterrolle auch bewertet werden mag - die ihm zugefügten Kränkungen dürften übrigens das übliche Maß kaum überschritten haben und durch spektakuläre Gunsterweise des Hofes kompensiert worden sein 19 -, blieb nach Maßgabe von Erscheinungsbild, Gemütsverfassung und Mentalität doch ein Ansatzpunkt, der Loudon über alle Berufs- und Standesunterschiede hinweg mit GelIert vergleichbar machte 2o • Insofern war er auch in bezug auf sein trauriges Wesen eine Persönlichkeit, die einem von bürgerlicher Empfindsamkeit durchdrungenen Tugendkanon mühelos eingefügt und als Lichtgestalt eines neuen Gesellschaftsbildes hingestellt werden konnte. Als räsonierender und bereits zu einer historischen Würdigung vordringend sind die rückerinnernden Bemerkungen einzuschätzen, die der Schriftsteller und Gelehrte Georg Forster dem soeben verstorbenen Feldherrn gewidmet hat. Sie sind 17 Hierzu jetzt auf umfassender Quellengrundlage Martens, Wolfgang, Der patriotische Minister. Fürstendiener in der Literatur der Aufklärungszeit, Weimar / Köln / Wien 1996, und Maurer, Michael, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680 - 1815), Göttingen 1996. 18 Lepenies, Wolf, Melancholie (wie Anm. 16), S. 94, hier unter Bezugnahme auf Elias, Norbert, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Neuwied/Beriin 1969. 19 Auch davon wird an anderer Stelle ausführlicher zu reden sein. Vgl. einstweilen Kunisch, Johannes, Feldmarschall Loudon (wie Anm. 8), S. 116ff. 20 Daß bei Gellert auch andere Ursachen für seine melancholische Weitsicht maßgeblich waren, erläutert Schings, Hans-Jürgen, Melancholie (wie Anm. 9), S. 127 -132.

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vor allem deshalb aufschlußreich, weil sie das gesamte Spektrum jener gerade auch nicht militärischen Persönlichkeiten in den Blick rücken, an denen sich Loudon als ein Mann von überragendem Rang messen lassen mußte; ich zitiere deshalb Forsters Ausführungen ungekürzt: "Es gibt Jahre, die dem Menschengeschlechte besonders nachteilig sind; auf einmal entreißen sie ihm eine große Anzahl Männer, deren Verdienste und Tugenden unersetzlich scheinen, oder auf deren Ruhm es stolz sein konnte, oder deren Geisteskräfte die Vorsehung mächtig in die Schicksale ihrer Zeitgenossen einwirken und die Begebenheiten der Zukunft vorbereiten ließ. Joseph der Zweite, Franklin, Howard, Basedow, Hontheim, Ferber, Elliot, Loudon, endigten ihre Laufbahn im Jahre 1790, das überdies noch vielen ausgezeichneten Männem tödlich ward. Was Joseph in seinen Staaten aufgeräumt, gebessert und vorgearbeitet, was Franklin für Amerika und für die Sittlichkeit des ganzen Menschengeschlechtes geleistet, was Howard's sanftes Mitleid für edle Früchte getragen, was Basedow den Geist der Erziehung in Deutschland aus dem Schlaf geweckt, was Hontheim den Grund zur Aufklärung des katholischen Deutschlands gelegt, mit weIchem Geiste Ferber die Gebirgskunde und die Kenntnis der physischen Revolutionen unseres Planeten beleuchtet, wie Elliot auf Kalpe's Felsen gefochten und Loudon, als Östreichs guter Genius, allein gegen Preußen die Schale schwebend erhalten und noch zuletzt die Macht des Türkischen Halbmonds gedemütigt hat - das kann der Geschichtforscher in den charakteristischen Zügen des Jahrs 1790 nicht übersehen. Die kalte, verschlossene Besonnenheit, die tiefe Geistesstille der Überlegung, die schlaue, spähende Wachsamkeit bereiteten in Loudons Seele den plötzlichen, überraschenden, unwiderstehlichen Angriff; dieselbe Kraft des Geistes, dort in sich gekehrt, brach hier unaufhaltsam hervor, und stürmte zum Ziele. Er war ein Feldherr, wie Östreich ihn bedurfte, um dem gebildeteren, aber auch kühner wagenden Geiste Friedrichs und seiner umfassenden Phantasie entgegen zu wirken. In Friedrichs Seele folgten sich die Pulse der Gedanken ungleich schneller; in einem Augenblick führten sie ihn vom Lager und vom Schlachtfelde in alle Cabinette von Europa, in alle Büreaux seiner Minister, in die Werke seiner Lieblingsschriftsteller, in die Traumgebilde der Dichtkunst, in die Melodien seiner Flöte, in die heitere Gemeinschaft mit Voltaire, d' Argens, Keith und so manchen anderen Verwandten seines Geistes. Loudon hatte dagegen nur Einen Gegenstand, den Krieg, und durch diesen sein Glück und Östreichs Wohlfahrt. Diese trockne Beschränktheit las Friedrich in Loudons Zügen, als er jenes berühmte physiognomische Urteil fällte, das ihm hemach im siebenjährigen Kriege so teuer zu stehen kam21 • Allein so still 21 Nach allem, was quellenmäßig belegt werden kann, dürfte es sich hier um eine Legende handeln, die in der Historiographie immer wieder auch mit dem Schicksal verwoben wurde, das dem Prinz Eugen am Hofe Ludwigs XIV. widerfahren sein soll. Gleichwohl gibt es kaum einen biographischen Abriß, der nicht von der angeblichen Begegnung Loudons mit Friedrich dem Großen berichtet. Ich greife unter der Vielzahl entsprechender Überlieferungen eine beliebige heraus: Auf der Reise nach Wien habe Loudon auch in Berlin Station gemacht. Man habe ihn dort zu bewegen versucht, in preußische Dienste zu treten. "Laudon war bereit dazu, er ließ sich dem König Friedrich 11. vorstellen und - misfiel diesem. ,Den Mann mag ich

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und von allem Nebenschimmer entkleidet Loudons Feldherrntalente sich entwickelten, und so wenig er sich in jeder andern Rücksicht über die gewöhnliche Menschheit erhob, so wesentlich war gleichwohl' der Gewinn, den er seinem adoptierten Vaterlande 22 damit erwarb; und so schnell folgten sich seine Siege und seine Beförderungen, daß am Ende, ungeachtet ihm der Neid manches Hindernis in den Weg gelegt hatte, sein Monarch sich nicht mehr reich genug glaubte, um ihn für die Einnahme von Belgrad zu belohnen; ein Stern, mit großen Juwelen besetzt, den sonst nur Souveraine tragen durften, ward ihm zur Auszeichnung - geliehen 23 . Der graue Krieger sollte sich im Jahre 1790 noch einmal mit Preußens Feldherren messen; der Lorbeer, den er hier zu ernten hoffte, schmeichelte ihm mehr, als seine glänzenden Siege über die Barbaren; er zog, wie mit verjüngten Kräften, zu Felde. Allein Leopolds ultramontanische Staatskunst versuchte den Weg der Unterhandlungen; während die beiden Heere mit Ungeduld des Ausgangs harrten, ward Loudon tödlich krank, und anstatt sein Ende auf dem Schlachtfelde zu finden, schied er ruhig dahin mit dem halbunmutigen Scherz, daß sein friedfertiger Monarch ihn zu entbehren wisse. Die Folgen einer Unverdaulichkeit verursachten seinen Tod; aber eigentlich war es die Rückgabe von Belgrad, die er nicht verdauen konnte,,24. Forster versuchte in dieser einem Nachruf ähnlichen Würdigung ausdrücklich, dem Feldherm Loudon gerecht zu werden, obwohl außer der Erstürmung von Belgrad im Jahre vor seinem Tode keine seiner militärischen Erfolge erwähnt oder beschrieben werden. Er verglich ihn nicht nur mit anderen Berühmtheiten, die im Jahre 1790 verstorben waren, sondern auch mit seinem großen Kontrahenten, dem Preußenkönig. Und obwohl Forster auf gravierende und keineswegs nur schmeichelhafte Unterschiede hinzuweisen sich nicht scheute, entwarf er doch das scharf konturierte Bild eines Mannes, der ihm durch sein besonnenes und entschlossenes Handeln als "Östreichs guter Genius" erschien. Offenbar war Forster hervorragend informiert und traf mit seiner Charakteristik Loudons durchaus das Wesentliche. nicht, er gefällt mir nicht!', hatte der König geäußert, und dies Wort brachte Preußens Heer um den tapfersten Mann, schuf dem großen König seinen ebenbürtigsten Gegner"; vgl. Bechstein, Ludwig (Hrsg.), Zweihundert deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen, Leipzig 1854, ohne Paginierung. Vgl. ferner Kunisch, Johannes, Feldmarschall Loudon. Jugend und erste Kriegsdienste, Wien 1972, S. 33. 22 Er war in Livland gebürtig und über russische und schwedische in österreichische Dienste gelangt. 23 Gemeint ist offensichtlich das mit Brillanten besetzte Großkreuz des Militär-Maria-Theresien-Ordens am Band, das nach Loudons Tod an das Erzhaus zurückgegeben werden mußte. Es befindet sich heute im Besitz des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien (Inv.Nr. NI 2230); eine Abbildung in: Das Heeresgeschichtliche Museum Wien, Wien 1960, S. 194. 24 Forster, Georg, Physiognomie eines Revolutionsjahres. Erinnerungen aus dem Jahre 1790, hrsg. (und vortrefflich kommentiert) von Ueding, Gerd, Tübingen 1995, S. 93 -95. Vgl. zu Autor und Werk auch Uhlig, Ludwig, Georg Forster. Einheit und Mannigfaltigkeit in seiner geistigen Welt, Tübingen 1965.

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Aber auch in diesem um nüchterne Analyse bemühten Porträt finden sich Versatzstücke, die in der Rückerinnerung an Loudon später immer stärker pointiert wurden. So ist neben der plötzlich hervorbrechenden Kraft seines Geistes auch von der Insichgekehrtheit und noch drastischer von der "trockenen Beschränktheit" seines Wesens die Rede. Dieses Charakterbild war so beschaffen, daß es mühelos in die Vision einer neuen, aus dem festgefügten Gebäude des Ancien regime heraustretenden Gesellschaftsordnung eingefügt werden konnte. Es forderte geradezu dazu heraus, Loudon mit den überragenden, für den Fortschritt des ganzen Menschengeschlechtes maßgeblichen Geistern der Zeit auf eine Stufe zu stellen. Die Verdienste und Tugenden dieser "ausgezeichneten Männer" schienen Forster nicht nur unersetzlich, sondern auch geeignet, auf die Schicksale der Zeitgenossen einzuwirken und die Lebensumstände der Zukunft zu verändern. Deshalb verdienten sie es seiner Auffassung nach, im kollektiven Gedächtnis der Nachwelt fest verankert zu sein. Ein anderer Zeitzeuge für das Erscheinungsbild und das Auftreten des Feldmarschalls ist ein Militärschriftsteller, der in der publizistischen Öffentlichkeit der Zeit auf den ersten Blick nur ganz am Rande in Erscheinung getreten ist. Es handelt sich dabei um Jacob de Cognazo, der nach den in der Regel zuverlässigen Auskünften von Max Jähns vermutlich im Juli 1732 in Ungarn als Sohn eines Kroaten italienischer Abstammung und einer Deutschen geboren wurde25 . Er tat Dienst bei einem österreichischen Infanterie-Regiment. Eine Verwundung, die er in der Schlacht von Hochkirch am 14. Oktober 1758 erhalten haben soll, zwang ihn, als Rittmeister zu den leichten Truppen überzuwechseln. Eine Arreststrafe wegen eines Sittlichkeitsvergehens oder - wie es in einer anderen Version heißt - wegen konspirativer Verbindungen zur preußischen Seite erbitterte ihn jedoch so sehr, daß er am 10. Juli 1763 den Dienst quittierte und sich in Schlesien niederließ 26 • Hier begann er zu schreiben und legte neben den "Geständnissen eines Östreichischen Veterans", um die es hier vor allem geht, noch einen "Freymüthigen Beytrag zur Geschichte des östreichischen Militairdienstes" vor27 . Diese in Breslau und Frankfurt erschienenen Werke tragen autobiographische und apologetische Züge und sind unverkennbar von einer tiefen Verehrung für Friedrich den Großen, den "Vater 25 Jähns, Max, Geschichte der Kriegswissenschaften vornehmlich in Deutschland, 3 Bde., München/Leipzig 1889-1891, hier Bd. 3, S. 1877. 26 Vgl. den anonym veröffentlichten Artikel: Eine Erwiderung auf die im November und Dezember 1878 in der ,,Allgemeinen Militär-Zeitung" erschienene "Charakteristik der Feinde und der Verbündeten Preußens während des siebenjährigen Krieges", in: Mittheilungen des K.K. Kriegsarchivs, 1879, S. 15. 27 Cognazo, Jacob de, Geständnisse eines Östreichischen Veterans in politisch-militärischer Hinsicht auf die interessantesten Verhältnisse zwischen Östreich und Preußen während der Regierung des großen Königs der Preußen, Friedrichs des Zweyten [ ... ], 4 Bde., Breslau 1788 -1791, und ders., Freymüthiger Beytrag zur Geschichte des östreichischen Militairdienstes, Frankfurt/Leipzig 1780.

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der Helden und Fürsten der Denker" durchdrungen. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß der Quellenwert dieser Geständnisse vor allem von österreichischen Historikern immer wieder in Zweifel gezogen worden ist28 . Auch Jähns, ein sicherlich preußisch gesinnter Autor, der jedoch über vorzügliche Kenntnisse der gesamten frühneuzeitlichen Kriegswissenschaft verfügte 29 , gab zu bedenken, daß ungeachtet aller Einblicke, die Cognazo in das innere Gefüge des österreichischen Militärs vermittelt, nicht zu übersehen ist, daß er aus leidenschaftlicher Parteinahme geurteilt hat. Unverkennbar ist jedoch, daß Cognazo wie ganz wenige Autoren, die sich mit dem Heerwesen des ancien regime beschäftigt haben, über eine besonders ausgeprägte Sensibilität in Fragen sozialer Konfigurationen verfügte. Auf diesem Gebiet besaß er eine Kompetenz, die ihn zu einem außerordentlich interessanten Zeitzeugen macht. Aber wie immer man auch die Person und das schriftstellerische Oeuvre Cognazos einschätzen mag: Wichtig ist in unserem Zusammenhang, daß er die Außenseiterrolle, die Loudon am Kaiserhof und in der österreichischen Armee trotz aller seiner Erfolge und Auszeichnungen von Anfang an gespielt hat, erstmals unverblümt und mit sicherem Gespür für die Fragen der Ranghierarchie im Militär beim Namen genannt hat. Loudon war, schreibt er in seinen "Geständnissen", "ganz sichtbar von der Vorsehung" dazu bestimmt, den Ruhm der österreichischen Waffen zu retten, obwohl er ohne Empfehlung und Vermögen in kaiserliche Dienste trat und sein Glück als Parteigänger ,,in Rücksicht auf sein Verdienst fast jederzeit unter dem Mittelmäßigen" lag. Zu Beginn des Siebenjährigen Krieges, fahrt Cognazo dann in überaus treffender Kennzeichnung der als beinahe aussichtslos zu bezeichnenden Situation fort, in der sich Loudon noch im Alter von 39 Jahren befand, "war er bei den Slavoniern aggregirter Oberstlieutenant, welches in östreichischen Diensten oft das Summum bonum eines abgelebten und zum Majorsdienst unbrauchbaren Capitains zu seyn pflegte". Im Feldzug des Jahres 1757 zeigten sich jedoch seine Talente in auffallendem Licht. "Sein unternehmender Geist, seine große Geschicklichkeit im kleinen Krieg, war bei jeder Gelegenheit unverkennbar. Die mißliche Wendung, welche das preußische Waffenglück nach aufgehobener Belagerung von Prag nahm, trug nicht wenig dazu bei, daß Laudon an der Spitze seiner Croaten hie und da als Partisan glänzen konnte. Zum Glück verkannte der Hof den auch im Großen brauchbaren Mann nicht. Zu Ende des 28 Vgl. Eine Erwiderung (wie Anm. 26), 5 ff. "Dieses jämmerliche Buch", schreibt auch der Biograph Maria Theresias, Alfred von Arneth, "wird noch heut zu Tage von preußischen Schriftstellern als eine vertrauenswürdige Quelle zur Beurtheilung österreichischer Anschauungen und Zustände citirt". Und an anderer Stelle: "Wenn von einem Manne, der unter der Maske eines österreichischen Veterans, man möchte fast sagen verrätherischer Weise mehr für eine einseitige, preußisch gefärbte Darstellung der damaligen Ereignisse gethan hat, als dieß von noch so parteiischen preußischen Federn geschah, das Gegentheil (archivalisch nachweisbarer Fakten) behauptet wird, so mag dieß als ein Beweis gelten, wie wenig Glauben die so oft nacherzählten Angaben jenes Schriftstellers überhaupt verdienen"; vgl. Ritter von Arneth, Alfred, Geschichte Maria Theresias, Bd. 4, Wien 1870, S. 561 und 493. 29 Gersdorff, Ursula von, Maximilian Jähns, in: NDB 10 (1974), S. 284.

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gedachten Feldzuges sahen wir ihn schon als General Major. Im J. 1758 als Feldmarschallieutenant und 1760 als General von der Infanterie an der Spitze eines Heeres in Schlesien,,3o . Er wolle sich, fuhr Cognazo fort, an dem Gezänk der "Daunianer" und ,,Laudonianer" nicht beteiligen. Doch was er von Loudon sage, seien weltkundige Daten. ,Jch verlange ihn keinem unsrer großen Feldherren vorzusetzen: einige hatten im theoretischen Theile der Kriegskunst Vorzüge vor ihm; andere waren ihm im praktischen gleich; aber wenn es auf die Frage ankommt, wer von ihnen dem Könige von Preußen in diesem langwierigen, auf beyden Seiten mit Glück und Unglück oft wechselnden Kriege den meisten Abbruch gethan; wer seit dem Jahre 1758 den glücklichen Lauf der feindlichen Operationen am meisten unterbrochen, und den unsrigen eine erträgliche Wendung gebracht hat; so glaube ich, daß man den Feldmarschall Laudon keinem anderen nachsetzen darf. Ich weiß es, wie sehr die Eifersucht seiner Rivalen und der Zahn des Neiders an dem Ruhme dieses verdienstvollen Mannes immer genagt hat, und - wohl noch naget: allein können dadurch geschehene Dinge ungeschehen gemacht, oder kann die große Wahrheit verheelet werden, daß unter den österreichischen Feldherren Laudon der erste und einzige gewesen, der im Jahre 1760 die Möglichkeit bewies, das zu thun, was wir seit 4 Feldzügen nicht im Stande waren: nernlich, in Feindes Landen die Campagne zu eröffnen?,,31 Erschien Cognazo der steile Aufstieg Loudons unter den vorwaltenden Umständen demnach als so ungewöhnlich, daß er ihn nur als ein "ganz sichtbares" Werk der Vorsehung, als die wunderbare Fügung eines gütigen Schicksals betrachten konnte, so ist trotz des strahlenden Lichts, in welchem Loudon vielen seiner Bewunderer erschien, nicht zu verkennen, daß ihm der Makel seiner niederen Herkunft und unzureichenden Ausbildung anhaftete und nicht nur bei den neidvoll seine kometenhafte Karriere beargwöhnenden Rivalen in Erinnerung blieb. Denn auch seine Gönner, im besonderen der Staatskanzler Kaunitz, zogen die außergewöhnlichen Umstände, unter denen Loudon im Siebenjährigen Krieg aufgestiegen war, gerade wegen der möglichen Mißgunst innerhalb der Generalität durchaus in Betracht. Er blieb auf der Rangstufe, die er schließlich zu erreichen vermochte, ein Mann, der sich auch bei offenkundiger Wertschätzung und unverkennbarem Wohlwollen in die gewachsenen Strukturen höfischer und militärischer Hierar.chien nur schwer einfügen ließ 32 . Die "Geständnisse" Cognazos, deren Erscheinen sich mit dem Tode Loudons überschnitt, dürften über einen engeren Kreis von unmittelbar am Kriegsgeschehen Interessierten hinaus kaum rezipiert worden sein. Sie erlebten nur eine Auflage 30 Cognazo, Jacob de, Geständnisse eines Östreichischen Veterans (wie Anm. 27), Bd. 3 (1790), S. 128 f. 31 Ebd., S. 130. 32 Im einzelnen Kunisch, Johannes, Feldmarschall Loudon (wie Anm. 8), vor allem S.114ff.

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und sind bis heute eine bibliophile Rarität geblieben. Etwas mehr öffentliche Resonanz dürfte zumindest in Österreich die Trauerrede gefunden haben, die vermutlich anläßlich einer Aufbahrung des Verstorbenen in Budapest am 22. Juli 1790 von Friedrich Freiherr von der Trenck gehalten worden ist. Trenck hatte sich zu diesem Zeitpunkt als ebenso umtriebiger wie berüchtigter Abenteurer, aber auch als Schriftsteller einen Namen zu machen gewußt und dürfte mit seiner Würdigung Loudons auch deshalb auf Interesse gestoßen sein, weil der nun so hochgerühmte Feldmarschall seine militärische Karriere in österreichischen Diensten im Pandurenkorps seines Vetters, des Obersten Franz Freiherr von der Trenck, begonnen hatte 33 . Dieser Nachruf scheint damals in einem Separatdruck erschienen zu sein, ist aber dann erst 1881 in einer Anthologie der Loudon gewidmeten Gedichte und Lieder noch einmal veröffentlicht worden 34 . Er unterstreicht mit einer Cognazo kaum nachstehenden Offenheit noch einmal jene Charakterzüge, die dem Nachruhm des Verstorbenen eine deutlich umrissene Kontur verliehen haben. "Arm war sein Vater in Lievland", äußerte Trenck, "aber ein guter Edelmann. Er konnte ihm die Erziehung nicht geben, die große Talente fordern, um in ihrem Glanze aufzutreten: Loudon mußte sich selbst bilden, selbst die Bahn brechen, deswegen blieb er alle Zeit bescheiden, zurückhaltend und schüchtern, auch da er schon unter den Ersten bei Hofe erscheinen durfte". Seine Bescheidenheit und Höflichkeit verschönerten seinen Charakter und machten ihn überall liebenswürdig, "wo man den Mann nicht nach dem Titel, sondern nach dem inneren Werthe verehrt. Wie viel mußte er nicht durch diese in Wien nicht eben prangende Tugend erdulden, wo der fremde Adel vor der Thüre stehen muß. Nur erst, da er durch Titel und Hofgnade groß wurde, gestattete man einem Laudon den Zutritt unter die Schaaren der Exzellencen. Hier aber war er nicht zu Hause, und wer ihn kennen wollte, der fand ihn nur an der Spitze der Armee in seiner wahren Gestalt. Weil er nun für das Hofleben weder geboren noch gebildet und eigentlich nur Soldat und ehrlicher Mann im ganzen Sinne dieses Charakters war, so hatte er auch trotz allen seinen Verdiensten und Handlungen dennoch beständig alle möglichen Hindernisse der Mißgunst, alle Geringschätzigkeit von Hochmüthigen, auch von seinen Nebenbuhlern in der Kriegskunst erdulden [ ... ] müssen". Doch erwarb er sich "den Lohn standhafter Tugend, bis er am höchsten Gipfel derselben ebenso groß starb, als er gelebt und gehandelt hatte,,35. 33 Vgl. im einzelnen Kunisch, Johannes, Feldmarschall Loudon. Jugend und erste Kriegsdienste (wie Anm. 21), S. 34 - 58; zu Trencks Autobiographie vor allem: Volz, Gustav Berthold (Hrsg.), Friedrich der Große und Trenck. Urkundliche Beiträge zu Trencks "Merkwürdiger Lebensgeschichte", Berlin 1926. 34 Trenck, Friedrich Frhr. von der, Denkmal und Trauerrede bei dem Grabe unseres geliebten Laudon's, Feldmarschall aller österreichischen Kriegsheere. Pest, den 22. Juli (1790), Ofen und Wien 1790, abgdr. in: Janko, Wilhelm Edler von (Hrsg.), Laudon im Gedicht und Liede seiner Zeitgenossen, Wien 1881, S. 147 - 160, hier 151 f. 35 Ebd., S. 151 f.

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Geht es hier bereits um Stereotypen? Vieles an dieser rhetorisch überhöhten Eloge wirkt ohne Zweifel aufgesetzt und überzogen, obwohl unverkennbar ist, daß viele der von Trenck verwendeten Figuren mit den Eindrücken übereinstimmen, die GelIert bereits 1763 in seinem Brief an Demoiselle Lucius und Cognazo in seinen "Geständnissen" übennittelt haben. Der Kern der Trauerrede dürfte demzufolge ein authentisches Bild des Verstorbenen vennitteln: des "ehrlichen Mannes" von "standhafter Tugend". Von entscheidender Bedeutung für den Nachruhm Loudons ist es indessen geworden, daß die vor allem von Cognazo entworfene Charakterskizze des Feldmarschalls von einem Mann rezipiert wurde, der zu den historiographischen Erfolgsautoren des 18. und 19. Jahrhunderts zu zählen ist: Johann Wilhelm von Archenholz 36 . Er galt bisher als Sprößling einer hannoverschen Adelsfamilie, ist aber nach den scharfsinnigen Überlegungen von Michael Maurer als Sohn eines bürgerlichen Offiziers schwedischer Herkunft zur Welt gekommen37 . Nach seiner Ausbildung in der Berliner Kadettenanstalt trat er als Offizier in preußische Dienste. Im Siebenjährigen Krieg schwer verwundet, nahm er 1763 im Range eines Hauptmanns seinen Abschied. Danach unternahm er ausgedehnte Reisen; sie führten ihn vor allem nach England, Frankreich, Italien, Polen und Dänemark. Nach seiner Rückkehr im Jahre 1780 widmete er sich dann der Schriftstellerei und wuchs als Herausgeber von umfangreichen Zeitschriftenreihen allmählich in die Rolle eines der maßgeblichen Vennittler im politischen und literarischen Diskurs seiner Zeit hinein. So pflegte er Kontakte zu allen wichtigen Schriftstellern und trat besonders mit Christian Friedrich Daniel Schubart, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Joachim Heinrich Campe und Christoph Martin Wieland in regen Briefwechsel. In seinem Streben nach dem weltbürgerlichen Ideal des freien und reinen Menschentums suchte er auch die Bekanntschaft von Georg Forster und siedelte unter seinem Einfluß 1791 nach Paris über. Er beobachtete hier die revolutionäre Entwicklung aus nächster Nähe und versuchte sich wiederum als Herausgeber einer Zeitschrift, die auf das politische Geschehen unmittelbaren Einfluß ausüben sollte. Mit Beginn der kriegerischen Entwicklungen im Juni 1792 verließ er Paris aber fluchtartig, um sich zuletzt auf die Gutsherrschaft Luisenhof in Oejendorf in der Nähe von Hamburg zurückzuziehen. Dort starb er am 28. Februar 1812 nach zwei Jahrzehnten intensiven Wirkens als Publizist und Herausgeber. 36 Dovifat, Emil, Johann Wilhelm v. Archenhol(t)z, in: NDB I (1953), S. 335 f.; Ruof, Friedrich, Johann Wilhelm von Archenholz. Ein deutscher Schriftsteller zur Zeit der Französischen Revolution und Napoleons (1741-1812), Berlin 1915 (ND Vaduz 1965); Rieger, Ute, Johann Wilhelm von Archenholz als ,,zeitbürger". Eine historisch-analytische Untersuchung zur Aufklärung in Deutschland, Berlin 1994, und Kunisch, Johannes (Hrsg.), Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg, Frankfurt/M. 1996, S. 757 - 790 (mit weiteren Literaturhinweisen). 37 Vgl. Archenholtz, Johann Wilhelm von, England und Italien. Nachdruck der dreiteiligen Erstausgabe Leipzig 1785. Mit Varianten der fünfteiligen Ausgabe Leipzig 1787, Materialien und Untersuchungen der Text- und Wirkungsgeschichte, Bibliographie und Nachwort, hrsg. von Maurer, Michael, 3 Bde., Heidelberg 1993, hier Teil III: Varianten, Materialien, Untersuchungen, S. 509-535, hier bes. 521 ff. Vgl. ferner Maurer, Michael, Aufklärung und Anglophilie in Deutschland, Göttingen 1987, S. 182 - 217.

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Sein bekanntestes Werk, das bis in die Mitte unseres Jahrhunderts immer wieder in Neuauflagen und darüber hinaus in zahlreichen Übersetzungen veröffentlicht wurde, stellt seine "Geschichte des siebenjährigen Krieges in Deutschland" dar38 . Sie ist aus den Erfahrungen erwachsen, die Archenholz als aktiver Offizier gemacht hatte, aber erst gegen Ende der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts zu Papier gebracht worden. Sie gehört gleichwohl zu den großen Beispielen einer Zeitgeschichtsschreibung, die sich so eng wie möglich am tatsächlichen Geschehensverlauf zu orientieren versuchte, aber zugleich auch dem Geist des freimütigen Urteils und der aufgeklärten Rationalität verpflichtet blieb. Daneben sind es seine zahlreichen, häufig mehrbändigen Reisebeschreibungen, die ihn einem grÖßeren Publikum bekannt gemacht haben. Diese glänzend geschriebenen Erlebnisberichte gehören zu den meist gelesenen Reisejournalen der Zeit und wurden in alle großen Sprachen übersetzt. Von außerordentlicher Bedeutung ist darüber hinaus die Rolle, die Archenholz als Herausgeber einer ganzen Fülle von zum Teil kurzlebigen, zum Teil aber auch sehr lange erscheinenden Zeitschriften gespielt hat39 . Archenholz nahm als Herausgeber wie in der Funktion des Historiographen und des ganz Europa bereisenden Zeitzeugen wesentlichen Anteil an jenem öffentlichen Diskurs, wie er charakteristisch ist für den tiefgreifenden StrukturwandeI in Deutschland in den letzten Dezennien des 18. Jahrhunderts. Er zählt ohne Zweifel nicht zu den exponierten Vertretern dieses umfassenden Wandlungsprozesses; dazu waren seine politischen Vorstellungen trotz seines zeitweiligen Engagements für die Ideale der Französischen Revolution zu unpräzise und schwankend. Aber besonders in seiner Herausgebertätigkeit hat er sich mit solchem Nachdruck und unermüdlichem Eifer für die Herstellung einer neuen Form von Öffentlichkeit eingesetzt, daß er als eine der profiliertesten Persönlichkeiten des literarischen Lebens in Deutschland an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert einzuschätzen ist. Archenholz hat in den bibliographischen Hinweisen zu seiner "Geschichte des siebenjährigen Krieges" Cognazo namentlich erwähnt und kommentierend hinzugefügt, daß seinen "Geständnissen" hohe Wertschätzung gebühre, weil sonst von österreichischen Autoren zur Erforschung der um Schlesien geführten Kriege so wenig beigetragen worden sei. "Ich muß gestehen", schreibt Archenholz in seinem als räsonierenden Literaturbericht aufzufassenden Quellenverzeichnis zur zweiten Auflage seines Werkes (1793), daß ihm Cognazo, und nur er allein, durch seine kritischen ,,Nachrichten und Bemerkungen" die Möglichkeit eröffnet habe, "würdigen Männern der feindlichen Heere Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ohne sein Werk", gestand er, ,,hätte mein guter Wille nichts gefruchtet". Denn alle seine Bemühungen, über Annoncen in Zeitungen und Journalen etwas über die österreichische Seite zu erfahren, seien fehlgeschlagen. Aus allen Provinzen Deutschlands 38

Kunisch, Johannes (Hrsg.), Aufklärung und Kriegserfahrung, (wie Anm. 36), S. 757-

39

Rieger, Ute, Archenholz, (wie Anm. 36), S. 34 ff.

790.

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habe er Zuschriften erhalten, aus den österreichischen Ländern indessen keine einzige 40. Die Anlehnung an Cognazos "Geständnisse" ist besonders an jenen Passagen ablesbar, die Archenholz dem zunächst noch völlig unbekannten und dann in wenigen Jahren bis zum Range eines Feldzeugmeisters aufgestiegenen Loudon gewidmet hat. Schon an den Attributen, die er ihm beilegt, tritt eine Wertschätzung hervor, wie er sie nur wenigen und kaum einem der "feindlichen" Befehlshaber zuteil werden ließ. So bezeichnete er Loudon bei seiner Beschreibung der Schlacht von Kunersdorf als einen Feldherrn, "der so oft im Kriege den glücklichen Zeitpunkt zu treffen wußte,,41. Aber vor allem bei der Schilderung der Erstürmung der Festung Schweidnitz am 1. Oktober 1761 durch die Truppen Loudons gibt Archenholz zu erkennen, wie sehr er sich dem Urteil Cognazos anvertraute. Loudon, schreibt er, hatte den österreichischen Waffen erneut einen wichtigen Vorteil verschafft, ohne daß seine Heldentat angemessen belohnt worden wäre. Denn Undank sei sein Lohn gewesen. Und eine förmliche Bestrafung wegen der (angeblich!) ohne Rückfrage beim Hofkriegsrat unternommenen Erstürmung von Schweidnitz wäre erfolgt, wenn nicht der Kaiser, der Loudon gewogene Fürst von Liechtenstein und schließlich der Staatskanzler Kaunitz für ihn eingetreten wären. "Diese mächtigen Gönner", heißt es dann wörtlich, "gingen noch weiter; sie bewirkten, um durch solche nichtswürdigen Hof-Kabalen nicht dem ganzen Europa Stoff zum Gespötte zu geben, daß Laudon von der Kaiserin nicht allein einen gnädigen Brief, sondern auch Geschenke erhielt. Das Vorgefallene wurde ihm jedoch nicht verziehen, wovon, trotz dieser glänzenden Tat, sein eingeschränktes Kommando im nächsten Feldzuge bis zum Frieden, seine geringe Achtung bei Hofe, so lange Theresia lebte, auch seine erst siebzehn Jahre nachher erfolgte Beförderung zur Feldmarschalls-Würde, überzeugende Beweise waren [ ... ]. Die Feinde dieses großen Feldherrn in Wien gingen so weit, daß sie diese so glücklich vollzogene Unternehmung einen Croatenstreich narmten. Die überaus schleunige Beförderung Laudons, eines Ausländers, ohne Ahnen, ohne Vermögen, ohne Empfehlung, zu den höchsten Kriegswürden, und zwar ohne alle Ränke und Hofgunst, bloß wegen persönlicher Verdienste, und dieses in einem Land wie Österreich, war ein in unserm Jahrhundert noch nicht erlebtes Beispiel. Der Croaten-Major Laudon, der noch im Jahre 1756 um die Ausfertigung der Kaiserlichen Befehle bei den Schreibern der Österreichischen Dicasterien demütig sollicitieren und diese Bequemlichkeit abwarten mußte, wurde im Jahre 1761 von ganz Europa als die größte Stütze von Theresiens Thron betrachtet, und war es auch im eigentlichsten Verstande. Er war es, der den Plan des Überfalls bei Hochkirch entwarf. Er hatte durch die Wegnahme des großen Preußischen Transports in 40 Archenholz, Johann Wilhelm von, Geschichte des siebenjährigen Krieges in Deutschland von 1756 bis 1763, zuletzt in: Kunisch, Johannes (Hrsg.), Aufklärung und Kriegserfahrung (wie Anm. 36), S. 501; vgl. ferner den Fußnotenhinweis, S. 424. 41 Ebd., S. 236.

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Mähren Olmütz gerettet. Er hatte das Fouquetsche Korps besiegt, und diesen großen General gefangen genommen. Er hatte Glatz erobert. Er; und nicht Soltikow, hatte den König bei Kunersdorf geschlagen. Viele andere große, obgleich minder wichtige Vorteile hatten ihm die Österreicher zu verdanken, und jetzt hatte er Schweidnitz erobert [ ... ],,42. Genug der Lobeshymnen! Es dürfte an den hier vorgestellten Texten deutlich geworden sein, daß Loudons Bewunderer und Lobredner ausgehend von seinen Leistungen und Erfolgen als Militär beinahe durchgehend ein Defizit an öffentlicher Anerkennung glaubten feststellen zu müssen. Er erschien ihnen zu rechtschaffen, zu bescheiden und zu selbstlos, um sich in der Welt höfischen Glanzes und eitler Selbstdarstellung ins rechte Licht setzen zu können. So habe er für seinen hingebungsvollen, allein dem Kaiserhaus verpflichteten Dienst nur Undank und Zurücksetzung erfahren. Und als er durch seine Erfolge dann doch in den Kreis der hohen Generalität aufgestiegen war, habe ihn der Neid und die Mißgunst seiner Rivalen begleitet. Es war demnach das Schicksal eines durch eigene Verdienste Aufgestiegenen, das die Zeitgenossen schon, aber dann in besonderer Weise auch die Nachwelt an seinem Lebensweg faszinierte. Man wurde nicht müde, in Nachrufen und Biographien die Kränkungen auszumalen, die ihm mit Ausnahme weniger Gönner bei Hofe zugefügt worden waren. Um so mehr trat vor diesem Hintergrund in Erscheinung, was er pflichtbewußt und unverdrossen für die österreichischen Waffen geleistet hatte. Ohne Bildung (Französisch!), ohne Protektion, allein durch seine unbedingte Treue, hatte er seinen Weg gemacht - in der Tat: "simplex verecundus", wie es auf der Inschrift seines Grabmonuments heißt43 . Es erscheint als beinahe zwangsläufig, daß ein Mann mit dieser Statur Schriftstellern wie Cognazo, Trenck, Forster und Archenholz als das Idealbild eines Soldaten erschien. Loudon besaß wohl tatsächlich die Eigenschaften, die ihm bis zu Werner Bergengruens Roman "Die Rittmeisterin" immer wieder zugeschrieben wurden44 • Aber zugleich erfüllte er auch alle Klischees, um ihn für den Tugendkanon einer Epoche vereinnahmen zu können, die aus einem unverkennbar antihöfischen Affekt heraus sich dem Ideal bürgerlicher Redlichkeit verpflichtet fühlte. Er war ein Mann, der alle gegen den Fürstenhof und die Exklusivität adliger Eliten gerichteten Ressentiments zu bestätigen schien und sich insofern wie kaum ein anderer dazu eignete, auf den Schild eines neuen Gesellschaftsbildes gehoben zu werden. Während Georg Forster sich bei aller Verehrung für den "grauen Krieger" den Blick nicht dafür verstellen ließ, daß Loudon außer seinem Feldherrntalent wenig zu bieten hatte, was ihn "über die gewöhnliche Menschheit" hinaushob, erEbd., S. 415 ff. Es war ihm kurze Zeit nach seinem Tod von seiner Gemahlin im Schloßpark von Hadersdorf vor den Toren Wiens gesetzt worden. 44 Bergengruen, Werner, Die Rittmeisterin. Wenn man so will, ein Roman, München 1954, S.319-325. 42

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schien er für alle anderen als der böswillig Verkannte, dessen Lebenswandel und Berufsauffassung über jeden Zweifel erhaben war45 . Besonders Archenholz war ein Schriftsteller, der in seinem Geschichtswerk über den Siebenjährigen Krieg ausdrücklich etwas vermitteln wollte, was weit über das Kriegsgeschehen hinausgrift6 . Er verstand sich als ein Autor, der die Kriegsgeschichte als Bestandteil eines bürgerlichen Bildungskanons auffaßte und deshalb auch bestrebt war, nicht nur für militärisch geschulte Experten, sondern für ein breites Lesepublikum, die "aufgeklärten Deutschen aller Stände" zu schreiben. Er wollte gerade auch als Geschichtsschreiber Anteil nehmen an einem öffentlichen Diskurs, wie er sich in der Aufklärung entfaltet hatte und dann zum eigentlichen Medium der bürgerlichen Emanzipationsbewegung am Ende des 18. Jahrhunderts geworden war. So schrieb er nicht rückwärtsgewandt und lediglich Vergangenes rekonstruierend, sondern in der durchaus moralisierenden Absicht, Einfluß zu nehmen auf die Fragen der Gegenwart. Vor allem den "Geist des Volkes" wollte er erhöhen und damit eine vaterländische Gesinnung befördern, deren erstes Aufkeimen ihm mit dem Siebenjährigen Krieg verknüpft erschien47 . Er wandte sich unverkennbar an ein preußisch gesinntes Publikum. Aber er war zugleich der Überzeugung, daß das preußische Exempel auch den Patrioten anderer Provinzen zum Beweise dienen könne, "was die auf Einen Zweck gerichteten Bestrebungen einer ganzen Nation unter einer weisen Regierung zu bewirken vermögend sind,,48. Es war die Idee eines Staatsbürgers, die ihn beflügelte, eines Mannes, der bereit war, sich bedingungslos in den Dienst des Gemeinwohls zu stellen und die öffentlichen Angelegenheiten nicht mehr teilnahmslos dem Landesfürsten zu überlassen. Im Kontext solcher Vorstellungen konnte Loudon wie die Antizipation eines Patrioten erscheinen, dessen Sache nicht mehr die Kabalen der Höfe und die Winkelzüge der Kabinette waren, sondern allein die "Aufopferung" für das Vaterland. Alle Fakten und Einschätzungen über den Charakter und Lebensweg Loudons, die Archenholz aus den "Geständnissen" Cognazos erfahren hatte, ließen sich ohne jede Mühe in die Vision eines Zeitalters projizieren, in dem sich der als Patriot verstehende Bürger mit Staat und Nation identifizierte. Und auf diesem Weg ließ sich auch für einen Friedrich-Bewunderer wie Archenholz ein "feindlicher" Feldherr als Beleg und Beispiel anführen, um dem moralischen Ansatz seines ganzen Werkes Nachdruck zu verleihen.

Es hat demnach den Anschein, daß der Nachruhm Loudons sicherlich mit dem Glanz seiner militärischen Heldentaten, aber zugleich auch mit jenen Charaktereigenschaften verknüpft ist, die als Rechtschaffenheit und Zuverlässigkeit, ja selbst Forster, Georg, Physiognomie eines Revolutionsjahres (wie Anm. 24), S. 94. Vgl. Kunisch, Johannes (Hrsg.), Aufklärung und Kriegserfahrung (wie Anm. 36), S. 737 -751 und S. 757 -789. 47 Ebd., S. 776 ff. 48 Archenholz, Johann Wilhelm von, Geschichte des siebenjährigen Krieges (wie Anm. 40), S. 13. 45

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als "trockne Beschränktheit" (Georg Forster) einem großen Publikum plausibel gemacht und als Muster selbstlosen Pflichtbewußtseins nahegebracht werden konnten. Dabei spielte Archenholz insofern eine zentrale Rolle, als er Loudon, den kaiserlichen Feldherm und Gegner des Preußenkönigs, aus seinem österreichischkatholischen Kontext herausgelöst und für ein didaktisches Anliegen vereinnahmt hat, das über Ereignisse und Personen hinaus greifend der Aufklärung und - nicht weniger ausgeprägt - der Entfaltung eines Patriotismus in "Germanien" verpflichtet war. Goethe hat in seinen tiefgründigen Reflexionen über die rezeptionsgeschichtliche Bedeutung des Siebenjährigen Krieges sicherlich zutreffend darauf hingewiesen, daß jede Nation, wenn ihre erinnernde Identität nicht schal sein oder schal werden soll, ein Epos besitzen müsse, wozu allerdings keineswegs die Form eines epischen Gedichts erforderlich sei. "Die Preußen und mit ihnen das protestantische Deutschland gewannen [durch Friedrich den Großen und die Taten des Siebenjährigen Krieges] für ihre Literatur einen Schatz, welcher der Gegenpartei fehlte und dessen Mangel sie durch keine nachherige Bemühung hat ersetzen können. An den großen Begriff, den die preußischen Schriftsteller von ihrem König hegen durften, bauten sie sich erst heran, und um so eifriger, als derjenige, in dessen Namen sie alles taten, ein für allemal nichts von ihnen wissen wollte,,49. Archenholz, scheint mir, ist es vor allem gewesen, der Loudon wegen seiner das Ethos einer staatsbürgerlichen Gesellschaft vorwegnehmenden Haltung in dieses Epos einbezogen hat. Er hat in den Hintergrund gedrängt, daß Loudon im Dienste einer Macht gestanden hat, die ihm sonst im höchsten Maße suspekt erschien, und ihn damit im Gedächtnis einer patriotisch gesinnten Öffentlichkeit in ganz "Germanien" zu verankern vermocht. Hier liegen die Wurzeln für den Nachruhm Loudons. Die "Arbeit am Mythos" Loudon hat also Erstaunliches zustandegebracht. Sie hat bewirkt, daß aus der Rezeption der Quellen schließlich die Quelle der Rezeption geworden ist50 und vor das Erscheinungsbild des gegen Preußen und die Pforte erfolgreichen Feldherm allmählich jener "Biedermann" trat, der in der Vorstellungswelt einer bürgerlichen Öffentlichkeit als vorbildlich und tugendhaft gelten konnte. Das kulturelle Gedächtnis muß, wie eingangs ausgeführt wurde, als gruppenbezogenes Phänomen eingeschätzt werden. Es manifestiert sich in einem Prozeß literarischer und bildhafter Kommunikation und durch die Tradierung gruppenspezifischer Verhaltensmuster und vermag es auf diesem Weg, Identität zu stiften. Kein Gedächtnis sei befahigt, hatte es oben unter Bezugnahme auf Jan Assmann geheißen, "Vergangenheit als solche zu bewahren". Vielmehr könne es nur jene Ausschnitte wahrnehmen, die eine gesellschaftliche Gruppe in einer konkreten Epoche in ihrem jeweiligen Bezugsrahmen ,,rekonstruieren" kann. "Es ist zwar fixiert auf unverrückbare Erinnerungsfiguren und Wissensbestände, aber jede 49 Goethe, Johann Wolfgang von, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Frankfurt/ M. 1986, S. 306 f. 50 Blumenberg, Hans, Arbeit am Mythos, Frankfurt/M. 1979, S. 329 ff.

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Gegenwart setzt sich dazu in aneignende, auseinandersetzende, bewahrende und verändernde Beziehung"sl. Der Nachruhm Loudons ist demnach das Ergebnis einer grandiosen Stilisierung im Kontext eines empfindsam biedermeierlichen Tugendkanons. Er beginnt mit Gellerts brieflichem Charakterbild und endet - vermittelt durch Archenholzens Volksbuch über den Siebenjährigen Krieg - mit Bergengruens Rittmeisterin-Roman. Dabei wurde aus dem Fundus einer diffusen Quellenüberlieferung herausmodelliert, was an Loudons Erscheinungsbild für die Produktion und Reproduktion der eigenen, aufgeklärt und staatsbürgerlich geprägten Gesellschaftsauffassung brauchbar erschien.

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Assmann, Jan, Kollektives Gedächtnis (wie Anm. 1), S. 13.

Hugo Stinnes, Gustav Stresemann, and the Politics of the DVP in the early Weimar Republic Gerald D. Feldman

The relationship between the great industrialist Hugo Stinnes and the leading figure in the DVP Gustav Stresemann assumes a very special place in the unhappy his tory of liberal politics in the early Weimar Republic. This association began in the fall of 1918 with an alliance between the two men to carry on the traditions of National Liberal politics under the new political circumstances created by the lost war and revolution. It ended in 1923 - 1924 in a bitter conflict over the domestic and foreign policy issues surrounding the termination of passive resistance, currency stabilization, and the rearrangement of Germany's international relations in connection with the Dawes Plan. The contest between Stinnes and Stresemann was brought to an abrupt halt by the former's unexpected death at the age of 54 in April 1924. Their differences, however, were symptomatic for many of the problems Stresemann had faced since 1918 and was to continue to confront until his own untimely death in 1929, namely, his party's dependence on industrial money, above all heavy industrial money, and the difficulties of reconciling the role of big business in the party with the ideas and needs of its membership and broader constituency as weIl as with Stresemann's own ideas and goals. The evolution of the Stinnes-Stresemann conflict is also of historical significance because of the importance of the personalities involved, the development of their positions, and the roles they placed in influencing the early Weimar Republic. 1

I. Stinnes and Stresemann emerged from the First World War with sirnilar liabilities and proclivities toward readjustment of past positions. Both had been outspoken annexationists and had cultivated contacts with the Hindenburg-Ludendorff Supreme 1 This essay is based on my forthcoming biography of Hugo Stinnes, Feldman, Gerald D., Hugo Stinnes: Biographie eines Großindustriellen, München 1998 as weil as Feldman, Gerald D., The Great Disorder. Politics, Economies, and Society in the German Inflation, 1914 -1924, New York and Oxford 1993, 2nd edition 1997. These studies contain accounts of events surrounding what is discussed here as weil as references to the secondary literature, and references to latter will be kept to a minimum here.

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Command as weIl as with some of the more dubious right-wing elements at headquarters, above all, Lieutenant-Colonel Max Bauer, the heavy artillery specialist in the General Staff and the Grey Eminence behind Ludendorff. There were important differences as weIl. Insofar as domestic politics was concerned, Stresemann was certainly the more liberal ofthe two. He was a liberal imperialist who hoped to combine German expansionism with the integration of the Social Democrats as a state-supporting movement into Germany's polity and society. Stinnes, in contrast, maintained a conservative line, although he had realized for some time that the non-recognition of the Socialist trade unions and the Prussian suffrage system could not be maintained forever. He and some of his heavy industrial colleagues had conducted secret negotiations with the trade union leaders during the war with the object of trading recognition and collective bargaining in return for acceptance of the war aims of the Fatherland Party. This heavy-handed tactic was typical of Stinnes and many other industrialists, who confused high level political arrangements of national and international import with business deals, but the basic notion behind these discussions was quite compatible with Stresemann's liberal imperialist goals. It was anything but unnatural, therefore, for Stinnes to engage in his famous negotiations with Carl Legien of the German Free Trade Unions in October-November 1918 to come to the famous agreement that introduced collective bargaining and created the Zentralarbeitsgemeinschaft. The goal was to institutionalize collaboration between the business community and organized labor on the basis of mutual collaboration and the retention of existing property relations. These certainly were goals with which Stresemann could and did identify hirnself in late 1918, but it is worth noting that his career and political activity were deeply rooted in those industrial circ1es that were highly critical of the Arbeitsgemeinschaftspolitik pursued by Stinnes and the other great industrialists in the coal, iron, and steel as weIl as machine construction and electrotechnical industries. Businessmen in the small and medium-sized industries in the provinces, while weIl aware of the need to come to terms with labor, were highly critical of Stinnes's willingness to collaborate on any and every issue with the trade unionists and to give the latter a voice in economic policy. They feared domination by big industry and labor and worried that their own interests would be neglected and that they could not afford the kinds of concessions that big business was prepared to make. 2

Stresemann had been the founder of the Verband Sächsischer Industrieller, the most important regional organization in the prewar Bund der Industriellen. It represented the small and medium-sized industrialists of Saxony that had long demanded a greater voice for their interests against the conservatives in Saxony and also constituted a counterforce to the conservative and protectionist policy of the heavy industrialist dominated Centralverband deutscher Industrieller. Stresemann, therefore, like his predecessor as party leader, Ernst Bassermann, was identified 2 See Feldman, Gerald D./Steinisch, Irmgard, Industrie und Gewerkschaften 1918-1924. Die überforderte Zentralarbeitsgemeinschaft, Stuttgart 1985, especially pp. 35 - 40.

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with the more liberal domestic political side of the National Liberal Party in contrast to the more conservative posture taken, for example, by the chief parliamentary representative of the Ruhr industrialists and the Syndic of the Essen Chamber of Commerce, Wilhelm Hirsch, who was a great favorite of Stinnes before the war and until his death in 1917? Nevertheless, the political circumstances in the fall of 1918 drew Stinnes and Stresemann together. For one thing, they both found themse1ves rejected and attacked by the forces of left 1ibera1ism who had gathered in the Deutsche Demokratische Partei. Stresemann had hoped that a single liberal party would be created in 1918 and was prepared to step into the background if necessary, but the absolute rejection of Stresemann 1eft hirn with 1ittle choice but to take the lead in the reconstruction of the National Liberals as the Deutsche Volkspartei. Stinnes, of course, could never have found a political horne in the DDP given its attitude toward former annexationists. Far more serious, however, was that the then DDP leader, Professor Alfred Weber made the unfortunate mistake of accusing Stinnes and other Ruhr industrialists of separatism. As a result, the Mülheim a.d. Ruhr Soldiers and Workers Council arrested Stinnes's eldest son Edmund, Fritz Thyssen, and some other industrialists and would have arrested Stinnes himself had he not been travelling back from Berlin at the time. There was no basis for Weber's charges; the prisoners had to be released, and Stinnes was exonerated. The affair not only cost Weber the leadership of the DDP, however, but was also used as an excuse to recall Stinnes from his advisory position with the Armistice Comrnission in Spa. Furthermore, the Centrist leader Mathias Erzberger kept Stinnes off the Armistice Comrnission permanently and also prevented Stinnes from serving as an expert to the German peace delegation at Versailles in May 1919. He argued that Stinnes was too tainted as an annexationist and supporter of the forcible deportation of Belgian workers to Germany to be acceptable to the Allies in Armistice and peace negotiations. 4 Stresemann and his party solidly supported Stinnes against Erzberger, as did many of the trade union leaders and Social Democrats associated with the Zentralarbeitsgemeinschaft. It was one thing, however, to support Stinnes's appointment as a desperately needed expert for German delegations making peace, quite another to have Stinnes as a potential or actual Reichstag deputy. The question first arose before the January 1919 elections to the National Assembly. One of the important changes in industrial politics after 1918 was the conviction among industrialists that they had to participate directly in parliamentary politics and no longer rely solelyon surrogates and lobbyists like the late Wilhelm Hirsch. The significant industrial wing in the DVP, therefore, feIt it important to elect active industri3 See Warren, Donald, The Red Kingdom of Saxony: Lobbying Grounds for Gustav Stresemann, 1901- 1909, The Hague 1964 and Turner, Henry A., Stresemann and the Politics of the Weimar Republic, Princeton 1963. 4 Demm, Eberhard, Ein Liberaler in Kaiserreich und Republik. Der politische Weg Alfred Webers bis 1920, Boppard 1990, pp. 272 - 277.

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alists to the new National Assembly. Stinnes and his right-hand man, General Director Albert Vögler of the Deutsch-Luxemburg Berg- und Hüttenwerke AG, as two of the most prominent heavy industrial members of the DVP, certainly appeared to be likely candidates. The Stinnes candidacy, however, was rather half-hearted, in part because of his own hesitations, in part because he was weIl aware of the reservations about hirn. As he resignedly, but also with more than a hint of disappointment told Vögler: "I do not want to make speeches, and then there is supposed to be opposition because of my being an industrialist ... one is thus legitimized by force of circumstances in pursuing his business activity; I shaIl do so under the existing circumstances until other times and other people come along. ,,5 There seemed to be no question about Vögler's candidacy, however, and, in contrast to the soft-spoken if very persuasive Stinnes, Vögler was a good speaker as weIl. Thus, Stinnes's general director was chosen to stand for the DVP in the electoral district of Amsberg. Also, thanks to coIlaboration with Alfred Hugenberg, the DVP and DNVP were able to put up common lists in some industrial areas. There was, of course, an implicit threat in this practice, namely, that big industrialists like Stinnes and Vögler did not find coIlaboration with the DNVP particularly difficult and probably would not find membership in that party difficult either. This was weIl illustrated by the far more liberal Hans von Raumer, who was a leading figure in the trade associations of the electrotechnical industry and had worked c10sely with Stinnes in setting up the ZAG. In the 1919 elections, Raumer decided to cast his lot with the DNVP, arguing that this would enable hirn to serve as a bridge between the nationalists and the ZAG since the fonner had more in common with the ideas of the ZAG than the "purely mammonistic" DDP. Unlike Vögler, Raumer did not benefit from association with the DNVP, failed to get elected, and soon found hirnself much more safely ensconsed in the DVP. 6 The bottom line for Stinnes, however, was to have parliamentarians in office who were active in industry and supported industrial interests, which naturaIly enough inc1uded his own, and both Raumer and Vögler could be counted upon in this respect. Raume; understood this quite weIl, accompanying a plea for Stinnes's support with the remark that "I am active in your special matter and will fight to the finish." The "special matter" in question was protesting Stinnes's exc1usion from the Annistice Commission. Raumer and Vögler mobilized the ZAG on Stinnes's behalf, while Vögler, once in the National Assembly, launched a ferocious attack on Erzberger in the National Assembly? Ultimately, Stinnes did not get back to Stinnes to Vogler, Dec. 26,1918, NL Else Stinnes, Mappe Stinnes-Vögler. Hans von Raumer to Stinnes, Dec. 14, 1918, Bundesarchiv (BA), NL Alfred Hugenberg, Nr. 23, BI. 229 - 230. 7 For Vogler's speech and his altercation with Erzberger, see Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung 1919, 10. Sitzung, 18. Februar 1919, S.132A-170B. 5

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Spa or go to Versailles, but this only strengthened the belief of Stinnes, Vogler, and others that industry had to become and stay active in party politics. For Stresemann, this was to become more and more of a mixed blessing. There was a built-in tension between the almost exclusively industrial interest-oriented politics of Stinnes and Vogler and the broader concerns of a genuine politician like Stresemann. This was, to be sure, not overly in evidence in 1918 - 1919, but it became increasingly apparent as the party leaders began to anticipate the Reichstag elections that would take place in 1920. The simple fact was that the DVP desperately needed industrialist money, but so did the DNVp, and the industrialists were prepared to make the most of this dependency. Thus, in October 1919, Vogler told Kurt Sorge, the President of the Reichsverband der deutschen Industrie (Rdl), that the time had come to stop complaining about the situation and for more industrialists to enter the Reichstag, especially since industrial election funds were going to the DVP and DNVP without much industrial representation being the result. At the same time, he told Johannes Flathmann of the DVp, who was in charge of distributing industrial election funds, that a large contribution to the DVP was in the making but that he had better make sure that Stinnes was offered a spot on the DVP list soon because the DNVP had already reserved one for Stinnes. Flathmann acted quickly and fcirmally asked Stinnes to ron as a DVP candidate in the spring 1920 elections. He would be guaranteed asecure place on the list. Stinnes agreed, and thus formally committed hirnself to direct involvement in parliamentary politics. Stinnes most definitely feIt more comfortable ronning on the DVP ticket, and while there was much talk of repeating the cooperation in Rhineland-Westphalia between the DVP and DNVP in the forthcoming election, Stinnes strongly opposed this because he believed that the DVP could draw voters away from the DDP in a way that a more openly right-wing combination never could. 8 This probably was true, but whether Stinnes was a great asset on the list was another matter. Thus, while Stinnes did not claim any right to dictate his particular position on the party electoral list and refused to interfere as to whether he was placed fourth or sixth, he did make it clear that if his place on the list did not guarantee hirn aseat, then "I would naturally renounce my candidacy imrnediately. ,,9 Moreover, in accepting asecure place on the list - it was finally to be sixth Stinnes announced that "as a consequence of my heavy engagement in business and economic matters, it is not possible for me to hold election speeches or participate in any other way in election propaganda.,,10 Given his limitations as a public speaker noted earlier, this may not have been much of a loss, but it was not typical behavior for anormal candidate either. When the party leadership tried to ron him 8 Vogler to Hugenberg, Oct. 31, 1919, BA, NL Hugenberg, Nr. 29, BI. 402-404; VOgler to Sorge, Oct. 15, 1919, Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-AdenauerStiftung (ACDP), 1-220 (NL Stinnes), 001/5; Flathmann to Stinnes, Oct. 22, 1919 and reply ofOct. 24,1919, ibid., 002/4. 9 Stinnes to Osius, May 22, 1920, ibid. 10 Stinnes to Trucksaess, Reichsgeschäftsstelle der DVP, April 24, 1920, ibid.

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as a representative of Chernnitz, he understandably tumed it down, preferring to run in a distriet where he was known. The problem was, however, that the distriet in which he originally wanted to run, the 23 rd electoral distriet in Duisburg, did not want to have hirn unless he competed for the top position there, and most e1ectoral distriets preferred to put up more popular local officials and politicians rather than an industrialist with the notoriety of Stinnes. Thus, he was placed on the Reich list and not presented as the candidate of a specific district, although after his e1ection he was made representative of the 26 th electoral district of Duisburg where Stinnes had his residence. 11 Nevertheless, for many party members and voters Stinnes remained a political liability. In early May 1920, and thus shortly before the June election, this seems to have worried Stresemann and Hans von Raumer, who by this time was very active in DVP politics and whose prior experience as a treasury official and trade association manager atuned hirn more to political realities than his industrialist colleagues. They were concemed that Stinnes, once aReichstag deputy, would be sharply attacked but would not be able or willing to respond in the Reichstag itself. Raumer told Stresemann he would discuss the matter with Stinnes and, much to the irritation of Stinnes, apparently indicated to the DVP leadership that Stinnes's candidacy was in doubt despite the fact that Stinnes had formally accepted his candidacy in writing on April 24. Stinnes insisted that Raumer had no legitimation to speak for him and confirmed his candidacy on May 14. Indeed, Stinnes stubbomly maintained that his person was no problem whatever, although this attitude was not shared by important members of his personal stuff such as Ludwig Osius, a former General Staff officer who served as his private secretary in Berlin, and Karl Fehrmann, who was Stinnes's Russian expert but also handled special political assignments. Osius told Stinnes that the party needed information about his person and activities that would help to refute charges made against hirn in connection with the deportation of Belgian workers and, along with Fehrmann, urged their chief to cooperate. Fehrmann was especially concemed about SPD charges that the Stinnes firm had profiteered from the sale abroad of army supplies. 12 Stinnes, however, refused to cooperate, telling Osius and Fehrmann that ,,1 have other things to do than to provide totally unauthorized persons with material so that they can set loose upon the world half-true and completely false corrections about 11 Stinnes to Beck, March 27, 1920, ibid. See also the correspondence with Stresemann of Nov. 6, 1919 in NL Stresemann (Microfilm, Library of the University of Califomia, Berkeley), Reel 3088, Frames H 138008 - 15; Flathmann to Stresemann, May 4, 1920, ibid., Reel 3089, Frames H 138646-51. See also Leonhardt to Stinnes, Sept. 27, 1920, ACDP,I-220, 001/5. More generally, see Hartenstein, Wolfgang, Die Anfänge der Deutschen Volkspartei 1918-1920, Düsseldorf 1962, pp. 214-222, 268-269, 272-273. 12 Stinnes to DVP, May 14, 1920, NL Stresemann, Reel 3089, Frame H 138700 and Stresemann to Stinnes, March 26,1924, ibid. Reei3111, Frames H 147000-2. See also memorandum by Fehrrnann, May 20, 1920, ACDP, 1-220, 002/2 and memorandum of June 15, 1920, ibid., 039/2, and Osius to Stinnes, May 20, 1920 (rnisdated April 22, 1920), ibid., 002/4.

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myself. There will therefore be no transfers of information to Berlin. If one does not want to have me as I am, unknown, then one should say so. I would without the slightest regret renounce cooperation in the German People's Party.,,13 Stinnes's reluctance to respond to every charge made against hirn, whether well or illfounded, would have been understandable if he had decided to stay out of politics, but it was disingenuous to run for the Reichstag and then expect total exemption from political give and take. Furthermore, he could hardly claim to be "unknown." Indeed, he had enjoyed notoriety since 1905, when he was viewed as one of the chief causes of the mineworkers strike, and his business activities in 1919 -1920, especially in the field of wood and paper manufacture and in publishing were the subject of constant press reportage. Thus, at the turn of 1919 - 1920 Stinnes had acquired the publishing house of W. Büxenstein G.m.b.H. in Berlin while in May 1920 he purchased the Norddeutsche Buchdruckerei und Verlagsanstalt from the estate of Reimar Hobbing and thus became the owner of the German government's inofficial press organ, the "Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ)." Rumors were about that Stinnes owned sixty newspapers, which was nonsense, but there could be no doubt that he had assumed a powerful role in the press. 14 Here, too, Stresemann had cause for mixed feelings about his association with Stinnes. One the one hand, he we1comed Stinnes's capacity to prevent newspapers and journals from falling into unfriendly hands. Thus, when Stresemann informed Vogler that the "strict national Bismarck-orientation" of "Kladderadatsch" was endangered because the aging owner of this rather lucrative humor magazine was planning to sell out and that the liberal Ullstein Verlag might buy it. Stinnes responded to the threat by purchasing the magazine through Büxenstein in December 1919. Stresemann was also able to benefit directly from the connection with Stinnes and Vogler, who bought the entire back page of Stresemann's "Deutsche Stimmen" to advertise Deutsch-Luxemburg. 15 Stinnes was also in a position to supply paper for Stresemann's party publication, ,,Die Zeit," a matter of no small importance given its price and the shortages during this period. What Stinnes could give, however, he could also take away. Thus, at the outset of the hyperinflation in the summer of 1922, Stinnes refused to provide Stresemann with money for "Die Zeit," pointing out that he was having problems financing his own DAZ, "which was more concerned with matters of world politics," and that he had no money for a purely domestic organ. 16 Stinnes to Osius, May 22, 1920, ibid. Wulf, Peter, "Die Stimme Ihres Herrn". Hugo Stinnes und die Deutsche Allgemeine Zeitung, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 24,1979, pp. 153 -179. See also Stinnes to Tirpitz, June 3, 1920, BA, Militärarchiv, NL Alfred Tirpitz, Nr. 264, BI. 106. 15 Stresemann to Vögler, Aug. 27,1919 and Vögler to Stresemann, Sept. 9,1919, NL Stresemann, Reel 3088, Frames H 177901-908. See also letter from Büxenstein of Nov. 18, 1920, NL Else Stinnes, Mappe Hillegossen. 16 Stresemann to Stinnes, May 13, 1922 and Stinnes reply of May 16, 1922, ACDP, 1-220, 002/2. 13

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It was well high impossible to separate domestic and foreign policy issues in Weimar, and Stinnes's increasing interference in matters of foreign policy necessarily posed great problems for Stresemann's efforts to strengthen his party and its influence and, indeed, to maintain his own position in it. This became especially evident after the June 1920 elections, when the DVP found itself in the coalition government of the Centrist Konstantin Fehrenhach. The performance of Hugo Stinnes at the July 1920 conference in Spa, where the industrialist opposed the compromise worked out with the Allies on coal deliveries, caused the government and Stresemann a variety of headaches. Stinnes's rather insulting speeches alienated Lloyd George, was grist for the mills of the French intransigents, and greatly complicated the efforts of Foreign Minister Walter Simons, who came from the DDP but had been business manager of the RdI, to come to a compromise with the Allies. At the same time, in his rage at the majority of German government advisers who favored a compromise, especially the Jewish economist Moritz Bonn, but also the Jewish bankers Carl Me1chior and Bernhard Dernburg, and the Jewish industrialist Walther Rathenau, Stinnes had threatened to unleash anti-Semitic sentiments and then gave an press interview in which he insinuated that their vote reflected an "alien psyche." In private, Stresemann was exposed to further fulminations of this sort from Stinnes, throwing in an attack on the highly regarded industrialist and M.A.N. director, Emil Guggenheimer, for good measure and arguing that "the Jewish experts Guggenheimer, Dernburg, and Rathenau have had a devastating effect through their international pacifism.,,17 Actually, Stinnes was anything but a consistent anti-Semite and sharply condernned anti-Semitism after Rathenau's murder in June 1922, but his performance in 1920 put Stresemann in a very difficult position. The Hamburg banker, Marx Warburg, who thought Stinnes above such things and who shared many of Stinnes's political views, was outraged by the treatment of bis colleague Me1cbior as well as by Stinnes's remarks in general and complained to Stresemann that he thought the DVP, in contrast to the DNVP, was supposed to be a ,,reconstruction party," and suggested that Stinnes was taking on the "affectations" of Helfferich and the radicals in the notoriously anti-Semitic DNVP. His complaints were seeonded by the leadership of the Hamburg braneh of the DVP, whose members were also sympathetie with Stinnes's foreign and domestie policy ideas but not with slurs against some of their most prominent members. Stresemann urged Warburg to deal direetly with Stinnes on the matter, while attributing Stinnes's lapse to the agitated mood at Spa and pointing out that, in the meetings of the deputies, Stinnes had differentiated sharply between Bonn and the other Jewish members of the delegation. 18 17 Note by Stresemann on a meeting of July 20, 1920, NL Stresemann, Reel 3171, Frame H 165728. See also the account in Wulf, Peter, Hugo Stinnes. Wirtschaft und Politik 19181924, Stuttgart 1979, pp. 196 - 220. 18 Warburg to Stresemann, July 22, 1920; Landesverband Hamburg to Stresemann, July 24, 1920, Stresemann to Warburg, July 26, 1920, NL Stresemann, Reel 3090, Frames H 139015 - 18, H 139026 - 27, H 139028 - 030.

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Stinnes's ire, in fact hardly was restricted to Jews, and he was sharply critical of Fehrenbach and even General von Seeckt for being too weak, and he urged that the DVP reject the Spa agreements and withdraw from the govemment. Stresemann rejected such proposals, however, arguing that they would only strengthen the left. He had no interest in committing political suicide and had the great advantage over Stinnes of spending all his time on politics as weIl as having genuine political talent. Lurking in the back of the minds of the some of the right-wing business leaders was the hope that, through the election of Stinnes and Vogler to the Reichstag, ..gradually the disastrous role of Stresemann in the German People's Party will be diminished and that tbe leadership role would be taken away." Better informed persons, like the HAPAG lobbyist Amdt von Holtzendorff, however, thought such views very naive, since ..Stresemann is a much too sly tactician to be so easily raised out of the saddle", and was possessed of a ..truly brilliant eloquence as a speaker" as well. 19 Thus, when the Essen Chamber of Commerce syndic and strong supporter of German heavy industry Reinhold Quaatz, at this time a DVP deputy, complained about the failure of the party to give due representation of the interests of coal and iron at a meeting of the party deputies on August 4, 1920, Stresemann knew exactly how to parry such protests. Not only did he point out that there were other industrial interests in Germany that also had to be represented but also that heavy industry was not doing much to help itself out. Vögler was refusing party jobs because of his business activities, and the DVP had to defend Stinnes in the Reichstag and its committees without Stinnes ever being there to defend hirnself. Stresemann expressed understanding for the heavy business duties that kept them away but not for Quaatz's complaints, especially since the party had continuously to defend the role played by heavy industry, which was attacked by the left and in intellectual circ1es. Stresemann not only suggested that the heavy industrialists cost the DVP votes, but also wamed that heavy industry would reduce itself to political inconsequence if it acted on Quaatz's implicit threat to leave the DVP and join the DNVp' 2o Quaatz's remarks, which were viewed as blackmail, infuriated many of the other deputies and created a stormy meeting, the protocol of which Stresemann shrewdly fired off to Stinnes with the object of placing the latter on the defensive. To be sure, Stinnes c1aimed that other political parties would be glad to have heavy industrialists if only they could identify with the party programs in question, insisted that he hirnself was a great deal more than a heavy industrialist and was involved in all aspects of economic life, and argued that the parties benefited from having people active1y engaged in business in their ranks. Nevertheless, he disavowed any complaints about the adequacy of heavy industry's treatment by the party and thought it best that the entire matter be c1osed. By the late summer of 1920, Stinnes 19 20

Report by Arndt von Holtzendorff, June 2, 1920, Hapag Archiv. Stresemann to Stinnes, Aug. 5, 1920, ACDP, 1-220, 001/3.

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had been neutralized, at least for the time being, although he continued to urge getting rid of Simons, Fehrenbach or both. 21 This was no easy task since it was difficult for Stinnes and his allies to move Stresemann in the desired direction although criticisms of the government from the right mounted as negotiations with the Allies over the reparations question intensified in the first months of 1921. Stresemann would concede that Simons had done a bad job, that no new offers should be made to the Entente, that a right-wing government was necessary in Prussia, and that the DVP could be badly compromised by its association with the government. At the point where DVP departure from the cabinet came up, however, Stresemann would warn that the result would be the return of Stinnes's bete noire, Erzberger, who was itching to pass "new anti -Stinnes legislation ...22 With one breath Stresemann would appear a hard-liner toward the Allies, with another he would talk about new German offers and inquire what Stinnes thought of giving the French a thirty percent share in German industrial enterprises. Osius had no trouble telling Stresemann that Stinnes was totally opposed to such solutions. Stinnes, in fact, was dreaming up solutions of his own for European and even world construction involving an economic league of nations, payments of the costs of the war through energy taxes to be levied by victors and vanquished alike, and cooperation within the international business community to reconstruct and run the railroads in central and eastern Europe. The need for reparations would thereby be transcended. The basic trouble with Stinnes's imaginative schemes is that they were utopian, in addition to being self-serving, and politically unrealizable. He was convinced, however, that if Germany only held out and the world's businessmen got together, reason would ultimately reign. Thus, one could take heart from the Polish defeat of the Bolsheviks before Moscow as a demonstration that even the Bolsheviks would inevitably learn that they "must either fall or adjust to the capitalist world order." It was a lesson that would have to be learned at horne as weIl, not only by left- and right-wing radicals but also by "professional politicians of the Scheidemann-Erzberger-even Stresemann type.,m Nevertheless, it was very hard to find an appropriate politician to whom to turn except Stresemann, and in late April 1921, Stinnes and Stresemann were working together to bring down Simons, whose effectiveness as Foreign Minister had totally disappeared, and ultimately to create a new government, possibly under the leadership of the very nationalist Center Party trade unionist Adam Stegerwald with Stresemann playing the role of Foreign Minister. Initially, Stinnes had wanted Otto Wiedfeldt of Krupp to be Foreign Minister, but Wiedfeldt refused, and it was he who had proposed Stegerwald. Stinnes and Stresemann also consulted with

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Stinnes to Stresemann, Aug. 7, 1920 and other related correspondence in ibid. Osius to Stinnes, April 14, 1921, ibid., 026/2. Edmund Stinnes to Clarenore Stinnes, April 7, 1921, NL Else Stinnes.

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Helfferich and other DNVP leaders about fonning a new government of more "national" persuasion to be led by Stresemann. These plans, as weH as the harmony between Stinnes and Stresemann went awry, however, when the Allies presented their London Ultimatum of May 1921 setting the German bill at 132 billion gold marks and establishing a payment schedule that was much more moderate if nevertheless quite onerous. Stinnes was opposed to accepting the Ultimatum, while Stresemann feIt that any new government would have to do so and would hirnself have accepted it while trying to gain concessions. Manifestly, with such a difference of opinion over the Ultimatum and with the Stinnes group in the DVP successfully bringing the DVP to turn down acceptance on May 9, the Stresemann-Ied government Stresemann had been concocting with Stinnes had become impossible. Stinnes described hirnself as "one of the most decisive representatives of the naysayers" to the London Ultimatum, but he was weIl aware that some of the DVP leaders, especially Hans von Raumer, supported acceptance in the hope that it would have a favorable influence on the Allied position on the return of the Upper Silesian industrial area to Germany. For this reason, Stinnes was against excluding such persons from the party and imposing a uniform position on the DVP Reichstag delegation. At the same time, he made it clear "that it would have been a national misfortune if the right-wing parties had declared themselves ready to sign, for whoever signed had a signature", as Stinnes like to put it, "that was no longer discountable and therefore could not hold office when the time came for the conclusion of a "real" peace.,,24 Whether areal peace was to be had, either at horne or abroad, remained an open question during the coming months as the Weimar Coalition government of Joseph Wirth, later joined by Rathenau as Foreign Minister, pursued a policy of "fulfiHment" with the object of at once demOllstrating that fulfiHment was impossible and getting the Allies to see reason and to give Germany a large scale stabilization loan and a reduced reparations bill. Wirth's basic problem domestically was to bring the DVP into the government and force it as weIl as the industrialists to take responsibility for finding a solution to Germany's problems. The dilemma was that where the poliey of fulfillment required the raising of taxes and the taxation of ,,real values", the support of the DVP and industrialists required the avoidance of radical tax measures. For Stinnes, the precondition for support of the government was not only reduced taxes but also privatization of the railroads and other portions of the public sector and termination of wartime and postwar economic controls. Thus, when Stinnes leamed in early October 1921 that Wirth was going to eschew radical tax demands and try to bring the DVP into the government, Stinnes found this interesting and thou~ht that he might increase his leverage over Wirth by urging Stresemann to join the cabinet. This would have the double advantage of making Stresemann's skills available to push Wirth in the right direction and having the 24 Stinnes to Vogler, Aug. 23, 1921, ACDP, 1-220, 043/6. For the context and events, see Feldman, Gerald, Great Disorder (see anno I), pp. 329 - 343 and Wulf, Peter (see anno 17), pp. 260 - 266.

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leadership of the DVP itself go into what he considered stronger hands since Wirth was counting on the Rdl placing its credit behind the govemment. 25 Ultimately, however, the entire effort collapsed because of Stinnes's insistence, successfully pushed through in the Rdl, that the railroads be privatized as a precondition of any credit offer by German industry. Indeed, it was not at all dear that Stresemann was ready to take responsibility under existing conditions. Thus, in March 1922, Wirth again sought to win DVP and industrialist support by a compromise tax bill. Under the circumstances, this suited Stresemann and probably Stinnes quite weIl. As Stresemann reported to Osius, Wirth's compromise would enable the DVP to accept the govemment program "without itself having to bear the responsibility in the govemment." It also made sense to avoid participation in the govemment from a foreign policy perspective "since the German People's Party, as a business party, ought only then to enter the govemment when the Entente shows such accommodation in fulfillment policy as actually to make fulfillment possible. ,,26 Despite the tensions between them, therefore, it would be false to think that Stinnes and Stresemann were at constant loggerheads in their political tactics or even that Stinnes inevitably took a less moderate stand than Stresemann. The murder ofRathenau in late June 1922 was a shock to both men. Stinnes, who had been with Rathenau on the night before the assassination and feIt that he and Rathenau were becoming of one mind on the reparations question, not only tumed sharply against the anti-Semites but also feIt that one had to support the Republic. As he told Vogler: "I consider it politically essential that we place ourselves without reservation on the basis of the Republic. The Rathenau murderers, in my view, have shot the monarchy. Stresemann ... shares this view.'.27 In reality, however, Stresemann did not share this view and retained an attachment to the idea of restoring the monarchy. The division within the party did not, in any case, allow for a dear decision in the forseeable future, and Stresemann noted that a number of party members, "especially Herr Stinnes make no secret of the fact that he views the monarchy as finished for all time and unconditionally feels himself to be a republican.,,28 Similarly, Stresemann was much more hostile than Stinnes in dealing with SPD proposals to bring the USPD into the govemment after the Rathenau murder. The departure of the more radical elements of the USPD into the KPD had to be sure made the USPD a more respectable party and would 10gically lead to the fusion of the SPD and USPD finally consummated in September 1922. In July, however, 25 Humann to Stinnes, Oct. 3, 1921 and Stinnes to Humann, Oct. 6, 1921, ACDP, 1-220, 039/2. 26 Osius to Stinnes, March 10, 1922, ibid., 022/3. 27 Stinnes to Vogler, July 9, 1922, ibid. 057/4. 28 Stresemann to Dingeldey, Aug. 12, 1922, NL Stresemann, Reel 3096, Frames H 144197-200.

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bringing the USPD into the govemment was strongly opposed by DDP and Center as well as by the DVP, which anticipated entering the govemment itself at some point. It was something of a shock to Stresemann and the DVP leadership, therefore, when Paul Lensch, a Socialist who stood at the far right of the party, whom Stinnes had hired as foreign policy editor of the DAZ, suddenly produced an artic1e advocating USPD entry into the govemment and sharply criticizing all the bourgeois parties. The DAZ, after all, was identified with Stinnes, and this was a bit more independence than one expected from one of his editors. Stresemann complained to Stinnes that Lensch, whose foreign policy views he otherwise respected, was undermining DVP domestic policy. Stinnes agreed to ask Lensch to tone down his criticisms of the bourgeois parties, but defended Lensch's view that the moderate elements of the USPD, Rudolf Breitscheid and Rudolf Hilferding, for example, needed to be integrated and that the political party structure more generally needed to be simplified. Lensch emphasized especially the importance of Socialist unity for dealing with the trade unions, a matter of especial importance to Stinnes. The unions had grown in size but no longer enjoyed adequate leadership because, as Stinnes put it, ,,Leipart is no Legien. ,,29 Stresemann did not dispute Lensch on working with the Socialists or the trade unions, but he did think the entry of the USPD into the govemment as a party would hurt the cause of corning to terms with the trade unions. He was also very unhappy with the high-handed manner in which DVP press people were treated by Stinnes's leading general director in Berlin, Friedrich Minoux and by his press chief, Hans Humann. Stresemann also wanted greater coordination with Stinnes on personnel questions relating to possible entry of the DVP into the govemment. Stinnes sought to calm down the wrangling between his and the DVP press peopIe in Berlin and also agreed with Stresemann that fusion of the two Socialist parties was more desirable than having them separately represented in either the Reichstag or the govemment. At the same time, he welcomed the opportunity to talk to Stresemann about the reconstruction of the govemment in Berlin, which in his opinion "must be forced on the broadest possible basis since in my view in the late fall we will really come to new negotiations with the Entente and in these negotiations the united front of a11 the relevant German political and econornic factors must be secured so that the personalities who are negotiating are not attacked from the rear at horne. ,,30 Stinnes thought it extremely important that the parties come to terms on a common econornic and political pro gram. The problem was that it was Stinnes's own program that he had in rnind, and it was a program that made agrand coalition of parties impossible. Indeed, in the fall of 1922, Stinnes was conducting his own foreign policy aimed at securing an 29 Stinnes to Stresemann, Ju1y 25, 1922 in response to Stresemann to Stinnes, Ju1y 21, 1922, ACDP, 1-220, 002/2. 30 Stinnes to Stresemann, Aug. 7, 1922 in response to Stresemann tö Stinnes, Aug. 3, 1922, ibid.

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agreement with France through his negotiations with the Comte de Lubersac for the reconstruction of the devastated territories, but also to engage the United States by conveying to the American Ambassador Alanson Houghton his program for an international settlement that would have its point of departure the surrender of the eight-hour day in Germany, the privatization of the railroads, and the termination of economic controls in return for reduced reparations and an international settlement. Suspending the eight-hour day now assumed a central position in Stinnes's program for both foreign and domestic stabilization, and he made a detailed argument for this program in a famous speech to the Reich Economic Council on November 9, 1922. While there was a broad enough consensus, even among Social Democrats, that changes would have to be made in the "schematic" eight-hour day, the Socialists wanted a voice in the way in which these were undertaken and also rejected a one-sided solution to the stabilization program based on sacrifices by labor. Stinnes, who had also rallied the RdI to this program, contributed mightily to the hardening of domestic political battle lines and played no small role in undermining whatever chances there were for Wirth to achieve his goal of bringing the DVP into the government with the SPD. The Socialists feared a bac1dash from their constituency if they joined with the DVP, and while many of the leaders trusted Stresemann, they did not think the more moderate elements in the DVP could overcome the power and influence of Stinnes and the growing tendency of the employers to take a hard line. The SPD decision spared Stresemann and the DVP political leaders from having to confront the Stinnes problem directly at this time. The fall ofWirth and his government in November 19221ed to the formation of a government of "experts" under Wilhelm Cuno, stagnation in both domestic and foreign policy, and a total incapacity to find a means of preventing the occupation ofthe Ruhr in January 1923. The obstreperousness of Stinnes and the leading industrialists had played no small role in bringing about this unhappy result about. 31

11. So long as Stresemann did not hold high office, he could evade a direct confrontation with Stinnes and friends and the problems they were causing. In 19231924, however, this situation was to change dramatically, but it was preceded by over half a year during which, whatever their latent differences, Stresemann and Stinnes grew increasingly hostile to the Cuno government and its policies. In reality, Stinnes did not really find any government satisfactory because none could or would identify themselves fully with his abrasive domestic and foreign policy programs, and Stinnes's relations with the Cuno government, despite its alleged probig business character, were never particularly good. The difficulties increased after the Ruhr occupation. On the one hand, Stinnes warmly and strongly sup31 These events are discussed at length in Feldman, Gerald, Great Disorder (see anno 1), eh. 11 and Stinnes (see anno I), eh. 9.

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ported the passive resistance policy, but was well aware that it could only last for a short period and was convinced that a settlement could be achieved on the basis of an offer the Cuno government, under strong industrialist pressure, had been planning to make to the Allies at the end of 1922. The offer, in fact, was totally inadequate and was coupled with demands that the Allies end their occupation in the Rhineland and Saar. On the other hand, Stinnes opposed the effort of Reichsbank: President Havenstein and the government to stabilize the mark so as to be able to carry on the passive resistance because he feIt it was destroying Germany's export capacity. The Ruhr obviously was the "territory" of Stinnes and Vogler, and a much-worried Stresemann quite naturally turned to them for an assessment of the situation. In late March, Vogler seemed very optirnistic, reporting that the passive resistance was going splendidly and arguing that it was premature to enter into negotiations. In an interview with Stinnes on March 29, however, Stresemann came away with what seemed to be a different picture. As Stresemann reported, Stinnes "considers the econornic measures of the government to be completely wrong. Because of the sinking of the dollar a large portion of industry was in general hardly still in a position to carry on its business; this holds especially for the manufacturing industry. Also with respect to the Ruhr territory, he does not see how we want to hold out against France, which undoubtedly can hold out longer. The French are striving to separate the Rhineland and the Ruhr territory from Germany and place them under some form of international control. The more moderate elements in France are thinking of leaving the Ruhr with Germany, of exercising control through an international Gendarmerie and giving the control to those powers who would provide the international loan which would be necessary for the solution of the reparations question.,,32 Stinnes was losing his patience with the government in Berlin and told Stresemann he was staying away because he would otherwise speak his rnind about the failed government policies at horne and abroad. He was particularly angry about the government's failure finally to make public the twenty-billion gold mark reparations offer developed before the Ruhr occupation. Stresemann found what appeared to be differing views on the part of Vogler and Stinnes very puzzling, but the latter denied there was a contradiction between Vogler's optirnistic view of the passive resistance an Stinnes's call for negotiations: "The two things have nothing whatever to do with one another. Certainly the resistance on the Ruhr is extraordinarily strong, and it will always be an achievement for Germany that one finally because of this resistance has recognized that one cannot do whatever one wants to Germany. The resistance and the struggle cannot only be for their own sake, but rather as a means to an end, that is, it ought to be conducted to attain a goal, namely the liberation of the Ruhr territory and the creation of stable conditions." 32 Aktennotiz, March 29, 1923, NL Stresemann, Reel 3098, H 145343 - 345 for this and the two quotations which follow.

28*

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This led to another matter very much on Stresemann's rnind, namely the increasing demands in the Reichstag for valorized taxes, which certainly would be essential to any stabilization. When Stresemann asked Stinnes what he thought of such proposals, Stinnes responded that "naturally one must expect that one day the Reich will enter aReich mortgage on the material values which represent the chief assets of Germany. The counter demand, however, must be that one also elirninates the controlled economy ... What is above aH else important for industry is that the taxing of real values must go hand-in-hand with a change in the eight-hour day. If there is not more work in Germany, then industry cannot pay interest on gold values." Stinnes c1aimed that the Social Democrats were in basic agreement on the need to lengthen the working day as weH. Stresemann was no friend of the controlled economy, and he knew very weH that the working day would have to be lengthened, but he was by no means convinced that the business community was doing all it could to pave the way for a solution. In a widely-noted artic1e in May 1923 written in connection with govemment efforts to make areparations offer with industrial backing, Stresemann called for great sacrifices on the part of industry to maintain the integrity of the Reich. The industrialists were, in fact, sharply criticized for the inadequacy of their support. 33 Stinnes himself was sufficiently nervous about the way things were going in the Ruhr to be very cautious about criticizing Stresemann. At the end of July 1923, he reprimanded his zealous editors at the DAZ for a critical artic1e on Stresemann, pointing out that he did not want to get dragged into quarrels with "third parties" by unnecessary "self-righteous and self-opinionated" remarks?4 By this time it was no secret that the Cuno govemment was on its last legs and that Stresemann was the logical next Chancellor. Stinnes, as has been shown, certainly had his reservations about Stresemann, while Hugenberg went so far as to urge Stinnes to work against Stresemann because Stresemann ,,has neither nerves, nor is he of firm character. Nor does he have political instincts and thus he never does the right thing at the decisive moment".35 These remarks are not without irony given the rniseries which Hugenberg's "political instincts" were bringing Germany. In any case, Hugenberg urged that Stinnes put forward Vogler as a candidate for the Chancellorship, a most unlikely step on Stinnes's part given his great dependence on Vogler at this point for the management of his business affairs and the fact that Stresemann was the c1ear candidate of the nascent Great Weimar Coalition which assumed power with Stresemann as its head and Rudolf Hilferding as Finance Minister on August 14, 1923. Indeed, Stinnes's attention at this time was increasingly focussed on the catastrophic situation developing in the Ruhr, where he obviously had great interests at stake. Stinnes now seemed anxious to move toward a stabilization of the mark. He 33 34 35

Feldman, Gerald, Great Disorder (see anno 1), pp. 662 - 666. Stinnes to the DAZ, July 30, 1923, ACDP, 1-220,039/1. Hugenberg to Stinnes, Aug. 11, 1923, ibid., 022/2.

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was reported to favor the removal of Rudolf Havenstein from the leadership of the Reichsbank and his replacement by Jakob Goldschmidt, the head of the Darmstädter und Nationalbank, with whom he did a great deal of business. He showed interest in the currency reform plans of Karl Helfferich, agreeing with the latter that it was important for the political right to demonstrate that it could come up with a solution to the existing problems. Stresemann was able to report to the cabinet that Stinnes and Vogler had told hirn "that not a day should be lost in entering into negotiations with France.,,36 Stinnes was also very fearful of a civil war that would be triggered either by the left-wing radicals in Saxony and Thuringia or the rightwing radicals in Bavaria. In fact, he went so far as to publish an article hirnself on September 9 in the DAZ, "Truth", in which he argued that negotiations had to be begun in order "to determine what, aside from the productive and increased labor of the German people is necessary in order to save Germany, Europe, and the world from the otherwise unavoidable catastrophe. Such a step would be no sign of foreign policy weakness. The Entente is just as threatened as we. It would only be the courage to face the truth. ,,37 Stinnes began complaining that the Stresemann government was not acting quickly or effectively enough. Thus, at a meeting of the DVP deputies on September 11 he declared that the cabinet would not last more than eight days, while at a meeting on the next day, he argued that "the last five weeks have not been used sufficiently. In fourteen days we will have civil war. Hilferding's program cannot prevent it. More work, create a currency, execution in Saxony and Thuringia. No day should go lost, otherwise the street will bring down the Stresemann cabinet. ,,38 As had been the case for over a year, however, Stinnes's basic postulate was that internal ,,reforms", above all with respect to the hours of work question, would smooth the way to international agreements and he, joined by Vogler, called upon Stresemann to eliminate the Demobilization Decrees of 1918 - 1919 which had legally imposed the eight-hour-day and which restricted the shutting down of plants and firing of workers and employees. This was tantamount to giving the employers a free hand. Vogler went so far as to urge that the Rhine and Ruhr be allowed to "stew" so that the workers would be forced to come to terms or face unemployment and starvation. These demands, however, served to reveal most clearly the differences between the tactics of Stresemann and Stinnes. The former had little sympathy for the latter's complaints about the high prices of German products since, in contrast to Stinnes, who had constantly argued for allowing prices and wages to rise, Stresemann had always wamed against moving toward world market prices since they would and did lead to gold mark wages and hurt German competitiveness. At the same time, as he contemplated ending passive resistance, Stresemann was not pre36 Cabinet meeting, Aug. 30, 1923, Akten der Reichskanzlei. Die Kabinette Stresemann 1 und 11. Ed. Vogt, Martin, 2 Vols., Boppard 1973, p. 166. 37 Reprinted in Gustav Stresemann. Vermächtnis. Der Nachlaß in drei Bänden. Ed. Bemhard, Henry, Bd. I. Vom Ruhrkrieg bis London, Berlin 1932, pp. 114 - 115. 38 Ibid., p. 116.

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pared to eliminate the demobilization decrees in the occupied area at precisely the time when mass unemployment was developing. For Stinnes, however, this unemployment had now become more of a promise than a threat. He viewed it as a triggering mechanism to introduce "a kind of Mussolinism" into Germany, since the misery would lead to Ebert's appointment of a single person or a directory of three persons with dictatorial powers that would end parliamentary government and would be in a position to suppress any Communist uprising or general strike. Stinnes thought that this internal transformation could take place in a matter of three weeks. His greatest fear was that the right-wing forces in Bavaria would take the initiative and launch a Putsch, thereby creating world sympathy for the left. Assuming that the provocation came from the left instead and was put down by the right, however, Germany would once again be capable of receiving loans?9 As was to become rapidly clear, however, Stresemann's goal was not to destroy but rather to save parliamentarism and, insofar as possible, to avoid provoking the workers. Frustrated in bis hope of entering into direct negotiations with the French to end passive resistance and acbieve a settlement, Stresemann was forced to abandon passive resistance unilaterallyon September 26 and permit the industrialists to negotiate directly with the French for a resumption of economic activity in the Ruhr. At the same time, however, he was not prepared to give Stinnes and bis friends a very long leash. Thus, when the coal mine owners sought to reintroduce the old hours of work unilaterally at the beginning of October, and Peter Klöckner clumsily tried to introduce the old working hours with the assistance of General Degoutte, Stresemann and Labor Minister Brauns forced them to retreat. The real difference between Stresemann and Stinnes, however, was a political one. Where Stresemann sought to maintain a government with the SPD and to introduce the necessary changes in the hours of work with the support of labor, Stinnes and his allies wanted to make such a coalition impossible by their preemptive action and to gain a completely free hand. 40 Stresemann was not only able to block the industrialist effort and to form a new Great Coalition cabinet at the beginning of October, but he was also able to cause Stinnes and the industrialists considerable discomfiture. Stinnes had been extremely anxious to secure a government promise to compensate the industrialists for their payments to the French, and Stresemann had asked Stinnes to place his requests in writing. This was done in the form of a letter containing ten questions to the Chancellor, wbich was then leaked to the press and presented by Georg Bernhard of the "Vossischen Zeitung" as a ,,rebellion" by the industrial "Grand Dukes", and as an "ultimatum" to the govemment. Actually, the letter itself was no such 39 Discussions between Stinnes and Marescalchi, Sept. 15, 1923, ACDp, 1-220, 046/1 and report of Alanson Houghton to Secretary of State Huges on a conversation with Stinnes, Sept. 21, 1923, reprinted in Hallgarten, George W. F., Hitler, Reichswehr und Industrie. Zur Geschichte derJahre 1918 -1933, Frankfurt/Main 1955, pp. 65 - 68. 40 For a full discussion of these developments, see Feldman, Gerald D., Iron and Steel in the German Inflation, 1916 - 1923, Princeton 1977, pp. 393 -444.

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thing, although the aforementioned actions in connection with hours-of-work question could be open to such criticism and were conflated with the letter. Stinnes's press man, Hans Humann, was convinced that Bernhard and Stresemann were working together, and the DAZ charged that the letter was leaked from the Chancellery.41 Stresemann elaimed that it had come from either the Social Democrats or Rhine1and journalists and forced the DAZ to retract its charge. Neverthe1ess, there is good reason to believe that Stresemann was not at all unhappy about the bad publicity Stinnes was getting and was indeed promoting a bit more of it himself. Thus, when he leamed that the view was widely held in Dresden that the Stresemann government was strongly influenced by Stinnes and his cirele and that "the Stresemann government was actually the same as a Stinnes government, "Stresemarm's office saw fit to fight this view by urging that an artiele be placed in the "Dresdener Neuesten Nachrichten" which would make the most of the blunders of the industrialists in their negotiations with Degoutte: "It is desired that mention be made that during the last cabinet crisis Herr Stinnes and the cireles elose to hirn tried to do everything possible to favor a rightist dictatorship. Herr Stinnes placed economic-political factors in the foreground in arguing for a rightist dictatorship, namely his agreements with Degoutte in this respect, that is, rigorous elimination of the eight-hour day, immediate repeal of the demobilization decrees, etc. ,,42 Stresemann' sinterest at this point, of course, was not in precision or accuracy but rather in containing and weakening Stinnes as much as possible. While he ultimately gave way to Stinnes's demands that the industrialists be compensated for their payments and costs under their agreements with the French, he and his colleagues were very careful not to give Stinnes and the industrialists a free hand with labor. There was to be no instrumentalization of the threat of civil war either, since Stresemann managed at once to put down the left in Saxony and Thuringia and to let the right-wing putsch in Bavaria turn into a fiasco. In early November, Stinnes continued to work for some kind of dictatorial solution, telling Stresemann to his face at a meeting of DVP deputies that the currency collapse was the result of Stresemann's failure to pursue a policy favoring higher production and that the British, Americans, and even the French would be happy to see a right-wing government installed. Needless to say, Stresemann contested this view. In a conversation with the V.S. Ambassador Houghton, Stinnes reported on the altercation and darkly remarked that "Stresemann is undoubtedly slated to go. I am afraid if he does not go willingly an effort may be made to put hirn out by force. ,,43 Stinnes continued to place some hope in Ebert and the appointment of a directory under Otto Wiedfeldt to run the country, but Ebert would only act constitutionally and Wiedfeldt was not interested in the job. Stinnes found it all very depressing, angrily writing to his son Humann, Nachrichtenblatt, Oct. 12, 1923, ACDP, 1-220, 040/4. Letter to Rudolf Schneider, Oct. 19, 1923, NL Stresemann, Reel 3105, Frames H 154335 - 337. 43 Houghton to Hughes, Nov. 6, 1923, reprinted in Hallgarten (see anno 39), pp. 69 -71. 41

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that "Stresemann is a weak man, who to be sure has moved more to the right in the last few days, but who does not dare to take the decisive step in the labor question and without this step there can be no currency reform, and no recovery of the economy and naturally also no reparations to the French. ,,44 While Stresemann and Brauns did allow the demobilization decrees finally to lapse, they also managed to maintain the collective bargaining system by changing the hours of work through binding arbitration and thus not giving Stinnes the free hand he wanted. Ironically, it was the left, the Social Democrats, not the right which brought down the Stresemann government and this caused a final flurry of discussion about a possible directorate or a bourgeois coalition with the DNVP. The DNVP, however, would not join a cabinet that inc1uded Stresemann, and the latter was able to argue very successfully against the domestic and international acceptability of this solution. Indeed, Stresemann was even able to cite Stinnes, who had once pointed out that ,,he liked the German Nationalists, but that they were no artic1e for political export.,,45 Just as Stresemann the Chancellor was able to block Stinnes's more extreme domestic political goals, so Stresemann the Foreign Minister in the new Wilhelm Marx government, in alliance with Currency Comrnissar and Reichsbank President Hjalmar Schacht, was able to block Stinnes's plans, undertaken in collaboration with Mayor Konrad Adenauer of Cologne, the banker Louis Hagen, and other Rhenish leaders to separate the Rhineland from Prussia and create a Rhenish-Westphalian Gold Note Bank. Stinnes was motivated by the need for new sources of credit for his enterprises but also by a very genuine conviction that Germany had to come to terms with France, that a new federal state in the Rhineland could serve as a bridge between the two nations, and that matters could best be settled with France through direct negotiations between French and German industrialists. Stresemann, however, pinned his hopes on an agreement with the Anglo-Americans and loans from the United States, all of which he saw endangered by separate agreements with the French. Indeed, Stresemann was systematic in his opposition. Thus, he blocked efforts by Stinnes to gain exc1usion from the fusion tax when Stinnes asked for such relief in his effort to unite his various enterprises in the Rhineland in preparation for the creation of aseparate state. 46 He also blocked plans for Stinnes and Vogler to go directly to Paris and negotiate with their French counterparts at the beginning of 1924, telling one of Millerand ' s confidents that Stinnes did not have the confidence of the German government. When Stinnes leamed of Stresemann's remark through Adenauer, the industrialist burst out, "now it is over with Stresemann. Now I will twist the rogue's neck!,,47 Stresemann, however, was unconcerned by Stinnes's wrath and feit it inappropriate that "private negotiators" Hugo Sr. to Hugo Jr. Stinnes, Nov. 16, 1923, ACDP, 1-220, 30017. Cabinet meeting, Nov. 19, 1923, Kabinette Stresemann, 11 (see anno 36), p. 1131. 46 Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Die Kabinette Marx 1 und 11. Ed. Abramowski, Günter, Boppard 1973, I, pp. 101 - 103. 47 Erdmann, Karl Dietrich, Unterredung mit Konrad Adenauer, 9. März 1965, in: Das erste Jahrzehnt 1977 -1987. Ein Almanach, Stuttgart 1987, pp. 189 - 190. 44

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be allowed to tie the hands of the Foreign Office. In cabinet discussions and elsewhere, Stresemann also emphasized the negative domestic political consequences of Stinnes's initiatives, pointing out that the Krupp and Haniel concerns were opposed to Stinnes's plans and that there was much opposition to them throughout industry. It was hard to understand why Stinnes should receive a special mandate, and Stresemann pointed out that there was political opposition as well and that the notion that Germany was a ,,stinnes Republic" was causing much resentment. Indeed, within the DVP there was very sharp criticism of Stinnes's role and especially of the plans for a Rhenish State and Rhenish Gold Note Bank, both of which were viewed as separatist. 48 Stinnes was well informed about this opposition. In early February 1924, for example, one of Humann's associates had a conversation with a party functionary who had been expelled from the occupied area. He and his colleagues were dead set against putting Stinnes up for election again, and he contended that Stinnes's name on the list would cost the party 80.000 votes. Indeed, there were many persons in the DVP, he argued, who took the view that ,,it is not proper that the ,Wirtschaft,' whose most prominent representative is Hugo Stinnes, should exercise such an influence in the State. But this viewpoint is completely secondary to the criticism which is being directed against Hugo Stinnes's position on the question of the Rhenish Gold Note Bank. It is incomprehensible to hirn as well as to other representatives of the DVP how Hugo Stinnes could place hirnself on the side of people like Adenauer, Hagen, von Stein, and von Schröder, whose "Rhenish Bank" is in no way to be seen as aprecursor of the Reich Gold Note bank, but from the outset was oriented to the West, that is, to France. ,,49 The opposition to Stinnes, however, was more general. His position as a Reichstag deputy, as Stresemann well knew and had indeed argued even before the 1920 elections, was more a liability than an asset and was bound to cause problems in the Reichstag elections anticipated for 1924. The hostility to his candidacy, however, was most directly brought horne to Stinnes hirnself in a letter of February 9 from Deputy Albert Morath, a spokesman for the civil servants movement, who urged Stinnes not to run again since it would cost the DVP the votes of the Mittelstand. Stinnes immediately attributed the letter to Stresemann's influence, and drafted a letter of complaint to the head of the Reichstag delegation Ernst Scholz, called for the creation of a coalition with the Center and DNVP, and c1aimed that Stresemann "will play the same unhappy role [ ... ] which Erzberger played in the Center Party a few years ago."so He was especially angry at Stresemann's recent criticisms of industry, attacks on the syndicates and cartels, and his creation of the impression "as if a portion of the business community has the ambition to create a state within the state and to seize power for itself." In reality, Stinnes argued, in48 49

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See the Cabinet meeting of Jan. 9, 1924, Kabinette Marx, I (see anno 46), pp. 211 - 215. Humann to Stinnes, Feb. 4, 1924, ACDP, 1-220,039/4. Draft of a letter to Scholz, Feb. 22, 1924, ibid., 00217.

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dustry was trying to protect the intellectual middle dass and the entire population, and he charged that Stresemann was engaging in a "deliberate misleading of the public." He also attacked Stresemann's foreign policy for lack of honesty and announced that he, personalIy, could not run as a candidate for the DVP if Stresemann maintained his present position since it would lead to the ruin of the party. Stinnes never sent this letter, probably thanks to the critical comments of Humann and Lensch who thought it would be seen as an act of revenge and would be counterproductive. No party could dump its leader before an election, and it could not accept an ultimatum from a member. Humann was sympathetic to the comparison with Erzberger, but warned it would backfire with the Center Party. It also appeared as a personal attack on the Foreign Minister at a crucial time, and Humann warned that it would unleash a debate in which Stresemann would use all his formidable rhetorical skills. Humann thus took the position that it was better to say as little as possible at the moment, withdraw from candidacy, and attack after the election was over. 51 It is, of course, impossible to say exact1y what course the conflict between Stinnes and Stresemann would have taken had the former lived beyond April 1924. Vogler and other industrialleaders broke away from the DVP, creating a "Nationalliberale Vereinigung" and, in some cases, ending up in the DNVP. Stinnes might have found it harder to break with his National Liberal identification for very long. What is dear, however, is that he was no match for Stresemann once the latter decided it was more important to block Stinnes than to pacify hirn. His success in doing so should be viewed as one ofthe Weimar Republic's happier episodes, even if it was too little and too late in terms of limiting the political power and influence Stinnes had exercised until then. It demonstrated that genuine political skills could make a decisive difference in a crisis, although, as Stresemann's difficulties in managing is party and as the lack of resonance his foreign policy successes had at the polIs demonstrated, it did not prove that political skill sufficed to overcome Germany's deficits in political culture. Nevertbeless, the successful weathering of political crises is not without consequence for the evolution of a nation's political consciousness, and while the early death of Hugo Stinnes was most probably not a political loss for the Weimar Republic, Stresemann's death in 1929 deprived the nation of a genuine political resource whose capacities were significantly ilIustrated in his duels with Hugo Stinnes.

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Humann to Osius, March 6, 1924, ibid.

"Eine gewisse angewiderte Bewunderung" Johannes Haller und der Nationalsozialismus Heribert Müller*

"Die Irrbahn ist verlassen, der rechte Weg wiedergefunden" (Johannes Haller, Zum 1. April 1933) ,,Ich aber lasse in Israel noch 7000 übrig, alle, deren Knie sich vor Baal nicht gebeugt ... hat" (Johannes Haller an Johan Huizinga, 10. 11. 1935)1

I. Johannes Haller und der Nationalsozialismus - ein Thema, das sich trotz solch widersprüchlicher Zitate eigentlich recht kurz und klar abhandeln lassen dürfte: Vornehmlich mit seinen ,,Epochen der deutschen Geschichte" zu den meistgelesenen und damit auch auf breite Kreise einwirkenden Historikern in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts gehörend, stand Haller, wie eben diese ,,Epochen" erweisen, den Nationalsoziali·sten nahe und bewunderte insbesondere Hitler. Es war ganz offensichtlich eine Bewunderung ohne jene feinen ironischen Brechungen, ohne jegliche Opposition gegen den "Bruder Hitler", wie sie in dem gleichnamigen Essay des Jahres 1938 von Thomas Mann zum Ausdruck kommt, dem die titel-

* Dank für Rat und Hilfe bei Abfassung dieses Beitrags gelten: Klaus Hildebrand, dem Kollegen, der dem Mediävisten auf ungewohntem Terrain half und manche Anregungen und Hinweise gab; Erich Meuthen, der als Mittelalterhistoriker vor einem Jahrzehnt Ähnliches wie Verfasser unternahm und diesem seinen ungedruckten Beitrag zur Verfügung stellte (vgl. Anm. 59); Gabriele Annas und Carola Schütte, den Kölner Mitarbeiterinnen, die sich bei Literaturbeschaffung und Recherchen engagierten. 1 a) Süddeutsche Zeitung 3. IV. 1934; ND in: Haller, Johannes, Reden und Aufsätze zur Geschichte und Politik, Stuttgart-Berlin 1934, S. 380. Vgl. zu diesem von Haller anläßlich des Geburtstags von Bismarck verfaßten Artikel Mommsen, Wolfgang J., Die Geschichtswissenschaft und die Soziologie unter dem Nationalsozialismus, in: Coing, Helmut u. a. (Hrsg.), Wissenschaftsgeschichte seit 1900. 75 Jahre Universität Frankfurt, Frankfurt/M. 1992, S. 61 f.; kurz auch Schönwälder, Karen, ,,Lehrrneisterin der Völker und der Jugend". Historiker als politische Kommentatoren 1933 -1945, in: Schöttler, Peter (Hrsg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918 -1945, Frankfurt/M. 1997, S. 130 - b) Huizinga, Johan, Briefwisseling, t. ill: 1934 - 1945, Utrecht-Antwerpen 1991, n. 1120.

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Heribert Müller

gebende Wendung entnommen wurde2 . Gewiß, der Bildungsbürger Haller mochte gleich den meisten seiner professoralen Standesgenossen vom Pöbel- und Plebejerturn der Bewegung angewidert sein, doch galt es einen "Führer" zu feiern, der dem vom Versailler "Schanddiktat" gedemütigten Deutschland nach Jahren der von vielen als parlamentarisch-demokratischer Alptraum empfundenen Weimarer Republik nunmehr den rechten Weg wies, es zu neuer, ihm zustehender Größe emporsteigen ließ. Kollegen im Ausland wie Johan Huizinga wollten in privater Korrespondenz beruhigt sein; was zählt, sind aber allein die programmatischen Vorreden der politische Leitvorstellungen transportierenden "Epochen", die bis 1943 u. a. durch Sonderausgaben für den Dienstgebrauch in der HJ und für den Frontbuchhandel eine Auflage von 125.000 Exemplaren erreichten 3 . 1922, als nach Hallers Urteil "Deutschland noch nie so tief am Boden lag wie heute", hatte er der Erstauflage den Wunsch vorangestellt: ,,Möge diesem Buche beschieden sein, mit der nüchternen Selbsterkenntnis, der es dienen will, zugleich den Glauben und den festen Willen in unserem Volke zu stärken, daß aus dem Elend der Gegenwart eine bessere Zukunft hervorgehen muß, und daß ein neues Geschlecht mit neuer Kraft auch der deutschen Geschichte ihren Sinn wiedergeben wird. So verstehe ich das Leitwort, das ich dem Titel beigebe: Der Tag wird kommen!,,4. 1934 nahm Haller im Vorwort zu einer neuen, erweiterten Ausgabe der "Epochen" direkt auf dieses Zitat aus der llias Bezug (eooE'tUL ~1l