Gesellschaftsbilder Sozialer Arbeit: Eine Bestandsaufnahme [1. Aufl.] 9783839416938

Die Soziale Arbeit verdankt ihre Entstehung der Entdeckung dessen, was im 19. Jahrhundert mit dem Wort »Gesellschaft« au

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German Pages 218 Year 2014

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Inhalt
Gesellschaftsbilder Sozialer Arbeit. Vorwort der Herausgeber
Wirklichkeit und Möglichkeit. Theorie Sozialer Arbeit als Kritik der Gesellschaft
Gesellschaft mittlerer Reichweite. Alltag, Lebensweltorientierung und Soziale Arbeit
Ansätze der Modernisierung und Individualisierung als Referenzen sozialpädagogischer Selbstvergewisserung. Oder: Vom Glauben an eine feste Ordnung des Sozialen,auch wenn sie jetzt verloren gegangen sei
Die kommunitaristische Gesellschaft der Sozialen Arbeit
Das Gesellschaftsbild der Systemtheorie
Zur diskursanalytischen Thematisierung von Gesellschaft
Anerkennung von Gewicht. Soziale Arbeit im Kampf um intelligible Identitäten
Autorinnen und Autoren
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Gesellschaftsbilder Sozialer Arbeit: Eine Bestandsaufnahme [1. Aufl.]
 9783839416938

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Bernd Dollinger, Fabian Kessl, Sascha Neumann, Philipp Sandermann (Hg.) Gesellschaftsbilder Sozialer Arbeit

Sozialtheorie

Bernd Dollinger, Fabian Kessl, Sascha Neumann, Philipp Sandermann (Hg.)

Gesellschaftsbilder Sozialer Arbeit Eine Bestandsaufnahme

Diese Publikation wurde finanziell durch die Forschungseinheit INSIDE (Integrative Research Unit: Social and Individual Development) der Universität Luxemburg gefördert. Die Herausgeber danken dem Direktor der Forschungseinheit, Prof. Dr. Dieter Ferring, für die großzügige Unterstützung des Vorhabens.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1693-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Gesellschaftsbilder Sozialer Arbeit Vorwort der Herausgeber Bernd Dollinger/Fabian Kessl/Sascha Neumann/ Philipp Sandermann | 7

Wirklichkeit und Möglichkeit Theorie Sozialer Arbeit als Kritik der Gesellschaft Sascha Neumann | 13

Gesellschaft mittlerer Reichweite Alltag, Lebensweltorientierung und Soziale Arbeit Sascha Neumann/Philipp Sandermann | 41

Ansätze der Modernisierung und Individualisierung als Referenzen sozialpädagogischer Selbstvergewisserung Oder: Vom Glauben an eine feste Ordnung des Sozialen, auch wenn sie jetzt verloren gegangen sei Bernd Dollinger | 65

Die kommunitaristische Gesellschaft der Sozialen Arbeit Philipp Sandermann | 101

Das Gesellschaftsbild der Systemtheorie Bettina Hünersdorf | 123

Zur diskursanalytischen Thematisierung von Gesellschaft Fabian Kessl | 155

Anerkennung von Gewicht Soziale Arbeit im Kampf um intelligible Identitäten Christian Schütte-Bäumner | 177

Autorinnen und Autoren | 213

Gesellschaftsbilder Sozialer Arbeit Vorwort der Herausgeber Bernd Dollinger/Fabian Kessl/Sascha Neumann/ Philipp Sandermann

Soziale Arbeit verdankt ihre Entstehung nicht unwesentlich der ›Entdeckung‹ dessen, was im 19. Jahrhundert mit dem Wort ›Gesellschaft‹ auf den Begriff gebracht wurde. Sie stellt seither einen Teil von dem dar, was mit der Idee von Gesellschaft verbunden wird. Daraus ergibt sich ein enger Zusammenhang zwischen dem, was jeweils als Gesellschaft und dem, was jeweils als Soziale Arbeit gekennzeichnet wird. Jeder Konzeption von Sozialer Arbeit ist ein spezifisches Gesellschaftsbild immanent, das zuweilen expliziert und systematisch verortet wird, häufig aber auch unbenannt oder zumindest unreflektiert bleibt. Gesellschaftsbeschreibungen unterschiedlicher Art gehören damit zu den zentralen, mehr oder minder offen gelegten Reflexionsflächen, innerhalb derer in den Feldern Sozialer Arbeit Diagnosen, Analysen und Programmatiken entfaltet werden. Darauf weist nicht zuletzt die (Selbst-)Bezeichnung der Sozialen Arbeit als Soziale1 Arbeit hin. Außerhalb des damit relativ allgemein bezeichneten Erkenntnis- und Reflexionszusammenhangs von Gesellschaft und Sozialer Arbeit gibt es allerdings wenig Konsens. Gesellschaft wird stattdessen – dies ist gleichsam der Ausgangsbefund des hier vorgelegten Bandes – sehr unterschiedlich theoretisiert (vgl. auch Kneer/Nassehi/Schroer 2001; Ritsert 2000). Dieser 1 | Der Begriff des ›Sozialen‹ wird in der Sozialen Arbeit traditionell auf verschiedene Weise gebraucht; entscheidend ist für unsere Argumentation, dass er unter anderem verwendet wird, um einen Bezug auf ›die Gesellschaft‹ zu artikulieren, innerhalb derer Soziale Arbeit verortet ist bzw. sich verortet.

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Befund verweist wiederum unmittelbar auf den Kontext der ›Entdeckung‹ von Gesellschaft selbst. Der sich im 19. Jahrhundert etablierende Begriff ›Gesellschaft‹ trägt dabei von Beginn an Vorstellungen mit sich, in denen normative Zuschreibungen, spezifische Einstellungen und allgemeine Werthaltungen mit systematischen Deutungen und spezifischen analytischen Bestimmungsversuchen verschmelzen (vgl. am Beispiel Durkheims Kron/Redding 2003; Tenbruck 1981). In diesem Sinne war und ist jedes Bild von ›Gesellschaft‹ an besondere Konnotationen, Vorannahmen, Erwartungen und Präskriptionen gekoppelt, die es unwahrscheinlicher machen, die entsprechenden Positionierungen nicht im Streit mit alternativen Sichtweisen und Deutungen zu adressieren. Diese enge Verknüpfung von wissenschaftlichen Beschreibungen, normativen Perspektiven und praktischem Wirkenwollen, wie sie sich in der Auseinandersetzung mit ›Gesellschaft‹ feststellen lässt, hat wohl nicht zuletzt auch zu einer bis heute wenig homogenen Sicht auf den Gegenstand ›Soziale Arbeit‹ beigetragen. Deren unterschiedliche Konzeptionen werden stets deutlich von der im jeweiligen Fall eingenommenen gesellschaftstheoretischen Perspektive bestimmt. So haben wir es mit einer inzwischen relativ stabilen Etablierung von multiperspektivischen bis kontroversen Auseinandersetzungen um die Beobachtung von Sozialer Arbeit im Allgemeinen und um das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Gesellschaft im Besonderen zu tun (vgl. auch Cree 2008). Eine bisher weitgehend unbearbeitete Frage in Bezug auf das oben umrissene Thema ist nun, welche Gesellschaftsbilder in der Sozialen Arbeit gegenwärtig zur Anwendung kommen, und in welcher Weise ›Soziale Arbeit‹ innerhalb dieser jeweiligen ›Gesellschaftsbilder‹ gefasst wird. Diesen Fragen gehen die Beiträge im vorliegenden Band nach. Die in den letzten Jahrzehnten angewachsene Pluralität explizit ausgearbeiteter theoriesystematischer Entwürfe Sozialer Arbeit gibt hierzu hinreichend Anlass und ›Material‹ (vgl. im Überblick etwa Füssenhäuser/Thiersch 2011; May 2010). Denn jeder Theorieentwurf kann im Sinne des skizzierten Erkenntnisinteresses auf mindestens zweierlei Art und Weise befragt werden. Einerseits daraufhin, wie der jeweilige Ansatz Gesellschaft explizit oder implizit beschreibt, und andererseits in Bezug darauf, wie hier spezifische Gesellschaftsbilder präsentiert werden, um den jeweiligen Entwurf selbst als sozialpädagogische Theorie in Stellung bringen zu können. Durch eine Aufarbeitung dieser Fragen kann die wissenschaftliche Analyse Sozialer Arbeit die sich gegenwärtig etablierende Reflexivität ihrer Vergewisse-

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rungsprozesse steigern. Die Beiträge im vorliegenden Band machen zugleich deutlich, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den einzelnen Varianten einer Theorie Sozialer Arbeit vorliegen. Neben der Frage nach der Herangehensweise wirft das Unternehmen, Gesellschaftsbilder Sozialer Arbeit zu rekonstruieren, auch das Problem auf, dass eine Auswahl von Ansätzen unumgänglich ist. Unser Anliegen bei der vorliegenden Auswahl war es, vor allem theoretische Positionen in den Blick zu nehmen, die als einflussreich für den gegenwärtigen Theoriediskurs und zugleich als strittig in Bezug auf das ihnen zugrunde gelegte Gesellschaftsbild angesehen werden können. Die in diesem Zuge getroffenen Entscheidungen sind in gewissem Maße arbiträr. Was (und wer) ›einflussreich‹ ist oder nicht, kann weder gänzlich frei von selektiven Gewichtungen noch endgültig bestimmt werden. Am offensichtlichsten wird dies in Anbetracht der Abwesenheit von Ansätzen, die theoriegeschichtlich zwar von herausragender Bedeutung sind, gegenwärtig aber den Theoriediskurs Sozialer Arbeit nur noch in Gestalt historischer Reminiszenzen prägen. Gesellschaftstheoretische Bezüge, wenn nicht sogar eigenständige Gesellschaftstheorien ließen sich genauso auch für die fürsorgewissenschaftlichen Ansätze Christian Jasper Klumkers und Hans Scherpners oder die im engeren Sinne sozialpädagogischen Theorien Johann Heinrich Pestalozzis, Paul Natorps oder Aloys Fischers rekonstruieren. Das Argument für den Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen ist dabei jedoch nicht allein ein pragmatisches. Vielmehr begründet sich die Abwesenheit dieser Ansätze damit, dass die von ihnen vertretenen gesellschaftstheoretischen Positionen für die zeitgenössischen Debatten um die Verortung der Sozialen Arbeit von ihrer Relevanz her anderen, neueren Ansätzen nicht vergleichbar sind. Entsprechend setzt der Band seinen Schwerpunkt explizit bei solchen Theoriepositionen, die nach der sozialwissenschaftlichen Wende in den späten 1960er Jahren in der Sozialen Arbeit an Einfluss gewonnen haben. In den Blick der jeweiligen Aufsätze zum Thema rücken dabei die Gesellschaftsbilder der insbesondere in den 1970er Jahren sich etablierenden kritischen Sozialen Arbeit (Sascha Neumann), der sich in den späten 1970er Jahren entfaltenden Theorie alltags- bzw. lebensweltorientierter Sozialer Arbeit (Sascha Neumann und Philipp Sandermann) sowie des in den 1980er und 1990er Jahren innerhalb der sozialpädagogischen Theoriediskussion an Bedeutung gewinnenden individualisierungs- und modernisierungstheoretischen Ansatzes (Bernd Dollinger) und des Kommunitarismus (Philipp Sandermann). Die beiden

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abschließenden Beiträge sind dann Ansätzen gewidmet, die erst in den späten 1990er Jahren bzw. im letzten Jahrzehnt im sozialpädagogischen Theoriediskurs einflussreich geworden sind: der systemtheoretische Zugang (Bettina Hünersdorf), diskurs- bzw. machtanalytische Entwürfe (Fabian Kessl) sowie Versuche einer anerkennungstheoretischen Bestimmung Sozialer Arbeit (Christian Schütte-Bäumner). Mit den im Rahmen dieses Bandes vorgenommenen Rekonstruktionen von Gesellschaftsbildern in der Sozialen Arbeit wird nicht zuletzt ein weiteres Problem aufgeworfen, das sich ebenfalls nicht endgültig lösen lässt. Wird nämlich anerkannt, dass Gesellschaftsbilder von spezifischen Positionen aus konturiert werden, so muss diese Positionsabhängigkeit auch für die jeweiligen BeobachterInnen dieser Konturierung in Rechnung gestellt werden. Rekonstruktionen von Gesellschaftsbildern sind in sich nicht grundsätzlich ›objektiver‹ oder ›perspektivenfreier‹ als die von ihnen jeweils analysierten Thematisierungsformen der Gesellschaft in der Sozialen Arbeit. Dies ist auch nicht ihr Ziel, zumal sie sich erst über die Einnahme einer – wie auch immer gearteten – Analyseposition in die Lage versetzen, die sie interessierende Dimension von Gesellschaftsbildern innerhalb des jeweils fokussierten Ansatzes herausarbeiten zu können. Faktisch nehmen die AutorInnen dieses Bandes daher nicht nur eindeutig Positionen bei der Analyse der sie jeweils interessierenden Objektbereiche ein, diese Positionen sind darüber hinaus auch sehr unterschiedlich. Wir haben bewusst darauf verzichtet, diese Unterschiedlichkeit der Positionen zu vereinheitlichen, da wir mit einer solchen Neutralisierung eine Homogenität der Sozialen Arbeit und eine Voraussetzungslosigkeit theoretischer Darstellungen simuliert hätten, die wir im Ausgangspunkt der Konzeption des Bandes bestreiten. Es bleibt deshalb nachfolgenden Analysen überlassen, die Perspektivität der Perspektiven zu erschließen, die die AutorInnen dieses Bandes in der Rekonstruktion der sozialpädagogischen Perspektiven auf Gesellschaft einnehmen. Dass hier viele ›Perspektiven‹ auftreten, verdeutlicht der vorausgehende Satz – und die Tatsache, dass wir die terminologischen Doppelungen darin nicht revidierten, mag veranschaulichen, dass sich Perspektivität nicht neutralisieren lässt. Oder in einem Bild ausgedrückt: Aseptische Theoriearbeit bleibt eine Sache wissenschaftstheoretischer Debatten, während konkrete Analysen – hier: von Gesellschaftsbildern Sozialer Arbeit – niemals im keimfreien Raum stattfinden. Sie sind, und damit wird das klinische Bild wieder verlassen, eine kontextabhängige

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Praxis, und als nichts anderes sollen Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit in diesem Band betrachtet werden.

L ITER ATUR Cree, Vivienne E. (2008): »Social Work and Society«. In: Martin Davies (Hg.): The Blackwell Companion to Social Work. 3. Auflage. Malden: Blackwell, S. 289-302. Füssenhäuser, Cornelia/Thiersch, Hans (2011): »Theorie und Theoriegeschichte der Sozialen Arbeit.« In: Hans-Uwe Otto/Hans Thiersch (Hg.): Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik. 4., völlig neu überarbeitete Auflage. München/Basel: Reinhardt, S. 1632-1645. Kneer, Georg/Nassehi, Armin/Schroer, Markus (Hg.) (2001): Klassische Gesellschaftsbegriffe der Soziologie. München: Fink. Kron, Thomas/Redding, Melanie (2003): »Der Zwang zur Moral und die Dimension moralischer Autonomie bei Durkheim«. In: Matthias Junge (Hg.): Macht und Moral. Beiträge zur Dekonstruktion von Moral. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 165-191. May, Michael (2010): Aktuelle Theoriediskurse Sozialer Arbeit. 2., überarbeitete Auflage. Wiesbaden: VS. Ritsert, Jürgen (2000): Gesellschaft. Ein unergründlicher Grundbegriff der Soziologie. Frankfurt a.M.: Campus. Tenbruck, Friedrich H. (1981): »Emile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie«. In: Zeitschrift für Soziologie 10, S. 333-350.

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Wirklichkeit und Möglichkeit Theorie Sozialer Arbeit als Kritik der Gesellschaft Sascha Neumann »Das Problem der kritischen Soziologie liegt darin, dass sie unfehlbar recht hat.« Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft

Kritik, zumal Gesellschaftskritik, gehört in der Moderne gleichsam zur Tradition. Diese paradox anmutende Aussage verweist auf zweierlei: Einerseits darauf, dass Kritik zu einer Art »Gewohnheit« geworden ist und in diesem Sinne als nahezu konstitutiv für die Erfahrung von Modernität angesehen werden kann (vgl. Rustemeyer 2003); andererseits darauf, dass die Artikulation von Kritik kein Alleinstellungsmerkmal sozialpädagogischer Wirklichkeitsbeschreibungen darstellt. Vielmehr gehört sie fest zum Inventar von Gesellschaften, die sich selbst als modern in einer Weise begreifen, dass sie an ihren eigenen geschichtlichen Fortschritt zum Besseren glauben. Dass Kritik in der Sozialen Arbeit eine bedeutende Rolle spielt, zeigt dann nur, inwiefern die Soziale Arbeit tatsächlich selbst ein Produkt moderner Gesellschaftsbeschreibungen und der mit ihnen kultivierten Weltbedeutsamkeit ist. In diesem Sinne äußert sich in jeder Kritik – unabhängig davon, was je kritisiert wird – die allgemeine Auffassung, dass das, was ist, auch immer anders sein könnte. Kritik lebt also von der Erfahrung von, oder jedenfalls doch: von der Hoffnung auf Kontingenz. Dabei wird die Wirklichkeit stets an dem gemessen, was man als Horizont ihrer Möglichkeiten betrachtet. Historisch wie semantisch lässt sich dabei ab dem 18. Jahrhundert als dem sogenannten »Zeitalter der Kritik« (Kant 1956 [1781/1787]: A XI) ein

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originärer Zusammenhang zwischen der zunehmend um sich greifenden Kultur- und Gesellschaftskritik und einer sich zugleich verselbständigenden Rhetorik um den der Medizin entlehnten Begriff der »Krise« rekonstruieren (Koselleck 1959). Krisendiagnosen bringen dabei als Zustand der Welt zur Sprache, was die Kritik überwunden wissen will und was diese ihrerseits als Kritik überhaupt erst legitimiert. In diesem Sinne markieren Krisendiagnosen »die anhaltende Neuheit [einer] Epoche, die als Übergang gedeutet wird« (Koselleck 1982: 648) und explizieren »Zeiterfahrungen« oder greifen szenarisch auf solche vor, an denen sich die Kritik schließlich plausibilisieren kann. In Krisendiagnosen verschafft sich die Kritik also einen Gegenstand, den es so ohne sie nicht gäbe. Erst mit der Krise wird die Kritik als Kritik ersichtlich. Die Repräsentation der Krise in der Kritik verweist also letztlich symptomatisch auf sich selbst und somit auf die zeitliche, logische und soziale Gleichursprünglichkeit von Beobachtung und Beobachtetem. Anders gesagt: Krisenzustände sind von ihrer Beschreibung als Krisen genauso wenig epistemologisch unterscheidbar wie die Kritik vom Kritisierten (vgl. Luhmann 1991). Kritik und Krise gehören zu den zentralen Topoi sozialpädagogischer Weltbedeutsamkeit (vgl. Dollinger 2006; Honig 2005; Konrad 1998 [1993]; Winkler 1995: 155 sowie neuerdings: Treptow/Thiersch 2011). Der etwas schwergewichtige Ausdruck »Weltbedeutsamkeit« bezeichnet dabei hier nichts mehr und nichts weniger als die Art und Weise, in der sich die Soziale Arbeit bei der Beobachtung der Wirklichkeit selbst als relevant erkennt (vgl. Neumann 2008). Genauso aber wie die kritische Beschreibung von Gesellschaft kein Hoheitsgebiet oder epistemisches Privileg der Sozialen Arbeit ist, wäre es unangemessen, jede Artikulation von Kritik bereits als Manifestation einer kritischen Sozialen Arbeit zu betrachten. Dafür ist Kritik in der Sozialen Arbeit ein viel zu weit verbreitetes Phänomen und macht auf ganz eigentümliche Weise das aus, was man zum »guten Ton« zählt. Anders gesagt: »Sie ist so stark ausgeprägt, dass der Begriff einer kritischen Sozialarbeit oder der einer kritischen Sozialpädagogik eigentlich verwirrt« (Winkler 2011: 20). In der historischen Erzählung der Sozialen Arbeit ist es dabei jedoch die Gesellschaft selbst, welche die Kritik an ihr hervorbringt. Entsprechend wäre die Kritik der Sozialen Arbeit Folge und nicht Voraussetzung der Kritikwürdigkeit einer Gesellschaft, die dies sowohl ermöglicht wie erzwingt. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang Klaus Mollenhauers berühmtes Diktum, dass die »Gesellschaft im Sozialpädagogen einen ihrer heftigsten Kritiker« produziere (Mollenhauer 2001

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[1964]: 21). Es macht gerade darauf aufmerksam, dass das Aufkommen von Gesellschaftskritik in der Sozialen Arbeit eine bestimmte historische Erfahrung der Folgen von Gesellschaftlichkeit zum Ausdruck bringt. Sie besteht, so Mollenhauer, darin, dass sie sich mit den »spezifischen Problemen« und den »Schäden« konfrontiert sieht, welche die Gesellschaft »dem Menschen zufügt oder zuzufügen im Begriff scheint« (ebd.). Aber Kritik richtet sich in der Sozialen Arbeit keineswegs immer nur auf die Gesellschaft oder das, was jeweils dafür gehalten wird. Ihre Gegenstände sind weitaus vielfältiger. Dies gilt zumindest insoweit, als nicht alles, was ausgehend von der Sozialen Arbeit mit Kritik bedacht wird, auch unmittelbar an so etwas wie die Gesellschaft adressiert ist. Zu den Adressaten der Kritik gehören über die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse hinaus auch Programme und politische Praxen im Umgang mit sozialen Risiken und davon betroffenen Personengruppen, daneben die sich im wohlfahrtsstaatlichen Arrangement und seiner rechtlichen Kodifizierung ausdrückenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse und nicht zuletzt auch wissenschaftliche Paradigmen, Begriffe, Konzepte und Klassifikationen, insofern sie kritisch auf ihren Geltungsanspruch hin geprüft werden (Scherr 2006: 172f.). Kritik in der Sozialen Arbeit kann also nicht immer im wörtlichen oder ausdrücklichen Sinne bereits das sein, was in der Sozialen Arbeit mit kritischer Sozialer Arbeit identifiziert wird, denn sonst wäre Soziale Arbeit generell kritische Soziale Arbeit. Zu den zentralen Kennzeichen einer kritischen Sozialen Arbeit gehört sicherlich, dass sie vom Willen zur Kritik angetrieben ist, kritische Aussagen also keine zufälligen Äußerungen sind, sondern systematische Resultate darstellen, die auf ein bestimmtes Erkenntnisinteresse zurückgehen. Damit wäre zwar markiert, was die kritische Soziale Arbeit von der bloßen »Krittelei« unterscheidet, die den durchschnittlichen Kritizismus des Alltags oder denjenigen von Kunst- und Literaturkritik bzw. allgemein: von Expertenurteilen kennzeichnet (vgl. Williams 1976: 75f.). Gleichwohl bleibt aber noch reichlich unbestimmt, inwieweit sie sich damit tatsächlich von der gewöhnlichen Kritik in der Sozialen Arbeit abgrenzt. Ähnlich weit gespannt wie die Kritik sind die in der Sozialen Arbeit anzutreffenden Krisendiagnosen. Neben den diversen gesellschaftlichen Zuständen richten sie sich immer auch auf den Status quo der Sozialen Arbeit selbst als Wissenschaft und professionelle Praxis, die sich nicht selten in gleich mehreren und dazu noch dauerhaften Krisen wiederzufinden scheint (vgl. in diesem Sinne nur Niemeyer 1998: 69; Reyer 2002). Die

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tiefe Verankerung ihrer »Krisenidentität« (vgl. hierzu Thiersch/Treptow 2011; Thiersch 1984) verbietet es dabei nicht zuletzt, ihre eigene akademische und professionelle Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg ausschließlich als eine Erfolgsgeschichte zu lesen, auch wenn man dies allein angesichts der quantitativen Entwicklungen in den Hochschulen und Berufsfeldern durchaus tun könnte (vgl. hierzu bereits Lüders/Winkler 1992; Münchmeier 2004) und gerade die Bilanzen des Professionalisierungsdiskurses ja auch eher dazu neigen, statt der Ambivalenzen den Fortschritt dieses Projekts zu betonen. All die hier benannten Unklarheiten werfen zunächst einmal die grundlegende Frage auf, wodurch sich die Kritik einer kritischen Sozialen Arbeit von der herkömmlichen Kritik der Sozialen Arbeit unterscheidet, inwiefern sie sich ihr gegenüber profiliert und sodann: wie sich der Unterschied in ihrer Konzeptualisierung von Gesellschaft äußert. Die erste Frage wäre also: Was macht Soziale Arbeit zu kritischer Sozialer Arbeit? Die zweite wäre: Welche Rolle spielt ein bestimmter Bezug auf ›Gesellschaft› für ihre Selbstbeobachtung als ›kritisch‹? Die Bestimmung dessen, was kritische Soziale Arbeit und ihr Gesellschaftsbild ausmacht, kommt letztlich also nicht um eine Spezifizierung ihres Kritikverständnisses herum (vgl. in diesem Sinne auch Scherr 2006). Entsprechend sind es diese beiden Fragen, die im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen und seine Argumentationsfolge strukturieren. Er geht ihnen jedoch nicht mit einem programmatischen, sondern mit einem analytischen Interesse nach. Entsprechend ist er nicht daran interessiert, eine zeitgenössische Positionierung kritischer Sozialer Arbeit zu begründen (vgl. hierzu Anhorn/Bettinger 2005; Widersprüche 100/2006, 112/2009), sondern nur daran, ihre gesellschaftstheoretischen Annahmen im Lichte ihres spezifischen Kritikverständnisses heraus zu präparieren. Die Analyse interessiert sich also dafür, wie sich die Kritik in ihren Gesellschaftsbeschreibungen selbst plausibilisiert. Sie knüpft somit heuristisch an die Ununterscheidbarkeit von Kritik und Kritisiertem an. Dies führt letztlich zu der Frage, wie jene ›Gesellschaft‹ beschaffen ist, die es einer ›kritischen Sozialen Arbeit‹ erst ermöglicht, sich selbst als ›kritisch‹ zu beobachten?

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1. D IE K RITIK DER S OZIALEN A RBEIT UND DIE KRITISCHE S OZIALE A RBEIT Als ›kritisch‹ kann sich eine Soziale Arbeit nur gegenüber einer Sozialen Arbeit profilieren, die sie selbst im Allgemeinen für unkritisch hält. Doch wenn Kritik in der Sozialen Arbeit selbst ubiquitär ist und gewissermaßen zum mainstream gehört, stellt sich die Frage, ob es so etwas wie eine unkritische Soziale Arbeit überhaupt gibt. Sind nicht alle Programmatiken und Theorieentwürfe der Sozialen Arbeit irgendwann einmal oder in irgendeiner Hinsicht als kritisch in Erscheinung getreten?1 Selbst wenn damit noch nicht gesagt ist, dass der Anspruch, kritisch zu sein, das Selbstverständnis aller Traditionen und Diskussionslinien in der Sozialen Arbeit bestimmt, macht diese Frage – gerade in ihrer rhetorischen Gestalt – noch einmal darauf aufmerksam, dass Kritik zu einer Art Standardrepertoire moderner Weltbeschreibungen gehört. Insofern rührt sie dann doch an die raison d’être einer kritischen Sozialen Arbeit. Um sie zu beantworten, genügt es nämlich nicht allein, auf die Ambition des Kritischen zu verweisen. Vielmehr muss nachvollziehbar gemacht werden, unter welchen Bedingungen es für eine kritische Soziale Arbeit möglich war und möglich ist, sich selbst als kritisch und in diesem Sinne als besonders zu begreifen. Also: Wie gelingt es einer kritischen Sozialen Arbeit, sich gerade als Form der Sozialen Arbeit von einer nach ihren Maßstäben nicht-kritischen Sozialen Arbeit unterscheidbar zu machen? Die kritische Soziale Arbeit entstand Anfang der siebziger Jahre in der Folge einer Zeit des soziokulturellen Umbruchs in der Bundesrepublik Deutschland, die gewöhnlich mit dem Stichwort ›Studentenbewegung‹ assoziiert wird. Dies ist zugleich auch jene Phase, in der sie ihre Blütezeit erlebte. Doch man muss nicht unbedingt soweit in die Vergangenheit zurückgehen. Die kritische Soziale Arbeit erlebt nämlich angesichts von Zeitdiagnosen, die für eine Zunahme an Ungleichheits-, Prekarisierungs- und Exklusionstendenzen sprechen und/oder eine neuerliche (globale) wirtschaftliche und politische Krise heraufziehen sehen, seit einigen Jahren – wie im Übrigen auch die kritische Soziologie (vgl. hierzu nur: Celikates 2009; Forst/Hartmann/Jaeggi/Saar 2009; Jaeggi/Wesche 2009; Dörre/ Lessenich/Rosa 2009) – eine Renaissance. Davon zeugt zum einen jene 1 | Wie etwa das Konzept einer alltags-/lebensweltorientierten Sozialen Arbeit. Vgl. hierzu Neumann/Sandermann i. d. B.

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Vielzahl bereits erschienener und demnächst erscheinender Publikationen2 , die im Zeichen der Erneuerung von Kritik und einer Rehabilitierung einer kritischen Sozialen Arbeit stehen. Laut wird mit ihnen nicht zuletzt die Forderung, »dass Ausbildung, Wissenschaft und Forschung Sozialer Arbeit aus den Beschränkungen des akademischen Betriebs (wieder) heraustreten und sich im Kampf gegen zunehmende soziale Ungleichheit und Ausschließung […] mit außerakademischen gesellschaftlichen Kräften verbinden« sollen (Anhorn/Bettinger 2005: 7). Belegen lässt sich die Renaissance aber auch – zum anderen – mit der seit 2005 erfolgten Neugründung sogenannter »Arbeitskreise Kritische Sozialer Arbeit (AKS)« in verschiedenen Städten, also jenen Organisationsformen, die erstmals in den späten 1960er Jahren im Kontext der Studentenbewegung in Erscheinung traten und sich für eine reformierte bzw. revolutionär ambitionierte Praxis Sozialer Arbeit engagierten (vgl. ausführlich Penke 2009). Obwohl Helga Marburger (1979) und Hans Ludwig Schmidt (1981) die – damals noch so genannte – »kritische Sozialpädagogik« schon in ihren frühen Überblicksdarstellungen zu jenen Ansätzen zählen, die sie als repräsentativ für die seinerzeit noch junge Theoriediskussion in der Sozialen Arbeit ansahen, ist es in den 1980er, 1990er und den ersten Jahren des neuen Jahrtausends recht still um sie geworden. Diese Tendenz hielt im Grunde bis zu ihrer Renaissance in der nahen Gegenwart an. Auch in publizistischer Hinsicht glitt sie dabei mit zunehmender Zeit in ein Nischendasein ab, selbst wenn einstweilen immer wieder punktuelle Versuche eines Neubeginns – wenigstens einer kritischen Erziehungswissenschaft – zu verzeichnen waren (vgl. etwa Sünker/Krüger 1999). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang für die kritische Soziale Arbeit, dass sie z.B. in Michael Mays Lehrbuch zu »Aktuelle(n) Theoriediskursen Sozialer Arbeit« nicht unter einer eigenen Kapitelüberschrift anzutreffen ist und einige der von ihr vertretenen Positionen lediglich in Unterkapiteln auftauchen, die – wie sollte es auch anders sein – der Kritik anderer Ansätze gewidmet sind (vgl. etwa May 2010: 140ff.). Im jüngst in der vierten, völlig neu bearbeiteten Auflage erschienen »Handbuch Soziale Arbeit« findet sich – anders als bei den vorherigen Auflagen – weder ein eigener Ein2 | Vgl. hierzu nur Anhorn/Bettinger/Stehr 2007; Anhorn/Bettinger/Horlacher/ Rathgeb 2012 i.E.; Bakic/Diebäcker/Hammer 2008; Hünersdorf/Hartmann 2012 i.E.; Schimpf/Stehr 2011; Seithe 2010; Widersprüche 100/2006 sowie 112/ 2009.

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trag zu diesem Stichwort (vgl. Otto/Thiersch 2011) noch wird sie als eine eigenständige Theorieposition innerhalb der Sozialen Arbeit referiert (vgl. Füssenhäuser 2011). All dies deutet jedoch weniger auf ein Verschwinden der kritischen Sozialen Arbeit hin als darauf, dass die von ihren Vertretern in den späten 1960er und vor allem den 1970er Jahren entfalteten Perspektiven auf den Gegenstand Soziale Arbeit zum Allgemeingut sozialpädagogischen Wissens geworden sind, auch wenn dabei die Beziehung zu dem von ihr anfangs präferierten Vokabular kritisch-materialistischer Gesellschaftstheorie sehr viel unverbindlicher geworden ist (vgl. hierzu bereits Bommes/Scherr 2000: 48; Kunstreich 2001: 1094). Der Preis für diesen Erfolg war die Instrumentalisierung und Vereinnahmung ihrer Positionen für das von der Sozialen Arbeit zeitgleich verfolgte Professionalisierungsprojekt (Steinacker 2011; Winkler 2011). Während es dabei der Sozialen Arbeit insgesamt gelang, die zuvor noch randständigen Positionierungen einer kritischen Sozialen Arbeit auf breiter Linie in die eigene Selbstthematisierung zu inkorporieren, strebte sie fortan schon gleichsam habituell danach, sich als eine kritische Instanz der Gesellschaft zu entwerfen und sich im Horizont der Ambivalenzen der bürgerlichen Moderne zu reflektieren (vgl. etwa Otto/Schneider 1973). Einher ging dies nicht zuletzt mit einer Auswechslung des Theorievokabulars: An die Stelle historisch-materialistischer und neomarxistischer Interpretationsregimes trat dabei etwa der von Habermas geprägte Dualismus von System und Lebenswelt, der es als solcher wiederum zuließ, die Soziale Arbeit zwischen der Gesellschaft und der von ihr adressierten Klientel zu verorten (vgl. hierzu Cleppien 2002; Gängler/Rauschenbach 1984). Gleichzeitig wurden damit die von der kritischen Sozialen Arbeit in oppositioneller oder zumindest aufklärerischer Absicht begründeten Positionen salon- und traditionsfähig in den disziplinären Debatten, verloren aber auch ihren bisweilen defätistischen wie rebellischen Grundzug. Wenn etwa Michael Winkler Mitte der 1990er Jahre in einem einschlägigen Beitrag zur Theoriediskussion die Soziale Arbeit als jene »Instanz« kennzeichnet, in der »die moderne Gesellschaft […] die eigenen Reproduktionsprobleme so [bearbeitet], dass ihr Bestand nicht gefährdet ist« (Winkler 1995: 171; Einfügung d. Verf.), so ist dies nicht allein deswegen aufschlussreich, weil er damit eine charakteristische These der kritischen Sozialen Arbeit aufgreift, sondern gerade weil er dies tut, ohne sich dabei noch im Horizont der Ambition des Kritischen zu verorten. Eine solche ›Bezugnahme ohne Bezugnahme‹ steht insofern für sich, als an ihr in exemplarischer Weise die paradoxe Entwicklung von Verall-

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gemeinerung und Bedeutungsverlust erkennbar wird, die der kritischen Sozialen Arbeit zwischenzeitlich zuteil geworden ist. Der Bedeutungsverlust trifft dabei jedoch kaum die Ambition des Kritischen, als vielmehr das Attribut ›kritisch‹ selbst. Offenbar ist es im Zuge einer zwischenzeitlichen Ausdifferenzierung kritischer Perspektiven in subjekttheoretische, emanzipatorische, bildungstheoretische oder lebensweltorientierter Zugänge und einer daraus entstandenen und aktuell wieder anwachsenden Unübersichtlichkeit genauso verzichtbar geworden wie es seine Aussagekraft für die Kennzeichnung einer bestimmten Positionierung eingebüßt hat. Wenn Kritik aber zur Selbstverständlichkeit wird, dann ist schwer auszumachen, wodurch sich eine kritische Soziale Arbeit überhaupt noch von einer Kritik der Sozialen Arbeit abhebt. Und in der Tat besteht die Differenz zwischen einer Kritik der Sozialen Arbeit und der kritischen Sozialen Arbeit heute weniger hinsichtlich der jeweils getroffenen Aussagen. Sie besteht vor allem darin, dass es einer kritischen Sozialen Arbeit um mehr geht und stets um mehr gegangen ist als nur um Kritik und auch um mehr als nur um eine Kritik Sozialer Arbeit. Eines ihrer Kennzeichen in dieser Hinsicht ist sicher, dass sie sich nie nur als ein akademisches, sondern immer auch als ein gesellschaftspolitisches Unternehmen verstanden hat, das eine Koalition mit sozialen Bewegungen oder auch den Klienten und Professionellen anstrebte, um selbst ›praktisch‹ werden zu können (vgl. hierzu ausführlich Kessl 2012 i.E.; Steinacker 2011). Aber auch als akademisches Projekt geht sie über das Ziel einer ›nur‹ kritischen Beobachtung der Sozialen Arbeit hinaus. Stellvertretend lässt sich dabei nicht nur auf solche Arbeiten verweisen, die in den 1970er und teilweise auch noch in den 1980er Jahren die Funktion Sozialer Arbeit für die Erhaltung einer durch innere Widersprüche gekennzeichneten (spät-)kapitalistischen Gesellschaft analysiert haben (vgl. Barabas et al. 1975, 1977; Blanke 1978; Danckwerts 1981; Haferkamp/Meier 1972; Hollstein 1973; Japp 1989; Matthes 1973; Peters/Cremer-Schäfer 1975). Verweisen lässt sich vielmehr ebenso auf zeitgenössische Positionen, die eine solche Linie mit Blick auf die aktuellen wohlfahrtsstaatlichen Entwicklungsdynamiken weiterverfolgen (vgl. hierzu Böllert 2011). Trotz unübersehbarer argumentativer Differenzen ist diesen Positionierungen gemeinsam, dass sie im Lichte der Funktionsbestimmung Sozialer Arbeit keine geringere Frage als diejenige verfolgen, was die Soziale Arbeit im Kern ausmacht (Bommes/Scherr 2000: 39). Anders gesagt: Es geht ihnen um nichts weniger als eine Theorie der Sozialen Arbeit (vgl. in diesem Sinne zuletzt etwa May 2009). Erst vor diesem Hin-

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tergrund erschließt sich auch die Besonderheit ihres Kritikverständnisses und die spezifische Funktion, die ihm dabei zugeschrieben wird. Kritik ist nämlich weder das unmittelbare Ziel noch ein bloßer Selbstzweck. Vielmehr ist sie das Mittel, gleichsam die Methode, mit dem die gegenwärtigen Erscheinungsformen der Sozialen Arbeit im Horizont ihrer Funktion für einen jeweiligen gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang analysiert und nicht zuletzt auch erklärt und verändert werden sollen. Was die kritische Soziale Arbeit also von der punktuellen und habituellen Kritik der Sozialen Arbeit unterscheidet, ist der Anspruch, nicht lediglich zu kritisieren, sondern im Medium der Kritik das ambivalente Wesen der Praxis Sozialer Arbeit zu ergründen, und zwar so, wie es sich in seiner zeitgenössischen Gestalt zu erkennen gibt. Darin besteht genauso ihr provokativer Gehalt wie ihre historische Leistung, die dann letztlich auch darüber hinausgeht, lediglich eine eigene Theorietradition etabliert zu haben (vgl. hierzu Thole 2010: 36). Provozierend ist die von ihr angebotene Lesart insofern, als sie nicht davor zurückschreckt, die Soziale Arbeit – aller gegenteiligen programmatischen Beteuerungen zum Trotz – als repressives Moment der Selbsterhaltung einer kapitalistischen Gesellschaftsformation zu konzeptualisieren und ihr damit nicht zuletzt ihre ideologische Befangenheit und enge Bindung an die bürgerliche Erzählung der Moderne vorzuspiegeln. Die Soziale Arbeit wurde nicht als Lösung, sondern als konstitutiver Teil gesellschaftlicher Problemlagen erkannt. Als historisch wirkmächtig erweist sich die Lesart wiederum insofern, als es der kritischen Sozialen Arbeit dabei mit Nachdruck gelungen ist, der Selbstreflexion der Sozialen Arbeit eine gesellschaftstheoretische und -politische Perspektive aufzuzwingen, der diese sich seither im Grunde nicht mehr entziehen konnte. Damit waren auch empirische Fragen aufgeworfen, die noch heute – trotz einer deutlichen Intensivierung sozialpädagogischer Forschung seit dem Ende der 1990er Jahre – ihrer Auflösung harren. Dazu gehört beispielsweise diejenige, inwieweit die Soziale Arbeit an der Produktion jener Probleme beteiligt ist, für die sie sich selbst als Lösung ins Spiel bringt. Sie referiert unmittelbar auf eine These, die in den 1970er Jahren etwa unter dem Stichwort »Stigmatisierung« breit diskutiert worden ist (vgl. Bonstedt 1972; Brumlik 1973; Keckeisen 1974; Peters Cremer-Schäfer 1975) und auch außerhalb des engeren Diskussionszusammenhanges einer kritischen Sozialen Arbeit Anklang fand. So reklamiert etwa Hans Thiersch, der sich selbst zwar als Vertreter einer »kritischen Sozialpädagogik« (vgl. Thiersch 1980: 466), jedoch nicht

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als Repräsentant ihrer neomarxistischen Linie einordnete, in seinen Bemerkungen »Zum 3. Jugendbericht« aus dem Jahre 1972 (vgl. Thiersch 1972) eine »Umkehrung der auf Notstände und Klientel gerichteten« Perspektive in Richtung der »kritische(n) Frage nach der auf sie reagierenden Institutionen« (a.a.O.: 252). »Wie weit«, so Thiersch, »erzeugt also die Jugendhilfe, so wie andere Institutionen der Sozialhilfe, durch ihren eigenen Umgang mit dem Klientel jene Notlagen und Verhaltensschwierigkeiten, auf die sie reagiert?« (A.a.O.: 253) Die Relevanz solcher Fragen ist keineswegs in Vergessenheit geraten, sondern klingt bis heute nach. Sie flackert etwa auf in Varianten sozialpädagogischer Forschung, die sich mit den jugendhilfespezifischen Formen der Konstruktion von Adressaten beschäftigen (vgl. hierzu Messmer 2007; Thieme 2011), jedoch ohne sich dabei noch explizit in der Tradition einer kritischen Sozialen Arbeit zu verorten. Charakteristischer für sie ist vielmehr, dass sie sich gerade von deren Anspruch lösen, mit Antworten auf solche Fragen zugleich eine Theorie der Sozialen Arbeit und ihrer gesellschaftlichen Funktionalität anzustreben. Dies ist insofern aufschlussreich, als daran erkennbar wird, dass im Horizont der theoretischen Ambitionen der kritischen Sozialen Arbeit doch mehr auf dem Spiel steht als nur eine Aufklärung über die für die sozialpädagogische Praxis konstitutive Vollzugswirklichkeit. Vielmehr zielten und zielen ihre Analysen darauf ab, die Wirklichkeit Sozialer Arbeit als einen Tatbestand der Vergesellschaftung zu beschreiben (Bommes/Scherr 2000: 42). Theorie Sozialer Arbeit wird damit aber zu einer Variante von Gesellschaftsanalyse und die Soziale Arbeit zu einem jener Schauplätze an dem studiert werden kann, wie sich die kapitalistische Herrschaftsordnung durch eine bürokratisch organisierte und sozialpolitisch legitimierte Befriedung sozialer Konflikte reproduziert (vgl. etwa Hollstein 1973). Damit ist nicht nur gemeint, dass sich in der jeweils anzutreffenden Realität der Praxisfelder Sozialer Arbeit die gesellschaftlichen Verhältnisse spiegeln, sondern die Soziale Arbeit auch in die Erzeugung dieser Verhältnisse verstrickt ist.3 Anders gesagt: Die Kritik 3 | Diese Argumentationsfigur wiederholt sich – wenngleich mit anderen Theorievokabularen bestückt – in aktuellen Beiträgen zu einer kritischen Sozialen Arbeit. In den Mittelpunkt rückt dabei dann etwa die Analyse der Verstrickung Sozialer Arbeit in gegenwärtig um sich greifende Prozesse sozialer Ausschließung oder hegemoniale Logiken der Aktivierung (vgl. etwa die Beiträge in Anhorn/Bettinger 2005 sowie Seithe 2010: 246ff.).

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an der Gesellschaft und die Kritik an der Sozialen Arbeit werden gleichsam »synchronisiert« (Cleppien 2002: 473). So wie Gesellschaftsanalyse gleichbedeutend ist mit Gesellschaftskritik ist auch die Kritik an der Sozialen Arbeit gleichbedeutend mit ihrer Theorie. Über die Kritik der Gesellschaft sichert sich die Theorie dabei zugleich ihren kommunikativen Anschluss an die Praxis, welche sie selbst als eine gesellschaftliche wie vergesellschaftete Praxis denkt. Theorien der Sozialen Arbeit aber, die wie diejenige der kritischen Sozialen Arbeit ihrem Gegenstand als Tatbestand der Vergesellschaftung nachstellen, sind aus Plausibilitätsgründen auf ein anderes Gesellschaftsbild angewiesen, als etwa solche, denen es weniger auf die gesellschaftliche Determination als auf die professionelle Autonomie der Sozialen Arbeit ankommt. Entsprechend lässt sich das Gesellschaftsbild der kritischen Sozialen Arbeit auch nur im Horizont des für sie kennzeichnenden Erkenntnisinteresses rekonstruieren, mit dem sie sich als kritische Soziale Arbeit von der herkömmlichen Kritik in der Sozialen Arbeit absetzt.4 Die Anschlussfrage wäre also, welche Art von Gesellschaft benötigt diese Kritik, damit sie sich selbst als kritisch beobachten kann? Dies ist zugleich die Frage nach dem Gesellschaftsbild, auf dessen Grundlage sie sich begründet.

2. V ERGESELLSCHAF TUNG : D IE G ESELLSCHAF T IN DER S OZIALEN A RBEIT Über das Gesellschaftsbild der kritischen Sozialen Arbeit ist noch kaum etwas ausgesagt, wenn man ›ihre‹ Gesellschaft – im Anschluss an das traditionelle Vokabular der kritischen Sozialen Arbeit – als eine von der kapitalistischen Ökonomie durchtränkte Herrschaftsordnung charakterisiert, die durch falsche Gleichheits- und Integrationsversprechen und den ehernen Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital geprägt ist (vgl. etwa Hollstein 1973: 171). Obwohl sich die kritische Soziale Arbeit ohne die Referenz 4 | Daher gelten die folgenden Ausführungen zum Gesellschaftsbild der kritischen Sozialen Arbeit auch nur für solche Ansätze, die eine theoretische Bestimmung Sozialer Arbeit auf der Grundlage von Gesellschaftskritik anstreben. Dies schließt die nähere Betrachtung einer Reihe von Positionen aus, die sich selbst gleichwohl als kritisch verstehen würden. Insbesondere trifft dies z.B. auf die zeitgenössische Kritik an einer Ökonomisierung der Sozialen Arbeit zu.

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auf den Kapitalismus als epochalen Typus von Vergesellschaftung kaum verstehen lässt, erfährt man allein durch diese Bezugnahme noch wenig über den damit verbundenen Begriff von Gesellschaft. Denn allein diese Zuschreibung macht noch nicht klar, inwiefern die Annahme von einer kapitalistisch geprägten Vergesellschaftung der Sozialen Arbeit – und der Lebenspraxis von Individuen überhaupt – plausibel ist. Die Frage lautet daher vielmehr: Unter welchen gesellschaftstheoretischen – und nicht lediglich zeitdiagnostischen – Voraussetzungen ist es überhaupt möglich, so etwas wie Gesellschaft in der Sozialen Arbeit zu beobachten? Dabei erscheint es schon fast wie eine Ironie, dass sich erste Anhaltspunkte für den spezifischen Gesellschaftsbegriff der kritischen Sozialen Arbeit weniger ihren eigenen Aussagen als ausgerechnet ihrer Kritik entnehmen lassen. Jedoch ist dies lediglich ein Hinweis darauf, dass in ihr der Gesellschaftsbegriff selbst von jeder Infragestellung ausgenommen ist, was wiederum freilich nicht nur für sie, sondern – trotz seiner je unterschiedlichen Konzeptualisierung – auch für die Gesellschaftstheorie insgesamt gilt (Nassehi 2006: 370f.). Eines der schlagkräftigsten Argumente, mit dem die kritische Soziale Arbeit ab den 1980er Jahren in ihren zeitweiligen Ruhestand versetzt wurde, kristallisiert sich vor diesem Hintergrund in dem Vorwurf, sie argumentiere funktionalistisch und könne daher notwendig »ihren Gegenstand, das sozialpädagogische Feld, in seiner Konkretion gar nicht« erfassen (Brumlik 1976: 241f.; vgl. ähnlich auch Mollenhauer 1982; Winkler 1988: 17). Der Vorwurf des Funktionalismus richtet sich dabei nicht unmittelbar auf den Umstand, dass die Soziale Arbeit als eine Reproduktionsinstanz der kapitalistischen Gesellschaft charakterisiert wird, sondern darauf, dass man ihre jeweilige Gestalt einzig und allein damit erklärt. In diesem Sinne sprechen Michael Bommes und Albert Scherr präziser von einem »funktionalistischen Fehlschluss« (2000: 47). Erkennbar wird dieser Fehlschluss daran, dass die Funktion der Sozialen Arbeit – Reproduktion und Stabilisierung der kapitalistischen Gesellschaft – sowohl die Ursache der Existenz Sozialer Arbeit wie auch ihre Wirkung kennzeichnen soll. Unabhängig davon, ob man diese Diagnose nun zum Anlass nimmt, sich von den Positionen einer kritischen Sozialen Arbeit abzuwenden oder nicht, ist sie insofern interessant, als sie die Frage aufwirft, wie eine Gesellschaft beschaffen sein muss, welche nicht nur die Soziale Arbeit, sondern prinzipiell alle Formen menschlicher Praxis unweigerlich zu Vergesellschaftungstatbeständen werden lässt. Anders gesagt: Um eine solche Annahme für plausibel zu halten, bedarf es

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eines spezifischen Verständnisses von Gesellschaftlichkeit, das zumindest auf den folgenden Voraussetzungen beruht: 1. Zunächst einmal verlangt eine solche gedankliche Operation eine Gesellschaft, die nur einmal und in diesem Sinne zugleich als eine Einheit existiert. Bemüht wird damit eine Normalvorstellung von Gesellschaft, wie sie nicht nur die klassische Gesellschaftstheorie, sondern auch der Alltagsverstand kennt (vgl. Ritsert 2000). Gesellschaft erscheint darin als etwas, was in seiner Einheit zugleich als eine Ganzheit repräsentiert ist, die gleichsam eine »adressierbare Kollektivität« darstellt und als solche durch ihre Beschreibung relativ unproblematisch angesprochen wie rhetorisch erzeugt werden kann (vgl. Nassehi 2006: 310ff.). Die Vorstellung von Gesellschaft als Einheit und Ganzheit ist für eine kritische Soziale Arbeit unverzichtbar, denn nur so lässt sich auch die Soziale Arbeit in der Gesellschaft verorten und letztlich Theorie der Sozialen Arbeit mit den Mitteln der Gesellschaftskritik betreiben (vgl. Cleppien 2002). 2. Historisch verweist die Vorstellung von einer Gesellschaft als Einheit und Ganzheit zurück auf die Anfänge der sozialwissenschaftlichen Gesellschaftstheorie im 19. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stand dabei ein Bezugsproblem, das aus der Akkumulation einer doppelten Erfahrung resultierte: »Die Erfahrung des Sozialen auf den Begriff der ›Gesellschaft‹ zu bringen, drückte eine Vorstellung von Einheit, von Zusammengehörigkeit aus, welche die Zeitgenossen wahrnahmen oder jedenfalls für die Zukunft anzustreben versuchten. Aber daneben stand die Erfahrung, dass die Gesellschaft aus verschiedenen, ungleichen Teilen bestand, aus größeren Verbänden, die hierarchisch angeordnet waren.« (Nolte 2000: 37) Insofern speist sich die Vorstellung von einer Einheit der Gesellschaft nicht aus einer eindeutigen, sondern aus einer ambivalenten Erfahrung. Sie referiert nicht einfach auf etwas Ununterschiedenes, sondern gerade auf die Erfahrung der Gleichzeitigkeit von Zusammengehörigkeit und Unterschiedenheit, die als solche auch schon als Motiv für die ersten großformatigen differenztheoretischen Modellierungen bei Hegel, Spencer, Marx oder Durkheim prägend war. Zugrunde liegt der Vorstellung von Einheit also nicht die Erfahrung einer für sich bestehenden Entität. Vielmehr reagiert die Vorstellung von Gesellschaft als Einheit gerade umgekehrt auf das Problem der Integration und Koordination verschiedenartiger Teile eines Ganzen. In-

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sofern ist sie eine Metapher für die Allgemeinheit im Besonderen, für die Zusammengehörigkeit des Vielfältigen, die sich begrifflich als eine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung etabliert. Auch die kritische Soziale Arbeit knüpft ihrerseits an diese metaphorische Bedeutung des Gesellschaftsbegriffs an. In diesem Sinne rechnet sie in mehrfacher Hinsicht mit verschiedenen Teilen, die sich zum Ganzen der kapitalistischen Gesellschaft hin ordnen. Dies gilt einerseits sowohl im Hinblick auf die Annahme einer Klassengesellschaft als auch im Hinblick auf die Annahme eines Gegensatzes von Lohnarbeit und Kapital. Andererseits gilt dies auch mit Blick darauf, dass die Soziale Arbeit als ein Teilbereich des Ganzen konzeptualisiert wird, der zu dessen Bestand beiträgt. Erst vor dem Hintergrund einer solchen Konzeptualisierung gewinnt die Einsicht in die Vergesellschaftung Sozialer Arbeit überhaupt ihren Erkenntniswert. Und erst mit dieser Unterscheidung wird eine Kritik der Gesellschaft von einer Position aus denkbar, die sich ihrerseits innerhalb der Gesellschaft befindet (Cleppien 2002: 476f.). Insofern ist die Annahme einer prinzipiellen Unterscheidbarkeit von Teil und Ganzem für die Selbstplausibilisierung einer »kritischen Theorie Sozialer Arbeit« unverzichtbar. 3. Die Vorstellung von Gesellschaft als Einheit und Ganzheit erfährt mit der Einsicht in die Vergesellschaftung der Sozialen Arbeit jedoch noch einmal eine deutliche Zuspitzung. Die Gesellschaft erscheint dann nämlich als zugleich allumfassend wie allgegenwärtig. Anders gesagt: Die Gesellschaft steht für eine Totalität und in diesem Sinne einen Zusammenhang, in dem alles bzw. »alle von allen abhängig« sind (Adorno 1972: 10) und der nicht nur mehr ist als die Summe einzelner Fakten und individueller Existenzweisen, sondern auch den eigentlichen Grund darstellt, auf den alle Einzelerscheinungen ontologisch zurückzuführen sind. Die Gesellschaft bezeichnet also ein Gebilde von enormer Reichweite und Durchschlagskraft, wenn nicht sogar jenen Letzthorizont, der allem Wirklichen voraus und zugrunde liegt. In diesem Sinne könnte man auch von einer »Gesellschaftsmetaphysik« (Geiger 1955: 432) sprechen.5 Als Totalität bedingt die Gesellschaft dabei nicht lediglich ihre Erscheinungen, sondern auch deren Wahrnehmung, die sich letztlich 5 | Jürgen Habermas wendet sich später mit Blick auf Adorno genau in dieser Hinsicht gegen die Totalitätsauffassung, indem er sie unter das Verdikt eines metaphysischen Erbes der Philosophie stellt (vgl. Habermas 1981: 15).

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in einer Verkennung ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit äußert. Unter Rückgriff auf diese Argumentationsfigur erklärt sich bezeichnenderweise auch die kritische Soziale Arbeit in den 1970er Jahren, warum ihre Einsichten in der Praxis kaum Gehör finden. Zurückgeführt wird dieser Umstand auf die Tatsache, dass diese Praxis aufgrund ihrer Verwicklung in die Totalität des Gesellschaftlichen selbst der sich damit konstituierenden ideologischen Verblendung nicht entkommen kann (vgl. Peters 1973). In ähnlicher Weise wertete seinerzeit bekanntlich auch die kritische Theorie bereits die Kritik ihrer Gegner als Bestätigung für ihre eigenen Thesen. Vor diesem Hintergrund wird klar, was in der kritischen Sozialen Arbeit genau gemeint ist, wenn sie die Soziale Arbeit als einen Vergesellschaftungstatbestand beschreibt. Ihre Vergesellschaftung markiert in diesem Sinne keinen epochalen bzw. vorübergehenden Zustand, sondern die Art und Weise, wie eine Gesellschaft sich als Gesellschaft selbst in ihrer Existenz perpetuiert. Angesichts dessen erscheint auch der Funktionalismus der kritischen Sozialen Arbeit noch einmal in einem anderen Licht. Es ist nicht einfach so, dass damit eine reduktionistische Beschreibung der je gegenwärtigen Verfassung Sozialer Arbeit geliefert wird. Vielmehr ist gar keine andere Beschreibung möglich, wenn im Horizont eines solchen Gesellschaftsbegriffs die Gesellschaftlichkeit der Sozialen Arbeit zum Thema gemacht werden soll. Verständlich wird dann auch, warum es in Kreisen der kritischen Sozialen Arbeit bisweilen keineswegs als undenkbar, sondern einfach nur als konsequent erscheinen musste, wenn mit Blick auf die Veränderung der Gesellschaft – statt einer Reform – die Abschaffung der Sozialen Arbeit in das Blickfeld möglicher Optionen geriet (vgl. etwa Ahlheim u.a. 1971). Die kritische Soziale Arbeit artikuliert entsprechend nicht lediglich Kritik, sondern versteht die kritische Durchdringung gesellschaftlicher Totalität zugleich als unerlässliches Kriterium für die Gültigkeit ihrer Aussagen. Anders gesagt: Wahrheit ist nur als Kritik möglich. In diesem Sinne ist Kritik dann jene Methode, deren Anwendung es der kritischen Sozialen Arbeit erst erlaubt, sich selbst als aufklärerisch, wissenschaftlich oder auch theoretisch zu begreifen. Was aber, so kann man mit Blick auf diese Dimensionierung des Gesellschaftsbildes fragen, veranlasst die kritische Soziale Arbeit unter dem Gesichtspunkt der totalen Vergesellschaftung überhaupt noch, Kritik sowohl für notwendig als auch für möglich zu halten? Wie bereits ersichtlich ge-

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worden ist, lautet eine erste Antwort auf diese Frage, dass Kritik an der Gesellschaft schon deswegen notwendig ist, weil es jenseits davon keine Erkenntnis von Gesellschaft und damit auch keine Erkenntnis der Sozialen Arbeit geben kann. Damit wird die Erkenntnisabsicht aber bereits unmittelbar an eine Veränderungsabsicht gebunden, weil Kritik immer schon ein Andersseinkönnen des Kritisierten impliziert (vgl. ähnlich Gängler/ Rauschenbach 1984). In der gesellschaftskritischen Erkenntnis reflektiert sich somit die grundlegende Auffassung von der Veränderbarkeit von Gesellschaft. Die zweite Antwort auf die Frage nach der Notwendigkeit von Kritik begründet sich vor dem Hintergrund der Annahme, dass es sich bei der Gesellschaft nicht um eine unverrückbare, sondern eine historische Tatsache handelt, die genauso dem Wandel ausgesetzt ist wie die Geschichte selbst. Die Veränderbarkeit der Gesellschaft ist entsprechend für das Gesellschaftsbild der kritischen Sozialen Arbeit ebenso essentiell wie die Vorstellung von ihr als einer in sich differenzierten Einheit, Ganzheit und Totalität. Die Wandlungsfähigkeit der Gesellschaft wird dabei im Horizont eines konflikttheoretischen Paradigmas zurückgeführt auf den Antagonismus von Arbeit und Kapital, dem eine soziale Sprengkraft inne wohnt, die durch Kritik freigesetzt werden kann und muss. Insofern die ›bürgerliche‹ Soziale Arbeit diesen Konflikt nur befriedet und damit der gesellschaftlichen Dynamik ihre Kraft nimmt, sieht sich die kritische Soziale Arbeit dazu aufgerufen, mit diesem Scheinkonsens zu brechen und den Konflikt als Widerstand gegen die gesellschaftlichen Umstände wieder praktisch zur Geltung kommen zu lassen (vgl. etwa Kunstreich 1975). In diesem Sinne verbindet sich mit dem Ausdruck ›Gesellschaft‹ in der Gesellschaftskritik wie auch in der kritischen Sozialen Arbeit zugleich ein Wirklichkeits- wie auch ein Möglichkeitsbegriff. Als Wirklichkeitsbegriff bezeichnet er einen Zustand, der als prekär und entsprechend zugleich als wandelbar gedeutet werden kann. Als Möglichkeitsbegriff verweist er auf ein politisches Projekt, durch das – aseptisch ausgedrückt – das Ganze zum Nutzen der Allgemeinheit integriert werden soll (vgl. Nassehi 2006: 328). Das zentrale erkenntnistheoretische wie veränderungsstrategische Ausgangs-, Bezugs- und Folgeproblem, auf das die Politisierung des Gesellschaftsbegriffs verweist, ist dasjenige der Herstellung der Einheit eines in sich immer schon differenzierten Ganzen. Man könnte auch sagen: Das Problem ist nichts anderes als die Erhaltung der Gesellschaft selbst, unabhängig davon, ob man die Lösung des Problems nun als Integration, Inklusion, Revolution, Gleichheit, Gerechtigkeit oder wie auch immer be-

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zeichnet. Das heißt aber auch, dass die Möglichkeit – im Unterschied und im Vergleich zur Wirklichkeit – immer als die bessere Zukunft erscheint. In der Gestalt eines prinzipiell prekären Status, der zugleich Veränderbarkeit anzeigt, wird die Veränderung der Gesellschaft dabei zu einer Art »normativem Apriori« der kritischen Perspektive, das bis heute erhalten geblieben ist (Kade 1999: 533). Anders gesagt: Das Gesellschaftsbild der Gesellschaftskritik ist so gebaut, dass sich aus einer kritischen Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zugleich politische Optionen und Veränderungsaufgaben ergeben können, die als solche wiederum in der kontingenten Eigendynamik antizipierter gesellschaftlicher Entwicklung bereits als eine Notwendigkeit politischer Intervention angelegt sind. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum der Berufspraxis Sozialer Arbeit mit ihrer gesellschaftskritischen Funktion zugleich ein politisches Mandat zugeschrieben wird (vgl. Scherr 2001: 103). Sie wird dann »sozialer Träger der Kritik, welche mit Hilfe von Kritik und Wandel Aufklärung hervorbringt« (Cleppien 2002: 475). Damit ist die Frage allerdings noch nicht beantwortet, wie im Rahmen dieses Gesellschaftsbildes Kritik überhaupt möglich ist. Dazu ist ein Gesellschaftsbegriff nötig, an dem diese Kritik – der angenommenen Totalität des Gesellschaftlichen zum Trotz – einen Halt finden und das zu Kritisierende im Hinblick auf seine besseren Möglichkeiten beurteilt werden kann. Halt fand in dieser Hinsicht die kritische Gesellschaftstheorie beispielsweise, indem sie sich als »immanente Kritik« entworfen hat (vgl. Adorno 1971), welche die bürgerliche Gesellschaft mit ihren uneingelösten Freiheits- und Gleichheitsversprechen konfrontiert, aus denen die Kritik dann zugleich ihre normativen Beschreibungs- wie Veränderungsmaßstäbe bezieht.6 Allerdings geht es im Horizont der Frage nach dem Gesellschaftsbild nicht um die Geltungsgründe einer bestimmten normativen Perspektive, sondern darum, von welcher gesellschaftlichen Position aus man der Totalität der Gesellschaft durch Kritik entkommen und diese letztlich durchbrechen kann. Angenommen werden muss dazu wiederum eine Möglichkeit der Positionierung innerhalb der Gesellschaft, die es erlaubt, diese Gesellschaft als Ganzes so zu beschreiben, als käme diese Beschreibung von einem Standpunkt, der außerhalb des Ganzen liegt. Eine Beschreibung aber, »als ob es von außen wäre« (Luhmann 1996: 852) steht 6 | Zur Unmöglichkeit einer nicht-normativen immanenten Kritik vgl.: Ritsert 2009.

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offensichtlich im Widerspruch zu der Annahme, dass eine Veränderung der Gesellschaft nur in der Gesellschaft und durch die Nutzung ihres eigenen konfliktuellen Dynamisierungspotentials möglich ist. Dieser Widerspruch allein ist allerdings nicht die entscheidende Erkenntnis zum Gesellschaftsbild kritischer Sozialer Arbeit. Entscheidend ist vielmehr, dass man aus dieser vermeintlichen Widersprüchlichkeit selbst noch zusätzlich etwas über ihr Gesellschaftsbild erfährt. Offenbar ist es nämlich so, dass jene Gesellschaft, welche die kritische Soziale Arbeit vor Augen hat, eine Art »immanenter Transzendenz« erlaubt, in der es der Kritik möglich ist, als Entlarvungsstrategie eines falschen Bewusstseins aufzutreten. Die Gesellschaft wird dabei zu einer paradoxen Form dekomponiert, die in ihrer je gegenwärtigen Verfassung immer schon ihre eigene Negation enthält. So ist dann auch zu erklären, warum die kritische Soziale Arbeit an der Sozialen Arbeit spiegelbildlich die gesellschaftlichen Verhältnisse entdecken und sich zugleich als Moment ihrer Beseitigung reflektieren kann (Cleppien 2002: 477). Um den darin verborgenen Widerspruch aufzulösen, müsste sich die kritische Soziale Arbeit selbst nicht nur in ein oppositionelles, sondern in ein differentes Verhältnis zu ihrer Gesellschaft bringen. Solange die Differenziertheit der Gesellschaft aber das zentrale Bezugsproblem ist, dass sie im Namen der Einheit der Gesellschaft zu lösen sucht, wird ihr das nicht gelingen können.

3. K RITISCHE S OZIALE A RBEIT ALS S ELBSTKRITIK – S CHLUSSBEMERKUNGEN Dass Soziale Arbeit (gesellschafts-)kritisch sein muss, gilt heute als nahezu unumstritten. Die Verallgemeinerung von Gesellschaftskritik kann dabei durchaus als ein Anzeichen dafür gesehen werden, dass es dieser Gesellschaft und ihrer Sozialen Arbeit gelungen ist, noch »die stärksten Einwände gegen ihre Reproduktion in den Dienst ihrer Reproduktion zu stellen« (Baecker 1999: 40). Erkennbar wird daran zunächst einmal, dass die Soziale Arbeit und ihre Gesellschaft nicht in einem oppositionellen, sondern in einem geradezu »symbiotischen Verhältnis« zueinander stehen (Sandermann/Dollinger/Heyer/Messmer/Neumann 2011: 48). Dieser Umstand macht aber ebenso darauf aufmerksam, dass die Kritik mit ihrem oppositionellen Stachel auch ihre Fragwürdigkeit verloren hat. Vor diesem Hintergrund hat jüngst Michael Winkler – im Anschluss an die Frankfurter

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Adorno-Vorlesungen Luc Boltanskis (2010) – nahe gelegt, das Projekt der Kritik in der Sozialen Arbeit als eine – so könnte man sagen – eher kantianisch angelegte Kritik der Kritik weiter zu verfolgen (vgl. Winkler 2011: 33), welche die (sozialen) Bedingungen der Möglichkeit von Kritik und deren Objektivierungsdynamik selbst zum Gegenstand macht.7 Mit Blick auf jenes Gesellschaftsbild, wie es hier für die kritische Soziale Arbeit rekonstruiert worden ist, stellt sich dann aber die Frage, inwiefern sich von ihm ausgehend überhaupt ein Standpunkt etablieren lässt, der auch die kritische Soziale Arbeit selbst einbeziehen kann. Anders gesagt: Eine Modernisierung der kritischen Sozialen Arbeit in der Gestalt einer Kritik der Kritik, ist nur dann möglich, wenn sie in der Lage ist, sich im Horizont ihrer eigenen sozialen Ermöglichungsbedingungen zu reflektieren. Der Gesellschaftsbegriff, den die kritische Soziale Arbeit derzeit dazu anzubieten hat, besitzt zwar, wie gesehen, eine enorme Reichweite. Zugleich aber hält er für die Kritik selbst immer ein transzendentales Schlupfloch bereit, was wiederum einen reflexiven Umgang mit der eigenen kritischen Perspektive ausschließt. Ausgeschlossen ist eine »gesellschaftstheoretisch fundierte (Selbst-)Beobachtung« der kritischen Sozialen Arbeit dabei schon deswegen, weil sie sich einer gesellschaftlichen Determination immer schon entzieht, sobald sie die gesellschaftlichen Zusammenhänge zum Zwecke ihrer Veränderung durchschaubar macht (Scherr 2006: 171). Ist aber die Gesellschaftskritik einer kritischen Sozialen Arbeit als solche nur denkbar, wenn sie ihre eigene Gesellschaftlichkeit transzendiert, dann ist sie mit einem gesellschaftstheoretischen Blick selbst nicht mehr einholbar. Andererseits ist dann aber eine Kritik der Kritik nicht nur unmöglich, sie ist auch gar nicht notwendig, weil man sich von ihr nichts versprechen kann, was über die Kritik selbst hinausweist. Zu tun hat dies nicht zuletzt damit, dass die klassische kritische Soziale Arbeit auf der Einheit der Gesellschaft – sowohl in ihrer Wirklichkeits- wie in ihrer Möglichkeitsform – insistiert.8 7 | Eine solche sich weniger sozialkritisch als kantianisch verstehende Form der Kritik lässt sich problemlos verknüpfen mit dem Programm einer »Kritik der sozialpädagogischen Vernunft«: »Die ›Kritik‹ der ›Kritik der sozialpädagogischen Vernunft‹ beschreibt […] einen modus operandi, den eine jeweilige Praxis sich zu eigen macht, wenn sie nach den nicht länger fraglosen Möglichkeitsbedingungen ihrer selbst zu fragen beginnt.« (Neumann 2008: 9) 8 | Inwieweit dies auch für aktuelle poststrukturalistische Ansätze innerhalb der kritischen Sozialen Arbeit gilt, wäre noch zu prüfen. Dass jedoch auch hier die

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Wo nur eine Gesellschaft ist, kann es aber auch notwendig nur eine Form der Gesellschaftskritik geben. Diese kann zwar sehr wohl Selbstkritik der Sozialen Arbeit sein, aber gerade keine Selbstkritik der kritischen Sozialen Arbeit. Selbstkritik ist also – genauso wie Kritik – auf die Annahme eines Andersseinkönnens (der Kritik) angewiesen. Um sich eine solche Annahme zu ermöglichen und dafür Anhaltspunkte zu gewinnen, müsste für die gesellschaftskritische Perspektive einer kritischen Sozialen Arbeit die Einheitsvorstellung von Gesellschaft aufgegeben werden. Stattdessen hätte sie sich mit einem ergänzenden und sie dabei selbst hinterfragenden differenzierungstheoretischen Vokabular auszustatten. Dies hätte ganz allgemein zunächst einmal den Vorzug, dass sich die Soziale Arbeit als eine vergesellschaftende und vergesellschaftete Praxis reflektieren könnte, die – in ihrer aktuellen Gestalt – durch die jeweiligen Verhältnisse nicht einfach korrumpiert wird oder ihnen schlichtweg ausgeliefert ist, sondern diese auch auf ihre je eigene Weise aktiv mit hervorbringt, so etwa, indem sie sich mit der Erfindung immer neuer Lösungen selbst an der Objektivierung sozialer Problemlagen beteiligt. (vgl. hierzu Sandermann/Dollinger/ Heyer/Messmer/Neumann 2011). Erkennbar werden könnte dann nicht zuletzt, inwiefern die Soziale Arbeit – auch und gerade durch ihre Kritik – diese Gesellschaft unweigerlich selbst ein Stück weit miterzeugt. Die Folge wäre wiederum, sehen zu können, dass auch die Kritik der Sozialen Arbeit selbst nur eine spezifische Form der Kritik der Gesellschaft darstellt, die als solche einer spezifischen Kontingenz, Historizität, Perspektivität oder: Gesellschaftlichkeit unterliegt. Der Preis dafür wäre zwar die Aufgabe des Glaubens an die Unfehlbarkeit und Unbestechlichkeit von Kritik, der Gewinn dagegen die Möglichkeit von Selbstkritik.

Figur »immanenter Transzendenz« auftaucht, wenn es darum geht, analytische Einsichten mit gesellschaftspolitischer Relevanz aufzuladen, wurde bereits an anderer Stelle gezeigt (vgl. Neumann/Sandermann 2009: 154ff.).

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Gesellschaft mittlerer Reichweite Alltag, Lebensweltorientierung und Soziale Arbeit Sascha Neumann/Philipp Sandermann »Die materialistische Theorie muß ihre Analyse mit einer Frage beginnen: Warum haben die Menschen sich ihre Zeit gerade in diesen Kategorien vergegenwärtigt, und was ist das für eine Zeit, die den Menschen in solchen Kategorien widerspiegelt?« (Karel Kosík: Die Dialektik des Konkreten)

1. G ESELLSCHAF T ALS THEMA EINER THEORIE ALLTAGS -/ LEBENSWELTORIENTIERTER S OZIALER A RBEIT Das Konzept der ›Alltags-‹ bzw. ›Lebensweltorientierung‹ stellt nicht nur den prominentesten und einflussreichsten Ansatz dar, dem in der deutschsprachigen Fachdiskussion zur Sozialen Arbeit bisher das Prädikat ›Theorie‹ zugesprochen wurde. Es hat diese Diskussion in den letzten dreißig Jahren auch weitgehend dominiert. Hans Thiersch, dem Erfinder und maßgeblichen Wegbereiter des Konzepts, trug diese Leistung noch zu Lebzeiten den Rang eines »Klassikers« (Niemeyer 2010) der Disziplin ein. Was ihn mit einem anderen Klassiker des 20. Jahrhunderts wie Klaus Mollenhauer eint, ist seine besondere Stellung in der sozialpädagogischen Theoriegeschichte. Thiersch wird zum einen zu den »Enkeln« der geisteswissenschaftlichen Pädagogik gezählt (ebd.), zum anderen aber auch zu den führenden VertreterInnen einer sozialwissenschaftlichen Modernisierung der Pädagogik (vgl. dazu etwa Füssenhäuser 2005). Nicht zuletzt

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hat auch Hans Thiersch selbst für den alltags-/lebensweltorientierten Ansatz immer wieder den Anspruch eines sozialwissenschaftlich gewendeten oder jedenfalls doch: sozialwissenschaftlich anschlussfähigen Theorieprojekts erhoben (vgl. Thiersch 1995: 221; Thiersch 2003a: 43). Allein dieser Umstand scheint es bereits zu rechtfertigen, der Alltags-/Lebensweltorientierung in einer Auseinandersetzung mit ›Gesellschaftsbildern Sozialer Arbeit‹ einen eigenen Platz einzuräumen. Parallel zu seiner sozialwissenschaftlichen Selbstverortung und seiner erkennbaren Verknüpfung mit im engeren Sinne gesellschaftstheoretischen Entwürfen wirkt der alltags- und lebensweltorientierte Ansatz jedoch gleichzeitig bis heute als einer der wohl ›sozialpädagogischsten‹ aller Theorieentwürfe zur Sozialen Arbeit. Diese Beobachtung lässt sich disziplinhistorisch klar begründen: Der Ansatz der Alltags-/Lebensweltorientierung hat sich selbst von Beginn an in engem Zusammenhang mit der Idee einer ›disziplinären und professionellen Identität der Sozialen Arbeit‹ verortet (vgl. dazu bereits Thiersch 1978a; zuletzt etwa Thiersch 2011), und zwar unter besonderer Bezugnahme auf die Tradition einer der Erziehungswissenschaft im engeren Sinne verbundenen (Teil-)Disziplin (vgl. Thiersch 2002: 105). Begonnen als kritisch-oppositionelles Projekt gegen eine etablierte Praxis der Sozialen Arbeit trat der Ansatz so von Anfang an auch als eine Art mustergültige Antwort auf die grundlegende Frage nach der Identität der Sozialen Arbeit als Sozialpädagogik in Erscheinung. In dieser Hinsicht entfaltete der Ansatz auch weiterhin seine Wirkung, nachdem die alltagsund lebensweltorientierte Diktion in den 1990er Jahren breit in den Praxisdiskurs der Sozialen Arbeit übernommen wurde, und der Ansatz damit zumindest nicht mehr »nur« als kritisch-oppositionelles Projekt fungierte. Alltags-/Lebensweltorientierung verwandelte sich in diesem Zuge schrittweise von einer ›kritischen Gegenidentität‹ zu einer Art ›Leitidentität‹ etablierter sozialpädagogischer Theorie und Praxis. Die Aufnahme alltags-/ lebensweltorientierter Ideen in einschlägige Gesetzestexte, allen voran in das SGB VIII zur Kinder- und Jugendhilfe, sowie die ausgedehnte Rezeption des alltags-/lebensweltorientierten Ansatzes in zahlreichen Programmatiken, Einrichtungskonzepten und Richtlinien im gesamten Bundesgebiet sind ein eindrucksvoller Beleg hierfür. Man kann daher sagen, dass die Identifizierung des sozialpädagogischen Fachdiskurses mit dem Leitbild ›Alltags-/Lebensweltorientierung‹ ein historisch überaus gelungenes Projekt darstellt, das seinesgleichen sucht.

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Damit das Projekt einer ›alltags-/lebensweltorientierten Leitidentität Sozialer Arbeit‹ sowohl disziplin- als auch professionspolitisch wirkungsvoll durchgesetzt werden konnte, bedurfte es bestimmter Eigenschaften des mit ihm verbundenen theoretischen Entwurfs. Seine Dominanz und Durchsetzungsstärke – so unser Argument – ist also insbesondere durch eine genaue Bestimmung seiner theoriearchitektonischen Aufstellung und Ausflaggung verstehbar. Die Grundzüge dieser Aufstellung lassen sich wie folgt umreißen: Alltags-/lebensweltorientierte Theorie hatte sich – um als (sozial-)pädagogisches Identitätsprojekt mittelfristig erfolgreich sein zu können – sowohl als eine Theorie der Praxis Sozialer Arbeit, als auch als eine Theorie für die Praxis der Sozialen Arbeit auszuweisen.1 Der Ansatz verfolgte in diesem Sinne schon recht bald dem in späteren Schriften zunehmend explizit formulierten Doppelanspruch, »sowohl ein Rahmenkonzept sozialpädagogischer Theorieentwicklung als auch eine grundlegende Orientierung sozialpädagogischer Praxis« (Thiersch 2002: 128) zu sein. Die Wurzeln dieser Grundausrichtung von Thierschs theoretischem Unternehmen reichen jedoch wesentlich weiter zurück. Bereits vor der Proklamation der sogennanten »Alltagswende« (Thiersch 1978b; vgl. auch Dewe/Otto/Sünker 1981) traten die Arbeiten Thierschs als ein Werk in Erscheinung, das wissenschaftliches Engagement mit einem ausgesprochenen Interesse an einer »Veränderung herrschender Machtverhältnisse« (Thiersch 1973: 68) assoziiert wissen wollte und eine »radikale[…] Selbstprüfung« (Thiersch 1972: 253) der sozialpädagogischen Praxis mit empirisch-theoretischen Mitteln einforderte. Dieser Doppelanspruch, als gleichermaßen analytische wie normative Theorie aufzutreten, ist sowohl mit Blick auf die Theoriegeschichte der Sozialen Arbeit im engeren Sinne, als auch mit Blick auf die Systematik wissenschaftlicher Diskussionen generell keineswegs als alternativlos oder generell üblich zu bezeichnen (vgl. hierzu etwa Winkler 1995; Neumann/ Sandermann 2008). Gleichzeitig lässt sich innerhalb des gegenwärtigen Diskurses durchaus eine Art von Selbstverständlichkeit beobachten, theo1 | Wir behaupten mit dieser Aussage nicht, dass die BegründerInnen und FortentwicklerInnen der Alltags-/Lebensweltorientierung – allen voran Hans Thiersch – diese Aufstellung ihres Ansatzes etwa zu jeder Zeit bewusst resp. geplant vorgenommen hätten. Es geht uns an dieser Stelle lediglich um eine ex-post-Erklärung der Tragweite und Durchsetzungsstärke des alltags-/lebensweltorientierten Ansatzes im sozialpädagogischen Fachdiskurs.

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retisch in dieser Weise zu argumentieren. Positionen, die sowohl einen normativen als auch einen im engeren Sinne analytischen Theorieanspruch haben, stehen damit durchaus sinnbildlich für die Erwartungen, die sich heute mit der Rolle von Sozialer Arbeit als Wissenschaft verbinden. Dies mag auch mit der Tatsache zusammenhängen, dass sich die Soziale Arbeit spätestens mit ihrer Institutionalisierung im akademischen Feld in den 1920er und 1930er Jahren stets vor zwei verschiedenen Publika zu bewähren hatte: einerseits vor einem primär wissenschaftlichen Publikum, andererseits vor einem Publikum, das sich aus den berufsförmig organisierten Feldern der sozialpädagogischen Praxis rekrutiert (vgl. ebd.). Im Theoriediskurs der Sozialen Arbeit kulminieren die unterschiedlichen Erwartungen der beiden Publika zu einem doppelten Anspruch an seine Leistungen. Wissenschaft zur Sozialen Arbeit muss – will sie diesem Doppelanspruch unmittelbar entsprechen, d.h. nicht lediglich im Zuge ihrer Interpretation durch wissenschaftliche und professionelle Praxis, sondern bereits im Zuge ihrer eigenen Aussagen – immer beides zugleich vermitteln: wissenschaftliches und praktisch richtungsweisendes Wissen. Dies macht solcherart Bemühungen um eine Theorie der Sozialen Arbeit zu einer paradoxen Angelegenheit: Theorie muss sich, um ihre theoretische Dignität zu erweisen, an Argumentationsfiguren versuchen, die sie als praktisch bedeutsam ausweisen kann. Es kann vor diesem Hintergrund kaum darüber hinweg gesehen werden, dass ein solcher Doppelanspruch auch Folgen haben muss für die theoretische Bezugnahme auf ›Gesellschaft‹. Die Bezugnahme muss nämlich – soll das argumentative Projekt gelingen – so erfolgen, dass sich der genannte Doppelanspruch darin nicht als widersprüchlich, sondern als plausibel erweist. Entsprechend ist die gesellschaftstheoretische Begründung solcherart theoretischer Ansätze in der Sozialen Arbeit kein Selbstzweck oder akademisches Glasperlenspiel, sondern von vorne herein auf eine bestimmte Positionierung der Sozialen Arbeit als institutionalisierter Praxis finalisiert. Anders gesagt: Gesellschaft wird hier stets im Horizont von Bemühungen zum Thema, die darauf gerichtet sind, einen bestimmten theoretischen Ansatz gerade dadurch als theoretisch auszuweisen, dass er Seins- und Sollensaussagen über die sozialpädagogische Praxis miteinander verschränkt. Dies gilt auch für das Konzept einer alltags- bzw. lebensweltorientierten Sozialen Arbeit. Nicht zufällig versteht es sich daher als gleichermaßen »beschreibend« wie »normativ« (vgl. Thiersch/Grunwald/Köngeter 2002: 164). Da sie in diesem Zuge als Theo-

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rie Sozialer Arbeit selbst Gesellschaftlichkeit nicht im engeren Sinne zu beschreiben versucht, sondern diese vor allem in einer Weise skizziert, die ihr dazu verhilft »die Konsequenzen für Analyse und Konstruktion der Sozialen Arbeit begrifflich zu fassen« (Grunwald/Thiersch 2005: 1139), lässt sich das implizite Gesellschaftsbild des Ansatzes auch nur im Horizont des besagten Doppelanspruchs rekonstruieren. Anders gesagt: Die von der alltags-/lebensweltorientierten Theorie Sozialer Arbeit angefertigten Gesellschaftsbeschreibungen lassen sich nicht von einer gesellschaftstheoretischen Begründung her, sondern letztlich nur vor dem Hintergrund der damit von ihr angestrebten Positionierung der Sozialen Arbeit verstehen. Dies hat freilich Konsequenzen für den Anknüpfungspunkt der folgenden Rekonstruktion. Argumentativ kristallisierte sich der Entwurf einer alltags- bzw. lebensweltorientierten Sozialen Arbeit allmählich in Gestalt mehrerer Einzelbeiträge heraus, die seit Ende der 1970er Jahre publiziert worden sind. Man griff dabei nicht nur maßgeblich und regelmäßig auf sozialwissenschaftliche Theorieansätze und Zeitdiagnosen zurück, die in den 1960er, 70er und 80er Jahren diskursfähig geworden waren, sondern verstand dies durchaus auch als ein programmatisches Anliegen (vgl. Thiersch 1978b bzw. Grunwald/Thiersch 2005: 1138) bei der Durchsetzung einer sozialwissenschaftlich gewendeten Erziehungswissenschaft. Zu den explizit gesellschaftstheoretischen Bezugnahmen gehören neben der ›Kritischen Alltagstheorie‹ Karel Kosíks (vgl. Thiersch 1978a) auch die modernisierungstheoretischen Zeitdiagnosen Ulrich Becks (vgl. etwa Thiersch 1995: 223ff.) und – allerdings mit Abstrichen – zeitdiagnostische Überlegungen von Jürgen Habermas (vgl. Thiersch 1984; Thiersch 2006: 46f.). So einschlägig die sozialwissenschaftlichen Rekurse belegt sind, so vielfältig sind sie, was sich nicht zuletzt durch die stetige, durchaus eklektizistisch anmutende Neujustierung des Ansatzes über Jahrzehnte hinweg erklären lässt. Dieser Umstand erschwert jedoch eine Analyse des Konzepts hinsichtlich des ihm unterlegten Gesellschaftsbildes beträchtlich. Versucht man nämlich die gesamte Fülle theoretischer Referenzen zu berücksichtigen, welche die VertreterInnen des Ansatzes selbst immer wieder ausweisen oder diesem zuschreiben (vgl. dazu exemplarisch die Einordnungsversuche von Füssenhäuser 2005: 135ff.; Füssenhäuser 2006: 130ff.), so gerät man leicht in die Gefahr, sich in der Vielfalt und damit zuweilen auch: der Beliebigkeit der einzelnen Bezugnahmen des Ansatzes zu verlieren (vgl. ähnlich May 2010: 68). Die Aufmerksamkeit allein auf die vermeintliche gesellschaftstheoretische Begründung der alltags-/

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lebensweltorientierten Theorie Sozialer Arbeit zu lenken, wäre daher eine eher scholastische, wenn nicht sogar etwas anbiedernde Übung, zumal der Ansatz selbst eine solche Rekonstruktion der eigenen Wurzeln und Bezugnahmen nie umfassend und differenziert geleistet hat. Stattdessen kann vielmehr die Frage in den Mittelpunkt gerückt werden, wie der Ansatz der Alltags-/Lebensweltorientierung es bewerkstelligt, sich im Lichte eines spezifischen Gesellschaftsbildes selbst als sozialpädagogische Theorie der Sozialen Arbeit zu präsentieren. Präziser gefragt: Wie werden bestimmte gesellschaftstheoretische Argumente dazu genutzt, um den Doppelanspruch zu untermauern, eine Theorie der und für die Praxis zu sein, und was erfährt man dadurch über die Verfasstheit von ›Gesellschaft‹? Unser Beitrag macht einen Vorschlag zur Beantwortung der aufgeworfenen Frage, indem wir in drei Schritten argumentieren. In einem ersten Schritt wenden wir uns dem Verhältnis von Alltag und Gesellschaft zu, wie es im Ansatz der kritischen Alltagstheorie Karel Kosíks ersichtlich wird (vgl. 2.1). Von der kritischen Alltagstheorie auszugehen, erscheint sowohl als systematisch wie auch als chronologisch sinnvoll. In einem zweiten Schritt widmen wir uns sodann der impliziten Verwendung und Zuspitzung der kritischen Alltagstheorie im Konzept der Alltags-/Lebensweltorientierung selbst (vgl. 2.2). Herausgearbeitet wird hier, wie es dem Ansatz der Alltags-/ Lebensweltorientierung gerade im Lichte jener besonderen Verhältnisbestimmung von Alltag einerseits und Gesellschaft andererseits gelingt, sich selbst im Sinne des o.g. Doppelanspruchs als eine Theorie der Sozialen Arbeit zur Geltung zu bringen, welche sowohl analytischen wie normativen Wert beanspruchen kann. Dabei kristallisiert sich – noch stärker als in der rezipierten Ausgangstheorie Kosíks – das Bild von einer ›Gesellschaft mittlerer Reichweite‹ heraus, das Bild von einer Gesellschaft also, deren Totalität ihre potenzielle Grenze in Alltag und Lebenswelt, aber vor allem auch in einer qualifizierten – also alltags-/lebensweltorientierten – Praxis der Sozialen Arbeit findet. Im Lichte dessen erschließt sich auch die spezifische Funktion, welche die Vorstellung von einer Gesellschaft mittlerer Reichweite für die Selbstplausibilisierung des alltags-/lebensweltorientierten Ansatzes im Kontext ihres Doppelanspruchs erfüllt. Der dritte Schritt kehrt schließlich wieder zum Ausgangpunkt der Argumentation zurück: Er konzentriert sich auf die Frage, was die Alltags-/Lebensweltorientierung – qua ihrer gewichtigen Rolle in der jüngeren Geschichte der sozialpädagogischen Disziplin – jeder sozialpädagogischen Theorie abverlangt, will sie als solche von ihr anerkannt werden (vgl. 3.).

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2. A LLTAG , A LLTAGSORIENTIERUNG UND G ESELLSCHAF T Die herausragende Bedeutung der kritischen Alltagstheorie Karel Kosíks für die Entwicklung des Konzepts lebensweltorientierter Sozialer Arbeit kann als unumstritten gelten (vgl. Füssenhäuser 2005: 169ff.), denn sie stellt nicht nur zu Beginn der Entstehung des Konzepts eine wichtige – wenn nicht die wichtigste – intellektuelle Ressource für die Architektur des im Entstehen begriffenen Theoriegebäudes der Alltagsorientierung dar, sondern liefert darüber hinaus mit dem Begriff des ›Alltags‹ auch ein entscheidendes Stichwort für die Namensgebung des von nun an verfolgten Projekts. Zwar wird der Alltagsbegriff Ende der 1980er Jahre durch denjenigen der ›Lebenswelt‹ substituiert und in der Folge werden beide Begriffe zumeist synonym benutzt (vgl. Thiersch 1992: 6). Anders als man vielleicht vermuten könnte, wird bei diesem Wechsel des Leitvokabulars aber nicht etwa Kosíks Alltagstheorie durch eine Theorie der Lebenswelt, wie etwa diejenige von Jürgen Habermas (vgl. hierzu insbesondere Habermas 1981) ersetzt. Vielmehr ist diese terminologische Modifikation auf den zunehmenden Einfluss des Konzepts auf strukturelle Reformen in der Kinder- und Jugendhilfe zurückzuführen und scheint in diesem Zuge vor allem pragmatische Ursachen zu haben. Nicht die ›Alltagsorientierte Soziale Arbeit‹, sondern die ›Lebensweltorientierte Jugendhilfe‹ wird nun zum Leitmotiv, etwa in Dokumenten wie jenem 8. Jugendbericht (vgl. BMJFFG 1990), welchem der Ansatz seine Popularität in der sozialpädagogischen Praxis verdankt. Die ›Lebenswelt‹ der Lebensweltorientierung bezeichnet in diesem Sinne jedoch nicht mehr oder anderes als den zuvor bereits definierten ›Alltag‹ in seiner strukturellen Form, welcher wiederum unterschiedliche institutionelle Arrangements (Familie, Beruf, Schule), Lebensfelder bzw. Lebenslagen (Armut, Geschlecht, generationale Zugehörigkeit) oder lebenslaufspezifische Erfahrungen entsprechen (vgl. Thiersch 2006: 26ff.). In theoriestrategischer Hinsicht ist der Begriffswechsel damit von zu vernachlässigender Bedeutung, denn für die ›Lebenswelt‹ ist nach wie vor bestimmend, was in der »ausgezeichnete(n) Wirklichkeit« des Alltags geschieht (Thiersch/Grunwald/Köngeter 2002: 168). Insofern bleibt die kritische Alltagstheorie Kosíks auch für die gesellschaftstheoretische Positionierung einer ›lebensweltorientierten Sozialen Arbeit‹ weiterhin zentral.

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2.1

Das Gesellschaftsbild der kritischen Alltagstheorie

Auf Kosíks (1967) Theorieansatz wird im alltags-/lebensweltorientierten Ansatz immer wieder dort explizit eingegangen und verwiesen, wo es um die Rezeption seines dialektisch gelagerten Alltagsbegriffs geht (vgl. bspw. Thiersch 1978a; Thiersch 2002: 132f.; Thiersch 2003a: 27, 52, 120; Thiersch 2006: 40ff., 215). Die Gesellschaftstheorie, von der Kosík im Zusammenhang mit seinen Aussagen zur Dialektik des Alltäglichen ausgeht, wird von der Alltags-/Lebensweltorientierung dagegen kaum ausdrücklich thematisiert. Sie wird auch im Werk von Kosík selbst an vielen Stellen eher implizit als explizit angesprochen. Der kritische Alltagsbegriff Kosíks ist jedoch aus sich allein heraus kaum angemessen verstehbar, sondern mit Kosíks historisch-materialistischer Vorstellung von Gesellschaft logisch eng verbunden. Daher wollen wir im Folgenden unser Hauptaugenmerk zunächst auf den Zusammenhang von Alltag und Gesellschaft innerhalb der kritischen Alltagstheorie legen. Die kritische Alltagstheorie Kosíks zielt zunächst ganz zentral auf eine Beschreibung und Erklärung von Alltäglichkeit. Alltag reproduziert sich hiernach durch eine bestimmte Art menschlichen Handelns und Lebens: »In der Alltäglichkeit verwandelt sich die Tätigkeit und die Lebensweise in einen instinktiven, unter- und unbewußten, unreflektierten Mechanismus des Handelns und Lebens: Dinge, Menschen, Bewegungen, Verrichtungen, Milieu und Welt werden nicht in ihrer Ursprünglichkeit und Authentizität erfahren, werden nicht geprüft und offenbaren sich nicht, sondern sind einfach da und werden als Inventar, als Bestandteil der vertrauten Welt hingenommen.« (Kosík 1967: 72; Hervorh. i. Orig.) Soziales Geschehen – so ließe sich paraphrasieren – wird im Zuge alltäglicher Handlungen nicht als solches durch den/die AkteurIn begriffen und eingeordnet, sondern bleibt unhinterfragt und unkritisiert. Gerade hierin liegt die Funktionalität des Alltags; er wird so eingerichtet, dass er bewältigt werden kann (ebd.), und zwar ohne permanent reflektiert, relationiert und in Frage gestellt werden zu müssen. Dies unterscheidet das alltägliche Handeln qua klassischer Definition vom bewussten, und damit dann im engeren Sinne ›geschichtlichen‹ Handeln (a.a.O.: 74). Kosík versucht nun mithilfe eines dialektischen Dreischritts zu zeigen, dass dieser Gegensatz von Alltag und Geschichte zu überwinden sei. Hier verlässt er die vornehmlich beschreibende Ebene seiner Argumentation und wechselt über in eine Differenzierung sozialer Realität in substan-

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ziell ›wahre‹ und ›falsche‹, durch Reflexion zu überwindende Phänomene (vgl. a.a.O.: 9). Dafür wird ein Wahrheitsgedanke benötigt, welcher sich aus keiner rein phänomenologischen Perspektive mehr speisen kann, sondern eine Referenzannahme verlangt. Diese erhält Kosík in Gestalt seines Rekurses auf eine historisch-materialistische Gesellschaftsvorstellung. So kann er im Sinne der dialektischen Methode mit folgendem Dreischritt argumentieren: 1. »Die Alltäglichkeit ist eine phänomenale Welt, in der sich die Wirklichkeit auf eine bestimmte Weise offenbart und gleichzeitig verbirgt.« (A.a.O.: 75; Hervorh. i. Orig.) 2. »Wenn aber die Alltäglichkeit die phänomenale ›Schicht‹ der Wirklichkeit [und nicht das Gegenteil sozialer Wirklichkeit; d. Verf.] ist, kann sich die Überwindung der verdinglichten Alltäglichkeit nicht als Sprung in die Authentizität vollziehen, sondern nur als praktische Aufhebung der Fetischisierung von Alltäglichkeit und Geschichte, d.h. als praktische Destruktion der verdinglichten Wirklichkeit, sowohl in ihrer phänomenalen Gestalt als auch in ihrem realen Wesen.« (A.a.O.: 76; Hervorh. i. Orig.) 3. Diese praktische Destruktion der verdinglichten Wirklichkeit kann nun vom Individuum nur durchdrungen werden, indem es ›sich selbst‹ – einem modernen Authentizitätsideal entsprechend – innerhalb seiner von Beginn an bereits vergesellschafteten Existenz ›findet‹ – und zwar gerade durch Reflexion seiner Alltäglichkeit und die damit korrespondierende Überprüfung der Sinnhaftigkeit seiner Existenz (vgl. a.a.O.: 78). Spätestens beim dritten Argumentationsschritt, also im Zuge der Synthese der Kosíkschen Dialektik, wird die entscheidende Rolle des historischmaterialistischen Gesellschaftsbildes und des damit korrespondierenden Bewusstseins- und Tätigkeitsarguments für die kritische Alltagstheorie deutlich. So etwa wenn Kosík schreibt: »Der Mensch ist durch seine bloße Existenz ein gesellschaftliches Wesen, das nicht nur immer schon in das Netz der gesellschaftlichen Beziehungen verflochten ist, sondern auch immer schon als gesellschaftliches Subjekt handelt, denkt und fühlt, sogar noch bevor es sich diese Wirklichkeit vergegenwärtigt oder vergegenwärtigen kann. […] Das Bekanntsein ist ein Hindernis des Erkennens.« (Ebd.; Hervorh. i.O.) Hier findet sich der Mensch gefangen in eine pseudokon-

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krete Wirklichkeit, bevorzugt in Gestalt einer von geschichtlicher Reflexion abgekoppelten Alltäglichkeit. Jedoch: »Die geistig praktische Entwicklung des Individuums und der Menschheit ist ein Prozeß, in dem die nichtidentifizierte und alles beherrschende Macht der Anonymität zerfällt; aus ihrer Undifferenziertheit bildet sich im permanenten Prozeß der Individual- und Gattungsentwicklung auf der einen Seite das Menschliche und allgemein Menschliche heraus, dessen Aneignung aus dem Einzelnen ein menschliches Individuum macht, auf der anderen Seite aber das Partikuläre, Nichtmenschliche, historisch Vorübergehende, von dem sich das Individuum befreien muß, wenn es zur Authentizität gelangen will.« (A.a.O.: 80) Diese ›Befreiung‹ kann das Individuum – ganz im Sinne historisch-materialistischer Gesellschaftstheorie – nur erreichen, indem es bewusst zu handeln beginnt, sich also die gesellschaftliche Wirklichkeit durch Aneignungstätigkeiten erschließt und diese zugleich mit zu gestalten beginnt: »Der gesellschaftliche Charakter des Menschen [zeichnet sich dadurch aus; d. Verf.], daß er seine Realität in gegenständlicher Tätigkeit beweist. […] Das Wesen des Menschen ist die Einheit von Gegenständlichkeit und Subjektivität.« (A.a.O.: 121f.; Hervorh. i.O.) Die zentrale Differenzierung von Alltag und Geschichte2 in Konkretheit und Pseudokonkretheit im Werk Kosíks lässt sich somit auch als eine Unterscheidung zwischen unbewusster, manipulierter »Sorge« (a.a.O.: 222) des vergesellschafteten Subjekts einerseits und einem – zumindest in Gestalt regelmäßiger Reflexionsschleifen – bewusst gestalteten Handeln und Leben des mündigen Individuums andererseits begreifen. Handeln und Leben sind dabei im Zuge der strengen politisch-ökonomischen Fokussierung der historisch-materialistischen Gesellschaftstheorie, auf welche die kritische Alltagstheorie referiert, stark am ökonomischen Produktionsprozess orientiert. So ist die Gesellschaft bei Kosík stets eine politisch gegengelesene Relationierung ökonomischer Prozesse (vgl. a.a.O: 186). In eben dieser Perspektive der politischen Ökonomie unterscheidet die kriti-

2 | Nicht nur der Alltag, auch die Geschichte enthält Kosík zufolge pseudokonkrete Momente, und zwar dort, wo sie als »abstrakte Totalität« (Kosík 1967: 58) auftritt, also fernab ihrer gegenseitigen Durchdringung mit alltäglichen und nicht-alltäglichen Handlungen der gesellschaftlichen Akteure ›fehlinterpretiert‹ wird. Es ließe sich somit auch sagen, Geschichte wird von Kosík als pseudokonkret aufgefasst, wo sie nicht als Gesellschaftsgeschichte gedacht wird.

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sche Alltagstheorie auch das Alltagshandeln der gesellschaftlichen Akteure in pseudokonkrete und konkrete Strategien, in Doxa und Praxis. Halten wir als Zwischenertrag unserer Analyse fest: Gesellschaft und Alltag/Lebenswelt werden in der kritischen Alltagstheorie Kosiks zunächst stets als Gegensatzpaar verstanden, welches nur dialektisch bearbeitet werden kann. Dabei ist der Alltag als eine von gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen durchdrungene Entität gedacht, welche als akkumulierte, und damit perspektivisch veränderbare Gemengelage von Doxa und Praxis gesehen wird. Als entscheidend für die Differenzierung des Alltags in ihre jeweiligen Anteile von Doxa und Praxis werden politisch interpretierte ökonomische Prozesse angesehen. Das heißt konkret, dass die alltäglichen Handlungen der gesellschaftlichen Akteure hinsichtlich der um sie herum stattfindenden Tätigkeits- und Produktionsprozesse unter Gesichtspunkten der Selbstbestimmtheit und Bewusstheit analysiert werden. Finden sich hohe Anteile von Selbstbestimmung und Reflexion des alltäglichen Handelns, so lassen sie sich als ›konkretes Alltagshandeln‹ einordnen. Damit gelingt es der kritischen Alltagstheorie, auf der unmittelbaren Erlebensebene der vergesellschafteten Subjekte eine individualistisch geprägte Befreiungsoption für das Subjekt in Aussicht zu stellen, ohne deshalb den Anspruch einer herrschaftskritischen Gesellschaftstheorie aufgeben zu müssen. Der Alltag gerät damit zu einem Konstrukt, das es erlaubt, das Gesellschaftliche in paradoxer Gleichzeitigkeit als herrschaftlich dominiert sowie als durch die Akteure veränderbar zu begreifen. Ort und Stelle potenzieller Gesellschaftsveränderungen sind dabei auf den Bereich des Alltags festgelegt. Nur hier kann – wenngleich gegen Widerstände der gesellschaftlichen Durchwirkung dieses Bereichs – kritisches Bewusstsein gegenüber den geltenden Herrschaftsverhältnissen entstehen. Der Alltag wird so zu einem Ort, der die Herrschaftsverhältnisse einer politisch gegengelesenen kapitalistischen Gesellschaft gleichzeitig sowohl verdeutlicht als auch potenziell konterkariert. Ein Ort, in dem Welt und Gegenwelt, man könnte auch sagen: gesellschaftliche und gegengesellschaftliche Momente aufeinandertreffen.3 3 | Kritisch ließe sich hier eine politische Überhöhung alltags- und lebensweltlicher Bezüge der Akteure konstatieren. Die Darstellung alltags- und lebensweltlicher Sphären als ›Keimzellen‹ politischer Befreiung lässt sich wohl am besten diskurshistorisch begreifen, indem man sie in den Kontext von Leitideen der sogenannten ›Neuen Sozialen Bewegungen‹ einordnet.

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2.2 Von der Gesellschaft der Alltagstheorie zur Gesellschaft mittlerer Reichweite in der Alltags-/Lebensweltorientierung Im folgenden Argumentationsschritt wollen wir nun zeigen, inwieweit die gesellschaftstheoretischen Ausgangsannahmen der kritischen Alltagstheorie im Zuge ihrer Rezeption durch den Ansatz der Alltags-/Lebensweltorientierung einerseits adaptiert und andererseits transformiert werden. Letzteres betrifft insbesondere die Frage, inwieweit das Konzept der Alltags-/Lebensweltorientierung die Soziale Arbeit selbst – auch und gerade wenn sie sich alltags-/lebensweltorientiert aufstellt – noch als gesellschaftliche Praxis begreift. Mithilfe der kritischen Alltagstheorie wird im Ansatz der Alltags-/Lebensweltorientierung zunächst vor allem beschrieben, wie Menschen mit ihrem sich für sie widersprüchlich darstellenden Alltag umgehen, d.h. welche Bewältigungsstrategien sie entwickeln, um mit der theoretisch von Kosík angenommenen Spannung von Konkretem und Pseudokonkretem zurecht zu kommen (vgl. dazu insbesondere die Ausführungen in Thiersch 2006). Insofern könnte man sagen, dass ein beträchtlicher Teil dessen, wofür der Ansatz der Alltags-/Lebensweltorientierung steht, eine Sensibilisierung des sozialpädagogischen Fachpublikums für kritisch-alltagstheoretische Deutungen des Handelns ihrer Klientel ist. Insoweit dient die Rezeption der kritischen Alltagstheorie in der sozialpädagogischen Fachdiskussion durchaus Aufklärungszwecken, erfüllt also die klassischen Anforderungen an eine analytisch ausgerichtete sozialwissenschaftliche Theorie. Es wird ein Erklärungsmodell dafür angeboten, warum sich Menschen, die in Kontakt mit sozialstaatlichen/sozialarbeiterischen Institutionen sind, in einer bestimmten Situation in einer bestimmten Weise verhalten, die aus der Perspektive eines/r verberuflichten SozialpädagogIn zunächst einmal durchaus als unsinnig erscheinen kann. Aus der kritischen Alltagstheorie übernommen, etablierte die Alltags-/Lebensweltorientierung das Modell einer als kontinuierliche Herausforderung verstandenen Spannung zwischen konkretem und pseudokonkretem Alltag im disziplinären, sowie vermutlich auch in Teilen des professionellen sozialpädagogischen Feldes. So lässt sich sagen, dass der Ansatz der Alltags-/Lebensweltorientierung hier zunächst einmal vor allem eines ist: Sozialtheorie. Wie oben bereits umrissen, tritt Alltags-/Lebensweltorientierung jedoch keineswegs mit einem rein sozialtheoretischen Erkenntnisinteresse gegenüber der Alltagswahrnehmung sozialpädagogischer Klientel auf.

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Vielmehr geht es ihr – immer wieder explizit benannt (vgl. statt vieler Thiersch/Grunwald/Köngeter 2002: 164) – um die Erfüllung eines Doppelanspruchs von kritisch-erklärender Sozialtheorie einerseits und normativer sozialpädagogischer Theorie andererseits. Damit wird auch das Kernmoment von Alltagswahrnehmung/Alltagshandeln von einem kritisch gegengelesenen sozialen Phänomen zu einem sozialpädagogischen Problem. Daraus wiederum ergibt sich die doppelte Stoßrichtung des Konzepts einer alltags- bzw. lebensweltorientierten Sozialen Arbeit: Der/die sozialpädagogische PraktikerIn soll im Lichte der Alltags-/Lebensweltorientierung nicht nur das Handeln seiner/s KlientIn verstehen lernen, er/sie soll dadurch auch eine normative Orientierung für den praktisch-professionellen Umgang mit seinen/ihren AdressatInnen gewinnen. Diese normative Perspektive ist nun freilich kein Handwerkszeug im Sinne klassischer Methoden, welche »auf eine materielle Setzung von Interventionszielen [abheben würden], wie sie sich etwa aus gewachsenen Normalitätsstandards der Gesellschaft ableiten lassen« (Galuske 2002: 142; Einfüg. d. Verf.). Hiergegen wendet sich der Entwurf der Alltags-/Lebensweltorientierung nicht zuletzt auch unter Verweis auf die Brüchigkeit und Kontingenz solcher Normalitätsstandards. Deswegen werden keine konkreten substantiellen Ziele und Wege, welche den herrschenden Gesellschaftsnormen entsprechen (wie z.B.: ›Berufstätigkeit der KlientInnen erreichen‹, ›Zusammenleben aller Familienmitglieder herbeiführen‹, ›KlientInnen müssen Schul- und Bildungsabschlüsse erlangen‹ …) vorgegeben, sondern es wird auf das paradoxe Prinzip »strukturierte[r] Offenheit« (vgl. Thiersch 1993: 11; Einfüg. d. Verf.) gesetzt. In gleichsam auslotender Haltung soll der/die SozialpädagogIn hierbei mit dem/r jeweiligen AdressatIn der Intervention nach Alternativen zu eingefahrenen Alltagsroutinen und lebensweltlichen Sichtweisen suchen, ohne dass eine konkrete Veränderungsrichtung von vornherein vorgegeben wäre. Der handlungsleitende Normativitätsanspruch des alltags-/lebensweltorienierten Konzepts wird damit jedoch keineswegs aufgegeben (vgl. hierzu auch Cleppien 2009). Die unmittelbare Normativität substanzieller Handlungsziele für die KlientInnen wird ersetzt durch eine verfahrensethische Normativität für alle Beteiligten, d.h. für Professionelle, für KlientInnen und für die jeweiligen sozialpädagogischen Institutionen.4 4 | Vgl. dazu insbesondere auch die von Thiersch als Handlungsmaximen beschriebenen Verfahrensvorgaben alltags-/lebensweltorientierter Sozialer Arbeit

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Wenn man sich nun fragt, was sich hierdurch auf dem konzeptionellen Weg von der kritischen Alltagstheorie zur Alltags-/Lebensweltorientierung verändert und wem es dienlich ist, so wird deutlich, dass es vor allem zu einer Verschiebung der Interpretationshoheit darüber kommt, was Alltag und was an ihm konkret und was an ihm pseudokonkret ist. Diese Verschiebung geschieht gewissermaßen aus dem engeren konzeptuellen Rahmen heraus an einen Platz außerhalb jeglicher Theorie. Denn im Gegensatz zur kritischen Alltagstheorie wird der Entscheidungsprozess über die Frage, was konkreter und was pseudokonkreter Alltag ist, im Rahmen des Ansatzes der Alltags-/Lebensweltorientierung nicht mehr dem/der AlltagstheoretikerIn selbst zugemutet, sondern dem/der alltags-/ lebensweltorientiert handelnden SozialpädagogIn vor Ort. Er/sie hat ›in Auseinandersetzung‹ mit seinem/ihren KlientInnen darüber zu entscheiden, was konkret und damit verteidigenswert, und was hingegen pseudokonkret und deswegen zu verhindern oder zu verändern ist. Zur Aufgabe alltags-/lebensweltorientierter SozialpädagogInnen gehört – entgegen dem möglichen und wohl auch konzeptuell gewollten ersten Anschein – nicht nur das Verständnis des KlientInnenalltags, sondern mindestens ebenso sehr dessen normative Beurteilung. Beurteilt werden muss dabei konkret, ob die funktionale Dignität des jeweiligen Alltags von der sozialpädagogischen Fachkraft zu schützen ist, oder aber ob sie als zwar ›in sich selbst‹ funktional verstanden werden kann, aber in Hinsicht auf die Chancen ›gesellschaftlicher Integration‹ (teil-)destruiert werden muss. In den Worten Thierschs (2006: 43): »Täuschung muss destruiert, Wahrheit aber gestärkt und unterstützt werden.« (z.B. Thiersch 1995: 235f.; Thiersch 2003: 28). Dass diese Verfahrensvorgaben letztlich ihrerseits auf einer Verfahrensethik basieren, die keineswegs außerhalb gesellschaftlicher Normvorgaben liegt, sondern diese im Sinne der Vorgabe eines Leitbilds stets verfahrensmündiger Subjekte repräsentiert, führt entgegen dem Befreiungsimpetus, welcher im Zuge des alltags-/lebensweltorientierten Ansatzes zumeist hervorgehoben wird, vor allem auch zur Aufrechterhaltung des traditionell sozialpädagogischen Anforderungsdrucks für die Klientel, sich selbst als Subjekt zu repräsentieren. Da dies als eine klassische Funktion sozialpädagogischer Interventionen gesehen werden kann (vgl. Münchmeier/Ortmann 1996), steht die Alltags-/Lebensweltorientierung wiederum eher in der Tradition sozialpädagogisch-professionellen Argumentierens, als dass sie diese im engeren Sinne alltagsorientiert revolutioniert.

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Augenscheinlich leitet diese normative Konzeptualisierung vor allem die professionelle Praxis zu einer stärkeren Unabhängigkeit gegenüber externen Normalitätsmaßstäben an – und nicht etwa die Praxis ihrer AdressatInnen. Insoweit gibt es auf der Etappe von der kritischen Alltagstheorie zur Alltags-/Lebensweltorientierung vor allem eine Gewinnerin mit erheblichem Machtzuwachs: die sozialpädagogische Fachkraft bzw. – strukturell gesprochen – die sozialpädagogische Profession. An die Stelle gesellschaftlich universalisierter Normalitätsmaßstäbe und klassischer sozialarbeitsethischer Ideale tritt so die Entscheidungshoheit der sozialpädagogischen Fachkräfte vor Ort. Sie bestimmen letztlich über den weniger gelingenden und den »gelingenderen« (Thiersch 2006: 43) Alltag ihrer Klientel. Dabei wird deutlich: im Zuge der alltags-/lebensweltorientierten Programmatik wird zwar argumentativ auf die sozialtheoretischen Implikationen der kritischen Alltagstheorie zurückgegriffen. Was hieraus entsteht, ist aber durchaus etwas anderes als eine schlichte Reproduktion der theoretischen Grundaussagen kritischer Alltagstheorie. Alltag ist nicht in erster Linie um seiner selbst willen und/oder um der gesellschaftlich-politischen Veränderung willen zu verstehen. Vielmehr ist der Alltag zu erschließen, um ihn als sozialpädagogische Fachkraft auch anders interpretieren zu können, als dies bisher seitens der AdressatInnen erfolgt ist. Dies bedeutet gleichzeitig, ihn veränderbar zu halten. Diese an sich aus sozialpädagogischer Perspektive faszinierende Einsicht produziert für den Ansatz jedoch – wenn wir uns nun noch einmal explizit gesellschaftstheoretisch mit ihm auseinandersetzen – gleichzeitig ein Folgeproblem, welches sich vielleicht am ehesten mit der folgenden Frage auf den Punkt bringen lässt: Wenn die alltags-/lebensweltorientiert agierende soziapädagogische Fachkraft – erstens – diejenige Instanz ist, die nicht im Alltäglichen ihres Klientels verstrickt ist, gleichzeitig aber – zweitens – auch im Zuge ihrer Interpretation des Alltags ihrer Klientel keine schlichte RepräsentantIn des ›Gesellschaftlichen‹, und wenn sie – drittens – dennoch eine offensichtlich weitreichende Interpretationshoheit darüber genießt, was selbstbestimmtes konkretes und was fremdbestimmtes pseudokonkretes Alltagshandeln ist, wo genau ist dann – gesellschaftstheoretisch betrachtet – ihr eigener »sozialer Ort«?5 5 | Diese Unklarheit ist schon früh Gegenstand der Diskussion um eine alltagsorientierte Soziale Arbeit gewesen (vgl. hierzu: Böhnisch/Münchmeier 1979), und dabei auch durchaus von Hans Thiersch und anderen ProtagonistInnen des

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Eine klassische Antwort auf diese Frage lautet, dass die sozialpädagogische Fachlichkeit – und mit ihr dann auch die alltags-/lebensweltorientierte Soziale Arbeit – selbst zwischen Individuum und Gesellschaft stehe (vgl. Hamburger 2008: 121ff.). Eine solche Antwort befriedigt hier jedoch insoweit wenig, als dass sie bestenfalls systematisch plausibel ist, jedoch wenig empirische Plausibilität im Hinblick auf die Stellung einer alltags-/lebensweltorientiert arbeitenden sozialpädagogischen Fachkraft in sich birgt. Es gälte daher zur Beantwortung der oben genannten Frage verstärkt, den Entwurf anhand empirischer Studien mit seiner eigenen Realisierung zu konfrontieren.6 Die Unterscheidung zwischen idealer und realer alltags-/lebensweltorientierter Praxis scheint jedoch im Ansatz der Alltags-/Lebensweltorientierung selbst bisher eine nur sehr untergeordnete Rolle zu spielen. Entsprechend gerät die alltags-/lebensweltorientierte Soziale Arbeit bis dato im Rahmen des eigenen Konzepts konsequent betrachtet niemals als gesellschaftliche Praxis, sondern ausschließlich als ideale Praxis ins Blickfeld. Zwar gibt es Stellen im Werk der Alltags-/Lebensweltorientierung, an welchen alltagstheoretische Grundfragen nach Konkretheit/Pseudokonkretheit und der Dialektik von Routine und Sicherheit auch für den Alltag der Sozialen Arbeit thematisiert werden (vgl. etwa Thiersch 1978a). Dies gilt jedoch nicht für die soziale Praxis einer alltags-/lebensweltorientierten Sozialen Arbeit. Sie scheint der Dialektik des Alltags – anders als ihre AdressatInnen und anders als ihre konzeptuellen Vorläufer – immer schon entkommen zu sein. Damit entzieht sie sich jener Gesellschaftlichkeit, die sie dem Alltag ihrer AdressatInnen zuschreibt. Erklärbar ist dies damit, dass der Ansatz der Alltags-/Lebensweltorientierung im Allgemeinen und seine Gesellschaftsauffassung im Besonderen in hohem Maße den Grundgedankengängen kritischer Theoriebildung verpflichtet sind, für welche die Selbstbezüglichkeit theoretischer AussaAnsatzes reflektiert worden. Sie scheint aber inzwischen weitgehend in Vergessenheit geraten zu sein, was nicht zuletzt mit dem bahnbrechenden Erfolg des Konzepts zusammenhängen könnte. 6 | Dieser Anspruch ist durchaus legitim an die Alltags-/Lebensweltorientierung heranzutragen, zumal sie sich bereits selbst explizit der Frage nach der »Praxis lebensweltorientierter Sozialer Arbeit« (Grunwald/Thiersch 2008) zugewandt hat, ohne diese Frage allerdings im Horizont eines gesellschaftstheoretischen Bezugsrahmens anzugehen.

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gen kein Geltungskriterium darstellt. Stattdessen gilt hier ein dezidiertes Normativitätspostulat, welches die Theorie erst zu einer so verstandenen ›kritischen‹ Theorie werden lässt (vgl. dazu allgemein Schmid 2000: 132). Dies birgt zweifelsfrei Chancen politisch emanzipierter Argumentation. Auf der Gegenseite der Bilanz steht damit jedoch auch ein Unvermögen, die eigene Beobachtungsleistung als Teil der Theorie mitzudenken und entsprechend (selbst)kritisch zu de-essentialisieren. Dies wiederum wäre nur in einem strikt sozialtheoretischen Ansatz möglich, der sich dem Anspruch einer handlungsanleitenden Theorie gegenüber desinteressiert verhält. Der o.g. Doppelanspruch des Ansatzes drängt den Ansatz der Alltags-/ Lebensweltorientierung jedoch dazu, die alltags-/lebensweltorientierte Soziale Arbeit selbst von der Ambivalenz alltäglichen Handelns auszunehmen. Die alltags-/lebensweltorientierte Intervention selbst darf nicht in gleichem Maße wie jenes ›Handlungsfeld‹, auf welches sie sich bezieht – oder auch die nicht-alltags-/lebensweltorientierte Soziale Arbeit – der Undurchsichtigkeit alltäglicher Handlungsmuster ausgeliefert sein. Damit aber repräsentiert der alltags-/lebensweltorientiert durchwirkte Alltag keinen Alltag im Sinne der kritischen Alltagstheorie mehr. Er ist geglättet und somit paradoxerweise im gleichen Zuge, in dem die Alltags- und Lebenswelt sozialpädagogischer Klientel kritisch durch die sozialpädagogische Fachkraft reflektiert und interpretiert werden kann, alltags- wie gesellschaftstheoretisch neutralisiert. So lässt sich resümieren: im Zuge der alltags-/lebensweltorientierten Transformation der kritischen Alltagstheorie in eine alltags-/lebensweltorientierte, handlungsleitende Theorie verändert sich das ursprüngliche Gesellschaftsbild der kritischen Alltagstheorie. Gesellschaft reicht nun nur noch soweit in den Alltag hinein, wie dieser nicht durch die alltags-/lebensweltorientierte Soziale Arbeit selbst ›aufgeklärt‹ wird. Im Moment einer nicht mehr nur idealen, sondern sozialen alltags-/lebensweltorientierten Intervention wird der Ansatz somit selbst blind für die gesellschaftstheoretische – und damit übrigens auch die gesellschaftspolitische – Ebene sozialpädagogischer Praxis, welche er noch zuvor treffend aus seiner spezifischen Perspektive heraus beschreiben kann. Die Gesellschaft erreicht somit in der Perspektive der Alltags-/Lebensweltorientierung den Alltag der Menschen, ja sogar den Alltag der Sozialen Arbeit, niemals jedoch den Alltag der alltags- und lebensweltorientierten Sozialen Arbeit.

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3. F OLGEPROBLEME DES ALLTAGS - UND LEBENSWELTORIENTIERTEN G ESELLSCHAF TSBILDES FÜR DIE THEORIEBILDUNG ZUR S OZIALEN A RBEIT Das Konzept der Alltags-/Lebensweltorientierung hat unbestritten seit den 1970er Jahren maßgeblich zur professionspolitischen Etablierung sozialpädagogischer Praxen innerhalb des Gefüges des bundesrepublikanischen Wohlfahrtssystems beigetragen. In diesem Zuge wurden sozialpädagogische Interventionsformen insoweit auch gesellschaftstheoretisch reflektiert, als dass die alltags- und lebensweltlichen Bezüge ihrer Klientel von nun an nicht mehr schlichtweg als deviant, abnormal oder expertokratisch veränderungsbedürftig behandelt wurden, sondern im Lichte alltagstheoretischer Betrachtungen neu in ihrer Funktionalität und inneren Logik verstehbar gemacht wurden. Gleichzeitig enden die gesellschaftstheoretischen Reflexionsleistungen alltags-/lebensweltorientierter Theoriebildung zur Sozialen Arbeit – wie oben gezeigt – strukturell dort, wo es um die Einholung derjenigen Praktiken geht, die im Zuge des normativen Überhangs des Konzepts als ideal oder zumindest annähernd ideal skizziert werden. Die Tatsache, dass der Ansatz somit diejenigen gesellschaftstheoretischen Einsichten, auf deren Grundlage er sich plausibilisiert, nicht auch auf sich selbst zu beziehen in der Lage scheint (vgl. dazu kritisch etwa auch bereits Prange 2003; May 2010: 66ff.), bleibt als Folgeproblem des eingangs skizzierten Doppelanspruchs einer sowohl beschreibenden als auch normativen Theorie offenbar unauflösbar im Raum stehen und der Theoriediskussion zur Sozialen Arbeit in paradoxer Weise zur Bearbeitung überlassen. Denn indem sich die Alltags-/Lebensweltorientierung selbst von dem ausnimmt, was sie als gesellschaftliche Wirklichkeit beobachtet, bricht sie mit dem inzwischen weitgehend etablierten Grundkonsens sozialwissenschaftlicher Erkenntnisstrategien, die eigene Wissenschaftspraxis im Lichte der eigenen Erkenntnisse zu reflektieren (vgl. etwa Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991; Nassehi 2006), und bleibt für einen ihr selbst gegenüber kritischen Diskurs deswegen schwer greifbar. Es bleibt somit zu vermuten, dass die Alltags-/Lebensweltorientierung – mindestens in Hinsicht auf ihr Gesellschaftsbild – unter eben jenem »ontologischen Syndrom« (Thiersch 1978a: 15) leidet, das ihr selbst zufolge den Alltag auszeichnet, und somit selbst die gesellschaftliche Eingebundenheit ihrer eigenen Praxis systematisch

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verkennt.7 Will sich der Theoriediskurs zur Sozialen Arbeit von solchen systematischen Verkennungen als Folgeproblem eigener Theoriekonstruktionen mittelfristig emanzipieren, um vermehrt auch reflexiv sozialwissenschaftliche Beschreibungs- und Erklärungsmodelle zur Sozialen Arbeit entwerfen zu können als bisher, erscheint es unabdingbar, die Soziale Arbeit – ggf. auch in ihrer idealen Form – fortan konsequenter selbst inmitten der gesellschaftlichen Wirklichkeit anzusiedeln, als dies noch im Entwurf einer alltags-/lebensweltorientierten Sozialen Arbeit feststellbar ist.

7 | Es soll hier ausdrücklich betont werden, dass dies kein exklusives Phänomen im Rahmen des Konzepts alltags-/lebenweltsorientierter Sozialer Arbeit ist, sondern sich systematisch als argumentatives Folgeproblem im sozialpädagogischen Theoriediskurs findet (vgl. hierzu Sandermann et al. 2011). Betrachtet man die herausragende Bedeutung, welche dem Doppelanspruch von gleichermaßen praktischer wie wissenschaftlicher Relevanz innerhalb bedeutender Teile der Theoriediskussion zur Sozialen Arbeit in den letzten dreißig Jahren insgesamt beigemessen worden ist (vgl. hierzu nur Dewe/Otto 1996; Engelke 1992; Fatke/ Hornstein 1987; Füssenhäuser/Thiersch 2005; Hamburger 1995; Lukas 1979; Thiersch/Rauschenbach 1984), so bestätigt sich darin nicht nur die überaus hohe Wirkmächtigkeit des alltags-/lebensweltorientierten Ansatzes, sondern eben umgekehrt auch seine Exemplarität für den sozialpädagogischen Theoriediskurs (vgl. hierzu bereits Neumann/Sandermann 2007; 2008). Alltags-/ Lebensweltorientierung repräsentiert insofern zum heutigen Zeitpunkt nicht lediglich eine bestimmte Variante einer Theorie der und für die Soziale Arbeit. Sie verkörpert stattdessen eher ihren paradigmatischen, oder doch zumindest: ihren dominanten Fall. Die obige Rekonstruktion erlaubt so gesehen neben einer Exploration von Gesellschaftsvorstellungen der Alltags-/Lebensweltorientierung auch Rückschlüsse auf das Gesellschaftsbild in weiten Teilen der heutigen Theoriediskussion zur Sozialen Arbeit insgesamt.

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Ansätze der Modernisierung und Individualisierung als Referenzen sozialpädagogischer Selbstvergewisserung Oder: Vom Glauben an eine feste Ordnung des Sozialen, auch wenn sie jetzt verloren gegangen sei Bernd Dollinger

1. E INLEITUNG : S OZIALE A RBEIT ALS P RODUK T DER M ODERNE Wer sollte daran zweifeln? Sozialpädagogik ist ein Produkt der Moderne. Wer diesem Satz nicht folgt, scheint sich außerhalb des sozialpädagogisch Sagbaren zu bewegen. Es scheint evident, dass Soziale Arbeit, wie z.B. Malcolm Payne (2005: 15f.) ausführt, modern sei, insofern sie in der Nachfolge christlicher Wohlfahrtstätigkeit Probleme der Gesellschaft bearbeitet. Sie setzt Maßnahmen gegen die Nebenfolgen von ökonomischer und gesellschaftlicher Transformation um und agiert dabei im Rahmen einer jeweils aktuellen, eben ›modernen‹ sozialen Ordnung. Sie nimmt als Theorie und Praxis Bezug auf Definitionen sozialer Probleme und interagiert dabei mit einer realen Welt, die aus Modernisierungsprozessen resultiert. In Deutschland betonte insbesondere Klaus Mollenhauer (1959) die »Ursprünge der Sozialpädagogik in der industriellen Gesellschaft«. In ihr war »nach einer möglichen, und zwar humanen Lösung« (a.a.O.: 19) der durch den irreversiblen sozialen Wandel und die Industrialisierung verursachten Probleme gesucht worden und schließlich sei u.a. eine sozialpädagogische Antwort gefunden worden.

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Wie könnte in dieser Hinsicht die Sozialpädagogik als Wissens- und Handlungsform nicht im Kontext der modernen Gesellschaft entstanden sein? Zumindest in ihrer aktuellen Form scheint eine Sozialpädagogik ohne Moderne – und, bei etwas optimistischer Lesart, eine Moderne ohne Sozialpädagogik – kaum denkbar. Dennoch ist der einleitende Satz und mit ihm jeder seiner Teile sehr viel klärungsbedürftiger, als zunächst angenommen werden mag. Um diese Differenz von apriorischer Plausibilität und einer nicht auszuräumenden Unklarheit geht es im vorliegenden Beitrag. Er stellt darauf ab, den Glauben der Sozialpädagogik an das Faktum »Modernität« und mit ihm an das Franchise-Unternehmen »Individualisierung« zumindest soweit zu erschüttern, dass über beides wieder gestritten werden kann; sie sollen aus dem Bereich unhinterfragter Evidenz herausgehoben und zum Thema von Auseinandersetzungen gemacht werden. Es geht damit nicht um eine Revision des Projekts einer Modernisierungstheorie und nicht um eine pauschale Zurückweisung eines ›modernen‹ Selbstverständnisses Sozialer Arbeit, denn dies wäre überzogen. Beides, Modernisierungstheorien und Modernitätsbewusstsein, fungieren als Ankerpunkte sozialpädagogischer Selbstverständigung und statten sie mit spezifischen, nachfolgend näher aufzuschließenden Gewissheitsversprechungen aus1 . Allerdings handelt es sich nicht um alternativlose Bestimmungen des sozialen Lebens, sondern um komplexe und voraussetzungsvolle Diagnosen, die mit spezifischen Schwerpunktsetzungen und Ausblendungen einhergehen (vgl. Hillebrandt 2010). Betrachten wir deshalb den infrage stehenden Satz in seinen einzelnen Elementen genauer: • »Sozialpädagogik«: Es wird eine globale Aussage getroffen, die bestimmt, dass das Ausgesagte die Sozialpädagogik in ihrer Gesamtheit betrifft. Sozialpädagogik bekommt eine Identität. Sie scheint definitorisch umrissen zu sein und in ihrer Ganzheit adressiert werden zu kön1 | Im Blickpunkt steht im Folgenden die (disziplin-)kulturelle Vorstellung einer historisch etablierten »Modernität«, die auf einen Prozess der »Modernisierung« verweist; es geht dabei vorrangig um »Modernitätsnarrative« (Hillebrandt 2010) und um Annahmen einer wachsenden »Individualisierung« als deren wesentliche Teilkomponente. Modernisierungstheorien sind dabei nicht mit Ansätzen zur Erschließung von Modernität deckungsgleich, allerdings bestehen besondere Affinitäten. Modernisierungstheorien stellen in besonderem Maße auf Konzeptualisierungen einer spezifischen Modernität ab und beziehen durch sie Plausibilität.

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nen. Der Satz generiert also eine Gestalt von Sozialpädagogik, die sich den vielfach geäußerten Klagen, die Sozialpädagogik habe ein Identitätsproblem und weise unklare Zuständigkeiten auf, entgegenstellt. Der Signifikant am Ende des Satzes (»der Moderne«) weist dem Beginn des Satzes eine scheinbar klare Kontur zu: Die Moderne konstituiert die sozialpädagogische Gestalt. »ist«: Sozialpädagogik tritt in dem Satz nicht als etwas Vielschichtiges oder Unklares auf, sondern sie »ist« etwas. Man kann über ihren Status quo Rechenschaft ablegen und sie damit in einem zeitlichen bzw. historischen Verlauf verorten. Vor dem »ist« muss es andere Status gegeben haben, und es werden in der Zukunft weitere folgen, die jeweils der Analyse zugänglich sind. Auch über sie können Aussagen getroffen und Seinszustände fixiert werden. Da die Sozialpädagogik »ist«, kann sie in ihrer Beschaffenheit diagnostiziert werden und es kann über sie Auskunft gegeben werden. Der diachrone Verlauf sozialpädagogischer Gestalten ist eine Abfolge synchroner, objektivierbarer Zustände. »ein Produkt«: Die Sozialpädagogik wird in einem Gesamtzusammenhang verortet. Wo es ein Produkt gibt, existieren Produzenten und folglich Strukturen und/oder Interessen. Sie wirken kausal und begründen mit ihrer jeweiligen Eigenart, was sie hervorbringen. Das Subjekt »Sozialpädagogik« wird damit rückgebunden und in seiner souveränen, konturierten Stellung relativiert, da eine Abhängigkeit von äußeren Bedingungen festgestellt wird. Ohne dass die Identität dadurch aufgehoben würde, wird die Sozialpädagogik an eine Voraussetzung gebunden, die ihr eine basale Existenzberechtigung zuweist. Die Sozialpädagogik besteht durch ihre Anbindung an eine übergeordnete Faktizität mit kausaler Wirkmächtigkeit. »der Moderne«: Es ist die »Moderne«, die diese Wirkmächtigkeit besitzt und die Autorität der Sinnzuweisung ausstrahlt. Das gegenwärtige Leben, so komplex und undurchsichtig es auch immer sein mag, wird auf besondere Weise qualifiziert, und aus dieser Qualifikation bezieht die Sozialpädagogik ihre Gestalt. Hiervon wird im Folgenden noch ausführlicher zu reden sein. ».« Selbst der Punkt ist aussagekräftig, denn er beendet die Aussage als eine in sich geschlossene Stimmigkeit. Man mag im Anschluss an den Satz Erklärungen, Differenzierungen und Beweise finden oder erwarten, aber zunächst wird die Aussage als solche gesetzt und eine Sinntotalität festgeschrieben. Der Satz repräsentiert einen Gesamtzusammen-

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hang, in dem die Sozialpädagogik einen eindeutigen Ort einnimmt und eine normative Berechtigung erfährt. Nach dieser kurzen Schau ist der Satz plötzlich fragwürdig geworden. Sowohl »Die Sozialpädagogik«, als auch das Wörtchen »ist«, zudem die Qualifizierung »ein Produkt«, ferner auch »der Moderne« und sogar das Satzzeichen ».« sind alles andere als selbstverständlich. Sie kommunizieren Vorschriften, wie es sich mit Sozialpädagogik verhält und wie sie verstanden werden soll, alternative Optionen werden ausgeblendet. Könnte man aber die Sozialpädagogik nicht im Plural denken, etwa angesichts multipler Arbeitsfelder, heterogener historischer Vorläufer, diffuser Theoriedebatten usw.? Wäre es u.U. plausibel, von einem »Werden« anstatt von einem »Ist«-Zustand zu sprechen, um damit einer dauerhaften Veränderung von Sozialpädagogik gerecht zu werden? Wäre die Zuschreibung, die Sozialpädagogik sei »ein Produkt« von etwas anderem, möglicherweise treffender durch eine andere Attribution zu ersetzen, um die Selbständigkeit oder die Eigenaktivität von Sozialpädagogik stärker zu betonen? Ist die »Moderne« tatsächlich die einzig sinnvolle Zuschreibung an vergangene (und gegenwärtige) Integrationsverhältnisse? Und stünde angesichts dieser Unklarheiten nicht besser ein Fragezeichen statt eines Punktes am Ende des Satzes? Die Plausibilität des Satzes leidet also bei näherer Betrachtung. Dies soll im Folgenden unter Bezug auf die »Moderne« ausgeführt werden, um die der Sinngehalt des Satzes zentriert ist. Ihr sind Verstehensvorgaben eingeschrieben, die dekonstruiert werden müssen, um anders verstehen zu können, auf welche Weise Sozialpädagogik sich selbst beschreibt, wenn sie als »Produkt der Moderne« verstanden sein will. Angesichts der hohen Bedeutung subjekttheoretischer Bezüge der Sozialpädagogik (vgl. Winkler 2003) sind die Ausführungen nicht allein auf Modernität ausgerichtet, sondern sie zielen notwendigerweise auch auf einen ihrer engsten Verbündeten, auf Individualisierungsthesen. Wer in der Sozialpädagogik über Modernität spricht, thematisiert in der Regel auch Individualisierung (und umgekehrt). Die Sozialpädagogik als Einrichtung der Moderne zu interpretieren, lässt nach den Möglichkeiten und Wegen zeitgenössischer Subjekt- und Identitätskonstitution fragen.

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2. M ODERNISIERUNG UND I NDIVIDUALISIERUNG 2.1 Temporalisierung Das kulturelle Selbstverständnis, ›modern‹ zu sein, hat längst hegemoniale Bedeutung erlangt. Selbst wenn mitunter Kritik an der »Kautschukformel« (Wehler 2000: 227) »Modernisierung« artikuliert wird und von relativ inhaltsleeren »›großen‹ Verallgemeinerungen« (Trotha 1997: 19) wie der Bezeichnung »Moderne« gesprochen wird, ist die Tatsache unausweichlich, dass sich gegenwärtige Gesellschaften als »modern« interpretieren. Auch Versuche, durch Präfixe wie »Post-«, »Spät-« oder »Hyper«-Moderne neue Arten gesellschaftlicher Ordnungsbildung zu konstatieren, schließen an die mit der Semantik der »Moderne« etablierten Selbstverständlichkeiten an und führen sie weiter. Betrachten wir die Semantik also zunächst mit Blick auf einen Kernpunkt: die von ihr angesprochene zeitliche Ordnung. Geschichte wird zu einem offenen Prozess, der durch menschliches Handeln geprägt wird; sie wird als Fortschrittsoption gelesen, während theologische und naturalistische Konzeptionen zeitlicher Entwicklung relativiert werden. In den Worten Kosellecks (2010: 79): »Mit zunehmender Reflexion auf den Fortschritt wird die naturale Zeitmetaphorik zurückgedrängt, sie reicht nicht mehr aus, um die Erfahrungen neuzeitlicher Geschichte zu umschreiben. So wird per negationem eine genuin geschichtliche Zeit freigelegt, die eine offene Zukunft kennt, die die Zielbestimmungen in den Vollzug des Handelns hineinnimmt.«

In einem geschichtlichen Verlauf geordnete Ereignisse werden als Selbsterzeugnisse menschlicher Handlungen identifiziert, weshalb Koselleck von einem »Reflexionsbegriff« (a.a.O.: 80) des Fortschritts spricht. Er fordert dazu auf, realisierte Zeit nicht nur hinzuzunehmen oder sie in metaphysischen Dimensionen zu reflektieren. Vielmehr wird Rechenschaft darüber eingefordert, wie und warum Zeit auf eine bestimmte Art und Weise verbracht und (nicht) zu realisierungsfähigen Zukunftsentwürfen genutzt wurde – dabei voraussetzend, dass Zeit für eine Verbesserung jeweils als verbesserungswürdig definierter sozialer Umstände eingesetzt werden kann. Eschatologische oder zirkuläre Zeitmodelle wurden damit sukzessive obsolet. Pestalozzi (1952 [1802-03]: 141) beispielsweise ging noch von einem

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»ewigen Zirkel« aus, der geschichtlich durchlaufen werde; die Menschheit schwanke »seit Jahrtausenden zwischen einem ewigen Streben nach Veredlung und einem ewigen Fehlen ihres Ziels; sie lebt in einem ewigen Zirkel, der immer von Barbarey ausgeht und zur Barbarey hinführt«. Dieser Zirkel, so schrieb er an anderer Stelle, beginne »in Millionen Punkten« und verliere sich »allemal wieder in seinem Anfang« (Pestalozzi 1783/1930: 111). Folgt man diesem Bild, so kann es keinen historischen Fortschritt geben; die Menschheit ist in einem Kreislauf von Verbesserung und problemhafter Rückentwicklung gefangen, aus dem sie nicht herauszutreten vermag. Das aufklärerische Motiv des gesellschaftlichen Fortschritts greift noch nicht. Seit dem 18. Jahrhundert wurden demgegenüber von »Generationen von Sozialphilosophen, Historikern und frühen Sozialwissenschaftlern« Modelle vorgelegt, durch die »ein progressiver Trend zum Anstieg auf ein immer höheres Plateau explizit und implizit unterstellt wurde« (Wehler 2000: 215). Auch Pestalozzi verarbeitete dieses Motiv, denn der Zirkel musste nicht ausweglos immer wieder durchlaufen werden. Es gab die Möglichkeit, ihn aufzubrechen, wenn es gelang »die Mittel aufzufinden, dem ewigen Kreislauf ein Ende zu machen« (Pestalozzi 1952 [180203]: 143). Wurden sie nicht gefunden und eingesetzt, so konnte, dies hatte bereits Rousseau verdeutlicht, der perfektible Fortschritt in sein Gegenteil verkehrt werden. Der Mensch hatte die Möglichkeit zur Selbst-Vervollkommnung, allerdings konnte er gleichfalls neue Unterdrückungsmechanismen etablieren (vgl. 1998 Rousseau [1755]: 456)2 . Das Bewusstsein um die Beeinflussbarkeit der gesellschaftlichen Ordnung führte folglich eine grundlegende Ambivalenz vor Augen; der Glaube an den Fortschritt »hielt nicht sehr lange an« (Bohlender 2010: 109), insofern die dem Menschen zugefallene Macht den Blick für ihren ungenügenden oder missbräuchlichen Gebrauch frei werden ließ. Wie auch immer die realisierte gesellschaftliche Ordnung jeweils bewertet wurde, es waren Regulationsmodi nötig, die angesichts einer als faktisch oder zumindest möglich erachteten gesellschaftlichen Desintegra2 | Rousseau (1983 [1750]: 13) wurde relativ deutlich: »Keine aufrichtigen Freundschaften mehr, kein wirkliches Ansehen, kein gegründetes Vertrauen. Verdächte, Argwohn, Furcht, Kälte, Reserve, Haß, Verrat verbergen sich ständig unter dem gleichaussehenden und scheinheiligen Schleier der Höflichkeit – hinter der so gepriesenen Urbanität, die wir der Aufklärung unseres Jahrhunderts verdanken«.

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tion oder Tyrannei von Menschen über Menschen zur Realisierung einer besseren Zukunft beitragen sollten. Mit Rousseau waren dies die Mittel der Politik – bzw. der Einrichtung eines Gesellschaftsvertrages – und der Erziehung (vgl. Hentig 2003: 37). Ohne dass er deren Verhältnis zueinander eindeutig bestimmt hätte und ohne dass er totalitäre Tendenzen seiner Vorgaben auszuräumen in der Lage gewesen wäre, verdeutlichen Rousseaus Ausführungen die den Menschen zukommende Verantwortung für die Gestaltung ihres Zusammenlebens. Es musste so orientiert sein, dass die aufgebrochene Freiheit nicht durch eine Rückkehr zu überkommenen Ordnungsentwürfen revidiert oder zur Privilegierung weniger auf Kosten vieler Bürger instrumentalisiert wurde. Rousseau war dabei freilich nicht der Erste, der sich mit diesem Problemkreis befasste (vgl. etwa Brockard 1998), aber er kann als einer der »Hauptakteure« angesehen werden, die »die Befreiung der menschlichen Natur aus ihrer sozialen Determination« (Reyer 2004: 337) thematisierten und betrieben. Er legte die Problematik der politischen und sozialen Integration mit besonderer Vehemenz als Aufforderung offen, Freiheit als eine dem Menschen wesentliche Qualität zu gewährleisten. Er mochte dabei mitunter zu radikal argumentiert haben, aber er fokussierte konsequent auf dieses Freiheits- und Ordnungsproblem und lässt sich in der Folge als pädagogisch gehaltvoller Theoretiker moderner Individualisierung und Individualität benennen. An diesen Vorgaben arbeitete sich nicht nur Pestalozzi, sondern auch die weitere Sozialpädagogik ab (vgl. Dollinger 2006: 54ff.).

2.2 Individualität als modernes Risiko Es resultieren zwei Erkenntnisse: Das Problem ›moderner‹ Individualität wurde erstens tatsächlich als Problem entdeckt, da es ohne die Konnotation eines Risikos für die soziale Ordnung nicht hätte definiert werden können. Individualität war und ist eine bearbeitungsbedürftige Größe. Wer von Individualisierung spricht bzw. mit ihr verbundene Themenstränge abhandelt, attestiert dem Einzelnen, entweder eine mindestens potenzielle Gefahr für andere zu sein oder angesichts einer ontologischen Schutzlosigkeit einer von anderen Menschen ausgehenden Gefahr unterliegen zu können. Individualisierung ist folglich in Kategorien der Riskiertheit zu reflektieren (vgl. Schroer 2000). Einzelne Theorien der Individualisierung unterscheiden sich zwar beträchtlich, aber sie fokussieren jeweils auf In-

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dividualität als risikobezogene Größe und kommen hierbei teilweise »zu verblüffend ähnlichen Beobachtungen und Einschätzungen« (a.a.O.: 31). Schroer (2000) sortiert die theoretischen Auseinandersetzungen in drei Diskussionslinien: Zum einen argumentierten Max Weber, Max Horkheimer und Theodor Adorno sowie Michel Foucault in Richtung einer negativen Individualisierung: »Die Wahl- und Entscheidungsfreiheiten des Individuums sind in einem solchen Ausmaß von Standardisierungs- und Uniformierungsprozessen gefährdet, dass der Einzelne zum willenlosen Vollzugsgehilfen gesellschaftlicher Vorgaben verkommt.« (A.a.O.: 14) Konträr hierzu stünden zum anderen Positionen, die nicht auf eine Gefährdung des Individuums durch soziale Bindungen, sondern vice versa des Sozialen durch das freier gewordene Individuum Wert legten. Emile Durkheim, Talcott Parsons und Niklas Luhmann unterstellen der Tendenz nach eine »Steigerungslogik […], nach der eine Steigerung der sozialen Ordnung nicht notwendig zu einem Verlust an individueller Freiheit führt. Im Gegenteil scheinen sich beide Entwicklungen gegenseitig zu bedingen« (a.a.O.: 22), wobei übersteigerte Autonomiebestrebungen des Einzelnen der Gesellschaft gefährlich werden könnten, sodass soziale Sicherungsmechanismen zu installieren seien. Zwischen dem Fokus auf das gefährdete und das gefährliche Individuum sei das in Affinität zu Norbert Elias und Georg Simmel ausformulierte Individualisierungstheorem Ulrich Becks positioniert, das Ambivalenz in den Mittelpunkt rücke. Für die Gesellschaft wie für den Einzelnen zeigten sich Gefahren und Chancen, da Individualisierung mit der Möglichkeit eigenständiger Lebensführungspotenziale einhergehe, aber hieraus Zwänge und Orientierungsprobleme resultieren könnten; das Individuum wird zum »Risiko-Individuum« (a.a.O.: 16). Derartige Typisierungen müssen komplexe und spezifische Argumentationsformen vereinheitlichen, dennoch werden markante Ähnlichkeiten und Differenzen der Positionen deutlich. Sie beziehen sich in zentraler Weise auf die Bedeutung der sozialen Prozesse für die Individuen und ihre Freiheitschancen. Die Beziehung von Individuum und Gesellschaft wird zur Analyse riskanter Einflussnahmen bzw. Wechselwirkungen, die entweder das Subjekt, das Soziale oder beide in die Gefahr bringen, vom jeweiligen ›Gegenpart‹ vereinnahmt oder missbraucht zu werden. Wird bedacht, dass als zentraler Reflexionspunkt sozialpädagogischer Theoriebildung das Konfliktverhältnis von Individuum und Gemeinschaft benannt wird (vgl. Reyer 2002), so macht dies die hohe Anschlussfähigkeit von Individualisierungsannahmen für die Sozialpädagogik sichtbar (s.u.).

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Zweitens wird deutlich, dass Individualisierung insofern ein relationales Konzept ist, als sich der Blick auf sie aus Ordnungsentwürfen ergibt. Wer z.B. eine soziale Freisetzung von Individuen unterstellt, kann dies nur durch die Interpellation überwundener oder noch weitergehend zu überwindender Integrationsformen unternehmen; in diesem Sinne sind die Konzepte Individualität und Modernität eng verbunden. Dies gilt sowohl für das kulturelle Verständnis von Modernität wie auch für wissenschaftliche Modernisierungstheorien: Auf der Ebene alltäglicher Erfahrung war u.a. mit der Renaissance die Tendenz verbunden, »dass Menschen in Europa begannen, sich als Individuen zu denken« (Abels 2010: 21). Dieser »Mentalitätswandel« (a.a.O.) führte die sukzessive Etablierung des Bewusstseins mit sich, Eigenständigkeit qua Distinktion gegenüber vorgefassten Zuschreibungen einlösen und demonstrieren zu können (und zu müssen). Das Individuum emergierte – zunächst v.a. gestützt durch liberale Positionen und ein rationalistisches Menschenbild, wie es die Aufklärung mit sich führte – als gesellschaftlich freigestelltes und durch seine Individualität sozial integriertes Wesen. Der Einzelne unterschied sich von seinen Mitmenschen und beanspruchte – vorrangig als männliches, gebildetes und besitzendes Subjekt – den Status der Autonomie und Sittlichkeit (vgl. Hettling 2001; Langewiesche 1988). Dies war nicht einzulösen, ohne auf die Bedingungsmöglichkeiten der Konstitution von Individualität zu reflektieren. Wie auch immer man dies im Einzelnen unternahm und praktizierte3, es waren Formeln notwendig geworden, die Auskunft darüber gaben, wie Individualität im Rahmen gegenwärtiger Integrationsverhältnisse zu ermöglichen und zu kontrollieren war (vgl. Fach 2003). Starre, ständische Strukturen ermöglichten zwar rigide Kontrollen und erfuhren im Kontext wachsenden gesellschaftlichen Krisenbewusstseins entsprechende Beliebtheit; aber sie anzustreben war 3 | In pädagogischen Kontexten waren bedeutsame Bezugspunkte z.B. Rousseaus (1998 [1762]) im »Emil« geleistete Konstitution einer pädagogischen Provinz, Herbarts (1964 [1802]) im Vertrauen auf die »miterziehende Welt« ausgearbeitetes Konzept eines erziehenden Unterrichts oder Hegels (1986 [1821]: 345) Fokus auf Bildung als »harte Arbeit« des Subjekts an sich im Rahmen einer ausdifferenzierten Gesellschaft; aussagekräftig war ferner Magers (1989 [1848]) Forderung nach einer Selbstbemächtigung der bürgerlichen Gesellschaft mit Hilfe einer sozial ausgeformten Pädagogik usw.

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nur noch eine Option neben anderen (vgl. Schraepler 1964). Ihr alternativloser, selbstverständlicher Charakter war verloren, und mit einer flexiblen, Individualität zulassenden Form des sozialen Lebens waren sie auf lange Sicht unverträglich. Dem Verlangen nach Individualität korrespondierte eine Repräsentationsform des Sozialen, die Raum für den Einzelnen ließ, sozialen Wandel anerkannte und Fortschritt und Rationalität wertschätzte, wie dies für die Semantik der »Moderne« zutrifft. In Gebrauch mindestens seit dem fünften Jahrhundert, frühzeitig auch im Sinne der Bestimmung einer besonderen Epoche (vgl. Gumbrecht 1978: 97), wurde sie seit der Aufklärung sukzessive im heutigen Verständnis konnotiert. Zunächst wurde auch das Ideal der Antike noch mit einem ›modernen‹ Selbstverständnis in Einklang gebracht (vgl. Piepmeier 1984: 54), in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war dann die »Ablösung des Gegenwartsverständnisses vom Vorbild der Antike theoretisch vollzogen worden und in die Sprachnorm eingegangen« (Gumbrecht 1978: 109). Die »Moderne« war eigenständig geworden und ließ Individualität ohne die Vorbildfunktion älterer Epochen zu. Und – besonders attraktiv für sozial-/pädagogische Krisentheorien – sie war frühzeitig nicht mit einem naiven Fortschrittsglauben assoziiert, sondern schwankte zwischen Affirmation und Desintegrationsängsten. Positivem Fortschritt stand die von ihm möglicherweise generierte Entfremdung, Instrumentalisierung und Singularisierung des ›modernen‹ Menschen gegenüber. Als sicher galt lediglich Veränderung, die als dauerhafte Erfahrung institutionalisiert wurde: Dem »Modernitätsbewusstsein des 20. Jahrhunderts«, so Gumbrecht (a.a.O.: 126), war ein »Imperativ des Wandels« eingeschrieben. Auf der Ebene von Modernisierungstheorien werden Erfahrungen permanenter Veränderung, subjektiver Belastung oder krisenhafter Entwicklungen theorieimmanent kanalisiert. Indem sie auf dauernden Wandel hinweisen, benennen die Theorien dabei als statische Elemente Kriterien, die Auskunft über die Modernität einer Gesellschaft geben und sie erklären. Mitte des 20. Jahrhunderts kamen Theorievarianten auf, die vorrangig auf ökonomische und politische Entwicklungsprozesse abstellten und ›moderne‹ mit ›vor-‹ oder ›prämodernen‹ Gesellschaften kontrastierten. Degele und Dries (2005: 18) beschreiben diesen »klassischen« Modernisierungsbegriff mit Hilfe von vier Merkmalen: Es herrschte die Annahme eines progressiven Fortschritts vor (da eine neue Stufe der Entwicklung erreicht werde), der systemisch ablaufe (d.h. es werden verschiedene Dimensionen der Ge-

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sellschaft tangiert), der zudem global gerichtet sei (da er allgemein relevante Kennzeichen umfasst) und der ferner irreversibel vonstatten gehe. In diesem Sinne »wird z.B. von einem Modernitätsgefälle zwischen Nord- und Südeuropa oder zwischen Ost- und Westeuropa gesprochen« (Büchner 2006: 235). Modernität fungiert als evaluative Richtgröße, an der andere Gesellschaftsformen, Milieus oder Institutionen bemessen werden. Dieser Modernisierungsbegriff kann unproblematisch erscheinen, solange die »hohe Normativität einerseits und die Annahme von Linearität und gerichteter Entwicklung andererseits« (Baader 2004: 17) nicht in Zweifel gezogen werden. Werden die US-amerikanische und/oder westliche europäische Gesellschaften als Normalmaß gesellschaftlicher Entwicklung anerkannt und wird von universalem, umfassend realisiertem Fortschritt ausgegangen, der zu ihnen als – zumindest vorübergehend gültigem – Fix- und Zielpunkt hinführt, so kann eine derartige Modernisierungstheorie Anwendung finden. Allerdings sind diese Voraussetzungen längst hinfällig geworden. Kritiker wiesen die perspektivische Konstruktion der nur scheinbar universalen Modernisierungstheorie nach (vgl. etwa Knöbl 2001; Wehling 1992). Nicht zuletzt realhistorische Ereignisse wie der Vietnam-Krieg, Bürgerrechtsbewegungen, Armutsproblematiken, persistent hohe Quoten von Arbeitslosigkeit usw. führten zu einer grundlegenden Schwächung dieser Sichtweise (vgl. Wehler 2000: 233) und zu Versuchen, Modernisierungstheorien neu zu begründen. Wehler etwa setzt Hoffnungen auf eine modifizierte, an Max Weber geschulte und multidimensional angelegte Modernisierungstheorie (zu weiteren Konzepten vgl. Degele/Dries 2005; Loo/Reijen 1992). Grundlegende Kritik an Modernisierungstheorien besteht dennoch weiter, insbesondere mit Blick auf ›vergessene‹ Voraussetzungen der in Modernisierungstheorien entfalteten Modernitätsbegriffe. Eine wichtige Kritik legte Bruno Latour (2008) mit dem Hinweis vor, in der etablierten Vorstellung einer ›Moderne‹ blieben wesentliche Akteursgruppen – in seinem Sinne Hybride von Objekten und Menschen – ausgeblendet, sodass einseitig ausgerichtete Positionen eingenommen würden. Die Vorstellung einer Moderne werde »immer im Verlauf einer Polemik eingeführt, in einer Auseinandersetzung, in der es Gewinner und Verlierer, Alte und Moderne gibt« (a.a.O.: 19). Die Rede von einer ›Moderne‹ ist demnach normativ orientiert (vgl. auch Baader 2004; Haring 2001) und weist auch in neueren theoretischen Varianten die Tendenz auf, auf Fortschrittlichkeit und Komplexitätssteigerungen abstellende Ordnungsbegriffe durchzusetzen,

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während alternative Sozialformen diskreditiert (oder auch romantisiert) werden. Die analytische Aussagekraft des Signifikats ›Moderne‹ ist demgegenüber gering. Wird anerkannt, dass ›Modernisierung‹ keinen universellen, unilinearen, globalen und irreversiblen Prozess darstellen kann, so ist sie als perspektivenabhängige Thematisierung von Entwicklungslinien zu verstehen, die im Forschungsprozess relevant gemacht werden. An die Stelle eines anspruchsvollen Entwurfs zur Kennzeichnung ahistorischen globalen Fortschritts tritt eine kontingente Sichtweise, deren konkrete Füllung in hohem Maße von der Präferenz einzelner AutorInnen geprägt ist. Was Modernität ›ist‹, resultiert im Wesentlichen aus Signifikationsprozessen, die festlegen, was jeweils als ›modern‹ zu gelten hat. Damit ist das Modernitätskonzept doppelt relationiert: Als temporalisierender Begriff stellt Modernität Verweisungen zu früheren und zukünftigen Ordnungsformen her, die als mehr oder weniger ›modern‹ konstituiert werden; zudem wird sie je nach Perspektive inhaltlich auf unterschiedliche Weise ausgefüllt, indem angegeben wird, was jeweils als ›modern‹ zu verstehen ist (vgl. Hillebrandt 2010).

2.3 Charakteristika Die vorausgehenden Hinweise reden keiner Beliebigkeit das Wort. Sie verweisen stattdessen darauf, dass es unzureichend bleibt, Modernisierungstheorien und -begriffe lediglich auszudifferenzieren, um die Defizite der ›klassischen‹ Vorgaben zu überwinden. Zwar ist anzuerkennen, dass die Komplexität neuerer Theoriemodelle deutlich gestiegen ist und einfache Kausalzusammenhänge ebenso wie Unterstellungen einer universalen Entwicklungslogik kaum noch vertreten werden; Degele und Dries (2005) etwa differenzieren Modernisierung anhand der Teilprozesse der Differenzierung, Individualisierung, Rationalisierung, Domestizierung, Beschleunigung, Globalisierung, Ver- und Entgeschlechtlichung und der Integration, also mit acht Dimensionen, die komplex zusammenspielen und auch gegenläufig wirken können. Angesichts dieser hohen Abstraktionsebene bleibt der Bezug zur gesellschaftlichen Realität allerdings fraglich; möglicherweise könnten weitere Dimensionen hinzugefügt werden und eine genaue theoretische und empirische Erschließung des Ineinandergreifens einzelner Dimensionen scheint mit der gestiegenen Differenziertheit immer weniger leistbar zu sein. Es können zwar immer ausgefeiltere Modelle entwickelt werden, aber trotz ihrer Differenziertheit könnten sie kaum

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dem Anspruch gerecht werden, Aussagen über die Entwicklung ganzer Gesellschaftstypen zu treffen. Modernisierung als objektiven Prozess stringent theoretisieren und nachweisen zu können, verbleibt letztlich als unlösbare Aufgabe – dennoch ist das Konzept der ›Modernität‹ nicht zu leugnen. Zu tief ist der Glaube daran, in einer ›modernen‹ Gesellschaft zu leben, im kulturellen und sozialwissenschaftlichen Selbstverständnis verwurzelt. Es sei deshalb im Folgenden nach charakteristischen Merkmalen des Modernitätskonzeptes gefragt, um verstehen zu können, wie es als Sinnreferenz operiert. Damit geht es weniger um die Konturierung eines objektiv registrierbaren Prozesses als um die wissenssoziologisch geleitete Frage nach den Bedingungen der ihm attestierten Plausibilität. Von einer sozialpädagogischen Perspektive aus scheinen vier Merkmale besonders relevant, die die Attraktivität des Modernisierungsansatzes markieren: a. ›Modernisierung‹ steht niemals selbsterklärend für sich, sondern der Terminus kommuniziert eine spezifische, voraussetzungsvolle Ordnungsvorstellung als Reflexions- und Distinktionsform: Indem eine Sozialität als ›modern‹ qualifiziert wird, wird zu ihr eine Perspektive der Beobachtung eingenommen. Sie beruht auf der Annahme einer Differenz zu anderen Ordnungsformen, die – in welcher konkreten Weise auch immer – als vor- oder nicht-modern gekennzeichnet werden. Häufig wird dabei auf ein überwundenes Stadium der Moderne hingewiesen, das in eine Post- oder Spätmoderne übergegangen sei. Obschon sich die Modellvorstellungen im Einzelnen gravierend unterscheiden und – wie etwa bei Lyotard (1986) – eindeutige epochale Differenzierungen nicht immer intendiert sind, werden Abgrenzungen und Trennlinien kommuniziert, die das soziale Leben und die soziale Zeit ordnen: Soziale Komplexitäten werden semantisch verdichtet und nach Dimensionen der Modernisierung systematisiert. Von hoher Bedeutung sind diesbezüglich differenzierungstheoretische Basisannahmen einer unaufhaltsam wachsenden Spezialisierung bzw. Differenzierung, die Vergangenheiten als relativ einfach strukturierte, traditional gebundene Vorspiele einer neuartig beschaffenen Gegenwart erscheinen lassen. Herbert Spencers, Emile Durkheims, Talcott Parsons’ oder auch Niklas Luhmanns Unterscheidungen distinkter Differenzierungsstufen der gesellschaftlichen Entwicklung zeigen diesbezüglich Affinitäten. Ohne dass sie Gesellschaft und ihren (möglichen) Zusammenhalt auf ähnliche Weise konzipiert hätten, unterstellten sie jeweils eine evolutiv durchschrittene Stufen-

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folge hin zu mehr Komplexität, spezifischerer Arbeitsteilung, größerer Undurchsichtigkeit, höheren Anforderungen an die Individuen usw. Der Argumentation liegt eine Logik des ›Mehr‹ zugrunde, das nach immer weitergehenden Steigerungsformeln verlangt, um zum Ausdruck zu bringen, dass jeweils weitere Stufen sozialer Komplexität erklommen werden. Umgekehrt resultiert aus den Kriterien, die als konstitutiv für den gesellschaftlichen Fortschritt angenommen werden, eine Simplizität der sozialen Vorläuferstufen. Sie kann einem genauen historiographischen Blick zwar nicht immer standhalten (vgl. Münch 2002), aber dies ist der Preis, der für den glaubhaften Eindruck einer neu etablierten Phase der Modernität entrichtet werden muss. Wer mit Modernisierung argumentiert, der sollte, in anderen Worten, nicht zu genau auf die Vergangenheit sehen, denn er würde die Entdeckung machen, dass sie keineswegs die monolithisch, traditional gebundene Vorzeit war, zu der sie modernisierungstheoretisch z.T. gemacht wird (vgl. Mühlfeld 1995). b. Konzepte der Modernisierung (und der Evolution) übernehmen demnach Klassifikationsleistungen. Für die Sozialpädagogik ist es von hoher Relevanz, dass sie sich mit normativen Stellungsnahmen verbinden. Die Semantik der Moderne speist sich aus einer normativen Konnotation von Fortschrittlichkeit, d.h. es wird die Möglichkeit einer verbesserten, rationaleren, Freiheitsräume öffnenden Gestaltung des sozialen Zusammenlebens angedacht. Dies gewährt eine hohe Anschlussfähigkeit für die alltägliche Vorstellung einer durch technische, politische oder andere (Neu-)Entwicklungen erleichterten Lebensführung. Spiegelbildlich steht dieser positiven Konnotation von Modernisierung eine negative gegenüber, denn Modernität verweist auf eine »Ambivalenz von Affirmation und Kritik« (Piepmeier 1984: 60): Die Etablierung einer rationalistisch verfassten Gesellschaft kann dem Subjekt ein »stahlhartes Gehäuse« (Weber 2000 [1920]: 153) überwerfen, technische Neuerungen können überfordern, politische Reformen Selbstzweck werden, Freiheitsgewinne negativ gewendet werden usw. Mit Durkheims Konzept der Anomie wurde am Ende des 19. Jahrhunderts die Krisenangst auf den sozialwissenschaftlichen Punkt gebracht. Die Moral mache angesichts tief greifender Veränderungen, die die Gesellschaftsstruktur in relativ kurzer Zeit erfahren habe, »eine schwere Krise« (Durkheim 1893/1999: 479) durch: »Unser Glaube ist erschüttert; die Tradition hat ihre Herrschaft eingebüßt; das individuelle Urteil hat sich vom Kollek-

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tivurteil gelöst.« (A.a.O.) Wenig später verließ Durkheim die zu diesem Zeitpunkt noch verfolgte Hoffnung, es werde sich zur Überwindung der Anomie »eine neue Moral« (a.a.O.: 480) bilden. Fortschritt, so der kulturkritische Topos, löse moralische Bindungen auf, (technische) Zivilisation und (moralische) Kultur richteten sich gegeneinander und mit der zunehmenden (Post-)Industrialisierung gehe den Menschen das Fundament an unhinterfragten Werten und Normen verloren, das sie zu ihrer Lebensführung benötigten und das sie nicht aus sich heraus zu entwickeln in der Lage seien. Dieses zentrale Motiv, das Fortschritt und Entmoralisierung aneinander bindet, findet sich auch in jüngeren Desintegrationstheoremen revitalisiert (vgl. hierzu auch Sandermann i.d.B.); aus wachsender Freiheit der Individuen scheint sich als Konsequenz »weniger Solidarität«, »mehr Vereinzelung« und »mehr rücksichtslose Durchsetzung« (Heitmeyer 1993: 4) zu ergeben. Die mithilfe modernisierungs- und individualisierungstheoretischer Prämissen konstituierte Gesellschaftssemantik ist in diesem Sinne ambivalent, da aus gesellschaftlichem Wandel soziale und individuelle Probleme abgeleitet werden; neu gewonnene Freiheiten richteten sich gegen die befreiten, nun aber einzeln und überfordert zurückgelassenen Subjekte. c. Ordnungsvorgaben und normative Unterstellungen werden häufig durch markante Polarisierungen unterstrichen. Neben prominenten Gegenüberstellungen wie Kultur versus Zivilisation oder Gemeinschaft versus Gesellschaft findet sich eine Vielzahl normativ konnotierter, polarer Deutungen von Gesellschaftsformationen, die in Stufen der Modernität dekliniert werden: Einheit wird gegen soziale Differenzierung gelesen, Anerkennung gegen Anonymisierung, Natürlichkeit gegen Technisierung, Personalität und Ganzheit gegen ein selektives Interesse am Menschen, Authentizität gegen Instrumentalisierung, dauerhafte Bindung gegen zweckgerichtete Interaktionen, Tradition gegen Entscheidungsoffenheit, Solidarität gegen Rücksichtslosigkeit usw. Die jeweils zuerst genannten Orientierungen erscheinen als Relikte einer vergangenen Zeit, die ein übermächtiger Modernisierungsprozess erodieren ließ. Ein Beispiel gibt Cree (2008: 291), die den Zusammenhang von Sozialer Arbeit und Gesellschaft zu erschließen versucht und dabei eine charakteristische Unterscheidung in vorindustrielle, moderne und postmoderne Gesellschaften referiert. Sie werden durch adjektivische Abgrenzungen näher bestimmt, sodass die vorindustrielle Gesellschaft als feudal, landwirtschaftlich, einfach, religiös und von Aberglaube und

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Tradition geprägt erscheint. Die moderne Gesellschaft sei kapitalistischindustriell, städtisch, komplex, säkular und durch Orientierung an Vernunft und universeller Wahrheit gekennzeichnet, während die Postmoderne einen global organisierten, auf Informationstransfer abstellenden Kapitalismus zeige; sie sei dezentralisiert und fragmentiert und an die Stelle von Vernunft und Wahrheit seien unterschiedliche Haltungen, Ambivalenzen und Kontingenzen getreten. Mit der Gesellschaftsform änderten sich jeweils soziale Problemlagen bzw. deren Repräsentation und die der Sozialen Arbeit zukommenden Aufgaben und Funktionen, sodass sich Soziale Arbeit auf der Grundlage gesellschaftstheoretischer Analysen jeweils neu positionieren muss. Die ›Ursache‹ ihres fluiden Charakters wird in einem anonymen Modernisierungsprozess verortet, der Soziale Arbeit durch die Produktion sozialer Probleme gleichzeitig notwendig macht und zur permanenten Veränderung zwingt. d. Sozialpädagogische Gesellschaftsanalysen sind nicht nur analytisch ausgerichtet, sie zeichnen sich durch eine mehr oder weniger deutliche Interventionsorientierung aus (vgl. Neumann/Sandermann 2008). Im Falle von Modernisierungstheorien kann die Sozialpädagogik unmittelbar an die genannten Punkte anschließen, denn die Thematisierung von Ordnungsvorstellungen, ihre normative Grundierung und die Konstruktion polarer Deutungen der sozialen Entwicklung sind mit Interventionspostulaten inhärent verbunden. Modernisierungstheoretische Antworten auf die Frage, was Gesellschaft ›ist‹, implizieren dergestalt klassifikatorische und normative Perspektiven, die mit sozialpädagogischem Denken nicht nur zufällig korrespondieren. Vielmehr fragt die Sozialpädagogik in ihren zeitdiagnostisch gehaltvollen Gesellschaftsentwürfen Wissen nach, das sozialpädagogisch qualifizierbar ist, d.h. dessen Sozial- und Ordnungsbilder sozialpädagogische Maßnahmerationalitäten favorisieren (vgl. Dollinger 2008). In Bezug auf Individualisierungsannahmen wird dies unten näher erläutert. Beispielhaft sei an dieser Stelle auf die These hingewiesen, im Verlauf von Modernisierungsprozessen sei die Sozialisationsfunktion der Familie reduziert worden oder gar erodiert (vgl. Dollinger 2006: 164ff; Mühlfeld/ Viethen 2009). Aus dieser Annahme ist abzuleiten, es seien spezielle sozial-/pädagogische Instanzen zu implementieren, die funktional äquivalente Leistungen zu ehemals familialen Integrationsleistungen erbringen. Anschaulich demonstrierte Carl Mennicke (1931: 9) eine entsprechende Argumentation, denn es sei von einer »strukturellen Form-

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veränderung« der Familie auszugehen. Stand die ältere Familie »unter dem Zeichen der gemeinsamen Bewältigung der Lebenslast« im Rahmen einer »solidarische(n) Verbindung« (Mennicke 1929: 283) ihrer Mitglieder, so sei im Übergang von der Stände- zur bürgerlichen und schließlich zur industrialisierten Gesellschaft (vgl. Mennicke 1937/2001: 36ff.) eine negative Transformation aufgetreten: Die Beziehungen von Eltern und Kinder seien »weitgehend individualisiert« (Mennicke 1929: 284) worden, sodass es zu einer »sehr tiefgehenden Beeinträchtigung des Charakters der Familie als Erziehungsgemeinschaft« (a.a.O.: 285) gekommen sei. An die Stelle ›natürlicher‹ familialer Erziehung musste deshalb speziell veranstaltete treten. Modernisierung machte für Mennicke aus sich heraus Gegenwirkungen notwendig, die die Form sozialpädagogischer Erziehung annehmen mussten. Das Beispiel ist symptomatisch: Modernisierung wird als epochaler Übergang divergenter Gesellschaftsformationen gelesen. Dieser Transformation werden Deutungen eingeschrieben, die auf erodierende Gewissheiten, moralische Überforderungen, soziale Bindungsprobleme u.dgl. hinweisen, und dies mache Sozialpädagogik notwendig – scheinbar deduziert aus der ›Objektivität‹ sozialen Wandels. Paradox ausgedrückt, führen die jeweiligen Modernitätsbegriffe antimodernistische Impulse mit sich: Die gesellschaftliche Ausgangsbasis des Modernisierungsprozesses sei in der historischen Gegenwart aufgelöst, dennoch sei der Status quo ante nach wie vor – trotz einer grundlegend veränderten Gesellschaftsform – notwendig, um das Aufwachsen junger Generationen gestalten zu können. Sind etwa Gemeinschaften in einer radikalisierten Moderne zerfallen, so müssen sie restituiert werden; sind moralische Orientierungen durch Modernisierung kontingent geworden, so müssen neue Sinnhorizonte definiert werden, die die gleiche Funktion wie die alten übernehmen; sind Traditionen erodiert, so sollen neue Verlässlichkeiten und Routinen eingeführt werden usw. Dem sozialpädagogischen Modernitätsnarrativ ist in diesem Sinne eine Rückwendung eingeschrieben, und zwar eine Rückwendung zu Formen von Ganzheit, Echtheit und Stabilität, die im Moment ihrer Artikulation immer schon verschwunden oder gefährdet sind. Die Sozialpädagogik generiert in ihrer Zeitdiagnostik eine – von Bernfeld (1925/1973) vorgezeichnete – Sisyphos-Situation, da Hoffnungs- und Lösungsformeln definiert werden, die immer weniger verfügbar zu sein scheinen. Zumin-

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dest als Palliativ aber werden sozialpädagogische Substitute der historisch verlorenen sozialen Situation eingefordert. Diese Argumentationsstruktur gründet in einem scheinbar nüchtern diagnostizierten gesellschaftlichen Modernisierungsprozess. In ihm tritt die Sozialpädagogik ohne Interesse und eigene Perspektive auf, und schreibt ihrer Zeitdiagnostik dennoch und gerade dadurch ihre Interessen und Perspektiven ein.4

3. I NDIVIDUALISIERUNG IN DER S OZIALPÄDAGOGIK : D AS ÜBERFORDERTE S UBJEK T Betrachten wir im Folgenden angesichts ihrer für die Sozialpädagogik ausgesprochen hohen Relevanz Individualisierungsthesen näher. Modernisierungsannahmen lassen es unmittelbar plausibel werden, von einer zunehmenden Individualisierung auszugehen (vgl. Degele/Dries 2005; Loo/Reijen 1992)5 .

3.1 Sozialpädagogische Themenkonjunkturen Ebenso wie in den Sozialwissenschaften insgesamt (vgl. als Übersicht Ebers 1995; Kippele 1998; Kron/Horáček 2009; Schroer 2001) ist das Thema »Individualisierung« in der Sozialpädagogik seit ihren Anfängen präsent. Als einen wichtigen Bezugspunkt kann man, obwohl Wilhelm von Humboldts Status in der Sozialpädagogik als ambivalent zu betrachten

4 | Dies teilweise verbunden mit einem klassischen »Kategorienfehler« (Müller 2007: 201): Aus einer Gesellschaftsbeschreibung wird direkt ein Modell abgeleitet, wie Gesellschaft beschaffen sein sollte. 5 | Freilich muss Individualisierung nicht modernisierungstheoretisch begründet werden; sie kann in kulturtheoretischer, politischer, philosophischer oder anderweitiger Hinsicht diagnostiziert werden. Allerdings ist die Verbindung von Individualisierung und Modernisierung für die Sozialpädagogik zentral. Sozialer Wandel in der Gestalt von Modernisierungsprozessen dient ihr als übergeordneter Rahmen zum Ausweis spezifischer Lebensbedingungen von AdressatInnen, deren Subjektivität der Anleitung und Förderung durch die Vermittlung von Bildungsoptionen bedarf.

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ist6, dessen Erkenntnis anführen, dass angesichts grundlegender politischer und gesellschaftlicher Veränderungen der Einzelne Stabilität nur noch in sich finden könne (vgl. Humboldt 1960 [1797]: 506). Dies wurde später, im Kontext explizit sozialpädagogischer Theoriebildung und Selbstvergewisserung, mit dem Hinweis verbunden, das ›bürgerliche‹ Individuum solle durch soziale Assoziationen, Bildung und Besitz eine sozial verträgliche und mündige Form von Subjektivität entwickeln (vgl. Mager 1989 [1848]). Angesichts von Warnungen vor der Tendenz, moderne Gesellschaften könnten sich »in mannigfaltigen, scharf gezeichneten und von einander sehr verschiedenen Gestaltungen individualisiren« (Ballauff 1862: 424), bestand Individualisierung als Problemkategorie fort. Paul Natorp (1974 [1899]: 196) interpretierte sie – im Unterschied zu Humboldt und Mager ohne liberale Basisreferenz und im Widerstand gegen Ballauffs Herbartianismus – als Appell an die Sozialpädagogik, trotz ihrer Ausrichtung an sozialen Gemeinschaften auch Prozesse »zunehmender Individualisierung« zu ermöglichen. Diese sollten mit einer gemeinschaftlich fundierten, egalitär strukturierten Gesellschaftsordnung ausbalanciert werden. Auch Herman Nohls (1933-35/1963: 116) Hinweis auf das Problem der »großen pädagogische Antinomie« von Individuum und Kollektivität lässt sich als Aufforderung lesen, das – allerdings von Nohl kultur- und nicht wie bei Natorp sozialtheoretisch gedeutete – Individualisierungsthema sozial-/pädagogisch aufzuschließen. Mit der Rückkehr der Sozialpädagogik zu sozialwissenschaftlichen Positionen in den 1960er und 1970er Jahren wurden die Themenkreise der Modernisierung und Individualisierung dann wieder unmittelbar anschlussfähig. Von dieser prinzipiellen Relevanz von Individualisierungsannahmen – ohne die eine Sozialpädagogik im aktuellen Sinne nicht vorstellbar wäre – sind Thesen zu unterscheiden, die auf einen radikalisierten Schub der Individualisierung abstellen. Neben weiteren Autoren propagierte sie insbesondere Ulrich Beck (1983; 1986). Dessen Ausführungen wurden sehr breit aufgenommen, obschon er zunächst noch mit gewisser Zurückhaltung argumentierte, indem er anmerkte, »ohne alle methodischen Sicherungen« (Beck 1986: 13) zu theoretisieren, und obwohl seine Auslassungen zu6 | Sein Bildungskonzept gilt als wichtige Referenz kritischer sozialpädagogischer Bildungstheorie (vgl. Sünker 2001: 163ff), wobei das von ihm aufgeworfene Verhältnis von Individualität und Sozialität kontrovers diskutiert wird (vgl. Dollinger 2006: 86ff).

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nächst eher wegen ihrer zeitdiagnostischen Kühnheit und ihrer schriftstellerischen Qualitäten statt aufgrund einer stringenten Gegenwartsanalytik geschätzt wurden (vgl. Esser 1987; Joas 1988). In den 1990er Jahren wurde der These einer durch einen historisch neuartigen Modernisierungsschub vorangetriebenen radikalisierten Individualisierung in der Sozialpädagogik großer Raum geöffnet (vgl. Baader 2004). Aktuell ist das Interesse zwar abgeflaut; es erreichte einen Höhepunkt in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre und ebbte in der Folgezeit ab (vgl. Dollinger 2007)7. Allerdings ist das Thema noch beinahe allgegenwärtig, häufig im Sinne einer Basisannahme, die nur noch genannt, aber nicht mehr besonders begründet werden muss. Sie fungiert als Ausweis einer gesellschaftstheoretischen Position, deren Konnotationen in unterschiedlichen Zusammenhängen Verwendung finden können. So werden Individualisierungsprozesse z.B. im Rahmen des Eintritts in den Ruhestand betont (vgl. Knopf 2001: 24f.) oder insgesamt als Zugang zu einer Sozialpädagogik der Lebensalter erschlossen (vgl. Böhnisch 2001: 29ff.). Auch bezüglich allgemeiner Charakterisierungen von Aufgaben Sozialer Arbeit »in der individualisierten Risikogesellschaft« (Rauschenbach 1999: 231) sind die Thesen einschlägig, was außerdem für die Begründung von sozialpädagogischer Familienhilfe (vgl. Helming u.a. 1999: 152ff.), die Planung und Durchführung von Präventionsprogrammen (vgl. Böllert 2001: 1396f.), die Genese von deviantem Verhalten (vgl. Koenen 1999), die Definition sozialer Probleme (vgl. Peters 2002: 75f.), die Entwicklung von Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit (vgl. Knuth/Pothmann 2009: 677), Kooperationen Sozialer Arbeit z.B. mit der Polizei (vgl. Möller 2010: 21), Debatten um Ethiken Sozialer Arbeit (vgl. Kruip 2007: 69), Biographieforschung (vgl. Krüger 2006: 16), biographische (vgl. Hanses 2000: 362) und hermeneutische Diagnostik (vgl. Mollenhauer/Uhlendorff 1992: 61) sowie eine Fülle weiterer Themen gilt. Man

7 | Dieser Verlauf lässt sich für die deutschsprachige Debatte zeigen, während die angloamerikanischen sozialwissenschaftlichen Diskurse anderen Referenzen folgten (vgl. Kron 2003). In der deutschen Sozialpädagogik wurde das Thema zunächst breit aufgenommen und in der Folge von anderen Themen überlagert. Dies trifft auch für die Soziologie zu, in der aktuell kein besonderes Interesse an theoretischen Debatten zu Individualisierung mehr besteht; Kron und Horáček (2009: 6) sehen derzeit v.a. Interesse an empirischen Analysen zu Einzelaspekten.

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kann also mit Recht von einer hohen Relevanz der Individualisierungsthesen in der Soziale Arbeit sprechen. Ein Bereich sei genauer betrachtet, da Individualisierungsannahmen häufig verwendet werden, um die Lebensbedingungen jugendlicher AdressatInnen zu erschließen. Regelmäßig nehmen in dieser Hinsicht die Kinder- und Jugendberichte der Bundesregierung Bezug auf Individualisierung. Im achten Bericht, dem im Zuge der deutschen Wiedervereinigung, der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) sowie als Gesamtbericht der Jugendhilfe besondere Bedeutung zukommt, werden Individualisierungstendenzen als »Prozesse der zunehmenden Notwendigkeit der persönlichen Entscheidung über Lebensentwürfe« (BMJFFG 1990: 29) bestimmt, da Standardisierungen von Lebensentwürfen obsolet und Orientierungen an vorgegebenen Normen und Werten problematischer geworden seien. Es resultierten ambivalente Folgewirkungen, da sich erweiterte Gestaltungsräume ergeben hätten und zugleich eine Überforderung drohe, da unhinterfragte Normalitätsentwürfe der Lebensplanung kaum noch subjektive Plausibilität entfalten könnten. Die diesbezüglich unterstellte Annahme einer gebundenen, Lebensverläufe determinierenden Frühmoderne, die durch eine pluralisierte und individualisierte Moderne »ersetzt« (a.a.O.: 52) worden sei, wird im zehnten Kinder- und Jugendbericht differenziert (vgl. BMFSFJ 1998: 97). Es wird ebenfalls von ambivalenten Individualisierungsprozessen ausgegangen, wobei Individualisierung jedoch kein auf alle Kinder gleichartig wirkender Prozess sei, da »die Spielräume für individuelle Lebensgestaltung […] äußerst unterschiedlich« (a.a.O.: 97) seien. Trotz gesellschaftlicher Pluralisierung und der Virulenz von Individualisierungstendenzen bestünden Stabilitäten und langfristige Verantwortlichkeiten weiter. Demgegenüber formuliert der 11. Kinder- und Jugendbericht: »Die Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen zeichnen sich durch die Entwicklung horizontaler Disparitäten und durchgängige Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung aus.« (BMFSFJ 2002: 44; Hervorh. d.A.) Es wird auf die Strittigkeit entsprechender Annahmen hingewiesen (a.a.O.: 105), allerdings auch festgestellt, radikalisierte Individualisierung bringe für die Subjekte riskante Prozesse »des Diffuswerdens, der Auflösung von verbindlichen Fahrplänen durch das Leben und von klaren biografischen Vorgaben« mit sich, sodass eine »wachsende Bedeutung individueller Entscheidungen« (a.a.O.: 246) festgestellt wird. Ebenfalls genannt, allerdings zurückhaltender, werden Individualisierungsprozesse dann im 12. und 13. Kinder- und Jugend-

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bericht. Etwa der 13. Bericht postuliert die Anforderung an Jugendliche, eine kohärente Form von Identität zu etablieren und verweist in diesem Kontext auf die »ungebrochen wirksamen Individualisierungs-, Pluralisierungs-, Entgrenzungs- und spätmodernen Vergesellschaftungsprozesse« (BMFSFJ 2009: 119). Es erscheint unnötig, weitere Belege für die These anzuführen, dass Individualisierungsannahmen vermutlich in jedem für die Soziale Arbeit relevanten Themenfeld auftreten und von grundlegender Bedeutung für eine Selbstpositionierung der Sozialpädagogik sind – wie die Kinder- und Jugendberichte zeigen: gerade auch gegenüber öffentlichen und politischen Akteuren. Ohne dass das Konzept ›Individualisierung‹ einheitlich verwendet würde, steht häufig die an Ulrich Becks Vorgaben orientierte Annahme einer radikalisierten Individualisierung im Zentrum, die moralisch-normative Gewissheiten aufgelöst, soziale Bindungen erodiert und Lebensverläufe pluralisiert habe, in denen mithin der Einzelne »zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen« (Beck 1995: 189) geworden sei. Diese Annahme wird je nach Interessenslage und thematischem Bezug in der Sozialpädagogik unterschiedlich verarbeitet und spezifiziert; es ist von einem sehr weit dehnbaren und multipel einsetzbaren Konzept zu sprechen. Dies geht zwingend zu Lasten inhaltlicher Schärfe. Entstammte die neuere Individualisierungsdebatte vorrangig dem Umfeld einer subjektorientierten Ungleichheitstheorie und -forschung (vgl. Gellert 1996) sowie einer sozialwissenschaftlichen Lebenslaufforschung (vgl. Kohli 1985), so wurden diese Bezüge längst verlassen und fanden – zunächst über zeitdiagnostische Vergewisserungsversuche des gesellschaftlichen Standorts Sozialer Arbeit – Eingang in (vermutlich) alle Themenstellungen mit sozialpädagogischer Relevanz. Mit nur leichter Übertreibung ließe sich festhalten, dass Texte ohne legitimatorischen Bezug auf Individualisierungsprozesse schwieriger zu finden sind als Texte mit Referenz auf sie. Diese These kann auch insofern vertreten werden, als Soziale Arbeit mit der Bearbeitung sozialer Problemen befasst ist, von denen Subjekte in ihren jeweils individuellen Lebensumständen betroffen sind. Da Individualisierungsthesen sowohl zur (makrosozialen) Problematisierung gesellschaftlicher Prozesse wie auch zur (mikrosozialen) Thematisierung individueller Bewusstseins- und Handlungsformen Anwendung finden können, überrascht die für die Soziale Arbeit ubiquitäre Einsetzbarkeit von Individualisierungsthesen wenig. Sie wurden (und werden) nicht selten ohne empirische Prüfung

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als zutreffende Beschreibung zeitgenössischer Lebensbedingungen und Handlungsanforderungen vorausgesetzt und in sozialpädagogischen Debatten eingesetzt8 .

3.2 Zwischen Modethema und diskursiver Realität Bedenkt man die vorübergehend hohe, dann sukzessive abflauende und insgesamt wenig empirisch interessierte Nachfrage nach Individualisierungsthesen, so könnte von einem Modethema gesprochen werden. Eine solche Einschätzung muss allerdings Besonderheiten der sozialpädagogischen Nachfrage nach Individualisierungsthesen beachten. Es ist in Rechnung zu stellen, dass, wie oben angemerkt, Individualisierung als konstitutives Thema der Sozialpädagogik fungiert. Ohne Reflexionen auf sozial ermöglichte Optionen der Individualitätsgestaltung und ohne die Annahme einer – in welcher konkretisierten Form auch immer – mindestens potenziell konflikthaften Relation von Individualität und Sozialität wäre die Sozialpädagogik nicht in ihrer aktuellen Erscheinungsform konstituiert worden. Die diskursive Realität entsprechender Einschätzungen ist anzuerkennen; sie sind dem kulturellen Selbstverständnis eingeschrieben und an dieses Bewusstsein kann die Sozialpädagogik anknüpfen, um sich zu legitimieren. ›Modernität‹ und ›Individualität‹ fungieren als kulturelle Kollektivsymbole im Sinne stereotypisierter Wahrnehmungsfolien, die nahezu automatisiert den Anschein des Verstehens hervorrufen. Sie müssen nur ansatzweise benannt werden, um historisch etablierte Konnotationsbezüge in Gang zu setzen, da »ihre Grundstruktur allgemein bekannt ist« (Link 1990: 192). Link (2006: 413) beschreibt Kollektivsymbole als »die Gesamtheit der am weitesten verbreiteten Allegorien und Embleme, Vergleiche und metaphorae continuatae, Exempelfälle, anschaulichen Modelle und Analogien einer Kultur«. Das Bewusstsein, in einer ›modernen‹ Gesellschaft zu leben, in der jedes Individuum ›seinen‹ Platz finden muss, ist in diesem Sinne als Kernpunkt der Reflexion gegenwärtigen Lebens zu betrachten. Dieses Bewusstsein mag jeweils unterschiedlich theoretisiert werden und die Annahme eines selbstwirksamen Subjekts, das von äuße8 | Diesem Vorgehen stehen nur relativ wenige Versuche gegenüber, durch eine Aufarbeitung des empirischen Gehalts die Tragfähigkeit entsprechender Thesen zu analysieren und zu differenzieren (vgl. etwa Thole u.a. 2007).

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ren Vorgaben relativ unbehelligt als ›Bastler‹ seiner Biografie auftritt, lässt sich leicht durch empirische Befunde erschüttern (vgl. Friedrichs 1998; Geißler 1996; Dollinger 2007; s.a. Mayer u.a. 2010). Aber angesichts des hohen kollektivsymbolischen Gehalts und der nahezu unbeirrbaren Alltagsplausibilität einer radikalisierten ›Modernität‹ und einer anforderungsreichen ›Individualisierung‹ greifen empirische Befunde stets tendenziell ins Leere, wenn sie gegen diese Symbolik anzugehen suchen. Zu eindeutig scheint sie zu vermitteln, wie das gegenwärtige Leben ›funktioniert‹. Das Genre der Zeitdiagnosen, so Schimank (2000: 17), will »der Spekulation Raum geben«, und dies plausibel zu gestalten gelingt umso überzeugender, je mehr an alltägliche – und auch in der Wissenschaft verbreitete – kollektivsymbolische Überzeugungen appelliert werden kann. Im Falle von Thesen einer radikalisierten Individualisierung betrifft dies den Anschein, Menschen seien heutzutage vorrangig auf sich gestellt, könnten sich ›ihren‹ Lebensweg selbst zurechtlegen und planen, seien dann mit den Folgewirkungen ihrer Entscheidungen konfrontiert und müssten trotz der hohen Risiken dieses Biografiebastelns die Verantwortung selbst tragen. An diese Plausibilitätskonstruktionen kann im sozialpädagogischen Kontext das zentrale Motiv einer überforderten Subjektivität angeschlossen werden: Die Gesellschaft sei komplizierter geworden, weshalb der Einzelne überfordert sei und bei der Konstitution seiner Lebensführung sozialpädagogisch gestützte Orientierungen benötige. In diesen Argumentationsketten generieren Modernisierungstheorien und Individualisierungsthesen überforderte Subjekte, die unmittelbar zu AdressatInnen der Sozialpädagogik werden. Sie treten als ModernisierungsverliererInnen und/oder als Subjekte in Erscheinung, denen Verlässlichkeiten und unhinterfragte Handlungsorientierungen abhanden gekommen sind, die sie zur Lebensführung benötigten, und die nun speziell veranstaltet, institutionell etabliert sowie sozialpolitisch und -rechtlich gestützt werden müssten. Angesichts der Orientierung sozialpädagogischen Handelns an der Subjektivität Einzelner und der für sie zu realisierenden Anwaltschaft kann dies gegebenenfalls mit dem Anschein verbunden werden, Soziale Arbeit habe sich ihrer Kontrolldimensionen entledigt und widme sich nun ausschließlich dem hilfebedürftigen Subjekt (vgl. zu dieser Debatte Hünersdorf 2010; Peters 2002: 138ff.). Zwar ist diese These auch mit Becks Vorgaben eines Individualisierungsprozesses unvereinbar, da er explizit auf institutionalisierte soziale Abhängigkeiten aufmerksam macht, innerhalb derer die individualisierten Einzelnen zu agieren hätten (vgl. Beck

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1986: 210). Gleichwohl zeigen derartige Annahmen die Option, Individualisierung im Sinne einer spezifischen Interessenslage auszuformulieren und ihre hohe Suggestivkraft legitimatorisch zu nutzen. Geht hierbei das Bewusstsein verloren, dass individualisierungsbezogene Zeitdiagnosen – wie jegliche Zeitdiagnose – sowohl theoretisch wie auch empirisch selbstkritisch geprüft werden und prüfbar sein müssen (vgl. Münch 2002: 441), dann kippen sie in ihrem Appell an kollektivsymbolische Plausibilitäten in Ideologie um, die sich – dies zeigen die jüngeren aktivierungspolitischen Imperative der Übernahme von Eigenverantwortung durch vermeintlich individualisierte Einzelne besonders deutlich – gegen die AdressatInnen Sozialer Arbeit richten kann.

4. R EFLE XION Debatten um eine radikalisierte Individualisierung stehen gegenwärtig nicht im Vordergrund sozialpädagogischer Reflexion. Sie wurden in verschiedene Richtungen weitergeführt, z.T. als Thesen einer Entgrenzung von Lebensverhältnissen und sozialpädagogischen Zuständigkeiten, z.T. als breitere Bezüge einer Reflexion auf eine ›zweite Moderne‹ oder sie wurden in gänzlich andere Themenstellungen involviert. Allerdings sind Individualisierungsannahmen nach wie vor sozialpädagogisch präsent, wenn auch immer weniger als expliziter Diskussionsgegenstand. Angesichts ihrer prinzipiellen Anschlusskapazität für die Legitimation sozialpädagogischen Wissens und Handelns und angesichts der zyklischen Aufmerksamkeit, die ihnen entgegengebracht wird, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis vor einer noch weitergehenden, noch radikaleren, noch reflexiveren Form von Individualisierung gesprochen wird und sozialpädagogische Gegenmaßnahmen in Stellung gebracht werden. Individualisierungsthesen und auch Theorien der Modernisierung sind der Sozialpädagogik dienlich, da sie gleichzeitig sowohl eine Aufklärung über die gesellschaftliche Verortung und Funktionalität Sozialer Arbeit als auch eine Erschließung der Lebensumstände ihrer AdressatInnen versprechen. Erkennt man dies an und geht davon aus, dass entsprechende Annahmen auch zukünftig von hoher Bedeutung für die Soziale Arbeit sein werden, so scheint es angezeigt, auf die hohe Voraussetzungshaftigkeit dieser Entwürfe hinzuweisen, um einen etwas vorsichtigeren Gebrauch anzumahnen, als er derzeit teilweise zu bemerken ist. Modernisierung

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und Individualisierung scheinen zwar häufig für sich zu sprechen, aber sie erzeugen diesen Eindruck im Zusammenspiel mit konnotativen Referenzen, die bewusst zu halten sind. Insbesondere wird durch die Berufung auf ›Modernisierung‹ der Anschein einer langfristigen gesellschaftlichen Entwicklung erzeugt, die durch Teilentwicklungen u.a. der Rationalisierung, der Differenzierung, der Beschleunigung und der Individualisierung spezifiziert werden könne, die allerdings keine weitergehende Begründung zu verlangen scheint. Modernisierungsprozessen wird »eine geschlossene, sich selbst reproduzierende Struktur« (Reckwitz 2008: 229) zugeschrieben. Soziale Entwicklung scheint nicht primär ein politisch begründeter und (mit-)verantworteter Prozess zu sein, sondern es wird ein eigenlogischer, mehrschichtiger Wandel der Gesellschaft thematisiert, der jeweils eigenständige Stufen einer mehr oder weniger modernisierten Sozialität konstituiert. Obwohl diese Annahmen einen Ausgang von säkularen Ordnungskonstruktionen nahmen, scheinen Prozesse der Modernisierung und Individualisierung nicht wirklich beeinflussbar zu sein, da sie als übermächtige, anonyme Entwicklungen auftreten. Sie bringen, so scheint es, aus sich heraus jeweils besondere Anforderungsprofile mit sich, die mit spezifischen Modernisierungsphasen – der ›Vormoderne‹, der ›Moderne‹, der ›Postmoderne‹ oder ähnlichen Phasenkonstruktionen – assoziiert sind. Übrig bleibt die Vorstellung von einer Gesellschaft, die zumindest früher stabil gewesen sei und die trotz aller aktuellen Pluralisierungen und Differenzierungen eigentlich stabil und moralisch integriert sein sollte. Da dies derzeit nicht mehr der Fall sei, resultiert die Universaldrohung von Sozialisationsdefiziten und durch sie bedingten Überforderungen; es emergieren ›ModernisierungsverliererInnen‹ als antiquierter Rest von Menschen, der dem sozialen Wandel nicht gewachsen zu sein scheint – und der durch Soziale Arbeit entweder fit gemacht oder, in kritischer Lesart, zumindest verwaltet werden soll. Es könnte überlegenswert sein, die Frage danach zu stellen, ob sich ›ModernisierungsverliererInnen‹ tatsächlich aus einem umfassenden Prozess sozialen Wandels ergeben, oder ob es sich bei dieser Klassifikation nicht eher um eine diskursive, politische Ausschließung handelt. Der ›Modernisierungsverlierer‹ würde dann als Nachfolger des Landstreichers und des Paupers sichtbar, die zu früheren Zeiten als diskursive Bedrohungen stilisiert wurden, durch welche die ›legitime‹ Ordnung sich ihrer Rechtmäßigkeit versicherte (vgl. Bohlender 2010; Castel 2000). Politisch moti-

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vierter Ausschluss sozialer Gruppen würde dann wieder zu politisch motiviertem Ausschluss und nicht zum Anschein einer Systemlogik. Reflexionsarbeit, die derartige Klassifikationen hinterfragt, hätte nicht vorrangig auf einen objektiv konstatierbaren Modernisierungs- und Individualisierungsprozess Bezug zu nehmen, sondern sie müsste das Modernitätskonzept als kontingente Deutung in den Blick nehmen, die sich auf konstitutiven Ausschluss gründet. Trotz des hegemonialen Status von Annahmen radikalisierter Modernisierung und Individualisierung scheint es sinnvoll, sie durch derartige Fragestellungen zumindest soweit zu irritieren, dass über ihre kollektivsymbolisch gewährleistete Selbstverständlichkeit aufgeklärt werden kann. Dies würde die Option beinhalten, eine veränderte Positionierung Sozialer Arbeit zu aktuellen politischen Entwicklungen erzielen zu können. Gemeint sind die aktivierungspolitischen Neuorientierungen der Grundlagen sozialpädagogischen Handelns, zu denen die Soziale Arbeit bislang ambivalent positioniert ist: Modernisierungstheoretisch wird eine radikalisierte Herauslösung des Einzelnen aus sozialen Bindungen und solidarmoralischen Vorgaben konstatiert. Das individualisierte Subjekt scheint, obschon empirische Aussagen diese Annahme nicht stützen9, aufgrund eines unaufhaltsamen gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels auf sich gestellt zu sein. Gleichzeitig werden in der Sozialen Arbeit – mit vollem Recht – Tendenzen kritisiert, im (sozial-)politischen Rahmen auf die Eigenverantwortung und Aktivität des Einzelnen zu setzen und auf diese Weise Restriktionen wohlfahrtsstaatlicher Leistungsgarantien durchzusetzen (vgl. Dahme u.a. 2003). Diese Kritik könnte nachhaltiger begründet werden, wenn die Zeitdiagnostik Sozialer Arbeit durch die Unterstellung einer radikalisierten Individualisierung nicht ihrerseits einen sozial isolierten, existenz- und identitätsbastelnden Einzelnen generierte. Würde Individualisierung im Gegensatz zu dieser Form der Gegenwartsanalyse als politische Strategie, als hegemonialisierte Deutung sozialen Lebens, als Widerspruch zu faktischen Lebensbedingungen und als »Lenkung durch Individualisierung« (Foucault 9 | Neben den oben angeführten empirischen Nachweisen gilt dies auch für die u.a. durch Individualisierungsannahmen gestützte These einer Ent-Solidarisierung bezüglich wohlfahrtsstaatlicher Arrangements. Diese genießen nach wie vor hohes Ansehen und verweisen auf eine zumindest nicht nachdrücklich reduzierte Zustimmung zu staatlich institutionalisierter Solidarität (vgl. etwa Andreß u.a. 2001; Krüger 1999; Wendt 2008; s.a. Butterwegge 2005).

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2005: 274) wahrgenommen, so wäre zu erschließen, dass AdressatInnen Sozialer Arbeit zumindest nicht nur durch einen anonymen Modernisierungsprozess, sondern vorrangig durch institutionelle Praxen und diskursive Artikulationen belastet und ausgeschlossen werden. In diesem Sinne mahnt Chantal Mouffe (2007: 73) an, dass Modernisierungstheoretiker – womit sie vorrangig auf Beck und Giddens abstellt – »eine politische Grenze zwischen den ›Modernen‹ und den ›Traditionalisten‹ respektive den ›Fundamentalisten‹ […] ziehen und zugleich den politischen Charakter dieses Schachzugs […] bestreiten.« Wo sie auf soziologische Evidenz und eigenlogische gesellschaftliche Prozesse hinweisen, sei auf kontingente politische Praxen und institutionalisierte Ausschließungsmechanismen aufmerksam zu machen. Unter Anerkennung dieses Befundes könnte in der Sozialpädagogik wieder nach der Relevanz von Modernitätsnarrativen geforscht werden.

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Die kommunitaristische Gesellschaft der Sozialen Arbeit Philipp Sandermann

Ziel dieses Beitrages ist es, das Gesellschaftsbild des Kommunitarismus im Allgemeinen sowie dessen Aufnahme und spezifische Weiterverarbeitung in der bundesdeutschen Sozialpolitik- und Sozialarbeitsdebatte im Besonderen nachzuzeichnen. Dabei wird es im Schwerpunkt darum gehen, eine entscheidende Funktion, welche das kommunitaristische Gesellschaftsbild für das hiesige Wohlfahrtssystem – also die sozialpolitischen und sozialarbeiterischen Steuerungsmechanismen in Deutschland – birgt, zu skizzieren. Im Ergebnis zielt dieser Beitrag somit auf die Beobachtung eines spezifischen Diskurszusammenhangs zwischen dem kommunitaristischen Gesellschaftsbild und der Sozialen Arbeit in Deutschland.

1. Z UR V IELGESTALTIGKEIT DES K OMMUNITARISMUS Das Gesellschaftsbild des Kommunitarismus lässt sich nur schwerlich als ein einheitliches Phänomen beschreiben. Das hängt zunächst einmal damit zusammen, dass sich auch der Kommunitarismus als Gesamtströmung kaum als einheitliches Phänomen abbilden lässt. Dieses grundsätzlichere Problem ist nun sicher kein Sonderproblem, dass sich exklusiv bei der Erfassung des Kommunitarismus stellt; jedes Beobachtungsobjekt bereitet als komplexes Phänomen sozialer Wirklichkeit Probleme, wenn man es mithilfe eines Labels erfassen möchte. Die Schwierigkeit bei der Erfassung des kommunitaristischen Gesellschaftsbildes geht jedoch in gewissem Maße noch über das paradoxe Grundproblem jedes theoretischen Erfassungsversuchs, Komplexität unter Beibehaltung eines höchstmöglichen

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Maßes an Differenziertheit möglichst weit zu reduzieren, hinaus. Denn der Kommunitarismus ist bereits der Selbstauskunft nach weder eine einheitliche Theorierichtung oder sozialphilosophische oder sozialpolitische Strömung oder Debatte, noch fühlen sich AutorInnen und/oder AkteurInnen, die dem Kommunitarismus üblicherweise zugerechnet werden, dort in der Regel selbst wirklich beheimatet. Das hängt sicher maßgeblich auch damit zusammen, dass der Kommunitarismus wohl am ehesten als eine Art geistige Gegenbewegung1 zu liberalistischen Entwürfen der US-Sozialphilosophie der 1980er Jahre beschrieben werden kann (vgl. Gutman 1985; Reiman 1994) und weniger als ein systematisch entfalteter Theorieentwurf. Vielleicht noch deutlicher als in anderen Fällen ist eine Beobachtung des Phänomens ›Kommunitarismus‹ daher darauf verwiesen, ›den Kommunitarismus als solchen‹ zunächst einmal objektivierend herzustellen. Damit erst lässt sich dann auch so etwas wie ein ›kommunitaristisches Gesellschaftsbild‹ erkennen. Ein solcher Objektivierungsversuch soll im Folgenden unternommen werden, und zwar indem er zunächst einmal an zwei theoretischen Thesen entlang ausgerichtet wird. Diese zwei Thesen lauten: 1. Der Kommunitarismus ist im Wesentlichen eine politisch-wissenschaftliche Debatte der 1980er und 1990er Jahre, welche ihren Ausgang in den USA und Kanada nahm. Sie wird vor allem von außerhalb der Debatte als einheitlich diskursives Phänomen wahrgenommen (vgl. Macionis/Plummer 2005: 693). 2. Der Kommunitarismus im Allgemeinen und das in seinem Zusammenhang transportierte Gesellschaftsbild im Besonderen lassen sich nicht allein durch das, was in dieser Debatte gesagt und geschrieben wurde, verstehen, sondern vor allem unter Hinzunahme dessen, wie 1 | Maßgeblich in Reaktion auf John Rawls’ erstmals 1971 veröffentlichten politisch-philosophischen Gerechtigkeitsentwurf »A Theory of Justice« (Rawls 2003) wurde von einigen gemeinhin als KommunitaristInnen betitelten AutorInnen relativ konsensuell hervorgehoben, dass das »falsche Selbstverständnis« des modernen Individuums als das eines autonom und rational handelnden Wesens zu ungehemmtem Egoismus und Eigennutzdenken westlich-moderner Menschen führe, sowie zu damit eng zusammenhängenden gesamtgesellschaftlichen Folgeproblemen (vgl. grundlegend in diesem Sinne etwa Sandel 1982; Barber 1984; Walzer 1984; Taylor 2006b).

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hier in Reaktion auf ein entworfenes Gegenbild argumentiert wird (vgl. Sandermann 2009). Richtet man die Beobachtung des Kommunitarismus entlang dieser beiden Arbeitsthesen aus, so besteht die Möglichkeit, sich dem Phänomen ›Kommunitarismus‹ methodisch zu nähern, indem man Beiträge von AutorInnen, die regelmäßig dem Kommunitarismus zugerechnet werden und sich zeitlich wie argumentativ grob in den genannten Rahmen einordnen lassen, genauer in Hinsicht auf wiederkehrende Argumentationsmodi und die dabei transportierten argumentativen Inhalte untersucht, um hierüber dann strukturelle Momente des innerhalb der Debatte transportierten Gesellschaftsbildes herauszuarbeiten. Dies soll im folgenden Abschnitt unternommen werden, woraufhin im dritten Abschnitt genauer erläutert werden wird, inwiefern das in der Kommunitarismusdiskussion transportierte Gesellschaftsbild im Zuge seines Imports in den bundesrepublikanischen Diskurs einen Überformungsprozess durchlaufen hat, der sich als spezifischer Akt bundesrepublikanischer Sozialpolitisierung und -pädagogisierung bezeichnen lässt. Hier – so wird gezeigt werden – ist also nicht nur ein internationaler Transfer der US-amerikanischen/kanadischen Kommunitarismusdiskussion in den sozialwissenschaftlichen Fachdiskurs in Deutschland erkennbar. Vielmehr kann man im gleichen Zuge einen spezifischen Sozialpolitisierungs- und Sozialpädagogisierungsprozess beobachten, der sich nicht unwesentlich an den vorhandenen institutionellen Strukturen und Diskursformationen hierzulande orientiert. Zuletzt soll daher im vierten Abschnitt thesenartig ein Erklärungsvorschlag dazu unterbreitet werden, welche besondere Funktion dieser historische Rezeptions- und Umformungsprozess des kommunitaristischen Gesellschaftsbildes für die Soziale Arbeit in Deutschland hatte.

2. S TRUK TURELLE M OMENTE EINES KOMMUNITARISTISCHEN G ESELLSCHAF TSBILDES Die Kommunitarismusdiskussion ist gekennzeichnet durch strukturell (d.h. quer zu rein individueller AutorInnenschaft) auffindbare argumentative Inhalte sowie durch bestimmte Argumentationsmodi, die sich sicher nicht exklusiv, aber doch mit auffälliger Häufigkeit in dieser Diskussion

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wiederfinden. Was die argumentativen Inhalte betrifft, so lassen sich folgende Punkte strukturell beobachten: • Die Herausstellung eines gemeinschaftsorientierten Individualitätsund Authentizitätsverständnisses, • die Betonung der Bedeutung sozialer Einbettungen für die Herausbildung moderner Individuen, • die Hervorhebung von gemeinschaftlich-kulturellen Werten als maßgeblichem Faktor privater und öffentlicher Erziehung, • die Infragestellung der Möglichkeit von gesellschaftlichen Kollektivleistungen ohne die aktive Einbringung des gesellschaftlichen Kollektivs als solchem. Was den Argumentationsmodus der Debatte betrifft, so fällt z.B. ein strukturelles Muster ins Auge, welches im Folgenden etwas näher beleuchtet werden soll: eine Argumentationsweise, die man als ›Wiederbesinnungsargumentation‹ beschreiben kann. Quer zu den inhaltlichen Standpunkten einzelner kommunitaristischer AutorInnen lässt sich beobachten, dass die im Einzelnen vorgebrachten Argumente immer wieder mithilfe dieser Argumentationsweise vertreten werden. Mit Ausdrücken wie ›recollection‹, ›revitalization‹ und/oder ›retrieval‹ – ins Deutsche in der Regel übersetzt als ›Wiederbesinnung‹, ›Rückbesinnung‹, ›Wiederbelebung‹ oder ›Wiedergewinnung‹ – werden hier bestimmte Inhalte die argumentativ vertreten werden besonders unterstrichen bzw. hervorgehoben. Als Beispiel zur Verdeutlichung dieser Art und Weise des Argumentierens seien hier die folgenden zwei Ausschnitte aus der Kommunitarismusdebatte präsentiert. An diesen beiden Textbeispielen lässt sich nachverfolgen, wie sich die jeweiligen AutorInnen in Bezug auf zum Teil unterschiedliche Inhalte, aber zum Zwecke eines jeweils sehr ähnlichen argumentativen Effekts der Wiederbesinnungsargumentation bedienen: »[…] though the yearning for the small town is nostalgia for the irretrievably lost, it is worth considering whether the […] traditions that small town once embodied can be reappropriated in ways that respond to our present need. Indeed, we would argue that if we are ever to enter that new world that so far has been powerless to be born, it will be through reversing modernity’s tendency to obliterate all previous culture. We need to learn again from the cultural riches of the human

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species and to reappropriate and revitalize those riches so that they can speak to our condition today.« (Bellah et al. 2008: 283, Hervorh. d. V.) »[…] that we undertake a work of retrieval, that we identify and articulate the higher ideal [of individualism] behind the more or less debased practices, and then criticize these practices from the standpoint of their own motivating ideal. In other words, instead of dismissing this culture altogether, or just endorsing it as it is, we ought to attempt to raise its practice by making more palpable to its participants what the ethic they subscribe really involves.« (Taylor 1996: 72f., Einfügung und Hervorh. d. V.)

Verschiedene Dinge fallen bei der Betrachtung der obigen beiden Textausschnitte – und bei einer genaueren Beobachtung der Wiederbesinnungsargumentation innerhalb der Kommunitarismusdiskussion insgesamt (vgl. dazu ausführlich Sandermann 2009: 37ff.) – besonders auf. Zunächst einmal wird deutlich, dass die ›argumentative Methode‹ der Wiederbesinnung kein im engeren Sinne sozialwissenschaftlich solider Argumentationsmodus ist2 . Denn entgegen dem ersten Anschein unterscheidet sich diese Argumentationsweise durchaus von einem offenen Reflexionsgedanken. Zwar bedienen sich kommunitaristische AutorInnen in der Regel einer gewissen Anzahl an reflexiven Argumentationsmomenten – insbesondere bspw. dort, wo es ihnen um die Nachzeichnung ideenhistorischer Prozesse geht (vgl. exemplarisch Taylor 2006a). Gerade an diesen Stellen, an denen dann in der Regel mithilfe der skizzierten Wiederbesinnungsargumentation formuliert wird, lässt sich jedoch eine systematische Vermengung verschiedener Argumentationsebenen beobachten. Dabei vermischen sich deskriptive, präskriptive, interpretativ-analytische und normative (Theorie-)Aussagen strukturell und in äußerst ausgeprägter Weise. So geht es im Rahmen der Kommunitarismusdiskussion – um ein Beispiel zu nennen – immer wieder gleichzeitig sowohl um die Frage 2 | Michael Haus (2003: 18) widerspricht im Dienste des Kommunitarismus einem solchen Einwand, indem er betont: »Auf sozialwissenschaftlicher Seite sollte von einem szientistischen Selbstverständnis abgerückt und die unumgängliche normative Imprägniertheit der sozialen Praxis anerkannt werden.« Was freilich vom Aufklärungsprojekt Wissenschaft übrig bliebe, wenn man dieser Position, die man als ein Verharren im Mannheimschen »Pan-Ideologismus« (Geiger 1968) bezeichnen kann, nachgäbe, ist die zu stellende Gegenfrage.

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danach, inwieweit öffentliche Erziehungsmaßnahmen – etwa im Rahmen der Schule – einen Einfluss auf die Sozialisation von Kindern haben, als auch darum, was hierdurch grundsätzlich gesteuert werden kann und welche Entwicklung dabei wünschenswert wäre (vgl. dazu etwa Arthur 1998; Etzioni 1996: 182ff.). Oder – um bei den soeben gebrachten Zitaten zu bleiben (vgl. dazu das obige Zitat von Taylor) – es geht gleichzeitig darum, eine bestimmte gesellschaftliche Praxis des Individualismus mithilfe der Wiederbesinnung auf eine zeitlich früher anzusiedelnde Idee des Individualismus historisch einzuordnen, sie in diesem Zuge als »debased« zu bewerten, sie perspektivisch verändern zu wollen, und dies – zu guter Letzt – mithilfe dessen zu erreichen, womit der Autor seine Ausführungen begonnen hat: mithilfe eines Aktes der Wiederbesinnung (vgl. dazu ähnlich bspw. auch Sandel 1992: 28; Selznick 1992: 216f.). Die Tautologie des vorgebrachten Arguments drängt sich hier geradezu auf. Was diese Tautologie nun aber tatsächlich ideologieverdächtig3 macht, ist die Tatsache, dass sie im Zuge kommunitaristischer Ausführungen meist hartnäckig bestritten wird (vgl. z.B. Etzioni 1996: 5; Taylor 2002: 134). So schreibt Taylor selbst an anderer Stelle, dass im Kommunitarismus neben einigen normativen »advocacy issues« vor allem »ontological issues« behandelt würden, wobei klar auf wissenschaftlicher Grundlage argumentiert werde (vgl. Taylor 1989: 159). Bereits die Betitelung wissenschaftlicher Streitpunkte als »ontological issues« referiert dabei allerdings auf die Idee, dass grundsätzlich monoperspektivische Entscheidungen zwischen ›wahr‹ und ›falsch‹ möglich seien. Dies geht mit einer vielleicht am besten als ›post-marxistisch‹ 3 | Der Begriff des Ideologieverdachts wird hier unter Bezugnahme auf Zima (1992) verwendet, also im Sinne einer ›restriktiven‹ oder ›negativ-kritischen‹ Ideologiekritik. Die Bezeichnung ›ideologisch‹ wird dabei von ihrer Bedeutung her nicht mehr entgrenzt gegenüber Fragen nach dem interessegeleiteten Konstruktionscharakter von Zugriffen auf ihren jeweils objektivierten Gegenstand. Statt der Frage, inwieweit es sich bei jeder Aussage um ein interessegeleitete Objektivierung handelt, gerät das Maß, in welchem das eigene Argument, oder genauer: das eigene argumentative Vorgehen, selbstkritisch hinterfragt und damit gleichzeitig offen gelegt wird, in den Mittelpunkt der ideologiekritischen Analyse. Erst durch eine weitestgehende Offenlegung der Vorannahmen und Folgerungen, sowie durch eine Reflexion der eigenen Konstruktionsvorgänge unterscheidet sich also der restriktiven Ideologiedefinition zufolge eine wissenschaftliche Analyse von einem ideologischen Kommunikationszusammenhang (vgl. a.a.O.: 57f.).

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benennbaren Idee von wahrem und falschem Bewusstsein einher (vgl. dazu etwa auch Taylor 1989: 181). Was heißt dies nun für unsere Frage nach einem aus dem Kommunitarismusdiskurs herauslesbaren Gesellschaftsbild? Unter Berücksichtigung der oben genannten Aspekte lassen sich folgende Befunde zusammentragen: 1. Gesellschaftsbeschreibungen im Kommunitarismus zeichnen sich dadurch aus, dass hier mithilfe spezieller Argumentationsverfahren kritisch-deskriptive und normative Gesellschaftsvorstellungen ineinander verschränkt werden. So lässt sich strukturell eine Art Doppelgestaltigkeit von Ist- und Soll-Beschreibungen im Rahmen kommunitaristischer Gesellschaftsskizzen beobachten. Die Affinität zu einer deutlich ontologischen erkenntnistheoretischen Ausrichtung, die sich am Ideal einer durch gemeinschaftliche Werte und Prozesse gesteuerten Gesellschaft orientiert, ist dabei evident. 2. Hierbei wird stets ein Bezug zu ideengeschichtlichen Traditionen der westeuropäischen und US-amerikanischen Aufklärung hergestellt. Die historische Rezeption ist dabei zumeist eng begrenzt auf die Entwicklung der Idee des ›modernen Individuums‹ im Zuge der letzten zweihundert Jahre (als Ausnahme von der Regel vgl. MacIntyre 1988). Argumentativ wird dabei das im Laufe dieser Zeit traditionell früher liegende Verständnis von Individualität gleichzeitig als ein normativ höherwertiges Verständnis ausgewiesen (vgl. etwa Taylor 1996). Im Zuge ihrer Konzentration auf das Bild des Individuums fallen Gesellschaftsbeschreibungen im Kommunitarismus damit in ihrer Perspektive gleichzeitig als stark anthropologisierte Beschreibungen auf. ›Die Gesellschaft‹ oder auch ›das Soziale‹ werden nicht als Objekte im engeren Sinne fokussiert. Somit lassen sich im Kommunitarismus keine Aussagen zur Struktur der Gesellschaft oder des Sozialen ›an sich‹ finden, wie dies etwa in sozialwissenschaftlichen Zugängen des Strukturalismus, Neo-Institutionalismus oder auch im Zuge von im weitesten Sinne funktionalen Gesellschaftstheorien der Fall ist. Selbst im Vergleich mit sozialwissenschaftlichen Interaktions- und Konflikttheorien, welche soziales Geschehen in der Regel unter strenger Bezugnahme auf (unterschiedliche) subjektive Sichten auf dieses Geschehen verdeutlichen, fällt das kommunitaristische Gesellschaftsbild als ein außerordentlich anthropologisches Quasi-Bild von Gesellschaft auf. Es ist im

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analytischen Sinne gesprochen als ein geradezu anti-soziales Bild des Sozialen zu charakterisieren, das allein die Summe der in einem sozialen Gefüge lebenden Subjekte in den Fokus rückt und dabei theoriehistorisch hinter klassische soziologische Annahmen wie etwa diejenigen Emile Durkheims (2007) zurückgreift. Gesellschaftlichkeit wird im Kommunitarismus also – unter maßgeblicher Rezeption vor allem von Autoren wie Alexis de Toqueville (1863) sowie des deutschen Idealismus (vgl. Umpleby 2002) – auf die Summe der in einer Gesellschaft lebenden Individuen und deren soziales Bewusstsein reduziert. Dies ist verbunden mit einer klassisch hegelianischen Vorstellung einheitlicher subjektiver und kollektiver Identität, oder – mit Herder gesprochen – einem in ›Maß‹ gehaltenen Gleichgewicht von Individualität und gemeinschaftlicher Verpflichtetheit. Gesellschaftlichkeit wird im Kommunitarismus so – anders als etwa bereits in der Lebensphilosophie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, oder auch bei Ferdinand Tönnies, dessen Überlegungen (vgl. Tönnies 1926) häufig in Verbindung mit dem auf gänzlich andere ideenhistorische Quellen zurückgreifenden Kommunitarismus gebracht werden – nur auf der Ebene eines im engeren Sinne am Kollektiv orientierten Bewusstseins, bspw. gegenüber der ›Community‹ oder der familiären Gruppe, gedacht. Mit anderen Worten: ›Gesellschaft‹ wird im Kommunitarismus systematisch nur auf der Ebene von ›Gemeinschaft‹ gedacht, und ›Gemeinschaft‹ letztlich nur auf der Ebene subjektiver Verpflichtetheit gegenüber der Gemeinschaft. 3. Das solchermaßen in den Mittelpunkt gestellte Verhältnis zwischen einem/r jeweils stellvertretenden AkteurIn und einer ihn/sie umgebenden Gemeinschaft produziert zugleich das Gesellschaftsbild einer einfachen Antinomie, die das Individuum mit sich selbst zu verhandeln hat. Tatsächliche Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft, oder gar komplexere – und damit zugleich potenziell verunsichernde – sozialwissenschaftliche Erkenntnisse in Bezug auf die vermeintlichen Entitäten ›Individuum‹ (reflektiert etwa durch Rollen- oder Bezugsgruppentheorie) und ›Gesellschaft‹ (reflektiert z.B. durch Theorien sozialer Differenzierung) werden damit argumentativ unschädlich gemacht und auf den immer gleichen Widerspruch zwischen ›Individualismus‹ und ›Gemeinschaftsorientierung‹ reduziert. 4. Nur so wiederum gelingt es dem Kommunitarismus, gesellschaftliche Fragestellungen sämtlich zu individuell-moralischen Fragestellungen umzuformen. Der Verweis auf die stets gefragte Moral des/r Einzelnen

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gelingt dabei ganz zentral unter Einbringung eines Bewusstseinsarguments, welches davon ausgeht, dass gesellschaftliches Funktionieren resp. Scheitern entscheidend vom Bewusstseinszustand der ›Mitglieder‹ dieser Gesellschaft abhängt (die Verwendung der oben beschriebenen Wiederbesinnungsargumentation spiegelt dies auf der formativen Analyseebene wider). Es lässt sich also zusammenfassen: das Gesellschaftsbild des Kommunitarismus ist ein im theoriearchitektonischen Sinne gleichsam ›anti-soziales‹, weil nicht auf ›das Soziale an sich‹ fokussiertes Gesellschaftsbild. Stattdessen reduziert der Kommunitarismus Gesellschaft auf eine aller Gesellschaftlichkeit zugrunde liegende Grundantinomie von Individuum und jeweiliger Bezugsgemeinschaft. Indem sich Gesellschaftlichkeit somit im Kommunitarismus stets lediglich als anthropologisierte Form des Sozialen beobachten lässt, geraten gesellschaftliche Fragen strukturell zu Fragen des individuellen und gemeinschaftlichen Bewusstseins jedes einzelnen ›Mitglieds‹ der Gesellschaft. Dieses Bewusstsein wird gleichzeitig als zentrale Voraussetzung und zentrale Korrektivmöglichkeit bestehender Gesellschaftlichkeit gesehen. Es liegt also nach Auffassung des Kommunitarismus in der Macht und gleichzeitig in der Verantwortung jedes Einzelnen, ›seine Gesellschaft‹ zu gestalten (vgl. dazu etwa bereits die Titel von Barber 1998 sowie aktuell Pohl 2011). So entsteht im Kommunitarismus paradoxerweise gerade durch die Betonung von ›Gemeinschaftsorientierung‹ ein außerordentlich individualistisches Gesellschaftsbild. Gleichzeitig werden kommunitaristische Aussagen zu Gesellschaftlichkeit durchgängig im Duktus der Krisenhaftigkeit von Gesellschaft formuliert, was in der Diktion des Kommunitarismus heißt: es wird eine Dysbalance von Individualismus und Gemeinschaftsorientierung der Individuen konstatiert. Die Gesamtheit dieser Merkmale des kommunitaristischen Gesellschaftsbildes macht es in besonderem Maße anschlussfähig für sozialpädagogische und sozialpolitische Diskurse. Dies gilt in spezifischer Weise für die Diskussion in Deutschland. Gleichzeitig – so wird im folgenden Abschnitt zu zeigen sein – bedarf es dabei jedoch besonderer Überformungsleistungen im Zuge der argumentativen Rezeption.

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3. Ü BERFORMUNGEN DES KOMMUNITARISTISCHEN G ESELLSCHAF TSBILDES IM Z UGE SEINER ARGUMENTATIVEN R E ZEP TION Es ist sicher kein Zufall, dass kommunitaristische Gesellschaftsannahmen am deutlichsten in vielfältigen (sozial-)politischen Diskursen der westlichen Welt rezipiert wurden. In Kombination mit ähnlich gelagerten zeitdiagnostischen Entwürfen – etwa den Arbeiten zum sog. ›Third Way‹ (vgl. Giddens 1998; Giddens 2000) – fand der Kommunitarismus dabei insbesondere auch auf oberster politischer Ebene Eingang in sozial- und gesellschaftspolitische Neuprogrammierungsversuche um die Jahrtausendwende (vgl. dazu prominent etwa Blair/Schröder 1999). Offensichtlich beschränkt sich der Rezeptionsprozess zum Kommunitarismus also keineswegs auf den Diskurs in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. dazu etwa Gilman 2005; Taylor 1997). Es macht jedoch im Sinne unserer Frage nach der Rezeption des kommunitaristischen Gesellschaftsbildes in der Sozialen Arbeit Sinn, im Folgenden sowohl Unterscheidungen hinsichtlich der nationalen/sprachlichen als auch der teilsystemischen Kontexte jeweiliger Anschlussdiskussionen zum Kommunitarismus zu berücksichtigen. Denn bei einer genaueren Betrachtung des breiteren Rezeptionsprozesses, den das kommunitaristische Gesellschaftsbild in der internationalen Diskussion erfahren hat, fällt auf, dass sich kommunitaristische Grundannahmen im Kontext nationaler Besonderheiten sowie teilgesellschaftlicher Spezialsemantiken in unterschiedlicher Weise verändern (vgl. Umpleby 2002). So lässt sich auch bei der Rezeption des Kommunitarismus im deutschsprachigen Raum ein durchaus spezifischer »Überformungsprozess« (Neumann/Sandermann 2009: 159) der Grundargumentation des Kommunitarismus beobachten, den man – blickt man auf den sozialpolitischen und sozialpädagogischen Fachdiskurs im engeren Sinne – zudem als Prozess einer systemspezifisch deutschen Sozialpolitisierung und Sozialpädagogisierung des kommunitaristischen Gesellschaftsbildes interpretieren kann. Um dies weitergehend zu erläutern, sei hier zunächst noch einmal auf die unterschiedlichen Kontextbedingungen zwischen dem Ursprungs- und dem deutschsprachigen Rezeptionsdiskurs des Kommunitarismus hingewiesen. Die Ursprungsländer der Kommunitarismusdiskussion (USA, Kanada und – mit Einschränkungen – Großbritannien) können als klassische Vertreter liberaler Wohlfahrtsregime eingeordnet werden (vgl. Esping-Andersen 1990). Im Gegensatz dazu ist in der Bun-

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desrepublik Deutschland ein Wohlfahrtssystem auszumachen das sich traditionell stark an staatlichen und verbandlichen Strukturen orientiert (vgl. Hegelich/Meyer 2008; Kaufmann 2003). Demgemäß speisen sich viele originäre Diskussionspunkte des Kommunitarismus, die auf Gesellschaftlichkeit fokussieren und dabei – wie oben dargestellt – Gesellschaftlichkeit in besonderer Weise auf eine innere Antinomie der Subjekte zwischen ›Individualismus‹ und ›Gemeinschaftsorientierung‹ reduzieren, mindestens immanent aus sozialen Verhältnissen, die im deutschsprachigen Raum allzu offensichtlich gar nicht bestehen. Dies macht es funktional gesehen geradezu zwingend für den deutschen Anschlussdiskurs, die gesellschaftskritischen Anteile kommunitaristischer Argumentation im Zuge ihrer Rezeption umzudeuten (vgl. kritisch dazu auch Brumlik 1995: 51). Zur Veranschaulichung: Wenn bspw. Etzioni (1996: 154) kritisiert, dass erfolgreiche community programs mit sozialem Fokus vermehrt durch die Einführung sog. block grants des US federal state gefährdet seien, so ist dabei zwar klar eine – in den USA quer zu politischen Lagern sehr gängige – Kritik an bundesstaatlicher Einmischung in die Belange der Kommunen zu erkennen. Es geht hier aber bei genauerer Inblicknahme keineswegs um eine generelle Kritik an öffentlich finanzierten und/oder öffentlichprofessionell erbrachten sozialarbeiterischen Dienstleistungen, wie das im Rahmen deutscher Übersetzungen und hiesiger Rezeptionen kommunitaristischer Literatur häufig interpretiert wird. Stattdessen geht es an diesen Stellen der kommunitaristischen Ausgangsdiskussion um eine spezifisch amerikanische Auseinandersetzung (vgl. dazu Abbott 1987), in der ›state‹ und ›community‹ weniger im Sinne einer Gegenüberstellung von ›Wohlfahrtsstaat vs. Zivilgesellschaft‹, sondern im Sinne eines Gegensatzes zwischen bundesstaatlicher und kommunaler Politikgestaltung verhandelt werden. Solche Details des gesellschaftshistorischen Kontexts der Kommunitarismusdiskussion werden im Zuge des deutschen Rezeptionsdiskurses gemeinhin ausgeblendet. Hier wird der von Etzioni beschriebene Konflikt zwischen ›state‹ und ›community‹ hingegen – ganz im Sinne selbstreferenzieller Diskursverwertung – insbesondere im Lichte einer Neuverhandlung der ›klassisch deutschen‹ Frage von Subsidiarität und Korporatismus (vgl. Kramer/Landwehr/Kolleck 2003: 78) verstanden und somit in spezifischer Weise überformt. So z.B., wenn Evers (2003) die dem Kommunitarismus entlehnte Forderung nach einer Neubestimmung der staatlichen Aufgaben, welche insbesondere in der »Förderung [einzelner Gesellschaftsmitglieder] als sozial und politisch teilhabende Aktivbürger«

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(a.a.O.: 93; Einfügung d. Verf.) bestünden, mit der Forderung verbindet, »Engagement in den Kernbereichen des Sozialstaats wieder einen Platz zu geben« (a.a.O.: 95). Wenn Evers weiter betont, es gehe in diesem Zusammenhang um eine »Wiederaneignung von Kompetenzen, die man einmal mit allen Folgen Spezialisten sozialer ›Entsorgung‹ überantwortet hatte« (a.a.O.: 97), so wird spätestens hier deutlich, dass der Autor klar über die Ausgangsargumentation des Kommunitarismus hinausgeht.4 Das in der kommunitaristischen Ausgangsdiskussion transportierte Gesellschaftsbild einer einfachen Antinomie zwischen Individuen und der sie umgebenden Gemeinschaft wird damit zusätzlich ins Private der Gesellschaft hineinverschoben. Nicht nur eine kommunitaristische Einordnung von Gesellschaft als ›Summe gemeinwohlorientierter Gesellschaftsmitglieder‹ steht damit dann mehr im Mittelpunkt der Argumentation sondern auch eine (historisch-)institutionelle (Rück-)Verlagerung gemeinwohlorientierter Tätigkeiten in den direkten Aufgabenbereich von Familie und Nachbarschaft hinein. Es tauchen Fragen nach der (Nicht-) Berufsförmigkeit sozialer Tätigkeiten und der Problematik spezialisierter Professionen auf, die in Zusammenhang mit kommunitaristischen Ausgangsargumenten gebracht werden, jedoch klar auch auf anderen Diskurszusammenhängen als dem Kommunitarismus aufbauen. So entsteht ein zwar kommunitaristisch gespeistes, aber keineswegs mehr genuin kommunitaristisches Gesellschaftsbild. Zentraler ergänzender Diskurshintergrund des deutschsprachigen Rezeptionsdiskurses zum Kommunitarismus ist dabei die in der Bundesrepublik im Laufe der 1970er/80er Jahre vorgebrachte Wohlfahrtsstaatskritik. Diese zielte auf eine historisch-konkrete doktrinäre Selbstbeschreibung des bundesdeutschen Wohlfahrtssystems, welche sich seit den 1950er Jahren zunehmend als ideologische Rahmung des Systems etabliert hatte und sich als »fordistisch-keynesianische Wohlfahrtsstaatsdoktrin« (Sandermann 2009: 142) fassen lässt. Die fordistisch-keynesianische Wohlfahrtsstaatsdoktrin lässt sich anhand folgender vier Annahmen umreißen (vgl. geringfügig anders akzentuiert auch bei Alber 2001: 60): Es wurde – erstens – behauptet, das Wohlfahrtssystem halte ein für jede/n BundesbürgerIn einlösbares Recht auf Integration bereit. Dabei wurde auf ein relativ einfaches Gesellschafts- und Menschenmodell abgeho4 | Interessanterweise wird dabei jedoch weiterhin analog zur oben skizzierten Wiederbesinnungsargumentation verfahren.

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ben, welches von ›integrierten Personen‹ und ›desintegrierten Personen‹ ausgeht und damit Inklusions- und Exklusionsprozesse auf ›Gesellschaft als Ganzes‹ bezieht. Die damit in direktem Zusammenhang stehende Vorstellung eines ›Rechts auf Integration‹ symbolisiert sich maßgeblich auch durch gesetzliche Rechtsansprüche auf sozialstaatliche Unterstützung. Es wurde – zweitens – davon ausgegangen, ›gesellschaftliche Integration‹ sei durch ein bedarfsgerechtes kompensatorisches Ansetzen des Wohlfahrtssystems an a) ausgrenzenden strukturellen Bedingungen moderner kapitalistischer Gesellschaften sowie darüber hinaus an b) individuellen Lebenslagen und Lebensweisen der Betroffenen zu bewerkstelligen. Dies könne – so eine dritte Behauptung, die sich innerhalb der Doktrin identifizieren lässt – im Wesentlichen in Form dreier Instrumentarien erzielt werden: Mithilfe von Geldtransfers (hauptsächlich durch Steuer- und Subventionsmaßnahmen), Recht (durch Implementierung und Überwachung von Rechtsansprüchen für Betroffene, objektive Rechtsverpflichtungen des Staates, aber auch gesetzliche Auflagen bspw. für Unternehmen) und personenbezogener Professionalität (als Instrumentarium, welchem die Aufgabe zugewiesen wird, die beiden ersten Instrumente – Recht und Geld – entsprechend auf den Einzelfall zu beziehen). Die Doktrin beschrieb – viertens – das Wohlfahrtssystem als eine Struktur, die AdressatInnen wohlfahrtsstaatlicher Leistungen zur Selbsthilfe verhilft. Mit anderen Worten wurde nahegelegt, das Wohlfahrtssystem gebe sozial exkludierten Personen de facto Ressourcen an die Hand, mithilfe derer eine ›(Re-)Integration in die Gesellschaft‹ fortan eigenständig gelingen könne. In den 1970er/80er etablierten sich kritische Diskurse, die aus verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen (Wissenschaft, Politik, Medien, Wirtschaft) heraus jeweils spezifisch akzentuiert diesen vier Grundannahmen widersprachen, und damit die fordistisch-keynesianische Wohlfahrtsstaatsdoktrin sowie das durch sie flankierte Institutionen- und Personengeflecht des Wohlfahrtssystems grundsätzlich in Frage stellten. Die fordistisch-keynesianische Wohlfahrtsstaatsdoktrin wurde dabei in ihren zentralen Aussagen dekonstruiert und (speziell von Seiten des Wissenschaftssystems) mithilfe empirischer und theoretischer Befunde kritisch gegengelesen. So wurde etwa kritisiert, dass durch die Implementation von Rechtsansprüchen durch das Wohlfahrtssystem keine Integrationswirkungen, sondern eine sog. ›Anspruchsinflation‹ entstanden sei, die zudem zu keiner strukturellen Veränderung gesellschaftlicher Ausgrenzungsprozesse geführt habe, sondern diese viel eher verdecke (vgl. z.B. Peters 1975:

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159ff.; Prätorius 1980: 221; Gross 1982: 35f.). Auch die Normiertheit wohlfahrtssystematischer Interventionslogiken wurde im Sinne ›kalter‹ sozialtechnokratischer Bürokratie für kritikwürdig erachtet (vgl. etwa Baier 1977: 139f.; Habermas 1985: 151; Leibfried/Tennstedt 1985). Die propagierten wohlfahrtsstaatlichen Steuerungsmittel Recht und Geld wurden für unangemessen erklärt, was die Reaktion auf soziale Problemlagen angeht (Olk 1985: 125; Sachße 1986: 533) und der Idee, das Wohlfahrtssystem fördere die Selbsthilfekräfte seiner AdressatInnen, wurde entgegengehalten, die ›wohlfahrtsstaatliche Belagerung‹ führe zu individueller Entmündigung und Selbsthilfeverlust unter den BürgerInnen der Bundesrepublik (Schelsky 1978:18; Illich 1983: 52). Der kritische Diskurs zum Wohlfahrtssystem blieb in seiner argumentativen Form vielschichtig und aus unterschiedlichen teilsystemischen Logiken heraus motiviert. So ging es z.B. in teils geradezu paradoxer Weise um eine Kritik a) der Folgenlosigkeit und b) der moralisch unangemessenen Folgenschwere wohlfahrtssystematischer Eingriffe. Damit verbunden blieb die Kritik am Wohlfahrtssystem zunächst relativ abstrakt und – abgesehen von ideologischen Legitimitätseinbußen des Systems – auch weitgehend folgenlos. Dies dürfte maßgeblich damit zusammengehangen haben, dass der Diskurs in diesem Stadium zwar zielgenau kritisierte, aber keine kommunikativen Anschlussmöglichkeiten bereit hielt, mithilfe derer auf die vorgebrachte Kritik am Wohlfahrtssystem hätte reagiert werden können. Mit anderen Worten: es fehlte ein explizites Gesellschaftsbild, das diejenige Gesellschaft zeichnete, welche die kritischen Stimmen verlangten. Erst der Import und die spezifische Überformung des kommunitaristischen Gesellschaftsbildes in den 1990/2000er Jahren eröffnete klare Möglichkeiten hierfür.

4. Z UR F UNK TION DES KOMMUNITARISTISCHEN G ESELLSCHAF TSBILDES FÜR DIE SOZIALPOLITISCHE UND SOZIALPÄDAGOGISCHE E NT WICKLUNG DER 1990 ER /2000 ER J AHRE Statt einer reinen Kritik am fordistisch-keynesianisch gerahmten Wohlfahrtssystem konnten nun, im Zuge des Imports und der oben geschilderten, spezifischen Überformung des kommunitaristischen Gesellschaftsbildes – wenn auch vorerst sehr abstrakt – Alternativen zum Umgang mit

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›Desintegrationsproblematiken‹ benannt, programmatisch weiterentwickelt und schließlich implementiert werden: Der ›Anspruchsinflation‹ wurde ein/e sich seiner/ihrer Rechte und Pflichten bewusste/r BürgerIn entgegengesetzt, der ›kalten Sozialbürokratie‹ das Bild von sozialstaatlich gestützten, aber hierdurch unbehelligten nahräumlichen Gemeinschaften. Die in ihrer Reichweite als unzulänglich erachteten Steuerungsmittel des Rechts und des Geldes wurden in eine neue Relation zu ihrem traditionellen ›Ausführungsorgan‹, dem professionellen Sozialingenieur, gesetzt und diesem gegenüber in ihrer Bedeutsamkeit abgewertet. Und die ehedem von Experten ›wohlfahrtsstaatlich belagerten und entmündigten‹ BürgerInnen wurden von nun an als VertreterInnen ihrer eigenen wohlfahrtlichen Belange gezeichnet. Das, was Michael Walzer (1988) in (gleichsam reflexiver) kommunitaristischer Bezugnahme auf diese Entwicklung bereits früh als »Sozialisierung« des Wohlfahrtsstaates bezeichnete, kann so in analytischer Distanz präziser als eine Verschiebung der gesellschaftstheoretischen Annahmen im Zuge der herrschenden (Selbst-)Beschreibung des Wohlfahrtssystems gesehen werden. Alle Komponenten der Beobachtung und Selbstbeobachtung des Wohlfahrtssystems bleiben dabei allerdings erhalten: der Staat, die BürgerInnen, die Professionellen, die rechtlichen sowie die materiellen Steuerungsinstrumente des Systems wie auch seine institutionellen Materialisierungen veränderten sich in ihrer Anordnung zueinander zwar in ihrer jeweiligen Bedeutsamkeit, dadurch änderte sich die Rolle des Wohlfahrtssystems aber keineswegs strukturell in Hinsicht auf seine gesellschaftliche(n) Funktion(en). Was sich mit der Einführung kommunitaristisch geprägter Annahmen in die doktrinäre Struktur des Wohlfahrtssystems hingegen deutlich verändert hat, ist das Gesellschaftsbild, das bei der Beobachtung und Selbstbeobachtung des sich in diesem Zuge neu ausrichtenden Wohlfahrtssystems zum Tragen kommt. Die Gesellschaft, in die das Wohlfahrtssystem per definitionem ›den/die Einzelne/n integrieren‹ soll, gerät dabei zu einer Gesellschaft »jenseits von Stand und Klasse«, wie es der Individualisierungstheoretiker Ulrich Beck (1983) prominent beschrieben hat (vgl. dazu in kritischer Analyse auch den Beitrag von Dollinger in diesem Band). Sie wird damit gleichzeitig zu einer Gesellschaft, die sich letztlich nur auf der Ebene zentraler Bezugsgemeinschaften des jeweils in den Mittelpunkt gerückten Individuums wiederfinden lässt und ›das Soziale‹ als Entität – wie oben beschrieben – nicht kennt. Jeder gesellschaftliche Konflikt wird zum

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Konflikt zwischen Individuum und Gemeinschaft. Die zentrale Korrektivmöglichkeit für diesen Konflikt liegt damit auf der Bewusstseinsebene des gesellschaftlich desintegrierten Individuums. Ihm wird im Rahmen dieser Entwicklung die Freiheit und Pflicht zur Behebung des ihm persönlich zugeschriebenen gesellschaftlichen Konflikts auch in letzter Konsequenz – nämlich noch in der Auseinandersetzung mit dem ›integrationsbeauftragten‹ Wohlfahrtssystem – überantwortet. Man liegt sicherlich nicht völlig falsch, wenn man die solchermaßen auch innerhalb des Wohlfahrtssystems auffindbaren Vorstellungen von Individualismus und Gesellschaftlichkeit in populärer Diktion als eine genuin ›neo-liberale‹ Redefinition des Systems bezeichnet. Man zielt jedoch mit diesem Label gleichzeitig am Kern der Sache vorbei, sofern man damit assoziiert, dass diese neue doktrinäre Rahmung des Wohlfahrtssystems sich als pauschal ›anti-sozialstaatliche‹ und/oder ›anti-sozialarbeiterische‹ Entwicklung verstehen lässt (vgl. Ferguson 2008: 8ff.), und/oder dem Wohlfahrtssystem hierdurch eine veränderte gesellschaftliche Funktion zugewiesen würde. Denn der Import des kommunitaristischen Gesellschaftsbildes in den bundesdeutschen Diskurs ist im Sinne einer funktionalen Analyse nicht angemessen als eine Fortführung oder gar endgültige Zementierung sozialstaatskritischer Kommunikation und klassisch neo-liberaler Gesellschaftsvorstellungen zu verstehen. Er wird hingegen – so die hier vertretene Abschlussthese – aktuell seitens des sozialpolitischen und sozialarbeiterischen Feldes zu einer fortwährenden Sicherung und (Re-) Etablierung des wohlfahrtssystemischen Apparats genutzt. Dies lässt sich einerseits aufgrund der empirischen Datenlage zur historischen Fortentwicklung des deutschen Wohlfahrtssystems vermuten. Die Statistiken zu Sozialausgaben, Programminvestitionen und -ausweitungen sowie Angestelltenzahlen im sozialen Sektor sprechen eine klare Sprache was die stabile Struktur des Systems angeht (vgl. dazu ausführlicher Sandermann 2010: 449ff.). Die Stabilisierung des Systems durch die Integration kommunitaristischer Gesellschaftsannahmen lässt sich aber auch theoretisch nachvollziehen, indem man in den Blick nimmt, wie anschlussfähig das kommunitaristische Gesellschaftsbild in Hinsicht auf klassische sozialpolitische und sozialpädagogische Aussagen zu Gesellschaftlichkeit ist. Tut man dies, so sieht man, dass es sich beim Import kommunitaristischer Gesellschaftsannahmen keineswegs um die Etablierung eines völlig neuen, und dabei ›anti-sozialpolitischen/anti-sozialpädagogischen Diskurses‹ handelt, sondern dass sich die vom Kom-

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munitarismus novellierte theoretische Entität der ›Gemeinschaft‹ im Zusammenhang mit der Herausbildung der neuen Doktrin des ›Aktivierenden Sozialstaats‹ als hoch funktional für das bundesrepublikanische Wohlfahrtssystem erweist, indem sich hiermit sprachlich und gedanklich an traditionell stark verwurzelte Interventionsprogramme des Systems anschließen lässt. Das gilt gerade auch für den Bereich der Sozialen Arbeit im engeren Sinne. Das mithilfe des spezifisch überformten kommunitaristischen Gesellschaftsbildes ins Zentrum gesetzte Prinzip der ›Gemeinschaftsorientierung‹ erlaubt es – ganz im Sinne starker sozialpädagogischer Denktraditionen – vielseitige programmatische Bezüge zu sozialen Zusammenhängen herzustellen, die dann als spezifisch ›ressourcenorientiert ausgerichtete‹ und individualistisch zugespitzte Ansatzpunkte für sozialpädagogische Interventionen ausgeflaggt werden können (vgl. dazu auch Miller/Rose 2008: 92f.). Die im Kommunitarismus angelegte und im Zuge ihrer Rezeption hierzulande überformte Idee, dass menschliche ›Integration in die Gesellschaft‹ mithilfe von Interventionsstrategien erreichbar ist, welche zuvörderst auf individuellen Bewusstseinswandel, Einsicht, Bildung und Versöhnung durch zwischenmenschliche Beziehungsarbeit, auf moralische Zugehörigkeit und eine ausgesprochene Rechte/Pflichten-Balance jedes Menschen fokussieren, entspricht nur allzu offensichtlich einer starken sozialpädagogischen Tradition, die sich längsschnittartig und transnational durch die Geschichte der Sozialen Arbeit zieht.

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Das Gesellschaftsbild der Systemtheorie Bettina Hünersdorf

Von Gesellschaftsbildern Sozialer Arbeit auszugehen bedeutet, dass sozialwissenschaftliche Gesellschaftsbilder möglicherweise unter einer spezifischen, eben »sozialpädagogischen« Perspektivität rezipiert werden. Diese Ausgangshypothese soll am Beispiel der Systemtheorie überprüft werden. Hintergrund dieser Ausgangsfrage ist, dass die Systemtheorie im sozialpädagogischen Theoriediskurs einerseits eine relativ breit diskutierte Theorie ist, andererseits aber eine, die hoch umstritten ist. Sie kann nicht so leicht mit einem bestimmten vorherrschenden Bild von Sozialpädagogik in Verbindung gebracht werden, bzw. die Systemtheorie irritiert die Sozialpädagogik. So scheint die Systemtheorie im Hinblick auf das sozialpädagogische Menschenbild problematisch zu sein, da sie dieses nicht als Ausgangspunkt bzw. zentralen Bezugspunkt der Theoriebildung nimmt. Sie kritisiert eine normative sozialpädagogische Theoriebildung und ist auch im Hinblick auf die Veränderbarkeit politischer Rahmenbedingungen eher zurückhaltend, geschweige denn, dass sie das Ausmaß sozialer Ungleichheit überzeugend zur Darstellung bringen kann. Wenn dies so ist, dann stellt sich aber die Frage, warum trotz all dieser Mankos, auf die ich Laufe des Textes noch näher eingehen werde, die Systemtheorie dennoch von Interesse sein kann. Außerdem stellt sich die Frage, ob und inwieweit sozialpädagogische AutorInnen vor dem Hintergrund dieses Spannungsfeldes eine spezifische sozialpädagogisierende Rezeption der Systemtheorie anstreben und sich dabei als VermittlerInnen zwischen Ansprüchen aus der sozialpädagogischen Disziplin und denen aus der Soziologie verstehen. Ich werde im Folgenden zunächst einmal einen systemtheoretischen Aufriss der Theoriearchitektonik von Luhmann vorlegen, um davon ausgehend dann die Spezifizität der sozialpädagogischen Rezeption heraus-

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zuarbeiten. Dabei werde ich exemplarisch an ein paar AutorInnen zeigen, dass es sich hier um keine einheitliche Rezeptionsgeschichte handelt, sondern vielmehr verschiedene Anschlüsse an Luhmann zur Darstellung gebracht werden. In diesem Zuge werden insbesondere folgende Themen bearbeitet: Normativität, Subjekt und Politik. Die Konzentration auf diese Themen soll einerseits die Vergleichbarkeit zwischen den in diesem Band vorgestellten verschiedenen Gesellschaftsbildern ermöglichen, andererseits greifen die Themen zentrale Dimensionen heraus, bei denen die Transformationen sozialwissenschaftlicher Gesellschaftsbilder in ihren sozialpädagogischen Rezeptionen sehr gut beobachtet werden können.

G ESELLSCHAF TS - UND B EOBACHTUNGSTHEORIE DER S YSTEMTHEORIE Luhmann zielt auf eine soziologische Beschreibung von Gesellschaft, die reflexiv ist (Luhmann 2009, 1: 193). Reflexiv meint, dass nicht die Gesellschaft an sich beschrieben werden kann, weil a.) Gesellschaft als Gegenstand in Bewegung ist und b.) die Beschreibung der Gesellschaft als Gegenstand abhängig von sich selbst und damit der Beobachterperspektivität der Theorie ist. Die Systemtheorie löst diese Paradoxie, indem sie versucht, Gesellschaft als System-Umwelt-Beziehung zu beschreiben. »Die Einheit der Gesellschaft ist in diesem Sprachgebrauch ausschließlich die Einheit ihrer Operationsweise Kommunikation.« (Nassehi 2004: 101) Soziologische Forschung rekonstruiert das umfassende System, dem es angehört, und das es mit vollzieht, durch die eigene System-Umweltdifferenz »Wahr/nicht-wahr«. Da Forschung immer auch Kommunikation ist, ist Forschung selbst auch immer ein Herstellungsprozess von Gesellschaft. Der Ort, von dem aus Gesellschaft beschrieben wird, ist der der Wissenschaft. Als eigenes soziales System kann diese nicht die Gesellschaft abbilden, sondern sie kann nur durch Komplexitätsreduktion versuchen, der Gesellschaft zu entsprechen, indem sie einen höheren Grad an Ordnung aufweist, als die Gesellschaft selbst erreicht. Dadurch können Rationalitätsgewinne erzielt werden (vgl. Luhmann 2009a, 1: 192). Gesellschaft unterscheidet sich als System dadurch von allen anderen Systemen, dass sie die Selektionsleistungen der anderen sozialen Systeme ermöglicht. Ihre Funktion ist es, »den Horizont des Möglichen und Erwartbaren« (Luhmann 2009, 1: 183, 2009b: 12) zu definieren. Dabei gibt es keinen

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voraussetzungslosen Anfang und kein erkennbares Ende. Das Erreichte, kann durch neue Beobachterperspektiven wieder in Frage gestellt werden, wodurch die Systemtheorie eine permanente Lernfähigkeit generiert mit der zugleich eine hohe Abstraktionsmöglichkeit bzw. -notwendigkeit einher geht, die erst die Möglichkeit schafft, der Komplexität von Gesellschaft gerecht zu werden. In der Systemtheorie wird davon ausgegangen, dass die Beschreibung von Gesellschaft sowohl von der Gesellschaft als Gegenstand, als auch von der Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems abhängig ist. Je höher die Komplexität der Gesellschaft, desto höher die Abstraktheit der Gesellschaftstheorie. Damit geht zugleich eine Differenz zum alltäglichen Selbstverständnis der Gesellschaft einher (vgl. Luhmann 2009a: 192). Gesellschaft als ›Gegenstand‹ wird seit Mitte der 1980er Jahre von Luhmann nicht von der Einheit her verstanden, sondern vielmehr als emergentes Geschehen, welches sich den grundlegenden Operationen je eigensinniger Anschlusszusammenhänge verdankt und damit eine differenzierte Ordnung in Gang setzt. Damit liegt der Schwerpunkt auf der operativen Existenz von Anschlussroutinen der Funktionssysteme (vgl. Nassehi 2004: 102). Funktionssysteme existieren nur, sofern sie kommunikativ vollzogen werden. Das Wirtschaftssystem als funktional differenziertes System existiert nur wenn gezahlt wird etc., Soziale Arbeit als Hilfesystem nur, sofern geholfen wird, wobei Nicht-Helfen auch als Hilfe wahrgenommen werden kann, sofern es als solche kommuniziert wird. Damit vollzieht jedes Funktionssystem eigene Anschlussroutinen. Der Versuch, Gesellschaft durch funktionale Differenzierung zu beschreiben, ermöglicht es durch das »Prinzip der Ungleichheit der Untersysteme« (Luhmann 2009a: 187), gesellschaftliche Umwelt komplex erscheinen zu lassen. Jedes System übernimmt eine bestimmte Funktion im Kontext von Gesellschaft und hat eine jeweils systemspezifische Umwelt. Die Funktionssysteme bilden untereinander jeweils eine Umwelt, durch die es in den Funktionssystemen zu Überraschungen kommen kann. Aufgabe der Gesamtgesellschaft ist dann nur noch im abstrakten Sinne Systemintegration dadurch zu ermöglichen, dass eine Kompatibilität zwischen Funktionen und Strukturen aller Teilsysteme gewährleistet wird (vgl. Luhmann 2009b: 16). Funktionale Differenzierung wird aber nicht vorausgesetzt, sondern sie bekommt ihre Bedeutung nur durch die Praxis der Operation (vgl. ebd.). Dadurch wird es möglich, die funktional differenzierte Gesellschaft

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nicht quasi ontologisch zu verstehen, sondern vielmehr wird es notwendig, Gesellschaft als funktional differenzierte Gesellschaft empirisch zu rekonstruieren (siehe unten). Als Wissenschaft bietet die Soziologie als Disziplin eine unter verschiedenen möglichen Perspektiven auf Gesellschaft an, welche sich von der unterscheiden wird, die aus der Perspektive der Sozialpädagogik als Disziplin formuliert wird, da der Ausgangspunkt hier die Beschreibung der Gesellschaft vor dem Hintergrund des Hilfesystems ist1 . Damit vollziehen sich andere Selektionen als die der Soziologie. Das heißt, dass der Standpunkt des Beobachters differiert. Systemtheoretisch ist der differente Standpunkt des Beobachters ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Aus systemtheoretischer Perspektive ist Beobachten das »Handhaben einer Unterscheidung zur Bezeichnung der einen und nicht der anderen Seite« (Luhmann 2002: 143). Die potenziell differente Gesellschaftstheorie erscheint aus dieser Perspektive nicht als Problem, sondern als Notwendigkeit, die sich aus der Perspektivität des Beobachters ergibt, da es die einzige Möglichkeit für die Sozialpädagogik ist, sich als eigene Wissenschaft neben der Soziologie des Helfens zu etablieren. Dabei entsteht eine gewisse Paradoxie. Sie ist selbst gesellschaftlich, indem sie Kommunikation vollzieht2 und zugleich ist sie radikal perspektivisch3, da sie nur in der Differenz existiert. Eine soziologische Beschreibung des Hilfesystems würde zur Selbstauflösung beitragen. Deswegen muss sie bestimmen, wie sie sich zur Soziologie der Hilfe verhält.

1 | Dallmann betont zu Recht, dass es dabei nicht um eine Anwendung der Systemtheorie im Rahmen der Sozialen Arbeit ginge, sondern vielmehr um eine Zurverfügungstellung von Reflexionsangeboten mit denen man mehr oder anderes sehen könnte, als das, was man gewohnt ist zu sehen (Dallmann 2010: 71). 2 | Gesellschaft kann systemtheoretisch als »Horizont aller möglichen Kommunikationen« verstanden werden, »deren unwahrscheinliche Struktur sich durch die Erhöhung ihrer Annahme- und Ablehnungswahrscheinlichkeit ergibt« (Nassehi 2009: 102). 3 | Gesellschaft als Horizontbegriff verweist auf die »radikale Perspektivität« jeglichen Ereignisses, mit der einhergeht, dass die Gesellschaft für sich selbst operativ unerreichbar ist (vgl. Nassehi 2007: 106)

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S OZIALPÄDAGOGIK IN DER FUNK TIONAL DIFFERENZIERTEN G ESELLSCHAF T Die Idee, Gesellschaft als funktional differenzierte Gesellschaft zu beschreiben, ist von der Sozialpädagogik, wenn auch nicht sofort4 , mit großem Interesse wahrgenommen worden, da damit nicht zuletzt die Hoffnung verknüpft wurde, dass Sozialpädagogik in ihrer eigenständigen Bedeutung deutlicher wahrgenommen wird (Merten 2000)5 . Es bestand die große 4 | Luhmanns Aufsatz »Formen des Helfens im gesellschaftlichen Wandel«, der 1973 erschienen ist, hob sich deutlich von der sich zu jener Zeit gesellschaftspolitisch verstehenden Sozialpädagogik ab. Der hohe Abstraktionsgrad distanzierte sich von der »Aufgeregtheit« der sozialpädagogischen Diskurse, indem er eine Beobachterperspektive zur analytischen Beschreibung der Sozialen Arbeit verfolgte (vgl. Gängler 2000: 19), ohne sich in das Für und Wider einer konkreten Ausrichtung der Sozialpädagogik zu verstricken. Stattdessen ging es der Systemtheorie genauso wie der Kritischen bzw. neomarxistischen Theorie der Sozialpädagogik um die Funktionsbestimmung der Sozialpädagogik (Harney 1975, Blanke/Sachße 1978) in der modernen Gesellschaft. Während die neomarxistische Theorieofferte der Sozialpädagogik in der kapitalistischen Gesellschaft nur eine für die Gesellschaft reproduktive Funktion zukommen ließ, wurde dieses indirekt von Luhmann in Frage gestellt. Aus dem Interesse heraus, sich von der Kritischen Theorie abzugrenzen, versuchte Luhmann aufzuzeigen, dass die Gesellschaft komplexer ist als kritische Gesellschaftstheorien behaupten, wenn sie die Gesellschaft auf den Bereich der Ökonomie reduzieren, indem sie diesen universalisieren. Luhmanns Analyse des Hilfesystems als autopoietisches Funktionssystem hat in diesem Kontext die Funktion des Nachweises der funktional differenzierten Gesellschaft. 5 | Nun stellt sich aber die Frage, warum in der Systemtheorie gerade die funktionale Differenzierung als die Differenzierungsform der modernen Gesellschaft beschrieben wird, anstatt die der sozialen Ungleichheit und was eigentlich das abstrakte Kennzeichen einer modernen Gesellschaft sei, unabhängig davon, ob sie als funktional oder sozial ungleich differenziert dargestellt wird. Nassehi postuliert, dass eine moderne Gesellschaft das Bezugsproblem zu lösen habe, dass »die Entkoppelung von sozialen Prozessen und Bezugsproblemen zu einer Form gerinnt, die die Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem als eine Einheit erscheinen lässt« (Nassehi 2007: 104). Funktionale Differenzierung kennzeichne sich dadurch, dass ihr eine sachliche Differenzierung zugrunde liege. Auf der Ebene

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Hoffnung durch den systemtheoretischen Zugriff die Probleme genauer beschreiben zu können, warum sich die Soziale Arbeit als Profession so schwer tut, sich gleichberechtigt gegenüber anderen Professionen zu etablieren (Olk 1986, Stichweh 2000). Seit Ende der 1990er Jahre bekommt der systemtheoretische Diskurs in der Sozialpädagogik aber eine herausgehobene Bedeutung, da die Frage nach einer eigenständigen Disziplin und Profession virulent wurde. Es konnte an Funktionsbestimmungen der Sozialpädagogik in der modernen Gesellschaft angeknüpft werden, nun aber vor dem konkreten Interesse der Gründung einer eigenständigen »Sozialarbeitswissenschaft« (vgl. Gängler 2000: 22). Für die sozialpädagogische Traditionslinie war das insofern von Interesse, dass die Idee der Autonomie der Sozialpädagogik in gewisser Weise an die Tradition der geisteswissenschaftlichen Pädagogik anknüpft, die die Autonomie der Pädagogik gefordert hat. der Sozialdimension würde zwar einerseits von der Gleichheit vor den Funktionssystemen ausgegangen werden, andererseits sei empirisch das Gegenteil beobachtbar. Die Funktionssysteme müssen aber indifferent gegenüber den empirischen Ungleichheiten sein, um die Form der Gleichheit wahren zu können. »Es ist gerade diese Indifferenz gegenüber Ungleichheit, die zum einen die enorme Ungleichheitstoleranz der Moderne ausmacht und die zum anderen den Funktionssystemen die Möglichkeit gibt, ihre eigenen Ordnungsprobleme nicht nur über sachliche, sondern vor allem als soziale Asymmetrien zu lösen.« (Nassehi 2007: 114) Nassehi hält dieses aber nicht für einen Zufall, sondern betont, dass die soziale Ungleichheit der gesellschaftlichen Logik zu entsprechen scheint. Deswegen plädiert er dafür danach zu fragen, welche Funktion soziale Ungleichheit für die funktional differenzierte Gesellschaft habe. »Welches Bezugsproblem wird durch Ungleichheit gelöst, und warum gelingt es solchen Ungleichheiten sich auf Dauer zu stellen.« (Nassehi 2007: 112) Darüber hinaus müsse die Frage gestellt werden, ob und unter welchen Bedingungen durch den Unterscheidungsgebrauch Asymmetrien erzeugt würden und ob dies zweitens zur Kondensierung sozialer Asymmetrien führe. Mit dem Hinweis auf das Bildungssystem als ein Beispiel unter mehreren Funktionssystemen verweist Nassehi auf die Tatsache, dass der Unterscheidungsgebrauch gerade den Sinne habe, asymmetrische Positionen zuzuweisen. Das sei die Selektionsfunktion des Bildungssystems. Wenn der Unterscheidungsgebrauch auf Dauer gestellt würde und für weitere Verwendung praktikable sei, wie z.B. auch für den Unterscheidungsgebrauch auf dem Arbeitsmarkt, werden strukturbildende Effekte erzeugt.

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Der sozialwissenschaftliche Zugriff durch die Systemtheorie scheint aber der geisteswissenschaftlichen Pädagogik dadurch überlegen zu sein, dass die Autonomie des Hilfesystems nicht normativ gefordert wird, sondern durch einen »abgeschwächten Autonomiebegriff« empirisch beschreibbar wird. Autonomie bedeutet in der Systemtheorie nicht »die Abwesenheit von Beschränkungen«, sondern sie ist als eine »Form des Umgangs mit Beschränkungen zu verstehen« (Luhmann/Schorr 1988: 52f.). Zugleich hat sich in diesem Kontext in der Sozialen Arbeit ein Diskurs darüber entwickelt, ob es berechtigt sei, von dieser Autonomie auszugehen, oder ob nicht vielmehr für die Sozialpädagogik das politische System von entscheidender Bedeutung sei.

D AS V ERHÄLTNIS VON P OLITIK UND S OZIALPÄDAGOGIK In der Systemtheorie wird die Bedeutung des politischen Systems für die funktional differenzierte Gesellschaft limitiert: »Nicht die Ablösung intentionaler politischer Herrschaft durch ökonomisch-versachlichte Herrschaft markiere das Signum der neuen [kapitalistischen] Epoche, sondern die Umstellung des Primärprinzips gesellschaftlicher Differenzierung von politischer Identität auf eine Mehrzahl eigenlogisch operierender Funktionssysteme (Pahl/Meyer 2009: 291; Einfüg. d. Verf.). Das politische System bekommt die Funktion, die funktionale Differenzierung zu ermöglichen. Begründet wird dieser Fokus bei Willke (1996: 706f.) dadurch, dass das politische System in einer funktional differenzierten Gesellschaft an die Grenzen seiner Steuerungsmöglichkeiten stößt und deshalb nur dafür sorgen kann, dass die Funktionssysteme sich in bestimmten kontextuellen, staatlich-juristisch vorkonstruierten Rahmen selbst steuern können6. 6 | Hier ist ein Vergleich mit Foucaults Analyse zur neoliberalen Gouvernementalität sehr aufschlussreich, denn Foucault zeigt auf wie der Ordoliberalismus in Deutschland sich gerade dadurch begründet, dass die Freiheit des Marktes als Organisations- und Regulationsmechanismus eingerichtet wird und der Staat unter der Aufsicht des Marktes handeln solle anstatt umgedreht (vgl. Foucault Vor. 5, 1979/2006: 168f.). Es ist gerade der Verweis darauf, dass die Funktion des politischen Systems darin besteht das Funktionssystem der Wirtschaft so zu steuern, dass es sich selbst steuern kann. Die Begrenzung der Politik ist dabei die Möglichkeit der Politik (vgl. Baecker 2007).

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Entsprechend formuliert auch Baecker, dass die Politik sich selbst bremst und »genau darin die Einbindung der Politik in eine sich ausdifferenzierende Gesellschaft zum Ausdruck kommt« (Baecker 2007a: 106). Es stellt sich nun die Frage, wie sich diese Selbstlimitierung im Verhältnis zum Hilfesystem zeigt. Die Diskussion über die Autonomie der Sozialpädagogik drehte sich gerade in den 1990er Jahren um die Frage, inwieweit das Hilfesystem unabhängig vom politischen System sei. Weitgehende Einigkeit bestand in der Diskussion darüber, dass sich das Hilfesystem durch die Codierung »Hilfe-Nichthilfe« kennzeichne. Die Codierung bleibt aber abhängig von Programmen7, die jeweils festlegen, was darunter zu verstehen ist und wie Bedürftigkeit in Nicht-Bedürftigkeit zu transformieren ist (vgl. Weber/Hillebrandt 1999: 194ff.).8 Ebenfalls wird gemeinhin davon ausgegangen, dass der Übergang von der Abhängigkeit vom politischen System zur Autonomie des Hilfesystems ein schleichender Prozess sei. Die Anfänge des heutigen Hilfesystems können in der mit der binären Codierung der Funktionssysteme 7 | Sozialpädagogik würde sich weniger als ein eigenes Funktionssystem mit der binären Codierung Hilfe/Nicht-Hilfe entwickeln, als vielmehr über Programme laufen, da über Organisation bestimmt wird, wann welche Hilfe geleistet wird (vgl. Bommes/Scherr 2000: 109ff., vgl. Bommes/Scherr 2000b: 77). Entsprechend sei es kein primäres sondern ein sekundäres Funktionssystem. Dieses Statement wird versucht dadurch zu plausibilisieren, dass zwar alle einmal schulische Erziehung oder das Gesundheitssystem in Anspruch nähmen, dieses aber nicht für Sozialpädagogik gelte. Dort bestimmen politische Programme wie viele an Jugendbildung etc. teilnehmen (vgl. Bommes/Scherr 2000: 110). Diese Behauptung kann aber nicht aufrechterhalten werden, da auch der Zugang zum Kindergarten für alle als Möglichkeit eingeräumt ist. Ebenfalls hat prinzipiell jeder Jugendliche Zugang zur Jugendbildung, ohne dass diese Möglichkeit von allen genutzt würde. 8 | Während der Code nur zwischen bedürftig/nicht-bedürftig unterscheidet, und dadurch die operative Geschlossenheit des Systems ermöglicht, gewährleisten die Programme die Öffnung des Systems in seine Umwelt, indem sie festlegen, was jeweils unter Bedürftigkeit zu verstehen ist. »Programme sichern die Operationsfähigkeit des Codes« (Weber/Hillebrandt 1999: 199), ohne den Code selbst als »Strukturierungsmerkmal von Hilfe selbst ausschalten zu können« (Weber/Hillebrandt 1999: 199).

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entstehenden Unsicherheit gesehen werden, da mit ihr ein Übergang von sozialer zur sachlichen Differenzierung einherging und damit Familie und Schichtungen aufgebrochen werden (vgl. Luhmann 1991/2003: 90). Daraus entstand die Erwartung, dass das politische System für diese Nebenfolgen aufzukommen habe, was in gewisser Weise auch historisch beobachtet werden kann. So wurden z.B. die sozialen Kosten des industriellen Kapitalismus durch politische Entscheidungen an die Wirtschaft zurückgekoppelt, indem über Versicherungs- und Steuereinnahmen die Unternehmen für die Finanzierung sozialer Sicherheit in Verantwortung gezogen wurden. Zugleich kann aber die Systemtheorie auch deutlich machen, wo die Grenzen des politischen Systems liegen: Die politische Entscheidung für diese Form der Regulierung ist keine ›rationale‹ Lösung, wenn sie sich auch als wirksam herausgestellt hat, sie hängt vielmehr von der Umwelt des politischen Systems, den wählenden Bürgern ab, die sich über soziale Bewegungen (Arbeiter, Frauen, Christliche Bewegungen) formierten und politische Interventionen zur Linderung sozialer Missstände forderten. Sozialpädagogik verdankt sich somit einerseits den sozialen Bewegungen und andererseits den politischen Entscheidungen, die die sozialen Missstände aufgreifen, die keines der Funktionssysteme, »weder das der Politik noch das der Wirtschaft, […] als eigene erkennen würden« (Luhmann 2003 [1991]: 153). Am Anfang des 20. Jahrhunderts formierte sich aus den sozialen Bewegungen heraus das Hilfesystem in der Form der Fürsorge. Diese bildete eine systemspezifische Umwelt anderer Funktionssysteme wie z.B. demjenigen des über die Sozialversicherungen finanzierten Gesundheitssystems. Durch den sozialhygienischen Blick rekurrierte das Hilfesystem auf Wissen, welches es ermöglichte, sich von moralischen und religiösen Appellen zu distanzieren9 . Der weltanschaulich-politische 9 | Sofern Erziehungsmittel von Familie und Schule nicht ausreichten, um einen sittlichen Verfall zu vermeiden (vgl. Peukert 1986: 73), war der Eintritt in staatliche Erziehungsanstalten notwendig, um Menschen dort zur gesellschaftlichen Tüchtigkeit zu erziehen (vgl. Uhlendorff 2003: 265). Dabei handelte es sich aber vornehmlich um überwachende und strafende Maßnahmen, die selbst einen erzieherischen Effekt hatten. »Der Blickwechsel von der Angemessenheit der Strafe gegenüber der Straftat hinweg zur Wirksamkeit der Strafe auf die sittliche Besserung des Täters, also von der Sühne zur Erziehung, bedeutete keineswegs, dass die Tatfolgen für den Täter gemildert werden sollten, sondern vielmehr, dass sie

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Gehalt, der die Unterschichten mit einer bürgerlichen ›Sittlichkeit‹ verschreckt hatte, wurde durch den scheinbar wissenschaftlich-wertneutralen Begriff ›Gesundheit‹ verdeckt (vgl. Labisch 1992: 168). Gerade das von der Sozialhygiene hervorgebrachte Thema Prävention trug dazu bei, dass jede/r zu einem potenziellen Risikoträger konstruiert wurde. Es bestand die Gefahr eines potenziell umfassenden Eingriffs in die Gestaltung des Lebens aller Bürger, was die Wirkkraft des politischen Systems nicht unbedingt erhöht, sondern vielmehr in Frage stellt.10 Deshalb verwundert es nicht, wenn das Subsidiaritätsprinzip, das den Vorrang der Familie bzw. der privaten Wohlfahrtspflege vor der öffentlichen Wohlfahrtspflege regelte, eine hohe Relevanz bekam und sozialgesetzlich im Reichsjugendwohlfahrtsgesetz verankert wurde (Flickinger 1991). Das hatte Folgen für die Sozialpolitik, da die Wohlfahrtsverbände in die sozialpolitischen Entscheidungen über die Programme mit einbezogen wurden11 , um aus der Perspektive der Sozialpädagogik Kriterien legitimer möglichst zweckmäßig und wirksam zu gestalten seien.« (Peukert 1986: 75) Aus diesem Grunde kann davon ausgegangen werden, dass zu dieser Zeit nicht von einer Autonomie des Hilfesystems gesprochen werden kann. 10 | Stichweh vertritt die These, dass das Hilfesystem nur ein sekundäres Funktionssystem sei, weil die binäre Codierung Hilfe/Nicht-Hilfe nicht aus sich selbst heraus rekurriert werden könne, sondern diese vielmehr abhängig von den anderen Funktionssystemen sei. Die Funktion des Hilfesystems sei, sich auf die Exklusionsbedrohungen und Bearbeitungen auszurichten (vgl. Stichweh 2000: 35, Bommes/Scherr 2000: 107). Damit geht er nicht davon aus, dass Kriterien für Hilfsbedürftigkeit nicht aus der Sozialen Arbeit selbst heraus definiert werden können. 11 | Luhmann hat die Bedeutung der Akteure in seinen frühen Schriften hervorgehoben, aufgrund seiner Umstellung von einer umweltoffenen Handlungstheorie auf eine autopoietische Gesellschaftstheorie die Bedeutung der Akteure später aber geleugnet. Stattdessen setzte er auf den ›selbststeuernden‹, reziproken Kreislauf machtcodierter Kommunikation, welcher durch die Autopoiesis des politischen System ermöglicht wird (vgl. Lange 2003: 204). In seinem Spätwerk tauchen Akteure als korporative Personen in Form von Interessenverbänden wieder auf (vgl. Lange 2003: 244). Dabei betont Luhmann deutlich in Abgrenzung zu Wilke (1992), dass die akteurstheoretische Perspektive, die Verbände als Akteure des politischen Systems betrachtet, zu kritisieren sei, da sie in der Gefahr

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Hilfsbedürftigkeit mitbestimmen zu können (vgl. Merten 2001). Durch organisierte Verfahren werden ›externe Kommunikationsfähigkeiten‹ (vgl. Hasse/Krücken 2005: 7) des sozialpolitischen Systems ermöglicht. Das Verfahren der Beteiligung in den Sozialausschüssen setzt voraus, dass sein Ergebnis ungewiss ist. »›Prozedualisierung‹ der Legitimität heißt im Wesentlichen: Einstellung auf eine unbekannte Zukunft, in der entgegengesetzte Wertungen zum Zuge kommen.« (Luhmann 2000: 124.) Andere Präferenzsetzungen dürfen nicht negiert werden, sondern müssen auch die Möglichkeit haben, aktualisiert zu werden. Der Vorteil sei, dass Verfahren ohne Wertsetzungen auskämen und aufgrund dessen für ein ›postkonventionelles‹ Zeitalter angemessen erscheinen. Durch Verfahren wird im sozialpolitischen System ›Variation‹, die als »Abweichung vom Ausgangszustand« (Luhmann 2000: 192) des sozialpolitischen Systems verstanden wird, zugelassen (vgl. Kneer 2003: 155). Dabei geht die Verfahrensprozeduralität des kooperativen Sozialstaats über eine ›bloße Leerformel‹ hinaus, da sie der Politik die Möglichkeit gibt, zu zeigen, dass diese öffentliche Interessen wahrnimmt (vgl. Luhmann 2000: 125). Ein sozialpolitisches System ist erst dann wirklich autonom, wenn »es die eigene Negation enthält. Es muss anders gesagt, auch für den Fall der Selbstnegation selbst sorgen können.« (Luhmann 2000: 126) Das hat zur Folge, dass die Qualität der Ausgestaltung der Programme den Professionellen der Sozialen Arbeit überlassen wird, während der Rahmen und die Finanzierung der Programme dem sozialpolitischen System obliegt. Erst durch diese Form der Selbstnegation kann es wahrscheinlicher werden, dass Hilfe/Nicht-Hilfe nicht nur politischen sondern auch fachlichen Kriterien entspricht. Zwar werden die Programme nicht so verabschiedet, wie es aus der Perspektive des Hilfesystems optimal wäre, da eben das politische System und das Hilfesystem strukturell gekoppelt sind. Aber die Auswirkungen der politischen Entscheidungen zu Programmen können beobachtet und dann von neuem thematisiert werden. Das bedeutet, dass das, was Organisationen und ihre Programme ausmachen unter der Perspektive zu beurteilen sei, dass sie die Selektivität beobachtbar machen. Die dadurch stünde, zur Entdifferenzierung der Beschreibung des politischen Systems beizutragen. Stattdessen könne der Einbezug der Verbände als korporative Personen nur als Kontextsteuerung des politischen Systems bezeichnet werden, die sich im politischen System vollziehe (vgl. Lange 2003: 244).

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erkennbaren Lücken werden durch neue Programme wiederum bearbeitbar (vgl. Baecker 2007a: 229ff.). Deswegen ist es entscheidend, dass aus systemtheoretischer Perspektive nicht von einem einfachen Ableitungsbzw. Kausalverhältnis zwischen Politiksystem und Hilfesystem ausgegangen werden kann. Vielmehr stellt sich das Politiksystem genauso wie die anderen Funktionssysteme auf die Eigenlogik des Hilfesystems ein und vice versa. Die wesentliche Voraussetzung für die Autonomie des Hilfesystems ist aber nicht die Möglichkeit, auf sozialpolitische Programme Einfluss zu nehmen12 , bzw. den politischen Eingriff zu beschränken, sondern vielmehr, professionell, d.h. fallbezogen zu handeln13, wie es mit der Ausbildung der Sozialpädagogik seit 1908 etabliert wurde (vgl. Hörster 2003: 329). Der Umschwung zur Autonomie ist daran zu erkennen, inwieweit die Sozialpädagogik noch nach dem Schema Konformität/Abweichung funktioniert, anstatt sich auf eine Konstruktion von Fällen von Hilfebedürftigkeit einzulassen. Erst letzteres ermöglicht, dass es nicht mehr wie bei Konformität/Abweichung um die ganze Person geht, sondern vielmehr eine Formbezeichnung möglich wird, »in die die Adresse gebracht werden muss, damit das System seine Operationen über diese Adressen laufen lassen kann« (Fuchs 2004: 10). Deswegen kommen Bommes/Koch (2004: 94) zu dem Schluss, dass Sozialpädagogik ihre fragile Eigenständigkeit nur bewahren kann, »wenn sie sich an ihren eigenen Strukturen, den etablierten Standards zur Spezi12 | Bommes/Koch stellen dar, dass die »Spezifika organisierter Hilfe und damit ihre Eigenständigkeit verloren gehen, wenn […] Sozialpädagogik als Implementierungsform politisch moralischer Programme zur Reinklusion und Gleichstellung ganzer Kollektive missverstanden wird« (Bommes/Koch 2004: 94). 13 | Da das Hilfesystem nicht auf ein eigenes, symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium zurückgreifen kann, ist die Autonomie des Hilfesystems erst durch Professionalisierung möglich. Kurtz weist darauf hin, dass alle Funktionssysteme, die auf die Bearbeitung von Inklusionsproblemen spezialisiert sind, teilsystemspezifische Kommunikationsmöglichkeiten nicht durch ein eigenes, symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium fortführen, sondern der »jeweils positive Wert der Leitunterscheidung des Funktionssystems in der professionell betreuten Interaktion unter Anwesenden erarbeitet wird« (Kurtz 2000: 169).

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fizierung von Hilfsbedürftigkeit – Einzelfallbezug, Festlegung der Kriterien und Zielsetzungen von Hilfe, Bestimmung der Aussichten auf Erfolg und Identifikation von Hindernissen, Explikation der Erwartungen an die Klientel – ausrichtet, sich also Kriterien der Hilfe nicht von außen vorgeben lässt«. Merten zieht entsprechend im Anschluss an Baecker »die Möglichkeit theoretisch« (Merten 2000: 186) in Betracht, dass sich das Hilfesystem gegenüber den wohlfahrtsstaatlichen organisierten Programmen verselbstständigt (vgl. Baecker 1994: 95)14 . Bei dieser Argumentation besteht aber die Gefahr, dass die funktional differenzierte Gesellschaft als Voraussetzung kommunikativer Operationen gesetzt wird, anstatt in den Blick zu nehmen, wie sich die funktional differenzierte Gesellschaft in ihrer Praxis je neu bewährt (vgl. Nassehi 2004: 102, Hünersdorf 2000: 33ff.). D.h., dass Funktionssysteme nicht als Entität bestehen, sondern diese erst durch die Veränderung entsteht. Das Sprechen von Funktionssystemen ist eine Abstraktionsleistung, die es ermöglicht »Einzelbeobachtungen in Bezug auf ihren zeitlichen Verlauf in Beziehung [zu] setzen« (Vogd 2007: 6; Einfüg. d. Verf.). Die dadurch entstehenden Relationen können sich zu Systemen stabilisieren. Von Funktionssystemen kann dann gesprochen werden, wenn »der Gegenstand durch eine rekursive Iteration des Gegenstandes (mit)erzeugt wird« (ebd.). Dieses geht im Kontext des Funktionssystems der Hilfe durch einen binären Code Hilfe/Nicht-Hilfe und professionelle Entscheidungen, die sich an diesem binären Code ausrichten. Wenn professionelle Entscheidungen aber ökonomische Kriterien wie zahlen/ nicht-zahlen für entscheidender halten als fachliche Kriterien, wird das ökonomische System als primäre Differenzierung rekursive miterzeugt, während Hilfe/Nicht-Hilfe nur den Status einer sekundären Differenzie14 | Für Merten ist diese theoretische Möglichkeit aber eben nur begriffstheoretisch zu lösen, nicht aber empirisch, wenn er schreibt: »Als systeminternes Dual gestattet die Codierung »helfen/nicht-helfen« […] auf die Einheit des Funktionssystems Sozialpädadagogik zu reflektieren, wodurch zugleich die Schließung des Systems und die Organisation der Autopoiesis entlang des eingeführten Codes erreicht werden.« (Merten 2000: 187) Als empirischen Beweis für seine Argumentation bringt er die Expansion der Sozialen Arbeit ins Spiel (vgl. Merten 2000: 189). Dieser empirische Hinweis zeigt aber nicht auf, ob die Expansion eine Reaktion auf die Zunahme von Exklusionsrisiken anderer Funktionssysteme ist, oder aufgrund der Selbstreferenzialität des Hilfesystems.

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rung erhält. Dadurch können graduelle Differenzierungen zwischen den Funktionssystemen empirisch in den Blick genommen werden. Deswegen verwundert es auch nicht, wenn in der neueren systemtheoretischen Diskussion, so z.B. bei Dirk Baecker, die Autopoiesis der Funktionssysteme zunehmend in Frage gestellt wird. Das bedeutet aber nicht, dass damit der Gedanke, dass sich in spezifischen Kontexturen Kommunikation auf jeweils spezifische Art und Weise reproduziert, in Frage gestellt wird. Vielmehr wird hier der differenztheoretische Ansatz, allerdings mit anderen Mitteln, fortgeführt. Dadurch können, wie man am Beispiel von Vogds Untersuchungen zeigen kann, die Dualismen im Diskurs aufgehoben werden. Die Systemtheorie ermöglicht empirische Untersuchungen aber nicht nur auf der Ebene der Funktionssysteme, sondern auch auf den Ebenen der Organisation und der Interaktion, die als jeweils eigene Systemebenen in ihrer Differenz und Bedeutsamkeit für die Gesellschaft ausgewiesen werden. Der empirische Zugang ermöglicht auch Organisationen in ihrer Komplexität deutlicher in den Blick zu nehmen, als es gemeinhin üblich ist. So weist Vogd z.B. darauf hin, dass Organisationen nicht bestimmten Kontexturen zugeordnet werden können, sondern die Zuordnungen sich jeweils in verschiedenen Kontexturen aktualisieren. Jugendämter genauso wie Jugendhäuser sind dann nicht nur Organisationen des Hilfesystems, sondern zugleich des politischen Systems etc. Sie müssen sowohl Zahlungen, verschiedene Hilfeansprüche und Anerkennung im Hinblick auf ihre Qualität im politischen Kontext gewährleisten. Die empirische Wende ermöglicht es zu rekonstruieren, was das konkret für »sozialpädagogische« Organisationen bedeutet, worin diese sich unterscheiden etc. Dazu ist eine flexible und dynamische Rahmung in eine systemtheoretisch beeinflusste Methodologie notwendig, wie sie in den letzten Jahren in der Soziologie entwickelt wurde (vgl. Vogd 2007: 16). Diese empirische Wende in der Systemtheorie ist bis heute in der Sozialpädagogik kaum angekommen, sollte aber aus meiner Perspektive ein Ansatzpunkt für die Weiterentwicklung einer gegenstandsverankerten Theorie der Sozialpädagogik sein.

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S YSTEMTHEORIE UND DIE N ORMATIVITÄT SOZIALPÄDAGOGISCHER THEORIEBILDUNG Ausgangspunkt der Systemtheorie ist die Frage, wie soziale Ordnung möglich ist. Damit liegt der Fokus nicht auf einer Kritik der Gesellschaft, die auf einer normativen Orientierung an einer gerechten und der menschlichen Entfaltung dienenden Gesellschaft aufbaut, wie es klassischerweise für die Theorietradition der Sozialpädagogik der Fall ist (vgl. Scherr 2004: 55, Otto/Scherr/Ziegler 2010, 138ff.). Vielmehr steht die Frage im Vordergrund, wie Gesellschaft, obwohl sie unwahrscheinlich ist, doch möglich ist. Dieser Ausgangspunkt hat deutliche Folgen für die Frage nach der Normativität, da eine Kritik der Gesellschaft als ungerecht oder als entfremdend nicht möglich ist. Luhmann wendet sich explizit gegen eine normative Gesellschaftstheorie, da aus seiner Perspektive das »Böse« ebenfalls zur Gesellschaft gehöre. Normkonsens als Grundlage von Gesellschaft sei aus diesem Grunde nicht überzeugend. Vielmehr ginge es um die »Disjunktion von konformen und abweichendem Verhalten mit entsprechender Differenzierung von Erwartungen und Reaktionen« (Luhmann 2009b: 12f.). Im Anschluss daran formuliert auch Baecker, dass die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft ein beklagenswerter Zustand sei, dass aber diese Feststellung nicht mit der Tatsache verwechselt werden dürfe, dass es der Gesellschaft trotzdem gelänge, sich weiter zu reproduzieren15 . Wenn man die Frage stellt, was Gesellschaft zusammenhält, müssen immer beide Seiten: Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Glück und Unglück zusammen ge-

15 | Wie die Gesellschaft auch ohne Normen zusammengehalten werden kann, beantwortet Luhmann mit dem Bezug auf die »Form der Rekursivität« (Baecker 2009: 148). Das was gesellschaftlich passiert, wird zum Ausgangspunkt für weitere gesellschaftliche Ereignisse genommen. Die Gesellschaft wird nicht durch ein inhaltliches, sondern durch zeitliches Kalkül zusammengehalten. Das setzt voraus, dass gesellschaftliche Ereignisse als solche erkannt und fortgesetzt werden. Dabei bleibt das was Gesellschaft ist, unbestimmt (vgl. ebd.). Es wird nicht davon ausgegangen, dass die Gesellschaft bleibt, was sie ist, sondern, das durch die Reaktion auf störende Umweltereignisse, sich die Gesellschaft laufend ändert.

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dacht werden, um die empirische Reproduktion der Gesellschaft beschreiben zu können (vgl. Baecker 2007b: 148). Nassehi geht noch einen Schritt weiter, wenn er postuliert, dass die Funktionssysteme gegenüber den empirischen Ungleichheiten indifferent gehalten werden müssen, um die Form der Gleichheit wahren zu können. »Es ist gerade diese Indifferenz gegenüber Ungleichheit, die zum einen die enorme Ungleichheitstoleranz der Moderne ausmacht und die zum anderen den Funktionssystemen die Möglichkeit gibt, ihre eigenen Ordnungsprobleme nicht nur über sachliche, sondern vor allem als soziale Asymmetrien zu lösen.« (Nassehi 2004: 114) Die Argumentation kommt zu dem abschließenden Urteil, dass die soziale Ungleichheit nicht nur ein Zufall sei, sondern der gesellschaftlichen Logik zu entsprechen scheint. Deswegen stellt Nassehi die Frage, welche Funktion soziale Ungleichheit für die funktional differenzierte Gesellschaft habe. »Welches Bezugsproblem wird durch Ungleichheit gelöst, und warum gelingt es solchen Ungleichheiten sich auf Dauer zu stellen.« (Nassehi 20074: 112)16 Das bedeutet danach zu fragen, ob und unter welchen Bedingungen durch den Unterscheidungsgebrauch Asymmetrien erzeugt werden und zu beobachten, ob dies zur Kondensierung sozialer Asymmetrien führen kann. Mit dem Hinweis auf das Bildungssystem als ein Beispiel unter mehreren Funktionssystemen verweist Nassehi auf die Tatsache, dass der Unterscheidungsgebrauch gerade den Sinn habe, asymmetrische Positionen zuzuweisen. Das sei die Selektionsfunktion des Bildungssystems. Der Unterscheidungsgebrauch würde auf Dauer gestellt, wodurch er für eine weitere Verwendung wie den Unterscheidungsgebrauch auf dem Arbeitsmarkt praktikabel wäre. Dadurch könnten strukturbildende Effekte erzeugt werden (Nassehi 2004). Das hat für die Sozialpädagogik zur Folge, dass es nicht zu einem Ausschluss aus der Gesellschaft kommt, sondern Nebenfolgen entstehen (Hillebrandt 2004: 6; vgl. Luhmann 1997: 811), die diese zu bearbeiten hat. Die Selektionsfunktion gerade im Bildungs- und Wirtschaftssystem trägt dazu bei, dass viele Personen in der Folge mit Exklusionseffekten zu tun haben, die zu einem »spill-over-Effekt« (vgl. Fuchs 2000: 160) führen 16 | Diese Frage wird aus ›kritischer‹ Perspektive mit Bezug auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse beantwortet, wovon sich die Systemtheorie abgrenzt, da Macht auf das politische System begrenzt wird, anstatt es zur Erklärung gesellschaftlicher Differenzierung allgemein heranzuziehen (vgl. Hillebrandt [2004], Staub-Bernasconi [2000]).

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können17. Bommes/Scherr bestimmen die Funktion der Sozialen Arbeit in diesem Kontext als Exklusionsverwaltung, Inklusionsvermittlung und Exklusionsvermeidung (Bommes/Scherr 1996). Durch diese Beschreibung suggerieren sie, dass Sozialpädagogik unmittelbar an die Exklusionseffekte der Selektionsfunktion gebunden sei. Fuchs weist aber zurecht darauf hin, dass die Wahrnehmung des Hilfesystems, was als hilfsbedürftig zu betrachten ist, nicht mit der Wahrnehmung anderer Systeme und deren Einschätzungen übereinstimmen muss, da diese nicht auf diese Wahrnehmung spezialisiert sind (vgl. Fuchs 2000: 170). Gerade aber wenn der Aufmerksamkeitsfokus auf die Selektionsfunktion gelegt wird, wird in der Sozialpädagogik schnell von einer analytischen Beschreibung einer Gesellschaft zu einer Ursachenfrage übergegangen und die gesellschaftliche Selektionsfunktion in Frage gestellt, da sie eine gerechte Gesellschaft verunmöglicht. Deswegen verwundert es nicht, wenn einige systemtheoretisch einschlägige Autoren auf die Grenzen der Systemtheorie für die Beschreibung Sozialer Arbeit hinweisen (vgl. Hillebrandt 2004, Scherr 2004: 71). Sie betonen, dass es neben der funktionalen Differenzierung noch eine davon unabhängige soziale z.B. klassenbezogene Differenzierung gebe und es im Kontext der Sozialpäda17 | Die funktional differenzierte Gesellschaft verfügt über keine zentrale Regulierungsinstanz, die festlegt, wer zur Gesellschaft gehört. Dies vollzieht sich vielmehr über die Funktionssysteme (vgl. Merten 2001: 182f.). Hillebrandt zeigt auf, dass das Begriffsverständnis von Inklusion/Exklusion problematisch sei, da es sich theorietechnisch auf das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft bezöge (vgl. Hillebrandt 2004: 8, vgl. Merten 2001: 182f.). In diesem Zusammenhang könne es aber keinen sozialen Ausschluss bedeuten, »denn Exklusion und Inklusion treten immer zusammen auf, da Inklusion nur durch gleichzeitige Exklusion möglich ist« (Hillebrandt 2004: 8). Noch deutlich als Hillebrandt führt Nassehi zu dieser These aus, dass man in Funktionsssysteme auch inkludiert sei, wenn man z.B. wie beim Wirtschaftssystem nicht zahlen kann, in das Rechtssystem, wenn man kein Recht bekommt etc. Aus diesem Grunde spricht Nassehe von Inklusion als pure Faktizität in der funktional differenzierten Gesellschaft (vgl. Nassehi/ Nollmann 1999: 138). Zur Schärfung der Inklusionstheorien, sei es notwendig, sich über die Funktionssysteme hinaus auf die Systemreferenz der Organisation zu beziehen (vgl. Nassehi/Nollmann 1999: 139). Diese tragen systematisch zur Herausbildung sozialer Ungleichheit (horizontal und vertikal bei (vgl. Merten 2001: 182f., vgl. Nassehi/Nollmann 1999: 142).

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gogik darauf ankäme, einen Beitrag zur Verbesserung der Lebenschancen zu ermöglichen, die eine gleichberechtigte Teilhabe an den Funktionssysteme erlaube. Dazu sei ein Bezug auf die konkrete Lebenswirklichkeit (Scherr 2004: 71) bzw. Lebenswelt notwendig (Kleve 2001: 183)18. Spätestens hier wird die normative Ausrichtung nicht nur implizit, sondern explizit hervorgehoben (vgl. Scherr 2004: 71). Damit wird die funktionale Differenzierung nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr wird versucht, sie zu ergänzen. Offen bleibt aber, wie die normative Ergänzung theoriesystematisch möglich ist, wenn es keinen Ort mehr für die Frage nach gesellschaftlicher Identität und damit für die institutionelle Fokussierung der Frage nach dem ›guten‹19 bzw. ›gerechten‹ Leben mehr gibt. Damit wird anstatt auf Differenzierung wieder auf Integration durch Normen, wie etwa im Capability-Ansatz, umgestellt. Normativität soll aber nicht mehr als historisch gewachsen, sondern als rational begründet betrachtet werden (Otto/Ziegler/Scherr 2010). Aus systemtheoretischer Perspektive werden jedoch kollektive Verbindlichkeiten als Risiko für gesellschaftliche Komplexität gesehen, weswegen in der Systemtheorie das moralisch gute Leben auf die Funktionsäquivalente verschoben wird (vgl. Krohn 1999: 319). Anstatt auf eine alle Funktionssysteme übergreifende Moral zu setzen, die zur Sozialintegration beitragen soll, wird die Möglichkeit betont, dass jede/r potenziell in alle Funktionssystem inkludiert werden kann20. Darüber hinaus wird in der Systemtheorie betont, dass Funktionssysteme amoralisch kommunizieren (Fuchs 2004). Fuchs weist aber darauf hin, dass das Erziehungssystem und das der Sozialpädagogik Ausnahmen seien. Denn diese Systeme haben mit einem Dauerkonflikt zu tun, 18 | Kleve hält den Integration/Desintegrationsbegriff, beschränkt ihn aber auf die lebensweltliche Dimension der Familie und Freundschaften. Diese müsse systematisch ins Verhältnis zu der Inklusion(Exklusion in Funktionssysteme gesetzt werden, da sich gerade daraus Effekte für die Sozialpädagogik ergeben. Er schreibt »Personen müssen, um ihre psychische und physische Reproduktion zu sichern, sowohl lebensweltlich als auch funktionssystemisch partizipieren« (Kleve 2004: 182). 19 | Während Scherr (2010) eher die Betonung auf Lebenschancen und damit auf Gerechtigkeit legt, wird bei Dallmann das gelingende Leben eingefordert (vgl. Dallmann 2010: 82). 20 | Die Probleme, die sich bei der systemtheoretischen Thematisierung von Inklusion und Exklusion stellen, zeige ich weiter unten auf.

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der darin bestehe, einerseits vergleichbare Abschlüsse bzw. vergleichbare Hilfestellungen zur Re-Inklusion anbieten zu müssen, andererseits aber die Absicht nicht loslassen zu können, zu erziehen, bzw. den anderen anzuerkennen21 . Letzteres könne beides als moralisch bezeichnet werden. Moral ermögliche es, »bei aller Unsicherheit kräftig zu fühlen und zu handeln« (Luhmann 1993b: 333). Sozialpädagogik, die Adressenarbeit betreibt, komme um Moral, die sich über die institutionelle Moral22 hinaus auf die Anerkennung der Person bezieht, nicht herum, da sie zwischen der sozialen Adresse und dem Widerstand des psychischen Systems situiert sei (Fuchs 2004: 23) ist. Sozialpädagogik hat mit dem Problem zu tun, dass Hilfeangebote nur dann funktionieren, wenn sie tatsächlich an Leute gekoppelt sind und damit die Besonderheit des Falles gegenüber der Konditional- und Zweckprogrammierung Berücksichtigung findet (vgl. Fuchs 2004: 29). Aus diesem Grund entstehen Probleme zwischen sozialer Kommunikation, in der die Programmebene eine besondere Bedeutung erhält, und der interpersonalen Kommunikation professionellen Handelns. Moral hat die Funktion, diese Probleme zu regulieren (vgl. Fuchs 2004: 30). Das heißt, dass Moral dann greift, wenn das Medium, d.h. die Fallkonstruktion durch die Programme nicht überzeugt. Aus diesem Grunde ist das Hilfesystem auch ständig mit Unruhe und Unschärfe konfrontiert. Hier bleiben Misserfolge systematisch wahrscheinlich (vgl. Fuchs 2004: 31). Deswegen kann auch von einem prekären Status des Funktionssystems gesprochen werden (vgl. Fuchs 2004: 19). Funktional sei moralische Kommunikation nur dann, wenn die moralisch besetzte Inklusionssemantik sich schnell mit der Funktion des Systems, d.h. der Wiederherstellung der Chance zur ReInklusion zusammenschließen ließe (vgl. Fuchs 2004: 16). Es wäre daher nicht plausibel, dass sich Sozialpädagogik als moralisch »heiße Zelle der Gesellschaft« darstelle. Sozialpädagogik sollte eher Moralvermeidungsex21 | Luhmann versteht unter Moral die wechselseitigen Achtung und Missachtung unter Menschen (vgl. Luhmann 1993: 333). 22 | Organisationen seien zwar personenempfindlich, aber nicht moralisch reizbar (vgl. Fuchs 2004: 20). Krohn nennt diese Nichtreizbarkeit der Organisationen auch »institutionelle Moral« mit der eine funktionsspezifische Verbindlichkeit gemeint ist. »Sie wehrt universelle Ansprüche ab, indem sie Code-Verletzungen markiert, was ermöglicht sich auf das zu beschränken, was sie leisten kann.« (Krohn 1999: 321)

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perte werden und damit eine minimalistische Professionsethik fahren, um nicht Menschen auszuschließen (vgl. Fuchs 2004: 21). Die Möglichkeit der Protestmoral für die Sozialpädagogik wird damit von diesen Autoren nicht wahrgenommen. Hintergrund bildet folgendes Argument: »Eine Kommunikation tritt als moralisch auf, wenn sie suggeriert oder explizit macht, dass Selbstachtung und Achtung anderer, von der Erfüllung bestimmter Bedingungen abhängen. Wer in diesem Sinne moralisch kommuniziert, deutet an, dass er andere nicht achten kann, wenn sie sich nicht an die mitkommunizierten Bedingungen halten; und er setzt zugleich seine Selbstachtung aufs Spiel, er bindet sich selbst an die mitgeteilte Moral und erschwert sich damit die Möglichkeit, seine Meinung zuträglich zu revidieren.« (Luhmann 1993: 331f.) An anderer Stelle erkennt Luhmann aber deutlich die Funktion des Protests an, wenn er schreibt, dass die sozialen Bewegungen die Themen aufgreifen, die keines der Funktionssysteme, weder die Politik noch die Wirtschaft, […] als eigene erkennen würden« (Luhmann 2003 [1991]: 153). Die Funktion von Protest ist somit, Reflexionsdefizite der modernen Gesellschaft zu kompensieren und eine Sensibilität für Strukturentscheidungen der Gesellschaft zu schaffen (vgl. ebd.: 153f.). Dieses geschieht nicht nur auf der Ebene der Gesellschaft durch die Herausbildung neuer Funktionssysteme, sondern auch auf der Ebene von Programmen im Kontext des politischen Systems. Durch kontroverse Diskurse kommt es aber zum Aufbau neuer Institutionen, »die als moralisch responsiv gegenüber moralischen Protest ausgegeben werden können« (Krohn 1999: 321). Das kann als anwaltschaftliches Eintreten für die AdressatInnen der Sozialpädagogik betrachtet werden, wie es stellvertretend über die Wohlfahrtsverbände geschieht. Dann nimmt es nicht die Form an, die aus den sozialen Bewegungen bekannt ist, sondern vielmehr die sachliche Form des Gegenarguments von Experten, die auf soziale Probleme hinweisen und konstruktive Vorschläge entwickeln, die in den Verfahren verhandelt werden (siehe oben). Diese können aber nur die Entscheidungen im politischen System irritieren, nicht aber determinieren. Dass die Sozialpädagogik im Unterschied zur Soziologie der Hilfe sich mit dieser Protestmoral als Grundlage für das Hilfesystems ›identifiziert‹, hängt nicht zuletzt mit ihrer historischen Selbstbeschreibung zusammen (siehe oben), die letztlich aber mit der Idee der Verbesserung der Praxis verknüpft ist. Die durch den systemtheoretischen Zugriff vorgenommene Selbstbeschreibung führt dennoch zur Irritation, da sie zugleich mit der anderen Perspektive der Soziologie der Hilfe konfrontiert wird. In der

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systemtheoretischen Perspektive der Sozialpädagogik geht es dann um die Vermittlung zwischen den Wirklichkeitssichten der Sozialpädagogik einerseits und der Soziologie des Hilfesystems andererseits, wie es hier angedeutet wurde. Diese Vermittlung kann aber nur empirisch fundiert sein. D.h. anstatt moralische Kommunikation vorauszusetzen gilt es zu rekonstruieren, wann und wie sich diese entwickelt und welche Folgen von ihr im zeitlichen Verlauf ausgehen. Gleiches gilt für die Protestmoral. Anstatt sich mit ihr grundsätzlich zu identifizieren, gilt es zu beobachten, was passiert wenn sie sich generiert und welche Veränderungen mit welchen Effekten davon ausgehen.

D AS S UBJEK T UND DIE S YSTEMTHEORIE Die moralische Perspektive geht in der Sozialpädagogik häufig eine Verbindung mit dem Subjektbegriff ein und wird als strategischer Ausgangspunkt der Theoriebildung der Sozialpädagogik genommen (Winkler 1988), um das Subjekt der Gesellschaft gegenüber zu stellen. Zunächst geht es darum aufzuzeigen, warum sich die Systemtheorie überhaupt so schwer mit dem Subjektbegriff tut, um dann die möglichen Anschlüsse und Verschiebungen, die mit dem Subjektbegriff verknüpft werden, darzustellen. Im Anschluss werden die Möglichkeiten und Probleme aufgezeigt, die die Sozialpädagogik mit diesen systemtheoretischen Anschlüssen hat. Der Subjektbegriff spielt für die Systemtheorie keine zentrale Rolle, da eine soziologische Betrachtung des Subjekts immer wieder einer ›Anthropologisierung‹ verfallen würde. Einerseits soll Handeln daher dem Menschen zugeschrieben werden, andererseits soll es aber nicht in ihm aufgehen, sondern vielmehr eine Reflexionskategorie darstellen (vgl. Luhmann 2009, b: 89). Gerade im Kontext der sozialpädagogischen Tradition der Erziehungswissenschaft bekommt nun im Gegensatz dazu der Subjektbegriff eine zentrale Rolle. Ihm wird Freiheit zugeschrieben (vgl. ebd.), wenn es darum geht, Autonomie und Emanzipation einzufordern. Voraussetzung dafür wäre aber, dass immer das Gegenteil, d.h. dass Heteronomie in der Autonomie appräsentiert ist (vgl. Luhmann 1997: 1027). Wer für die Beschreibung der Gesellschaft das Subjekt als zentrale Kategorie einführt, indem er/sie die Gesellschaft als Gesellschaft von Subjekten darstellt, muss allerdings mit einem Paradox kämpfen. Das

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Subjekt soll einerseits etwas Individuelles und andererseits etwas Allgemeines sein. Das Individuelle wird zugleich als Allgemeines am Subjekt verstanden. In der philosophischen aber auch in der erziehungswissenschaftlich-sozialpädagogischen Tradition wurde dieses Problem transzendentalphilosophisch aufgelöst, wie z.B. bei Natorp (1925). Damit wird aber die Grundlage für eine Gesellschaftstheorie entzogen, was für eine sozialpädagogische Theorie, die sich gesellschaftstheoretisch fundieren möchte, aus systemtheoretischer Perspektive keine Lösung darstellen kann. Der in der Lebensweltorientierten und rekonstruktiven Sozialpädagogik gewählte Ausweg über Intersubjektivität ist aus Luhmanns Perspektive nicht überzeugend, da das grundsätzliche Problem des Subjekts durch das »Inter« nicht gelöst werden kann (vgl. Luhmann 1997: 1028f.). Deswegen kommt Luhmann zu dem Schluss, dass das Soziale vom Subjekt aus nicht zu denken ist (vgl. a.a.O.: 1030)23 . Wenn aber das Subjekt aus den von Luhmann genannten Gründen aufgegeben werden muss, dann stellt sich die Frage, was damit gewonnen wird, aber auch verloren geht. Aus Luhmanns Perspektive ist das, was am Subjekt als interessant erscheint – die Reflexion – etwas was in einer Gesellschaftstheorie auf eine andere Art und Weise bearbeitet werden muss. Er plädiert für die »Aufhebung des Subjekts in einer Generalisierung seiner Form, in einem Versuch der Ausweitung auf sinnhafte Prozesse und Systeme schlechthin« 23 | Habermas’ Versuch, das Problem des bewusstseinsphilosophischen Subjekts zu lösen, schätzt er hingegen als deutlich »besser« ein, wenn auch die transzendentalphilosophische Grundlegung durch einen normativen Vernunftbegriff erkauft wird. »Das Individuum erscheint als Subjekt, sofern es den Anspruch begründet geltend machen kann, eigenes Verhalten (inklusive die eigene Anerkennung des Verhaltens anderer) an vernünftigen Gründen zu orientieren« (Luhmann 1997: 1031). Dann kann kaum mehr vom Subjekt gesprochen werden. Vernünftige Selbstbestimmung wird vorausgesetzt und an den negativen Durchsetzungsschwierigkeiten erprobt. Emanzipation kann sich dann nur durch Kommunikation vollziehen, wobei dann fraglich ist, ob das Subjekt selbst noch nötig ist, oder ob nicht die Kommunikation selbst und damit die Gesellschaft der Grund für die Kommunikation ist (vgl. ebd.f.). Aber genau das, was Luhmann hier an Habermas’ Versuch, das Subjekt zu ›retten‹, schätzt, wird in der sozialpädagogischen Rezeption dieses Ansatzes bei Mollenhauer in Frage gestellt, da die transzendentalphilosophische Grundlegung pragmatisch gewendet wird (vgl. Keckeisen 1984).

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(Luhmann 2009c: 88). Damit wird der Begriff der Reflexion auf Gesellschaftssysteme übertragen. Der Reflexionsbegriff wird auf dieser Ebene von Luhmann streng relational gefasst24 . Es sei der »unwahrscheinlichste Fall der Relationierung« (Luhmann 2009c: 90), der der Selbstthematisierung eines sozialen Systems, um die Einheit des Systems für die Teilsysteme zugänglich zu machen (vgl. Luhmann 2009c: 91). Diese Einheit ist sinnhaft konstituiert und gegenüber der Umwelt abgegrenzt. Im Rahmen der Selbstthematisierungen der sozialen Systeme können Selbstthematisierungen der psychischen Systeme nicht thematisiert werden, sondern nur die kulturellen Vorschriften für die Selbstthematisierungen des Subjekts (vgl. Luhmann 2009c, S. 91). Entsprechend formuliert Fuchs, dass der Mensch in der Gesellschaft nur als Kommunikation vorkommt, z.B. in der Kommunikation als Thema und im Bewusstsein als Gedanke. »Er ist das (ein) ausgeschlossene(s) Dritte(s) dieser Unterscheidung, auf beiden Seiten ›irrealisiert‹ und dadurch als Realität unerreichbar, immer nur erscheinend als das, was er nicht ist (Gedanke oder Kommunikation).« (Fuchs/Göbel 1994: 17) D.h., dass der Mensch als Mensch weder von Kommunikation noch vom Bewusstsein direkt erreicht wird (vgl. Fuchs/Göbel 1994: 17). Die soziale Konstruktion des Menschen als soziale Mitteilung in der Kommunikation kann als »Konstruktion einer Kontingenzunterbrechung, eines externen Widerparts, eines Zwangs zur Einrechnung einer Nichteinrechenbarbarkeit« begriffen werden, »die in immer mehr Kommunikationen der Gesellschaft als Mittel der Restriktion arbiträrer Anschlüsse benutzt wird« (Fuchs/Göbel 1994: 14). Für die Sozialpädagogik bedeutet das, dass in der Systemtheorie davon ausgegangen wird, dass der Bezug auf das Leiden25 des Menschen dazu beitragen würde, dass das Hilfesystem »aus24 | Die Relationierung ermöglicht die Spezifizierung und Schematisierung von lebensweltlichen Verweisungshorizonten. Das was aufeinander Bezug nimmt wird kontingent gesetzt, was bedeutet, dass es auch immer anders möglich ist. Diese Möglichkeiten werden aber durch bestimmte Bedingungen der Möglichkeiten eingeschränkt. Diese nennt Luhmann Kontext. Durch ihn werden »nicht-kontingente Beziehungen zwischen Kontingenten konstituiert« (Luhmann 2009, 2, b: 90), die Sinn gebende Kontexte hervorbringen. 25 | In der Kommunikation bezeichnet der Ausdruck Gefühl, »dass Wahrnehmungen nicht vollständig bezeichnet werden können, und: dass es auf diese Unvollständigkeit ankommt« (Fuchs 2004: 103). Dadurch entsteht eine Unverfüg-

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ufert«. Deswegen wird auf Hilfebedürftigkeit umgestellt (vgl. Fuchs 2000: 169). Die Sozialpädagogik bezieht sich nicht auf beschädigte Individuen, sondern auf soziale Adressen (vgl. Fuchs 2000: 163). Anschlussfähig ist im System nur das, was für das System der Fall ist (Falldeklaration). »Es findet nicht Fälle ›da draußen‹, es konstituiert sie intern – nach Maßgabe eigener Kriterien, die zweifelsfrei durch Leistungen anderer Funktionssysteme (vor allem: Recht, Wirtschaft, Politik) unterfüttert sind, die aber nichts daran ändern, dass nur dieses System die Falldeklaration vornimmt und sich dabei zur Arbeit an seinen Fällen stimuliert.« (Fuchs 2000: 163) Als soziale Adresse spielen sie als »Thematisierungshorizont innerhalb des kommunikativen Geschehens« (Nassehi/Nollmann 1999: 134) eine zentrale Rolle. Sie tauchen hier aber nur als Dividualitäten auf. In welcher diese sich konkretisieren, ist gesellschaftlich historisch spezifisch. Aus diesem Grunde führt Luhmann an dieser Stelle im Hinblick auf andere Funktionssysteme, wie z.B. das Erziehungssystem, semantische Analysen durch, um darzustellen, wie sich die Thematisierungen der sozialen Adressen verändern. Solche Analysen fehlen aber bislang im Rahmen der systemtheoretischen orientierten Sozialpädagogik vollständig26. Darüber hinaus wird in der Sozialpädagogik lieber auf die Exklusionsindividualität eingegangen, da sich hier Individualität von Individuen bestimmt und dieses am ehesten dem sozialpädagogischen Verständnis von Subjekt entspricht. ›Exklusionsindividualität‹ kann als Folge von ›Inklusionsindividualität‹ betrachtet werden. Erstere ist ins Verhältnis zu den selbstreferentiellen Funktionssystemen zu setzen (vgl. Luhmann 1997: 618ff.). Exklusion bedeutet Freiheit von vorgängigen Bindungen und für Individuen die Möglichkeit von Inklusionen in soziale Systeme. Deswegen ermöglicht die Differenzierung von Inklusionsindividualität und Exklusionsindividualität erst, die Pluralität der Lebensformen systematisch zu denken (vgl. Nassehi/Nollmann 1999: 137, Bommes/Scherr 2000: 70). Im Kontext der Exklusionsindividualität wird »die Einheit des Subjekts als Paradox der Selbstbeobachtung weitergeführt. Die Entfaltung des Paradox barkeit des Gefühls, weswegen das Gefühl als authentisch, echt wirkt (vgl. Fuchs 2004: 107). 26 | Scherr verweist zwar auf die Notwendigkeit, die diskursive Organisation der Hilfsbedürftigkeit zu eruieren (Scherr 2004: 67ff.), er wechselt aber hier den Theorierahmen, da er dieses diskurstheoretisch einfordert, ohne zu begründen, warum eine semantische Analyse des Mediums nicht ausreichend ist.

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kann verschiedene Wege nehmen je nach dem, wovon das Subjekt sich unterscheidet, um seine eigene Identität bezeichnen zu können. Das aber heißt, dass es keine Garantie dafür gibt, dass alle Subjekte denselben Lösungsweg nehmen; noch eine Garantie dafür, dass ein Subjekt von Situation zu Situation die es identifizierenden Unterscheidungen wechselt […] Das Subjekt wäre dann die jeweils neu zu aktualisierende Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz mit jeweils anderen Bestimmungen. Es wäre die Form der Unterscheidung von System und Umwelt in das System.« (Luhmann 2008: 153) In der Biographieforschung, in der die paradoxe Selbstbeobachtung der Exklusionsindividualität zum Gegenstand gemacht werden könnte, wird aber nicht psychische Wirklichkeit rekonstruiert, sondern in der biographischen Kommunikation kommen soziale Semantiken und soziale Erwartungsbildungen zum Tragen (vgl. Nassehi 1995: 115)27. In sozialpädagogischer Perspektive wird die Grenze der Systemtheorie, der Bezug auf das Soziale, aber als fragwürdig betrachtet. Es werden die Konsequenzen betont, die daraus folgen, dass Sozialpädagogik als soziales System soziale Adressen inkludiert, um sie zu exkludieren (Fuchs 2000: 165). Das psychische System sei an Kommunikation und damit an die soziale Adresse ›nur‹ strukturell gekoppelt. Sozialpädagogik (als Kommunikation, die sich auf spezifische Kommunikationsstrukturen konzentriert) ist dann »Umweltarbeit«.28 »Sie ist in genauem Sinne ökologisch […]. Die Individuen (Sozialarbeiter/Sozialpädagogen) mögen dann darauf hoffen, dass die Arbeit an den Adressen (via strukturelle Kopplung) zugleich durchschlägt auf die Individuen in der Umwelt des Systems.« (Fuchs 2000: 166, vgl. Scherr 2001) An dieser Stelle wird die Diskrepanz zwischen Soziologie und Sozialpädagogik deutlich, da Sozialpädagogik, wenn sie als Bezugspunkt das Interventionssystem hat, sich nicht auf die soziologische Beschreibung des 27 | Einzelerscheinungen der biographischen Erzählung werden nach ihrem Problembezug und Bezugsproblem befragt. Damit wird der intentionale Gehalt einer Aussage überschritten. Das Bezugsproblem kann wirksam sein, ohne, dass es jemandem bewusst ist (vgl. Nassehi 1999: 123). Die Systemtheorie geht aber nicht davon aus, dass es wie bei Oevermann eine übergreifende Struktur gibt, sondern vielmehr wird betont, »dass es jeweils auch anders hätte konstituiert werden können, auch wenn der selbe ›Mensch‹ dahinter gesteckt hätte« (Nassehi 1995:. 360). 28 | Vgl. auch Nassehi/Nollmann 1999: 134

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Hilfesystems beschränken kann. Der Bezug auf die moralische Kommunikation (vgl. oben) versteht sich als Versuch, zwischen der soziologischen Beschreibung und der sozialpädagogischen zu vermitteln und durch die rekursive Differenzbildung zur Soziologie (des Helfens) einerseits und des Hilfesystems andererseits sich selbst als System zu generieren.

S CHLUSS Die Systemtheorie trägt systematisch zur Desillusionierung in der Sozialpädagogik bei. Dadurch ermöglicht sie es aber, dass das Hin- und Her zwischen Allmachts- (besser, gerechter als andere Professionen und Organisationen zu sein) und Ohnmachtsphantasien (nur einen geringen gesellschaftlichen Einfluss zu haben) der Sozialpädagogik zum Ende kommt. Dadurch dass die Systemtheorie sich als empirische Theorie versteht, die die Beschreibung des Gegenstandes mit der Beschreibung des Gegenstandes vollzieht, gelingt es ihr nicht nur eine Soziologie des Hilfesystems zu ermöglichen, sondern die Differenz der Beobachterperspektive zwischen einer Soziologie des Hilfesystems und der Sozialpädagogik als Wissenschaft theoretisch zu begründen und die damit einhergehenden Verschiebungen in der Beschreibung des Gegenstandes aufzuzeigen. Letztendlich Erfolg versprechend wird das systemtheoretische Projekt der Sozialpädagogik aber nur sein, wenn es sich zukünftig empirisch ausrichtet. Anstatt Grundsatzpositionen zu beziehen, ob das Hilfesystem autonom ist oder nicht, läge dann der Fokus auf der Beobachtung, in welcher Weise und mit welchen positiven wie negativen Folgen für welches System Sozialpädagogik auf der Ebene der Interaktion, der Organisation und des Funktionssytems operiert. Dazu muss die Systemtheorie der Sozialpädagogik aber empirisch die verschiedenen Formen struktureller Kopplungen systematisch in den Blick nehmen, um der Polykontextualität, in die Sozialpädagogik eingebunden ist, gerecht zu werden.

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Zur diskursanalytischen Thematisierung von Gesellschaft 1 Fabian Kessl

Diskursanalytische Bestimmungsversuche etablieren sich erst in jüngster Zeit in der deutschsprachigen Debatte um Soziale Arbeit (vgl. Behnisch 2005; Grubenmann 2007; Kessl 2005; Spies 2010; Wilhelm 2005). Dazuhin herrscht Unklarheit über ihre methodologische Positionierung: Diskursanalytische Bestimmungsversuche werden entweder als empirischmethodische Vorgehensweisen platziert, indem ihnen der Rang einer »Forschungsmethode« zugewiesen wird (vgl. dazu die Positionierung der Beiträge in Bock/Miethe 2010 und Oelerich/Otto 2010), oder sie werden in einer Matrix theorie-systematischer Modelle mit anderen sozialtheoretischen Ansätzen verschränkt: Vor allem das Inbezugsetzen von diskursund gouvernementalitätsanalytischen Ansätzen ist hier zu beobachten (vgl. May 2010: 168ff.). Insofern könnte die LeserIn dieses Kapitels gleich zu Beginn die berechtigte Frage stellen: »Wieso diskursanalytische Ansätze in einem Band, der sich Gesellschaftsbildern Sozialer Arbeit widmet«? Schließlich kommt den diskursanalytischen Ansätzen – erstens – in den gesellschafts- und sozialtheoretischen Debatten um Soziale Arbeit in keiner Weise jene Prominenz zu, die für fast alle anderen in diesem Band repräsentierten Ansätze verzeichnet werden muss. Zweitens ist davon auszugehen, dass die Aufnahme eines Beitrags in den vorliegenden Band nur für die Ansätze sinnvoll erscheint, die auch den Anspruch formulieren – oder zumindest immanent transportieren – gesellschafts1 | Für einige entscheidende Hinweise zu den nachfolgenden Überlegungen danke ich Marie Frühauf, Martina Lütke-Harmann und den Mitherausgebern ganz herzlich.

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F ABIAN K ESSL

theoretisch arrangiert zu sein. Die inzwischen beobachtbare Platzierung diskursanalytischer Ansätze in Lehr- und Handbüchern geschieht aber unter der Überschrift empirisch-methodischer Zugänge. Daher könnte die Frage nach einem Gesellschaftsbild der Diskursanalyse als eine eher unangemessene Frage kategorisiert werden, zumindest wenn man der viel verbreiteten Einschätzung folgt, dass Theoriebildung von empirischen Zugängen zu unterscheiden ist. Hätte daher – drittens – in dem vorliegenden Band statt dieses Beitrags zu diskursanalytischen Ansätzen nicht besser ein Beitrag zu gouvernementalitäts- und damit machtanalytischen Ansätzen erscheinen sollen? Schließlich markieren eine Reihe machtanalytisch argumentierender AutorInnen den expliziten Anspruch, die dauerhafte Form des kooperativen Zusammenlebens bzw. »des ständigen Mit- und Gegeneinanderwirkens von Menschen« (Ritsert 2000: 9), also »Gesellschaft«, in den forscherischen Blick zu nehmen: Lars Gertenbach (2008: 8) eröffnet seine Studie zur Gouvernementalität des Neoliberalismus beispielsweise mit der gesellschaftsanalytisch eindeutigen Diagnose: »Unlängst ist der Neoliberalismus zur Chiffre gegenwärtiger Gesellschaften geworden«; Tina Denninger u.a. (2010: 230) enden in ihren gouvernementalitätsanalytischen Reflexionen zu einer neuen Regierung des Alter(n)s mit einem analogen Verweis: Ihr Artikel leiste einen Beitrag, so schreiben sie, »die ›alternde Gesellschaft‹ nicht nur besser zu verstehen, sondern auch anders gestalten (zu wollen)«. Auch in der Sozialen Arbeit dient der Verweis auf Gouvernementalitätsanalysen häufig dem Beleg, dass diese sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts in einer »ökonomisierten Gesellschaft« (Dederich 2009) zu bewegen habe bzw. aufgrund der veränderten aktivierungspolitisch regulierten Gesellschaftsformation »zunehmend zur professionalisierten Reglementierungs- und Regierungstechnik degeneriert« (Dahme/Wohlfahrt 2007: 273). Studien zur Gouvernementalität fokussieren als politische Studien also die Frage der Regulierung und Gestaltung sozialer Zusammenhänge (vgl. Rose 1999), und somit die aus »Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken gebildete Gesamtheit« (Foucault 1978/2004: 162; Hervorh. d. Verf.). In diesem Sinne könnte es doch folgerichtig scheinen, für eine Substitution dieses Beitrags zu diskursanalytischen durch einen zu machtanalytischen Ansätzen zu plädieren – und diese Entscheidung mit Verweis darauf zu legitimieren, dass

Z UR DISKURSANALY TISCHEN T HEMATISIERUNG VON G ESELLSCHAFT

der letztgenannte Ansatz konstitutiv gesellschaftstheoretisch ausgerichtet sei – geht es Studien zur Gouvernementalität doch um die Gesamtheit sozialer Zusammenhänge. Dazuhin könnte für eine solche Substitution der Verweis auf jüngste kultur- und sozialwissenschaftliche Debatten herangezogen werden, die auf hohe Korrespondenzen zwischen diskurs- und machtanalytischen Ansätzen hinweisen (vgl. Angermüller/Dyk 2010). Jens Maeße (2010: 102) formuliert in diesem Kontext: Diskursanalytische Ansätze unterstreichen »anders als unterschiedliche qualitative Verfahren« die »Heterogenität und Vielschichtigkeit des Diskurses« und werden daher »in besonderer Weise der Theorieperspektive der Gouvernementalitätsforschung methodisch gerecht«. Im Anschluss an derartige Positionen ließe sich also die Lesart ausbuchstabieren, dass erst machtanalytische Perspektiven, wie sie die Studien zur Gouvernementalität anbieten, die gesellschaftsheoretische Dimension in eine diskursanalytisch arrangierte Forschung einbringen können. Ein weiterer Beleg für diese These ließe sich aus der methodologischen Anlage erster diskursanalytisch arrangierter Einzelstudien in der deutschsprachigen Sozialen Arbeit generieren: Tanja Spies (2010) arrangiert zum Beispiel ihre migrationstheoretische Männlichkeitsstudie mit einem artikulationstheoretischen Diskurskonzept im Anschluss an Stuart Hall: Sie fasst damit Biografien migrantischer Männer als Artikulationen, und insofern aus einer hegemonietheoretischen Perspektive; und Elena Wilhelm (2005: 29) konnotiert ihre diskurshistorische Studie zur Entstehungsgeschichte der modernen Jugendfürsorge in der Schweiz als eine »Aufschlüsselung der Kräfteverhältnisse«, in denen die »konkreten Praktiken und Diskurse eingeschlossen sind«, womit sie die machtanalytische Perspektive Michel Foucaults selbstverständlich und explizit mit seiner genealogisch-diskursanalytischen Perspektive verbindet. Doch ist der gesellschaftsanalytische Anspruch von machtanalytisch argumentierenden AutorInnen und die mögliche Verkopplung von diskursanalytischen und gouvernementalitätsanalytischen Perspektiven tatsächlich ein Beleg für das gesellschaftstheoretische Defizit diskursanalytischer Ansätze – und damit zugleich ein Beleg von deren Gestalt als nur forschungsmethodischer Zugang? Die Konstruktion dieser Frage als nur rhetorisch deutet bereits an, dass dagegen Zweifel angemeldet werden – und dass die formulierten drei Einwände gegen eine Platzierung dieses Beitrags in einem Band zu »Gesell-

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schaftsbildern Sozialer Arbeit« auf den zweiten Blick keineswegs mehr so stichhaltig sind, wie der erste Blick eventuell suggerieren könnte. Deshalb werden die drei formulierten Einwände im Folgenden kritisch diskutiert, und damit die Entscheidung für die Platzierung dieses Beitrags im vorliegenden Band begründet und zugleich die Frage des Gesellschaftsbildes Sozialer Arbeit in diskursanalytischen Herangehensweisen bearbeitet.

1. D REI E INWÄNDE Der erste Einwand der fehlenden Prominenz diskursanalytischer Ansätze wäre dann triftig, wenn diskursanalytische Ansätze in den Auseinandersetzungen um eine theoriesystematische Positionierung zur Sozialen Arbeit tatsächlich keine oder nur eine marginale Rolle spielten. Dann wären sie selbstverständlich als Repräsentantinnen der aktuellen Debatten in und um Soziale Arbeit falsch adressiert. Doch davon kann keineswegs die Rede sein. Trotz ihrer bisher noch eher randständigen Position im Orchester der genutzten Forschungszugänge haben diskursanalytische Ansätze eben bereits den Einzug in Lehr- und Handbücher gefunden. Dieser Sachverhalt stellt immer auch einen Beleg für eine Relevanzmarkierung in der wissenschaftlichen Debatte dar.2 Doch nicht nur das. Ein erneuter Blick auf die Debatten verrät dazuhin, dass die Frage nach einem Gesellschaftsbild diskursanalytischer Ansätze vorschnell als irrelevant abgestempelt wäre, wenn man übersieht, dass diese stellvertretend für eine methodologische Diskussion der letzten Jahre stehen können. Gegenüber einer Fokussierung umfassender »Bewegungsgesetze(n) und Ordnungsprinzipien« (Bröckling/Krasmann/Lemke 2004: 9) wird dabei zunehmend eine Hinwendung auf die mikro-formatigen Deutungs-, Markierungs- und Positionierungsmuster präferiert. Und in diesem veränderten Kontext werden im Folgenden die diskursanalytischen Ansätze posi2 | Das gestiegene Interesse an diskursanalytischen Ansätzen in der deutschsprachigen Sozialen Arbeit zeigt sich neben der Aufnahme entsprechender Beiträge in aktuelle Hand- und Lehrbücher zur empirischen Forschung auch in dem Angebot von Workshops zur Diskursanalyse im Rahmen von zentralen Methodenworkshops (z.B. als Angebot im Vorfeld der Bielefelder Empirie-AG 2010 und 2011).

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tioniert. Ordnet man diskursanalytische Vorgehensweisen in dieser Weise methodologisch ein, dann lassen sie sich nämlich als ein exemplarischer Systematisierungsversuch im Rahmen veränderter gesellschaftstheoretischer Vorgehensweisen – neben und in Korrespondenz unter anderem zu praxistheoretischen und wissenssoziologischen Ansätzen – verstehen. Im Unterschied zu früheren sozialwissenschaftlichen Strukturierungsmustern werden diese mikro-formatigen Zugriffe aber nicht parallel zu makroformatigen – und ggf. auch meso-formatigen – Foki konzipiert, sondern von ihren VertreterInnen als alternative Ansatzpunkte der Analyse von Gesellschaft verstanden. Statt den Blick auf »die Gesellschaft (zu richten), um deren Bewegungsgesetze und Ordnungsprinzipien aufzudecken« (ebd.; Hervorh. im Orig.) geht es ihnen darum, jene Regelmäßigkeitsmuster forscherisch zu erschließen, »die Gesellschaft als Einheit überhaupt erst denkbar machen und praktisch herstellen« (ebd.). Die Frage nach »Gesellschaft« wird also mit einem Perspektivwechsel hin zu mikro-formatigen Analysen, wie Bröckling et al. hier am Beispiel von Studien zur Gouvernementalität verdeutlichen, keinesfalls hinfällig, allerdings ihre Position und Gestalt im Analyseprozess verschoben. In diesem Sinne werden im vorliegenden Beitrag auch die diskursanalytischen Vorgehensweisen eingeordnet. Der methodologische Fokus von Ansätzen, wie den diskursanalytischen, wird damit auf Deutungs-, Markierungs- und Positionierungsmuster verschoben und die Annahme einer gegebenen Totalität der Gesellschaft wird in einer Weise in Frage gestellt, dass nun die jeweiligen historisch-spezifischen gesellschaftlichen Formationen in ihren spezifischen lokalen Ausprägungsformen zum Ansatzpunkt werden. Der Fokus, den diskursanalytische Ansätze – neben anderen mikro-formatigen Zugängen – auf Gesellschaft einnehmen, ist also der, diese nicht mehr als gegebene Einheit, als präskriptive Entität sozialer Handlungsvollzüge zu fassen, sondern zu versuchen, ihre historisch-spezifische Ausprägungsform erst von deren kleinteiligen Regelmäßigkeiten her zu erfassen. Ordnet man die bisher zahlenmäßig in der Sozialen Arbeit noch wenig repräsentierten diskursanalytischen Ansätze in diese weitreichendere Neujustierung sozial- und kulturwissenschaftlicher Zugänge ein, dann eröffnet sich eine umfassendere analytische Perspektive. Diese ist – entgegen ihrer wachsenden Einflussmächtigkeit in den Sozial- und Kulturwissenschaften insgesamt – in der deutschsprachigen Forschung und Theoriebildung zur Sozialen Arbeit aber bisher noch unterbelichtet geblieben. In diesem Sinne wird im Folgenden am Beispiel diskursanalytischer Ansätze

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auch ein sehr viel weitreichenderer methodologischer Perspektivenwechsel beleuchtet und diskutiert als die Frage nach dem Gesellschaftsbild der bisher noch relativ kleinen Gruppe von Forschungsarbeiten nahe legen könnte, die man als explizit »diskursanalytische Vorgehensweisen« kategorisieren kann: Der methodologische Blickwechsel auf eine alternative, nämlich mikro-formatig arrangierte Gesellschaftsanalyse. Von diesem Ausgangspunkt aus lässt sich nun auch auf den zweiten formulierten Einwand reagieren, der unterstellt, dass mit der Inblicknahme diskursanalytischer Ansätze ›nur‹ empirisch-methodische und keine gesellschaftstheoretischen Positionen thematisiert würden. Dieser Einwand könnte mit einem Handstreich vom Debattentisch gewischt werden, so scheint es vielleicht mancher LeserIn, gehen doch alle eingangs benannten und bisher vorliegenden diskursanalytischen Arbeiten im Feld der Sozialen Arbeit in ihrer Selbstbeschreibung davon aus, mit der Wahl eines diskursanalytischen Forschungsarrangements keine einzelne Forschungsmethode anzuwenden, sondern eine bestimmte analytische »Haltung« (Wilhelm 2005: 56) einzunehmen – oder in der Perspektive von Tanja Spies (2010): eine qualitative Vorgehensweise diskurstheoretisch anschlussfähig zu machen. Dieser Fokus entspricht dazuhin der weitgehenden Übereinkunft in benachbarten sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen, Diskursanalysen nicht als Forschungsmethode, sondern als »Forschungsstil« (Bührmann/Schneider 2008: 109), als »Forschungsprogramm« (Keller 2005, 183ff.; Keller et al. 2004: 10) oder als »Forschungsrichtung« (Landwehr 2008: 13) zu fassen. Dennoch ist eine Beschäftigung mit dem Sachverhalt, dass diskursanalytische Ansätze in den ersten Überblicksdarstellungen zur empirischen und insbesondere qualitativen Forschung für die deutschsprachige Soziale Arbeit als »Forschungsmethode« platziert werden, sinnvoll, um innerhalb der damit markierten, sich verstärkenden Wahrnehmung diskursanalytischer Ansätze systematische Engführungen von Beginn an möglichst zu vermeiden – Engführungen, wie sie im Folgenden im Anschluss an den Beipackzettel von Stefan Hirschauer, den er für die qualitative Forschung insgesamt ausgegeben hat, erläutert werden sollen. Was ist also mit dem Verweis auf mögliche systematische Engführungen innerhalb der qualitativen Forschung – und im hier fokussierten Fall hinsichtlich diskursanalytischer Ansätze – gemeint? Das Missverständnis, das mit einer Konnotation und Präsentation diskursanalytischer Ansätze ›nur‹ als Forschungsmethode erzeugt werden

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kann, besteht darin, eine Lesart zu unterstützen oder zumindest nicht aktiv zu verhindern, die diesen Forschungszugang in instrumenteller Verkürzung begreift, indem sie ihn zu einem methodischen Zugriff auf empirisches Material reduziert (vgl. dazu auch Oevermann et al. 1979). Wenn dies geschieht, wird allzu leicht ein »positivistische(s) Klischee« bedient (Hirschauer 2008: 184), das nach Hirschauer auch in der qualitativen Forschung insgesamt immer wieder am Werk ist: Methoden sind für den sozial-numerischen Forscher relativ unabhängige Forschungsinstrumente, die primär der Theorieüberprüfung (Falsifikation und Verifikation) dienen. Letztlich kann für positivistische ForscherInnen daher nur die empirisch gesicherte Tatsachenüberprüfung der Wahrheitsfindung dienen. Auch manche Vertreterin nicht-quantitativer Ansätze – so lässt sich in negativer Bestimmung formulieren – eifern diesem Verständnis vieler einflussreicher statistisch-numerischer Denker (vgl. Atteslander 1971: 37ff.) nach, wenn sie Methoden und Theorien in dualistischer Weise gegeneinander stellen, und damit den qualitativ-rekonstruktiven Zugriff »beharrlich als ›empirische Sozialforschung‹ mißversteh(en)« (ebd.: 165). Eine derartige instrumentelle Verkürzung wird dann unterstützt, wenn empirische Forschung – z.B. eine empirische Diskursforschung – als unabhängig von gesellschaftstheoretischen Überlegungen insgesamt präsentiert wird. Doch nicht nur dieses mögliche Missverständnis, diskursanalytische Ansätze auf empirisch-methodische Zugänge zu reduzieren, soll in Bezug auf den zweiten Einwand benannt werden. Denn auch die gegenwärtig beobachtbaren Etablierungskämpfe um die Definitionsmacht und Meinungsführerschaft in dem noch jungen deutschsprachigen Forschungsfeld der Diskursforschung insgesamt sind in der Gefahr, eine Dynamik zu produzieren, die diskursanalytische Vorgehensweisen eher zu empirischmethodischen Instrumentarien verkürzt – oder zumindest eine solche Lesart nahelegen kann. Auch diese Dynamik ist keineswegs neu, sondern aus anderen Positionierungs- und Etablierungskämpfen neuer Forschungsfelder in der Vergangenheit bereits bekannt: Die Deutungshoheit über die Forschungszugänge wird darüber zu besetzen versucht, dass ein bestimmter methodischer Zugriff und damit ein bestimmtes methodisches Instrumentarium als das unbedingt erforderliche oder das einzig spezifische für dieses Forschungsfeld markiert wird. Innerhalb der gegenwärtigen Forschungslandschaft diskursanalytischer Zugänge lässt sich eine solche Dynamik der Distinktion über eine Differenzierung spezifischer methodischer Instrumentarien in Bezug auf die jeweilige diskursanalytische For-

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schungsperspektive bereits deutlich beobachten. Zwar kann diese Diagnose für das Forschungsfeld Sozialer Arbeit aufgrund der bisher geringen Zahl von diskursanalytischen Forschungsarbeiten (noch) nicht in der gleichen Weise bestätigt werden, doch die in der weiteren kultur- und sozialwissenschaftlichen Diskussion um diskursanalytische Vorgehensweisen stattfindenden Etablierungs- und Positionierungskämpfe sind markant3 – und zu diesen müssen sich die auch in der Sozialen Arbeit etablierenden DiskursforscherInnen verhalten. Gerade die deutlich wachsende Gruppe von WissenschaftlerInnen in der Qualifizierungs- und Etablierungsphase, die sich diskursanalytischen Ansätzen widmen, sucht in ihrer Position als als Forschungsnovizen gerade in Methodenworkshops methodologische und eben forschungsmethodische Orientierungsangebote. Um Missverständnisse zu vermeiden: Ähnlich wie die Herausgabe von Hand- und Lehrbüchern stellt das Angebot von Methodenworkshops kein strukturelles Problem an sich dar. Denn selbstverständlich münden weder Handbuchbeiträge noch Workshopinhalte notwendigerweise in empirisch-methodischen Verkürzungen. Doch sowohl die bereits skizzierte primäre Platzierung von diskursanalytischen Ansätzen als Forschungsmethoden als auch die Distinktionsdynamik des neuen Forschungsfeldes der Diskursforschung im deutschsprachigen Raum, die diese immer wieder in die Gefahr bringt, sie auf ihren methodischen Gehalt zu reduzieren, bergen ein Potenzial systematischer Verkürzung, das im Blick behalten werden sollte. 3 | Nach Selbstdarstellung des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten wissenschaftlichen Netzwerks »DiskursNetz« (www.discourseanalysis.net/wiki.php?wiki=DFG-MeMeDa::DFG-MeMe; Stand: 9. April 2001) sind gegenwärtig ein »Wörterbuch der interdisziplinären Diskursforschung« und ein »Kompendium Methoden der Diskursanalyse« in Arbeit. Außerdem sind in den vergangenen Jahren Buchreihen installiert worden (z.B. »Interdisziplinäre Diskursforschung« und »Theorie und Praxis der Diskursforschung« beim VS-Verlag) und eine wachsende Zahl von Workshops und Schulungen zur Diskursanalyse angeboten worden. Diese laufen unter so unterschiedlichen Labeln, wie »französische Diskursanalyse« oder »Wissenssoziologische Diskursanalyse«, womit klare Distinktionsmarker gesetzt werden, das heißt miteinander konkurriert wird. All diese Entwicklungen symbolisieren deutlich die Positionierungs- und Etablierungskämpfe in dem kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschungsfeld der Diskursanalyse.

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Hinsichtlich des letztgenannten Aspekts besteht noch die zusätzliche Gefahr, dass die normative Seite forschungsmethodischer Zugänge Überhand nehmen kann (vgl. Hirschauer 2008: 178). Klassisch werden Methoden als »Standardform(en)« bezeichnet, wie geforscht werden soll: »Methoden sind Regelwerke zur ›Absicherung‹, d.h. eigentlich zur Aufrüstung von Aussagen als wissenschaftliche Sprechakte.« (Ebd.) Soweit, so gut. Eine positivistische Überhöhung nimmt diese Bestimmung dann an, wenn diese Regelwerke unabhängig vom konkreten Forschungsgegenstand, das heißt vorgängig zum eigentlichen Forschungsprozess, festgelegt werden. Hier muss für diskursanalytische Zugänge dasselbe gelten, wie für die empirische Forschung insgesamt, nämlich dass der Methodenbegriff »nicht mehr das bezeichnen kann, was er in der positivistischen Tradition bezeichnen sollte: einen normativen Standard des Verfahrens in allen Fällen gleicher Art« (ebd.: 180; vgl. Dausien 1994: 134ff.). Forschungsmethoden sollten auch nicht missbraucht werden zur »Disziplinierung unwissenschaftlicher Neigungen«, wie dies in Methodenschulungen gerade als Reaktion auf die Orientierungsanfrage von Forschungsnovizen leicht geschehen kann. Notwendig sind vielmehr »gegenstandsrelative Formen« – bei Hirschauer heißt es dann: Formen »zur Sicherung des Innovationspotentials primärer Sinnstrukturen« (ebd.: 184). Da innerhalb diskursanalytischer Ansätze die Rekonstruktion von Aussagemustern im Mittelpunkt des Interesses steht, könnte man innerhalb des diskursanalytischen Forschungsfeldes auch umformulieren: ›zur Sicherung des Innovationspotenzials des Aussage-Ereignisses‹. Damit tut sich allerdings bereits der nächste methodologische Fallstrick für diskursanalytische Ansätze auf, der die ForscherIn wieder kopfüber in positivistische Klischees purzeln lassen kann. Denn die Definition von Diskursen – des Untersuchungsgegenstandes diskursanalytischer Zugänge – als Feld von Aussagen bzw. als »situationsübergreifende Aussagenkomplexe« (Fegter/Langer 2007) wird manches Mal dahingehend missverstanden, diskursanalytischen Zugängen ginge es doch wieder darum, »das Denkbare auf das Zeigbare zu beschränken«, wie Hirschauer (2008: 175) diese »positivistische Versuchung« umschreibt (vgl. Lindemann 2008: 126f.). Wenn Anne Waldschmidt (2004: 151) in ihrem Beitrag zum Handbuch Sozialwissenschafliche Diskursanalyse davon spricht, dass »in quasi naturwissenschaftlicher Manier gebührend Distanz zum Gegenstand zu halten [sei]« und das Ziel einer solchen Vorgehensweise daher dahingehend beschreibt, die »Oberflächenstruktur der Diskursfragmente

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[sei] zu zergliedern und [es sei] zu versuchen, ihre Gesetzmäßigkeiten herauszufinden«, dann illustriert sie genau diese Schwierigkeit. Entsprechend konkretisiert sie im weiteren Text, dass »tatsächlich Affinität zum quantitativ-empirischen Ansatz« bestehe (ebd.). Geht man den damit angedeuteten Weg, von dem Waldschmidt dann allerdings doch wieder abgebogen ist, weiter, bedient man allzuleicht eine Dichotomisierung von Theorie und Empirie, wie sie für das positivistische Denken prägend ist. Und damit fände dann der zweite Einwand gegen die Platzierung dieses Beitrags zu diskursanalytischen Ansätzen in einem Band zu Gesellschaftsbildern Sozialer Arbeit seine Bestätigung: Ein rein forschungsmethodischer Zugang wäre in einem solchen Band fehl platziert. Doch dies ist nicht die einzig mögliche Schlussfolgerung. Schließt man nämlich stattdessen an Hirschauers Problematisierung an, zeigt sich eine alternative Möglichkeit, die den zweiten Einwand dann hinfällig macht. Wenn Diskurse als Aussagekomplexe bestimmt werden, und diskursanalytische Ansätze sich der je historisch-spezifischen Ausprägung dieser Komplexe widmen, ist ihr Vorhaben das der Rekonstruktion historischspezifischer Regelmäßigkeitssysteme des Sagbaren, was immer zugleich auch das Sichtbare und somit das Denkbare darstellt: Die Denkweisen (Rationalisierungen), die zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt als legitim gelten, sind der tragende und gestaltgebende Korpus des historisch-spezifisch Sagbaren. Was das heißt, erfahren gerade diejenigen, die alternative oder revolutionäre Ideen präsentieren oder dies tun wollen. Ihre Einwürfe werden dann als Angriff auf die vorherrschenden Denkweisen, das Sagbare, konnotiert und daher zumeist zurückgewiesen. Das jeweils historisch Sagbare ist immer auf die jeweiligen Rationalisierungsweisen, das Denkbare, zurückverwiesen, und verweist damit zugleich auf das zu einem historischen Zeitpunkt Sichtbare. Die damit markierte, scheinbar nur kleine terminologische Wendung vom ›Zeigbaren‹, das Hirschauer als Fokus positivistischer Perspektive benennt, auf das ›Sichtbare‹ ist dabei ebenso entscheidend, wie dessen Kopplung an das ›Sagbare‹. Denn diskursanalytischen Ansätzen geht es – analog zur qualitativen Forschung, wie sie Hirschauer konfiguriert – nicht um die Annahme einer prä-reflexiven, vom forscherischen Zugriff unabhängig gegebenen Realität, sondern um das »Herausfinden« sozialer Wirklichkeit (Hirschauer 2008: 175). Diese ist demnach weder einfach vorzufinden, noch theorie-konzeptionell autonom zu erfinden, sondern eben nur auf Ba-

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sis der widersprüchlichen Erfahrungen und in der Reflexion der eigenen Verstrickungen in die gegenwärtige soziale Wirklichkeit herauszufinden. Während sich nun ethnografische Zugänge, wie sie Hirschauer präferiert, auf die Erfahrungen der Akteure konzentrieren (soziale Praktiken), gilt das analytische Interesse diskursanalytischer Zugänge deren Rationalisierungsweisen (diskursive Praktiken) (vgl. Kessl 2011). Beide können allerdings über das Sagbare erschlossen werden. Schließt man dazuhin an die inzwischen im ethnografischen Kontext gültige Übereinkunft an, dass Sinnstrukturen als gegebene strukturierende Inhalte der Akteurshandlungen von Sinnstrukturen zu unterscheiden sind, die aufgrund forscherischer Beobachtung rekonstruiert werden (vgl. Hirschauer/Amann 1997: 33), dann zeigen sich auch an diesem Punkt hohe Korrespondenzen zwischen ethnografischen und diskursanalytischen Ansätzen. In diesem Sinne kann dann sogar davon gesprochen werden, dass auch die diskursanalytische Untersuchung von Aussage-Ereignissen auf den jeweils historisch-spezifischen Sinn verweist, der Phänomenen zugeschrieben wird. Vor allem zeigt sich auch in Bezug auf die Frage des Gesellschaftsbildes oder der Gesellschaftsbilder diskursanalytischer Ansätze, dass methodologisch in beiden Fällen von der Hierarchisierung bzw. konstitutiven Trennung von Theorie und Empirie abgesehen wird (vgl. Kalthoff 2008: 8ff.): Es geht nämlich vielmehr um das notwendige »Ineinanderverwobensein von theoretischer und empirischer Forschung« (ebd.: 10) und damit immer auch um die Tatsache, dass Theorien nicht nur in Bezug auf andere Theorien zu positionieren sind, von diesen gerahmt werden, sondern immer zugleich von der jeweiligen Gesellschaftsformation (ebd.: 15). Insofern ist die zunehmende Bezugnahme auf gouvernementalitäts- bzw. machtanalytische Perspektiven innerhalb der Diskursforschung kein Hinweis darauf, dass hier ein gesellschaftstheoretisches Defizit ausgefüllt werden muss. Vielmehr – und damit ist der dritte Einwand gegen die Platzierung eines Beitrags zu diskursanalytischen Ansätzen in diesem Band aufgerufen – werden hier Bezüge zwischen zwei hoch korrespondierenden Forschungsperspektiven genutzt, um die Engführung des einen Ansatzes durch die Hinzunahme des anderen zu vermeiden, oder sogar zu substituieren. Ihr primärer Fokus ist allerdings nicht nur ein differenter: Die Fokussierung gouvernementalitätsanalytischer Ansätze gilt politischen Programmen – dem also, »was jeweils als Sphäre des Politischen definiert wird« (Bröckling/Krasmann/Lemke 2004: 27). Das bringt die Gefahr mit sich, diese spezifische Ebene der politischen Programmpraxis mit anderen Ebenen sozialer Pra-

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xis in eins zu setzen, und damit eine programmanalytische Verkürzung zu generieren (vgl. Kessl 2007). Der Fokus diskursanalytischer Ansätze gilt dagegen den diskursiven Praktiken, in denen sich der jeweilige historischspezifische Möglichkeitsraum des Daseins aufspannt. Damit können sie einer mikroanalytischen Verknappung aufsitzen, das heißt die Dimension politischer Gestaltung und Regulierung aufgrund ihres Analysefokus auf die Mikrophysik der Macht unterschätzen oder gar übersehen. Im Anschluss an Konzeptualisierungsmodelle, wie das einer »Gouvernementalität diskursiver Praktiken«, wie es Marion Ott und Daniel Wrana (2010: 155ff.) vorschlagen, ist daher das Plädoyer für eine Korrespondenz der beiden Ansätze sinnvoll. Dies kann methodologisch dadurch realisiert werden, dass die Untersuchung auf Rationalisierungspraktiken als gemeinsamer Ankerpunkt ausgerichtet wird (vgl. Kessl 2011). Der gouvernementalitätsanalytische Zugriff kann dabei auf die inhaltliche Ausgestaltung der historisch-spezifischen Rationalisierungsmuster verweisen, der diskursanalytische auf die jeweilige Erscheinungsform. In beiden Forschungsperspektiven wird allerdings auf die historisch-spezifischen Formationen der Rationalisierung fokussiert: z.B. das »hegemoniale Projekt ›Soziale Marktwirtschaft‹« (Nonhoff 2006) oder eine »Gouvernementalität im Postfordismus« (Opitz 2004). Beiden Ansätzen geht es somit um die Regelmäßigkeitsmuster des zu einem historischen Zeitpunkt Möglichen, um die Rekonstruktion dieser Regelmäßigkeiten von Denkweisen, die sich als bestimmende Logiken der jeweiligen historisch-spezifischen Formate subjektivierender, programmierender und institutionalisierender Praktiken zeigen. Doch ist mit dieser Vermittlung von diskurs- und machtanalytischen Ansätzen auch die Frage nach einer diskursanalytischen Thematisierung oder Nicht-Thematisierung von Gesellschaft bereits beantwortet? Wie gezeigt werden sollte, ist die Reduzierung diskursanalytischer Ansätze auf eine Forschungsmethode keineswegs überzeugend. Doch auch die eindeutige Charakterisierung machtanalytischer Zugänge als gesellschaftstheoretisch ist keineswegs so ausgemacht, wie es erscheinen mag. Denn dieser Einschätzung steht die Charakterisierung gouvernementalitätsanalytischer Ansätze durch zentrale VertreterInnen selbst entgegen, die diese als Forschungszugänge konzipieren, die »weder ›eine neue Gesellschaftstheorie oder eine alternative Theorie sozialer Prozesse‹ (entwerfen) (Kocyba 2006: 138; Hervorh. d. Verf.)« (Bröckling/Krasmann 2010: 32) – oder in den Worten von Thomas Osborne: Es geht »nicht um die Pro-

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duktion lehrbuchförmiger Aussagen über das Funktionieren von Gesellschaften im Allgemeinen« (ebd.: 33; Hervorh. d. Verf.). Susanne Krasmann und Ulrich Bröckling nehmen diese Verortung der Studien zur Gouvernementalität dazuhin in expliziter Analogie(!) zu diskursanalytischen Ansätzen vor. Was folgt aus diesen Hinweisen? Eine Abgrenzung nicht nur diskurs-, sondern auch machtanalytischer Ansätze – mit ihrem mikroformatigen Zugriff – vom Totalitätsanspruch gesellschaftstheoretischer Deutungen? Damit wäre nicht nur der vorliegende, sondern auch ein substituierender Beitrag zu machtanalytischen Ansätzen für den vorliegenden Band desavouiert. Auf jeden Fall scheint die Frage nach dem von diskursanalytischen Ansätzen fokussierten Gesellschaftsbild Sozialer Arbeit mit einem Verweis auf ihre mögliche konzeptionelle Verbindung mit machtanalytischen Ansätzen noch keineswegs adäquat beantwortet. Daher ist die Frage des Gesellschaftsbildes mikroformatiger Forschungsperspektiven, als die hier auch diskursanalytische Ansätze positioniert werden, noch einmal gesondert und explizit zu diskutieren. Den nachfolgenden Darstellungen wird dabei die These unterlegt, dass mikroformatigen Forschungsperspektiven, wie sie diskurs- und machtanalytische Ansätze anbieten, sehr wohl ein Gesellschaftsbild inhärent ist – allerdings nicht in Form klassischer soziologischer Perspektiven auf eine gegebene Totalität der Gesellschaft, sondern auf eine nur »relationale Totalität« (Moebius/Gertenbach 2008: 4132). Diese spezifische gesellschaftstheoretische Perspektive lässt sich als poststrukturalistisches Gesellschaftsbild kennzeichnen.

2. P OSTSTRUK TUR ALISTISCHE G ESELLSCHAF TSBILDER Methodologischer Kern des mikroformatigen Perspektivwechsels in der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung, wie er hier in Bezug auf diskursanalytische Ansätze thematisiert wird, ist die Problematisierung der Gewissheit, soziale Zusammenhänge, politische Regulationslogiken, institutionelle Verfahrensweisen und sozialkulturelle Deutungsmuster als Teil eines gegebenen »großen gesellschaftlichen Ganzen« zu verstehen (Dyk/Angermüller 2010: 7): »(A)ls historisch-semantische Figur wird ›Gesellschaft‹ nun mehr und mehr selbst zu einem Problem«. Damit spielen Silke van Dyk und Johannes Angermüller (2010) in der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen Band Diskursanalyse meets Gouvernementali-

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tätsforschung auf analytische Deutungsweisen an, die sich als poststrukturalistisch zusammenfassen lassen. ›Poststrukturalistisch‹ meint hier Ansätze, die kritisch an die »strukturalistische Tätigkeit« (Barthes 1996: o.S.) einer Zerlegung von Einheiten zugunsten der Erfassung ihrer regelhaften Strukturprinzipien anschließen und diese zugleich teilweise überwinden. Im Gegensatz zu den strukturalistischen Positionen bezweifeln die poststrukturalistischen somit die Gültigkeit der Annahme vorgängiger, analytisch erschließbarer Regelstrukturen, und setzen dagegen auf die Analyse historischer Vollzugspraktiken. Poststrukturalistischen Vorgehensweisen geht es also nicht um die Freilegung der Logiken von gegebenen, handlungsvorgängigen Strukturmustern, sehr wohl allerdings geht es ihnen um die analytische Freilegung strukturierender Regelmäßigkeiten. Diese Differenzierung ist entscheidend und zugleich aufgrund des – zumindest auf den ersten Blick – nur marginalen Differenzierungsgrades erklärungsbedürftig. Sie ist aber nicht nur erklärungsbedürftig, sondern auch diskussionsbedürftig, da die gesellschaftstheoretischen Schlussfolgerungen aus dieser Prämisse uneinheitlich sind. Am Beispiel der Auseinandersetzungen um linguistische Methodologien, die maßgeblich war für die Kritik an strukturalistischen und die Entwicklung poststrukturalistischer Annahmen, lässt sich der manches Mal nur marginale Differenzierungsgrad zwischen strukturalistischen und poststrukturalistischen Annahmen illustrieren. Im Anschluss an Saussure wird Sprache als System der langue konzipiert und steht als solches im Zentrum des Interesses strukturalistischer Sprachwissenschaften. Von diesem System der Sprache wird das Sprechen (parole) von Saussure konstitutiv unterschieden. Demgegenüber geht es poststrukturalistischen Ansätzen um »die Praktiken […], die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen« (Foucault 1981: 74). Zwar zielen auch diskursanalytische Ansätze als ein poststrukturalistischer Zugang auf »sprachförmige(n) Ordnungsstrukturen, aber ihre Logik gehorcht nicht den linguistischen Regeln der Sprache« (Sarasin 2005:99), das heißt ihr forscherischer Fokus basiert nicht auf einer Struktur-Handlungsdifferenzierung (Sprache – Sprechen), sondern auf der Annahme einer permanenten (Re)Produktionsleistung der Akteure. Judith Butler (2006: 221ff.) zeigt diesen Unterschied sehr einleuchtend unter Bezugnahme auf die strukturalistischen Implikationen von Pierre Bourdieus Habitustheorie auf. Die Figur der habituellen Einschreibung,

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das heißt der Internalisierung gesellschaftlicher bzw. genauer noch: milieuspezifischer Normierungen, ist auch für Butler eine »vielversprechende Erklärung« (ebd.: 222), der sie entsprechende Aufmerksamkeit widmet. Mit ihr könne Bourdieu nämlich sehr einleuchtend erklären, wie die Körperlichkeit von sozialen Positionierungen realisiert wird, das Subkutane, so könnte man auch formulieren, subjektiv realisierter Gesellschaftlichkeit. Bourdieu bleibe in diesen Überlegungen dann aber strukturalistisch verkürzt, da er seinen habitustheoretischen Überlegungen die Annahme unterlege, so Butler (ebd.: 243), dass die Bildung des Körpers durch »wirksame Wiederholung und Akkulturierung von Normen« vollzogen werde. Damit bleibe aber die Risikohaftigkeit dieses Bildungsprozesses gesellschaftlicher Normen außen vor: »Körper werden durch gesellschaftliche Normen gebildet, aber dieser Bildungsprozeß hat seine Risiken.« (Ebd.) Damit spielt Butler auf das Moment an, das Michel Foucault als konstitutive Widerstandskraft jeder Subjektivierungspolitik konzipiert: Die Formatierung bestimmter Subjektwerdungsprozesse kann nur realisiert werden, wenn den Akteuren dabei Raum zum Vollzug ihrer Subjektwerdung gelassen wird. Damit kann dieser zugleich nie komplett reguliert werden, sondern muss konstitutiv Freiräume lassen, also Abweichungen von der Anrufungsstruktur akzeptieren – oder aber performanztheoretisch gesprochen: Die Aneignung des herrschenden Diskurses öffnet auch immer die Potenzialität seiner Enteignung, und damit seiner »subversiven Resignifikation« (ebd.: 246). Genau diese Momente und Potenziale der Subversion interessieren poststrukturalistische DenkerInnen wie Judith Butler. Und um diese in den forscherischen Blick zu bekommen, kann – linguistisch – nicht mehr ein System der Sprache vorausgesetzt werden oder sozialwissenschaftlich ein gegebener sozialer Raum. Vielmehr müssen die vielfältigen, heterogenen und widersprüchlichen Praktiken analysiert werden. Dieser Hinweis wird nun immer wieder dahingehend missverstanden, dass die Dimension der Gesamtheit sozialer Zusammenhänge, der Gesellschaft also, poststrukturalistisch von der Agenda gestrichen wird. Diskurstheoretische Formulierungen wie diejenige von Johannes Angermüller (2008: 4149), dass sich der »Diskurs von keiner Adler-Position letztendlich überblicken lässt« und sich daher nicht mehr die Frage stelle, »was das Soziale ist, sondern wie im Diskurs auf das Soziale zugegriffen wird«, sind in ihrer Doppeldeutigkeit hier auch etwas unglücklich. Denn die Rede

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davon, dass die Gesamtheit des Sozialen nicht mehr interessiere4 , kann allzuleicht suggerieren, dass diese Dimension ganz aus dem analytischen Fokus rückt. Das ist aber vermutlich nicht gemeint, wenn Angermüller zugleich davon spricht, dass es um eine Perspektive gehe, wie vom Diskurs auf das Soziale zugegriffen wird, und damit die Relevanz der Dimension des Sozialen für analytische Zugriffe wieder explizit benannt ist. Nicht die Frage, ob Gesellschaft oder nicht Gesellschaft, sondern diese veränderte Blickrichtung ist es, der das poststrukturalistische Gesellschaftsbild ausmacht – und daher auch das von diskursanalytischen Angängen. Gesellschaft wird hierbei nicht als vorgängige Regelstruktur und damit als totalisierendes und objektives Ganzes gesehen, sondern als ein »komplexes Resultat vielfältiger politischer Artikulationen, die sich aus den widerstreitenden hegemonialen Praxen der verstreuten sozialen Kräfte ergeben«. Mit dieser Formulierung fassen Michael Hintz und Gerd Vorwallner (2000: 17) in ihrem Vorwort das poststrukturalistische Gesellschaftsbild von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe zusammen. Ein gesellschaftstheoretisches Denkmodell, das sich bereits bei Louis Althusser (1977) andeutet, wenn er dafür plädiert, an die Stelle eines einheitlichen Gesellschaftsbegriffs den der Verkoppelung umkämpfter ideologischer, ökonomischer und politischer Praxisformationen zu setzen.5 Laclau und Mouffe arbeiten einen poststrukturalistischen Definitionsvorschlag für Gesellschaft im Rahmen ihrer hegemonietheoretischen Grundlegungen aus: Demnach stelle diese ein »Ensemble totalisierender Effekte in einem offenen relationalen Komplex« dar (Laclau/Mouffe 2000: 140). Gesellschaft ist damit nicht die sozialen Akten vorausgesetzte Totalität, wie das strukturalistische oder struktur-funktionale Theorien annehmen. 4 | Im vorliegenden Text wird mit Blick auf den Titel des Bandes aus begriffspragmatischen Gründen durchgehend von »Gesellschaft« und »Gesellschaftstheorie« gesprochen und damit auf eine terminologische Differenzierung zwischen »Gesellschaft« und »Sozialem« bzw. »Gesellschaftstheorie« und »Sozialtheorie« verzichtet (vgl. zur Differenzierung Lindemann 2010; auch: Kessl/Ziegler 2008). 5 | Dazuhin lassen sich auch in anderen methodologischen Strömungen ähnliche Bewegungen, weg von einem statischen und präskriptiven Gesellschaftsbegriff beobachten, beispielsweise innerhalb interaktionistischer Überlegungen, Arbeiten innerhalb der Kritischen Theorie oder Studien im Kontext der Akteur-Netzwerk-Theorie.

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Mit der Überwindung dieser Präskriptionsannahme rückt Gesellschaft allerdings – das soll hier nochmals explizit betont werden – als analytische Einheit keineswegs selbst aus dem forscherischen Interesse. Vielmehr plädieren poststrukturalistische Vorgehensweisen, wie sie hier am Beispiel diskursanalytischer Ansätze diskutiert werden, für deren radikale Historisierung: Geschichte wird mit Foucault gesprochen, »selbst zur allerletzten Voraussetzung allen Denkens« (Sarasin 2005: 100). Mit Stephan Moebius und Lars Gertenbach (2008) wird daher hier ein poststrukturalistischer Gesellschaftsbegriff präferiert, der zwar nicht von deren Auflösung oder gar derem Verschwinden ausgeht, der aber auch die Präskriptionsannahme nicht wieder, quasi durch die Hintertür, einführt. Gesellschaft wird nun als Formation verstanden, die von einer »partielle(n) Fixierung« (Moebius 2003: 346) gekennzeichnet ist. Gesellschaft meint dann das »partielle(s) Stillstehen« und die »teilweise Schließung« des Politischen (ebd.), sie ist ein »Ausdruck und Versuch diskursiver Praktiken«, die dazu führen, »sich als geschlossene Einheit zu etablieren und ihr konstitutives Außen zu verdrängen« (Moebius 2003: 346; zit.n. Moebius/ Gertenbach 2008: 4132). Daher schlagen Moebius und Gertenbach vor, für ein poststrukturalistisches Gesellschaftsverständnis auch den Begriff der »Totalität« von Gesellschaft nicht vorschnell zu verwerfen, sondern diesem ein Konzept der »relationale(n)« (ebd.: 4132; vgl. Laclau/Mouffe 2000: 147) und »kritische(n)« Totalität (Moebius/Gertenbach 2008: 4131) zu unterlegen: »[…] Sollte also von einer Totalität im Sinne des Poststrukturalismus gesprochen werden können, so muss diese unmögliche Fixierung, dieses Scheitern vollständiger Sinnstiftung gerade deren wesentliches Moment sein.« (Ebd.: 4133)

III. R ESÜMEE Anhand der drei möglichen Einwände gegen eine Platzierung dieses Beitrags in einem Band zu Gesellschaftsbildern Sozialer Arbeit ist im vorliegenden Beitrag versucht worden, zu verdeutlichen, dass diskursanalytische Ansätze als Teil eines methodologischen Perspektivwechsels hin zu einem zunehmend mikroformatigen Fokus gelesen werden sollten. In diesem Sinne lässt sich das diskursanalytische Gesellschaftsbild – analog zum machtanalytischen – als poststrukturalistisches charakterisieren: Gesellschaft wird nicht mehr als präskriptive Einheit erfasst, und da-

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mit als bestehender Ausgangspunkt analytischer Zugriffe, sondern selbst zum analytischen Gegenstand. Eine derartige Gesellschaftskonzeption sollte aber nicht dahingehend missverstanden werden, dass die Dimension des Gesellschaftlichen komplett aufgegeben würde – eine Gefahr, wie sie beispielsweise analogen mikroformatigen Zugängen im Umfeld des französischen Soziologen Bruno Latour inhärent sein kann (AkteurNetzwerk-Theorie), obwohl sein Hinweis auf die Relevanz der Analyse von Verbindungen die zentrale poststrukturalistische Perspektive überzeugend illustrieren kann. Die Schwierigkeit solcher Deutungsangebote liegt darin, dass allzu leicht die Möglichkeit einer Kategorisierung von Regelmäßigkeitsmustern sozialer – aber auch kultureller, ökonomischer und politischer – Zusammenhänge aus methodologischen Gründen prinzipiell abgelehnt werden muss. Doch mit einer solchen Radikalisierung mikroformatiger Perspektiven wäre nicht weniger als ein entscheidendes Instrument sozial- und kulturwissenschaftlicher Analysen aufgegeben, nämlich ihr gesellschaftstheoretisches Aufklärungspotenzial – im Sinne einer herrschaftskritischen Analyseperspektive. Diese Gefahr, dass mikroformatige Forschungszugänge die Logik übergreifender Regelmäßigkeitsmustern nicht mehr erfassbar machen lassen, eine dafür notwendige analytische Perspektive also methodologisch verschatten könnten, ist auch für diskursanalytische Ansätze zu beachten. Daher ist ein solchen mikroformatigen Zugriffen angemessener Gesellschaftsbegriff weiter zu entwickeln, wie er in der Figur eines relationalen Gesellschaftsbegriffs angedeutet wurde. Mit Bezug auf einen solchen Gesellschaftsbegriff und einen entsprechenden gesellschaftstheoretischen Fokus, können diskursanalytische Ansätze einen entscheidenden Beitrag sowohl zur gegenwartsanalytischen Verortung Sozialer Arbeit als auch zur laufenden Neujustierung einer angemessenen sozial- und kulturwissenschaftlichen Methodologie insgesamt leisten.

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Anerkennung von Gewicht Soziale Arbeit im Kampf um intelligible Identitäten 1 Christian Schütte-Bäumner

E INLEITUNG Über Fragen der Anerkennung wurde in sozialwissenschaftlichen und philosophischen Diskursen immer wieder nachgedacht, um den Konflikten sozialer Ungleichheit in Zeiten eines sozialen Wandels, der »Transformationen im deutschen Sozialstaatsmodell« (Olk 2009), »gesellschaftlicher Kälte« und neoliberalen Aktivierungspolitiken analytisch sowie programmatisch auf die Spur zu kommen. Historisch gehen diese Überlegungen, wie das Verhältnis der Individuen unter- und zueinander innerhalb eines gemeinsamen gesellschaftlichen Rahmens angemessen zu organisieren sei, auf Arbeiten von Aristoteles, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Johann Gottlieb Fichte zurück (vgl. Frischmann 2009). Damit sind Grundfragen von Sozialität angesprochen, deren Erörterung eine normativ wirksame Idee von Sittlichkeit, Anstand und wechselseitiger Anerkennung hervorbringen soll. Ein erster Diskussionsstrang bezieht sich auf die Positionierung des Subjektes und ein Verständnis darüber, wie sich ein Freiheitsanspruch intersubjektiv definieren lasse. Dabei spielen insbesondere persönlichkeitstheoretische, moralische und politische Kriterien eine Rolle. Auf die gesellschaftlichen Institutionen, das Recht und Gesetz sowie symbolische Repräsentationen, die in diesem Zusammenhang die sozialen Normen wirkmächtig im gesellschaftlichen Gedächtnis platzieren, so

1 | An dieser Stelle möchte ich Almut Stolte für wichtige Hinweise und Kommentare zum Text sowie für das Lektorat des Textes danken.

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dass die Subjekte auf dieser Ebene ihr Verhalten anerkennungsbezogen abstimmen können und müssen, geht ein weiterer Diskussionsstrang ein. Beide Diskussionsstränge zur Kenntnis nehmend, streiten Axel Honneth und Nancy Fraser in einer durchaus kontroversen Auseinandersetzung mit dem Begriff Anerkennung subjekt- und gerechtigkeitstheoretisch darüber, wie sich Kriterien für ein gerechtes Leben in einer gerechten Gesellschaft sozialpolitisch wie auch philosophisch fassen lassen. Judith Butler legt ihren Schwerpunkt hingegen auf die Kritik an einer vermeintlichen Einheit der normativen Dimensionen Sexualität, Geschlecht und Begehren, die es im Prozess der Anerkennung als diskursiver Kategorie zu reflektieren gelte. Mit ihren umfassenden theoretischen Überlegungen und fortwährenden Erwiderungen und Entgegnungen liefern alle drei Autor_ innen einen zentralen Beitrag zur aktuellen Gesellschaftstheorie, der, so werde ich im Verlauf dieses Artikels noch näher ausführen, von Vertreter_ innen2 der Sozialen Arbeit erst allmählich rezipiert wird und deshalb für diesen Bereich einen eher »unterschätzten Begriff in der Sozialen Arbeit« (Schoneville/Thole 2009) darstellt, was verwundert, wenn man sich den implizit mitschwingenden Anerkennungsdiskurs in Theorien Sozialer Arbeit vergegenwärtigt. Mal als »öffentliche Integrationsinstanz und gleichzeitig als spezifisches pädagogisches Handlungsfeld« bezeichnet, ein anderes Mal »als intermediäre Instanz zwischen System und Lebenswelt« (Kessl/Otto 2010), spielt der Modus der Anerkennung im professionell strukturierten Erbringungsverhältnis Sozialer Arbeit zu den Adressat_innen in einer neo-sozial transformierten Gesellschaft eine immer größere Rolle. In der Programmatik der Anerkennung unterschiedlicher Lebensentwürfe und zugleich einer beständigen Aktivierung von Ressourcen, die auf das ›latente noch ungenutzte Potential jedes Einzelnen‹ rekurriert, unterstreicht eine Argumentationsebene die Phänomenologie von Missachtungs- und Unrechtserfahrungen als subjektkonstituierenden Zu2 | Ich nutze den Modus des »performing the gap« (Herrmann o.J.), um auf die Illusion zweier klinisch getrennter Geschlechter, auch in der Textproduktion, hinzuweisen. Auf diese Weise macht der Unterstrich zwischen dem Gender_Gap auf die Mehrdeutigkeit von Geschlechtsidentitäten aufmerksam und trägt dazu bei, das habitualisierte Programm hegemonialer Zweigeschlechtlichkeit nicht festzuschreiben, sondern zu irritieren.

A NERKENNUNG VON G EWICHT

sammenhang. Dagegen unterstreicht eine zweite Begründungslinie, dass im Kampf um Anerkennung der »Status subjektiver und kollektiver Akteure und deren strukturell ungleiche Handlungs- und Lebensgestaltungsmöglichkeiten« (Heite 2010a) stärker berücksichtigt werden müssen. Eine weitere dritte Perspektive formuliert, politisch-philosophische Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit sowie deren professionelle Implikationen im Sinne partizipatorischer Parität, müssten die Wirkmächtigkeit performativer Akte vor allen Dingen auch in ihrem identitätsstiftenden und ausschließenden Gestus analytisch präziser einbeziehen. Dass die Rede über Anerkennung allmählich Fahrt aufnimmt, zeigt vor allem eines: solcherart theoretische wie praxisbezogene Debatten verlaufen im Modus einer ›Anerkennung von Gewicht‹. Bevor ich im Folgenden anerkennungstheoretische Sichtweisen am Beispiel des Coming out als ein gesellschaftlich provoziertes Selbstoffenbarungshandeln, das dem Individuum ein Bekenntnis psycho-physischer Differenz zur Mehrheitsgesellschaft aufgrund eines ›homosexuell konnotierten Andersseins‹ abverlangt, kritisch reflektiere, gehe ich zur Vorbereitung meiner Gedanken zunächst deskriptiv auf die Ausführungen Honneths, Frasers und Butlers zum Begriff der Anerkennung ein. Hiernach zeichne ich den Gebrauch, oder besser gesagt die Rezeption anerkennungstheoretischer Debatten für eine Soziale Arbeit »im Kampf um Anerkennung« (vgl. Heite 2008) kursorisch nach, denn ein thematischer Schwerpunkt der Profession und Disziplin Soziale Arbeit bezieht sich eben immer wieder und immer häufiger auf Fragen des Umgangs mit Differenz, Ausschließung, Ungleichheit sowie mit Lösungsvorschlägen, die differenzbewusst Gleichheit fordern oder Differenzsensibilität zum Ausgangspunkt ihrer Praxis nehmen. Schließlich werde ich vor dem Hintergrund einer queerorientierten Sozialen Arbeit deutlich machen, wie und auf welche Weise ein professioneller Umgang mit Differenz, Anerkennung und Identitätspolitiken reflexiv und empirisch fundiert konzipiert werden kann, ohne unweigerlich in die Falle eines »positiven Rassismus« zu tappen (vgl. Teo 1995).

Anerkennungsrationalitäten bei A xel Honneth Für Axel Honneth spielt das Primat der Anerkennung im Verhältnis zu Subjektivität und Identität eine herausragende Rolle. Er bezieht sich auf einen »normativen Monismus« (Fraser/Honneth 2003: 9) und sieht hier-

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in Umverteilungsaspekte bereits integriert. Ähnlich wie bei Nancy Fraser stehen Honneths Argumentationen im Zeichen der kritischen Theorie. Untersuchenswert erscheinen ihm gesellschaftliche Prozesse, die dafür sorgen, dass gesellschaftliche Gruppierungen in der Lage sind oder in die Lage versetzt werden, spezifische Interessen zu formulieren. Insofern gilt auch für beide Ansätze der Anspruch an eine kritische Gesellschaftstheorie, Normativität nicht einfach zurückzuweisen, sondern normative Konzepte für den politischen Einsatz systematisch vorzubereiten3 (vgl. ebd. 2003: 11). Im Vermögen, kompetent Bedürfnisse formulieren zu können und sie im »Kampf um Anerkennung« erfolgreich einzufordern sowie in der Fähigkeit Artikulationsräume zu nutzen, sieht Honneth einen engen kausalen Zusammenhang mit Fragen der Zugehörigkeit zu Gemeinschaften, die kulturelle und soziale Überzeugungen teilen. Je nachdem, ob und auf welche Weise Subjekte sich einer Gemeinschaft zugehörig fühlen oder sich zumindest einem Kollektiv zuordnen können, sei dieser Vorgang konstitutiv zur Herstellung einer ›intakten, unbeschädigten Identität‹. Anerkennung gilt ihm als grundlegende Voraussetzung für diesen Prozess »erfolgreicher Identitätsbildung«, obgleich »mit dem Begriff ›Identitätspolitik‹ […] heute die Tendenz einer Vielzahl von benachteiligten Gruppen beschrieben (wird), sich nicht nur für die Beseitigung von Diskriminierungen bei der Ausübung allgemeiner Rechte einzusetzen, sondern auch gruppenspezifische Formen der Bevorzugung, Anerkennung oder Partizipation einzuklagen« (Honneth 2003: 191). Mit den Aktivitäten der neuen sozialen Bewegungen werde ein empirischer Begründungszusammenhang hergestellt. »Lassen wir uns von diesen Vorüberlegungen leiten, so erweist es sich als sinnvoll, den Durchbruch zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform als das Resultat einer Ausdifferenzierung von drei Anerkennungssphären zu begreifen« (ebd.: 163): Liebe, Recht und Leistung. Diesen entsprechen drei Sphären reziproker Anerkennung: 3 | Zur Frage, wie viel Normativität die Soziale Arbeit im Zuge ihrer gesellschaftlich relevanten Aufgaben der Analyse von Ungleichheitsverhältnissen sowie der konzeptuell vorbereiteten Ermächtigung und Unterstützung »benachteiligter Individuen« benötige, geben Hans-Uwe Otto, Albert Scherr und Holger Ziegler einen interessanten Einblick in einen Ansatz zur Befähigungsgerechtigkeit als Maßstab sozialarbeiterischer Kritik (vgl. Otto et al. 2010), der zugleich aber auch nachdenklich stimmt und die Frage aufwirft: »Woran bemessen wir ›Wertverwirklichung‹ eigentlich?« (Cremer-Schäfer 2009: 80)

A NERKENNUNG VON G EWICHT

emotionale Anerkennung, rechtliche Anerkennung und Solidarität resp. soziale Wertschätzung. Ganz im Sinne George Herbert Meads geht auch Honneth davon aus, dass Interaktionsbeziehungen auf der wechselseitigen Bestätigung der jeweils interagierenden Individuen prozessiert werden. Im Einzelnen differenziert Honneth diese drei Anerkennungsdimensionen folgendermaßen:

Liebe und Fürsorge Als primäre Anerkennungssphäre erläutert Honneth die Liebe und die Fürsorge als affektive Zuwendungen, die eine emotionale Bindung der Subjekte erst ermöglichen. Am Beispiel der Primärbeziehungen zeigt er auf, wie entscheidend bereits die fürsorgliche Verantwortungsübernahme der Mutter dem Kind gegenüber ist, »um ihm den Weg von der organischen Hilflosigkeit zur Entwicklung von Selbstvertrauen zu bereiten« (ebd.: 164). Dieser Aspekt ist besonders wichtig für die honnethsche Anerkennungstheorie, weil er von einem ausreichenden »Maß an individuellem Selbstvertrauen« ausgeht, das er als Voraussetzung für ein späterhin eigenverantwortliches Leben in Gemeinschaft denkt (vgl. Honneth 1992: 174). Wir haben es dieser Lesart folgend mit dem Konstituens von Subjektivität zu tun, das wiederum den Ausgangspunkt für Vertrauen und Beziehungsfähigkeit bildet. Dann erst kann das Subjekt auf der Grundlage von Selbstachtung und Achtung den anderen gegenüber die autonome Teilhabe am gesellschaftlichen Leben durch Anerkennung für sich und ggf. Mitglieder des Kollektivs beanspruchen. Im Fall, dass der soeben skizzierte Rahmen der Anerkennungssphäre Liebe partiell oder vollständig fehlt, beispielsweise dann, wenn Misshandlungen und Missachtungserfahrungen dominieren, geht Honneth vom Negativum der Anerkennung aus, was sich auch als ›Ächtung‹ und ›Entwürdigung‹ verstehen ließe.

Recht Anders als die auf emotionale Integrität beruhende Anerkennungssphäre Liebe, geht es Honneth mit der Dimension Recht um ein universalistisches Prinzip. Im Entstehungsprozess der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sei ein generalisiertes System der Achtung jedes Menschen implementiert worden, sodass nun »das einzelne Gesellschaftsmitglied im Prinzip Rechtsfreiheit gegenüber allen anderen genießen soll« (Honneth 2003: 165). Mit diesem Postulat rekurriert Honneth auf ein strukturell anerkanntes Rechtssubjekt, das, wenn es im Besitz spezifischer Rechte

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ist, damit gleichzeitig entsprechende Mittel zur Verfügung hat, um diese auch einzuklagen. Auf der Grundlage dieser »normativen Idee der Rechtsgleichheit« (ebd.) wird daran anschließend das Prinzip der Selbstachtung geschlussfolgert. In kantischer Tradition gehe es darum, sich durch gesicherte Rechtsansprüche, zum Beispiel durch Freiheitsrechte, politische Teilhaberechte und soziale Wohlfahrtsrechte (vgl. Honneth 1992: 188) als vollwertiges Gesellschaftsmitglied positionieren und fühlen zu können. Auch diese Anerkennungsdimension interpretiert Honneth im Negativum demgemäß als Formen der Ausschließung, Entrechtung und Vorenthaltung von Rechten.

Solidarität und Leistung Erfahrungen der gegenseitigen Achtung, der Wertschätzung und der Anerkennung unterschiedlicher Lebensentwürfe und -stile formuliert Honneth als Anerkennungsdimension der Solidarität und Sittlichkeit (vgl. ebd.: 196ff.). Über das Erleben affektiver Anerkennung in Primärbeziehung(en) sowie den Rechtsstatus von Individuen hinaus, werden durch das Prinzip der Solidarität Eigenschaften des Subjekts im Sinne gesellschaftlich anerkennungswürdiger Fähigkeiten und Kompetenzen in den Vordergrund gerückt und können entsprechend sozial wertgeschätzt werden. Den Bezug auf subjektive Eigenschaften konkretisiert Honneth mit Verweis auf eine kapitalistisch strukturierte Gesellschaft, in der vornehmlich »persönlich erbrachte Leistungen im Gefüge der industriell organisierten Arbeitsteilung« (Honneth 2003: 166) im Vordergrund stünden. Leistung verfolge grundsätzlich eine gerechtigkeitsbezogene Zielsetzung, weil der konkrete »Kooperationsbeitrag« (ebd.) des Individuums zur Debatte stehe, nicht etwa Persönlichkeitsmerkmale verstanden als individuelle Fähigkeiten oder andere Differenzkategorien. Zugleich werden aber auch Ungleichheiten ignoriert resp. reproduziert, denn »nicht alle Tätigkeiten – wie etwa dominant von Frauen ausgeübte oder ihnen zugeschriebene Tätigkeiten im Reproduktionsbereich – gelten als Tauschwert schaffende, produktive ›Leistungen‹ und werden dementsprechend mit weniger bzw. anderen Formen der Anerkennung bedacht« (Heite 2008: 18). Für Axel Honneth stellen die Anerkennungsdimensionen, analytisch präziser könnte man auch von »Anerkennungsrationalitäten« (ebd.: 17) sprechen, den normativen Rahmen dar, um eine vollständige und intakte Identität ausbilden zu können. Seine moralische Maxime gilt der Integrität

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statt Missachtung. Autonome Identität entstehe nicht einfach im luftleeren Raum, sondern müsse vor dem Hintergrund der Anerkennungsrationalitäten interaktional erkämpft werden. Schließlich stelle sich auch die Frage, welche Identitätsformen aufgrund von Teilhabemöglichkeiten oder aber aufgrund deren Vorenthaltung, kollektive Interessen in Form eines gemeinsamen Selbstverständnisrahmens bündeln können. Am Beispiel benachteiligter, diskriminierter Gruppen exemplifiziert Honneth das Phänomen wirksamer Identitätspolitik, die darauf abziele, das Anderssein als Zugehörigkeitskriterium ›kulturell‹ auszubuchstabieren um sich auf diese Weise Gehör und Recht zu verschaffen. Integrität und Missachtung bilden demnach Grundmotive und Handlungsorientierung für eine Gesellschaft, die Anerkennung als moralische Bezugsgröße integriert (vgl. Honneth 1990). Honneth zeichnet eine ›Phänomenologie von Gesellschaft‹, deren normative Basis Bewertungskategorien und Deutungsschemata bestimmt, aus denen heraus schließlich Umverteilungskämpfe hervorgehen. Er definiert Anerkennung als primären, zentralen und Gesellschaft konstituierenden Moralbegriff, dem sämtliche Anstrengungen der Gesellschaftsmitglieder um Teilhabe, Umverteilung und Wertschätzung folgen. Auf der Grundlage dieser normativen Konzepte finden, seiner Interpretation folgend, sämtliche sozialen Prozesse gesellschaftlicher Selbstvergewisserung statt. Das Bild intersubjektiv intakter Anerkennungsverhältnisse, die fast zwangsläufig ›unbeschädigte Identitäten‹ zum Ziel haben, gilt ihm als Kristallisationspunkt für eine gerechte Gesellschaft.

Soziale Gerechtigkeit bei Nancy Fraser Nancy Fraser hingegen beklagt, dass es eben nicht ausschließlich nur um Fragen der Anerkennung kultureller Identitäten und deren ›Kampf um Anerkennung‹ gehen könne, weil sich für sie beide Dimensionen, Anerkennung als die gesellschaftliche Akzeptanz unterschiedlicher Lebensentwürfe und Umverteilung als ein sozialstaatliches Prinzip, das auf infrastrukturell gewährleistete Teilhabemöglichkeiten abziele, wechselseitig bedingen. Werde der Akzent auf nur eine Dimension gerichtet, so führe dieser Weg aus gerechtigkeitstheoretischer Sicht nolens volens in die Sackgasse. Fraser kritisiert die ontologische Engführung des Identitätsbegriffs und schlägt daher vor, Fragen der Anerkennung im Verhältnis zu Umverteilungspolitiken zu analysieren und dabei ebenfalls den Status der In-

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dividuen einzubeziehen. Debatten über Anerkennung oder Umverteilung glichen häufig einer »Anatomie eines falschen Gegensatzes« (Fraser 2003: 21). Umverteilungspolitische Ansätze zielten in aller Regel auf klassenbezogene Ungleichheit, anerkennungspolitische Aktivitäten fokussierten indes auf identitäre Selbstvergewisserung, so dass hier die Gefahr bestehe, dass im Einklagen bestimmter Rechte durch eine spezifische Gruppen diese mit Bezug auf ihre Besonderheit Ungleichheit reproduzieren und stabilisieren. Das Paradigma der Umverteilung könne sich nicht auf »klassenzentrierte politische Leitformeln« beschränken, sondern müsse ebenso die »Spielarten des Feminismus und Antirassismus berücksichtigen, die die sozioökonomische Transformation bzw. Reform zur Handhabe gegen die Ungerechtigkeit auf der Ebene der Geschlechter- oder rassisch-ethnischen Beziehungen erkoren haben« (Fraser 2003: 22). Ebenso gelte für das Paradigma der Anerkennung, dass soziale Bewegungen, die mit dem Ziel antreten, Diskriminierungs- und Stigmatisierungspraxen zu skandalisieren, um ihre ›beschädigten Identitäten‹ zu rehabilitieren, »dekonstruktivistische Strömungen wie die queer politics, die kritische Politik der ›Rassen‹ oder den dekonstruktiven Feminismus mit einbeziehen, die alle den »Essentialismus« der traditionellen Identitätspolitik zurückweisen« (ebd.). Frasers Ansatz geht meines Erachtens über die Interpretation von Anerkennung als Selbstverwirklichung entlang der Lesart von Axel Honneth und Charles Taylor hinaus, indem Anerkennung nicht ausschließlich als Fall »beeinträchtigter Subjektivität und beschädigter Selbstidentität« (Fraser 2003: 44) verstanden wird, sondern als Angelegenheit von Gerechtigkeit, die insbesondere auf den Status von Akteuren rekurriert. Im Modus eines Nachdenkens über Gerechtigkeit, das von einem dichotomen Modell der Gerechtigkeit wegrückt und sich einem Statusmodell der Anerkennung nähert bzw. hiervon ausgeht, sei die Fokussierung auf ›defekte Identitäten und Identitätsgruppen‹ hinfällig geworden. »Vielmehr heißt es, durch institutionalisierte kulturelle Wertmuster daran gehindert zu werden, als Gleichberechtigter am Gesellschaftsleben zu partizipieren. Im Statusmodell wird demnach die mangelnde Anerkennung nicht durch missbilligende Einstellungen oder freischwebende Diskurse bewirkt, sondern durch gesellschaftliche Institutionen erzeugt. Genauer gesagt: Mangelnde Anerkennung entsteht, sobald Institutionen die soziale Interaktion nach Maßgabe kultureller Normen strukturieren, die partizipatorische Parität

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verhindern.« (Ebd.: 45; Einfüg. d. Verf.) Vier Vorteile identifiziert Fraser für das Statusmodell der Anerkennung, das sie mit ihren Überlegungen zur partizipatorischen Parität als normativen Kern ihrer Konzeption verknüpft. Erstens geht sie davon aus, dass jedes Individuum der Gesellschaft auf der Grundlage eines Wertepluralismus, so wie er im Zuge der Moderne als »moralisch verbindlich« (ebd.: 46) erscheint, frei entscheiden kann, wie ein gutes Leben zu bestimmen sei. Es handelt sich, dieser Argumentation folgend, um eine partizipatorische Gleichberechtigung, die sich als Norm verstehe und demzufolge keine individualistische Selbstverwirklichung zum Ziel habe, sondern eine basale, grundlegende Infrastruktur. Zweitens gingen Analysen im Statusmodell nicht von psychischen Unzulänglichkeiten und individuellen Defiziten aus, um einen Mangel an Anerkennung zu erklären. Soziale Beziehungen, soziale Praktiken und Institutionen, die ihre Wirkmächtigkeit im Kontext kulturell determinierter Bedeutungs- und Werteschemata erlangen, charakterisieren hingegen die reflexive Stoßrichtung dieses Konzepts. Drittens weist Fraser darauf hin, dass im Statusmodell der Anerkennung Verdinglichungen von Akteuren durch ein vereinheitlichendes Gleichmachen nicht übersehen werden. Stattdessen eröffne die moralphilosophisch motivierte Differenzierung von Respekt und Achtung eine gute Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Differenz und Egalität angemessen zu erfassen. »Respekt wird allgemein und jeder Person des gemeinsamen Menschseins halber geschuldet; Achtung hingegen wird entsprechend den persönlichen und je eigentümlichen Merkmalen, Fertigkeiten oder Leistungen in unterschiedlichem Maße verteilt.« (Ebd.: 49) Schließlich ziele viertens das Statusmodell der Anerkennung darauf ab, soziale Gerechtigkeit nicht lediglich als ethische Fragestellung zu verhandeln. Mangelnder Anerkennung lasse sich angemessen nur durch eine Verkoppelung von Umverteilungs- und Ressourcenfragen mit Forderungen nach Anerkennung begegnen. Partizipatorische Parität repräsentiere die moralische Grundvariable für alle Gesellschaftsmitglieder zur Erreichung stabiler sozialer Gerechtigkeit. Sie dürften aber nicht in diese Forderung nach paritätisch strukturierter Infrastruktur eingeschlossen werden. Die individuelle Entscheidung zur Teilnahme oder Nichtteilnahme an gesellschaftlich vorgehaltenen Ressourcen entspreche in diesem Sinne einer paritätisch konstituierten Wahlmöglichkeit, die einen Zwang zur Teilhabe/ Nutzung spezifischer Ressourcen ausschließe.

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Nancy Fraser entwirft ein Bild von Gesellschaft, das im Gegensatz zu Honneths starker Identitätszentrierung, deutlicher auf die soziale und infrastrukturell verankerte Arena zur Aushandlung von Bedürfniskonstellationen und Teilhabeoptionen rekurriert. Diesen Raum nennt sie »›das Gesellschaftliche‹, um deutlich zu machen, daß er sich nicht mit den bekannten institutionalisierten Handlungsräumen der Familie und der offiziellen Ökonomie deckt« (Fraser 1994: 241). Ihre Argumentation fokussiert auf den Bereich der gesellschaftlichen Auseinandersetzung über Partizipationsmöglichkeiten, die nicht bereits im Vorhinein festgelegt sind und insofern auf eigensinnige Weise über ›Partizipationsstandards‹ hinausgehen können. »Demzufolge ist das Gesellschaftliche ein Ort des Diskurses über problematische Bedürfnisse, über Bedürfnisse, die die anscheinend (aber nicht wirklich) selbstregulativen häuslichen und offiziell ökonomischen Institutionen der männlich beherrschten, kapitalistischen Gesellschaften überschritten haben.« (Ebd.; Hervorh. d. Verf.)

Intelligibilität und ›Subjektwerden‹ bei Judith Butler Judith Butler beanstandet mit Blick auf die Fraser-Honneth-Kontroverse, dass durch die Bezugnahme auf ein autonomes Subjekt als Effekt einer heteronormativen Diskursivität das Konzept der Anerkennung nicht hinreichend kritisch betrachtet werde. Dem subjektorientierten Zugang zur Erläuterung des Begriffs Anerkennung, so wie ihn Honneth wählt, hält Butler entgegen, dass das Subjekt und die politischen Kämpfe um Identität in dieser Lesart als normativ vorgegeben erscheinen, sodass Zugehörigkeiten bereits im Vorhinein als festgelegt vorausgesetzt werden. »Die weit verbreitete Annahme, dass das ›Subjekt vor dem Gesetz‹ eine ontologische Integrität besitze, kann als zeitgenössische Spur der Hypothese vom ›Naturzustand‹ verstanden werden – jener fundierenden/fundamentalistischen Legende, die für die Rechtsstrukturen des klassischen Liberalismus konstitutiv war. Die performative Beschwörung eines ungeschichtlichen ›vor‹ wird zur Begründungsprämisse, die eine vorgesellschaftliche Ontologie der Personen sichert, die ihrerseits die Legitimität des Gesellschaftsvertrags begründen, indem sie frei einwilligen, regiert zu werden.« (Butler 1991: 18) Den Vorschlag Frasers, einen konzeptuellen Rahmen zu schaffen, der die zunächst getrennt gedachten Dimensionen Ökonomie und Kultur integriert, um soziale Ungleichheit aus einer zweidimensionalen Konzep-

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tion, im Sinne eines ›perspektivischen Dualismus‹ analytisch in den Griff zu bekommen, hält sie entgegen, dass ein Arbeiten mit jenem Dualismus – auch wenn er beansprucht, Verschränkungen der beiden Dimensionen Ökonomie und Kultur aufzugreifen – Ausschließungseffekte durch eine heteronormative Regulation der Sexualität und Lebensweisen unterschlägt. Die Entstehung der klassischen ›Hausfrauenehe‹ im Fordismus, die sich durch den Mann als ›Familienernährer‹ konstituiert, gilt ihr hier als Beispiel. Diese vielschichtige Problematik wird von Regina Becker-Schmidt in einer Rekonstruktion gesellschaftlicher Verhältnisse als einer »doppelten Vergesellschaftung« aufgegriffen. »Wenn ›Arbeit‹ als Medium der Vergesellschaftung gedacht wurde, dann waren es männlich konnotierte und vorrangig marktvermittelte Tätigkeiten. Hausarbeit blieb ausgespart und damit das ganze Spektrum an Kompetenzen, das Frauen im Privatbereich erwerben. Und ein Konflikt, der spezifisch für die Vergesellschaftung von Frauen ist, die ihr Arbeitsvermögen doppelt – als Haus- und als Erwerbsarbeit – in den sozialen Zusammenhalt einbringen, wird erst heute sozialpolitisch ernst genommen: dass nämlich die Vereinbarkeit der beiden divergenten Arbeitsformen kein ›Frauenproblem‹ ist, sondern ein gesellschaftliches Dilemma, das auch gesellschaftlich gelöst werden muss.« (Becker-Schmidt 2008: 66) Butler orientiert sich in Auseinandersetzung mit dem Begriff Anerkennung nicht an einer statischen und eindimensionalen Definition, die häufig gar als präsoziales universales Deutungsschema intersubjektiver Beziehungen vorausgesetzt wird. »Weil es etwas gibt, dass sich dem diskursiven Begreifen entzieht« (Butler 2001b: 591), Anerkennungsverhältnisse aber durchaus nur in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Strukturen und Machtverhältnissen zu verstehen sind, die den sprachlichen Rahmen dessen konstituieren, wie wir ansprechen und angesprochenen werden, begreift Butler diese Interdependenz als »gefährdete Anerkennung« (Salaverría 2009: 58). Grundsätzlich, so muss hier eingefügt werden, geht es Butler in ihren Überlegungen über den Bereich des Symbolischen und der Intelligibilität darum, »eine störende, transformierende Wiederkehr des kulturell Verdrängten, Verworfenen und Marginalisierten in die jeweils hegemoniale Kultur zu denken und zu ermöglichen« (Kämpf 2006: 246). Sie prozessiert eine doppelte Bedeutung von Subjektwerdung innerhalb von Annerkennungsnormen. »Jedes Subjekt wird […] durch die sprachlich imprägnierten Normen einer Gesellschaft in einem doppelten Sinn subjektiviert, nämlich als Subjekt konstituiert und zugleich der gesellschaftlichen

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Ordnung unterworfen. Es ist diese gesellschaftliche Ordnung, die uns in unseren Möglichkeiten, Anerkennungsverhältnisse einzugehen, sowohl ermächtigt als auch begrenzt.« (Salaverría 2009: 60) Gesellschaftliche Anerkennung bilde die Voraussetzung dafür, einen Subjektstatus zu erlangen. Dies kann aber nur im Feld symbolischer Repräsentationen gelingen, dass heißt innerhalb des Machtgefüges politischer Überzeugungen, Regelungen, diskursiver Praktiken und sozialer Gesetze. Steht für Michel Foucault das Sexualitätsdispositiv als produktiver Anreizmechanismus, der die Fabrikation sexueller Subjekte geradezu unhintergehbar anstachelt, im Mittelpunkt, so stellt sich diese theoretische Perspektive der Genealogie moderner Sexualität für Butler als Anknüpfungspunkt dar, um die Kohärenz der Trias zwischen sex, gender und desire analytisch zu hinterfragen, und hiervon ausgehend eine produktive, heteronormative Matrix anzunehmen, die als Norm die Grundlage jeglicher Subjektwerdung bilde. Hiernach werden Menschen in zwei Klassen, die XX-Menschen, die Frauen genannt werden, und die XY-Menschen, die den Titel Mann tragen, eingeteilt, was in sehr unterschiedlichen Kulturen und auch trotz großer geographischer Entfernungen als ›natürliche Selbstverständlichkeit‹ gilt. Die Trennung wird von den biologischen Voraussetzungen her als einzig möglicher Weg erachtet, der letztlich durch den Fortpflanzungsakt, der die menschliche Reproduktion sichert, erklärt wird. Fortpflanzung und Arterhaltung gelten als entscheidende ontische Denk- und Leitfiguren, über deren Eigenlogik sich ein Dichotomieverständnis in das gesellschaftliche Gedächtnis im Sinne einer kulturellen Grundüberzeugung einschreiben kann. Butler geht davon aus, dass auch ein anatomisches Merkmal (sex) immer an soziale Konstruktionen und insofern auch an soziale Lebenswelten und Sozialisationsprozesse geknüpft sei. Somit entpuppe sich sex schon immer auch als gender. Dieses Verfahren entspreche einer produktiven Hervorbringung, die Geschlecht im Voraus konzipiere und Identitäten als in eine Norm eingestellte Wesenseigenschaften vorab festlege. Subjekte werden geformt und gleichsam Arenen rechtmäßiger Existenzweisen (vgl. Maihofer 1995) vorbereitet. Gesellschaft sei im vorherrschenden Diskurs ausschließlich als heterosexuelle Matrix vorstellbar, und darin bestehe ein Zwang. Individuen müssen sich auf diese Norm beziehen, um intelligibel zu sein. Intelligibilität entspreche einem Modus anerkannter, als gesellschaftlich sinnvoll erachteter Identität. Ein Subjektsein werde ohne Bezugnahme auf eine Heteronormativität verunmöglicht. Subjektwerdung erscheint Butler nicht als selbstverständlicher, funktionalisti-

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scher Entwicklungsverlauf, der quasi selbsttätig, ja naturgegeben abläuft. Es geht ihr darum zu zeigen, dass Anerkennung eine höchst störanfällige Konstruktionsleistung der Akteure darstellt, weshalb sie sich analytisch sowohl auf die Wirkmächtigkeit der heterosexuellen Matrix, als auch auf die »normative Kraft der Performativität« (Butler 1997: 260) bezieht. Ein intelligibler Subjektstatus setze voraus, dass sich Individuen in ein Verhältnis zur Logik sozialer Normen bringen müssen, ohne diese in toto zu affirmieren. Doch was sich als legitimer Subjektstatus erweist, wie hiernach anerkannt und wertgeschätzt gelebt werden kann, hänge davon ab, wie soziale Normen und Bedeutungsmuster performativ hervorgebracht werden, um auf diese Weise als Tatsachen gelten zu können. Darüber hinaus funktioniere das Intelligibelsein im Kontext der Heteronormativität durch rigorose Ausschließung. Auf beide Aspekte, das Prinzip der Wiederholung sowie der Ausschließung4 , werde ich im Folgenden kurz eingehen, bevor ich nach einer kurzen Zusammenfassung der drei anerkennungstheoretischen Sichtweisen das Dilemma des Coming out als Zwangsanerkennung in einer heteronormativ strukturierten Gesellschaft näher erläutere.

Performativität und Ausschließung Für Judith Butler gilt die performative Kraft von Diskursen als entscheidender Clou, der die gesellschaftlich außerordentlich notwendigen Fragen nach Zugehörigkeit und Anerkennung zu klären versucht, und zwar auf ver-eindeutigende Weise. Performanz bedeutet so gesehen zunächst einmal eine Form der Selbst-Darstellung. Dieser ›Auftritt‹, der sprachlich durch Anrufung funktioniert, kann nicht außerhalb einer diskursiv festgestellten Norm ablaufen. Er ist beeinflusst und getragen von den jeweils gängigen, situativ vereinbarten Bezeichnungsgewohnheiten. Damit sind Zuschreibungs- und Etikettierungsroutinen gemeint, die über Äußerungen wie ›so sind die da!‹, ›so sind die anderen‹, ›so sind die Frauen, so sind die Männer an sich!‹, oder ›so sind Schwarze an sich‹, ›so sind sie, die Schwulen und Lesben!‹ etc. Meinungen und Urteile produzieren, aber 4 | Melanie Plößer (2010) beschreibt präzisiert und eindrucksvoll den perpetuellen und zugleich ausschließenden Effekt der »normativen Kraft der Performativität« aus einer differenztheoretischen Perspektive, so dass ich diesen Gedankengang für meine Ausführungen dankenswerter Weise aufgreifen darf.

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eben auch durch ihre Anwendung, also gewissermaßen aus der sprachlichen Praxis heraus, jene Bedeutungen stetig erneuern, reaktivieren und insofern stabilisieren. Bedeutung und sozialer Sinn, der sich in diesem Fall nicht nur auf ein ›neutrales Wissen von‹ bezieht, sondern im Modus »sprachlicher Missachtung« (Herrmann et al. 2007) daherkommt, werden im ›Wortschatz der Gesellschaft‹ iterativ genutzt und über die Zeit konserviert. Mit Bezug auf Judith Butler formuliert Sybille Krämer: »Die Sprache bringt uns als menschliche Subjekte hervor, weil wir der Anrede und Ansprache durch die anderen bedürfen: Daher geht dem Reden das Anreden, geht dem Sprechakt der Hörakt des Angeredetwerdens voraus. Wir sind in unserer Existenz von Sprache abhängig, weil und insofern wir darauf angewiesen sind, angeredet zu werden.« (Krämer 2007: 40) Weiterhin ist für Butler die Position der Sprecherin entscheidend dafür, wie sich die performativen Handlungen vollziehen. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob ein Priester, oder ob ein Postbeamter die Ehe gegenüber einem Brautpaar ausspricht. Die Folgen wären gänzlich andere und führten folglich zu anderen ›Realitäten‹. »Eine performative Handlung ist eine solche, die das, was sie benennt, hervorruft oder in Szene setzt und so die konstitutive oder produktive Macht der Rede unterstreicht.« (Butler 1993a: 123) Subjektwerdung vollzieht sich als performativer Prozess und eröffnet zwei Perspektiven auf das ›Machen von Sein‹. »Einerseits sind wir die diskursiven Produkte der Anrufungen, denen wir ausgesetzt sind. […] Andererseits bedarf es gewissermaßen einer individuellen Annahme der Anrufung.« (Bruner 2005: 75) Anrufung und Annahme der Anrufung sind zentrale Vorgänge einer Subjektwerdung, die einmal aufzeigen, dass die Entscheidung für ein Sein (beispielsweise das Homosexuellsein oder auch das Behindertsein) nicht individuell getroffen werden kann. Wenn ein Mensch geboren wird, und es präsentiert sich ein (vermeintlich) eindeutiges, anatomisch weibliches Geschlecht, so kann dieser Mensch – nicht nur weil es zu diesem Zeitpunkt altersbedingt kaum möglich wäre, sich selbst zu artikulieren – die Anrufung ›Hurra, es ist ein Mädchen!‹ nicht vermeiden. Es würde auch keinen Sinn machen, dieses Ankommen in der Norm zu verleugnen, denn es wird von außen zugetragen. Der Sexus als morphologische Substanz verantwortet nicht selbst die Zuschreibung und Klassifikation von Identität. Vielmehr werden im performativen Akt der Anrufung eindeutige Kategorien, im vorliegenden Beispiel Frau/Mann,

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von Anfang an bestimmt. Das wirkmächtige Benennungsverfahren bringt das Neugeborene als Mädchen konstitutiv hervor. ›Erfolgreiche Subjektivation‹ setzt im Anschluss daran voraus, dass die Zuschreibung, in diesem Beispiel als eindeutiges Mädchen, affirmativ übernommen wird. Nur so kann aus dem Verfahren der Subjektivation eine Identität entstehen, die sich im gegenwärtig gültigen, okzidentalen Diskurs intelligibel einrichtet. Identitäten sind unhintergehbare Voraussetzung, um intelligibel am Leben teilnehmen zu können. Diese sind eingebunden innerhalb einer diskursiven Matrix. Ein Außerhalb ist unmöglich, will man gehört, verstanden und anerkannt werden. Intelligibilität konstituiert sich demzufolge in und durch die Zugehörigkeit/Nichtzugehörigkeit zu gesellschaftlich anerkannten Gruppen, sodass sich dieses Bild durchaus als Existenzweise in zwei Bereichen darstellt: entweder Drinnen oder Draußen. Identitäten entstehen an der Schnittstelle dieser Trennungslinie, indem sie ihre ganze Kraft dafür aufwenden, als stabile, erkennbare, unterscheidbare und vor allem eindeutige ›Persönlichkeiten‹ aufzutreten. »Diese Matrix mit Ausschlusscharakter, durch die Subjekte gebildet werden, verlangt somit gleichzeitig, einen Bereich verworfener Wesen hervorzubringen, die noch nicht ›Subjekte‹ sind, sondern das konstitutive Außen zum Bereich des Subjekts abgeben. Das Verworfene [the abject] bezeichnet hier genau jene ›nicht lebbaren‹ und ›unbewohnbaren‹ Zonen des sozialen Lebens, die dennoch dicht bevölkert sind von denjenigen, die nicht den Status des Subjekts genießen, deren Leben im Zeichen des ›Nicht-Lebbaren‹ jedoch benötigt wird, um den Bereich des Subjekts einzugrenzen.« (Butler 1997: 23)

Bezeichnung und Selbstbezeichnung Geht es bei Axel Honneth darum, auf der Grundlage der moralischen Maxime Integrität, Missachtungserfahrungen der Individuen als Kristallisationspunkt kollektiver Identitätsentwicklung zu interpretieren, fokussiert Nancy Fraser den Status der Akteure als anerkennungstheoretisch unhintergehbare Kategorie, und verweist damit auf die Notwendigkeit, an den infrastrukturellen Bedingungen und Zugangsmöglichkeiten für ein gutes Leben zu arbeiten, was sie als Konzept der partizipatorischen Parität hervorhebt. Judith Butler interessiert sich für die Subjekt konstituierenden Normen einer Gesellschaft sowie für die normierende, normbildende Praxis der Selbststilisierung durch die Subjekte. Im Rahmen dieser Interdepen-

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denz von Normalisierung einerseits und Normhervorbringung andererseits, formuliert sie ihren Anspruch, Identitätsentwicklung und Identitätspolitiken als performative Praxis zu analysieren und stellt auf diese Weise eine Möglichkeit in Aussicht, das Erzeugungsprinzip von Identitäten, Differenzen und Ausschließungen reflexiv im Blick zu halten, es zumindest nicht unwillkürlich als etwas Gegebenes hinzunehmen. Sie beschreibt einen kritischen Umgang mit fundierenden Identitätskategorien, der sich auch als eine Praxis des Irritierens und Irritiertseins umschreiben lässt. In ihrem Aufsatz »Imitation und die Aufsässigkeit der Geschlechtsidentität« (2003) berichtet sie von einem Unbehagen, das stets dann auftauche, wenn eine bestimmte Form des Seins angesprochen werde und gleichsam eine Erwartung zu Tage trete, sich als jemand zu äußern. »Denn es ist eine Inszenierung, sich (gewöhnlich als Reaktion auf eine Anfrage) zu einer Identität zu bekennen oder in ihrem Namen zu schreiben, eine Inszenierung, die – ist sie erst produziert – manchmal die Funktion eines politisch wirksamen Trugbilds erfüllt.« (Ebd.: 144) Butler überschreibt ihre Ausführungen mit der Frage »Als Lesbe Theorien entwickeln – was heißt das?« (ebd.) und rekurriert so auf jenen ›fragwürdigen und umkämpften Subjektstatus‹, der im Honnethschen Deutungsvokabular unmittelbar in ein Anerkennungsdilemma führen müsste, weil die Bezeichnung ›als Lesbe‹ bereits andeutet, dass eine vollständig intelligible Identität in Rede steht. Als Lesbe zu sprechen, erzeuge nicht bloß ein Unbehagen über das Bezeichnetwerden und möglicherweise auch in ähnlicher Weise das Selbstbezeichnen, sondern verweist ebenso auf eine Situation, ›zu einer Lesbe gemacht zu werden‹ bzw. ›sich selbst zu einer Lesbe machen zu müssen‹, möchte man, wie bereits beschrieben, kulturell intelligibel sein/werden. Demgemäß geht es also der butlerschen Lesart folgend um die Situation eines gesellschaftlich provozierten Selbstoffenbarungshandelns, sich als Subjekt zu einer ›devianten sexuellen Orientierung‹ zu bekennen, was die betreffenden Individuen aus meiner Sicht zugleich dazu bringt, sich mit der Vorenthaltung von Anerkennung auseinanderzusetzen. Judith Butlers Gesellschaftsannahme ist getragen von einem Unbehagen, wenn Prozesse der Identitätsbildung und wirkmächtige Identitätspolitiken unhinterfragt als feststehende Wahrheiten genommen werden. Jemand zu sein, sich selbst als jemand zu offenbaren, ist nicht vordiskursiv bestimmt. Vielmehr sind jene Konstruktionsprozesse von Identitäten in gesellschaftliche Diskurse eingebunden. Individuelle Anstrengungen

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und Aktivitäten der Suche nach der passenden Existenzweise sind durch den sozialen Sinn, das, was gesellschaftlich als legitimiert und normal gilt, determiniert. In diesem situierten Rahmen finden Auseinandersetzungen und Kämpfe um Identität statt. Der Forderung Butlers folgend, die Gültigkeit von Gesellschaftsbildern durch Orte politischer Neuverhandlung zu hinterfragen (vgl. Butler 1993b), schließe ich mich an, um im Weiteren Prozesse der Identitätsarbeit in diesem Sinne queertheoretisch zu rekonstruieren.

Coming out als Fall von vorenthaltener Anerkennung? Obgleich das Bild der Anerkennung als vorenthaltene Anerkennung deren diskursiven Entstehungs- und Wirkungszusammenhang nur unzureichend erklären kann, weil dann von einer binär konstruierten Anerkennungslogik ausgegangen wird, die die Komplexität gesellschaftlicher Machtverhältnisse nur unzureichend reflektiert, verweist diese Formulierung dennoch darauf, dass ein lesbisches oder auch ein schwules Begehren5 nur gegen die gesellschaftliche Norm und Konvention gegengeschlechtlicher Intimbeziehungen gelebt werden kann. Coming out beschreibt in diesem Verständnis ein performatives Ritual des Selbsterkennens und der Selbststilisierung. Identitätsfindung ist ein Sondierungsprozess, der mit einer Selbstdefinition (Identitätskonstruktion) und ihrer anschließenden Veröffentlichung einhergeht. Volker Woltersdorff (2004) bezeichnet diese Praxis treffend als Selbstvergesellschaftung. Im sich selbst Finden und neu Justieren geht es allerdings nicht ausschließlich um die Kraft des Individuums, eine gesellschaftliche Position zu erkämpfen und diese entsprechend zu besetzen. »Selbstermächtigung und Selbstunterwerfung im Coming out sind gerade paradox ineinander verwoben […], denn die Norm bringt das Subjekt, das sich gegen sie richten kann, erst hervor.« (Ebd.: 142; Einfüg. d. Verf.) Jürgen Esch (1999) geht auf der Grundlage qualitativer Interviews der Frage nach, wie Schwule das Coming out unter den Vorzeichen einer kulturell legitimierten Sozialisation, die er als gewöhnliche Sozialisation von Jungen bezeichnet, inszenieren, verarbeiten und bewältigen. Anhand 5 | Ausgehend von Judith Butlers Problematisierungen einer Selbstetikettierung gehe ich zwar von Identitätskonstruktionen ›als Lesbe‹ und ›als Schwuler‹ aus, ohne damit aber bi-, transsexuelle und weitere Formen des Begehrens auszuschließen (vgl. Schirmer 2010).

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von zwei Interviewpassagen aus dieser Untersuchung möchte ich das Verhältnis von Selbstermächtigung und Selbstunterwerfung im Coming out quasi sekundäranalytisch präzisieren und anschließend in den Zusammenhang neoliberal erwünschter, ›anerkannter‹ Selbst-Repräsentationen stellen, die Jörg Maas (1999) in einer empirischen Arbeit zu Identität und Stigma-Management von homosexuellen Führungskräften extrapoliert. Zunächst berichtet Stefan von seinen Erfahrungen mit dem Coming out in der Schulzeit. Stefan ist 24 Jahre, Biologiestudent und im Rhein-MainGebiet aufgewachsen.

D ER LE T Z TE M OHIK ANER UND S TR ATEGIEN DER S ELBSTUNTERWERFUNG »In meinem Freundeskreis war das also auch nur ein negatives Thema. In der Schule oder so unter den Jungs war das eben absolut negativ bewertet, […] wenn derjenige jetzt erzählt hätte, er hört gern Volksmusik, hätten sie bestimmt auch ’n Witz darüber gemacht. Aber das wär net so das Problem gewesen. Aber unter den Jungs da, dass da einer schwul ist, das war praktisch also das Ätzendste, was jemand sagen konnte. […] Also da hab‹ ich mich schon so wie der letzte Mohikaner gefühlt.« 6 (Esch 1999: 38)

Stefan thematisiert eine fast klassische biografische Sozialisationssituation. Im Bewusstwerdungsprozess über das eigene Sein im Verhältnis zu anderen, ist er mit der eindeutig stigmatisierten schwulen Existenzweise konfrontiert. Unter den Jungs, so formuliert er seine Erfahrungen, gelte das Schwulsein als pejorativ konnotierte Identitätskategorie. Schlimmer noch als Volksmusikhören, was bereits als ein schwieriges und mit den etablierten kulturellen Praxen der Gruppe kaum zu vereinbarendes Identifikationskriterium erscheint, symbolisiert ein schwules Begehren nicht nur einen uncoolen Typus, sondern markiert das Negativum dessen, was gesellschaftlich anerkannt ist und als erstrebenswert gilt. Stefan interpretiert diesen Zusammenhang als ›negatives Thema‹ und verweist insofern 6 | Sämtliche biographische Angaben beschränken sich bei allen Gesprächspartnern in der Arbeit von Esch auf die genannten Informationen. Allerdings präzisiert er, dass die Interviews mit schwulen Männern, die an einer Coming outGruppe teilgenommen haben, geführt wurden.

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auf das Prinzip heteronormativ strukturierter Lebensentwürfe gewissermaßen als ›positives Thema gesellschaftlicher Normen‹. Studien zum Umgang mit Homosexualität und Adoleszenz greifen das Phänomen homophob situierter Kulturpraktiken auf dem Schulhof auf. Cheri Jo Pascoe (2006) vom soziologischen Institut der Universität Berkeley zeigt die Verwendungsweisen der Anrufung »Du bist so ’ne Schwuchtel, Alter« (Pascoe 2006: 1) in einer ethnographischen Studie, die an einer kalifornischen High School durchgeführt wurde. Über die zentrale Diffamierung homosexueller Jugendlicher hinaus, werde die Zuschreibung ›Schwuchtel‹ grundsätzlich als beleidigender und ausgrenzender Gewaltakt angewendet. Der ›Schwuchteldiskurs‹ stehe im Kontext sexuierter Bedeutungsstrukturen. Und genau über diesen Mechanismus funktioniere schließlich der disziplinierende Effekt der ›Schwuchtel‹: »Sie ist flüchtig genug, um Jungen dazu zu bringen, ihre Verhaltensweisen aus der Furcht heraus, dass ihnen eine Schwuchtelidentität permanent angehängt werden könnte, zu kontrollieren; und sie ist definitiv genug, um Jungen ›schwuchtelig‹ genanntes Verhalten schnell erkennen und vermeiden zu lassen.« (Ebd.: 3) Die Bedeutung sexueller Identität spielt für die Konstitution von Subjektivität, und das sollte an dieser Stelle gezeigt werden, eine außerordentlich bedeutsame Rolle. Das Bild ›evidenter Identitäten‹, die sich eindeutig und transparent in Szene setzen und sich unmissverständlich von nicht-anerkannten Lebensentwürfen abgrenzen können, erscheinen als notwendige Konstruktionsleistung, bereits im frühen Jugendalter, um im gesellschaftlichen Kampf um Anerkennung und Beteiligung passende Positionen besetzen zu können. Die Aussicht auf ein Leben als »letzter Mohikaner« motiviert durchaus zu einer Handlungsstrategie der Selbstunterwerfung, die Stefan an anderer Stelle auf den Punkt bringt: »Und hab’ mir praktisch gewünscht, nicht schwul zu sein. Weil ich das als sehr schwierig empfand und halt gedacht hab: es wär’ schon sehr gut, wenn mir das erspart bliebe und ich hätt’ ’ne Freundin wie alle anderen und so weiter. Und das wär’ alles, wie die Mehrheit lebt, so würd’ ich dann auch leben: alles unauffällig.« (Esch 1999: 152)

Aus Angst davor, die Rolle eines Außenseiters zugeschrieben zu bekommen und an den Rand der Zugehörigkeit gedrängt, zudem den kompletten Ausstoß aus der Gruppe ständig erwartend, bewertet Stefan das ›Schwul-

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sein‹ als unerwünschten Identitätsmarker. Hätte er die Wahl, so würde seine Entscheidung zugunsten einer unauffälligen Normalbiographie eines heterosexuellen Mannes ausfallen. Gemäß dieser Lesart unterwirft sich Stefan der antagonistischen Dualität zweier Geschlechter. Das Coming out beginnt zu einem Zeitpunkt, an dem sich die Überzeugung einer heteronormativ konnotierten ›Normalidentität‹ bereits habituell in das biographische Selbstverständnis eingeschrieben hat.

P ERFORMANZ VON T ÜCHTIGKEIT ALS KULTURELL INTELLIGIBLE I DENTITÄTSKONSTRUK TION Auf das paradox erscheinende Moment, dass Selbstermächtigung und Selbstunterwerfung im Coming out performativ ineinandergreifen, möchte ich mit einem Interviewausschnitt aus der Untersuchung von Jörg Maas (1999) eingehen. Ausgehend von Erving Goffmans Arbeiten zum Stigma-Management steht das Verhältnis von Identitätsbildung und -formen »homosexueller Führungskräfte« zu deren institutionellen und organisatorischen Bedingungen im Vordergrund der Untersuchung. Tobias, Diplom-Kaufmann und Marketingdirektor in der Hotel- und Gastronomiebranche im Alter zwischen 36 und 40 Jahren, thematisiert ein besonderes schwules Engagement in Unternehmen: »Das haben die Amerikaner auch schon längst erkannt. Haben sich diese Märkte erschlossen, wenn du mal anschaust, Apple, also Macintosh die haben eigene schwule Freizeitgestaltungen und die haben auch gezielt schwules Engagement in dem Unternehmen, in der Philosophie verankert. Bingo! Die haben’s genau kapiert. […] Schwule Verbraucher sind inzwischen entdeckt worden. Und natürlich sind sie in der gleichen Weise auch […] als schwule Mitarbeiter entdeckt worden, nämlich dass der eben viel engagierter ist. Und das ist er auch.« (Maas 1999: 255)

Ein besonderes Engagement schwuler Mitarbeiter in Unternehmen einerseits sowie die Entdeckung der ›Kaufkraft‹ schwul lebender Menschen andererseits sind die zentralen Deutungen in Thomas‹ Schilderung. Zwei unterschiedliche Interpretationsperspektiven sind hilfreich, um die Verwobenheit von Engagement und Solvenz im Sinne einer Performanz von Tüchtigkeit angemessen zu verstehen.

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Martin Dannecker und Reimut Reiche (1974) haben in diesem Zusammenhang die Figur des »gewöhnlichen Homosexuellen« eingeführt und empirisch nachweisen können. Besonders interessierte sie ein zu beobachtender Aufstiegswille schwuler Männer. Im Wissen um die eigene Mitgliedschaft einer (noch) nicht völlig akzeptierten Minderheit in der Gesellschaft, sei bei diesem Typus eine Tendenz zur Identifikation mit dieser Gesellschaft, die als Aggressor auftritt, zu beobachten. Identifikation ist hier als Affirmation und Progression »dieser beispiellosen beruflichen – und damit sozialen – Aufwärtsmobilität« im Sinne einer psychoanalytisch gedeuteten Leistungsbereitschaft zu verstehen, die sogar »die Bereitschaft inkludiert, diesem Aufstieg eine bestehende Partnerschaft notfalls zu opfern« (Reiche 2003; Einfüg. d. Verf.). Engagement, Aktivität und Aufstiegswille repräsentieren in dieser Logik einen Willen, Zugehörigkeit durch Leistung herzustellen, um sich des Stigmas der sexuellen Devianz zu entledigen und gesellschaftliche Anerkennung zu finden. Die These des ›Aufstiegswillens schwuler Männer‹ geht von einer zunehmenden Durchlässigkeit zwischen der heterosexuellen und homosexuellen Welt aus, weil die Mitglieder der einen Welt den subversiv exotischen Lifestyle durchaus zu schätzen wüssten und die Mitglieder der anderen Welt diese Pforte partieller Normalisierung für eine erfolgreiche Karriere produktiv einsetzten. Eine zweite Interpretationsperspektive weist die Behauptung der zwei Welten sowie die Okkupation der heterosexuellen Welt durch »die Homosexualisierung der Gesellschaft« (ebd.) zurück und fokussiert stattdessen stärker auf die Wirkmächtigkeit eines Coming out im Lichte des Neoliberalismus. In der Formel »du darfst so leben, wie du willst, wenn du damit erfolgreich bist und selbst dafür die Verantwortung übernimmst!« (Woltersdorff 2004: 146) ist die Passung eines ›besonderen Engagements und Aufstiegswillen schwuler Männer‹ mit dem neoliberal konnotierten Appell an das Individuum, sämtliche Lebenszusammenhänge, das Sein ökonomisch zu verstehen, angesprochen. Jegliches Denken, Handeln und Interagieren sei auf die Kompetenz hin ausgesteuert, die eigene Arbeitskraft als Unternehmen zu organisieren7. »Nicht als Klassenherrschaft, sondern 7 | An anderer Stelle ist diese Figur des inkorporierten Managementtypus‹ als »Arbeitskraftunternehmer« empirisch ausbuchstabiert worden (vgl. Moldaschl/ Voß 2003) und wurde in zahlreichen Studien als Ausgangspunkt oder zur Weiterführung/-entwicklung ganz unterschiedlicher Perspektiven genutzt (vgl. zum Beispiel Rau 2010).

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als Hegemonie managerialen Denkens in nahezu allen Lebensbereichen, nicht als Alternative zum, sondern als spezifischer Rationalisierungstyp und Ensemble von Techniken für das erfolgreiche Bestehen im Kapitalismus hat sich die Managergesellschaft durchgesetzt.« (Bröckling 2000: 131) Im performativen gay lifestyle sei nun eine Formel in Kraft, die zumindest eine partielle Anerkennung ermögliche. Das Schwulsein amalgamiert mit ökonomischen Rationalisierungsmustern. Zuvor als Diskriminierungsargument eingesetzt, erscheint nunmehr eine Karriere mit Bezug auf exakt jene ›ideale unternehmerische Identität‹ möglich8 . 8 | Ich beziehe mich mit dieser Argumentation vor allem auf die zweite Interpretationsperspektive des performativ hervorgebrachten gay lifestyle. Es soll an dieser Stelle keine verallgemeinernde Aussage über ›die Schwulen‹ getroffen, keine mutmaßliche Ausblendung lesbischer, bi-, trans- oder queerer Lebensweisen vorgenommen werden, noch möchte ich Diskriminierungspraxen ausblenden. Mit Bezug auf eine anhaltende Homophobie, vor allem auch an den Schulen, sei hier auf eine Studie über die Lebenssituation schwuler Jugendlicher hingewiesen, die im Auftrag des Niedersächsischen Ministeriums für Frauen, Arbeit und Soziales von Ulrich Biechele, Günter Reisbeck und Heiner Keupp (2001) durchgeführt wurde. Die Autoren versuchen einen Blick in die Schulhöfe zu werfen und stellen dabei Folgendes fest: »In weniger als 20 % der Fälle erleben die Schüler, dass LehrerInnen Schwule verteidigen, wenn sie zur Zielscheibe von Witzen und Verächtlichmachung werden.« (Ebd.: 37) »In dieser Lebensphase leiden die meisten schwulen Jugendlichen an Einsamkeit und erheblichen Identitätsproblemen. Der Schritt in die Gewissheit, schwul zu sein, ist heute mit dem gleichen Ausmaß an negativen Gefühlen wie Unsicherheit und Furcht verbunden wie vor 30 Jahren.« (Ebd.: 36) Darüber hinaus lohnt sich ein Blick in eine kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/die Grünen sowie einiger Abgeordneter des Deutschen Bundestages, in der sie das Thema »Lesbische und schwule Jugendliche« aus der Perspektive Diskriminierung und Homophobie thematisieren (vgl. Drucksache 17/2348 vom 29.06.2010). Sie beklagen, dass die Lebenssituation von jungen lesbischen und schwulen Menschen gesellschaftlich nicht hinreichend berücksichtigt würde. So fehlten im 13. Kinder- und Jugendbericht entsprechende Angaben, die Aufschluss über entsprechende Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten geben könnten. Dramatisch sei dieser Umstand vor allem deshalb, weil sich in einer Studie des Instituts Sinus Sociovision im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes kein signifikanter Rückgang diskriminierender Einstellungen gegenüber homosexuellen Lebensentwürfen zeige. »Demnach möchten 61 Prozent der

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Mit dem Deutungsmuster Performanz von Tüchtigkeit habe ich versucht, verinnerlichte Selbsttechniken zu beschreiben, die an anderer Stelle bereits als Selbstunternehmertum (vgl. Bröckling 2000, 2007) und Aktivierungsprogrammatiken (vgl. Kessl 2005) dechiffriert wurden. Es geht also keinesfalls darum, einen ›positiven Rassismus‹ ins Werk zu setzen, der Devianz naturalisiert und als Produkt kultureller Vielfalt idealisiert. Im Prozess der Verinnerlichung gesellschaftlicher Normen führt jenes Verhältnis von subjektiven zu objektiven Strukturen zur allmählichen Ausbildung eines sozial situierten Habitus9 . »In den Dispositionen des Habitus ist somit die gesamte Struktur des Systems der Existenzbedingungen angelegt, so wie diese sich in der Erfahrung einer besonderen sozialen Lage mit einer bestimmten Position innerhalb dieser Struktur niederschlägt. Die fundamentalen Gegensatzpaare der Struktur der Existenzbedingungen (oben/unten, reich/arm etc.) setzen sich tendenziell als grundlegende Strukturierungsprinzipien der Praxisformen wie deren Wahrnehmung durch.« (Bourdieu 1982: 279) Wenn nun nochmals die Frage nach dem Coming out als Fall von vorenthaltener Anerkennung gestellt wird, so zeigt die Analyse der beiden empirischen Beispiele, dass die Identitätsarbeit in gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen geleistet wird. Im performativen Prozess der Identitätskonstruktion durch Verteidigung des Selbst, Affirmation spezifischer Erwartungen der Gesellschaft oder mutige Selbstermächtigung, geht es stets um so etwas wie eine »Inszenierung schwuler Identität zwischen Auflehnung und Anpassung« (Woltersdorff 2004).

Deutschen mit dem Thema Homosexualität möglichst wenig in Berührung kommen und 46 Prozent würden sich durch einen Kuss von einer gleichgeschlechtlichen Person provoziert fühlen.« (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2008) Melanie Caroline Steffens und Christof Wagner (2009) betonen in ihrer Arbeit, dass »Lesben, Schwule und Bisexuelle bei der Offenbarung ihrer sexuellen Orientierung gegenüber der Familie, Freund/innen, Fremden, Mitschüler/innen oder Arbeitskolleg/innen in einer bedeutsamen Zahl der Fälle tatsächlich Ablehnung oder sogar Gewalt erleben« (ebd.: 242). 9 | Aus queer-feministischer Perspektive argumentiert Antke Engel (2002) nachvollziehbar mit Foucault, dass dieser Zusammenhang auch oder sogar angemessener verstanden werden müsse als Ineinandergreifen von »Subjektivierungsweisen und Herrschaftsformen« (ebd.: 199).

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Das Coming out stellt insofern tatsächlich eine vorenthaltene Anerkennung dar, wenn man mit Axel Honneth anerkennungstheoretisch den Mangel an Achtung und Wertschätzung, zum Beispiel im Fall schwul-lesbischer oder queerer Lebenspraktiken und -entwürfe, in den Vordergrund rückt. Aus der Perspektive sozialer Gerechtigkeit führt die Diskussion um vorenthaltene Anerkennung in die Irre und müsste stattdessen vom Konzept partizipatorischer Parität, so wie es Nancy Fraser interpretiert, abgelöst werden, das die strukturellen wie auch materiellen Voraussetzungen und Ressourcen für ein ›Anders-Sein‹ zum Ausgangspunkt von Reflexion nimmt. Mit Blick auf die Konstruiertheit von Identitäten kann schließlich kaum mehr von einem Akt der Vorenthaltung ausgegangen werden. Judith Butlers These folgend, dass sich die ›Anerkennung von Identitäten‹ im diskursiven Machtgefüge der Zwangsheterosexualität konstituiere, die mit dem Anschein einer selbstverständlich binär organisierten Geschlechtertrennung arbeite, und in ähnlicher Weise das Bild eines heterosexuellen Begehrens als ›natürlichen Urzustand‹ in Szene setze, ist die Frage weniger nach ihrer vermeintlichen Vorenthaltung zu stellen, sondern vielmehr danach, warum und auf welche Weise sich konformistische Habitualisierungspraktiken durchsetzen10. Misslingt ein Coming out, sodass trotz großen Engagements und ›Aufstiegswillens‹ homophob motivierte Beleidigungen und Gewalterfahrungen dominieren und Akteure gewaltsam bedroht werden11 , ist auf diese Weise ein sozialpolitischer Auftrag formuliert, angemessene Schutzräume für die Betroffenen zu schaffen. Das schwule Anti10 | Pierre Bourdieu hat diesen Aspekt in der Dimension »männlicher Herrschaft« und ihrer Konstitutionsprozesse diskutiert, den die Geschlechtersoziologie als ›Blick auf Geschlechter-Differenzsetzungen‹ schon seit längerem zur Kenntnis genommen hat (vgl. Bourdieu 2005, Budde 2005, Connell 2006, Dinges 2005). 11 | Vgl. MANEO Infobroschüre sowie Erfahrungsberichte auf der Internetseite www.maneo.de: Dort schildern schwule Männer von Gewalterfahrungen in ganz unterschiedlichen Alltagssituationen zum Beispiel in der S-Bahn, oder tagsüber, mitten auf der Straße in einer Großstadt. Im Vordergrund stehen hier Traumatisierung aufgrund körperlicher Übergriffe sowie durch »Verletzende Worte« (Herrmann et al. 2007) wie beispielsweise Beleidigungen in Form von »Wir hassen Schwule!«

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Gewalt-Projekt in Berlin (MANEO12) betont in der Analyse ihrer Umfrage zu Gewalterfahrungen von schwulen und bisexuellen Jugendlichen und Männern in Deutschland, an der sich 24.000 Menschen beteiligten, dass 90 Prozent der Gewalttaten bei der Polizei nicht angezeigt werden und spricht in diesem Zusammenhang von einem unerkannten ›Dunkelfeld‹. Professionelle Opferunterstützung, Informationsangebote und psychosoziale Beratung sind hier notwendige professionelle Interventionsstrategien: Soziale Arbeit kommt ins Spiel. Wie bezieht sich Soziale Arbeit auf ›Anerkennung von Gewicht‹, welche Selbstverständnismuster und Bedeutungen werden in der Sozialen Arbeit verhandelt?

Differenzsensible Soziale Arbeit in Auseinandersetzung mit ›Anerkennung von Gewicht‹ Der Diskurs um Anerkennung wird in der Sozialen Arbeit, so wie ich es bereits in der Einleitung kurz umrissen habe, erst allmählich aufgegriffen. Stellvertretend für diese Debatte möchte ich kursorisch auf die Ausführungen von Fabian Lamp und Catrin Heite13 eingehen, um im Anschluss daran eine queerorientierte Perspektive in den Zusammenhang ›kritischer Differenzsensibilität‹ zu stellen. Insofern verstehe ich die aufeinander bezogenen Reflexionsdimensionen zusammengenommen als innovatives Projekt Sozialer Arbeit, das Gewicht von Anerkennung angemessen vielschichtig und differenziert für eine theoretische, methodologische wie auch handlungsorientierte Weiterentwicklung zu nutzen. Dabei wird eine gerechtigkeitstheoretische Fundierung mit einer Differenzperspektive, die dem Anspruch rekonstruktiver Sozialpädagogik folgt, ›ihre Fälle‹ durch Verfahren methodisch kontrollierten Fremdverstehens14 besser nachvollziehen zu können, in Verbindung gebracht. 12 | MANEO – Das schwule Anti-Gewalt-Projekt in Berlin, Bülowstraße 106, 10783 Berlin, www.maneo.de, www.maneo-toleranzkampagne.de veröffentlicht im Juni 2007 die Ergebnisse einer Umfrage (2006/2007) zu Gewalterfahrungen von schwulen und bisexuellen Jugendlichen und Männern in Deutschland. 13 | Ich danke Catrin Heite für hilfreiche Gespräche über den Zusammenhang von Differenz und Anerkennung, vor allem mit Blick auf die ›professionelle Konstruktion des Anderen‹ (vgl. Heite 2010c). 14 | Vgl. für diesen Diskurs die instruktiven Arbeiten von Fritz Schütze (1976, 1994) und Ralf Bohnsack (2000).

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Beide erstgenannten AutorInnen argumentieren gleichermaßen, dass die Inblicknahme sozialer Praxis nicht eindimensional, beispielsweise auf der Ebene rein interaktionistischer Analysen, ablaufen dürfe. Vielmehr gelte es, »anhand der vier Dimensionen ›Strukturdimension‹, ›Subjektdimension‹, ›interaktive Dimension‹ sowie ›Zeit- bzw. Prozessdimension‹«15 (Lamp 2010: 202, vgl. Heite 2010b, Schweppe/Graßhoff 2006) das analytisch-programmatische Konzept der Differenzsensibilität für eine kritisch reflektierende und handelnde Soziale Arbeit vorzubereiten. Es wird dafür plädiert, eine grundsätzliche Zielorientierung Sozialer Arbeit, nämlich soziale Gerechtigkeit und Identitätspolitiken neu zu denken, nicht aus den Augen zu verlieren. Die sogenannten Fälle Sozialer Arbeit würden häufig zu einseitig im Modus von Verteilungsgerechtigkeit begutachtet, so dass zwar berechtigterweise von existenzformierender Klassenzugehörigkeit ausgegangen werde könne und müsse, »die Dimension der Anerkennungsgerechtigkeit, also die Reproduktion von strukturellen, kulturellen bzw. individuellen Diskriminierungen in sozialen Beziehungen« (ebd.: 203) dabei aber unverhältnismäßig stark ausgeblendet bleibe. Verteilungs- wie auch Anerkennungsgerechtigkeit lassen sich dieser Lesart folgend ausschließlich in Verschränkung miteinander als Zugangsermöglichungspraxis hinreichend interpretieren und für eine reflexive Fallbetrachtung ›sozialpädagogischer Fälle‹ nutzen. Anerkennung wird als multiperspektivische und analytisch signifikante Kategorie für die (Praxis-)Reflexion Sozialer Arbeit vorgestellt. Hat Soziale Arbeit mit Prozessen des Coming outs zu tun, zum Beispiel im Praxisfeld Kinder- und Jugendhilfe sowie Soziale Arbeit in den AIDS-Hilfen, worauf ich im zusammenfassenden Abschlusskapitel näher eingehen werde, so kann Lamps Hinweis auf die Vierdimensionalität Sozialer Arbeit aus meiner Sicht als eine durchaus hilfreiche und brauchbare Orientierung genutzt werden. Ausgehend von dekonstruktivistischen Perspektiven Sozialer Arbeit wäre allerdings im Umgang mit der Frage, inwieweit Anerkennung der AdressatInnen Sozialer Arbeit, zum Beispiel im Fall psychosozialer Begleitung im Coming out, für ihre Interventionsstrategien eine Rolle spielt, auf eine nicht unbedeutsame Schwierigkeit hinzuweisen. Denn ein professionsbezogener Rekurs auf fehlende oder vorenthaltene 15 | Im Folgenden werde ich im Anschluss an Lamp (2010) resp. Schweppe/ Graßhoff (2006) von der Vierdimensionalität differenzsensibler Sozialer Arbeit sprechen.

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Anerkennung sowie die Beseitigung dieses Mangels tappt unweigerlich in die Falle unreflektierter, implizit verlaufender Etikettierungen, wenn die einfache »Anerkennung von Differenz« kulturalisiert wird, mithin eine »Aufhebung von Ungleichheit« (Heite 2010b: 189) stattdessen ausbleibt. So gesehen ist die durchaus nachvollziehbare Selbstzuschreibung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Klaus Wowereit »Ich bin schwul – und das ist gut so« im Zuge seines Coming outs16 zugleich eine Affirmation wie auch ein Euphemismus des Andersseins. Nicht thematisiert werden »machtvolle Zuschreibungspraxen und Benachteiligungsmuster ungleichheits(re)produzierender Strukturen« (ebd.: 190), sodass soziale Ausschließung im Sinne einer systematischen Beschneidung von Rechten und das Vorenthalten von Partizipation Differenzlinien verstärkt, anstatt sie zu re- und dekonstruieren. Heite nutzt die Auseinandersetzung zwischen Axel Honneth und Nancy Fraser produktiv, indem sie schließlich auf eine Praxis produktiver Irritation hinweist, »was im Sinne reflexiver Professionalität eine skeptische Haltung gegenüber generalisierten Normen individueller und kollektiven Lebensführung stark macht« (Heite 2010a). Sozialpädagogisches Handeln ist demgemäß immer auch als Mitkonstruktionsleistung im Hervorbringen von Differenzierungs- und Normalisierungspraxis zu verstehen. Coming out als Fall von vorenthaltener Anerkennung rekurriert als Frage formuliert auf eine prinzipiell unabgeschlossene Rekonstruktions- wie auch Dekonstruktionspraxis von Situationen des Andersseins, des Herausfallens, des ›Ankommens am anderen Ufer‹, ja eines Lebens an den Grenzen intelligibler Existenzweisen. Im Übergang zu einer queerorientierten Sozialen Arbeit bieten die Überlegungen von Fabian Kessl und Susanne Maurer (2010), Soziale Arbeit als Grenzbearbeiterin zu identifizieren, hilfreiche Anknüpfungspunkte, weil sich gerade auch im Prozess des Coming out jener Vergesellschaftungsprozess im Umgang mit Grenzen, einerseits ›die Welt heterosexueller Lebensentwürfe‹, anderseits ›die Welt schwul-lesbischer, bi- oder transsexuel-

16 | Auf dem Sonderparteitag der SPD am 10. Juni 2001 präsentiert sich Wowereit als ›selbstbewusster‹, erfolgreicher und vor allem moderner Spitzenpolitiker. Sein Outing muss auch als politische Strategie gelesen werden, um den kaum antizipierbaren Reaktionen im damals bevorstehenden Wahlkampf den Wind aus den Segeln zu nehmen.

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ler Lebensweisen‹ als soziale Praktiken verstehen lassen (vgl. Kessl/Maurer 2010). Jemand sein zu wollen, etwas darzustellen, auch im Anderssein, keine gesellschaftlichen Ausgrenzungen zu erfahren, ist ein nur allzu verständliches Bedürfnis. Allerdings sind bereits die Vorstellungen darüber, wie es möglich ist, in einer Gesellschaft anerkanntermaßen zu existieren, durch wirkmächtige Gesellschaftsbilder beeinflusst, man könnte auch sagen, dass der Prozess der Identitätsentwicklung bereits hegemonial, zum Beispiel durch normativ eindeutige Definitionen von Männlichkeit, vorbereitet ist. Identitätsgrenzen zu erkennen und sich, nicht immer im Gewahrsein der diskursiven Dimension von Sozialisationsprozessen, an diesen zu reiben, zu wachsen oder zu scheitern, bedeutet, dass Individuen, stets in Relation zu strukturellen Ressourcen, aktiv an ihren Präsentationen im Alltag arbeiten müssen (vgl. Goffman 2006). An den Grenzen zum sogenannten normalen Mann lässt sich die (Herstellungs-)Praxis sexueller Identität analytisch instruktiv rekonstruieren. Ähnlich wie die von mir diskutierte »Strategie der Selbstunterwerfung« sowie das Präsentationsgeschick von »Tüchtigkeit«, arbeiten Peter Hoerz und Michael May (2010) das Habitus generierende »heterosexuelle Selbstverständnis« im Coming out an zwei empirischen Beispielen eindrucksvoll heraus. In beiden Fällen zeigt sich, dass das Bekenntnis zum Schwulsein auf der Negativfolie »Nichtmännlichkeit« bearbeitet wird. »Für Männer, die ihre Heterosexualität im Sinne eines Coming out-Prozesses allmählich in Frage zu stellen beginnen, könnte die Argumentationslinie indessen lauten: Ich bin zwar schwul, aber ich bin trotzdem männlich, weil ich nur aktive und machtbesetzte sexuelle Praktiken ausübe. Damit wird freilich eine Zuordnung auf der richtigen Seite vorgenommen, welche HM Hegemoniale Männlichkeit nicht in Frage stellt, sondern diese zu reproduzieren hilft, indem die ›nichtmännliche‹ oder nicht vollumfänglich ›männliche‹ Position jenen zuschreibt, die in der sexuellen Praxis die passive und untergeordnete Rolle einnehmen.« (Ebd.: 108; Einfüg. d. Verf.)

Queerorientierte Soziale Arbeit an den Grenzen ›eindeutiger Identitäten‹ Im Folgenden, abschließenden Teil komme ich auf die angekündigte Perspektive queerorientierter Sozialer Arbeit zurück und versuche den Umgang Sozialer Arbeit mit Identitätskonstruktionen und -entwicklung ihrer

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AdressatInnen durchaus im Sinne von Grenzbearbeitungen kursorisch zu rekapitulieren. Es geht mir hierbei um den bereits angedeuteten ethischen wie auch sozialpolitischen Auftrag an die Soziale Arbeit, angemessene Schutzräume für die Betroffenen zu schaffen und diese Ermächtigungsarbeit selbst in den Kontext symbolischer Repräsentationen zu stellen. Auf diese Weise ist eine Form der Reflexion sozialer Praxis angesprochen, die das situative Einlassen auf symbolische Ordnungen in Interaktionen der AdressatInnen und Fachkräfte Sozialer Arbeit kritisch hinterfragt. In sozialpädagogischen Kontexten wird die ›Entdeckung des Geschlechts und der Identität‹ an ganz unterschiedlichen Orten regelmäßig zum Thema. Es geht dabei sowohl um die eigene Zuordnung von Mädchen und Jungen in unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe, oder aber auch um das Stigma-Management der AdressatInnen in den AIDS-Hilfen. Im Vollzug des Werdens, des Ich-Werdens und des Sozial-Werdens, stehen jene Sozialisationsleistungen immer auch in Verbindung mit Deutungsmustern der Professionellen über Geschlecht und Lebensweise. Emanzipatorisch motivierte, geschlechtersensible Pädagogik, die den je individuellen Bedürfnissen von Mädchen und Jungen, getrennt in Mädchenarbeit und Jungenarbeit, professionell gerecht werden möchte, ist in hohem Maße an der Produktion von Geschlechtergrenzen beteiligt. Sie verleiht den gängigen Normen und symbolischen Ordnungen Geltungskraft. Um Missverständnisse im Zuge einer Kritik geschlechtersensibler, sozialpädagogischer Konzepte zu minimieren, sei betont, dass sich Identität schlechterdings nicht ohne Unterscheidung von subjektiver, interaktionaler Prozess- und Strukturdimension artikulieren und verstehen lässt. Ob aber über Begriffe, Benennungen und Fragestellungen (Wer bin ich? Bin ich eine Frau? Bin ich ein Junge?) wirklich das zum Ausdruck gebracht werden kann, was ist, bleibt zu hinterfragen. Basale Motivation queerorientierter Dekonstruktionen ist die Kritik an der vermeintlich notwendigen Bezugnahme auf ein vorbestimmtes und naturhaft angelegtes, monadisches Selbst im Sinne einer vorsozialen oder vorkulturellen Essenz. Geht Soziale Arbeit unreflektiert von dichotomen Geschlechter-Differenzsetzungen aus und werden solcherart Grenzen identitätsstiftend eingesetzt, so muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, die sozialtheoretisch mühsam präzisierte, kulturelle Codierung sozialer Handlungen als Hexis (Bourdieu) in Bezug auf Identitätsformierungen zu ignorieren und hierarchisierte Trennungen zwischen weiblicher und männlicher Identität/Sexualität zu reproduzieren.

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Differenzsensible Soziale Arbeit, die sich in reflexiver Auseinandersetzung mit ›Anerkennung von Gewicht‹ befindet, stört sich an etablierten und quasi-selbstverständlichen Kategorisierungen. Stattdessen können Fragen gestellt werden. »Wie kann ›im Namen‹ der Legitimierung einer sozial aufgezwungenen Differenz gesprochen werden, ohne die historisch spezifischen Mechanismen disziplinierender Differenzierung erneut zu stabilisieren? Was sind die politischen Einsätze, die bei dem Versuch auf dem Spiel stehen, eine Identitätskategorie – Instrument regulativer Regime der Normalisierung und zugleich persönlich, sozial und politisch (potentieller) Ort des Einspruchs gegen die vielfältigen Formen von Normalisierung – zu reartikulieren?« (Hark 1999: 18). Soziale Arbeit, dies hat die Rekonstruktion eines Teils der theoretischen Debatten um Anerkennung sowie die knappe Analyse des Coming out als Fall von ›vorenthaltener Anerkennung‹ gezeigt, ist mit der Aufgabe konfrontiert, Ermächtigungsarbeit für einen partizipativ strukturierten Zugang ihrer AdressatInnen zu infrastrukturell verbrieften Ressourcen zu leisten. Differenzsensibilität zeichnet sich nun dadurch aus, berechtigte Forderungen nach Anerkennung in ihrer Durchsetzung reflexiv vorzubereiten, also die von Hark gestellten Fragen in den Kontext symbolisch hervorgebrachter Gesellschaftsbilder (Repräsentationen) zu stellen. »Aus einer anerkennungstheoretischen Fundierung, die strukturelle Ungleichheitsverhältnisse ebenso ernst nimmt wie subjektive Befindlichkeiten, mag dann das erwachsen, was im Sinne reflexiver Professionalität eine skeptische Haltung gegenüber generalisierten Normen individueller und kollektiver Lebensführung stark macht.« (Heite 2010a) Queer-reflexiv informierte Selbstvergewisserungen Sozialer Arbeit, und diese Überlegung müsste empirisch in unterschiedlichen Berufsfeldern präzise fortgeführt werden, setzen sich mit Praktiken des Etikettierens auseinander, womit vor allem die Konstruktion von Adressaten_innen als Fall gemeint ist sowie Selbst-Zuschreibungen als affirmative Kategorisierungen, die scheinbar selbstverständlich ablaufen und somit politische Realitäten als gegebene Ordnungsregulative voraussetzen. Gesellschaftlich situierte Bekenntniszwänge zu einer vermeintlich spezifischen Identität, provozieren Diskurse und Forderungen nach (mehr) Anerkennung. In ihrer verqueeren und differenzsensiblen Lesart lässt sich hieran durchaus anschließen, so dass der Aspekt des Mitkonstruierens, der ebenso als Warnung vor ontologischen Festlegungen zu verstehen ist, auf

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reflexive Weise produktiv genutzt werden kann. Vielleicht ist es tatsächlich die Frage wer, wie und wo Anerkennung ihr Gewicht verleiht und dass in diesem Zuge Identitätspolitiken als problematische und nicht (mehr) selbstverständliche Phänomene der Lebensführung, als grundsätzlich erklärungsbedürftige Alltagssemantiken zu denken sind.

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Autorinnen und Autoren

Bernd Dollinger (Prof. Dr.) ist Hochschullehrer an der Universität Siegen, Fakultät II, Department Erziehungswissenschaft und Psychologie, Abteilung Sozialpädagogik. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Jugendkriminalität, Theoriegeschichte der Sozialpädagogik, Sozialpolitik. Bettina Hünersdorf (Prof. Dr.) ist Hochschullehrerin an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Theorien Sozialer Arbeit, Ethnographische Forschung in der Erziehungswissenschaft, Aneignung und Transformation städtischer Räume am Beispiel von Spielplatz und Graffiti. Fabian Kessl (Prof. Dr.) ist Hochschullehrer an der Universität DuisburgEssen, Fakultät für Bildungswissenschaften, Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Sozialpädagogische Transformationsforschung, Raum(re)produktionsprozesse, Machtanalytische und diskursanalytische Studien. Sascha Neumann (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Luxemburg, Forschungseinheit INSIDE (Integrative Research Unit: Social and Individual Development), Abteilung »Early Childhood: Education and Care«. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Sozialpädagogik, Theorie der Kindheit und Kindheitsforschung, Ethnographie der (Früh-)pädagogik. Philipp Sandermann (Prof. Dr.) ist Hochschullehrer an der Universität Trier, Fachbereich I, Fach Pädagogik, Abteilung Sozialpädagogik II. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: International vergleichende Sozialarbeitsfor-

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G ESELLSCHAFTSBILDER SOZIALER A RBEIT

schung, Wohlfahrtssystemforschung, Theorie sozialpädagogischer Theoriebildungsprozesse, Betroffenenvertretung in der Jugendhilfe. Christian Schütte-Bäumner (Dr. phil.) ist Fachbereichsleiter Soziale Arbeit/ Sozialwissenschaftliche Forschung der PalliativTeam gGmbH Frankfurt a.M.. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Transdisziplinäre Professionalität in der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, Psychosoziale Beratungsmethoden, Reflexion sozialer Selbsthilfekonzepte.

Sozialtheorie Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus August 2012, ca. 350 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1717-7

Wolfgang Bonss, Ludwig Nieder, Helga Pelizäus-Hoffmeister Handlungstheorie Eine Einführung Juli 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1708-5

Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat April 2012, 528 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2036-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Nadine Marquardt, Verena Schreiber (Hg.) Ortsregister Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart September 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1968-3

Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze September 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5

Stephan Moebius, Sophia Prinz (Hg.) Das Design der Gesellschaft Zur Kultursoziologie des Designs Februar 2012, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1483-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Sozialtheorie Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Dagmar Freist (Hg.) Selbst-Bildungen Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung August 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1992-8

Fritz Böhle, Sigrid Busch (Hg.) Management von Ungewissheit Neue Ansätze jenseits von Kontrolle und Ohnmacht April 2012, 388 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1723-8

Pradeep Chakkarath, Doris Weidemann (Hg.) Kulturpsychologische Gegenwartsdiagnosen Bestandsaufnahmen zu Wissenschaft und Gesellschaft Juni 2012, ca. 226 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1500-5

Iris Dzudzek, Caren Kunze, Joscha Wullweber (Hg.) Diskurs und Hegemonie Gesellschaftskritische Perspektiven Juli 2012, ca. 230 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1928-7

Martin Gloger Generation 1989? Zur Kritik einer populären Zeitdiagnose Juni 2012, ca. 318 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1961-4

Leon Hempel, Marie Bartels (Hg.) Aufbruch ins Unversicherbare Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart Juni 2012, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1772-6

Konstantin Ingenkamp Depression und Gesellschaft Zur Erfindung einer Volkskrankheit Februar 2012, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1930-0

Herbert Kalthoff, Uwe Vormbusch (Hg.) Soziologie der Finanzmärkte Juli 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1806-8

Susanne Lettow (Hg.) Bioökonomie Die Lebenswissenschaften und die Bewirtschaftung der Körper Juli 2012, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1640-8

Stephan Lorenz Tafeln im flexiblen Überfluss Ambivalenzen sozialen und ökologischen Engagements Januar 2012, 312 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2031-3

Christian Mersch Die Welt der Patente Soziologische Perspektiven auf eine zentrale Institution der globalen Wissensgesellschaft Juni 2012, ca. 460 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2056-6

Ulrich Willems, Detlef Pollack, Helene Basu, Thomas Gutmann, Ulrike Spohn (Hg.) Moderne und Religion Kontroversen um Modernität und Säkularisierung Juni 2012, ca. 500 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1966-9

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»Der Mittelweg 36 ist in der kritischen Gesellschaftswissenschaft mittlerweile zu einer Institution geworden.« Süddeutsche Zeitung

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