Gesellschaft und bildende Kunst: Eine Studie zur Wiederherstellung des Problems [Reprint 2019 ed.] 9783111645551, 9783111262505

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German Pages 78 [96] Year 1960

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Table of contents :
VORWORT
1. EINLEITUNG
2. GESCHICKLICHKEIT
3. BEWERTUNG DER GESCHICKLICHKEIT
4. ZWISCHENBEMERKUNG
5. AUFGABE, ÖFFENTLICHKEIT, SCHUTZ
6. ZEICHEN
7. NACHAHMUNG
8. LEHREN, RÜHMEN, BENENNEN
9. BEGEGNUNG
10. STIFTUNG
11. ZUSAMMENWIRKEN
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Gesellschaft und bildende Kunst: Eine Studie zur Wiederherstellung des Problems [Reprint 2019 ed.]
 9783111645551, 9783111262505

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GESELLSCHAFT U N D BILDENDE K U N S T

GESELLSCHAFT UND BILDENDE KUNST E I N E S T U D I E Z U R W I E D E R H E R S T E L L U N G DES P R O B L E M S VON

MOHAMMED

RASSEM

MIT 4 A B B I L D U N G E N

. . . dans cette science, le nouveau est simplement ce qui a été oublié. FRÉDÉRIC

WALTER VORMALS

DE

LE

GRUYTER

CO. /

G . J. G O S C H E N ' S C H E V E R L A G S H A N D L U N G

BUCHHANDLUNG



GEORG

REIMER

-

KARL

1960

PLAY

BERLIN

- J. G U T T E N T A G ,

J. T R Ü B N E R

-

VEIT

VERLAGS&

COMP.

Ardiiv-Nr. 35 1 3 60 / I Alle Redite, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Spradien, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nidit gestattet, dieses Buch, oder Teile daraus, auf photomechanischem Wege IPhotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. ©

i960 by Walter de Gruyter & Co., vormals G . J. Göschen'sche Verlagshandlung - J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung -

Georg Reimer - Karl J. Triibner • Veit &. Comp., Berlin W 30, Genthiner Straße 13 (Printed in Cermanyl

Im Andenken an GEORG J O A C H I M GEISSLER

Gefallen vor Keitsdi 1944

VORWORT Der Text wie die Anmerkungen dieses Abrisses sind aus Notizen zu Vorlesungen und Kolloquien entstanden, die 1956—59 an der Universität München abgehalten wurden. Bei der Redaktion für den Druck hatte der Verfasser Kompromisse zu schließen und sich mit manchen Unvollkommenheiten abzufinden. Er vertraut auf das Wohlwollen und die Mitarbeit des Lesers — mindestens desjenigen, der überhaupt die hier eingeschlagenen Wege gehen will. Denn wie man sich auch stelle, es ist unmöglich, ein derartiges Thema zu behandeln, ohne gewisse Voraussetzungen und Anspielungen zu machen. Nicht alle diese Voraussetzungen können, wie Descartes verlangt, »gemein und jedermann bekannt« sein. Der Autor hofft immerhin, nichts verwendet zu haben, was denen, die sich wissenschaftlich mit der Materie beschäftigen, nicht vertraut wäre — und wenig, was dem erst Eindringenden nicht unmittelbar begreiflich werden könnte. Da nicht eine Hypo-These zu beweisen war, sondern zusammenfassende Thesen und Formeln gegeben werden sollten, schien es richtig, sich kurz zu fassen. Aber es war schwierig, zwischen knappen schulmäßigen Informationen und anderseits Formulierungen, die den schon informierten Leser interessieren könnten, den rechten Ausgleich zu finden. Das gilt auch für die Anmerkungen: sie sollen Hinweise geben, nicht aber eine durchlaufende Rechtfertigung des Textes oder die Darlegung persönlicher Verpflichtungen. Nur eine persönliche Erinnerung nötige ich dem Leser zusammen mit diesem Buche auf. Es ist die an den Freund, dem es gewidmet ist, dem ich die erste Begegnung mit der Kunst verdanke — in glücklichen Knabentagen und bevor einer von uns beiden ein Museum gekannt hat.

i. E I N L E I T U N G I In wissenschaftlichen wie essayistischen Schriften und im Gespräch wird oft die Vermehrung »kunstsoziologischer« Untersuchungen gefordert. Es gibt auch Publikationen, die diesem Wunsche nachkommen und dabei Thesen von allgemeinerem Anspruch aufstellen. Bei diesen Bemühungen handelt es sich im Grunde um die Wiederherstellung und erneute Erörterung eines alten Problems. Es werden die Mittel der Sozial- und Kulturwissenschaften unseres Saeculums angewendet, aber die Fragestellung — in der die Antwort ja schon steckt — ist älter. Es ist eine Frage, die nicht immer aus »verwundertem Staunen« entspringt. Denn manchmal handelt es sich nur um eine interrogativ ausgedrückte Meinung—nämlich die, das Rätsel der Kunst sei dann rational erklärt, wenn es soziologisch erklärt sei. Das Thema »Kunst und Gesellschaft« ist nicht nur erstrangiges literarisches Thema und Politikum, das man im Stil einer Germaine de Stael abhandeln kann, sondern der Gegenstand eines Rousseau, Ruslcin oder Tolstoi — der echten wie der falschen Propheten unseres Äons. Es gab und gibt dazu eine wahre Unsumme von räsonnierenden oder direkt programmatischen Äußerungen. Heute wird das Wort Kunstsoziologie mit neuer Emphase gebraucht, es scheint etwas wie einen Imperativsatz zu implizieren, eine Forderung an die Wissenschaft. Wenn auch nicht sogleich klar wird, aus welchem Hintergrund diese Forderung kommt, so muß man doch versuchen, sie zu erfüllen. Denn letztlich müssen wir die Probleme behandeln oder auflösen, die uns »zugeworfen« werden — unbeantwortet sind sie eine Quelle der Beunruhigung. II Das Problem wird seit langer Zeit und auf sehr verschiedene Weise gestellt. Nicht nur die Meinungen über Kunst sind verschieden, auch das Wissen von Kunst ist auseinandergefallen, in zwei Hauptgruppen von DisziI Rassem

I

plinen, die ästhetisch-philosophische und die historische. Eine umfassende Kunstsoziologie, die ihnen beiden und überdies der Praxis gerecht würde, ist schwer zu konzipieren. Unwillkürlich richtet man den Blick auf die einheitlicheren Ansätze früherer Epochen — wenn auch die Wiederherstellung der Einheit des Problems gewiß nicht durch eine bloße Restaurierung der alten Synthesen gelingen kann. Die großen Autoren des 19. Jahrhunderts auf diesem Felde haben weniger an Bedeutung eingebüßt, als man zunächst annehmen sollte. Ihr Ruhm ist eigentlich nie abgerissen und schon 1926 erschien eine vorzügliche Darstellung der »soziologischen Ästhetik« des 19. Jahrhunderts: Man erblickt eine riesige Kunstliteratur, von der Ruskin oder Taine nur die Gipfel sind1. Die bedeutendsten Lücken dieser grundlegenden Bibliographie, die auch durch die neueren Ubersichten2 nicht geschlossen werden, liegen nun gerade im Bereich der bildenden Kunst und der Kunstgeschichte. Seit ihrem Begründer Winckelmann, der unter dem Einfluß Montesquieus und Voltaires stand, und mit Hauptautoren wie Burckhardt hat die Kunstgeschichte immer auch die soziale Dimension der bildenden Künste zu begreifen versucht. Aber niemand hat eine große Summe der verstreuten Ansätze und Bemerkungen, der festen Ergebnisse gezogen. Differenziertere historische Methoden für eine Soziologie der Kunst zu mobilisieren ist offenbar schwierig — und gewiß nicht nur aus Mangel an Kompendien. Der vielfach beschrittene Ausweg, die historische Dimension außer Betracht zu lassen, erschwert das Vorankommen mehr als er es erleichtert. Die Kunst, als ein an sich archaisches Phänomen, ist im Gegensatz zu anderen kulturellen Erscheinungen kaum allein an Hand moderner Zeugnisse zu begreifen, wie eine sozialwissenschaftliche Gegenwartsuntersuchung sie beibringen kann. Und dasjenige Kunstverständnis, das man heute als wissenschaftliche Empirie ansehen kann, ist zum guten Teil innerhalb der kunsthistorischen Disziplinen zu Hause; es kann schwerlich ohne deren Hilfe erworben werden. Schon Hegel hat gesehen, daß für uns die gelehrte 1 H. A. Needham, Le Développement de l'Esthétique sociologique en France et en Angleterre au XIX e siècle, 1926. 2 Als Ergänzung zu Needham wird man benützen H. Sauermann, Soziologie der Kunst, in K. Dunkmann, Lehrbuch der Soziologie, 1931, sowie die Literaturlisten bei H. D. Duncan, Language and Society, 1953 und M. Mierendorf-H. Tost, Einführung in die Kunstsoziologie, 1957-

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Kunstkennerschaft zur einzig wissenschaftlichen Kunsterfahrung wird3, und diese Ansicht ist heute um so richtiger, als inzwischen die Kunsthistoriker auch eine strenge Interpretation des einzelnen Kunstwerks entwickelt haben, in der das Kunstwerk erfaßt wird4. Bad philology should never be excused on the grounds that it may be good sociology, sagt ein amerikanischer Forscher5. Anderseits wünscht wohl niemand eine Kunstsoziologie zu entwickeln, die gegen Einsichten verstieße und Fähigkeiten ignorierte, welche die Kunsthistorie gewonnen hat. III Fassen wir einige der Aspekte, unter denen das Thema »Gesellschaft und bildende Kunst« behandelt werden kann, etwas näher ins Auge. Es wird sich sofort zeigen, daß zum Philosophen der Kunst und zum Historiker als dritter der Praktiker tritt, der pädagogisch und politisch wirken will. Das Auseinanderstreben dieser Drei hat den modernen Ansatz und die Aktualität unseres Themas bestimmt. Es erscheint unter den Spannungen von Idee und Faktum, Theorie und Praxis, Historie und Fortschritt, Kultur und Industrie. i. Die Kunst wird zu einem nicht nur sozialen, sondern ethischen Problem gerade dann, wenn man sie als eine relativ selbständige, unabhängige Sphäre erkannt hat. Sie muß dann moralisch und politisch gerechtfertigt werden, ihr Wert oder Unwert für das Gemeinwesen wird erörtert. Die Antike und die Renaissance überliefern uns solche Diskussionen zur Bedeutung der Kunst für die Tugenden und die Gefühle — besonders die sozialen Gefühle. Und offenbar hat dieses Gespräch auch die moderne »soziologische Ästhetik« mit in Gang gebracht, die keineswegs eine esoterische Wissenschaft war oder ist. Rousseaus Thesen waren in aller Munde, etwa die aus seinem Brief an Voltaire 1755 : »Iß goût des lettres et des arts naît chez un peuple d'un vice intérieur qu'il augmente.« Einflußreicher war letztlich das entgegengesetzte Bekenntnis, das Shaftesbury ausspricht, wenn er sagt6: »Arts and virtues are mutually fiiends; thus the science of virtuosi and that of virtue 3 G . W . F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, 3. A. 1953 (Sämtliche Werke hg. v. Glockner Bd 1 2 - 1 4 ) I 36 f, 44 f. 4 Dazu und zum folgenden H. Sedlmayr, Kunst und Wahrheit — Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichte, 1958. 5 Duncan 144. 6 Zitiert von S. Kliger, Whig Aesthetics, in Journal of English Literary History, 16. 6. 1949, 144.

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itself become, in a mannei, one and the same.« Und in der Tat ist der im 19. Jahrhundert unternommene Versuch, eine Erneuerung der Malerei und einen neuen Zusammenhang zwischen Sozialpolitik und Kunstgewerbe zu schaffen, aus einer moralischen Bewegung entstanden. Deren mächtigste Stimme war John Ruskin, der zugleich der bedeutendste Autor der soziologischen Richtung der Ästhetik ist. Daneben erhielten sich andere, bei fehlendem schöpferischem Verhältnis zur Kunst freilich etwas konventionell wirkende Erörterungen der Frage »Ethik und Kunst«, etwa im Rahmen der Theologie oder der politischen Philosophie, auch der Sexualpathologie — überall dort, wo die Geltung ethischer Normen zu erfassen und abzugrenzen ist. In der griechischen Lehre geht es nicht nur um das Moralische in der Kunst und durch sie, sondern um einen harmonischen Ausgleich, eine Reinigung, Heilung, Integration oder Vollendung der Persönlichkeit. Dieses Ideal, mit seinen medizinisch-hygienischen und seinen ontologisch-philosophischen Aspekten, ist ein aristokratisches. Es wird deshalb zum Gegenstand politischer und auch ideologischer Erörterung.7 2. Enzyklopädien der Staatswissenschaft enthalten bisweilen Informationen oder theoretische Aufstellungen, welche die Grundlage der staatlichen Kunstpolitik sein sollen, worunter jede wie immer geartete Beeinflussung künstlerischer und kunstgewerblicher Tätigkeit durch eine Regierung oder durch andere öffentliche Organisationen zu verstehen ist, unter Umständen die künstlerische Tätigkeit dieser Regierung selbst. Ein alter und oft staatspolitisch wichtiger Zusammenhang ist der der Kunst mit »Luxus«-Wirtschaft und -Handel, also mit fiskalisch bedeutsamen Unternehmungen. An den fürstlichen Manufakturen der merkantilistischen Epoche und wieder in der Förderang von »Kunst und Industrie« im 19. Jahrhundert8 wird die große Bedeutung dieses Konnexes deutlich. Im ersten Fall ist, grob gesagt, die Kunstlehre der Renaissance (in französischer Umfärbung) das theoretische Fundament der staatlichen Kunstpolitik, im anderen Fall ist es eine idealistische Kunstgeschichtslehre mit praktischen Zielsetzungen und mit der These, daß das Gewerbe wieder mit der Hochkunst verbündet werden müsse. Noch die heutige Verwaltungspraxis greift, ohne tiefere kunstpolitische Kon7

Neuerdings E. Utitz, Bemerkungen zur altgriechischen Kunsttheorie, 1959 (Deutsche Akademie Berlin), § 4: »Harmonie, Kalokagathie und Teleiosis«. 8 Ausgezeichnete Zusammenfassung im Buch des späteren preußischen Innenministers H. Waentig, Wirtschaft und Kunst, 1909. Vgl auch Waentigs Artikel Kunstgewerbe im Handwb. der Staatswissenschaften VI, 4. A. 1925.

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zeption, in großem Ausmaß in alle Künste ein: Pflege- und Musealwesen sowohl als die Aufsicht über die Erziehung des Künstlers sind fast ganz in staatlicher Hand, von den öffentlichen Bauaufträgen zu schweigen, deren Bedeutung für das Niveau und die Richtung der Architektur nicht viel geringer ist als in vergangenen Jahrhunderten. Es leuchtet ein, daß ein solches Ausmaß an politisch-administrativer Aktivität nicht ohne theoretisches, wissenschaftliches Fundament sein sollte. 3. Ästhetische und künstlerische Probleme können eine auch im engeren Sinn des Wortes »politische« Bedeutung annehmen und Gegenstand einer Ideologie werden. Das zeigt — um einige Beispiele zu nennen9 — die Rolle der »ästhetischen Erziehung« für die Ausbildung eines freien Verhältnisses zum Staat um 1800 — oder schon die zeitgenössische Klassifizierung des Landschaftsgartens und der Neugotik als »Whig«, des Klassizismus als »Tory«10 — später die Einbeziehung der naturalistischen Malerei in die Auseinandersetzung zwischen Bonapartismus und Demokratie — schließlich die politische Deutung der Kunst in der antiliberalen Gegenbewegung, etwa im Gefolge Wagners, mit Ubergängen zum Faschismus11. In der Gegenwart ist die zeitgenössische Kunst wiederum Gegenstand der demokratischen und auch der international organisierten Kulturpolitik geworden. Dabei spielen gewisse popularisierte Gedanken der pragmatischen amerikanischen Philosophie eine Rolle; das Verhältnis des Publikums zum Künstler, dessen Werk als schöpferisches Faktum hingenommen wird, soll mittels der Lehre von der Kommunikation »entstört« werden. Im Marxismus, der die Forderung nach der Einheit von Theorie und Praxis schon von Feuerbach übernommen hat, scheint sich die ideologische Aktivität hingegen mehr auf den Künstler zu richten. — Die Politisierung, Administrierang oder Soziologisierung der Kunst kann in den Epochen ganz verschiedene Grade und Formen, vor allem auch Fehlformen annehmen. Kunstpolitische Theorien und Ideologien werden dabei immer entscheidende Bedeutung haben. Deshalb ist vieles, was als Kunstsoziologie auftritt, nicht selbst eine Wissenschaft, aber Gegenstand einer solchen, der von den Ideologien. 4. Was nun die reine, ganz unpragmatische

Gesellschaftswissenschaft

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Viele andere findet man an Hand der polemisch pointierten Ideengeschichte von H. M. Kallen, Art and Freedom, 2. A. 1943. 10 " T h e English Taste in Gardening is thus the growth oft the English Constitution, and must perish with it" (Walpole). Siehe Kliger, a. a. O. und in Modern Philology 4 3 , 1 9 4 s . 11 Interessant G. Steinbömer, Politische Kulturlehre, 1933.

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angeht, so gehört die Kunst auch zu ihren Objekten. Da »Gesellschaft« nicht als materielles Konkretum oder gar als Naturgegenstand gegeben ist, benötigt man repräsentative Gegenstände, welche die Daten und Quellen der Untersuchung abgeben. Unter gewissen Umständen werden Kunstwerke als geeigneter Aufschluß zum Verständnis einer Gesellschaft, ja sogar einer Gruppe angesehen werden können. Kunstgeschichte ist dann Hilfswissenschaft der Soziologie oder verwandter Disziplinen, etwa der Rechtsgeschichte und der Rechtsarchäologie12 und vieler anderer. Uber diese Repräsentation oder Spiegelung hinaus wird man annehmen können, daß Kunstübung und Kunstwerk die Gemeinschaft zu gestalten vermögen, daß sie also selbst bewegende Kraft sind — freilich auch die Ursache von Fehlgestaltungen13. Damit wird Kunst aus einem fakultativen zu einem notwendigen Betrachtungsgegenstand der Gesellschaftswissenschaft. Eine derartige Soziologie auf Grund von Kunstwerken ist nicht der Versuch, die Werke aus der Gesellschaft abzuleiten und zu erklären. Es geht dabei nicht um die sozialen Vorbedingungen, sondern um die soziale Leistung der Kunst. Die griechischen Denker haben diese soziale Bedeutung der Kunst (des Handwerks) ins Gleichnishafte gewendet und die Kunstübung als ein Modell menschlichen Tuns benützt. In der Sozialwissenschaft unseres Jahrhunderts ist die Kunst von einer ganz anderen Seite her wiederum ins Zentrum gerückt, so daß die Kunstsoziologie mehr geworden ist als nur eine »Spezialsoziologie«. Die subtilere kategorielle Analyse in der Art eines Simmel, der Einfluß der Psychoanalyse und schon der klassischen Sozialpsychologen (wie Tarde oder Ross), die Lehre von der Bedeutung der Symbole und der Kommunikation, schließlich das überwältigend gewordene Problem der produzierenden Arbeit — das alles mußte in diese Richtung führen. Im ersten Drittel des Jahrhunderts vollzieht sich eine Umwandlung des Comteschen Positivismus, des Darwinschen Biologismus, des LePlayschen Regionalismus durch die Wiederberührung mit jener echt englischen, vitalen Kunstreligion, die über Ruskin ins 18. Jahrhundert zurückreicht: Im Kreise um Patrick Geddes steht die Kunst wieder in der Hauptlinie des soziologischen Systems132. 5. Die Theorie der Künstler selbst, also die für die Praxis (und aus ihr) 12

Die Publikationen von H. Fehr, K. Frölich, P. E. Schramm, Cl. v. Schwerin und anderen. Vgl W. von den Steinen, Der Kitsch in der Geschichte, 1952 (Geschichte und Politik hg. v. Dahms Nr. 7). 13a Diese Bewegung ist zu verfolgen im Spiegel der Sociological Review,- siehe etwa Bd 20, 1928, 105 ff. 13

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geschaffene Kunstlehre impliziert an sich sozialtheoretische Aspekte. Diese sind hier und da, besonders in der Baulehre, dominierend geworden. Die utopistischen Entwürfe und Lehren des Nicolas Ledoux tragen den Titel: L'architecture considérée sous le rapport de l'art, des moeurs et de la législation (1804). In gewissen modernen Vorstellungen und Praktiken wird der Architekt zum Sozialingenieur und zu seiner theoretischen Unterrichtung gehört somit Soziologisches, worunter Kenntnis der Voraussetzungen und Wirkungen des Bauens, seines sozialen »Funktionierens« also, verstanden wird. Eine Frage für sich ist es dann, auf welche Weise — wie tief oder seicht — die Bedürfnisse formuliert werden, zu deren Befriedigung das Bauwerk fungieren soll. — Wie man an Ledoux ablesen kann, wurzelt diese »soziale« Variante der Architektentheorie historisch im Zentralismus und Akademismus des fürstlichen Bauens, dessen Vorläufer die Städteplaner der Renaissance, wie Filarete oder Leonardo, sind. Insbesondere gehört die »Industriesiedlung«, die einen Ledoux beschäftigt, zu den eigentlich barocken Projekten — wir werden also auch von dieser Seite her auf die Sphäre der »Manufakturen« geführt. Sobald es tatsächlich Werkstättenlandschaften und Riesenstädte gibt, tritt in der Theorie eine Gegenbewegung ein (Dezentralisierung, Gartenstädte usw.), die auch sozialpolitisch untermauert wird.14 6. Nachdem man zu Ende des vorigen Jahrhunderts erkennen mußte, daß die Wiederbelebung der historischen Stile ein Fehlschlag war, wurde die Kunstgeschichte zu einer rein betrachtenden Disziplin, die auf die künstlerische Praxis nicht einwirken will und daher auch soziologisch passiv ist. Alois Riegl, der selbst noch Kustos eines der aus kunstpolitischen Absichten begründeten Kunstgewerbemuseen war, hat diese Konsequenz gezogen und die neue, bis heute gültige Einstellung kompromißlos und eindrucksvoll formuliert142; er sieht im Museum den Bewahrungsort der Kunst als eines Vergangenen, ganz im Sinne von Hegels berühmtem Wort. Hegel geht ja in der Einleitung seiner Ästhetik davon aus, daß die Kunstwissenschaft als rezepthafte Lehre für die Praxis ebenso zusammengebrochen sei wie das ungelehrte Kunstkennertum. Die neue Ästhetik mußte also geschichtsforschend und geschichtsphilosophisch sein. Diese Konzeption belebte allerdings das sozial14 Eine Zusammenfassung mit Bibliographie raisonnee gab L. Mumford, The Culture of Cities, 1938. 14a

Volkskunst, Hausfleiß und Hausindustrie, 1894 und Der moderne Denkmalskultus (Einleitung zum Denkmalschutzgesetz 1903), in Ges. Aufsätze, 1929.

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geschichtliche Interesse in der Kunstwissenschaft — um so mehr als die Geschichtsphilosophie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in eine »Soziologie« verwandelte. Die Kunstgeschichte wirkte dann ihrerseits ein auf eine Reihe von »ästhetischen Geschichtsdeutungen« und Periodisierungsversuchen15. Heute denkt man wiederum daran, die gesamte Geschichte der Kunst unter sozialgeschichtlichen Aspekten neu zu schreiben, nicht selten indem man sich zu einem »gemäßigten« historischen Materialismus hinwendet 16 . 7. Kunstgeschichte als Form- und Stilgeschichte impliziert ähnliche Tendenzen, da sie im Grunde eine Reduktion des universal-historischen Konzepts ist. Ebenso wie die ältere universalgeschichtliche Betrachtungsweise ist die formgeschichtliche von der eigentlichen Interpretation des Kunstwerkes relativ unabhängig und sie richtet ihr Augenmerk weniger auf die Form und den Stil, als auf deren Veränderung. Sie studiert den Ablauf von Stilen und vergleicht ihn mit anderen Abläufen, zum Beispiel mit »Sozialstilen« (oder Völkerstilen) und versucht zu synchronisieren, abzuleiten usw. Dies ist eigentlich der einzige Weg, auf dem sie zu einer Einordnung und vielleicht sogar Erklärung ihrer Ergebnisse kommen kann, wenn sie nicht vorzieht, die Form und deren Stil als eine letzte, sich immer ändernde, aber nicht weiter ableitbare Wirklichkeit anzusehen. Konfrontation stilgeschichtlicher Ergebnisse mit sozialhistorischen und völkerpsychologischen Konstanten ist daher ein häufig geübtes Verfahren und ist der Ausgangspunkt vieler kunstsoziologischer Studien. Die Tendenz dazu ist bereits bei Wölfflin deutlich183, in gewisser Hinsicht schon bei Winckelmann, der aber die Frage so stellt: Welche historischen und menschlichen Voraussetzungen haben das Auftreten eines hohen Stils bewirkt? — Mit dem so erfolgreichen Stilbegriff hat die Kunstgeschichte dann sogar eine leitende Kategorie für gewisse sozialwissenschaftliche Synthesen geliefert: man spricht, wieder, von Kultur Stilen, Wirtschaftsund Religionsstilen17. — Ein wesentliches Erfordernis bleibt es immer, konkret zu bestimmen, in welchem sozialen Medium sich die »Geschichte« von Uber Paul Ligeti und andere: P. A. Sorokin, Kulturkrise und Gesellschaftsphilosophie, 1953, Kap. II. 15

1 6 F. Antal, Florentine Painting and its social Background, 1948 (deutsch 1958) oder A. Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, 1953. Vgl Hauser, Philosophie der Kunstgeschichte, 1958, VIII, 17, 19 ff, 298, 305. 16a

Diese Linie verfolgt G. Paulsson, Die soziale Dimension der Kunst, 1955.

A. Müller-Armack, Religion und Wirtschaft, 1959, IX ff, 47 ff, 513 ff, der auch einige Autoren des 18. Jahrhunderts (z. B. Moser) nennt. 17

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Stilen abspielt, damit nicht abstrakte »Entwicklungen« konstruiert werden18. 8. Kunstgeschichte als die Interpretation von Kunstwerken hat ein anderes Verhältnis zur Sozialgeschichte. Sie benötigt diese als Hilfswissenschaft, um den Gegenstand der Interpretation (das ist ein einzelnes Werk, nicht ein Zeitstil) richtig einzuordnen und abzuheben, also eigentlich um Fehlinterpretationen zu vermeiden. Sozialgeschichte ist dabei eine Art »Einleitungswissenschaft«, wie etwa die Bibelexegese sie kennt, das heißt ein Entgegenarbeiten mit anderen Methoden, ohne daß der eigentliche Gegenstand berührt wird. In der Tat sind viele kunstsoziologische Betrachtungen eine unverbundene Einleitung, ein selbständiger Hintergrund zu konventionellen kunsthistorischen Untersuchungen. — Extreme Richtungen der Sozialwissenschaft vertreten allerdings andere Prinzipien der Interpretation von Kunst; für sie ist die Soziologie hier nicht Hilfs- sondern Grundwissenschaft, da es sich in der Kunst wesentlich um eine Beziehung, nämlich um die zwischen Künstler und Publikum handle — was in einer rein kunstgeschichtlichen Analyse nicht berücksichtigt wird. Praktisch verstehen manche unter »Kunstsoziologie« nichts anderes als eine an sozialen Gegenwartsdiagnosen orientierte Therapeutik in der Krise der modernen Kunst — und damit wird bewußt das Interpretationsprivileg des Kunsthistorikers und des Kritikers alten Schlages angegriffen. Was immer der Angegriffene mit Recht gegen kunstfremden »Soziologismus« und Pragmatismus sagen wird, er muß doch seine eigene Schwäche erkennen: Sie liegt in der Reduktion der Kategorien auf eine — das Werk. Das Werk und sein Künstler, nicht Künstler und Publikum oder Publikum und Werk, waren der eigentliche Gegenstand der strengen Kunstgeschichte. 9. Eine volle Theorie der Kunst (und ihrer Geschichte) umfaßt nicht nur das Kunstwerk (Objekt), sondern auch das kunstschaffende Subjekt, überhaupt die Kunsttätigkeit als solche, und das »Publikum«, also die Wirkung des Werkes. Das ist in der Prinzipienlehre der empirischen Kunstwissenschaften, z. B. in der klassischen und christlichen Archäologie19, bisweilen erfaßt worden. Der Aspekt der Wirkung mußte aber vor allem der Philosophie naheliegen, die zunächst die Bedeutung des Kunstschönen für den Men1 8 K. Mannheim, Essays on the Sociology of Culture, 1956, 33 meint sogar: " O n l y society as a structured variable has a history and only in this social continuum can art be properly understood as a historical entity". 1 9 Schon K. B. Stark in Philologus 14, 1857, 645 ff; F. Piper, Einleitung in die monumentale Theologie, 1867, 54 ff.

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sehen im Auge hatte. Neuerdings unterscheidet man schärfer zwischen der ursprünglichen und der sekundären, geschichtlichen Wirkung des Kunstwerks20 — also zwischen Soziologie des »Festes« und der »Bildung«. Wir brechen diese Aufzählung ab, bevor sie beendet ist. Offenbar zerlegt sich der aktuelle »Trend« zu kunstsoziologischen Versuchen bei näherem Zusehen in eine Vielheit von recht verschiedenen Konzeptionen, die je ihren geistesgeschichtlichen oder wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund haben. Und gewiß liegt es im Wesen unserer Epoche, solche Vielheiten noch progressiv zu vermehren, immer neue Forschungsaufgaben zu entwerfen, die sich umbilden wie die Gestalten des Proteus. Alleinherrschaft, Monismus einer Konzeption oder einer Methode wird in dieser Lage von selbst unmöglich. Das heißt nicht, daß keine höhere Einheit der Aspekte erreicht werden könnte und sollte. Die Geschichte der wissenschaftlichen Betrachtung der Kunst zeigt, wie schwer der Ausfall oder aber das Wiedergewinnen einer Dimension wiegt — der philosophisch-ontologischen, der praktischen, der historischen, der sozialen oder einer anderen. IV Wir haben unseren Vorlesungsabriß im Titel als Wiederherstellung des Problems bezeichnet und meinen damit etwas, was jedermann für sich tun muß, der zu irgendeinem Zeitpunkt in den Strom einer Forschung eintritt. Es gibt in der Kunstgeschichte und Sozialgeschichte eine ungeheure Zahl von Fakten, die — bereits eruiert und an den verschiedensten Orten erwähnt — für eine Kunstsoziologie verwendet werden können. Bevor man aber eine konkrete Synthese des unter den Aspekten der wissenschaftlichen »Monismen« angehäuften Wissens versuchen oder gar neue Spezialuntersuchungen anstellen kann, ist es nötig, das Wesen des Themas und des Gegenstandes zu klären. Also an Hand von wenigen, repräsentativen Fakten zu erwägen, was Kunst im Hinblick auf Gesellschaft und Gesellschaft im Hinblick auf Kunst im Grunde sein könne. Keine Forschung kann höher bauen, als die Grundbegriffe es zulassen, deren sie sich bedient. Franz von Baader sagt einmal: »Ehe ein Problem in Wissenschaft, Kunst usw. gelöst werden kann, muß es selbst vorerst bestimmt, erkannt und gleichsam erfunden werden.« Die Wiederherstellung eines Problems muß aber die ideale Einheit aller Aspekte und Methoden, die man vorfindet, zum Ziel haben — obwohl man 20

IO

Jetzt H. Kuhn, Wesen und Wirkung des Kunstwerks, i960.

sich diesem Ziel natürlich nur auf recht unvollkommene Weise nähern kann. Die im folgenden verwendeten Begriffe — wie »Geschicklichkeit«, »Nachahmung«, »Stiftung« — sind alte Begriffe,- es soll nur versucht werden, sie neu sprechend zu machen. Ohne immerwährende, wiederherstellende Diskussion ist auch das, was dem Buchstaben nach bekannt ist, so gut wie vergessen. Unser Vorgehen und die Abteilung der Kapitel richtet sich im Grande nach einigen konventionellen Kategorien, wie sie in der Sozialwissenschaft allgemein benützt werden: Bestimmte soziale Voraussetzungen und Implikationen ergeben sich bereits, wenn man die Kunst nur als »Können« und das Kunstwerk nur als etwas »zu machendes« ansieht, also unter dem Aspekt der Arbeit und der allgemeinen Produktivität, der Kultur im engeren Sinn des Wortes. (§ 2) Wer bringt Kunst hervor? Welche Stellung hat der Künstler — und der Nicht-Künstler — in der Gesellschaft? (§3) Wie »kooperieren« Künstler und Künstler, Künstler und Nicht-Künstler? (§ 11) Welche Funktion, besser gesagt welche Aufgabe hat das Kunstwerk und wie kann dieser Sinn formal und institutionell gefaßt werden? (§ 5) Kunst ist sodann als eine Sprache zu betrachten, also unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation von Symbolen. (§ 6) Das Prinzip der »Nachahmung« ist hier nicht unter ästhetischen, sondern mehr unter sozialpsychologischen Aspekten zu behandeln. (§ 7) Kunst ist auch Lehre, ist feierliche Vermittlung von Leitbildern. (§ 8) Sie ist die sinnliche Gestaltung des Lebensraumes, in dem sich die Aktionen und Zeremonien der Gesellschaft abspielen. (§9) Endlich suchen wir die Institutionen, in denen Kunst und Religion zusammentreffen, als Stiftungen zu umschreiben. (§10)

2. G E S C H I C K L I C H K E I T »Bildende Kirnst soll Gegenstand der Soziologie sein.« Um überhaupt in die Erörterung dieser Forderung eintreten zu können, ersetze ich ein Glied des Satzes durch einen anderen Ausdruck: Bildende Kunst sei eine Heivoibringung von Gegenständen durch manuelle Geschicklichkeit. 11

Wie jede Definition muß man diese Formel »diskutieren«, das heißt die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit einsehen, aber das sei verschoben. Zunächst halten wir uns an diese Minimaldefinition (die entscheidende, höhere Wesenszüge der Kunst noch nicht einschließt) und versuchen einfachste soziologische Aussagen über »Hervorbringungen manuellen Geschicks« zu machen. Wer ist geschickt und bringt etwas hervor, wie steht die Gesellschaft zu ihm und seinem Vermögen? Geschicklichkeit (oder ais, respektive aites, ein Wort das oft in diesem Sinn gebraucht wird) bezeichnet ein Können, das nicht ohne weiteres und nicht von jedem nachgeahmt werden kann. Denn es ruht einerseits auf der Natur, anderseits dient es dem Zweck, auf den der Mensch die Natur hinordnet. Kant sagt in der Kritik der Urteilskraft (§ 83): »Die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit) ist die Kultur.« Und: »Die Geschicklichkeit kann in der Menschengattung nicht wohl entwickelt werden, als vermittelst der Ungleichheit unter Menschen.« Wer eine solche Fertigkeit besitzt, ist in einer Ausnahmestellung. Er genießt einen Vorzug oder ist — so widersinnig das zunächst scheint — verachtet. Geschicklichkeit hat gewisse soziale Differenzen zur Voraussetzung und bringt — im einen oder anderen Sinn — gesellschaftliche Wirkungen mit sich. Worauf beruht das Geschick, etwas herzustellen? Auf einer vorhandenen Fähigkeit und einem erlernten Verfahren, im allgemeinen auf beidem gleichmäßig. Es ist eine Erfahrung, und überdies ein alter Topos der Künstlerviten1, daß manuelles künstlerisches Geschick sich oft in einem noch unbeeinflußten Kinde ankündet, daß es also aus angeborener Veranlagung stammen kann. Manuelle Fähigkeit oder Eigenart ist ja etwas psycho-physisches und kann nicht unabhängig von der körperlichen Natur des Menschen sein. Diese Naturveranlagung, die unberechenbar einzeln, aber auch in Verwandtschaftsgruppen auftreten kann, ist ein soziales »Datum«, das eine Chance und oft ein Monopol begründet. Obwohl sie vielfach in einer Sippe oder in einem ganzen Stamm vererbt wird, ist sie doch auch an die Lebensbedingungen und die Lebensweise eines Landstrichs gebunden. Sie ist der leibseelischen 1

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E. Kris u. O. Kurz, Die Legende vom Künstler, Wien 1934, bes. Kap. II.

Eigenart eines Kollektivgebildes und einer Region verhaftet. Dieses Substrat ist meist zu komplex, als daß wir es analysieren oder erklären könnten, aber nichtsdestoweniger vermögen wir seine Wirkung zu unterscheiden. Händler oder Kenner können dem Erzeugnis des Handwerks oder der Kunst das Dorf, ja die Familie, in denen es gemacht worden, ansehen2. Wenn es gelingt, die Geschicklichkeit auf andere Menschen zu übertragen — und daß mißlingt sehr oft —, so verwandelt sie sich und ihre Produkte nehmen einen neuen Charakter an. Insoweit Geschicklichkeit eine Verfahrensweise ist, wird sie durch Übung und durch etwas wie eine Einweihung erworben. Ohne das, etwa durch Studium nur ihrer Produkte, kann sie kaum erlernt werden, im Gegensatz zu nicht-körperlichen Disziplinen (reine, nur geschriebene Dichtung), die leichter autodidaktisch zu meistern sind3. Die Arbeitsweise und virtuos gesteigerte Sicherheit von Goldschmieden, Kunsttischlern oder Stukkateuren, von Maurern, die etwa ohne Schalung Decken und Bögen ausführen, kann eigentlich nur durch unmittelbare Gemeinschaft mit diesen Menschen erworben werden. Die Geschicklichkeit, welche in dieser Gemeinschaft auf den Lernenden übertragen wird, ist ein bestimmtes, konstant bleibendes Verhalten. Es gibt hundert Weisen, ein Haus zu bauen; von einem Meister erlernt man nur eine oder einige — nicht etwa die Vergleichung aller Möglichkeiten. Alle Aussagen über Schul- und Stilzusammenhänge — die sich in der Geschichtsforschung so oft verifizieren ließen — wären bodenlos, wenn sich etwas anderes als ein Entschiedenes lehren ließe. Techniken, die eine entwickelte, »feine« Kunst zu tragen vermögen, sind mit der ganzen Existenz einer menschlichen Gruppe tief und organisch verknüpft, durch alle Schichten der Person hindurch, die »natürlichen« und die »kulturellen«. Deshalb können sie nicht beliebig geändert werden. Nehmen technische Einflüsse und Moden überhand und wandeln sich zu flüchtig, so wird oder bleibt die Kunst unecht und unsicher. Vom einzelnen Menschen gilt noch viel mehr, daß er immer auf ein und dieselbe Art geschickt ist. Einmal über die Jugend hinaus, vermag er diese seine Art nur schwer noch mit einer andern zu tauschen. Der Grund liegt 2 Treffend J. Moser, Schreiben über die Kultur der Industrie, in Sämtliche Werke Ausg. Abcken, II 127 ff. 3

Etwa W. H. Riehl, Die deutsche Arbeit, 3. A. 1883, 41 (Kap. II 4). 13

eben darin, daß manuelles Geschick auf Naturanlagen beruht, durch lange Übung und Gewöhnung erworben und von einer Gemeinschaft empfangen ist, die kein Mitglied unverändert entläßt. Geschicklichkeit ist die Beherrschung eines traditionellen Kanons von Materialien und Mitteln zur Befriedigung von bekannten Zwecken (Aufgaben, deren Auftreten man erwartet) und die Gebundenheit an diesen Kanon. Man wird das relative (jeweilige) Gewicht der Glieder dieser Formel bestimmen müssen, aber keines von ihnen darf übersehen werden. In der Tat ist es sinnlos, in irgendeinem Sinne von Technik zu sprechen — von künstlerischer oder anderer Technik — ohne darunter einen wirkenden Akt zu verstehen, der den Charakter einer Wiederholung hat.4 Die Beschränkung auf bestimmte Mittel und Materialien ist das, was die alte Baukunst von der neuesten unterscheidet und allgemein die uns geschichtlich bekannte Kunst von dem unterscheidet, was wir moderne Technik nennen. Die industrielle Technik ist ja teilweise aus dem Kunstgewerbe hervorgegangen, das sie zerstört und in »entfremdende« Arbeit verwandelt hat. Durch diesen Verzicht auf des Handwerkers Geschick (das heißt aber auf seine Bindung an den Kanon der Mittel und Zwecke) haben Industrie und Revolution »die Masse der Arbeiter aus dem Reiche der Kunst vertrieben«5. Fluktuieren und Unbegrenztheit der Mittel, der Materialien und der Zwecke, ist heute nicht nur ein Kennzeichen der maschinellen Produktion, sondern weithin auch der bildenden Kunst. Darin liegt eine der wichtigsten Ursachen der Störung der Relation Technik—Kunst seit etwa 150 Jahren. Vor der Moderne ist Kunst — und nicht nur »klassische« — weit mehr an kanonische Geschicklichkeit gebunden und ihre Leistungen sind trotz oder aber wegen dieser Bindung entstanden. Gesetzt den Fall, eine Absicht sei mit verschiedenen Mitteln zu erreichen, so ist — das gehört wohl zu den allgemeinsten Grundsätzen und Kennzeichen einer Kultur — nicht jedes mögliche Mittel recht. Die Frage ist vielmehr, auf welche Mittel ist man festgelegt? Warum sollte ein Palast aus Holz »an sich« im Barock nicht möglich sein, nicht schön und nicht zweckvoll im 4

Marcel Mauss, Sociologie et Anthropologie, 1950, 371 f: »J'appelle technique un acte traditionel efficace. . en ceci il n'est pas différent de l'acte magique, religieux, symbolique . . Il n'a pas de technique et pas de transmission, s'il n'y a pas de tradition.« 5 Courajod nach H. Waentig, Wirtschaft und Kunst, 1909, 141 f. Vgl Chr. Ferber, Arbeitsfreude, 1959, bes. 58 ff, 40 ff.

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höchsten Verstände des Wortes sein können? Der Wettstreit um den schönsten Palast wird aber nur innerhalb einer bestimmten Steinbauweise, innerhalb eines Kanons von Materialien und Formen ausgetragen. Es ist evident, daß es immer wieder Wandlungen in diesen Kanonbildungen gibt. Genauer betrachtet sind diese Veränderungen aber weithin nichts anderes als die Einführung eines Surrogates, also eines Materials oder eines Verfahrens, welches auf das bisherige bezogen wird. Bekannt ist das Ersetzen von Plastik durch Malerei, von Stein durch Holz, und umgekehrt — aus Gründen der Monumentalisierung, Vergeistigung, Theatralisierung, Intimisierung, der Armut, der Unfähigkeit. Häufig kommt es vor, daß bestimmte Techniken auf Aufgaben angewendet werden, die ihnen vorher nicht gemäß schienen. Auch innerhalb der Gattung werden Surrogate eingeführt; so in der Malerei Leinwand und öl, später die vereinfachte Mischung. Wenn im 18. Jahrhundert Ornamente aus dem Holz einer Wandverkleidung oder eines Türflügels herausgeschnitten werden, statt in Metall aufgesetzt, so ist diese Täuschung (bemaltes Holz statt Bronze) eine Steigerung der Leistung und der Sensibilität. Der Verlust an Dignität des Materials wird offenbar nicht gefühlt.6 Solchen Erscheinungen antwortet eine Reaktion, die in einem gesunden, aber bisweilen etwas naiven Ontologismus mateiialgerechtes künstlerisches Arbeiten fordert. Nun liegt im »Ersetzen« noch eine indirekte Anerkennung oder Ausübung der Materialgerechtigkeit, denn es wird ein Stoff dem Wesen eines anderen, älteren angepaßt, sucht ihm gerecht zu werden, ihn gar zu übertrumpfen. Worin? Offenbar möchte man im ersetzten wie im ersetzenden Material dieselbe Eigenschaft repräsentieren. Wie denn überhaupt in der Verwendung eines Stoffes als »Material« eines Zweckes eine bestimmte Interpretation dieses Stoffes liegt, die dessen Wesen zwar nicht willkürlich, aber doch einseitig ausdeutet. Dieser Interpretation kann man gerecht werden, nicht der ganzen Natur des Stoffes. Allerdings bezog sich das Ersetzen und Vertauschen auf die Natur, solange naturgegebene, nicht gemachte Materialien nachgeahmt wurden. Das war noch in der Frühzeit der modernen Baustoffentwicklung der Fall, wenn etwa »künstlicher Stein« fabriziert wurde, der wie Holz aussehen sollte. Aber nun kommt man dahin, Materialien zu erfinden, die weder wie Holz noch 6

K. Cassirer, Die ästhetischen Hauptbegriffe der französischen Architekturtheoretiker, Diss. Berlin 1909, 63 f.

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wie Stein aussehen, die man also nach ihrer eigenen, aus dem Nichts entstandenen »Gerechtigkeit« wird behandeln müssen. Das müßte eigentlich zu künstlichen Materialien führen, die von vornherein so gemacht sind, daß ihnen künstlerisch gerecht zu werden ist. Das heißt aber nichts anderes, als daß sie in einen schon konzipierten Kanon von Material passen müssen — was bei stucco lustro und noch bei »Holzstein« der Fall war. Es soll natürlich nicht bestritten werden, daß es Neuerungen im Material gibt, so wie Musikinstrumente sich wandeln und es heute notwendig ist, gewisse Instrumente zu rekonstruieren, will man das Kunstwerk alter Musik ganz wiederherstellen. Aber sinnlos wäre es doch, wenn Instrumentenbauer immer, in jedem Moment versucht hätten, völlig neue Geräusche aus neuen Instrumenten zu erfinden — denn niemand könnte darauf spielen, oder dafür Musik komponieren. Auch hier ist Kunst ohne »relative Konstanz der Mittel« unmöglich. Die Kunsthistoriker wissen, daß freilich in den Umtönungen innerhalb eines solchen Kanons künstlerisch etwas entscheidendes liegt, eine neue Struktur des Kunstwerks. Aber diese neue Struktur könnte ohne den alten Organismus nicht entstehen. Diese relative, organische Konstanz, dieser Surrogatcharakter der Veränderungen ist der eigentliche Bezugspunkt, die Voraussetzung unzähliger kunstgeschichtlicher, besonders stilgeschichtlicher Untersuchungen. Und nur auf Grund der Konstanten und im Spiel mit ihnen kann sich Geschicklichkeit entfalten, einrichten und bewertet werden. Es ist nun nicht schwer, gewisse triviale Begründungen für das Auftreten dieser Invarianten vorzubringen: es handle sich um die Mode der »Zeit«, die Nachahmungssucht der Auftragsgeber, die nur allzumenschliche Unselbständigkeit der Künstler, das Unbekanntsein oder die Unmöglichkeit anderer Verfahren. Dergleichen ist gewiß nicht unrichtig, aber es ist doch nötig, eine etwas — und sei es nur um ein weniges — tiefer gegründete Erläuterung dazu zu geben. Für die gesellschaftliche Organisation ist die »Kanonisierung der Geschicklichkeit« bisweilen von direkter und unverborgener Wirkung. Die Zünfte mit ihrer Einübung und Einweihung des Lehrlings, ihrem Abweisen nicht »kunstgerechter« Verfahren, der scharfen Bezeichnung der ihrer Kunst gesetzten Zweckbereiche — sie ergreifen das Leben der Familie, der Männergesellschaft, ja der Kommune und der Kirche als Ganzes. Oder, umgekehrt 16

TAFEL I

angesehen: ein intensiver, eigentlich in gemeinsamen Kulten wurzelndei Zusammenhalt hat bei den Zünften auch die Arbeit ergriffen, sie in der bekannten Art reglementiert und ihr den Abglanz der rituellen Sphäre verliehen. In einer glänzenden Skizze bestimmt Riegl einmal die Renaissance-Kunst aus der Tatsache, daß »die Elemente der Kunst den früheren kanonischen Charakter eingebüßt« hatten7. Aber die Entkanonisierung ist zu jener Zeit doch noch nicht total; sie bezieht sich zunächst nur auf die mediaevale Tradition, in der die absolute, unveränderliche Geltung etwa des »byzantinischen« Stils der Malerei und des Mosaiks durch aitiologische Stiftungslegenden (Moses als Erfinder des Mosaiks, usw.) gestützt war.8 Im Effekt sind dann die Brecher der zünftischen Kunst, die Renaissance-Meister nichts weniger als frei von einem Kanon an Mitteln, Materialien und Aufgaben, denn eben die Antike hat ihnen diesen abzugeben. Bei allem Respekt vor dem unabhängigen, antiakademischen Geist vieler großer Meister des 19. Jahrhunderts, muß man die Leistung von »Kanonisierungen« sehr hoch veranschlagen. Sie sind die Voraussetzung jener Art von Meisterschaft, die »nicht mehr im Umlernen, sondern im Auslernen besteht«9. Semper sagt im Jahre 1852: »Der Uberfluß an Mitteln ist die erste große Gefahr, mit welcher die Kunst zu ringen hat. .. Sie erhält ihn zu beliebiger weiterer Verwertung von der Wissenschaft ausgeliefert, ohne daß durch vielhundertjährigen Volksbrauch ein Stil sich entwickeln konnte«.10 Die Konstanz von Mitteln, Materialien, Zielen ermöglicht erst das OrganischWerden, das Einspielen der Elemente zu einem Ganzen, ohne das ein diffiziles Gebilde, wie die Kunst es ist, sich nicht entwickeln kann. Kennzeichen des »Organischen« ist eben, daß die »gewachsenen« Mittel sich langsamer ändern als die labileren Zwecke und »Strukturen«. Gerade das Natuihafte der Kunst verursacht also die sozialen Bindungen des Künstlers und die »Konstanten« in der Kunstgeschichte. Goethe hat das, vom Gegensatz »freier« und »strenger« Kunst sprechend, einmal so ausgedrückt11: »Wer sich einer strengen Kunst ergibt, muß sich ihr fürs Leben 7 Abschnitt Textilkunst in Buchers Geschichte der Technischen Künste III, 1893, 378 f. Vgl etwa Hauser, Sozialgeschichte I 329 ff. 8 R. Davidsohn, Geschichte von Florenz IV 3, 1927, 214 f. 9 E. Jünger, Der Arbeiter, 1932, § 52. Vgl E. Rosenstock, Soziologie I, 1956, 81 ff. 10 G. Semper, Wissenschaft, Industrie und Kunst, 1852, 12. 11 Wilhelm Meisters Wanderjahre III, 12.

2 Rassem

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widmen. Bisher nannte man sie Handwerk ganz angemessen und richtig; die Bekenner sollten mit der Hand wirken, und die Hand, soll sie das, so muß ein eigenes Leben sie beseelen, sie muß eine Natur für sich sein, ihre eigenen Gedanken, ihren eigenen Willen haben, und das kann sie nicht auf vielerlei Weise.«

3. B E W E R T U N G

DER

GESCHICKLICHKEIT I

Die Bewertung der Arbeit des bildenden Künstlers in der Gesellschaft hängt — unter anderem — an der Tatsache, daß sie Handarbeit und zwar besondere Handarbeit ist. Als solche ist sie von der Wissenschaft, der Theologie getrennt, sie zählt nicht zu den »Sieben Säulen der Weisheit«. Die Renaissance versucht zu erweisen, daß die Kunst zu den Wissenschaften gehört, somit »freie« nicht »servile« mechanische Kunst ist und höhere Würde beanspruchen darf; man denke etwa an Leonardo da Vincis Darlegungen und dann das Rühmen der Künste in der barocken Ausprägung.1 Ganz konnte diese Auffassung nie durchdringen. Charakteristisch ist eine Stelle in den Regulae des Descartes, wo er in Ubereinstimmung mit alten Argumenten meint, Wissenschaft sei nicht mit Kunst zu vergleichen, weil diese immer körperliche Eigenschaften und Gewöhnung erfordere: Ita scientiae, quae totae in animi cognitione consistunt, cum aitibus, quae aliquem corporis usum habitumque desideiant, male confeientes.. .2. Der vollen Anerkennung der aites — die durch das Geschick der Hand ein nützliches oder ein von hohem Sinn erfülltes Werk hervorbringen — steht offenbar das Ideal einer reinen cognitio in animi entgegen. Der Priester, der Gelehrte und der Edle, der von diesen gebildet wird, sie können nicht nach manuellem Geschick streben. Allerdings sind im Mittelalter gerade die Klöster die bedeutendsten Pflegestätten der Kunst. Dem Mönche wird, im Gegensatz zum Weltpriester, Handarbeit vorgeschrieben. Deren Resultate sind vielfach »Kunstwerke«, beBeispiele nannte zuletzt F. Würtenberger, Weltbild und Bilderwelt, 1958, 33 ff. Vgl etwa A. Dresdner, Entstehung der Kunstkritik, 191s, Kap. II. 1

2

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Regulae ad Distinctionem Ingenii 1,1 (1701, Ausgabe Buchenau 1907).

sonders dann, wenn es sich um sakrale Gegenstände handelt. Die Handarbeit geht also über das nur Notwendige und Nützliche hinaus. Sie ist nicht nur unproduktive, die Meditation stützende Beschäftigung, wie das im ältesten Asketentum geübte wiederholte Flechten und Auflösen eines Korbes3. U m die praktische Bewertung der Künste in der Gemeinschaft der christlichen Mönche beurteilen zu können, müßte man den Anteil der selbst artiflziell-manuell

arbeitenden Patres (Hieiomonachoi) gegenüber dem der Laien-

brüder richtig abschätzen können. Dem setzt der dürre und mehrdeutige Charakter der darauf bezüglichen Quellenaussagen Schwierigkeiten entgegen. Auch machten sich in der Diskussion noch gewisse aus der Säkularisation und Aufklärung ererbte Affekte bemerkbar: M a n bestritt oder verteidigte den »Nutzen«, die »Kulturleistung« der Klöster. Der Romantik schwebte das Bild eines Künstler-Mönches vor, das lange und stark weitergewirkt hat, auch in der eindrucksvollen Darstellung, die der liberal-katholische Montalembert den »Services rendus pai les Moines

ä l'Ait«

ge-

widmet hat. Rechnet man alle Mißverständnisse ab, die aus der Fehlinterpretation der Quellen entstehen mögen 4 , so bleibt gewiß der Eindruck, daß es immer wieder einzelne manuell tätige Priester gegeben hat 5 . Ein eigentliches Verbot dagegen bestand nicht. Da aber diese besondere künstlerische Fähigkeit als Ausnahme und als sekundäre Tugend angesehen wurde, hatte sie keine tieferen Konsequenzen in der allgemeinen Struktur des sozialen Wertsystems. Mit Spätmittelalter und Renaissance geht die manuelle Ausführung nicht etwa von Priestern auf Laien über, sondern nur vom klerikalen Stand auf den bürgerlichen. Es entsteht etwas wie ein eigener Artistenstand, der dann auch die »geistliche« Qualität der Kunst aus seiner eigenen Sphäre heraus zu befriedigen sucht, indem er humanistische und wissenschaftliche Ansprüche an sich stellt. Es gibt dann sehr wohl auch weltliche Baumeister, die nur zeichnen, aber »keine Kelle in die Hand nehmen« 6 . 3 H. Dörries, Mönchtum und Arbeit, in Festschrift J. Ficker 1931, 25, 34, nach Apophtegmata Patrum, Paulus M 3. 4 Interessant die Polemik von R. E. Swartwout, The Monastic Craftsman, 1932 gegen Ch. Montalembert, Les Moines d'Occident VI, 1860. 5 Zum Beispiel H. Graf, Mönche und Geistliche als Architekten beim Bau des Klosters Limburg usw, in Mitteil. Histor. Verein Pfalz 54, 1956, der in der Einleitung allgemeine Literatur nennt. 8

Burckhardt, Geschichte der Renaissance(-Baukunst) § 90, nach einem Brief von 1428.

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Die mediaevale Legitimierung, ja Heiligung der Handarbeit bedeutet also im Grunde keine Entthronung des herrschenden geistig-geistlichen Prinzips, sondern nur ein Schützen und direktes Führen der Arbeitenden. Noch der Jesuit Thomas Le Blanc in seinem Saint Travail des Mains, 1661, hat die Arbeit der ordensmäßig organisierten Laien im Auge und will durch religiöse Betrachtungen gegen die feudale oder sonst zivile Abwertung schützen, der das Handwerk oft ausgesetzt ist. Denn der andere Stand, der mit dem Priestertum das alte Europa beherrschte, der kriegerische Adel strebte ebenfalls nicht nach manuellem Geschick. Zwar liegt im Wesen des Kriegertums und seiner stilisierten Feste und Kämpfe die körperliche Fertigkeit. Es ist Geschicklichkeit ebenfalls »kanonisierter« Art (auf bestimmte Waffen usw. festgelegt), also eine Kriegskunst oder andere Ritterkunst, aber nicht Hervorbringung eines gegenständlichen Werkes. Mittelalterliche wie neuzeitliche Kavaliere sind Artisten des Kampfes zu Pferde und Artisten des Zeremoniells. Das aristokratische Prinzip bringt die Hochwertung einer bestimmten körperlichen Geschicklichkeit mit sich, ja ästhetische Wertungen (Kalokagathie) — aber gerade die Abwertung manueller Produkte, also des Hand-Werks. Es gibt gewiß manche Erscheinungen, die diesen Grundtatsachen entgegenstehen. Wenn aber etwa die Architektur als eine dem Vornehmen und dem Priester erlaubte Kunst erscheint, so ist eine Arbeit gemeint, die in Disponieren und Anordnen, vielleicht nicht einmal in Zeichnen, gewiß nicht in Handanlegen und plastischem Bilden besteht. Bezeichnenderweise wird im Mittelalter oft dem Bauherrn die dispositio als persönliche Leistung zugeschrieben7. Was die Miniaturmalerei angeht, die zum Handschriftenwesen gehört, so entstand sie in einem dem Priester erlaubten und dem Mönche zur Pflicht gemachten Bereich. Abschreiben ist das einzige Gewerbe, das ein Geistlicher im Falle der Not ergreifen darf8. Priester und Krieger sind nicht durch Geschicklichkeit hervorbringend und wollen es nicht sein. Aber sie sind Mäzene, Stifter, Käufer, halten also das Hervorgebrachte für einen Wert und geben sogar den Anstoß zu der Betätigung und Ausbildung des Geschickes anderer. Dies gilt auch für die 7

K. Mugdan, Das wertende Verhalten zum Kunstwerk im frühen Mittelalter, Diss. Ms. Heidelberg 1942, II 174. Vgl E. de Bruyne, Esthétique médiévale, 1946, II 374 und J. Schlosser in Sitzungsberichte Wiener Akademie 123, 1891, 28 ff über Theorie und Praxis. 8 F. W. Oediger, Bildung der Geistlichen im späten Mittelalter, 1953, 28 f, 121. Abweichend das alte Mönch tum, s. Dörries 34.

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Händleraristokratie und den Beamtenadel, wo sie die Herrschaft der beiden älteren Typen ablösen. U m das bekannteste Beispiel zu nennen: Die Medici und andere Florenz regierende Familien sind nicht Handwerkerzünften entsprossen, sondern Verlegerzünften und Fernhändlerorganisationen. Ihr Verhältnis zur bildenden Kunst entspringt gerade nicht — wie es doch denkbar schiene — eigener, handgreiflicher kunstgewerblicher Erfahrung. Der Verdacht, sie würden etwa selbst manuelle Künste ausüben, ist diesen Schöpfern der Renaissance Beleidigung — Grund zu einem Duell, wie uns in einem bestimmten Fall überliefert ist9. In dieser Konstellation ist der Dilettant von Bedeutung. Er stellt momentan die urtümliche Einheit wieder her, die wir in primitiven Gemeinschaften vorfinden. Dort besitzt jeder Mann und jede Frau alle Geschicklichkeit, die es für ihr Geschlecht oder ihre Altersklasse gibt, nur etwa in individuell gesteigertem Maße. Künstlerische Tätigkeit dient dem Brauchtum,- sie ist ein Teil des Lebens eines jeden oder äußert sich doch nur, um dem engsten Lebenskreis, u m dem Nächsten zu dienen. Sobald man aus dieser in noch urtümlichen Verhältnissen anzutreffenden Gebrauchskunst, aus dem Hausfleiß und Hausgeschick ein Kunstgewerbe oder eine Heimindustrie zu machen sucht, vernichtet man sie — auch ästhetisch10. Denn Kunst, im geläufigen Sinn des Wortes, beruht auf einer anderen gesellschaftlichen Konstellation: Die auftraggebende und genießende Schicht kann auf Grund ihrer legitimen Bildung und Ausbildung die Kunstfertigkeit selbst nicht erlangen — anderseits wird der »Geschickte« zum »Künstler« und arbeitet nicht nur für den Nächsten, sondern für alle, für das Ganze der Gesellschaft. Erst damit wird Kunst zu einem abgelösten Gegenstand der Aufmerksamkeit, der Aufbewahrung und zu einem Gegenstand des besonderen Genusses. Der Künstler dieser Kunst ist in jener Abhängigkeit, die Hegel als »zurückgedrängtes Bewußtsein«, das sich zuletzt in Selbständigkeit umkehren wird, bezeichnete. Der Herr aber ist paradox unselbständig, er »ist das für sich seiende Bewußtsein, welches durch ein anderes Bewußtsein mit sich vermittelt ist, nämlich durch ein solches, zu dessen Wesen es gehört, daß es mit selbständigem Sein oder der Dingheit überhaupt synthesiert ist«. Diese 9 Colasanti, Jl Memoriale di Baccio Bandinelli, in Repertorium f. Kunstwiss. 28, 1905, 435, auch angezogen von A. Blunt, Artistic Theory in Italy, 1956, 48, 53 (Chap. IV: The social Position of the artist). 1 0 Alois Riegl, Volkskunst Hausfleiß und Hausindustrie, 1894. H. Lützeler, Die Auffassung der Kunst bei den Naturvölkern, in Konkrete Vernunft (Festschrift Rothacker), 1958.

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Epoche gegenseitiger Abhängigkeit im Bewußtsein, und also im Machen, ist zugleich die Epoche der großen europäischen Kunst. Das gegenseitige Bewußtsein ist historisch älter als das Selbst-Bewußtsein.11 Es sei nicht bestritten, daß manuelle Fähigkeiten — von der Kennerschaft ganz abgesehen — und ihre eingehende Schulung (vorwiegend in Architektur und Zeichnen) in allen drei Ständen verbreitet waren. Ganz zu schweigen von neueren romantischen oder psychologistischen Bewegungen, die Einheit des Menschen durch Dilettantismus und eine Art Do-it-yourself wiederherzustellen, die Idee der ästhetischen Erziehung leiblich zu verwirklichen. Rechte Erziehung wird immer körperlich statt intellektuell zu beginnen haben (Aristoteles, Politik 1338). »Ein Volk oder eine Periode mit Geschmack setzt immer ein Erziehungs- oder Bildungssystem voraus, das die Erlangung von vollendeten physischen Fertigkeiten zur Grundlage hat... Fertigkeiten, die entweder praktisch und zweckmäßig oder rituell und spielerisch sein können, die aber immer als oberstes Prinzip die Pflege von Harmonie und Kunst in sich schließen«12. Zweifellos kann man das vom europäischen Bildungssystem in vielen Perioden behaupten — aber mit der Einschränkung, daß jene Fertigkeiten oft praktisch, aber nicht produzierend werden. Schon die ältere Lehre unterscheidet zwischen einer Tätigkeit in selbsterzieherischer Absicht und einer Tätigkeit, die ein Werk beabsichtigt. Die handwerkliche Betätigung des Adeligen oder des Fürsten, des Menschen von »Geschmack« gehört zur Erziehung und Erbauung, soll also Übung und Spiel bleiben. Keinesfalls dient sie dem Erwerb, und kaum einem Werk. In der Sphäre des Feudaladels, der im ländlichen Leben und im »großen Haus« (maison rustique) wurzelt, bewahren sich gewisse künstlerische Tätigkeiten, die aber eben Jiauskunst sind, also in ein »unvermitteltes« Gemeinschaftsleben gehören. Odysseus schnitzt sein eigenes Ehebett selbst (23. Gesang, 184), würde aber unter normalen Umständen nicht für andere und nicht zum Erwerb arbeiten. Das Sticken der Frauen, noch von deutschen Kaiserinnen überliefert, dient der eigenen Familie oder aber Weihgeschenken, es liegt darin also eine unmittelbare Hingabe. Sieht man vom Pädagogischen, Dilettantischen, Häuslichen, Devotionellen ab und erkennt man die Anteilnahme am eigentlichen Handwerke als 11

Phänomenologie des Geistes B IV A 3, Ausgabe Hoffmeister, 1952, 146. E. RosenstockHuessy, Soziologie I, 1 9 5 6 , 1 1 7 (Abschnitt 2 B 3). 12

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H. Read, Wurzelgrund der Kunst, Berlin o. f., 63.

eine (wenn auch nicht seltene) Ausnahmehandlung oder als beschränkt auf disponierendes Tun, so zeigt sich das fundamentale Gesetz: Priester, Krieger und ihre Nachfolger mögen »Künstler« in bezug auf Ritus, Hymnus, Diskussion, Drama, Fest, Tanz, Turnier sein, aber sie sind nicht Demiuig, nicht homo faber. Das erste Hauptproblem einer Soziologie der bildenden Kunst liegt gerade hier: in dem eigenartig widersprüchlichen Verhältnis dieser Stände (oder Rollen) zu der durch ein Tabu ihnen verschlossenen, aber doch ihrer Herrschaft einbezogenen und dienstbaren Sphäre des dinglichen Schaffens. Dieses Spannungsverhältnis ist aus dem System der europäischen Kultur — und dem gewisser anderer Kulturen — nicht wegzudenken. »Nirgends tritt die ungeheure soziale Entwicklung, die sich zwischen der mythenbildenden und der geschichtlichen Zeit vollzogen hat, deutlicher zu Tage, als in der sinkenden Wertschätzung und veränderten Auffassung der Demiurgie«18. Die ältere Welt, in der wir Schmiede und Teppichwirker als Könige finden, ragt noch in die neue hinein, in der das Königtum im Gegensatz zum Adel gewisse Züge sakraler Handwerksübung bewahrt. Nicht zufällig, und nicht nur wegen der praktischen Möglichkeiten, die ihm durch seine Machtstellung zufallen, wird das Fürstentum in Europa zu einem Beweger der Kunstentwicklung: Es ist nicht gänzlich an die Standesmoralen gebunden, es hat eine andere Einstellung zu den Werkstätten und ihrem Hervorbringen. Ob man den barocken Fürsten, der in seinem universalen, kreativen Ergreifen der Welt auch zum Manufakturier und Mechaniker wird, als letzte Ausprägung jener archaischen Tradition ansehen will, sei dahingestellt — jedenfalls ist seine Verbindung mit dem Geist der Renaissance, die ja ein gebrochener Archaismus ist, dafür von entscheidender Bedeutung. Maske und Zeichen eines antiken Gottes oder eines Halbgottes — die des Apoll und die des Herkules — muß der Fürst ergreifen, um die Rolle eines Herrn der Künste und der Arbeit spielen zu können. Wie Piatons Politikos (259 usw.) ist er kein Praktiker, sondern eben Mon-Arch, das heißt: Prinzip, Lenker des Schaffens. Er ist allenfalls Autor im Sinne von »Autorität«, eine Art créateur par distance. Dieser Abstand gibt sich in der brüderlich-romantischen Aura des »Ritters« Maximilian I ebenso zu erkennen, wie in der kokett übertriebenen Hoheit des »Apoll« Louis XVI. — der, ungleich dem griechischen Gotte, den 13

R. Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt, 1910, 235.

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Lorbeer nicht nur dem Poeten, sondern allen Künstlern reicht. (Tafeln II, III, IV.) Wenn seit der Zeit der großen Reiche und Offenbarungsreligionen die »Demiurgie« nicht mehr dominiert, so gibt es doch Bewegungen und Erscheinungen, die dem dominanten Wertsystem widersprechen. Widersprüche gehören wohl zu jeder noch lebensvollen, zu jeder größeren Kultur. Man kann nicht alles auf eine Formel bringen. Es sind so verschiedene und schwer analysierbare Lehren von Arbeit und Schöpfertum in den europäischen Geist eingegangen, wie die jüdische und die griechische14. Und das Mittelalter offenbart in einigen Zonen — in gewissen Orden und Städten — einen der Produktion und den bildenden Künsten so sehr geneigten Geist, daß schon hier eine neu »veränderte Auffassung der Demiurgie« angebahnt scheint, die dann in der Neuzeit durchbricht. Es ist mehr als ein bizarrer englischer Einfall, daß die Gründung der liberalen Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts formal die Wiederbelebung bedeutungslos gewordener Steinmetzenzünfte war. Denn symbolisch lag darin die Überhöhung dieses Berufs in ein allgemeingültiges Menschenbild. Eine platonistische Vorstellung des Architekten wird zum Gegenbild des Priesters und des Herren — ihre gesellschaftliche Auswirkung findet sie mittels der Symbolik der gotischen Bauhütte. In der Tat ist ja auch die innere Geschichte dieses Gegenbildes und dieses Gemeinschaftsideals bis auf die Renaissance und das Mittelalter zurückzuverfolgen. Der Künstler (nämlich der Plastiker und der Architekt) ist in einer bestimmten humanistischen Richtung nicht nur Machei und Factor, sondern Creator und Deus alter — schon bei Scaliger, Bruno, Alberti, Zuccari und dann wieder bei Shaftesbury15. Die Heroisierung, Divinisierung des Künstlers spielt sich in und seit der Renaissance freilich mehr in den Viten und in der Kunstliteratur ab als in der sozialen Ordnung — sie ist mehr Legende als Mythos16. In der Strömung gegen den orthodoxen Protestantismus kommt es zu einer vehementen Erneuerung dieser Lehre von der Herrschaft des schöpferischen Menschen. 14

W . Bienert, Die Arbeit nach der Lehre der Bibel, 1954. J. Burckhardt, Vorträge hg. v.

Dürr, 2. A . 1 9 1 8 , 202 ff (Die Griechen u n d ihre Künstler). 15

O. Walzel, Das Prometheussymbol, 2. A . 1932. V . Rüfner, Homo secundus Deus, in

Philos. Jb. Görresgesellschaft 63, 1 9 5 5 . 16

Kris-Kurz, Die Legende v o m Künstler, 1934, 59. Daß das Bild v o m Architekten in den

Renaissance-Traktaten illusionärer A r t ist, betont jetzt auch P. Tigler, Filarete-Studien. Diss. München i960 (Kap II 1 3 : Architekt und Bauherr).

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Rechtfertigung aus innerem Beruf, aus schöpferischem Geist wird möglich und verdrängt den äußeren, auferlegten Beruf und Stand. Vielleicht ist der Geist des heutigen Geschichtsbetrachters zu sehr von diesem Modell, von dem Symbol des herrscherlichen menschlichen Baumeisters besetzt, als daß er die Rolle des Künstlers in der älteren Geschichte spontan richtig sehen würde. Dieses Geschichtsbild ist, gerade weil es auf einem neuen Menschenbild und einem Ideal beruht, auch wissenschaftlich fruchtbar oder ist es doch gewesen. Historisch objektiv ist es nicht. Es sei denn, man wollte die »Unproduktivität« der beiden ersten Stände als einen Defekt statt als Wesenszug eines Idealtypus und eines Weltalters auffassen. Die Entwicklung der allerneuesten Zeit ergibt allerdings etwas wie eine Herrschaft der Produktion und der Fabrikatoren. Aber ihre Fabrikation hat (im Gegensatz zur frühen Manufaktur) mit Kunst im alten Sinne nichts mehr zu tun und kann zu der übriggebliebenen Kunst »von Hand« kein schöpferisches Verhältnis finden. II Durch diese Betrachtung sind wir dem Verständnis des Phänomens der »Kanonisierung« von einer anderen Seite nähergekommen: Die Herrschaft der Nichtherstellenden ordnet die Geschicklichkeiten auf bestimmte Ziele hin und erklärt eine bestimmte Art von Geschicklichkeit als dieser Ziele »würdig«. Geschicklichkeit kann den elementaren Bedürfnissen des Gemeinwesens dienen (etwa Wasserbau), sie kann als Gewerbe, als »Industrie« mit sittlichen Prinzipien und ökonomisch-politischen Positionen verknüpft sein. Sie kann der Verherrlichung der Religion und der Ausübung des Kultes zugeordnet sein, aber auch der weltlichen Herrschaft Repräsentation geben. Zu all diesen Aufgaben werden Ausführende herangezogen, ausgebildet, beschützt und geehrt. Hat das Handwerk sakrale Ziele gesetzt erhalten, so kann die Arbeit selbst, besonders das Verfahren und die Abfolge der Arbeitsgänge, geheiligt werden, wie das etwa bei der Ikonenherstellung der Fall ist. Es handelt sich dann um eine reglementierte, quasi ritualisierte Arbeitsweise oder, wenn nur um eine bestimmte Weise der inneren Sammlung und »Inspiration«, doch um eine gerichtete Inspiration. Es muß sich um Arbeit handeln, die auf Erzeugung eines Werkes gerichtet 2.5

ist, da die Achtung jener Herrschenden vor dem Künstler auf dessen Werken beruht. Wird hingegen der Prozeß des Geschicktseins verfolgt, dem möglicherweise gar nicht mehr die Absicht innewohnt, Werke zu schaffen — so hat man ein ganz anderes Verhältnis der Gesellschaft zum Künstler vor sich, der dann als »Artist« im Sinne von Gaukler, Kunststückemacher usw. erscheint. Das zünftisch-mittelalterliche Wesen ist ohne das Ziel der »Werke« undenkbar. Der Schmied, der die glühende Masse hämmert, ohne zu wissen, ob er Messer, Sichel oder Pflug machen wolle — er ist wie ein Dialektiker, der nicht disputieren kann 1 . Wir sprechen nur dann von Kunst, wenn der Künstler versucht, sein Bestes zu geben, das heißt wir setzen den Willen zur äußersten, hingebenden Leistung voraus2. Durch den Aufwand an Geschicklichkeit soll etwas Außerordentliches und Schwieriges vollbracht werden. Es liegt darin ein Streben, dessen Wesen man sich durch Extremfälle deutlich machen kann: Es gibt Werke, die als Busse vollführt werden und durch eine Erschwerung gekennzeichnet sind. So verpflichtet sich jemand, einen Psalm mit der linken Hand auf kleinem Format in ein kompliziertes Ornament aus zahllosen Einzelformen einzusticken. Ähnliche fast pathologische Erscheinungen — auch ohne ausdrücklich religiöse Bedeutung — sind etwa Bauwerke aus Zündhölzchen und andere Dinge, wie sie von Sonderlingen der modernen Gesellschaft hervorgebracht werden. Die Unterwerfung unter eine Regel, deren Einhalten ungewöhnliche Hingabe erfordert, ist allein noch nicht »Kunst«, nicht einmal volles »Geschick«. Aber doch gehören zum Wesen der künstlerischen Virtuosität immer ähnliche Erschwerungen, Komplizierungen, Dimensionsveränderungen, Materialübertragungen usw.3 In Werken, wie den ägyptischen Riesenpyramiden nimmt ein Reich eine ungeheure Arbeitslast auf sich, indem es sich eine überdimensionierte Aufgabe setzt, und dieser Wesenszug ist unmöglich von der ästhetischen Wirkung der Pyramide zu trennen. Ganz das Gegenteil ist eine Technik, die vom Menschen nicht mehr die äußerste Hingabe fordert, ihm vielmehr Arbeit abnimmt (etwa durch Ausstanzen von Ornamenten), die Mittel also freistellt und dadurch die Kunst in eine Krise bringt. Denn diese muß als Arbeit einen Eigenwert haben, sie 1

Johann von Salisbury, Metalogicus III, nach F. Piper, Monumentale Theologie, 1867,

598.

26

2

J. Ruskin, Seven Lamps I § 10 (Ausgewählte Werke 1,1900, 39).

3

Siehe R. Hamann, Kunst und Können, in Logos 2 2 , 1 9 3 3 .

wird durch Spekulation nur auf den Effekt der Arbeit aufgehoben.4 Maschinelle, mechanische Arbeit kann also das Schwinden des Hingabecharakters der Kunst bedeuten. Das ist seit dem Anbruch des Maschinenzeitalters von vielen empfunden und ausgesprochen worden. Allerdings ist der Ubergang vom Werkzeug zur Maschine im eigentlichen Sinn nicht immer leicht zu erkennen. Gerade die Alts and Crafts Bewegung hat — im Stadium ihrer späteren Kompromisse mit der Technik — den Versuch gemacht, diesen Übergang ideologisch zu überbrücken, die Maschine zum Werkzeug des Künstlers umzudeuten 5 . In der Geschichte hat es immer mechanische und feurige Arbeitsvorgänge gegeben, welche der bildenden Kunst in der Vorbereitung oder in der Ausführung gedient haben. Wir erkennen gewisse Unterschiede in der Bewertung dieser Arbeit und der anderen, rein manuellen Geschicklichkeit. Da aber im ganzen doch alle körperliche Arbeit als »banausisch« gilt, die disponierenden Stände sich von der unmittelbaren Ausführung also ohnehin zurückhalten, wird alle Art von Technik und Geschick in den Dienst der Kunst gestellt. Gerade darin liegt das fürstliche Aufwenden und Hingeben aller Kräfte und Fähigkeiten, auch der Geheimtechnik, die in den mit dem Feuer arbeitenden Gewerben wirkt. Trotzdem steckt in der Hochwertung der Handarbeit gegen die Maschinenarbeit ein viel tieferes Prinzip als nur die Notwehr des »Romantikers« gegen gewisse Verirrungen. Es wird sich immer als nützlich erweisen, von der Frage auszugehen: Was und wieviel tut die Hand in der bildenden Kunst? Die Hand muß die Hand einer lebenden Person sein und darin liegt das sinnfälligste Unterpfand für den personalen Charakter der Kunst. Ohne die durch den Aktionsbereich eines Handgriffs gegliederte, gewebeartige Mikrostruktur ist ein Produkt kein eigentliches Kunstwerk6. Maschinen werden da zur Gefahr für die Kunst, wo sie nicht allein Beweger und Verstärker von Werkzeugen, oder Aufbereiter und Vorformer des Materials sind, sondern gerade die Wiederholungen im »Gewebe« in unveränderter Weise ausführen. Aber auch diese Funktion könnte, wie überhaupt die Verwendung von Maschinen, von untergeordneter Bedeutung bleiben, wenn nicht die Möglichkeit bestünde, auch noch die Variation in den Wiederholungen automa4 Vgl M a x Scheler, Arbeit und Ethik, in Zeitschr. f. Philosophie 1899, jetzt in DalpTaschenbuch Nr. 316, p. 108. 5 N . Pevsner, Wegbereiter moderner Formgebung, Neuausgabe 1957, Index s. v. Maschinen. Vgl W. Gropius, Architektur, 1956, Kap 7 u. 14. 6 W. Weidle, Prolegomena zu einer Biologie der Kunst, in Diogenes Heft 16, 1957.

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tisch zu erzeugen. Hier erst tritt die Maschine als ganz selbständiger Regler von Werkzeugen auf. Zunächst kann sie aber nur die geometrisch faßbare, wenn auch variierte Grobstruktur des Kunstwerks hervorbringen, erreicht die Mikrostruktur nicht. Eine äußerst verfeinerte Regelungstechnik könnte freilich eines Tages dem Führungs- und Reaktionsvermögen der Hand erstaunlich viel näher kommen, als man noch vor kurzem ahnen mochte. Nicht zufällig ist die Kategorie der Regelung diejenige, mit deren Hilfe man Biologisches am ehesten physikalisch darstellen und apparativ imitieren kann. Uber die ästhetisch-künstlerische Wirkung dieser künftigen, das scheinbar Unregelmäßige ordnenden Maschinen muß man sich heute noch nicht den Kopf zerbrechen. Denn einerseits ist der Künstler der Gegenwart mit diesen exklusiveren Sphären der Technik keineswegs vertraut und anderseits können wir über die Kaste der Disponierenden, die sich dieser Geräte zur kombinatorischen Invention und als handwerklicher Roboter bedienen wird, nichts voraussagen. Vorläufig gilt in bezug auf die Kunst noch Leibnizens Auffassung, daß der Mensch die vollkommenste Maschine sei (Monadologie 64). Je vollkommener und anspruchsvoller das Werk dieser organischen Maschine, desto weniger kann sie durch eine Nachahmung ersetzt werden. Würde die anorganische Maschine aber doch die menschliche Arbeit täuschend ersetzen, so wäre ihr Erzeugnis nur erst »ästhetisches Objekt«, nicht Kunstwerk7. Was ist die Geschicklichkeit des Menschen im Grunde und was bedeutet ihr Besitz oder ihre Negation der Seele? Wir haben diese Frage nicht beantwortet, aber doch erkannt, daß in dem Begriff der Geschicklichkeit gewisse soziale Erscheinungen impliziert sind. Die Bewertung der manuellen Geschicklichkeit, die in Europa anzutreffen ist, muß dem Ständewesen entgegenkommen, muß die Entstehung eines »Künstlers«, eines passiven »Publikums« und eines aktiven »Auftraggebertums« bewirken, muß in der Kunst eine außerordentliche Spannung von Inhalt und Form, Schöpfertum und traditionalistischer Technik befördern. In äußerster Zuspitzung unterscheidet man zwischen »Kunst« und »Kunstwerk« wie zwischen Freiheit und Unfreiheit: Ars est natura liberalis, artificium vero gestum manibus constaf. Ars und 7 Vgl jetzt W. Weidlé, Das Kunstwerk — Sprache und Gestalt, ein Vortrag, der im Jahrbuch der Bayer. Akad. der Schönen Künste gedruckt werden soll. 8

Isidor Hispalensis, De Differentiis I 8 (bei Migne P. L. 81, p. n ) . Dazu E. de Bruyne, Etudes d'Esthétique médiévale, 1946,1 89, vgl III 208. Vgl Mugdan II 175.

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usus, aïs und manus werden im Mittelalter zu unterscheiden versucht. Noch die Theorie des 18. Jahrhunderts trennt »Genie« und »Invention« von der »Mechanik« : »Ii ne faut pas que l'artisan . . . sacrifie la poésie à la mécanique de son art«, sagt Dubos9. Eine metaphysische Unterscheidung, die in praktisch-soziale Unterscheidungen eingegangen ist. Die Synthese aber oder »Vereinigung« dieser Gegensätze ist ein Grundthema der europäischen Ordnung, das immer wieder erörtert und auch bildlich dargestellt wird10.

4. Z W I S C H E N B E M E R K U N G Bis hierher bemühten wir uns, Kunst nur als Können aufzufassen, also das Künstlerische vom Ästhetischen und vom Gehalt zu unterscheiden. Die Kategorie des Könnens ist für eine Soziologie der Kunst zunächst wichtiger als die Kategorie des Stils.1 Die vorläufig eingesetzte Definition der Kunst als Geschicklichkeit, als Hand-Werk muß aber nun ergänzt und vertieft werden. Welche Elemente müssen zur bloßen Fertigkeit hinzugetreten sein, wenn wir von Kunst und von Kunstwerken im eigentlichen Sinn sprechen? Kunst kann weder aus Geschicklichkeit allein leben, noch aus der Verachtung des Könnens. Das Kunstwerk hat Bedeutung. Man kann von seinem Inhalt, seiner Zeichenhaftigkeit, seiner Sprache reden. Insofern Sprache Kommunikation und Vermittlung ist, ist sie soziales Gebilde oder sozialer Akt, oder setzt solche voraus. Spricht man von Funktion — was letztlich nur eine andere Art der Bedeutung meint — so ist direkt eine soziale Dimension angesprochen: das gemeinsame Gebrauchen. Und es wird dem Künstler zweckvolles Tun unterstellt, das heißt aber: Aufgaben sind gegeben und ein Wertsystem spielt herein.2 Geschicklichkeit ist in gewissem Sinn eine Nachahmung und kann zu höheren Formen der Nachahmung aufsteigen. Man muß diesem Begriff einen mehrfachen Sinn geben: Der Künstler ahmt die Natur nach (Akkusa9 Réfléctions critiques, 6. A. 17s 5, I 283, hier nach Teuber, Die Kunstphilosophie des Abbé Dubos, in Zeitschrift f. Ästhetik 17, 1923, 395, vgl 383. 10

Vier Beispiele geben unsere Tafeln. Vgl Würtenberger 33 ff.

1

Vgl R. Hamann, Kunst und Können, in Logos 22, 1933, bes. 34 ff.

2

Vgl D. W. Gotshalk, Art and the social Order, 1947, 45 f.

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tiv) und damit auch den Menschen und alles was in Naturformen erscheinen oder in ihnen ausgedrückt werden kann. Anderseits ahmt er der Natur nach (Dativ), das heißt er eifert ihrem Schöpfertum nach, er arbeitet naturhaft und mit Mitteln der Natur. Er ahmt durch Natur nach (Instrumental), stellt auf diese Weise Geistiges und Ubernatürliches dar. Das nachahmende Tun entspringt einem tief ursprünglichen, animalischen Drang des Menschen — und auch insofern ist es »natürlich«. Der Sinn (und manchmal der Witz) künstlerischer Nachahmung liegt nicht in kopierender Täuschung, sondern in der Ähnlichkeit, der Ähnlichmachung des Unähnlichen. Endlich aber verstehen wir unter Nachahmung auch die innere Nachahmung des Kunstwerks durch den Betrachter als Wiederholung des künstlerischen Aktes. In jeder dieser Hinsichten ist die Nachahmung ein eminenter sozialer Akt, denn sie bewirkt die Identifikation oder Beziehung zwischen Nachahmendem und Nachgeahmtem, und zwar auf konkret-materielle, eben naturhafte Weise. Der Künstler unterscheidet sich von einem nur fertigen Handwerker durch seinen Enthusiasmus (furor), der ihn mit dem Betrachter verbindet und mit dessen Begeisterung für das Kunstwerk, mit dessen Erregung durch Gehalt wie Form des Werkes. Insofern diese Erregung eine mehreren gemeinsame ist, insofern sie Sympathien auslöst oder bestätigt, ist sie sozial bedeutsam. Damit sind nur die allerbekanntesten Leitbegriffe genannt, die in gewisser Hinsicht daselbe ausdrücken. Die kunstgeschichtliche Forschung hat die Gültigkeit dieser alten Begriffe bestätigt, mochte das auch unter dem Eindruck formgeschichtlicher Probleme und extremer, historisch später Kunstgesinnungen zeitenweise nicht so klar werden. Wir glauben, daß dies auch für einige andere Grundbegriffe gilt, die unten noch herangezogen werden sollen. Es ist gewiß möglich, solche Grundverhältnisse einzeln soziologisch zu analysieren, wie es für »Sympathie« und »Nachahmung« schon von Autoren wie Guyau oder Tarde versucht wurde, wie es für »Bedeutungsinhalte« von der Kulturwissenschaft im Sinne Warburgs und von der modernen »semantischen« Theorie versucht werden wird, wie es für »Aufgaben« und »Funktionen« der historischen Forschung nicht schwer fällt. Von Interesse ist aber vor allem, eine Anschauung zu gewinnen, die aus einem Kern heraus die soziale Dimension mehrerer Wesenszüge des Kunstwerks demonstrieren kann. Darauf wird im folgenden zu achten sein und die bekannten Begriffe 30

werden in einem bestimmten Zusammenhang gebracht werden müssen. Das »Ausfallen« eines Elementes definiert dann von selbst gewisse Kunstweisen und ihren sozialen Charakter: Fehlen von Geschicklichkeit ist Dilettantismus, Fehlen des Enthusiasmus ist Handwerk, direktes Zusammenfallen von Enthusiasmus und Aufgabe ist Kunstlosigkeit, usw.3 Mindestens zwei Bestimmungen, die man erwarten wird, fehlen noch in unserer Aufzählung: Die Schönheit — ein Problem, dessen metaphysische und soziologische Aspekte in dieser Studie nicht erörtert werden. Zum andern die physiognomische Qualität der Formen, Gestaltungen, Bildungen des Kunstwerks, sein anschaulicher Charakter4. Denn auch in der Kunst als anschaulicher Gestalt muß sich ihre Bedeutung für die Gesellschaft oder Gemeinschaft fassen lassen. Es ist möglich, im Charakter eines »Inhalts« die Eignung für eine ästhetische Form aufzuweisen, und zwischen den Grundstimmungen (Erregungen) und den Inhalten (oder Funktionen) kontinuierliche Zusammengehörigkeit anzunehmen — darauf muß die Rolle der Kunst in der Gesellschaft beruhen6. Eine in mehreren Hinsichten dem Prinzip des »Kontinuums« folgende Betrachtungsweise wird im folgenden auch gewählt werden. 5. A U F G A B E , Ö F F E N T L I C H K E I T ,

SCHUTZ

Wie Seneca uns sagt, liegt das Wesen einer statua nicht in ihrem Zwecke, aber bei fehlendem Zwecke könnte keine Statue entstehen. Das faciendi propositum des Künstlers ist Verkauf, Ruhm oder aber Religion — si donum templo paravit.1 Nicht viel anders wird man die Antriebe des Auftraggebers umschreiben, wenn er auch derjenige ist, der Geld gibt, um ein Werk für sich zu kaufen, oder es seinem Ruhm oder dem Tempel zu weihen. Damit sind wir auf soziale — prägnant, geradezu vermögensrechtlich faßbare — Zusammenhänge hingewiesen. Von einem sehr großen Teil der Kunstwerke der Vergangenheit wissen wir, daß sie »gestiftet« worden sind. Der Vorgang und das Ergebnis der Stiftung ist rechtlich definierbar — das heißt, er paßt in eine vorgegebene Rechtsform (Institution), ist also ein seiner 3

Vgl Friedrich Schleiermachers Ästhetik, nach unveröffentlichten Urschriften zur erstenmal herausgegeben von R. Odebrecht, 1931, 31, 36 ff, 331. 4 H. Sedlmayr, Kunst und Wahrheit, 1958, 96 ff, 1 1 2 ff (IV, 5 u. 10). 5 Helmut Kuhn, Die Kulturfunktion der Kunst II, 1931, z. B. 166. 1 Epistolae 65. Vgl E. Panofsky, Idea, 1924, 10 f, 76 f.

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Struktur nach wiederholbares Sozialereignis oder -gebilde, von dem ich allgemeine Aussagen machen kann. Eines gestifteten Gegenstandes hat sich der Stifter entäußert — falls er ihn je »besaß« — aber nicht bedingungslos zugunsten einer anderen privaten Person, sondern zugunsten eines Zweckes. Gestiftete Kunstwerke sind also nicht »in Privatbesitz«, sind auch nicht »Staatsbesitz« oder »Gemeineigentum« im heutigen Sinn dieser Worte. Altarbild oder Kirchengebäude sind geistlichen und auch zivilen Verwaltern anheimgegeben, die den gestifteten Gegenstand nur in Hinblick auf seine »Bestimmung« verwalten können oder sollen. Damit ist implicite schon eine ganze Reihe von Vorbedingungen und Wesenszügen des (gestifteten) Kunstwerks gegeben: Es muß ein Zweck, eine Bestimmung benennbar sein. Das Werk muß dieser Bestimmung entsprechen, zu ihr passen. Die Bestimmung muß soweit allgemein respektiert sein, daß Instanzen existieren, die das gestiftete, also herrenlos gemachte Werk behüten. Und all dies muß sich in Formen abspielen, die Stifter und Künstler nachahmen können, in einem »geschützten Stil«2 — wie auch das Erregungsmoment kaum fehlen kann, das sich auf diese Zwecke und Formen richtet und sie neu belebt. Alle Kunst, die nicht persönlicher Besitz bleibt, steht unter diesen Gesetzen. Einige scheinbare Ausnahmen sind festzuhalten: So gibt es in unserer Epoche Stiftungen zugunsten von Staatsmuseen, die vom Inhalt (der Bedeutung oder Bestimmung) des Werkes unabhängig sind, wie der Staat als Hüter auch nur den Kunstwert »an sich« solcher Werke schützt, nicht ihre Bestimmung3. Selbst im Werk kann auf eine, zunächst noch hypothetisch vorhandene, Bestimmung verzichtet werden und die Stiftung an die Öffentlichkeit durch einen Mäzen nur noch wegen ihrer rein verfügungsrechtlichen Wirkung (freier Zutritt) vom Künstler gewünscht werden. — Anderseits können Werke, die naturhaft dauern — steinerne Tempel ohne wesentlichen Innenraum oder bergartige Erd- und Steinbauten — ihre »Verwalter« überleben. Von Anfang an unabhängig von solchen ist ein Denkmal, das verlassen zu werden bestimmt ist oder durch »Monumentalität« eigentliches Behüten abweist, Zerstörung schwer macht. 2

J. Burckhardt, Die Sammler, Einleitung (in der Gesamtausgabe 1930, XII, 295): » . . . das mit aller Anstrengung bis weit in die Kaiserzeit geschützte Weiterleben des idealen Stils . . . « 3

32

Vgl M. Heidegger, Holzwege, 2. A. 1952, 54 ff, 62 über »Bewahren«.

TAFEL

II

Es sind dies aber doch Grenzfälle, aus denen das Wesen der Kunst zu bestimmen, unnatürlich und — methodologisch gesehen — unergiebig (unökonomisch) ist. Dem »verlassenen Denkmal« begegnen wir über eine leere Umgebung als Ausgräber, Entdecker, als beziehungsloser Reisender — können aber selten annehmen, daß das Werk für diese tragische Einsamkeit auch geschaffen sei und in ihr erzeugt wäre. Es ist interessant, daß der Gegenstand der Kunstwissenschaft oft »Denkmal« genannt wird, denn gemeint sind »Denkmäler der Kunst«, so wie man zunächst von Denkmälern der »Vorzeit« sprach, nicht Denkmäler einer Person, einer Sache, oder eines Ereignisses4. Das bisher Gesagte bezieht sich auf gestiftete Kunstwerke. Der Anspruch als Stiftung zu gelten — und damit Schutz in jeder Hinsicht zu genießen — kann nur für ein Objekt erhoben werden, das einem höheren Zweck dient. Einem verbrecherischen, auch einem ethisch indifferenten Zweck kann man keine legale Stiftung widmen — darin besteht gerade das Wesen dieser Rechtsform, gleich, in welcher Ausprägung sie auftritt. Die »Aufgabe«, längst als ein Anknüpfungspunkt der Kunstgeschichte an die Sozialgeschichte erkannt, und der »Öffentlichkeitscharakter«5 des Kunstwerks — beides wird damit schärfer, quasi juristisch greifbar. Denn »Stiftungsfähigkeit« einer Aufgabe ist das Zeichen für die Legitimität oder das Legitimwerden von Zwecken, und darin liegt ihre Gemeinschaftsbezogenheit, nicht etwa darin, daß Aufgaben von einem institutionell unfaßbaren Gemeinschaftsgeist direkt gestellt und betrieben würden. »Der Mythos der Kultur zerfällt in die Fülle der Öffentlichkeitsformen. Das ist nun das zentrale Kapitel einer positiven Soziologie«6. Der einzelne stiftet für die Öffentlichkeit — aus diesem Prinzip entstehen viel mehr öffentliche Kunstwerke, als der moderne Betrachter zunächst vermutet, dessen Denken umgekehrt von der Aktivität der Öffentlichkeit zugunsten des einzelnen und unwillkürlich vom »Staatsauftrag« ausgeht. Die Rechtsnatur der Stiftung schließt keineswegs aus, daß im Rahmen der allgemein als »gut« geltenden Zwecke das Eigenwillige, das dem persönlichen 4

»Ungewollte« bzw. »gewollte« Denkmäler im Sinne Riegls. Vgl Wilhelm Grimm im Deutschen Wörterbuch II, 1860, 941 f. Ein Werk über Versteinerung von G. W. Knorr heißt: Recueil des Monuments des Catastrophes etc (Nürnberg 1768). 5 Besonders betont bei D. W. Gotshalk, Art and the social Order, 1947, sowie P. Francastel, Art et Sociologie, in L'Annee sociologique 3 II, 1949, 496 ff. Vgl die Bemerkung von R. Guardini, Kultbild und Andachtsbild, 1939,17. 6

A. Dempf, Sacrum Imperium I 2, 2. A. 1954, 21.

Kassem

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originellen Willen des Stifters Entsprechende geschützt wird. Die Individualität und Einmaligkeit eines Kunstwerks — im Spannungsverhältnis zur Objektivität der »Aufgaben« und diese sogar modulierend — hat also in der Konstruktion einer Stiftung Raum. Ferner gehört zur Rechtsnatur der Stiftung/ daß sie »für die Ewigkeit«, immerwährend sein soll. Erst durch gewisse spätere Konzessionen werden zeitlich begrenzte Fundationen möglich7. Ähnlich verhält es sich mit der »Unabänderlichkeit«, der Unveräußerlichkeit von Stiftungen und ihres Eigentums — auch dies unterliegt aus praktischen Gründen immer wieder der Diskussion und Konzession, ist aber aus dem Begriff der Stiftung nicht eigentlich eliminierbar. Auch mit diesen Bestimmungen können wir Wesenszüge der bildenden Kunst zur Deckung bringen. Unter einem Kunstwerk verstehen wir etwas unabänderlich abgeschlossenes, das dauern soll — obwohl wir wissen, daß es praktisch weder gegen Umwandlung noch gegen zeitliches Enden gesichert ist. Auch in diesem Punkt wird man die Ausnahmen prüfen. Festdekorationen etwa, in der Geschichte der bildenden Kunst so bedeutsam, sind ihrer Intention nach vergänglich, obschon sie oft Beziehung auf »Stiftungen« haben. Dasselbe gilt für die Kunstwerke vieler altertümlicher oder primitiver Völker, die nach dem Gebrauch vernichtet werden — woraus eine andere, aber zweifellos ernste Auffassung der Kunst zu erkennen ist. Daß die bildende Kunst in Stiftungen erscheint und ihrem Wesen nach zu diesen paßt, ist als eine Fundamentaltatsache für ihre soziologische und institutionelle Einordnung anzusehen. Auch das moderne Verhältnis zur Kunstüberlieferung ist aus diesem Grundverhältnis zu verstehen — nämlich als dessen Negation. Bedeutendste Teile der europäischen Kunst sind durch Säkularisation, Mediatisierung und ähnliche Ereignisse aus dem Konnex mit einem Stiftungsvermögen in Staats- oder Privateigentum übergegangen. Vieles andere konnte von »Standesherren«, die zu Privaten gemacht worden waren, nicht mehr gehalten und unterhalten werden, verlor seinen öffentlichen, überpersönlichen Charakter. Die Entfaltung der Denkmalschutz-Gesetzgebung8 beginnt historisch gerade da, wo Massen von Kunstwerken in dieser Weise ihren 7 8

Dict. du Droit Canonique ed. Naz V, 1930, 861, s. v. fondation.

Die Literatur bei F. W . Jerrentrup, Das Recht der Kulturdenkmalpflege, Jur. Diss. M s . Münster 1956.

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Status verändert haben. Es wird ein Ersatz für den alten Schutz des Stiftungsrechts oder der Standessitte gesucht. Der neue Denkmalsbegriff ist ästhetischhistorisch und faßt das Kunstwerk als ein bereits seinem Stiftungszusammenhang entrissenes. Durch diese Wendung erhält die Pflege des Kunstwerks ein anderes Vorzeichen. Stiftungsbesitz ist ja de juie unveräußerlich und muß aktiv gepflegt werden.9 Das ist es gerade, was die Denkmalschutzgesetzgebung dem neuen (privaten oder kommunalen) Eigentümer nicht auferlegen kann. Sie kann allenfalls passiven Schutz erzwingen, also die eigentliche Zerstörung verbieten, nicht aber aktiven Schutz, das heißt Konservierung verlangen. Finanzieller Aufwand kann nur dem Staat selbst, dem Erben der Säkularisation, auferlegt werden. Man versucht nun, den pflegerischen Aufwand desjenigen privaten Käufers und Besitzers, der das Denkmal freiwillig schützt, durch steuerrechtliche »Begünstigung« zu ermöglichen. Dazu ist erforderlich, daß diese Pflege als etwas dem Gemeinwohl dienendes formuliert werden könne. Damit ist aber wiederum die Grundfrage gestellt: Inwiefern ist Kunst »öffentlich«, welchem höheren Zwecke dient sie? Es liegt eine merkwürdige Ironie darin, daß in der Frage der Steuervergünstigungen — die praktisch zum Schlüssel der gegenwärtigen Staatswirtschaft des Westens geworden ist — zugleich die Frage verborgen steckt, zu welchen allgemeinen Werten man sich bekenne. Es ist aufschlußreich zu beobachten, welcher Art die Argumente sind, die dabei verwendet werden. 10 »Sekundäre Verstiftung« des Kunstwerks ist nicht selten — und bisweilen wird diese als ein durch eine Pseudostiftung oder einen Pseudotrust getarntes Privateigentum in Steuerprozessen angegriffen bzw. die Schenkung an die Öffentlichkeit dadurch erzwungen. Ein instruktives Beispiel bietet die Türkei dar. Dort hat die Auflösung der Stiftungen (islamischen Rechtes) durch die Republik zu einer Entwicklung geführt, die heute in mancher Hinsicht der europäischen Situation in der ersten Generation nach der Säkularisation entspricht. Die Veräußerung des Stiftungsbesitzes hat verhältnismäßig viele künstlerisch bedeutende Architekturen in private Hände gebracht und damit oft einer andersartigen Ver9 UnveräußerlicKkeit des Kirchenvermögens als Fundamentalsatz der kirchlichen Denkmalspflege bei R. Witte, Das katholische Gotteshaus — Bau, Ausstattung, Pflege, 1939, 356 (Kap. XII). 10

3*

Beiträge zu Steuerproblemen in Deutsche Kunst- und Denkmalspflege 14, 1956, Heftl.

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Wendung unterworfen. Neuestens nun hat der Staat durch ein Gesetz das Recht in Anspruch genommen, solche ehemaligen Stiftungsbaulichkeiten zurückzukaufen. Damit gewinnt ein Hauptteil des gesamten islamischen Denkmalbestandes potentiell einen anderen Status. Die mit den Rückkäufen befaßte Verwaltung arbeitet praktisch mit den in der Türkei existierenden offiziellen Kommissionen für Denkmalspflege zusammen und kann im allgemeinen nichts anderes tun, als das Zurückgeforderte physisch restaurieren und zu einem Museum machen. Wo immer eine Wiederherstellung des vollen »Zweckes« und damit erst des integralen Kunstwerkes versagt ist, steht man in einer musealen Epoche, die nur den Schutz und die Darbietung historischer Werte garantieren kann. Nach einem mehr oder minder großen Hiatus vollzieht sich in den Revolutionen die sekundäre Veröffentlichung des Kunstwerks. Es ist dies zweifellos ein Akt der Protektion, wobei es sich teilweise um Werke handelt, welche den Stiftungen geraubt worden, teilweise aber um solche, welche schon vorher privatisiert, entwidmet, entöffentlicht waren. Gerade in einer kunstbegeisterten Epoche, die neuen Anschluß an die kulturelle Vergangenheit sucht, wird sich daraus ein starkes Argument schmieden lassen. An der nicht ganz mißglückten Rechtfertigung der Requisition auch ausländischer Werke für den Louvre (während der napoleonischen Kriege) kann man das ablesen11. Der moderne Schutz des Kunstwerks kann dessen eigentliche Destination nicht erreichen, wohl aber zwei früher wenig gesicherte Rechte: Einmal die sekundäre Öffentlichkeit des »ungewollten« Denkmals und zweitens das »geistige« Eigentum des Produzenten. Das Recht des Künstlers, das wohl nur aus einem rechten Verständnis der sozialen Dimension der Kunst richtig begriffen werden könnte12, ist gerade als »Eigentum« am Werk schwer zu fassen. Fehlen eines kommerziellen Schutzes von originalen Leistungen zeigt eine sorglose, aber unter Umständen gesunde Auffassung vom Wesen der Kunst an und darf jedenfalls nicht naiv kritisiert werden. Es ist eine offenbar spezielle und späte Situation, in der man — wie im vorigen Jahrhundert — genötigt ist, den ideellen Schutz des neu entstehenden Kunstwerks weithin mit der Wahrung von Eigentumsinteressen des »Urhebers« (also meist in11

Ch. Saunier, Les Conquêtes Artistiques de la Révolution et de l'Empire, 1902. Vgl

H. Taylor, The Taste of Angels, 1948. 12

Schon J. Kohler, Das literarische und artistische Kunstwerk und sein Autorschutz, 189a,

fordert das, erreicht es selbst aber nicht.

36

direkt des Künstlers) zu verknüpfen. Heute wird ein »ewiges Urheberrecht« vorgeschlagen, das heißt aber eigentlich eine neue Art von Denkmalschutz, aus dem sich eine Steuer für ideelle Zwecke ergibt13. In dieser Ausdehnung des Eigentums des Künstlers ins Abstrakte zeigt sich vielleicht schon die Peripetie des ganzen Problems. Nichts ist im Grunde tragischer, als dem Künstler gerade das zu sichern, was er in seiner tieferen Intention nicht will und nur aus Not (wegen seiner gesellschaftlichen Isolierung) beanspruchen muß: Eigentum an seinem Werk, gar sinnbildlich »ewiges« Gefesseltsein an ein Eigentum, dessen Bestimmung es war, weggegeben zu werden. Zugrunde läge eigentlich ein ganz anderes Problem, das der Verantwortung für Besitz ohne Eigentümer, für unpersönliches Vermögen und seine Sinngebung. Rechtlich ist es das Problem »Stiftung«, allgemein gesehen aber eine oder die Kernfrage der menschlichen Gesellschaftsordnung.

6. Z E I C H E N Es gehört im allgemeinen zu dem, was man die »Rechnung« des Künstlers nennt, daß er in seinem Publikum ein gewisses Maß von Kenntnis der »Inhalte« seines Werkes voraussetzt — wie immer der Zustand dieser Inhalte sei, symbolisch, allegorisch, emblematisch, fabulös, historisch, dinglich. Die Tatsache, daß Ikonographie und Ikonologie ein Studium, eine Wissenschaft ist, führt auf die Frage: Wer besitzt Wissen vom Inhalt, von den Zeichen eines Bildes oder Baues — ohne Wissenschaft? Ursprünglich kann dieses Wissen nicht, wie für uns, eine Wiederherstellung verlorengegangener Kenntnis sein. Es wäre nun zu oberflächlich, nur die Bildungshorizonte der Auftraggeber, der Künstler, des Publikums zu untersuchen und Schlüsse aus der Ubereinkunft oder NichtÜbereinkunft dieser Horizonte zu ziehen. Gewiß ist es erstaunlich, welches Maß an mythologischem und anderem Wissen wir im Publikum vergangener Jahrhunderte anzunehmen genötigt sind. Aber bisweilen bemerken wir, daß dem ausführenden Künstler der volle Sinn des ihm vom Programmacher Auferlegten undeutlich bleibt, oder doch, daß er selbst dies Programm nicht so erfinden hätte können. Um so 13

Referiert in E. Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht, 2. A. i960, 281 ff.

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mehr könnte die volle Bedeutung der Zeichen eines Werkes auch der Mehrheit des zu diesem Werk gehörenden Publikums verschlossen oder verschwommen sein — wenn man eine solche Menschengruppe überhaupt abgrenzen kann 1 . Derartige Verhältnisse erscheinen heutigen Kunstbegeisterten absurd und verwerflich, wenn sie in der Einstellung leben, die in der Vorstellung von Gemeinschaft wurzelt, wie sie im 18. und 19. Jahrhundert aufstieg: Die einhellige, in einer Gefühlseinheit geschlossene Gemeinschaft, deren Ursprungsnähe sich auch in Unmittelbarkeit der Sprache und aller Zeichen zeigen soll — ein allzu kompliziertes traditionelles Wissen wird als hindernd, als entfremdend empfunden. Mit dem Discouis sui les sciences et les arts beginnt auch ein Rousseauismus der Ikonologie. Gerade aus dem Verständnis ursprünglicher Gegebenheiten des Gesellschaftslebens müßte aber die in der alten Kunst vorauszusetzende Einstellung zu den Zeichen nachvollziehbar gemacht werden können. Es ist an tausend Beispielen demonstriert worden, daß die ältere Kunst vielfach ein spontanes ikonographisches Verständnis nicht zuläßt. Aber es genügt nicht, das faktisch nachzuweisen — im Verstehenmachen, besser gesagt in der Vergegenwärtigung liegt die Aufgabe besonders der Soziologie2. Vielleicht beruhigt man sich zu rasch mit der Annahme, das Verständnis der Zeitgenossen des Künstlers sei spontaner gewesen als unseres — oder anderseits der Sinn seines Werkes sei esoterisch. Das Geheimnisvolle (schon des rein ikonographischen Inhalts) ist nicht nur für den Unwissenden geheimnisvoll, sondern ist es seinem Charakter nach — und dies ist in die »Rechnung« des Künstlers eingeschlossen. Den Ursprung der Kunst sucht man heute auch an Hand der Kinderpsychologie zu erhellen, es mag daher erlaubt sein, eine ganz einfache »soziologische« Beobachtung an Kindern und ihrem Verhältnis zu Sprache und Zeichen heranzuziehen. Kinder, die sich im Spiel zusammengefunden haben, bilden oft etwas, was sie eine »Geheimsprache« nennen. Das Wort führt 1

Vgl R. Klein, in Umanesimo e simbolismo, Atti del IV Convegno internazionale di studi umanistici, 1958, 103 ff. (setzt sich mit den Problemen der Programme des Manierismus auseinander). Die Beiträge dieses Sammelwerkes bestätigen uns die im folgenden versuchten Aufstellungen. 2 E. Rosenstock-Huessy, Soziologie I, 1956, 55. Howard Becker in Gurvitch, La sociologie au X X e siècle, 1 9 4 7 , 1 47 übersetzt »Verstehen« richtig als »Interpretation« und apostrophiert den »orthodoxen Positivismus«: »En ce qui concerne la sociologie, il est très douteux qu'on puisse échapper au péché d'interprétation«.

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allerdings in die Irre, denn an sich ist jede Sprache geheim, für den, der sie nicht kennt. Das Geheimhalten ist bei den Kindern nur die Entdeckung, was eigentlich Sprache bedeutet — daß eine Gemeinschaft ihre eigene Sprache haben muß. Ungehemmt leben drei oder vier kleine Freunde das ursprüngliche Pathos der Gemeinschaft dar: Wer nicht dazugehört, ist ein Barbar, er weiß nichts von den Zeichen, die nur wir kennen, weil wir dazugehören und in unserem Geheimnis eins sind. Die Zeichensprache reicht noch nicht über unseren Kreis hinaus. Sie ist eine Art Beweis der Gemeinschaft. Das Aussprechen oder Aufmalen dieser Zeichen ist die immer neue, triumphale Bestätigung, das sie ist. Vielleicht erleben wir nie wieder eine so hingegebene und ausschließende »Sprachgemeinschaft«. Dabei ist alles unverbindlich, fingiert — und die Kinder wissen, daß es Spiel ist. Von der Erinnerung an diese ideale, kindliche Einheit aus vermögen wir später verbindliche Gemeinschaften zu verstehen — sei es als Zuschauer, sei es als Teilhabende. Wenn der Künstler sich auf die Kenntnis von Zeichen (und damit Inhalten) im Betrachter verläßt, so erwartet er also im Grande, daß deren Nennung eine innere Bewegung hervorruft, wie wir sie eben zu umschreiben versuchten, nicht nur ein Wissen. Von diesem Erlebniskern bietet sich ein Zugang zu vielen ikonographischen und ikonologischen Erscheinungen — besonders zum »Triumphierenden« und anderseits zum »Verborgenen« oder »Komplizierten« in den Programmen. Nicht immer wird die Situation so sein, daß Künstler und Gemeinschaft jene Zeichen als die ihren betrachten, daß eine abgegrenzte Gemeinschaft sich mit diesen Zeichen und Inhalten in elementarer Weise identifiziert. Auch schwächere oder konstruierte, bloß bildungsmäßige oder nur fingierte Beziehungen zum Inhalt ermöglichen noch Kunst. Die ihnen entsprechenden »gebrochenen« Beziehungen darzustellen ist ein offenbar sehr kompliziertes Problem, das hier nicht behandelt werden kann. Die Voraussetzung für das nicht nur registrierende, sondern enthusiastische Verstehen, Aufnehmen eines Zeichens (und dies erst ermöglicht »Kunst«) kann man auch so ausdrücken: Eine Welt von Zeichen ist nicht ohne weiteres erlebbar — es wird verlangt, daß wir irgendeinen Anteil an dem Vorgang haben, der sie gestiftet hat. Man kann auch eine fremde Sprache nicht als eine Summe von Vokabeln und Regeln erlernen, man muß von ihrem Geist ergriffen werden, also eine Ahnung von den Erlebnissen und 39

Ereignissen bekommen, die sie geschaffen haben. Noch viel mehr gilt das von bildlichen Zeichen und Symbolen, die nur in die Welt treten konnten, weil sie für eine Gemeinschaft von Menschen etwas mehr oder minder bedeutsames, entscheidendes repräsentierten. Es ist gar kein Zweifel, daß die Anwendung von Zeichen nicht schon Kunst sein muß. Die allerälteste frühchristliche Malerei zeigt uns, daß eine noch ganz dichte und innige, junge Gemeinschaft sich des bloßen Zeichens bedienen kann, ohne den Versuch einer Gestaltung, ohne bleibende, bestimmte Form. Bevor sich das Problem der Form — der Kunst — entrollt, bevor freie oder strengste Formen von Zeichen möglich werden, ist der »Besitz« dieser Zeichen vorauszusetzen. Offenbar genügt es nicht, festzustellen, daß es etwas wie ein semantisches System in dem Kunstwerk (und vor ihm) gibt, und dessen Entstehung aus einer »Verabredung« oder aus »Traditionen« zu erklären. Die Frage ist, warum verlangt man nach Daibietang dieser Inhalte, dieser Zeichen? Warum spielt die Kunst auf sie an — sei es auf die schlichteste, sei es auf eine gesuchte oder verkrampfte Weise? Weil die Zeichen erst als Unterpfand und Wahrzeichen zwischen Menschen eigentliche Symbole sind. Denn wie sind Publikum und Künstler, nun als Einheit betrachtet, in den Besitz der Zeichen gekommen? Der Mensch findet die Zeichen vor, bekennt sich zu ihnen und wird dadurch — in einem noch zu bestimmenden Sinne — Glied eines sich über die Zeit erstreckenden Kollektivs. Oder aber er schafft zusammen mit anderen eine neue Zeichenwelt — in der natürlich umgedeutete Inhalte enthalten sind, die anderswo herstammen. Es wird eine neue »Sprache« geschaffen — und auch in diesem Vorgang liegt etwas Bekenntnishaftes. Mit den Worten einer enthusiastischen Soziologie der Sprache:3 »Die Sprachen kommen aber als Gelübde in die Welt... Im Altertum hat jeder Begeisterungsvorgang seine eigene Sprache gestiftet und hinterlassen... Jede sprechende Gruppe ist Nachkommenschaft einer oder mehrerer begeisterter Vermählungen.« Kunst beruht auf einem Bekenntnis oder Gelübde — das ist keineswegs eine Phrase, sondern eine Definition, die auf eine elementare Kunstform, das Votivbild, prägnant zutrifft.4 Denn der Sinn der Anbringung des Votiv3 4

E. Rosenstock, Soziologie 1 , 1 9 5 6 , 1 4 7 , 1 4 6 , 1 4 4 .

Z u m folgenden L. Kriss-Rettenbeck, Das Votivbild, 1958, bes. 98, 142. Vgl etwa K. Schefold, Griechische Kunst als religiöses Phänomen, 1959, 2,3, 46 ff, 58 ff.

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bildes ist tatsächlich, etwas durch eine feierliche Bekanntmachung zu »bekennen«, also öffentlich zu machen — nämlich das Sich-Versprechen oder Anheimstellen an eine heilige Macht. Man hat von einer Promulgation gesprochen, um das Verpflichtende dieses Aktes zu kennzeichnen — denn darin liegt das Wesentliche, nicht etwa darin, daß das Bild ein »Dankgeschenk« wäre. Lobpreis und Dank zu Ehren des Heiligen ist aber mit dem Votiv verbunden, ebenso wie die Bezeugung eines »Faktums« höherer Wirklichkeit: Die heilige Macht hat »effektiv« geholfen, auch das wird durch das Anbringen des Bildes an der Wallfahrtsstätte bekanntgemacht. Es sind dies Stätten der Öffentlichkeit katexochen, bisweilen »Orte einer riesigen Publizität«, wie Burckhardt von Delphi und Olympia sagt5. Votivbilder und Weihgeschenke sind Bestätigungen einer bestehenden, fest gefügten Gemeinschaft. In der Volkskunst sind »Künstler«, »Auftraggeber« und, wenn man so will, »Publikum« einander sehr nahe. Es ist fast keine Differenz in den sprachlichen Mitteln des Bildes oder gar in den Zeichen, die für das Heilige stehen. Die Unterscheidung von Künstler und Publikum, die oft als subjektivistisch und ästhetizistisch verurteilt wird, und von der wir in diesem Paragraphen ausgegangen sind, ist hier noch nicht gegeben, wir haben auch kein Kunstwerk im strengen Sinn vor uns. Aber der Kern, jenes Bekennen von Fakten und Bekennen von Bindungen, ist kaum auf die Volkskunst beschränkt. In anderer Konstellation ist es das Problem auch ganz anderer Kunstbewegungen und der Schlüssel zu ihrer sozialen Bedeutung. In der mythologischen Anspielung der Neuzeit freilich vollzieht sich die Reduktion auf ein Bekenntnis zu prestigehaftem Wissen, denn die antiken Götter sind nicht als ganze Gestalt, sondern in Einzelzügen nach bestimmten Literaturstellen bekannt6. Die Enttäuschung an diesem Zustand wird auf der präromantischen Stufe von Winckelmann und Mengs so ausgedrückt: »Michelangelo hätte wohl einen Herkules machen können, der so stark geschienen wie dieser, aber er würde nie einen Gott bedeutet haben. Er hätte wohl den Herkules vorgestellt, der den Himmelszirkel tragen sollte, aber nicht zu gleicher Zeit den Hirsch mit Hörnern von Erz im Laufe einholen können«7. 6

J. Burckhardt, Vorträge, 2. A. 1918, 227 (Die Weihgeschenke der Alten).

® K. Kerenyi in Umanesimo e Simbolismo, Atti del IV Convegno etc, 1958, 183 f. 7

C. Justi, Winckelmann II, 2. A., 40.

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Den ursprünglichen Bekenntnischarakter und die geistig-mythische Dichte der Zeichen spüren wir am stärksten da, wo im »Gezeichnetsein« noch das Schreckliche eines Mals liegt. Die neuere Kunst ist davon nicht immer so weit entfernt, als der Klassizismus glaubt, wenn er nur den Mythologismus und die formale Integrität sieht. Schlägt nicht sogar im unmythologischen und unsakralen Infantinnenporträt eines Velasquez der »Realismus«, die Eleganz, das Schöne um zu einem Bild des durch »Schmuck« zum Opfer bezeichneten Menschen? Am einfachsten aufzuweisen ist diese Schicht des Kunstwerks allerdings im höchsten Altertum, in der Primitivität der Künste. Erinnern wir nur an die Tatauierung (nicht die sekundäre der Matrosen usw., sondern die urtümliche)8. Da ist die Kunst verwundend, ehe sie schön ist und ist in diesem Sinne zeichenhaft. Das Häßliche und das Schöne liegen ungeschieden beieinander. Der durch die nicht mehr entfernbare Tatauierung »gemerkte« Mensch bekennt sich unwiderruflich zu der Erinnerung oder Zukunftsverpflichtung, welche das in seine Haut geritzte und gefärbte Zeichen festlegt. Oft gilt die Tatauierung als Spur und Beweis einer Wunde, die man sich als Blutopfer oder aus einem Traueraffekt zugefügt hat. Aber dies beweisende Zeichen schlägt sogleich in Form, Abbild und Technik um: Es wird ornamental und »schön«. Es enthält Bedeutungen — einen mythologischen »Uberbau« sozusagen des verwundenden Aktes. Und das Zeichnen wird eine »Kunst« im technischen Sinn, auf medizinischem und anderem Wissen beruhend, das akkumuliert und geheim ist, also von dem durch die Idee der Selbstmarkierung erregten Enthusiasten selbst nicht mehr erreicht werden kann. Es gibt wohl nur in der allerersten Phase »dilettantische« Tatauierung. Es versteht sich, daß in den späteren Perioden des Brauches, bei schwindendem Bekenntnischarakter, die soziale gliedernde ständische Bedeutung erhalten bleibt. Bis schließlich der Untatauierte nur noch der Nacktheit und Schmucklosigkeit seiner Haut abhelfen will, wie alle anderen es tun, und dem europäischen Gelehrten mit voller Uberzeugung bestätigen kann, der Sinn der Tatauierung sei schmückende Bedeckung des Nackten, ihr Antrieb also Scham und »Schmuckbedürfnis«.

8 Z u m folgenden ausführlich K. von den Steinen, Die Marquesaner und ihre Kunst I: Tatauierung, 1925 — klassische Interpretation einzigartiger Zeugnisse, die durch, besondere Gunst der Umstände historisch-kritisch gesichert werden konnten.

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7. N A C H A H M U N G I

Ein einfacher Ansatz »Kunstsoziologie« zu konzipieren, ist der, Begriffe zu verwenden, die der Kunsttheorie und der Gesellschaftslehre gemeinsam sind, so daß mit ihrer Hilfe die beiden Sphären sozusagen zur Deckung gebracht werden können. »Nachahmung« ist ein solcher, genügend bewährter, konventioneller Begriff.1 Mit Beziehung auf Kunst kann Nachahmung meinen: Erstens, die Nachahmung der Natur und der Wirklichkeit (Mimesis) — ein Prinzip, das heute wiederum in seiner Tiefe erkannt ist, nachdem es vielfach als ein das Ingenium unterdrückendes Prinzip gesehen worden war, oder gar als Grundsatz eines oberflächlichen, »kopierenden« Naturalismus mißverstanden wurde. Zweitens, die Nachahmung anderer Meister, künstlerischer Vorbilder durch den Künstler — ein Prinzip, das (proportional zu der wissenschaftlichen Erforschung zahlloser historischer Abhängigkeiten) in der modernen Allgemeinbildung zeitweise diskreditiert und kraftlosem Akademismus gleichgesetzt wurde. Wie oben erörtert (§ 2), gehört aber auch diese Nachahmung zum Wesen der Kunst, Manierismus (und Neo-Manierismus) ist nur ein Aspekt dieser Tatsache. Drittens, die Nachahmung des Kunstwerks durch das Publikum — eine Erscheinung, die besonders die psychologische Seite der Wirkung und Leistung des Kunstwerks betrifft und deren Erörterung gleich in den Kern der »Beziehung« zwischen dem Künstler (seinem Werk) und dem Betrachter führt. Im Hinblick auf die Gemeinschaft bedeutet »Nachahmung« die Weise, in der das Individuum das Wesen der Kultur, zu der es gehört, annimmt — insofern das nicht durch Vererbung und selbständige Nachschöpfung geschieht. Alles kindliche und ursprüngliche, noch nicht abstrakt gewordene Lernen ist ein Nachahmen. In allen Taten, allem Verhalten, aller Tradition des Menschen wirkt das Prinzip der Nachahmung, unbewußt oder aber bewußt gestaltet. Diese Akte gestaltender Nachahmung sind Akte der Identifikation mit Menschen, mit Nachahmenden. Als Akte geformten (zeremoniellen) 1 Gute Zitate gibt A. K. Coomaraswamy, Imitation Expression and Participation, in Journal of AEsthetics III. Weitere Literatur z. B. bei R. Eisler, Philosophisches Wörterbuch, 4. A. 1929, s. v. Nachahmung, Sympathie und bei Neal E. Miller and John Dollard, Social Learning and Imitation, 1941 289—334.

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oder ergriffenen Verhaltens sind diese Nachahmungen potentiell schon »Kunst«. Es wird sich als nützlich erweisen, die Beziehungen des Genießenden zum Kunstwerk als Nachahmung zu umschreiben, nämlich eine Nachahmung der »Form«, durch die eine Aufnahme des »Gehalts« in physischer Weise ermöglicht wird. Das Erleben des Kunstwerks wird damit als ein aktiver, nicht bloß passiver Vorgang des Einfühlens aufgefaßt. Es versteht sich, daß der nachahmende Akt des Genießenden kein »Kopieren« des Kunstwerkes ist, obwohl auch das im Grenzfall zu beobachten sein wird (Imitation von Posen, Gebärden, Kostümen, Farbzusammenstellungen und dgl.), so wie im Grenzfall die Mimesis »Natur-Imitation« ist. Vielmehr ist es eine Nachahmung mit anderen Mitteln, in anderem Medium — in den Intentionen, in der Haltung, der Gesamtstimmung des Genießenden wird die formale Haltung des Kunstwerks nachvollzogen. Die Kunst kommt aus einem Traum — aber einem, der sich quasi nachträumen läßt, durch eine unbewußte, aber eigentümlich exakte Nachahmung des Ausdrucks, den er hervorgerufen hat. Bekanntlich reicht diese Nachahmung, wenn sie gelingt, bis in die Art der Kontraktion der Muskulatur hinein,- sie vollbringt also komplexe Angleichungen, die man sonst nur durch Einflüsse hypnotischer Art absichtlich hervorrufen kann. Übertragung von Träumen, sinnhaften Träumen — daß dies ein Movens ersten Ranges auch im Sozialleben ist, bedarf keiner Erörterung. »L'état social, comme l'état hypnotique, n'est qu'une forme du rêve«2. Nachgeahmt wird Ausdruckshaftes. Die Bedeutung der nachahmenden Akte liegt darin, daß viele Erlebnisse von den zu ihnen gehörenden Ausdruckstendenzen abhängig sind, daß sie also durch das Unterdrücken des Ausdrucks verhindert werden können, durch dessen Befreiung aber in Gang gebracht werden. Bedenkt man darüber hinaus, daß der Mensch nicht allein eigene Erlebnisse hat, sondern viel häufiger die Erlebnisse anderer reproduziert, so gewinnt die Nachahmung des Ausdrucks noch an Bedeutung, nämlich als Vehikel dieser Reproduktion. Im Nachahmen der Erlebnisse anderer werde ich mir der eigenen inne. 2

G. Tarde, Les Lois de l'Imitation, 6. A. 1 9 1 1 , 83 (III, 4). Tardes Buch und J. M . Guyau, Die Kunst als soziologisches Phänomen, 1 9 1 1 , I. Teil Kap. 1—4 (französisch 1889) gehören noch immer zu den temperamentvollsten Darstellungen des Problems. Z u r Phänomenologie und sozialphilosophischen Theorie der Tagträume (Visionen) : V. Branford, Science and Sanctity, 1923; E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1959.

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Die Nachahmung ist mit bestimmten Zuständen des Gemütes, wie Trauer und Freude verknüpft. Sie erscheint daher bei gewissen Theoretikern im Rahmen der Lehre von den »Affekten«. Man vergißt oft, daß jene Zustände zwar im Gemüt eintreten, daß sie aber aus der Welt, aus dem Kult und dem Fest in den Menschen eindringen, also auch »objektiv« sind. Das Problem der Nachahmung ist ferner nicht zu trennen vom Problem der Sympathie, des Vertrauens, der Anteilnahme, der Teilhabe — ebenso aber der Antipathie, des Schreckens, der Befreiung, der Überwältigung. Diese Verknüpfungen sind vielmals erörtert worden, wenn auch meist in bezug auf das Drama. Für unsern Zweck genügt es, mit wenigen Beispielen an Bekanntes zu erinnern, übrigens ohne eine auf ein psychologisches System abgestimmte, terminologisch präzise Erörterung zu versuchen. Ein Nachahmungsakt wider Willen widerfährt uns, wenn wir Schmerzen und Krankheitssymptome nachahmen, die in einem kunstlosen, aber episch talentierten Bericht eines Gesprächspartners vorkommen, der uns die Leidensgeschichte einer dritten Person wiedergibt, an der wir persönlich »uninteressiert« sind — oder waren. Derartige Phänomene sind offenbar von großer Bedeutung für die Kunst. Die Erweckung eines Mit-Leidens ist ein so wesentliches Mittel aller Kunst — nicht etwa nur der »sentimentalen« —, daß es auch dort verwendet wird, wo es scheinbar nicht hingehört. Wie bezeichnend ist es etwa, daß in Darstellungen des Krieges der Besiegte und Leidende bedeutender hervortritt als der triumphierende Heros3. Anderseits bringt die festliche, »heitere« Kunst auch den ernsten Gegenstand mit in ihre ausgelassene Schwingung — ohne deshalb »frivol« zu sein — und das nachschwingende Mit-Freuen ermöglicht erst ihre Wirkung. Die Nachahmung von Erlebnissen durch andere (das heißt durch die Künstler) scheint nach einer berühmten Theorie auch einen unerwarteten Sinn haben zu können, nämlich die Unterdrückung des Mitleids und seine Umkehr ins »Vergnügen«. Die ästhetische Nachahmung kann also gerade das Gegenteil einer Einübung oder Identifikation bewirken, nämlich die Befreiund oder Reinigung vom Nachgeahmten, eine Art Bewältigung. Sie hätte dann mehr erzieherischen als sozialpsychologischen Sinn. In der Kunst wird auch Feindliches und Schreckliches nachgeahmt. Terribilità eines Werks manifestiert die Vertrautheit mit dem Feindlichen und damit den Anspruch, davor schützen zu können. Nachahmend und sich 3

R. Hamann, Krieg, Kunst und Gegenwart, 1 9 1 7 , 1 5 f.

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identifizierend ist hier weniger der Beschauer des Kunstwerks als derjenige, der es aufstellt und vorweist. Auch das Erfahren des Schrecklichen im religiösen, numinosen Sinn durch ein Kunstwerk wird man mehr in bezug auf dessen Autor eine Nachahmung nennen, als in bezug auf das Erlebnis des Publikums. Im Grunde wissen wir wenig über die genaue künstlerische Bedeutung des ahmenden Mitfühlens, wenig über die verschiedenen Arten und Funktionen des Mitleidens und Mitfreuens. Gleichwohl ist die eminente soziale Bedeutung von Kunst- oder Brauchtumsformen, die auf jenen Phänomenen beruhen, nicht zu bestreiten. Die bildende Kunst ist erfüllt von Darstellungen des Schmerzes, der Passion, der Martyrien — deren Bedeutung leichter im allgemeinen festgestellt, als im einzelnen prägnant erläutert ist. Nicht als Mitleid, nicht als Reinigung im Sinne der Pythagoräer, und nicht als Vergnügen im Sinne der Theoretiker des 18. Jahrhunderts, wird man das Verhältnis des Publikums zur Darstellung eines christlichen Martyriums bezeichnen. Eines wird man jedenfalls sagen können: Die Darstellung des Leidens, die uns zur Nachahmung des Leidens bringt oder uns diese Nachahmung abnimmt, erhält ihre Qualität, ihr Vorzeichen sozusagen, durch unser Verhältnis zu der leidenden Person. Ein Verhältnis, das durch die Nachahmung gesteigert oder modifiziert, aber nicht immer begründet wird. »Tragödie ist die Posse, die unsere Sympathien erweckt, Posse die Tragödie, die Außenseitern widerfährt«, sagt ein englisches Bonmot4. Sympathie manifestiert sich in Mitleiden, aber auch in einer euphorischen Nachahmung — in einem Versuch ähnlich zu werden. Die einfachste Nachahmung in Gesten, in Haltungen stiftet eine rudimentäre »Gesellschaft« und gehört zu jeder, auch zur ausgebildetsten Gruppierung. Verfeinerte, aber noch immer physisch eingebettete Nachahmung bedingt auch die Einigung in den höchsten Idealen der Gesellschaft. Die menschliche Gemeinschaft, die noch in sinnlichen Gegebenheiten und Akten begründet ist—und nur in ihr kann bildende Kunst etwas notwendiges sein — wird immer die Sympathien, auf denen sie ruht, durch »Nachahmungen« darstellen, um sie lebendig zu erhalten. Die einen entstehen durch die anderen, sie bewirken und bestätigen einander. Entscheidend ist, in welchem Integrationszusammenhang diese bekann4

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In dieser Fassung: A. Huxley, A f f e und Wesen, 1951, 51.

ten Phänomene der »sympathetischen Nachahmung« auftreten, wozu sie benützt werden. Die Kraft der Kunst, im Genießenden die von ihr gesetzte Stimmung oder Sphäre zum Erklingen, zur Nachahmung zu bringen, kann für etwas mobilisiert werden, das in keinen Integrationszusammenhang gehört. Die Welt oder ein Stückchen der Welt »gespiegelt in einem Charakter« vermag einen sympathischen Charakter anzusprechen, aber eine bloß charakterologische, private, zufällige Beziehung zwischen Künstler und Betrachter spiegelt keine Beziehung höherer Ordnung. Erst die Verbindung des Sympathischen mit der Religion, mit der Ordnung in welcher der Genießende lebt, führt in den Bereich der großen Kunst — das heißt, die Verbindung mit den Bekenntnissen, mit den »existentiellen« Lebensmächten des »Publikums«. Der Anspruch, überhaupt zu einer »Nachahmung« aufrufen zu dürfen, wird damit erst wirklich begründet und damit kann ein »alle gleichmäßig beherrschender Gesamtimpuls« und echte Verbindung zwischen Menschen von dem Werk ausgehen — anstatt nur eine Art von »Zwang«5. Kunst, das heißt eine Kunst die sich in einer Gesellschaft beherrschend durchgesetzt hat, ordnet (oder regelt sogar) die Kräfte der Nachahmung. Im Nachahmen des Kunstwerks gewinnt das Publikum die nämliche Haltung und Stimmung wie dieses — und gewinnt sie an dem gewünschten Ort oder Zeitpunkt, nämlich im Augenblick der Darbietung. Nur in einem, eigentlich »festlichen« Moment ist die Einheit der Empfindung mehrerer Menschen erreichbar6. Erst die Ausschließung aller anderen Stimmungen, die durch das Kunstwerk bewirkt wird, ermöglicht es, daß »Gemeinschaft« erlebt, vorbereitet, erhalten wird7. Kunst im Stadium einer Zersetzung dieser Einheit verführt zu einer Vielfalt einander ausschließender Stimmungen, und zwar solcher, die stark sind, aber keine Gesellschaft aufbauen. In diesem Zusammenhang wird nun deutlich, welche Bedeutung die stilistische, überhaupt künstlerische Einheit der bildenden Kunst einer Epoche hat. Wenn nämlich die Ubereinstimmung des Lebensgefühls durch jene Ubertragung der tiefsten Träume zustandekommt, so ist die Einheit der Gesell6 L. v. Wiese, Moderne Kunst soziologisch betrachtet, in Kölner Z. f. Soziologie V, 1952, 444 ff. A. Weber, Uber die moderne Kunst und ihr Publikum, in G. Eisermann, Wirtschaft und Kultursystem (Festschrift Rüstow), 1955, 323 ff. 6

»Every kind of identification is based on a moment of consummation, when the values of institution affect us so deeply that we are, as we say, transported.« Duncan, Language and Literature, 1953,106. 7

»Umstimmung« im Sinne H. Sedlmayrs in Historia Mundi 1 , 1 9 5 2 , 352.

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schaft mit von der Einheit der künstlerischen Form und Thematik abhängig. Dem Kunstwerk käme kein eigentlicher sozialer Sinn zu, wenn die von ihm erzeugte Stimmung in jedem Genießenden anders ausfiele, das heißt wenn es unendlich viele gleich »richtige« Interpretationen gäbe, die nicht auf eine ideale konvergieren. Diese Konvergenz wird dadurch gesichert, daß eine volle Interpretation sich auf mehreren Ebenen bewähren muß, von denen jede ihre gesellschaftliche Verankerung hat. In gewissen Epochen werden einzelne Ebenen, zum Beispiel die inhaltliche, divergent. In der Malerei des späteren 19. Jahrhunderts bedeutet es einen künstlerischen Fortschritt, wenn nicht mehr »Zeichen«, sondern »Dinge« gemalt werden, nicht mehr Modelle mit Attributen, sondern Einzelne, nicht »der« Arbeiter, sondern »ein« Arbeiter. Aber: »Was soll man über einen Arbeiter denken? Unendlich viele einander widersprechende D i n g e . . . wer wollte unter diesen Bedingungen darauf bestehen, daß der Maler sich binde«. Empfindungen und Zeichen, die gemeinsam werden könnten, sind sozusagen »in den Dingen untergegangen«8. II Die sympathetische Kraft und Absicht der Kunst tritt vielleicht nirgends so deutlich vor Augen wie in der Epoche des Barock. Das Gewinnende der kirchlichen und höfischen Kunst ist ein Gewinnenwollen. Es ist ein Aufwand von Kräften, die vielerlei Aspekte zeigen. Nur zwei von ihnen seien hier besonders hervorgehoben: die organisierende und die versöhnende Kraft. Es ist eine glückliche Definition, Kunst als eine aufschließende und organisierende Macht zu bezeichnen1 — und zwar nicht nur in bezug auf die künstlerische Verwandlung des Materials, sondern in bezug auf den Genießenden. Denn dieser bedarf einer Kraft, welche die Elemente seines Bewußtseins zu einer Einheit, wenn man will zu »Solidarität« oder »Harmonie« bringt — und es ist erwiesen, daß gewisse sinnliche Eindrücke, potentiell schon ästhetischen Charakters, diese Wirkung haben. Trommelschlag oder Trompetenton »läßt das Blut schneller fließen«, und ebenso aktivieren und organisieren auch die Eindrücke des Gesichts unser psycho-physisches Leben. Übertragung und Angleichung von Erregungszuständen »von einem Nervensystem zum anderen«, 8 1

J. P. Sartre, Was ist Literatur, 1 9 5 8 , 1 0 .

Z u m Beispiel O. Spann, Gesellschaftslehre, 2. A. 1923, 314: »Kunst schließt uns den Schatz und die Tiefe unseres eigenen Wesens und Inneren auf.«

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um sich des etwas physiologischen Ausdrucks der Epoche Fechners zu bedienen, — darin besteht »technisch« das Problem der gesellschaftlichen Wirkung der Kunst. Die barocke bildende Kunst, zweifellos eine Kunst der »Organisation durch Erregung«, was die Behandlung ihrer Stoffe betrifft, teilt ihrem Publikum diese Erregung mit. Aber beruht nun nicht aller Anspruch, alle Selbstsicherheit dieser Kunst darauf, daß die Erregung im Genießenden kein Selbstzweck ist? Es ist überflüssig zu beweisen, daß in diesem Zeitalter alle Aufregung und Nachahmung, zu der die Menschen verlockt werden, nicht zu einer vagen Lust, zu einem bloß »nervlich« ästhetischen Zustand führt, sondern daß sie im Dienst verbindlicher himmlischer und irdischer Ordnung verwendet wird. Es ist eine absichtsvolle, »berechnende« Verwendung, die den Endzweck der Erregung immer vorausweiß — im Gegensatz etwa zu jener modernen Malerei, in der sich der Künstler durch seine Erregung zu einem ihm unbekannten Endziel führen läßt. Ein anderer Aspekt des »gewinnenden« Barock ist, wie gesagt, das Versöhnliche. Der hochgetriebene Machtansprach, ja allgemein kulturelle Anspruch großer und kleinster, weltlicher und geistlicher Fürsten wird gegenüber Höheren, Gleichen und Niedrigeren zwar pathetisch, aber zugleich sympathetisch vorgetragen. Die Kunst hat die merkwürdige Aufgabe, einen Anspruch übersteigert und zugleich einschmeichelnd darzustellen, andere von einer Würde auszuschließen und sie doch zur »Nachahmung« einzuladen. Viele Widersprüche, die eine nüchterne, gerechte Analyse nicht aufzulösen vermöchte, — und wo wären sie evidenter als im Neofeudalismus und in den Zwangsbekenntnissen jener Epoche — können doch durch diese scheinbar oberflächlichen Mittel überdeckt und wirklich versöhnt werden. Es ist dies eine der ursprünglichsten Aufgaben der Kunst. Sie zu leisten, ist vielfach der Sinn eines Formenreichtums, der vom Standpunkt einer unsoziologischen Kunstbetrachtung nur noch »Spiel«, »Dekoration« oder künstlerisches Interesse ist. Die Überlegenheit und Ausdifferenzierang der barocken Formenwelt verwickelt das »Publikum« in unzählige Nachahmungsvorgänge — solche der inneren Haltung und Verhaltenstendenz, aber auch solche der handwerklichen Imitation, durch die in einigen Gebieten die Volkskultur bis in ihre unteren Schichten geprägt wird. Die Nachahmung der Formen und bisweilen der Themen einer obersten, höfischen Spitze durch die anderen Schichten verleiht dieser exklusiven, in ihrer Funktion scheinbar beschränkten Kunst 4 Rassem

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einen weiteren Sinn. Der »Genuß« der höfischen Kunst, ihr Weiterwirken im größeren Publikum macht niemand zu einem König, gibt aber doch allen einen Anteil am »Königlichen« — auf eine Weise, die paradox scheinen mag, aber eigentlich nichts geheimnisvolles an sich hat, beruht sie doch auf einer sinnlichen Übertragung, deren Wirkung man ohne weiteres einsehen kann. Die barocke »Machtkunst« sagt mehr und entscheidenderes aus als das im Heraldischen oder Zeremoniellen liegende Schema. Nicht um die »Zeichen« der Herrschaft geht es, sondern wie man sie vorträgt und erlebt. Das Geheimnis (und die Anfälligkeit) der Sozialkörper liegt ja darin, wie die »Funktionen« vollzogen werden — und gerade deshalb kann die Kunst ganz besondere politische Bedeutung gewinnen. Einem Herrscher wie Ludwig XIV. war das durchaus bewußt, er sprach es geradezu als Maxime aus2. Und schon Ibn Chaldun hat erkannt, daß der Fürst nicht »patriarchalisch« herrscht, weil er defacto herrscht, sondern weil er als vollkommen gilt und nachgeahmt werden kann, wie man die Eltern nachahmt3. Die Kunst aber ist in gewissen Epochen der Weg, das nachahmbare Bild der Vollkommenheit zu schaffen — ihren Schein, im mehrfachen Sinn des Wortes. Dieses Streben nach Vollkommenheit weist uns den Weg zur Beantwortung der eigentlich entscheidenden Frage: Was ist denn der Gehalt, der Sinn des Kunstwerks, von dem wir annehmen wollen, daß seine Form die Sympathien eines Publikums gewinnt, das nicht atomisiert ist, sondern als gestaltete Gesellschaft gelten kann? Weder die Aufgabe, die es sich stellt, noch die Zeichen, deren es sich bedient, können beliebig und willkürlich gewählt sein (oben § 5 und 6). Will man den Inhalt des Kunstwerks seinerseits als »Nachahmung« auffassen, so geht immer schon eine Konzeption des Nachzuahmenden voraus, sei es der »menschlichen Handlungen«, sei es der »Natur«4. Wie kommt es zu solchen Konzeptionen, entstammen sie der Gesellschaft oder dem Künstler, sind sie »objektiv«? Welcher geistige Sinn liegt in ihnen — und damit in dem Nachahmungsvorgang überhaupt? Diese Frage muß gestellt werden, soll der Begriff der Nachahmung nicht zu einer theoretischen Verarmung verführen — sei sie »emotionalistisch«, sei sie 2

Mémoires de Louis XIV pour l'Instruction du Dauphin, ed. Dreyss, 1860, II 403 (»plus avantageux de persuader les sujets que de les contraindre«); vgl 6 fï, 14 fi usw. 3 4

Kamil Ayad, Geschichts- und Gesellschaftslehre Ibn Halduns, 1 9 3 0 , 1 8 3 fi.

Vgl E. Grassi, Kunst und Mythos, 1957, der den antiken Nachahmungsbegrifi interpretiert. (Tarde, Guyau usw. fußen hingegen auf der Moralphilosophie und Ästhetik des 18. Jahrhunderts.)

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»voluntaristisch«, um nur Schlagworte zu setzen. Denn die künstlerische Nachahmung kann aufgefaßt werden als ein Vehikel der Übertragung eines »unbewußten universalen Willens« oder einer wesentlich »vitalen« Teilhabe an einem sozialen Ganzen. Die Ergebnisse einer psychologischen Ästhetik (die sich mit jenen nervös-hypnotisch-somnambulen Grundlagen befaßte) oder der Schopenhauerschen Kunstauffassung rücken dann unversehens in einen Zusammenhang einerseits mit radikalen Gemeinschaftslehren 5 , anderseits mit der »Psychologie der Massenkommunikation«. In der Renaissance ist die sympathische Kommunikation der Kunst auf die Harmonie der Weltseele gerichtet (Ficino) und auch Kants Auffassung scheint uns weniger einseitig. Denn er behandelt die schöne Kunst im Zusammenhang mit der Frage, ob die Stimmung der Erkenntniskräite im allgemeinen mitteilbar, übertragbar sei — und entwickelt von da aus die Theorie von der Gesellschaftlichkeit der Kunst oder mindestens des Geschmackes6. Gustus est judicium societatis sive sociale7. Scheler war es dann, der immer betont hat, daß nicht ein Nachahmungsoder Sympathie-»Trieb« (eine Art Ansteckung) die letzte Ursache und Erklärung der Nachahmung, noch ihr Sinn sein kann, wie bei vielen Autoren zu lesen ist. Hinter der Sympathielehre der Engländer des 18. Jahrhunderts, die auf unsere Sozialpsychologie so stark einwirkte, steht die Philosophie der Renaissance und Dantes mit ihrem Hintergrund in der mystischen Liebes- und Erkenntnislehre. 8

8. L E H R E N , R Ü H M E N ,

BENENNEN

Kunst und Wahrheit — oft steht diese Frage im Mittelpunkt aller ästhetischen Erörterung, bald im Sinne von Wahrhaftigkeit der Kunst, bald im Sinne von Erkenntnis und Kunst. Meint man die »Ehrlichkeit« der künstlerischen Arbeit, so ist das — in 5 Deutlich gemacht bei G. Steinbömer, Politische Kulturlehre, 1933. Uber voluntaristische Soziologie (besonders Tönnies) selbstkritisch P. Barth, Philosophie der Geschichte als Soziologie I, 2. A. 1915. 6 Kritik der Urteilskraft § 21, 40, 41, 44. 7 Notiz im Nachlaß; Akademieausgabe Bd 16, Nr 1860. 8 Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, 5. A. 1948, und die Beiträge imEranosJahrbuch 24,1956, besonders der von H. Corbin zur arabischen Mystik.

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einer idealistischen Formulierung — jenes »hingebende Geschick«, das zum Wesen der Kunst gehört, doch ohne Betonung der Konvention. Also nicht Ehrlichkeit als Zünftigkeit gegen Pfuscherei, sondern als Ehrlichkeit vor sich selbst gegen Lüge, Faulheit, Unwissenheit, Charakterschwäche. Das Problem ist auf dieser Stufe kein soziales mehr im engeren Sinn, aber doch noch ein politisches im pädagogischen und ethischen Sinn. Sieht man, wie die französischen Kunstakademien des 17. Jahrhunderts es taten, eine politische Aufgabe darin, den Wahrheitsanspruch der Kunst zu sichern, so gelangt man zu einer rationalen Fundierung des Verfahrens der bildenden Kunst, die ja seit der Renaissance als eine Wissenschaft auftritt. Es wird versucht, einen bestimmten Arbeitskanon als den wahren, weil vernünftigen zu erkennen, um ihn dann »ehrlich zu machen«, das heißt zum einzig ehrlichen, herrschenden, königlichen zu erklären.1 Denkt man an das Erkennen der Wahrheit und ihre Darstellung durch die Kunst, an die Frage, ob Wahrheit etwas ist, das durch Kunst rein ausgedrückt werden kann, sowie an die Möglichkeit, daß Unwahres überzeugend dargestellt werden könnte — so steht man ebenfalls vor einem Problem, das die Politeia betrifft. »Uberempirischen Wahrheiten und nur ihnen eignet eine intensiv gemeinschaftsbildende Kraft... Gemeinsamer Wahrheitsbesitz stiftet personale Verbundenheit«2. Will man dies Problem soziologisch betrachten, so wird man zunächst davon ausgehen, daß Wahrheit von den Menschen gewöhnlich durch die Offenbarungen und Mitteilungen anderer erkannt wird, also nie ganz von der Form, in der sie ausgedrückt wurde, getrennt werden kann. In der »Nachahmung« dieser Form liegt der Weg zur Erkenntnis. Ist die »Wahrheit« einer Gemeinschaft in heiligen Büchern niedergelegt, so ist sie an die Sprache gebunden. Um verstanden zu werden, muß der Text gelesen, das heißt aber »reproduziert« werden. Rezitation und körperliche Bewegung gehören zum »Verstehen« etwa des Korans und mindestens die Tendenz zu vollerer Nachahmung durch Rezitieren liegt in jeder höheren Art von Lesen. Das Christentum geht weithin darüber hinaus durch die Reproduktion des Geschehens der heiligen Schrift in ausdruckshaften Akten, 1

H. Fegers, Das politische Bewußtsein in der französischen Kunstlehre des 17. Jahrhunderts, Diss. Heidelberg 1943, 38 f. etc. 2 H. Deku, Correctorium Corruptorii, in Philosophisches Jahrbuch Görresgesellschaft I 65, 9S7; 65 f.

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deren Ausweitung zu Musik, zum »Fest«, »Theater« usw. Obwohl die Substanz der Schrift erhalten ist, besteht die »Nachahmung« hier nicht in einer Reproduktion von Formen (etwa des Rhythmus des Textes), sondern in der Hinzufügung von Formen, die den Gehalt des (Prosa-) Textes zum Leben erwecken, indem sie ihn ausdruckshaft und also verständlich machen. Jene früh ausgesprochene, gemäßigte Einstellung der Westkirche zu den »Bildern«, die in der Gegenreformation noch einmal neu gefaßt wird, erlaubt die Darstellung heiliger Themen mit bildlichen Mitteln und diese Mittel werden als eine Art Schrift, als didaktischer Behelf bezeichnet3. So dürr diese Definition anmutet, sie anerkennt doch ein elementares Bedürfnis der Gemeinschaft: die heilige Geschichte muß »gelehrt« und deshalb in eine »Form« gebracht werden. Lehren in diesem Sinn meint aber kein bescheidenes Mitteilen, sondern ein verbindliches, also ein Uberwältigen des Belehrten und zugleich ein Rühmen, Ehren des Mitgeteilten. Dadurch sind die bildlichen Mittel, einmal erlaubt, sozusagen entfesselt und können nicht ohne Einfluß auf das »Mitgeteilte« bleiben. Die kirchliche Kunst bewirkt also eine Vergegenwärtigung, ja eine Interpretation der heiligen Geschichte und einer Fülle von besonderen Legenden, das heißt, sie bewahrt eigentlich das lebendige Wissen von den Ereignissen, welche die Gemeinschaft der Menschen gestiftet und mit einem Sinn erfüllt haben. Ein bestimmter Grundgedanke kirchlicher und weltlicher Kunst führt weiter in das angeschnittene Problem hinein: Die Typologie im weitesten Sinn, das heißt der Parallelismus alttestamentlicher und evangelischer, irdischer und mythologischer, moderner und urzeitlicher Geschehnisse, die gegenüber oder übereinander, zyklisch oder in einem Bild, ausführlich oder durch irgendeine Anspielung zueinander in Beziehung gebracht werden. Personen werden »als« Herkules, Venus, Aristoteles, selbst als Christus dargestellt. Die gesellschaftsbildende Bedeutung jeder Form von Typologie ist evident: Menschen und Taten stehen unter einem Vorbild, einem Modell, das sie wiederholen, dem sie nachfolgen. Es ist unmöglich, ohne solche Leitbilder zu leben. Das Schwanken zwischen Verhaltensmodellen, die nicht in 3

Ansätze des 16. Jahrhunderts zu tieferer Begründung referiert H. Jedin, Entstehung des

Trienter Dekrets über die Bilderverehrung, i n Theol. Quartalschrift 116, 1935, 152 ff. — A. Blunt, Artistic Theory, r9s6,107. — Vgl M u g d a n , z. B. I 76 f.

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Ubereinstimmung gebracht werden können, kennzeichnet die zersetzte Gesellschaft, raubt der Erziehung ihren Schwerpunkt. Offenbar hängt nun alles davon ab, woher die Modelle genommen werden und wodurch sie legitim sind. Man hat erkannt, daß in urtümlichen Gemeinschaften die Modelle des Lebens aus religiösen Mythen genommen sind und dadurch die Formen aller wesentlichen Lebensvorgänge geheiligt sind, mindestens aber als legitim empfunden werden, so daß die Kontinuität der Gemeinschaft, ja ihr ganzes Wesen aufrechterhalten wird4. Das Geheimnis der Renaissance und des Barock ist nun, welchen Grad von Ernst die von ihr gewählten »Typen« beanspruchen können, die zu einem großen Teil nicht mehr der christlichen Uberlieferang, sondern der antiken Mythologie entstammen. Es wird vielleicht nie glücken, daß Historiker sich in diese merkwürdigste Lage zwischen Glauben und Fiktion zurückversetzen. Aber gewiß ist, daß diese Zone ein »Ort« für die Kunst sein muß. Die Vorbilder, durch die diese den Fürsten deutet, sind bereits in einen Aggregatzustand, wenn das Wort gestattet ist, übergegangen, der das »Spiel« der Kunst erlaubt und fordert. Die Taten des Herkules, des Apoll sind weder mehr Taten geglaubter Götter noch auch Taten beliebiger »fremder« Götter. Sie sind nicht Sage (die immer »lokal« angeknüpft ist), noch Märchen (das ja gleichfalls von nicht mehr geglaubten, nur instinktiv begriffenen Mythen lebt). Sie sind abstrakter als die Helden der Epen, die ebenfalls zu den »Barockthemen« gehören, aber doch konkreter, poetischer als die »personifizierten Begriffe«, die als Tugenden oder »Mächte« in den Programmen auftreten. Wie immer man den Zustand dieser poetischen Stoffe bezeichnen will — die Leistung der neueren Kunst besteht darin, daraus Modelle und Vorbilder, aber auch Legitimationen des Lebens zu machen. Auch dies immer untrennbar von der Intention, den Besitz des Vorbildes zu »feiern«, triumphartig zu rühmen. Einer weiteren soziologischen »Erklärung« bedürfen diese Erscheinungen nicht. Denn was wäre einleuchtender als der Versuch, irdische Mächte und Personen mit den Abbildern der Tugenden (»Werte«) zu umgeben, für ihr Tun ein Vorbild in höheren Wesenheiten anzugeben — und dies mit allem Ansprach, aller Verheißung, allem Triumphalen, das es impliziert, auch überzeugt und überzeugungskräftig darzustellen? Nur so kann sich eine Identifikation mit den Symbolen ergeben. Die barocke Theorie 4

54

M. Eliade, Mythos der ewigen Wiederkehr, 1956; Bilder und Sinnbilder, 1958.

der bildenden Kunst und die moderne Soziologie der Kommunikation machen von ein und demselben Begriff der antiken Rhetorik Gebrauch: peisuasio5. Dem europäischen Fürstentum der territorialistischen Epoche wird durch die höfische Renaissance- und Barockkunst Italiens, Frankreichs, Deutschlands nicht nur eine geprägte sinnliche Erscheinung, sondern auch eine Ikonologie verliehen, das heißt aber die Einordnung in ein Symbol- und Begriffssystem. Es wird gestalthaft und benenribar, was dieses Fürstentum ist und aus welchen Idealen es sich rechtfertigen läßt. Die Schöpfungen der Kunst geben die Vorstellung und die überzeugende Rechtfertigung dieser Institution, sie verschaffen ihr geistiges Leben in den Menschen und Dauer. Damit nähern wir uns von neuem der Frage nach der Wahrheit. Kunst, hat man gesagt, ist das Erscheinen, das Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit, das Stiften eines Anfangs durch ein Unverborgen-machen und Benennen6. Wenn das Kunstwerk auf den »Typus« weist, so weist es auf ein Vorbild und auf einen früher gestifteten Anfang, und damit indirekt auf die Wahrheit der Gemeinschaft, die sich unter diesen Typus stellt. Die ursprüngliche Inkraftsetzung — Stiftung — der »Modelle« wird durch das Kunstwerk neu bekräftigt, und insofern mag man sagen, dieses stifte selber die Vorbilder.

9. B E G E G N U N G I

Zum Begriff »Gesellschaft«, der etymologisch mit »Saal« zusammenhängen mag, gehört räumliche Vereinigung oder Beziehung. Offenbar ist ohne — sei es enge, sei es gelockerte, architektonische oder natürliche — »Einheit des Raumes« kein irgendwie geartetes Kollektiv denkbar.1 Begegnen sich drei Menschen, die einander vorher nie gesehen haben, 5

Castelli, Argan, Tagliabue u. a. in Retorica e Barocco, Atti del III Congresso Inter-

nazionale di Studi Umanistici, 1955. H. D. Duncan, Language and Literature in Society, 1953, chap. Vili, IX. 8

W. Gruber, Vom Wesen des Kunstwerks nach Martin Heidegger, Graz 1956, 30 ff.

1

Vgl G. Simmel, Soziologie, 2. A. 1922, Kap. IX. — Eine Art Synthese zwischen kunst-

wissenschaftlichen, geistesgeschichtlichen, soziologischen Analysen von Raum-Vorstellungen versucht P. Francastel, Peinture et Société, 1951.

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auf einer Straße, so mag sich in diesem Augenblick etwas wie eine Beziehung bilden.2 Durch eine Hilfeleistung, durch ein aufwallendes Sympathiegefühl, das einen Ausdruck findet, ist für einen Moment sozusagen alles möglich. Gehen diese Menschen nun weiter, sehen sich nicht wieder und keiner kehrt an die Stelle zurück, so können wir nicht sagen: die drei Personen bilden ein Gemeinschaft, nicht einmal: sie haben eine Beziehung. Offenbar hat es nur dann Sinn, von einem Gesellschaftsgebilde zu sprechen, wenn sich diese Beziehungen über eine Zeitspanne erstrecken. Jene Begegnung muß in irgendeiner Weise wiedelholt werden, oder selbst die Wiederholung sein, oder sie muß eine Folge haben. Schon diese ganz einfache Feststellung impliziert sehr Wesentliches. 1. Dieses winzige Gesellschaftsgebilde ist in seiner zeitlichen Ausdehnung nicht kompakt. Die »Begegnung« dieser Menschen ist ein zusammengedrängter Akt, der nach einem Abstand wiederholt werden kann. Mit andern Worten: diese kleine Gemeinschaft ist in bestimmten Momenten manifest, in anderen nicht. Sie ist im einen Moment gestalthaft, in anderen nicht. Und darin liegt der Ansatz für die bewußte Gestaltung — für die Kunst. 2. Die erste Begegnung, die uns widerfährt, läßt etwas wie Freiheit. Man ist nicht gezwungen, der Anrede eines Menschen Konsequenz zu geben. Tut man es aber, so folgt daraus etwas, was nicht mehr zu beseitigen ist. Es mag sich daraus eine ganze Welt entfalten. Eine Ehe — um nur dieses Beispiel zu nennen — kann nur aus der Begegnung entstehen, der die Partner eine Konsequenz gegeben haben. Gemeinschaft kommt durch das Ergreifen irgendeines Ereignisses zustande, das versinken würde, wenn ihm nicht stiftende Bedeutung beigelegt würde. Man wird oft finden, daß für die Gemeinschaft jener Akt des Sich-Begründens durch wählendes Ergreifen oder Ergriffenwerden große Bedeutung behält. Wie oft liegt uns von der Geschichte einer Institution eigentlich nichts vor als das Unterpfand oder die Legende ihrer Begründnug — und es ist unmöglich, ihre »Geschichte« im modernen Sinn des Wortes zu schreiben. Denn es wird von den Menschen eigentlich nur die Wiederholung dieser Begründung in ständiger »Wiederkehr« erlebt. Dadurch ist jener Zug zum »Fest«, oder doch zur Konzentration auf die stiftenden Ursprünge gegeben, aus dem die Kunst erwachsen kann. Eine kristallisierende «Begegnung» ergibt also — im Unterschiede zur 2

Das Beispiel sei gewählt, um in dem Bilde zu bleiben, das z. B. M a x Weber und K. A. Popper (unten Abschnitt II) gebraucht haben.

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»flüchtigen« — eine gewisse Gliederung der Zeit, gewisse Wiederholungsakte. Anderseits beinhaltet das Wort Begegnung eine Raumvorstellung, mindestens einen geometrischen Ort. Es ist nun sinnlos, diesen Ort des Zusammentreffens gestaltlos denken zu wollen. Selbst das vorhin gewählte Minimalbeispiel wäre in dieser Hinsicht noch nicht abstrakt genug: denn »Straße« im alltäglichen modernen Sinn ist ein Gebilde, das ja gerade erlaubt, Begegnungen zu vermeiden, also das Ansprechen zu etwas Ungewöhnlichem macht, usf. In manchen Fällen ist freilich die Straße geradezu für »Begegnungen«, für den »Korso« vorbereitet, ist also mehr oder anderes als ein Verbindungsweg (der als solcher auch künstlerisch akzentuiert und gefaßt sein kann). Die Begegnung, in der Gesellschaft sich begründet, spielt sich an einem bestimmten Ort ab. Die Erinnerung an diese örtlichkeit mag bleibende Bedeutung gewinnen, und diese Erinnerung kann ausgestaltet werden. Oder aber, die Begegnung ist in einem gerade für sie schon gestalteten Räume herbeigeführt worden. Damit hat man bereits eine entwickeltere Form vor sich und eine, in der die bildende Kunst schon entfaltet ist. Ein Mensch lernt einen anderen auf einem Corso, in einem Hause, bei Hofe, in einem Festsaal kennen. Das sind örtlichkeiten, die für das Zusammentreffen eines bestimmten, schon irgendwie zusammengehörigen Kreises von Menschen vorbereitet wurden. Offenbar sind solche Einrichtungen aus erlebten Bedürfnissen herausgewachsen. Was läßt sich über Begegnungsräume — und solche des Empfanges und der Versammlung — und ihre Gestaltung allgemein aussagen? In der Geschichte der europäischen Architektur, der festen wie der beweglichen, sind solche Gebilde von mindestens so großer oder größerer künstlerischer Bedeutung als die der Wohnung dienenden. Ihr unwohnlicher Charakter zeigt deutlich, daß sie nicht aus den Bauten der Notdurft »hervorgegangen« sind, sondern aus dem Bereich politischer und festlicher Zeremonien »außer Haus«. Offenbar kann die Sinngebung einer Begegnung ganz verschiedenen Stufen angehören, höheren und niederen. Aber immer wird doch nach einem Sinn in ihr gesucht und das Gesuchte irgendwie ausgedrückt. Eine Begegnung wird deshalb festgehalten, weil sich uns in ihr ein Sinn zu offenbaren scheint oder zu ahnen ist. Und damit ist der Ansatz zur Gestaltung und zur Kunst da, wenn auch noch nicht diese selbst. Belanglose Gegenstände (Unterpfänder) oder aber ausgeschmückte Berichte vermögen die Erinnerung an eine Begegnung auf sich zu versammeln 57

und zu erhalten. Innerhalb der Epik, besonders des Romans können Erinnerungszeichen dieser Art benützt werden.3 Wir übergehen hier die Darstellung von zeremoniellen und gestischen Begegnungen in der Malerei. Für die bildende Kunst von besonderer Bedeutung sind Begegnungen, die in einem schon gegebenen Zeichen stehen. Ein Herrscher empfängt Menschen, die zu ihm kommen, ihre Ergebenheit bringen und dafür seinen Schutz empfangen. Es ist leicht zu verstehen, daß der Ort, an dem sich dieser Empfang, dieser Austausch vollzieht, den Sinn dieses Vorgangs ausdrücken will und die Legitimation des Herrschers, zu empfangen und zu vergeben. Sie mag in seiner Macht liegen und deshalb muß er Macht zeigen. Oder in seiner Verbindung mit höheren Sphären, denen er dient, als mächtiger irdischer Schützer. Oder seine Stellung beruht auf gewissen Unterpfändern von Erfolgen über kleinere Herrscher, die sich ihm untergeordnet haben. Alles dies wird sich in der Gestaltung seines Empfanges zeigen müssen. Der Herrscher beruft sich nicht auf die jetzt bei einem Empfang sich vollziehende Begegnung, sondern in dieser neuen Begegnung ist eine Neubekräftigung eines schon früher, vor seiner Zeit, gestifteten Verhältnisses zu gestalten. Offenbar ist eine solche Neubekräftigung notwendig und ihr dient die Kunst des Palastes. Es gab wandernde Könige und Kaiser durch viele Jahrhunderte. Sei es, daß ihre Herrschaft aus nomadischen Verhältnissen (oder Kriegszügen) heraus begründet wurde, sei es, daß sie aus der Vereinigung verschiedener Gebiete ohne Metropolen und Bürger entstand. Solche wandernde Herrscher empfangen nicht, sondern sie werden empfangen, sie halten Einzug. Merkwürdig zu sehen ist nun, daß sie oft auch die Mittel zur Gestaltung ihres Einzugs transportabel bei sich führen. Ihre Festdekoration besteht namentlich aus Teppichen, die man einrollen und mitnehmen kann. Entfaltet und aufgehängt, enthüllen sie eine ungeahnte Pracht. Die Bildthemen beziehen sich auf das Herrschertum und auf die Religion, deren Schutz seine oberste Aufgabe ist, aus der ein Element seiner Hoheit erfließt. In Burgen und Schlössern erhalten sich bis in die neueste Zeit herein diese Textilien, im Zeremonialwesen werden sie noch lange benützt, als einfachstes Mittel, einen »Begegnungsraum« herzustellen. Auch in Sälen werden sie verwendet; diese erhalten später bisweilen gemalte Wandteppiche — wie 3

Uber die Bedeutung zufälliger Sympathien: E. Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, 1 9 4 8 , 1 1 0 .

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überhaupt der Saal die Begegnung, den Empfang durch Bilder und Embleme unter ein Zeichen stellt. Es sind stumme Zeichen. Bildende Kunst hat ihrem Wesen nach einen Bezug auf das Schweigen. In Bildern begegnen wir dem Menschen so, als ob wir nicht mit ihm sprechen könnten und er nicht mit uns. Wie kommt es dazu? Der Maler mag mitten im alltäglichen Genre-Leben dieses Schweigen herstellen, so wie man es durch Schließen eines Fensters direkt vor einer beliebigen Szene herstellen kann — die dann sofort und stark etwas vom Erlebnis des »Bildes« hervorruft. Aber auch die Personen selbst mögen schweigen, sei es zufällig, sei es absichtsvoll, sogar pantomimisch und sich maskierend [das sogenannte »lebende Bild« kommt erst durch »Still-Halten« und Still-Sein zustande). Sie mögen entrückt sein, in sich selbst, oder in große zeitliche oder räumliche Distanz, über die kein Schall dringt. Anderseits sind wir selbst als Betrachter schweigend, auf allen Stufen des Betrachtens vom Beobachten bis zur Andacht. Von den verschiedenen Weisen, die Stille vor und im Kunstwerk zu erzeugen, interessiert uns hier — für die Architektur — besonders das Zeremoniell. Die bildende Kunst der Kirche und die des Fürstenhofes vermögen sich bedeutend zu entfalten, weil beide einer Sphäre erwachsen, die ehrfurchtsvolles oder vornehmes Schweigen als ein Attribut der Weihe oder Würde gebietet — und zum Ritual oder Zeremonial macht.4 Es verlangt dies einen abschließenden Raum und ein System des Deutens, Winkens, Zeigens, eine »Zeichensprache«. Die bildende Kunst hat hier Bedeutungen vorzutragen, die dem Sprechen, Urteilen, Unterscheiden, Entscheiden des Alltags entrückt sein sollen. Viele Bildungen tragen Zeichen an sich, fordern aber vor allem zu einem zeichenhaften Verhalten auf: so das pathetisch gestaltete Palasttor mit Auffahrt und Einfahrt, wie es dem frühen Renaissancebau noch fehlt. Der Verschlossenheit des spätmittelalterlichen Familienwohnhauses in Italien wird erst spät ein Ort der Begegnung und Bewegung, die Treppe, wieder eingefügt, die im Barock ihre mittelalterliche Pracht und Bedeutung neu gewinnt. Der Empfangsraum der alten Florentiner Geschlechter-Casa, die eben kein wahrer Palast ist, liegt bezeichnenderweise außerhalb des Hauses, gegenüber: die Loggia. Ihre offene, zugängliche Form ist Symbol der Öffentlichkeit, Vgl Ph. Wolff-Windegg, Die Gekrönten, 1958, 318, 175, auch O. Treitinger, die oströmische Kaiseridee, 1938, 55. 4

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sie ist, formal wie symbolisch, der Halle und den Laubengängen verwandt. Sie ist der Ort des Sprechens und des lauten Verkündens.5 Loggien und Treppenhäuser, in denen nicht empfangen wird, mit denen kein Zeremoniell zusammenhängt, sind tot und sinnlos, mag auch ihre leere Form weiter überliefert werden. Ein Gemeinwesen, dessen Akte im Zusammenkommen der Privilegierten vollzogen werden und anders nicht rechtskräftig sind, bedarf der Loggia, nicht nur zur Abhaltung dieser Akte, sondern zur Erinnerung an sie. Und es gelangt zunächst zur Konzeption einer Loggia, wenn es in seinen Häusern keinen »geöffneten« Raum besitzt. Eine Welt, in der alles von gegenseitigen Ehrerweisen abhängt (deren Triebfeder die Ehre ist, wie Montesquieu sagt), bedarf der Empfangstreppen. Gewiß sind Halle wie Treppe ausdrucksvoll, ja symbolisch, ohne daß man sie in ihrer Funktion erlebt oder an diese denkt. Aber in den formgenetisch bedeutenden Epochen müssen Ausdruck und Funktion doch zusammengehen. Auch der wichtigste Versammlungsraum der europäischen Architektur, die Basilika als Kirche setzt ebenso wie die Moschee ein konkretes Erfordernis voraus: Daß zum Leben der Gesellschaft essentiell gehöre, sich zum Gottesdienst zu versammeln. Es ist dies, wie ein Vergleich mit anderen Religionsformen zeigt, ein keineswegs selbstverständliches Erfordernis. Obwohl es kultische Einzelhandlungen gibt, und ohne daß der Begriff einer überräumlichen Einheit der Christenheit fehlt, wird doch die Gemeinde als real versammelte vorgestellt. Das Zusammenfallen des Kultraumes mit dem Versammlungs- und Begegnungsraum ist allerdings im Islam noch ausgeprägter vollzogen oder, besser gesagt, erhalten. In der älteren Zeit ist der künstlerische Charakter, die Stimmung und Organisation der Moschee ganz stark von dieser Voraussetzung bestimmt. Viele Künste scheinen ihren gemeinsamen Ursprung in der Sphäre des Tempels zu haben, der zugleich der soziale Ort par excellence ist — Ort auch vieler später profan gewordener sozialer Vorgänge (des Handels, des »Vergnügens« usw.). An dieser Wurzel berühren sich Kunstwissenschaft und Soziologie konkret.6 Die Kunst der Architektur ist also eingebettet in ein soziales Leben, das sich sinnlich vollzieht und an den »Raum« dieses Vollzugs und seine Gestalt

5

Alles klar gesehen und belegt v o n J. Burckhardt, Geschichte der Renaissance in Italien,

6. A . 1920, § 101 fi. (Geschichte der Neueren Baukunst Bd. I). 8

60

R. Bayer, Traité d'Esthétique, 1956, 155 f.

verhaftet ist. Verschwindet diese Voraussetzling, so bleibt von der sozialen Bedeutung der Architektur (als Kunst) wenig übrig. Die Entwicklung der Gesellschaft in unserer Epoche zeigt tatsächlich einen solchen Schwund der konkreten Vergesellschaftung, damit auch der »Begegnungen«. Das ist schon in der Romantik gesehen worden, zum Beispiel von J. Grimm, wenn er dem modernen Recht ein sinnlich poetisches gegenüberstellt. Es erscheint nun verfehlt, der Kunst als Ersatzbetätigungsfeld das System von Funktionen der rationalisierten Gesellschaft zuzuweisen, es sei denn, man entschließt sich, das Wort bewußt in einem reduzierten Verstände zu verwenden. Kunst im eigentlichen Sinn wird weder von Maschinen gemacht (§3), noch macht sie Maschinen. Freilich sind machines à habitez und andere Geräte vorstellbar, die auch höhere Funktionen als die der Temperatur, der Hygiene, der Haushaltung usw. reibungslos und angenehm gestalten. Denn alle Effekte, die mit der »Nachahmimg« von Formen rechnen, können für Geisteshygiene, Annehmlichkeit menschlicher Beziehungen, wirtschaftliche Dynamik (z. B. verschiedene Arten der Arbeitserleichterung, Anlockung usw.), anregende Verkleidung oder freispielende Garnierung der funktionierenden Teile benutzt werden — ebenso wie die ästhetische Darbietung von Zeichen eine Art von Signalisieren sein kann. Es besteht in der Praxis wie in der Kunstsoziologie die Tendenz, die Künste in den Dienst einer differenzierteren Maschinenwelt und eines allgemein gewordenen rationalen Komforts zu stellen. Toute la vie va s'envelopper d'ait, prophezeite Proudhon7 und Mondrian sagt: On vivía dans l'ait même. Es ist dann nicht mehr Aufgabe der Kunst, Ereignisse und Akte in Beziehung zu geistig-mythischen Modellen zu setzen. Vielmehr würde sie Bestandteil einer »gemachten« Welt, fiele sozusagen mit dieser zusammen. »On retombe donc SUT le mythe de la cité futuie . . . un supeioiganisme social intégralement mécanisé et coloié, qui définit le »total« de réalité accessible, la limite même du réel, successeur du »sacié««8.

7

Zitiert bei H. Needham, Développement de l'Esthétique sociologique, 1926, 96.

8

A. Chastel in Critique XI, 1955, 532. Vgl H. Sedlmayr, Revolution der modernen Kunst, 1955, 104 ff.

61

II

Anhang Der abstrakte Charakter der cité nouvelle, in der man einander nicht mehr konkret begegnet, ist oft geschildert worden. Greifen wir die Worte eines Politologen heraus, der die Gegenwart — wie er selbst sagt — mit optimistischen Augen betrachtet: »Eine Folge des Verlustes des organischen Charakters ist diese: Eine offene Gesellschaft kann sich allmählich in eine sogenannte »abstrakte Gesellschaft« verwandeln, wie ich mich ausdrücken möchte. Sie kann den Charakter einer konkreten Gruppe von Menschen oder eines Systems solcher Gruppen in beträchlichem Ausmaß verlieren. Das ist kaum je richtig verstanden worden. Wir erklären es mit Hilfe einer Übertreibung: Man kann sich eine Gesellschaftsordnung vorstellen, in der sich die Menschen praktisch niemals von Angesicht und Angesicht sehen, in der alle Geschäfte von isolierten Individuen ausgeführt werden, die sich durch maschinengeschriebene Briefe oder durch Telegramme verständigen und die sich in geschlossenen Kraftfahrzeugen umherbewegen. (Künstliche Befruchtung würde sogar die Fortpflanzung ohne persönlichen Kontakt ermöglichen). Eine solche fiktive Gesellschaftsform könnte man eine »vollständig abstrakte oder entpersönlichte Gesellschaft« nennen. Der interessante Umstand ist nun der, daß unsere moderne Gesellschaft einer solchen völlig abstrakten Gesellschaft in vieler Hinsicht ähnelt. Obgleich wir nicht ständig allein in geschlossenen Fahrzeugen umherfahren (sondern Tausende Menschen auf der Straße von Angesicht zu Angesicht sehen), ist doch das Ergebnis nahezu dasselbe, als wenn wir uns so verhielten; denn in der Regel treten wir zu unseren Mit-Fußgängern in keinerlei persönliche Beziehung. In gleicherweise braucht die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft nicht mehr zu bedeuten als den Besitz einer Mitgliedskarte und die Bezahlung eines Beitrages an einen unbekannten Sekretär. In der modernen Gesellschaft leben viele Menschen, die keine oder nur sehr wenig enge persönliche Beziehungen haben, die in Anonymität und Isoliertheit leben und die in Folge davon unglücklich sind. Denn obgleich die Gesellschaftsform abstrakt geworden ist, hat sich doch die biologische Struktur des Menschen nicht sehr verändert; die Menschen haben soziale Bedürfnisse, die sie in einer abstrakten Gesellschaft nicht befriedigen können.« »Unser Bild ist natürlich sogar in dieser Form stark übertrieben. Eine völlig abstrakte oder sogar eine vorwiegend abstrakte Gesellschaft wird und kann es niemals geben, ebensowenig wie eine völlig rationale oder sogar eine vorwiegend rationale Gesellschaftsform. Noch immer bilden die Menschen konkrete Gruppen und kommen auf verschiedene Weise konkret miteinander in Berührung; sie versuchen, ihre emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen, so gut sie können. Aber die meisten konkreten sozialen Gruppen einer modernen offenen Gesellschaftsordnung (mit der Ausnahme einiger glücklicher Familien) sind armselige Ersatzmittel, denn sie schaffen nicht den Rahmen für ein gemeinsames Leben. Viele von ihnen haben überhaupt keine Funktion innerhalb der größeren gesellschaftlichen Zusammenhänge.« (K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1,1957, 234 ff) 62

Auch die Kunst ist hier zunächst funktionslos und ihrem Wesen nach veraltet. Aber es kann nicht ausbleiben, daß einige gerade wegen der Abstraktion des Lebens neue Aufgaben für die alte Vermittlerin Kunst sehen — wenn diese sich nur erst vorbehaltslos auf die neue Lage eingestellt habe. Nun verlangt die Frage »Anpassung« oder Nichtanpassung immer eine die innerste Persönlichkeit (den Lebensstil) berührende, ethische Entscheidung — die durch generelle Empfehlungen nicht überflüssig gemacht werden kann. Einiges Allgemeine kann aber über die Tendenzen und Illusionen gewisser Anpassungsversuche doch ausgesagt werden, mit den Worten A. Chastel's in seinem Aufsatz Le Jeu et le Sacré dans l'Art moderne (II), in Critique XI, Juin 1955 : »La dégradation de l'activité artistique par rapport au déploiement complet d'un monde ordonné au sacré est évidente dans un âge organisé comme le nôtre par la technique industrielle et commerciale, pour l'accélération des échanges, et ne préservant des rythmes vitaux de la collectivité que l'excitation de quelques spectacles, quelques cérémonies et l'affreux désordre de la guerre. Des éléments épars des anciennes structures qui n'étaient pas ordonnées à l'utile, subsistent sous la rationalisation technique et l'expansion incontrôlée; aux résurgences et aux formations mythologiques endémiques qu'observe et tente de coordonner la sociologie, s'ajoutent, dans un chapitre particulièrement animé et tendu de l'actualité, l'accélération sans précédent de la production artistique et ce que l'on nomme avec un peu de candeur la diffusion générale de la culture artistique. Après avoir collaboré avec force à l'apparition de la civilisation »désacralisée« et technique, au cours des deux derniers siècles, parce qu'il y gagnait sur le moment une liberté inespérée pour l'exercice de la sensibilité, l'art se trouve, au milieu du XX e siècle, mis définitivement à l'épreuve, et contraint d'affronter sa situation ambiguë. Le second trait achève de donner au problème sa configuration présente.« »Le plus simple semblerait être d'escompter une solution unitaire et d'admettre l'ajustement possible de l'activité créatrice aux normes scientifiques et industrielles. Il s'agirait donc de préparer la réduction progressive des manifestations artistiques à la »thérapeutique« et une insertion dans une vaste cybernétique, organisée à l'échelle de la planète. L'anarchie actuelle est provisoire,- elle est due a une obéissance insuffisante à la dictée des impératifs modernes. La machinerie sociale tend à y mettre bon ordre; l'art y gagne, comme le reste, car il en résulte non l'uniformité mais une dispersion, une animation, une dépersonnalisation fécondes. Cette illusion ou ce mythe »progressiste« pèse déjà sur les institutions; il les règle sur une fiction exactement complémentaire de celle des cultures »ou l'art est le chapitre unique«. En fait, désignant un état d'intégration totale qui ne saurait jamais être atteint, il multiplie à court terme les opérations attachantes. D'où l'attitude naïve et confiante, par exemple, d'un Léger; il n'y a rien à redouter, l'artiste redevenu artisan, à grande ou à petite échelle, va de l'avant avec allégresse dans le sens de l'aménagement technique total, de l'ordre profane absolu, et des calculs utilitaires bien établis. L'art n'a rien de mieux à faire que de régler, comme sur une avenue lumineuse, garnie de panneaux amusants, la circulation des formes et le régime des œuvres, là où l'adaptation précise au »réel« c'est-à-dire aux structures de la société industrielle, se substitue à toute symbolique.«

63

»Pourtant, l'art se présente de plus en plus obstinément comme le plan de refuge et d'expansion d'un troisième règne qui résiste à la fermeture technique et scientifique, et ne peut être confondu avec l'accomplissement physique de la cité nouvelle.« Dieses Zukunftsbild

einer universalen

»sozialen Kunst« nach

den

Visionen

Proudhons oder Mondrians entspricht natürlich nicht allen ideologischen Richtungen des Sozialismus und Progressivismus. Der Marxismus zum Beispiel ist heute geneigt, in jener »Auflösung der Kunst ins praktische Leben« »nichts anderes als das Programm der endgültigen Liquidierung der Kunst« zu sehen. Er betrachtet die Ästhetisierung der Wirklichkeit als Konsequenz, als Umschlagen der vorangegangenen formalistischen Reduktion der Kunst. Daraus ergibt sich natürlich nicht, daß er die Kunst als ein »drittes Reich« anerkenne, in dem »widerstanden« werden könne. (H. Letsch, Zur Frage des Klassencharakters der ästhetischen Konzeption des Bauhauskonstruktivismus, in Wiss. Zeits. der Hochschule für Architektur Weimar VII, 1959—1960, H. 2, 143 ff.)

10. S T I F T U N G Kunstwerke beruhen auf einem Verhältnis zur Vergangenheit. Denn die Kunst steht im Dienst der Totenverehrung und des Totenkultes. Das Heroon und die Grabkirche sind Hauptaufgaben der Architektur. Die gemeinsame Beziehung zu Toten ist eine der tiefsten Wurzeln menschlicher Gemeinsamkeit überhaupt. Kunst dient dem Gedächtnis und ist dann »monumental«1, aber nicht einsam monumental, sondern einem durch wiederholte Begehungen, Stiftungen usw. organisierten Gedächtniswesen eingefügt, wie es im Gedächtnis Christi eine höchste Entfaltung findet. Es ist sinnlos von einer Relation oder von einem Kollektiv irgendwelcher Art zu sprechen, wenn nicht angenommen wird, es erstrecke sich etwas Konstantes in der Zeit. Auch die flüchtigste soziale Relation hat deswegen einen Beginn, eine Art von Uberlieferung und damit die Möglichkeit von Wiederanknüpfungen usw. Was steht am Beginn? Oder, die Frage vorsichtiger gefaßt, wie stellt man sich »später« den Beginn vor? Am Anfang wird ein Ereignis vorgestellt oder war ein Ereignis. Wir wählen dieses Wort, weil es einerseits eine Tat von Menschen, andererseits etwas wie eine Fügung bezeichnen kann. Gründer und gründende Akte, Heroen oder Götter, die etwas begonnen haben, was heute existiert — das sind nun offenbar häufige Themen der bildenden Kunst. 1

64

G. Egger, Das Wort Gottes im Menschenantlitz, 1953, 5, 34. Vgl Piper 4 ff, 909.

T A F E L IV

Es sind auszeichnende Ereignisse aus der Vergangenheit, aus der »Frühzeit«, die eigentlich die gegenwärtige Existenz und Bedeutung gesetzt haben. So zeigt die barocke Abtei im Fresko einen Legitimierungsakt durch den Kaiser, für den sie außerdem einen Saal bereithält. Es ist lehrreich, daß Darstellungen historischer Ereignisse im Sinne einer Chronik in der Kunst seltener zu finden sind, als man von der Historienmalerei des 18. und 19. Jahrhunderts aus urteilend, annehmen würde2. Denn im allgemeinen wird uns »Geschichte« in mythologischer, emblematischer und hagiographischer, nicht in pragmatisch-chronikaler Form dargestellt. Viele künstlerische Unternehmungen der Epoche der »olympischen Kunst« (Renaissance-Barock) lassen sich beschreiben als Versuch, ein Gestiftet-Sein darzustellen. Besonders deutlich ist das in den großen JubiläumsStiftungsfesten, den Neubauten mit ihren Kirchweihen aus dem Ende der Epoche, die in der Ikonologie und durch ihren festlichen Charakter auf sakrale und rechtliche Ereignisse weisen, die ihr Dasein und ihre Stellung legitimieren3. Die weltlichen Bauherrn der Epoche nehmen die alten Stiftungsaufgaben an sich, ja sie monumentalisieren die Erfüllung dieser christlichen Verpflichtungen durch die Gestalt der Bauten: Florentiner Findelhaus, Mailänder Hospital, Pariser Invalidendom und -hotel sind große, ja immense Anlagen, die in der Stadt mit spektakulärer Betonung als neue »Stifte« an die Stelle der Klöster treten. Auch im Bau »gelobter« Kirchen und in manchen anderen öffentlichen Aufgaben bleibt die Struktur des Vorgangs altertümlich: Ein Stiften des Bauwerks für einen konventionellen guten Zweck durch die großen Herren, die damit zugleich ihre Devotion und ihre Freigebigkeit (eine ausschüttende Liberalitas) erweisen4. Der gute Zweck wird selber wieder durch Anrufung und Darstellung eines heiligen oder eines mythologischen Modells formuliert. Im Rühmen des »Großen Menschen«, für die Renaissance und noch für Ruskin der Hauptsinn der Kunst, ist doch immer ein entliehener Ruhm gemeint, nämlich Herkunft von den Vorbildern und Verwirklichung von Vorbildern, Gestiftetsein und Stiften. Die barocke Glorie des Menschen ist letzt2

W . Hager, Das geschichtliche Ereignisbild, 1939. Vgl jetzt H. Bauer, Zur Ikonologie der Deckenmalerei des süddeutschen Rokoko, ein Vortrag, der im Münchener Jahrbuch der bildenden Kunst gedruckt werden soll. 4 Ein Beispiel für viele: Tafel III. (Auf der Schatztruhe rechts ist im Relief die Devotion dargestellt.) 3

5 Rassem

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lieh eine, obschon extreme Ausformung des »Rühmens«, das zum Wesen des »Festes«, also zur eigentlichen Quelle der Künste gehört. Und es gelingt, diese Verherrlichung mit der Gloria Dei zu verknüpfen. Noch Ruskins Kunstlehre eint in einem letzten Aufschwung die »heroistische«, wenn der Ausdruck erlaubt ist, mit der calvinistischen Glorie6. Die mythologischen Programme des Prinzipaten- und Fürstentums konstruieren zwar eine, wie gesagt, mehr gelehrte als geglaubte Stiftung, die pathetisch-allegorisch ist, aber bisweilen sogar etwas märchenhaftes annimmt, etwa in den Grotten oder in gewissen Stadien der Malerei und Plastik8. Mit der wirklich mythischen Stiftungssage hat dies doch etwas gemeinsam: Die »Aussage über das Wesen einer Erscheinung basiert auf dem besonderen Wesen dieser Erscheinung selbst; und der Weg zu ihrer Formulierung ist das anschauliche Erlebnis dieser Besonderheit, das die schöpferische Kraft, die das So-Sein einer Erscheinung hervorgebracht hat, in dieser selbst noch gegenwärtig sieht«7. Diese Formulierung trifft auf das Kunstwerk zu, das die mythische oder historische Vergangenheit seines Gegenstandes mit dessen Erscheinung (in der Phantasie oder in der Wirklichkeit) zu identifizieren trachtet. Es ist dasjenige Kunstwerk, dessen Ikonologie mit der Form zusammenpaßt oder konvergiert. Kunstwerke sind weithin Weihegaben, Votive, Geschenke, Darbringungen — in einem eigentlich religiösen oder in einem mehr äußerlichen Sinn. Sozialhistorisch bedeutsam ist, daß die Ansammlung freien und großen Eigentums in den Händen bestimmter Schichten zu solchen Gaben verpflichtet — und dann bedeutendere künstlerische Unternehmen zuläßt. Als auetor oder factoi, als Schöpfer des Bauwerks wird im Mittelalter bekanntlich der Bau-Hen, nicht der Ausführende genannt. Und in zeitgenössischen Beschreibungen finden wir Aussagen über Wert und Würde des frommen Werkes dieses Stifters, weniger solche über das Aussehen des Kunstwerks im einzelnen.8 Die Bau-Verwalter (opeiarii usw.) bilden eigentliche Treuhand5

Ruskin, Lectures on Art 1870, chap. II. W. Morlang, Die Beziehungen zwischen Kunst und Religion in den Werken Ruskins, Diss. Marburg 1934, 55 ff. 6 Im Epilog der Epoche künstlerisch stark zu spüren, z. B. im Königsmonument der Schwanthaler-Schule am Münchener Odeonsplatz. Vgl A. Feulner u. Th. Müller, Geschichte der deutschen Plastik, 1953, 619 f. 7

Ad. E. Jensen, Mythos und Kult bei Naturvölkern, 19s 1, 89. Darüber treffend K. Mugdan, Unters, über das wertende Verhalten zum Kunstwerk, Diss. Ms. Heidelberg 194a, I 55 ff. 8

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Gesellschaften für die Summe der privaten frommen Gaben, Seelgerätstiftungen usw. Viele Geldstiftungen (deren treuhänderische Verwaltung dann ein Rechts- und auch Machtproblem ist) werden gemacht für und vor Bildern, Fresken, Kreuzen, Heiligenstatuen, Altären, die also eng mit dem System dieser Darbietungen verknüpft sind.9 Der körperschaftliche Charakter dieses Treuhänderwesens ist zum Beispiel an der Opera des Florentiner Domes erkennbar, die eine Art von Laienkonvent ist und ein eigenes Haus besitzt (für das Klausur gilt), in dem die Baukommissionen tagen und festmahlen10. Stiftung umschließt also nicht allein einen Wert-Gegenstand, sie begründet vielmehr eine Korporation zwischen Menschen, in welcher die gestifteten Gegenstände ihre Bedeutung haben. Loca pia sind weithin auch loca collegiata. Dieses Moment wird der Soziologe wie der Historiker etwas stärker betonen müssen, als das moderne Rechtsdenken es tut, dessen Stiftungsbegriff dem Deutschen im Bürgerlichen Gesetzbuch und in dessen Auslegungen entgegentritt. Die Stiftung rein als Vermögen oder als »juristische Person« aufzufassen und sie nicht mehr den Korporationen zuzurechnen — das ist ein Gedanke erst der Romanisten des 19. Jahrhunderts11. Der gesellschaftliche Charakter der Stiftung blieb deutlicher erhalten in der angelsächsischen Rechtsüberlieferung, welche den Menschen in den Vordergrund schiebt, nämlich die »natürlichen Personen« Treuhänder und Benefizempfänger12. Von der Vergleichung deutschen, englischen, kolonialenglischen und islamischen Rechts sind denn auch die ersten Untersuchungen ausgegangen, welche die weite Bedeutung der Stiftung als einer Grundform skizziert haben13. Die Stiftung ist »Institution« in jenem weiten Sinne, den man diesem Worte in der Soziologie beilegt. Zum Wesen und Begriff der Institution gehört ein Moment der Einung, des Kontrakts, der Konstituierung, der Begründung — man hat es die »Fundation« genannt14, nicht zufällig mit einem Aus9 S. Schröcker, Die Kirchenpflegschaft, 1934, z. B. 60, 68 f. — Für Operarius auch Custos (karolingisch), Procurator, Provisor, Baumeister (heute noch im Sinn von »Verwalter«), Pfleger. Siehe P. Booz, Baumeister der Gotik, 1956, 26 f. 10

Hauptdokument bei G. Filippi, L'Arte dei Mercanti di Calimala in Firenze, 1889, 76 ff. (Vgl auch A. Grote, Das Dombauamt in Florenz, Diss. München i960, 25 ff.) 11

Wie Otto Gierke, Deutsches Privatrecht, 1895,1 § 78 feststellt.

12

H. M. Roth, Der Trust, 1928.

13

J. Kohler, im Archiv für bürgerliches Recht III, 1890. (Vgl auch Kohler, Lehrb. d. bürg. Rechts 1,1904, § 1 3 1 , 1 8 0 ff.) 14

M. Hauriou, Théorie de l'Institution et de la Fondation, 1925 (Cahiers de la Nouvelle Journée 4).

5

67

druck, der in den westlichen Sprachen auch die Stiftung im engeren Sinn bezeichnen kann. Faßt man aber diese spezifischeren Fundationen [pia causa, Treuhand, waqf usw.) ins Auge, so werden die entscheidenden Züge der Institutionen besonders anschaulich und konkret 15 . Die Frage nach den Institutionen der Gesellschaft ist vielfach nichts anderes als die Frage nach deren »Bewußtseinsformen«16. Das sichtbare Kunstwerk ist ebenso wie das hörbare, gesprochene eine besondere Verdichtung und Formung, Richtung des Bewußtseins — mithin potentiell Vehikel der Institution, die als Stiftung erscheint. Ein wesentliches Motiv von Stiftungen ist es, die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben für die Zukunft zu sichern, seien das kultische oder praktische Aufgaben. Zu dieser Sicherung gehört auch ein gebauter Ort für den Vollzug und ein Bild, das die Sakralität der gesetzten Verpflichtung dartut. Das Kunstwerk hat also Anteil an jener den Stiftungen eigentümlichen Verklammerung von Vergangenheit und Zukunft, an einem Zeiterlebnis, auch einer Zeitrechnung höherer Art 17 . Es wirkt mit an der Bestimmung, Zielgebung, eigentlich Spiritualisierung materieller Güter. Diese Rolle entspricht seinem eigenen materiell-ideellen Wesen. Nun findet man aber, daß sakrale Bildwerke, die von Menschen gemacht wurden, als eine Stiftung höherer Art angesehen werden, als vom Himmel gefallen oder sonst auf übernatürliche Weise den Menschen geschenkt. Es sind dies Bildwerke, in denen eine wundertätige oder andere Macht wirkt, in denen also ein konkretes Einbrechen des Heiligen, eine Hierophanie ist18. Die Frage, ob in der Gestaltung dieser Bilder eine Voraussetzung ihrer höheren Eigenschaft liegt und welcher Art sie ist, wagen wir nicht zu erörtern. Aber eine Gruppe, die mit Kunst im engeren Sinne zu tun hat, kann man jedenfalls absondern: In einer zweiten Phase wird ein sakrales Zeichen durch ein Kunstwerk ersetzt, ausgestaltet. Der heilige Ort wird von der Architektur neu umbaut. In der hingebenden Arbeit des Künstlers und im Auftrag des Donators vollzieht sich wiederum eine menschliche Stiftung und auch die Hinordnung der ästhetischen Form dieser »zweiten« Gestalt auf das ursprüngliche Ereignis hin ist als künstlerisch zu begreifen. Kunst ist die »dauernde 1 5 Allgemeine Bemerkungen zur sozialen und sozialwissenschaftlichen (paradigmatischen) Bedeutung der Stiftung: M . R., Entwurf einer Stiftungslehre, Graz 1952, u n d Die Stiftung als Modell, in Antaios I, i960.

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16

W i e W. Adorno, Prismen, 1955, 83 in seinem Vehlen-Vortrag bemerkt.

17

Vgl H. Sedlmayr, Kunst u n d Wahrheit, 1958, VI (Wahre und falsche Gegenwart).

18

G. v. d. Leeuw, Phänomenologie der Religion, 2. A . 1956, § 65,3.

Gegenwärtigsetzung des Numinosen«19, sie setzt also voraus oder bewirkt, daß ein bestimmtes erschienenes Numinosum bewahrt werde. Das Erlebnis dieser Erscheinung hat selbst schon latent »bildhaften« Charakter. Und die Entscheidung zu dieser Bewahrung ist eine »Stiftung«. »Die Handlung des Kultus selbst beginnt mit der reinen Hingabe eines Besitzes — die bildende Kunst tritt auf, wenn der Andacht ein gegenständliches Bestehen gegeben wird«20. Eine Hauptaufgabe der Baukunst ist es also, das Gestiftetsein, den geweihten Charakter des Raumes, in dem die Gemeinschaft lebt, nachzugestalten. Besonders erfaßt werden die ausgezeichneten Orte dieses Raumes, in denen sie sich begegnet. So muß man auch die öfters anzutreffende Nachahmung Jerusalems, Roms, Athens in der europäischen Stadtanlage und in Hauptbauten noch auffassen. Wie in der einfachsten Stiftung für den Totenkult eine Garantie für die Zukunft liegt, so liegt in solchen »Unterstellungen« eben auch das Aufstellen von Aufgaben, denen die Gesellschaft verpflichtet bleibt, also eigentlich etwas Lebensnotwendiges. Gesellschaft wird durch bildende Kunst als gestiftet dargestellt. Die bildende Kunst tritt in den Dienst der Selbstdarstellung der Gesellschaft als Stiftung. Vielleicht fällt aus dieser Feststellung — und anderen, die wir gemacht haben — Licht auf die Gesellschaft wie auf die Kunst. In einer streng szientifischen Soziologie macht man es sich oft zur Pflicht, nur Begriffe zu benützen, die vorher präzis definiert wurden, und hofft so gewissen Schwierigkeiten zu entgehen. Wir haben hier einen anderen Ausweg genommen und »Gesellschaft«, »Kunst«, »Publikum« in einem möglichst unentschiedenen Sinne gebraucht, in der Annahme, es würde sich bestenfalls am Ende der Erörterung Einsicht in den eigentlichen Inhalt der verwendeten Begriffe ergeben, deren Gebrauch durch das Verständnis der Sachen schließlich doch modifiziert wird.

19 20

H. Sedlmayr, Epochen und Werke I, 1959, 7 ff (aus Historia Mundi I). V. d. Leeuw § 57. Hegel, Phänomenologie des Geistes C VII B a ß , Ausg. Hoffmeister, 195a, 500 f.

69

Ii.

ZUSAMMENWIRKEN

In den großen Wörterbüchern sieht es oft so aus, als würde ein Wort gleichzeitig und »eigentlich« sehr vielerlei bedeuten. Man wird sich dadurch nicht zu falschen Schlüssen verleiten lassen1. Aber es ist doch aufschlußreich sich klar zu machen, wie viel im 16. Jahrhundert durch Geschicklichkeit, Schicken und seine Ableitungen ausgedrückt werden kann. Der begrenzte Sinn, von dem wir zu Anfang ausgingen, erweitert sich durch die alte Sprache ganz von selbst: Geschickt ist gestaltet, bene formatus, aber auch empfänglich (der heilige Geist kommt in die geschickte Seele); es meint nicht nur passend und geübt, sondern auch fähig oder begabt. Schicken ist ins Werk setzen, aber auch etwas begreifen, ist reimen, ordnen, concinnaie. Wenn es im Sinn von institueie, von testamentarisch bestimmen, von auferlegen oder fügen (Gott schickt) gebraucht wird, so bedeutet es etwas ähnliches wie »stiften«2. Es ist eine Wortgruppe, deren Geschichte interessanter für den Begriff der Kunst ist als das Wort Kunst selbst. Man sagt »sich in etwas schicken« im Sinn von »sich einfügen«. Und auf diesen Aspekt der Geschicklichkeit sei — als Ausblick — noch hingewiesen. Der »Geschickte« ist ein sich einfügender. Welche Beziehung hat der Künstler zu seinem Publikum, für wen arbeitet er, für wen will er arbeiten? Für welche Aufgaben und für welche Personen vermag er sich zu erwärmen, zu erregen? Es ist so oft raisonierend geschildert worden, wie Künstler mit den ihnen aufgezwungenen Aufgaben und Kunden uneins sind, daß es interessant scheint, grundsätzlich zu klären, worauf ein ideales Verhältnis begründet sein müßte. Auch die Tätigkeit des Künstlers ist wie die des Genießenden von Sympathien bestimmt. Diese können mit seinen Bindungen übereinkommen oder nicht. Als elementaren Fall wird man annehmen, daß jemand ein Werk für eine bestimmte Person schafft, der er zugetan ist. Aber unter welchen gesellschaftlichen Zuständen eröffnen sich Chancen für eine solche Beziehung und in welcher Weise? Künstlerische Arbeit für die Familie, die Sippe, einen nächsten Verband, ohne Entgelt oder doch ohne direktes, handelsartiges Entgelt — diese Situation treffen wir im Europa der neueren Zeit nur im Bereich der 1 2

M. R., Allgemeines zur Wortbedeutungslehre, in Hefte hg. v. H. Sedlmayr III, 1956.

Grimms Deut. Wb. 4 I 2, 3870 ff u. 8, 2644 ff. Vgl Trübners Deut. Wb. In Maximilians Weisskunig ist das Wort Geschicklichkeit häufig, siehe z. B. den Text zu unserer Tafel IV.

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Volkskunst und im Dilettantismus an. Vom eigentlichen, berufsmäßigen Künstler kann man nur in Ausnahmefällen sagen, daß er für »seine Nächsten« schafft. Auf der barocken Stufe ist der Künstler vielfach noch Klient eines Mächtigen, oft sogar in den Haushalt einbezogen, mit Nebenämtern betraut, durch Sachleistungen wie z. B. Wohnrechte entlohnt3. Selbst dann, wenn der Künstler nicht gerne der Trabant seines Fürsten oder Abtes ist, er seine Bindung an ihn also nicht mit voller Sympathie erfüllen kann, so ist er doch nicht einfach ein Mann, der fremden Menschen gegen Bezahlung Bildwerke verkauft. Er ist in ein Verhältnis eingetreten, das den Abglanz eines familialen Verhältnisses hat, das vom Glanz und vom Pathos der Verehrung und anderseits des Gönnens gar nicht getrennt werden kann. In dieser Struktur liegt für den Künstler ebensoviel oder mehr Möglichkeit zu einer von Sympathie erfüllten Beziehung zu seinem »Abnehmer« als in der freien Situation des 19. und 20. Jahrhunderts. In dieser ist es manchem Künstler schmerzlich, sein Werk an jemanden zu geben, der ihm nicht sympathisch ist. Die atomisierte Gesellschaft fügt ihn in keine Institution und so kann ihm nur der Zufall zu Hilfe kommen, es kann nur persönliche, private Lösungen dieses elementaren Problems geben. Um so bedeutungsvoller als Ersatz ist die Gesellschaft der Kunstenthusiasten und die Gemeinschaft der Künstler — es kann da wenigstens gelegentlich und symbolisch ein Werk verschenkt oder vertauscht4 werden. Der Künstler steht in einem Verband mit Nichtkünstlern und in einem mit Künstlern. Wie ist es möglich, daß aus dem Zusammenwirken mehrerer hohe Kunstwerke hervorgehen können? Die dienende Stellung und doch sensible Leistung des Hand-Werkenden, der differenzierte, aber doch unkörperliche Einfluß geistlicher (gelehrter) und fürstlicher Auftraggeber — es bleibt dies für uns eine rätselvolle Vergesellschaftung. Fehlen uns zu einem Verstehen dieser anderen Bewußtseinslage nicht alle inneren Erfahrungen ebenso, wie genügende Quellenaussagen? Gewiß werden heute einige sozialpsychologische Kategorien benutzt, die irgendwie das Problem der ständischen Ordnung und Bewußtseinslage bezeichnen — etwa die Rolle, die den marxistischen Begriff der sozialen Chaiakteimaske und den protestantischen des auferlegten 3

R. Crozet, La Vie artistique en France au XVII e siecle, 1954.

4

Bezeichnende Wunschidee van Gogh's (N. Pevsner, Gemeinschaftsideale unter den bildenden Künstlern des 19. Jh., in Deut. Viertel)ahrsdirift für Literaturwissenschaft 9, 1931, 140 f).

71

Bemfs (im »Welttheater«) abgelöst hat. Es gibt, angeregt schon durch Adam Smith, auch eine große soziologische Literatur über Arbeitsteilung — ein Ausdruck, der etwas mißverständliches hat, da es in der Geschichte »niemals eine Einheit und Ganzheit Arbeit gegeben hat, die dann später zu irgendeinem Zeitpunkt geteilt worden wäre«5. Hegel, der Arbeitsteilung einmal als »Abstraktion der Geschicklichkeit und des Mittels« formuliert hat8, führt uns von der Geschichte des Bewußtseins, von der »Phänomenologie des Geistes« aus an das Problem heran. Auch der institutionelle Aspekt ist im 19. Jahrhundert erkannt worden: Nach den Romantikern und den Nazarenern hat noch die präraffaelitische Bewegung theoretisch klar erfaßt, daß die alte Kunstwelt, die in einem Geist des Dienens und der Kooperation wirkte, diesen Geist nur aus bestimmten sozialen Einrichtungen heraus entwickeln konnte. Man hat sich mediaevale und auch exotische7 Vorbilder solcher Institutionen vor Augen gestellt und ihren Dienst- und Stiftungscharakter verstanden. Aber die soziale und praktische Reform endete eben doch in einem »Jugendstil«, sie war mehr eine Erneuerung der Gesellschaft durch Handwerklichkeit, als eine Erneuerung des Handwerks aus dem Geiste.8 Die Sicherheit der praktischen Synthese zwischen den Künstlern selbst (also der verschiedenen Handwerker mit dem Architekten) am großen barocken oder gotischen Bauwerk beruht nicht auf einem Vorschreiben oder Vorzeichnen jeder Einzelheit. Die Voraussetzung dieser Arbeitssynthese ist das Prinzip der »relativen Kanonisierung« der manuellen wie der disponierenden Disziplinen. In der Musik ist ja ein Zusammenspiel ohne völlig ausgeschriebene Partitur auf Grund allgemeiner Regeln und Usancen möglich, in der Stegreifkomödie auf Grund einer festen Phraseologie und feststehender Aktionstypen. In der Baukunst muß der enge persönliche Zusammenhang in Hütten und Fabriken, die Monopolstellung gewisser Schulen, ganz allgemein aber der Mangel an Ablenkung das intimste Verständnis ermöglicht haben. 5

H. Marcuse, Philosophische Grundlagen des Arbeitsbegriffes, in Archiv für Sozialwiss. und Sozialpolitik 69,1533, 285. 8

H. Freyer, Bewertung der Wirtsdiaft im 19. Jahrhundert, 2. A. 1939,17.

7

Zum Beispiel das Buch des jungen Ananda Coomaraswamy, The Indian Craftsman, London 1909 (mit einer Vorrede C. R. Ashbees, der zum Morris-Kreis gehört). Dort über co-operation (foreword, chap. I), feudal craftsman (chap. III), Entlohnung der Künstler in einem Stiftungsfestakt (chap. V) usw. 8

Zum Problem der Kooperation in der heutigen Praxis z. B. W. Gropius, Architektur — Wege zu einer optischen Kultur, 1956, Kap. 7 u. 8.

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Jene großen Meister der Malerei und Skulptur, die das Schicksal hatten, frei und auf sich gestellt zu arbeiten, sind als Persönlichkeiten mächtiger, ihre Werke sprechen eine lebendigere Sprache. Abhängige Künstler und Künste, die auf einer gewissen Verfestigung des Geistes beruhen, entwickeln die Kraft des Dienens, sie werden groß durch ihre Einordnung.

73

ZU DEN

BILDERN

TAFEL I (BEI SEITE 16) Ais und Usus, Stidi von Hendrick Goltzius, 1582, aus einer Serie »Wege zum Glück«. Die anderen Blätter: Honor und. Opulentia, Diligentia und Labor, Quies. Ähnliche »Vereinigungen« in anderen Serien, etwa Foititudo und Patientia. (Hirsdtimann, Goltziusverzeichnis, 1921, Nr 123. Hollstein, Dutch Engravings VIII 26.)

TAFEL II (BEI SEITE 32) Apollon Protecteur des Arts, Entwurf Augustin Pajou's zu einem Holzrelief, um 1769, zur Dekoration der Oper in Versailles gehörend, angebracht über der Tür, durch die der König das Theater betritt. (Mit freundlicher Erlaubnis des Musée des Arts Décoratifs, Paris. Zeichnung in Blei und Bister, Inv. Nr. 842, etwas verkleinert. Vgl. Nolhac, Histoire du Château de Versailles au XVIIIe siècle, 1918, 39, 189.)

TAFEL III (BEI SEITE 48) Ferdinand I, Herzog von Toskana als Bauherr und Restaurator, Stich des jungen Jacques Callot, um 1615, angeblich nach einem Gemälde Mateo Rosellis. Aus einer Serie »Taten der Medici«. (Etwas verkleinert. Meaume Nr. 536. Lieure II, 1 Nr. 149.)

TAFEL IV (BEI SEITE 64) Kaiser Maximilian in der Malerwerkstatt, Holzschnitt von Hans Burgkmair, um 1512, aus dem »Roman« Weisskunig. Zugehöriger Text: »Die lust und die geschiddidikeit so er (d. h. der König) in angebung des gemelds gehabt und bei (sc. »durch«) seinen ingeni die pesserung desselben.« Damit ist die Grundbedeutung des Bildes gegeben. Die Geste des Kaisers kann also kaum als »Gruß« eines »soeben Eintretenden« verstanden werden; wenn schon ein »Moment« gewählt wäre, dann der des Fortgehens, zu dem der Hund aber vergeblich zieht. (Musper, Kaiser Maximilians I Weisskunig, 1956, II Nr 30,1 47, vgl I 228 Nr 29.)

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AUTOREN-VERZEICHNIS Für jede Publikation wird auf eine Stelle verwiesen, an welcher der Titel (bzw. Fundort) genannt ist Abeken 13 Adorno 68 Antal 8 Argan 55 Aristoteles 22 Ashbee 72 Ayad 50 Barth 51 Bauer 65 Bayer 60 Becker 38 Bienert 24 Bloch 44 Blunt 21 Booz 67 Branford 44 Bruyne 28 Bucher 17 Burckhardt 24, 32, 60 Cassirer 15 Castelli 55 Chaldun 50 Chastel 63 Colasanti 21 Coomaraswamy 43, 72 Corbin 51 Courajod 14 Crozet 71 Davidsohn 17 De Bruyne 28 Deku 52 Dempf 33 Descartes 18 Dollard 43 Dorries 19

Dresdner 18 Dreyss 50 Dubos 29 Duncan 2 Dunkmann 2 Dürr 24 Egger 64 Eisermann 47 Eisler 23, 43 Eliade 54 Fegers 52 Ferber 14 Feulner 66 Filippi 67 Francas tei 33, 5$ Freyer 72 Gierke 67 Goethe 17 Gotshalk 29 Graf 19 Grassi 50 Grimm 33 Gropius 72 Grote 67 Gruber ss Guardini 33' Gurvitch 38 Guyau 44 Hager 65 Hamann 2 6,45 Hauriou 67 Hauser 8 Hegel 3,69 Heidegger 32, 55 Hirschmann 75 Hollstein 75

Huxley 46 Isidor 28 Jedin 53 Jensen 66 Jerrentrup 34 Johann 26 Jünger 17 Justi 41 Kallen 5 Kant 51 Kamil 50 Kerényi 41 Klein 38 Kliger 3, 5 Knorr 33 Kohler 36, 67 Kris 12 Kriss-Rettenbeck 40 Kuhn io, 31 Kurz 12 Ledoux 7 Leibniz 28 Letsch 64 Leeuw 68 Louis XIV 50 Lützeler 21 Mannheim 9 Marcuse 72 Mauss 14 Mengs 41 Mierendorf 2 Miller 43 Montalembert 19 Morlang 66 Moser 13

Mugdan 20 Müller 66 Müller-Armack 8 Mumford 7 Musper 75 Naz 34 Needham 2 Nolhac 75 Odebredit 31 Oediger 20 Panofsky 31 Paulsson 8 Pevsner 2 7 , 7 1 Piper 9 Piaton 23 Popper 62 Proudhon 9 Rassem 68, 70 Read 22 Rettenbeck 40 Riegl 7 , 1 7 Riehl 13 Rosenstock 38 Roth 67 Rothacker 58 Rousseau 3 Rüfner 24 Ruskin 26, 66 Salisbury 26 Sartre 48 Sauermann 2 Saunier 36 Schefold 40 Scheler 27, 51 Sdileiermacher 3 1

77

Schlosser 20 Schröcker 67 Sedlmayr 3, 61, 69 Semper 17 Seneca 31 Shaftesbury 3 Simmel 55 Sorokin 8 Spann 48 Stark 9 Steinbömer 5

78

Steinen, Karl 42 Steinen, Wolfram Swartwout 19 Tagliabue 55 Tarde 44 Taylor 3 6 Teuber 29 Tigler 24 Tost 2 Treitinger 59

Trübner 70 Ulmer 37 Utitz 4 Van Gogh 71 Van der Leeuw 68 Von den Steinen, K. 42 Von den Steinen, W. 6

Waentig 4 Walpole s Walzel 24 Weber 47 Weidle 27, 28 Wiese 47 Winckelmann 41 Witte 35 Wolff-Windegg 59 Würtenberger 18

INHALTSÜBERSICHT

Vorwort

VII

1. Einleitung (I-IV)

i

2. Geschicklichkeit

n

3. Bewertung der Geschicklichkeit (I-II)

. . .

18

4. Zwischenbemerkung

29

5. Aufgabe, Öffentlichkeit, Schutz

31

6. Zeichen

37

7. Nachahmung (I - II)

43

8. Lehren, Rühmen, Benennen

51

9. Begegnung (I-II)

55

10. Stiftung

64

1 1 . Zusammenwirken

70

Zu den Bildern

75

Autoren-Verzeichnis

77