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German Pages 168 Year 1990
Johann Heinrich Jung-Stilling
Gesellschaft, Leben und Beruf
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Herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von
Dr. Gerhard Merk
Universitätsprofessor in Siegen
Duncker & Humblot · Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Jung-Stilling, Johann Heinrich:
Gesellschaft, Leben und Beruf: Geschichten aus dem "Volkslehrer" I Johann Heinrich Jung-Stilling. Hrsg., eingeleitet u. mit Anm. vers. von Gerhard Merk. Berlin: Duncker u. Humblot, 1990 ISBN 3-428-06916-1
Alle Rechte vorbehalten
© 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41
Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-06916-1
Das Erscheinen dieses Buches wurde durch Spenden der folgenden, der Person und dem Werk von Johann Heinrich Jung-Stilling in besonderer Weise verbundenen und der Pflege seines Erbes vorzugsweise verpflichteten Persönlichkeiten ermöglicht: Herr Architekt Diplom-Ingenieur Robert Arnold, Kaiserslautern Herr Dr.-Ing. Reiner Bonnenberg, Aachen Herr Rechtsanwalt Wolfgang Christ, Kaiserslautern Herr Dr.med. Bernhard Herr, Kaiserslautern Herr Arzt für Augenkrankheiten Dr.med. Friedel Junker, Kaiserslautern Herr Arzt für Urologie Dr.med. Karl-Heinz Kock, Kaiserslautern Herr Reinhard Matissek, Kaiserslautern Frau Studiendirektorin Dr. Hildegunde Prütting, Kaiserslautern Herr Oberstudiendirektor Artbur Schank, Kaiserslautern 5
Herr Geschäftsführer Horst Schank, Kaiserslautern Frau Ärztin für Allgemeinmedizin Dr.med. Charlotte Sikorski, Kaiserslautern Herr Rechtsanwalt Justizrat Kurt Theisinger, Kaiserslautern Herr Zahnarzt J ürgen Ziegler, Kaiserslautern Aufrichtig gedankt sei ferner dem Vorstand des Vereins zur Förderung des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften der Universität-Gesamthochschule-Siegen e. V. zu Siegen sowie dem Stiftungsrat der Internationalen Stiftung Humanum zu Bern für einen Zuschuß zur Drucklegung.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . .
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Veltens selbstverschuldetes Unglück
15
Das Gespensterschloß in Elsaß
22
Hausfrau und Dienstpersonal
29
Aufgeklärte Kinder . . . . Wozu der Neider fahig ist
36 40
Unterdrückte Berufswünsche
50
Trauriges Schicksal eines Auswanderers
57
Folgen falscher Erziehung . . . .
65
Mehr Ansehen für den Bauernstand
Seltsame Fügung . . . . . .
72 84 89 104
Zweierlei Arten von Reichtum
108
Gesellschaftliche Aufsteiger
113
Falsche Weihnachtsbräuche Aufstieg und Abstieg eines Schulmeisters
Die Luftfahrt hat begonnen
117
Gefährliche Heilmittel . . .
120 126 135 138 158 163
Derbe Roheit pflanzt sich fort Ehescheue Männer Muster einer Arbeitsschule Dunst als himmlisches Signal? Sachregister
Vorwort Johann Heinrich Jung (1740-1817), der Weltweisheit und Arzneikunde Doktor, entstammt einer Bauern- und Handwerkerfamilie des Fürstentums Nassau-Siegen (heute Kreis Siegen-Wittgenstein des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen). Der frühreife, hochbegabte und regsame Knabe begleitet zeitig schon den Großvater in die Wälder. Dieser betreibt das Köhlerhandwerk. Auch muß er bereits als Kind in der häuslichen Landwirtschaft mithelfen. J ung-Stilling besucht vier Jahre die Grundschule und danach fünf Jahre die Lateinschule. Der 15jährige wird zunächst Schulmeister. Er übt dieses Amt- zu der Zeit eher noch eine Nebenbeschäftigung - in verschiedenen Orten seiner Heimat aus. Vom Vater lernt er das Schneiderhandwerk und die Knopfmacherei. Der Patenonkellehrt ihn die Geodäsie. Jung-Stilling arbeitet bei guter Auftragslage auch als Vermessungsgehilfe. Intelligenz, Begabung, Gewecktheit, Lernwille und Aufstiegsdrang regen Jung-Stilling zu umfangreichen Selbststudien an. Sein wacher Blick durchdringt sehr genau die wirtschaftliche Lage und das soziale Befinden seiner Heimat, eine der damals wichtigsten Montanregionen Europas. Davon zeugen viele spätere Abhandlungen. Ein Zentrum der Metallverarbeitung hatte sich um 1760 an der Wupper herausgebildet. Dorthin zieht Jung-Stilling im Alter von 23 JahreiL Er wird die rechte Hand eines bedeutenden Fabrikanten, Gutsbesitzers und Viehhalters, der gleichzeitig auch europaweit Handel trieb. Sieben Jahre bleibt Jung-Stilling in dieser Stellung und lemt dabei gründlich alle Sparten der Betriebswirtschaft kenneiL Autodidaktisch hatte sich J ung-Stilling in die Medizin eingearbeitet und war in seiner Freizeit mit Erfolg als Laienarzt (besonders flir Augenleiden) tätig geworden. Das weckte in ihm den Wunsch, sich ganz der Medizin zu widmen. Nach einem Studium von nur drei Semestern legt er an der
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Universität Straßburg mit Auszeichnung das Examen ab und erwirbt die medizinische Doktorwürde. In Straßburg tritt er auch in näheren Verkehr mit Johann Wolfgang Goethe und Johann Gottfried Herder. In erster Ehe heiratet Jung-Stilling die Tochter eines Textilfabrikanten an der Wupper und läßt sich 1772 als Arzt ftir Allgemeinmedizin und Geburtshilfe in WuppertalElberfeld nieder. In seinen Mußestunden hält er medizinische Vorlesungen ftir Laienärzte und verfaßt theologische sowie literarische Werke. Weithin bekannt wird er durch den ersten Teil seiner Lebensgeschichte, die Goethe zum Druck beförderte. Bis heute blieb dieses Buch ein Bestseller 1 . Aber der vielgeleisige J ung-Stilling beschäftigt sich auch eingehend mit technisch-ökonomischen Problemen. Er veröffentlicht mehrere Aufsätze zu Fragen der gewerblichen Wirtschaft. Dies sowie seine umfängliche Erfahrung als Handwerker, Feldmesser, Lehrer, Kaufmann und Arzt trägt ihm 1778 unerwartet einen Ruf als Professor für praktische ökonomische Wissenschaften an die Kamera! Hohe Schule nach Kaiserslautern em. Ein Vierteljahrhundert bleibt nun Jung-Stilling im Hauptberuf akademischer Lehrer für Wirtschaftswissenschaften. Von Kaiserslautern zieht er 1784 nach Heidelberg und erhält 1787 einen Ruf an die Universität Marburg. J ung-Stilling verfaßt ein Dutzend Lehrbücher 2 und schreibt zahlreiche Fachartikel. 3 Daneben wirkt er aber auch als Augenarzt; J ung-Stilling genoß den Ruf eines der geschicktesten Augenchirurgen seiner Siehe Gustav Adolf Benrath: Johamt Heinrich Jung-Stilling. Lebensgeschichte. Vollständige Ausgabe mit Anmet·kungen, 2. Aull. Dannstadt (Wissenschaftliche Buchgesellsdtaft) 1984. Fi"tr alle Zwecke ist dies die bei weitem beste Edition, allein schon wegen der sachkundigen Einleitung sowie den sorgfältigen Anmerkungen und Register. 2 Eine Blütenlese daraus findet sich im Jung-Stilling-Lexikon Wirtschaft. Berlin (Dwtcker & Humblot) 1987; dort audt ein Verzeichnis seiner ökonomischen Lehrbüdter. 3 Einige davon ersdlienen im Neudruck, so: Jolllmn Heim·idt JungStilling: Wirtschaftslehre und Laudeswohlstand. Sec.hs akademische Festreden. Berlin (Duncker & Humblot) 1988 sowie Johann Heinridt Jung-Stilling: Sachgeredttes Wirtsdtaften. Sedts Vorlesungen. Berlin (Duricker & Humblot) 1988.
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Zeit. Etwa 1 000 Menschen befreit er durch Operation aus Blindheit; gut 20 000 Menschen erteilt er augenärztlichen Rat. Jung-Stilling hatte sich besonders seit der Französischen Revolution von 1789 verstärkt theologischen Fragen zugewandt. Er verfaßte hierzu sowohl wissenschaftliche Werke als auch volkstümliche Schriften. 4 Bald steht er dadurch im Mittelpunkt einer ansehnlichen Gemeinde von "StillingsFreunden" in der alten und neuen \Velt. Ihnen wird er zum geistlichen Berater und Tröster in den schweren Kriegs- und Notzeiten, welche der Französischen Revolution folgten. Im Jahre 1803 gibt J ung-Stilling seine Professur in Marburg auf. Er wird Geheimer Rat in Geistlichen Sachen am Hofe des ihm geistig nahestehenden Großherzogs Karl Friedrich von Baden. Jung-Stilliug kann sich jetzt von Karlsruhe aus auch mehr seinen Augenkranken widmen und seelsorgerliehe Aufgaben wahrnehmen. Zeitlebens schrieb J ung-Stilling vor allem in dieser Zielsetzung an die 15 000 Briefe. Iu Karlsruhe stirbt Jung-Stilling 1817 und wird dort auch begraben. 5 Nachdem seine erste Frau 1781 in Kaiserslautern gestorben war, heiratet Jung-Stilling ein zweites Mal. Wieder Witwer, geht Jung-Stilling 1790 in Marburg eine dritte Ehe ein. Fünf Kinder sind in seinem Sterbejahr noch am Leben. Sieben Kinder waren ihm bereits im Tode vorausgegangen. Wie kaum ein anderer seiner schreibenden Zeitgenossen, kannte J ung-Stilling die Lebensverhältnisse der niedrigen VolksschichteiL Er hatte in seiner späteren Berufstätigkeit Gelegenheit genug, die Wahrnehmungen, Eindrücke und Erkenntnisse aus seiner Kindheit und Jugend zu vertiefen. JungStilling wußte genau um die Unwissenheit, den Begriffsmangel, die Geistesarmut, die Kurzsichtigkeit, die Urteilslosigkeit, den Aberglauben, die Traumwelt und die Luftschlösser, kurz: um das geistige Elend dieser Menschen. Ihnen durch "Aufklärung" zu helfen, ein menschenwürdigeres, besseres Leben zu führen, war ihm ein echtes Anliegen; ja: er fühlte sich gerade dazu von Gott besonders berufen. 4 Eine Blütenlese daraus findet sich im Jung-Stilling -Lexikon Religion.
Kreuztal (verlag die wielandschmiede) 1988. 5 Näheres zu seinem Leben siehe Ge1·ruu·d Merk: Jung-Stilling. Ein Umriß seines Lebens. Kreuztal (verlag die wielandschmiede) 1989.
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In dieser Absicht schrieb J ung-Stilling die Monatsschrift "Der Volkslehrer". Sie erschien vier Jahre lang von 1781 bis 1784. In diesem Jahr zog Jung-Stilling als Professor von Kaiserslautern nach Heidelberg. Die Arbeit wuchs ihm über den Kopf, und er gab die Zeitschrift in andere Hände. 6 Die hier wiedergegebenen Geschichten aus dem "Volkslehrer" zeigen das außerordentliche Erzählertalent von JungStilling. Sie führen uns aber auch mit großer Deutlichkeit die damaligen Lebensumstände und die Denkweisen der unteren Gesellschaftsschichten vor Augen. Damit erweisen sie sich zugleich als wertvolle sozialgeschichtliche Zeugnisse. 7 Alle folgenden Texte sind in jetzige Rechtschreibung gebracht. Den Heutigen schwer verstehbare Namen, Ausdrücke, Anspielungen und Redewendungen finden sich in Fußnoten kurz erklärt. Weitläufige, langfädige Sätze (bei J ung-Stilling leider die Regel) wurden behutsam getrennt. Einige wenige, inzwischen völlig fremd gewordene Wörter finden sich ausgetauscht. Ein paar holprige Stellen (bzw. solche, die man heute so empfindet) sind vorsichtig geglättet. Liebhaber des Originals seien auf dieses verwiesen. Die Zeitschrift befindet sich ganz in der Universitätsbibliothek Salzburg (Signatur: 162.073), steht aber für die Fernleihe nicht zur Verfügung. Eine Kopie davon auf 1\fikrofilm verwahrt das Siegerlandmuseum (Bibliothek, Oberes Schloß, D-5900 Siegen). Die Universitätsbibliothek in Basel (Signatur: Philos Zs. 260), die Bayrische Staatsbibliothek in 1\lünchen (Signatur: Per. 169 d) sowie die Universitätsbibliothek in Tübingen (Signatur: Ah V, 16) besitzt jeweils einzelne Jahrgänge des "Volkslehrers". Den "Volkslehrer" schrieb J ung-Stilling zu seiner Zeit in Kaiserslautern. Dort kam der bedachtsame, tiefsinnige Siegerländer mit der heiteren, unbesorgten Lebensart der Pfälzer in Berührung. Manche Frucht dieser Begegnung schlägt 6 Siehe hierzu die sehr gründliche und äußerst lehrreiche Studie von Otto W. Hahn: Jung-Stilling zwischen Pietismus und Aufklärung. Sein Leben und sein literarisches Werk 1778 bis 1787. Frankfurt am Main, Bern, New York, Pa~is (Peter Lang) 1988 (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXIII: Theologie, Bd. 344). 7 Eine andere Auswahl aus dem "Volkslelu·er" von Jung-Stilling ist bereits erschienen: Gesellsd1aftliche Mißstände. Eine Bliitenlese aus dem "Volkslehrer" Berlin (Duncker & Humblot) 1989.
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sich im "Volkslehrer" nieder. Aber auch Jung-Stilling hat die Menschen der Pfalz in vielfältiger Weise beeinflußt. Daß dieser Einfluß auch heute noch bewußt. ist, zeigt die Bereitschaft der im Widmungsblatt genannten "Stillings-Freundinnen" und "Stillings-Freunde" aus Kaiserslautern, dieses Buch zu fordern. Siegen, den 1. März 1990
Der Herausgeber
Veltens selbstverschuldetes Unglück* Ein rechtschaffener, ehrlicher, braver Mann zu Blaufelden 1 im Fürstentum Bockshorn hatte mit seiner Frau einen Sohn und eine Tochter gezeugt. Nun starb die Frau; er hatte sie sehr lieb gehabt. Er heiratete nicht wieder und erzog seine Kinder allein, wie es denn zu gehen pflegt. Er hatte alle seine Liebe auf die Kinder geworfen. Er erzog sie deshalb nicht sehr gut. Denn er ließ ihnen allen ihren Willen. Indessen waren beide Kinder gutherzig. Sie wurden nicht böse, sondern noch ziemlich ordentlich. Velten als sparsamer Kaufmann
Der Sohn hatte keine rechte Lust zu einem Handwerk, sondern er handelte lieber. Er fing also an, mit allerhand zu handeln. Bald kaufte er verschiedenerlei Vieh, bald trug er Ware auf dem Rücken. 2 Dabei war er ganz sparsam und brachte ein hübsches Kapitälchen zusammen. Aber wie es so zu gehen pflegt: die Sparsamkeit verleitete ihn, daß er am Morgen kein Frühstück nahm, sondern lieber ein Glas Branntwein trank. Das konnte er mit einem Kreuzer 3 bezahlen. Nach und nach kam er dadurch ans Branntweintrinken. Er trank sich alle Morgen ein kleines * Originaltitel: "Erschreckliche Folgen von der Tnmkenheit", in: Der Volkslehrer, Jahrgang 3 ( 1783), S. 435-444.
Ein Phantasiename; bestinunt nicht Blaufelden bei Crailsheim im Bundesland Baden-Württemberg. 2 Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts gehörten fahrende Händler (Hausierer, Kolporteure) mit Rückenkorb (Kiepe) zum gewohnten Bild auf den Wegen und Straßen europäischer Dörfer; zum Teil auch in Städten, ja selbst in Großstädten. Sie zogen von Haus zu Haus und boten vor allem Zutaten zum Nähen, Känune, Brillen, Arzneien, Kolonialwaren (Zucker, Kaffee, Tee, Tabak) und dergleichen "kurze Waren" (=kleine Gegenstände) feil. Oft trugen (Träger: französisch= porteur) sie Waren auch noch um den Hals (französisch = col; daher: Kolporteur). Über die Umsatzanteile der Hausierer am Endwarenhandel gesamthaft gehen die Schätzungen der Wirtschaftshistoriker auseinander. Unstreitig ist jedoch, daß der Hausierhandel auf dem flachen Land (außerhalb der Städte und ihres näheren Umkreises) noch zu Jung-Stillings Tagen der bedeutendste Träger der Endwarenverteilung war. 3 Es galt um 1780: 1 Gulden = 60 Kreuzer = 15 Batzen. Den Gulden setzte man (unbeschadet der verschiedenen Münzfüße) zwei Drittel Reichstaler gleich. Der Tagelohn für einen Arbeiter betrug 1782 (bei
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Räuschchen an und gab nun mehr Geld aus, als wenn er ordentlich sein Morgenbrot gegessen hätte. Indessen tat ihm das noch alles nichts. Denn er war sonst recht vorsichtig und sparsam im Handel. Einmal saß er auch des Morgens im Wirtshause und trank Branntwein. Ein Bauer kam herein. Der Handelsmann hieß Velten. Er sprach also den Bauer an, ob er nichts zu handeln hätte. Der Bauer setzte sich hin, und bald kamen sie in einen Handel wegen eines Ochsen. Nun tranken sie zusammen und wurden beide über den Handel betrunken. Velten ging mit dem Bauer in dessen Haus, um den Ochsen zu besehen. Nun kamen sie in Streit. Velten sagte in der Dummheit etwas, was den Bauern beleidigte. Das verstand der Bauer unrecht. Weil er stärker war, so schlug er den Velten schwarz und blau. Dazu traf er ihn auf ein Auge, so daß es zerplatzte. Velten konnte nicht weiter kommen als bis ins Wirtshaus; da mußte er liegen bleiben. Man ließ den Feldscher 4 kommen, der mußte ihn kurieren. Der Bauer freilich hatte alle Kosten zu zahlen. Aber der gute Velten hatte einmal die Schmerzen zu erleiden und war dazu noch um ein Auge gekommen. Er konnte damit nichts mehr sehen, und es schwor5 ihm aus dem Kopf. Nun sah er wohl ein, daß er das Unglück bloß dem leidigen Trinken zu verdanken hatte. Daher nahm er sich auch vor, er wolle sich seine Lebetage nicht wieder vollsaufen. Allein, nach und nach vergaß er die göttliche Züchtigung wieder. Er wurde abermals leichtsinnig und trank erneut wie vorher. Ja, er kam sogar noch stärker ans Saufen. Denn weil er nun reich wurde und glücklich war, so trank er auch Wein. Velten stürzt von einem Felsen Der liebe Gott sah eine Weile langmütig zu, ob er sich noch bekehren wollte. Aber endlich, weil alles nichts half, so kam die
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in der Regel zehnstünd.iger Arbeit) um die 25 Kreuzer. - Ein Glas 0,10 Maß = 0,15 Liter. 4 Wundarzt: nicht studierter Mediziner, der vorwiegend äußere Verle~ zungen behandelte. Im engeren Sinne bezeichnet Feldscher (scheren: hier = sich mühend um jemanden bekümmern) den Wundaczt im Militärdienst. 5 Schwor von schwären (auch: schwören) = eiternd schwellen. Als Augenarzt kannte Jung-Stilling solche Verwundungen sowie den Verlauf der Krankheit aus seiner praktischen Erfahrung.
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Strafe noch schwerer. Velten kam des Abends in einen Wald. Er war sehr betrunken und es war so finster, daß man keine Hand vor den Augen sehen konnte. Er tappte und taumelte im Finstern fort. Nun ging er irre und kam endlich auf einen Felsen. Weil er nun nicht sehen konnte, so trat er mit einem Fuße fehl und stürzte den Felsen herunter. Jetzt war er nüchtern. Er fti.hlte sich, als wenn er geradebrecht 6 wäre; alle Glieder am Leibe taten ihm weh. Er wollte aufstehen. Nun fand er aber, daß er beide Beine gebrochen hatte. Jetzt fing Velten an zu rufen und schreien. Er jammerte kläglich, weinte und bat Gott um Vergebung seiner Sünden. So lag er zwei Stunden. Endlich hörte ihn ein Kohlbrenner, der nicht weit davon bei seiner Hütte war und Kohlen brannte. 7 Dieser ging dem Jammern mit einer Fackel in der Hand nach und fand ihn erbärmlich daliegen. Aber was half es? Der Kohlenbrenner vermochte ihn nicht zu tragen, und Velten konnte auf keinem Fuße stehen. Der Kohlenbrenner mußte also wieder gehen und Leute zu Hilfe rufen. Darüber gingen abermals Stunden hin. Endlich brachte man den armen Velten geschwollen und ohnmächtig in das nächste Wirtshaus. Es gelang nochmals, ihn wieder zu kurieren. Er kam auch in so geschickte Hände, daß er wieder gerade wurde. Doch ging er sein Leben lang etwas steif.
Velten wird zum Beischlaf überlistet Nun tat er ein Gelübde, daß er nie wieder starke Getränke8 zu sich nehmen wollte. Das hielt er auch ein halbes Jahr lang. 6 Rad(e)brechen (rädern): die Glieder eines Verurteilten durch ein
schweres Rad zennalrnen. 7 Die Köhler lebten von Frühling bis zum Einbn~ch des Winters meistens die Woche hindurch in Unterkünften bei ihrem Meiler (so nannte man den mit einer feuerfesten Decke aus Lehm, Rasen und Reisig bedachten, kuppelförmigen Haufen aus regelmäßig aufgeschichteten Holzscheiten, die durch Glühfeuer verkohlt werden sollen) und kamen nur am Wochenende nach Hause. Denn die Meiler lagen oft mehrere Stunden vom Wohnort entfernt. Jung-Stilling ging schon im frühen Knabenalter mit dem Großvater die Woche hindurch in den Meiler; siehe Gustav Adolf Benrath: Johann Heinrich Jung-Stilling. Lebensgeschichte. Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen, 2. Aufi. Dannstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1984, S. 55 ff.
8 Den Begriff Alkohol und alkoholisch kannte man zu dieser Zeit in der heutigen Bedeutung noch nicht. Damals war das Wort Alkohol nur in der Alchimie geläufig und bezeichnete dort ein sehr feines Pulver.
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Aber allmählich fing er wieder an, Branntwein zu trinken. Doch nahm er sich fest vor, daß er nur zur Notdurft 9 trinken wolle. Kaum ein halbes Jahr dauerte es, so vergaß Velten alles wieder. Er kam so stark ans Trinken wie vorher. Das währte so eine Zeitlang. Sein Vater ermahnte ihn auch fleißig, er möchte sich doch nicht mehr trunken saufen, damit ihn Gott nicht noch härter strafe. Allein, es half alles nichts! Velten versprach immer, sich zu bessern, aber er tat es doch nicht. 10 Indessen war Velten nun ein Mann, der auf die dreißig Jahre hinrückte. Er hatte ganz schön Geld, war sonst ein guter Haushalter und wünschte nun zu heiraten, um eine eigene Haushaltung anzufangen. Ein Mensch, der Handlung treibt, sieht immer auf Geld. 11 So machte es auch Velten. Er hatte aber bloß ein Auge. Auch war er als Säufer bekannt. Daher kam es, daß brave Mädchen ihn nicht haben wollten. Diejenigen aber, welche ihn wohl genommen hätten, die mochte er nicht. Das war auch die Ursache, warum er nicht schon eher geheiratet hatte. Sein Saufen war also auch ganz allein schuld, daß er keine ordentliche Heirat tun konnte. Endlich war Gott abermals seines Lasters müde. Nun strafte er den Velten noch härter. In einem Dorfe, das ein paar Stunden12 von dem Ort lag, wo Velten in seinem Elternhaus wohnte, war ein dicker Weinhändler: ein Kerl, dem es ganz einerlei war, ob er mit Recht oder Unrecht Geld gewann. Er hatte gar kein Gewissen. Er tat in der Welt, was er wollte, soff dann auch wie ein Schwein und war deshalb weit und breit als schlechter Mann bekannt. 9 Nicht über das Nötige hinaus; bloß zum notwendigen, unentbehrlichen
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Lebensbedarf (durft = Bedürfnis, Mangel am Unentbehrlichen).
Die damalige Medizin hatte die Krankheitsart Sucht noch nicht erkannt. Sie schrieb die zwanghafte Gebundenheit an Alkohol und Rauschgiften allein mangelnder Willenslenkung zu (eine Einschätzung, wie sie bei manchen Zeitgenossen auch noch heute [sehr häufig sogar!] geschieht).
11 Kaufleute müssen Frauen heiraten, die zusätzliches Betriebskapital
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einbringen. Diese Regel wird von Jung-Stilling häufig (und immer gutheißend) wiedergegeben. Von 1763 bis 1770 war jung-Stilling die rechte Hand eines bedeutenden Fabrikanten und Kaufmanns im heutigen Remscheid. Dort lemte er die Standesgrundsätze der Kaufmannschaft kennen. Solche Zeitangaben sind bei Jung-Stilling immer auf einen Fußweg in· Entfemungsmaßstab umzurechnen, wobei von einer Marschleistung von etwa 5 Kilometer in der Stunde auszugehen ist.
Nun hatte er eine Tochter, die ganz und gar nicht erzogen war. Sie hatte von Jugend auf liederlich 13 gelebt; doch ging es noch immer gut. Jetzt aber war sie schwanger geworden. Dies wußte aber noch niemand als ihr Vater, der Weinhändler. Dieser suchte sie nun noch mit Ehren an den Mann zu bringen. Dazu schien ihm niemand geschickter als Velten. Denn der Kerl, der seine Tochter geschwängert hatte, war ein Soldat. Er war auf und davon gegangen. Der Weinhändler konnte sich indessen wohl denken, daß Velten so seine Tochter nicht nehmen würde. Denn sie war als eine liederliche Kreatur bekannt. Daher fing er es anders an. Er schrieb dem Velten einen Brief. Darin bat er ihn, er möchte zu ihm kommen, weil er über wichtige geschäftliche Dinge mit ihm zu reden habe. Velten ging hin. Denn er dachte, vielleicht kannst du hier einen guten Handel treffen. Der Weinhändler empfing ihn gar höflich. Er zapfte eine Flasche guten Weines, setzte sich zu ihm und sie tranken zusammen. Es war am Nachmittag. Der Weinhändler sprach allerhand. Denn es war ihm darum zu tun, den Velten so lange aufzuhalten, daß er die Nacht hier bleiben müßte. Endlich fing er nun von dem Handel an zu reden. Er schlug ihm vor, da oder dort sei eine gute Partie Wein zu kaufen. Daran könnte man wohl einen guten Handel treffen. Es sei aber für ihn allein zu viel. Daher wünschte er, daß Velten mit anstehen möchte. Dem Velten war dies nicht zuwider. Denn wo es etwas zu verdienen gab, da war er bei der Hand. Über dem Gespräch verging die Zeit; es wurde Nacht. Der Weinhändler nötigte Velten, dazubleiben, und der ließ sich auch dazu bereden. Nun hatte der Spitzbube seine Tochter abgerichtet. Sie sah nicht übel aus. Sie putzte sich also heraus, und zwar recht üppig: so, wie Huren zu tun pflegen, wenn sie junge Leute locken wollen. Nun kam sie herein. "Annchen", fing der Vater an, "hast du dem Velten das Bett droben gemacht? Er bleibt die Nacht bei uns."- "Oh, das ist bald gemacht", antwortete sie. "Das ist ja noch früh genug, wenn er zu Bett gehen will." Annchen setzte sich gegenüber Velten und fing nun an, ihn mit Blicken und Gebärden zu reizen. Velten hatte Wein getrunken: es tat also leider Wirkung bei dem armen Menschen. Endlich sagte der alte Satan: "Annchen, geh und leuchte Velten zu Bette!" Das geschah. Kurz: Velten verging sich mit Annchen. Als er des Morgens erwachte und es ihm nun einfiel, was geschehen war, so erschrak er herzlich. Allein, es war nicht mehr zu ändern. Er stand 13 Liederlich: hier
= ausschweifend, leichtlebig, unzüchtig.
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auf, frühstückte noch mit dem Weinhändler und ging betrübt fort. Den großen Fehler hatte er wieder dem Trunke zu danken. Velten wird zur Heirat gezwungen Allein, das war noch lange nicht das Ende! Acht Wochen darauf schrieb ihm der Weinhändler einen sehr scharfen Brief. Seine Tochter sei von ihm schwanger. Er solle sogleich korrunen und sich erklären, daß er sie heiraten wolle. Velten erschrak darüber, wie man sich leicht denken kann. Allein, er wußte sich schuldig. Mit einem Satz: er heiratete des Weinhändlers Tochter! Dieses Weibsmensch hatte ihn aber nicht aus Liebe genommen, sondern nur, damit sie zu Ehren kommen möchte. Daher machte sie ihm bald so viel Hauskreuz, daß er wohl sah: er war verraten und verkauft! Gleichwohl, was war zu tun? Er mußte aus der Not eine Tugend machen und sich zufrieden geben. Endlich kam sie ins Kindbett, und zwar viel früher, als Velten gerechnet hatte. Nun sah er, daß man ihn schändlich betrogen hatte. Er wollte sich scheiden lassen. Allein, sein Schwiegervater gab ihm wieder gute Worte. Er beschenkte ihn, vermachte ihm 4 000 Gulden 12 im voraus und stellte ihn so weit zufrieden, daß Velten versprach, er wolle seine Frau behalten und friedlich mit ihr leben. Das hatte er nun wieder im Trunk zugesagt. Wenn er nämlich nüchtern gewesen wäre, so hätte er es nicht versprochen -und er hätte es auch nicht nötig gehabt! Denn wenn ein Mann so gottlos betrogen wird, so kann er sich wohl scheiden lassen. 13 Auf diese Weise behielt Velten seine Frau, und des Kreuzes und des Elendes war kein Ende. Dadurch kam er noch mehr ans Saufen. Wie es denn zu gehen pflegt, wenn man verdrießlich ist: man will es durch Saufen gutmachen. Dadurch aber wird das Übel noch schlimmer. Nach und nach kam es auch zum Schlagen; Velten schlug seine Frau. Sein Schwiegervater, der alte Weinhändler, machte bankrott und behielt nichts. Nun hatte er auch eine arme Frau. 12 Ungefähr 2 700 Reichstaler. Um 1780 galt: 1 Reichstaler = 22,5 Batzen 45 Albus 90 Kreuzer 360 Pfennig, und 1 Gulden 60 Kreuzer = zwei Drittel Reichstaler. Daneben gab es noch besondere Gulden wie den reichsgesetzmäßigen Goldgulden (= 3 Gulden 50 Kreuzer), den Konventionsgulden, den Silbergulden (beide jeweils = 1 Gulden 12 Kreuzer), den alten kaiserlichen Gulden (= 1 Gulden 20 Kreuzer) und andere Gulden-Münzen. 13 Zur Lehrmeinung von Jung-Stilling über die Ehe siehe auch Gerhard Merk (Hrg.): Jung-Stilling-Lexikon Religion. Kreuztal (verlag die wielandschmiede) 1988, S. 27 ff.
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Bis dahin hatte er sich noch immer getröstet, daß er glaubte, seine Frau sei reich. Jetzt aber wurde der Streit noch größer. Endlich schlug er sie einmal in der Trunkenheit so sehr, daß sie acht Tage danach starb. Die Obrigkeit untersuchte die Sache. Er machte zwar alles mit Geld wieder gut. 14 Allein, dies kostete ihn so viel, daß er überhaupt nichts mehr behielt. Daher war nun auch er arm. Aller Segen war fort; niemand wollte noch etwas mit ihm zu tun haben. Er konnte sich nicht mehr ernähren und mußte nun für Taglohn arbeiten; ja, zuweilen war er gar zum Betteln gezwungen. Velten verkommt vollends Zu all diesem Unglück hatte ihn der leidige Trunk gebracht. Velten konnte den Branntwein nicht mehr missen. Nun hatte er aber nichts mehr, womit er in bezahlen konnte. Denn sein eigenes Vermögen war auch verschwunden: seine Frau hatte es durchgebracht. Seine beiden Kinder suchten sich ihr Brot vor den Türen. Nach und nach wurde Velten alt. Niemand wollte ihn mehr zur Arbeit haben. Daher mußte er Nachtwächter werden. Da ging er nun von Haus zu Haus in die Kost bei seinen Bauern. 15 Die Kinder nahmen Freunde zu sich; es ging ihnen elend. Doch ließ Velten das Saufen noch immer nicht. Wenn er Geld bekam, so trank er Branntwein dafür. Endlich fand man ihn tot auf einem Misthaufen liegen. Das heißt recht: so gelebt, so gestorben. Seht, liebe Freunde: das sind die Folgen der Trunkenheit und Völlerei! Hütet euch davor. Denn der Weg eines Säufers geht zum zeitlichen und ewigen Verderben.
14 Das heißt: er zahlte eine Geldstrafe. 15 Nachtwächter und Lehrer hatten den sogenannten "Wandeltisch",
das heißt: täglich mußte sie eine bestimmte Haushaltung im Dorfe verlcöstigen.
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Das Gespensterschloß in Elsaß• Hoch auf einem waldigen Berg im Elsaß liegt ein altes Schloß, es heißt Hohenberg. 1 Da stehen noch viele große und starke Mauern sowie alte Türm_e, die oben abgebrochen und voller Löcher sind. Mitten dazwischen wächst allerhand Gebüsch. Alte Tannenbäume gucken mit den Wipfeln überall hervor. Rund um das Gemäuer sieht man noch den alten Wallgraben. Er ist heute ganz mit Sträuchern bewachsen. Ein kleines Viertelstündchen unter dem alten Schloße an einem Wiesentälchen liegt ein einsames Dörfchen von zwanzig Häusern. Die Bauern leben da alle friedlich zusammen und haben ihr Brot reichlich.
Köuig Dagobert spukt Wenn sie nun so in den langen \Vinterabenden beisammen saßen und eine Pfeife Tabak rauchten, und die Weiber und Mädchen saßen bei ihnen und sponnen Flachs, so erzählten sie sich untereinander von dem Gespenst auf dem alten Schloß. Das Gespenst hieß von alten Zeiten her der König Dagobert. 2 Dieser sollte da oben gewohnt haben. Uud weil er ein gottloser * Originaltitel: "Eine sonderbare Geschichte von einem alten Schlosse", in: Der Volkslelu·e1', Jahrgang 3 (1783), S. 734-742.
Jung-Stilling weilte von Herbst 1770 bis Frühjahr 1772 als Student der Medizin in Straßburg und wird sehr waluscheinlich von da aus auch Ausflüge in die Umgebung unternommen haben. Das Schloß Hohenberg dürfte die Ruine F1·anktmberg (deren Ursprung auf Chlodwig zurückgehen soll) oder die Hol1enkönigsbUI·g sein. Beide liegen in Oberelsaß in den Vogesen südwestlich von Straßburg nahe Leberau (Liepvre) über der Leber (die in den Giessen einmündet). 2 Dagobert (= der gleich dem Tag Glänzende) hießen drei fränkisdte Könige aus dem Hause der Merowinger; de1· letzte (Dagobert III.) regierte bis 715.
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Mann gewesen wäre, so müßte er nun da gehen und spuken bis an den jüngsten Tag. Dann wurde den Bauern richtig angst, besonders wenn der Mond so blaß schien. Sie guckten alle durch die Fenster nach dem alten Schloß hin und glaubten oft, sie sähen da den König Dagobert lang und grau auf der Mauer steheiL Das war nun so eine alte Sage. Aber niemand konnte mit Gewißheit sagen, daß er da etwas gesehen hätte. Freilich behauptete bald dieser, bald jener, er hätte etwas beobachtet oder gehört. Aber mit Gewißheit konnte man denn doch nichts vorbringen.
König Dagobert zeigt sich einem Bauern Endlich aber wurde eines Tages aus dem Spaß Ernst. Spät im Herbst kam einmal ein Bauer mit einer Karre Holz nahe bei dem Schlosse vorbei gefahren. Als er so gegen das Schloß kam, da sah er längs der Mauer hin einen ungeheuer großen Mann gehen. Er war noch einmal so lang wie der Bauer und hatte einen ganz glühenden Kopf. Es leuchtete ihm hell aus dem Maul und den Augen heraus. Ja, das Gespenst kam sogar auf den Bauer zu! Der Bauer gab sich ans Laufen und ließ Ochsen, Karre sowie das Holz im Stich. Er rannte in einem fort bis in das Dorf. Dort erzählte er die gräuliche Geschichte: er hätte den König Dagobert wie einen Riesen da gesehen. Er habe einen feurigen Kopf gehabt und hätte fürchterlich gebrüllt und was ihm ferner die Angst noch eingab, das er sagte. Das ganze Dorf lief zusammen, und es gab ein gewaltiges Lärmen. Der Ochse mit der Karre blieb aber aus. Es war kein Mensch, der das Herz hatte, ihn zu holeiL Des 1\lorgens früh ging der Bauer hin, um zu sehen, wo der Ochse geblieben wäre. Da fand er nun die Karre und das Holz: aber zu Asche verbrannt! Die Hörner vom Ochsen, Stücke von dessen Haut sowie auch der Schwanz lagen noch halb verkohlt da. Das gab nun ein Lärmen! Das ganze Land wurde voll davon. Die Obrigkeit ordnete eine Untersuchung an. Das ganze Schloß wurde in allen Winkeln dmchkrochen. Aber kein 1\Iensch fand etwas. Dabei blieb es. Die Bauem glaubten nun steif und fest, daß der König Dagobert auf dem Schlosse spukte.
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Gespenstige Schloßfrau zeigt sich Das dauerte etliche \Vocl1en. Da gingen an einem Sonntag nachmittags zwei Bauernmädchen spazieren. Sie kamen endlich nahe an das alte Schloß. Es war just Heidelbeerenzeit; sie suchten also Beeren. Indem sie da so am hellen Tage herumgingen, so guckte oben über die Mauer am Schloß eine Weibsperson hervor. Sie sah grau im Gesicht aus und hatte ganz altfränkische3 Kleider an. Die Mädchen konnten sie bis an die Knie sehen. Die \Veibsperson sagte nichts, aber sie winkte die Mädchen heran. Nun kann man sich leicht denken, daß sie nicht dahin gingen. Im Gegenteil: sie liefen, was sie konnten, nach Hause und erzählten wieder dem ganzen Dorfe, was sie gesehen hatten. Das gab nun abermals einen neuen Alarm. 4 Alles lief zusammen und erstaunte. Es wollte jetzt sogar kein Mensch im Dorfe mehr des Nachts vor die Türe gehen.
Sind wirklich Geister am spuken? Indessen gab es in der Gegend herum auch allerlei Diebstähle. Besonders in dem Dorf nahe bei dem Schlosse wurde viel gestohlen, und kein Mensch konnte dahinter kommen. Denn die Räuber waren so vorsichtig, daß sie sich nicht fangen ließen. Oft durchsuchte man das alte Schloß. Denn man kam auf den Einfall, daß da wohl Räuber steckten. Aber man fand nicht das Geringste! Endlich kam einmal ein Fremder in das Dorf. Er war lange Soldat und zuletzt Unteroffizier gewesen. Der hatte einen Vetter im Dorfe, den er auf ein paar Wochen besuchte. Dieser hörte nun alle Geschichten vom König Dagobert und von den Gespenstern. Er lachte aber darüber und sagte: "Glaubt mir, ihr Leute: es sind Spitzbuben, die sich da aufl1alten! Daß das Gespenst länger als andere Leute ist, das läßt sich leicht 3 Sonderbare, altertümliche, unmodische, in der A1·t der alten Franken geschnittene. 4 Aufregung, Lärm, Unruhe (vom (italienischen] Schlachtruf der Landsknechte: "all'arme!" = zu den \Vaffen!).
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machen. Ich will es euch gleich einmal zeigen!" Da nahm er einen dicken Kürbis, schnitt Augen, Nase und Mund darein, steckte den Kürbis auf eine Stange, machte oben ein Kreuz in die Stange, setzte dann eine Lampe in den Kürbis und hing ein großes Thch über das Kreuz, so daß es um ihn niederhing bis zur Erde. Dann trug er die Stange in die Höhe. Das alles sah so aus wie das Gespenst. Auch sagte er ihnen, es sei leicht möglich, daß ein Weibsmensch altfränkische Kleider anzöge und sich im Gesicht grau machte. Das könnte man nämlich sehr einfach mit nassem Leim besorgen. Er wolle das Gespenst wohl fangen, wenn einer da wäre, der mit ihm ginge. Gar niemand jedoch getraute sich, ihn zu begleiten! Der Unteroffizier geriet aber nun auf eine andere List, und diese führte er so aus. Er ging alle Abend in der Dämmerung mit einer Hacke zu dem Schloß und hackte oben auf dem Wallgraben herum: so, als ob er dort etwas suchte. Da blieb er dann bis in die späte Nacht. Er ging aber nur bei Mondschein dahin, wenn es nicht so finster war.
König Dagobert verlangt tausend Gulden
Als er nun etliche Abende herumgehackt hatte, so sah er das grausige Gespenst mit dem glühenden Kopf längs der Mauer her gestrichen kommen. Er besah es genau und stellte dabei rasch fest, daß es ein gemachtes Gespenst war. Doch ließ er sich nichts merken. Im Gegenteil: er stellte sich gerade so, als wenn er gewiß glaubte, es sei ein Gespenst. Der Soldat gab sich ganz erschmcken, tat mit Zittern und Beben den Hut ab und sagte: "Alle guten Geister loben Gott den Herrn!" Das Gespenst antwortete ganz hohl: ,,Ich auch!" Der Soldat sagte weiter ganz furchtsam: "\Vas willo;;t du denn? Womit kann ich deine Seele erlösen?" Der Geist antwortete: "Ich bin der alte König Dagobert. Hier auf diesem Schlosse habe ich viele gottlose Taten getrieben. Nun kann ich erst zur Ruhe kommen, wenn ich 1 000 Gulden 5 habe. Die müssen an 5 Um 1780 rechnete man: 3 Gulden = 1 Reichstaler zu 90 Kreuzer. Der Tagelohn eines Arbeitcrs betrug um diese Zeit etwa 25 Kreuzer.
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ein Kloster in Straßburg gegeben werden, damit es die Armen bekommen. Denn da liegt noch eine Schrift von mir, in welcher ich die 1000 Gulden an die Armen vermacht habe. Aber sie haben sie nicht bekommen." Der Soldat merkte wohl, daß der Spitzbube gern 1 000 Gulden haben möchte. Er wollte ihn aber noch weiter auf die Probe stellen. "Ach du armer Geist!", sagte er. "Ich will sorgen, daß du die tausend Gulden bekommst; und ich selber will sie in das Kloster nach Straßburg bringen." - "Nein!", sagte der Geist. "Du mußt mir das Geld hierher bringen, und zwar heute in vierzehn Tagen des Abends um 10 Uhr. Ich muß es sehen; und dann lasse ich es durch meinen Diener in das Kloster tragen!"
Dem Gespenst wird aufgelauert
Nun sah der Soldat vollends, daß es lauter Betrug war. Damit aber sein Vorhaben gut gelingen möchte, so ging er zum Amtmann und erzählte ihm, was vorgefallen war. Der Amtmann lobte ihn wegen seiner llerzhaftigkeit und Treue. Es wurde verabredet, daß sich zehn Soldaten mit Gewehr in aller Stille an dem gesetzten Abend um 10 Uhr dort versammeln mögen. Er könnte mit ihnen abreden, was sie tun sollten, und dürfe sie so einsetzen, wie es ihm richtig erscheine. Das wurde nun so beschlossen. Den gesetzten Abend versammelten sich die zehn Soldaten in der Dämmerung. Unser Unteroffizier traf diese und ging ihnen voran. Er hatte seine Flinte mit Schrot geladen. Die trug er verdeckt unter seinem Rock. Die Zehn folgten ihm mit ihrem Gewehr von ferne nach. Als er nun auf den bestellten Platz kam und eine Weile da gestanden hatte, so kam das glühende Gespenst noch schrecklicher als je. So wie es um die Ecke kam, schoß der Soldat auf ihn. Er schoß jedoch nur in die Beine, so daß er fallen mußte, aber nicht gleich starb. Das Gespenst purzelte über und über. Der glühende Kopf, welcher von Leinwand gemacht war, fiel vom Gestell und rollte Das Gespenst vel'langt mithin 1 200 Stundenlöhne ode1· grob den Verdienst von 200 Arbeitstagen.
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über den Wall hinab. Der Kerl jammerte erbärmlich. Flugs sprangen die Zehn herzu und schleppten das arme Gespenst fort. Jetzt hörte man Lärm in dem alten Schlosse. Man schoß den Soldaten nach. Aber es war Nacht, und keiner wurde getroffen. Nun brachten sie den alten König Dagobert ins Dorf. Die Leute liefen alle zusammen und die Soldaten erzählten, wie es gegangen sei. Auch hatten sie die Stangen, die große Leinwand und den leinenen Kopf mitgebracht, worin noch die Lampe war.
Ende des Spuks
Die Bauern ärgerten sich, daß sie so abergläubisch gewesen waren. "Nun soll mich kein Mensch wieder drankriegen!", sagte der eine. Ein anderer rief: "Jetzt will ich wohl um Mitternacht auf das Schloß gehen!" Der Bauer aber, der um den Ochsen gekommen war, ärgerte sich am meisten. Er schalt den Räuber aus und sagte: "Jetzt sollst du mir auch den Ochsen wieder bezahlen, du Spitzbube du, samt meiner Kane, du Satan!" Des anderen Morgens führten die Soldaten den Kerl zum Amtmann. Da wurde er nun wieder geheilt (denn er war nicht schwer verwundet) und zugleich verhört. Er bekannte, daß ihrer zwanzig, Manns- und Weibspersonen, sich auf dem Schlosse schon eine gute Weile aufgehalten hätten. Sie lebten dort in einem Keller unter der Erde, von dem kein Mensch wüßte. Damit die Leute Furcht bekommen möchten, hätten sie Gespenster gespielt. Die Räuber wurden nun gefangen, verhört, gehangen und geköpft. Seht: so geht es mit Gespenstergeschichten! Ich wollte, daß ihr nicht an so etwas glaubt. Denn gemeiniglich ist es Betrügerei, und es ist nichts dran. 6 Fürchtet euch nur nicht 6 Dreißig Jahre später macht man Jung-Stilling allenthalben den Vorwurf, er sei einer der größten Gespensterseher seiner Zeit! Siehe: Abgefordertes Gutadüen einer ehrwürdigen Geistlichkeit de1· Stadt Basel über Herrn Dr. Jung's genannt St.illing Theorie der Geisterkunde. Basel (Samuel Flick) 1809 ("Ehe sein Werk [nämlich die 1808 bei Raw in Nürnberg erschienene "Theorie de1· GeisterKunde" von Jung-Stilling ] herausgekommen, ist schwerlich de1·
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vor so etwas! Wer auf seinen Berufswegen geht, der ist in der Hand Gottes, und ohne seinen \Villen kann ihm kein Haar von seinem Haupte fallen. 7 Freilich muß man nicht vorwitzig sein, sondern alles mit Gottesfurcht tun.
tausendste Theil so viel an Geistererscheinungen die Rede gewesen, als seither", vermerken die Gutachter auf S. 4). Jung-Stilling verteidigt sich dagegen mit der Schrift: Apologie der Theorie der Geisterkunde veranlaßt durch ein über dieselbe abgefaßtes Gutachten des hochwürdigen geistlichen 1\linisteriums >'.U Basel. Als Erster Nachtrag zur Theorie der Geisterkunde. Nürnberg (Raw'sche Buchhandlung) 1809. 7 Matthäus 10, 30; Lukas 1 i, 7; Apost.elgeschichte 27, 34.
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Hausfrau und Dienstpersonal• Eine tüchtige Hausfrau muß auch die Kunst verstehen, mit Geschwindigkeit eine ordentliche J'vlahlzeit auf den Tisch zu bringen. Im Heumachen, Grummetmachen 1 oder in der Ernte ist das Wetter oft so unbeständig, daß man Hals über Kopf arbeiten muß. Dann hat die Hausfrau häufig nicht die Zeit, Gemüse zu kochen, was ja immer einige 1\:liihe erfordert. Wenn sie es nun nicht versteht, rasch vielerlei fertig zu machen, so gibt es schlechte Mahlzeiten. Das Arbeitsvolk, das in dieser Zeit schwer und viel arbeiten muß, wird dann mürrisch. 2
Passende Speisefolge
Seht, ich bin zwar kein Koch. Aber ich verstehe doch ein wenig davon. Ein Bauer soll sich jährlich mit geräuchertem Schweinefleisch versorgen: da ist man geschwind mit fertig. Im Falle der Not wird für jeden ein Stück Speck von einer Seite abgeschnitten. Dieses brät man in der Pfanne - und schon
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Originaltitel: "Etwas für die Weiber", in: De1· Volkslelu·er, Jal1rgang
1 (1781), S. 38(}-383 und 445-448.
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Grununet Nachsclmt· des Grases (im Herbst). Das Wort leitet sich her von "Grün-Mahd" = Gras, welches grün (unreif) gemäht wird, also nicht "reif" wie das Heu. 2 Zur Saat- und Emtezeit sowie bei anderen besonderen Anlässen in Feld und Haus beschäftigten Bauem neben ihrem festen Gesinde (Knechte, Mägde) auch Arbeitskräfte auf Tagelolmbasis. Diese rekrutierten sich aus im Dorf oder in nahegelegeneu (Klein)Städten ansässigen Armen, Witwen, Invaliden und Arbeitslosen; nur ganz selten auch aus herumziehenden Nichtseßhaft.en (damals meistens "Vagabunden" genannt; das Wort kommt aus dem Lateinischen vagari unstet umherstreifen). Der Tagelollll für eine solche landwirtschaftliche Aushilfskraft. betrug um 1780 zwischen 20 und 23 Kreuzer (I Reichstale1· = 90 Kreuzer) bei in der Regel 7,ehnstüudige1· Arbeitszeit. Dazu wurde am Mittag und am Abend ein kostenloses Essen gereicht.
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ist man mit dem Fleisch fertig! Auch muß man sich im Herbst vorsehen, daß man viel Obst dönt. Das ist im Sommer eine herrliche Speise, besonders dann, wenn man Speck dazu brät. Zudem sind die Schnitzeln und llutzeln 3 geschwind gekocht. Da fällt mir noch ein Hauptstück ein. Eine Hausfrau muß auch wissen, was sich zusammen schickt. Obst und Milch bzw. Milchspeisen, desgleichen Salat und lVIiichspeisen schicken sich niemals zusammen: das ist unordentlich! Hat man Obst gekocht oder einen Salat gemacht, und es ist sehr warm, so bereitet man eine Bierkaltschale dazu. Ist es aber kühl, so kann es eine Biersuppe sein. Aber bei den Kartoffeln oder (wie man sie an einigen Orten heißt) den Grundbirnen 4 oder Erdäpfeln 5 kann man die Milch recht gut vernutzeiL Wo das Mehl nicht teuer ist, und richtig damit umzugehen, da kann schmackhafte Speisen daraus bereiten. schickt sich auch Milch, Bier oder jede
es eine Frau versteht, man sehr viele und Bei den Mehlgerichten andere dünne Speise.
Verpflegung iür Tagelöhner und Gesinde Es gibt auch Kost, welche das Arbeitsvolk nicht gerne ißt. Nun muß sich freilich eine Hausfrau nicht so sehr daran kehren. Aber sie sollte doch diese unbeliebten Speisen nicht zu oft auf den Tisch bringen. Wenn das Volk stark arbeiten muß, so daß es sehr hungrig ist, dann kann sie solche Speisen bringen, die nicht gern gegessen werden. Aber sie möge deren nicht zu viel auf einmal kochen und auch immer etwas dabei 3 Hutzel (aud1: Hotzel) = gedörrte Birne(nstücke). Anderes gedörrtes Obst als Simen fiel damals nicl1t unter den Begriff Hutzel. Daher erwähnt Jung-Stilling hier weitere eingeschrumpfte Friichte besonders als "Schnitzeln" (= scheibenartig abgeschnittene und gcdönte Obststückcllen, zumeist Äpfel). 4
Im Umkreis der Mosel, in der Kurpfalz und im Scl!wäbiscl1en das damals gängige Wort für Kartoffel (dieses ein italienisches Wort: tartufolo = Wurzelknolle); meistens "Gmndbirn" (also ohne das e am Ende) gesellrieben und "Gr6mbir" gesprocl1en. Die Kartoffel kam 1701 erstmals nacl! Deutschland, wurde aber erst gegen 1750 allgemein angebaut.
5 Im Alemannischen ( do1t vielfacl1 auch "Herdäpfel") und in Österreicl!
seinerzeit die üblicl!e Bezeiclumng für die Kartoffel.
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haben, das desto besser schmeckt. Dann gibt sich das Gesinde zufrieden. Man kann die verschmähten Speisen auch in rauben und kalten Tagen auf den Tisch bringeiL Man mache alsdann die Stube hübsch warm. Wenn jetzt die Arbeitsleute in die geheizte Stube eintreten, so tut es ihnen wohl. Sie geben sich dann auch mit schlechterer Kost zufrieden. In der Erntezeit aber, oder wenn die Tagelöhner und Arbeitsleute viel zu tun haben, dann sind sie stolz. In diesem Falle wollen sie einen guten Tisch habeiL Gibt man ihnen diesen nicht, so wandern sie zu anderen ab. Dann muß man ihnen viele gute Worte geben; und gern kommen sie doch nicht wieder.
Abstand zu Gesinde beachten Wenn sich eine Hausfrau nicht sehr in Acht nimmt mit den Knechten und l'vlägden, so kann sie lauter Herzleid und schweres Hauskreuz daran erlebeiL :Mit alten Hausmüttern hat es so leicht keine Not. Die haben schon so allerhand erfahren; auch sind sie von Natur aus emst.haft. Aber mit den jungen ist es oft anders. Eine junge Frau ist häufig noch munter, lustig und gutherzig. \Venn sie nun eine Magd oder einen Knecht bekorrunt, so ist sie oft zu freundlich gegen sie. Im Anfang ist das Gesinde willig und gut. Wenn sie und aber von der Frau angelacht werden, oder wenn sie Spaß mit ihnen treibt oder sonst lustig mit ihnen ist, so verliert das Gesinde den Respekt gegen sie. Dann ist es bald geschehen. Nun nämlich murrt das Gesinde jeden Augenblick: bald über das Essen, bald über die Arbeit. Das ist dann ein elendes Leben! Deswegen muß eine Frau gleich von Anfang emsthaft mit dem Gesinde umgehen. Sie braucht nicht münisch zu sein, viel weniger darf sie immer poltern und keifeiL Dessen nämlich wird das Gesinde gewohnt, und es hilft zu nichts. Man muß freundlich sein, aber nie mit dem Gesinde Scherz oder Spaß treiben.
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Verhalten zu Gesinde
Wenn man Gesinde hat, so trägt es sich oft zu, daß sie untereinander zanken, oder daß eines das andere verführt und verdirbt. Da muß nun die Hausmutter klug und vernünftig sein. Viel keifen und poltern richtet auch hier gar nichts aus. Es gibt viel unartiges Gesinde, welches sich eine Freude daraus macht, wenn es die Herrschaft böse machen kann. Da muß die Hausfrau kaltblütig bleiben, aber das Gesinde mit. trockenen Worten zum Frieden ermahnen. Hilft das nicht, so kündigt sie dem Unartigen ohne weitere Umstände den Dienst auf. Das darf man jedoch nicht zu leicht tun! Denn das fortgejagte Gesinde macht einer solchen Frau ein böses Gerücht. Dann kann sie kaum wieder gutes Gesinde bekommen. Hier gilt es immer, den Mittelweg zu halten. Am besten ist es, wenn man das Gesinde gut hält, damit es weiß, daß es wohl kaum einen besseren Dienst bekommen wird. Dann gibt es sich leicht zufrieden, und in diesem Falle geht es auch nicht gern aus dem Dienst: es bessert sich lieber. Es gibt wohl auch Gesinde, das immer über das Essen murrt und nie damit zufrieden ist. \\'enn aber die Hausfrau ordentlich den Tisch einrichtet, so, wie es sich gehört, dann muß sie sich nicht im geringsten daran kehreiL Sie tue ihre Sachen, wie es angemessen ist. Wenn das nicht hilft, dann brauche sie ihre Autorität und sage: "\Vem es so nicht dient, der mag sehen, wo er es besser bekommt!" Wenn etwa ein Knecht oder eine Magd die Speise wieder in die Küche schicken würde, so läßt sie einen solchen \Viderspenstigen Hunger leiden. i\ur versteht es sich, daß die Kost ordentlich und gut sein muß. Die Hausfrau darf die Speisen nicht zu oft aufgewärmt auf den Tisch bringe11. Es gibt bloß wenig Gemüse, das man wärmen kann. Kartoffeln lassen sich nicht wärmen. Sie müssen zu jeder Mahlzeit frisch gekocht werden. Sauerkraut hingegen schmeckt gewärmt am besten.
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Vorsicht mit Ratschlägen des Gesindes Es trägt sich auch wohl zu, daß das Gesinde vorschreibt, was es gekocht haben will. Da pflegen die Mägde mitzuraten, und das fangen sie so an. Im Anfang rät die Magd der Frau, was sie kochen soll. Das kommt dann gemeiniglich so heraus, als wenn es zum Besten des Hauses dienen sollte. Meistenteils steckt aber der Eigennutz dahinter. Ja: es gibt Gesinde, welches es mit der Herrschaft treu meint! Da kann man auch zuweilen Rat annehmen; aber doch auch nicht zu leicht und nicht zu oft. Denn wenn das beste Gesinde merkt, daß es etwas zu sagen hat, so kriegt man sein Hauskreuz mit ihm. Zuweilen kommt es auch wohl vor, daß das Gesinde um eine Speise bei der Frau anhält. Geschieht das nicht zu oft, und ist der Wunsch der Haushaltung nicht schädlich, so tut eine Hausmutter wohl, wenn sie dem Gesinde so etwas zu Gefallen tut.
Vorsicht mit langgedienten Mägden Es gibt Mägde, welche schon lange gedient haben, oder die bei Witwern die Haushaltung geführt haben, oder die bei unerfahrenen Weibern gewesen sind, wo alles nach ihrem Kopfe gehen mußte. Eine solche Magd ist ein schweres Hauskreuz für eine Frau! Eine junge Frau, sonderlich wenn sie noch nicht t·echt erfahren in der Küche und in der Haushaltung ist., soll billig niemals eine solche Magd miete11. Eine Ausnahme sei, wenn diese Magd sehr fromm und vernünftig wäre, und zwar so, daß sie doch gegen ihre Frau Respekt beweist. Aber .Mägde mit diesen Eigenschaften sind rat·! Eine solche junge Frau tut am besten, wenn sie sich eine sehr brave, alte, erfahrene, treue Nachbarin aussucht, mit ihr Freundschaft schließt und sie in allen Stücken um Rat fragt. Dann nimmt sie lieber eine junge 1\.fagd, die noch weniger versteht als sie, damit sie bei Respekt. bleibt. Wenn es aber nicht anders möglich ist, und eine junge, unerfahrene Frau
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eine solche alte, erfahrene Magd haben muß, dann sollte sie folgender Gestalt zu Werke gehen. Wenn sie mit der Magd anfängt hauszuhalten, so spricht sie zu ihr: "Hört, Grete oder Kathrine!", wie sie denn heißt, "ich bin noch jung und verstehe noch nicht alles, was zu einer Haushaltung gehört. Euch habe ich darum gemietet, daß ihr helfen sollt, für das Beste der Haushaltung zu sorgen. Ich werde euch nun machen lassen. Jedoch werde ich darüber wachen, daß alles ordentlich zu Rate gehalten werde. Die allergeringste Untreue werde ich nicht leiden. Auch werde ich mir von euch nicht befehlen lassen. Deswegen sollt ihr mir auch alles sagen, was euch dünkt, daß in der Küche und im Garten geschehen muß, und nichts allein nach eurem Kopf tun. Ihr müßt demnach immer denken, daß icl1 die Frau bin und ihr die Magd seid! Werdet ihr es recht machen, so werdet ihr es bei mir gut haben." So kann eine Frau mit der Magd reden. Eine Magd sieht alsdann bald, was zu tun ist. Nachher muß sich aber auch die Frau befleissigen, damit sie alles bald selber versteht.
Aufsicht am Gesindetisch Es gibt Speisen, welche zerschnitten und geteilt werden müssen, wie Fleisch, Kuchen oder dergleichen. Da gibt es nun unter dem Arbeitsvolk fräßige und leckerhafte Leute, die grob sind und den Blöden 6 und Furchtsamen alles wegputzen. Da muß auch die Hausfrau für Ordnung sorgeiL Am besten ist es, wenn sie selber an den Gesindetisch geht und jedem seine Portion Fleisch oder Kuchen vorlegt. Dann gibt es keinen Streit. Mir hat es immer wohl gefallen, wenn die Einrichtung so gemacht ist, daß das Gesinde nicht weit vom herrschaftlichen Tische speist. Hier kann die Hausmutter dann immer ein Auge auf das Gesinde haben. An vielen Orten ist es auch üblich, daß dem Gesinde zum Schluß der f\-lahlzeit Butter und Brot, auch wohl noch 6 Blöde: hier = zurückhaltend an Tatkraft und Mut; schwach an Körper oder Geist; zaghaft (noch nicht: verrückt, irr).
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Käse aufgetragen wird. Nun ist aber die Butter ein kostbares Essen. 7 Andererseits gibt es grobe Leute, welche sie halben Fingers dick auf das Brot legen. Auf solche unfeine Gesellen muß die Hausmutter wohl achtgeben. Alsdann, wenn sie es gewahr wird, sollte sie ihn allein unter vier Augen nehmen, ihn erinnern und wohl auch scharf ausputzen. Das wird gemeiniglich helfen. Hilft es aber nicht, so schafft man einen solchen groben Gesellen ab. Endlich muß man auch dem Gesinde wohl auf die Finger achtgeben, daß es in der Küche und im Keller nichts nasche. Das darf man absolut nicht leiden! Denn sonst kommt es vom Kleinen ans Große. Wenn kein Ermahnen mehr hilft, so ist es besser, man entläßt die Leute. Denn solches Gesinde taugt nichts, ja es ist sogar höchst schädlich.
7 Tatsächlich war Butter um 1780 noch Luxusgut. Im Westen Deutschlands betrug der Preis ftir 500 Granun Butter etwa 10 Kreuzer; und man rechnete 18 Liter Milch zur Gewinnung dieser Menge Butter. Damit kosteten die 500 Granun Butter etwas mehr als ein Drittel des Tageslohnes eines Emtearbeiters bei zumindest zehnstündiger Leistung. Auf heutige Einkommensverhältnisse umgerechnet, zahlte man ftir die 500 Granun Butter etwa 23 DM. - Vor allem die bei weitem höhere Milchleistung der Kühe (infolge verbesserter Tierzucht und Nahrung) sowie die günstigere Ausnutzung der Milch (für 500 Granun Butter setzt man heute bloß noch 13 Liter Milch an) trugen dazu bei, daß hierzulande Butter in diesem Jahrhundert Nahrungsmittel auch für breitere Volksschichten wurde. - Die Margarine wurde als Butterersatz erst 1870 von dem französischen Chemiker Hyppolyte Mege-Mouries (auf Grund eines PreisaWI!Ichreibens von K!!-iser Napoleon III. aus dem Jahre 1868) erfunden.
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Aufgeklärte Kinder• Da bekomme ich soeben ein Briefehen von einem Vetter und sehr lieben Freund. 1 In dem Briefehen stehen greuliche Dinge. Daher nehme ich nun Anlaß, euch, meine lieben Leute, gute Lehren zu geben.
Sexualwissen der Kinder Mein Vetter hatte an zwei kleinen Kindern (wovon das eine neun und das andere sieben Jahre alt ist) 2 entdeckt, daß sie schon ganz abscheuliche Dinge wissen. Gott: das ist ja schrecklich! Oh ihr Eltern, ihr Eltern: daran denkt ihr nicht genug! Ihr seid nicht hinreichend aufmerksam auf eure Kinder. Heutzutage aber ist dies außerordentlich nötig. • Originaltitel: "Eine sehr wichtige Lehre für Eltern und Eheleute", in: Der Volkslehrer, Jahrgang 1 (1781 ), S. 532-535. Es handelt sich um den gleichnamigen und dazu auch noch im seihen Jahr wie Jung-Stilling geborenen Vetter Jobamt Heinrich Jung (17401816). Er war der zweitälteste Sohn von Jung-Stillings Patenonkel, dem Oberbergmeister Johann Heinrich Jung (1711-178G) in Littfeld. Dieser Vetter amtete im Jahre 1781 als Bergwerks-Offiziant (Offiziant = Beamter) mit dem Diensttitel "Bergmeister" bei der fürstlichoranischen Berg- und Hüttenkonuuission in Dillenburg. Dort befand sich seit 1743 die obere Verwaltung der verzweigten nassauischen Länder, die nach dem Aussterben einiger Linien (so auch beider Häuser des Geschlechtes Nassau-Siegcn) in der Hand des Prinzen Wilhelm IV. Karl Heinrich Friso von Nassau-Or&tien vereinigt waren. Dieser ist ab 1747 auch Statthalter der Niederl&tde und hält sich um diese Zeit dauernd in Den Haag auf; seine Nachkonunen besetzen noch heute den niederländischen I