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German Pages 398 [400] Year 1980
Georg Kohler Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung
w DE
G
Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft in Verbindung mit Ingeborg Heidemann herausgegeben von Gerhard Funke und Joachim Kopper
111
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1980
Georg Kohler
Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung Beiträge zur Auslegung von Kants „Kritik der ästhetischen Urteilskraft"
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1980
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Kohler, Georg: Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung : Beitr. zur Auslegung von Kants „Kritik der ästhetischen Urteilskraft" / Georg Kohler. — Berlin, New York : de Gruyter, 1980. (Kantstudien : Erg.-H. ; 111) ISBN 3-11-008019-2
© Copyright 1980 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 — Printed in Germany — Alle Rechte der Übersetzung, des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Druck: Werner Hildebrand O H G , Berlin 65 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, 1 Berlin 61
VORWORT
In der aktuellen Aesthetikdebatte wird häufig geraten, sich erneut auf Kant zu besinnen. Die "Kritik der Urteilskraft" liefere
Unterscheidungen
und biete Aufschlüsse, deren Orientierungswirkung sich gerade dann wieder erneuere, w e n n , wie derzeit, die Sache (das, was früher das Schöne in Natur und Kunst qeheissen hat, und heute namenlos geworden zu sein scheint) den Begriffen, die sie fassen möchten, entschieden die Stirn bietet oder ironisch das Nachsehen gibt. - Wer einen Führer empfiehlt, muss
freilich
seinen Vorschlag zu begründen wissen. Ist das aber im Falle Kants so selbstverständlich? Ist nicht die "Kritik der Urteilskraft", immer noch, ein Rätselbuch, durchsetzt von schwerverständlichen Formeln, von inneren Widersprüchen betroffen, voll doppeldeutiger Begriffe und belastet von einem uneingelösten
Versprechen?
Kant wählt als Leitproblem seiner Abhandlung die Frage nach Verbindlichkeit und Allgemeinheit des Geltungsanspruchs der ästhetischen Urteile. ist schön 1
- warum soll
'X
in dieser Aussage mehr stecken können als: "ein
jeder hat seinen eigenen Geschmack"
(KdU, § 56)? Dem Diktum, wonach Uber
den Geschmack sich nicht streiten lasse, entgegnend, ist es Kants
systema-
tisches Bemühen und Versprechen, darzutun, dass man in der Tat berechtigt sei, "auf allgemeine Beistimmung zu einem ... Urteile der ästhetischen
Ur-
teilskraft Anspruch zu machen" (KdU, § 38). Indes: die "Kritik der Urteilskraft" erreicht dies Ziel nur scheinbar; in Wahrheit misslingt der Versuch, die Anspruchslegitimität des Geschmacksurteils zu deduzieren. Kants Frage bleibt ungelöst. Der Fehlschlag der "Deduktion", das Versagen vor jener Aufgabe, die Kant selbst in den Mittelpunkt des Werkes stellt, ist freilich nur Symptom.
In
ihm behauptet sich, was sozusagen den Geburtsfehler der kantischen Aesthetik ausmacht: die Tatsache, dass Kant einer Begrifflichkeit sich bedienen muss, deren ursprunglicher Ort die Theorie des
(wissenschaftlich-bestimmen-
den) objektiven Erkennens ist. Verführt nämlich von der immanenten Logik
VI
Vorwort
seiner Konzepte gerät Kant in Konstruktionen, die sich an der Sache selbst, um die es ihm geht, - ums "Schöne" und die Art, wie es uns intersubjektiv zugänglich und schliesslich Gegenstand spezifischer Beurteilung wird - nicht ausweisen lassen. Allerdings - Kants Aesthetik wäre kaum der Rede wert, wenn sie nicht trotz allem ihrem Thema auf der Spur bliebe. Die unbestreitbar bahnbrechende Leistung, die die "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" verkörpert, beweist die und verdankt sich der Treue und Einsichtigkeit gegenüber dem, was die Basis aller ästhetischen Theorie ist: der ästhetischen Erfahrung. Sachfremde Konstruktion und die Freilegung und überzeugende Artikulation von Seinsart und Aussagbarkeit des Schönen gemäss dessen Evidenz in der ästhetischen Erfahrung konstituieren gemeinsam, was uns als Text der "Kritik der Urteilskraft" entgegentritt. Das macht die Lektüre so schwierig und interessant zugleich. Denn wer Kants Aesthetik verstehen will, muss das Zwiefache, das von allem Verstehen zu erbringen ist, mit geschärftem Bewusstsein auseinanderhalten und verbinden: erstens die interpretatori sehe Wiederholung der Wahrheit der kantischen Bestimmungen, durch die sich uns das Schöne, sein Wesen und seine Erscheinungsweise, zur Präsenz bringt; zweitens das Geschäft der Kritik, d.i. die Bezeichnung und Abscheidung gleichsam der unreinen Substanzen, die die Erklärungen und Begriffe der "Kritik der Urteilskraft" trüben. Aufgrund erst solch doppelter Anstrengung vermag der Sinn vollständig durchsichtig (und das bedeutet eben auch: die partielle Dunkelheit versteh- und aufklärbar) zu werden jener berühmten, so merkwürdig abstrakt-anschaulichen Formeln, mit denen·Kant die zentralen Partien seiner Ausführungen bestückt - "Spiel von Einbildungskraft und Verstand", "Stimmung in Hinsicht auf Erkenntnis überhaupt", "subjektive Zweckmässigkeit ohne Zweck" ...
Mit dem Gesagten sind die drei Hauptziele
der vorliegenden
Arbeit
schon
umrissen. Zunächst geht es um nichts mehr und nichts weniger als darum, sagen zu können, 'was eigentlich dasteht'; genauer: um die einleuchtende Auslegung von grundlegenden Passagen des ersten Teils der "Kritik der Urteilskraft" (§§ 9, 21, 35 u.a.); dann, und natürlich nicht unabhängig von der ersten Aufgabe lösbar, um die Analyse einiger der von Kant entwickelten ästhetischen Kategorien, um deren Triftigkeit, Leistungskraft und häufige Mehrdeutigkeit, ja Homonymie (ästhetische Zweckmässigkeit, Gefühl der Lust,
Vorwort
VII
Spiel von Einbildungskraft und Verstand, Form, Geschmack etc.)· Das dritte Ziel schliesslich integriert die einzelnen Begriffs- und Textstudien zum zusammenhängenden Gedankengang. Versucht wird die kritische Rekonstruktion der von Kant sogenannten "Deduction der reinen ästhetischen Urteile", also die immanent prüfende Nachzeichnung der die kantische Aesthetik bewegenden Untersuchung des Fundamentes, der Struktur und des Geltungsanspruchs bzw. der Tragweite der "Geschmacksurteile". Das Produkt recht verwirklichter, d.h. kritisch geübter hermeneutischer Intention kommt gleichsam von innen über die Grenzen blosser Mikrologie und Philologie hinaus: Als Folge und sozusagen von selbst, also als Erfahrung und nicht als vorweg induzierte Behauptung unserer Bemühung um Aneignung des Sinnes des vorgegebenen Textes,wird uns der zunächst latente innere Konflikt der kantisehen Aesthetik mehr und mehr manifest werden. Und in dem Masse, wie wir die Mechanismen, Frontlinien, Hilfstruppen und wechselnden Koalitionen in dieser internen (unter der Oberfläche eines auf den ersten Blick in sich stimmigen Argumentierens verborgenen) Auseinandersetzung begreifen lernen, werden wir imstande sein, zu sagen, was Kant 'uns sagen kann 1 , fähig also, begründet nachzuweisen, worin die Aktualität der kantischen Aesthetik besteht - und worin nicht. Der Aufbau der vorliegenden
Arbeit
basiert auf zwei grundsätzlichen Unter-
teilungen, deren Notwendigkeit und Berechtigung aus wesentlichen Sachverhalten unseres Untersuchungsgegenstandes - des ersten Teils der KdU bzw. ihres Themas - resultieren. Die "Kritik der Urteilskraft" ist vielfach mit dem Ganzen der Transzendentalphilosophie verknüpft. Ihre vermittelnde Funktion zwischen der "Kritik der reinen" und der "Kritik der praktischen Vernunft" ist ein notorisches Problem der Sekundärliteratur (das in unserer Arbeit jedoch keine bedeutende Rolle spielen wird). Kants Aesthetik steht also in einem umgreifenden Horizont. Dessen prägende Wirkung ist zu berücksichtigen, auch, oder vielmehr gerade, wenn an der kahtischen Lehre vom Schönen die erschliessende Kraft gegenüber ihrer besonderen Sache, und nicht der systematische Ort im Ganzen der kantischen Philosophie, der eigentlich interessierende Punkt ist. Fassbar ist die Einbettung der kantischen Aesthetik in einen grösseren Zu-
Vili
Vorwort
sammenhang zu a l l e r e r s t am T i t e l b e g r i f f : der (reflektierenden)
Urteilskraft.
Und es sind vor allem die beiden Einleitungen in die " K r i t i k der U r t e i l s k r a f t " , die ihn so weit präparieren, dass er und die ihm eigentümlichen Gegenständlichkeiten in den spezifischen Perspektiven der " K r i t i k der ästhetischen" resp. derjenigen, der "teleologischen U r t e i l s k r a f t " weiter bestimmt werden können. Analog zum Aufbau der KdU, die zunächst den allgemeinen Beg r i f f der (reflektierenden) U r t e i l s k r a f t e x p l i z i e r t und damit a l l e s Folgende von Anfang an in einen wohl zu beachtenden Bezugsrahmen rückt, bevor s i e die spezielleren Problematiken der Aesthetik resp. Teleologie verhandelt, haben wir daher unserer "Untersuchung von Hauptfragen der kantischen Aesthet i k " eine Abhandlung vorgeschaltet, die die Herkunft und den Gehalt jener generellen Konzepte und Festlegungen v e r f o l g t und k l ä r t , die zwar nicht zum engeren Bereich einer ästhetischen Theorie gehören, aber a l s allgemeine Grundbegriffe und -annahmen die kantische Lehre vom Schönen sehr p r i n z i p i e l l beeinflussen. Was wir "Kontext" nennen, beschäftigt s i c h demzufolge mit der ersten (und, wie sich zeigen wird, auch vorläufigen) Bestimmung der r e f l e k tierenden U r t e i l s k r a f t und den damit auftauchenden Fragen ( P r i n z i p der reflektierenden U r t e i l s k r a f t , das Verhältnis der verschiedenen Erkenntnisvermögen untereinander, e t c . ) , sowie mit dem in der eigentlichen Aesthetik an zentraler S t e l l e erscheinenden, aber kaum eigens analysierten Gefühl der Lust. Dem Hauptteil unserer Arbeit l i e g t ebenso eine von der Sache her sich aufdrängende Zweiteilung zugrunde; a l l e r d i n g s l ä s s t s i e s i c h im Text nicht so l e i c h t sichtbar machen, wie die obige Unterscheidung. Eine Absicht der Ueb e r s c h r i f t des vorliegenden Buches - "Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung" - i s t es, anzudeuten, was j e t z t gemeint i s t . Das Geschmacksurteil, die Aussage vom Typ 'X i s t s c h ö n ' , i s t ein Gebilde zweiter Stufe, denn es hat, wie jedes empirische Urteil
(das das ästhetische Urteil auch i s t ) , eine
primäre Gegenstandserfahrung zur Voraussetzung, deren Objektivierung es i s t . Wir heissen diese für das Geschmacksurteil basale Erfahrung die "ästhetische Erfahrung" oder " - R e f l e x i o n " . Die Differenz zwischen dem eigentlichen Geschmacksurteil und der vorausgehenden, ursprünglichen Reflexion i s t in phänomenologischer Betrachtung l e i c h t sich zu vergegenwärtigen. Und es dürfte ebenfalls nicht schwer einzusehen s e i n , dass es eine erste Aufgabe i s t , die ästhetische Erfahrung für s i c h zu behandeln, und dass es ein Zweites i s t , zu
Vorwort
IX
prüfen, wie aus/in der basalen Erfahrung das Geschmacksurtei1
sich konsti-
tuiert und legitimiert. Es ist diese Trennung, die den Hauptteil
unserer
Untersuchung im Grunde gliedert; zu Beginn befassen wir uns mit dem komplexen Phänomen der ästhetischen Erfahrung und seinen Elementen, während ab Kapitel
IX das ästhetische Urteil, genauer: die fragwürdige Begründung, die
es bei Kant findet, im Vordergrund steht. Da es aber sowohl
in der Sache
liegt, dass sich zwischen den beiden genannten Momenten ästhetischer
Bezug-
nahme mannigfache Berührungspunkte ergeben, und vor allem Kant selbst nicht mit genügendem Nachdruck die eigentliche Beurteilung von der vorgängigen Erfahrung sondert, werden wir die erläuterte Zweiteilung zuweilen auch durchbrechen müssen.
Das abschliessende Kapitel XII steht anstelle eines Nachwortes; es ist so etwas wie das Fazit der in allem Umgang mit der KdU stets mitbedachten ge nach dem heute noch gültigen Vorbildcharakter der Aesthetik
Fra-
Kants.
In allen drei Kritiken bedient sich Kant des alten Ordnungsschemas
der
"Vernunftlehre" des 18. Jahrhunderts, der Schrittfol ge von "Analytik" und "Dialektik". So fraglich in der "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" der innere Aufbau der "Analytik" ist (z.B. was die Stellung der "Deduktion" trifft), so deutlich - und auf dem Hintergrund der entsprechenden
be-
"Abtei-
lung" der "Kritik der reinen Vernunft" auch überraschend - ist der Neueinsatz, der mit der "Dialektik" auf den Plan tritt: die "Dialektik" erfüllt keineswegs bloss kritische Funktionen, denn sie retraktiert auf neuer Ebene das Problem der "Analytik", insbesondere das der "Deduktion", - die Grundlegung des ästhetischen Urteils. Man darf mithin durchaus behaupten, der Gipfelpunkt der "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" sei erst mit
ihrem
zweiten Abschnitt, eben m i t der "Dialektik", erreicht. Es ist in erster Linie R. Odebrecht gewesen, der in der bekannten Abhandlung von 1930 diesen "Aufstieg des dialektischen Gedankens" in der Aesthetik Kants thematisiert hat.* Freilich, wer so verfährt, gerät rasch in Versuchung - und weder Odebrechts, noch die in die Tradition der letzteren sich stellende, ansonsten
* R. Odebrecht, F o r m und Geist. Der Aufstieg des dialektischen Gedankens in Kants Aesthetik, Berlin 1930
Vorwort
χ
ausgezeichnete, Darstellung Κ. Neumanns*, sind ihr entgangen - , die Ergebnisse der "Analytik", zumal die der "Deduktion, zu gering zu achten und deswegen zu wenig exakt zur Kenntnis nehmen. Das ist aber darum folgenschwer, weil - wie gerade Odebrecht plausibel macht - die Idee der "Dialektik" nur dann wirklich zu Gesicht gelangen kann, wenn sie als Reflexion und Antwort auf die Aporien und Schwierigkeiten der "Deduktion" begriffen wird. Da wir über die Rekonstruktion der "Deduktion" nicht hinausgelangen, die "Dialektik" also nicht mehr berücksichtigen werden, kann man unsere Arbeit als Ergänzung zu den vorhin erwähnten Untersuchungen auffassen. Ein integrales Verständnis der "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" wird jedenfalls nur derjenige gewinnen, der beiden Abschnitten des Buches die gebührende Beachtung schenkt; aus diesem Grund liefern unsere Studien lediglich
"Beiträge"
zu solchem Werk.**
Zwei Bemerkungen zuletzt: Die KdU bezieht sich bekanntlich nicht allein aufs "Schöne", sondern in den §§ 23 - 29 ebenso aufs "Erhabene". Auf eine Diskussion dieser Partie haben wir verzichtet; erstens darum, weil sie mindestens in erster Lesung - vergleichsweise einfach zu verstehen ist, und zweitens deshalb, weil die Probleme, die in ihr gleichwohl zu entdecken wären, erst auf der Folie des entfalteten Problems des "Schönen" genau zu formulieren sind. Wir möchten uns indessen mit der Klärung des letzteren begnügen. Im übrigen bleibt festzustellen, dass wir den Ausdruck "schön"
("Schön-
heit", "Schön-Sein") von Anfang an in einer Weise verwenden, die mehr umfasst als den klassischen Kanon "schöner" Dinge. Wir gebrauchen "schön" stets in der weiten Bedeutung von 'ästhetisch relevant 1
(also im Sinn einer allge-
meinen Qualifizierung des Korrelats ästhetischer Erfahrung und Beurteilung), und glauben uns dazu, wie hoffentlich am Ende unseres Durchgangs durch die "Analytik der ästhetischen Urtei1skraft" selbstverständlich geworden sein wird, von Kants aufs Ganze gehender Intention selbst ermächtigt.
* K. Neumann, Gegenständlichkeit und Existenzbedeutung des Schönen. Untersuchungen zu Kants 'Kritik der ästhetischen Urteilskraft', Bonn 1973. ** Auf eine Auseinandersetzung mit der im Zusammenhang unserer Fragestellung höchst wichtigen Untersuchung, die in ihren Ergebnissen in zentralen Punkten mit unserer Studie übereinstimmt, von Jens Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, Frankfurt 1978, muss in der vorliegenden Arbeit leider verzichtet werden; Kulenkampffs Buch ist erst nach Abfassung unserer Abhandlung erschienen.
Vorwort
XI
*
Die Untersuchung hat der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Jahr 1977 als Inaugural-Dissertation vorgelegen. Dank schulde ich daher meinen akademischen Lehrern. Prof. R. Meyer zuerst, der mit Geduld und unaufdringlichem Ansporn die Arbeit gefördert hat. Am Vorbild seiner subtilen Bemühung um den philosophischen Text habe ich Kant lesen gelernt. Danken möchte ich Prof. H. Lübbe, der mir gezeigt hat, wie immanente Lektüre und der Wille zu hermeneutischer Demut mit dem Versuch, der Sache, von der der Text spricht, selbständig zu begegnen, sich verbinden kann. Dank schulde ich auch Prof. J.-P. Schobinger, dessen Seminarien mir einleuchtend gemacht haben, dass zur Pflicht philosophischen Argumentierens, das (gewiss nie zu erfüllende) Streben nach Vollständigkeit gehört. Zu danken habe ich schliesslich Frau A. Hauser aus Kilchberg, die mir die Herstellung des Typoskripts besorgt hat. Zürich, im September 1979
Georg Kohler
Der Text ist gemäss der in der Schweiz üblichen Orthographie -hergestellt worden. Das "bedeutet, dass zwischen ss und ß nicht unterschieden, sondern alles mit ss geschrieben wird. Ebenfalls nicht differenziert wird zwischen ae und ä, ue und ü, etc.
Abkürzungen: KdU = Kritik der Urteilskraft, KrdrV = Kritik der reinen Vernunft, KpV = Kritik der praktischen Vernunft; GU = Geschmacksurteil, Uk = Urteilskraft. Zitiert wird die Kritik der Urteilskraft gemäss der 2. Auflage von 1793 (= Seitenpaginierung von Bd. V der Akademieausgabe); die übrigen Werke Kants, ausser der Ersten Einleitung in die KdU, nach der Akademieausgabe; die Erste Einleitung wird gemäss der von 0. Buek besorgten Erstedition zitiert (Immanuel Kants Werke, hrsg. von E. Casirer, Bd. V, Berlin 1922).
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
V ERSTER TEIL: KONTEXT
KAPITEL I : DER BEGRIFF DER REFLEKTIERENDEN URTEILSKRAFT IN ERSTER NAEHERUNG § 1 Aufgabe, Bereich und Grundfunktion der reflektierenden U r t e i l s kraft a) Die bestimmende U r t e i l s k r a f t b) Das Reflektieren der reflektierenden U r t e i l s k r a f t c) Grundfunktion und Bereich der reflektierenden U r t e i l s k r a f t . d) B e g r i f f s b i l d u n g und reflektierende U r t e i l s k r a f t § 2 Die reflektierende U r t e i l s k r a f t und i h r Zusammenhang mit der Vernunft a) Das A u f - B e g r i f f e - B r i n g e n und die anderen Erkenntnisvermögen b) Die reflektierende U r t e i l s k r a f t a l s Moment im Ganzen der e i nen menschlichen Vernunft c) Der Sinn der reflektierenden U r t e i l s k r a f t und der Vernunftanspruch § 3 Das Verhältnis von reflektierender U r t e i l s k r a f t , Verstand und E i n b i l d u n g s k r a f t im Vollzug der Erkenntnis a) Die Angewiesenheit der reflektierenden U r t e i l s k r a f t auf den Verstand b) Die E i n b i l d u n g s k r a f t c) Das Zusammenwirken von E i n b i l d u n g s k r a f t und Verstand d) Die reflektierende U r t e i l s k r a f t in ihrem Verhältnis zu E i n b i l d u n g s k r a f t und Verstand § 4 (Teleo)logische und ästhetische U r t e i l s k r a f t ; reflektierende Urt e i l skraft-überhaupt a) Marginalien b) Aesthetische und teleologische (reflektierende) U r t e i l s k r a f t ; das Problem ihrer Gattung c) "Teleologische (oder: ( t e l e o ) l o g i s c h e ) U r t e i l s k r a f t " , Rechtfertigung unseres Wortgebrauchs
3 3 6 11 12 14 14 15 17 20 21 22 25 29 31 31 34 37
KAPITEL I I : BEMERKUNGEN ZUM TRANSZENDENTALEN PRINZIP DER REFLEKTIERENDEN URTEILSKRAFT § 5 Das P r i n z i p der reflektierenden U r t e i l s k r a f t § 6 Die Transzendentalität des P r i n z i p s der U r t e i l s k r a f t und die Als-ob-Zweckmässigkeit der Natur a) Das P r i n z i p , obwohl " t r a n s z e n d e n t a l " , i s t " s u b j e k t i v " b) Die formale Zweckmässigkeit der Natur
41 46 46 49
Inhaltsverzeichnis c) Spekulativer Ausblick d) Uebergang zum "Gefühl der Lust und Unlust"
XIII 51 52
KAPITEL I I I : DAS GEFUEHL DER LUST § §
7 Die Wesensmomente des Gefühls der Lust 8 Das Gefühl der Lust und das Begehrungsvermögen, Zusammengehörigkeit und Differenz a) Die Lust a l s Ausdruck einer Intention b) Die Lust a l s Worauf einer Intention Exkurs: Das Problem des Hedonismus § 9 Die S u b j e k t i v i t ä t der Lust a) Zwei Aspekte der S u b j e k t i v i t ä t : I n d i v i d u a l i t ä t und S e l b s t Bewusstsein b) Das Gefühl der Lust (und Unlust) a l s d r i t t e s Grundvermögen des Gemüts § 10 Eine offene Frage: Lust/Unlust und Gefühl § 11 Die Lust und die reflektierende U r t e i l s k r a f t a) Die notwendige Verflechtung b) Ueberleitung zur Untersuchung der kantischen Aesthetik . . . .
55 59 59 62 63 65 65 69 70 71 71 73
ZWEITER TEIL: UNTERSUCHUNG VON HAUPTFRAGEN DER KANTISCHEN AESTHETIK KAPITEL IV: PROBLEMHORIZONT § 12 Das Problem des Geschmacks § 13 Die Theorie des Geschmacks a l s K r i t i k der ästhetischen U r t e i l s kraft § 14 Der Gedankengang im Umriss § 15 Die Frage nach dem Ausdrucksgehalt des ästhetischen Gefühls der Lust ( I n t e r p r e t a t i o n eines Kerntextes, 1.1.)
77 81 84 86
KAPITEL V: ERSTE BESTIMMUNG DES GRUNDAKTES DER AESTHETISCHEN URTEILSKRAFT § 16 Was meint "Form"? (Erster T e i l ) § 17 Der Grundakt der ästhetischen U r t e i l s k r a f t a l s f r e i e s Auf-Begriffe-Bringen a) Leitgedanken b) Die ästhetische Reflexion a l s " b l o s s e s Reflektieren" c) Aesthetische Reflexion, Versuch einer Vergegenwärtigung ... d) Spiel von Einbildungskraft und Verstand e) Die Bedingtheit der ästhetischen Reflexion f ) Das ästhetische Reflektieren - r e f l e x i v gefasst § 18 Was meint "Form"? (Zweiter T e i l ) a) Form a l s eigenständige Bestimmtheit b) Zur ästhetischen Form § 19 Textanalyse ( I n t e r p r e t a t i o n eines Kerntextes, 1.2.) a) "Blosse Auffassung der Form" - eine v o r l ä u f i g e Kennzeichnung b) Defizienz- und Erfüllungsmodus ästhetischen R e f l e k t i e r e n s ; die ästhetische E i n s t e l l u n g c) Rekapitulation
96 99 99 102 105 107 109 111 114 114 116 119 119 122 127
XIV
Inhaltsverzeichnis
§ 20 Schwierigkeiten mit dem Begriff der Zweckmässigkeit des Schönen a) Das Problem b) Abgrenzungen c) Vorüberlegungen
128 128 130 135
KAPITEL VI: ZWEITE BESTIMMUNG DES GRUNDAKTES DER AESTHETISCHEN URTEILSKRAFT A. Der Zwiespalt
in Kants
Aesthetik
§ 21 Aesthetische Erfahrung vs. erkenntnisorientierte Bezugnahme .. a) Die unterschiedliche Gegebenheitsweise des Erkenntnisobjektes und des ästhetischen Gegenstandes b) Die unterschiedliche Vollzugsweise der ästhetischen gegenüber der erkenntnismässigen Bezugnahme auf Gegebenes Exkurs: Ein besser geeignetes Paradigma für die Beschreibung der ästhetischen Erfahrung c) Zwei Beispiele für Kants Phänomentreue § 22 Die zwei Pole der kantischen Aesthetik B. Das "Spiel" und die inneve Zweckmässigkeit
des
139 141 142 144 146
Schönen
§ 23 Der Grundakt der ästhetischen Urteilskraft als "Spiel von Einbildungskraft und Verstand" § 24 Die ästhetische Zweckmässigkeit als subjektive, innere Zweckmässigkeit-ohne-Zweck a) Die ästhetische Zweckmässigkeit ist innere Zweckmässigkeitohne-Zweck b) Die innere ästhetische Zweckmässigkeit ist "subjektiv" c) Die innere ästhetische Zweckmässigkeit ist "formal" d) Pro Memoria C. Der Begriff des "Spiels von Einbildungskraft Horizont von Kants methodischem Dualismus
139
und Verstand"
152 158 158 161 163 167
im
§ 25 Das Beispiel von § 9, KdU (Interpretation eines Kerntextes, 2.1.) a) "Spiel von Einbildungskraft und Verstand" - seine Ableitung aus dem Allgemeingültigkeitsanspruch b) Das "Spiel von Einbildungskraft und Verstand" - Ergebnis einer transzendentalen Reflexion? § 26 Die Zweideutigkeit im Begriff "Spiel von Einbildungskraft und Verstand" a) Zwei Anlässe b) Die Bedeutungsschwankung im Begriff der "Einbildungskraft" c) Widerstreit und Harmonie zwischen Einbildungskraft und Verstand
170 170 175 177 177 178 182
KAPITEL VII: DER GRUNDZUG DER AESTHETISCHEN URTEILSKRAFT UND IHRE ZUGEHOERIGKEIT ZUR REFLEKTIERENDEN URTEILSKRAFT-UEBERHAUPT § 27 Der Grundzug der ästhetischen Urteilskraft
188
Inhaltsverzeichnis
XV
a) Die ästhetische Urteilskraft, negativ bestimmt b) Das Wesen der ästhetischen Urteilskraft: Die Gunst und das Gönnen Exkurs: Der Widerspruch zwischen den §§ 58 und 67 der KdU c) Der Anspruch der Gunst d) Die grund-gebende Funktion der ästhetischen Urteilskraft .. § 28 Aesthetische Urteilskraft und reflektierende Urteilskraft-überhaupt
188 190 192 194 196 199
KAPITEL VIII: ZWECKMAESSIGKEIT DES SCHOENEN UND DER GRUND DER AESTHETISCHEN LUST A. Zur relativen
Zweckmässigkeit
des
Schönen
§ 29 Rekapitulation Exkurs: Interesselosigkeit, Absichtslosigkeit und ästhetische Einstellung; "empirisches" und "intellektuelles Interesse am Schönen" § 30 Innere und relative Zweckmässigkeit des Schönen § 31 Erinnerung an den Text der Zweiten Einleitung (Interpretation eines Kerntextes, 1.3.) § 32 Anspruch der Gunst und Prozess der Ent-Sprechung Exkurs: Synopsis der Bedeutungen von "Zweckmässigkeit" § 33 Am Uebergang zur Erklärung der ästhetischen Lust: Die Zweckmässigkeit des "Spieles" B. Die Lust am
207
208 219 223 226 233 237
Schönen
§ 34 Die Lust und der Anspruch der Gunst (Interpretation eines Kerntextes, 1.4.) § 35 Die ästhetische Lust und die menschlich-endliche Subjektivität
241 244
KAPITEL IX: GESCHMACK, GEMEINSINN, GESCHMACKSURTEIL A. Die latente Zweideutigkeit
im Begriff
der ästhetischen
Lust
§ 36 Kritisches zum Wortgebrauch § 37 Die (latente) wesentliche Unterscheidung § 38 Ein Exempel für Kants doppelsinnige Rede: § 9, KdU (Interpretation eines Kerntextes, 2.2.) § 39 Rekapitulation B. Kants Konzept
des
253 255
Geschmacks
§ 40 Geschmack im Horizont der "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" § 41 Geschmack als Gemeinsinn a) Die Ausführungen des § 21, KdU (Interpretation eines Kerntextes, 3.1.) b) Gemeinsinn und "allgemeine Stimme" c) Eine Richtigstellung (Interpretation eines Kerntextes, 2.3.) d) Zusammenfassung C. Das
249 250
258 261 261 265 268 270
Geschmacksurteil
§ 42 Die Zweistufigkeit der ästhetischen Urtei1sfindung
273
Inhaltsverzeichnis
XVI
§ 43 Das ästhetische Urteil: Produkt bewusster Geschmacksanwendung und Resultat absichtsloser Reflexion; zum kantischen Begriff des "Geschmacks" § 44 Die logische Form der Aussage "X ist schön" Exkurs: Regelästhetik und ästhetische Erfahrung § 45 Was meint der Ausdruck "Prinzip"?
275 278 280 282
KAPITEL X: DIE GRUNDLEGUNG DES AESTHETISCHEN URTEILS IN DER ANALYTIK DER "KRITIK DER AESTHETISCHEN URTEILSKRAFT" A. Die vier Momente § § § § §
46 47 48 49 50
§ 51 § 52
§ 53 § 54 § 55
der
Grundlegung
Orientierung Exponierung der Aufgabe, die vier Momente Der Objektbezug des "Spiels" Das "Spiel" als "Beurteilung" Die Bestimmung der Struktur des "Spiels" a) Vorbemerkung b) Die Deutung der ersten Strukturformel (Interpretation eines Kerntextes, 4.1. ) c) Die Ableitung der zweiten Strukturformel d) Eine dritte Formel und ihre Unbrauchbarkeit (Interpretation eines Kerntextes, 3.2.) Das "Prinzip des Geschmacks" nach Voraussetzung der Grundgleichung (Interpretation eines Kerntextes, 4.2.) Die Intersubjektivität des "Spiels" a) Die Intersubjektivität des Vollzugs b) Das allgemeine Bewusstsein des "Spiels" c) Geschmacksirrtum Methodische Zwischenbesinnung Die Momente der Deduktion im Zusammenhang, die Notwendigkeit des ästhetischen Urteils Zur Modalität des Geschmacksurteils
B. Ueberprüfung
der Rekonstruktion:
Analyse
der
287 291 294 295 297 297 299 303 305 307 311 311 312 313 315 316 318
Texte
§ 56 Die Darstellung der "Deduktion" im § 38, KdU; erster Teil (Interpretation eines Kerntextes, 5.1.) § 57 Die Gewinnung der Grundgleichung im § 35, KdU (Interpretation eines Kerntextes, 4.3.) § 58 Die Darstellung der "Deduktion" im § 38, KdU; zweiter Teil (Interpretation eines Kerntextes, 5.2.) § 59 Kants mittelbarer Schönheitsbegriff
321 323 335 337
KAPITEL XI: KRITIK § § § §
60 61 62 63
Die Grundgleichung Orientierung Petitio Principi i Parallelisierungsstrategie und Sachgerechtigkeit; zur hermeneutischen Schwierigkeit der "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" § 64 Kants Konstruktion (Interpretation von Kerntexten, 4.4. und 5.3.) a) These b) Ad § 35, KdU (Interpretation 4.4.)
340 342 343 347 352 352 353
Inhaltsverzeichnis c) Ad § 38, Kdll (Interpretation 5.3.) d) Fazit § 65 Die Ursachen der kantischen Selbsttäuschung
XVII 356 358 359
KAPITEL X I I : WAS BLEIBT § 66 Die grundsätzlichen methodischen Orientierungen: Konsenslogik und Transzendentalontologie § 67 Zur Ontologie des Schönen Exkurs: Die Subjektivierungsthese § 68 Der Einbezug der Geschichtlichkeit a) Zur Aposteriori tat der ästhetischen Erfahrung Exkurs: Verstehen, Sinnkonstitution und die Auffassung des Schönen b) Das Problem des Schönen: Einheit von Apriori und Geschichtlichkeit LITERATURVERZEICHNIS
363 367 369 372 372 375 375 379
ERSTER TEIL: KONTEXT
KAPITEL I DER BEGRIFF DER REFLEKTIERENDEN URTEILSKRAFT IN ERSTER NAEHERUNG
§ 1 Aufgabe, Bereich und Grundfunktion der reflektierenden
Urteilskraft
a) Die bestimmende Urteilskraft
"Urtei1skraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert (auch wenn sie als transzendentale Urteilskraft a priori die Bedingungen angibt, welchen gemäss allein unter jenem Allgemeinen subsumiert werden kann) bestimmend.
Ist aber nur das Besondere ge-
geben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloss reflektierend. 2 Kant vollzieht eine erste Unterscheidung: die "Urteilskraft-liberhaupt" , das Vermögen, das die Vermittlung von Allgemeinem und Besonderem besorgt, lässt sich entweder als "bestimmende" oder als "reflektierende Urteilskraft" fassen. Der ersteren gilt vorerst unser Interesse. Die "bestimmende Urteilskraft" bestimmt das Besondere auf sein bereits bestimmtes Allgemeines hin, d.h. sie findet zur Regel den Fall, zum jeweiligen Begriff die je korrespondierende Anschauung - ihr Bereich ist also dort, wo begrifflich schon Festgelegtes besteht. Als solche Fähigkeit der Subsumtion erscheint 1 Kdu, Einleitung, p. XXV/XXVI 2 Im folgenden und zumal im Zusammenhang mit der Analyse der "reflektierenden Urteilskraft" -im Rahmen der kantischen Aesthetik verwenden wir den Begriff "reflektierende Urteilskraft überhaupt" (meist geschrieben "reflektierende Urteilskraft-überhaupt"). Dieser Begriff ist vom Begriff "Urteilskraft-überhaupt" als dem Oberbegriff von reflektierender und bestimmender Urteilskraft genau zu unterscheiden; cf. u n t e n , p. 31ff.
4
Der Begriff der reflektierenden
Urteilskraft
die bestimmende Uk (Uk = Urteilskraft) vor allem in der KrdrV als ein 3 "Talent", das nicht "gelehrt", sondern nur "geübt" sein will. Eine "Naturgabe", ein "Talent" ist sie deshalb, da ihr für den ob etwas der Fall einer Regel aus
Entscheid,
ist oder nicht, über die gegebene Regel hin-
keine andere Regel angegeben werden kann, weil ja sonst "wiederum eine
andere Urteilskraft erforderlich sein w ü r d e , um unterscheiden zu können, ob 4 es der Fall der Regel
sei oder nicht."
Die Uk kann den Schwarzen Peter
nicht weitergeben - die Aufgabe der Subsumtion hat sie in eigener zu lösen und zu
Kompetenz
verantworten.
So ist das Talent der bestimmenden Uk zunächst nichts anderes als Klugheit oder Kants "gesunder Menschenverstand", die denjenigen
auszeichnet,
der nicht nur w e i s s , sondern sein Wissen auch zu applizieren versteht. Sie ist das Können, das den guten Juristen, Arzt oder Politiker vom schlechten scheidet. Damit ist die bestimmende Uk allerdings erst in ihrem empirischen Gebrauch
umschrieben.
Der KrdrV wird sie aber nicht aus dieser Perspektive dringlich, sondern 5 als transzendentale Funktion, die einer eigenen Doktrin bedarf.
Da sich
Erkenntnis auch als reine als Synthesis von Anschauung und Begriff in einem Akt der (das Einzelne mit dem Allgemeinen vermittelnden) Uk
realisieren
muss und weil das "Talent" der Uk jedenfalls bei seinen empirischen
Subsum-
tionen immer mit der Möglichkeit eines Irrtums verbunden bleibt, ist es der Fundamentaluntersuchung, die die Möglichkeit und Wahrheit von Erkenntnis a priori
sichern und umgrenzen w i l l , notwendig, etwaige
"Fehltritte
der Urteilskraft im Gebrauch der wenigen reinen Verstandesbegriffe,
die
wir haben, zu verhüten".^ Für die transzendental
fungierende soll also das Problem der Uk - die
niemals gänzlich determinierte Beziehung von Regel und Fall - grundsätzlich gelöst werden; so nämlich, dass der transzendentalen Uk klar gemacht wird, 3 KrdrV, Β 172. 4 KdU, Vorrede, p. VII 5 Das zweite Buch der "transzendentalen Analytik" trägt den Titel "Die Analytik der Grundsätze (transzendentale Doktrin der Urteilskraft)". 6 KrdrV, Β 174.
5
Die bestimmende Urteilskraft dass ihr immer schon (a priori) der Fall angezeigt ist, auf den sie die Regel, den reinen Verstandesbegriff, allein anwenden kann.^ Mit anderen
Worten: Die Transzendental philosophie muss die Bedingungen, unter welchen aus der Materie des in der Anschauung Gegebenen Gegenstände in Uebereinstimmung mit reinen Verstandesbegriffen konstituiert werden können, in allgemeinen, aber hinreichenden Kennzeichen vollständig darlegen können. Bekanntlich sind diese Bedingungen dann die Produkte der transzendentalen Einbildungskraft, die Schemata; - in ihnen entdeckt Kant die Determinanten, die a priori ausgemacht haben, was überhaupt je der Fall der transzendentalen Regeln (Kateqorien) der in diesem Rahmen agierenden Uk sein kann, und bewältigt so das Problem der transzendentalen
Subsumtion.
o Kambartel stellt die (die transzendentale "Doktrin der Urteilskraft") leitende Ueberlegung in aller Kürze folgendermassen vor: "Die mangelnde "Präzision" bei der Anwendung einer Regel beruht darauf, dass die Fälle nicht von vornherein sämtlich auf die Regel abgestimmt sind, "nur selten die Bedingung der Regel adäquat erfüllen" (B 173). Es gibt im allgemeinen unvorhergesehene Besonderheiten, so dass die Entscheidung aus der Regel nicht ableitbar ist. Präzise könnte eine Regel nur dann sein, wenn der Bereich möglicher Anwendung vollständig determiniert ist. Eine solche Determination ist dann möglich, wenn nicht nur die Regel, sondern auch die Fälle, in denen nach ihr verfahren wird, von vornherein gemacht und nicht einem unübersehbaren Zufall, dem Gegebenwerden, überlassen bleiben. Dieser Fall liegt, so argumentiert Kant, dort vor, wo es sich um die Bedingungen jeden möglichen Gegenstandes der Erfahrung handelt." Wie bekannt findet Kant diese Bedingungen schliesslich in den Schematen der reinen Verstandesbegriffe. Die Schwierigkeiten, die zu beheben die empirische Uk zum nicht lehrbaren Talent macht, kann mithin aus dem Funktionskreis der transzendentalen Uk eliminiert werden. Für beide Spielformen der bestimmenden Uk (die transzendentale und die empirische) aber gilt, dass sie vor eine Frage stellt sind, diese nämlich, der sich die sog. "reflektierende
nicht geUrteilskraft"
gegenüber sieht.
7 cf. KrdrV, Β 175. 8 Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur, Frankfurt a. Main 1968.
6
Der Begriff der reflektierenden
Urteilskraft
b) Das Reflektieren der reflektierenden
Urteilskraft
In der zitierten Definition setzt Kant neben die "bestimmende" die "reflektierende Urtei1skraft". Auch sie denkt das Besondere als im Allgemeinen enthalten, jedoch nicht so, dass sie vom Allgemeinen zum Besonderen und Einzelnen geht, sondern gegenläufig, indem sie vom vereinzelt Vorliegenden aus das Gemeinsame sucht. Als in solcher Tätigkeit sich vollbringende heisst sie "Reflektieren
"reflektierende".
(Ueberlegen) aber ist: gegebene Vorstellungen
entweder
mit anderen, oder mit seinem Erkenntnisvermögen, in Beziehung auf einen g dadurch möglichen Begriff, zu vergleichen und zusammenzuhalten."
Die
Tätigkeit der "Reflexion" wird hier in doppelter Weise in den Blick genommen. Einmal
ist sie das "vergleichende Zusammenhalten von Vorstellun-
gen untereinander", zum anderen Vergleichen und Zusammenhalten von Vorstellungen mit dem "Erkenntnisvermögen".
Beides geschieht in "Beziehung
auf einen dadurch möglichen Begriff". Der Begriff, um den es hier geht, ist, wie Kant im weiteren Verlauf sogleich anmerkt, der empirische. "Reflektieren" wird von Kant also im Umkreis der empirischen
Begriffs-
bildung verwendet; Begriffsbildung ist aber sonst, d.h. in der KrdrV, als eine Tätigkeit des Verstandes ausgezeichnet, - dort ist er das eigentliche "Vermögen der B e g r i f f e " ^ , das die Einheit und Gesetzmässigkeit des Begrifflichen in der Mannigfaltigkeit der Anschauung herstellt. Dass nun in der KdU die Uk, genauer: die reflektierende Uk, eine Funktion übernimmt, die bisher dem Verstand zukam, ist wohl zu beachten, denn die Klärung dieser terminologischen Verschiebung wird Einsicht in einen Wesenszuq der reflektierenden Uk bringen. Die empirische Begriffsbildung erscheint Kant als Reflexion, d.i. als eine Zurückbeugung, weil das vergleichende Sichten
(Komparation) der ver-
schiedenen gegebenen Vorstellungen auf ihr Gemeinsames
(das sie unter sich
befassende Allgemeine) hin, einen die Komparation allererst
9 Erste Einleitung, p. 192. 10 cf. KrdrV, A 126.
ermöglichenden,
Das Reflektieren der reflektierenden Urteilskraft
7
das Besondere schon immer übergreifenden Gesichtspunkt voraussetzt. Das Bilden empirischer Begriffe ist Reflexion, insofern es sich stets als Zurückbeugen vom vorqänqig erfassten Gesichtspunkt der Vergleichung auf das in unmittelbarem Anblick Gegebene und von diesem wieder zurück auf das diesem einheitlich Zuqehöriae, das Allgemeine des Begriffs, vollziehen muss. Von der wesentlichen Leistung des Begriffs herkommend expliziert Heidegger den fraglichen Sachverhalt folgendermassen: "Im Vorstellen, z.B. einer Linde, Buche, Tanne als Baum, wird das je einzelne Angeschaute als das und das bestimmt, aus dem Hinblick auf solches, was "für viele gilt". Diese Vielgültigkeit kennzeichnet zwar eine Vorstellung als Begriff, trifft jedoch noch nicht dessen ursprüngliches Wesen. Denn diese Vielgültigkeit gründet ihrerseits als abgeleiteter Charakter darin, dass im Begriff je das Eine vorgestellt ist, in dem mehrere Gegenstände übereinkommen. Begriffliches Vorstellen ist Uebereinkommenlassen von Mehrerem in diesem Einen. Die Einheit vorgreifend
dieses Einen
muss daher im begrifflichen Vorstellen
herausgesehen und allen bestimmenden Aussagen über das Mehrere
uorgehalten werden. Das vorgängige
Heraussehen des Einen, darin Mehreres
soll übereinkommen können, ist der Grundakt der Begriffsbildung.
Kant
nennt ihn "Reflexion". Sie ist die "Ueberlegung, wie verschiedene Vorstellungen in einem Bewusstsein begriffen sein können" (Logikvorlesung § 6). Solches Ueberlegen (Reflektieren) bringt eine Mehreres umareifende Einheit als solche vor sich, so dass im Bezug auf diese Einheit die Mehreren verglichen werden (Komparation); zugleich wird dabei von dem, was mit dem vorgehaltenen Einen unstimmig ist, abgesehen (Abstraktion im kantischen Sinne)." 1 1
Wenn damit klar geworden ist, dass die als Reflexion gefasste Beariffsbildung fundiert
sein muss in jenem "vorgängiqen Heraussehen des Einzelnen,
darin Mehreres soll übereinkommen können", wird durchsichtiq, warum Kant an der oben zitierten Stelle fortfährt: "Das Reflektieren ... bedarf für uns eben so wohl eines Prinzips,
als das Bestimmen (der bestimmenden Uk), in
welchem der zum Grunde gelegte Begriff vom Objekt der Urteilskraft die
11 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a.Main 1965 3 , p. 53/54.
8
Der Begriff der reflektierenden
Urteilskraft
Regel vorschreibt, und also die Stelle des Prinzips vertritt."
12
Das Prin-
zip der Reflexion ist zunächst nichts anderes als die vorweg herausgestellte Einheit dessen, was unter ihr verglichen (Komparation) und ev. in sie zusammengenommen werden kann
(Abstraktion).
Mit dieser Feststellung ist indes erst wenig gewonnen, denn das Problem, das Kant mit dem "Prinzip des Reflektierens" aufgreift, ist dadurch noch nicht einmal namhaft gemacht. Und doch ist genau dies Problem gleichsam das Movens, das die Ausdifferenzierung des kantischen Begriffs der reflektierenden Uk voranbringt. Die reflektierende Uk soll zum gegebenen Besonderen das Allgemeine "finden", heisst es in der Definition der Einleitung. Kant sagt mit Bedacht "finden" und nicht "bilden". Finden ist das Aufspüren eines Gesuchten im Durchforschen des Vorliegenden. Im Wesen der Suche liegt aber, das Gesuchte als auffindbar
vorauszusetzen. Ohne diese immanente
"Hoffnung"
kann Suche nie beginnen. Das Suchen hat demnach die Eigenheit, das ihr vorgegebene Feld des Durchforschbaren unter die Einheit einer umfassenden Hinsicht zu stellen. Das Suchen - seiner allgemeinsten Struktur nach betrachtet - blickt vom vorweg gesehenen Prinzip
der Auffindbarkeit
her auf
das ihm unmittelbar Vorlieaende zurück, d.h. das Suchen ist eine Weise der Reflexion, - oder vielmehr gilt das Umgekehrte: Reflektieren der
ist eine
Art
Suche.
In seiner weitesten und allgemeinsten Fassung lässt sich daher das Prinzip der Suche der reflektierenden Uk nach dem empirisch Allgemeinen folgendermassen umschreiben:
"Dass sich zu allen Naturdingen empirisch bestimm-
te Begriffe finden lassen." Aber wie verhält sich das eben Erläuterte zu dem in Anschluss an Heidegger Ausgeführten? Als das Prinzip des Reflektierens haben wir zunächst den die Komparation ermöglichenden und die Abstraktion leitenden Gesichtspunkt vorgestellt. Begriffe man deshalb aber nur den jeweiligen, bestimmten
bestimmten Gesichtspunkt einer
Komparation, gemäss dem Beispiel Heideggers, also etwa das Baum-
hafte, als das von Kant mit dem "Prinzip des Reflektierens" 12 Erste Einleitung, p. 192.
Intendierte,
9
Das Reflektieren der reflektierenden Urteilskraft
würde der Sinn dieses Terminus gerade verfehlt. Die Ueberlegung zur Struktur des Suchens hat ja gezeigt, dass jeder einzelnen Suche vorgängig die Annahme gemacht sein muss, dass das Suchen überhaupt
erfolgreich sein
kann; - was für die Suche der reflektierenden Uk eben besagt, "dass sich zu allen Naturdingen empirisch bestimmte Begriffe (überhaupt) finden lassen". Der die Komparation von Linde, Buche, Fichte, etc. primär führende und den Vorblick auf solches wie Baumhaftes allererst
ermöglichende
Gesichts-
punkt (nämlich der, dass ein diesen Naturformen Gemeinsames in der Tat entdeckbar ist) ist mithin das, was Kant als "Prinzip des Reflektierens" im Visier hat. Und das oben erwähnte arundsätzliche Problem bricht nur hier auf. Es meldet sich, wenn wir fragen, weshalb im Bereich empirischer Begriffe denn eigentlich von "Suchen" und "Finden" die Rede sein muss. Varum Kant das Bilden
empirischer
Begriffe
ausdrücklich
ein "Suchen"?
heisst
M.a.W.: Wa-
rum kann "Bilden" jedenfalls nicht die Bedeutung eines ursprünglichen, freischöpferischen Machens haben? Die Antwort ist leicht, wenn man sich die Differenz zwischen empirischem und transzendentalem Gebrauch des menschlichen Verstandes vergegenwärtigt.
Im transzendentalen Gebrauch ist das Bilden der
(reinen Verstandes-) Begriffe ein freies Herstellen des Einheitlichen der Gegenstände als Gegenstände. Doch diese Begriffe bestimmen die Gegenstände der Natur nur in ihrer allgemeinsten Form, in dem, was ihnen, insofern sie nur Gegenstände sind, gemeinsam sein muss. Ihre Verschiedenheit, die Mannigfaltigkeit der Bestimmungen der "Naturdinge", durch die sie als gegeneinander je andere auftreten, bleibt der Tätigkeit des transzendentalen des äusserlich und fremd. Wie ist dann aber das Bilden der Begriffe, die Ordnung in eben diese
Verstan-
(empirischen)
Mannigfaltigkeit bringen sollen, mög-
lich? - Offenbar nur so, dass die Ordnung in die Mannigfaltigkeit nicht eigentlich hineingebracht, sondern umgekehrt aus ihr herausgenommen wird. Das Bilden der Begriffe ist also ein Nachbilden: das Reflektieren der reflektierenden Uk muss sich als ein Ablesen und eigens Herausstellen von solchem, was schon ist, vollziehen; - als Suche mithin.
Das grundlegende Prinzip dieser Suche sei, dass "sich zu allen Naturdingen empirisch bestimmte Begriffe finden lassen". Ob dies aber tatsächlich realisierbar ist, muss zunächst offen bleiben. Denn: "Ob die Natur zu jedem Objekte noch viele andere als Gegenstände der Vergleichung, die mit
Der Begriff der reflektierenden Urteilskraft
10
ihm in der Form manches gemein haben, aufzuzeigen habe"
13
, ist nicht von
vornherein gewiss. "Nun lehrt zwar schon der reine Verstand, alle Dinge der Natur als in einem transzendentalen System nach Begriffen a priori 14 enthalten zu denken" die Natur
zu ihrer
derselben
in Gattungen
macht,
in der
, daraus folgt aber nicht notwendigerweise,
grenzenlosen und Arten
Vergleiahung
Mannigfaltigkeit getroffen
der Naturformen
habe,
eine solche die es (uns)
Einhelligkeit
"dass
Einteilung möglich
anzutreffen
und
zu empirischen Begriffen, und im Zusammenhang derselben untereinander, durch Aufsteigen zu allgemeineren, gleichfalls empirischen Begriffen zu 15 gelangen"
, - m.a.W.: das Prinzip der Suche der reflektierenden Uk, das
beim ersten Ansehen tautologisch erscheint, birgt die fundamentale Einsicht, dass die Lösbarkeit der Aufgabe der reflektierenden Uk vom nicht erzwingbaren "Entgegenkommen" des Gegebenen dependiert, weil das Gelingen der Bildung empirischer Begriffe nicht allein von den Erkenntniskräften der menschlichen Subjektivität abhängt. Der für die erste Explikation des Begriffes der reflektierenden Uk entscheidende Tatbestand ist damit ins Licht gerückt: Die reflektierende Uk ist nicht anders denn als Resultat der Auseinandersetzung
Kants mit dem
Problem der nicht a priori bestimmten und niemals bestimmbaren Mannigfaltigkeit des Gegebenen zu begreifen
nur wenn man dies im Auge behält,
wird dem Begriff "reflektierende Urteilskraft" die Einheitlichkeit des Sinnes zu bewahren sein. Das Wesen der reflektierenden Uk ist daher noch keineswegs zureichend erläutert, wenn man sie bloss als eine in umgekehrter Richtung arbeitende (vom Besonderen zum Allgemeinen) bestimmende Uk
13 14 15 16
Erste Einleitung, p. 192 Anm. 1). Erste Einleitung, p. 192 Anm. 1). Erste Einleitung, p. 192 Anm. 1) (Unterstreichung von mir. G.K.) Diese - allerdings sehr globale Feststellung - wird sich zuletzt dort bewähren, wo die Einheit von teleologischer und ästhetischer Uk im Ganzen der reflektierenden Uk-überhaupt im Blick steht, cf. unten, p. 183ff. W. Bartuschat, in: Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a.Main 1972, versucht die (reflektierende) Uk vom selben Grundbefund her zu begreifen: er versteht (p.91) die KdU insgesamt als die "Thematisierung der ... der apriorischen (= transzendentalen) Synthes is vorgelagerten Vorgegebenheit, die dem Prinzip gegenüber zufällig ist". (Hinsichtlich der ästhetischen (reflektierenden) Uk werden wir freilich eine Meinung vertreten, die in vielem von derjenigen B.s. abweicht.)
Grundfunktion und Bereich der reflektierenden Urteilskraft
11
darstellt; es wird sich im Gegenteil ergeben, dass die Unterscheidung von reflektierender und bestimmender Uk anhand ihrer respektiven Fragerichtung im Schema Besonderes-Al 1 gemeines bloss propädeutischen Charakter besitzen kann und im Vordergründigen steckenbleibt.
c) Grundfunktion und Bereich der reflektierenden Urteilskraft
Die reflektierende Uk habe zum Besonderen der Anschauung das Allgemeine des Begriffs zu suchen, - von Belang ist in dieser Formulierung für die Wesenserfassung der reflektierenden Uk nur das eine, dass die Aktivität der reflektierenden Uk an einen bestimmten
Gegenstandbereich
wird: das Allgemeine des Begriffs "suchen"
kann man nämlich allein in der
gebunden
Region des Empirischen ^, und diese umfasst, unter Berücksichtigung der KrdrV, all das, was reiner Erkenntnis entzogen bleibt; - das sinnlich Gegebene demnach, sofern es "durch jene Gesetze, welche der reine Verstand a priori gibt, weil dieselben nur auf die Möglichkeit einer Natur (als 1g Gegenstandes der Sinne) überhaupt gehen, unbestimmt gelassen wird." Die einführende Kennzeichnung Kants, die reflektierende Uk habe "zum Besonderen das Allgemeine zu suchen", hält also fest, dass es der reflektierenden Uk wesensmässig ums zunächst noch unbestimmt Gegebene der Anschauung und seine begriffliche Durchdringuna zu tun ist. Aus dieser Funktion ist nun ihr Wesen bestimmter zu begreifen: Weil vom Reichtum der empirischen Vorstellungen nie gewiss sein kann, ob er einen für uns fasslichen Zusammenhang von Gattungen und Arten hergibt, wir aber doch, wenn wir eine solche Ordnung ausmachen wollen, nicht ohne die Erwartung der Angemessenheit des Gegebenen an die Kraft unserer Erkenntnisvermögen zu forschen imstande sind, aibt sich die reflektierende Uk die prinzipielle Annahme einer für ihre Aufgabe zweckmässigen empirischen Mannigfaltigkeit (eben: "dass sich zu allen Naturdingen empirisch bestimmte Begriffe finden lassen") vor. Im Lichte dieser Voraussetzung versucht sie dann durch Reflektieren des jeweils Besonderen das jeweils Allgemeine zu erlangen, um so zur systematischen Einheit dessen, was vom "System der
17 D a s n i c h t - e m p i r i s c h A l l g e m e i n e priori
''gefunden".
18 E i n l e i t u n g , p . X X V I .
der
reinen Verstandesbegriffe
ist j a a
12
Der Begriff der reflektierenden
Urteilskraft
Grundsätze" (KrdrV) unbestimmt geblieben, fortzuschreiten. Die reflektierende Uk ist mithin, ihrer Grundfunktion nach (und jener definitorischen Bestimmunq, die Fähigkeit zu beariff1 icher Verallgemeinerung des Gegebenen zu sein, vorgängig), das Vermögen entsprechenden
Welt.
zum Entwurf
einer
dieser
Fähigkeit
Und so ist dies, das Vermögen eines grund-legenden
Weltentwurfs zu sein, der dem Verhalten zur gegebenen Welt seine Möglichkeit schafft, das ursprünglichste
Wesensmerkmal, dem die reflektierende
Uk ihre Eigenständigkeit im Gefüge der übrigen "Erkenntnisvermögen" verdankt. Freilich, dies lässt sich nur dann behaupten, wenn der eigentümliche Status des "Entwurfs" der reflektierenden Uk bewusst bleibt. Das Prinzip der reflektierenden Uk ist stets nur Annahme, die an der Wirklichkeit des Gegebenen auch scheitern könnte und daher nie eine Bedingung von 19 Wirklichkeit überhaupt wie die Kategorie
. Wäre dies der Fall, müsste
die reflektierende Uk schliesslich mit dem Verstand in seinem transzendentalen Gebrauch zusammenfallen, so aber hebt sie sich vom letzteren ab, der als transzendentaler die Natur auf seine Gesetze verpflichten kann (da die Natur ohne diese gar kein Gegenstand der Erfahrung sein würde) und der als Funktion empirischer
Erkenntnis - wie mittlerweile deutlich geworden sein
dürfte - auf die Voraussetzung der reflektierenden Uk angewiesen ist. Zu erklären ist jetzt, weshalb Kant, dem noch in der KrdrV der Verstand das eigentliche "Vermögen der Begriffe" ist, die Bilduna empirischer Begriffe 20 der reflektierenden Uk zuweist.
d) Begriffsbildung und reflektierende
Urteilskraft
Der Verstand ist in der KrdrV das spontane Vermögen, das den steten Wechsel und die Vielfalt der Affektationen der Sinnlichkeit in die feste Form sich durchhaltender Gesetze und in die überschaubare Ordnung begrifflicher Systematik einfügen kann. M.a.W.: Der Verstand bestimmt sich aus dem Gegensatz zur bloss empfanaenden Anschauung als der Grund der Ordnung, Gesetz- und Reqelmässigkeit der Erscheinungen. Deshalb präsentiert er sich auch als das "Vermögen der Begriffe", denn die Begriffe sind es, die etwas als etwas festmachen und identifizieren und dem flüchtigen Wandel 19 cf. dazu Erste Einleitung, p. 186 Anm. 1). 20 cf. oben, p. 6.
sinn-
Begriffsbildung und reflektierende
13
Urteilskraft
li cher Vorstellungen den Bestand des Objektiven verleihen. Nun ist unverkennbar: Fasst man den Verstand in dieser Perspektive
(= der Fragestel-
lung der KrdrV gemäss), dann bedeutet "Vermögen der Begriffe" zunächst nichts anderes und nichts mehr als das Vermögen jener Grund-begriffe, die vor aller sinnlichen Erfahrung das Einheitliche des je Erfahrbaren
immer
schon vor-gebildet haben. Für diese Stammbegriffe aller menschlichen Erkenntnis aber stellt sich das Problem ihrer Bildunq, d.i. die Frage, wie man zu ihnen gelangt, gar nicht, vielmehr hat sie die "Deduktion" als diejenigen Elemente des Verstandes freigelegt, die je schon im Spiel
sein
müssen. Dagegen wird - in der "transzendentalen Doktrin der Urteilskraft" - die Möglichkeit ihrer Applikation aufs sinnlich Geqebene als ein eigenständiges Problem erkannt, - die zwischen Sinnlichkeit und Verstand vermittelnde transzendentale Uk muss auf ihre Bedingung, die
(transzendentale)
Einbildungskraft zurückgeführt werden. Anders steht es mit dem empirischen Begriffen: Weil sie niemals - per definitionem nicht - der Erfahrung vorgegeben sind, sondern erst aus ihr zu gewinnen sind, stellt sich das Problem ihrer Anwendunq nicht: Ist es erst einmal keit allemal
(was aber in seiner Möglich-
fraglich ist) geglückt, zum "gegebenen Besonderen das Allge-
meine zu finden", so ist das Besondere auch schon unter den Begriff gebracht. Im Rahmen des Empirischen fallen Begriffsbildung und -anwendung also ineins. Wir können auch sagen: Die reflektierende Uk ist am Ende ihres Tuns zur bestimmenden geworden.
(Freilich gilt das, wie wir später
feststellen werden, uneingeschränkt bloss renden Uk, - für die sog.
für die eine Art der reflektie-
(teleo)logische).
Im Feld des Empirischen erscheint mithin das Problem der Applikation von Begriffen in der Gestalt des Problems der Möglichkeit ihrer Bildung. Denn beides entstammt ja schliesslich demselben Grund: Der die menschliche Erkenntnis kennzeichnenden Differenz von Sinnlichkeit und Verstand, die die Einheit beider Vermögen nicht selbstverständlich erscheinen lässt. Es ist nun nach Kant die Funktion der Uk, die Sinnlichkeit und den Verstand einander zu vermitteln, - bezüglich der Kategorien aufgrund der transzendentalen Schemate, bezüglich der empirischen Begriffe mittels des genannten (aber erst unzulänglich vorgestellten) Prinzips. Das Gesagte macht zweierlei
klar: Weil erstens im Bezirk des Empirischen das Problem
der Anwendung der Begriffe in das ihrer Bildung eingeht, und weil
zweitens
Der Begriff der reflektierenden
14
Urteilskraft
an der Lösung des letzteren die reflektierende ük ihre genuine Aufgabe hat, muss jetzt hinsichtlich der empirischen
Begriffe,
die reflektierende
Urteils-
kraft mit Vorrang als "Vermögen der Begriffe" auftreten. Dass nicht mehr der Verstand, sondern die reflektierende Uk das Vermögen der Begriffe ist, liegt also daran, dass es in der KdU um jene Begriffe geht, die nicht der transzendentalen Subjektivität direkt entstammen, sondern der nur dank dem eigenen Prinzip der reflektierenden Uk statthabenden
Reflexion.
§ 2 Die reflektierende Urteilskraft und ihr Zusammenhang mit der Vernunft
a) Das Auf-Begriffe-Bringen und die anderen
Erkenntnisvermögen
Die reflektierende Uk ist als das "Suchen des Allgemeinen zum Besonderen" nichts anderes als der Prozess des Auf-Begriffe-Brinqens des je Gegebenen; ihr Reflektieren
ist auf Begriffe-Bringen.
So gesehen entdeckt sich von
selbst, was die Leistung der reflektierenden und am Ende zur bestimmenden werdenden (d.h. die Leistung der einen Art der) Uk ist: der Vollzug rischer
empi-
Erkenntnis.
"Erkenntnis" ist für Kant je die Synthesis von Anschauuna und Begriff oder die begriffliche Fixierung des sinnlich Gegebenen. Erkenntnis geschieht also dort, wo es gelingt, das der Anschauung Vorkommende auf Begriffe zu bringen - empirische Erkenntnis also da, wo die reflektierende Uk die ihr gestellte Aufgabe erfüllt. Es wundert daher nicht, dass Kant die reflektierende Uk ausdrücklich immer wieder ein 21 heisst.
Unter diesen gleichen Titel des "Erkenntnisvermögens" werden in
der KdU nun freilich ebenso Einbildungskraft im Auf-Begriffe-Bringen Verstand
"Erkenntnisvermögen"
der reflektierenden 22
stets mit im "Spiel",
und Verstand
gebracht, und
Uk sind Einbildungskraft
und
oder anders gesagt, erst aus dem Zusam-
menwirken aller drei Vermögen resultiert Erkenntnis. Die Klärung dieses Zusammenhangs wird unser übernächstes Ziel sein. (Dringlich ist die Klärung dieser Sache v.a. im Hinblick auf den schwierigen Ausdruck, der im 21 Die Urteilskraft gehört mit Verstand und Vernunft in die "Familie der oberen Erkenntnisvermögen" (cf. Einleitung, Kpl. III). 22 cf. z.B. Einleitung, p. XLIV.
Die reflektierende Urteilskraft als Moment im Ganzen
15
Zentrum der kantischen Aesthetik steht, im Hinblick also auf das "Spiel von Einbildungskraft und Verstand", als welches das Tun der reflektierenden Uk im Umkreis des Schönen zu begreifen ist.) Vor jede Behandlung des genannten Verhältnis 1
(Einbildungskraft/Verstand/Uk)
gehört jedoch die
Erläuterung der Beziehung zwischen reflektierender Uk und Vernunft; eine Relation, die wir nun thematisieren werden.
b) Die reflektierende Urteilskraft als Moment im Ganzen der einen menschlichen Vernunft
Das Prinzip der reflektierenden Uk, d.h. "die gedachte Uebereinstimmung der Natur in der Mannigfaltigkeit
... zu unserem Bedürfnisse, Allgemein-
heit der Prinzipien für sie aufzufinden, muss nach aller unserer Einsicht als zufällig beurteilt werden, gleichwohl aber doch für unser Verstandes23 24 bedürfnis als unentbehrlich." Das Prinzip ist also subjektiv notwendig, jedoch objektiv
zufällig,
d.i. die Voraussetzung einer der Absicht und
Aufgabe der reflektierenden Uk gemessen Qualität der Natur ist fürs Subjekt verbindlich, bleibt aber bezüglich der Realisierung ihrer Prätention auf die "Zustimmung" des Gegebenen angewiesen. Die Doppelnatur des Prinzips offenbart, dass das Tun der reflektierenden Uk in einer grundsätzlichen Spannung steht, stets sich vollbringen muss im Zwischen von Anspruch und Erfüllung. Welches ist aber eigentlich dieser Anspruch, woher kommt er; woher hat die reflektierende Uk ihr Ziel und wie stellt es sich dar, wenn man es aus seinem Ursprung zu denken versucht? Es ist diese Frage, die uns erst eigentlich zur Besinnung des Verhältnis 1
von reflektierender Uk und Vernunft
nötigt. Um damit beginnen zu können, ist zuerst ein Vorurteil
anzugehen,
dass leicht entstehen kann, wenn wir uns unbedenklich einer Sprachgewohnheit überlassen, - der Besprechung nämlich der reflektierenden Uk (wie auch des Verstandes, der Einbildungskraft, etc.) unter dem Titel des "(Seelen-)Vermögens".
23 Einleitung, p. XXXVIII. 24 cf. dazu a. oben, p . l l .
16
Der Begriff der reflektierenden Urteilskraft Die Uk sei das "Vermögen" das Allgemeine zum Besonderen zu finden, oder
das "Vermögen" zum Entwurf einer dem Menschen gemässen Welt. In solcher Rede liegt die Gefahr, die reflektierende Uk, wie auch die andern
"Vermö-
gen", zu einem je Selbständigen zu verdinglichen, zum werkzeughaften Können, das, jedes von jedem isoliert, zur Ausführung seiner spezifischen Funktion irgendwo bereit liegt, oder gar - als ein eigenständiges Subjekt - von sich aus ab und zu seine Fähigkeit am vorliegenden Material erprobt. Solche Verdinglichung wäre für die Sache, die Kant mit dem Namen der "Seelenvermögen" vorzulegen versucht, fatal - nämlich für die entfaltete Wirk-1ichkeit der einen
menschlichen Vernunft, die als ein Insgesamt
von ineinanderspielenden und bloss aus der gegenseitigen Abhebung in der umgreifenden Einheit selbständigen Funktionen zu denken ist. Bezüglich dessen, was Kant "Vermögen" heisst, ist also aller Schein von für sich bestehender Substantialität aufzulösen; nur so lässt sich verstehen, dass ein "Vermögen" ins andere ohne Sprung hinüberführt (wie sich uns am Beispiel von "Vernunft" und "reflektierender Urteilskraft" erweisen wird). Gewiss: der Ausdruck des "Vermögens" hat durchaus seinen guten Sinn, und man wird ihn auch keineswegs aufgeben können, wenn man das Ganze der Vernunft artikulieren, d.h. als einen Konnex von bezeichenbaren Momenten explizieren will. Wovor man sich hüten muss, sind nur die falschen Hypostasierungen, wenn von "der" Uk, die "tut", "erwartet", "findet" gesprochen wi rd.
Im Licht des soeben Gesagten ist nun noch einmal Kants erste Bestimmung der reflektierenden Uk zu überlegen. Die reflektierende Uk sei das Vermögen zum Besonderen das Allgemeine zu finden, besser: sie "soll"
es fin-
25 den. ständig
Die reflektierende Uk ist mithin ein zu einem Tun aufgerufenes und aufgerufenes
"Vermögen". Denn "das Allgemeine" ist auf keiner Stu-
fe der Verallgemeinerung je erreicht und nie nach allen Möglichkeiten inhaltlicher Hinsichtnahme erfasst. Es ist immer wieder und immer weiter zu finden und festzuhalten, an keiner fixierten Allgemeinheit kann innegehalten werden; jede ist als die Verbesonderung eines Uebergreifenden zu begreifen, - ihrer Aufgabe gemäss muss die reflektierende Uk über alles 25 cf.: "... die reflektierende Urteilskraft, die von dem Besonderen zum Allgemeinen aufsteigen... die Obliegenheit hat ..." (Einleitung, p. XXVII.)
Reflektierende Urteilskraft und Vernunftanspruch
17
schon entdeckte Allgemeine hinaus drängen und immer unterwegs bleiben. Die reflektierende Uk ist also nichts Statisches, vielmehr von innerer Dynamik; ihr Können, das Besondere zu verallgemeinern, ist nie am Ende. Die reflektierende Uk ist als ein Sich-Bewegendes zu denken: motiviert von einem Anspruch, strebend nach dem Ziel grösster, totaler Verallgemeinerung, d.i. gänzlicher begrifflicher Durchdringung des Empirischen. Es dürfte klar geworden sein, worauf wir hinaus wollen. Es gilt das, was die Aufgabe der reflektierenden Uk genannt worden ist, als den Auftrag zu enthüllen, den die Vernunft sich selbst setzt.
c) Der Sinn der reflektierenden Urteilskraft und der Vernunftanspruch
"Vernunft" bezeichnet bei Kant zum einen (wie Übrigens auch "Verstand") die menschliche Rationalität überhaupt, zum anderen, in einem speziellen Sinn, das, was Kant aus der Entgegensetzung zu einem eingeschränkteren Bedeutungsgehalt von "Verstand" herausarbeitet. Kant dringt nämlich stets darauf, dass der Vernunft ein "architektonisches Interesse" von Anfang an zugehört, das auf "Vernunfteinheit" oder "die grösste, systematische, folg26 lieh auch zweckmässige Einheit" geht.
"Die menschliche Vernunft ist ih-
rer Natur nach architektonisch; d.i. sie betrachtet alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System, und verstattet daher auch nur solche Prinzipien, die eine vorhabende Erkenntnis wenigstens nicht unfähig machen, 27 in irgend einem System mit anderen zu stehen." Und "Die Idee jener grössten systematischen Einheit ist mit dem Wesen unserer Vernunft unzertrenn-
28 lieh verbunden."
Zwar gilt das Angeführte für die menschliche Vernunft
überhaupt, aber gerade dieser aufs System zielende Zug der allgemeinen Menschenvernunft ist es, der Kant nun nötigt, "Verstand" und "Vernunft" gegeneinander abzugrenzen, als Titel für zwei innerhalb der so gekennzeichneten allgemeinen Vernunft notwendig gewordene und voneinander zu trennende Funktionen. In der vernünftigen Vereinheitlichung der Erscheinungen ist nämlich ein Doppeltes gefordert: zunächst die Vereinheitlichung 26 KrdrV, Β 503, Β 722. 27 KrdrV, Β 502 28 KrdrV, Β 722.
18
Der Begriff der reflektierenden Urteilskraft
des durch die Anschauung Vermittelten durch Begriffe, was die Mannigfaltigkeit der Begriffe schafft, oder viel Einzelnes ("distributive
Einheit"),
dann die Verbindung der Begriffe oder des Einzelnen, das je als Besonderes 29 begriffen ist, in ein Ganzes
. Ersteres ist die Tätigkeit des
"Verstandes"
das zweite die der "Vernunft". Also: "Die Vernunft (im engeren Sinne) bezieht sich niemals geradezu auf einen Gegenstand, sondern lediglich auf den Verstand, und vermittelst desselben auf ihren eigenen empirischen Gebrauch, schafft also keine Begriffe (von Objekten), sondern ordnet sie nur, und gibt ihnen diejenige Einheit, welche sie in ihrer grösstmöglichen Ausbrei30 tung haben können."
Oder: "Die Vernunft hat eigentlich nur den Verstand
und dessen zweckmässige Anstellung zum Gegenstand, und, wie der das Mannigfaltige im Objekt durch Begriffe vereinigt, so vereinigt jene ihrerseits das Mannigfaltige der Begriffe durch Ideen, indem sie eine gewisse kollektive der Einheit zum Ziele Einheit der Verstandeshandlungen setzt, welche sonst nur mit distrubutiven beschäftigt sind." 31 Nun hat, wie gezeigt, in der KdU das, was der Verstand in transzendentaler Funktion leistet, bezüglich des empirisch Unbestimmten die reflektierende Uk übernommen: das Auf-den-Beqriff-Bringen oder begriffliche Vereinheitlichen des mannigfaltig Gegebenen. Sie ist jetzt deshalb das, was in der KrdrV der Verstand gewesen ist - die "Angestellte" der Vernunft (cf. cit. Β 672). Unsere Ausgangsfrage, die dem Woher der der reflektierenden Uk wesentlichen Absicht und Aufgabe gilt, findet damit ihre Antwort. Die Absicht der reflektierenden Uk, die "Obliegenheit", die sie bestimmt, entspringt dem und verwirklicht nichts anderes als den Anspruch der Vernunft auf grösstmögli che Vollkommenheit der Erkenntnis. Das ständige Streben der reflektierenden Uk über die schon erreichte und fixierte Allgemeinheit hinaus zu kommen, aufzusteigen zum vollendeten System aller Erfahrung, ist also das konkret der Vernunft
gewordene
"architektonische
Interesse"
selbst.
29 Es ist natürlich klar, dass hier keine zeitliche Folge gemeint ist, sondern ein Verhältnis, das als eine logische Stufung umschrieben werden könnte; wobei diese Charakterisierung nur behelfsmässig ist. Der Bezug von Verstand und Vernunft lässt sich wohl nur dialektisch erfassen. 30 KrdrV, Β 671. 31 KrdrV, Β 672.
19
Reflektierende Urteilskraft und Vernunftanspruch Das Vermögen der reflektierenden Uk ist der sich in der Arbeit immer
tieferen und höheren Begreifens der Phänomene realisierende Anspruch der theoretischen Vernunft, aber ebenso ist die reflektierende Uk, weil
"theo-
retische und praktische Vernunft am Ende doch nur eine und dieselbe sind" 32
, dem praktischen Auftrag der Vernunft zu vermitteln. Mit dem Erfolg
oder Misserfolg der reflektierenden Uk ist untrennbar ja auch die Möglich33 keit des Handelns verbunden.
Die sittlichen Zwecke lassen sich nur durch-
setzen, sittliches Handeln kann nur geschehen in einer verlässlichen Natur, in der der Mensch die sich ihm darbietenden Dinge als Mittel gebrauchen 34 kann.
Was die reflektierende Uk im Einholen der theoretischen Vernunft-
absicht annimmt, muss auch der Befolgung der Ansprüche der praktischen Vernunft die Voraussetzung sein: das Postulat einer die moralische
Bestimmung
zulassenden Welt. Nicht nur die theoretische Vernunft und die durch sie gesetzte Aufgabe macht also die subjektive Notwendigkeit des transzendentalen Prinzips der Uk aus, es ist im gleichen Masse subjektiv
unentbehrlich
durch das praktische Gebot. Im Streben der reflektierenden Uk ist daher genauso das Interesse der praktischen Vernunft lebendig wie das der theoretischen. D.h. - praktischen Auftrag und theoretischen Anspruch ineins nehmend - die reflektierende Uk ist Moment im Vollzug der Selbstbestimmung der einen Vernunft; - das ständig fortschreitende Können als das wir die reflektierende Uk vorhin gefasst haben, ist eine Erscheinung im Prozess der von Kant als fortschrei tende Selbstbestimmung gedachten Menschenvernunft. So gesehen,
ist das Telos,
auf das die ve flektierende
ist, nicht mehr allein grösstmögliahe Erkenntnis, Erfahrung", sondern die sich vollendende, Theorie Vernunftautonomie. 35 32 33 34 35
Uk
angelegt
d.i. das "System der und Praxis umfassende
cf. KpV, p. 121. cf. unten, p. 45. cf. Κ. Düsing, Die Teleologie in Kants Weltbegriff, Bonn 1968, p. 101. In unseren Erörterungen zum Zusammenhang von reflektierender Uk und Vernunft haben wir die Stellen der KrdrV übergangen - nämlich den "Anhang zur transzendentalen Dialektik" - die bezüglich eines vom "apodiktischen Gebrauch" unterschiedenen "hypothetischen Gebrauchs der Vernunft" ganz dasselbe enthalten, wie die Ausführungen der KdU über die "reflektierende Urteilskraft" und ihr Prinzip der Zweckmässigkeit. "Man wird sich fragen, was Kant bewogen haben mag, den 'hypothetischen Gebrauch der Vernunft', dessen Sinn und dessen Grenzen der 'Anhang zur transzendentalen Dialektik' bestimmt, beim Uebergang zur 'empirischen Anwendung' in der KdU der reflektierenden Urteilskraft zu übertragen."
20
Der Begriff der reflektierenden
Urteilskraft
Vorweisend auf Späteres ist allerdings schon hier anzumerken, dass der soeben analysierte Zusammenhang zwischen Vernunft und reflektierender Uk und damit die stillschweigend unterstellte Universalität des oben charakterisierten Vernunftanspruchs im Horizont der ästhetischen Uk und ihrer spezifischen Aufgaben problematisch werden wird: Wo das Wesen der reflektierenden Uk auch von der ästhetischen Uk (und nicht, wie bis jetzt, ausschliesslich von der auf objektive Erkenntnis zielenden Reflexionstätigkeit) her zu fassen versucht wird, ist der Ursprungsinn der reflektierenden Uk (-überhaupt) nicht mehr schlicht auf das Interesse der theoretisch-praktischen Vernunft zu reduzieren; cf. unten, p. 204f.
§ 3 Das Verhältnis von reflektierender Urteilskraft, Verstand und Einbildungskraft im Vollzug der Erkenntnis
Die reflektierende Uk, sofern sie unter der Anleitung der theoretisch-praktischen Vernunft steht, hat die "Obliegenheit", zum Besonderen das Allgemeine zu finden. Notwendigerweise vollendet sich also ihr Auf-BegriffeBringen
im Auf-Begriffe-Gebrach.tha.ben oder, m.a.W. , es erfüllt sich in der
35 Ungerer, der diese Frage formuliert, antwortet folgendermassen selbst: "Das wird, glaube ich, deutlich, wenn man darauf achtet, wie entschieden Kant betont, dass der transzendentale Begriff einer Zweckmässigkeit der Natur 'weder ein Naturbegriff noch ein Freiheitsbegriff' sei. Die Gesetzgebung des Verstandes durch Naturbegriffe im theoretischen und die Gesetzgebung der Vernunft durch Freiheitsbegriffe im praktischen Teil der Philosophie: das ist die immer wiederkehrende Gegenüberstellung der KdU. Seit den beiden ethischen Schriften von 1785 und 1788 ist offenbar für Kant der Begriff der Vernunft so sehr zu dem der praktischen Vernunft, zum Vermögen der autonomen Gesetzgebung des Willens zum sittlichen Handeln geworden, dass er für die theoretische Vernunft, die doch nur Wegweiser ins Unendliche aufstellt, da sie sich nun auf ein bestimmtes Problem bezieht, lieber einen neuen Namen gebraucht." (E. Ungerer, Die Teleologie Kants und ihre Bedeutung für die Logik der Biologie, Berlin 1922, p. 17-18.) Wenn man auch nicht der Meinung zustimmen kann, "Vernunft" falle in der KdU schlicht mit "praktischer Vernunft" zusammen, so enthält doch das bezüglich der theoretischen Vernunft Gesagte die Wahrheit. Durch die Eliminierung der "hypothetischen Vernunft" gewinnt nämlich Kant wieder den reinen Sinn des Begriffs der "Vernunft" (in engerer Bedeutung). Vernunft - sei es als praktische oder theoretische - meint eigentlich nur den unbedingten, apodiktischen Auftrag: das "Vermögen" der umgreifenden Ziele. Die Vernunft ist daher stets das, was vor der Konkretisierung dieser Ziele steht, nicht die Konkretisierung selbst; - wenn es ums letztere geht, muss die reflektierende Uk, die aus dem Ziel totaler Erkenntnis die "heuristische Hypothese" der Zweckmässigkeit der Natur macht und je mit Einzelnem befasst ist, auftreten.
21
Reflektierende Urteilskraft und Verstand
Verwandlung der reflektierenden in die bestimmende Uk. (Allerdings: der reflektierenden Uk ist es wesentlich - und darum ist und bleibt sie in erster Linie reflektierende
Uk - , als bestimmende nicht zu verharren, son-
dern gemäss ihrer aus dem Vernunftauftrag stammenden inneren Dynamik wieder zur reflektierenden zu werden und stets wieder zurückzukehren in den Prozess der aufs Ganze gehenden begrifflichen Durcharbeitung des je Vorliegenden.)
Die reflektierend-bestimmende Uk vollbringt also Erkenntnis,
Synthesis von Anschauung und Begriff, d.h. die begriffliche Fixierung des sinnlich Gegebenen, was auch umgekehrt bedeutet: die Versinnlichung eines eo ipso allgemeinen Begriffs in einem einzelnen Sinnenfälligen. Damit sind wir schon bei Formulierungen angelangt, die mindestens erahnen lassen, wes36 wegen Kant in der KdU immer wieder betont
, dass das Auf-Begriffe-Brin-
gen des Gegebenen, das Tun der reflektierenden Uk, im Grunde ein Komplex von Aktivitäten dreier unterscheidbarer "Vermögen" ist - eben der Einbildungskraft, des Verstandes und der reflektierenden Uk. Wie nun ist diese Kooperation der drei "Erkenntniskräfte" exakt zu denken, wie sind Einbildungskraft, Verstand, reflektierende Uk je als Momente der auf Erkenntnis abhebenden Gemütstätigkeit näher zu kennzeichnen und zu definieren? Diese Fragen gehören unmittelbar ins Vorfeld einer Untersuchung der kantischen Aesthetik, denn sie erheischen Antworten, auf die jede nicht pauschal
ver-
fahrende Analyse kantischer Aeusserungen zum Thema "ästhetische Urteilskraft" zurückgreifen können muss. Im Vorblick auf unser eigentliches Hauptgeschäft sei noch einmal unterstrichen, dass wir im folgenden den Funktionszusammenhang, den die reflektierende Uk, die Einbildungskraft und der Verstand bilden, lediglich in den Horizonten jenes Vollzugs studieren werden, der zu objektiver, empirischer Erkenntnis führen soll.
a) Die Angewiesenheit der reflektierenden Urteilskraft auf den Verstand
Die reflektierende Uk hat ihren Sinn darin, je, was von der Vernunft aufgegeben ist, mit dem, was vorliegt, zu vermitteln. Und daher, um die Vermittlung zu ermöglichen, entwirft sie in ihrem transzendentalen Prinzip eine Welt, die, was sie begegnen, auch begrifflich fixierbar, begreiflich machen lässt; und deshalb, um die Vermittlung immer wieder zu verwirklichen 36 cf. etwa KdU, Einleitung, p. XLIV; § 35, p. 145.
22
Der Begriff der reflektierenden Urteilskraft
und die Vernunftordnung zu realisieren, ist sie - Liber ihre Bestimmung, das Vermögen der (empirischen) Begriffe zu sein, noch hinaus
- das stän-
dige Uebersteigen gewonnener, aber noch isoliert erscheinender
Konzeptua-
lisierungen des Gegebenen, das permanente Aufheben von Fixierungen des Verstandes umwillen höherer Einheiten. Das eigentliche und gleichsam beharrliche Vermögen der Fixierung ist demgegenüber der Verstand.
Weil Hinausgehen über Fixiertes und Vermitt-
lung des anschaulich Gegebenen und Einzelnen mit einer umgreifenden Ordnung nur zu sein vermag, wo überhaupt etwas als etwas festgehalten ist, ist also die reflektierende Uk stets auf das Vermögen angewiesen, das solches leistet: den Verstand. Der Verstand ist seinem Wesen nach das (Vermögen zum) Festhalten (= sowohl
Fest-steilen als auch Bewahren) des Gegebenen in seiner Bestimmt-
heit. Was heisst es daher, wenn er in der KdU zuweilen neben
der reflek-
tierenden Uk und häufig geradezu betonterweise als "Vermögen der Begriffe" 37 auftritt?
Im Zusammenhang der reflektierenden Uk muss hier doch im Spe-
ziellen an das gedacht sein, was den Verstand von ihr abhebt; - ergo bezeichnet "Vermögen der Begriffe" einmal die Bedingungen, dank denen man etwas als etwas überhaupt festzuhalten vermag - die Kategorien des reinen Verstandes (sie interessieren jetzt jedoch weniger), als auch das, woher jeder neu zu bildende empirische Begriff allein bestimmend zu sein fähig ist, weil er nur daraus seine eigene Bestimmtheit haben kann: die Summe der bisher in Begriffen entwickelten Ordnung des Erfahrbaren, das Insgesamt der schon gewonnenen Begriffe, mit denen die Uk das neu in die Erfahrung Tretende je vermitteln muss. So ergibt sich, dass der Verstand in der Tätigkeit der reflektierenden
(und schliesslich bestimmenden) Uk not-
wendig immer mitwirkend ist. b) Die Einbildungskraft
Als Erkenntnisvermögen, das in der reflektierenden Uk auch "im Spiel 38 So, wie sich der Ver-
ist", tritt die Einbildungskraft auf den Plan. 37 cf. etwa KdU, Einleitung, p. XLIV. 38 cf. etwa KdU, Einleitung, p. XLIV.
Die Einbildungskraft
23
stand aus dem Gegensatz zur Uk näher bestimmt hat, wird sich jetzt ebenso die Einbildungskraft aus der Abhebung zum Verstand schärfer konturieren müssen; alle drei, Einbildungskraft, Verstand, reflektierende Uk sind ein FunktionsgefLige und aus ihrem Zusammenhang in diesem Ganzen des Erkenntnisvollzuges heraus zu artikulieren. In der Erläuterung dessen, was Kant die "Einbildungskraft" ist, halten wir uns, um uns die Sicht auf die Sache nicht vorschnell aus der doch etwas anders liegenden Perspektive der KrdrV zu komplizieren, vorerst an das, was die KdLI mitteilt. Wenn es nämlich richtig ist, was Mörchen in 39 seiner der "Einbildungskraft bei Kant" gewidmeten Studie ausspricht (dass nämlich der Ausdruck "Einbildungskraft" wie keiner weiteren Erörterung bedürftig eingeführt werde) muss Kant doch annehmen, dass der Sinn dieses Terminus zumindest weitgehend aus dem Kontext, in dem er steht, erschlossen werden kann. Der KdU ist nun erstens zu entnehmen, dass die Einbildungskraft ein "Erkenntnisvermögen" und als solches in der reflektierenden Uk, zusammen mit dem Verstand, "im Spiele ist", und zweitens ¡ dass sie ein "Vermögen der Anschauungen a priori" ist." Die allgemeinste Bestimmung der Einbildungskraft gibt ihr der Name selbst; sie ist das Vermögen, etwas "In-ein-Bild-zu-Bringen", d.h., etwas sich so vorstellen zu lassen, wie es sich dem anschaulichen Vernehmen, dem "Sehen" zeigt. Als solche Kraft anschaulicher Darstellung ist sie nun "Vermögen der Anschauungen a priori". Was darunter zu verstehen ist, kann das folgende verdeutlichen: "Wenn der Begriff von einem Gegenstand gegeben ist, so besteht das Geschäft der Urteilskraft ... darin, dem Begriff eine korrespondierende Anschauung zur Seite zu stellen: es sei, dass dieses durch unsere eigene Einbildungskraft geschehe, wie in der Kunst, wenn wir einen vorher gefassten Begriff von einem Gegenstande, der für uns Zweck ist, realisieren ... "Ao 39 H. Mörchen, Die Einbildungskraft bei Kant, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. 11, Halle, 1930, p. 440. 40 KdU, Einleitung, p. XLIX; dass Kant mit dem Ausdruck "Kunst" nicht auf die Produktion von Schönem hinweisen möchte, sondern sehr allgemein das Können des Herstellers meint, dürfte sich fast von selbst verstehen; cf. zu diesem Begriff "Kunst" KdU, § 43.
24
Der Begriff der reflektierenden Urteilskraft
Die Einbildungskraft ist also "Vermögen der Anschauung" insofern sie der für Begriffe
Bil-
bereit stellen kann.
Zwar ist oben explizit die Uk als das Vermögen der Darstellung oder der Versinnlichung des Begriffs in einem anschaulichen Bild angesprochen, aber sie ist es eben doch nur so, dass sie die Einbildungskraft zu dem ihr eigenen Können etwas (hier: den Begriff) in ein Bild zu bringen, aktiviert. Wir müssen daher sagen, dass die Uk nur mittelbar,
Uber die Einbildungs-
kraft und ihre Möglichkeit, Anschauungen zu produzieren, Darstellungsvermögen ist. Und nur weil die Einbildungskraft Bilder für Begriffe a
priori
bereit zu stellen imstande ist (und a priori bedeutet hier: allein angeleitet vom Begriff, ohne auf in der Vergangenheit gehabte Vorstellungen 41 zurückgreifen zu müssen
, nur also weil die Einbildungskraft ein produk-
tives, nicht bloss reproduktives Vermögen ist, kann auch die Uk (als das mittelbare Darstellungsvermögen) ein Vermögen der "Konstruktion von Anschauungen a priori" sein. "... Formen der Anschauung kann die Urteilskraft a priori selbst angeben und konstruieren, wenn sie solche nämlich für die Auffassung so erfindet (genauer: durch die Einbildungskraft erfinden lässt. Zusatz GK), als sie sich zur Darstellung eines Begriffes schicken." 4 2 Was heisst mithin, das Gesagte zusammenfassend, die Einbildungskraft sei ein "Vermögen der Anschauungen a priori"? Dies, dass die Einbildungskraft zumindest ein Wesenmerkmal
darin hat, anschauliche Vorstellungen von Be-
griffen ursprünglich schaffen zu können, dass sie das Ins-Bild-Bringen Begriffs
des
ist.
41 Die Bestimmung, die Einbildungskraft sei "Vermögen der Anschauungen α priori enthält freilich einen Doppelsinn·. Erstens kann man darunter die Einbildungskraft als transzendentale Funktion, wie sie im Schematismuskapitel der KrdrV erscheint, verstehen, als Produzentin der transzendentalen Schemate der reinen Verstandesbegriffe also, - so spricht man, wenn man "a priori" absolut interpretiert; zweitens darf die Einbildungskraft auch in der Weise als "Vermögen der Anschauungen a priori" gedacht werden, wie wir es im Text vorgeschlagen haben, - so spricht man, wenn man "a priori" relativ interpretiert, also nicht als die Bezeichnung eines unbedingt Ersten, sondern als einen Verweis auf ein Friiher-Sein unter dem Gesichtspunkt eines Nachfolgenden. Im folgenden werden wir, wo nichts anderes ausdrücklich vermerkt wird, den Ausdruck "Vermögen der Anschauungen a priori" stets gemäss dem zweiten Sinn von "a priori" deuten. 42 Erste Einleitung, p. 212.
25
Einbildungskraft und Verstand
Nun ist damit aber die Bestimmung "Vermögen der Anschauungen a priori" nur nach der einen Seite hin ergriffen. Ebenso wesentlich ist die Einbildungskraft das In-ein-BiId-, In-eine-Anschauung-Bringen des der Anschauung".
"Mannigfaltigen
Von hierher fasst Kant sie als Erkenntnisfunktion zumal:
"Nun gehören zu einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, damit überhaupt daraus Erkenntnis werde, Einbildungskraft für die Zusammensetzung des Mannigfaltigen der Anschauung und Verstand für die Einheit des Begriffs, der die Vorstellungen vereinigt."43 Die Einbildungskraft
wird hier dem Verstand
entgegengesetzt: Sie "setzt
das Mannigfaltige der Eindrücke zu einer Anschauung oder Vorstellung zusammen", während er "die Vorstellungen in der Einheit des Begriffs vereint". Beide, Einbildungskraft und Verstand, gehören in den einen Funktionszusammenhang von "Erkenntnis"; "Erkenntnis", die eben bei Kant allemal das Festmachen des Gegebenen im bestimmten Begriff, und die als solches sowohl das Vereinigen des Gegebenen in und auf einen Begriff hin, wie auch das Versinnlichen des Begriffs in einem anschaulich Gegebenen ist.
c) Das Zusammenwirken von Einbildungskraft und Verstand
Wie ist nun das Zusammenwirken von Einbildungskraft und Verstand im Erkenntnisvollzug und von da die Einbildungskraft in ihrer doppelten Fähigkeit, Begriff
wie das Mannigfaltige
der Anschauung in ein Bild zu bringen,
näher zu charakterisieren? Wie greifen das "Zusammensetzen" der Einbildungskraft und das "Vereinigen" des Verstandes ineinander? Wenn wir Einbildungskraft und Verstand als zwei Funktionen des einen Erkenntnisvollzugs begreifen wollen, müssen wir sie in ihrem je eigenen Fungieren so gegeneinander abheben, dass sie in ihrer Angewiesenheit auf einander sichtbar werden. Wir müssen also zeigen, dass und wie die dungskraft
im Zusammensetzen des Mannigfaltigen auf die
des Verstandes
Einbil-
Einheitsstiftung
im Begriff (a) und ebenso, dass und wie der Verstand
einigen der Vorstellungen auf die Versinnlichung
seines Begriffs
im Ver-
durch die
Einbildungskraft angewiesen ist (b). Die Einbildungskraft setzt das Mannigfaltige zusammen in ein Bild. Bild ist jedoch immer ein Ganzes, eine in einem Anblick realisierte Einheit,
43 KdU, § 9, p. 28.
Der Begriff der reflektierenden
26
Urteilskraft
d.h. ein aus dem Wechsel der Empfindungen in seiner heit Heraushebbares. Begriff
erfasst
und vorgestellt
eines-Bildes-Bringen von Anfang
Bestimmtheit
an einen
kann aber niaht werden.
des Mannigfaltigen, Bezug
zum Begriff
ihm eigenen
anders
Also muss das
Einheit
den
In-die-Bestimmtheit-
das die Einbildungskraft und seiner
Bestimmt-
als durah
haben;
leistet, und zwar so,
dass ihr der Begriff Vor-bild sein kann, demgemäss sie ein-bildet (a). gekehrt
vermag
der Verstand
Um-
das Mannigfaltige der Vorstellungen durch seine
Begriffe nur so zu einigen,
dass er resp. die Begriffe, durch die Einbil-
dungskraft sinnlich
worden
gemacht
sind', denn allein von sich her gesehen
ist der Verstand und der Begriff vom Anschaulichen unüberbrückbar geschieden; er ist das Allgemeine, "dem kein einzelnes Bild jemals adäquat sein
44 kann"
. Nur dadurch, dass die Allgemeinheit seiner Begriffe irgendwie den
Charakter der einzelnen Anschauung des Bildhaften gewinnt, ist es ihm möglich, im Gegebenen die Einheit zu stiften, die dieses braucht, um Bestimmtheit zu erlangen (b). Wie der allgemeine Begriff 45bildhaft wird, erläutert Kant in der KrdrV unter dem Titel des "Schemas".
Diese Erörterungen haben
wir nun zu Rate zu ziehen. Kant weist darin auf, wie der Begriff durch die Einbildungskraft seinen Eingang in die Anschauunq findet. Der Begriff ist hier nämlich als Regel bildungskraft
entdeckt, die wesentlich
auf die Handlung
der
Ein-
bezogen ist.
Kant gibt ein Beispiel : "Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Reqel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüssigen Tieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgendeine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellen kann, eingeschränkt zu sein."46 Der Begriff einer
erscheint
Gestalt;
also als die Regel
eines
Verfahrens
zur
Erzeugung
einer Gestalt freilich, die nicht das Aussehen einer einzel-
nen Anschauung (das Dies-da eines Hundes, auf das ich hier und jetzt hinweise) darstellt, sondern sichtbar macht, wie so etwas wie Hund jedenfalls aussieht: "... sie verzeichnet allgemein Tieres
die Gestalt eines vierfüssigen
...".
44 KrdrV, Β 180. 45 Wohl zu bemerken ist, dass der Begriff "Schema" ganz generell das Produkt der Einbildungskraft meint, nicht also bloss die Produkte der transzendentalen Einbildungskraft, die Schemate der reinen Verstandesbegriffe! 46 KrdrV, Β 180.
27
Einbildungskraft und Verstand Diese Gestalt des Begriffs
ist mithin das, was vor-zeichnet, wie etwas
Einzelnes überhaupt aussehen muss, um den entsprechenden einzelnen Anblick bieten zu können. In ihr, in dieser Gestalt des Begriffs, gelangt die Einzelnheit des Anblicks einer gegebenen Anschauung und die Allgemeinheit des unanschaulichen Begriffs ineins: Insofern sie etwas sichtbar, zum Vorschein kommen lässt, ist sie bildhaft, so dass Kant sie auch "das reine Bild" 47 heissen kann , insofern sie die Vereinzelung gerade aufhebt und auf die Einheit des im Einzelnen Erscheinenden qeht, ist sie "doch vom Bilde zu 48 unterscheiden" Im Verfahren
der Erzeugung dieser Gestalt ist - als seine
Begriff das, was die Einheit,
Regel - der
Unverwechselbarkeit und Vielgültigkeit des
Verfahrens (und damit der Gestalt) verbürgt; das, was es als das Besondere und Einzelne, das es in seinem Vollzug je ist, in der Dimension des Allgemeinen erhält. Das Verfahren
als Handlung
der Auszeichnung
mäss der Regel, ist, weil es eben ein Bilden
der Gestalt ge-
und Anblick-Vers ahaffen
sein
muss, die Leistung des eigenen Vermögens der Einbildungskraft. Die Einbildungskraft erfüllt damit die Funktion innerhalb der Erkenntnis, die dem Verstand, dem Vermögen der Begriffe als einem Regeln (und nicht als einem Gestalten), nicht zugemutet werden kann. So nennt Kant diese Gestalt des Begriffs das "Produkt" (Pro-dukt, d.i. das Hervor-und-ins-Licht-des-SehensGebrachte) der Einbildungskraft und gibt ihr den Titel
"Schema".
Am Schema macht Kant klar, dass der Begriff eigentlich als das regelnde und einheitsverleihende Moment der Handlung des Auszeichnens eines Anblicks zu nehmen ist. (Wobei stets anzumerken bleibt, dass der Ausdruck "Anblick" fürs Schema missverständlich ist, - das Schema als solches ist noch kein "Anblick" (Bild), es "kann niemals anderswo als in Gedanken existieren"; seinen Anblickcharakter Einbildungskraft
bringt es nur im einzelnen
zur Geltung,
Gebrauch
durch
die
indem es das ist, was der Einbildungskraft
die Ausübung der anderen Seite ihrer Funktion ermöglicht: das Zusammensetzen oder Ins-Bild-Bringen des Mannigfaltigen der Sinnlichkeit.) Im Schema hat also die Einbildungskraft den Begriff als versinnlichten und damit zugleich das Vorbild, das sie braucht, um das mannigfaltig Gegebene
47 KrdrV, Β 182. 48 KrdrV, Β 179.
28
Der Begriff der reflektierenden Urteilskraft
in ein bestimmtes Bild zu bilden. Nun ist das, was wir bisher als je getrennt aufgeführt haben, in seiner Einheit als der eine Vollzug der Erkenntnis zu erfassen: Sowohl das doppelte Vermögen der Einbildungskraft (Ins-Bild-Bringen des Mannigfaltigen wie des Begriffs), als auch das Zusammensetzen der Einbildungskraft und das Vereinigen des Verstandes. Die Einbildungskraft setzt das Mannigfaltige der Anschauung (in ein Bild) zusammen, indem sie es ein-bildet ins Vorzeichnis des Schemas, in welchem der Verstand (als Vermögen der Regel) die Einheit der Vorstellung gestiftet hat, und so wird - durch Einzeichnung (Schema)
des Gegebenen
in die vorbildhafte
Gestalt
des
die
erfolgte
Begriffs
- immer auch der Begriff in einer einzelnen Anschauung versinn-
licht (ins Bild .gebracht) . 49 Aus unseren Ausführungen hat sich für die Einbildungskraft ergeben
,
dass sie nicht einfach willkürlich und losgelöst vom Verstände handelt, sondern dass sie den Anschauungen nur diejenige Form geben kann, die im Möglichkeitsbereich der Verstandesbegriffe liegt. Einbildungskraft Verstand
hängen
untrennbar
und ursprünglich
zusammen^^,
und
wobei die Einbil-
dungskraft gegenüber dem Verstand die Mittlerstellung zum Mannigfaltigen der Sinnlichkeit einnimmt. Die Einbildunaskraft steht mithin nicht allein in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Verstand, sondern in gleicher Weise in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Rezeptivität, kantisch zur "Sinnlichkeit": "Nun ist das, was das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung verknüpft, Einbildungskraft, die vom Verstände der Einheit ihrer intellektuellen Synthesis und von der Sinnlichkeit der Mannigfaltigkeit der Apprehension nach abhängt."51 Die Einbildungskraft ist beiden, dem Verstand und der Sinnlichkeit, verpflichtet. Und weil sie in dieser zwiefachen Verpflichtung steht, die wir schon an ihrem doppelten Fungieren ausgewiesen haben, ist sie eben wesent49 Wie dem Kenner schnell deutlich geworden sein muss, haben wir uns stark von M. Heideggers Kantinterpretation leiten lassen, Kant und das Problem ..., v.a. von den §§ 20-22. 50 Diese Feststellung ist wichtig; später wird sich nämlich zeigen, dass Kant in der KdU auch von einem Begriff von "Einbildungskraft" Gebrauch macht, dessen Besonderheit gerade in der ursprünglichen Unabhängigkeit vom Verstand besteht; cf. p. 178ff. 51 KrdrV, Β 164.
29
Urteilskraft, Einbildungskraft, Verstand
lieh der beiden Vermittlerin. Jeder Versuch, die Einbildungskraft im Schema Sinnlichkeit/Verstand einer der beiden Seiten zuzuordnen, muss daher fehlschlagen.
d) Die reflektierende Urteilskraft in ihrem Verhältnis zu Einbildungskraft und Verstand
Erkenntnis, das Auf-den-Begriff-Bringen des Gegebenen, hat sich uns jetzt als das ineinandergreifende Fungieren der beiden Vermögen Einbildungskraft und Verstand dargestellt, und zwar ohne dass die reflektierende Uk dabei in irgendeiner notwendigen Tätigkeit aufgetaucht wäre. Deshalb fragen wir jetzt noch einmal, welche Funktion im Zusammenhang des Erkenntnisvollzugs von der reflektierenden Uk im Speziellen ausgeübt wird. Nachdem wir die Einbildungskraft in ihrer Funktion im Vollzug der Erkenntnis, damit in ihrer Relation zum Verstand umrissen und schliesslich als Träger der Vermittlung ausgemacht haben, ist das Verhältnis der beiden zur Uk zu klären. Nun war es doch gerade auch die reflektierende Uk, von der es geheissen hat, dass sie es sei, die je das neu in der Anschauung Erscheinende mit dem Fixierungen des Verstandes, den Begriffen, vermittelt. Wie sind dann diese zwei Aussagen und die Vermögen, die sie betreffen, einander anzupassen? Das Prinzip der reflektierenden Uk in einer seiner Fassungen lautet: "... dass sich zu allen Naturdingen empirisch bestimmte Begriffe finden lassen", - in die im Zusammenhang der Tätigkeit der Einbildungskraft verwendete Terminologie übersetzt, heisst das: dass sich alles der Anschauung
in das Schema eines empirischen
Begriffs
Mannigfaltige
einbringen
lässt.
Das gerade dies nicht gewiss ist, leuchtet ein, wenn man sich darauf besinnt, was der empirische Begriff ist; eine Bestimmung nämlich, die vom Gegebenen verlangt, unter einem allgemeinen, aber nicht transzendental zu sichernden Gesichtspunkt mit anderem Gegebenen Gleichartigkeit zu haben. Ob sich jedoch das Gegebene in ein Vor-bild, das solcher Bestimmung gemäss gezeichnet ist, zusammensetzen und vereinen lässt, ist eben deshalb nie garantiert, weil das Mannigfaltige des Gegebenen in seiner Besonder-
Der Begriff der reflektierenden Urteilskraft
30
heit unbestimmt geblieben ist, auch wenn es sich notwendigerweise den Schematen der allgemeinsten, reinen Verstandesbegriffe eingefügt hat. Es ist daher denkbar, dass es zwar als "Irgendwieetwas" fixiert, von der Einbildungskraft in ein darüber hinaus genauer bestimmtes Bild eines empirischen Begriffs indessen nicht mehr gebracht werden könnte, weil es sich durch den Reichtum seiner Besonderheiten jedem Einzeichnen in ein Vorbild, das es in die Gleichartigkeit mit anderem Gegebenen zu formen probierte, zu entziehen vermöchte. In ihrem Prinzip sehliesst keit vorweg aus und verschafft den unerlässlichen Gegebenen, immerhin
ersten Halt in der andrängenden
von dem aus sie ihr Zusammenwirken
beginnen
nun die Uk diese
so der Einbildungskraft
und dem
Vielfalt des
am Material
der
MöglichVerstand sinnlich
Anschauung
können.
Was also die Einbildungskraft tut (die Vermittlung des Sinnenfälligen mit der Einheit des Begriffs), ist nur möglich aufgrund der grundlegenden Vermittlertätigkeit der reflektierenden Uk und des in ihr gesetzten Prinzips. Oder anders gesagt: Während die Einbildungskraft die einzelne Anschauung dem einzelnen bestimmten Begriff vermittelt, vermittelt die reflektierende Uk in ihrem Prinzip der Anschauung überhaupt die Möglichkeit, begriffen zu werden. (Das gilt jedenfalls für den Bereich der besonderen, empirischen Erkenntnis des Mannigfaltigen der Natur. In welcher Weise die Urteilskraft als bestimmende, transzendentale Urteilskraft, also in der "transzendentalen Doktrin der Urteilskraft" der KrdrV, die Funktion eines Mittlers hat, muss hier unbehandelt bleiben.) Die Uk spielt bezüglich Einbildungskraft/Sinnlichkeit und Verstand mittels ihres grund-legenden Prinzips die Rolle des Mittlers; aber nicht nur das. Auf der Folie des ihr immanenten Vernunftanspruchs ist die reflektiernde Uk als eine Bewegung, oder als ein Streben,
die auf ein Telos hin geht, zu beschreiben,
das auf die Verwirklichung einer (genauer: der Ver-
nunft-) Absicht hindrängt. T ü r ihre Funktion bezüglich Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstand bedeutet die Einsicht in die Dynamik der reflektierenden Uk dies, dass sie das Zusammenwirken von Einbildungskraft und Verstand nicht bloss - durch ihr Prinzip - ermöglicht, sondern allererst, gleichsam im Namen der Vernunft, in Gang bringt.
Denn in ihr, in der
reflektierenden Uk, ist eben der Vernunftanspruch auf Erkenntnis konkre-
31
Urteilskraft, Einbildungskraft, Verstand tisiert und
wirk-liah.
Die reflektierende Uk ist Mittlerin nicht allein durch den Entwurf einer der Tätigkeit des Verstandes und der Einbildungskraft gewogenen Welt, sondern ebenso durch die ihr innewohnende Absicht, gemäss der sie Einbildungskraft und Verstand beim Gegebenen gemeinsam wirken macht. Als konkret gewordener, mit dem Einzelnen befasster Vernunftanspruch ist ihre Absicht dann aber auch bestimmte.
Was heisst das? - Die reflektierende Uk steht
unter dem Anspruch der Vernunft auf Erkenntnis und, wenn die Uk diesen Anspruch konkret verwirklichen will, steht sie je unter der Absicht auf bestimmte
Erkenntnis. Das heisst: Im letzteren Fall ist ihr - und durch
sie der Einbildungskraft und dem Verstand - bestimmt, auf welchen
Begriff
sie das Gegebene je bringen soll, - auf den nämlich, der das Noch-nichtErkannte mit dem Schon-Erkannten zu vermitteln imstande ist, der also am Gegebenen das fixiert, was es in die bisher erkannte Ordnung einfügbar macht. Das bedeutet, dass der zu findende Begriff vom bisher Erkannten her vorgeprägt ist, und dass der reflektierenden Uk jeweils schon verbindlich vorgezeichnet und festgelegt ist, wie sie Uberhaupt versuchen lassen kann, das Gegebene begrifflich festzumachen. Es zeigt sich also die reflektierende Uk in ihrer dritten Vermittlerrolle: Sie ermöglicht nicht bloss das Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand durch ihr Prinzip, und sie bringt das Zusammenspiel nicht nur ins Werk, sondern sie ist es auch, die der beit von Einbildungskraft
und Verstand die bestimmte
Leitung
Ar-
vorzugeben
ver-
mag.
In dieser Funktion tritt sie deutlich im eigentlichen Erkenntnisgewinnungsvorgang auf, und in Abhebung zu diesem muss dann auch ihr Fungieren als nicht-erkennende, ästhetisch reflektierende zu fassen versucht werden.
§ 4 (Teleo)logische und ästhetische Urteilskraft, ref1ekti erende Urtei1skraft-überhaupt
a) Marginalien
Die Ueberlegungen zum Verhältnis der drei "Vermögen" Einbildungskraft, Verstand und reflektierende Uk haben den unauflösbaren Konnex, in dem die-
32
Der Begriff der reflektierenden Urteilskraft
se drei Erkenntniskräfte bestehen, herausgearbeitet: Die Einbildungskraft kann ohne den Verstand nichts Bestimmtes bilden, der Verstand ohne Einbildungskraft das Gegebene nicht bestimmen, und das Zusammenwirken beider bedarf der dreifachen Vermittlung durch die reflektierende Uk, die also eigentlich nichts anderes ist als eben die umfassende,
durch den Vernunft-
anspruch gesetzte, Vermittlerin der Funktionen von Einbildungskraft und Verstand. Weil die spezifische Leistung der reflektierenden Uk die Leistungen der Einbildungskraft und des Verstandes sozusagen umschliesst, tritt in der KdU häufig zunächst die Uk allein als Akteur des Reflektierens qua AufBegriffe-Bringen auf; weil sie aber so auch gleichsam in eine gewisse Distanz zu den anderen Erkenntnisvermögen rückt, lässt die KdU umgekehrt dort, wo es um besondere Formen des Zusammenwirkens von Einbildungskraft und Verstand geht, die Uk nahezu völlig ausser Betracht (vgl. dazu unten, p. 108). Die innige Verknüpfung der verschiedenen Gemütskräfte wird von Kant in der KdU kaum je eigens zur Sprache gebracht, aber doch ständig in vielen Bemerkungen zur reflektierenden Uk (vor allem dort, wo es um die ästhetische Uk geht) mitgedacht und vorausgesetzt. Deshalb ist dieser Versuch einer Explikation der zwischen Verstand, Einbildungskraft und Uk waltenden Bezüge unumgänglich gewesen. Indes: obwohl wir nun zu ziemlich präzisen Begriffserklärungen gelangt sind - eines darf beim Umgang mit kantischen Termini nicht vergessen werden. Hält man sie für ein für allemal
fixierbare
und fixierte Versatzstücke einer abgeschlossenen Theorie, wird man mit Sicherheit an ihnen verzweifeln. So wenig nämlich Kant sich scheut, seine theoretischen Ergebnisse neuer Fragestellung auszusetzen, so wenig immunisiert er seine Ausdrücke vor dadurch nötigem Bedeutungswandel. Der aktuelle Sinn, den ein an sich bekannter Terminus jeweils hat, erschliesst sich einem also nur, wenn man den näheren und weiteren Kontext der fraglichen Begriffe berücksichtigt. Das heisst natürlich nicht, dass der Sinn stets beliebig wechseln kann, dass die Termini also einfach Aequivokationen enthalten (obwohl in manchen Fällen auch solche aufweisbar sind), vielmehr stehen sie, (um es mit einem Beispiel aus der Musik zu sagen) für ein Grundthema, das sich der jeweiligen Situation angepasst variieren lässt. Doch so
Reflektierende und bestimmende Urteilskraft
33
wie in der Musik zuweilen der Variation des einen Themas ein anderes, neues entwächst, verändert auch bei Kant die verfolgte Problematik mitunter gründlich den scheinbar festen Sinn eines vielgebrauchten Wortes. Im Versuch, die Bedeutung des Beqriffs der reflektierenden Uk zu erfassen, ist dieser Einsicht in die Lebendigkeit kantischer Sprache stets treu zu bleiben; und dass bei solcher Art des Vorgehens Ueberraschungen und vermeintliche Widersprüche der Interpretation nicht ausbleiben können, wird daher nicht verblüffend sein. Jedenfalls wird der Sinn von "reflektierender Urteilskraft", "Verstand", "Einbildungskraft" etc. stets wieder neu zu überdenken sein. Der konkrete Gehalt dieser Feststellungen ist an einem Moment der Entwicklung des Begriffs der reflektierenden Uk zu demonstrieren, das bislang noch nicht gebührend beachtet worden ist. Die zunächst behandelte Definition der reflektierenden Uk ergab sich aus der Entgegensetzung zur bestimmenden Uk: die eine richte sich vom Allgemeinen her auf das Besondere, umgekehrt verhalte es sich bei der anderen. Auf der mittlerweile erreichten Stufe der Wesenserklärung der reflektierenden Uk ist dieser Unterschied indessen vordergründig geworden, genauer - er wird obsolet. Denn im Bereich des empirischen Erkennens lässt die reflektierende von der bestimmenden Uk sich nicht prinzipiell trennen. Die reflektierende ist immer auch bestimmen52 de und umgekehrt.
Das ist die Folge der Tatsache, dass beim empirischen
Begriff die Gewinnung von der Anwendung nicht mehr zu unterscheiden ist; beides ist erst dann vollbracht, wenn man vom Besonderen (x) das Allgemeine (y) aussagen kann, wenn mithin das Reflektieren im möglichen
Subsumieren
terminiert. Das reflektierende Tun der Uk endet also (wenigstens dort, wo es um Erkenntnis des Empirischen geht) mit Notwendigkeit in ihrem bestimmenden Tun, und das Resultat dieses Prozesses verfestigt sich je in das bestimmte, ein vereinzelt Gegebenes ins System empirischer Begriffe einfügende Urteil. Und ebenso wie das Reflektieren ins Bestimmen umschlagen muss, muss das letztere als ersteres begonnen haben; ohne Reflexion fehlt ihm ja das 52 Deshalb kann der Begriff "Urteilskraft überhaupt" den Kant in seiner Definition als Oberbegriff zur bestimmenden resp. reflektierenden Uk einführt, nicht wirklich als Gattungsbegriff verstanden werden, cf. oben, p. 3.
Der Begriff der reflektierenden Urteilskraft
34
Wodurch seiner Bestimmung, das Prädikat. Wie früher schon behauptet, sinkt also das unterscheidende Merkmal beider Tätigkeiten der Uk zum Zufälligen herab, und man kann die Eigenständigkeit der reflektierenden Uk nicht länger in ihrer Gegenüberstellung zur bestimmenden Uk erblicken, sondern allein darin, das Vermögen zu sein, das aufgrund seines Prinzips das Gegebene in seiner nicht a priori erfassbaren Ordnung zugänglich zu machen fähig ist. Dadurch hebt sich aber die reflektierende Uk grundsätzlich nur von der transzendentalen Uk ab, die striktermassen, weil sie eben transzendentale, d.i. mit den reinen Begriffen befasste ist, niemals reflektierende und nur bestimmende sein kann. Hiev, zwischen transzendentaler stimmender)
und empirischer
wäre also eine grundlegende der Urteilskraft
(reflektierender
und bestimmender
Differenz zu entdecken,
in zwei Arten plausibel
die die
(bloss bezugleich)
Unterscheidung
macht.
b) Aesthetische und teleologische (reflektierende) Urteilskraft; das Problem ihrer Gattung
Die Art von Uk, die Kant ins Zentrum seiner dritten Kritik stellt, ist allein die aus der Opposition zur transzendentalen Uk zu bestimmende, mit dem Empirischen befasste Erkenntniskraft. Da deren primäre und alle weiteren Akte ermöglichende Aktivität nicht das Setzen und Finden (= das etwas 53 als etwas Bestimmen) sein kann, sondern das Suchen und Reflektieren ist , wollen wir sie im folgenden stets als die "reflektierende überhaupt"
Urteilskraft-
ansprechen. Der Name soll signalisieren, dass damit noch einmal
eine Gattungseinheit
vor Augen treten muss: Die "Kritik der Urteilskraft"
hat bekanntlich zwei Teile, die "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" und die "Kritik der teleologischen Urteilskraft". Innerhalb der einen reflektierenden Uk-überhaupt sind also zwei verschiedene Gestalten reflektierender Uk auszumachen (- und das bedeutet: den Begriff der reflektierenden Uk vollständig zu entfalten und
zur Darstellung zu bringen heisst jede der
beiden Arten sowohl für sich, als auch in ihren wechselseitigen Bezügen zu exponieren).
53 c f . oben, p. 97.
Refiekti erende Urtei1 skraft-überhaupt
35
Das Reflektieren der reflektierenden Uk-überhaupt ist entweder logisches" Reflektieren oder
"teleo-
"ästhetisches" Reflektieren. Diese Scheidung
ist schon in jener sehr allgemeinen Definition von "Reflektieren" enthal54 ten, von der wir ausgegangen sind : "Reflektieren aber ist: gegebene Vorstellungen entweder mit anderen, oder mit seinem Erkenntnisvermögen, in Beziehung auf einen dadurch möglichen Begriff, zu vergleichen und zusammenzuhalten." Die Disjunktion innerhalb der Reflexion der reflektierenden
Uk-überhaupt,
die mit diesem Entweder-Oder zum Vorschein kommt, indiziert den Unterschied, der die "Kritik der Urteilskraft" dichotomisiert. Die innere Differenziertheit, die den Begriff der reflektierenden Uk somit auszeichnet, kann jetzt - da wir noch ganz am Anfang unserer Untersuchung stehen - nur angedeutet, als zu bewältigendes Problem vor Augen gestellt, nicht aber bereits behandelt und ausgeleuchtet werden. Denn so vergleichsweise einfach und durchsichtig sich die Tätigkeit der einen Art der reflektierenden Uk, das Reflektieren der teleologischen Uk (also das "Vergleichen und Zusammenhalten gegebener Vorstellungen mit anderen" sc. Vorstellungen) darbietet, so komplex und vielschichtig präsentiert sich die andere Art und ihr Tun (das die obige Definition - aenigmatisch genug - ein "Vergleichen und Zusammen55 halten gegebener Vorstellungen mit dem Erkenntnisvermögen"
selbst nennt),
die ästhetische Uk. Sie, die ästhetische Uk - ihr Vollzug, ihre Erfahrungen und ihre Produkte - bietet ja den Problemstoff fur den gesamten zweiten und umfangreichen Hauptteil unserer Arbeit. Deswegen also kann es nicht schon jetzt möglich sein, die innere Differenziertheit, die dem Begriff der reflektierenden Uk eignet, auszubreiten; das wird von selbst in dem Masse geschehen, wie wir - im Lauf der Beschäftigung mit Kants Lehre vom Geschmack und vom Schönen - lernen werden, die ästhetisch (reflektierende) Uk von der teleologisch (reflektierenden) Uk zur Abhebung zu brinqen. Und weil wegen der Schwierigkeit der kantischen Ausführungen zur ästhetischen Uk an dieser Stelle auf die vollständige Darstellung und umfassende Explikation der reflektierenden Uk verzichtet werden muss, kann alles, was im ersten Teil unserer Untersuchung, also alles, was unter dem Titel
"Kontext" (Kapitel
III) abgehandelt wird, nicht mehr sein wollen als eine ernte den vollen
Gehalt
I -
Annäherung
des Begriffs der reflektierenden Urteilskraft. Das ist
54 cf. oben, p. 6. 55 cf. unten, p. 113.
an
36
Der Begriff der reflektierenden Urteilskraft
mit Hilfe des neugebildeten Ausdrucks "reflektierende Uk-überhaupt" leicht zu erweisen. Erst jetzt nämlich, nach Einführung des Gattungsnamens, der das Gemeinsame von ästhetischer und teleologischer Uk eigens heraushebt, wird sichtbar, dass alles bisher zum Begriff der reflektierenden Uk Gesagte am ziellen Fall der teleologischen
Uk abgelesen
spe-
worden ist. Die teleologische
Uk ist die reflektierende Uk, sofern sie auf objektive Erkenntnis ausgeht; die ästhetische, obwohl unzweifelhaft reflektierende Uk, ist, wie man weiss, an objektivierender, erkenntnismässiger
Bestimmung des ihr vorkommenden
Empirischen gerade uninteressiert. Die reflektierende Uk-überhaupt darf also nicht nur auf Erkenntnisansprüche bezogen werden und das Reflektierenüberhaupt, das Identische am Vollzug der teleologischen
(reflektierenden)
und der ästhetischen (reflektierenden) Uk, darf nicht einfach mit dem Vollzug der Suche nach dem das Gegebene jeweils bestimmenden Erkenntnisbegriff gleichgestellt werden. Zwar streben wir also durchaus schon jetzt die Klärung des Begriffs der reflektierenden Uk-überhaupt, d.h. die Freilegung dessen an, worin der fundamentale und identische Wesenszug aller reflektierenden Uk besteht, aber dies geschieht vorläufig doch immer nur im Ausgang von und im Zusammenhang mit einer Klärung des Begriffs der teleologischen Uk. Wir wiederholen damit das Verfahren, das Kant in der KdU selbst anwendet: In der "Einleitung" (auch in der sog. "Ersten Einleitung") wird der allgemeine Sinn der reflektierenden Uk und ihres PrinziDS an der besonderen, erkenntnisorientierten Ausprägung des Vermögens gewonnen, und die ästhetische Uk kommt erst an zweiter Stelle und nach Ausbildung der die reflektierende Uk im Allgemeinen bestimmenden Momente
in Betracht. Bei Kant und in der
KdU provoziert diese Methode allerdings Kategorienfehler und -konfusionen: Bestimmungen der Art werden mit solchen der Gattung verwechselt et vice versa. Ein Hauptthema unserer späteren Untersuchung wird in der Auseinandersetzung mit diesbezüglichen Fragen bestehen. Und eben deshalb - zugunsten klarer Ebenentrennung und zur Vorbeugung gegen jene Vermengung der Bestimmungen, an der die KdU leidet - haben wir den Neologismus "reflektierende Urtei1skraft-überhaupt", der sich als solcher in der Kdu nicht findet, bilden müssen.
37
Rechtfertigung eines Wortgebrauchs Dass eine spätere Betrachtung der anderen Art der reflektierenden Uk-
überhaupt eine Modifikation des zunächst nur im Horizont der teleologischen Uk erschienenen, übergeordneten Begriffs der reflektierenden Uk zur Folge haben wird, ist zu vermuten. Da wir aber die reflektierende vom Grundproblem
Uk(-überhaupt)
aus, vom Problem des Verhältnisses zwischen dem Menschen
und der transzendental nicht a priori bestimmbaren Welt her, zu denken versuchen, werden auch die aus der Beschäftigung mit der ästhetischen Uk erwachsenen Einsichten das jetzt schon Entdeckte nicht prinzipiell
in Frage
stellen.
c) "Teleologische (oder: (teleo)logische)
Urteilskraft",
Rechtfertigung unseres Wortgebrauchs
Man könnte einwenden, wir würden nun den Begriff der
"teleologischen
Urteilskraft" zu weit fassen, wenn wir ihn summarisch als den Gegenbegriff zur ästhetischen Uk verstehen. Der eigentliche Begriff der "teleologischen Urteilskraft" meine demgegenüber die reflektierende Uk nur, insofern sie mit der "objektiven Zweckmässigkeit" der Natur, d.i. mit den Organismen oder den "Naturzwecken" befasste ist. Solcher Ansicht folgt jedenfalls Düsing: "... dass die Urteilskraft, die Naturzwecke, d.h. reale oder objektive Zweckmässigkeit der Natur annimmt und darum 56 kraft genannt
wird,
..."
teleologische
Urteils-
. Diese These kann sich auf Aeusserungen Kants
berufen; etwa: "... die Einteilung der Kritik der Urteilskraft in die der ästhetischen und teleologischen: indem ... unter der zweiten das Vermögen, die reale Zweckmässigkeit (objektive) der Natur ... zu beurteilen verstanden wird."
57
Nach dieser Meinung müsste man demnach innerhalb
der logisch reflektie-
renden, auf objektive Erkenntnis gerichteten Uk noch einmal eine Scheidung vollziehen: die teleologische, auf den Kreis der Naturzwecke eingeschränkte Uk einerseits von der systematischen, auf Verallgemeinerung der Naturbegriffe und besonderen empirischen Gesetze zielenden reflektierenden Uk andererseits. Kant selbst macht aber keineswegs ausdrücklich eine solche
56 Düsing, op. cit., p. 87. 57 KdU, Einleitung, p.L.
38
Der Begriff der reflektierenden
Urteilskraft
Trennung. Diese Tatsache ist für uns entscheidend: Weil Kant die reflektierende Uk-überhaupt nur in zwei Arten teilt, weil er also als Gegenbegriff zur ästhetischen nur und allein die teleologische Uk angibt, und weil die soeben bezeichnete "systematisch reflektierende" Uk zweifellos unter den Gegenbegriff zur ästhetischen Uk gehört, verwenden wir den Begriff der teleologischen Uk umfassend und verstehen ihn als die Bezeichnung der je mit dem Ziel objektiver Erkenntnis beschäftigten Uk, - unabhängig davon, ob das nun im besonderen Bereich der Naturzwecke und Organismen oder überhaupt im Bereich der empirischen Naturwissenschaften der Fall
ist.
Das Verhältnis zwischen der teleologischen Uk im engeren Sinn und der sogenannten "systematischen" ist im übrigen nicht als das von zwei
koor-
dinierten Arten zu verstehen. Vielmehr müsste man sagen, wenn man in der Terminologie bleiben will, dass die systematische Uk mit der teleologischen Uk im weiten Sinn zusammenfällt, die teleologische Uk im engen Sinn also unter
die systematische zu stellen ist. Denn die teleologische Uk im engen
Sinn ist dadurch zwar zur besonderen qualifiziert, dass sie eine eigene Gegenstandsregion hat, aber ihr diesbezügliches Verfahren ist dennoch kein anderes als das Reflektieren der systematischen Uk, das ja allem auf empirische Erkenntnis abzweckenden Tun gemeinsam sein muss. Die das Reflektieren (="Verfahren") der reflektierenden Uk, mithin den Begriff der reflektierenden Uk als solchen, bestimmende Unterscheidung
ist
also nur die zwischen ästhetisch und nicht-ästhetisch reflektierender Uk, weshalb wir aufgrund unserer beschränkten Fragestellung auf die teleologische Uk im engen Sinn nicht eigens einzugehen brauchen. Da uns die teleologische Uk nicht in allen Aspekten vorstellig werden kann, ist wenigstens das sie gesamthaft charakterisierende Prädikat "teleologisch" in seinem Sinn zu erläutern. Kant selbst gibt hierzu nur für die teleologische Uk im engen Sinn eine befriedigende Erklärung: Diese Unterart der reflektierenden Uk heisst bei ihm nämlich deshalb
"teleologisch"
(= auf ein Telos bezogen), weil sie die "Bedingungen angibt, unter denen etwas (z.B. ein organisierter Körper) nach der Idee eines Zwecks der Natur 58 zu beurteilen sei"
, anders gesagt, weil sie auf solches sich richtet, das
58 KdU, Einleitung, p.
LH.
39
Rechtfertigung eines Wortgebrauchs
(wenngleich Naturding) doch unter die Hinsicht auf eine causa finalis zu stellen ist, um in seiner Struktur begreifbar und durchsichtig zu werden. Was wir die teleologische Uk im weiten Sinn genannt haben, darf das Prädikat "teleologisch" aber mit ebenso gutem Recht beanspruchen. Wie wir gesehen haben, besteht die Aufgabe der empirische ästhetische
Erkenntnisse, aber nicht
Urteile liefernden Uk, in der Entdeckung einer systematischen
Einheit der Formen und Gesetze des empirisch Gegebenen. In solcher Aktivität ist die Uk in doppelter Weise reflektierend: Einmal so, dass sie dem Gegebenen prinzipiell
nur aus dem Rückbezug auf die Möglichkeit ihrer Wirk-
lichkeit begegnet, und d.h. zugleich: vom Ziel her, das ihrem Wirken die Richtung gibt; sie ist also zunächst darum reflektierende, weil sie das empirisch Vorfindliche von Anfang an in Hinsicht auf ihren Zweck, ihr Te59 los, in den Blick nimmt.
Zum anderen ist sie es so, dass sie getragen
von der ersten, umfassenden Reflexion, das je einzelne
Reflektieren
("ver-
gleichende Zusammenhalten") der gegebenen Vorstellungen durchführt, das die letzteren im Einzelnen aufnimmt und auf bestimmte Auf-bestimmte-Begriffe-Bringen kann das "logische" werden. Beide
Begriffe
bringt.
Dies
Reflektieren genannt
Akte zusammen sind die aufeinander verweisenden Struktur-
momente des Verfahrens der Uk, sofern sie auf objektive empirische Erkenntnis geht. Kurz: Ihr Tun ist logisches
Reflektieren, begründet und geleitet
vom Bliak aufs Telos ihrer realisierten Möglichkeit; der Name "teleo-logische Urteilskraft" - von uns von nun an "(teleo)logische Uk" geschrieben fasst das in ein Wort zusammen. Freilich, dies sei noch einmal betont, die eben vorgelegte Deutung des Namens stammt von uns, nicht von Kant. Ihr Sinn liegt darin, unseren von Kant etwas abweichenden, umfassenden Gebrauch dieses Titels als sachgemäss auszuweisen.
59 cf. Die Interpretation des Prinzips der reflektierenden Uk, oben, p. 77. 60 Dass die reflektierende Uk 'reflektierende' nicht nur heisst, weil sie das Gegebene überhaupt im Rückblick auf sich selbst sieht, sondern ebenso deswegen, weil sie an jedem Gegebenen einzeln eine eigene Reflexion vollzieht, ist der Feststellung wert. Der Unterschied zwischen teleologischer und ästhetischer Urteilskraft ist nämlich weniger im ersten, um so deutlicher aber im zweiten Vollzugsaspekt zu erkennen.
KAPITEL
II
BEMERKUNGEN ZUM TRANSZENDENTALEN PRINZIP DER REFLEKTIERENDEN URTEILSKRAFT
Es i s t bemerkenswert, dass vom P r i n z i p der reflektierenden Uk a u s f ü h r l i c h und in systematischer Absicht nur i n den beiden Einleitungen zur KdU die Rede i s t . Was das auch sonst für (zumal werkgeschichtliche) Gründe haben mag, eines bedeutet die Tatsache gewiss: Das P r i n z i p der reflektierenden Uk gehört in die Konstitution der reflektierenden Uk-überhaupt - vor allem Auseinanderfall
in ( t e l e o ) l o g i s c h e und ästhetische. Zwar wird auch dieser
Sachverhalt im Rahmen der späteren Auseinandersetzung mit der " K r i t i k der ästhetischen U r t e i l s k r a f t " zu einer umfänglichen D i s k u s s i o n zwingen und das folgende p r ä z i s i e r e n l a s s e n , dennoch dürfen wir einer s o r g f ä l t i g e r e n Dars t e l l u n g des P r i n z i p s nicht mehr länger ausweichen. Trotz seiner zentralen Wichtigkeit i s t es uns nämlich noch nicht in seiner Weite erschienen, und dies i s t j e t z t nachzuholen (§ 5). Dann werden wir an und mit ihm zum ersten Mal mit jenem B e g r i f f der Zweckmässigkeit k o n f r o n t i e r t , der in der V i e l f a l t seiner Verwendungen und der entsprechenden M a n n i g f a l t i g k e i t der Bedeutungen jeder Interpretation der KdU einen P r o b i e r s t e i n der Genauigkeit und Stringenz abgibt. Anhand des P r i n z i p s i s t auch die spekulative Dimension zu eröffnen, die den Hintergrund der KdU b i l d e t , und s c h l i e s s l i c h kann mit ihm ein Zugang zur Verbindung des Gefühls der Lust mit dem Vermögen der reflektierenden Uk gefunden werden (§ 6).
§ 5 Das P r i n z i p der reflektierenden U r t e i l s k r a f t Die Schwierigkeiten, die s i c h für die Wesensklärung der reflektierenden Uk-überhaupt dann ergeben, wenn man s i e in Anlehnung an den Aufbau der KdU zu bewerkstelligen versucht, - die Schwierigkeiten a l s o , das UebergreifendAllgemeine trotz der eingeschränkten Perspektive, unter der es thematisiert
Bemerkungen zum transzendentalen Prinzip
42
wird, zu treffen - repetieren sich, wo es ums transzendentale Prinzip
(der
reflektierenden Uk) zu tun ist. Kant handelt eingehend vom transzendentalen Prinzip nur in den Einleitungen und dort fast ausschliesslich im Horizont
der
(teleo)logischen
Uk erscheint.
davon,
wie
es
Weil die vorliegende Studie
den Gang des kantischen Textes (der mit der Einleitung
seinen ersten Schritt
tut) so wenig wie möglich zu durchkreuzen trachtet, werden wir also das transzendentale Prinzip (der reflektierenden Uk-überhaupt?, der ästhetischen? der (teleo)logischen Uk?) zunächst von dem Aspekt her explizieren müssen, den es im Zusammenhang der (teleo)logischen Uk präsentiert. Das Provisorisch-Präliminarische, das daraus resultiert, versteht sich von selbst. Sowohl in der sog. "ersten" als auch in der endgültigen Einleitung in die KdU wird das Prinzip der Uk aus einer Besinnung auf die Bedingungen fortschreitender empirischer Naturerkenntnis gewonnen; aus der Ueberlegung also, wie es möglich ist, angesichts der unendlichen Reichhaltigkeit von verschiedenen Formen und Vorgängen in der Welt des empirisch Gegebenen etwas wie ein System, eine zur Einheit sich zusammenschliessende Ordnung des Einzelnen der Dinge und ihrer Verknüpfungen
zu finden. Und zwar wird Kant das
Problem vor allem in der Gestalt der Frage nach den "besonderen empirischen Gesetzen" der Natur akut. Die besonderen empirischen Gesetze sind zunächst negativ gegen die allgemeinen oder allgemeinsten Gesetze bestimmt, die der Verstand als die Bedingungen aller möglichen Erfahrung nach dem "System der Grundsätze" der Natur vorgibt. Die besonderen empirischen Gesetze sind mithin positiv dasjenige, was das Thema der Naturwissenschaft, der Physik etwa, ausmacht. Besondere
bleiben diese auch in ihrer höchsten Allgemeinheit
(also
z.B. das Gesetz der Attraktion) deshalb, weil sie empirische sind: Sie stehen als aus der konkreten Erfahrung abstrahierte immer schon unter den Be1 Kant formuliert das Prinzip der reflektierenden Uk, ohne auf die Differenz eigens hinzuweisen, sowohl im Ausgang von den einzelnen "Naturformen", wie auch im Hinblick auf die "besonderen empirischen Gesetze". Im einen Fall hat er dabei die Möglichkeit deskriptiver Naturforschung im Blick, die Begriffssysteme aufbauen will (Linné), im andern Fall die Möglichkeit nomologischer Naturwissenschaft (Newton), die auf Gesetzessysteme zielt. Das hat aber für den einheitlichen Sinn des Prinzips der reflektierenden Uk keine Bedeutung, denn beide Weisen der Verallgemeinerung des empirisch Gegebenen bedürfen derselben "Zustimmung" der Natur, die das Prinzip allemal voraussetzt.
43
Das Prinzip in der Weite seiner Grund-legung
dingungen der Möglichkeit dieser Erfahrung und somit also unter den allgemeinsten Naturgesetzen des transzendentalen Verstandes. Die besonderen empirischen Gesetze sind aber, obwohl sie immer die Besonderungen unter den allgemeinsten Naturgesetzen des Verstandes bleiben, als die empirisch gegebenen Besonderungen, in ihrem jeweiligen Besonderssein vom transzendentalen Verstand nicht und niemals a priori bestimmt und bestimmbar. In ihrem besonderen Gehalt sind sie vom Verstand unabhängig und so unbestimmt gelassen. Fraglich ist nun eigentlich nicht, ob die "Natur" - diesen Begriff verwendet Kant in der KdU meistens, wenn er das Insgesamt des dem Menschen empirisch Zugänglichen bedeuten will, d.i. "den Inbegriff aller Gegenstände 2 der
Erfahrung"
- in Frage steht nicht, ob die "Natur" überhaupt ein Sy-
stem in diesen ihren besonderen Gesetzen darstelle. Denn sie sind ja nach dem transzendentalen Prinzip der Kausalität als Gesetze, d.h. als notwendige Zusammenhänge aus einem Grund zu denken, und das hat zur Folge, dass sie sich nicht endlos vervielfältigen können, sondern als sich in
einem
Ursprung begründend gedacht werden müssen. Kant sagt: Dass sie "zwar als empirische nach unserer Verstandeseinsicht zufällig sein mögen, aber doch, 3 wenn sie Gesetze heissen sollen (wie es auch der Begriff einer Natur
er-
fordert), aus einem, wenn gleich uns unbekannten Prinzip 4 der Einheit des Mannigfaltigen als notwendig angesehen werden müssen."
Fraglich ist je-
doch "ob die Natur, auch nach empirischen Gesetzen ein für das menschliche Erkenntnisvermögen fassliches
System sei, und der durchgängige systemati-
sche Zusammenhang ihrer Erscheinungen in einer Erfahrung, mithin diese selber als System, dem Menschen
möglich sei." Und er fährt weiter:
2 Erste Einleitung, p. 190. 3 Die Bedeutung, die "Natur" an dieser Stelle hat, ist mit der oben angeführten Explikation zweifellos nicht kongruent. "Natur", wie alle Hauptbegriffe Kants, konfrontiert uns mit einer Vielzahl von Bedeutungen. Eine Hauptstruktur des semantischen Feldes dieses Ausdrucks ist aber durch die zwei genannten Zitate schon festgelegt: "Natur" ist einerseits Inbegriff der Erscheinungen, Insgesamt des in der Anschauung Gegebenen (a), andererseits als der gesetzmässige, durchgängige Zusammenhang (= die im "System der Grundsätze" entwickelte Struktur) des je Erfahrbaren definiert (b). (a) entspricht der Stelle aus der ersten Einleitung, p. 190, (b) der (zweiten) Einleitung, p. XXVII. Vgl. zu diesem Thema H. Holzhey, Kants Erfahrungsbegriff, Basel, 1970, p. 254f. Eine dritte Grundbedeutung von "Natur" schliesslich, der alte Begriff einer natura naturans, spielt gerade in der KdU eine gewisse Rolle; cf. dazu unten, p. 51. 4 KdU, Einleitung, p. XXVI, cf. a. Erste Einleitung, p. 190.
44
Bemerkungen zum transzendentalen Prinzip "denn es könnte die Mannigfaltigkeit und Ungleichartigkeit der empirischen Gesetze so gross sein, dass es uns zwar teilweise möglich wäre, Wahrnehmungen nach gelegentlich entdeckten besonderen Gesetzen zu einer Erfahrung zu verknüpfen, niemals aber diese empirischen Gesetze selbst zur Einheit der Verwandtschaft unter einem gemeinschaftlichen Prinzip zu bringen, wenn nämlich, wie es doch an sich möglich ist (wenigstens so viel der Verstand a priori ausmachen kann), die Mannigfaltigkeit und Ungleichartigkeit dieser Gesetze, im gleichen die ihnen gemässen Naturformen, unendlich gross wäre und uns an diesen ein rohes chaotisches Aggregat und nicht die mindeste Spur eines Systems darlegte, ob wir gleich ein solches nach transzendentalen Gesetzen voraussetzen müssen." 5
Wenn daher empirische Forschungen gelingen, die Möglichkeit der menschlichen "Erfahrung als eines Systems" in den Prozess der Verwirklichung eintreten soll, darf diese immerhin denkbare Erscheinung der Natur nicht der Fall sein. Das heisst: Die Natur, das All des Gegebenen, hat sich
"umwillen
des Menschen" als "fasslich", d.i. als dem endlichen Erkenntnisvermögen angemessen und seinem Zweck gemäss, zu erweisen. Bevor empirische Naturforschung gelingen kann, muss sie allerdings begonnen haben. Das freilich vermag sie nur, wenn sie die Bedingungen ihrer Realisierung als existierend unterstellt, d.h. wenn sie das Gegebene als für sie zweckmässig voraussetzt. Vor der faktischen Erfahrung der Zweckmässigkeit muss also der Entwurf dieser Zweckmässigkeit stehen: das apriorische Prinzip der reflektierenden Uk. "Die Urteilskraft, welcher es obliegt, die besonderen Gesetze, auch nach dem, was sie unter denselben allgemeinen Naturgesetzen Verschiedenes haben, dennoch unter höhere, obgleich immer noch empirische Gesetze zu bringen, muss ein solches Prinzip der Affinität der besonderen Naturgesetze (allgemeiner formuliert: der Zweckmässigkeit des Gegebenen. Zusatz GK) ihrem Verfahren zum Grunde legen." 6 Dies Prinzip steht notwendigerweise am Anfang ihres Tuns, ihr allererst den Grund und Boden verschaffend, auf dem sie Stand gewinnt. Denn durch "Herumtappen unter Naturformen, deren Uebereinstimmung untereinander, zu gemeinschaftlichen empirischen aber höheren Gesetzen, die Urteilskraft als ganz zufällig ansähe, würde es noch zufälliger sein, wenn sich besondere Wahrnehmungen einmal glücklicherweise zu einem empirischen Gesetze qualifizierten; viel mehr aber, dass mannigfaltige empirische Gesetze sich zur systematischen Einheit der Naturerkenntnis in einer möglichen Erfahrung in ihrem
5 Erste Einleitung, p. 190. 6 Erste Einleitung, p. 191.
Das Prinzip in der Weite seiner Grund-legung
45
ganzen Zusammenhange schicken, ohne durch ein Prinzip a priori eine solche Form in der Natur vorauszusetzen."^ Das Prinzip der reflektierenden Uk, dem wir zuerst im Zusammenhang empirischer Begriffsbildung begegnet sind, das sich nun als die fundamentale Annahme nomologischer Naturforschung präsentiert hat, ist damit in der Weite seiner Grund-legung aber noch keineswegs umrissen. Denn mit der Annahme einer Zweckmässigkeit der Natur geht es um mehr als nur um die Ermöglichung besonderer Erkenntnis: Es geht um nichts weniger als überhaupt um die MögQ lichkeit des Menschen "in die Welt zu passen" , sich in ihr zurechtfinden und orientieren zu können. "Wenn der Mensch sich inmitten einer unzusammenhängenden und ordnungslosen Vielfalt befände, dann könnte er nicht in dem vielfältig ihn angehenden Mannigfaltigen bestehen und sich nicht nur nicht g empirisch erkennend, sondern auch nicht handelnd entfalten" . Das Prinzip der Uk wird also auch für die praktische Vernunft bedeutsam. Darauf macht Kant im letzten Kapitel der Einleitung aufmerksam: "Die Wirkung nach dem Freiheitsbegriff ist der Endzweck, der (oder dessen Erscheinung in der Sinnenwelt) existieren soll, wozu die Bedingung der Möglichkeit desselben in der Natur vorausgesetzt wird. Das, was diese (= Bedingung der Möglichkeit, = Akkusativ. GK) a priori und ohne Rücksicht auf das Praktische voraussetzt, die Urteilskraft, gibt den vermittelnden Begriff zwischen den Naturbegriffen und dem Freiheitsbegriffe, ... in dem Begriffe einer Zweckmässigkeit der Natur an die Hand; denn dadurch wird die Möglichkeit des Endzweckes, der allein in der Natur und mit Einstimmung ihrer Gesetze wirklich werden kann, e r k a n n t . " 1 0 Zusammenfassend ist festzustellen, dass Kant das Prinzip der reflektierenden Uk in der KdU (genauer: in der Einleitung) zwar zunächst nur anhand der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit empirischer
Naturwissenschaft
vorstellt, dass er aber den Horizont solcherart wissenschaftstheoretisch eingeschränkter Betrachtung stets auch überschreitet und im Blick bewahrt, dass das Prinzip der Uk seine umfassende Bedeutung nicht bloss darin hat, Generalmaxime von Naturforschung zu sein. Deshalb vermag er am Prinzip der reflektierenden Uk zu zeigen, dass der spekulative Gedanke einer Korrespondenz von vorfindlicher Welt und Mensch, die die Verwirklichung
7 8 9 10
Erste Einleitung, p. 191. cf. Refi. 1855. Κ. Düsing, op. cit., p. 59f. KdU, Einleitung, p. LV.
theore-
Bemerkungen zum transzendentalen Prinzip
46
tischer und praktischer Aufgaben erlaubt, der endlichen Vernunft notwendig zugehört. Die Erfahrung der ästhetisch reflektierenden Uk wird freilich diese Idee einer Korrespondenz von Welt und Mensch noch um ein Moment bereichern, das im Horizont der in "BehePrschungsabsicht" auftretenden (teleo)logisch reflektierenden Uk nicht einmal gedacht werden kann; cf. unten, Kapitel VII und Kapitel VIII.
§ 6 Die Transzendentalität des Prinzips der Urteilskraft und die Als-ob-Zweckmässigkeit der Natur
Im Zusammenhang der Erläuterung des Prinzips der reflektierenden Uk muss jener Begriff der Zweckmässigkeit zum ersten Mal beachtet werden, der in vielfacher Abwandlung und Differenzierung die Thematik der KdU durchflicht. Kant bietet, wie man weiss, ein ganzes Ensemble von Adjektiven auf, um diesen, seinem abstrakten Inhalt nach einfachen Begriff der jeweils konkret gemeinten Zweckmässigkeit zu vermitteln. Es gibt in der KdU "formale" und "materiale", "subjektive" und "objektive", "reale" und "ideale", "äussere" und "innere" Zweckmässigkeiten. Weil die Systematik dieser Unterscheidungen dem lebendigen Fortschritt einer Problemdurchdringung entstammt, ist es nicht sinnvoll, den Begriff der Zweckmässigkeit und seine Auffächerunq von vornherein rein analytisch und losgelöst vom Kontext zu erörtern. Wir werden uns deshalb zunächst nur je im einzelnen und im Zusammenhang der speziellen Thematik mit dem, was Kant "Zweckmässigkeit" heisst, beschäftigen; und erst im Rückblick auf diese Detailbetrachtungen soll ein Schema der Ausdifferenzierungen von "Zweckmässigkeit" zu konstruieren versucht werden; cf. unten, p. 233ff.
a) Das Prinzip, obwohl
"transzendental", ist "subjektiv"
"Das transzendentale Prinzip der reflektierenden Urteilskraft als das Prinzip der formalen Zweckmässigkeit der Natur.
Die Nennung dieser Ka-
pitelüberschrift der Einleitung zeigt, dass zwei Gesichtspunkte zu berück-
11 = Titel Kpl. V, Einleitung.
47
"transzendental", aber "subjektiv"
sichtigen sind: der eigentümliche Prinzipcharakter des Prinzips der reflektierenden Uk (a) und die in ihm vorgestellte Bestimmtheit der Natur (= des Insgesamts des sinnlich Gegebenen) als einer formalen Zweckmässigkeit
(b).
Mit dem ersteren ist zu beginnen. Das Prinzip der reflektierenden Uk ist "transzendentales" Prinzip, aber 12 als solches gleichwohl
"subjektiv".
Um zu sehen, was gemeint ist, muss
man die Andersartigkeit der Verstandesprinzipien bedenken. Denn das Prinzip der reflektierenden Uk ist gewiss nicht darum "subjektiv", weil es gar keine intersubjektive Gültigkeit beanspruchen dürfte ("subjektiv" im umgangssprachlichen Verständnis). Die Prinzipien des Verstandes (und auch der Vernunft) geben, wie Kant in den beiden ersten Kritiken darlegt, je dem Erkenntnis- resp. Begehrungsvermögen überhaupt ein Worauf ihrer spezifischen
Inten-
tionalität, d.h. überhaupt einen Gegenstand oder ein Objekt. Sie sind also "objektive Prinzipien", insofern sie Gegenständlichkeit stiftende sind. Ist daher das Prinzip der Uk kein objektives, weil in ihm nichts Gegenständliches konstituiert wird? Diese Erklärung wäre zu oberflächlich. Denn das Prinzip der Uk ist vor allem "transzendentales" Prinzip; - ein solches also, "durch welches die allgemeine Bedingung a priori vorgestellt wird, unter der allein 13 Dinge Objekte unserer Erkenntnis überhaupt werden können."
Dass das Prin-
zip der Uk dieser Definition genügt, ist klar: Wir haben gesehen, dass das empirisch Allgemeine nur im Lichte des Entwurfs seiner faktischen Erkennbarkeit erscheinen kann. Ohne das Prinzip der Uk ist das sinnlich Vorfindliche für uns nichts als unüberschaubare Mannigfaltigkeit und die in ihr aufbewahrte Ordnung vermag nicht offenbar, also Objekt unserer Erkenntnis zu werden. 14 12 "Dieser transzendentale Begriff einer Zweckmässigkeit der Natur ist nun weder ein Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff, weil er gar nichts dem Objekte (der Natur) beilegt, sondern nur die einzige Art, wie wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen, vorstellt, folglich ein subjektives Prinzip (Maxime) der Urteilskraft." Einleitung, p. XXXIV. 13 KdU, Einleitung, p. XXIX. 14 Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass aus der Einsicht in die Transzendentalität des Prinzips sogleich die Erkenntnis seiner Apriorität folgen muss. Vgl.: "Auf Rechnung der Erfahrung kann man ein solches Prinzip keineswegs schreiben, weil nur unter Voraussetzung desselben es möglich ist, Erfahrungen auf systematische Art anzustellen." Erste Einleitung, p. 192.
Bemerkungen zum transzendentalen Prinzip
48
Das eben Gesagte widerlegt mithin die Vermutung, das Prinzip der Uk sei in Kontraposition zu den "objektiven" Vernunft- und Verstandesprinzipien nicht Moment in der Konstitution von Gegenständlichkeit. Insofern nämlich das "subjektive" Prinzip der Uk Bedingung des Sich-Zeigens des Gegebenen in seiner nicht a priori fixierbaren Bestimmtheit ist, d.h. Grund dafür, dass die letztere für uns sein kann, muss zugestanden werden, dass es eine wesentliche Rolle im Vorstellig-Werden von Gegenständlichkeit spielt. Es ist darum ungenau gesprochen, wenn man das Wesen eines "objektiven" im Gegensatz zu dem des "subjektiven" Prinzips einfach ins Stiften von Gegenständlichkeit setzen will. Worin besteht es dann? Im Fall der objektiven Prinzipien ist Gegenstandskonstitution ein das Gegebene im Wie seines Erscheinens immer schon Bestimmt-Haben, während das subjektive Prinzip das Vorstel1ig-Werden von Gegenständlichkeit stiftet, indem es einen horizont
eröffnet,
das die Erwartung
darin das Gegebene Erfüllende
den Spielraum
hat, sich sowohl
als auch als das die Erwartung
und nur noch negativ Erfahrbare
zu bestimmen
Erwartungsals
Enttäusahende
und zu präsentieren.
Daraus
erhellt: Unterscheidungshinsicht des subjektiven von den objektiven transzendentalen Prinzipien ist das, wofür das Prinzip jeweils bindend ist; die letzteren bestimmen das Objekt das erstere das Subjekt
in der Weise seines Gegenstand-Seins,
in der Art seines Vergegenständlichens.
"Subjektiv"
ist das Prinzip der Uk, weil es die "einzige Art, wie wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängige Erfahrung 15 verfahren müssen, vorstellt" In Konsequenz der beschriebenen Subjektivität nennt Kant das Prinzip der Uk zuweilen eine "heuristische Regel
oder eine " M a x i m e " ^ , die nicht
1g
"Autonomie", sondern die "Heautonomie" der menschlichen Vernunft beweist. Der Ausdruck "heuristische Regel" darf hier jedoch nicht falsch verstanden werden. Zwar beinhaltet das subjektive Prinzip wohl nur eine Hypothese, eine nötige Annahme zugunsten der Möglichkeit von Reflexion, der die Wirklichkeit auch negativ gegenübertreten könnte, aber es statuiert eben durchaus nicht bloss eine beliebige Voraussetzung, die bei Untriftigkeit zu ersetzen wäre, 15 16 17 18
KdU, Einleitung, p. XXXIV. Erste Einleitung, p. 187. KdU, Einleitung, p. XXXIV. KdU, Einleitung, p. XXXVII
Formale Zweckmässigkeit der Natur
49
sondern den unerlässlichen Entwurf der Welt, den das endliche Denken braucht um ein Zurechtfinden auch nur versuchen zu können.
b) Die formale Zweckmässigkeit der Natur
Die prinzipielle Annahme einer für den Menschen in seinen theoretischen Bedürfnissen (und praktischen Obliegenheiten) günstigen Welt (= Gesamtheit des nur a posteriori Erfahrbaren) heisst Kant nun das "Prinzip der formalen Zweckmässigkeit der Natur". Dass die "formale Zweckmässigkeit", obwohl
sie
der Inhalt des "subjektiven Prinzips" ist, nicht mit der "subjektiven Zweckmässigkeit" zusammenfällt, die in der ästhetischen Uk thematisch wird und 1g die Wesensbestimmung des Schönen ist, sei hier nur angemerkt. wähnten Unterschied folgt indessen sogleich, dass das Adjektiv
Aus dem er"formal"
nicht eine Kennzeichnung des Prinzipcharakters des Gedankens der Zweckmässigkeit ist, sondern sigkeit
dient;
der Bestimmung
der von der Uk unterstellten
Zweckmäs-
- die Zweckmässigkeit der Natur ist "formale", nicht etwa
das Prinzip. Kant setzt sie damit der "materialen Zweckmässigkeit" entgegen, Uber die der § 62 der KdU die Auskunft liefert: Materiale Zweckmässigkeit einer Sache ist jene Bestimmtheit, die als von einer das Hervorbringen der Sache leitenden Vorstellung bewirkt gedacht sein muss und darf, d.h. eine Zweckmässigkeit, die wirklichem
Wollen und Tun ent-
sprungen ist - eine Zweckmässigkeit, die fraglos auf einen Zweck und die 20 Existenz eines Herstellers als ihre Ursache verweist. Nun hat Kant schon im § 10 der KdU konstatiert: "Zweckmässigkeit aber heisst ein Objekt, oder Gemütszustand, oder eine Handlung auch, wenn gleich ihre Möglichkeit die Vorstellung eines Zwecks nicht notwendig voraussetzt, bloss darum, weil ihre Möglichkeit von uns nur erklärt und begriffen werden kann, sofern wir eine Kausalität nach Zwecken, d.i. einen Willen, der sie nach der Vorstellung einer gewissen 19 cf. dazu unten, p. 158ff. 20 Die Mehrdeutigkeit kantischer Termini ist besonders beeindruckend am Beispiel der verschiedenen Zweckmässigkeitsbegriffe zu demonstrieren; wir werden diesbezüglich noch einigen Anschauungsstoff geliefert bekommen. Vorderhand sei nur darauf hingewiesen, dass der § 62 der KdU gewiss den Hauptsinn des Terms "materiale Zweckmässigkeit" angibt, aber das ist - man ist versucht zu sagen: natürlich - nicht seine einzige Bedeutung: "materiale Zweckmässigkeit" wird auch dem "Angenehmen" (= der Sinnesempfindung qua Materie) zugesprochen, cf. dazu unten, p. 237.
50
Bemerkungen zum transzendentalen
Prinzip
Regel so angeordnet hätte, zum Grunde desselben annehmen. Die Zweckmässigkeit kann also ohne Zweck (d.i. ohne causa finalis. Zusatz GK) sein, sofern wir die Ursachen dieser Form nicht in einen realen Willen setzen ... können." Solche Bestimmtheit von Gegebenem, die sich der Betrachtung in der Weise oder Form der Zweckmässigkeit darstellt, ohne doch in ihrem So-Sein auf einen zweckqerichtet handelnden Willen zurückgeführt werden zu können, eine Zweck-mässigkeit also, die sich nur präsentiert, "als ob" sie von einem Zweck als causa finalis bestimmt worden w ä r e , nennt Kant nun "formale Zweckmässigkeit".
21
Zu begründen gilt jetzt, warum diese Als-ob-Zweckmässigkeit dem Prinzip der Uk zugesprochen wird: Das Gedankenprojekt, das die reflektierende Uk ihrem Tun zugrunde legt, postuliert vom Empirischen eine
Beschaffenheit,
die zunächst nichts mehr als eine Zweckmässigkeit-für-uns an sich haben soll. Dadurch wird aber eine so sinnvoll
gestaltete Qualität dessen präsu-
miert, was für den transzendentalen Verstand zufällig ist, dass sie nicht anders als durch eine vernünftige Ursache gesetzt begreiflich zu machen
ist.
Denn was die Uk von der Mannigfaltigkeit der Natur erwartet, ist eine Systematik und ein Verhältnis der Teile zum Ganzen, die nicht als aus blindem Zufall geboren zu verstehen ist. Die vom Prinzip in Anspruch "Zweckmässigkeit der Natur" ist daher nicht allein als
genomnene
Zweckmässigkeit-für-
uns (= Nützlichkeit für unsere Zwecke), sondern ebenso als eine innere Zweckmässigkeit auszulegen. D.i. die Natur wird durch diesen Begriff Zweckmässigkeit)
(der
so vorgestellt "als ob ein Verstand (wenn gleich nicht der
22 unsrige) den Grund der Einheit des Mannigfaltigen weltschöpfende
... enthalte."
Diese
Intelligenz ist aber nur eine "Idee" der reflektierenden Uk:
"Nicht als wenn auf diese Art wirklich ein solcher Verstand angenommen werden müsste
(denn es ist nur die reflektierende Urteilskraft, der diese Idee
23
zum Prinzip dient, zum Reflektieren, nicht zum Bestimmen)".
Die KdU ver-
gisst nicht, dass die KrdrV die Hoffnung auf die objektive Erkenntnis einer göttlichen Weltursache ein für allemal gekappt hat und hält dies auch gegen die im Zusammenhang des transzendentalen
Prinzips auftauchende
Vorstellung
21 Allerdings ist auch im Fall der "formalen Zweckmässigkeit" ein Doppelsinn aufzuweisen, cf. unten, p. 237. 22 cf. KdU, Einleitung, p. XXVIII. 23 KdU, Einleitung, p. XXVII/XXVIII.
51
Spekulativer Ausblick
eines "anderen Verstandes" aufrecht. Sie stellt jederzeit klar, dass dieser nur Denkhilfe ist, jene hypothetische "Kausalität nach Zwecken", die wir ansetzen müssen, weil wir uns sonst die Möglichkeit einer Zweckmässigkeit in 24 gar keiner Weise plausibel zu machen fähig sind.
Linter dem Vorzeichen der
kritischen, die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis
berücksichtigenden
Philosophie kann daher das Prinzip der Zweckmässigkeit nur eine
"formale"
Zweckmässigkeit beinhalten oder eine Zweckmässigkeit ohne wirk-lichen Zweck. c) Spekulativer Ausblick
Der Stellenwert, den die Idee des "anderen Verstandes" oder, wie es oft heisst, des "übersinnlichen Substrats der Natur", in der KdU hat, wäre allerdings völlig verkannt, würde sie allein als beinahe ärgerliches Nebenprodukt einer Besinnung auf die transzendentalen Voraussetzungen von Welt25 erfahrung geschildert.
Mit dem Gedanken des "anderen Verstandes", der der
Zweckmässigkeit der Natur und ihrer systematischen Einheit zugrunde liegt, führt Kant - nun unter der Einschränkung seines geklärten
Erkenntnisbeqriffs
- ein zentrales Thema seiner Frühzeit zu Ende: die Frage nach der Möglichkeit einer Physikotheologie. Es ist gerade ein Entscheidendes der KdU zu zeigen, dass die theologische Spekulation der vorkritischen Metaphysik auch in einer transzendentalphilosophischen Untersuchung zu bewahren ist und den Abschluss einer alle Bereiche der theoretischen und praktischen Philosophie und ebenso die Aesthetik umfassenden Teleologie bildet. Diese die KdU mitbestimmende Intention muss bewusst sein, auch wenn sie hier nicht im Speziel24 Weil das Prinzip der Uk die Möglichkeit einer im Ganzen zweckmässig geschaffenen Natur offen hält, vermag es den Schritt zur Verwendung des Begriffs der "Naturzwecke", d.h. gegebener, einzelner Naturdinge, deren Entstehung nach dem Muster technischen Herstellens begriffen wird, vom Anschein völliger Abwegigkeit zu befreien: Wenn auch der Grund solcher Gebilde (Kant meint mit den "Naturzwecken" vor allem die Organismen und die Naturschönheiten) nicht objektiv erkannt werden kann, "so haben wir doch schon dadurch etwas gewonnen, dass wir für die in der Erfahrung sich vorfindende Zweckmässigkeit der Naturformen ein transzendentales Prinzip der Zweckmässigkeit der Natur in der Urteilskraft in Bereitschaft halten, welches, wenn es gleich die Möglichkeit solcher Formen zu erklären nicht hinreichend ist, es doch wenigstens erlaubt macht, einen so besonderen Begriff, als den der Zweckmässigkeit, auf Natur und ihre Gesetzmässigkeit anzuwenden..." (Erste Einleitung, p. 199). 25 Zum folgenden cf. Κ. Düsing, op. cit., 2. Kpl., Β/Ε.
52
Bemerkungen zum transzendentalen Prinzip
len und für sich behandelt wird. Und ein weiteres gilt es wenigstens zu erwähnen. Die Idee des
"anderen
Verstandes", die vor allem der § 77 der Kdll im entwickelten Begriff einer anschauenden, nicht-diskursiv verfahrenden Intellektualität zu fassen versucht, ist einer der Uebergänge zum nachkantischen Idealismus. Hegel
selbst
weist in "Glauben und Wissen" des längeren darauf hin. Hegel sagt dort nämlich nichts weniger, als dass Kant in der KdU "... die Idee der Vernunft, 26 ... in der Idee eines anschauenden Verstandes ausspricht."
Ueberhaupt
ist Hegel die KdU im Ganzen und vor allem der Begriff der reflektierenden Uk der Punkt, an dem schon innerhalb Kants eigenem Werk der notwendige Zug des Denkens sichtbar wird, Uber die Entzweiungen und Entgegensetzungen der 27 KrdrV hinaus zu kommen.
Dass es aber zuerst Schelling gewesen ist, der
die in der KdU sichtbar werdenden Tendenzen der Vermittlung von Natur und Freiheit, theoretischem und praktischen Teil der Philosophie, also den spekulativen Gedanken einer Harmonie von Subjekt und Objekt ergriff und im "System des transzendentalen Idealismus" weiter gedacht hat, sei hier ebenfalls vermerkt. 28 d) Uebergang zum "Gefühl der Lust und Unlust"
Der dank des Entwurfs, d.h. dank des subjektiven Prinzips der Uk erfahrenen Zweckmässigkeit der Natur eignet unaufhebbar, - so betont es Kant, gleichsam in antizipativer Opposition gegen seine Nachfolgergeneration, der Charakter der Formalität. Die Naturbestimmtheit, auch wenn ihre Zweckmässigkeit-für-uns in den gelingenden Aktionen der reflektierenden Uk real zutage tritt und sich im Spiegel des Fortschritts der empirischen Naturwissenschaften unübersehbar zu machen scheint, bleibt
unableitbar
und
zufallig,
26 Glauben und Wissen, p. 322ff. (Zitiert nach Theorie-Werkausgabe, Suhrkamp-Verlag, Bd. 2.) 27 cf. Encyklopädie, §§ 55-60, p. 139 (Suhrkamp-Ausgabe, Bd. 8). 28 P. Heintel macht es geradezu zu seinem methodischen Ansatz, die KdU als Vorwegnahme des späteren hegelschen Vernunftbegriffs zu interpretieren. Heintel berücksichtigt auch die schellingsche Fortführung des kantischen Gedankenguts und widmet insbesondere Schellings "Philosophie der Kunst" einen längeren Abschnitt. (P. Heintel, Die Bedeutung der Kritik der ästhetischen Urteilskraft für die transzendentale Systematik, Bonn, 1970.)
53
Prinzip der Zweckmässigkeit und Gefühl der Lust
ist nicht deduzierbar aus einem intelligiblen Weltgrund. Dafür, dass sich die Natur immer wieder zweckmässig zeigt, besteht mithin keinerlei Garantie - die
mögliche Erfahrung einer alle bisherige Erfahrung von Zweckmässig-
keit erschütternden Unzweckmässigkeit ist ständig denkbar. Kurz: in der untilgbaren Formalität der Naturzweckmässiqkeit wie in der Doppelnatur des Prinzips der Uk (seiner subjektiven Notwendigkeit, aber objektiven Kontingenz) bekundet sich die Endlichkeit des Vermögens der reflektierenden Uk und das heisst: die Endlichkeit der menschlichen Vernunft. Die reflektierende Uk, die das konkret gewordene Vernunftinteresse der autonomen, aber endlichen Vernunft ist, indem sie je, was aufgegeben, mit dem, was gegeben ist, vermittelt und so die in der Vernunft aufleuchtende Freiheit aus ihrer übersinnlich-überschwenglichen Allgemeinheit heraus ins einzelne bestimmte Erkennen und Handeln einzubringen versucht, ist stets unmittelbar der Möglichkeit des Scheiterns und der Enttäuschung ausgesetzt, denn die Realisierbarkeit ihres von der Vernunft gesetzten Zieles dependiert allémal von der objektiv zu-fälligen "Angemessenheit des Gegebenen" an ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse. Immer ist ihr je Beanspruchtes ein Noch- und vielleicht ein Ueberhaupt-Nicht. Immer besteht ein Abstand zwischen ihrer Aufgabe und der Erfüllung, und immer ist die Erfüllung fraglich. In der reflektierenden Uk lebt somit unaufhebbar die Spannung menschlichen Strebens, die Spannung nämlich zwischen Anspruch und Entsprechen. Dass der reflektierenden Uk notwendig ein Bezug zum Gefühl der Lust und Unlust zukommt, ist allein im Rückgang auf diese Erkenntnis begreiflich zu machen. Denn in die Konstitution des Gefühls der Lust (und der Unlust) gehört die Spannung dessen, was immer zwischen Anspruch und Erfüllung steht: die Spannung des Strebens. Das Gefühl der Lust und Unlust ist bekanntlich ein wichtiges Thema im Rahmen der Kritik und Analyse der ästhetisch
reflektierenden
Uk. Ein, nach
Kants eigenem Bekunden entscheidender Anlass für die Abfassung der KdU ist die Frage, wie die im ästhetischen Urteil fassbare "unmittelbare Beziehung des Erkenntnisvermögens (gemeint ist damit die reflektierende Uk, Zusatz GK) 29 auf das Gefühl der Lust und Unlust" verfasst ist. Kants Antwort auf diese
29 cf. KdU, Vorrede, p. VIII.
54
Bemerkungen zum transzendentalen Prinzip
Frage, sofern sie ins spezifische Feld der Aesthetik gehört, wird natürlich erst im Hauptteil der vorliegenden Arbeit ein Gegenstand der Diskussion werden können, doch unser diesbezügliches Bemühen wird nur erfolgreich sein können, wenn zuvor zwei Dinge zur Sprache gekommen sind: erstens die elementaren
Bestimmungen
und Abgrenzungen dessen, was - insbeson-
dere von Kant - gemeint ist, wenn von "Lust" die Rede ist; zweitens die generelle
und wesenkafte
Verbindung3
überhaupt
und dem Gefühl
der Lust
die zwischen
der reflektierenden
Uk-
besteht.
Die zweite Aufgabe wird, wenn einmal die erste gelöst ist, vor keine grossen Probleme stellen. Der Grundgedanke ist im Kern ja schon in den obigen Sätzen über den Konnex zwischen endlicher Vernunft, dem der reflektierenden Uk immanenten Streben und der Verflechtung von Streben und Lust/Unlust enthalten. Schwieriger und grösseren Aufwand erfordernd ist hingegen das erste Thema. Denn einmal ist das Gefühl der Lust/Unlust als solches, so nah und vertraut die Sache im unmittelbaren Lebensvol1zug auch sein mag, nicht leicht auf den Begriff zu bringen, - nicht umsonst sagt man, "es scheine zuweilen, dass die Reflexion ihr Ziel, allgemeine Gesetzmässigkeiten zu entdecken und zu rechtfertigen, im Bereich der Gefühle nicht erreichen könne: zu kontingent, verletzlich, uneinheitlich und der begrifflichen Erfas30 sung unzugänglich scheinen diese Phänomene zu sein."
Zum anderen sind
Kants in der KdU, KpV und der Anthropologie verstreuten Thesen zum Gefühl der Lust und Unlust nicht ohne weiteres untereinander in Einklang zu bringen.
30 W. Henckmann, Artikel "Gefühl", in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, p. 520ff., München, 1973.
KAPITEL III DAS GEFUEHL DER LUST 1
§ 7 Die Wesensmomente des Gefühls der Lust
Die von uns erwähnte "Spannung des Strebens" ist zwar von Kant nirgends als Wesensmoment der Lust namhaft gemacht, der Sache nach erscheint sie aber durchaus. So etwa an ausgezeichneter Stelle im Kapitel VI der Einleitung in die KdU: "Die Erreichung jeder Absicht ist mit dem Gefühle der Lust verbunden."
Kant formuliert den Satz ohne weitere Erklärung, er hält ihn
offenbar für unmittelbar einleuchtend, - was er in der Tat auch ist. Immer wenn ein Streben glückt, ein Streben zum Erstrebten gelangt, d.h. eine Absicht erreicht wird, findet sich der Wollende, Begehrende, resp. Gewollt-, Begehrt-Habende in jener besonderen sein Sein durchherrschenden
Zuständig-
keit ("Stimmung"), die wir mit dem Ausdruck "Befriedigung" oder einfach "Lust" belegen. "Lust" meint hier also das Erlebnis der Erfüllung; das, was sich einstellt, wenn Konvenienz, Uebereinaekommen-Sein von Verlangen und Verlangtem statthat. Wenn Lust nun Befriedigung, Erfüllung ist, so ist klar, dass ihr, da sie ihre Aufhebung ist, die Spannung des Strebens ein notwendig zugehöriges Moment ist. Dass Lust das ist, was in den Zusammenhang von Spannung, Aufhebung und Erfüllung eines Strebens gehört, bezeugt eine weitere Stelle. In einer Anmerkung zu Beginn der KpV gibt Kant neben der Bestimmung der Begriffe des "Lebens" und des "Begehrungsvermögens" eine Definition der "Lust" (wir zitieren den ganzen Zusammenhang):
1 cf. zum folgenden: A. Pfänder, Phänomenologie des Wollens, München, 1963. Die Schrift liefert sehr wertvolle Analysen zum Gefühl der Lust und zu dessen Zusammenhang mit dem Begehrungsvermögen ; mit Pfänders Ergebnissen stimmen wir allerdings nicht überall überein. 2 KdU, Einleitung, p. XXXIX.
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Das Gefühl der Lust "Leben ist das Vermögen eines Wesens nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln. Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen desselben durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein. Lust ist die Vorstellung der Liebereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung (den Gegenstand hervorzubringen. Zusatz GK) mit den subjektiven Bedingungen des Lebens, d.i. mit dem Vermögen der Kausalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objekts (oder dem Vermögen der Bestimmung der Kräfte des Subjekts zur Handlung es hervorzubringen) . Was ist demnach Lust? Wenn wir die gegebene Definition zunächst etwas
verklirzen: Die "Vorstellung der Uebereinstimmung des Gegenstandes mit dem Vermögen der Bestimmung der Kräfte des Subjekts zur Handlung (ihn, den Gegenstand) hervorzubringen." "Das Vermögen der Bestimmung der Kräfte ..." ist das Begehrungsvermögen, d.h. die Fähigkeit des Subjekts sein Tun-Können (seine Kräfte, etwas hervorzubringen) auf etwas (zu Verwirklichendes) zu richten. Es ist wichtig, den Unterschied zwischen Begehren und dem auf die Hervorbringung des Begehrten zielenden Handeln zu beachten. Das eine ist mit dem anderen nicht identisch. Handeln ist nie Ursache des Begehrens, vielmehr ist das Begehren meistens die Ursache unseres Handelns. (Wobei zu beachten ist, dass "Begehren" in einem weiten Sinn gebraucht ist; "Begehren" meint hier nicht nur das Wollen aufgrund sinnlicher Antriebe, sondern auch das Wollen, das durch Vernunft bestimmt und inauguriert ist. "Begehren" ist also bloss abgegrenzt gegen das Gezwungen-Sein.) Der Unterschied zwischen Begehren und Handeln ist indes in der von Kant zuerst angeführten Explikation des Begehrungsvermögens gerade verwischt: "Begehrungsvermögen ist das Vermögen, Ursache der Wirklichkeit von Gegenständen durch die Vorstellung dieser Gegenstände zu sein." Eigentlich ist das Begehrungsvermögen ja nur Ursache des Handelns, erst durchs letztere kann das im Begehren Vorgestellte Wirklichkeit werden. Deshalb ist die im Zusammenhang mit dem Begriff der Lust angeführte Umschreibung des Beqehrungsvermögens präziser: Es ist das Vermögen der Bestimmung der Kräfte des Subjekts zur Handlung, das Begehrte zu realisieren. Mit dem "Gegenstand" in der Definition von "Lust" ist das begehrte (zu verwirklichende) Objekt gemeint. Lust ist mithin die Vorstellung der Uebereinstimmung des begehrten Gegenstandes mit dem Begehren. "Vorstellung der Uebereinstimmung" kann aber nur bedeuten, da das Begehren seiner Natur nach immer auf die Verwirklichung seiner Gegenstände und so auf Handeln zielt, dass die Lust ein Zeigen (= "Vorstellen") dessen ist, dass das Begehren von seinem begehrten und d.h. zunächst noch nicht real gegenwärtigen Gegenstand 3 KpV, Vorrede, p. 9, Anm.
Die Wesensmomente der Lust
57
nicht getrennt, sondern bei ihm ist. Bei ihm ist das Begehren aber jedenfalls dann, wenn er als verwirklichter real gegenwärtig ist, also dann, wenn sich das Begehren erfüllt. Kant sagt damit nichts anderes als dass die Lust die Erfüllung, d.i. die Aufhebung der Spannung eines Begehrens/Strebens anzeigt. Dass Begehren immer auf Handeln, Hervorbringung des Begehrten, gerichtet ist, bestätigt Kant in einer Anmerkung der Einleitung zur KdU. Er verteidigt dort die von uns zitierte Definition des Begehrungsvermögens aus der KpV, die eben diesen notwendigen inneren Zusammenhang herausstellt (den wir mit unserer Kritik im vorigen Exkurs nicht als solchen in Frage stellen, sondern allein in seinen, zu differenzierenden Momenten klarlegen wollen). Kant sagt: "Man hat ... die Definition des Begehrungsvermögens, als Vermögens durch seine Vorstellung Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellung zu sein, getadelt: weil blosse Wünsche doch auch Begehrungen wären, von denen sich doch jeder bescheidet, dass er durch dieselben allein ihr Objekt nicht hervorbringen könne. - Dieses aber beweiset nicht weiter, als dass es auch Begehrungen im Menschen gebe, wodurch derselbe mit sich selbst in Widerspruch steht: indem er durch seine Vorstellung allein zur Hervorbringung des Objekts hinwirkt, von der er doch keinen Erfolg erwartet hat, weil er sich bewusst ist, dass seine mechanischen Kräfte (wenn ich die nicht-psychologischen so nennen soll), die durch jene Vorstellung bestimmt werden müssten, um das Objekt zu bewirken, entweder nicht zulänglich sind, oder gar auf etwas Unmögliches qehen ... Ob wir uns gleich in solchen phantastischen Begehrungen der Unzulänglichkeit unserer Vorstellungen, Ursache ihrer Gegenstände zu sein, bewusst sind: so ist doch die Beziehung derselben als Ursache, mithin die Vorstellung ihrer Kausalität in jedem Wunsche enthalten und vornehmlich alsdann sichtbar, wenn dieser Affekt, nämlich die Sehnsucht, ist. Denn diese beweisen dadurch, dass sie das Herz ausdehnen, und welk machen, und so die Kräfte erschöpfen, dass die Kräfte durch Vorstellungen wiederholentlich angespannt werden, aber das Gemüt bei der Rücksicht auf die Unmöglichkeit unaufhörlich wiederum in Ermattung zurücksinken lassen," 4 Kant betont, dass jedes Begehren das Subjekt immer auch zur Verwirklichung des Begehrten antreibt. Aus diesem Grunde dürfen wir die Ausdrücke "Begehren" und "Streben" nebeneinander setzen. Streben meint dabei die im Begehren enthaltene Tendenz auf die Realisierung des Verlangten; das, was Kant mit der dem Begehren zugehörenden "Anspannung der Kräfte" meint. Die zitierte Definition aus der KpV ist indessen noch nicht zu Ende: Lust ist danach nicht nur die Vorstellung der Uebereinstimmung des Gegenstandes, sondern ebenso die Vorstellung der Uebereinstimmung der Handlung (den begehrten Gegenstand hervorzubringen) mit dem Begehrungsvermögen. Wie ist das zu verstehen? Aus der Erfahrung wissen wir, dass ein Gefühl der Lust nicht
4 KdU, Einleitung, p. XXII, Anm.
Das Gefühl der Lust
58
nur besteht, wenn ein Tun glückt, besser: geglückt ist, sondern dass schon im Tun selbst, während es die Verwirklichung des Begehrten vollzieht, Lust existiert. Wenn wir Hunger haben, uns ein Essen zubereiten, befinden wir uns auch schon während des Kochens in einem lustvollen Zustand. Hier ist aber die sog. Spannung des Strebens gerade noch nicht gelöst, warum dann diese Lust des Tuns? Wem gilt sie? Gewiss nicht dem Handeln als solchem. Bekämen wir z.B. Kenntnis davon, dass unser Kochen nicht zur Stillung des Hungers führt, weil man uns das Resultat der Arbeit wegnehmen wird, wird sich das Lustgefühl augenblicklich in Unlust verwandeln. Wir können so feststellen, dass die Lust allein dann die liebereinstimmung des Begehrens mit einer Handlung ausdrückt oder vorstellt, wenn das Begehrte durch die Handlung vergegenwärtigt
wird und ist, der Vollzug der Handlung selbst
aber hinter dem erstrebten Ziel zurücktritt. "Vergegenwärtigen" ist dabei in einem doppelten Sinn zu verstehen: Einmal lässt das Tun das Erstrebte Gegenwart, das will sagen, Wirklichkeit werden, zum zweiten ist - durch das Vermögen der Einbildungskraft - das Begehrte im Handeln als sein Ziel schon anwesend und das Subjekt demnach in gewisser Weise bei ihm. Denn das Begehren ist bei seinem Objekt nicht allein, insofern es verwirklicht worden ist, vielmehr ist es - durch die Einbildungskraft - immer schon bei seinem Gegenstand. (Und bloss weil das Begehren schon beim Begehrten ist, kann dessen Nicht-Dasein in einem Unlustgefühl offenbar werden.) Die beiden Weisen des Vergegenwärtigens stehen in einem für das Verständnis der Lust entscheidenden Zusammenhang. Ein Beispiel verdeutlicht das: Erfährt unser Hervorbringen oder Vergegenwärtigen (= im ersten Sinne) durch ein plötzliches Hindernis eine Hemmung, wird das Eintreffen der Wirklichkeit des Begehrten fraglich, so wird dadurch das Vergegenwärtigen der Einbildungskraft ("Vergegenwärtigen" im zweiten Sinne) nicht aufgehoben, das Begehrte bleibt als Ziel durchaus anwesend, dennoch befinden wir uns nicht mehr in einem Zustand der Lust. Weshalb dies? Mit Kant ist zu antworten: weil die Uebereinstimmung der Handlung mit dem Begehrungsvermögen (resp. dem aktuellen Begehren) nicht mehr besteht. Und warum nicht? Deshalb, weil wir uns vom Ziel des Handelns ab- und auf den Akt des Handelns selbst haben wenden müssen; das Handeln als solches wird aufdringlich und problematisch und stellt sich zwischen Begehren und Begehrtes, - die Uebereinstimmung ist zumindest vorübergehend zerstört. Dieser Ueberlegung ist so-
Lust als Ausdruck einer Intention
59
gleich zu entnehmen, dass die Lust nur dann die Uebereinstimmung des Handelns mit dem Begehren resp. Begehrungsvermögen ausdrückt, "Lust des Tuns" ist, wenn das Handeln dem Vergegenwärtigen des Begehrten durch die Einbildungskraft Halt gibt, indem es in der Funktion des gelingenden Verwirklichens aufgeht und, was wir schon oben gesehen, hinter der Vorstellung des Begehrten gleichsam verschwindet. Das aber heisst: Die Lust ist auch als Lust des Tuns nichts anderes als die Vorstellung der Erfüllung des Strebens, die Vorstellung des
Bei-der-erstrebten-Sache-Seins; in der beson-
deren Modifikation allerdings, dass hier die Erfüllung nur erst vorweggenommene ist.
§ 8 Das Gefühl der Lust und das
Begehrungsvermögen,
Zusammengehörigkeit und Differenz
a) Die Lust als Ausdruck einer
Intention
Das bisher zum Gefühl der Lust Gesagte lässt sich unter zwei Termini bringen, denn wir unterscheiden entsprechend der kantischen Definition zwei Modi von Lust: die Lust der Erfüllung und die Lust des Begehrens (die eigentlich Lust der vorweg-genommenen Erfüllung genannt werden sollte). Einheitlich bestimmt sind beide dadurch, dass sie die Vorstellung oder das Offenbar-Sein der Uebereinstimmung und Konvenienz des in einem Begehren und Streben sich äussernden Begehrungsvermögens mit seinem Objekt sind. Eine Frage bleibt bei allem ungelöst; - wie nämlich die Beziehung von Streben, Begehren und Lust genauer zu fassen ist. Ist Lust die Ursache des Begehrens/Strebens oder ist es umgekehrt? Kant macht im Fortgang der zitierten Stelle diese Frage zum Problem: "Man wird leicht gewahr, dass die Frage, ob die Lust dem Begehrungsvermögen jederzeit zum Grunde gelegt werden müsste, oder ob sie ... auf die Bestimmung desselben folge, durch diese Erklärung unentschieden bleibt."
Aus der Bemerkung könnte man folgern,
Kant setze das Verhältnis, dass das Gefühl der Lust dem Begehren vorhergehe und es verursache, zumindest als häufig, wenngleich nicht unbedingt als das einzig gegebene an. Wir wollen nun vorerst zeigen, dass ein sol5 KpV, Vorrede, p. 9, Anm.
60
Das Gefühl der Lust
ches Verhältnis Uberhaupt nie der Fall ist, um dann zu erläutern, was der Sinn der kantischen Problemstellung
ist.
Anders als in der KpV erscheint das Gefühl der Lust in der KdU folgendermassen: "Das Bewusstsein der Kausalität einer Vorstellung in Absicht auf den Zustand des Subjekts, es in demselben zu erhalten, kann im Allgemeinen das bezeichnen, was man Lust n e n n t . L u s t wird hier als ein Zustand des Subjekts beschrieben, der in sich die Tendenz hat, sich zu verlängern. Das ist ohne weiteres zu verstehen und deckt sich mit jedermanns Erfahrung. Schwieriger ist es jedoch, den genauen Sinn des Satzes zu erfassen: Lust sei ein solcherart sich bestimmender Zustand als das "Bewusstsein der Kausalität einer Vorstellung in Absicht auf ...". In der Lust waltet offenbar ein Bewusstsein, das
zum Inhalt hat, dass eine gewisse Vorstellung
Ursache da-
für ist, dass wir in unserer gegenwärtigen Befindlichkeit verharren und das heisst zugleich: bei dieser Vorstellung selbst (bei dem Vorgestellten) bleiben. Wie ist diese Erklärung mit dem bisher über die Lust Gesagten in Q Einklang zu bringen? Danach ist ja die Lust das Vorstellen (Zeigen)
der
Erfüllung eines Strebens; wobei das Vorstellen ein Vorwegnehmen sein kann, die sog. "Lust des Begehrens". - Was vollzieht sich indes in der Erfüllung eines Strebens anderes als die Einheit des Subjekts mit seiner Gegenwart und d.h. das Sich-in-seiner-gegenwärtigen-Befindlichkeit-Erhalten?
Erfül-
lung eines Strebens ist doch gerade der Zustand, da eine Vorstellung, nämlich das Begehrte (sei es als real Anwesendes oder durch die Einbildungskraft in die Anwesenheit Geholtes), dafür sorgt, dass wir bei ihm/ihr bleiben, weil das, was uns von ihr/ihm weg auf anderes treiben könnte, das Begehrungsvermögen, je just auf sie/es fixiert ist. Die Definition der Lust, die die KpV gibt, passt also durchaus mit der der KdU zusammen. Was aber die Definition der KdU deutlich macht, ist, dass der Lust jedenfalls, selbst wenn man sie von der blossen Zuständlichkeit her beschreibt, ein Streben, eine Tendenz innewohnt. Nun ist es wichtig zu bemerken, dass das zur Lust gehörende Streben, sich zu erhalten, im Grunde identisch mit dem auf sein Objekt gerichteten Begehren ist. Denn die "Kausalität der Vorstellung" in 6 KdU, § 10, p. 39. 7 "Vorstellung" meint hier: etwas Vorgestelltes, und nicht, wie in der Definition der KpV, das Vor-Stellen im Sinne von Zeigen. 8 Was etwa gleichbedeutend ist mit "Bewusstsein von ...".
Lust als Ausdruck einer
61
Intention
Absicht auf den Zustand des Subjekts resultiert aus der Kraft, des auf sie (die Vorstellung) gerichteten Begehrens. Wenn aber einerseits in der Lust immer das Streben, sie zu verlängern ist (und so beglaubigt es die Erfahrung), und wenn andererseits dies Streben nichts als die Umkehrung der auf das Begehrte sich richtenden Kraft des Begehrungsvermögens
ist, so dürfen
wir sagen, dass Lust dem Begehren niemals als Grund vorausgehen kann, denn dann müsste ihr ja das Wesensmoment des auf ihre Erhaltung zielenden Strebens fehlen. Nun ist es aber auch nicht so, dass der Lust das Begehren vorausläuft. Das lässt sich anhand der Umgangssprache darstellen. Synonym für "ich begehre, ich verlange nach etwas" verwendet sie oft "ich habe Lust auf... nach ..."; deshalb nämlich, weil jedem Begehren und Streben nach ... das Begehrte ein Angenehmes ist, d.i. ein solches, an das zu denken und Beig ihm-Sein mit Lust verbunden ist.
Und im Begehren ist ja Lust immer dabei,
weil das Verlangen sich je schon voraus beim Verlangten ist und so die Erfüllung vorgestellt
hat.^
Die Zusammengehörigkeit haupt nicht
von Lust und Begehren/Streben
als Kausalitätsverhältnis
zu begreifen;
ist mithin
über-
es gibt nie zuerst ein
Lust-Haben an ... und nach ... und dann ein Streben zum Gegenstand der Lust, sondern im Lust-Haben-an
.. und nach ... ist zugleich das Streben anwesend.
Und es gibt nie ein Streben und Begehren nach ..., in dem nicht ebenso Lust gegeben wäre. Lust Subjekt
gesetzter
kann also nur sein, wo ein Anspruch Anspruch
ist, ist Lust.
ist, und wo ein
durchs
Das wird auch von Kant selbst be-
stätigt: "Etwas aber wollen und an dem Dasein desselben ein Wohlgefallen (d.h. Lust) haben ... ist identisch."
1
Oder: "Der Gemütszustand eines ir-
gendwodurch bestimmten Willens ist an sich schon ein Gefühl der Lust und 12 mit ihm identisch, folgt also nicht als Wirkung daraus." In einem für die Aesthetik entscheidenden Punkt bleibt Kant allerdings dieser Einsicht in die Nicht-Kausalität des Zusammenhangs von Lust und Stre-
9 cf. dazu H.-G. Gadamer, Platos dialektische Ethik, Hamburg, 1968, p. 128; und überhaupt den Teil II von Kpl. II ("Interpretation des Philebos"). 10 cf. oben, p. 58. 11 KdU, § 4, p. 14. 12 KdU, § 12, p. 36.
62
Das Gefühl der Lust
bungsaktivität resp. Anspruchserfullung nicht mehr treu; cf. unten Kapitel IX, A. Dennoch fallen Begehren/Streben und Lust ja nicht einfach zusammen. Achtet man auf die kantische Formulierung, ist unschwer auszumachen, worin der Unterschied erblickt werden muss. Lust wird als "Vorstellung von ..., das Bewusstsein von ..." erläutert. Der Lust eignet, dass sie dem Subjekt offen13 bar macht, wie es gerade um es steht;
die Lust ist Ausdruck.
Die eigen-
tümliche Leistung der Lust besteht darin, dass sie das Subjekt in seinem Aus-Sein-auf ... und Schon-Sein-bei lässt das Begehrungsvermögen
... erhellt, oder einfacher: die
im Vollzug
des Begehrens
sehen.
Lust
Die Lust ist
mit dem Begehren/Streben verbunden, wie das Bewusstsein des Begehrens/Strebens mit demselben verbunden ist. Drum hebt Kant die Lust vom Begehren als solchem ab und betrachtet sie als ein eigenes Grundvermögen des Gemüts ("das Gefühl der Lust und Unlust"). Welchen Sinn hat aber nun noch die Frage "ob die Lust dem Begehrungsvermögen zugrunde gelegt werden müsse"?
b) Die Lust als Worauf einer Intention
Die gestellte Frage klärt sich, wenn wir beachten dass Lust in zwei grundsätzlich verschiedenen Weisen in Zusammenhang mit dem Begehrungsvermögen stehen kann: erstens in der diskutierten, da sie offenbar werden lässt, dass sich das Begehren auf etwas gerichtet hat; da sie bewusst macht, dass Verlangen ist. Die Lust ist so das Melden eines Anspruchs, und zwar enthüllt dieser sich in ihr im Modus seiner (realen oder eingebildeten) Erfüllung. Die Lust zeigt hier also bloss, dass dem Begehren ein aktuelles Ziel gesetzt ist, und setzt sich nicht selbst zum Ziele und ruft das Begehren nicht hervor. Das haben wir daran erwiesen, dass nie einerseits und zuerst ein Lust-Haben-an ... existiert und andererseits und darauf ein Verlangen nach dem Objekt der Lust, sondern dass sich beides je miteinander einstellt. Wenngleich nun die Lust nicht befähigt ist, von sich her dem Begehrungsvermögen Ziele vorzugeben, so kann sie doch selbst
ein solches
werden.
Das ist die zweite Möglich-
keit des Zusammenhangs von Lust und Begehrungsvermögen. 13 cf. M. Heidegger, Kant und das Problem..., p. 144.
63
Lust als Worauf einer Intention Insofern die Lust Ziel des Begehrungsvermögens
(geworden) ist, kann von
ihr in der Tat gesagt werden, sie "bestimme" das letztere oder sei ihm "zugrunde gelegt". Denn das Worauf des Begehrens und Wonach des Strebens ist ja das Leitende, Richtung-Gebende im Vollzug des Aus-Seins-auf... . Aber dass die Lust als Ziel das Streben in seiner Richtung bestimme, bedeutet noch lange nicht, dass sie das Streben nach solcher Art Bestimmendem hervorgebracht, verursacht habe. D.h. mit anderen Worten: Für die Erklärung der Tatsache des im natürlichen Leben auftretenden Hedonismus kann nicht wiederum die hedonae selbst geltend gemacht werden, sondern man muss dann von einem ursprünglichen "Hang des Menschen" oder "Grundtrieb" zur Lust reden. Lust
kann also gegeben
Geschehen,
sein entweder
d.h. als ein Vollzug,
ist, sondern
das Offenbaren
als gegenständliches
der gerade
(Vorstellen)
nioht
einer
Worauf
solohen.
Ziel oder einer
als
Intention
Beide Gegebenhei-
ten sind voneinander zu scheiden, und es ist bei den Aussagen über die Lust je zu fragen, auf welche der beiden Erscheinungsformen sie Bezug nehmen. 14 Nur so lassen sich Widersprüche und Verwirrungen vermeiden. Das Problem des Hedonismus
(Exkurs):
Da Kant in der KpV die Vernunftmoral in Abhebung gegen den Hedonismus und das "Prinzip der Selbstliebe" (das natürliche Streben nach Lust) entwickelt, ist es nicht verwunderlich, dass ihm in der genannten Schrift die Lust vorzüglich in der zweiten Gegebenheitsweise her thematisch wird. Wir werden uns selbstverständlich nicht auf die kantische Diskussion des Hedonismus einlassen können, weil das weit über den Rahmen einer Erörterung der wesentlichen Charaktere des Gefühls der Lust als solchen hinaus führt. Mit einer Frage, die in diesen Zusammenhang gehört, werden wir uns im folgenden dennoch befassen, - inwieweit nämlich das Gefühl der Lust allgemeine und für jedermann verbindliche Aussagen begründen kann. (Die Beschäftigung mit dieser Frage hat gleichsam propädeutischen Charakter für die spätere Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Urteil, - das ästhetische Urteil scheint sich ja so darzustellen, als wäre es eine aufgrund von Lust gewonnene Aussage mit Al 1 gemeinverbindlichkeitsanspruch ... ) Das soeben formulierte Problem wird für die praktische Philosophie dann dringlich, wenn - wie im Hedonismus - zwar umfassende Lust (der Zustand der "Glückseligkeit") Ziel der menschlichen Lebensgestaltung ist, dieses Ziel aber begrifflich nicht bestimmter fixiert werden kann, als eben durch den Zustand völliger Befriedigung, oder wenn, m.a.W. "Glückseligkeit" durch 14 I. Schwartländer, der in: Der Mensch ist Person, Stuttgart, 1968, dem Gefühl der Lust ein eigenes Kapitel widmet, arbeitet diesen grundsätzlichen Unterschied nicht mit wünschenswerter Deutlichkeit heraus.
64
Das Gefühl der Lust
das Gefühl der Lust definiert
ist.15
Kant gibt durchaus zu, dass die Glückseligkeit, das Wohlbefinden, für den Menschen - als endliches Wesen - ein "notwendiger Zweck" ist. Weil die Erreichung dieses Zwecks nicht schon durch einen uns mitgegebenen Instinkt gewährleistet wird, hat die Vernunft "einen nicht abzulehnenden Auftrag von seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern und sich praktische Maximen, auch in Absicht auf die Glückseligkeit dieses Lebens zu m a c h e n " . 1 6 Die Ausführung dieser Aufgabe führt aber in Schwierigkeiten, und zwar in grundsätzliche. Denn es ist "ein Unglück, dass der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, dass, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich w ü n s c h e " . 1 7 Was immer der Mensch unter dem Namen der Glückseligkeit will, er kann nicht wissen, ob es ihm nicht das Gegenteil einbringen wird. Der Besitz von Macht könnte ihn zugrunde richten, Reichtum könnte Sorge und Neid bringen, ein langes Leben könnte langes Elend werden. "Kurz, der Mensch ist nicht vermögend nach irgend einem Grundsatz, mit völliger Gewissheit zu bestimmen, was ihn wahrhaftig glücklich machen werde, darum, weil hierzu Allwissenheit erforderlich sein w ü r d e . " 1 8 Hier zeigt sich also das Grundprobl em, dass nämlich einerseits "zur Idee der Glückseligkeit ein absolutes Ganzes, ein Maximum des Wohlbefindens in meinem gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustand erforderlich ist" 1 ^, dass ich aber andererseits nur aufgrund der Gegenwart des Gefühls der Lust, d.h. aus der Erfahrung sagen kann, ob ich nun glücklich bin oder nicht. Der Begriff der Glückseligkeit ist damit als der Titel lediglich der allgemeinen Befriedigung der "subjektiven Bestimmungsgründe" erkannt und er (der Begriff) "bestimmt daher nichts spezifisch" 20. Die spezifische Bestimmung dessen, was zur Glückseligkeit je gehört, erfolgt also nicht durch einen reinen, apriorischen Begriff, nicht durch die Vernunft, nicht durch einen letzten unbedingten Grundsatz, sondern durch "jedem sein besonderes Gefühl der Lust und U n l u s t " . 2 1 Diese Bestimmung ist nun aber keineswegs so, dass sich auf sie eine Aussage gründen könnte, die Notwendigkeit für jedermann (ja nicht einmal Notwendigkeit für die Zukunft des Einzelnen, der das Lustgefühl bei einer bestimmten Sache gerade verspürt) beanspruchen dürfte. Das hat seinen Grund im Gefühl der Lust als solchem. Sie ist, wie wir gesehen haben, mit jedem Begehren überhaupt gegeben. Man folgt daher, macht man das Gefühl der Lust zum Ziele des Wollens, der Zufälligkeit der gerade auftretenden Bedürfnisse, und unter den Bedürfnissen denen, die sich am aufdringlichsten melden. Das Bestehen von Bedürfnissen ist aber von Fall zu Fall verschieden und hängt von den zufälligen Umständen ab, in denen sich der Einzelne jeweils befindet. "Es ist daher verwunderlich, wie, da die Begierde zur Glückseligkeit, mithin auch die Maxime, dadurch sich je15 16 17 18 19 20 21
cf. zum folgenden: I. Schwartländer, der Mensch ..., p. 48ff. KpV, p. 61. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, p. 418. Grundlegung ..., p. 418. Grundlegung ..., p. 418. KpV, p. 25. KpV, p. 25.
Problem des Hedonismus
65
der diese letztere zum Bestimmungsgrunde seines Willens setzt, allgemein ist, es verständigen Männern habe in den Sinn kommen können, es darum für ein allgemein praktisches Gesetz auszugeben. Denn da sonst ein allgemeines Naturgesetz alles einstimmig macht, so würde hier, wenn man der Maxime die Allgemeinheit eines Gesetzes qeben wollte, gerade das äusserste Widerspiel der Einstimmung, der ärgste Widerstreit und die gänzliche Vernichtung der Maxime selbst und ihrer Absicht erfolgen. Denn der Wille aller hat alsdann nicht ein und dasselbe Objekt, sondern ein jeder hat das seinige (sein eigenes Wohlbefinden), welches sich zwar zufälligerweise auch mit anderer ihren Absichten, die sich gleichfalls auf sich selbst richten, vertragen kann, aber lange nicht zum Gesetz hinreichend ist." 22 Denn: "Jeder legt sein Subjekt, ein anderer aber ein anderes Subjekt der Neigung zum Grunde, und in jedem Subjekt selber ist bald die, bald eine andere im Vorzuge des Einflusses." Und daher gilt: "Ein Gesetz ausfindig zu machen, das sie ... mit allerseitigen Einstimmung regierte, ist schlechterdings unmöglich." 23 Kant zeigt mit aller Deutlichkeit und an vielen Beispielen, dass es nie gelingen kann, aus dem Gefühl der Lust als dem Ziel der Glückselgikeit praktische Gesetze abzuleiten, d.h. "objektive Grundsätze, die als verbindlich für den Willen jedes vernünftigen Wesens erkannt werden",2¿t während es doch der praktischen Philosophie just um solche Sätze zu tun ist. Es herrscht ein unaufhebbarer Gegensatz zwischen der Subjektivität der Lust und der geforderten Objektivität der praktischen Grundsätze.
§ 9 Die Subjektivität der Lust
Die "Subjektivität" ist der für die Behandlung der Lust in der KpV entscheidende Zug. (Von ihm her wird, ebenso wie vom Problem des Hedonismus her, verständlich, weshalb die Lust der Kritik der ästhetischen Urteilskraft anstössig werden muss - noch einmal: Wie kann Lust, die doch wesentlich "subjektiv" ist, Bestimmungsgrund eines Allgemeinheit und Notwendigkeit beanspruchenden Urteils werden?) Der "Subjektivität" der Lust haben wir nun nachzuforschen.
a) Zwei Aspekte der Subjektivität: Individualitä^ und Selbst-Bewusstsein
Wenn wir uns erinnern, sind wir der Subjektivität qua
2 2 KpV,
p.
28.
2 3 KpV, p . 2 8 . 2 4 c f . KpV, § 1 .
Individualität
Das Gefühl der Lust
66
schon ganz zu Beginn begegnet. Kants in der Vorrede der KpV gegebene Definition der Lust lautet zunächst: "Lust ist die Vorstellung der Ueberinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjektiven
Bedingungen
des
Lebens".25 Wir sind bis jetzt der Interpretation dieser Formulierung ausgewichen, und zwar vor allem wegen des schwierigen Ausdrucks "subjektive Bedingungen des Lebens". Aufgrund des Erarbeiteten dürfte nun die Auslegung leichter fallen. Die "subjektiven Bedingungen des Lebens" sind Bedingungen, unter denen das Leben steht, insofern
es je Leben eines Subjekts
ist. "Subjekt" ist hier
der Titel für das aus sich auf etwas hin (Objekt) tendierende
(begehrende,
handelnde) Leben. "Leben" meint dabei den blossen und allgemeinen Vollzug und "Subjekt" ist das Eine und Einzelne, was oder worin sich der Vollzug je vollzieht. Wenn also Leben überhaupt "das Vermögen eines Wesens ist, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln" (d.h. nicht nach äusserer, mechanischer, sondern aus innerer, teleologischer Kausalität), so ist das Subjekt das je eine, einzelne begehrende und von sich her handelnde Leben. Die "subjektiven Bedingungen des Lebens" sind - wie gesagt - das, was ins Wesen des Subjekts gehört und das Leben bestimmt, insofern es eben Lebeneines-Subjekts ist. Was ist das aber? Nach dem bisher Erklärten offenbar das, worin das Leben ("das Vermögen eines Wesens nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln") als je Eines, Einzelnes und Besonderes zum Vorschein kommt. Wenn nun aber der Begriff "Leben" vom Begehrungsvermögen her definiert wird, müssen wir auch die "subjektiven Bedingungen des Lebens" im Bereich des letzteren situieren können; so zwar, dass sie zugleich das Leben in seinem Je-Besonders-Sein zeigen. Dann sind sie aber nichts anderes als die verschiedenen, besonderen Begehrungen, Strebungen und Neigungen, in die sich das allgemeine Begehrungsvermögen je entlässt, in die es sich vereinzelt und immer schon vereinzelt ist. Und in ihnen behauptet sich das Leben als je besonderes gegen anderes Leben oder als das Leben je eines Subjektes. Diese so erläuterten "subjektiven Bedingungen des Lebens" sind damit als das entdeckt, woher die "Subjektivität" der Lust stammt; denn die Lust ist ja "die Vorstellung der Uebereinstimmung eines Gegenstandes (oder einer Handlung) mit den subjektiven Bedingungen des Lebens". Dafür können
25 cf. oben, p. 56.
67
Individualität und Selbst-Bewusstsein
wir nun auch sagen, die Lust drückt die (reale oder eingebildete) Erfüllung einer Begehrung aus, oder um die für den jetzigen Zusammenhang entscheidende Nuance hervorzuheben: die Lust stellt sich bei der Vorstellung der Erfüllung ¿eder
Begehrung eines Subjekts ein, und das bedeutet, dass
die Lust wesensmässig mit dem je einzelnen
Leben
in seiner jeweilig ganz
ihm eigenen Befindlichkeit verbunden ist. So hat die Lust zunächst nur für den einzelnen und auch für den bloss in bezug auf die Umstände, in denen er sich gegenwärtig aufhält, Aussagekraft; - sie zeigt ihm nämlich lediglich, dass etwas jetzt lustvoll
ist, und dass in ihm jetzt ein Verlangen
nach diesem oder jenem Objekt existiert. Für jedermann und für alle Zeit gültige Sätze lassen sich daher aus dem blossen Gefühl der Lust an etwas niemals ableiten. Das ist eine zentrale Einsicht, die auf die Gedanken der kantischen Aesthetik vorweist: Da aus der Lust allein, aus dem "blossen Gefühl der Lust", kein allgemeinverbindlicher Satz zu gewinnen ist, darf die Lust im ästhetischen Urteil - sofern dieses den Anspruch auf intersubjektive Zustimmung legitimerweise erheben will - nur "zweitletzter" Bestimmungsgrund der Schönheitsaussage sein; so wird eines der für die "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" grundlegenden Argumente lauten. Dass die Lust "subjektiv" sei, besagt also in der KpV, dass sie zum je einzelnen Subjekt gehört, weil sie unmittelbar Ausdruck seiner es momentan bestimmenden Begehrung ist, und als solche Vorstellung
(als solches Vor-
stellen) zu "objektiven", will heissen: allgemeinqültigen, die Subjekte über ihre Besonderheit hinaus und in ihrer Gemeinsamkeit betreffenden Aussagen nichts taugt. In der KdU dagegen stellt Kant das Subjektiv-Sein der Lust als ihr Eigentümliches dadurch heraus, dass er das "Gefühl" (der Lust und Unlust) von "Empfindung"
(qua Sinnesdatum) streng scheidet und die beiden Worte
("Ge-
fühl", resp. "Empfindung") als Termini für zwei je besondere Sachverhalte fixiert. Insofern sich der Mensch zwar bei beiden als affizierten, angegangenen erlebt, wären sowohl Sinneneindruck wie Lust eine "Empfindung" zu nennen. Denn der Ausdruck bedeutet zunächst ja nur "etwas, das empfangen wird". Aber Gefühl der Lust und blosses Sinnesdatum sind trotz dieser Gemeinsamkeit grundsätzlich voneinander different. Während durch das letztere (wenn auch nicht durch es allein) dem Subjekt ein Gegenstand
(Objekt)
68
Das Gefühl der Lust
zur Vorstellung kommt, stellt die Lust nie dem Subjekt etwas vor, sondern, wie oben gezeigt, dieses selbst im Wie seines Bezugs zu den Objekten. Man könnte deshalb das Gefühl der Lust die "subjektive" (das Subjekt offenbarende), das Sinnesdatum die "objektive" (Gegenstände vorstellende) Empfindung heissen. An einem Beispiel hebt Kant das eine vom anderen ab: "Die grüne Farbe der Wiesen gehört zur objektiven Empfindung als Wahrnehmung eines Gegenstandes des Sinnes; die Annehmlichkeit derselben zur subjektiven Empfindung, wodurch kein Gegenstand vorgestellt wird; d.i. zum Gefühl."26 Weil aber, was sich genauerer Betrachtung als ganz anderes erweist, im täglichen Sprachgebrauch nicht scharf gesondert wird, führt Kant eine Sprachregelung ein: "Um nicht immer Gefahr zu laufen, missgedeutet zu werden, wollen wir das, was jederzeit bloss subjektiv bleiben muss und schlechterdings keine Vorstellung eines Gegenstandes ausmachen (also nie objektiv werden) kann, mit dem Namen des "Gefühls" benennen." 2 7 (Und entsprechend wird "Empfindung" für den Bereich der in die Gegenstandskonstitution eingehenden Sinneseindrücke reserviert; freilich - Kant selbst hält sich nicht strikt an seine Sprachnormen. An gewissen Orten spricht er von "Empfindung" und meint dennoch das lustvolle Gestimmt-Sein.) Die KdU zeichnet also das Gefühl der Lust betontermassen als das aus, was nie objektiv werden kann, stets subjektiv bleibt. Dabei ist wohl zu beachten, die Prädikate
"subjektiv"
eine inhaltliche
und "objektiv" gegenüber
Nuancierung
erfahren
ihrem Gebrauch
dass
in der KpV
haben. Meint dort die Bestimmung "sub-
jektiv", dass die Lust ans einzelne sich in seinen Wünschen und Bedürfnissen von anderen Subjekten unterscheidende Subjekt gebunden, und daher nicht zu objektiven, d.h. hier: intersubjektiv gültigen Aussagen zu verwenden ist, ist hier die Lust "subjektiv" geheissen, insofern sie zum Subjekt gehört.
überhaupt
Denn Lust kann deshalb nie "die Vorstellung eines Gegenstandes aus-
machen", also objektiv werden, weil sie nicht dem Subjekt als etwas anderes und Fremdes (als Ob-jekt) gegenüber treten kann. Sie ist ja das im Subjekt sich meldende Vorstellen eines Verhältnisses, in das das Subjekt wesentlich eingelassen ist, das Offenbar-Werden nämlich der Uebereinstimmung von
26 KdU, § 3, p. 9. 27 KdU, § 3, p. 9.
69
Gefühl der Lust als drittes Grundvermögen
strebendem Subjekt und erstrebtem Objekt. In der Lust ist sich das Selbst in bestimmter Weise seiner selbst in seiner jeweiligen Situation inne Lust ist eine besondere (von der Ichheit des Rational-Ich natürlich zu unterscheidende) Form von
Selbst-Bewusstsein.
b) Das Gefühl der Lust (und Unlust) als drittes Grundvermögen des Gemüts
Die Explikation der Bedeutungen, die der Ausdruck "subjektiv" bezüglich Lust annehmen kann, macht klar, warum Kant das "Gefühl der Lust und Unlust" als Eigenständiges nicht nur neben das Grundvermögen des Begehrens, sondern 28 ebenso
neben
das des Erkennens
stellt.
Dass Gefühl der Lust und Begehren
- wiewohl gleichursprünglich - nicht dasselbe sind, haben wir schon oben bemerkt, und es hat sich uns jetzt wieder gezeigt. Dass aber das Gefühl der Lust/Unlust nicht als eine, wie auch immer verworrene Art der Erkenntnis gelten darf, ergibt sich dann ohne weiteres, wenn es gelungen ist, Wesen und Grund der Sbujektivität der Lust einleuchtend zu erläutern.
Erkennt-
nis im kantischen Sinn ist das feststellende Bestimmen von Objekten, in dem, was sie an sich selbst, d.h.: für jedermann gleichermassen sind. Erkennen betrifft also Gegenstände und geht auf allgemein verbindliche Aussagen über diese. Beides ist im Gefühl der Lust nicht der Fall. Weder betrifft es Gegenstände als solche (sondern die Art des Bezugs, in dem sie zum Subjekt stehen) 29 , noch kann es für sich allein zu al 1 gemeingültigen Sätzen führen 30 (weil ins Gefühl der Lust das Subjekt als besonderes eingeht
). So tritt
neben Erkennen und Begehren als Drittes das Gefühl der Lust und Unlust, und "alle Seelenvermögen oder Fähigkeiten können auf die drei zurückgeführt werden, welche sich nicht ferner aus einem gemeinschaftlichen Grunde ableiten lassen". 3 1
28 cf. die Einteilung des I. Teiles der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht". 29 Subjektivität der Lust nach der Bestimmung der KdU: Selbst-Bewusstsein. 30 Subjektivität der Lust nach der Bestimmung der KpV: Individualität. 31 KdU, Einleitung, p. XXII.
Das Gefühl der Lust
70
§ 10 Eine offene Frage: Lust/Unlust und Gefühl
Die Beschäftigung mit dem, was Lust ist, abschliessend, haben wir uns jetzt mit zwei Fragen auseinanderzusetzen, die schon mehrmals hätten akut werden müssen, die wir aber bisher unterdrückt haben, teils ihrer Schwierigkeit, teils der Einschränkung auf das eine Problem der Lust wegen. Einmal nämlich die Frage, wie sich Gefühl/Gefühlsvermögen und Lust zueinander verhalten, dann wie Lust und Unlust zusammenhängen. Kant setzt, wenn er allgemein das Gefühl der Lust erwähnt, fast durchwegs neben die Lust die Unlust; er spricht meistens vom "Gefühl der Lust oder Unlust". Nicht zufällig, denn beides gehört notwendig zusammen. "Lust und Unlust sind einander nicht wie Erwerb und Mangel (+/o), sondern wie Erwerb und Verlust (+/-), d.i. eines dem andern nicht bloss als Gegenteil, 32 sondern auch als Widerspiel entgegengesetzte."
Unlust ist also nicht das
simple Fehlen von Lust. Was ist sie aber dann? Wir müssen die Antwort von dem her finden, was wir von der Lust wissen. Lust zeigt das Streben im Modus seiner Erfüllung. Unlust sei das "Widerspiel" und nicht das Fehlen von Lust. Sie geht mithin auf denselben Sachverhalt, jedoch in der anderen ihm möglichen Weise zu sein: auf das Streben im Modus seiner Unerfülltheit. Denn nur, wo überhaupt kein Streben ist, fehlt Lust, aber damit eben auch Unlust. Weil also beide nur vom selben Sachverhalt aus zu begreifen sind, und beide dasselbe in seinen verschiedenen Weisen zu sein entdecken, hängen Lust und Unlust innerlich zusammen und sind von Kant in einem Atemzug genannt. Kants häufige Erwähnung des Paars "Lust/Unlust" hat indes noch einen anderen Sinn. Er charakterisiert
dadurch
Gefühl und Gefühlsvermögen
überhaupt.
Wir sprachen bisher immer vom "Gefühl der Lust und Unlust", ohne das eine (Gefühl) vom anderen (Lust/Unlust) zu trennen. Dabei könnte man immerhin annehmen, Lust und Gefühl verhielten sich zueinander wie Art und Gattung, denn neben Lust, resp. Unlust gibt es ja noch andere Gefühle. Doch das ist nicht die Meinung Kants. Für ihn sind alle Gefühle, trotz all ihrer Unterschiede, die er nie leugnet, immer Gefühle der Lust oder Unlust. Lust und Unlust sind 32 Anthropologie ..., p. 230.
71
Gefühl und Lust
selbst die höchsten Gattungen von Gefühlen überhaupt und so in allen mitenthalten. Und mit dieser Feststellung
des Faktums einer kantischen Mei-
nung wollen wir uns hier auch begnügen und nicht weiter nach - sei es historischen, sei es von der Sache her sich ergebenden - Gründen suchen, die Kants These vom Gefühl als einem Gefühl der Lust oder Unlust einleuchtend machen könnten. (Wenn wir solches vorhätten, dürften wir nämlich nicht mehr, wie Kant, das Gefühl von der Lust her fassen, sondern müssten umge33 kehrt, vom Gefühl als solchem
ausgehend prüfen, ob es Uberhaupt notwen-
digerweise - als das, was es ist - lust- oder uniust-bestimmt sein muss.) Und obschon das bislang Erarbeitete für einige Interpretationsprobleme der Aesthetik hinreichende Lösungsvorschläge ermöglichen wird, werden wir gezwungen vom kantisehen Text selbst - auf das Problem Lust/Unlust vs. Gefühl zurückkommen müssen. Der für die Kritik der ästhetischen Uk zentrale Begriff der Lust am Schönen resp. des ästhetischen Gefühls ist nämlich von einer fundamentalen Doppeldeutigkeit betroffen, die bloss deshalb zu jenen für die Argumentationskohärenz der KdU höchst disfunktionalen Folgen führen kann, weil Kant die Frage Gefühl
und Lust/Unlust
nach Differenz
letztlich
offen
und Zusammengehörigkeit
von
lässt.
§ 11 Die Lust und die reflektierende Urteilskraft
a) Die notwendige Verflechtung
Aufzuweisen, dass das Vermögen der reflektierenden Uk einen ursprünglichen Bezug zum Gefühl der Lust und Unlust haben muss, ist nach dem Gesagten nicht mehr schwierig. Wir sahen: in der reflektierenden
Uk lebt
ein
Auftrag", unter seinem Zeichen macht sie sich einen Entwurf der Welt, der ihr die Realisierung des Gebotenen zu versuchen erlaubt, den Erfolg ihres Tuns aber niemals verbürgt. Daher ist das Tun der reflektierenden Uk, das dem theoretischen und mittelbar auch praktischen Interesse der Vernunft entspringt, als Streben nach der Verwirklichung des Vernunftzieles zu be33 Eine ausgezeichnete und vollständige Uebersicht über die Problemlage, die mit dem weiten Begriff "Gefühl" bezeichnet wird, gibt W. Henckmann im entsprechenden Artikel des "Handbuchs philosophischer Grundbegriffe", München, 1973.
72
Das Gefühl der Lust
greifen. Und so ist, wie mit allem Lust und Unlust
immer
verbunden.
Streben,
auch mit ihr das Gefühl
der
Denn es qibt kein Streben nach ... ohne
Lust (oder Unlust). Die Verknüpftheit von reflektierender Uk und Lust/Unlust erschliesst auch eine andere Ueberlegung. Durch die reflektierende Uk vermittelt sich der den Menschen leitende Vernunftanspruch mit der Mannigfaltigkeit des Gegebenen. Die Vermittlung vollzieht sich als Arbeit der Einsicht in die Ordnung, der als vernünftig und zweckmässig gestaltet vorausgesetzten Natur. In dieser Arbeit erfährt der Mensch, wie er und seine Bestimmung "in die Welt passen", d.h. ob er und das Gegebene in der geforderten Weise übereinkommen können. Im Gefühl der Lust und Unlust meldet sich aber dem Menschen auch nichts anderes als die Uebereinkunft oder Nicht-Uebereinkunft seiner Ansprüche mit dem, was ihm begegnet und geschieht. ist, wo immer Gefühl
die reflektierende
der Lust und Unlust
mit
Uk mit ihrer Aufgabe
beschäftigt
Drum ist,
das
dabei.
Kant bezeugt das für den Gebrauch der (teleo)logisch reflektierenden Uk durch den Hinweis auf die Entdeckerfreude des
Naturwissenschaftlers.
Diesem ist "die entdeckte Vereinbarkeit zweier oder mehrer empirischen heterogenen Naturgesetze unter einem sie beide umfassenden Prinzip der 34 Grund einer sehr merklichen Lust". In dieser Lust stellt sich die Uebereinstimmung des Strebens der reflektierenden Uk mit ihrem Gegenstand - der 35 in ihrer Einheit zu erfassenden Vielfalt der Natur - vor.
Aber die Ueber-
einstimmung des Strebens der Uk mit der sich ihr als angemessen erweisenden Natur ist je nur teilweise; Befriedigung hat das Streben hier nur in einem einzelnen Fall gefunden, während das Ziel der reflektierenden Uk doch die völlige Erkenntnis der ganzen Ordnung der Natur in ihrer Totalität ist. Deshalb ist die Lust des Naturforschers gemäss unseren Termini 34 KdU, Einleitung, p. XL. 35 Dass diese Lust nur von einem der reflektierenden Uk als solcher innewohnenden Streben ("Begehren" in einem weiten Sinn) her möglich ist, und darum von diesem aus begriffen werden muss, bestätigt Kant selbst: "Es gehört etwas, das in der Beurteilung der Natur auf die Zweckmässigkeit derselben für unseren Verstand aufmerksam macht, nämlich ein Studium ungleichartige Gesetze ... unter höhere ... zu bringen, dazu, um wenn es gelingt, an dieser Einstimmung der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen ... Lust zu empfinden." Einleitung, p. XL.
Lieber! ei tung
73
"Lust der Erfüllung" und "Lust des Begehrens" in einem. "Lust der Erfüllung", insofern eine einzelne und bestimmte Absicht der reflektierenden Uk innerhalb der Vernunftaufgabe erreicht worden ist; "Lust des Begehrens", insofern diese Erlangung eine Bestätigung und Beglaubigung (wiewohl kein Beweis) des Prinzips und der Erwartung einer für uns zweckmässigen Natur ist; mithin die Hoffnung auf Realisierung des umfassenden Vernunftzwecks, d.h. das "Begehren" (Streben) der reflektierenden Uk im Schon-Sein-beim-Erstrebten stärkt. Der Gegenstand der Lust ist daher in zweifacher Weise bestimmt: einmal als die eine empirische Erkenntnis, deren Auffindung eine besondere Anstrengung der reflektierenden Uk belohnt, zum anderen als die zum Vorschein gekommene faktische Fasslichkeit der Natur überhaupt, die der im transzendentalen Prinzip der Uk erwarteten und erhofften korrespondiert. Kant hebt sogar nur die Natur in ihrer Fasslichkeit als einen eigenen Gegenstand der Lust hervor: sie als die "Vereinbarkeit heterogener Naturgesetze" ist Grund (qua Woran) von Lust und "oft einer Bewunderung, selbst einer solchen, die nicht aufhört, ob man schon mit dem Gegenstand derselben genug bekannt ist."
36 Wir bewundern je und je die Natur für die in aller Unermesslichkeit der Erscheinung doch uns gewährte zweckmässige Beziehung auf unser Erkenntnisvermögen, und wir werden es tun, solange wir diese Uebereinstimmung als objektiv zufällige, aber subjektiv notwendig denken müssen. b) Ueberleitung zur Untersuchung der kantischen Aesthetik
Worum es uns in der Behandlung des Gefühls der Lust und seiner Relation zur reflektierenden Uk jetzt geht, ist dies: aufzudecken, dass die Verbindung der beiden dem innersten Wesen der ersteren entstammt, und dass die Thematisierung des Gefühls der Lust ins Zentrum des Vermögens der reflektierenden Uk-überhaupt führt, denn die Lust ist Index der Endlichkeit sowohl des Weltentwurfs, den die reflektierende Uk-überhaupt je vollbringt, wie des Strebens nach Verwirklichung der Vernunft, dem das transzendentale Prinzip - jedenfalls im Horizont der (teleo)logisch reflektierenden Uk seine subjektive Notwendigkeit verdankt. Lust ist ja nur möglich, wo die Erfüllung aussteht und grundsätzlich fraglich ist, d.h. wo endliches, menschliches Streben existiert. All dies zeigt: das Gefühl der Lust und
36 KdU, Einleitung, p. XL.
74
Das Gefühl der Lust
die reflektierende Uk gehören ursprünglich zusammen. Indessen: was nach dem Bisherigen völlig selbstverständlich dünkt, muss im Lauf der folgenden Beschäftigung mit der ästhetisch reflektierenden Uk bald einmal zweifelhaft werden: im Umkreis der angeblich "interesselosen" ästhetischen Reflexion und Beurteilung wird sich nämlich exakt dies als fragwürdig enthüllen, was jetzt die Vermittlung zwischen reflektierender Uk und Lust/Unlust besorgt hat - der (für den Fall der (teleo)logisch lektierenden
Uk leicht nachweisbare)
ref-
Strebens- und Absichtscharakter der
Reflexionstätigkeit. Dass er dennoch besteht und auch aufzuzeigen sein wird, dass also in der Tat die reflektierende
Uk-iiberhaupt substantiell
mit Lust/Unlust verbunden ist, ist freilich unsere Ueberzeugung; sie rational zu bestätigen wird jedoch nur möglich sein, wenn wir uns auf das Insgesamt dessen einlassen, was nun ansteht: der Problemkomplex der kantischen Aesthetik.
ZWEITER TEIL:
UNTERSUCHUNG VON HAUPTFRAGEN DER KANTISCHEN AESTHETIK
KAPITEL IV PROBLEMHORIZONT
§ 12 Das Problem des Geschmacks
Das Problem des Schönen begegnet Kant in der zeitgenössischen Form einer Debatte über den Begriff des "Geschmacks". Dass "Geschmack" ursprünglich ein politisch-moralischer Begriff ist, ehe er zum Namen der ästhetischen Kompetenz wird, ist seit der umfassenden Forschungsarbeit Alfred Baeumlers eine bekannte Tatsache. Erst in der Diskussion der 40er und 50er Jahre des 18. Jahrhunderts wird er als Kunstgefühl zunehmend auf den Bereich des 2 Schönen zentriert.
Diese Spezialisierung nimmt jedoch der eigentlichen
Leistung, die das Vermögen des "Geschmacks" zu erbringen vorgibt, nichts von ihrer Paradoxal i tat: Der Geschmack tritt als eine Kompetenz auf, die die Reichweite und das Geltungsfeld diskurisver Rationalität beansprucht, und sich dennoch die Unmittelbarkeit der Sinnlichkeit bewahrt. Das gilt für ihn sowohl als das Vermögen, das sittlich-gesellschaftliche
Passende
zu erkennen und das Anstössige zu vermeiden, wie dort, wo er zur besonderen Fähigkeit in Natur und Kunst das Schöne zu bestimmen geworden ist. Er trifft in beiden Fällen Feststellungen, die mindestens ihrer eigenen Prätention nach die Subjektivität und Relativität einer sinnlichen Wahrneh1 A. Baeumler, Kants Kritik der Urteilskraft, I, Halle, 1923; vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen, 1965(2), p. 7ff. 2 Zu diesem Vorgang äussert sich kritisch - auf dem Hintergrund einer "Sozialgeschichte des Bürgertums" - A.v. Bormann in der Einleitung zum instruktiven Materialienband: Vom Laienurteil zum Kunstgefühl, Texte zur deutschen Geschmacksdebatte im 18. Jahrhundert, Tübingen, 1974. Die Geschichte der theoretischen Deutung des Schönen in der Aufklärung untersucht in Hinsicht auf die KdU H.-G. Juchem, in: Die Entwicklung des Begriffs des Schönen bei Kant, Bonn, 1970. Auf die Auseinandersetzung mit der Vorgeschichte der "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" (und das betrifft sowohl Kants eigene Bemühungen vor der KdU als auch die Tradition des Geschmacksbegriffs und der Idee des Schönen) wird in der vorliegenden Arbeit verzichtet.
Problemhorizont
78
nehmung transzendieren - das vom Geschmack jeweils Ausgezeichnete wird als für jedermann
sohiekliah
oder sahön
präsentiert - , aber er tut dies in der
Art eines Sinnes, also nicht im Rahmen deduktiv-begrifflichen
Beweisens,
sondern so unvermittelt wie das Sehen die Farben und das Hören die Töne erfasst. Das Organ des Sinnes erscheint im 18. Jahrhundert oft auch unter dem Titel des "Fühlungsvermögens"; die Urteile der Sinne sind Aussagen aufgrund des Gefühls. 3 Daher artikuliert Kant die ihn beschäftigende Merkwürdigkeit des Geschmacks als dem Sinn fürs Schöne folgendermassen: "In allen Urteilen, wodurch wir etwas für schön erklären, verstatten wir keinem anderer Meinung zu sein; ohne gleichwohl unser Urteil auf Begriffe, sondern nur auf unser Gefühl zu gründen." 4 Wie soll aber der Geschmack, wäre er blosser Sinn, und damit das blosse Erfahren von Sinnesqualitäten, zu Sätzen über eine allen sich identisch zeigende und daher intersubjektiv verbindlich mitteilbare Bestimmtheit der von ihm empfundenen Sache gelangen? - Allein, wenn man "annimmt, jedermann habe 5 den gleichen Sinn mit dem unsrigen" , lässt sich das "Spezifische der Qualität einer Sinnesempfindung als durchgängig auf gleiche Art mitteilbar"
den-
ken. Dieses darf zwar bezüglich der allgemeinsten Formen der Rezeptivität (Raum und Zeit), nicht jedoch für alles darüber hinaus besondere Auffassen des Gegebenen postuliert werden: "So kann dem, welchem der Sinn des Geruchs fehlt, diese Art der Empfindung nicht mitgeteilt werden; und selbst, wenn er ihm nicht mangelt, kann man doch nicht sicher sein, ob er gerade die nämliche Empfindung von einer Blume hat, die wir davon haben." 7 Wird der Geschmack gemäss dem Modell der äusseren Sinne begriffen und gleichzeitig behauptet, er berechtige zu allgemein gültigen Urteilen, gerät man mit der unleugbaren Tatsache der individuell je verschiedenen
Sinneswahrnehmung
in Konflikt. Versucht man andererseits seine Feststellungen als Produkte be3 Wobei für "Gefühl" zunächst ebenso "Empfindung" stehen kann. Die Differenzierung dieser Ausdrücke, die Kant einführt, cf. oben, p. 68, wird für eine Theorie des Aesthetischen freilich dann relevant, wenn das "subjektive Gefühl" der Lust vom "objektiven Gefühl" der Empfindung, dem als "Materie" kategorialer Gegenstandssetzung verstandenen Korrelat der Rezeptivität, unterschieden werden muss. 4 KdU, § 22, p. 67. 5 KdU, § 39, p. 153. 6 KdU, § 39, p. 153. 7 KdU, § 39, p. 153.
Das Problem des Geschmacks
79
grifflich verfahrender Vernunft (als "verworrene Erkenntnis" etwa) zu deuten, wird die eigenartige Vernehmungsweise, die allein den Zugang zum Schönen gewährt, verfehlt. Das Faktum des Geschmacks treibt die Theorie des Geschmacks in ein Dilemma, zwischen dessen Polen die Diskussion vor Kant hin und her pendelt. Einerseits beharren diejenigen, die die Begriffslosigkeit und Sensualität des Schön-Findens herausstreichen, auf der
"subjektifischen
Natur" der Schönheit und einer entsprechenden Unverbindlichkeit der Geschmacksurteile, andererseits wird von denen, die den Gedanken einer
intersubjektiven
Identität der Schönheit nicht preisgeben wollen, der Geschmack
intellektuali-
siert, d.h. in einen (allerdings kaum explizierten) Zusammenhang mit den Erkenntnisvermögen und der Vernunft gebracht, und damit der generelle Zustimmungsanspruch der ästhetischen Aussagen verteidigt. Als Illustration dieser Piskussionslage seien die Ueberlegungen, die Friederich Just Riedel
1768
vorlegt, bzw. die Ausführungen, die Marcus Herz 1776 veröffentlicht, zitiert. Riedel: "Wenn ich sage, ein Gegenstand sej schön; so will ich in der That sagen: er gefällt mir. Allein da wir immer gewohnt sind, einen unvermerkten Schluss von unserer Empfindung auf die Empfindung anderer zu machen, so drücken wir unser Wohlgefallen allgemein aus, als wenn das, was uns gefällt, jedermann gefallen müsse; das ist: wir nennen den Gegenstand, der uns gefällt, schön. Die Schönheit ist also keine innere Eigenschaft der Dinge; sie ist mehr eine Beschaffenheit unseres Gefühls und des Eindrucks, welchen die Sachen in uns hervorbringen. Ihr Begrif darf nicht aus der Natur der Gegenstände abgesondert werden und eine vollständige Definition von der Schönheit ist so unmöglich, als von der Süssigkeit, Bitterkeit und ähnlichen unmittelbaren Ideen der Empfindung. Wenn wir sagen, das sej schön, was uns gefällt, so ist dies bloss ein Nomi nal-Begrif, in welchem das Wort und nicht die Sache erklärt wird. ... Wenn nun die Schönheit keine innere Eigenschaft der Gegenstände ist, die wir schön nennen, wenn sie diesen bloss in Rücksicht auf das Urtheil unserer Empfindung bejgelegt wird; so folgt, dass ein Gegenstand bald schön bald hässlich sejn könne, nachdem er von verschiedenen Subjekten empfunden wird, so wie Pumpernickel für einen westphälischen Magen gut und für ein Hoffräulein böse ist." 8
Herz (bekanntlich einer der wichtigsten Gesprächspartner Kants) gewinnt seine Apologie der "objektivischen" Substanz des Schönen, indem er vor allem gegen die im Begriff des "Geschmacks" angelegte - und von Riedel ja auch drastisch vollzogene - Gleichstellung von Schönheitserfahrung und Gaumenempfindung Front macht.
8 F.J. Riedel, Ueber das Publicum, Jena, 1768; zit. nach: vom Laienurteil ... p. 164ff.
80
Problemhorizont "Der innere Werth der Tugend und der Schönheit ist zu unseren Zeiten ein wichtiger Streitpunkt in der Weltweisheit geworden. Nachdem das Menschengeschlecht von dem ersten Auqenblick seiner Entstehung an erfahren hat, wie unentbehrlich sie ihm zu seiner Ruhe und Glückseligkeit sind; nachdem sie seit undenklichen Jahren fast die einzige Beschäftigung der grössten Männer aller Völker ausmachten; nachdem man seit so vielen Jahrhunderten das Alterthum, wegen seiner unsterblichen Muster in bejden, bejnahe angebetet hat: ist es wohl etwas auffallend, dass gerade dem achtzehnten die Kleinigkeit noch zu untersuchen aufbehalten blieb, ob den Tugend und Schönheit Gegenstände der Vernunft, oder Gegenstände des Gefühls sind? Mit anderen Worten: ob sie, gleich der Wahrheit ein objektivisches unbedingtes Wesen haben, das von der Verschiedenheit empfindender Geschöpfe unabhängig ist, oder ob sie, gleich sinnlichen Phänomenen, einzig und allein in der persönlichen Organisation ihr Dasejn haben? ... Warum ist der Geschmack eines Ragouts keiner solchen kritischen Untersuchung fähig, als der Geschmack am Schönen? Warum hat die Vernunft da so wenig, und hier so viel zu urtheilen, zu billigen, zu tadeln und Regeln anzugeben? Es muss doch also mit der Schönheit eine etwas verschiedene Bewandtnis haben; sie muss mehr Vernunftstoff enthalten, als jener grobe Gaumenkützel ; sie muss mehr Objektivisches in sich fassen, das bloss zum Gebiete der Vernunft gehört, und worüber kein Gefühl befugter Richter sejn kann. -"9 Kants Aesthetik als Vermittlung der hier von Riedel und Herz vertretenen
Positionen - es ist ein altes Thema der Sekundärliteratur, die KdU aus dieser Perspektive darzustellen.
0
Unsere Arbeit verzichtet zwar auf diesbe-
zügliche Erörterungen, aber man muss doch wenigstens eine Ahnung der Kant vorliegenden Problemkonfiguration besitzen, um ermessen zu können, welche grundsätzliche Entscheidung von allem Anfang an schon getroffen ist, wenn Kant (in der "Vorrede" zur KdU, erste Auflage von 1790) die Beurteilungen"
zum ersten
Mal
"ästhetischen
charakterisiert:
"Obgleich sie für sich allein zum Erkenntnis der Dinge gar nichts beitragen, so gehören sie doch dem Erkenntnisvermögen allein an (Unterstreichung von mir. GK) und beweisen eine unmittelbare Beziehung dieses Vermögens auf das Gefühl der Lust oder Unlust nach irgend einem Prinzip a priori. "Ii Kant teilt zwar Friederich Riedels Ansicht, dass - entgegen rationalistischer, regelästhetischer Manier - das Schön-Sein einer Sache nicht objektiv definierbar ist und Schönheit daher auch nicht dem Begriffsmuster gegenständlicher Eigenschaften, deren Vorlieaen oder Nicht-Vorliegen objek9 Marcus Herz, Versuch über den Geschmack und die Ursachen seiner Verschiedenheit, Berlin, 1976; zit. nach: Vom Laienurteil ..., p. 167f. 10 So vor allem Baeumler, op. cit. 11 KdU, Vorrede, p. VIII.
Theorie des Geschmacks als Kritik der Urteilskraft
81
tiv "erkannt" werden kann, einzufügen ist, aber daraus folgert er nicht, dass der Eindruck des Schönen als blosse Empfindungsqualität der Relativität sinnlicher Wahrnehmung anheimfällt, sondern er behauptet mit Marcus Herz, dass sich die Feststellungen des Geschmacks einer Aktivität der prinzipiell
intersubjektiven "Erkenntnisvermögen" verdanken, was zur Konsequenz
haben muss, dass dem Schönen doch etwas "Objektivisches"
(sprich:
jektiv Verbindliches) innewohnt und deshalb die "ästhetischen
intersub-
Beurteilun-
gen" ihren Allgemeingültigkeitsanspruch zu Recht erheben.
§ 13 Die Theorie des Geschmacks als Kritik der ästhetischen Urteilskraft
Nach der "Vorrede" der KdU gehört der Geschmack zu den Erkenntnisvermögen. Genauer: er ist eine Weise der Urteilskraft, derselben Urteilskraft, die s i c h a u c h i m Modus der (teleo)logisch reflektierenden Uk vorstellig macht; der systematische Titel für "Geschmack" ist in der KdU "ästhetische Urteilskraft". - Kants nisvermögen
Situierung
ist der entscheidende
tik der ästhetischen
Urteilskraft"
des Geschmacks Schritt,
auf der Ebene
der die Möglichkeit
freisetzt.
der einer
Erkennt"Kri-
Die Herausarbeitung dieses
grundlegenden Gedankens, soll daher unsere Beschäftigung mit der Theorie des Schönen und des Geschmacks, die Kant vorlegt, eröffnen. Wer die ästhetische Kompetenz in der Sphäre der Rationalität, ja sogar 12 im Gebiet der "oberen Erkenntnisvermögen"
, ansiedelt, muss zeigen können,
wie das mit dem unbestreitbaren Befund zu vereinen ist, von dem her der Name des Geschmacks seine Plausibilität besitzt: dass die ästhetischen Aussagen Urteile aus Gefühl sind. Welches ist die kantische Antwort auf diese Frage? Dass Kant sich ihr stellt, findet ja schon im obigen Zitat der "Vorrede" seinen Ausdruck - in der Erwähnung des "Gefühls
der Lust und
Unlust".
Und der erste Satz von § 1 der KdU lautet: "Um zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht, beziehen wir die Vorstellung
... auf das Gefühl der
Lust und Unlust." 12 Zu diesem Begriff der "oberen Erkenntnisvermögen" vgl. Erste Einleitung, p . 184.
Problemhorizont
82
Obwohl Kant zunächst eher einen intellektualistischen Standpunkt einzunehmen scheint, spitzt er das Problem des Geschmacks noch zu, indem er als dessen Unterscheidunqsmittel
(als das Kriterium, das dieser anwendet) die
Lust resp. die Unlust bezeichnet. Denn was von den äusseren Sinnen überhaupt gilt, das "nicht angenommen werden darf, jedermann habe den gl ei 13 chen Sinn mit dem unsrigen" , gilt in erhöhtem Mass für das Gefühl der 14 Lust und Unlust
. Lust (oder Unlust) ist erst recht das, was von der zu-
fälligen Prägung des einzelnen Subjekts abhängt, das, worin sich das Subjekt in seinem Besonders-und-von-anderen-Subjekten-unterschieden-Sein
be-
hauptet, gehen doch in sie die jeweils herrschenden Triebe und Ansprüche des Individuums ein. Wie also, wenn Kant das Gefühl der Lust und Unlust als die kriteriale Instanz einführt, sollen die "ästhetischen Beurteilungen" gleichwohl in die Domäne der Erkenntnisvermögen fallen können? Der § 9 der KdU nennt die Lösung folgender Aufgabe den "Schlüssel Kritik des Geschmacks":
zur
"Untersuchung der Frage: ob im Geschmacksurteile
das Gefühl der Lust vor der Beurteilung des Gegenstandes, oder diese vor jener vorhergehe." Unter der dem Gefühl der Lust alternativ gesetzten "Beurteilung" ist jedenfalls (so schwierig die genaue Deutung dieses Ausdrucks auch sein mag) eine Tätigkeit der Erkenntnisvermögen, eine Aktion der Urteilskraft, zu verstehen. Da es uns jetzt lediglich um erste Einsichten zu tun ist, sei an dieser Stelle auf eine ausführliche Explikation und Interpretation des § 9 verzichtet. Was interessiert, ist lediglich das Wichtigste in Kants Auflösung der "Schlüsselaufgabe" - nämlich "Beurteilung"
vor dem Gefühl der Lust und Unlust.
der Vorrang
der
Was bedeutet das aber?-
Nichts anderes, als dass die KdU das für den Geschmack typische und wesentliche Gefühl als abhängig von einer Handlung der Erkenntnisvermögen erklärt: die Geschmacksinstanz der Lust oder Unlust ist bloss zweitletzte sie näherem Betrachten als der Ausdruck sichtig wird, die die Erkenntnisvermögen
einer ursprünglichen
Instanz,
Erfahrung
mit der Sache machen,
da
durch-
die "schön"
genannt wird. Das Gefühl der Lust oder Unlust ist jedoch nicht einfach zum schlichten Epiphänomen zu degradieren, denn wie gerade der § 9 betont, vermag sich der basale Vollzug der Erkenntnisvermögen, der zuletzt alle ästhe-
13 KdU, § 39, p. 153. 14 vgl. KdU, § 39, p. 153.
83
Theorie des Geschmacks als Kritik der Urteilskraft
tischen Urteile trägt, nirgendwo sonst als im spezifisch ästhetischen Ge15 fühl zu Bewusstsein zu bringen . Die einfache terfragbarkeit sende
These von § 9 über die Abhängigkeit 16 der ästhetischen
Idee der kantischen
Gefühlsstimmung
Aufklärung
und entsprechende formuliert
des Geschmacksproblems.
nämlich das sinnliche (aisthetische) Moment im Schön-Finden
die
Hin-
wegwei-
Sie erlaubt anzuerkennen
und es sogar als Kriterium zu markieren, und verschafft dennoch die Möglichkeit, die ästhetische Kompetenz als ästhetische Urteilskraft-,
d.h. als
eine Aktualisierung von Erkenntnisvermögen, zu analysieren, so dass die Begründung (nach dem Sprachgebrauch der KrdrV: die Deduktion) der apriorischen Allgemeingültigkeit, die die Urteile über das Schöne geltend machen, denkbar wird; was endlich auch zur (freilich nicht-objektivistischen) subjektivierung des Schönheitscharakters
Ent-
führt. Die Theorie des Geschmacks
wird zur Kritik der ästhetischen Urteilskraft, wenn die dem Geschmack letztlich zugrundeliegende, eigenartige Leistung des Erkenntnisvermögens
entdeckt
und ihre "Beziehung auf das Gefühl der Lust und Unlust" thematisiert wird. Und der traditionelle Begriff des "Geschmacks" wird damit nicht schlicht destruiert, sondern in einer Weise erweitert, die es allererst gestattet, 18 ihn einleuchtend zu explizieren. 15 Allerdings verpasst es Kant, diese Einsicht auf seinen eigenen Umgang mit der ästhetischen Erfahrung anzuwenden; vgl. unsere Kritik, unten, p. 359. 16 Schon jetzt ist auf einen Punkt hinzuweisen, der viel zur Undurchsichtigkeit wichtiger Passagen der KdU beiträgt und zu einem guten Teil daran schuld ist, dass Kants Begründung des Geschmacksurteils misslingt: die Mehrdeutigkeit des kantischen Begriffs des (ästhetischen) Gefühls. Die für die Schönheitsbeurteilung kriteriale Gemütsstimmung wird häufig von Kant schlicht als "Lust" charakterisiert, oft genug spricht er aber auch vom "Gefühl des erleichterten Spiels" u.ä. Die erstere ist mit dem letzteren nicht zu identifizieren, obwohl beide Bestimmungen Aspekte der einen, eben ästhetischen Stimmung sind. Wir werden diese Differenzierung im "Gefühl (der Lust) des Schönen" zu Anfang unserer Arbeit noch nicht thematisieren, wiewohl sie dem, der ihrer einmal innegeworden ist, auch in den hier interpretierten Texten auffällig werden dürfte; vgl. zu diesem Problem unten, p. 249ff. 17 Die Frage nach der eigentümlichen "Objektivität" (die Anführungszeichen gehören in diesem Zusammenhang geradezu notwendig zum Terminus), die Kant der Schönheit zuspricht - obwohl er stets deren Objektivität (ohne Anführungszeichen) verneint - ist eines der durchgängigen Themen der vorliegenden Untersuchung; vgl. dazu auch unsere Bemerkungen zur sog. "Subjektivierungsthese", unten, p. 115 u.a. 18 vgl. unten: Kants Konzept des Geschmacks, p. 258ff.
Problemhorizont
84
§ 14 Der Gedankengang im Umriss
Die den Geschmack in die ästhetische Urteilskraft transformierende Untersuchung des Verhältnis 1
zwischen ästhetischem Gefühl und den Vernunftfunk-
tionen ist schon die erste Konkretisierung jener allgemeinen Frage, Logik den Gedankengang
des ersten
Teils
der KdU organisiert.
deren
Diese Frage
(deren Doppelgestalt wohl zu beachten ist) lautet: Wie kommt das GU (= Geschnaaksurteil)
eigentlich
zustande,
bzw. wie ist es möglich, dass das GU
als Urteil aus Gefühl so zustande kommt, dass es seine Allgemeingültigkeitsprätention a priori erheben darf? Nach der ersten Formulierung ist die (sozusagen phänomenologische) Aufklärung jener Begegnisweise und Erfahrungsart von Seiendem verlangt, in deren Folge sich schliesslich die Feststellung "x ist schön" konstituiert. Die zweite (dem berühmten Dictum "wie sind 19 synthetische Urteile a priori möglich?") verpflichtete
Formulierung orien-
tiert die Konstitutionsfrage von vornherein am problematischen Geltungsanspruch des GU und läuft damit Gefahr, einer petitio pri nei pi i Vorschub zu leisten: das zu Beweisende/Deduzierende und also gerade nicht als unbestreitbare Tatsache zu Setzende (nicht der Geltungsanspruoh, sondern seine mität)
wird selbst zum Beweisgrund.
(Indem vom gültigen
Legiti-
Allgemeinqültigkeits-
anspruch als einem Faktum ausgegangen wird, wird auch die - eben das eigentlich Fragliche ausmachende - Wirklichkeit der Bedingung seiner Möglichkeit unterstellt.) Wir werden sehen, dass sich Kant der Versuchung einer petitio 20 pnncipn
nicht ganz zu entziehen vermag
, aber wir werden ebenso sehen,
dass der Fortgang des Gedankens, den die "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" entwickelt, in den wesentlichen Schritten doch dem Leitfaden der erst
zu-
formulierten Frage gehorcht. Allerdings, und das ist schon an dieser
Stelle zu betonen: als ein typisches Merkmal der in der KdU versuchten Konstitutionsanalyse der ästhetischen Urteilsfindung wird sich ein phänomenwidriger Konstruktivismus erweisen, der seine Wurzeln in der von der KrdrV übernommenen Begriffsstrategie hat, und der Kant an wichtigen Stellen in
19 vgl. KdU, § 36, p. 149. 20 vgl. unten, § 62 und unsere Interpretation von KdU, § 9, unten, p. 170ff.
Der Gedankengang im Umriss die Sackgasse sachlich unhaltbarer Behauptungen treibt.
85 21
Wie kommt das GU eigentlich zustande?- Das, wozu diese Frage zunächst zwingt, ist die Freilegung dessen, was im Wohlgefallen am Schönen geschieht. Denn das ästhetische Gefühl gibt sich genauerem Betrachten rasch als ein "Gemütszustand" zu erkennen, der von Leistungen der reflektierenden
(d.h.
Begriffsmöglichkeiten eruierenden) Urteilskraft durchsetzt ist. Von der in der für die Erfahrung des Schönen charakteristischen Bewusstseinslage gewiss fassbaren Lust her lässt sich das ästhetische Gefühl als Ausdruck
eben
dieser Tätigkeiten der Uk verstehen und daher auf die letztere als auf
sei-
nen Grund
zurñiek führen.
Der in einem ersten Zugriff als "Spiel der Erkennt-
nisvermögen" bestimmte basale Akt bedarf freilich exakterer
Beschreibung,
um als ein Vollzug von eigener Wesensart behauptet werden zu können (und nur so wird von ihm her die besondere Wesensart des GU erklärbar) - deshalb bemüht sich die KdU, in einem zweiten Schritt nach der Freilegung des "Spiels", um eine das "Spiel" in seiner Struktur präzisierende
Definition.
Diese erste Phase des kantischen Gedankenganges heissen wir Analyse;
und
die zwei Ueberlegungszusammenhänge, in die sich die Analyse gliedert, wollen wir terminologisch als Reduktion tierenden Uk) und Präzisierung
(des Gefühls auf die Akte der reflek-
(der Struktur des "Spiels") fixieren. Die
Ergebnisse der Analyse verhelfen dazu, den Sinn und Ausdrucksqehalt des ästhetischen Gefühls zu klären, und vor allem stellen sie die Beweiselemente für eine solche Deutung des Zustande-Kommens der Urteile über das Schöne zur Verfügung, dass eine einleuchtende Legitimation (= Deduktion) des Geltungsanspruchs, der das GU auszeichnet, möglich wird. Dieses Stück der kantischen Geschmackskritik trägt in der vorliegenden Arbeit den Titel Synthese. Das die Etappen von Kants ästhetischer Argumentation
(gemeint sind die
§§ 1-54 der KdU, nicht also die "Dialektik") artikulierende Cohema: lyse
(Reduktion/Präzisierung)
und Synthese'
'Ana-
gibt unserer Arbeit Richtung
und Ziel: am Ende der Beschäftigung wird der (allerdings kritische) Versuch einer Rekonstruktion der "Deduktion der reinen ästhetischen Urteile"
21 vgl. zu diesem Zwiespalt in Kants Aesthetik, unten, § 22 u. später v.a. das Kpl. "Kritik".
86
Problemhorizont
stehen und zuvor sollen die Diskussionen und Resultate der "Analyse" untersucht werden (das sind in unserer Arbeit die §§ 15-52).
§ 15 Die Fraqe nach dem Ausdrucksgehalt des ästhetischen Gefühls der Lust (Interpretation eines Kerntextes, 1.1.)
a)
Die fruchtbaren Böden unserer Arbeit - und zugleich der Prüfstein der Tauglichkeit - sind 5 Textstücke aus der "Kritik der ästhetischen Urteilskraft": eine Paar,age aus der Zweiten (3.) und die §§ 35/38
(4. und 5.).
Einleitung
(l.), der· § 9 (2.), § 21
Ihr Gemeinsames ist, dass sie entschei-
dende Phasen des oben skizzierten Gedankenablaufs verkörpern; darum präsentieren wir sie als Kemtexte
des ersten Teils der KdU. (Man darf durch-
aus die Intention der vorliegenden Studie dahingehend verstehen, dass sie der Versuch ist, der hermeneutischen Herausforderung, die jene fünf Texte darstellen, zu entsprechen.) Wir werden also den ersten Schritt der Analyse, die Reduktion
gemäss ei-
nem Text aus der Zweiten Einleitung in den Blick nehmen. Er scheint uns deshalb so wichtig, weil er sehr deutlich (und ohne von irgendeiner ver22 borgenen petitio principi i Gebrauch zu machen
) zeigt, wie man vom Ge-
fühl der ästhetischen Lust her, d.h. von der Aufgabe einer Bestimmung ihres Ausdrucksqehaltes aus, zurück auf die Aufgabe einer Klärung der die Erfahrung des Schönen tragenden Vollzüge im Bereich der Erkenntnisvermögen verwiesen wird. Die Probleme, die er damit entfaltet, werden der vorliegenden Arbeit den Weg für eine lange Strecke (bis und mit Kapitel VIII) vorschreiben. Er ist eine in sich geschlossene Partie aus einem grösseren Gedanken23 24 und lautet folgendermassen :
Zusammenhang
"Wenn mit der blossen Auffassung der Form eines Gegenstandes der Anschauung ohne Beziehung derselben auf einen Benriff zu einem bestimmten Erkenntnis Lust verbunden ist: so wird die Vorstellung dadurch nicht auf das Objekt, sondern lediglich auf das Subjekt bezogen; und die Lust kann nichts
22 Das ist es, was ihn grundsätzlich etwa von § 9 d. KdU unterscheidet; vgl. unten, p. 243ff.
Interpretation eines Kerntextes, 1.1.
87
anderes als die Angemessenheit desselben zu den Erkenntnisvermögen, die in der reflektierenden Urteilskraft im Spiel sind, und sofern sie darin sind, also bloss eine subjektive formale Zweckmässigkeit des Objekts ausdrücken (Satz 1). Denn jene Auffassung der Formen in die Einbildungskraft kann niemals geschehen, ohne dass die reflektierende Urteilskraft, auch unabsichtlich, sie wenigstens mit ihrem Vermögen, Anschauungen auf Begriffe zu beziehen, verqliche (Satz 2). Wenn nun in dieser Vergleichung die Einbildungskraft (als Vermögen der Anschauungen a priori) zum Verstände (als Vermögen der Begriffe) durch eine aegebene Vorstellung unabsichtlich in Einstimmung versetzt und dadurch ein Gefühl der Lust erweckt wird, so muss der Gegenstand alsdann als zweckmässig für die reflektierende Urteilskraft angesehen werden (Satz 3)." Und Kant beschliesst den Abschnitt mit dem Satz: "Ein solches Urteil ist ein ästhetisches Urteil über die Zweckmässigkeit des Objekts, welches sich auf keinen vorhandenen Begriffe vom Gegenstande gründet und keinen von ihm verschafft."
b)
Der abschliessende Satz bestätigt, dass das Thema des Textes das Zustandekommen der ästhetischen Beurteilung ist, die Analyse der Konstitution des GU. Kant eröffnet im Satz 1 die Argumentation mit einer doppelten Charakterisierung des ästhetischen Gefühls resp. der "Lust": Erstens wird das ästhetische Gefühl oder die Lust sofort in Zusammenhang mit einer "blossen Auffassung der Form eines Gegenstandes" gebracht (die Lust ist mit ihr "verbunden"); das ästhetische Gefühl wird also sogleich im Kontext lung des Perzeptionsvermögens Gefühl/die Lust als Ausdruck
einer
Hand-
beschrieben. Zweitens wird das ästhetische präsentiert.
Zum ersten: Es ist völlig einleuchtend, dass die ästhetische Lust in irgend einem Verbund mit irgend einer Bezugnahme des Subjekts auf Gegenstände stehen muss, - schliesslich geschieht die ästhetische Lust ja irgendwie aus Anlass, oder neutraler: im Hinblick auf etwas, das dem Subjekt gegeben ist. Zum zweiten: Satz 1 versteht das ästhetische Gefühl sogleich als Aus-
23 Im Kpl. VII der Einleitung in die KdU (aus dem unser Text stammt) liefert Kant einen Abriss seiner Grundgedanken zur Aesthetik. Es wäre also falsch, würde man annehmen, in der gesamten Einleitung sei bloss vom ersten Schritt der Analyse (also der Reduktion) die Rede. Das wird hier ausdrücklich gesagt, weil zuweilen der Eindruck entstehen könnte, das von uns aus interpretierte Stück sei schon der ganze Ertrag der Einleitung. Dass wir nicht alle (an sich relevanten) Ausführungen der Einleitung zu Kenntnis nehmen können, dürfte sich von selbst verstehen. 24 KdU, Einleitung, p. XLIV.
Probiemhorizont
88
druck, und er liefert eine Bestimmung von dessen Gehalt, eben weil es (das Gefühl) als mit der "blossen Auffassung der Form verbunden" gedacht werden muss: das ästhetische Gefühl muss irgendwie die Erfahrung der "blossen Auffassung" ausmachen, d.h. "ausdrücken". Dass das ästhetische Gefühl, insofern es Lust ist, als Ausdruck zu nehmen ist, ist selbstverständlich. Es gehört ja zum Wesen der Lust Vor-Stellung, nämlich Vorstellung des Strebens im Modus der Konvenienz zu sein. Jedoch: im Funktionskreis der ästhetischen Gegenstandsbeziehung scheint ein Streben oder Interesse gerade nicht möglich, und im
übrigen spricht Satz 1 dem ästhetischen Gefühl einen Inhalt zu, in
dem sich anderes und mehr bekundet als die blosse Befriedigung einer Zielrealisierung. Die soeben angedeuteten Erklärunqsschwieriqkeiten
indizieren
ein hermeneutisches Problem; die Explikation, die Satz 1 dem ästhetischen Gefühl angedeihen lässt, ist keineswegs sofort und ohne weiteres voll einsichtig zu machen. Es bedarf dazu einiger Anstrengung und Vorarbeit. Vieles muss zuvor geklärt werden, bevor sich der Sinn oder die Bedeutung des ästhetischen Gefühls erqibt; und das liegt ebenso an der komplexen Wirklichkeit des ästhetischen Gefühls als auch an der Art, wie die KdU mit ihr umgeht. Wie auch immer - das für den Anfang wichtige Ergebnis von Satz 1 besteht in der Charakterisierung des ästhetischen Gefühls als einer Sache, die auf etwas verweist. Das Gefühl wird auf etwas bezogen, das in ihm sen als sein Wesen - erscheint.
Damit ist die Reduktion
in Gang
gewissermasgebracht.
Die nächste Absicht unserer Textinterpretation muss daher der Versuch sein, Aufschluss über das zu gewinnen, was als das zugrundeliegende Wesen im ästhetischen Gefühl erscheint. Wie ist das zu erreichen? Eine, wiewohl nicht vollständige, Antwort muss schon im Satz 1 zu finden sein; das geht aus seiner grammatikalischen Struktur hervor: er ist ein "Wenn-so-Satz" (wenn das ästhetische Gefühl/die Lust ... ist, so ist es/sie Ausdruck von ...). Weitere Erhellung
müssen die Sätze 2 und 3 gewähren; beide geben
sich nämlich als Erläuterungen von Satz 1 zu erkennen. Wir werden daher zuerst untersuchen, was Satz 1 zu unserer Frage beibringt (und wie man von ihm aus auf die Notwendigkeit zusätzlicher Explikation verwiesen wird), um dann die Auseinandersetzung mit den Sätzen 2 und 3 zu beginnen.
Interpretation eines Kerntextes, 1.1.
89
c)
Satz 1 ist ein Konditionalsatz; er formuliert, unter welchen Bedingungen, was der Fall ist. Im Wenn-Teil werden 4 Elemente erwähnt und in eine Reihenfolge gebracht, von denen 2 im So-Teil eine besondere Bestimmung erfahren: "Wenn//mit der blossen Auffassunq / DER FORM EINES GEGENSTANDES DER ANSCHAUUNG / ohne Beziehung derselben auf einen Begriff zu einem bestimmten Erkennt nis / LUST//verbunden
ist, so wird (y): / DIE VORSTELLUNG dadurch nicht auf
das Objekt, sondern lediglich auf das Subjekt bezogen / und (z): / DTE LUST kann nichts anderes als die Angemessenheit desselben (= des Gegenstandes der Anschauung, bzw. des Objekts, vgl. den Schluss des Satzes 1;) zu den Erkenntnisvermögen ... ausdrücken." Der Konditionalteil enthält also die Voraussetzung für einen im Hauptsatz ausgesprochenen, doppelten Sachverhalt: wenn (x) vorliegt, so geschieht erstens (y) mit dem GEGENSTAND RESP. DESSEN VORSTELLUNG, so kann zweitens die LUST nur (z) ausdrücken. Sinn und Notwendigkeit der Bestimmungen (y) und (z) müssen sich - mindestens ansatzweise aus der Bedingung (x) erschliessen lassen. (Allerdings, die Einsicht in Sinn und Notwendigkeit sowohl von (y) als auch von (z) ist allein von (x) her nicht zu erwerben; es braucht dazu die zusätzliche Erläuterung, die zunächst Satz 2 bietet ("Denn jene Auffassung ..."), und weiterhin die Spezifizierung des Satzes 3 ("Wenn nun ..."). Die zum schlüssigen Verständnis von (y) und (z) erforderliche Ausführung von (x) durch Satz 2 ist erst ausreichend und vollständig, wenn auch noch Satz 3 hinzugelesen wird.)
Man kann also Verhältnisse
des Bestimmens
und Bestimmt-Wp.vdens
zwischen
den vier im Wenn-Teil aufgezählten Elementen ausmachen: liegen gemeinsam (a) + (b) vor, nämlich (a) "die blosse Auffassunn der Form eines Gegenstandes" und (b) diese Auffassung "ohne Beziehung auf einen Begriff zu einem bestimmten Erkenntnis", dann ist festgelegt einerseits, was das ästhetische Gefühl
(das in Satz 1 schlicht als die "Lust" erscheint) "ausdrückt" (=z),
andererseits das Relat der Relation, in der der "Gegenstand" bzw. die "Vorstellung" stets steht (=y). Warum ist das so? - Wir wollen im folgenden die kantische Ueberlegung nachzuvol1 ziehen versuchen, ohne schon die durchaus dunkeln Begriffe "blosse Auffassung", "Form" einer ausdrücklichen Interpre-
90
Problemhorizont
tation zu unterziehen. Ad (z): Liegt die "blosse Auffassung der Form eines Gegenstandes/ohne Beziehung derselben ... zu einem bestimmten Erkenntnis" vor, so bedeutet das, dass das Gefühl bzw. die in Satz 1 allein namhaft gemachte "Lust" (die - aus von uns noch keineswegs voll begriffenen Gründen - mit dieser "blossen Auffassung" verknüpft/"verbunden" ist) jedenfalls keine, praktische und keine theoretische
Lust sein kann. Denn weil die "blosse Auffas-
sung" die "Form" und damit den "Gegenstand" nicht auf einen bestimmten, in Erkenntniszusammenhänge einzugliedernden Begriff bezieht, vermag sie ihn (=den in der aufgefassten Form vorstelligen Gegenstand) niemals als etwas, das den Begriff des Guten erfüllt,
zu entdecken. Ergo: die Lust, die mit
solcher, die Anwendung des Begriffs des Guten eo ipso ausschliessender "Auffassung" existiert, kann nichts mit der Lust am Guten, der "Achtung" oder der praktischen Lust, zu tun haben. Ferner: Wenn und weil die "blosse Auffassung" das ihr Vorgegebene auf keinen erkenntnisrelevanten Begriff hin thematisiert ("bezieht"), vermag sie mit Sicherheit auch das nicht zu leisten, was das Vergnügen an der theoretischen Vereinheitlichung des Mannigfaltiaen der Anschauung bewirkt (vgl. oben. p. 72). Ergo: die Lust ist keine theoretische,
keine der (teleo)logisch reflektierenden Uk. Endlich
sorgen (a) + (b) dafür, dass eine dritte Erklärunasmöqlichkeit der auftretenden Lust nicht in Frage kommt. Wenn und weil die "blosse Auffassung" eine Auffassung der "Form" ist, d.h. keine rezeptiv erlangte "Materie" verarbeitet, weil also im Rahmen der "blossen Auffassung" die Dimension der sinnlichen Empfindunq (in der sich das sog. "Angenehme" konstituiert (25)) von vornherein ausgeschaltet ist, ist die Lust keine
sinnliche.
Wir fassen zusammen: Nach (χ), wie es sich in Satz 1 ohne tiefere Interpretation aufgreifen lässt, ist das ästhetische Gefühl der Lust weder Ausdruck der Erfüllung einer Tätigkeit der praktischen oder der theoretischen Vernunft, noch bekundet sich in ihm eine Befriedigung der Sinnlichkeit. Was also Satz 1 beibrinat, ist eine (nur) per negationem
erzielte Bestimmung
der Besonderheit des ästhetischen Gefühls; durchaus unersichtlich bleibt das, was sich positiv in ihm bekunden soll. Ad (y): Der Sachverhalt (y) ergibt sich zunächst aus der Tatsache der 25 vgl. KdU, § 3, p. 7: "Angenehm ist das, was den Sinnen in der Empfindung gefällt."
91
Interpretation eines Kerntextes, 1.1.
"blossen Auffassung der Form" und vor allem aus derjenigen des Ausfalls einer Beziehung auf den Erkenntnisbegriff. Diese Faktoren sind gewiss dafür verantwortlich, dass die "Form" bzw. der in ihr vorstellige Gegenstand, nicht "auf das Objekt bezogen wird",
d.h. sie haben zur Folge, dass die ge-
gebene Anschauung nicht zu einer in und mit erkenntnisliefernden (d.h. in ihrer Verkörperung durch das Gegebene eindeutig beweisbaren, = objektiven) Begriffen beherrschbaren Grösse objektiviert wird. Diese Erklärung macht allerdings noch nicht einleuchtend, was in (y) darüber hinaus gesetzt ist; - dass der Gegenstand "auf das Subjekt bezogen wird". Die Relation des Aufgefassten auf das (auffassende) Subjekt ist nämlich schon in der "(blossen) Auffassung" als solcher beschlossen. Will (y) also nicht mehr als das sagen, ist es redundant. Der Sinn dieser Sachverhaltsbestimmunq wird indes fassbar, bedenkt man die Zusammengehörigkeit, von der der ganze Text ausgeht: die ursprüngliche (wiewohl von uns noch nicht genügend durchschaute) Verbindung der "blossen Auffassung" mit Lust. Lust (und auch Unlust) an etwas offenbart nicht einfach, dass etwas im Verhältnis zum Subjekt steht, sondern, dass etwas in ein besonderes
Verhält-
nis zum Subjekt eingerückt ist. Indem nun Satz 1 damit beginnt, dass die "blosse Auffassung" mit Lust "verbunden" ist, und so einen ursprünglichen Zusammenhang dieses Apprehensionsaktes mit dem Gefühl der Lust unterstellt - und indem er ausserdem die Erkenntnisabstinenz der "blossen Auffassung" betont - , behauptet er implizit, dass das Wesentliche des im Horizont solchen Auffassens Aufgefassten allein in einem besonderen (im besonderen Gefühl der ästhetischen Lust betreffbaren) Bezug zum Subjekt, seinen Vermöqen und Ansprüchen, gegenwärtig wird und manifest ist. Der Sinn von (y) ist es, dies explizit zu machen. Mit dieser Bemerkung ist ein für die Theorie des Schönen und die Kritik des Geschmacks entscheidender Problembereich allenfalls seinem äussersten Umriss nach umschrieben; die Frage ist, wie man tiefer in ihn hinein gelangt. Einen Wegweiser stellt zwar das ästhetische Gefühl dar, insofern es Lust ist. In der Lust (am / anlässlich eines Gegebenen) muss sich nämlich irgend eine Konvenienz spiegeln, die sich zwischen den Bedürfnissen, Absichten, Möglichkeiten des Subjekts und dem
Gegebenen ereignet; - deshalb ist es nicht über-
raschend, dass gemäss (z) der Ausdrucksgehalt des ästhetischen Gefühls in
92
Probiemhorizont
einer "Angemessenheit" des Gegebenen und Aufgefassten an Funktionen der auffassenden Subjektivität bestehen soll, und also die das Schöne vergegenwärtigende Beziehung zum Objekt in einer Erfahrung der Entsprechung sich vollendet. Aber der "Wegweiser" der Lust gibt höchstens eine allgemeine Richtung an. Um im einzelnen klären zu können, welches die Art und Weise jenes Verhältnis 1
ist, das zugleich der Vollzug des Schön-Findens wie auch
das Sich-Zeigen des Schönen selbst ist, muss endlich mit der Untersuchung und Klärung dessen angefangen werden, was Kant in Satz 1 als Bedingung der Möglichkeit des ästhetischen Gefühls und der Lust einführt: die "blosse Auffassung der Form" (eines Gegenstandes der Anschauung).
d)
Unsere bisherige Beschäftigung mit der Textpartie aus der Zweiten Einleitung hat mithin zu folgendem Resultat geführt: Zwar sind die im So-Teil
von
Satz 1 präsentierten Bestimmungen (y) und (z) - auch ohne eine eingehende Interpretation der in (x) verwendeten Begriffe - ein Stück weit von (x) her zu erhellen, aber in beiden Fällen gerät man rasch an eine Grenze; sowohl um die positiven
Charakterisierungen des Ausdrucksgehaltes der ästhetischen
Lust zu verstehen, die (z) liefert, wie um die Bedeutung
des Subjektsbezugs
zu begreifen, von dem (y) spricht, ist eine genaue Auslegung der zentralen Termini des Wenn-Teils von Satz 1 unerlässlich. Die Auseinandersetzung mit dieser Aufgabe wird sich sozusagen von selbst in die Interpretation der Sätze 2 und 3 verwandeln, da es ja erst diese sind (was auch bei oberflächlicher Lektüre sofort deutlich ist), die jene kantischen Argumente und Ueberlegungen mitteilen, die eine volle Begründung des Hauptsatzes von 1 ermöglichen. Satz 1 kann nur auf dem Umweg über Satz 2 und 3 ganz durchsichtig werden; deshalb ist es voraussehbar, dass wir erst wieder am Schluss unserer Diskussion des ersten Kerntextes zum Problem des ästhetischen Gefühls und 26 der Lust zurückkehren werden
; dann freilich wird rekonstruierbar sein,
warum Kant die Sache so, wie in Satz 1, formuliert. Wir nannten das Stück aus der Zweiten Einleitung einen Kerntext, weil es die exemplarische Abhandlung der ersten Etappe des Gedankenzugs sei, der 26 vgl. unten, p. 207ff.
Interpretation eines Kerntextes, 1.1. schliesslich in der "Deduktion der reinen
93
ästhetischen Urteile" seinen
Austrag findet. Unser Abschnitt sei Darstellung der soqenannten Reduktion. Das ist auf dem Hintergrund des mittlerweile Erarbeiteten noch einmal zu explizieren. Der Text im Ganzen genommen ist die Antwort auf die Frage nach den in der Bewusstseinsspäre (Kant würde sagen: im "Gemüt") aufweisbaren Gegebenheiten und Leistungen, die der eigentlichen Aussage "etwas bzw. dies-hier ist schön" vorausgehen. Er beginnt mit der Präsentation des traditionellen Kriteriums des Geschmacks (das der vorliegende Text - wie sich zeigen wird, allzu einseitig - als Lust beschreibt) als einem
Zweit-
letzten: das ästhetische Gefühl ist "Ausdruck". Wenn sich nun in unseren folgenden Interpretationen bestätigen sollte, was jetzt schon zu vermuten ist, dass nämlich der Sinn der Sätze 2 und 3 im Nachweis dessen besteht, dass das (kriteriale) ästhetische Gefühl der Ausdruak vollzugs
exakt dieses
Subjekt-
(und der damit verbundenen Erfahrungen und Entdeckungen an der "ge-
gebenen Vorstellung") ist, mit dem "verbunden" es von Satz l eingeführt
wird,
dann wird sich auch unsere These bezüglich der Reduktion bestätigt haben. Das ästhetische Gefühl ist Zweitletztes, weil ihm ein Akt der "spielenden" Erkenntnisvermögen - der ursprüngliche Akt der reflektierenden ästhetischen Uk - zugrunde liegt, in dem allein die Erfahrung des Schönen sich zu ereignen vermag. - Auf diese Quintessenz hin versuchen wir unseren ersten Kerntext auszulegen. Da wir dies Fazit aber nicht einfach behaupten, sondern dem kantischen Wortlaut abgewinnen möchten, wird jetzt ein zuweilen ziemlich mühseliges Pensum an Freilegungsarbeit zu absolvieren sein. Ausgangspunkt ist die Begriffskonstellation "blosse Auffassung der Form ... ohne Beziehung auf einen Begriff zu einem bestimmten Erkenntnis".
KAPITEL V ERSTE BESTIMMUNG DES GRUNDAKTES DER AESTHETISCHEN URTEILSKRAFT
Schwierig am Ausdruck "blosse Auffassung der Form " sind in erster Linie die qualifizierenden Elemente - also das Attribut "bloss" und das Genitivobjekt "Form". Denn dass mit dem Namen "Auffassung" kein praktisch-handgreifliches Aufnehmen, sondern eine Handlung der (welcher? wieviel er?) Erkenntnisvermögen intendiert ist, ein Zu-Bewusstsein-Bringen mithin, ist gewiss unbestreitbar. Eine nähere Bestimmung dieses Vorgangs ergibt sich erst aus der Beachtung dessen, worauf er sich richtet ("Form"), und der Weise, wie er geschieht (- "bloss"; dies Attribut ist sicherlich auf die folgende Kennzeichnung "... ohne Beziehung auf einen Begriff zu einem bestimmten Erkenntnis" vorweisend; damit erschöpft sich jedoch nicht sein Gehalt, da "bloss" gegenüber dieser Verweisungsfunktion hier, im Zusammenhang einer Kritik der ästhetischen Urteilskraft, noch eine gleichsam selbständige Bedeutung hat). Wir beginnen mit dem Versuch, den Sinn von "Form" zu begreifen. Obgleich "Form" innerhalb der Ausführungen der KdU eine wichtige Rolle spielt, hat Kant nirgends fixiert, was er darunter verstanden haben will. Es ist nicht möglich, eine authentisch kantische Bedeutungsdefinition vorzulegen. Was also vermag unserer Bemühung Anhalt zu verleihen? - Wir gehen von zwei Annahmen aus. Die erste verdankt sich dem noch zu bewährenden Vorverständnis des ganzen, von uns zitierten Stücks aus der Zweiten Einleitung, und sie besagt, dass "Form" nicht ohne weiteres durch "Gestalt" zu ersetzen ist, weil dieser Ausdruck dazu verleitet, "Form" in zu enger Weise zu interpretieren, als äussere Gestalt nämlich, d.h. als die abzeichenbare Raumfigur, die im anschauenden Erkennen als eine unter vielen sonstigen physikalischen Eigenschaften am Gegenstand isolierbar ist.1 Die zweite Annahme betrifft die Methode, mittels derer man sich der Sache zu nähern hat: Wir behaupten, dass 1 vgl. dazu H. Mörchen, Die Einbildungskraft ..., p. 471ff.
96
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
der Ansatz zur Explikation des fraglichen Begriffs dort zu nehmen ist, wo "Form" in der Kdu zuerst
auftaucht
- im Horizont der kantischen Beschäfti-
gung mit der Möglichkeit empirischer Erkenntnis bei Gelegenheit der Erörterung des transzendentalen Prinzips der Urteilskraft. Obschon "Form" zentral erst im Bereich der ästhetischen Urteilskraft ist, nähern wir uns dem Begriff von den (impliziten) Bestimmungen, die er im Umkreis der 2 gisch reflektierenden Uk erhält.
(teleo)lo-
§ 16 Was meint "Form"? (Erster Teil)
In der Erläuterung der Formulierung des Prinzips der reflektierenden Uk heisst es: "Das Prinzip der Reflexion über gegebene Gegenstände der Natur ist: dass sich zu allen Naturdingen empirisch bestimmte Begriffe finden lassen, welches ebenso viel sagen will, als dass man allemal an ihren Produkten eine Form voraussetzen kann, die nach für uns erkennbaren Gesetzen möglich ist."3 Finden kann man "empirisch bestimmte Begriffe" eben nur so, "dass man eine gegebene Vorstellung mit anderen vergleicht, und dadurch, dass man dasjenige, was sie mit verschiedenen gemein hat, als ein Merkmal zum allgemeinen Gebrauch herauszieht." Und Kant fährt fort: "Allein, ob die Natur zu jedem Objekte noch viele andere als Gegenstände der Vergi eichung, die mit ihm in der Form manches gemein haben, aufzuzeigen habe, ist nicht von vornherein gewiss. Was ist diesem Zitat als das Wesentliche des Sachverhaltes "Form" zu entnehmen? Form, oder ganz allgemein: Bestimmtheit, ist etwas, was von uns an dem in der Anschauung Begegnenden vorausgesetzt wird; etwas also, was Gegebene
an sieh
haben muss,
unabhängig
das
und vor der Auffassung durchs Sub-
jekt. Die Bestimmtheit muss als am Gegebenen von sich her vorliegend vorausgesetzt sein, weil ihr Bestehen als die Bedingung der Möglichkeit der beson-
2 Der ausdrückliche Beizug der Stelle in der KrdrV, Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe, 4. Materie und Form, scheint mir hier wenig hilfreich: allerdings ist auch dieser Stelle zu entnehmen, dass Kant "Form" keineswegs eng, sondern sehr weit fasst; in der KrdrV als "Bestimmung". 3 Erste Einleitung, p. 192/93. 4 Erste Einleitung, p. 193 Anm.l.
97
Was meint "Form"? (Erster Teil)
deren Bestimmung der Gegenstände der Erfahrung durch empirische Begriffe auftritt. So ist die Form etwas, was sich zeigen muss, wenn man das Gegebene auf Begriffe bringen will; genauer noch: solches, das gar nicht anders als durch diese Tätigkeit des Subjekts sichtbar werden kann. Denn das, was stimmtheit
einer
Sache" meint
(- das in aller
Verändemnq
sich ala
"Be-
identity
sches Durchhaltende)
ist überhaupt
nie anders
als durch
Begriffe
erfassbar.
Und so vermag man auch die zur besonderen empirischen Erkenntnis vorausgesetzte Bestimmtheit der Gegenstände der Anschauung nur zu perzipieren, indem man sie als begrifflich erfassbare Regel der Zusammensetzung der Sinnendinge in Raum und Zeit offenbar macht. Geschieht dies nicht, vermögen wir ja nie zu sagen, ob das uns Affizierende tatsächlich Bestimmtheit (oder "Form") hat, oder nur als ein in zufälliger Mannigfaltigkeit und in stets wechselnder Weise vorkommendes "Irgendetwas" zu nehmen ist. Also: Die Form ist einerseits (als Bedingung) unabhängig vom empirischen Begriff (Begriff im Sinne eines Produkts der Erkenntnisvermögen des Subjekts), andererseits nur dann für uns erblickbar, wenn sie durch eben diese, von ihr ermöglichten Begriffe als die Bestimmtheit einer Sache entdeckt worden ist. Daher gilt: Aus dem Horizont der (teleo)logisch reflektierenden Uk ist all das am Gegebenen Form,
was uns des letzteren Bestimmung durch empirische Be-
griffe erlaubt, zwar in solcher offenbar wird, aber von ihr (unserer Bestimmung) nicht aus eigener Macht gesetzt ist. Form ist mithin nichts, was ein für allemal am Gegebenen herauszulösen ist (wie der Umriss eines Raumbildes), sondern je das, was sich im Fortschritt begrifflicher Bestimmung zeigt. So ist einzusehen, weshalb die Gleichsetzung der Form mit der äusseren Gestalt (i.S. von "Umriss") unzutreffend ist; wohl gehört die Gestalt, die Raumfigur zur Form - auch sie gestattet ja die Bestimmung des Gegebenen - aber durch die äussere Gestalt ist der Bereich, der vom Ausdruck "Form" bedeutet wird, auch nicht annähernd erfüllt. Form
ist das Korrelat
der endlichen
Reflexion,
d.h. sie ist sowohl
vor
der Reflexion - als dasjenige, was das transzendentale Prinzip um der Ver5 Diese These, so unscheinbar sie hier auftritt, ist sozusagen ein Axiom im Zusammenhang unserer Ueberlegungen im Rahmen von Kpl. V.
98
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
wirklichungsmöglichkeit der reflektierenden Uk willen als vom Gegebenen sahon realisiert voraussetzen muss -, und sie ist ebenso allein durah die Reflexion - weil sie allein im Medium des Reflektierens der reflektierenden Uk zur Sichtbarkeit gelangt. Das ist das Ergebnis unserer ersten Annäherung an diesen schwierigen Begriff auf dem Weg einer Betrachtung der Art, wie Kant den Ausdruck "Form" im Bereich der (teleo)logisch reflektierenden Uk verwendet. Der Titel "Reflexion", der soeben in den Vordergrund gerückt worden ist, meint nichts anderes als das, was er im Kontext der vorliegenden Arbeit stets meint: die Tat der reflektierenden Uk (den Vollzug, den sie als (teleo)logisch bzw. ästhetisch reflektierende Uk überhaupt vollbringt), das Auf-Begriffe-Bringen des Empirischen, das kein Setzen, sondern ein Finden ist. Wenn Form wesentlich Korrelat von Reflexion ist, dann ist klar, dass als Form des Gegebenen je anderes zum Vorschein
kommen muss, wenn es
verschiedene Weisen der Reflexion gibt. Form kann nie etwas der Reflexion, d.h. dem Wodurch oder Worin ihres Erscheinens, Aeusserliches und Fremdes sein, also wird man auf unterschiedliche Arten von Form stossen, wenn man das Reflektieren der (teleo)logisch reflektierenden Uk gegen das Reflektieren der ästhetisch reflektierenden Uk hält. Die Bestimmtheit des Gegebenen, die im Licht der (teleo)logischen Uk greifbar wird, soll "objektive" diejenige, die im Licht der ästhetischen Uk manifest wird, die "ästhetische Form" heissen. Da uns die Aufklärung von "Form" wegen des Kerntextes der Zweiten Einleitung interessiert, ist das eigentliche Ziel die Explikation der Bedeutung, die dieser Term im Feld der ästhetischen Uk besitzt. Aufgrund des Erarbeiteten darf man vermuten: Insofern (und falls) das Wort einen in allen Anwendungen einheitlichen Sinn hat, steht es auch im Rahmen der kantischen Theorie des Schönen für eine dem Subjekt vorgegebene Bestimmtheit des Seienden, die freilich lediglich so für uns da sein kann, dass man das Gegebene dank ihr und ihr gemäss auf Begriffe bringt. Die Form ist auch hier nicht mit der schieren äusseren Gestalt zu identifizieren, sondern solches - unverbindlich gesagt - was im Zuge der Wahr-nehmung einer Einheit, die das je Gegebene in seiner Mannigfaltigkeit umfasst, offenbar wird. Form ist also immer schon als Korrelat von Reflexion zu begreifen -
99
Leitgedanken
die ästhetische Form als das Korrelat der ästhetischen Reflexion. Aber was ist das - die ästhetische Reflexion? Auf diese Frage ist eine
(wenigstens
vorläufige) Antwort zu geben, will man die Erläuterung von "Form" im Hinblick auf die Begriffskonstellation
"blosse Auffassung der Form" vorwärts
bringen.
§ 17 Der Grundakt der ästhetischen Urteilskraft als freies
Auf-Begriffe-Bringen
a) Leitgedanken
Kants Darstellung der Reflexionstätigkeit Schilderung der ästhetischen aktes,
Reflexion,
der ästhetischen
Uk,
seine
die Beschreibung also jenes
Grund-
der sich im Gefühl bekundet und der das gegenüber der Lust primäre
Sahön-Finden
ist, dem das zur Aussage verdichtete eigentliche GU die Mög-
lichkeit verdankt, ist an den Stellen, wo sie sozusagen ex cathedra exponiert werden soll, merkwürdig abstrakt, höchst unanschaulich und oft opak. Darüber klagt - um einen unerwarteten Zeugen zu nennen - schon Bernard Bolzano; mag er mit seinem Gesamtverdikt über die KdU ("... das aber wage ich offen herauszusagen, dass die Erklärungen vom Schönen, die mit der Erscheinung der Kritik der Urteilskraft ans Licht getreten sind, ... nichts von demjenigen, was schon vordem geleistet worden war, übertreffen, sondern entweder schon längst Gesagtes in neu erfundenen Ausdrücken wiederholen, oder nur ungenauer und irriger sind." 6 ), mag Bolzano damit auch im Unrecht sein, eine gewisse Unterstützung erwächst ihm gerade aus der Undurchsichtigkeit jener Formulierungen, die Kant für den Vorgang ästhetischen Reflektierens bereit hält. 7 Die Anlage der KdU im Ganzen und zumal das Argumen6 Ueber den Begriff des Schönen, § 40, Prag 1843, zit. nach: B. Bolzano, Untersuchungen zur Grundlegung der Aesthetik, Frankfurt, 1972, p. 82. 7 "Sagt doch Kant selbst und wiederholt, dass das Wohlgefallen am Schönen 'auf dem freien Spiele der Einbildungskraft und des Verstandes, welches das Schöne in jedem Subjekte hervorbringt (daher es auch allgemein mitteilbar sein muss) beruht'. Sind denn nun aber die Erzeugnisse der Einbildungskraft und des Verstandes etwas anderes als Vorstellungen und näher noch Begriffe? zumal sofern sie mitteilbar sein sollen, was von Anschauungen eigentlich nicht gesagt werden kann", op.cit., § 38, P.69/70 (1972).
100
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
tationsmuster der "Einleitung"!iefert aber den hermeneutisehen Gedanken, mit dessen Hilfe der Sinn zunächst dunkler Stellen rekonstruierbar wird. Kant situiert die Theorie des Geschmacks im Rahmen einer Untersuchung der (reflektierenden) Urteilskraft, deren Funktionieren er stets zuerst und gleichsam
paradigmatisch
am Tun der (teleo)logisch reflektierenden Uk
exemplifiziert. Klar wird das vor allem in den "Einleitungen", die ja keineswegs nebensächliche Vorworte, sondern für das Verständnis der KdU grundlegende Erörterungen sind: In beiden Texten erscheint stets die eine Art der Uk, nämlich die (teleo)logische, einerseits als das Modell,
dem die allge-
meinen Begriffe zu entnehmen sind, mit denen auch die andere Art der (reflektierenden) Uk explizierbar wird, andererseits als das Gegenbild,
das
jene Abgrenzungen erlaubt, mit denen das Besondere der ästhetischen Uk g fassbar gemacht werden soll. setzlichkeit
Kants
Darstellung
ist der der Parallelität d.i. deren
Identität
renz hinsichtlich tischen
Kurz: der Gesichtspunkt, der ästhetischen
zwischen
ästhetischer
in der reflektierenden
des Reflexionsvollzuges,
Reflektierens
per Negation
Kontur
dessen
Reflexion und
Uk-iiberhaupt und deren wobei gewinnt.
die eigene
Ge-
durchherrscht,
(teleo)logischer
Art des
Uk, Diffeästhe-
Dies Vorgehen Kants zum
Zweck seiner "Kritik der ästhetischen Uk" nennen wir die strategie.
interne
Parallelisierungs-
(Der Name deutet die Vorbehalte schon an, die gegen diese kan-
tische Methode geltend zu machen sind. Sie werden ihre Berechtigung schnell genug beweisen. Um eine falsche Meinung nicht aufkommen zu lassen, ist jedoch sogleich auch anzumerken, dass Kants Auseinandersetzung mit der ästhetischen Reflexion und der Konstitution des GU nicht allein von der Paralle1isierungsstrategie geprägt ist; ebenso wichtig ist sein Zugang
phänomenologischer
zur Sache. Der Konflikt der zwei Methoden wird uns als eine Erfah-
8 Als Beispiel für den Modellcharakter der (teleo)logischen Uk hinsichtlich der ästhetischen Uk sei auf die Abschnitte 3, 4, 5 aus Kpl. VII der Ersten Einleitung hingewiesen. In Abschnitt 3 entwickelt Kant am Vorbild der die empirischen Erkenntnisbegriffe liefernden (= reflektierenden) und anwendenden (= bestimmenden) Uk das Vokabular und ein Strukturmodell der Erkenntnisfunktionen, mit dessen Hilfe er im Abschnitt fünf die ästhetische Reflexion exponiert. Zur Vergegenwärtigung des Gegenbildcharakters der (teleo)logischen Uk sei nur an die zahlreichen negierenden Bestimmungen erinnert, die das Tun der ästhetischen Uk auszeichnen. Sie sind je die Produkte der Methode, die ästhetische Uk mittels Abhebung von der (teleo)logischen Uk zu definieren.
Leitgedanken
101
rung der Interpretation unmittelbar aufdringlich werden, vgl. unten, 136f.
Unser Bewusstsein von der Parallelisierungsstrategie gibt nun den Schlüssel, um jene Stellen aufzuschliessen, die auf den ersten Blick aenigmatisch dünken. - Wo Kant sich bezüglich der ästhetischen Uk und ihrem das GU stiftenden Grundakt nicht klar ausdrückt, wird die Interpretation Orientierung und Leitfaden aus eben der von Kant behaupteten Affinität von ästhetischer und (teleo)logischer Reflexion, aus der Identität und Differenz zwischen (teleo)logischer und ästhetischer Uk gewinnen müssen. (Die Grenze solch rekonstruierender Interpretation wird uns am bald einzuführenden Begriff des "freien Auf-Begriffe-Bringens" offensichtlich werden.) Unter Anmerkung 8 ist vorhin auf einen Abschnitt der ersten Einleitung aufmerksam gemacht worden, der - insofern der genaue Vorgänger zum Kerntext aus der (zweiten) Einleitung - die das GU fundierende Aktivität der Uk bei der Auffindung und Erfahrung des Schönen thematisiert. Wir zitieren diesen Satz, da er die Sammlung jener Aufgaben bietet, die die Auslegung von Kants Darstellung der ästhetischen Reflexion zu bestehen hat. (Die letztere
heisst bei ihm die "blosse Reflexion", weil so, d.h. unter dem Titel
"blosse Reflexion", der vorangehende Abschnitt die genuine Handlung der nicht-(teleo)logisch reflektierenden Uk in den Blick gebracht hat. - In unserem Zitat haben wir die Folge von Haupt- und Nebensatz gegenüber der kantischen Formulierung
umgestellt.)
"In der blossen Reflexion (stimmen) Verstand und Einbildungskraft wechselseitig zur Beförderung ihres Geschäftes zusammen, und der Gegenstand wird als zweckmässig, bloss für die Urteilskraft wahrgenommen, wenn die Form eines gegebenen Objektes in der empirischen Anschauung so beschaffen ist, dass die Auffassung des Mannigfaltigen desselben in der Einbildungskraft mit der Darstellung eines Begriffs des Verstandes (unbestimmt welches Begriffs) übereinkommt."9 Folgende Fragen sind zu beantworten: Warum ist die ästhetische eine
"blos-
se" Reflexion? (Dass hier die entscheidende Vorarbeit für die Deutung dieser Qualifikation im Ausdruck "blosse
Auffassung"
eingefordert wird, ist zu ver-
muten.) Wie verhalten sich diese sogenannte "blosse Reflexion" und die
9 Erste Einleitung, p. 201.
102
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
"wechselseitige Zusammenstimmung von Einbildungskraft und Verstand" zu einander? Welches ist die Rolle der Uk in dieser "Uebereinkunft von Einbildungskraft und Verstand"? Und was soll das bedeuten, dass die eben erwähnte "Uebereinkunft" eine Konvenienz von "Auffassung" und "Darstellung" ist? Schliesslich: In welcher Beziehung stehen "blosse Reflexion" bzw. "Zusammenstimmung von Einbildungskraft und Verstand" bzw. "Uebereinkunft und Auffassung des Gegebenen und Darstellung (unbestimmt welches Begriffs)" mit der "Form"? (Dass damit die noch nicht abgeschlossene Frage nach der Form wieder akut wird, ist selbstverständlich; die Frage nach der "Zweckmässigkeit des Gegenstandes für die Urteilskraft" ist aus dem Problemkomplex vorläufig auszuklammern.) - Gelingen in all diesen Fällen Klärungen, dann sind wir zu einer Erläuterung von Kants Deutung der ästhetischen Reflexion in der Lage, d.h. wir sind fähig, den Grundakt der ästhetischen Uk, auf dem das ästhetische Urteil basiert, einer ersten Bestimmung
zu unterziehen.
Es ist zwar nicht zu erwarten, dass dieser Katalog der Reihe nach und Punkt für Punkt abzuhandeln ist, die aufgezählten Probleme sind zu sehr ineinander verzahnt, aber zu beginnen ist immerhin mit der Erklärung des Terms "blosse Reflexion".
b) Die ästhetische Reflexion als "blosses Reflektieren"
Reflektieren, so haben wir es allgemein umschrieben, ist stets Auf-Beqriffe-Bringen eines unmittelbar Vorliegenden. Die reflektierende Uk leistet solches, indem sie zu einem gegebenen Besonderen der Anschauung den es bestimmenden und in die begrifflich schon fixierte Ordnung einfügenden Begriff findet, d.h. wenn sie das Gegebene zu erkennen sucht, indem sie - wie wir wissen: immer in Verein mit Einbildungskraft und Verstand - die erkenntnisstiftende Synthesis von Anschauung und Begriff vollbringt, deren Produkt das objektive, oder wie Kant es oft auch nennt, logische Urteil ist. Um genau zu sein: das ist die Tat der reflektierenden Uk, sofern sie (teleologische ist und sich am Ende in die bestimmende verwandelt. Neben diese Art der Tätigkeit der reflektierenden Uk bringt Kant das Reflektieren der ästhetischen Uk, das ein "blosses" sei, als zweites auf die Szene. Auf der Basis unserer Einsicht in die Parallelisierungsstrategie können wir jetzt feststellen: Soll diese "blosse Reflexion" zu Recht Reflexion heissen dürfen, also im
Die ästhetische Reflexion als "blosses Reflektieren"
103
allgemeinsten Wesenszug mit der (teleo)logischen Reflexion identisch sein, so hat man sie irgendwie als ein Auf-Begriffe-Bringen des Vorliegenden zu denken. Die Differenz
zwischen den zwei Sorten von Reflexion muss dann in
der Weise, wie dies Auf-Begriffe-Beziehen geschieht, ausgemacht werden können. Diesen Unterschied in der Einheit des Reflektierens haben wir nun herauszuarbeiten. Einen Hinweis gibt eine Stelle aus der (ersten) Einleitung, in welcher das "bestimmende" mit dem "bloss reflektierenden" Urteil verglichen wird. Es ist offensichtlich, dass mit dem "bloss reflektierenden Urteil" das Produkt der "blossen Reflexion" und daher auch diese selbst analysiert wird: "Ein jedes bestimmende Urteil ist logisch, weil das Prädikat desselben ein gegebener objektiver Begriff ist. Ein bloss reflektierendes Urteil aber über einen gegebenen einzelnen Gegenstand (ist) ästhetisch, wenn... die Urteilskraft, die keinen Begriff für die gegebene Anschauung bereit hat, die Einbildungskraft (bloss in der Auffassung desselben) mit dem Verstände (in Darstellung eines Begriffes überhaupt) zusammen hält..."i° Die Tätigkeit der reflektierenden Uk, geschieht sie umwillen der besonderen Erkenntnis des Mannigfaltigen der Natur, und richtet sie sich auf den Scopus eines "bestimmenden Urteils", ist in ihrem Reflektieren der gegebenen Anschauungen nicht frei, ihr ist vielmehr je vorgeschrieben, auf welchen Begriff sie das Gegebene zu beziehen hat. Es ist an dies zu denken, was in der Erläuterung der Vermittlerfunktion der Uk an dritter Stelle erkannt worden ist (vgl. oben, D. 31); dass die reflektierende Uk nämlich als der konkret gewordene Vernunftanspruch auf die bestimmte
Erkenntnis des je
Begegnenden zielt, d.h. das Gegebene je unter genau den Begriff zu bringen hat, der es so fixiert, dass es in die bereits erkannte Ordnung der Natur einfügbar wird. Und das bedeutet eben, dass der Uk der zu findende Begriff vom bisher Erkannten, vom Insgesamt der schon gewonnenen Begriffe vorgeprägt ist. So hält sie - in ihrer Funktion als Vermittlerin zwischen Gegebenem und den Zusammensetzungs- resp. Vereinigungsvermögen
Einbildungskraft
und Verstand - den letzteren den "Begriff für die gegebene Anschauung bereit", exakter gesagt: sie gibt ihnen die determinierende Zielbedingung vor, unter der deren konkrete Begriffsarbeit vonstatten geht.
Die Reflexion der Uk, steht sie unter der Absicht auf Erkenntnis, ist ein 10 Erste Einleitung, p. 203/4.
104
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
Auf-iestimmte-und-yorbestimmte-Begriffe-Bringen
und so in der Freiheit der
Suche nach Begriffen eingeschränkt. Unter dieser tischen
Einschränkung
Reflexion
nicht,
bar das, was sie gegenüber
steht nun die reflektierende
und das Freisein der
von dieser
(teleo)logischen
Uk in der
Determinante
Reflexion
ästhe-
ist
offen-
auszeichnet:
"Ein bloss reflektierendes Urteil ... (ist) ästhetisch, wenn ... die Urteilskraft, ... keinen Begriff fur die gegebene Anschauung bereit hat ..." Dies Nicht-bereit-Haben ist kein Manko, sondern die spezifische Freiheit der Uk als ästhetischer, die sie in ihrer Vermittlerfunktion - die ihr natürlich auch in der ästhetischen Reflexion zukommt - dazu ermächtigt, den mit der Perzeption des Gegebenen befassten Einbildungskraft und Verstand einen Spielraum in der Auffindung anwendbarer Begriffsbilder zu stiften, der keinen Fluchtpunkt in der Absicht auf den vorbestimmt - bestimmten
Erkenntnisbegriff
hat. Was der Ausdruck "blosses Reflektieren" / "blosse Reflexion" meint, wird nun verständlich. Blosses Reflektieren ist reines Reflektieren, d.h. ein Vollzug der Erkenntniskräfte, der nicht von der Option auf theoretische Erkenntnis des Seienden regiert ist, ein Vollzug, der sich daher weder in das objektive, das Gegebene mittels (vor) bestimmter Begriffe zum bestimmten Objekt bestimmende Urteil verfestigen muss, noch unter die Kuratel
sy-
stematisch-rationaler Durchdringung des Empirischen gestellt ist. "Blosses Reflektieren" bleibt
reines Reflektieren, d.h. fortgesetztes Kooperieren von
Einbildungskraft und Verstand in bezug auf ein Gegebenes, weil es in der durch die ästhetische Uk vermittelten Freiheit vom Erkenntniszwang nie ein Bestimmen wird, sondern nur das reine Aufzeigen von möglichen Begriffen für die gegebene Vorstellung ist; ein Aufzeigen das, weil ja jede Absicht auf bestimmte Begriffe fehlt, bei keinem gefundenen Begriff an ein Ende, d.h. zu einer Fest-stellung, kommt, sondern flüssig bleibt, so lange sich die gegebene Anschauung als sinnliches Bild weiterer Begriffe herausstellen lässt. Auf dem Hintergrund dieser Erläuterung wird deutlich, was Kant sagen will, wenn er in der - oben, p. 102, zitierten - Stelle aus der ersten Einleitung den Grundakt der ästhetischen Uk als blosse Reflexion 1 1
und näherhin als eine
11 Zum Ausdruck "blosse Reflexion" vgl. a. KdU, Einleitung, p. XLV, p. XLVI.
Aesthetische Reflexion, Versuch einer Vergegenwärtiqung
105
von keiner Absicht auf bestimmte Begriffsdarstellung geleitete Uebereinkunft von Einbildungskraft und Verstand vorstellt: "So stimmen in der blossen Reflexion Verstand und Einbildungskraft wechselseitig zur Beförderung ihres Geschäftes (dem Vereinigen des Gegebenen im Begriff. Anm. GK) überein, wenn die Form eines gegebenen Objekts in der empirischen Anschauung so beschaffen ist, dass die Auffassung des Mannigfaltigen desselben in der Einbildungskraft mit der Darstellung eines Begriffs des Verstandes, welches
Begriffs,
unbestimmt
übereinkommt." - Die ästhetische qua reine Reflexion ist
eine Aktivität freien, nicht-theoretischen Auf-Begriffe-Bringens.
c) Aesthetische Reflexion, Versuch einer Vergegenwärtigung Bevor wir uns auf die für die Kdll zentrale Formulierung einlassen möchten, in der Kant die ästhetische Reflexion präsentiert, nämlich auf das "Spiel von Einbildungskraft und Verstand", soll der - wiewohl sehr provisorische - Versuch gemacht werden, einen Durchblick auf die gemeinte Sache selbst zu gewinnen. Wir sagten schon früher (und wir werden darauf zurückkommen), phänomenologische Deskriptionen seien der Kdll durchaus nicht fremd. Es scheint uns deshalb legitim, auch die scheinbar unanschaulichsten Begriffskonfigurationen der kantischen Aesthetik auf das konkrete Ereignis hin durchsichtig zu machen, das sie umkreisen: die Erfahrung des Schönen. Wir sagen von etwas, was wir "schön" heissen, von einem abstrakten Gemälde zum Beispiel, obwohl es unmittelbar nichts abbildet: "Es drückt etwas aus", "stellt etwas vor - Freude oder Kraft oder Schwermut". Oder: die Anordnung seiner Farben und Figurenformen, das Verhältnis seiner Teile "zeigt" Harmonie. Oder: Der Ton eines lyrischen Gedichtes "sagt uns etwas", "stimmt uns in etwas ein" (z.B. wird in "Wanderers Nachlied" das von den Worten Bedeutete auch im blossen Rhythmus der sprachlichen Verlautung selbst offenbar). Wir sagen also, wenn etwas als Schönes gefällt: "Dies spricht uns an", "Ich spüre seinen Anspruch". Das gilt vom Naturschönen - obwohl sein Anspruch 12 im Gegensatz zu dem des Kunstwerkes kaum zu artikulieren ist
- nicht weni-
ger als vom Kunstschönen. Wenn wir diesem Anspruch nun nachgehen, machen wir die Erfahrung, dass das uns zunächst nur in seinem unmittelbaren Vorliegen Angehende tatsäch-
106
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen
Urteilskraft
lieh "etwas bedeutet", dass wir "etwas mit ihm anfangen können", d.h. also: dass es sich irgendwie
auf Begriffe
bringen
lässt.
Und eben das ist es, was
Kant unter dem Titel des "freien oder blossen Reflektierens" der ästhetischen Uk, im Gedanken eines reinen, vom Objektivitätsdruck Auf-Begriffe-Beziehens,
abgekuppelten
intendiert.
Beleg für diese Deutung bieten die Marginaltexte der Kdll eher als die Kerntexte; nur in den ersteren äussert sich Kant sozusagen unbeschwert, mithin anschaulich. Beispielsweise in der "Allgemeinen Anmerkung zur Exposition der ästhetischen reflektierenden Urteile": "Das Schöne erfordert ... die Vorstellung einer gewissen Qualität des Objekts, die sich auch verständlich machen und auf Begriffe bringen lässt ..." Dass das "blosse Reflektieren" von Kant als ein Auf-Begriffe-Bringen der jeweiligen Anschauung aufgefasst wird, "so dass ich dadurch die einzelne, leicht für mich fassliche Anschauung als Bild für vielerlei mögliche Begriffe betrachten kann, ohne dass sie einen bestimmten Begriff darstellte" (so umschreibt Düsing, op. cit. p. 81, die ästhetische Reflexion), erhellt auch das folgende Zitat: "Um etwas gut zu finden, muss ich jederzeit wissen, was der Gegenstand für ein Ding sein solle, d.i. einen Begriff von demselben haben. Um Schönheit woran zu finden, habe ich das nicht nötig: Blumen, freie Zeichnungen, ohne Absicht ineinander geschlungene Züge, unter dem Namen des Laubwerks bedeuten nichts, hängen von keinem bestimmten Begriffe ab und gefallen doch. Das Wohlgefallen am Schönen muss von der Reflexion über einen Gegenstand, die zu irgendeinem Begriffe (unbestimmt welchem) führt, abhängen und unterscheidet sich dadurch ... vom Angenehmen ...''13 Freilich: Die Begriffe, die gefunden werden, fixieren das Vorliegende nicht - wir können niemals behaupten oder objektiv beweisen wollen, dass
12 vgl. Th. W. Adorno, Aesthetische Theorie: "Jenes 'Oh wie schön', das nach einem Vers Hebbels 'die Feier der Natur' stört, ist der gespannten Konzentration im Angesicht von Kunstwerken gemäss, nicht der Natur ... Wer vom Naturschönen redet, begibt sich an den Rand der Afterpoesie.... Nach dem Kanon allgemeiner Begriffe ist es aber darum unbestimmbar, weil sein eigener Begriff seine Substanz hat in dem der Allgemeinbegrifflichkeit sich Entziehenden... Als Unbestimmtes, antithetisch zu den Bestimmungen, ist das Naturschöne unbestimmbar, darin der Musik verwandt, die aus solcher ungegenständlichen Aehnlichkeit mit Natur in Schubert die tiefsten Wirkungen zog. Wie in Musik, blitzt, was schön ist, an der Natur auf, um sogleich zu verschwinden vor dem Versuch, es dingfest zu machen." (zit. nach: Aesthetische Theorie, suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 2, Frankfurt, 1970, p. 108ff.) 13 KdU, § 4, p. 10/11.
Spiel von Einbildungskraft und Verstand
107
die abstrakte Form ein bestimmtes Bild einer bestimmten Sache ist. Die Reflexion bleibt (blosse) Reflexion. Die gefundenen Begriffe sind nie bestimmend, sie weisen vielmehr auf das unmittelbar Gegebene zurück, so dass wir uns zu ihm als einem immer wieder neu zu Bestimmenden zurückwenden, um andere Möglichkeiten der Versinnlichung ("Darstellung") von Begriffen an und mit ihm zu entdecken. Und dies hin und her, dies Spiel im Auffassen des Gegebenen und seinem Bezug auf einen möglichen Begriff, ein Spiel der Einbildungskraft und des Verstandes mithin, findet keine Grenze an einer Absicht, 14
dem Gegebenen eine bestimmte Bestimmtheit aufzuweisen
; die Synthesis zwi-
schen Anschauung und Begriff kann, weil es das Gegebene zulässt, un-endlich sein, wir sagen: "Das Schöne ist unausschöpfbar". d) Spiel von Einbildungskraft und Verstand Mit den Erwägungen des letzten Abschnitts haben wir uns der Formel genähert, die Kants einprägsamste Kennzeichnung der ästhetischen Reflexion geworden ist. Das reine Reflektieren ist "Spiel" bzw. die "harmonische Zusammenstimmung" oder die "freie und doch gesetzliche Uebereinkunft" von Einbildungskraft und Verstand. Diese verschiedenen Varianten kantischer Umschreibung der ästhetisch relevanten Kooperation von Einbildungskraft und Verstand streng voneinander zu sondern und alle eingehend zu analysieren, ist nicht unsere Absicht. Sie haben insgesamt ihr Zentrum im Diktum vom "Spiel" (das im übrigen oft auch als das "Spiel der Erkenntnisvermögen" oder "der Urteilskraft" auftaucht), sind also Nuancierungen einer identischen Sache. Ist diese einmal als solche zu Gesicht gelangt, ist der besondere Gehalt der diversen Ausdrücke, in denen sie von Kant präsentiert wird, meist rasch
14 Da hier das Zusammenwirken von Einbildungskraft und Verstand keine Grenze findet, sondern die Uk sie frei und immer wieder ans Werk gehen lässt, realisiert sich im Vollzug ihres Spiels eine Uebereinstimmung und K o n v e nienz der Einbildungskraft und des Verstandes, die Kant als eine der "Vermögen selbst" bezeichnen kann, insofern Einbildungskraft und Verstand im freien Reflektieren alle in ihnen enthaltenen Möglichkeiten der V e r sinnlichung von Begriffen oder der Vereinigung des Gegebenen im Begriff zur Geltung bringen dürfen und nicht nur im einzelnen Fall einer V e r e i n i gung der Anschauung in einem Begriff ineins k o m m e n müssen; vgl. KdU, § 35, p. 146.
108
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft 15
erkannt.
- Trotzdem, eine Beschäftigung mit dem Begriff des "Spiels von
Einbildungskraft und Verstand" ist so schnell nicht abzuschliessen: zu sehr ist er mit der Mehrschichtigkeit und inneren Problematik der KdU verquickt. Das folgende ist daher nicht mehr als ein Einstieg. Die ästhetische Reflexion, das reine Reflektieren der Urteilskraft das "Spiel" von Einbildungskraft
und Verstand.
sei
Dass, was zuerst als die
Tat der (reflektierenden) Uk angesprochen wird, zugleich ein gemeinsamer Vollzug anderer Erkenntniskräfte (eben des Verstandes und der Einbildungskraft) sein soll, ist dem selbstverständlich, der die Kritik der ästhetischen (reflektierenden) Uk von der (teleo)logischen herkommend und im Begriffsfeld der Erkenntnistheorie betreibt. Reflektieren, das lässt sich am Beispiel des Vorgangs empirischer Begriffsbildung resp. der Herstellung und Bildung des begriffenen Empirischen (des Prozesses der in Erkenntnisfunktion agierenden Uk) studieren, ist allemal ein Zusammenwirken verschiedener Momente, die bei Kant insgesamt unter die Rubrik
"Erkenntnisvermögen"
gehören. Wir haben diese systematischen Interdependenzen, die zwischen der reflektierenden Uk, dem Verstand und der Einbildungskraft (und der Vernunft) bestehen, oben p. 20ff, im einzelnen vorgestellt. Auf der Folie der bewusst gewordenen Paral 1 el isierungsstrategie ist es also nicht überraschend, sondern konsequent, dass der Versuch, die Struktur ästhetischen Reflektierens exakter zu artikulieren, in die Untersuchung und Bestimmung des Vollzugszusammenhanges von Einbildungskraft und Verstand mündet.
Unerwartet ist höchstens, dass an vielen Stellen, wo irgendwie vom "Spiel", der "Harmonie", "freien Uebereinkunft" von Einbildungskraft und Verstand die Rede ist, der Name der Uk so selten erscheint. Warum dies Zurücktreten? Unbestritten ist: die ästhetische Reflexion, die zunächst als ein freies Auf-Begriffe-Bringen im Gegensatz zum bestimmten Auf-Begriffe-Bringen der auf Erkenntnis gerichteten Reflexion bezeichnet werden kann, muss, wie jedes AufBegriffe-Bringen des Mannigfaltigen, ein Ineinswirken von Einbildungskraft, Verstand und Uk sein. Dabei vermittelt,
wie wir wissen, die Uk durah
ihr
15 Die Studie, die akribisch die Modifikationen der kantischen Formel vom "Spiel zwischen Einbildungskraft und Verstand" verfolgt und hierzu auch Interpretationsarbeit leistet, ist: A.H. Trebels, Einbildungskraft und Spiel, Bonn, 1967.
Spiel von Einbildunqskraft und Verstand
109
Prinzip der Einbildungskraft und dem Verstand erstens die grundsätzliche Möglichkeit ihrer Zusammenarbeit, zweitens bringt sie diese in Gang und drittens legt sie den Rahmen fest, innerhalb dessen sich Einbildungskraft und Verstand zu begegnen haben (dessen Grenzen qua Bestimmung des Spielraums ästhetischen Reflektierens bislang allerdings noch nicht ausdrücklich genannt worden sind, vgl. dazu unten ρ.112, Anm. 19). Wenn aber nun die Besonderheit der ästhetischen Reflexion in ihrem Vollzug - und nicht in ihrer Ermöglichung, die (vom Subjekt her gesehen) in der Freiheit der Uk von der Absicht auf Erkenntnis gründet - erfasst werden soll, dann muss die Funktion der Urteilskraft zurücktreten und die besondere Weise der Begegnung von Einbildunqskraft und Verstand zum Vorschein gebracht werden. Es ist klar, dass diese Begegnung in irgendeiner Form ein Konvenieren sein muss, ein Ineinanderwirken der Funktionen des auffassenden In-einBild-Zusammensetzens
(= Einbildungskraft) und des
In-ein-Bild-Vereinens
(= Verstand) des gegebenen Mannigfaltigen. Die Weise, wie das in dem von den Imperativen der Erkenntnisgewinnung entlasteten Rahmen qeschieht, charakterisiert Kant als "Spiel": Das Kooperieren von Einbildunqskraft und Verstand bei einer gegebenen Vorstellung ist "ein freies Spiel, weil kein bestimmter (= von Erkenntnisabsicht vorgeschriebener. GK) Begriff sie (= die Erkenntniskräfte, also Einbildungskraft und Verstand. GK) auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt."^ Sinn und Berechtigung des Ausdrucks "Spiel" sind damit gewiss erst äusserst vage dargetan, und wir werden uns mit der durch ihn eingeführten Kennzeichnung der ästhetischen Reflexion ausführlicher befassen müssen, doch schon die knappe Vergegenwärtigung der Erfahrung des Schönen (vgl. oben (c)) sollten den ihm innewohnenden, phänomenologisch plausiblen Gehalt wenigstens angedeutet haben.
e) Die Bedingtheit der ästhetischen Reflexion
Etwas Wichtiges ist jetzt ins Licht zu heben: Die ästhetische Reflexion, das von der freien Uk inaugurierte freie Spiel der Erkenntniskräfte, basiert
16 KdU, § 9, p. 28.
110
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
auf einer fundamentalen V o r a u s s e t z u n g . ^ Von der Uk-liberhaupt (und deshalb auch von der ästhetischen Uk) sagt Kant: "... in Ansehung einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, gebraucht, erfordert (sie) zweier Vorstellungskräfte Zusammenstimmung: nämlich der Einbildungskraft und des Verstandes."18 Die Leistung der Uk, das Auf-Begriffe-Beziehen, verwirklicht sich im Zusammenspiel der Finbildungskraft und des Verstandes. Die Möglichkeit cher Uebereinkunft
ist jedoch
kontingent,
sol-
das Zusammenspiel steht a priori
im Horizont all fäll igen Scheiterns. Denn ob es am/beim je gerade Gegebenen faktisch stattfinden kann, ist nie von vornherein gewiss. Deshalb sagt Kant, dass die Uk die ihre Wirklichkeit ausmachende Konvenienz der Erkenntniskräfte "fordert",
mithin notwendigerweise braucht, nicht aber, dass sie sie
selbsttätig setzt. Denkbar wäre ja (cf. oben, p.
), dass die für die Zu-
sammensetzung in Vorschlag gebrachten Vor-Bilder der Mannigfaltigkeit des Vorkommenden grundsätzlich inadäquat sind, dass sich also das Mannigfaltige nicht
in ein nach dem allgemeinen Vor-Bild eines Begriffs bestimmtes
Bild, d.h. in gar kein Bild bringen lässt. Einbildungskraft und Verstand könnten dann
in ihrer Funktion nicht zusammenfinden, die Verwirklichung
des Vermögens der Urteilskraft wäre somit illusorisch. Kurz: Die Möglichkeit jeder Reflexion, die der "freien" wie die der "bestimmten", ist davon abhängig, dass das je Gegebene die Einheit von Einbildungskraft und Verstand zulässt. Dass wir damit nichts anderes als die Bedingung der Zweckmässigkeit der Natur, d.h. die im transzendentalen Prinzip der reflektierenden Uk präsumierte Bestimmtheit des Empirischen angesprochen haben, ist klar.
17 Trebels (op. cit. p. 226) erklärt: "In der Kritik der reinen Vernunft ist die Spontaneität des Ich-denke konstitutiv für die objektive Realität, in der Kritik der praktischen Vernunft ist sie konstitutiv für den kategorischen Imperativ, in der Kritik der Urteilskraft ist sie konstitutiv für das Schöne." Dass die KdU die Spontaneität des Ich-denke gerade nicht so bestimmungsmächtig und konstitutionsstark wie die KpV und die KrdrV zeichnen kann, ist dagegen unsere Meinung, die wir v.a. auf den jetzt zu erläuternden Tatbestand abstützen; vgl. dazu a. Bartuschats Analyse der Leistungen der ästhetischen Uk (op. cit.). Β. insistiert auf demselben Tatbestand wie wir. 18 KdU, § 35, p. 145.
Die Bedingtheit der ästhetischen Reflexion
in
Was auf den ersten Blick ganz einfach scheint, ist allerdings komplex; das Verhältnis zwischen dem transzendentalen Prinzip der Uk und der ästhetischen Reflexion ist einerseits in sich mehrstufig, und andererseits argumentiert die Kdll gerade in der Behandlung dieses Punktes so unscharf, dass sie sich in Widersprüche
verwickelt.
Darum ist schon jetzt, im Anfangs-
stadium unserer Analyse der ästhetischen Uk, eine erste Präzisierung angebracht: Die Bedingung der Angemessenheit des Gegebenen und damit der Entwurf des transzendentalen Prinzips muss sich im Funktionsfeld der ästhetischen und im Funktionsfeld der (teleo)logischen Uk je verschieden
präsen-
tieren, denn während für die letztere die Möglichkeit der Uebereinstimmung von Einbildungskraft und Verstand in der Herausstellung eines je bestimmten Begriffs für die gegebene Vorstellung nötig ist, braucht die erstere eben bloss die Möglichkeit der Uebereinstimmung der Einbildungskraft und des Verstandes zu ihrem freien Spiel, d.h. zu einem von keiner besonderen Erkenntnisabsicht bestimmten Auf-Begriffe-Bringen. Das transzendentale Prinzip der Uk g|bt es daher in unterschiedlicher Gestalt. Das wird sich im nächsten Abschnitt bestätigen, in welchem die der ästhetischen Reflexion eigene Hinsicht,
unter der sie aufs Gegebene Bezug nimmt,
mit Hilfe der Thematisierung des Gegensatzes zwischen ästhetischer und (teleo)logischer Uk charakterisiert werden soll.(Das transzendentale Prinzip ist durchaus als die grund-legende Hinsicht der Reflexion zu begreifen.)
f) Das ästhetische Reflektieren - reflexiv gefasst
Auf etwas Bezug nehmen kann das Reflektieren nur im Lichte einer Hinsicht. Wie ist die für die ästhetische Reflexion signifikante Perspektive zu umschreiben? Die ästhetische Reflexion haben wir als freies Auf-Begriffe-Bringen gekennzeichnet. Die wesentliche Freiheit ist bisher als Ledigsein von der bestimmten Hinsicht, von der her und auf die hin die gegebene Vorstellung im Rahmen der (teleo)-logischen Uk reflektiert wird, bestimmt worden. Das Freisein von dieser bestimmten Hinsicht verschafft der Einbildungskraft und dem Verstand den Spielraum, sich in ihrem ganzen Vermögen mit all ihren Möglich-
112
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen
Urteilskraft
keiten der Zusammenfassung und Vereinigung am Gegebenen zu erproben. Die Hinsicht, unter der das ästhetische Auf-Begriffe-Bringen geschieht, ist somit - im Gegensatz zur ( t e l e o l o g i s c h e n Uk - nur noch die, ob sich die überhaupt
auf
("unbestimmt
welche")
Begriffe
ge-
gebene
Vorstellung
lässt,
ob sie überhaupt dem allgemeinen Können der reflektierenden Uk an-
beziehen
gemessen ist. - Die Ueberlegung scheint zwingend, und wir werden sogleich auf Aussagen stossen, die ihre Präsenz in der KdU beweisen, und dennoch signalisiert sie eine für die kantische Aesthetik fatale Weichenstellung. In ihr äussert sich nämlich die von der Parallelisierungsstrategie
indu-
zierte Tendenz zur Nivellierung des Unterschieds zwischen ästhetischer Uk und (reflektierender) Uk-überhaupt, deren Folge abstrakte und bloss negatorische Festlegungen sind, die die Realität der ästhetischen Erfahrung unterbestimmen.
(Vgl. unten § 20 und vor allem Kapitel VI, A; die jetzt
versuchte Erläuterung der Hinsicht ästhetischen Reflektierens wird später, auf dem Hintergrund der in der KdU - auch - wirksamen
phänomenologischen
Betrachtungsweise, sich anders darstellen.) Vorläufig freilich ist an der vorgeschlagenen Erklärung festzuhalten, da durch sie der Sinn einer bislang noch nicht behandelten kantischen Charakterisierung des Grundaktes der ästhetischen Uk erschlossen werden kann, die schon in unserem ersten Kerntext aufgetaucht ist.
19
Die prinzipielle Hinsicht, die den Sachbezug der ästhetischen Uk ermöglicht und leitet (und damit die Erwartung, die die letztere gegenüber dem ihr Vorkommenden hegt), lässt sich also zur abstrakten Frage kondensieren, ob das Gegebene von solcher Bestimmtheit ist, dass sich an ihm und durch es das Zusamnenspiel der Erkenntniskräfte überhaupt, d.h. irgendwie, vollbringen kann, eine Frage, die - sozusagen reflexiv, im Rückbezug auf die Erkenntniskräfte gefasst - bedeutet, dass in der ästhetischen Reflexion die
19 Nachtragsweise sei schliesslich vermerkt, dass die vorgeschlagene Erläuterung der Hinsicht ästhetischen Reflektierens nicht allein zum Verständnis einer schwierigen Stelle des ersten Kerntextes beiträgt, sondern auch jene - in d) vermisste - Umgrenzung des Spielraums gestattet, den die Uk ihren Momenten Einbildungskraft und Verstand vermittelt. Der Raum möglicher Uebereinkunft zwischen Einbildungskraft und Verstand, den die ästhetische Uk eröffnet, ist der denkbar weiteste - ihn beschränkt nur mehr die Hinsicht, ob das Gegebene überhaupt/irgendeine Konvenienz zulässt.
Das ästhetische Reflektieren - reflexiv gefasst reflektierende
Uk sich selbst,
ihr Potential an Uberhaupt möglicher Be-
griffsfindung, mit dem ihr gegenwärtigen Gegenstand der Anschauung gleicht.
113
ver-
In reflexiver Wendung betrachtet ist die ästhetische Reflexion
als ein 'vergleichendes Zusammenhalten des Gegebenen mit dem Vermögen des Erkenntnisvermögens selbst' zu charakterisieren - mit Hilfe dieser Formel ist zunächst unsere Vermutung zu belegen, dass Kant in jener früher von uns nur halb interpretierten Definition von "Reflektieren" (vgl. oben, p. 35) tatsächlich das spezielle Tun der ästhetischen
Uk im Blick hat: "Reflektie-
ren (Ueberlegen) aber ist: gegebene Vorstellungen ... mit seinem Erkenntnisvermögen, in Beziehung auf einen dadurch möglichen Begriff zu vergleichen ..." 2 0 Geht man von hier aus noch einen Schritt weiter, indem man den Satz aus der Definition so umformt, dass erstens der Ausdruck
"Erkenntnisvermögen"
durch 'das Vermögen der reflektierenden Uk (Anschauungen auf Begriffe zu beziehen) 1 ersetzt und zweitens die Hinsicht, unter der das erkenntnisentlastete, freie Tun der ästhetischen Uk gemäss der obigen Erläuterung genannt wird, dann erhält man folgenden Satz: 'Reflektieren ist: gegebene Vorstellungen mit dem Vermögen der reflektierenden Urteilskraft selbst hinsichtlich der Möglichkeit, das Gegebene überhaupt auf Begriffe zu beziehen, zu vergleichen.' Ueberblendet man nun aufs eben Gewonnene die Aussage aus dem Satz 2 unseres ersten Kerntextes, wonach bei der Auffassung gegebener Formen die reflektierende Urteilskraft mindestens so anwesend sein müsse, dass sie diese (= die "Formen") "mit ihrem Vermögen, Anschauungen griffe zu beziehen,
verglichedann
auf Be-
wird klar, dass Kant mit dieser For-
mulierung nichts anderes als die reflektierende Uk im Vollzug ästhetischer Reflexion meinen kann, also den - reflexiv gefassten - Grundakt freien AufBegriffe-Bringens. Diese Einsicht gilt es zugunsten der noch zu erarbeitenden Interpretation des ganzen Satzes 2 im Gedächtnis zu behalten.
20 Erste Einleitung, p. 192.
114
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
§ 18 Was meint "Form"? (Zweiter Teil)
Der allgemeinste Sinn von "Form" sei dieser: Form ist das Korrelat der nicht-absoluten, endlichen Reflexion. Sie ist zwar vor-gegebene, vom Subjekt nicht eigenmächtig gesetzte, auf transzendentale Konstitution nicht zurückzuführende Bestimmtheit, vermag aber nur vermittelst der Akte der Reflexion zur Erscheinung zu gelangen, d.h. (für uns) zu sein. Diese Bedeutung von "Form" ist aus der Weise, wie das Wort von Kant in der Dimension der (teleo)logischen Uk gebraucht wird, zu erschliessen. Weil Form allein im Medium der Reflexion sich zeigt, und weil - jedenfalls im Horizont der die reflektierende Uk in zwei Arten scheidenden KdU - verschiedene Sorten des Reflektierens zu unterscheiden sind, ist Form als Korrelat (teleo)logischer Begriffsarbeit und Form als Korrelat ästhetischer Auffassung von grundsätzlich je anderer Struktur. (Oder: Je anderes wird als die "Form des Gegenstandes" zum Vorschein kommen, je nachdem, ob sich auf ihn ästhetisches oder (teleo)logisches Reflektieren bezieht.) So wenigstens darf man erwarten, und wir haben deshalb prospektiv die Termini
"ästheti-
sche" und "objektive Form" eingeführt. Eine Bewährung dieser Erwartung ist allerdings erst möglich, wenn es gelingt, die ästhetische Reflexion als solche zu erhellen, und hierin ist unsere Untersuchung zu einem - wenngleich provisorischen - Ergebnis vorgedrungen. Was jetzt ansteht, ist daher erstens die Ueberprüfung unserer allgemeinen Thesen zum Begriff "Form" am Beispiel des Verhältnis' Form - ästhetische Uk (a), zweitens die Frage nach der besonderen Charakteristik der ästhetischen
Form (b).
a) Form als eigenständige Bestimmtheit
Dass "Form" im Bereich der ästhetischen Uk prinzipiell dasselbe meint, wie in der Sphäre der (teleologischen, ist leicht zu belegen. Wir haben gesehen, dass das ästhetische Reflektieren (wie jedes Tun der reflektierenden Uk-überhaupt) abhängig, bedingt ist, nämlich von der eigenständigen Bestimmtheit des jeweils Gegebenen: Es ist die der ästhetischen
Form als eigenständige Uk vorkommende Sache,
Bestimmtheit
115
die die Uebereinkunft von Einbildungskraft und Ver-
stand ermöglicht. Diese Bestimmtheit der Sache (vgl. "Die Erkenntniskräfte, 21 die durah
diese
Vorstellung
ins Spiel gesetzt
werden
..."
), die die "pro-
portionierte Stimmung" des "Spiels von Einbildungskraft und Verstand" in der blossen Reflexion zu realisieren erlaubt, nennt Kant ausdrücklich "Form": "(Die schönen Dinge sind Gegebenheiten,) die als ob sie ganz eigentlich für unsere Urteilskraft angelegt wären, solche spezifische ihr (= der Uk) angemessene Formen enthalten, welche ... gleichsam die Gemütskräfte zu stärken und zu unterhalten dienen."22 "Form" bezeichnet auch hier diejenige vor-gegebene Bestimmtheit, die als Gegenüber der (ästhetischen) Reflexion namhaft wird. Und als Gegenüber der Reflexion ist sie nicht auf den puren geometrisch fixierbaren Umriss zu reduzieren, sondern sie ist auch in der Perspektive der ästhetischen Uk je das, was die im "Spiel" wahrzunehmenden Möglichkeiten (nicht objektiver) begrifflicher Vereinigung stiftet, und so das Insgesamt Spiegel
der Reflexion
manifest
werden
dessen,
was überhaupt
im
kann.
Wenn die Form auch des Gegenstandes der ästhetischen Uk als ein Vorgegebenes zu betrachten ist, das geradezu als ein Bedingungsmoment des "Spiels" zu behaupten ist, dann ist klar, dass das ästhetische Urteil - welches ja den Vollzug der freien Reflexion zur Basis hat - trotz seiner Nicht-Objektivität einen Objektbezug voraussetzt. Es kommt ja nur aufgrund einer Konvenienz der Erkenntniskräfte zustande, die selber wiederum nur sein kann, wenn sie die Konvenienz zwischen den Erkenntnisvermögen und der Form der gegebenen Sache ist. Die v.a. von Gadamer (im Anschluss an Hegel) unterstrichene Feststellung23 ) Kant habe die Aesthetik "subjektiviert", kann jedenfalls nicht heissen, er habe die Erfahrung des Schönen zur blossen Selbsterfahrung des Subjekts gemacht, in der keinerlei Entdeckung der Bestimmtheit der Sache sei, von der "-ist schön" ausgesagt werde. Gewiss, Kant expliziert diese Erfahrung des Sachcharakters der ästhetischen (= schönen) Form, also die Erfahrung dessen, was die Schönheit von etwas ausmacht, in Begriffen der Gemütstätigkeit und Zuständlichkeit (= Uebereinstimmung der Erkenntniskräfte bzw. Gefühl / Lust), aber das kann niemals bedeuten, dass Kant das Schön-Sein in ein blosses Sich-selbst-Fühlen des Subjekts ummünzt und die Eigenständigkeit dessen, was dem Subjekt begegnet, von des letzteren Immanenzsphäre sozusagen aufsaugen lässt. Das alles zu unterstellen ist unmöglich, hält man sich nur deutlich genug den einfachen Tatbestand vor Augen, der die KdU insgeheim - sofern sie die Un-
21 KdU, § 9, p. 28. 22 KdU, § 61, p. 267. 23 vgl. Gadamer, WuM, p. 40 u. p. 56; vgl. a. unten: den Exkurs zur "Subjektivierungsthese", p. 369ff.
116
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
tersuchung der reflektierenden, d.h. endlichen Uk ist - regiert 2 ^ , dass nämlich Reflektieren (und d.h. ebenso ästhetisches Reflektieren) allein geschehen kann, wenn und weil die gegebene Sache dazu "Hand bietet". - Diesen Sachverhalt darf man sich gerade durch die in der "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" unzweifelhaft systematisch durchgeführte Rückwendung auf die Akte der Subjektivität nicht verdecken lassen. Welches ist aber der gute Sinn dieser Rückwendung? Hierzu wird im Lauf dieser Arbeit einiges gesagt werden, so dass wir uns vorerst mit einer knappen Andeutung begnügen: Nur in und mittels der Rückwendung auf die Akte der Subjektivität beim Vollzug der Erfahrung des Schönen vermag Kant gerade die Objektivität des Schönen und der es erschliessenden Begegnung, d.h. deren transsubjektive Identität und Verbindlichkeit, zu erfassen.
b) Zur ästhetischen Form
Als ästhetische Form bezeichnen wir das spezifische
Korrelat der ästhe-
tischen Reflexion. Dass "Form" in der Perspektive der (teleo)logischen und in derjenigen der ästhetischen Reflexion nicht einfach dasselbe bedeuten kann, folgt aus dem Gedanken der wechselseitigen Zusammengehörigkeit
Abhängigkeit
und
inneren
von Form-überhaupt und Reflexion-überhaupt: So, wie Re-
flektieren nur stattfindet, wo ihm die gegebene Form (oder Form des Gegebenen) Anhalt verschafft, so wird Form nur sichtbar, wo sie von Reflexion ent-deckt wird. Da nun verschiedene Weisen von Reflexion auszumachen sind, und Reflexion das Worin und Wodurch des Erscheinens von Form ist, kommt auch je Verschiedenes als Form zum Vorschein; die der ästhetischen Uk auffällige Form muss sich durch grundsätzlich andere Züge auszeichnen als die der (teleo)logischen Uk korrespondierende Bestimmtheit. Wie aber ist dieser besondere Charakter der ästhetischen Form zu definieren? - Vorweg ist klar, was die ästhetische Form nicht
ist: ein Insgesamt objektiver
Eigenschaften.
Denn das letztere ist jene Bestimmtheit des Empirischen, die der
(teleolo-
gischen Uk zugehört, welche auf das ihr jeweils Vorliegende hinsichtlich dessen Einfügbarkeit ins Netzwerk objektiver, d.h. eindeutiger Bestimmung verpflichteter Begriffe Bezug nimmt; objektive Form ist das, was durch die
Z4 Es ist in jüngster Zeit W. Bartuschat gewesen, der die KdU unter diesem Gesichtspunkt des von ihr zu bewältigenden Grundproblems einer gegenüber aller apriorischen Synthesis vorgelagerten Vorgegebenheit interpretiert hat; vgl. z.B. p. 91, in: Zum systematischen Ort ...; wenn wir B. auch in einigen Einzelanalysen nicht zustimmen, so doch darin, dass Kants Theorie des Schönen nie ausserhalb des Horizonts dieses Grundproblems zu erörtern ist.
Zur ästhetischen Form
117
unter Erkenntnisabsicht stehende Reflexionstätigkeit herausgebracht wird. Nicht solches ist daher die ästhetische Form, die gerade in derjenigen Reflexion erscheint, die frei ist vom Anspruch auf bestimmte Erkenntnis. Mehr als diese negative Beschreibung ist dem, was wir bislang über das Tun der ästhetischen Uk erfahren haben, nicht zu entnehmen (wobei - das sei noch einmal betont - die nicht-objektive Form nie etwas "bloss Subjektives", vom jeweiligen Subjekt gleichsam Eingebildetes ist, denn sie ist eben Form und qua Form etwas Eigenständiges, ein Sachcharakter durchaus). Bessere Einsicht ins Wesen der ästhetischen Form wird erst dann zu gewinnen sein, wenn wir auf jene kantischen Qualifizierungen stossen, die den Charakter des Schönen genauer zu artikulieren suchen - erstens jene berühmte Feststellung, wonach die Schönheit die Form des Gegebenen ist, die als "Zweckmässigkeit-ohne-Zweck" zu bezeichnen ist, und zweitens das Konzept der "ästhetischen Idee". Mit diesen Begriffen liefert die KdU Angaben, die ein positives Verständnis der ästhetischen Form gestatten werden. Der erste Schritt in diese Richtung wird im übernächsten §en zu vollziehen sein. Und trotz der Vagheit des bislang Erreichten, haben wir den zentralen Gesichtspunkt, unter dem die dort zu leistende Arbeit stehen wird, schon jetzt gefunden: Der Erscheinungsort der ästhetischen Form ist die ästhetische Reflexion; die Beschaffenheit der ersteren muss in der Eigentümlichkeit der letzteren sich irgendwie darstellen. Ergo: Sowohl um die (auf den ersten Blick noch abstrakten) kantischen Bestimmungen der schönen Form, also die kantischen Bestimmungen dessen, was Schönheit ist, zu verstehen, als auch um ihre Phänomengerechtigkeit zu überprüfen, sind wir darauf angewiesen, das Wesen der ästhetischen
Form vom Wesen der ästhetischen
Reflexion
zu denken. Allgemein gesagt: nur in der Vergegenwärtigung der 25
her
Erfahrung
des Schönen wird das Wesen des Schönen selbst gegenwärtig.
Unser Ausdruck "ästhetische Form" ist kein Terminus der KdU; er ist eingeführt worden, um einer Vermengung der differenten Sachverhalte, die Kant allesamt unter den einen Namen "Form" bringt, vorzubeugen. Das ist vor allem 25 Die innere Bezüglichkeit von Form und Reflexion lässt sich hinsichtlich der ästhetischen Reflexion in den Ausführungen Kants am direktesten daran ablesen, dass die "Form des Gegenstandes" über die "Form der Vorstellung" (wobei "Vorstellung" nicht nur das Vorgestellte, sondern auch das Vorstellen selbst meint) in die "Form des Vorstellungszustandes des Subjekts" bruchlos übergehen kann; vgl. § 11 der KdU.
118
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
deswegen wichtig, weil Kant gerade den allgemeinen Titel "Form" zur Bezeichnung des besonderen
Korrelats der ästhetischen Gegenstandsbeziehung verwen-
det; vgl. etwa den Satz 1 aus dem Text der Zweiten Einleitung, wo das Woraufhin der für das ästhetische Urteil konstitutiven "Auffassung" als "Form" nur gegen das Woraufhin sinnlicher Begierde (Sinnesempfindung qua "Materie") abgehoben wird, nicht jedoch gegen das Woraufhin der auf objektive Erkenntnis zielenden Perzeption. Es entsteht deshalb der Eindruck, das Korrelat der ästetischen wie der (teleo)logischen Uk sei prinzipiell dasselbe. Nun ist es gewiss kein Zufall, dass Kant diesen Eindruck nicht korrigiert, - das hängt mit seiner Paral 1 elisierungsstrategie zusammen bzw. mit Kants zu wenig gründlicher Unterscheidung zwischen ästhetischer und objektiver Bezugnahme, und wir werden uns mit dieser Schwierigkeit der kantischen Aesthetik schon im nächsten §en ein erstes Mal beschäftigen müssen -, gleichwohl wird sich jedem, der auf die Intention jener Sätze achtet, in denen Kant von der Form als dem Aufgefassten der "blossen Reflexion" handelt, sofort ergeben, dass hier stets jener Aspekt des Gegebenen gemeint ist, der das spezifische
Kor-
relat ästhetischen Sich-auf-ein-Gegebenes-Richten ist. Mit den Ergebnissen der §en 16, 17 u. 18 kann nun fortgesetzt werden, was im § 15 begonnen worden ist: die Interpretation unseres ersten Kerntextes. Wir unterbrachen
die Auslegung bei der Frage nach der Begriffs-
konstellation "blosse Auffassung der Form". Was "Form" bedeutet, ist mittlerweile geklärt worden, und dass die "blosse Auffassung" mit dem von uns als ästhetische Reflexion und "Spiel von Einbildungskraft und Verstand" explizierten "blossen Reflektieren" in engstem Zusammenhang stehen dürfte, ist eine naheliegende Ueberlegung. Dennoch: die Vermutung, dass die "blosse Auffassung der Form" mit der Aktivität der ästhetischen Uk im Vollzug ihres Grundaktes am Ende identisch ist, ist noch nicht erhärtet worden. Das wird erst dann der Fall sein, wenn ersichtlich geworden ist, warum in der zitierten Stelle aus der Zweiten Einleitung auf das in Satz 1 Gesagte das folgt, was Satz 2 formuliert, wenn also verstanden ist, weshalb Kant von jener "blossen Auffassung der Form ohne Beziehung derselben auf einen Begriff zu einem bestimmten Erkenntnis" (Satz 1) erklärt, dass sie doch "niemals geschehen kann, ohne dass die reflektierende Urteilskraft sie wenigstens mit ihrem Vermögen, Anschauungen auf Begriffe zu beziehen, vergliche" (Satz 2).
"Blosse Auffassunq der Form" - eine vorläufige
119
Kennzeichnung
26 § 19 Textanalyse (Interpretation eines Kerntextes, 1.2.
a) "Blosse Auffassung der Form" - eine vorläufige
)
Kennzeichnung
Wir haben gesehen: Kant beginnt die in unserem Text exponierte Analyse der Konstitution des ästhetischen Urteils mit der Bezeichnung dessen, womit das für die Geschmackstätigkeit wesentliche Gefühl der Lust "verbunden" ist: "Mit der blossen Auffassung der Form eines Gegenstandes der Anschauung ohne Beziehung auf einen Begriff zu bestimmtem Erkenntnis". Ohne unsere vorgängige Verständigung über das, was Form ist, müssten wir zunächst annehmen, Kant habe jenen Akt des Subjekts im Auge, durch den sich uns etwas als eine bestimmte Raumfigur, als ein bestimmtes geometrisches Gebilde vorstellt. Versteht man den kantischen Text in dieser Weise (und sie scheint zunächst durchaus einleuchtend), gerät man im Fortgang der kantischen Argumentation allerdings in grösste Schwierigkeiten, - wie nämlich soll man dann die Aussage deuten können, wonach jene "Auffassung der Form" niemals könne,
geschehen
"ohne dass die reflektierende Urteilskraft, auch unabsichtlich, sie 27
wenigstens mit ihrem Vermögen vergliche"
, (und das bedeutet gemäss der
oben in § 17, f), entwickelten Interpretation dieser Redeweise eines
'Ver-
gleichs zwischen gegebener Form und dem Vermögen der reflektierenden Urteilskraft 1 ) ohne dass die Form zum Woran und Worüber des blossen/freien Reflektierens gemacht werde? Es ist nämlich im Gegenteil sehr wohl
möglich,
sich eigens und ausschliesslich auf den Umriss einer Sache zu konzentrieren, ihn aufzufassen, ohne ihn je zum Worüber einer freien Reflexion machen zu müssen. Es besteht überhaupt kein notwendiger Konnex zwischen Auffassung 26 Text vgl. oben, p. 86f. 27 a) Ich deute also den Zusammenhang von Satz 1 und Satz 2 folgendermassen: Um überhaupt zu geschehen, bedarf die "blosse Auffassung der Form" (= das Herausstellen der Bestimmtheit der gegebenen Anschauung) wenigstens in der Weise der reflektierenden Uk, dass diese das Gegebene mit ihrem Vermögen vergleicht. Satz 2 gibt eine notwendige Vollzugsbedingung für das in Satz 1 Genannte an. b) Das Pronomen "sie" in "... sie wenigstens mit ihrem Vermögen ... vergliche" beziehe ich auf "Form" (rsp. "Formen"), nicht auf "Auffassung". c) Zur kantischen Bemerkung "... auch unabsichtlich ..." vgl. unten, p.121.
120
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen
Urteilskraft
des Umriss' und freier Reflexion über ihn. Umgekehrt - ein Verhältnis mutueller Ausschliessung ist der Fall: Die Betrachtung eines Dinges, die seinen Umriss anzielt, verfestigt sich ja notwendigerweise
(beim Festmachen
des Mannigfaltigen der Anschauung gemäss einer Regel seiner Zusammensetzung) in die endliche Fixierung des Gegebenen und verhindert so gerade ein freies, nicht bestimmendes, ästhetisches Reflektieren. Da es also angesichts der Verbindung zwischen Satz 1 und 2 wenig sinnvoll erscheint, die "blosse Auffassung der Form ohne Beziehung auf einen Begriff zu bestimmtem Erkenntnis" als das reine Erfassen des figürlichen Umriss' auszulegen, - was meint diese Formulierung dann? Vorerst nichts mehr und nichts weniger, als ein derartiges Herausstellen der Bestimmtheit des Gegebenen, das nicht in Beziehung auf (solche) Begriffe geschieht, die durch
Erkenntnisabsicht
präfiguriert sind. Mithin: Das "blosse Auffassen der Form" ist das ZurDarstellunq-Bringen der Form "bloss"
(= rein/frei) von der Absicht auf er-
kenntnismässige Fixierung. Das Adjektiv "bloss" (das bestätigt der Zusatz "ohne Beziehung auf ... bestimmte Erkenntnis") will hier exakt dasselbe betonen, wie im Ausdruck "blosses Reflektieren".
Der nächste Schritt in der Sinnklärung der Begriffskonstellation
"blos-
se Auffassung der Form" und zugleich die Einsicht in die Notwendigkeit dessen, was Satz 2 und Satz 1 beibringt, beruht auf unserer vorgängig erworbenen Erklärung des Wesens der Form; zumal auf der Erkenntnis, dass die Erscheinung, das Zur-Darstellung-Kommen der Form, untrennbar mit dem Akt der Reflexion verknüpft ist. Wenn nämlich Form als das, was das Mannigfaltige zu Einem zusammenstimmt, und deshalb als solches zu verstehen ist, was nur offenbar werden kann, wenn das von ihr bestimmte Gegebene die mögliche Zusammenfügung seiner Mannigfaltigkeit in Schemate der Einbildungskraft
(und
das heisst stets auch seine mögliche Vereinbarkeit durch die schemaregeln28 den Begriffe
des Verstandes) im Medium einer gelingenden Reflexion der
Uk erblickbar machen lässt, wenn also Form-überhaupt so charakterisiert werden muss, dann begreift man, dass auch jene Auffassung der Form, die sich als von einer Absicht auf bestimmte Erkenntnis freie vollzieht, wohl nur eine Weise der Reflexion sein kann;
(eine Weise des
gleich-
Auf-Begriffe-Bringens)
- "Jene Auffassung der Formen kann niemals geschehen, ohne dass
28 vgl. oben, p.28.
"Blosse Auffassung der Form" - eine vorläufige Kennzeichnung
121
(= wenn nicht) die reflektierende Urteilskraft, auch unabsichtlich, sie wenigstens mit ihrem Vermögen, Anschauungen auf Begriffe zu beziehen, vergliche". M.a.W.: Wenn auch bei der blossen tierende Uk nicht in Absieht
auf Erkenntnis,
ist, so muss sie doch "wenigstens" scheinen
Auffassung der Form die reflekalso "unabsichtlich", am Werk
- damit so etwas wie Form überhaupt
er-
kann - als frei und absichtslos reflektierende anwesend sein. Es
zeigt sich demnach, dass die "blosse Auffassung der Form" und das ästhetische, freie Reflektieren der Uk schliesslich ineins fallen. Die vorgelegte, von Satz 1 her entwickelte Auslegung des Satzes 2 hat allerdings unterschlagen, dass jene "blosse Auffassung der Form" betonterweise als Auffassung der Formen "in die Einbildungskraft" deklariert ist, - dem entspricht in Satz 1 die in Klammern angeführte Bezeichnung "apprehensio", die ja Kants Name für das erste und unterste Moment in der dreifach gestuften Synthesis des Mannigfaltigen bei dessen Auffassung durchs Subjekt ist; vgl. KrdrV, erste Fassung der transzendentalen Deduktion. Sagt also der Satz 2, dass a) die Auffassung der Formen in die Einbildungskraft stattfindet, und dann b) ihre Veraleichung in der reflektierenden Urteilskraft? Diese zeitliche Folge, die zunächst plausibel scheint, ist sachlich nicht zu verteidigen. Denn: Die Einbildungskraft ist für sich allein überhaupt nicht fähig, Formen, Bestimmtheit des Gegebenen, festzuhalten; - ihr zusammenfassendes Bilden und In-ein-Bild-Bringen geschieht ja stets nach dem Vorbild von Schematen, also im Verein mit dem Verstand, wobei die Auswahl der Schemate unter der Leitung der Urteilskraft steht. Es ist also unmöglich zu sagen, dass die Einbildungskraft, die doch ein Moment im Funktionszusammenhang der Gemütsvermögen ist, vor und unabhängig von Urteilskraft und Verstand die Form erfasse, denn: um die Auffassung der Form zu leisten, bedarf die Einbildungskraft schon immer der reflektierenden Urteilskraft und des Verstandes. Warum stellt dann Kant gerade die Einbildungskraft eigens als das vor, was die Form heraushebt? Allein um zu betonen, dass Form hier, im Umkreis des ästhetischen Urteils, nichts ist, was in und umwillen verständiger und erkenntnismässiger Fixierung erfahren wird, etwas also, was nie so von der "Apprehension" bis zur ausdrücklichen "Rekognition im Begriff" gelangt, wie es in der bestimmten Erkenntnis geschieht. (Aehnlich überpointiert - und aus dem gleichen Grund einer Herausstellung der Differenz zwischen ästhetischer und objektivierender Wahrnehmung - erscheint die Rolle der Einbildungskraft im bekannten ersten Satz des ersten §en der KdU.) Ein leicht zu übersehendes, im Rahmen einer auf die ganze Sphäre des Aesthetischen zielenden Untersuchung (wie es die "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" ja sein möchte) indessen schwerwiegendes Problem, steckt in der unscheinbaren und zunächst ohne weiteres verständlichen Bemerkung von Satz 1, wonach die aufgefasste Form diejenige eines "Gegenstandes der Anschauung" sei. Heisst das, dass für die ästhetische Uk nur solche Dinge in Betracht kommen, die "Gegenstände der Anschauung" sind - und wird dadurch nicht die Dichtung, die Schönheit, deren Ort die Sprache ist, aus dem Bereich der ästhetischen Uk ausgeschlossen? Obwohl Dichtung natürlich auch für Kant (Kunst-)Schönheit geradezu exemplarisch verwirklicht, vgl. die Beispiele
122
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
fur die "ästhetische Idee" in § 49, befasst sich die KdU nicht grundsätzlich mit der Frage, in welchem Sinn im Zusammenhang sprachlicher Kunstwerke die Qualifikation "Gegenstand der Anschauung" zulässig wäre. Die beste Antwort dürfte sich ergeben, wenn man den Begriff "Gegenstand der Anschauung" möglichst weit fasst, nämlich als den Titel für den Bereich des wesentlich Singulären. Und Singularität, d.h. nicht-vollständige Transponierbarkeit ins Medium der eo ipso allgemeinen Begriffe, ist in der Tat ein hervorragendes Strukturmerkmal des Schönen. So gesehen besteht also Kants Bestimmung der Form zu Recht. Besinnt man sich auf die Explikation, die Satz 2 zugunsten von Satz 1 liefert, gibt sich die Kennzeichnung des Aktes, der für das GU basal ist, als der "blossen Auffassung der Form eines Gegenstandes der Anschauung ohne Beziehung auf einen Begriff zu bestimmter Erkenntnis", in ihrer Vorläufigkeit zu erkennen. Die die Mitwirkung der reflektierenden Uk und der zugehörigen Erkenntnisvermögen zunächst verschweigende Formulierung ist lediglich deswegen verwendet, weil es Kant zu Anfang des Textes vordringlich darum zu tun ist, das der ästhetischen Erfahrung eigentümliche Gefühl gegen das Vergnügen
den sein kann) und gegen die intellektuelle nie mit einer blossen, kenntnis
sinnliche
(das nicht mit der Auffassung der Form eines Gegenstandes verbun-
ohne Beziehung
Freude an Erkenntnisgewinn
auf einen Begriff zu bestimmter
(die Er-
stattfindenden Auffassung verknüpft ist) abzugrenzen. Weil es dann
aber gilt, den Ausdrucksgehalt dieses Gefühls zu erhellen und die mit ihm gegebene Lust zu erklären, muss Kant im nächsten Satz sofort die "blosse Auffassung der Form" als das, was sie eigentlich ist - als das freie, ästhetische Reflektieren der Urteilskraft - namhaft machen. Die Diskussion des eben erwähnten Aspekts des Textes (Ausdrucksgehalt des ästhetischen Gefühls, Erklärung der Lust) wird freilich nicht geradewegs zu führen sein; im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit der "Angemessenheit" bzw. "Zweckmässigkeit" der Form wird nämlich der Komplex "ästhetische Reflexion" neu aufgerollt werden müssen. Vorher ist indessen noch auf einige Sachverhalte aufmerksam zu machen, die bis jetzt nicht genügend gewürdigt worden sind.
b) Defizienz- und Erfüllungsmodus ästhetischen Reflektierens; die ästhetische Einstellung
Satz 3 handelt ohne Zweifel vom gleichen Thema wie Satz 2 und Satz 1: Vom Grundakt der Uk zum Behuf eines GU. Dennoch präsentiert er den Vorgang
Defizienz- und Erfüllungsmodus
123
ästhetischen Reflektierens in neuer Gestalt - als "Spiel" bzw. 29 Stimmung von Einbildungskraft und Verstand"
"Ueberein-
. Weshalb diese dritte Um-
schreibung ein und derselben Sache? Das klärt sich, wenn man bedenkt, wovon Satz 3 ausgeht. Satz 3 beginnt mit einer Thematisierung der Rolle, die die jeweils
betroffene gegebene Vorstellung gegenüber der sie betreffenden
ästhetischen Reflexion einnimmt. Kant ruft hier unmissverständlich in Erinnerung, dass es die vorliegende Sache, genauer: deren Bestimmtheit/Form
ist,
die "die Einbildungskraft (das Vermögen der Anschauungen a priori) und den Verstand (das Vermögen der Begriffe) in Einstimmung
versetzt".
Kants Klammerbemerkung hinsichtlich der Einbildungskraft gibt zu bedenken, wie diese im Vollzug der ästhetischen Reflexion einerseits "Urheberin willkürlicher Formen möglicher Anschauungen" (vgl. KdU, p. 69), Hervorbringerin möglicher Darstellungen von Begriffen - das eben meint ja "Vermögen der Anschauungen a priori" (vgl. oben, p. 24) - sein kann und gleichwohl im Zusammenhang der Auffassung eines Gegebenen und in Darstellung von dessen Bestimmtheit tätig sein soll. Wie ist das zu vereinbaren? - Allein dank der eigentümlichen Struktur der ästhetischen Reflexion. Auffassung von Gegebenem geschieht stets als zusammenfassendes Ein-bilden des Mannigfaltigen ins Bild eines Begriffs. Inwiefern bei diesem Akt Verstand und Urteilskraft mitbeteiligt sind, ist dargelegt worden. Wenn nun die Urteilskraft einem Gegebenen frei von der Verpflichtung auf bestimmtes ("objektives") Begreifen begegnet, ist der Einbildungskraft der Bereich möglicher Schemate nicht mehr strikt vorgeschrieben, sie ist also frei, d.h. sie darf das Gegebene in alle Schemate einzubilden versuchen, die sie a priori (= angeleitet allein vom Begriff) zu produzieren vermag. Trifft es sich, dass "der (gegebene) Gegenstand ihr gerade eine solche Form an die Hand gibt, die eine Zusammenstimmung des Mannigfaltigen enthält wie sie die Einbildungskraft, wenn sie sich seihst frei überlassen wäre3 in Einstimmung mit der Verstandesgesetzmässigkeit überhaupt entwerfen würde" (KdU, p. 69), trifft es sich, dass also der in seiner (ästhetischen) Form aufzufassende Gegenstand von sich her erlaubt, auch in die der vom Erkenntniszwang entlasteten Einbildungskraft möglichen Schemate eingebildet zu werden, dann ist die Einbildungskraft sowohl Funktion der Auffassung (der Form eines Gegenstandes), als auch zugleich als "Vermögen der Anschauungen a priori" am Werk. Die Freiheit der Erkenntnisvermögen, die der ästhetischen Bezugnahme zugehört, ist niemals mit einer Aufgabe der Bindung ans jeweils Vorliegende gleichzusetzen; das obige Zitat aus der "allgemeinen Anmerkung zum ersten Abschnitt der Analytik" ist dafür ein starkes Argument, zumal dann, wenn hinzugelesen wird, was dem oben Angeführten vorausgeht: "... ob zwar (die Einbildungskraft) bei der Auffassung eines gegebenen Gegenstandes ... an eine bestimmte Form dieses Objekts gebunden ist ..., so lässt sich doch wohl begreifen, dass der Gegenstand ihr gerade eine solche Form ... etc.".
29 Dass in Satz 3 mit der "Uebereinstimraung" (von Einbildungskraft und Verstand) das "Spiel" der beiden gemeint ist, ergibt sich von Satz 1 her.
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Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
Satz 3 rückt den entscheidenden Einfluss, den die gegebene Form hat, in den Vordergrund. Sinn dieser Profilierung - das wird jedem Leser sofort offenkundig - ist in erster Linie die Begründung der von Satz 1 her virulenten Behauptung eines Zweckmässigkeitscharakters dessen, was die ästhetische Uk als "schön" bezeichnet. Dem Problem der Zweckmässigkeit des Schönen werden wir uns freilich erst im nächsten §en widmen. Jetzt ist zu fragen, was die Tatsache, dass die Form ein konstitutiver Faktor des "Spiels" ist, mit den drei, von Satz 1 bis 3 variierten Formulierungen der ästhetischen Reflexion zu tun hat. Gehen wir der Reihe nach: Der Zweck der Umschreibung von Satz 1 dürfte klar sein; mit der Begriffskonstellation "blosse Auffassung der Form" gelingt Kant eine provisorische Kennzeichnung, die so offen ist, dass sie zwar widerstandslos in exaktere Erläuterungen zu überführen ist, aber gleichwohl schon définit genug, um die Ausgrenzung des ästhetischen Relevanten aus dem Gebiet des Moralisch-Guten resp. Theoretisch-Objektiven zu ermöglichen. Und wie es von Satz 1 zur zweiten Formulierung kommt, weshalb man also das "blosse Auffassen" als ein reflektierendes Auf-Begriffe-Bringen denken muss, ist ebenfalls einsichtig gemacht worden. Was aber bekundet sich durch die Differenz zwischen zweiter und dritter Umschreibung? Die tragende Funktion, die die gegebene Vorstellung für den Vollzug der ästhetischen Reflexion hat, lässt erkennen, dass es zwei verschiedene ästhetischen
Reflektierens
gibt, denn erst wenn und nur falls,
Modi
die aufzu-
fassende Form sich dem "unabsichtlichen Vergleich" mit der reflektierenden Uk (vgl. Satz 2) gewachsen zeigt, vermag die eigentliche Gestalt der ästhetischen Reflexion aufzutreten, ist die "blosse Reflexion" in der Lage, sich zum "Spiel von Einbildungskraft und Verstand" zu entfalten. Ergo: Das Reflektieren von dem Satz 2 spricht, ist zunächst nur jenes, vom Ziel erkenntnismässiger Feststellung absehende Begegnen-Lassen von Seiendem, dem sich das Schöne oder, weil das Schön-Sein in der besonderen Form liegt, die schöne Form überhaupt erschliessen kann. Um aber wirklich in seine Voll-endung/ Entelechie zu gelangen, muss diese Bezugnahme an solches geraten, das von sich her die Erkenntniskräfte, die in der Uk anwesen, zum "Spiel" belebt.
Das in Satz 2 in die etwas schwerfällige sprachliche Fügung des "unabsichtlichen Vergleichens der reflektierenden Uk mit ihrem Vermögen" geklei-
Defizienz- und Erfül 1 unqsmodus
125
dete Agieren und das in Satz 3 evozierte Geschehen sind nicht mässig verschiedene Akte, sondern
die zwei Modi
desselben
zwei wesens-
Vollzugs". Zunächst,
in Satz 2, erscheint das ästhetische Reflektieren so, wie es vor der Erreichung der Stufe seiner Entelechie auftritt, also gewissermassen in dann, in Satz 3, bei gegebener geeigneter Form, so, wie es in seiner
Defizienz, Erfül-
lung ist - als Konvenienz von Einbildungskraft und Verstand, als ihr un-endliches Spiel, das ein Auffassen und Darstellen vorgegebener Bestimmtheit ist, und trotzdem dem Ein-bilden und Aus-denken Kreativität nicht verwehrt, kurz: als die Erfahrung des Schönen. Wo aber das Gegebene nicht von sich her zugunsten solcher Konvenienz verfasst ist, da bleibt das ästhetische Reflektieren im Defizienzmodus sozusagen stecken, es findet keinen rechten Anhalt an der Sache, stösst ins Leere und erschöpft sich. Und erst jetzt, als nicht als Ausgangspunkt
Resultat,
dieser Bewegung der Reflexion, begegnet die gegebene
Sache in nichts als ihrem planen Vorhanden-Sein, in ihrem puren Umriss, in blosser Dinglichkeit,
"mit der wir nichts weiter anfangen können", "die uns
nichts sagt" (um an die Ausdrücke zu erinnern, die wir in der Umgangssprache 30 in solcher Erfahrung brauchen). Mit der Unterscheidung von Defizienz- und Erfüllungsmodus der ästhetischen Reflexion sind wir an einen Punkt gelangt, an dem Einsichten dringlich werden, die in der Aesthetik Kants ihren vollen Austrag nicht mehr finden können. Liest man die Sätze 1 und 2 nachdenklich und im Blick auf das von ihnen gemeinte Phänomen der Erfahrung des Schönen, wird der Gedanke lebendig, sie bezeichneten nicht allein die Vorstufe der ästhetischen Reflexion, sondern das, was jeglicher Bezugnahme auf etwas noch vorangeht: nämlich die jeweilige Einstellung
zum Seienden, die den Möglichkeitshorizont absteckt, in dem
die spezifische Gegenstandsbeziehung stattfindet, die Einstellung, in der die möglichen Entdeckungen der letzteren erschlossen und zugleich vorgeprägt sind.
30 Freilich, dass das Misslingen der ästhetischen Reflexion nicht immer der Sache anzulasten ist, sondern häufig genug auf Konto des Rezipienten geht, ist ein Faktum, das nicht zu vergessen ist. Das Problem, das sich mit dieser Tatsache stellt, ist im Rahmen der kantischen Aesthetik allerdings nur schwer zu behandeln; Anknüpfungspunkte ergeben sich etwa bei Kants Erklärung des irrigen Geschmacksurteils, vgl. dazu unten, p.313ff. Eine über die KdU hinausführende Lösung dieser Frage soll am Schluss unserer Arbeit skizziert werden, vgl. unten, p.374ff.
126
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
Das ergibt sich, bedenkt man noch einmal das sowohl von Satz 1 und Satz 2 herausgestellte, für die ästhetische Uk offenbar fundamentale Absehen von 31 der Hinsicht auf den objektiven Begriff. als ästhetische auf den Plan, gründet
Die reflektierende Uk, tritt sie
in einer eigenen und gegenüber derje-
nigen der (teleo)logischen Uk grundsätzlich anderen Haltung des Subjekts zu dem, was ihm begegnet, und es ist zunächst Prädikat
"absichtslos"
verdient.
allein
diese
Haltung,
die
das
Denn die "Absichtslosigkeit" ist der Zug,
der jene Zuwendung zum Gegebenen, die sich in die ästhetische Reflexion vollenden kann, schon auszeichnet, bevor
die eigentliche
Wahrnehmungsaktivität,
das freie Auf-Begriffe-Bringen, beginnt. Die ästhetische, "absichtslose" Einstellung ist also ein Element der komplexen Intentional i tat 'Wahrnehmung von Schönem 1 , das bezüglich der modalen Unterscheidung in Defizienz- und Erfüllungsaspekt primordinal
ist, weil die ästhetische Einstellung die
keit der Auffassung von so etwas wie ästhetischer Form allererst
Möglicheröffnet.
Wohlgemerkt: Auch das freie Reflektieren der Uk, d.h. also auch die von der ästhetischen Einstellung ermöglichte spezifische Perzeptionstätigkeit (und nicht nur die ästhetische Einstellung selbst) ist und bleibt bloss die Bedingung der Möglichkeit des Sich-Zeigens der schönen Form. Erst diese letztere, als eine Bestimmtheit, die das Gegebene von sich her haben muss, ist schliesslich die Bedingung der Verwirklichung des in der freien Reflexion intendierten, sie die Form selbst, ent-deckenden "Spiels". Allein im Zusammentreffen aller Bedingungen ergibt sich das Gelingen der ästhetischen Reflexion, die zugleich das Erscheinen des Schönen ist. Die Differenzierungen, die jetzt vorgeschlagen worden sind, - Defizienzund Erfüllungsmodus, Einstellung vs. einstellungsfundierte Aktivität - sind in den Aussagen der KdU allenfalls angedeutet, aber nirgends, auch nicht in anderer Terminologie, entwickelt. Mindestens das Fehlen einer expliziten Herausarbeitung der ästhetischen Einstellung in ihrer Eigenständigkeit ist jedoch nicht zufällig, sondern vom Parallelisierungsansatz verursacht. Die Gleichschaltung zwischen ästhetischem Wahrnehmen und objektivem Erkennen, die ihr immanent ist, drückt den von der KdU als "Absichtslosigkeit" und 32 öfter noch als "Interesselosigkeit" präsentierten Charakter der ästheti31 Die Bemerkung von Satz 2, "... auch unabsichtlich...", ist also als Wiederholung der in Satz 1 festgestellten "Absichtslosigkeit" zu verstehen. (Das Adverb "unabsichtlich" in Satz 3 hat dagegen einen besonderen Sinn, cf. unten, p. 154.) 32 Zum Verhältnis zwischen "Absichts-" und "Interesselosigkeit" vgl. den Exkurs unten, p. 208ff.
Rekapitulation
127
sehen Uk zur blossen differentia specifica herab, ... die (teleo)logische Uk reflektiert in Absicht auf den bestimmten Begriff und geleitet vom Interesse an theoretischer Durchdringung; dass demgegenüber die ästhetische Uk von solchen Determinierungen frei ist, ist eben ihr Spezifikum; aber beide Gestalten der Uk sind doch eins in der Gattung "reflektierende Uküberhaupt", d.h. das Tun der ästhetischen Uk vollzieht sich grundsätzlich im gleichen Rahmen wie das erkenntnisrelevante Auf-Begriffe-Bringen. - Die prinzipiell
andere Haltung,
die die ästhetische
Begegnisweise
fundiert,
muss so mindestens zur Hälfte verdeckt bleiben.
c) Rekapitulation
Vor der nun zu beginnenden Auseinandersetzung mit der "Zweckmässigkeit" des Schönen lässt sich das Ergebnis unserer bisherigen Beschäftigung mit dem ersten Kerntext auf folgende Hauptpunkte bringen: a)
Die wechselseitige Bedingtheit von Form und Reflexion, insbe-
sondere die innere Bezüglichkeit von freier, ästhetischer Reflexion und schöner, ästhetischer Form ist es, die die Entwicklung des Gedankens von Satz 1 bis Satz 3 organisiert. b)
Die KdU kennt verschiedene Formulierungen fUr den Grundakt der
ästhetischen Uk. Sie bezeichnet das eigentümliche Auf-Begriffe-Bringen
(als
welches sich die "blosse Auffassung", das Wahrnehmen der ästhetischen Form, vollzieht) zuweilen als ein Tun der reflektierenden Uk, zuweilen als ein Handeln der Einbildungskraft und des Verstandes. Dass diese Kennzeichnungen inhaltlich zu trennende Akte gar nicht vorstellen können,
gründet in der
wesentlichen Verschränkung der Erkenntnisvermögen. Freilich: Allein
wenn
wir diese Verschränkung bewusst halten, ist die Selbstverständlichkeit des Fortganges von Satz 1 zu Satz 2 und weiter zu Satz 3 verstehbar. Der bislang analysierte Sinnzusammenhang basiert also nicht nur auf der Zusammengehörigkeit von Form und Reflexion, sondern ist ebenso vom Verhältnis der in jeder Tätigkeit der reflektierenden Uk zueinander sich verhaltenden Erkenntniskräfte getragen. c)
Der eigentliche Ort, von woher Kant das Co-fungieren von Urteils-
128
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
kraft und Verstand denkt, ist der Vollzug theoretischer, objektiver Erkenntnisgewinnung. Auch die Deskription der nicht-objektiv und "absichtslos" betriebenen ästhetischen Komplazenz der Erkenntnisvermögen ist lediglich vom Hintergrund dieses Musters aus zu begreifen. - Kant unterstellt eine prinzipielle Kongruenz zwischen ästhetischem und theoretischem Grundakt, so dass er den ersteren vom Vorbild des letzteren her (meist per negationem) bestimmen kann.
§ 20 Schwierigkeiten mit dem Begriff der Zweckmässigkeit des Schönen
a) Das Problem
Die vorstehende Analyse hat die Sätze 1 bis 3 noch keineswegs in ihrem ganzen Gehalt durchdacht. Dass die Fragen nach dem Ausdrucksgehalt des ästhetischen Gefühls und dem Grund der Lust am Schönen einer expliziten Beantwortung noch lange harren müssen, ist schon zu Beginn betont worden, unumgänglich wird jetzt aber die Behandlung der kantischen Charakterisierung des in gelingender ästhetischer Reflexion wahrgenommenen Gegenstandes (bzw. dessen Form) als eines (einer) "zweckmässigen". Davon spricht nämlich (in Ruckbezug auf Satz 1) der Hauptteil von Satz 3: "Wenn nun in dieser Vergleichung die Einbildungskraft ... zum Verstände ... durch eine gegebene Vorstellung ... in Einstimmung versetzt wird, so muss der Gegenstand alsdann als zweckmässig für die reflektierende Urteilskraft angesehen werden." Bei erster Lektüre scheint die Aussage keine grösseren Mühen zu bereiten, - natürlich ist das Gegebene "zweckmässig", wenn es der reflektierenden Uk erlaubt, ihre Fähigkeiten zu aktualisieren, Einbildungskraft und Verstand ins Spiel zu bringen, wenn es also gestattet, in gewisser Weise auf Begriffe bezogen zu werden, und mithin genau jenes Tun ermöglicht, das gemäss transzendentalem Prinzip eben nur geschehen kann, wenn es das je Vorkommende von sich her zulässt, wenn, m.a.W.: das letztere für das mögen des Subjekts
"zweckmässig"
Erkenntnisver-
ist. Im übrigen haben wir ja von der für
die reflektierende Uk (subjektiv notwendigen, aber objektiv zufälligen) Zweckmässigkeit des Gegebenen auch im Hinblick auf die ästhetische Reflexion und die in ihr zu realisierende Konvenienz der Gemütskräfte schon frü-
Das Problem
129
her gesprochen, vgl. oben, § 17, e). Es wird sich jetzt allerdinqs rasch zeigen, dass die Geltung solcher Rede im Bereich der "absichtslosen", nach Kants Wort "interesselosen", ästhetischen Einstellung und Uk grundsätzlich fragwürdig ist. Und wenn schliesslich doch der kantischen "Zweckmässigkeits"-Bestimmung ein guter Sinn aufzuweisen sein wird, so nur, wenn gleichzeitig sein Konzept der reflektierenden Uk-überhaupt tiefgreifend erweitert und die Idee der rungsstrategie
in ihrer Unzulänglichkeit,
Parallelisie-
erkannt wird. Ein weiteres Postu-
lat dieser die Grenzen immanenter Auslegung bisweilen sprengenden
Interpre-
tationsarbeit, wird die Entdeckung ei ner von der KdU selbst unexpli-zzerten Zweideutigkeit
sein, die in Kants Begriff der ästhetischen Zweckmässigkeit
versteckt ist. Wir gehen aus von der Formulierung unseres Textes: Der Gegenstand oder die "gegebene Vorstellung", und d.i. eigentlich die Bestimmtheit (= Form) eines Gegebenen, präsentiert sich als für die reflektierende Uk zweckmässig, sofern die Einbildungskraft und der Verstand "in Uebereinstimmung versetzt wird"; sie präsentiert sich also im Geschehen, da sich als das freie Auf-Begriffe-Bringen des blossen Reflektierens ereignet. Wir wissen, dass das Glücken des "Spiels", in dem die besondere Form des Schönen zur Auffassung und Darstellung gelangt, von eben der Form abhängt: Nur dort, wo die Form dem Subjektsvermögen entspricht, ihm "angemessen ist, ist dieses imstande, sich zu aktualisieren. Jedoch: darf die Angemessenheit nen als eine "Zweckmässigkeit
des Gegebe-
für die reflektierende Urteilskraft" gedeu-
tet werden? Diese Unterscheidung scheint so lange überflüssig, als (teleo)logische und ästhetische Uk nicht auf ihren Ursprungssinn, nicht auf das hin hinterfragt werden, was ihr bewegendes Prinzip ist. Hinsichtlich der ersteren hat sich folgendes ergeben: Die (teleo)logische Uk ist nichts anderes als der konkret gewordene Anspruch der theoretisch-praktischen Vernunft; sie ist durchherrscht vom Vernunftinteresse an zwingender, die Kontingenz des Empirischen absorbierender Erkenntnis. Dies Interesse setzt den Zweck, den sie zu verwirklichen hat, die Absicht, nach der sie handelt. Diesem Zweck zufolge entwirft sie sich im transzendentalen Prinzip eine für sie und die
130
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
Erfüllung Ihres Auftrags zweckmässige Welt. Weil also die (teleo)logisch reflektierende Uk einen Zweck verfolgt, darf die auftretende des Sinnenfälligen, seine
Angemessenheit
Fasslichkeit
an die endlichen Erkenntnisver-
mögen, als Angemessenheit an einen Zweck, und das heisst: als keit verstanden
Zweck-mässig-
werden.
Exakt diesem Schluss von der Angemessenheit auf die Zweckmässigkeit fehlt im Fall der ästhetisch erfahrenen Korrespondenz - wenigstens an dieser Stelle unserer Untersuchung - das Mittelglied. Welchen Zweck soll nämlich ästhetische
Uk verfolgen,
die
m.a.W.: welcher Anspruch will sich im ästheti-
schen Reflektieren realisieren? - Es drängt sich vielmehr eine konträre Annahme auf: Das Tun der ästhetischen Uk entspringt überhaupt keiner Absicht, und es kann gerade nicht als die Verwirklichung eines Interesses begriffen werden. Dazu scheint man gezwungen, wenn man ernst nimmt, was Kant immer wieder betont, - die Absichts- und Interesselosigkeit
der ästheti-
schen Reflexion. Was der ästhetischen Uk begegnet, kann demnach zwar als ihrem Vermögen "angemessen", aber doch nicht als für sie "zweckmässig" betrachtet werden. Denn der ästhetischen Uk scheint ein Wozu zu fehlen und mithin der
Bezugspunkt, von dem her etwas als für sie zweckmässig anzu-
sprechen wäre. - Der Rechtsgrund der Bestimmung der (ästhetischen) Form als einer "zweckmässigen" ist durchaus noch ungeklärt.
b) Abgrenzungen
Weshalb darf/muss Kant die im "Spiel" sich bekundende Formbestimmtheit des in ästhetischer Auffassung Aufgefassten eine "zweckmässige" nennen? Die grundsätzliche Schwierigkeit, die diese Frage virulent werden lässt, ist soeben bezeichnet worden. Nun begnügt sich Kant nicht einfach mit der Qualifikation "zweckmässig"; er spezifiziert: Die Form des in glückender "blosser" Reflexion wahrgenommenen Objekts ist nach Satz 1 eine "subjektive" und "formale". Damit ist das System der Arten der Zweckmässigkeit evoziert, dem wir aspektweise schon oben im § 6 begegnet sind. Dort ist die "formale" Zweckmässigkeit der Natur, deren die Reflexion der (teleo)logischen Uk ansichtig wird, expliziert worden. Die vorhin vorgenommene Besinnung auf einen wesentlichen Unterschied zwischen ästhetischer und (teleo)logischer Uk macht klar, dass es sinnvoll ist, nicht nur zwischen "materialer" und "formaler" Zweck-
b) Abgrenzungen
131
mässigkeit zu unterteilen (vgl. oben, p. 49), sondern auch verschiedene Gestalten der "formalen" Zweckmässigkeit anzunehmen. Linter dem Gesichtspunkt der "formalen" Zweckmässigkeit allein wird nur eine Gemeinsamkeit, die zwischen dem Schönen und der gegebenen Mannigfaltigkeit der Welt besteht, deutlich, nicht jedoch das, was die Bestimmtheit des im Horizont (teleo)logischen Reflektierens als zweckmässig Erscheinenden von jener Bestimmtheit trennt, die im Horizont der ästhetischen Reflexion als zweckmässige manifest werden soll
(wobei ja immer noch völlig offen ist, warum
in der Sphäre der letzteren überhaupt
so etwas wie Zweckmässigkeit vorkom-
men kann). Das Wort, das zur Markierung der Differenz zwischen ästhetischer und nicht-ästhetischer jektiv".-
(formaler) Zweckmässigkeit dient, ist offenbar
"sub-
Auf dem Weg einer ersten Annäherung an seine Bedeutung im Zusam-
menhang mit dem Begriff der Zweckmässigkeit wird sich zugleich der Weg eröffnen, auf dem wir den (oder besser: den einen)
Grund dafür finden, dass
Kant das Schöne und die ästhetische Form überhaupt mit dem Charakter der Zweckmässigkeit
versieht. 33
Zur Hauptbedeutung
des kantischen Begriffs der "subjektiven"
Zweckmäs-
sigkeit kommt man allein im Ausgang von seinem Gegenbegriff; der § 15 der KdU führt den letzteren ein: "Die objektive Zweckmässigkeit kann nur vermittels der Beziehung des Mannigfaltigen auf einen bestimmten Zweck, also nur durch einen Begriff, erkannt werden. " 3¿t "Objektive" Zweckmässigkeit hat eine Sache dann, wenn sie hinsichtlich eines bestimmten Zweckes, d.h. anhand begrifflich fass- und eindeutig
vorstellba-
rer Kriterien als zweckmässig erscheint. Dass von Zweckmässigkeit in bezug auf einen definierten Zweck gesprochen wird, scheint selbstverständlich und zum Begriff der Zweckmässigkeit überhaupt gehörig. Der Sinn der Einführung dieser "objektiven" Zweckmässigkeit zeigt sich erst aus ihrem Gegensatz: der "subjektiven" Zweckmässigkeit ist eine solche Relation auf einen bestimmt bezeichenbaren Zweck, ein begrifflich klar geschnittenes Wofür oder Woraufhin des Zweck-mässigen gerade abzusprechen; vgl. KdU § 11: "Also kann
33 Kants Gebrauch der die Zweckmässigkeit qualifizierenden Beiwörter wie "formal" oder "subjektiv" ist keineswegs frei von Mehrdeutigkeiten - vgl. dazu den Exkurs "Synopsis der Bedeutungen von 'Zweckmässigkeit'", v.a. den Abschnitt "Doppeldeutigkeiten", unten, p. 233ff. 34 KdU, § 15, p. 44.
132
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen
Urteilskraft
nichts anderes als die subjektive Zweckmässigkeit ... (die) ohne allen Zweck (ist) ..." Doch bevor hier weiter, nämlich nach der Denkmöglichkeit einer derart um ihren Zweck gebrachten Zweckmässigkeit zu fragen ist, ist ein neuer Gesichtspunkt, unter dem die Struktur der Zweckmässigkeit diskutiert werden kann, zu berücksichtigen. Die KdU bringt ihn im schon zitierten § 15 hinsichtlich der "objektiven" Zweckmässigkeit zur Wirkung: "Die objektive Zweckmässigkeit ist entweder die äussere-, d.h. die Nützlichkeit, oder die innere, d.h. die Vollkommenheit des Gegenstandes." "Aeussere Zweckmässigkeit" hat eine Sache, insofern sie geeignetes Mittel zu einem Wozu ist. Die Zweckmässigkeit ist ihr äusserlich, weil ihr der Zweck äusserlich bleibt: sein Begriff ist nicht Grund für ihre "innere 35 Möglichkeit".
Das heisst, der Begriff hat die Sache darin nicht geprägt,
dass sie überhaupt und wie sie vorliegt. Genau dies letztere ist aber der Fall bei der "inneren" Zweckmässigkeit: "Innere" Zweckmässigkeit ist die Bestimmtheit einer Sache, die nicht anders als gemäss einem ihrer Existenz vorausgehenden Begriff entstanden gedacht werden kann. Der Begriff oder Zweck, auf den hin sie geordnet und in eine Form gebracht ist, ist ihr "innerlich", d.h. ihr Dass- und Was-Sein von ihm nicht ablösbar. Dies innige, unauflösliche Verhältnis von Zweck und Sein der Sache erläutert Kant am Muster der causa finalis, die stets auch causa formalis sein muss: "So wie nun Zweck überhaupt dasjenige ist, dessen Begriff als der Grund der Möglichkeit des Gegenstandes selbst angesehen werden kann:36 so wird, um sich eine objektive (= "innere". Zusatz GK) Zweckmässigkeit an einem Dinge vorzustellen, der Begriff von diesem, was es für ein Ding sein solle, voran gehen; und die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in demselben Begriffe (welcher die Regel der Verbindung desselben an ihm gibt) ist die qualitative Vollkommenheit (oder objektive, innere Zweckmässigkeit. Zusatz GK) eines
Dinges."37
Der Gesichtspunkt der äusseren, relativen Zweckmässigkeit und der der inneren Zweckmässigkeit, appliziert auf das Konzept der objektiven Zweckmässigkeit, definiert entweder den Charakter der Nützlichkeit (von etwas zu einem ihm äusserlichen Zweck) oder den der Vollkommenheit (von etwas hin-
35 cf. KdU, § 15, p. 45. 36 Hier spielt Kant auf seine eigene Formulierung zu Beginn von § 10 der KdU an. 37 KdU, § 15, p. 45.
b) Abgrenzungen
133 38
sichtlich der seine Herstellung leitenden causa formalis/finalis)
. -
Warum ist diesem Begriffsinstrumentarium das Schöne, dasjenige, was der Uk das "freie Spiel" ihrer Momente entzündet, allemal fremd? Der Grund für die Unmöglichkeit, das Schöne oder die ästhetische Form in schlichter Analogie zur objektiven Fasslichkeit des Empirischen als "zweckmässig für die 39 reflektierende Uk" zu denken, also im Sinne einer relativen Zweckmässigkeit
,
ist bereits notiert worden, aber weshalb fällt ebenso die Kategorie der "objektiven inneren Zweckmässigkeit" ausser Betracht, von der Kant immerhin sagt, sie "komme dem Prädikate der Schönheit schon näher" und sei "daher auch von namhaften Philosophen, doch mit dem Beisatze, wenn sie verworren
38 Die diversen Formen von Zweckmässigkeit, die Kant im Lauf der KdU entwickelt, entfalten ein System von Unterscheidungshinsichten, aber keine Klassifikation der zweckmässigen Dinge in Gestalt einer Begriffspyramide; anders gesagt: das Unterscheidungshinsichtssystem liefert nicht eine Art linnésches Klassifikationsschema der zweckmässigen Dinge selbst; vgl. dazu unten, p. 233. Darum ist es nicht falsch, dass dieselbe Sache unter verschiedene Begriffe der Zweckmässigkeit subsumiert werden kann; so etwa die faktische Fasslichkeit der Natur. Die Zweckmässigkeit des Gegebenen für die (teleo)logisch reflektierende Uk ist einerseits der Nützlichkeit oder äusseren/relativen Zweckmässigkeit zuzuordnen; denn die Fasslichkeit ist es ja, die der (teleo)logisch reflektierenden Uk die Erreichung ihres Zwecks (der Erkenntnis) gestattet und insofern in der Art eines für uns notwendigen Mittels fungiert, zweckmässig also in der Relation auf unser Tun und seinen Zweck ist. Andererseits ist die Fasslichkeit auch unter die Kategorie der inneren Zweckmässigkeit zu bringen: Die Fasslichkeit kann nur so vorgestellt werden, "als ob ein Verstand sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen... gegeben (also nach einem Zweck hervorgebracht. Zusatz G.K.) hätte." (Einleitung, p. XXVII); - wobei allerdings die Wahrheit dieser Annahme niemals zu beweisen ist. In derselben Weise, "als ob sie von einer Ursache, deren Vermögen zu wirken durch Begriffe bestimmt wird" (KdU, § 64, p. 284), produziert worden wäre, müssen die Organismen, die "Naturzwecke" angesehen werden. Ihr Aufbau und die wechselseitige Verknüpfung ihrer Teile ist nur als auf einen Zweck (den des Lebens) hin geordnet zu begreifen; auch sie stehen mithin unter der Kategorie der "objektiven inneren Zweckmässigkeit" (cf. die §§ 63 u. 64 der KdU). Dass auf die "Naturzwecke" der Organismen ebenfalls - sofern sie erkennbar sind die Kategorie der relativen Zweckmässigkeit angewendet werden kann, liegt auf der Hand. 39 Der Aspekt der relativen Zweckmässigkeit, der gleichwohl in der ästhetischen Zweckmässigkeit steckt, ist eben erst sichtbar zu machen, wenn die Analogie zur Fasslichkeit der Natur gebrochen wird; zur relativen Zweckmässigkeit vgl. unten, p. 219ff.
134
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft 40
gedacht wird
41 , für einerlei mit der Schönheit gehalten worden"
? Die Ant-
wort muss ihre Grundlage aus demselben Sachverhalt nehmen wie vorhin:
Inso-
fern auch die "innere" Zweckmässigkeit eine "objektive" sein soll, und erkennbar mithin nur "vermittels der Beziehung des Mannigfaltigen auf einen bestimmten Begriff" ist, ist es unmöglich, der ästhetischen Form oder dem Schönen die Struktur der "Vollkommenheit", d.h. den Charakter
"innerer
Zweckmässigkeit" zu diagnostizieren. Denn die Weise, in der die eigentümliche Beschaffenheit des Schön-Seins ausgemacht wird - das reine ästhetische Reflektieren "ohne Absicht zu bestimmtem Erkenntnis" - schliesst jede Bezugnahme auf den "bestimmten Begriff" und damit jede Art von "objektiver" Zweckmässigkeit aus der Dimension der ihr möglichen Gegenständlichkeit von vornherein aus. Ein "bestimmter" Zweck des Schönen ist weder aus der Perspektive der "inneren" noch aus der der "äusseren" Zweckmässigkeit, sofern diese "objektive" ist, zu benennen; damit ist nur noch einmal in indirekter Formulierung gesetzt, worauf die von Kant für die ästhetische Form reservierte
"subjekti-
ve" Zweckmässigkeit zielt: auf eine Qualität, die sich der Bindung an den verbindlichen Begriff eines verbindlichen Zwecks sperrt - "subjektive" Zweckmässigkeit oder Schönheit, so lautet ja Kants berühmte Formel, ist "Zweck42 mässigkeit-ohne-Zweck".
Aber was soll das eigentlich heissen? Wie ist in
dieser paradoxen Fügung kein Widersinn, sondern identifizierbare Bedeutung zu entdecken? Die Anleitung zur Einsicht in den Sinn dieser scheinbar widersinnigen Wortkonfiguration gewinnt man aus dem Verständnis dessen, was den Zusatz "-ohne Zweck" erzwingt: Was auch immer mit der "Zweckmässigkeit" des Schönen positiv gemeint ist, dass sie sich jedenfalls nicht als Zusammenstimmung zu einem bestimmten Zweck darstellen kann, gründet im Worin oder Wodurch ihres Sich-Meldens, verdankt sich der freien, absichtslosen, ästhetischen Reflexion.
40 Zur Deutung der Schönheit als einer "verworrenen Vorstellung" der Vollkommenheit vgl. H.G. Juchem, Die Entwicklung ..., v.a. pp. 11-34. 41 KdU, § 15, p. 44/45. 42 vgl. die aus dem "dritten Moment geschlossene Erklärung des Schönen": KdU, p. 61.
135
Vorüberlegungen
Wenn aber die ästhetische Reflexion es ist, die für den Zusatz "-ohne Zweck" (und das meint: ohne bestimmten, objektiv vorstellbaren Zweck) verantwortlich zu machen ist, muss sie es auch sein, die zur positiven Aussage der "Zweckmässigkeit" den Anlass gibt. Was der Ausdruck der "Zweckmässigkeit" im Zusammenhang der Erfahrung des Schönen bedeutet, ist nirgendwo anders denn an der Vollzugsweise des freien Reflektierens als dem "Spiel der Erkenntniskräfte bei einem Gegebenen" abzulesen. Es, das geschehende "Spiel", ist das Medium
des Erscheinens
für uns nicht zur Auffassung wesentlichen
gelangt,
der schönen Form, ohne welches
und deshalb auch der Ursprung
sie
ihrer
Charakterisierung.
c) Vorüberlegungen
Es sei auf die Weise, wie sich das "Spiel" abspielt, zu achten, solle man der Realität ansichtig werden, die der merkwürdige Begriff der "zwecklosen Zweckmässigkeit" des Aesthetischen bezeichnen wolle; im Prozess der Vor-stellung des Schönen sei der Schlüssel zu Kants wichtigster Strukturqualifizierung von Schönheit zu entdecken. Verlangt ist also die Vergeqenwärtigung des ästhetischen Phänomens. Der Prozess der Vor-stellung des Schönen, der vom Subjekt her gesehen 'ästhetische Reflexion 1 heisst, und in der Sprache Kants zuweilen das "blosse Reflektieren" genannt wird, ist von uns - in der Blickrichtung auf die rezeptiv-produktive Aktivität des Subjekts und in Erinnerung an die allgemeine Tätigkeit der reflektierenden Uk-überhaupt - auf die Formel des 'freien Auf-Begriffe-Bringens' gebracht worden. Diese Wortprägung ist ein Resultat unserer bisherigen Interpretation des ersten Kerntextes, und sie entspricht einer Doppelabsicht der Interpretation, die selber eine Zweisinnigkeit der kantischen Aesthetik, nämlich deren methodischen Dualismus, spiegelt. Die Formel ist einerseits
als eine Extrapolation der Paral 1 el Strate-
gie zu verstehen (indem sie versucht, den Gehalt der von Kant gelieferten negativen Beschreibungen der ästhetischen Uk affirmativ zu fassen),
ander-
erseits will sie Verbindung halten zum Phänomen der Erfahrung des Schönen, das Kant durchaus vertraut ist. Die einfache Rede vom 'freien' oder 'absichtslosen Auf-Begriffe-Bringen' vereinigt die zwiefache Wurzel von Kants Darstellung des ästhetischen Grundaktes.
136
Erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
Der Kohärenznachweis, d.h. die Darlegung der Stimmigkeit, das ist gewiss stets das erste, sozusagen natürliche Ziel der Interpretation, und in unserem Fall war für das diesem Ziel verpflichtete Interpretament sogar textimmanente Sicherung zu erhalten - die Formel vom 'freien, etwas-auf-nichtbestimmte-Begriffe-Bringen 1 Kdll (vgl. oben, p.
fand fast wörtliche Belege in Stellen aus der
). Dennoch: jetzt wird zu zeigen sein, dass wir damit
einen für die kantische Aesthetik bezeichnenden Bruch beschönigt haben, der aufzudecken ist, gerade wenn man der hermeneutischen Moral treu bleiben will. Die Disparatheit
des Textes ist nicht zuzuschütten,
auch noch das zu verstehen ständlich
sondern zu benennen,
sein, was durch seine Widersprüahliohkeit
soll
unver-
ist.
Im Licht der folgenden, erneuten Vergegenwärtigung des ästhetischen Phänomens wird sichtbar werden, dass jene Bestimmungen der ästhetischen Uk, die der Paral 1 el Strategie entspringen, der Weise, wie man des Schönen inne wird, nicht gerecht werden können. Das heisst zugleich: in der Konfrontation des vergegenwärtigten Phänomens mit unserer ersten Bestimmung Grundaktes
der ästhetischen
Reflexion
zeigt sich die Falschheit
des
der
letz-
teren. Und weil, wie gesagt, der KdU auch ein phänomenologisches Moment eigen ist, begegnet man in der Destruktion jener ersten Bestimmung dem für die KdU typischen methodischen Antagonismus zwischen phänomenologischer Sachtreue und konstruktiver Tendenz, den die Formel vom 'freien Auf-Begriffe-Bringen' nur oberflächlich versöhnen kann. Bevor eine (wie schon hier zuzugeben ist: ziemlich skizzenhafte) Deskription der Erfahrung des Schönen hinsichtlich zweier Grundaspekte der letzteren zu neben, muss klar werden, inwiefern die Formel ('freies Auf-Begriffe-Bringen') den für die Aesthetik grundleaenden Sachverhalt, den wir unter das Rubrum "Erfahrung des Schönen" stellten, verzerrt wiedergibt; ist zu zeigen, warum sie also jenes Ereignis nicht trifft, in dem sich uns etwas anspruchs-voll bedeutungshaft darbietet, ohne dass dieser Anspruch eine Fessel für unser Gemüt ist, sondern uns gerade den Spiel-raum seiner Bestimmung (= das Spiel, ihn zu bestimmen) eröffnet. Was ist die Konseguenz, wenn wir die ästhetische Reflexion als ein
unend-
liches Vereinigen des vorliegenden Mannigfaltigen in passenden Begriffen,
Vorüberlegungen
137
als ein vom Erkenntniszwang freigestelltes Zusammenwirken der von der (tel e o l o g i s c h e n Reflexion her bekannten Momente Einbildungskraft und Verstand denken, d.i. als das freie Auf-Begriffe-Bringen, in welchem das Gegebene als Bild für vielerlei kehrt die Erfahrung
mögliche
des Schönen
Begriffe
zur Vorstellung
in ein blosses
kommt
- ? Man
ver-
Vexierspiel!
Ein Vexierbild lässt uns schwanken zwischen Gliederungsformen seiner Mannigfaltigkeit, oder besser: erlaubt uns nicht, seinen Anblick, der seinem äusseren Umriss nach gewiss als solcher zu erfassen ist, ins bestimmte Bild eines Begriffs zu bringen. Das treibt die Einbildungskraft dazu, immer neue Schemate auszuprobieren, bis eine befriedigende Lösung glückt, bis wir wissen, was sich hier darstellt, welcher Begriff versinnlicht ist. Das Schöne oder die schöne Form, die "Bild für vielerlei mögliche Begriffe sein 43 kann"
, wäre dann ein besonders klug angelegtes Vexierbild, das einerseits
die verschiedensten Schemate anzuwenden erlaubt, andererseits doch niemals in eines ganz sich fügt. Und wenigstens dies - dass solches das Schöne nicht ist - ist diskussionslos klar: Das nicht
eine Art provisorischen
"Spiel"
in der Erfahrung
(teleo)logischen
Reflektierens,
des Schönen
ist
das, anstatt
je in der Feststellung "das-hier ist das und das" zu terminieren, immer nur und endlos "das hier könnte das sein, aber auch jenes, oder dieses, oder ... etc." repetiert. 44
43 cf. Diising, op. cit. p. 81. 44 Diese Differenz zwischen Schönem und Vexierbild lässt sich gerade an Objekten anschaulich machen, die scheinbar auf nichts anderes zielen, als auf optische Verwirrspiele, darauf also, dem Betrachter jede fixierende Benennung zu verwehren; etwa an Josef Albers Konfigurationen. "Der Betrachter sieht zunächst Konstellationen von Linien, die ineinander verschachtelte räumliche Gebilde, nach der Art geometrischer Zeichnungen, darzustellen scheinen. Die Wirklichkeitsanschauung, an den Perspektivismus der räumlichen Dinge gewöhnt, erfährt sehr schnell eine Brechung. ... Das Störmoment der Erfahrung besteht in der kompakten Undurchschaubarkeit zweidimensionaler Liniengebilde, die dreidimensionale Aspekte vorweisen, an denen sich die Wahrnehmung zunächst orientieren möchte, an deren unfeststehendem Charakter sie aber gerade ihre Sicherheit verliert. Die Linie, befreit von Darstellungsaufgaben, erwirbt die
138
Erste Bestimmunq des Grundaktes der ästhetischen
Urteilskraft
Um das "Spiel" in der Erfahrung des Schönen angemessen
charakterisieren
zu können, hat man sich also entschiedener als bisher gegen das Modell (teleo)logischen Reflexion abzusetzen; und es ist nötig, die
der
Implikationen
der Parallelisierungsstrategie zu vermeiden.
volle Virtualität ihrer eigenen Bewegung, sie grenzt ab und löst auf, ohne dass es zur Profilierung von Sachgehalten, zum Kontur von Gegenständen kommt. Sie zieht sich zurück, hält Bedeutungsanklänge in der Schwebe und tritt dabei selbst als ein Vermögen hervor, das unendliche Möglichkeiten hat, die aber nie erschöpft, d.h. zur 'Wirklichkeit' werden. ... Die Irritation der Subjektivität bleibt bei Albers kein beliebig wiederholbarer Taschenspielertrick. Das Trickhafte bewerkstelligt vielmehr allererst die Vermittlung des Subjektes mit dem Gebilde, zieht es an und setzt es der Zweideutigkeit aus, indem das Objekt dem Subjekt seine eigene Restriktion und Negativität erfahrbar macht. Aus: Die Dialektik der ästhetischen Grenze, G. Boehm, in: neue hefte für philosophie, 5, Göttingen 1973.
KAPITEL VI ZWEITE BESTIMMUNG DES GRUNDAKTES DER AESTHETISCHEN URTEILSKRAFT
A. Der Zwiespalt in Kants Aesthetik
§ 21 Aesthetische Erfahrung vs. erkenntnisorientierte Bezugnahme
a) Die unterschiedliche Gegebenheitsweise des Erkenntnisobjekts und des ästhetischen Gegenstandes
Das erkenntnisorientierte Reflektieren der Uk hat zur Absicht die Gewinnung eines Begriffs, der am besonderen Gegebenen eine Gemeinsamkeit mit anderem Gegebenen fixiert, so dass das vereinzelt Gegebene als Bestimmtes in einen bestimmten, begrifflich artikulierbaren Zusammenhang eingeordnet werden kann. Nun aber: Dies "gegebene Besondere", von dem die
(teleolo-
gisch reflektierende Uk ausgeht, - was ist es? Durchaus nicht ein gänzlich Unbestimmtes: es ist ja, als "Irgendetwas", in den reinen Verstandesbegriffen konstituiert und als solches vorweg geprägt von den Kategorien der reinen Vernunft, die das Gegenstandsein des Gegenstandes im Sinne des nisgegenstandes
Erkennt-
determinieren.
Weil für Kant Gegenständlichkeit überhaupt mit der in der KrdrV analysierten transzendentalen Bestimmtheit identisch ist, "bleibt für die Kunst und das Schöne eigentlich keine Möglichkeit einer selbständigen Seinsweise im Rahmen der kantischen Philosophie. Mörchen (in: Die Einbildungskraft bei Kant ...) hat recht, wenn er Kant vorwirft, dass er die Seinsweise des Kunstseienden (und des Naturschönen. GK) unbestimmt gelassen habe - er hat aber nicht recht, wenn er sagt, dass diese Seinsweise für Kant die des Vorhandenen ist. (Denn:) Das Schöne ist - wenn es nicht wäre, könnte es uns nicht ansprechen und vermöchten wir nicht, es zu beurteilen. Es ist - aber es ist gerade nicht so wie anderes Seiendes und erst recht nicht wie pures Vorhandenes. Deshalb treffen wir in den kantischen Ausführungen notwendig immer wieder Negationen. Sie sind nötig, um das Nicht-so-Sein wie alles
140
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
andere sichtbar zu machen. Aber ... von welcher Art Sein muss dann gesprochen werden? - Darüber steht bei Kant nichts." Wir haben diese Feststellungen Biemels (in: Die Bedeutung von Kants Begründung ..., p. 133) so ausführlich zitiert, weil sie das vorbereiten, was der Sinn dieses und des nächsten §en ist: Erstens die Vergegenwärtigung der fundamentalen Differenz zwischen ästhetischer und nicht-ästhetischer Gegebenheit, zweitens die Einsicht, dass sich die KdU zu diesem Unterschied ambivalent verhält - ihn betonend (vor allem mit Hilfe von Negationen) und zugleich ihn zuschüttend. Das letztere zum Beispiel eben dadurch, dass die mindestens partielle Ungültigkeit der Kategorien der KrdrV für die Objektivität des der ästhetischen Uk vorgegebenen "Gegenstandes der Anschauung" völlig verschwiegen wird. - Auch das ist ein Aspekt der Parallelisierungsstrategie. Die der (teleo)logischen Uk von der Tätigkeit des transzendentalen Verstandes als Erkenntnisobjekt zugerichtete Gegebenheit ist festgemacht als einzelne Anschauung - so nämlich, dass sie mit anderem auf Gemeinsames hin verglichen werden kann. Denn die (teleo)logische Reflexion muss ja stets ein bestimmtes und begrenztes Vereinzeltes zum Ausgangspunkt haben, um ihrer Funktion Genüge zu tun, d.h. um zu Bestimmungen gelangen zu können, die dem Vorliegenden den Ort im begrifflich eindeutig bestimmten System des Ganzen zuweisen. M.a.W.: Das der (teleo)logischen Reflexion vorliegende Gegebene begegnet immer schon im Aspekt seiner Vergleichbarkeit, es ist also nicht schlicht Einzelnes, sondern als solches auch eines unter anderen.
We-
senszug dessen, worauf sich die (teleo)logische Uk bezieht, ist dies: vereinzelt Vorhandenes inmitten von anderem zu sein. In der Erfahrung des Schönen indes begegnet das, dem wir dann das Prädikat "schön" zusprechen nicht als ein Vereinzeltes, Begrenztes, nicht als eine zu erfüllende Leerstelle des Systems. Die Erfahrung, die wir an ihm machen, ist vielmehr umgekehrt die, dass es selbst ein Umgreifendes und Ganzes ist, eine "eigene Welt", nichts Vereinzeltes in der Welt. Denn die ästhetische Refi exion, das "Spiel" steht nicht in der Position des Vergleichenden aber der Sache, und so begegnet diese nicht als etwas, dem man sich zuwendet, um all jenes Besondere, das der Individualität zugehört, nichtig zu machen, weil es in die abstrakt-allgemeine Ordnung nicht einfügbar ist. Vielmehr wird der ästhetischen Reflexion alles am Gegebenen wichtig, da keine Erkenntnisabsicht Hinsichten auf eigens Herauszuhebendes oder als unwichtig zu Uebersehendes vorschreibt. Wesenszug dessen, worauf sich die ästhetische Uk bezieht, ist dies: ein Individuelles zu sein, das zugleich ein Umfassendes ist, etwas, das Totalität in sich versammelt.
141
Unterschiediiche Vol 1 zugsweisen
b) Die unterschiedliche Vollzugsweise der ästhetischen gegenüber der erkenntnismässigen Bezugnahme auf Gegebenes
Was soeben gesagt worden ist, erhebt natürlich keinen Anspruch auf letzte Genauigkeit und noch weniger auf Vollständigkeit der Beschreibung; gerade was die letztere betrifft fehlt Elementares - z.B. die Verständigung Uber den Zusammenhang zwischen je spezifischer Gegebenheitsweise und der Einstellung, die dem Subjekt eignet, d.h. jenen Erwartungshorizonten und Leithinsichten, die die Wesensmöglichkeiten einer Gegebenheitsweise vorweg umgrenzen. Solches beizubringen ist allerdings auch nicht der Zweck unserer rudimentären Phänomenvergegenwärtigungsversuche gewesen; das Ziel ist lediglich, die Aufmerksamkeit für tiefliegende Differenzen zwischen dem, was Woraufhin der (teleo)logisehen, und dem, was Korrelat der ästhetischen Uk ist, zu schärfen. Differenzen, die mindestens nicht explizit in der KdU auftauchen und deren Nichtbeachtung erst die nivellierende Formel vom 'freien Auf-Begriffe-Bringen' eingängig macht. Das (teleo)logische Reflektieren ein Auf-Begriffe-Bringen zu heissen, ist gewiss einleuchtend. Dies Tätigkeitswort präsentiert nämlich das Verhältnis zwischen dem Gegebenen der Anschauung und dem nicht-sinnlich Gedanklichen, Begrifflichen, auf das das erstere zu beziehen ist, so wie es im Funktionsbereich objektiven Erkennens wirklich erscheint: als ein Auseinander, das durch die Anstrengung der Uk überwunden wird. Der Vollzug der (teleologischen Reflexion ist das Herstellen einer Relation zwischen Getrennten. Die Besinnung aufs Phänomen desjenigen Vorgangs, der die ursprüngliche Erfahrung des Schönen ist, entdeckt aber wiederum anderes: Zweifellos ist das Erfahren von Schönem nicht schlichtes Wahrnehmen von solchem, was sich den Sinnen darbietet. In und mit dem Gegebenen meldet sich Gedankliches, Begriffliches. Aber erstens wird beides zugleich erfasst; das sinnlich Gegebene ist niemals zunächst ein Einzelnes, also Besonderes, das nachträglich auf Allgemeines und Begriffliches bezogen wird; es gibt überhaupt kein Herstellen eines Bezugs zwischen je Getrenntem, Besonderem und Allgemeinem, Anschaulichem und Begrifflichem, sondern Gesehenes
und Hinein-Gesehenes/Gedaohtes
ist
in-
eins da, eine Einheit wie der verlautete, sinnliche Ausdruck und seine Be-
142
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
deutung. Und zweitens ist mehr
"gefühlt"
als
ist das Gedankliche durchaus nicht klar bewusst, es "gewusst".
Mit zwei Beispielen sei das Gesagte verdeutlicht. Nikolai Hartmann gibt in seiner "Aesthetik" ^ ein Exempel des Erfahrens von Natur
schönem:
"Im Hinblicken auf die elastisch kraftvolle Sprungbewegung des Tieres in freier Natur wissen wir doch irgendwie unmittelbar darum, dass die Grazie und beherrschte Sicherheit der Bewegung nicht an diesen Augenblick gebunden ist, dass sie dem Tier vielmehr überhaupt zukommt ein Können und eine Vollkommenheit von Dauer ist ... Es offenbart sich hier also etwas von dem grossen Geheimnis der organischen Natur, der Zweckmässigkeit des Lebendigen ... In der Einmaligkeit des Erlebnis und der als Zufälligkeit empfundenen Gegebenheit des Gegenstandes zeigt sich als das Hier und Jetzt der Wahrnehmung, ein Allgemeineres ..." Als Beispiel für die Erfahrung von Kunstschönem
ist auf Emil
Staigers
"Kunst der Interpretation" zu verweisen: "Wir lesen Verse; sie sprechen uns an. Der Wortlaut mag uns fasslich erscheinen. Verstanden haben wir ihn jedoch nicht ... Es ist noch nicht der volle Gehalt, den wir wahrnehmen und den erst ein gründliches Lesen erschliesst: Es sind auch nicht nur Einzelheiten, obwohl sich Einzelnes sicher schon einprägt. Es ist ein Geist, der das Ganze beseelt, ... wie wir deutlich fühlen, ... ohne dass wir schon Rechenschaft ableaen könnten ..."2 In beiden Deskriptionen wird also betont (in genauem Gegensatz zu unserer, eine vermittelnde Arbeit der Reflexion unterstellenden Formel des Auf-Beqriffe-Bringens),
dass im Erfahren des Schönen, verwoben ins Wahrnehmen des
anschaulich Gegebenen, ein unmittelbares Erfassen von Allgemeinem, Geistigem am Werk ist; wobei dies Geistige, Gedankliche, nicht deutlich in der Form expliziter Begriffe bewusst ist (Staiger spricht hier vom "Gefühl"). Ein besser geeignetes Paradigma für die Beschreibung der ästhetischen Erfahrung (Exkurs): Die Erfahrung, in der ein in der Anschauung Gegebenes als Schönes begegnet, vollzieht sich in der Weise, dass wir zugleich mit dem Wahrnehmen eines sinnlich Vorliegenden, "mehr" und "anderes" wahrnehmen als nur ein einzelnes Vorliegendes, genauer: dass wir überhaupt nie etwas als ein nur sinnlich Vorliegendes wahrnehmen. Denn was wir anschauen, hat von Anfang an den Charakter von Ausdruckshaftem, d.h. von solchem, das unmittelbar Gedankliches erscheinen lässt, uns unmittelbar auf Gedankliches bringt.
1 N. Hartmann, Aesthetik, Berlin, 1953, p. 54. 2 E. Staiger, Kunst der Interpretation, Zürich, 1955, p. 12/13.
Ein besseres Paradigma
143
(Dies meinen wir auch - nämlich dass uns durah und in einem sinnlich Gegebenen Bedeutungshaftes, Begriffliches vernehmlich wird - wenn wir fürs Schöne die Wendung "es spricht uns an" gebrauchen.) Das eben Gesagte rät zu einem Paradigmawechsel. Anstatt wie bisher und unter der Wirkung der von der KdU beförderten Affinität von (teleologischer und ästhetischer Uk die Erfahrung des Schönen in dem Begriffsrahmen verorten zu wollen, der zugunsten des Vorgangs objektiver Prädikation von Empirischem entwickelt worden ist, anstatt also die ästhetische Reflexion nach einem Modell zu denken, das unvermeidlich von einem Abstand zwischen dem zu bestimmenden Sinnlichen und dem bestimmenden nicht-sinnlichen Begriff ausgeht, ist das eigentumliche Vernehmen, in dem sich uns etwas als "schön" darstellt, vom Vorbild des Ausdrucksverstehens her zu explizieren. Wir werden ja sozusagen von selbst - beim Versuch die für die ästhetische Wahrnehmung typische Untrennbarkeit der Rezeption von sinnlich Gegebenem von der Perzeption des "im" Anschaulichen mitbegegnenden Gedanklichen zu schildern - auf das Begriffspaar '(sinnlicher) Ausdruck/(unsinnliche) Bedeutung 1 gestossen: So, wie wir in der Begegnung von einem in der Anschauung Gegebenen, das uns schön dünkt, sogleich "angesprochen" und mithin "viel zu denken veranlasst sind" (cf. KdU, § 49), so sind wir ja auch in der Erfahrung von etwas als "Ausdruck" sogleich bei seiner "Bedeutung". Das will nun nicht heissen, dass in der Erfahrung des Schönen das sinnlich Gegebene in derselben Weise aufgenommen wird, wie etwa beim Verstehen von gesprochener Rede. Im Hören der Rede sind wir ja normal erweise aufs Gemeinte, auf die Bedeutung zentriert; die Verlautung als solche wird überhaupt nicht thematisch. Nicht so qeschieht es in der Erfahrung von Schönem. Hier ist im Gegenteil das sinnlich Gegebene als solches wesentlich ; das in der sinnlichen Wahrnehmung Vorfindliche wird als solches durchaus beachtet, denn was uns an Bedeutungshaftem erscheint, wird als im Gegebenen sich meldend bewusst. Das Sinnliche ist nicht hinter dem durch es vermittelten Unsinnlichen verschwunden. Das Wesen des Schönen und die Weise, wie es erfahren wird, sind aber nicht nur deshalb nicht einfach nach dem Vorbild eines (sprachlichen) Ausdrucks und der Weise, wie er von uns aufgenommen wird zu fassen, weil in der Sphäre des Aesthetisehen der normal erweise hinter der Bedeutung verschwindende Bedeutungsträger eine eigene Wichtigkeit besitzt, sondern weil auch von einer im Gegebenen erscheinenden "Bedeutung" nicht ohne weiteres gesprochen werden darf. Was in etwas, sofern dies "schön" dünkt, sich offenbart, ist eben solches, "das keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann" (cf. KdU, § 49). Der "Ausdruck" des Schönen ist auf bestimmte Bedeutung niemals zu reduzieren, sondern eröffnet einen Bedeutungsraum, dessen Weite und Tiefe nicht zu erschöpfen sind. Weder ist das Schöne in derselben Weise geqeben wie ein sprachlicher Ausdruck, noch ist in beiden Fällen der Vollzug der Wahrnehmung der gleiche, dennoch dürfte unbestreitbar sein, dass das Modell des Ausdrucks- und Zeichen-Vers tehens geeigneter ist einer Deskription der ästhetischen Reflexion als Mittel zu dienen, denn das von Kant in Anschlag gebrachte Paradigma (und allein für indirekte, d.h. negierende Beschreibung nutzbare Muster) der auf objektive Prädikation zielenden, erkenntnisorientierten Bezugnahme auf Vorhandenes. - Mehr oder minder bewusst ist sich jedenfalls die gegenwärtige Theorie des Aesthetischen darin einig, die Wahrnehmung
144
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
des Schönen (oder "ästhetisch Relevanten") als eine Form von Verstehen zu analysieren; bei Gadamer (vgl. nebst Wahrheit und Methode auch: Aesthetik und Hermeneutik, in: Kleine Schriften ...) oder bei Charles William Morris (in Aufbietung der modernen Semiotik, vgl. Aesthetik und Zeichentheorie, dt. in: Grundlagen der Zeichentheorie ..., München 1972), sowie bei Umberto Eco (cf. etwa: Einführung in die Semiotik; Die aesthetische Botschaft, dt. München 1972), ist es ausdrückliches Programm, und bei anderen (z.B. im Rahmen der phänomenologischen Aesthetik) ist es die Folge sachtreuer Beobachtung; in diesem Zusammenhang ist schliesslich an die "Rezeptionsästhetik" zu erinnern, die die ästhetische Erfahrung aus ihrer kommunikativen Funktion zu entfalten trachtet; vgl. etwa H.R. Jauss, Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung, Konstanz 1972. Es wäre freilich falsch, wollte man Kant vorwerfen, das Paradigma "Verstehen" spiele in seiner Deutung des Schönen und dessen Auffassung überhaupt keine Rolle. Denn Kant gelingen exakt dort die einleuchtendsten Explikationen des "freien Spiels", also der ästhetischen Reflexion, wo er aus der negativen Orientierung an der (teleo)logisch reflektierenden Uk und deren Erkenntnisurteil herausfindet, um das Schöne im Umkreis des Verstehens von (sprachlichem) Ausdruck zu beschreiben: Das Wesen der "ästhetischen Idee" und des ihr korrespondierenden Wahrnehmens wird von ihm ja am Beispiel der Dichtung erörtert. 3 Allerdings macht sich auch in diesen Passagen noch die systematische Schranke der Parallelstrategie bemerkbar, vgl. dazu unten, p. 369ff, den Exkurs zur "Subjektivierungsthese"; zur ästhetischen Idee vgl. unten p. 226ff, "Anspruch der Gunst und Prozess der Ent-sprechung".
c) Zwei Beispiele für Kants Phänomentreue
An zwei leicht zu übersehenden - und von uns bislang
unberücksichtigten
- Details der Formulierung ist nun die Kritik am methodischen Ansatz der KdU zu relativieren und zu demonstrieren, dass Kant die Sache selbst durchaus nicht simpel parallelisierungsstrategisch überfremdet. In der KdU streiten zwei Tendenzen gegeneinander; das muss man belegen, soll rechtens vom "Zwiespalt in Kants Aesthetik" die Rede sein. Zunächst ist auf das Genus des Tätigkeitswortes
zu achten, das das Zusam-
menwirken von Einbildungskraft und Verstand im "Spiel" bezeichnet: Das "Spiel" ist meist als "Ins-Spiel-und-in-Einstimmunq-^öreetst-Se-in"
oder
3 vgl. auch KdU, § 51: "Man kann überhaupt Schönheit (sie mag Natur- oder Kunstschönheit sein) den Ausdruck ästhetischer Ideen nennen: nur dass in der schönen Kunst diese Idee durch einen Begriff vom Objekt veranlasst werden muss, in der schönen Natur aber die blosse Reflexion über eine gegebene Anschauung ohne Begriff von dem, was der Gegenstand sein soll, zur Erweckung und Mitteilung der Idee, von welcher jenes Objekt als der Ausdruck betrachtet wird, hinreichend ist." (p. 204).
Zwei Beispiele für Kants Phänomentreue "-Werden"
145
der Gemütsvermögen eingeführt; das "Spiel" wird damit von Kant
ausdrücklich als etwas geschildert, das die Erkenntnisvermögen gewissermassen überkommt.
Nicht sie, resp. das aufs Seiende gerichtete Subjekt,
ist es also, das in diesem Geschehen die Leitung inne hat, kein methodisches Ueberlegen vom Allgemeinen auf Besonderes hin und zurück findet demnach statt, mithin kein Auf-Begriffe-Brinden, sondern es ereignet sich ein unvermitteltes Ineins von Allgemeinem, Begrifflichem und einzeln Anschaulichem. Mit der fast durchwegs von ihm gebrauchten passiven Form des "InsSpiel-versetzt-Seins" bedeutet Kant eben jenes die Erfahrung des Schönen auszeichnende, unmittelbare Ineins von Sinnlichem und Geistigem, das sich nicht erst nach einer Anstrengung der Reflexion in der Subsumtion eines Besonderen unters Allgemeine einstellt. Ein weiterer Beleg dafür, dass Kants Charakterisierung der ästhetischen Bezugnahme auf phänomenologisch zu bewährende Sachverhalte hin durchsichtig zu machen ist, ist seine Auseinandersetzung mit der Frage, wie man sich des Vorgangs der ästhetischen Reflexion jeweils bewusst ist; - das im "Spiel" glückende Zusammenstimmen von Einbildungskraft und Verstand (und damit auch die Konvenienz der Subjektsvermögen mit der Form des Gegebenen) offenbart sich nämlich im "Gefühl" oder als
"Empfindung":
"Jetzt beschäftigen wir uns ... mit der ... Frage: auf welche Art wir uns einer wechselseitigen ... Uebereinstimmung der Erkenntniskräfte untereinander ... bewusst werden." Die Antwort lautet: "Jene ... Einheit des Verhältnisses (der Erkenntniskräfte) kann sich nur durah Empfindung kenntlich machen. Die Belebung beider Vermögen (der Einbildungskraft und des Verstandes) zu unbestimmter, aber doch vermittelst des Anlasses der gegebenen Vorstellung einheitlicher Tätigkeit ... ist ... Empfindung . . . " 4 ( I m selben Zusammenhang verwendet Kant auch den Terminus "Gefühl": " ... die Erkenntniskräfte, die durch die Vorstellung ins Spiel gesetzt werden, sind hierbei in einem freien Spiele, ... und der Gemütszustand in dieser Vorstellung muss der eines Gefühls des freien Spiels der Vorstellungskräfte an einer gegebenen Vorstellung ... s e i n . " 5 Was besagt aber diese kantische Qualifizierung des der ästhetischen Reflexion zugehörigen Bewusstseinsmodus'? - Doch genau dasselbe, was auch N. Hartmann und E. Staiger bezüglich der Art und Weise, wie man sich in der ursprünglichen ästhetischen Erfahrung des im Gegebenen enthaltenen Allgemeinen und Gedanklichen inne wird, festgestellt haben. Dass nach Kant das "Spiel" 4 KdU, § 9, p. 31. 5 KdU, § 9, p. 28.
146
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
zunächst als ein "Gefühl" für uns da sein soll, entspricht also dem "deutlichen Fühlen des Geistes des Ganzen" (Staiger), das kein klares und distinktes etwas-als-etwas-Bestimmen, also kein ausdrückliches Auf-Begriffe-Gebrachthaben ist, aber dennoch ein "irgendwie wissendes" (Hartmann), d.h. sprachlich artikulierbares Wahrnehmen. (Mit diesen Bemerkungen zum Zusammenhang zwischen dem Bewusstseinsmodus "Gefühl" und der im Grundakt der ästhetischen Uk geschehenden Aktualisierung der Gemütsvermögen ist ein Problemfeld betreten worden, dessen Vermessung viel schwieriger ist, als es jetzt den Anschein machen mag. Das liegt vor allem an dem in der Kdll ungeklärten "Gefühl" und der in die ästhetische
Verhältnis
Erfahrung
zwischen
eingewobenen
der
Bestimmung
Lust. Es dürfte
auf den ersten Blick ersichtlich sein, dass der Ausdruck "Gefühl" - so verstanden, wie wir ihn oben soeben verwendet haben - nicht einfach das gleiche wie der Ausdruck "Gefühl der Lust" bedeuten kann. Wie später noch eingehend zu zeigen sein wird, gebraucht Kant in der Tat "Gefühl" in jenem nicht auf "Gefühl der Lust" reduzierbaren Sinn, - aber Kant scheint sich darüber nicht recht im klaren zu sein. So kommt es dann zu folgenreichen Konfusionen und Zweideutigkeiten in Kants Beantwortung der Frage, wie das "Spiel" als solches im Bewusstsein gegeben ist; ausführlich werden wir uns damit unten in Kapitel IX beschäftigen.)
§ 22 Die zwei Pole der kantischen Aesthetik
Der letzte § hat unsere erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Uk in zweifacher Hinsicht desavouiert: Erstens hat die erneute Vergegenwärtigung des ästhetischen Phänomens auffällig gemacht, dass die Formel
'frei-
es Auf-Begriffe-Bringen' das Geschehen der ästhetischen Reflexion nur verzerrt wiedergibt, zweitens hat die genaue Lektüre einzelner Feststellungen der KdU auch den anderen Anspruch dieses Interpretaments zerstört, die Prätention nämlich, nichts anderes als die kantische Vorstellung vom ursprünglichen ästhetischen Akt zu reformulieren. In beiden Fällen hat die Formel ihr Versprechen nicht einzulösen vermocht - und dennoch ist sie nicht einfach obsolet, denn in ihr verkörpert sich nicht die Irrmeinung des Interpreten, sondern ein nicht wegzuleugnendes Moment der KdU selbst; sie ist also als Interpretament nur insofern falsch, wenn man sie für den
voll-
147
Die zwei Pole der kantischen Aesthetik ständigen
Ausdruck von Kants Bemühung um die ästhetische Reflexion hält.
Kants Aesthetik ist von zwei fundamentalen
Tendenzen
geprägt; einerseits
finden sich in der KdU genügend Auskünfte, die zeigen, wie genau Kant (trotz seiner Abhängigkeit von den der Erkenntnistheorie entliehenen Konzepten) die ästhetische Erfahrung zu erfassen und nachzukonstruieren vermag; Kant is1 vielfach durchaus phänomenologisch inspiriert, und wir werden dies in den folgenden §§ dieser Arbeit bestätigt finden. Andererseits ist das, was wir "Parallelstrategie" nennen, ein wesentlicher Zug in seinem Versuch, die alte Frage nach dem "Geschmack", dessen Kompetenz, Verbindlichkeit und Basis, zu begründeter Entscheidung zu bringen. Kant denkt die Wahrnehmung des Schönen von Anfang an im Horizont
einer allgemeinen
Kritik der
Urteilskraft,
und das bedeutet, dass er die ästhetische Reflexion mit Hilfe und/oder in Abwandlung von solchen Konzepten analysieren muss, deren ursprünglicher Verwendungssinn von der Struktur der (nach dem Paradigma naturwissenschaftlicher Erkenntnis verstandenen) objektivierenden Gegenstandbestimmung
festge-
legt wird. Die immanenten Zwänge und impliziten Grundannahmen bezüglich Gegebenheits- und Zugangsweise des Seienden, die diesem konzeptionellen Rahmen eignen, bewirken notwendigerweise einen ständiqen Widerspruch zwischen dem Begriffsapparat, der Kant zur Verfügung steht, und der Sache, die es zu begreifen gilt. Kant entgeht dieser Konflikt nicht; so weit als irgend möglich - und zuweilen die Grenzen seines Ansatzes sogar sprengend (ästhetische Idee) - bringt er das von ihm gemeinte Phänomen adäquat zur Sprache. Aber sein Versuch zur Sachtreue muss auf halbem Wege steckenbleiben, wenn er nicht gar in Sackgassen führt. Denn der Ausweg, der sich Kant in dieser Situation anbietet, ist die negierende
Darstellung.
Negationen konstatieren
freilich immer nur, was etwas nicht ist, und lassen offen, was den positiven Sachcharakter des von ihnen Angezeigten ausmacht. Ihr Gewinn ist die Oeffnung des Blicks auf das jeweils andere, aber diese Offenheit verlangt sogleich nach inhaltlicher Erfüllung. Ein gutes Beispiel für solche Erfüllungsbedürftigkeit ist der Terminus "blosses Reflektieren" (vgl. oben, §§ 17 u. 19). Der Begriff sagt eigentlich nur, dass man sich hüten solle, das ästhetische Auffassen mit objektivem Erkennen zu verwechseln. Was das erstere aber an ihm selbst betrachtet ist, ist dadurch keineswegs ausgemacht; eine Interpretation des negierenden
148
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
Begriffs ist unumgänglich. Diese freilich, will sie sich nicht vorschnell verselbstständigen, wird wiederum auf das zurückgreifen müssen, was in einer Untersuchung des ästhetischen Vermögens, die von Anfang an im Horizont einer allgemeinen "Kritik der Urteilskraft" situiert ist, am naheliegendsten ist: auf die Parallelität von ästhetischer Erfahrung und bestimmender Reflexion, gemäss der von Kant selbst angenommenen inneren Zusammengehörigkeit der ästhetischen mit der (teleo)logischen Uk in der reflektierenden Uk-Uberhaupt. Dass man so erst recht den Zwängen des konzeptionellen Rahmens ausgeliefert wird, denen Kant mit seinen Negationen entweichen möchte, ist natürlich klar (exemplarisch dafür ist eben die Formel vom 'freien Auf-Begriffe-Brinqen'). - Aber vielleicht blüht dies Schicksal allein dem übereifrigen Kantexegeten? ... Das mag hinsichtlich des obigen Beispiels als Einwand noch angehen, jedoch - belastend und gefährlich für die Stimmigkeit der kantischen Grundlegung des Schönen wird die Koalition zwischen Parallelstrategie und der Methode der negierenden Beschreibung spätestens dort, wo sie zu bar positiven
Resultaten
führt.
schein-
Gemeint ist folgendes: Wenn die KdU die
ästhetische Reflexion - wie jede Reflexion - (a) als ein Zusammenwirken von Einbildungskraft und Verstand denkt und (b) die Eigentümlichkeit Aktivität
in der besonderen Weise,
dieser
wie Einbildungskraft und Verstand über-
einkommen, sieht, und (c) nun noch die besondere, ästhetisch relevante Uebereinkunft als "freie" (im Gegensatz zur "gesetzmässigen" der
(teleo)-
logischen Uk) qualifiziert, so scheint durchaus eine nicht nur negative Bestimmung der ästhetischen Reflexion gewonnen. Aber was hat man unter der die ästhetische Reflexion bezeichnenden "freien Uebereinstimmung" zu verstehen? - Nichts anderes (cf. oben § 17, d-f) als eine Konvenienz, die frei von den Prädeterminationen jeglicher Erkenntnisabsicht ist, eine Konvenienz also, deren mögliche Konkretisierungen stets nur dies eine gemeinsam haben müssen: dass sie nämlich überhaupt
und irgendwie
einen
Kooperationsvollzug
von Einbildungskraft und Verstand realisieren. - Doch hat man mit dem so erläuterten Begriff der "freien Uebereinstimmung" die Spezifität tischen
Reflexion
der
ästhe-
und damit diese selbst wirklich zureichend bestimmt? -
Nein, gerade nicht. Was man in Wahrheit erhält, ist eine Reduktion der Vollzugsstruktur der ästhetischen Reflexion auf diejenigen Bestimmungen, die jedem
(sowohl dem ästhetischen wie dem (teleo)logischen) Reflektieren eig-
nen müssen, sofern es überhaupt als Reflektieren im kantischen Sinn, d.h.
149
Die zwei Pole der kantisehen Aesthetik
eben als ein Zusammenwirken von Einbildungskraft und Verstand, soll gedacht werden können. M.a.W.: die Explikation der "freien Uebereinstimmung", die nach Kant für die ästhetische
Reflexion spezifisch sein soll, als eines von
jeglicher besonderen Bedingung befreiten Harmonierens von Einbildungskraft und Verstand, unterscheidet die ästhetische Reflexion von der schen
nur scheinbar, da sie gleichzeitig
scher und reflektierender
die Differenz
Uk-iiberhaupt einebnet.
(teleologi-
zwischen
ästheti-
Die Gleichstellung der
ästhetischen Uk mit der reflektierenden Uk-iiberhaupt, die Identifizierung also der ersteren mit ihrer übergeordneten Gattung, hat nämlich die logische Folge, dass die (teleo)logische Reflexion aus dem Bereich der ästhetischen Reflexion nicht prinzipiell auszuschliessen ist, sondern eine unter anderen möglichen Konkretisierungsformen der letzteren ist! Zwar will die Kdll durchaus die Spezifität
der ästhetischen Reflexion auf den Begriff brin-
gen, aber weil sie das tut, indem sie die ästhetische, "freie" Uebereinstimmung von Einbildungskraft und Verstand bloss als Negation der "gesetzmässigen" einführt und eine zweite Bestimmung nicht liefert, die die "freie Uebereinstimmung" auch noch von der für Reflexion-überhaupt geforderten Konvenienz abhebt, so dass man schliesslich die "freie Uebereinstimmung" als 'Uebereinstimmung-überhaupt' denken muss, erreicht sie ihre Vorhabe nicht, da sie bei einer vermeintlich positiven Charakterisierung der ästhetischen Reflexion endet, die in Wahrheit die Eigentümlichkeit der Aktivität der ästhetischen Uk gerade vernichtet hat. Der - freilich nie auf den ersten Blick sichtbare - Verlust der Differenz zwischen ästhetischer Uk und reflektierender Uk-überhaupt ist ein Kardinalfehler
der kantischen Aesthetik, denn er bildet ein konstitutives
Ele-
ment just jener Grundannahmen, mit denen Kant operiert, wenn er seine Hauptabsicht verwirklichen will: die Grundlegung des Geschmacksurteils. Wir werden das später (Kapitel X und XI) zur Genüge diskutieren. Was jetzt erkannt und konstatiert werden muss, ist allein dies: Kante und Kants Methode die Struktur zu definieren Konstruktionen menologischen
der negierenden
der ästhetischen dergestalt,
Beschreibung
Konvenienz
verbinden
sind, die sowohl der logischen überführt
sich beim
von Einbildungskraft
dass die Bestimmungen,
Unausweisbarkeit
Varalleliaierungeansatz
die dabei
Inkonsistenz
werden
können. ^
und
Versuch, Verstand
herauskommen, wie der
150
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
Die vorstehenden Ueberlegungen verfolgten den Zweck, deutlich zu machen, dass die Negation die oft gleichsam unterschwellig wirksamen Einflüsse des Parallelisierungsansatzes
nicht einzudämmen vermag. Und sofern sie das spie-
gelt, können wir unsere Interpretationsformel
- ästhetische Reflexion sei
"freies Auf-Begriffe-Bringen" - auch jetzt noch verteidigen. Hat man das aber eingesehen, muss man sich umgehend dagegen wappnen, diese Einsicht zu überschätzen. Anders gesagt: Nötig ist es, sich dessen zu erinnern, was der eigentliche und sachlich gute Grund für die Häufigkeit von Negationen in Kants Aesthetik ist - Kants Nähe zum Phänomen und seine Anstrengung der ästhetischen Erfahrung so gerecht wie möglich zu werden. Kants sozusagen phänomenologische Seite macht den Gegenpol
zum fehlgehenden
Konstruktivis-
mus aus, zu dem Kant aufgrund seiner Abhängigkeit von den Modellen und Begriffen seiner Kritik der (naturwissenschaftlich) erkennenden Vernunft gedrängt wird. Konstruktive Tendenz und. der Wille die ästhetische Gegebenheit originär zu erfassen - beide Züge prägen die KdU und es wäre falsch, den einen zugunsten des anderen zu unterschlagen. Die mitunter schwierigen Konfigurationen, die sich aus dem Gegeneinander dieser Faktoren ergeben, aufzulösen und zu erklären, ist gewiss nicht die einzige, aber eine unvermeidliche Aufgabe der Interpretation, will sie die Aussagen der KdU von innen begreifen.'' Nachdem klar geworden ist, dass unsere erste Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Uk (wiewohl sie als Interpretament nicht einfach falsch ist) das von Kant eigentlich Gemeinte in zwiefachem Sinn verfehlt - nämlich sowohl von den Strukturen des Phänomens selbst her betrachtet als auch bei Berücksichtigung der Ambivalenz von Kants Text - ist nun zu fragen, worin der nächste Schritt bestehen muss. Die Antwort ergibt sich indes beinah von selbst: Wir haben zu zeigen, dass Kants Aussagen zur ästhetischen Reflexion (auch) eine Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Uk beinhalten, in der die Verzerrung der Parallelstrategie weitgehend ausgeschaltet sind. Dazu ge6 Das Beweismaterial für diese Behauptung enthält unsere Interpretation des vierten Kerntextes, die Auslegung des § 35 der KdU. 7 Natürlich ist die innere Spannung der kantischen Aesthetik auch früheren Auslegern nicht entgangen; verwiesen sei hier bloss auf Biemel, in: Die Bedeutung von Kants Begründung der Aesthetik für die Philosophie der Kunst Köln, 1959, p. 116ff. Wir beanspruchen also keinerlei Urheberrecht für unsere These.
Die zwei Pole der kantisehen Aesthetik
151
langen wir, sobald wir den Begriff des "Spiels" stärker als bisher in den Vordergrund rücken. (Dass für die zweite Bestimmung des Grundaktes gerade der Terminus "Spiel" zentral ist, liegt vor allem daran, dass die kantische Einführung dieses Ausdruckes gar nicht verständlich ist, wenn man sie nicht als Konsequenz einer phänomenologischen
Vergegenwärtigung der ästhe-
tischen Erfahrung begreift.) Und mit Hilfe der zweiten, sowohl die Sache selbst besser treffenden, als auch die Phänomengerechtigkeit der kantischen Aeusserungen erschliessenden Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Uk wird es endlich möglich sein, zu entdecken, was Kant mit der "Zweckmässigkeit-ohne-Zweck" des Schönen meint.
Β. Das "Spiel" und die innere Zweckmässigkeit des Schönen
§ 23 Der Grundakt der ästhetischen Urteilskraft als "Spiel von Einbildungskraft und Verstand"
Das "Spiel der Erkenntnisvermögen" als Kants eigentliche und entscheidende Kennzeichnung des Grundaktes der ästhetischen Uk zu erweisen, ist das Anliegen von A.H. Trebels bemerkenswerter Studie "Einbildungskraft und Spiel", "Untersuchungen zur kantischen Aesthetik", Bonn 1967. Zwischen Trebels 1 Ergebnissen und dem Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit besteht jedoch eine wichtige Differenz: während Trebels am Ende das "Spiel" und damit das Schöne auf die Spontaneität der ursprünglichen Apperzeption zurückführt (cf. "Das Schöne ist ein Produkt der Spontaneität des Ich-denke und gründet im Spiel der ästhetischen Urteilskraft", op. cit., p. 226), möchten wir zeigen, dass das "Spiel" gerade nicht nur als eine Tätigkeit des Subjekts gedacht werden kann, insofern also nicht allein von der Spontaneität des Ich-denke her zu beqreifen ist, sondern ein Geschehen darstellt, in dem sich die seihständige Substantialität des "schön" genannten Gebildes zur Geltung bringt (freilich indem die letztere sich zugleich mit der Spontaneität des ihm begegnenden Subjekts vereint). Wir versuchen das einleuchtend zu machen, indem wir uns auf das von Kant mit seinem Ausdruck "Spiel der Erkenntnisvermögen" gemeinte Phänomen beziehen: die ästhetische Erfahrung. Unsere Deutung des Diktums "Spiel der Erkenntnisvermögen" ist inspiriert von H.G. Gadamers - in "Wahrheit und Methode" (im Anschluss an die mit Hegel gegen Kant gewendete Kritik an der "Subjektivierung der Aesthetik") vorgetragener - Ontologie des Kunstwerks. Gadamer expliziert das Wesen des Schönen (genauer: das Wesen des Kunstwerkes) aus der Orientierung an einem prinzipiellen Begriff von "Spiel": Spiel ist nach Gadamer letztlich ein Sichabspielen, ein Vollzug, der diejenigen, die ihn aktualisieren - die Spieler - , transzendiert. Genauso, sagt Gadamer, verhält es sich mit der Kunst: "Wir gehen davon aus, dass das Kunstwerk Spiel ist, d.h. dass es sein eigentliches Sein nicht ablösbar von seiner Darstellung hat und dass doch in der Darstellung die Einheit und Selbigkeit eines Gebildes herauskommt." (op. cit., p. 116). Allerdings - und das ist immerhin anzumerken - was wir von Gadamer aufnehmen, um damit den Sinn eines Grundbegriffs der KdU aufzuschliessen, wird von Gadamer selbst im Gegenzug zu Kant entwickelt - nämlich eben gegen dessen "Subjektivierungstendenz". Dass Gadamers Kantkritik natürlich einen triftigen Grund hat, soll unser Exkurs am Schluss dieser Arbeit erörtern (unten p. 371 ff), dennoch, und das ist eben in unserem folgenden § 23 zu bewähren, ist genau das auch im ka.ntisoh.en Begriff des ästhetischen Spiels zu entdecken, was die Quintessenz der gadamerschen These ist: Das (ästhe-
Der Grundakt als "Spiel"
153
tische) Spiel ist das Da-Sein des Schönen. Trebels Monographie stützt sich in vielem auf die Vorarbeiten von I. Heidemann. Mittlerweile hat Heidemann das philosophische Thema des Spiels umfassend dargestellt: "Der Begriff des Spiels und das ästhetische Weltbild in der Philosophie der Gegenwart", Berlin 1968. Dem darin enthaltenen Kapitel über Kant verdankt die vorliegende Studie nicht nur im Hinblick auf Kants Spielbegriff manche Anregung, vgl. etwa op. cit., p. 214, und unten p. 226 ff., "Der Prozess der Ent-sprechung". Unbestreitbar ist die Rede vom "Spiel der Erkenntnisvermögen" - nicht nur in unserem ersten Kerntext, sondern an allen Stellen der KdU, wo sie auftritt - stets auf das allgemeine, kantische Konzept der reflektierenden Uk und des Reflektierens zurlickzubeziehen; will man verstehen, warum Kant im Zusammenhang einer Erörterung des Basisaktes der ästhetischen Uk überhaupt auf das Verhältnis von Erkenntnisvermögen zu einander zu sprechen kommt, muss man jener Logik folgen, die wir im Kapitel
I so ausführlich entfaltet haben.
Was dadurch durchsichtig wird, ist indes bloss das generelle
Konstruktions-
prinzip dieser für Kant typischen Wendung (also dass in ihr "Verstand" und "Einbildungskraft" vorkommen, sowie die "Proportion der Vermögen", die von der "gesetzmässigen Uebereinstimmung" der (teleo)logischen Reflexion unterschieden ist), aber weshalb gerade der vielsagende und durchaus
anschauli-
che Begriff des "Spiels" zur Verwendung der speziell ästhetischen
Konvenienz
der Gemütskräfte genutzt wird, ist damit noch nicht erklärt.
Warum braucht die KdU den Ausdruck "Spiel", oder anders gefragt: was bedeutet es, dass Kant den Vollzug der ästhetischen Reflexion als "Spiel" bezeichnet? Die Sache, deren Erhellung und Darstellung das Wort gilt, ist bekannt - jenes Geschehen, aufgrund dessen wir etwas "schön" heissen. Dies mithin, was sich einstellt, wenn uns eine gegebene Vorstellung der Anschauung begegnet, "die viel zu denken veranlasst, ohne dass ihr jedoch irgendein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keio ne Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann."
Welche Charak-
teristika dieses Vorgangs gelangen in die Sicht, wenn er als "Spiel" namhaft gemacht wird? 8 KdU, § 49, p. 192/93. Das Zitat ist eine Erläuterung der Gegebenheitsweise der "ästhetischen Idee". Wir gehen von der These aus, dass die Formulierungen zur "ästhetischen Idee" Kants Vertrautheit mit dem ästhetischen Phänomen am eindrücklichsten belegen.
154
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
Zunächst: Wer spielt, geniesst Raum für seine Spontaneität, handelt ungezwungen. Schönes sei solches, das "uns anspricht", also in der Art eines Ausdrucks Gedankliches erscheinen lässt; allerdings - und das ist wichtig - ohne uns, wie das ein sprachlicher Ausdruck normalerweise tut, auf eine bestimmte
Bedeutung festzulegen, sondern uns vielmehr eine ganze Bedeutungs-
vielfalt entdecken, uns auf eine Gedankenmannigfaltigkeit kommen lässt. Wesenstypisch für das ästhetische Phänomen ist nun die folgende Beobachtung: Was uns aus Anlass eines "schön" dünkenden Dinges einfällt, erscheint wie von uns selbst gesetzt,
wie ganz spontan gedacht.
Das sinnlich Gegebene
hat also für uns niemals den Charakter eines bestimmten
Zeichens,
das zwingt
an etwas zu denken. Anders gesagt: Wir nehmen das Gegebene nicht als etwas wahr, dem die Absiaht
innewohnt, uns auf etwas zu verweisen. (Genau an dies
will Kant erinnern, wenn er in unserem ersten Kerntext, Satz 3, ausdrücklich darauf hinweist, dass die "gegebene Vorstellung die Einbildungskraft und den Verstand unabsichtlich
in Einstimmung versetzt".) Und wird man den-
noch, nimmt man ästhetisch eingestellt auf etwas Bezug, mit etwas konfrontiert, dem verbindlich- zwingender Zeichencharakter eignet, dann "spürt man die Absicht und ist verstimmt". Denn wir erleiden in ästhetischer Einstellung die Nötigung, an etwas denken zu müssen, als die Vernichtung einer der ästhetischen Einstellung und Erfahrung wesentlich zugehörigen Spontaneität. Es ist also dies Moment der Freiheit im ästhetischen Auffassen eines Gegebenen, auf das das kantische Diktum vom (freien) "Spiel der Erkenntnisvermögen" zuerst aufmerksam machen will.
Von früher her wissen wir, dass in der KdU häufig die Passivform "insSpiel-Versetzt-Sein" auftaucht. Die grammatikalische Struktur (mit ihrer unüberhörbaren Betonung der Rolle der "gegebenen Vorstellung", auf die die ästhetische Reflexion sich bezieht) signalisiert, dass die Freiheit im "Spiel der Erkenntnisvermögen" etwas anderes ist, als ein Auffassen des Gegebenen, das sein Material völlig willkürlich behandelt und deutet. Die in der ästhetischen Erfahrung sich realisierende Spontaneität unseres Denkens ist ja von sehr eigentümlicher Art. Die Gedanken, die wir scheinbar völlig spontan haben, denken wir eben doch aus Anlass der gegebenen
Vorstellung.
Bei aller "Freiheit im Spiel unserer Gemütskräfte" bleiben wir doch stets bei der gegebenen Vorstellung und in die Ausführung und Artikulation dessen, was sie uns ermöglicht und offenbart, gebunden. (Nur dann, wenn wir
155
Der Grundakt als "Spiel" diese Gebundenheit nicht vergessen, ist zu begreifen, weshalb Kant die
"Zweckmässigkeit-ohne-Zweck" als eine Bestimmung der dem "Spiel" zugrunde liegenden gegebenen Vorstellung fasst.) Kurz: Die Freiheit, die im "Spiel der Erkenntnisvermögen" sich aktualisiert, ist die Freiheit des Mit-Spielers oder Spiel partners, die einerseits stets bedingt
ist von den Angeboten und Spielzügen der anderen Seite, ande-
rerseits übergriffen
ist von der Einheit und den Regeln des von beiden Sei-
ten gemeinsam zu verwirklichenden Spiels. Indem Kant das ästhetische Verhalten des Subjekts ein "Spielen" heisst, macht er nicht nur anschaulich, dass das Subjekt in der Erfahrung des Schönen gegenüber dem Gegenstand
(oder
besser: Geaen-spieler) Entfaltungsspielraum geniesst, sondern ebenso, dass in der ästhetischen Erfahrung ein Produkt gegenwärtig wird, das gerade nicht von Gnaden des Subjekts ist (anders gesagt: die Leistung des Subjekts ist mti-gestaltende
Re-produktion).
Die Vielschichtigkeit des von Kant für den Basisakt des etwas-als-schönEntdeckens vorgeschlagenen Ausdrucks "Spiel" ist kein Makel, sondern ein Vorteil; denn weil seine Vielschichtigkeit der Vielschichtigkeit der von ihm bezeichneten Sache entspricht, fördert er deren Wesen zutage. Diese These soll jetzt unter zwei weiteren Gesichtspunkten diskutiert werden. Erstens unter der Hinsicht, dass jedes Spiel ein Geschehen ist, das die g gemeinsame
Einheit derer ist, die es spielen ; zweitens unter der Hinsicht,
dass jedes Spiel von einer inneren
Ordnung
geprägt ist.
Im Ausqang von Kants Wort "Spiel der Erkenntnisvermögen" (des Subjekts) lieqt es nahe, das "Spiel", das die Basis des ästhetischen Urteils ausmacht, als eine blosse Tätigkeit des Subjekts, rein als einen Zustand des Gemüts zu denken. Man kann gewiss einiqe Argumente dafür vorbringen, dass Kant gar nie etwas anderes gewollt habe; wir glauben aber, dass es gute Gründe gibt, Kant nicht auf diese Einseitigkeit festzulegen. Bleibt man nämlich der kantischen Einsicht treu, dass das "Spiel" bei, mit
und aus
An-
lass des in der Anschauung Gegebenen spielt, und erinnert man sich wieder der wechselseitigen Anqewiesenheit von (ästhetischer) Form und
(ästhetischer)
Reflexion, dann sieht man, dass es nicht in der Konsequenz der KdU liegt, 9 cf. dazu H. Trebels, op.cit., p.210f. und die dort angegebene Literatur.
156
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
die gegebene Vorstellung und das "Spiel" als gegeneinander
Selbständige,
einander Aeusserliche zu behaupten. Umgekehrt: das "Spiel der Erkenntnisvermögen" ist nichts anderes als das Sich-Darstellen der schönen Sache selbst; "subjektive" Tätigkeit und "objektiver" Anlass fliessen in eins, bilden ein Ganzes - das Ganze des gemeinsamen Spiels, so wie ein Spiel
stets
diejenigen, die in ihm zusammenspielen, übergreift. Weil also die KdU mit ihrer Herausstellung der Zusammengehörigkeit von (ästhetischer) Form und (ästhetischer) Reflexion verhindert, das "Spiel der Erkenntnisvermögen" als etwas bloss Einseitiges, nur auf die Subjektseite Fallendes zu verstehen, verbinden wir fortan mit dem "Spiel" stets folgenden Sinn: Das ist das Ins-Dasein-Treten
des Sahönen
seihst.
"Spiel"
In dieser Aussage, so mei-
nen wir, gipfelt die zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Uk. Das "Spiel" sei das Ins-Dasein-Treten des Schönen - diese Formel will natürlich nicht sagen, dass in unserem ästhetischen Erfassungserlebnis der Gegenstand als schöner allererst geschaffen werde, sondern: nur durch die Wirklichkeit des "Spieles" hindurch erscheint das Gegebene in seinem SchönSein. Das gegebene (schöne) Gebilde ist, seinem Angewiesen-Sein auf das Gespielt-Werden zum trotz, ein bedeutungshaftes Ganzes, das als dieses wiederholt und in seinem Gehalt aufaefasst werden kann. Weil aber das Schöne doch immer nur in unserem "Spiel" zu seinem Dasein gelangen kann, gehört auch die Offenheit und Unbestimmtheit des Spiel-oollzugs zu seiner Bedeutung und in die Identität seines Sinnes, der auch deshalb nie ein für allemal auf den bestimmten Begriff gebracht werden kann; cf. Gadamer, op. cit., p. 111-113 (ν.a. Anm. 1 auf p. 113); sowie in unserer Arbeit unten, p. 161 ff. Denselben Sachverhalt hat auch R. Bubner im Auge: "Das, was die ästhetische Erfahrung erfährt (i.S. von: erfasst, GK), konstituiert sich in der Erfahrung und durch die Erfahrung, so dass unabhängig von ihr nicht objektiviert werden kann, etwa in einem Werke, was Inhalt jener Erfahrung ist." (neue hefte für philosophie, 5, 1973, p. 65). Der Allgemeinbegriff "Spiel" bedeutet einen Vollzug, der, obzwar er die Möglichkeit einer präziseren Beschreibung gestattet, sich einer eindeutigen, begrifflichen Fixierung entzieht. Das Spiel ist nie ein festgelegter und in seinem Ablauf gänzlich prognostizierbarer Vorgang; das Spielgeschehen vollzieht sich je in eine offene und freie Zukunft hinein. Dennoch ist es nicht gekennzeichnet durch eine absolute Freiheit, sondern unterliegt einer immanenten Gesetzlichkeit. Seine Bewegungen lassen eine innere Ordnung erkennen, denn jedes stimmten Spieles binden.
Spiel
hat Regeln,
die es zur Einheit eines be-
Der Grundakt als "Spiel"
157
Exakt diese Merkmale sind auch der ästhetischen Erfahrung aufzuweisen; auch das "Spiel" als das Ins-Dasein-Treten des Schönen ist ein Geschehen, das regelgemäss und undeterminiert zugleich dünkt. In der Begegnung mit Schönem sind wir wie von selbst bei Gedanklichem. Vieles fällt ein und meldet sich. Was so ohne Zwang einfällt und zufällt, ist freilich nicht ohne innere Konsistenz; die vorkommende Gedankenmannigfaltigkeit ist nicht ein Haufe disparater Einfalle, sondern macht ein Einheitliches aus; die vielen Gedanken sind von einem "Geist" (Staiger; cf.a. unten Kapitel VIII, § 32) durchherrscht und sind in ihrer Gesamtheit seine Präsentation. Die Gedankenmannigfaltigkeit, die sich uns zwanglos ergibt, muss also doch irgendwie einer Regel gehorchen, einem Gesetz folgen, denn was uns in den Sinn kommt, enthüllt sich, je länger wir es geschehen lassen, um so deutlicher als zu einem Ganzen zusammenstimmend,
- wiewohl dies Worin
des Uebereinkommens, das Einheitsstiftende, nicht durch einen bestimmten Begriff bezeichnet und umrissen werden kann. Wäre dies der Fall, verlöre das Geschehen seinen Charakter der Freiheit und Spontaneität. Mithin: Was sich uns in der Erfahrung von Schönem ereignet, unsere in Eines zusammenstimmende, aber nicht von einem bestimmt Angebbaren geleitete Gedankentätigkeit, ist von Kant mit dem Ausdruck "Spiel", der einen zwischen schrankenloser Freiheit und determinierter Gesetzlichkeit sich haltenden Vollzug meint, genau getroffen.
Zusammengefasst: Kants Deskription der ästhetischen Erfahrung mit Hilfe des Ausdrucks "Spiel" lässt drei Wesenszüge des Phänomens manifest werden. Erstens: Die ästhetische Erfahrung ist wesentlich "Spiel", weil in die ästhetische Reflexion die Spontaneität des Spielers
einfliessen können muss.
Zweitens: Die ästhetische Erfahrung ist - wie ein Spiel überhaupt - ein Geschehen, in dem ein Uebergreifendes sich realisiert, nämlich das Produkt der am Spiel Beteiligten. Das Schöne ist das Gemeinsame von ästhetisch Reflektierendem und ästhetisch reflektierter "Form". Drittens: Die ästhetische Erfahrung, die vom ästhetisch reflektierenden Subjekt her als mit-gestaltende Reproduktion und vom gegebenen Gebilde her als sein Heraustreten in die Wirk-1ichkeit (Energeia) zu begreifen ist, ist durch die spezielle Ordnung des Spieles, durch die "freie Gesetzmässigkeit" charakterisiert.
158
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen U r t e i l s k r a f t
§ 24 Die ästhetische Zweckmässigkeit a l s subjektive innere Zweckmässigkeit-ohne-Zweck a) Die ästhetische Zweckmässigkeit i s t innere Zweckmässigkeit-ohne-Zweck Das " S p i e l " , d.h. die ästhetische Erfahrung, sei das
Ins-Dasein-Treten
des Schönen s e l b s t . In dieser Formel i s t die Ueberlegung i m p l i z i t enthalten, die von Anfang an der Leitgedanke unserer Suche nach dem Sinn der paradoxen Rede von der nach Kant dem Schönen zukommenden "Zweckmässigkeitohne-Zweck" gewesen i s t : Die allgemeine C h a r a k t e r i s t i k des Schönen (die Schön-heit) wird nirgendwo anders fassbar a l s an der allgemeinen Charakter i s t i k des " S p i e l s " bzw. der ästhetischen Reflexion. Das " S p i e l " , in seinem Vollzug betrachtet, p r ä s e n t i e r t s i c h a l s die Bewegung anschauenden Auffassens und begreifenden Durchdringens, kurz: a l s eine Gedankentätigkeit, d i e , je besser s i e g l ü c k t , s i c h a l s die Auslegung und Entfaltung einer der M a n n i g f a l t i g k e i t des zur Vorstellung gelangenden Gebildes inhärenten Einheit e n t h ü l l t . Das " S p i e l " , von der Subjektseite her gesehen, beweist Aehnlichkeit mit dem Wahrnehmungsvorgang jener S t r u k t u r , die bei Kant " o b j e k t i v e , innere Zweckmässigkeit" h e i s s t . Denn auch d o r t , wo wir uns die objektive, innere Zweckmässigkeit eines Gegenstandes bewusst machen (z.B. bei der Rekonstruktion eines frühgeschichtlichen Gebrauchsobjektes, s. zu diesem Beispiel Kants Anmerkung zu seiner D e f i n i t i o n der ästhetischen Zweckmässigkeit, KdU, p. 61), wird es geschehen, dass unsere, in der Betrachtung des Gegenstandes gewonnenen Beobachtungen und E i n s i c h ten in s i c h zusammenstimmen und so a l s Momente einer Einheit durchsichtig werden. F r e i l i c h , zwischen dem Bewusstwerden von o b j e k t i v e r , innerer Zweckmässigkeit und der im " S p i e l " erscheinenden Einheit in der M a n n i g f a l t i g k e i t , die die "schön" zu nennende Sache auszeichnet, besteht ein grundsätzlicher Unterschied: Während das Erfassen der objektiven (inneren) Zweckmässigkeit - a l s eine A k t i v i t ä t der ( t e l e o ) l o g i s c h reflektierenden, auf Erkenntnis ausgehenden Uk - s c h l i e s s l i c h einen eindeutigen B e g r i f f findet und damit die
Innere
Zweckmässigkeit-ohne-Zweck
159
Einheit bestimmt, m.a.W.: die Zweckmässigkeit des Mannigfaltigen auf den bestimmten Begriff eines objektiv angebbaren inneren Zwecks zurückführen kann, begegnet die im "freien Spiel" präsente Einheit (des Gegebenen, auf das sich die ästhetische Uk eingelassen hat) Mannigfaltigen zu E i n e m "
10
als "Zusammenstimmung des
, die weder auf den Inbegriff eines bestimmten,
inneren Zwecks bezogen werden kann, noch überhaupt - da sie ja allein im Horizont der prinzipiell von der Erkenntnisabsicht absehenden ästhetischen Uk auftaucht - bezogen werden muss. Es ist evident: die allgemeine Charakteristik des Schönen, wie sie im "Spiel" sich zeigt, ist das, was der scheinbar paradoxe Name "Zweckmässigkeit-ohne-Zweck" intendiert; und sie findet in dem, was er besagt, ihren adäquaten Ausdruck. Im "Spiel" gelangt ein Verhältnis von Teilen und Ganzem zum Vorschein, ein Verhältnis (innerer) Zweckmässigkeit mithin, das demjenigen analog ist, das sich an Dingen aufweisen lässt, deren Gestalt als Verkörperung eines bestimmten und objektiv bestimmbaren Konzepts zu durchschauen ist, doch zugleich ist die in der ästhetischen Erfahrung betreffbare Zweckmässigkeitsstruktur aus einem bestimmten, bündig definierbaren Begriff nicht deduzierbar, - die Bestimmtheit des Schönen, die Schönheit, oder die allgemeine Form der ästhetischen Form ist (innere) Zweckmässigkeit-o/me-Zueefc:
"Schönheit ist Form der Zweckmässigkeit
eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen w i r d . " 1 1
Die soeben zitierte Stelle, immerhin Kants eigene Quintessenz zum Problem der ästhetischen Zweckmässigkeit, unterstreicht, dass die KdU die Zweckmässigkeit primär dem Woran der ästhetischen Erfahrung, d.h. dem gegebenen Objekt beilegt. Auch die ästhetische Zweckmässigkeit hat (wie die objektive)
10 KdU, § 15, p. 45/46: "... die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu Einem (unbestimmt, was es sein solle), gibt für sich ganz und gar keine objektive (innere) Zweckmässigkeit zu erkennen: weil, da von diesem Einen als Zweck (was das Ding sein solle) abstrahiert wird, nichts als die ... Zweckmässigkeit der Vorstellungen im Gemüte des Anschauenden übrig bleibt (d.h. die im "Spiel" sich zeigende, vieldeutig-einheitliche Komplazenz der Momente des Gegenstandes der ästhetischen Reflexion. Zusatz GK)..." 11 KdU, p. 61.
160
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft 12
"im Objekt und seiner Gestalt ihren Grund"
; sie soll nicht in einem "zu-
fälligen Gebrauch der Vorstellung des Gegenstandes", 13 sondern "in der VorStellung des Gegenstandes an sich" gegründet sein. begreift man sie als die dem Objekt innewohnende
Ist Schönheit also,
Zweckmässigkeit-ohne-Zweck
(d.h., modern gesagt, als die Stimmigkeit der Sache in sich selbst), eine Eigenschaft? Bekanntlich wendet sich Kant ausdrücklich gegen eine solche 14 Behauptung.
Seine Stellungnahme muss freilich richtig interpretiert wer-
den; sie will verhindern, dass man Schönheit - verführt vom Normal gebrauch des Wortes "Eigenschaft" - als objektive 15 tiv beweisbare
Eigenschaft versteht.
und damit in ihrem Vorliegen
objek-
Das wäre nichts als ein Rückfall
in
Regelästhetik. Schönheit qua innere Zweckmässigkeit-ohne-Zweck
ist Beschaf-
fenheit des Objekts, aber keine objektive - denn der alleinige Ort ihrer Ausweisbarkeit ist das "Spiel", das nicht gedeihen kann, wo der Objektivitätszwang jenes Zuganges zum Seienden herrscht, den Kant "Erkennen" nennt. In erster Linie an diesen Sachverhalt will
Kant erinnern, wenn er die ästhe-
tische Zweckmässigkeit eine "subjektive" heisst.
12 KdU, § 30, p. 131. "Dieser Gedanke, der - wie m a n öfters betont - der grundlegenden Feststellung der Subjektivität der Schönheit zu widerstreiten scheint, drängt sich vor allem in den Vordergrund, wenn Kant das Schöne dem Erhabenen gegenüber abzugrenzen versucht." K. Marc-Wogau, Vier Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft, Uppsala, 1938, p. 119/120. Ich stimme M.-Wogau allerdings in dem Punkt nicht zu, dass die Abgrenzung der Subjektivität des Schönen zu "widerstreiten scheint". M.-Wogau hat recht, wenn er den Aspekt der Subjektivität der Zweckmässigkeit nicht unterdrückt haben will, aber er sieht nicht, dass dieser dem Gedanken von der Zweckmässigkeit als einer Bestimmtheit des Objektes gar nicht zu widerstreiten braucht, sondern darauf abhebt, dass die Zweckmässigkeit des ästhetischen Objektes ihren Daseinsort nur im "Spiel" haben kann. 13 Erste Einleitung, p. 229. 14 KdU, § 32, p. 136. 15 cf. unten, p. 211ff.
Die innere ästhetische Zweckmässigkeit ist "subjektiv"
161
b) Die innere ästhetische Zweckmässigkeit ist "subjektiv"
Kant bezeichnet die Zweckmässigkeit des Schönen als " s u b j e k t i v " ^ im Gegensatz zur "objektiven" Zweckmässigkeit. Die bloss negative Seite dieser Abgrenzung haben wir schon mehrmals besprochen. Die Zweckmässigkeit des Schönen ist nicht wie die sogenannte "objektive" aus dem Bezug auf den bestimmten Begriff eines bestimmten Zwecks zu deduzieren. Aber damit haben wir den positiven Sinn des Adjektives "subjektiv" noch nicht freigelegt. Die Zweckmässigkeit des Schönen enthüllt sich im Geschehen des
"Spiels".
In den Vollzug des "Spiels" tritt das Subjekt als konkretes und in seiner Individualität ein; - das Subjekt der ästhetischen Erfahrung ist eben nicht jener eigenschaftslose, von aller individuellen Besonderheit gereinigte Ich-Punkt der theoretischen Bestimmung, die nach Kant allein den Titel "Erkenntnis" verdient. Die KdU zeigt dies vor allem mit der Hervorhebung der Freiheit der Gemütskräfte im "Spiel"; die Freiheit ist ja wesenhaft Freiheit von der Absicht auf objektive Erkenntnis, damit Freiheit von den Bedingungen, der diese unterstellt ist; also umgekehrt Freiheit zur
Indi-
vidualität des Ich. Das Gesagte impliziert die Einsicht, dass das einmal gespielte "Spiel" niemals weder von diesem selbst, der es gespielt hat, noch von anderen
als genau
dasselbe
wiederholt werden kann. Die im "Spiel"
sich offenbarende ästhetische Zweckmässigkeit ist also zwar einerseits eine Beschaffenheit des gegebenen Objekts, sie kann aber anderseits in ihrer jeweiligen näheren Bestimmtheit von der jeweiligen
konkret-individuellen
16 cf. etwa KdU, § 15, p. 46/47: "... die Schönheit, als eine formale, subjektive Zweckmässigkeit ...". Wichtig ist die Bemerkung, dass im folgenden nur der Hauptsinn, den das Adjektiv "subjektiv" als Attribut der ästhetischen Zweckmässigkeit hat, thematisiert wird. Die Nebenbedeutungen der verschiedenen, die Zweckmässigkeit qualifizierenden Beiwörter werden zusammenfassend besprochen, unten, p. 233ff. Im weiteren ist stets zu beachten, dass "subjektiv" je nach Referenzbegriff und weiterem Kontext sehr Verschiedenes bezeichnen kann. 17 Im wesentlichen Abhängigkeitsbezug des Seins des Schönen vom einzelnen, konkreten Subjekt gründet - u.a. - die Feststellung Kants: "Wenn man Objekte bloss nach Begriffen beurteilt, so geht alle Vorstellung der Schönheit verloren. Also kann es auch keine Regel geben, nach der jemand genötigt werden sollte, etwas für schön anzuerkennen ... man will das Objekt seinen eigenen Augen unterwerfen." (KdU, § 8, p. 25).
162
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
Aktualisierung des "Spiels" nicht unabhängig sein. 1 ^ Der faktische, vom konkreten Subjekt geleistete Vollzug der Auffassung der Beschaffenheit des Gegebenen, das "Spiel", spielt selber je noch ins Wesen des Aufgefassten hinein. Ergo: Der Zweckmässigkeit gleichsam
in die Farbe
des Schönen
der sie erfahrenden
ist es wesentlich,
Subjektivität
jeweils
eingefärbt
zu
sein.
Die ästhetische Zweckmässigkeit heisst "subjektiv", da sie als die charakteristische Beschaffenheit des im "Spiel" zur Vorstellung und dort in sein eigentliches Sein gelangenden ästhetischen Gegenstandes eine Qualität ist, deren nähere Bestimmtheit stets abhängig und mitbestimmt ist, von der je1g weiligen Situation, in der sie erscheint. Es hat sich also ergeben, dass zwei Momente ineins zu denken sind, will man Kants komplexer Kennzeichnung der ästhetischen Zweckmässigkeit gerecht werden: (a) Die ästhetische Zweckmässigkeit, die Schönheit, ist Charakter der Sache,
weil sie dem sie im "Spiel" erfahrenden Subjekt vorgegeben ist;
das "Spiel" ist nicht ihre Erzeugung, sondern die - besser: eine
- Verwirk-
lichungsgestalt der in der vorgegebenen Sache selbst angelegten Möglichkeit. Das "Spiel" ist, phänomenologisch gesprochen, der Akt, in dem sich Schönheit konstituiert. "Konstituieren" meint nicht Aufbauen qua Erschaffen, sondern Zur-Geqebenheit-Bringen einer vorgegebenen Möglichkeit von Gegenständlichk e i t . 1 ' Das Verhältnis zwischen Verwirklichung und vorgegebener Möglichkeit, das gerade bei der Konstitution der ästhetischen Gegenständlichkeit in besonderer Schärfe in den Blick kommen muss, lässt sich per analogiam exemplifizieren: (Wohlverstanden, das folgende ist lediglich eine Analogie zu dem, was die Phänomenologie unter "Konstitution" versteht;) - nämlich am Paradigma der Aufführung (die wir ja auch "Spiel" nennen) eines Musikstücks: Die "Mondscheinsonate" ist wirklich nur als gespielte, aber gleichwohl ist das Spiel nur das Ins-Dasein-Treten der in der Partitur Beethovens bewahrten und also dem Interpreten vorgegebenen Möglichkeit.
18 Der Aspekt der Momenthaftigkeit und Singularität des Schönen, also die freilich in Grenzen - "heraklitische Struktur der ästhetischen Sphäre", hat den berühmten Aufsatz Oskar Beckers inspiriert, der den sprechenden Titel trägt: "Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des Künstlers", in: Festschrift E. Husserl, Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Ergänzungsband, 1929. 19 Zum Begriff der "Konstitution" cf. E. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin, 1970/2, p. 173-177.
"formal" (b) Zugleich ist die ästhetische Zweckmässigkeit "subjektiv",
163 weil in ihre
Konstitution oder Vor-stellunq, d.h. ins "Spiel", die Individualität und Freiheit des die Vor-stellung vollziehenden Subjekts wesentlich miteinbezogen ist. Und weil (a) und (b) eine Einheit bilden, ist Schönheit sowohl singulare Erscheinung als auch ein ständiger und als solcher aufweisbarer, d.h. die NichtWiederholbarkeit des jeweiligen "Spiels" transzendierender Sachcharakter. Die soeben ansatzweise analysierte Subjektivität der Schönheit ist das triftigste Argument für Kants häufige Verkoppelung (die im übrigen auch schon aus der längst erkannten Komplementarität von ästhetischer Form und Reflexion verständlich ist) dessen, was dem ästhetischen Gegenstand angehört - nämlich seiner eigentümlichen Zweckmässigkeit -, mit dem, womit sie in spezifischer Weise verknüpft ist - nämlich dem Akt der Vor-stellung. So lautet der Titel von § 11 der KdU: "Das Geschmacksurteil hat nichts als die Form der Zweckmässigkeit eines Gegenstandes (oder der Vorstellungsart selben)
des-
zum Grunde" und im Text des § 11 ist stets von der "subjektiven
Zweckmässigkeit des Schönen" als der subjektiven "Zweckmässigkeit in der 20 Vorstellung" die Rede.
Begreift man die Eingebundenheit der Schönheit ins
"Spiel der Erkenntnisvermögen" gemäss der von uns vorgeschlagenen Weise, besteht keinerlei Anlass, Kant zu unterstellen, er habe die Schönheit in letzter Instanz nicht als eine Realität des Gegenstandes selbst, sondern bloss als eine Bestimmung der Betrachtung oder gar des Genusses des Gegenstandes (d.h. als eine Bestimmung des für sich genommenen Gemütszustandes) gedacht. c) Die innere ästhetische Zweckmässigkeit ist "formal" 21 Die in der "Zweckmässigkeit des Vorstellungszustandes im Subjekt"
er-
scheinende, d.h. die durch die unbestimmte Reqelmässigkeit des "Spiels" sich erschliessende Zweckmässigkeit des Schönen, qualifiziert Kant auch als "formale". 22 Er setzt sie damit nicht allein der "materialen Zweckmässigkeit"
20 vgl. auch etwa § 15 KdU, p. 46f. 21 KdU, § 15, p. 46. 22 z.B. KdU, § 15, p. 46/47 oder KdU, § 61, p. 270.
164
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft 23
entgegen
, sondern er betont dadurch vor allem, dass Schönheit
(ästheti-
sche) "Form" ist. Unsere Auseinandersetzung mit dem schwierigen Begriff "Form" hat zur Einsicht geführt, dass Kant mit ihm das Korrelat der ästhetischen Einstellung und Reflexion erstens vom Empfindungsmaterial
der Sinne unterscheiden und
es zweitens als eigenständige und allein durch Reflexionstätigkeit zu erfassende Bestimmtheit kennzeichnen will. Dementsprechend lassen sich im Adjektiv "formal", soweit es die ästhetische Zweckmässigkeit betrifft, beide Intentionen nachweisen. Die Abgrenzung der ästhetischen Zweckmässigkeit als "formaler" gegenüber Empfindungsinhalten leistet zumal der § 13, indem er Schönheit scharf von "Reiz und Rührung" abhebt. Auf dem Hintergrund dieser Differenzierung erklärt dann § 14 (im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem Problem der "reinen" Farben und Töne), dass Schönheit allein als 24 "formale Bestimmung der Einheit eines Mannigfaltigen" anzusehen sei. Die Reflexionsbezogenheit der Schönheit steht, wie schon aus unserer Diskussion des Attributs "subjektiv" ersichtlich geworden ist, im § 15 im Mittelpunkt. Nun wird dort die von uns schon früher zitierte Erläuterung dessen, was in der ästhetischen Reflexion zu Gesicht gebracht wird - nämlich die ästhetische Zweckmässigkeit als "Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu Einem (unbestimmt, was es sein solle)" - folgendermassen eingeführt: "Das Formale 25 etc."
in der Vorstellunq eines Dinges, d.i. die Zusammenstimmung
Diese sprachliche Fügung beweist, dass Kant u.a. auf die untrenn-
bare Korrelation zwischen der ästhetischen Zweckmässigkeit und der sie auffassenden Tätigkeit der Erkenntnisvermögen zielt, wenn er die ästhetische Zweckmässigkeit "formal" nennt; denn die "Zusammenstimmung zum unbestimmten Einen" ist ja unabdingbar auf die Vergegenwärtigungsleistung des "Spiels" angewiesen. Zumindest aufgrund dieses letzten Bedeutungsmomentes ist es zuweilen schwierig, überhaupt noch eine deutliche Scheidelinie zwischen den beiden Charakterisierungen
"formal" und "subjektiv" zu entdecken, und da-
her überrascht es nicht, wenn Kant an einer Stelle im Hinblick auf die
23 cf. oben, p. 49 und p. 130f. Zusammenfassend cf. unten, p. 233ff. 24 vgl. KdU, § 14, p. 40 25 KdU, § 15, p. 45.
"formal"
165
ästhetische Zweckmässigkeit schlichtweg formuliert: "... die formale Zweck26 mässigkeit (sonst auch subjektive genannt) ..." Kants Terminologie ist schwankend und vieldeutig; der Begriff der "formalen" Zweckmässigkeit ist dafür ein Beispiel. Das bestätigt sich noch einmal, wenn wir wieder aufnehmen, was zu Anfang gesagt worden ist: "Formal" erinnert nicht bloss an die Formhaftigkeit der Schönheit, sondern es bringt zugleich die ästhetische Zweckmässigkeit in Gegensatz zur "materialen". In diesem Sinn ist "formal" mit "subjektiv" allerdings nicht mehr zu verwechseln, denn es ist das Kennwort für den Gedanken, den z.B. der § 10 der KdU ausformuliert: "Zweckmässigkeit aber heisst ein Objekt, oder Gemütszustand, oder eine Handlung auch, wenngleich ihre Möglichkeit die Vorstellung eines Zwecks nicht notwendig voraussetzt, bloss darum, weil ihre Möglichkeit von uns nur erklärt und begriffen werden kann, sofern wir eine Kausalität nach Zwecken, d.i. einen Willen, der sie nach der Vorstellung einer gewissen Regel so angeordnet hätte, zum Grunde desselben annehmen. Die Zweckmässigkeit kann also ohne Zweck (d.i. ohne causa finalis. Zusatz GK) sein, sofern wir die Ursachen dieser Form nicht in einen (realen) Willen setzen ... können." 2 7 Die Bestimmtheit eines Gegebenen, die sich der Reflexion in der Weise oder Form der Zweckmässigkeit darstellt, ohne doch in ihrem Bestehen auf einen Zweck und eine an ihm sich orientierende Hervorbringung zurückgeführt werden zu können, eine Bestimmtheit mithin, die sich nur präsentiert, "als ob" sie von einer Absicht und einem vernünftigen Herstell erwill en bewirkt wor28 den wäre, heisst Kant also "formale Zweckmässigkeit".
Notabene: Auch die
Zweckmässigkeit, die in diesem Sinn von "formal" eine formale genannt wird, ist Zweckmässigkeit-ohne-Zweck. Aber hier ergibt sich die Abwesenheit des Zwecks nicht wie bei der subjektiven, ästhetischen Zweckmässigkeit aus ihrer Erscheinungsform, dem "Spiel", sondern wegen des stets bloss hypothetischen, nicht-verifizierbaren Status der ihr gleichwohl zuzuordnenden Herstellervernunft. Nicht alles, was "formal zweckmässig" in der 29 eben entwickelten Weise ist, ist demnach auch "subjektiv zweckmässig" , und die ästhetische
26 27 28 29
KdU, Einleitung, p. XLIX. KdU, § 10, p. 33. cf. KdU, § 62, p. 274. cf. oben, p. 49 und p. 130f.
166
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
Zweckmässigkeit ist Zweckmässigkeit-ohne-Zweck sowohl
aufgrund ihrer Kon-
stitution im "Spiel" als auch
infolge der ihr überdies eigenen Formalität 30 (im Sinn von Nicht-Materialität). Doch weshalb
ist eigentlich die ästhetische Zweckmässigkeit (in diesem
zweiten Sinn von "formal") eine formale? Hinsichtlich des Natur schönen
ist
die Antwort einfach: Wie alle besondere Bestimmtheit der Naturprodukte unterliegt auch die Naturschönheit der in der KdU durchgeführten
kritischen
Einschränkung der Teleologie, wonach uns nur gestattet ist, dass Gegebene vorzustellen, "als ob" es in seiner erstaunlichen inneren Einheit von einem zweckorientiert handelnden Subjekt hervorgebracht worden wäre. Insofern ist es also selbstverständlich, dass Kant die "subjektive" Zweckmässigkeit des (Natur-) Schönen eine bloss "formale" Zweckmässigkeit sein lässt. Nicht so klar verhält es sich jedoch beim
Kunstschönen.
Das Kunstschöne ist ja durchaus ein Geschaffenes, und der Künstler will (falls er eben überhaupt etwas "will") gerade jene viel-sagende, "subjektive" Zweckmässigkeit ins Werk setzen, die sich im "Spiel" offenbart. Hinter dem Kunstwerk steht zweifellos ein handelndes Subjekt. Wie soll da dem Kunstschönen bloss "formale" Zweckmässigkeit zuaesprochen werden können? Das Problem löst sich, wenn man darauf achtet, als was Kant das das Kunstwerk eigentlich hervorbringende Vermögen begreift - als
"Genie"
nämlich, 31
d.h. als Talent oder "Naturgabe". Und da das Talent (als angeborenes
pro-
duktives Vermögen des Künstlers) selbst zur Natur gehört, darf man sich auch so ausdrücken:
'Genie ist die angeborene Gemütsanlage, durch welche
die Natur das Kunstwerk schafft, weshalb das Kunstwerk so, als ob es ein 31 Produkt der blossen Natur wäre, zu bestimmen ist.
Ueber die Deutung des
kunstschaffenden Subjekts als "Genie", und d.i. schliesslich als
"Natur",
gelingt es, das Kunstschöne wieder in die unmittelbare Nachbarschaft zum Naturschönen zu führen, so dass die primär nur das Naturschöne auszeichnende "formale" Zweckmässigkeit schliesslich
vom Schönen
überhaupt
ausgesagt
werden kann. 32 30 Die formale Zweckmässigkeit als eine Zweckmässigkeit-ohne-Zweck entfaltet, wie gesagt, insbesondere der § 62 der KdU. 31 vgl. KdU, § 46, p. 181; vgl. a. § 45, p. 179. 32 Zum Problem des Verhältnis' zwischen Genie und Natur cf. a. unsere Ausführungen zum § 42 der KdU, unten, p. 216f.
Pro Memoria
167
d) Pro Memoria
Der erste Anlass für die ausgiebige Beschäftigung mit der Rolle des Zweckmässigkeitsbegriffs im Rahmen einer Deskription der Qualität "Schön33 heit" ist der Satz 3 unseres ersten Kerntextes gewesen.
Die Art, wie er
die Zweckmässigkeit als Charakter des Schönen vorstellt, war mindestens auf unserer damaligen Reflexionsstufe mit der sog. "Absichtslosigkeit" der ästhetischen Reflexion, d.h. mit der besonderen Struktur der ästhetischen Einstellung und Reflexion nicht in Einklang zu bringen. Insofern nun die ästhetische Zweckmässigkeit als eine Zweckmässigkeit-ohne-Zweck, die für ihre Wirklichkeit das "Spiel" notwendig braucht, erkannt werden konnte, scheint die Schwierigkeit ausgeräumt, die uns bei der Interpretation des Satzes 3 hat stocken lassen. - Dennoch wird sich die Hoffnung, aufgrund der erarbeiteten Einsichten mit dem besagten Satz fertig zu werden, nicht erfüllen. Weshalb nicht? - Satz 3 spricht ausdrücklich von einer Zweckmässigkeit des Schönen "für die reflektierende Urteilskraft". "Zweckmässig für ..." meint zweckmässig zugunsten
von ... . Im Satz 3 steht mithin gar nicht eine innere
(ästhetische), sondern doch irgendwie eine äussere,
d.h. relative
(ästhe-
tische) Zweckmässigkeit zur Diskussion. Will man nicht einfach über den Text hinweg lesen, vermag man sich dieser Feststellung nicht zu verschliessen. Das bedeutet allerdings zweierlei: Erstens erneuert sich die alte Frage, wie denn etwas "für", d.h. in Relation auf die ästhetische Uk zweckmässig sein könne, obschon der ästhetischen Bezugnahme auf Seiendes gerade der Verzicht auf jene Hinsichten wesentlich ist, unter denen ein Gegebenes als praktisch oder theoretisch Nützliches (= relativ Zweckmässiges) erscheint. Zweitens bestätigt sich die früher (vgl. p. 129) ausgesprochene Behauptung, der gemäss Kants Begriff der ästhetischen Zweckmässigkeit zwei grundsätzlich unterscheidende
Inhalte
zu
besitzt; nämlich den einen, den wir unter dem ge-
naueren Titel der "inneren Zweckmässigkeit" in diesem § abgehandelt haben, und einen anderen, den wir erst zu fassen fähig sein werden, wenn wir das, wofür Kants Terminus "ästhetische Urteilskraft" steht, neu durchdacht haben werden, um dadurch aus dem Widerspruch herauszufinden, in den man sonst stets
33 cf. oben, p. 128ff.
168
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
gerät, versucht man - gemäss den Formulierungen der zweiten Einleitung eine relative Zweckmässigkeit des Schönen zu postulieren. Diesen Aufgaben (Auslegung des Begriffs der "ästhetischen Urteilskraft" und Freilegung der relativen Zweckmässigkeit des Schönen) werden wir uns in den Kapiteln VII u. VIII stellen, und dort wird auch die abschliessende Besprechung des Satzes 3 erfolgen.
C. Der Begriff des "Spiels von Einbildungskraft und Verstand" im Horizont von Kants methodischem Dualismus
Die Schönheitsaussage basiert auf einer Gegenstandserfahrung, die eine Bezugnahme des Subjekts auf den gegebenen Gegenstand voraussetzt, als deren Akteur - gemäss dem Nomenklaturschema seiner zuhanden der Erkenntnistheorie entwickelten Vermögensfamilie - Kant die "ästhetische Urteilskraft", bzw. die in der letzteren involvierten "Einbildungskraft" und "Verstand" bezeichnet. Dass der für das ästhetische Urteil basale Akt den zentralen Bezirk der "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" ausmacht, ist unter verschiedenen Aspekten erörtert worden; es ist mithin klar, dass seine Bestimmung und die Art, wie er begrifflich erfasst - d.h. im Licht welcher Leitund Grundvorstellungen er gedacht wird - ein entscheidender Vorgang für die kantische Lehre vom Schönen ist. Deshalb ist es wichtig, ja, für die Einsicht in die spannungsvolle Ursprungsdimension dieser Lehre unerlässlich, zu verfolgen, wie der innere Zwiespalt tarsten Bedeutungsmomente hineinreicht.
der kantisohen
Aesthetik
des "Spiels von Einbildungskraft
bis in die und
elemen-
Verstand"
Wir versuchen dies an der Zweideutigkeit des im jeweiligen
Begriff des "Spiels von Einbildungskraft und Verstand" implizierten Begriffs der "Einbildungskraft" zu exemplifizieren (§26). Zuvor ist jedoch noch einmal - und zwar durchaus als Gegengewicht zu den letzten Beschreibungen und Erörterungen des "Spiels" im Zusammenhang mit der "subjektiven Zweckmässigkeit" - am krassen Beispiel der Argumentation von § 9 der KdU Kants unphänomenologisches, konstruktiv-parallelstrategisches Vorgehen bei der Erschliessung und Bestimmung dessen, was dem ästhetischen Urteil zugrunde liegt, also eben die andere Seite seines methodischen Dualismus, im Detail zu studieren (§ 25).
170
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
§ 25 Das Beispiel von § 9, KdU (Interpretation eines Kerntextes, 2.1.)
a) "Spiel von Einbildungskraft und Verstand" - seine Ableitung aus dem AllgemeingUltigkeitsanspruch
§ 9 beantwortet die "SchlLisselfrage" der "Kritik des Geschmacks" (vgl. oben, p. 82) - die Frage, ob dem GU lediglich ein Gefühl der Lust zur Grundlage diene, oder ob das ästhetische Gefühl selber schon Ausdruck und Resultat einer "Beurteilungs"-Tätigkeit sei - indem er zugleich eine Erklärung für das erklärungsbedürftige Faktum liefert, das Kant im § 8 registriert. § 8 stellt fest: "... der Anspruch auf Allgemeingültigkeit (gehört) so wesentlich zu einem Urteil, wodurch wir etwas für schön erklären, dass, ohne dieselbe dabei zu denken, es niemand in die Gedanken kommen würde, diesen Ausdruck zu gebrauchen . ,." 34 Kant behauptet also, dass an der umgangssprachlichen Verwendung des Wortes "schön" das Problem unmittelbar ablesbar sei, das seine kritische Untersuchung zu lösen vorhat, nämlich das Faktum, dass man " - ist schön" sagt und dabei stets meint, dass das von mir so Benannte von allen andern auch so benannt werden muss, obwohl das Verwendungskriterium von "schön" ein persönliches Gefühl scheint und jedenfalls keine Bedingung von der Art ist, die fürs sogenannte "objektive Erkennen" gefordert ist. - Aber ist diese umgangssprachliche Wortgebrauchsregel wirklich so streng, wie § 8 unterstellt? Es liessen sich (mindestens für die Gegenwart) sicherlich genügend Gegenbeispiele mobilisieren, die zeigen, dass das durchschnittliche Sprachbewusstsein derart strikt nicht verfasst ist; wir können " - ist schön" auch sagen, wenn wir damit nicht mehr als ein "Privaturteil" 35 bezeichnen wollen. Es stimmt also nicht, "dass, ohne (die Allgemeingültigkeit) dabei zu denken, es niemand in die Gedanken kommen würde, den Ausdruck ("schön") zu gebrauchen". Dennoch hat Kant recht, wenn er den sein Nachdenken inaugurierenden Universalitätsanspruch des ästhetischen Urteils aufdringlich faktisch findet. Gewiss, nicht alle Aussagen vom Typ " - ist schön" erheben die Allgemeingültigkeitsprätention, aber das Geschmacksproblem stellt sich schon dadurch, dass es einige dm\Tri gibt. Sie eben sind die interessanten, und sie werden frag-würdig, wenn sie nicht sogleich der schlichten Anmassunq zu überführen sind. Genau von diesem Befund, dass wir in der Tat die Prädikate, mit welchen wir das SchönSein von etwas ausdrücken, mit einer Intersubjektivitätsintention verwenden können (und somit - jedenfalls einige - ästhetische Urteile etwa von den 34 KdU, § 8, p. 22. 35 vgl. KdU, § 8, p. 22.
Ableitung aus dem Allgemeingültigkeitsanspruch
171
"Privaturteilen" aus blosser Sinnesempfindung zu unterscheiden in der Lage sind) geht die moderne sprachanalytische Aesthetik aus: "(Ein) nennenswerter Unterschied zwischen der Bildung eines Geschmacksurteils und dem Gebrauch unserer fünf Sinne besteht in der Art, wie wir die Urteile, in denen wir ästhetische Begriffe anwenden, bekräftigen, obwohl wir diese Begriffe ohne Regeln oder (objektive) Bedingungen anwenden, verteidigen oder bekräftigen wir unsere Urteile und überzeugen andere von ihrer Richtigkeit durch Aeusserungen; 'Auseinandersetzungen um Kunst sind nicht nutzlos', wie McDonald meint, denn Kritiker 'versuchen eine Art der Erklärung von Kunstwerken mit der Absicht, korrekte Beurteilungen abzugeben. 1 Also genügt, obwohl diese Auseinandersetzungen nicht in 'deduktiven oder induktiven Folgerungen' oder '(objektiven) Begründungen 1 bestehen, allein ihre Existenz, um zu demonstrieren, in welch starkem Masse sich diese Art von Urteilen von denen simpler Wahrnehmung unterscheiden."36 § 8 erinnert das Ausgangsproblem der kantischen Geschmackskritik: und wenn ja, weshalb ist der interindividuelle
Ist,
Verbindlichkeitsanspruch
des Urteils " - ist schön" legitim? Die prinzipielle Ueberlegung, die Kants 37 Antwort auf diese Frage trägt, ist uns längst vertraut.
Kant bejaht die
Legitimität der Geschmacksurteilprätention, indem er erklärt, dass die letztlich entscheidende Instanz des Schön-Findens nicht einfach ein Gefühl der Lust, sondern die eigene Reflexionstätigkeit der ästhetischen Uk ist (als deren "Wirkung" das ästhetische Lustgefühl durchschaut werden muss). Diese Einsicht nun - den "Schlüssel zur Kritik des Geschmacks" - innerhalb des Haupttextes der KdU (d.h. abgesehen von der in sich geschlossenen Darstellung der "Einleitung") erstmals zur Sprache zu bringen, ist die Funktion des § 9; mit Kants Worten: § 9 behandelt den Vorrang der "Beurteilung" vor der "Lust an dem gegebenen Gegenstande". § 9 eröffnet den Blick auf die fundamentale Rolle der ästhetischen Reflexion oder des "Spiels der Erkenntniskräfte". Dass er dies tut, ist freilich nicht der Grund dafür, dass wir uns jetzt mit ihm ausdrücklich auseinandersetzen müssen; wichtig und diskutabel ist allein die Weise, wie er den Akt des "Spiels" und seine Fundamental ität gewinnt und darlegt. Kant beginnt die substantiellen Erörterungen des § 9 im zweiten Abschnitt damit, dass er den die je persönliche Entdeckung des Schönen begleitenden Allqemeinheitsanspruch als den Anspruch auf "allgemeine Mitteilbarkeit",
36 F. Sibley, Aesthetic Concepts; dt. zitiert aus dem Sammelband "Materialien zu Kants 'Kritik der Urteilskraft 1 ", hrsg. v. J. Kulenkampff, p.355. 37 cf. z.B. oben, p. 82.
172
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
also als den Anspruch
auf Verallgemeinerbarkeit
jenes
"Gemütszustandes"
38
denkt, in den sich das jeweilige Subjekt durch die Erfahrung des Gegenstandes, den es dann "schön" nennt, versetzt sieht. In einem Zug mit der Auslegung dessen, was der eigentliche Sinn der Allgemeinheitsprätention des GU ist, entwickelt Kant eine zweite Ueberlegung: Ein Gefühl der Lust, das vor jeder Aktivität der reflektierenden Uk zustande kommt, kann nichts sonst als Sinnesempfindung sein, und es vermag niemals als ein "allgemein mitteilbarer" (verallgemeinerbarer) Gemütszustand zu gelten, wie er im Allgemeinheitsanspruch des GU gefordert ist, denn "dergleichen Lust würde keine andere, als die blosse Annehmlichkeit in der Sinnenempfindung sein und da39 her ihrer Natur nach nur Privatgültigkeit haben können". Aus den im zweiten Abschnitt von § 9 eingeführten Voraussetzungen zieht Kant im dritten Abschnitt die Konsequenz. Bevor sie zu demonstrieren ist, muss man freilich einen weiteren Gedanken berücksichtigen, den Kant als solchen zwar nicht eigens expliziert, der aber die Argumentation des § 9 von Anfang an lenkt. Greifbar wird er im ersten Satz des dritten Abschnittes unter dem Titel
"subjektive Bedingung des Geschmacksurteils"; - sie, die
"subjektive Bedingung des GU" näher zu bestimmen, ist ja die Aufgabe, der dieser Satz gewidmet ist. "Die subjektive
Bedingung
des GU" ist jedoch nichts
anderes als das, was dem Subjekt, das ein ästhetisches Urteil fällt, zur kriterialen
Instanz
dient. Mit Hilfe des soeben erläuterten Terminus
"sub-
jektive Bedingung des GU" = 'Kriterium der Schönheitsaussage' ist auch zu durchschauen, worauf die die Ueberschrift des § 9 abgebende Frage ("... ob im Geschmacksurteile das Gefühl der Lust vor der Beurteilung des Gegenstandes 40 vorhergehe ...")
zielt: auf das Kriterium eben, das dem jeweiligen ästhe-
tischen Urteil zugrunde liegt. Die Deutung des Al 1 gemeing'ültigkeitsanspruchs des GU als Anspruch auf "allgemeine Mitteilbarkeit des Gemütszustandes" und die Beschäftigung mit der Nichtverallgemeinerbarkeit der Lust qua blosse
38 Damit ist sowohl das Gefühl der Lust, wie auch die zum "Zustand des Gemüts" gehörige Konstellation der kooperierenden Erkenntnisvermögen gemeint 39 KdU, § 9, p. 27. 40 Der Begriff, der diese Stelle schwierig macht, ist der der "Beurteilung"; wir werden später auf ihn zurückkommen. Für unsere jetzigen Zwecke genügt es, wenn wir ihn durch 'Aktivität der reflektierenden Uk und der in ihr vorkommenden Erkenntniskräfte 1 umschreiben.
Ableitung aus dem Angemeingültigkeitsarispruch
173
Sinnenempfindung sind daher die zwei vorbereitenden Schritte auf dem Weg zur Beantwortung der Frage nach der "subjektiven Bedingung" der Schönheitsaussage. Und dank ihnen weiss man also am Ende des zweiten Abschnittes: dass - sofern dem GU wesentlich ein Allgemeinheitsanspruch eignet - dieses sich nicht auf einen Gemütszustand stützen kann, der in Lust qua blosser Sinnenempfindung aufgeht, weil die Zufälligkeit und wesensmässige Individualität der "blossen Annehmlichkeit in der Sinnenempfindung" eine Al 1 gemei ngültigkeitsprätention nicht zu fundieren fähig ist. Aus der negativen Erkenntnis folgt nun unmittelbar die positive (und ziemlich selbstverständliche) Einsicht, mit der der dritte Abschnitt einsetzt. Da das GU einen Allgemeingültigkeitsanspruch erhebt, und dieser nur möglich ist, wo er auf einen Gemütszustand zurückzuführen ist, der "allgemein mitteilbar" ist, muss dem GU eben ein solch Gemütszustand
"zum Grunde
liegen",
"allgemein
mitteilungsfähiger"
- und das bedeutet zugleich im Hinblick
auf die Titelfrage von § 9, dass "im Geschmacksurteile" die Lust kein Erstes, sondern ein Zweites, eine "Folge" ist. In nichts anderem als dem soeben Geäusserten liegt der Gehalt des ersten Satzes des dritten Abschnitts. Kants Formulierung lautet zwar nicht: "Also ist es ein Gemütszustand, der allgemein mitteilungsfähig ist, welcher ...", sondern: "Also ist es die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes in der gegebenen Vorstellung, welche als subjektive Bedingung (dem GU) ... zum Grunde liegen muss ..."41 - aber das ist lediglich die sozusagen rhetorische Ueberbetonung der auszeichnenden Eigenschaft jenes Gemütszustandes, von dem ein GU ausgehen muss. Für unsere Absicht, die weniger eine integrale Interpretation des § 9 erreichen will, sondern in erster Linie untersuchen möchte, wie Kant in ihm zum "Spiel der Erkenntnisvermögen" gelangt, ist der nächste Satz des dritten Abschnittes entscheidend: "Es kann nun aber nichts allgemein mitgeteilt werden als Erkenntnis und Vorstellung, sofern sie zum Erkenntnis gehört." (Mit "Vorstellung" ist sowohl das Leisten des Subjekts, wie das in diesem Leisten Geleistete, das Vorgestellte, gemeint.) Mit dieser grundsätzlichen Festlegung sind die Weichen für alles weitere gestellt; denn nun lässt sich ableiten, dass der "allgemein mitteilungsfähige Gemütszustand", der dem GU Bestimmungsgrund ist, "... kein anderer sein kann als der Gemüts-
41 KdU, § 9, ρ 27.
174
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
zustand, der im Verhältnisse der Vorstellungskräfte zueinander angetroffen wird, sofern sie eine gegebene Vorstellung auf Erkenntnis überhaupt be42 ziehen".
Wenn dem aber so ist, so sind in ihm Einbildungskraft und Ver-
stand am Werk, denn: "Es gehören zu einer Vorstellunq, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, damit überhaupt daraus Erkenntnis werde, Einbildungskraft für die Zusammensetzung des Mannigfaltigen der Anschauung und Verstand für die Einheit des Begriffs ..." 42 Aus der InterSubjektivität der das GU begründenden Gegenstandserfahrung (= der primären Erfahrung des Schönen) und der prinzipiellen Regel, dass Intersubjektivität nur herrschen kann, wo Erkenntnisvermögen existieren und zueinander irgendwie analog zum Erkenntnisakt in Relation treten, gert Kant im dritten
Abschnitt
ganz begrifflich-abstrakt,
fol-
dass die für das
GU konstitutive Erfahrung ein Ergebnis oder Ausdruck der mit dem gegebenen 43 Gegenstand befassten - und ihn "auf Erkenntnis überhaupt" beziehenden Erkenntnisvermögen Verstand und Einbildungskraft sein muss. Und ebenso duktiv
de-
erschliesst Kant im vierten und fünften Abschnitt das "Spiel" als
die besondere Relationsform der in der Erfahrung des Schönen wirkenden Gemütskräfte: Die allgemeine Mitteilbarkeit des Gemütszustandes in der Erfahrung des Schönen "kann, da sie ohne einen bestimmten Begriff vorauszusetzen, stattfinden soll, nichts anderes als der Gemütszustand in dem freien Spiele 44 der Einbildungskraft und des Verstandes sein". Ueberblicken wir nun insgesamt das bisher Dargelegte, so müssen wir konstatieren, dass Kants im § 9 unternommene Auslegung der dem GU zugrunde liegenden Erfahrung des Schönen als dem "Spiel von Einbildungskraft und Verstand" und daher auch die darin gelieferte Freilegung des Vorrangs einer besonderen Aktivität der "ästhetischen" reflektierenden Uk vor dem Gefühl der (ästhetischen) Lust unter dem Gesichtspunkt der Fundierung der Schönheitsaussage, eine lediglich deduktiv-erschliessend aus dem Sachverhalt des Allgemeingültigkeitsanspruchs des GU abgeleitete Konstruktion ist.
42 KdU, § 9, p. 28. 43 Diese schwierige Wendung wird von uns vorläufig noch uninterpretiert im vagen Vorverständnis belassen, das man mit ihr verbinden kann; für die genaue Auslegung cf. unten, p. 303ff. 44 KdU, § 9, p. 29; cf.a.p.28, vierter Abschnitt von § 9, erster Satz.
175
Ergebnis einer transzendentalen Reflexion?
b) Das "Spiel von Einbildungskraft und Verstand" - Ergebnis einer transzendentalen Reflexion?
Das Beispiel dieser Konstruktion ist gewiss ein Beweis für die zentrale Rolle, die die Parallelisierungsstrategie in Kants Aesthetik einnimmt. Doch bevor wir uns damit beschäftigen, ist das Resultat genauer zu prüfen, das sich aus den ersten fünf Abschnitten des § 9 ergibt. Denn: nur dann ist s o * wohl das Ti tel problem des § 9 endgültig real gegeben
gelöst, als auch das "Spiel" als
aufgewiesen, wenn die Erfüllung einer bestimmten Bedingung vor-
weg behauptet ist. Die Folgerungen des § 9 nehmen nämlich just das zu ihrem Ausgangspunkt, was eigentlich fraglich ist: sie unterstellen
die
Legitimität
des Allgemeingültigkeitsanspruchs des GU und schliessen von da aus zurück auf die Voraussetzung unter der er/sie allein möglich ist. (Man analysiere etwa die Ueberlegung des zweiten Abschnitts: Dass die Lust nicht Letztinstanz des GU sein kann, ist lediglich dann der Fall, wenn der die Lust ausschliessende Allgemeinheitsanspruch des GU als berechtigt faktisches
gedacht wird; sein bloss
Vorkommen reicht dazu nicht hin, - als faktischer könnte er ja
stets blosse Anmassung sein.) Das Ergebnis des § 9 in bezug auf das "Spiel" und des letzteren Primordinalität gegenüber der Lust gilt also im Grunde nur hypothetisch; so lange die Prämisse der Legitimität der Prätention nicht selbst begründet und als richtig erkannt worden ist, ist alles, was in Abhängigkeit von ihr gefunden wird, nur richtig und Aufzeigung von Wirklichkeit, falls diese Prämisse stimmt. Anders gesagt: § 9 erlaubt keinen Schluss auf die tatsächliche Gegebenheit des "Spiels", sondern erst die Feststellung, dass das "Spiel" die Bedingung der (möglicherweise gegebenen) Allgemeingültigkeit und deshalb auch die Bedingung der (möglicherweise gegebenen) Legitimität der Allgemeimjültigkeitsprätention des GU ist.
Aufgrund der letzten Bemerkung drängt sich die Frage auf, ob die vorgetragenen Ueberlegungen des § 9 eine transzendentale Reflexion darstellen. Erweisen sie nicht ebenso wie die KrdrV Bedingungen der Möglichkeit einer Urteilsform? Eine gewisse Aehnlichkeit besteht zweifellos. Gleichwohl
ist
die Reflexion des § 9 natürlich keine transzendentale im Sinne der KrdrV. Denn das, wovon sich die Reflexion abstösst, um die Bedingung der Möglich-
176
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen
Urteilskraft
keit zu suchen, ist in der KrdrV nicht schlicht die Vorgabe bestimmter Urteile, "synthetische und a priori" zu sein, sondern ein unbestreitbares Faktum - das Faktum der Erfahrung und ihrer Einheit - , während die KdU die faktische Gültigkeit der Geschmacksprätention eben einfach unterstellt, obschon diese keineswegs gesichert ist. Nun ist es in der Tat ein ernsthafter Mangel des § 9, dass er die Hypothetizität seiner Resultate nicht eindeutig bekennt und im Gegenteil den Anschein erweckt, ihnen unbedingte Geltung ver45 schafft zu haben. Nimmt man also den § 9 sozusagen beim Wort, d.h. geht man auf seine immanente Selbstdeutung ein, dann bleibt nichts anderes übrig, 46 als ihn der petitio
prinoipii
zu überführen
. Sieht man hingegen auf das,
was er (der ja den "Schlüssel zur Kritik des Geschmacks" vorzeigen will) wirklich beibringt, - nicht den endgültigen Aufschluss über die Realität des "Spiels" und seine Gestalt, aber die gleichsam probeweise Hinführung zur grundlegenden ästhetischen Reflexion - , so wird er als ein
Programm
dechiffrierbar, das erst in den Partien der "Deduktion" zur entscheidenden Bewährung ansteht. Aus den Einschränkungen, die aegenüber dem § 9 geltend zu machen sind, geht im übrigen klar hervor, dass die verbindliche Feststellung des "Spiels" und seiner Struktur einen anderen Ausgangspunkt wählen muss, als den der Argumentation von § 9.46 Und in allen anderen Kerntexten der KdU wird diesem Postulat auch entsprochen. Der Text der zweiten Einleitung etwa beginnt beim Verhältnis "blosse Auffassuna" - "Form" und gewinnt daraus in einer Analyse, an der Parallelstrateqie und phänomenologische Methode in eigentümlicher Verbindung beteiligt sind,47 das "Spiel" (und damit die Grundlage für die Rechtfertigung der Geschmacksprätention). Obschon der Hauptzweck dieser Auseinandersetzung mit den ersten Abschnitten von § 9 in der Konfrontation mit einer Applikation der Parallelisierungsstrategie besteht, sind diesbezüqlich nicht viele Worte nötig. Die Sache ist zu offensichtlich. Der von uns schon zitierte zweite Satz des dritten Absatzes und die Beweiskette, die an ihn anschliesst (vgl. oben, p. 173f), spricht es offen aus, dass - mindestens hier, im § 9, - das unhinterfragte und die zur Anwendung gelangenden Begriffe bestimmende Fundament aller Ueberlegungen dies ist, dass der Grundakt der ästhetischen Uk, die ästhetische Reflexion, und daher die Tätigkeit der ästhetisch reflektierenden Uk insae45 vgl. etwa KdU, p. 29, sechster Absatz von § 9. 46 cf. dazu a. unten, p. 343ff. 47 vgl. unten, p. 347ff.
177
Zwei Anlässe
samt, in Parallele zum Akt objektiven Erkennens gebracht und vom Vorbild der (teleo)logischen Reflexion bzw. der (teleo)logisch reflektierenden Uk her begriffen wird. Der Erfolg, den dies Verfahren zeitigt - das dürfte ebenso unübersehbar geworden sein -, ist nicht einfach eine sachtreue Aufweisung, sondern die abstrakt-begriffliche Ableitung, genauer: die Konstruktion
des
blosse
"Spiels".
§ 26 Die Zweideutigkeit im Begriff "Spiel von Einbildungskraft und Verstand"
a) Zwei Anlässe
Hinter dem für die kantische Aesthetik sehr wichtigen Begriff des "Spiels von Einbildungskraft und Verstand" steht offenbar ein doppelter Anlass: Einerseits
- wie § 9, KdU, besonders eindringlich zeigt - ein Raisonnement,
das den Begriff des "Spieles" gewinnt, indem es von den mit dem Parallelansatz gesetzten Grundannahmen ausgeht und auf dem Boden jener Begriffszusammenhänge operiert, die Kant ursprünglich nur im Hinblick auf die Erfordernisse einer Analyse des objektiv-logischen und bestimmten Erkennens ausqebildet und erarbeitet hat. Andererseits - wie sich an vielen Einzelformulierungen und an Gedanken, wie dem der "inneren" ästhetischen Zweckmässigkeit ablesen lässt bezieht sich die KdU möalichst unmittelbar auf die Erfahrunq der Sache selbst und schöpft aus der direkten Beobachtung des Phänomens, wenn sie den Begriff des "Spiels von Einbildungskraft und Verstand" entwickelt. Immerhin - so könnte man sagen: Zwar bedient sich die KdU verschiedener Methoden, doch wenigstens kommt stets dasselbe
Resultat
zustande. Und im
weiteren ist es ja auch in Einhaltung einer phänomenologischen Sichtweise nicht abwegig, eine grundsätzliche Verwandtschaft zwischen dem Vollzug ästhetischer Geqenstandswahrnehmung und demjeniaen objektiv-erkenntnismässiger Perzeption zu konstatieren. Am Ende konvenieren nämlich beide Subjekttätigkeiten in der ersten Bestimmung, die nach Kant der Erkenntnis überhaupt 48 zuzusprechen ist: beide realisieren sie je auf ihre Weise von Ansohauung
und Begriff.
eine
Synthesis
Jenes schwer zu beschreibende Ineins von anschau-
lich Gegebenem und nicht-sinnlich Gedanklichem, auf das - phänomenologisch
178
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen
Urteilskraft
gesehen - der Ausdruck "Spiel von Einbildungskraft und Verstand" abhebt, ist doch ohne Zweifel als eine Form von Synthesis anzuerkennen. Indes: Die zwei Verfahren der Kdll führen nur äusserliah
betrachtet
zum selben Ergeb-
nis; und die einseitiae Betonung einer an sich aufweisbaren, aber sehr umfassenden Gemeinsamkeit verhindert geradezu den rechten Blick aufs Gegebene, wenn ihr Preis die Verschleierunci der charakteristischen Unterschiede ist, so dass die vermeintliche Darstellung der Sache schliesslich zur Fata Morgana gerät. Das letztere ist die unvermeidliche Folge der Parallelstrategie, und der Nachweis des ersteren (d.h. der Nachweis einer substantiellen Bedeutungsschwankung des Ausdrucks "Spiel von Einbildungskraft und Verstand" je nach dem methodischen Konzept, das seinem Gebrauch zugrunde liegt) macht deutlich, dass die zwei Ansätze, denen die kantische Aesthetik entwächst, nicht problemlos
nebeneinander
bestehen
können.
b) Die Bedeutungsschwankung im Begriff der
"Einbildungskraft"
Die Zweideutigkeit des Beariffs "Spiel von Einbildungskraft und Verstand" manifestiert sich rasch, wenn man diesen komplexen Terminus von seinem Element "Einbildungskraft" her untersucht und aufrollt. "Einbildungskraft" bezeichnet je etwas anderes, wird das Wort entweder in direkter Anlehnung an seine Verwendung im Rahmen der Bestimmuna des Erkenntnisaktes
(also gemäss
der Parallelstrateqie), oder im Kontext einer phänomenologischen
Deskription
eingesetzt. Ueberall dort, wo in der KdU so argumentiert wird wie im § 9, muss
"Ein-
bildungskraft" als Element des Terminus' "Spiel von Einbildungskraft und Verstand" und als Funktion der objektiven Erkenntnis genau dasselbe bedeuten. Dürfte das nicht vorausgesetzt werden, müsste der Ueberlegungsgang sofort seinen inneren Zusammenhang verlieren. (Man erinnere sich, vgl. oben, p.l73f. : Der entscheidende zweite Satz des dritten Abschnittes von § 9 prä-
48 Die besondere Weise, in der die Synthesis im Rahmen der ästhetischen Wahrnehmung erscheint, macht es allerdings ratsam, das Gemeinsame von ästhetischer und objektiver Rezeption weniger vom aktiven Aspekt der Synthesis (dem syn-tithenai) her zu denken, sondern in dem zu sehen, was synthetisiert ist, also im Element des Sinnlich-Anschaulichen und im Element des Spontan-Begrifflich-Gedankenmässigen; cf. dazu a. den Exkurs oben, p.l42f.
Zwei Anlässe
179
sentiert den Vorgang objektiven Erkennens als dasjenige, wozu jede "allgemein mitteilungsfähige Gemütsstimmung" letztlich "gehören" soll. Kommt man nun auf dieser Grundlage zum Schluss, die ästhetische Gemütsstimmunp sei ein "Spiel von Einbildungskraft und Verstand", so ist es aus beweislogischen Gründen selbstverständlich, dass "Einbildungskraft" qua Moment des "Spieles" und "Einbildungskraft" qua Funktion im Erkenntnisvollzug
bedeutungskongruent
sein müssen.) Was ist aber für diesen ersten Begriff von "Einbildungskraft"
spezifisch?
- Die "Einbildungskraft", gefasst als Teil des Systems von Kompetenzen, das unter der Leitunq der (teleo)logisch reflektierenden Uk das Gegebene auf bestimmte und objektive Begriffe bringt (cf. oben, p. 2 8 ) , ist niemals seihständig
und unabhängig
völlig
von dem, was Kant "Verstand" nennt; beide Funk-
tionen, Einbildunqskraft und Verstand, sind - in dieser Perspektive - überhaupt nicht losgelöst voneinander zu begreifen, sondern untrennbar verknüpft (Wir sahen ja: die Einbildunqskraft bedarf immer der Reqelunqen, die ihren Bildern erst den Bestand stiften; d.h. sie benötigt ohne den Verstand
je Sehemate,
die
niaht
sein können, was sie sind. Und der Verstand kann umgekehrt
seine Beqriffe ohne die Einbildungskraft nicht sinnlich werden lassen.) Vom Gehalt her, den "Einbildunqskraft" in diesem Kontext besitzt, ist deshalb ein eigentlicher Widerstreit
zwischen
Einbildungskraft
und Verstand
nicht
recht denkbar. Solches ist erst möglich, wenn "Einbildunqskraft" auch etwas bedeuten kann, das fähig ist, ohne oder sogar gegen den "Verstand" zu wirken. Und genau in diesem zweiten Sinn, d.h. als selbständige Kraft, muss die "Einbildungskraft" gedeutet werden, wo sie als Moment jenes Begriffs vom "Spiel" auftaucht, der Ausdruck phänomenoloqischer Schau ist. Ein eindeutiges Exempel dafür ist die Stelle aus der Erörterung, in welcher Kant das Konzept der "ästhetischen Idee" zu konkretisieren versucht
49
:
"... zum Behuf der Schönheit ... bedarf es ... wohl der Angemessenheit (der) Einbildungskraft in ihrer Freiheit zu der Gesetzmässiqkeit des Verstandes. Denn aller Reichthum der ersteren brinqt in ihrer gesetzlosen Freiheit nichts als Unsinn hervor; ..."50
49 Wie früher schon angetönt, kommt die phänomenologische Betrachtung innerhalb der KdU am reinsten in den Paragraphen, die der "ästhetischen Idee" gewidmet sind, zum Durchbruch. 50 KdU, § 50, p. 202/3.
180
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
Schönheit existiert, wo Einbildungskraft und Verstand im "Spiel" sind, d.h. sich zueinander "angemessen" verhalten, so nämlich, dass das Sinnliche das Gedankliche nicht verdrängt und deshalb nicht unverständigen Unsinn vorstellt, oder umgekehrt so, dass das Gedankliche das Sinnliche nicht unterwirft und deshalb nicht verständige Langeweile erzeuqt. Eine Einbildungskraft aber, der auch zugemutet werden kann, gegen
den Verstand "Unsinn" zu
produzieren, ist mit dem Begriff von "Einbildungskraft", der in der Erkenntnisanalyse gebraucht wird, nicht mehr
identisch.
Es kann nicht unsere Absicht sein, eine Begriffsqeschichte von "Einbildungskraft" zu liefern; doch einige Bemerkungen zu diesem Thema sind jetzt unumgänglich. Das Wort "Einbildungskraft" ist schon vor Kant gebräuchlich 51 und entspricht etwa dem Ausdruck "Phantasie"
. Zu dieser Tradition verhält
sich Kant ambivalent: Einerseits modifiziert er den Gehalt des Terminus, indem er den Ausdruck ein tiefliegendes, aus seiner von einander
komplementären
Vermögen
nicht
Verwobenheit
lösbares
in ein
System
Funktionsmoment in der
Konstitution des objektiven Gegenstandes bezeichnen lässt. Andererseits finden sich durchaus Aufzeichnungen, die belegen, dass Kant den Titel
"Einbil-
dungskraft" wie seine Vorgänger - im sozusagen nichttechnischen, umgangs52 sprachlichen Sinn von "Imagination" und "Dichtungsvermögen" - auffasst. Wichtig für uns ist nun die Feststellung, dass "Einbildungskraft" als Element des zusammengesetzten Beqriffs "Spiel von Einbildungskraft und Verstand" stets dann in der "Kritik der ästhetischen Urteilskraft" dem guasi-umgangssprachlichen Sinn nahekommt, wenn nicht der Parallelisierungsansatz
im Vor-
dergrund steht, sondern direkt auf die Erfahrung des Schönen Bezug genommen wird. Dafür zwei Beispiele: "In der Beurteilung (von) Schönheit ... ist kein Begriff von irgend einem Zwecke, wozu das Mannigfaltige (des Objekts) ... dienen und was dieses also vorstellen solle, vorausgesetzt, wodurch die Freiheit der E i n b i l dungskraft, die in Beobachtung der Gestalt gleichsam spielt, nur eingeschränkt werden würde."53
51 "Phantasie" ist sowohl im Sinne von "Imagination" (als Wiederhervorholen des schon einmal Gewesenen), als auch im Sinn von "facultas fingendi" (Dichtungskraft) zu verstehen. Darin stimmen alle für Kant unmittelbar wirksam gewordenen Philosophen (Wolff, Baumgarten u.a., etwas anders: Leibniz) überein; vgl. dazu H.G. Juchem, Die Entwicklung ..., p. 94ff. 52 vgl. etwa Refi. Nr. 228. 53 KdU, § 16, p. 49/50 (Kursiv von mir. GK)
Zwei Anlässe
181
Kant macht hier vom Ereignis des Schön-Findens lediglich das "freie Spielen der Einbildungskraft" namhaft. Dass auf die Rolle des Verstandes nicht verwiesen wird, heisst nicht, dass die Einbildungskraft zur einziaen Instanz der ästhetischen Erfahrung erhoben worden wäre: das allein erwähnte "Spiel der Einbildungskraft" vertritt zweifellos den vollen Begriff des "Spiels". Das Fehlen der namentlichen Nennung des Verstandes ist gleichwohl zu beachten; es gibt einen Wink für das Verstehen des Ausdrucks
"Einbildungskraft"
in denjeniqen Passagen, in welchen nicht parai lei strategisch verfahren wird. Gehen wir nämlich unvoreingenommen an den zitierten Text heran, so stört uns die Nichterwähnung des Verstandes keineswegs. Denn wir unterlegen offensichtlich dem Ausdruck "Einbildungskraft" sofort denjenigen Sinn, den wir dem Terminus auch in der folgenden Stelle zuordnen: "Noch sind schöne Gegenstände von schönen Aussichten auf Gegenstände (...) zu unterscheiden. In den letzteren scheint der Geschmack nicht sowohl an dem, was die Einbildungskraft in diesem Felde auffasst, als vielmehr an dem, was sie hierbei zum dichten Anlass bekommt, das ist an den eigentlichen Phantasieen, womit sich das Gemüt unterhält, indessen dass es durch die Mannigfaltigkeit, auf die das Auge stösst, kontinuierlich erweckt wird, zu haften; so wie etwa bei dem Anblick der veränderlichen Gestalten des Kaminfeuers oder eines rieselnden Baches, welche beiden keine Schönheiten sind, aber doch für die Einbildungskraft einen Reiz bei sich führen, weil sie ihr freies Spiel u n t e r h a l t e n . " 5 4 Unter der "frei spielenden Einbildungskraft" ist also - wie sich schon von der ersten Stelle her aufdrängt - das Vermögen der Phantasie, der
Imagina-
tion oder facultas fingendi zu verstehen; das wird hier von Kant selbst ausgesprochen. Zwar unterscheidet er .just in diesem zweiten Text die Tätigkeit der Einbildungskraft bei "schönen Aussichten" als dem "eigentlichen" Phantasieren von ihrer Aktivität in der "Auffassung", aber wir wissen ja, dass es zur Struktur der ästhetischen Reflexion gehört, dass in ihr die Einbildungskraft - obwohl mit der "Auffassuna" (besser: Reproduktion) des geqebenen Gegenstandes beschäftigt, - zugleich
"frei spielend" sein darf, mithin als 55 eine Art von 'wiederholendem Dichten zu charakterisieren ist. 1
Es ist auqenfällig: Kant verbindet, wenn er versucht, der Erfahrung des Schönen deskriptiv zu begegnen, mit dem Ausdruck "Einbildungskraft"
Bedeu-
tungen (wie Phantasie, Imagination, Dichtungsvermöqen, Gestaltungskraft etc.),
54 Allgemeine Anmerkung zum ersten Abschnitt der Analytik, p. 73. 55 vgl. a. oben, p. 123.
182
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
die zu "Einbildungskraft" qua Funktion in der Konstitution der Erkenntnis und ihres Objektes quer stehen, denn: Phantasie oder Imaaination sind Begriffe auf der Ebene der empirischen
Vevmögenspsyohologie.
setzt ihre Möglichkeit also das Funktionieren
Kantisch gesehen
transzendentaler
Vermögen
vo-
raus. Anders gesagt: Wenn das Entwerfen der Phantasie (oder Imagination usw.) Uberhaupt je zur Be-ständigkeit und Einheit eines Bildes gelangen soll, dann kann es der Mitwirkung des Verstandes (als des Vermögens der Regelung) so wenig entraten, wie der mit dem letzteren notwendig verknüpften Einbildungskraft (als dem Vermögen der Versinnlichung der Regel im Schemabild, val. oben, p. 27). Was sich in der Analyse der Bedinaunqen und Leistungen, die objektive Erkenntnis und überhaupt Objekte (seien es reine oder empirische) ermöglichen, auf die beiden komplementären Funktionen Einbildungskraft und Verstand aufteilt, muss in Hinsicht auf das Vermögen der Phantasie (Gestaltungskraft etc.) als immer schon mitwaltend und vorausgesetzt gedacht werden. Kurz: "Einbildungskraft" und "Einbildungskraft" - je nachdem, ob der Ausdruck im Horizont der genuin kantischen Erkenntnistheorie, oder im Horizont einer die ästhetische Erfahrung unter Zuhilfenahme der Termini der Vermögenspsychologie vergegenwärtigenden Beschreibung gelesen werden muss meint nicht dasselbe.
56
c) Widerstreit und Harmonie zwischen Einbildungskraft und Verstand
Vom doppelten Bedeutungskern von "Einbildunaskraft" bleibt der volle Begriff des "Spiels von Einbildungskraft und Verstand" natürlich nicht unverschont. Je nach Charakter seines einen Elementes muss sich ihm auch der Begriffsinhalt des anderen Elementes, des "Verstandes" als der Gegeninstanz zur Einbildungskraft, verändern. In Kontraposition zur Einbildungskraft/ Phantasie (dem den Zu-fällen der Individualität offenen Dichtungsvermögen) bestimmt sich daher der Verstand ganz allgemein als der Hort des viduellen,
Transindi-
d.h. als dasjenige, was das Subjektiv-Flüchtige, Spontane, Nicht-
identische der Imagination dennoch identifizierbar und intersubjektiv mitteilbar erhält. Und erst unter Ansetzung dieser weiten, von den terminologischen Einschränkungen der Erkenntnistheorie befreiten Begriffe von "Ver56 vgl. dazu a. die Feststellung zum Doppelsinn von "Einbildungskraft" in H. Trebels, Einbildungskraft und Spiel, p. 70.
Widerstreit und Harmonie zwischen Einbildungskraft und Verstand
183
stand" und "Einbildungskraft" wird es evident, weshalb Kant ihr "Spiel" nicht bloss als ein hin und her zwischen ästhetisch wahrnehmendem Subjekt und aufgefasstem Objekt, sondern zuweilen ebenso als einen Vorgang den Gemütskräften
zwischen
selbst zu schildern vermag. Den Sachverhalt auszumachen,
den Kant damit treffen will, ist nicht schwierig: Zum Wesensbestand der ästhetischen Erfahrung und des Schönen gehört die Balance und das Ineinanderlibergehen zwischen augenblickshafter Intuition und überpersönlich Allgemeinem, ein dynamisches Gleichgewicht von zwei Seinsmöglichkeiten, die einander ebenso gut widerstreben können, - es normalerweise ja auch tun. Wo fassbar wird, dass die Kdll diese schwebende Verbindung zwischen dem irreduzibel Persönlichen und dem interindividuell Nachvollziehbaren, dem Imaginativen und dem Intersubjektiven, mit dem Begriff des "Spiels" (bzw. der Harmonie oder der Einstimmung) zwischen
der Einbildungskraft (die dann biswei-
len einfach unter die "Sinnlichkeit" gezählt wird) und dem Verstand einzuholen versucht, tritt freilich auch ganz klar hervor, dass der "Phänomenologe" Kant mit Konzepten operieren muss, die zwar ihre bedeutungsmässige Verwandtschaft mit jenen gleichlautenden Ausdrücken, die ihren Inhalt im Zusammenhang einer Theorie der objektiven Erkenntnis und ihres Gegenstandes empfangen haben, nicht völlig verleugnen können, die aber dennoch genen Sinngrenzen
entschieden
überschreiten;
ihre dort
gezo-
denn die Eigenständigkeit, die
etwa der folgende Satz den beiden Erkenntnisvermögen zubilligt, wäre im Horizont der KrdrV kaum zu rechtfertigen: "Die ... Harmonie beider Erkenntnisvermögen, der Sinnlichkeit und des Verstandes, die ... ohne Zwang und wechselseitigen Abbruch sich nicht wohl (= normal erweise, Zusatz GK) vereininen lassen, muss ...sich von selbst so zu fügen scheinen; sonst ist es nicht schöne Kunst." 5 7 Der wesensmässige Widerstreit zweier Seinsmöglichkeiten, dessen
unerwarte-
te Versöhnung im Schönen geschieht, also der für die besondere ästhetische Harmonie grundlegende Gegensatz, auf den hier das Paar Einbildungskraft und Verstand bezogen wird, sprengt ohne Zweifel die Komplementarität dieser Gemütsvermögen, wie sie sich im Kontext der Erkenntnistheorie präsentiert. Wir fassen zusammen: Im Zuge phänomenologischer Betrachtungsweise verwendet Kant den Begriff der Einbildungskraft und (ihm entsprechend) den des Verstandes in einem Sinn, der mit dem Sinn, den diese Termini in seiner Ana-
57 KdU, § 51, p. 206.
184
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
lyse der objektiven Erkenntnis haben, nicht mehr vertauschbar ist. Auf die letzterwähnten Bedeutunqen muss Kant dagegen zurückgreifen, wenn er die Formel vom "Spiel von Einbildungskraft und Verstand" mittels parallelstrategischer Ueberlegungen ableitet. Der für die kantische Aesthetik zentrale Begriff des "Spiels der Gemütsvermögen" vermag seine innere Einheit nicht durchwegs zu behaupten, weil sieh sein Gehalt oder· besser: seine im disparaten
Horizont eines methodischen
Zwiespaltes
Gehalte
konstituieren.
KAPITEL VII DER GRUNDZUG DER AESTHETISCHEN URTEILSKRAFT UND IHRE ZUGEHOERIGKEIT ZUR REFLEKTIERENDEN URTEILSKRAFT-UEBERHAUPT
Im Lauf unserer Beschäftigung mit ihrem "Grundakt" ist die ästhetische Urteilskraft selbst - genau gesagt: die Explikation ihres Begriffs - völlig in den Hintergrund getreten. Während die diversen Bedeutungen von "Einbildungskraft" und "Verstand" eingehend verfolgt worden sind, blieb das dritte Gemütsvermögen, das im "Spiel" ist, ausser Diskussion. Dass das bedeuten würde, dass sich unsere anfängliche Bestimmung der ästhetischen Uk (vgl. oben, p. 104f.) von der inzwischen eingetretenen Erweiterung der Perspektive, unter der wir Kants Aesthetik betrachten müssen, unberührt gehalten hat, kann man nicht von vornherein annehmen. Im Gegenteil: eben diese erste Erläuterunq von Charakter und spezieller Funktion der ästhetischen Uk ist ja noch weitgehend beherrscht gewesen von der Parallelstrategie und ihren Implikaten. Fasst man den kantischen Terminus "ästhetische Urteilskraft" seinem generellsten Sinne nach, d.h. als 'ästhetische Kompetenz', und versucht man diese Fähigkeit zur ästhetischen Erfahrung vom phänomenologisch begriffenen "Spiel" her zu denken, dann wird unsicher, ob die so verstandene "ästhetische Urteilskraft" überhaupt noch etwas mit der - von Kant im Rahmen "Kritik der Urteilskraft"
derselben
thematisierten - "(teleo)logischen Urteilskraft"
zu tun haben kann. Die Frage lautet also: Ist die ästhetische Uk als Kompetenz fürs "Spiel" überhaupt noch als "reflektierende" so zu definieren, dass sie mit der (teleo)logischen Uk unter die eine "reflektierende Urteilskraft-überhaupt" subsumiert werden darf, ohne desweaen parallelstrategisch deformiert werden, oder den Titel "reflektierende Urteilskraft-überhaupt" zur leeren Etikette degradieren zu müssen? Die Frage ist wichtig, weil von ihrer Beantwortung offensichtlich die Solidität der von Kant postulierten Einheit der KdU abhängt. Denn die Zuaehöriqkeit zur reflektierenden Uk-
186
Zur reflektierenden
Urteilskraft-überhaupt
überhaupt ist das Gemeinsame von (teleo)logischer und ästhetischer Uk, den beiden Vermögen, denen die zwei Teile der dritten kantischen
Kritik-gewid-
met sind. Ergo: Kommt diese Gemeinsamkeit ins Wanken, gerät sogleich das in Zweifel, was die Teile umfasst - die Einheit der KdU wird zum Problem. Wesentypisch fur die reflektierende Uk und ihr Reflektieren ist das Prinzip der Zweckmässigkeit, das trotz seiner, wie Kant es nennt: "blossen Subjektivität" ein transzendentaler, d.h. die Bedingung der Möglichkeit von erfahrbarer Gegenständlichkeit setzender Entwurf ist. 1 Die Rolle und Unabdingbarkeit des transzendentalen Prinzips für die reflektierende Uk ist dort ohne Schwierigkeit ersichtlich, wo es um empirische Erkenntnis und objektiv-begriffliche Durchdringung des Empirischen geht, also im Aufgabenbereich der (teleo)logischen Uk. Ziemlich unklar ist hingegen bis jetzt, wie sich das transzendentale Prinzip der reflektierenden Uk mit der ästhetischen Uk verbindet. Dass es mit ihr in einem Zusammenhang stehen muss, dass also das erstere für die Tätigkeit der letzteren in irgendeiner Weise 2 konstitutiv ist, ist uns schon früh manifest geworden
, - im Rahmen frei-
lich einer Ueberlegungsfolge, die noch ganz im Zeichen der wiederholenden Anwendung des Parallelansatzes steht. Schon dort ist indes eine Präzisierung nötig gewesen: Das transzendentale Prinzip, das dem Auf-Begriffe-Bringen der (teleo)logischen Uk den Weg bahnt, muss inhaltlich durchaus anders bestimmt sein, als das transzendentale Prinzip, welches der ästhetischen Reflexion den Spielraum stiftet. Diese Feststellung steht jedoch im Widerspruch zu einer These der "Einleitung", in der Kant dezidiert das
(teleo)-
logische Prinzip mit dem ästhetischen identifiziert, mithin im ganzen Bezirk der reflektierenden Uk nur eine einzige Form des transzendentalen Prinzips gelten lässt. "Die ästhetische Urteilskraft enthält das Prinzip, welches die Urteilskraft völlig a priori ihrer Reflexion Uber die Natur zugrunde legt, nämlich das einer formalen Zweckmässigkeit der Natur ... für unser Erkenntnisvermögen, ohne welche sich der Verstand in sie nicht finden könnte." 3 Zwischen der kantischen Feststellung und unserer Unterscheidung
inhalt-
lich verschiedener Gestalten des transzendentalen Prinzips besteht zwei1 cf. zum folgenden oben, p. llf. 2 cf. oben, p. H O f . 3 KdU, Einleitung, p. L/LI.
Zweite Bestimmung des Grundaktes der ästhetischen Urteilskraft
187
fei söhne ein Gegensatz, und es wird leicht nachzuweisen sein, dass Kants umstandslose Gleichstellung nicht haltbar ist. (Kant scheint dies im übrigen selbst wahrgenommen zu haben; der zitierte Satz ist nämlich der einzige Beleg für die ausdrückliche
Uebertragung des Prinzips der (teleo)logisch
reflektierenden Uk auf die ästhetische Uk. Sonst redet Kant stets nur vom einen Prinzip der reflektierenden Uk-Uberhaupt, ohne auf das damit auftretende Problem näher einzugehen.) Bevor es möglich sein wird, die notwendigen Differenzierungen von der Sache selbst her aufzuzeigen - wobei Kants Einheitsthese immerhin eine partielle Rechtfertigung erfahren wird -, ist allerdings noch einmal zu untersuchen, warum die ästhetische Uk zugunsten ihrer Aktivität überhaupt
ein transzendentales Prinzip braucht. Hinter dem
transzendentalen Prinzip der reflektierenden Uk steht ja allemal ein Anspruch, ein Zweck, eine Absieht
- so etwa hinter dem in der (teleo)logischen
Uk wirksamen Prinzip der Zweckmässigkeit des Gegebenen für das Erkenntnisvermögen der Anspruch der Vernunft auf objektiv-erkenntnismässige Bestim4 mung der Welt . Wie aber und wozu soll dann die ästhetische Uk, die doch "absiohts-"
und "interesselos",
"zweokfrei"
agiert,
ein Prinzip enthalten,
das mindestens in grundsätzlichen Zügen mit eben dem anspruchsinduzierten transzendentalen Prinzip der reflektierenden Uk übereinstimmt? Die Antwort auf diese Frage wird von derselben Einsicht her zu gewinnen sein, die auch die problematisch gewordene Einheit der KdU zu verteidigen gestattet. Die zentrale Aufgabe, deren Bewältigung nicht nur zur Klärung der erörterten Probleme führt (§ 28), sondern schliesslich ebenso die Basis beibringt, auf der erstens die Doppelbedeutung der ästhetischen Zweckmässigkeit und zweitens der Kerntext aus der zweiten Einleitung abschliessend analysiert und ausgelegt werden können (Kapitel VIII dieser Abhandlung), ist die Erarbeitung eines positiven,
nicht aus der bloss negativen Abgren-
zung gegenüber der (teleo)logischen Uk bestimmten Begriffs Uk (§ 27).
4 cf. oben, p. 15ff.
der
ästhetischen
188
Zur reflektierenden Urteilskraft-überhaupt
§ 27 Der Grundzug der ästhetischen Urteilskraft
a) Die ästhetische Urteilskraft, negativ bestimmt
Bevor wir uns vergegenwärtigen, wie sich die ästhetische Uk im Licht jener negierenden Charakterisierungen präsentiert, die den Hauptteil von Kants Beschreibungen des ästhetischen Reflexionsvermögens darstellen, möchten wir eine mögliche Auffassung des Begriffs "ästhetische Urteilskraft" von vornherein ausklammern. Urteilskraft - das ist zunächst der Name für die menschliche Fähigkeit zur Bildung von Urteilen. Ist von ästhetischer Urteilskraft die Rede, denkt man demzufolge natürlich zuerst an das Vermögen zur Beurteilung des Schönen und der schönen Dinge. Nun ist das eigentliche
ästhetische
Urteil
"x ist
schön" ein Produkt zweiter Stufe; es setzt jene ursprüngliche Gegenstandserfahrung voraus, die wir ästhetische Reflexion oder "Spiel" nennen. Kant vollzieht hinsichtlich dieser zwei Ebenen keine klare Trennung; "ästhetische Urteilskraft" wird in der KdU sowohl die Kompetenz zu der (das explizite Urteil ermöglichenden ästhetischen Gegenstandsbeziehung als auch das eigentliche Beurteilungsorgan geheissen. Im folgenden interessiert uns einzig der erste Sinn des Ausdrucks, also die ästhetische Uk qua Akteur der fundierenden ästhetischen Reflexion. Die zweite Bedeutung, die in diesem Namen steckt, wird uns indes durchaus noch beschäftigen, allerdings unter neuem Titel: als "Geschmack" erscheint die ästhetische Uk nämlich (meist) dann, wenn sie als die Richterfähigkeit auftritt, die über schön und nichtschön ausdrücklich zu entscheiden hat (zum "Geschmack" vgl. Kapitel
IX).
Beide "Einleitungen" zur KdU benutzen dieselben zwei Gesichtspunkte, wenn sie sich systematisch auf die ästhetische Uk und ihren Grundakt beziehen. Erstens handeln sie von der ästhetischen stets als einer Weise der tierenden
reflek-
Urtei1skraft(-überhaupt), zweitens steht in ihnen die ästhetische
stets in Kontraposition «
zur (teleo)logischen
Uk. Die ästhetische Uk ist
reflektierende Uk ohne die Auflagen erfüllen zu müssen, die die (teleologische determinieren. Das bedeutet: sie vermittelt das Verhältnis zwischen
189
Die ästhetische Urteilskraft, negativ bestimmt
Einbildungskraft, Verstand und Gegebenem (bzw. gegebener Form) nicht umwillen begrifflicher Fixierung und objektiver Erkenntnis, sondern
5
lieh" . Das Spezifische der ästhetischen Uk ist ihre Absiahts-
"unabsichtund
Interes-
selosigkeit. Die Absichtslosigkeit darf durchaus als das unterscheidende Merkmal zwei Arten der reflektierenden Uk aufgefasst werden: sofern
der
der entschei-
dende Punkt berücksichtigt wird, der notwendigerweise verdeckt bleibt, wenn man unkritisch die eben rekapitulierte systematische Konstruktion des Begriffs der ästhetischen Uk wiederholt und die kantischen Worte nicht von diesem Sachverhalt her zu bedenken versucht, den sie meinen. Die "Unabsichtlichkeit" der ästhetischen Uk indiziert nämlich eine Andersartigkeit der letzteren gegenüber der (teleo)logischen Uk, die viel grundsätzlicherer Natur ist und tiefer Anschein
macht.
geht,
als es von der systematischen
Konstruktion
her
den
Denn das Unabsichtlich-Sein und die Interesselosigkeit ist
der Charakter, der jene Zuwendung zum Gegebenen (die sich zum "Spiel" ausprägen kann) schon auszeichnet, bevor
die eigentliche Wahrnehmungsaktivität·,
das freie, harmonische Reflektieren, beginnt; - in der ästhetischen Uk geschieht nicht einfach ein modifiziertes Auf-Begriffe-Bringen, sondern in ihr ist vor allem eine prinzipiell andere
Einstellung
zum Seienden
virulent als
in der vom theoretisch-praktischen Vernunftinteresse getriebenen gischen Uk.
(teleolo-
Der ästhetischen Uk sind die Dinge nicht in jenem Licht er-
schlossen, das vom Verfügungswillen über das Seiende dem objektivierenden Denken entzündet wird. Dies prinzipiell andere Verhalten, die fundamental andere Zugangsart zum Gegebenen ist das, was die ästhetische von der
(teleo)-
logischen Uk trennt, und das möchten Kants Negativqualifizierungen in erster Linie evozieren.
Ziehen wir die wesensbestimmende Grenze zwischen ästhetischer und (teleo)logischer (reflektierender) Urteilskraft auf der Ebene zum Seienden3
der
Einstellungen
also in der Dimension jener Grundmöglichkeiten den Horizont
abzustecken, in dem je eine spezifische Gegenstandsbeziehung
stattfinden
kann, so befreien wir uns zwar von den Versuchungen der Parallelstrategie, 5 cf. die Sätze 2 und 3 des ersten Kerntextes, oben, p. 86f. und unsere entsprechenden Interpretationen, oben, p. 121 und p. 154. 6 cf. oben, p. 124f.
Zur reflektierenden
190
Urteilskraft-überhaupt
doch erstens vermag man damit noch nicht Uber die Beschränktheit lediglich negierender Beschreibung hinauszugelangen und zweitens ist - solange der Begriff der ästhetisch reflektierenden Uk nicht positiv angegeben werden kann - unsicher, ob es in der Tat noch legitim ist, an einer beide Sorten der Urteilskraft übergreifenden reflektierenden Urtei 1 skraft-'iiberhaupt festzuhalten. Worin die Einheit der KdU bestehen soll, ist mithin nach wie vor fraglich. Nächstes Ziel ist also die positive Ausformulierung der das Wesen der ästhetischen Uk und ihrer Aktivität formenden Einstellung und, darauf aufbauend, die Explikation der ursprünglichen Gemeinsamkeit, um derentwillen die Rede von der einen reflektierenden Urteilskraft-iiberhaupt zu rechtfertigen ist. Das folgende wird nicht in allen Teilen von kantischen Aeusserungen zu decken sein - zuweilen werden wir eher extrapolieren, tieren
-
denn
interpre-
aber wir werden uns stets darauf berufen dürfen, dass es letzt-
lich der Tendenz der kantischen Aesthetik entspricht, eine sich als beengend herausstellende Begrifflichkeit und Systematik zugunsten sachtreuer Wahrnehmung zu durchbrechen.
b) Das Wesen der ästhetischen Urteilskraft: Die Gunst und das Gönnen
An seltenen Stellen bezeichnet Kant das ästhetische Verhalten, jenes freie und interesselose Tun der ästhetischen Uk bei der Entdeckung des Schönen, als das Etwas-mit-Gunst-Ansehen-und-Auffassen?
Diese Deutung der ästhe-
tischen Einstellung und der in ihr sich vollbringenden Tätigkeit muss das Zentrum einer positiven Bestimmung der ästhetischen Uk (qua Vermögen der Q ästhetischen Reflexion) sein. Die Substanz der Befreiung von der Absicht auf objektive Erkenntnis, der Loslösung vom objektivierenden Denken, die Substanz all dessen, was sich in der Negativqualifizierung
"Absichts- oder Interesselosigkeit"
ist die in der ästhetischen Uk existierende neue Zuwendung
verbirgt,
zum jeweils
Vor-
7 vgl. KdU, § 5, p, 15 und KdU, § 67, p. 303, Anm. 8 Es ist das Verdienst W. Biemels, angeregt durch Heidegger, dies zum erstenmal gesehen und durchgeführt zu haben; vgl. Die Bedeutung von ..., p. 39f.
191
Die Gunst und das Gönnen liegenden:
Eine Versammlung aufs Gegebene, in der es sich uns in einer eigen-
ständigen Weise zu sein oder Seinsweise darbietet. Das Wesen dieser Zuwendung ist (sowohl im Hinblick auf die Einstellung, von der sie ausgeht, als auch bezüglich des in ihrem Rahmen aktualisierbaren Begegnen-Lassen des Seienden) vom Begriff
der "Gunst"
her
aufzuhellen.
Die Gunst verwirklicht sich im Gönnen, d.h. im Verzicht auf jegliche Unterwerfung des ihr Begegnenden unter ein Herrschaftsinteresse und im Freigeben des anderen auf sein Anders-und-Selbst-Sein in der Vielfalt seiner Möglichkeiten. Weil sie ihm so lässt, was ihm gehört, lässt die Gunst es sein. Die Gunst stände
ist eine
Meise des Sein-Lassens;
das Wort im doppelten
Ver-
aufgefasst. Mit Bezug auf die ästhetische Uk bedeutet das: Die ästhe-
tische Zuwendung ist "Gunst", weil sie das ihr Erscheinende sein lässt, indem sie es nicht zum beliebigen und in seiner einzelnen Existenz unwesentlichen Fall einer allgemeinen Regel verkürzt, sondern - im "Spiel" - gerade seine Eigenheit und Unverwechselbarkeit sich inszenieren macht. Die Einstellung der Gunst allein eröffnet dem Schönen den Spielraum seiner
Individualität,
in der es erst ist, was es ist. So lässt die ästhetische Zuwendung, dadurch, dass sie das ihr Begegnende sein lässt, das Schöne sein. Schön-Sein, die Seinsweise des Schönen, vermag nur dort aufzutreten, wo die prinzipielle Haltung und das doppelte Sein-Lassen der Gunst lebt. (Weitere Vertiefung und vor allem Veranschaulichung - dieser Thesen über die Gunst und die ästhetische Uk wird der § 32 unseres Kapitels VIII liefern.) Ist der Wesenszug der ästhetischen Uk die Gunst und das Gönnen, bestätigt sich noch einmal die Feststellung, die ob der sog. "Subjektivität des Schönen" leicht in Vergessenheit gerät, dies nämlich, dass das Schön-Sein kein blosser Schein von Gnaden des Subjekts ist. "In der Gunst tenheit
ist eine
Verhal-
des Gönnenden, der durch sein Verhalten das Sich-Zeigende auf
sein
g Sein sammelt ..."
und: "Das Gönnen ... (ist) Freigeben des anderen auf sein
Andersein, ein Freigeben, das nie blosse Loslösung ist, sondern im Gegenteil freie Bindung an das jeweilige Wesen; indem sie ihm zuerteilt, was ihm gehört, g lässt die Gunst es sein."
"Das Zuerteilen ist nicht Verleihen eines Fremden,
sondern das Aufdecken dessen, was dem Seienden immer schon zukommt als das, 9 Biemel, op. cit., p. 40.
Zur reflektierenden Urtei1skraft-überhaupt
192 g was es ist."
- Dass dies, was der ästhetischen Uk und ihrem Gönnen er-
scheint, eine der gegebenen Sache eigene Struktur ist, bestätigt Kant selbst ja unzweideutig: "Denn die Zweckmässigkeit (des Schönen, also die Schön-heit. Zusatz GK) hat ... im Objekt selbst und seiner Gestalt ihren Grund .,." 10 Der Widerspruch zwischen den §§ 58 und 67 der Kdll (Exkurs): Man könnte zu diesem Punkt auch die folgende Stelle aus dem Zweiten Teil der KdU anführen: "Wir können es als eine Gunst, die die Natur für uns gehabt hat, betrachten, dass sie ... noch Schönheit und Reize so reichlich austeilte, und sie deshalb lieben ... und uns selbst in dieser Betrachtung veredelt fühlen: Gerade als ob die Natur ganz eigentlich in dieser Absicht ihre herrliche Bühne aufgeschlagen und ausgeschmückt habe." 11 Kant weist darauf hin, dass man die schönen Dinge als eine Gunst der Natur verstehen darf; das ist aber nur dann erlaubt, wenn man die Schönheit als eine Bestimmtheit der gegebenen Sache selbst versteht. In wörtlichem Gegensatz zum Zitierten steht allerdings eine Stelle im § 58: "... dass wir in der Beurteilung der Schönheit überhaupt das Richtmass derselben a priori in uns selbst suchen, und die ästhetische Urteilskraft in Ansehung des Urteils, ob etwas schön sei oder nicht, selbst gesetzgebend ist, welches bei Annehmung des Realismus der Zweckmässigkeit der Natur nicht stattfinden kann, weil wir da von der Natur lernen müssten, was wir schön zu finden hätten, und das Geschmacksurteil empirischen Prinzipien unterworfen sein würde. Denn in einer solchen Beurteilung kommt es nicht darauf an, was die Natur ist, oder auch für uns als Zweck ist, sondern wie wir sie aufnehmen. Es würde immer eine objektive Zweckmässigkeit der Natur sein, wenn sie für unser Wohlgefallen ihre Formen gebildet hätte; und nicht eine subjektive Zweckmässigkeit, welche auf dem Spiele der Einbildungskraft in ihrer Freiheit beruht, wo es Gunst ist, womit wir die Natur aufnehmen, nicht Gunst die sie uns erzeigt.12" Um die "Idealität" der (inneren) Zweckmässigkeit beim Schönen (wobei mit der "Idealität" das gemeint ist, was wir als die nicht-materiale, formale Seite der ästhetischen Zweckmässigkeit auseinandergesetzt haben, vgl. oben p. 165f.) zu verteidigen, betont Kant die Autonomie des Geschmacks, d.h. dessen Freiheit vom objektiven Begriff, die im gleichen die Freiheit zum ureigenen, gleichsam selbstgesetzten Kriterium des "Spiels" ist. Zum "Spiel" jedoch kann niemals objektive Zweckmässigkeit (i.S. des § 15 der KdU, s. oben, p. 131) passen, sondern nur die sog. "subjektive" (s. oben, p. 161ff.). - Dass im Rahmen einer kritischen Teleologie alles Natürliche bloss formal oder eben "ideal" zweckmässig sein kann, d.h. dass seine Ursache nie anders als unter dem Vorbehalt des Als-ob als eine nach Zweckgesichtspunkten wirkende gedacht werden darf, ist klar. Ebenfalls klar ist die Subjektivität qua Nicht-Objektivität der ästhetischen Zweckmässigkeit.
10 KdU, § 30, p. 131. 11 KdU, § 67, p. 303. 12 KdU, § 58, p. 252/53.
Die Gunst und das Gönnen
193
Nicht zwingend gegeben ist indes die Verbindung, die Kant hier zwischen diesen beiden Formen von Zweckmässigkeit zieht: Subjektivität von (ästhetischer) Zweckmässigkeit kann durchaus mit deren Realität (d.h. Zurückbeziehbarkeit auf einen wirklichen Zweck und Erzeuger) zusammenbestehen, im Kunstschönen nämlich. Dieses ist ein Gemachtes, also ein von einer als existierend und vernunftbegabt nachweisbaren Ursache Produziertes. Zwar haben wir ihm, mittels des Begriffs des "Genies" als einer "Naturgabe" (vgl. oben, p. 166), die Formalität oder Idealität bewahren können, doch Kant selbst gibt im § 42 der KdU indirekt zu (vgl. unten, p. 217 und Anmerkung 22 ), dass die Formalität oder Zu-fälliqkeit des Kunstschönen ganz rein nicht zu denken ist: eben weil es von einem identifizierbaren Macher abhängt (zum Kunstschönen als einem Resultat des Machens (vgl. KdU §§ 43 und 44 sowie unten, p. 281). Was also feststeht ist dies: Die Nicht-Objektivität oder Subjektivität des Aesthetischen schliesst das Gemacht-Sein nicht eo ipso aus, und daher vermag die Autonomie des Geschmacks auch dort ihren Ort zu finden, wo das zu Beurteilende seine Herkunft aus einer realen Zweckvorstellung, einem wirklichen Erzeuger hat. Kants Ueberlegung im § 58 ist nicht konkludent. Mit Hilfe dieser Einsicht, ist der Gegensatz zwischen § 58 und § 67 leicht zu tilgen. Was nämlich zulässt, dass die Subjektivität des Schönen und die Realität einer Zweckmässigkeit zusammen bestehen, also Grund für die Brüchigkeit der Argumentation des § 58 ist, gestattet auch den Gedanken von § 67. Denn so, wie das Kunstschöne auf einen realen Erzeuger bezogen werden muss, auf eine Ursache mithin, in deren Absicht es liegt, die "Unabsichtlichkeit" der Schönheit hervorzubringen (vgl. dazu KdU §§ 44 und 45), so ist es auch nicht ausgeschlossen, das Naturschöne als von einem Schöpfer produziert zu denken, es also - der Möglichkeit nach - dem Begriff realer Zweckmässigkeit zu unterstellen, ohne dass deshalb die spezifisch ästhetische Subjektivität seiner Zweckmässigkeit, die allein mit der vom § 58 namhaft gemachten Autonomie des Geschmacks verträglich ist, nicht mehr behauptbar wäre. Darum ist es eben ohne weiteres möglich - was § 58 verneint - zu sagen: "Wir können die Schönheit als eine Gunst, die die Natur für uns gehabt hat, betrachten ..." Jedoch, und das wird ja von § 67 nicht bestritten, auch diese Betrachtung steht unter der Einschränkung des Als-ob: die Naturschönheiten wie die Organismen oder die generalisierbare Mannigfaltigkeit des Gegebenen legen die Idee eines übersinnlichen Prinzips der Natur und die Idee des Naturganzen als eines Systems "in Beziehung auf uns als Zwecke" zwar nahe, verhelfen diesem Gedanken zu stärkerer PI aus i bi1 i tat, aber sie machen keineswegs die Argumente hinfällig, mit denen Kant die Metaphysik, die Erkenntnis des Ueber-sinnlichen begrenzt. Die grundsätzliche Formalität aller natürlich gegebenen Zweckmässigkeit bleibt daher unangetastet. In einer Anmerkung auf p. 303, § 67, nimmt Kant explizit zum Gegensatz der beiden §en Stellung; was er darin sagt, nämlich dass das Schöne der Natur als Gunst anzusehen in den Bereich teleologischer, nicht in denjenigen ästhetischer Reflexion fällt, ist gewiss richtig, doch diese Tatsache vermag die von uns oben kritisierte Inkohärenz des § 58 nicht zu beseitigen. (Das übersieht K. Düsing, der, op. cit. p. 130, den Widerspruch der §§ 58 und 67 eingehend diskutiert. A.H. Trebels, op. cit. p. 81, zitiert ausführlich die Stelle aus dem § 58, während er § 67 überhaupt nicht erwähnt; dem entspricht.., dass Trebels die Aussage des § 58 vorbehaltlos akzeptiert.) Am Beispiel der Konfrontation der genannten Passagen wird nicht nur sichtbar,
194
Zur reflektierenden
Urteilskraft-überhaupt
dass es in der KdU logische Unstimmigkeiten gibt, sondern es zeigt sich noch eine andere Schwierigkeit der Kantlektüre: der Gebrauch jener Termini, die man eigentlich für feste termini technici halten möchte. Kants Umgang mit scheinbar wohl definierten Ausdrücken wird mindestens im Fall der vielen Begriffe von "Zweckmässigkeit" zum heikein Interpretationsproblem (vgl. unten, p.233ff.). So erklärt § 58, völlig im Einklang etwa mit § 15, die notwendige Nieht-Objektivität des Sohönen, und gleichwohl spricht § 67 (in der Passage, die der von uns angeführten unmittelbar vorangeht) die Naturschönheiten direkt als "objektive Zweckmässigkeit der Natur" an. Dass damit nur der (transzendental gesehen gleichsam hypothetische) teleologische Aspekt, unter den das Schöne zu subsumieren möglich ist, erfasst werden soll, ist vom Kontext her klar. Es geht also gar nicht um die objektive Unfasslichkeit der ästhetischen Struktur, die wir oben unter dem Tiel der "subjektiven Zweckmässigkeit" erörtert haben, sondern lediglich um die Möglichkeit, das ästhetische Objekt als von bewusstem, zweckgeleiteten Handeln Hervorgebrachtes zu deuten. Zwischen § 58 und § 67 wechselt Kant von einer Verwendungsart des Ausdrucks "objektive Zweckmässigkeit" in eine andere; für zwei verschiedene Aspekte derselben Sache benutzt er ein und dasselbe Wort ... Vor allem wegen solcher Nonchalance gerät die KdU dem treu-biederen Leser zuweilen zum Aergernis.
c) Der Anspruch der Gunst
Die Haltung und Einstellung der Gunst und die Aktivität des Sein-Lassens sind das, was die Begriffe der "Absichtslosigkeit" und 13
"Interesselosigkeit"
indirekt-negativ bezeichnen. Fasst man das Wesen der ästhetischen Uk positiv, wird der Punkt erreicht, von wo der Uebergang zum transzendentalen Prinzip und von da zum Verhältnis zwischen ästhetischer und reflektierender Uk-überhaupt evident wird. Die Frage ist: Warum soll die ästhetische Uk und das ästhetische Reflektieren ein transzendentales Prinzip der Zweckmässigkeit, d.h. den Entwurf einer angemessenen, zweck-mässigen Welt benötigen? Mit den Mitteln unseres positiv ergänzten Konzepts der ästhetischen Uk formuliert lautet die Frage folgendermassen: Weshalb braucht - wie die (teleo)logische Uk - auch die ästhetische Uk qua Gunst die apriorische Annahme einer Zweckmässigkeit des Gegebenen, obschon sie das ihr Gegebene gerade nicht irgendeinem Zweck gefügig machen will?
13 Zum Verhältnis Gunst/Anspruch der Gunst und Interesselosigkeit s. den Exkurs, unten, p. 208ff.
195
Der Anspruch der Gunst
Der erste Schritt zur Beantwortung ist eine Vergegenwärtigung des Sinnes von "Gunst". - Das Wesen der Gunst sei das Gönnen, und echtes Gönnen verfolge gegenüber dem, dem es gilt, niemals ein bestimmtes Ziel. Aber: Gunst kann missbraucht, verbraucht, enttäuscht und sie muss zuweilen entzogen werden. Gunst hat mithin Grenzen - und wird sie grenzenlos, ist sie nicht mehr frei gewährte Gunst, sondern bare Abhängigkeit. In der Gunst ist also immer· auch ein Anspruch
lebendig.
Ein Anspruch zwar
nicht darauf, dass Gunst sich lohnt, aber doch darauf, dass sie sich
erfüllt.
Worin erfüllt? Darin, dass das Gegenüber der Weise, wie ihm begegnet wird, ent-spricht; und zwar nicht anders als ebenso mit Gunst. Der Gunst muss Gunst antworten, sonst hört sie auf zu sein. Denn entgegnet der andere der ihm gewährten Gunst mit eigenen Herrschaftsinteressen, so vernichtet er just das, woraus sie allein möglich ist - die Freiheit; und entzieht er sich dem ihm Gegönnten und bleibt gleichsam stumm, so verliert die Gunst all ihre Richtung, ihren Sinn. Fassen wir zusammen: Der Gunst wesentlich innewohnend ist ein Anspruch auf Entsprechung. Er gehört ihr von Anfang an zu und macht ihr a priori eine Erwartung fest. Es gibt keine Gunst ohne diese Erwartung. Erwarten aber ist das Antizipieren einer Wirklichkeit oder deren Entwurf. Die Gunst im allgemeinen senden Tatbestand;
seiner Möglichkeit
der das, worauf das Verhalten
keit entwirft,
umfas-
am Exempel der Gunst ist ablesbar, was jedem endlichen
Verhalten - als Bedingung ger Entwurf,
liefert indes bloss das Muster für einen
die ihm angemessen
- inhärent ist: Ein sich richtet,
als eine
vorgängiWirklich-
ist. Wie alles Sich-Befassen-mit-Gegebe-
nem, d.h. mit solchem, das nicht aus der eigenen Macht der Subjektivität existiert, benötigt auch die Gunst die apriorische Annahme einer ihr gemessen Welt. Was aber nicht allein von der Gunst überhaupt gilt, sondern ein universales Merkmal all jenen Handelns ist, das für die Erfüllung seiner Absicht weder eine transzendentale, noch eine metaphysische Garantie besitzt, gilt notwendig
auch von der Gunst der ästhetischen
Zuwendung.
Auch das ästhe-
tische Reflektieren muss, um ins "Spiel" kommen zu können, allererst dessen Möglichkeit bei einem Gegebenen voraussetzen, d.h. das vorkommende Seiende
Zur reflektierenden
196
zunächst als Schönes entwerfen,
Urtei1skraft-überhaupt
um es entweder, - da es der Gunst "mit Gunst"
entspricht, - als Schönes wirklich
erfahren
und sich zeigen lassen zu können,
oder, - wenn das Gegebene die Erkenntniskräfte nicht in Einstimmung versetzt, 14 - d i e Erfahrung einer ästhetischen Enttäuschung zu machen.
Kurz: in der
ästhetischen Uk ist a priori der Anspruch der Gunst lebendig; und das bedeutet - die ästhetische
Uk bedarf
mässigkeit
als die
nicht weniger
des transzendentalen (teleo)logische
Prinzips
der
Zweck-
Uk.
Legt man die ästhetische Uk von ihrem positiv gefassten Wesen her als ein 1
Das-Seiende-mit-Gunst-Begegnen-Lassen 1
aus, werden die Strukturelemente be-
stimmbar, die die wahre Verwandtschaft zwischen ihr und der
(teleo)logischen,
resp. der reflektierenden Uk-überhaupt begründen. Wir werden dadurch befähigt, die Einheit der KdU und eine fundamentale Gemeinsamkeit zwischen
(teleolo-
gischer und ästhetisch reflektierender Uk festzustellen, ohne den Preis einer parallelstrategischen Verzeichnung der ästhetischen Reflexion bezahlen zu müssen. Bevor wir die nun möglich gewordenen Einsichten realisieren, möchten wir allerdings das interne Verhältnis der drei
die Erfahrung des Schönen voll-
ziehenden Spielmomente - Einbildungskraft, Verstand, ästhetische Uk - im Licht unserer letzten Ergebnisse zu beschreiben versuchen.
d) Die grund-gebende Funktion der ästhetischen Urteilskraft
15
Welches ist die Rolle, die die ästhetische Uk im Zusammenhang der Spielmomente Einbildungskraft und Verstand spielt? (Der folgende Versuch diese Frage zu beantworten, ist zugleich eine Prüfung unserer früheren Resultate, vgl. Anm. 15.) - Im Kontext einer Erörterung der Lust am Schönen führt Kant aus: "(Ohne irgend einen Zweck oder Grundsatz zur Richtschnur zu haben, begleitet die ästhetische Lust) ... die Auffassung eines Gegenstandes durch die Einbildungskraft, als Vermögen der Anschauungen, in Beziehung auf den Verstand, als Vermöaen der Begriffe, vermittelst eines Verfahrens der Urteilskraft, ..." und zum letzten bemerkt Kant im weiteren:
14 Dieser Sachverhalt, wenngleich aus anderer Perspektive, ist schon früh bemerkt worden, vgl. oben, p.l24ff. 15 vgl. oben, p.108f.
Die grund-gebende Funktion der ästhetischen Uk
197
"... (ein Verfahren) welches sie auch zum Behuf der gemeinsten Erfahrung ausüben muss."l 6 Die Lust am Schönen "begleitet" den Bezug von Einbildungskraft und Verstand, der mittelst eines Verfahrens der Urteilskraft bei der Auffassung eines Gegenstandes zustande kommt. lich die ästhetische
7
Die "Urteilskraft" (wobei hier natür-
Urteilskraft im Blick steht) präsentiert sich also als
dasjenige, was die Erfahrung des Schönen als die Uebereinkunft der Spielmo18 mente Einbildungskraft und Verstand ermöglicht.
Der Uk wird damit eindeu-
tig vor Einbildungskraft und Verstand die Priorität
des Begründenden
oder
Grund-Gebenden zugesprochen; - sie ist es, die die Möglichkeit des "Spiels" stiftet. Welches aber ist das "Verfahren" der ästhetischen Uk, dem solche Stiftung entspringt? Die Antwort kann nur heissen: ihr
'mit-Gunst-Begegnen-Lassen
des Seienden'. Denn dies Verhalten ist eben ein Begegnen-Lassen, und das meint: es ist primär das Eröffnen
der Möglichkeit und die Grund-Legung
des
Vollzugs der ästhetischen Erfahrung, in welcher Seiendes als Schönes sich entdeckt. Und zwar stiftet die ästhetische Uk den Boden des "Spiels von Einbildungskraft und Verstand", weil erst im Licht ihrer Antizipation und in den Grenzen ihres transzendentalen Entwurfs jener Spiel-Raum entsteht, der die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinung von Schönem ist. Dem Anspruch der Gunst erwächst die Erwartung, damit auch das "objektiv zufällige und subjektiv notwendige" und dennoch grund-1egende Prinzip, und dieses wiederum (indem es - vor der entsprechenden Erfahrung - das Gegebene als dem ästhetischen Verhalten korrespondent vorstellt) gestattet der ästhetischen Reflexion Anfang und Fortgang; - wir können mithin im Rahmen unseres erweiterten Konzepts der ästhetischen Uk das validieren, was früher lediglich mit den zweifelhaften Instrumenten einer parai lei strategisch angel ei16 KdU, § 39, p. 155. Die Textstelle ist eine der wichtigen Stellungnahmen Kants zum Problem der Relation der Seelenvermögen im ästhetischen Verhalten; vgl. zu ihrer Auslegung a. Trebels, op. cit., p. 127. 17 Ich beziehe den Satzteil "vermittelst eines Verfahrens der Urteilskraft" nicht allein auf das "Begleiten der Lust", sondern verstehe ihn in erster Linie als die Angabe dessen, was das "Auffassen durch die Einbildungskraft ... in Beziehung auf den Verstand" erlaubt. 18 Die konstitutive Rolle, die die Form des Gegebenen fürs "Spiel" hat, ist damit natürlich nicht geleugnet.
198
Zur reflektierenden Urteilskraft-überhaupt
teten Interpretation einleuchtend zu machen war: erstens vermittelt, durch ihr Prinzip, die ästhetische Uk der Einbildungskraft und dem Verstand die grundsätzliche Möglichkeit der Kooperation, und zweitens legt, durch ihr Prinzip, die ästhetische Uk den Spielraum fest, innerhalb dessen Einbildungskraft und Verstand sich zu ergänzen haben (vgl. oben, p.109). Die dritte Funktion endlich, die nach der früheren Ueberlegung von der ästhetischen Uk erfüllt wird, nämlich die Bewegung der Erkenntnisvermögen überhaupt in Gang zu bringen, wird vom zitierten Text zwar nicht eigens erwähnt - er sagt bloss, dass das "Spiel" mittels (dank) des "Verfahrens der Urteilskraft" geschieht, und lässt offen, woher die eigentliche "Spiel"Motivation stammt -, doch da der Text nicht gegen diese Deutung spricht und zugleich die Uk als das gegenüber Einbildungskraft und Verstand primordinal Vermögen auszeichnet, können wir weiterhin die Uk als den Träger jener Ener gie verstehen, die das Subjekt ästhetische Erfahrungen suchen lässt; damit in Einklang steht ja auch unsere Rede vom fundamentalen "Anspruch der Gunst der sich in der ästhetischen Uk verkörpert. Mit dieser Feststellung ist fre lieh eine nächste Frage verknüpft. Wir wissen ja seit der Untersuchung zu Beginn der vorliegenden Arbeit (vgl. oben, p. 15ff), dass die reflektierende Uk, genauer, die auf objektive Erkenntnis abzweckende Uk, Träger der Reflexionsenergie nur ist, insofern sie das konkret gewordene messung
und praktischen
Vernunftinteresse
Beherrschung
an der theoretischen
des Empirischen
Ver
ist. Dies Interesse
kann aber offensichtlich für die ästhetische, d.h. für die von keiner Herrschaftsintention betroffene Urteilskraft nicht in Anschlag gebracht werden. Was also steht hinter der ästhetischen Uk? - Die Frage probiematisiert ineins zwei Dinge: das Verhältnis zwischen Vernunft und ästhetischer Uk wie dasjenige zwischen reflektierender Uk-überhaupt und ästhetischer Uk; die erste Relation impliziert die zweite. Es ist die Aufgabe des nächsten §en die genannten Probleme und damit die Thematik dieses Kapitels abschliessend zu behandeln. Im Verlauf der Erörterung wird schliesslich auch die Berechtigung jenes - die Gattungseinheit der reflektierenden Uk betonenden - kantischen Zusatzes aufzuweisen sein, den wir bislang uninterpretiert gelassen haben: "... vermittelst eines Verfahrens der Urteilskraft, welches sie auch zum
Aesthetische und reflektierende Uk
199
Behuf der gemeinsten Erfahrung ausüben muss: nur dass sie (die reflektierende Uk in ihrem Verfahren - Zusatz GK) es hier um einen empirischen (objektiven - Zusatz GK) Begriff, dort aber (in der ästhetischen Beurteilung - Zusatz GK) bloss, um die Angemessenheit der Vorstellung zur harmonischen Beschäftigung beider Erkenntnisvermögen in ihrer Freiheit wahrzunehmen ... zu tun genötigt ist." 1 9
§ 28 Aesthetische Urteilskraft und reflektierende Urteilskraft-Liberhaupt
Aesthetisch reflektierende und (teleo)logisch reflektierende Uk sind die zwei Arten der einen Gattung 'reflektierende Urtei 1 skraft-Liberhaupt'. Diese Klassifikation kann zwar leicht zum falschen Parallelisierungsgedanken verleiten, doch ist der letztere mit ihr nicht notwendig verbunden. Deshalb darf oder muss man sogar an ihr festhalten: die Einheit der dritten kantischen Kritik bliebe Illusion, wenn sie nicht möglich wäre. Den Parallelisierungsansatz, die falsche Affinisierung von ästhetischer und nicht-ästhetischer Perzeption vermeiden heisst indessen: den allgemeinen Begriff des Reflektierens, das Gemeinsame der reflektierenden Uk-überhaupt, nicht einfach in einer Aktivität namens 'Auf-Begriffe-Bringen' zu sehen, wie wir das früher versucht haben, sondern die Gattung
'reflektie-
rende Uk-überhaupt' so umgreifend zu definieren, dass die prinzipielle Verschiedenheit der respektiven und grundlegenden Einstellungen zum Seienden, die ästhetisches und (teleo)logisches Reflektieren vorweg strukturieren, nicht unterdrückt werden müssen. Was also ist das Identische Gemeinsame
ihres ¿e besonderen
von ästhetischer Reflektierens?
und (teleo)logischer
Uk, das
- Refiektieren-überhaupt ist
jene Bezugnahme-auf-Welt, die sich ihres Erfolgs nie gewiss sein kann, jene Aktivität der Spontaneität des Subjekts, die - im Gegensatz zur Unbedingtheit der transzendentalen Setzung der reinen Verstandesbegriffe - stets der möglichen Erfahrung des Scheiterns ausgeliefert ist, die also in all ihrem von je verschiedenen Ansprüchen bestimmten Handeln darin sich gleichbleibt, dass sie - soll ihr Tun sich erfüllen können - der Zustimmung Gegebenen
bedarf.
Aus dieser Feststellung ist dreierlei abzuleiten.
19 KdU, § 39, p. 155.
des
200
Zur reflektierenden Urtei 1 skraft-iiberhaupt
Erstens: Zum Reflektieren-überhaupt und daher auch zum ästhetischen Reflektieren gehört wesentlich ein "objektiv zufälliges", aber transzendentales, d.h. die Erscheinung von Gegenständlichkeit ermöglichendes
20
, Prinzip der
Zweckmässigkeit-für-uns des Gegebenen. Zweitens: In allem Reflektieren, das das "objektiv zufällige" Prinzip "subjektiv notwendig"
21
entwirft, ist die
22 Erwartung und die Hoffnung, "in die Welt zu passen"
, lebendig. Drittens:
Die nicht-seblstverständliche Erfahrung des Gelingens von Reflexion verweist das Denken auf die Idee einer universalen Teleologie. Zum ersten: Die generelle Angewiesenheit des Reflektierens (und das meint schliesslich in dem weiten, allein noch aus der Gegenüberstellung zur unbedingten transzendentalen Setzung sich bestimmenden Sinn, in dem wir jetzt "Reflektieren" auffassen: die generelle Angewiesenheit all jenen Verhaltens, das gemäss dem Begriff der KrdrV nicht als eine "Funktion des reinen Ver23 standes" zu bezeichnen ist) auf die sozusagen "heuristische"
Annahme einer
den Ansprüchen der menschlichen Subjektivität und ihren begrenzten Fähigkeiten gewogenen Welt, ist die sachliche Basis für die kantische Aussage, wonach eben auch die ästhetische Uk jenes"Prinzip enthält, welches die Urteilskraft völlig a priori ihrer Reflexion über die Natur zugrunde legt, nämlich das einer ... Zweckmässigkeit der Natur (= des je Gegebenen - Zusatz GK) für 24 uns."
Und ebenfalls diese an der gemeinsamen Abhängigkeit von einer Ange-
messenheitsvoraussetzung ablesbare strukturelle
Einheit
allen
Re flektier ens
ist der Anlass dafür, dass Kant vom identischen Verfahren der Urteilskraft (vgl. oben, p,198f) - sei es "zum Behuf der gemeinsten Erfahrung", sei es zum Behuf der Erfahrung des "Spiels" - spricht. Denn in all ihren diversen, von grundsätzlich sehr unterschiedlichen Einstellungen und Ansprüchen geleiteten Tätigkeiten ist die reflektierende Uk doch immer:
Begegnen-Lassen
von Seiendem im Erwartungshorizont des objektiv unbegründbaren, transzendentalen Entwurfs der Günstigkeit des Gegebenen. Unsere Rechtfertigung der kantischen Einheitsthese zu Prinzip und Verfahren kann freilich nur partiell sein. Die KdU arbeitet nämlich nirgends die 20 21 22 23 24
vgl. vgl. vgl. vgl. KdU,
dazu oben, p. 46ff. dazu oben, p. 19. Kants Refi. 1855; vgl. dazu unten, p.244ff. dazu oben, p. 48f. Einleitung, p. L/LI.
201
Aesthetische und reflektierende Uk
Trennung zwischen den Ebenen der Gattung und der Art heraus, so dass die kantische Betonung der identischen Zuge von ästhetischer und
(teleologi-
scher Urteilskraft zugleich die Preisgabe der Differenzen impliziert. Demgegenüber ist also in Hinsicht auf das transzendentale Prinzip folgendes auseinanderzuhalten: Es gibt einerseits die übergreifende Antizipation der reflektierenden Uk-überhaupt und andererseits die inhaltlich denes
je
Verschie-
präsumierenden Entwürfe (a) der (teleo)logischen und (b) der ästhe-
tischen Reflexion: Während die (teleo)logische Uk das Gegebene a priori als ihrer theoretischen Erkenntnisabsicht gefügig betrachtet, supponiert die ästhetische Uk das ihr Vorliegende vorweg als solches, das dem Anspruch der Gunst gemäss ist. Zu diesen Abgrenzungen innerhalb des
transzendentalen
Prinzips wird später noch eine Scheidung treten, die ausserhalb dieses Rahmens steht: die Unterscheidung nämlich zwischen dem transzendentalen Prinzip der ästhetischen Uk und dem Prinzip
des Geschmacks
(vgl. dazu unten,
p. 282ff.). - Unser Insistieren auf solchen Trennungen mag begriffsklauberisch und scholastisch anmuten, denn die orientierende Wirkung, die solchen Bemühungen innewohnt, ist vorerst nicht recht auszumachen. Das wird sich jedoch ändern, sobald wir uns auf die eigentliche "Deduktion" der Geschmacksurteile und ihres Anspruchs einlassen müssen. Deren Krux sind nämlich exakt jene falschen Identifizierungen (z.B. zwischen dem Prinzip der reflektierenden Uk-überhaupt und dem der ästhetischen Uk oder zwischen dem transzendentalen Prinzip und dem Prinzip des Geschmacks),die man durchschauen lernen muss, soll das Glücken oder besser: Missglücken der kantischen
"Deduk-
tion" begreiflich werden.
Zum zweiten: In jeglicher Art von reflektierender Uk sei das Moment "Hoffnung, in die Welt zu passen" am Werk. In oder an der reflektierenden Uk erfährt sich die autonome Vernunft in ihrer Hinfälligkeit und Endlichkeit und zugleich in ihrem Drang, in der Kontingenz des Gegebenen ihre eigenen Ansprüche zu realisieren. Wo aber Anspruch ist und Streben, ist stets auch das Gefühl
der Lust und Unlust.
Deshalb ist mit dem Reflektieren der Uk die 25
Lust oder Unlust nicht zufällig verknüpft.
(Dem speziellen
Konnex zwischen
ästhetischer Uk und ästhetischer Lust werden wir unten, p. 241 ff. hen. ) 25 vgl. oben, p. 71ff.
nachge-
202
Zur reflektierenden
Urteilskraft-iiberhaupt
Zum dritten: Das gelingende Tun der reflektierenden Uk indiziert eine Zweckmässigkeit des Gegebenen, auf die das endliche Subjekt zwar angewiesen ist, die es aber nicht auf die Macht seiner eigenen Vermögen reduzieren kann. Durchs Medium erfolgreich vollzogenen Reflektierens begegnet die "Gunst der Natur". Das ist die gemeinsame
Erfahrung
der
(teleo)logischen
wie der ästhetischen
Uk. Das Schöne (zumal das Naturschöne, aber auch das26 jenige, das sich der "Naturgabe" des Genies verdankt ), die Organismen,
27 die Generalisierbarkeit der empirischen Gesetze
, die Begreifbarkeit des
Vorfindlichen insgesamt, lassen sich deuten, als ob die Welt und der Mensch in ihr ein "System der Zwecke" bildeten, dessen zentraler 28 Sinn die Verwirklichung der vernünftigen Selbstbestimmung des Menschen ist
. Die (teleo)-
logische und - was wir im nächsten Kapitel noch besser analysieren werden die ästhetische Uk vermitteln also durch ihre Entdeckung einer für ihre jeweiligen Aufgaben tatsächlich günstigen "Natur" die Elemente eines umfassenden teleologischen Weltbegriffs. Und erst eigentlich len Gehalt
dieses
auf die Erfahrungsessenz
den teleologischen
Weltbegriffs
male Konzept
Einheit
einer
ist jener
der KdU bewährt
hier: im
der reflektierenden Punkt und
erreicht,
Uk
materiaaufbauen-
wo sich das
for-
erfüllt.
Der zugleich mit dem Fortgang der Untersuchung des Subjektsvermögens "reflektierende Urteilskraft" sich entfaltende teleologische Weltbegriff übernimmt Brückenfunktion in zweierlei Hinsicht: einmal liefert er den Uebergang vom "Gebiet des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs"
29
,
d.h. das Problem des Zusammenhangs von theoretischer und praktischer Philo-
30 sophie wird durch ihn lösbar
; zum anderen gibt er Kant die Möglichkeit,
die gegen die Dogmatik traditioneller Metaphysik ausgebildete Transzendentalphilosophie dennoch, aber ohne den kritischen Einsichten Abbruch tun zu müssen, auf Metaphysisches hin durchsichtig zu machen 31 - nämlich auf den "übersinnlichen Grund der Natur in und ausser uns" , auf dasjenige mithin, wofür die Immanenz des zweckmässigen Weltganzen gleichsam die "Chiffre" 26 27 28 29 30
32
vgl. oben, p. 166. vgl. oben, p. 44. vgl. dazu K. Düsing, op. cit., p. 206ff. vgl. KdU, Einleitung, Kpl. IX, p. L U I etc. vgl. KdU, Einleitung, Kpl. II u. III, p. XVI etc. (vgl. bes. den Titel von Kpl. III.') 31 vgl. zu dieser Wendung etwa KdU, p. 258 oder p. 236-38 32 vgl. KdU, § 42, p. 170.
Aesthetische und reflektierende Uk
203
ist. Nun ist es ja nicht unser Ziel, den hier soeben angeschnittenen Problemkomplex der kantisehen Teleologie aufzuarbeiten, doch der Verweis auf ihn ist unumgänglich, wenn die Einheit der dritten Debatte steht: Die Frucht der reflektierten den Uk-überhaupt
ist der teleologische
kantisohen
Erfahrung
Gedanke;
der
Kritik
zur
reflektieren-
deshalb ist er und seine
innere Kohärenz gewissermassen die Probe auf die Einheit der KdU. Hermeneutische Auseinandersetzung hat zwei Massstäben zu genügen; einerseits muss sie sich der Autorität ihres Textes unterwerfen, ihm gewissermassen auf Kredit Wahrheit einräumen, d.h. ihn prinzipiell wohlwollend angehen, andererseits darf sie nicht darauf verzichten, ihn auch unter dem Gesichtspunkt möglicher Unstimmigkeiten, "Fehler", zu beurteilen. Nachdem wir Kants Einordnung einer Untersuchung der ästhetischen Kompetenz ins Gesamtprogramm einer Kritik der reflektierenden Uk auf ihre guten Gründe zurückgeführt haben, ist die Gegenrechnung
aufzutun;
- inwiefern stört die
systematische Intention der KdU die adäquate Bestimmung des ästhetischen Vermögens? Die inhaltlichen Feststellungen, die diese Frage erheischt, sind schon früher getroffen worden; wir brauchen deshalb bloss zu wiederholen und zusammenzufassen. Das erste, was sich sogleich aufdrängt, ist das Stichwort "Parallelisierungsstrategie". In Berücksichtigung der erfolgten Präzisierung des Verhältnis 1 zwischen reflektierender Uk-überhaupt und ästhetischer Uk kann damit nicht einfach gemeint sein, dass Kant das ästhetische Reflektieren und die Geschmacksurteilsbildung überhaupt mit so etwas wie der reflektierenden Urteilskraft in Zusammenhang bringt, sondern wie er es tut: Die von uns als "reflektierende Uk-überhaupt" vorgestellte Einheit, auf die Kant die für das ästhetische Urteil konstitutive Tätigkeit bezieht, ist von ihm zuwenig bestimmt und d.h. vor allem: zu wenig allgemein
gefasst
worden.
Das äussert sich zunächst darin, dass die KdU den von uns zur Bezeichnung der Gattungsbestimmung
geprägten Ausdruck "reflektierende Uk-überhaupt" gar
nicht kennt, sondern stets nur unbestimmt von "reflektierender Urteilskraft" spricht (ein Titel, den die KdU sowohl für die Gattung wie für deren Spezifikationen verwendet), und damit offenlässt, was darunter jeweils genau zu verstehen ist. Der eigentliche Fehler (und mithin das, was den falschen Ansatz der Parallelisierungsidee bedingt) ist freilich nicht der Mangel an
Zur reflektierenden
204
terminologischer Schärfe; entscheidend massgebende
Vorbild
(teleo)logisch
für die Einheit
reflektierende
oder
Urtei1skraft-überhaupt ist, dass in der KdU das
"reflektierende logisch
letztlich
Uk(-überhaupt)"
objektivierende
die
Uk bleibt.
-
Was wir damit sagen wollen, lässt sich am besten mit Hilfe des äusseren Aufbaus der "Einleitung" zur KdU verdeutlichen. In der "Einleitung" führt Kant den Begriff der reflektierenden Uk (-Uberhaupt) ein, indem er zuerst - ohne es als solches zu qualifizieren - das Beispiel
der Art
"(teleo)logische Uk" erläutert (Einleitung, Kapitel
IV,
cf. dazu oben, p. 36). Wenn dann - mit Kapitel VII der "Einleitung" - die zweite Art der reflektierenden Uk, d.h. die ästhetische Uk, auf den Plan tritt, muss sie zwangsläufig auf eine Einheit "reflektierende Uk(-überhaupt)" bezogen werden, die in Wahrheit von den spezifischen Bestimmungen der (teleo)logischen Uk durchsetzt ist, m.a.W.: die ästhetische Uk wird in ein Konzept von reflektierender Uk gedrängt, das die ästhetische Reflexion in unpassender Weise der logisch objektivierenden Reflexion affinisieren muss,
- darauf zielt unser Wort von der "Parallelisierungsstrategie".
Der
wirklich umfassende Begriff der reflektierenden Uk(-überhaupt) wird dadurch also von uns nicht gebrandmarkt, sondern nur jener beschränkte, der allerdings in der KdU häufig genug anzutreffen ist. Der beschränkte Begriff der reflektierenden Uk lässt (noch einmal: im Gegensatz zu unserem umgreifenden Begriff der reflektierenden
Uk-überhaupt)
für eine Einsicht keinen Raum, die nicht bloss für die rechte Erkenntnis des Wesens der ästhetischen Uk ausschlaggebend ist, sondern auch für das Verständnis jener obersten Instanz, die bei Kant den Namen "Vernunft"
trägt
Die reflektierende Uk, genauer: die (teleo)logisch reflektierende Uk, sei im Grunde nichts anderes als die Konkretisierung des Vernunftsinteresses an theoretisch-praktischer Bewältigung der gegebenen Welt. Der zu eng, d.i. allein vom Paradigma der (teleo)logischen Uk her gedachte Begriff der reflektierenden Uk(-überhaupt) muss diesen Ursprungssinn der
(teleo)logischen
Uk auf den paralleltheoretisch konstruierten Begriff der ästhetischen Uk übertragen. Die Folge solcher Uebertragung ist klar: die Tatsache, dass die ästhetische Bezugnahme auf Seiendes eine eigene von Bewältigungsabsicht
gesteuerte
Einstellung
und andere, zum Gegebenen
nämlich
nicht
realisiert,
205
Aesthetische und reflektierende Uk vermag nicht mehr namhaft zu werden. Und weil dies ausbleibt, kann auch
nicht die der ästhetischen Zugangsweise und Reflexion komplementäre beson33
dere Seinsart des Schönen als solche behandelt werden.
Der Hinweis auf das, was man metaphorisch als die "Seele" der reflektierenden Uk charakterisieren darf, der Hinweis aufs Vernunftinteresse, lenkt die Aufmerksamkeit zugleich auf ein Thema, das dem Selbstverständnis
kanti-
schen Philosophierens letztlich fremd ist: Das Problem einer Deutung der endlichen Vernunft nicht
nur aus dem Machtwillen der menschlichen Subjekte
gegenüber dem Seienden. Denn soll nicht allein der (teleo)logisch reflektierenden Uk, sondern gleichfalls der gunst-vollen ästhetisch
reflektie-
renden Uk ein Vernunft interesse Anlass und Grund sein, so muss sich der tiefste Vernunftanspruch nicht bloss als ein herrisches VerfLigen-Wollen, vielmehr ebenso als ein gönnendes Sein-Lassen bestimmen können. In der sequenz
des recht
Fassung
von "Vernunft",
Tradition
begriffenen
Kant steht,
ästhetischen
die den
Verhaltens
Vernunftbegriff,
neuzeitliciien
revisionsbedürftig
liegt mithin
erscheinen
lässt.
in
Kon-
eine dessen
Kants Darstel-
lung der ästhetischen Uk, ihrer Vollzugsstruktur und ihres Erfahrungsgehaltes, steht gleichsam mitten in diesem Revisionsprozess: einerseits versucht sie sachtreue Deskription der vom Verfügungstrieb absehenden ästhetischen Wahrnehmung zu sein, andererseits löst sie sich nicht durchgrei34 fend von der Dominanz der Denkmuster der Herrschaftsvernunft
. Es bestä-
tigt sich daher, was schon zu Anfang bemerkt worden ist: Der Grundzug der ästhetischen Uk und ihre Zugehörigkeit zur reflektierenden Uk-überhaupt ist nur von einer solchen Auslegung des kantischen Textes freizulegen, die ebensosehr Extrapolation
wie Interpretation
ist.
Im nächsten Kapitel soll eingebracht werden, was diese extrapolierende Interpretation vorbereitet hat. Die im Ausgang vom Kerntext der zweiten 33 vgl. oben, p. 139 (v.a. die von uns zitierten Ausführungen Biemels). 34 Die nicht überwundene Vorherrschaft der alten Denkmuster bekundet sich häufig indirekt, nämlich in der von uns sogenannten "negierenden Darstellung". Gerade in Bezug auf das Verhältnis ästhetische Uk - reflektierende Uk-überhaupt führt die Koalition zwischen negierender Beschreibung und dem, den Paradigmen der weltunterwerfenden Vernunft verpflichteten, Parallelisierungsansatz zu Fehlern: Kant kürzt - indem er von ihr bloss per negationem spricht - die ästhetische Reflexion um ihren spezifischen Gehalt und identifiziert geradezu das Tun der reflektierenden Uk-überhaupt mit dem der ästhetischen (vgl. oben, p.l47ff.).
206
Zur reflektierenden Urteilskraft-überhaupt
Einleitung von uns gestellten Fragen werden nun beantwortet werden können: die nach der relativen Zweckmässigkeit des Schönen und die nach dem Doppelsinn der ästhetischen Zweckmässigkeit (vgl. oben, p. 167), ferner die Frage nach Ursprung und Sinn der ästhetischen
Lust (vgl. oben, p. 92 ). Damit wird
schliesslich auch die Beschäftigung mit dem Stück aus der (zweiten) Einleitung zu beendigen sein.
KAPITEL Vili ZWECKMAESSIGKEIT DES SCHOENEN UND DER GRUND DER AESTHETISCHEN LUST
A. Zur relativen Zweckmässigkeit des Schönen
§ 29 Rekapitulation
Soll Kants Kennzeichnung des ästhetischen Gegenstands als eines in Relation zur (ästhetischen) Uk "zweckmässigen"
eine sachliche Berechtigung
nachgewiesen werden, ist es nötig, die von der KdU selbst verwischten Spuren jener immanenten Erwartung zu suchen und zu verfolgen, die die Uk insgeheim bestimmt. Das tun, heisst gegen die kantische Tendenz zur negierenden Beschreibung der ästhetischen Einstellung oder Gegenstandsbeziehung angehen: Der Versuch einer "positiven Beschreibung" wird unumgänglich. Ohne die Vermittlung unserer "extrapolierenden Interpretation" ist der Widerspruch zwischen einerseits den Qualifizierungen Kants, die nachdrücklich der ästhetischen Uk "Interesse-" und "Absichtslosigkeit" zuordnen und andererseits unserer für die Erklärung der "Zweckmässigkeit für ..." konstitutiven Behauptung eines der ästhetischen Haltung wesentlichen Anspruchs (oder eben: Interesses) nicht aus der Welt zu schaffen. Die bislang versuchte positive Charakterisierung der ästhetischen Kompetenz ist gewiss etwas dünn geraten und mutet obendrein gespreizt an; - die Rede von der ästhettischen Uk als einer Einstellung der "Gunst", ihrem Vollzug als einem "Gönnen", ist daher im folgenden strenger als bisher ein Durchblick auf den Text der KdU zu verschaffen. Das Ziel ist dabei das alte einer exakteren Artikulation der Bestimmtheit jenes - wie immer "zwecklosen" - Zwecks, dem gegenüber das Gegebene sich als zweck-mässig darstellen darf. Soviel immerhin hat die Heranziehung des Begriffs "Gunst" unübersehbar
208
Zweckmässigkeit des Schönen und der Grund der ästhetischen Lust
gemacht, dass der Impuls der ästhetischen Uk nicht jenem Interesse der praktisch-theoretischen Vernunft entstammt, das für Kant sonst mit dem Vernunftinteresse überhaupt identisch ist ; nicht jenem Antrieb also, den Heidegger schliesslich als den "Willen zur Macht" begreift und Adorno als den Identifikationszwang der Rationalität eines universal gewordenen Tauschprinzips deutet. Um es weniger pointiert und nicht mit den Formeln von Denkern zu sagen, denen die Erfahrung der Dialektik der Aufklärung aufdringlich geworden ist: das Bestreben der ästhetischen
Uk langt jedenfalls nicht aus nach
einer eindeutigen begrifflichen Fixierung des Seienden, die das Gegebene objektiviert und insofern praktisch-technisch verfügbar macht. Das wird am Phänomen der ästhetischen Erfahrung, des "Spiels", greifbar. Wenn daher das Schöne zweckmässig für die Uk sein soll, dann nicht im Sinne dieser Zweckmässigkeit (qua Angemessenheit an die Erkenntnisvermögen), die für die (teleologische Uk unverzichtbar ist; eine Zweckmässigkeit, die ja letztlich im Dienst des herrschaftlichen Vernunftwill ens steht. Welche Zweckmässigkeit kann also gemeint sein? - Die Frage ist, vorläufig, schon beantwortet worden, indem wir den Anspruch
der Gunst namhaft gemacht haben. Weil die
ästhetische Uk nicht überhaupt
kein Interesse verwirklicht, besteht die Re-
de von der ästhetischen Zweckmässigkeit für ... zu Recht und die relative Zweckmässigkeit des Schönen ist eben diese, in der sich der Anspruch der Gunst erfüllt. Mit solchen Sätzen bewegen wir uns freilich immer noch im Rahmen einer die KdU überschreitenden Begrifflichkeit. Entscheidend wird jetzt, dass man am Text selber aufweisen kann, wie Kant das von ihm zwar nicht als solches explizierte Interesse der ästhetischen Uk dennoch zur Geltung bringt. Der Ausarbeitung dieser Aufgabe möchten wir eine zusammenfassende Erörterung des Terminus "Interesselosigkeit" vorschalten. Interesselosigkeit, Absichtslosigkeit und ästhetische Einstellung; "empirisches" und "intellektuelles Interesse" am Schönen (Exkurs): a) In § 2 der KdU definiert Kant "Interesse": "Interesse wird das Wohlgefallen genannt, was wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden." 2 Unsere früheren Auseinandersetzungen mit dem Begriff der "Lust" resp. des "Wohlgefallens" machen klar, dass der zitierte Satz nicht so verstanden werden darf, wie es zunächst naheliegt. "Interesse" ist nicht eine Art der 1 vgl. oben, p. 17ff. 2 KdU, § 2, p. 5.
Interesselosigkeit und Interesse
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Gattung "Wohlgefallen", nämlich jene Art, deren Bezugspunkt "Existenz" ist. Denn, wie oben gezeigt, Interesse (= Streben) und Lust stehen nicht eigentlich in einem Kausalverhältnis und noch weniger ist Streben eine Spezifikation von Lust. Beide, Lust und Streben, implizieren zwar einander, aber umwillen einer eigenen Zusammengehörigkeit: Lust ist die Repräsentanz des Strebens im Modus seiner (antizipierten oder realen) Erfüllung. Wir möchten deshalb die kantische Definition reformulieren. "Interesse" meint demnach jenes - wie jedes Streben mit Lust/Wohlgefallen verbundene - Streben, das auf die Existenz eines Gegenstandes geht. Das für die KdU Entscheidende ist mithin die Betonung des Konnex' zwischen Interesse und Existenz. Dieser Konnex ist es, der das im kantischen Sinn mit Interesse gekoppelte Wohlgefallen vom Wohlgefallen unterscheidbar macht, das in der ästhetischen Bezugnahme auf gegebene Gegenstände auftaucht. Diesen Zusammenhang zu begreifen ist daher erstes Anliegen, will man nicht bloss orientiert am allgemeinen Vorverständnis des Begriffs der "Interesselosigkeit" erläutern, weswegen Kant das ästhetische Verhalten als interesselos qualifiziert. Nun ist das nicht so einfach, wie man glauben möchte. Das diesbezüglich Wichtige findet sich im § 5 der KdU. Im § 5 hebt Kant das ästhetische von dem Wohlgefallen ab, das dem Angenehmen resp. dem Guten gilt. Das Wohlgefallen am Guten und das Wohlgefallen am Angenehmen haben, obschon sie nicht identisch sind, gemeinsam, dass sie mit Interesse verbunden sind, und d.h., gemäss der Feststellung von § 2, dass sie je durch die "Verknüpfung des Subjekts mit der Existenz des (wohlgefälligen) Gegenstandes bestimmt" sind. Dem kontrastiert das GU, genauer: das Verhalten, auf dem die ästhetische Aussage basiert: "Dagegen ist das Geschmacksurteil bloss contemplativ, d.i. ein Urteil, welches indifferent in Ansehung des Daseins eines Gegenstandes (bleibt ...). Aber diese Contemplation selbst ist auch nicht auf Begriffe gerichtet; denn das Geschmacksurteil ist kein Erkenntnisurteil und daher auch nicht auf Begriffe gegründet, oder auf solche abgezweckt." 3 Das ästhetische Verhalten (dessen Erfahrung sich schliesslich ins ästhetische Urteil auskristallisiert4) ist "Contemplation"; mit ihr allein hat das ästhetische Wohlgefallen am Schönen zu tun, während eben die Lust am Angenehmen und Guten Index eines "Interesses" ist. "Contemplation" versus "Interesse" - aus dieser Begriffskonstellation lässt sich ein Zugang zum Sinn jener Behauptung gewinnen, wonach "Interesse" wesentlich auf "Existenz" oder "Dasein" ziele. Der kennzeichnende Zug von Kontemplation in Kontraposition zu Interesse besteht für die KdU darin, dass Kontemplation Spielraum gewährt. Der Gegenstand von Kontemplation ist somit als jener charakterisierbar, der in all seinen Aspekten der Aufmerksamkeit würdig ist. Nicht so verhält es sich beim Gegenstand des Interesses, - jedenfalls, wenn man Interesse so fasst, wie das Kant tut. Für ihn gibt es lediglich zwei Typen von Interesse^• die sinnliche Neigung und das moralische Bedürfnis des vernünftigen Willens. Die erste richtet sich auf das, was die KdU das "Angenehme" nennt, das zweite hat als Objekt (weil es das Objekt des durch das Gebot der praktischen Vernunft
3 KdU, § 5, p. 14. 4 vgl. zum Verhältnis zwischen explizitem GU und dem Vollzug, dem es aufruht, unten, p. 273ff. 5 vgl. KdU, § 2, Absatz 2.
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bestimmten Begehrungsvermögens ist) das "Gute". Auszumachen, worin die jeweiligen Korrelate der zwei Arten von Interesse übereinstimmen, ist der nächste Schritt auf dem Weg zur Deutung des von Kant statuierten Konnex 1 zwischen Interesse und Existenz und für die Explikation des Sinnes von "Existenz". Sowohl das Angenehme wie das Gute sind darin gleich, dass diese ihre Beschaffenheit, die sie überhaupt zum Gegenstand von Interesse werden lässt, jeder Befriedigung des jeweiligen Interesses vorweg, bereits im Interesse selbst als vollständig determinierte gesetzt ist. Das leuchtet hinsichtlich des Guten sofort ein; um etwas gut zu finden und als solches zu wollen, "muss ich jederzeit wissen, was der Gegenstand für ein Ding sein solle, d.i. einen (die interessierende Beschaffenheit genau fixierenden; Zusatz GK) Begriff von demselben haben". 6 Das Interesse am Guten prädeterminiert sein Objekt durah den Entwurf des Begriffs, dem es zu genügen hat. Beim Angenehmen ist die Sachlage etwas anders. Die sinnliche Neigung prädeterminiert die Beschaffenheit ihres Gegenstandes begriffslos; nämlich so, dass sie sich nur insoweit auf ihn bezieht, als er Träger der von ihr jeweils intendierten sinnlichen Empfindungsqualitäten ist. Die Begierde, also das Interesse am Angenehmen, prädeterminiert das, wonach sie strebt, indem sie es reduziert, d.h. zum Komplex einfacher Sinnesdaten schrumpfen lässt. Der Unterschied im Grad der vorweg geschehenen Bestimmung der Bestimmtheit/ Beschaffenheit des entsprechenden Korrelats ist die Differenz, um die es der Kdll mit der Entgegensetzung von "Contemplation" und "Interesse" geht. Ist sie einmal erkannt, erlaubt sie weitere und die entscheidenden Aufschlüsse. Was Kant insgesamt unter den Titel "Interesse" stellt, ist eine Bezugnahme auf Seiendes, der die Beschaffenheit oder Bestimmtheit ihres Gegenstandes als solche gerade nioht das Interessante ist; sie kennt sie ja von vornherein. Worum es ihr also einzig noch zu tun sein kann, ist die ausstehende oder durch die Kontingenz der Zukunft gefährdete Gegenwart des in seiner Bestimmtheit zum voraus völlig fixierten Objekts. Und genau das meint Kant, wenn er Interesse als notwendig mit der "Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbunden" erklärt. "Existenz" bedeutet also in der KdU primär Gegenwart oder Dass-Sein eines Was-Seins (insofern hält sich Kant ungebrochen in der alten ontologischen Tradition dieses Ausdrucks). Die notwendige Bindung ans "Dasein", die im Interesse vollzogen ist, hat sowohl fürs Subjekt wie für das interessierende Objekt einen Verlust von Freiheit zur Folge: "Ein Gegenstand der Neigung und einer, welcher durch ein Vernunftgesetz uns zum Begehren auferlegt wird, lassen uns keine Freiheit."7 Das im Interessenvollzug stehende Subjekt ist so festgemacht, wie sein gegenständliches Korrelat; vom Interesse ist dem letzteren völlig vorgeschrieben, was und wie es zu sein hat, und dem ersteren, dass es sich lediglich um das Dass eines vorbestimmten Was kümmern soll. Die Erhellung des Konnex' zwischen Existenz und dem kantisch verstandenen Interesse ermöglicht die vertiefte Einsicht in den Sinn des Dictums von der
6 KdU, § 4, p. 10. 7 KdU, § 5, p. 15; im Original lautet der Satz vollständig: "... lassen uns keine Freiheit, uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der Lust zu m a chen." Was damit gemeint ist, werden wir noch berücksichtigen, cf. unten, Anm. 11.
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"Interesselosigkeit" des Wohlgefallens am Schönen und des ästhetischen Verhaltens, das der § 5 als Kontemplation umschrieben hat. Klar ist ja zunächst dies: Da die ästhetische Weise sich einem Gegebenen zuzuwenden Kontemplation ist, meint das ihr geltende Prädikat "interesselos" nichts anderes, als eben jene sie als Kontemplation markierende Tendenz, einen Spielraum zu gewährleisten, in dem sowohl Subjekt wie Objekt von den Bindungen befreit sind, die das sog. "Interesse" definieren. Die Vagheit dieser Feststellungen vermag man nun zu überwinden, wenn nach der obigen Erörterung die Bindung des "Interesses" an "Existenz" transparent geworden ist: Weil sie "interesselos" und darum also nicht bloss konzentriert aufs erstrebte Dass-Sein von etwas ist, ist die ästhetische Relation zum Gegebenen offen für und eigens gerichtet auf das, was für die Neigung und den Vernunftwillen primär nicht das Interessante ist; - das Was-Sein oder die Beschaffenheit. Erinnert sei an den bereits zitierten Satz aus § 5: "Dagegen ist das Geschmacksurteil bloss contemplativ, d.i. ein Urteil, welches, indifferent in Ansehung des Daseins eines Gegenstandes, nur seine Beschaffenheit (thematisiert)." 8 Obwohl es Kant im § 5 selbst tut, ist es nicht ganz sauber im Gegenzug zum Geflige "Interesse" - "Dass-Sein" dem Begriff der "Interesselosigkeit" umstandslos die "Beschaffenheit" zuzuordnen. Wie wir im Zusammenhang der Diskussion des kantischen Konzepts der "Form" gesehen haben, lehnt es die KdU ja ab, die der interesselosen ästhetischen Zuwendung sich offenbarende Bestimmtheit des Gegebenen eine Eigenschaft zu nennen. 9 Wenn jetzt jedoch von "Beschaffenheit" die Rede ist, scheint Schönheit dennoch als solche aufgefasst zu werden. Die Zweideutigkeit, die sich in der terminologischen Behandlung des ontologischen Status von Schönheit bemerkbar macht, ist allerdings leicht abzufangen: Dann, wenn Kant den Gebrauch des Begriffs "Eigenschaft" verweigert, will er anzeigen, dass Schönheit keine gegenständliche Bestimmtheit ist, die "objektiv" geheissen werden darf. Denn Schönheit bekundet sich allein einer Hinsichtnahme, die nicht unter jenen Voraussetzungen vonstatten geht, die das, was sonst als Eigenschaft begriffen wird, aufzunehmen erlauben. Schönheit ist kein Korrelat der unter der Absicht auf den bestimmten Begriff der Sache agierenden (teleo)logischen reflektierenden Uk, keine Beschaffenheit im Sinn von "objektiver Eigenschaft". Davon, dass dies nicht der Fall ist, geht der § 5 aber gerade aus. Schönheit ist der gegenständliche Charakter, der sich (der - mindestens nach der Meinung Kants - durch ihre Interesselosigkeit ohne weiteres auch von der (teleo)logischen abgehob e n e n 1 0 ästhetischen Uk erschliesst. Also ist sie von vornherein nicht mit dem gleichzusetzen, was man üblicherweise unter Eigenschaft versteht. Hat man sich das vergegenwärtigt, wird erkennbar, weshalb Kant gleichwohl auf den Titel "Beschaffenheit" nicht verzichtet. Denn was Korrelat einer interesselosen Haltung ist, betrifft nicht die Existenz des Gegenstandes, der zum Korrelat geworden ist, und trotzdem - um es unverbindlich auszudrücken - etwas an diesem Gegenstand selbst. Wie anders als "Beschaffenheit" sollte man das nennen? M.a.W.: man braucht sich durchaus nicht zu scheuen, Schönheit als Beschaffenheit zu denken, sofern bewusst bleibt, dass sie eine 8 KdU, § 5, p. 14. 9 cf. oben, p, 116f. u. p. 160. 10 Inwiefern die ästhetische Uk durch die Interesselosigkeit sogleich von der (teleo)logisch reflektierenden Uk geschieden ist, haben wir allerdings explizit noch nicht erwähnt; das wird sogleich im nächsten A b schnitt dieses Exkurses geschehen.
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eigene, andere ist als die, die wir als objektive Eigenschaft ansprechen. Ihre Differenz macht sich u.a. darin geltend, dass sie zwar wie jede Beschaffenheit durchaus Moment der Bestimmtheit des der ästhetischen Uk Vorliegenden ist, d.h. aufgefasst, abgelesen werden will, aber dennoch nur sein kann, wenn sie in dieser Auffassung zugleich als Resultat der freien Tätigkeit des apprehendierenden Subjekts erscheint und in ihre Bestimmtheit die Freiheit der Einbildungskraft mit hinein spielt. 1 1 Das Dargelegte zwingt dazu, Verschiedenheit und Verwandtschaft zwischen der Interesselosigkeit und der sog. "Absichtslosigkeit", welch letztere in unserer Arbeit weit häufiger als die Interesselosigkeit im Mittelpunkt gestanden hat, zu explizieren. Die Qualifizierung "interesselos" gilt nach der am Anfang dieses Exkurses vorgestellten Definition dem Wohlgefallen oder der Lust. Wir schlugen vor, die Bestimmung des § 2 zu reformulieren. Gemäss dieser Reformulierung müsste man jetzt - in einer paradox tönenden Fugung - erklären, "interesselos" sei Prädikat jenes Strebens (oder Interesses!), das nicht wie das entsprechend zu bildende "interessierte Interesse" die Existenz oder das Dasein intendiert. Es wird sich rasch ergeben, dass diese auf den ersten Blick befremdlichen Begriffsbildungen in der Tat einen guten Sinn haben können. Vorderhand kommt es indes lediglich darauf an, das Referenzsubjekt von "interesselos" gegenüber demjenigen von "absichtslos" abzuheben. "Absichtslos", - das erhellt aus der Interpretation des ersten Satzes aus dem Text der Zweiten Einleitung 1 2 , - bezieht sich auf die grundlegende Voraussetzungj unter der die Reflexion der ästhetischen Uk geschieht. Das Adjektiv bezeichnet deren Freiheit vom bestimmten Begriff, d.h. ihre Unabhängigkeit von jenem Streben, das sich in der (teleo)logisch reflektierenden Uk realisiert. Mit den zwei Qualifikationen ist also von Verschiedenem Verschiedenes gesagt. Inwiefern gehören sie dann überhaupt zusammen? - Das wird sichtbar, wenn verstanden ist, wie Streben oder Interesse und ästhetische Uk zueinander stehen. Wir wissen zwar seit unserer extrapolierenden Interpretation der ästhetischen Uk, dass der letzteren ein Interesse inhärent sein muss, doch just dies ist stets durch die von der KdU so nachdrücklich vorgetragene Behauptung der Interesselosigkeit des ästhetischen Wohlgefallens fragwürdig geblieben. Wenn die Lust am Schönen interesselos geschehen soll, dann gibt es eben kein Streben, mit dem sie sinnvollerweise in Kontakt zu bringen wäre ... Die genaue Auslegung der Stelle, die definiert, was Kant als Interesse verstanden haben will, führt nun freilich erstens zur Einsicht, dass er damit etwas sehr Bestimmtes im Auge hat, - nämlich jenes Interesse, das die ihrem Was-Sein nach vorweg determinierte Existenz zum Ziel hat, - und zweitens zur Feststellung, dass der § 2 nicht verbindlich zu beweisen vermag, dass Interesse sich einzig in diese Art ausformen kann. Allein wenn das der Fall wäre, müsste man zugeben, dass die ästhetische Lust (und dementsprechend die ästhetische Uk) nicht bloss interesselos im kantischen Sinn, sondern in gar keiner Weise mit irgend einem Streben oder Anspruch in Zusammenhang zu bringen ist. Der geforderte Beweis ist jedoch nicht zu liefern. Darum bietet es keine Schwierigkeiten, die Bestimmung der Interesse11 Nichts als diesen Wesenszug von Schönheit möchte der oben, in Aran. 7 vollständig zitierte Satz ins Gedächtnis rufen; und er sagt keinesfalls, Schönheit sei blosses Produkt nach subjektivem Belieben. 12 cf. oben, p. 119ff.
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losigkeit im Bereich der Begegnung des Schönen sowohl anzuerkennen als auch abzulehnen. Das ästhetische Wohlgefallen und die von ihm vorausgesetzte Aktivität der Uk sind in der Tat mit keinem Interesse verbunden, sofern beide nicht auf das gehen, was Kant als Existenz begreift; das bedeutet indessen keineswegs, wie es die KdU doch nahelegt, dass es überhaupt verkehrt sein muss, der ästhetischen Uk eine eigene Art von Streben aufzuweisen und das Wohlgefallen am Schönen von ihr her zu erklären. Im Licht einer Erläuterung von Sinn und Grenzen der viel berufenen Interesselosigkeit erscheint also die These vom Anspruchs- und Strebenscharakter der ästhetischen Uk als durchaus legitim. 1 3 Wie sind nun, um zu unserer obigen Frage zurückzukehren, die zwei für das kantische Konzept der Geschmackstätigkeit fundamentalen Bestimmungen der Interesse- resp. Absichtslosigkeit in Einklang zu bringen? Unter Beachtung ihrer resp. Referenzsubjekte folgendermassen: Das Prädikat "interesselos" qualifiziert das Streben, den von uns sog. Anspruch der Gunst, der in der ästhetischen Uk am Werk ist, - das Prädikat "absichtslos" hingegen die spezielle Weise, yyie sie diesem Anspruch gerecht wird. Absichtslosigkeit und Interesselosigkeit meinen gewiss von Verschiedenem Verschiedenes, aber beide Begriffe gelten Momenten des einen Ganzen, das die ästhetische Bezugnahme auf Gegebenes ausmacht, in welcher die Erfahrung des Schönen sich ereignet. In der KdU tritt dieser Zusammenhang so deutlich leider nicht zutage. Dominant lässt sie ohnehin nur die Bestimmung der Interesselosigkeit werden, während der Ausdruck "absichtslos" zwar an inhaltlich wichtigen Orten in zentraler Funktion auftaucht, doch nirgends so stark unterstrichen wird, auf dass er nicht im Schatten seines bei Kant wie in der späteren Wirkungsgeschichte viel glanzvoller auftretenden Bruders bleiben müsste. Unter diesen Umständen verwundert es nicht, wenn wir oben unterstellt haben, Kant glaube im § 5 mit der Einführung der Interesselosigkeit implizit auch schon dargetan zu haben, wie die ästhetische Uk von der (teleo)logischen sich unterscheide. 1 4 In Wahrheit stimmt das nämlich durchaus nicht. "Interesselos" im Sinne Kants verdienten eigentlich beide Spezies der reflektierenden Uk geheissen zu werden (die (teleo)logische Uk ist ja gewiss nur vom Interesse an der freilich objektiven Beschaffenheit geleitet, nicht von dem an Existenz), und erst die "Absichtslosigkeit" ist es, die die Differenz zwischen ihnen namhaft macht. Weil aber in der KdU, und auch später, die Interesselosigkeit, als eine der erfolgreichsten Kategorien der kantischen Aesthetik, oft fürs Ganze genommen wird, wird der sachliche Zwang zur eben vorgeführten Aufgliederung nur allzu leicht gebrochen. Interesselosigkeit sei Stichwort fürs Ganze; - für welches Ganze? Für die Verfassung desjenigen, der zu ästhetischer Reflexion, d.h. Schönes wahrzunehmen und schliesslich Geschmacksurteile zu fällen, fähig ist. Früher ha13 Anspruch/Streben der Gunst = interesseloses Interesse; moralischer Imperativ oder sinnliche Neigung = interessiertes Interesse; vgl. dazu: K. Neumann, Gegenständlichkeit und Existenzbedeutung des Schönen, Bonn 1973, p. 10. Anm. 9, sowie p. 21. 14 Ein Beleg für diese Tendenz ist die oben diskutierte Konstellation 'Interesse vs. Kontemplation'. "Contemplation" - das bezeichnet sowohl die eigentümliche Interesselosigkeit des Anspruchs der Gunst, wie auch die absichtslose, nicht-fixierende Hinsicht, unter der die Auffassung der Form oder der Schönheit erfolgt.
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ben wir bezüglich dieses Ganzen eine Einteilung in Vorschlag gebracht, an die nun zu erinnern ist, weil sie in einer anderen Sprache genauer fasslich macht, auf welchen Sachverhalt die Bestimmungen "Interesselosigkeit" und "Absichtslosigkeit" gemünzt sind; gemeint sind die in § 19 erstmals verwendeten Begriffe, - einerseits jener einer ermöglichenden Einstellung, anderseits der einer ermöglichten Aktivität. Auseinanderzuhalten ist also (bei der ästhetischen wie bei jeder anderen Bezugnahme auch) (a) der kategoriale Rahmen, durch den der Möglichkeitshorizont abgesteckt wird, in dem eine Gegenstandserfahrung stattfinden kann, und (b) die speziellen Züge, die dem Akt eignen, der sich unter den einstellungsmässig gegebenen Bedingungen verwirklicht. Hinsichtlich der Interesselosigkeit dürfte klar sein, was sie bezeichnet: sie ist Kants eigentliche Kennzeichnung jener Einstellung15, die alle Entdeckung von Schönem allererst gestattet (und als solche Qualifikation dessen, was den Raum der ästhetischen Wahrnehmung eröffnet, ist sie eben der Name, durch den überhaupt die Verfasstheit der fürs Schöne offenen Subjektivität evoziert wird). Wofür steht aber die Absichtslosigkeit? - Dass sie zur hinreichend scharfen Charakterisierung der ästhetischen Einstellung nicht fehlen darf, wird ersichtlich, wenn deutlich geworden ist, dass es allein die Absichtslosigkeit ist, die die Differenz zwischen ästhetischer und (teleo)logischer Uk ausmacht.Das darf trotz der in der KdU herrschenden Ueberbetonung der Interesselosigkeit nicht vergessen werden. Daher möchten wir ausdrücklich die Gleichrangigkeit von Absichts- und Interesselosigkeit festhalten: Allein, wer von Anfang an darauf verzichtet hat, das Seiende auf dem Hintergrund jener Konzepte von Gegenständlichkeit erscheinen zu lassen, die im Dienst sinnlicher Aneignung resp. moralischer Bewertung oder theoretischer Unterwerfung stehen, allein also, wer in interesseloser und absichtsloser Weise aufs Vorliegende eingestellt ist, vermag eine Erfahrung freizusetzen, deren Erfüllung die Präsenz des Schönen i s t . 1 6 Freilich, dass die ästhetische Erfahrung eine eigenständige Gegebenheitsweise realisiert, d.h. einen schon in der Tiefendimension anderen kategorialen Entwurf des Seienden voraussetzt als die für Kant letztlich paradigmatische Objektbeziehung, die auf "Vorhandenes" geht, kann, wie wir schon mehrmals unterstrichen haben, in der kantischen Aesthetik nicht un15 Diese Bemerkung birgt scheinbar einen Widerspruch zu dem oben, p. 214. Erläuterten; nach dem dort Gesagten dünken die Bestimmungen "Interesse-" bzw. "Absichtslosigkeit" Aspekte des Vollzugs eher, denn Aspekte dessen, was die Möglichkeit dieses Vollzugs stiftet. Zumindest leuchtet es im Ausgang von unserer zunächst versuchten Deutung nicht sogleich ein, dass mit ihnen vor allem das letztere (d.h. die ermöglichende Einstellung) zur Sprache kommen soll. Der Schein des Widerspruchs ist einfach zu erklären. Kant selbst macht ja die von uns vorgeschlagene, dem Inventar phänomenologischer Begrifflichkeit sich verdankende Unterscheidung nicht; deshalb stellt er sogar dann, wenn er sachlich gesehen das behandelt, was vom Vollzug ästhetischer Reflexion stets vorausgesetzt ist (und von diesem selbst also eigentlich zu sondern wäre), dennoch den Vollzug in den Mittelpunkt und vermag mithin dessen einstellungsmässige Bedingung nur so, wie sie sich an diesem immer schon ausgewirkt hat, zu schildern. Anders gesagt: dem Buchstaben nach sind "absichtslos" und "interesselos" Prädikate des ästhetischen Reflektierens bzw. des ihm inhärenten Interesses, dem Geist der kantischen Ausführungen gemäss gelten sie indessen jener tiefliegenden Einstellung, die qua Voraussetzung die ästhetische Reflexion durchherrscht und ihr voraufgeht.
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zweideutig zum Durchbruch gelangen, weil die KdU die ästhetische Uk und alles, was sie konstituiert, von einem umfassenden Konzept der reflektierenden Uk-liberhaupt her begreift; - demjenigen, der die KdU bloss immanent lesen will, muss daher die Absichts- und die Interesselosigkeit notwendig zur blossen differentia specifica im Bereich einer einzigen Einstellung degenerieren. Kant bleibt es also zwar versagt, zu letzter Klarheit in Hinsicht auf die Ursprünglichkeit der ästhetischen Einstellung zu kommen, doch seine Intimität mit dem Phänomen findet immerhin und allenthalben in den von ihm durchgesetzten negativen Abgrenzungen des Geschmacksbereichs ihren unübersehbaren Ausdruck. b) Nach der gegen den Wortlaut der KdU unternommenen Anstrengung, den Titel "Interesse" aus dem Funktionsfeld ästhetischen Verhaltens nicht ganz exterritorialisieren zu lassen, ist endlich auf jene Texte zu achten, in denen auch Kant - und ausdrücklich - vom "Interesse am Schönen" handelt. § 41, KdU, untersucht das "empirische", § 42, KdU, "das .intellektuelle Interesse am Schönen". Weil die KdU dem einmal fixierten Sinn von "Interesse" treu bleibt 1 7 , stösst man diesbezüglich auf keine grösseren Interpretationsprobleme. Wie aber ist jener Aspekt des Schönen, den die §§ 41/42 aufgreifen, mit dem kompatibel zu machen, der sich in der sog. ästhetischen Einstellung zeigt? Anders gesagt: Besteht nicht ein Widerspruch zwischen der Behauptung, das Schöne sei allein in der ästhetischen, d.i. interesselosen Einstellung erfahrbar und den Ausführungen von § 41 und 42? Wenn wir "uninteressiert interessiert", nach Kants Wort "absichts-" und "interesselos" eingestellt sind, dann sind wir freigesetzt zur eigentlichen Vorstellung von Schönheit. Schön-Sein also kann nur in solcher- Einstellung originär gegeben sein. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Schöne (dann zwar nicht mehr gegenwärtig in unmittelbarer Anschauung) nicht auch zum Objekt eines auf seine (des Schönen) Existenz gerichteten Strebens, zum Objekt von "Interesse" also, umgeprägt werden darf. Gewiss wird damit das Schöne seinem ursprünglichen Erfahrungsbereich entfremdet, - offenbar muss es ja zum Gegenstand einer Haltung umstilisiert worden sein, der exakt dies wichtig wird, was in der konstitutiven ästhetischen Einstellung von völliger Irrelevanz, - aber die Tatsache dieser Entfremdung hat durchaus ein fruchtbares Moment: nur so nämlich vermag die Möglichkeit der Existenz von Schönem zum 16 Vom Schema 'ermöglichende Einstellung vs. ermöglichte Aktivität 1 sei das erste Element den Bestimmungen "Absichts-" und "Interesselosigkeit" zuzuordnen; - welches wären dann die Begriffe, die dem zweiten Element zuzuweisen sind? Natürlich der ganze Komplex des "Spiels von Einbildungskraft und Verstand". Die von uns im § 19 explizierte Unterscheidung zwischen Defizienz- und Erfüllungsmodus gehört insgesamt in die Sphäre des zweiten Elementes. Nicht mehr in die Ordnung 'Einstellung vs. Aktivität' passt allerdings jene grundsätzliche Zweistufigkeit der Geschmackstätigkeit, die wir mit der Trennung zwischen "ästhetischer Reflexion" und "ästhetischem Urteil" angedeutet haben, denn der eigentliche Akt der ästhetischen Urteilsbildung ist etwas, was beides zur Voraussetzung hat: die ästhetische Einstellung wie die darin erworbene Erfahrung; cf. dazu unten, p. 273ff. 17 cf. KdU, § 41, p. 162.
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Thema reflektierter Aneignung und die Wirklichkeit des Daseins des Schönen zum Objekt geschichtlich-gesellschaftlich bedingter Neigung (§41) bzw. zu demjenigen des Vernunftinteresses an Autonomie zu werden (§42). Streng innerhalb der ästhetischen Einstellung allein wäre das nie zu erreichen, da es eben eine vergegenständlichende, umstilisierende Reflexion des Korrelats ästhetischer Erfahrung voraussetzt. M.a.W.: die §§ 41/42 rufen ins Gedächtnis zurück, dass es natürlich nicht bloss eine Einstellung zum Schönen gibt, sondern mehrere; eine ursprüngliche, in der das Phänomen zur Selbstgegebenheit kommt, und andere, der ersten nachkommende, die zwar hinsichtlich der originären Sachgegebenheit von sekundärer Bedeutung sind, dagegen aber die Chance bieten, Gegenstandsmomente, die sonst keine spezielle Aufmerksamkeit finden können, in voller Beleuchtung zu sehen. Welche Züge sind es nun, die das Schöne resp. seine Existenz zum Objekt des kantisch bestimmten Interesses qualifizieren? Das Schöne stiftet Geselligkeit, davon handelt § 41. Als Bezugspunkt einer gemeinsamen Erfahrung vermittelt es diejenigen, die seiner gewärtig sind, zur Kommunikationsgemeinschaft. (Der Grund solcher Leistung, die notwendige InterSubjektivität der das Schöne entdeckenden Gemütstätigkeit, kann jetzt nicht diskutiert werden. In unserer Analyse der "Deduktion" werden wir uns damit beschäftigen müssen.) Indem das Schöne Gemeinschaft erkennen und aktualisieren lässt, entspricht es dem "natürlichen Trieb des Menschen zur Gesellschaft"! 8 . Dass sich deshalb auf sein Dasein ein Interesse erstreckt, ist plausibel. Dies Interesse am Schönen, genauer: an der Existenz des Schönen, denn allein, wenn sie vorliegt, realisiert sich der über das Mittel des Schönen als eigentlicher erstrebte Zweck der Gemeinschaft, nennt Kant das "empirische". Man mag sich fragen, ob diese Bezeichnung sehr glücklich ist, da doch der angesprochene "Trieb zur Gesellschaft" (wenn schon transzendentallogische Kategorien auf anthropologische Sachverhalte angewandt werden sollen) als zum humanen Wesen gehörig durchaus a priori besteht. Was Kant mit dieser Bezeichnung sagen will, ist indessen klar. Das der Neigung zur Geselligkeit entstammende Interesse steht ständig in Gefahr, das Schöne zu instrumentalisieren und so in den Dienst von allerlei sinnlichen Bedürfnissen und Leidenschaften, "die in der Gesellschaft ihre grösste Mannigfaltigkeit und höchste Stufe erreichen" 19 , zu stellen. Vor dieser Gefahr gefeit ist das "intellektuelle Interesse am Schönen", dem der § 42 gewidmet ist. In seinem ersten Absatz engt er das "intellektuelle Interesse am Schönen" auf den Gegenstandsbereich des Naturschönen ein. Ob zurecht, ist indes fraglich. Die Einschränkung basiert nämlich auf der Einsicht, dass jedes Interesse am Kunstschönen (im Gegensatz zu dem am Naturschönen) einer Ambiguität ausgeliefert ist: es kann den "Virtuosen des Geschmacks"20 beherrschen und nichts als eine Folge von dessen persönlicher Eitelkeit sein, d.h. es muss jedenfalls nicht zugleich als Anzeige einer moralischen Gesinnung verstanden werden. Zeuge einer derartigen Gesinnung zu sein ist aber, wie noch genauer zu erklären sein wird, fürs "intellektuelle Interesse" wesentlich. Aus der Erkenntnis, dass das Kunstschöne möglicherweise einem Hang anheimfällt, der mit moralischen Imperativen nicht zu vereinbaren ist, folgt allerdings keineswegs, dass es überhaupt nicht Korrelat eines mit sittlichen Gesetzen harmonisierbaren Bedürfnis' sein Iti KdU, § 41, p. 162. 19 KdU, § 41, p. 165. 20 KdU, § 42, p. 165.
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kann. Deshalb erscheint der kantische Ausschluss des Naturschönen aus der Sphäre "intellektueller" Interessiertheit zunächst wenig zwingend. Die Vorrangstellung, die der § 42 hinsichtlich des "intellektuellen Interesses" dem Naturschönen einräumt, verdankt sich freilich noch einer anderen Ueberlegung. "Dass die Natur jene Schönheit hervorgebracht hat: dieser Gedanke muss die Anschauung und Reflexion begleiten; und auf diesem gründet sich allein das unmittelbare Interesse, was man daran n i m m t . " 2 1 Dass es Schönes, näherhin: Naturschönes, überhaupt gibt, ist im Horizont der eigentlichen ästhetischen Einstellung problemlos. Wie oben dargelegt, ist ihr ja der Entwurf des Prinzips der ästhetischen Uk, das je die Möglichkeit von Gegebenem, das den Arten der reflektierenden Uk korrespondiert, von vornherein unterstellt, inhärent. Gewiss ist dies Prinzip letztlich nicht mehr als eine Annahme, doch das erschliesst sich erst einer Ueberlegung, die die Ebene der ästhetischen Reflexion verlassen hat. Ist dies allerdings geschehen, wird also die Existenz von Naturschönem reflektiert und dadurch die Nicht-Selbstverständlichkeit ihrer Möglichkeit thematisiert, muss Verwunderung das erste Resultat sein, und die Frage nach dem Grund der Zu-fäl1igkeit des Naturschönen wird unabweisbar. (Die Existenz des Kunstschönen ist hingegen weniger erstaunlich; ihr Bestehen ist nicht Zufall, sondern Zeugnis eines besonderen menschlichen T a l e n t s . 2 2 ) Nun ist ja schon seit der Erörterung des Als-obCharakters der Zweckmässigkeit all dessen, was in der Dimension der reflektierenden Uk begegnet, unzweifelhaft, dass das Rätsel des Naturschönen gültig nicht aufzulösen ist. Dennoch oder gerade deshalb nötigt es zum Denken. In den "Chiffern der schönen Formen" scheint die "Natur figürlich zu sprec h e n " 2 3 . Aber weswegen ruft diese Anmutung ein Interesse auf den Plan, das Kant zum einen als "unmittelbares" kennzeichnet, zum anderen betont ein "intellektuelles" heisst? Die Argumentation, die der § 42 hierzu vorlegt, ist im Detail eher opak, im Grundsätzlichen jedoch klar. Der teleologische Hintergrund der Kritik der ästhetischen Uk tritt mit ihr wieder ins Licht. 2 4 Unbestreitbar nimmt der § 42 daher im Ganzen der KdU eine wichtige Stelle ein: Er zeigt, wie die Analyse der ästhetischen Erfahrung sozusagen von selbst vom rein Aesthetischen ins Feld moralisch-praktischer Ideen hinüber findet. Zunächst geht Kant davon aus, dass das durchs (Natui~) Schöne ausgelöste Gefühl dem moralischen Gefühl, "welches wir jedermann zum Gesetze machen, ohne dass unser Urteil sich auf irgendeinem Interesse gründet"25, sehr ähnlich ist. So weckt das Naturschöne, - und eben es allein, - die spekulative, als nicht unmöglich sich auch gegen die kritizistische Skepsis behauptende Ahnung, die allerdings nur in uneigentlicher Rede ausdrückbar ist, dass "die Natur selbst" (resp. ihr "übersinnliches Substrat") die moralische Gesinnung der Menschen, d.h. die Verwirklichung der Sittlichkeit, "befördern wolle". Dass "die Natur" die Sittlichkeit zur objektiven Realität werden lässt, oder wenigstens "einen Wink gibt", indem sie dafür eine Bedingung bereit hält, muss aber 21 KdU, § 42, p. 167. 22 Allerdings führt auch sie in letzter Instanz auf die Natur zurück: das Genie, ihr Produzent, ist "Günstling der Natur". In ihm meldet sich demnach indirekt ebenso das Walten des Zu-falls, das Kant in § 42 nur am unmittelbar Naturschönen registriert. Die ausschliessliche Konzentration des "intellektuellen Interesses" aufs Naturschöne ist am Ende doch nicht völlig legitim.
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Zweckmässigkeit des Schönen und der Grund der ästhetischen Lust
ein, vielmehr das Vernunftinteresse wecken, wenn überhaupt ein moralisches Streben nach der Wirklichkeit des Sittlich-Guten besteht. Indem also die Existenzen der Naturschönheiten einen Wink der Natur darstellen, der dem moralischen, d.i. a priori durch Vernunft bestimmten Willen Erfüllung verspricht, entsprechen sie ihm und aktualisieren sie notwendig das moralische, = vernünftige, = nicht-empirische, = "intellektuelle" Interesse. Kurz: Das "intellektuelle Interesse" an der Wirklichkeit des von der Natur präsentierten Schönen ist in der Wurzel nichts anderes als das moralische Interesse an der Wirklichkeit des Guten. Es entzündet sich unmittelbar an der Analogie oder Verwandtschaft von ästhetischem und moralischem Gefühl. "Wen also die Schönheit der Natur ... interessiert, bei dem hat man Ursache, wenigstens eine Anlage zu guter moralischer Gesinnung zu vermuten." 2 6 Was Kant mit dem "intellektuellen Interesse" meint, dürfte jetzt genügend erhellt worden sein. - Doch warum nennt er es gleichzeitig "unmittelbar"? Man könnte ja einwenden, auch das moralische Interesse am Schönen richte sich auf seinen Gegenstand nicht als Selbstzweck, sondern lediglich deshalb, weil er Mittel zum Zweck des "höchsten Gutes" sei. Im Zusammenhang der Argumentation, die der § 42 liefert, kann dem in der Tat schlecht widersprochen werden; Kants eigene Entgegnung 2 7 vermag darüber nicht hinwegzutäuschen. Dennoch ist das Prädikat "unmittelbar" nicht sinnlos. Es indiziert die Art und Weise des Uebergangs vom rein ästhetischen Wohlgefallen in die sittliche Anmutung; er geschieht im Prozess einer Erfahrung, d.h. ohne Dazwischentreten des Bewusstseins, das den Wechsel von ästhetischer zu nicht?R ästhetischer Einstellung als solchen reflektiert. Der Uebergang ist fliessend und nicht unumkehrbar. In der Erfahrung des Naturschönen entdeckt sich moralisches Engagement urmittelbar'. "Wenn ein Mann, der Geschmack genug hat, um über Produkte der schönen Kunst mit der grössten Richtigkeit und Freiheit zu urteilen, das Zimmer gern verlässt, in welchem jene ... unterhaltenden Schönheiten anzutreffen sind, und sich zum Schönen der Natur wendet, um hier gleichsam Wollust für seinen Geist in einem Gedankengange zu finden, den er sich nie völlig entwickeln kann: so werden wir ... in ihm eine schöne Seele voraussetzen." 2 9 Mit den Erwägungen zum Naturschönen und zum "intellektuellen Interesse" sind wir schon in die teleologische Dimension der kantischen Aesthetik geraten. Wiewohl wir hier nicht über einzelne Streifzüge hinaus kommen können, werden wir im Rahmen unserer Auslegung der ästhetischen Lust wieder in diese Sphäre vordringen müssen.
23 vgl. KdU, § 42, p. 170. 24 vgl. H.G. Gadamer, WuM, p. 46; sowie I. Schwartländer, op. cit., p. 77; zur Einbettung in die Teleologie a. Κ. Düsing, op. cit., p. 132. 25 KdU, § 42, p. 168. 26 KdU, § 42, p. 170. 27 KdU, § 42, p. 171. 28 Hier zeigt sich also, dass auch der Rede von der "ästhetischen Einstellung" unvermeidlich die Starrheit einer methodischen Abstraktion eignet; noch in der ästhetischen Einstellung selbst finden sich Momente, die über sie hinaus führen. 29 KdU, § 42, p. 168.
Innere und relative Zweckmässigkeit des Schönen
219
§ 30 Innere und relative Zweckmässigkeit des Schönen
a)
Dass der ästhetischen Uk notwendigerweise ein Anspruch immanent ist, haben wir aus zwei Ueberlegungen abgeleitet. Aus einem transzendentalen (= die Bedingung der Möglichkeit des Vorstel1ig-Werdens von Gegebenem betreffenden) Argument und als Folge einer Deutung, die das Gewahren von Schönem (also eben die ästhetische Uk) aus der "Gunst" zu begreifen sucht. Der ästhetischen Uk ist eine Intention auf Erfüllung eigen, da sie (wie jedes Verhalten, das Seiendes offenbar macht) den Blick auf ihr spezifisches Korrelat nur gewinnen kann, weil und insofern sie von einer Erwartung ausgehen muss, in der erstens jene Züge, die Schönes von anderem Seienden (bzw. die Erfahrung von Seiendem als Schönem von anderer Erfahrung des Seienden) unterscheidbar machen, vorweg entworfen sind, einer Erwartung, die daher zweitens die Forderung enthält, dass das je Gegebene dem entspricht, was Schönes Uberhaupt aus der Vielfalt möglicher Seinssorten ausgrenzbar macht (bzw. dass das je Gegebene dies ermöglicht, was die Erfahrung des Schönen vor ande30 rer Erfahrung auszeichnet). Transzendentale Reflexion lehrt, dass die für die ästhetische Uk konstitutive Erwartung notwendigerweise gegenüber dem jeweils Gegebenen einen Anspruch auf Erfüllung geltend macht, und Kants Einführung der Gunst zur Erhellung des Aktes der Auffindung von Schönem gibt einen Hinweis auf die ei31 gentümliche Art dieses Anspruchs
: Im Gegensatz zum Anspruch, der die (te-
leo)logische Uk orientiert, lässt er das Vorliegende nicht im fixen Gitter einer Begrifflichkeit begegnen, die alles, was sich dem Anspruch auf eindeutige Bestimmbarkeit widersetzt, ausschliesst, sondern er öffnet just für das der (teleo)logischen Uk Unidentifizierbare die Möglichkeit der Erscheinung. Das bedeutet jedoch nicht, dass er von diesem, was der (teleo)logischen Uk das schlechthin Gleichgültige ist, überhaupt nichts Bestimmtes erwartet. 30 c f . o b e n , p . 195. 31 c f . o b e n , p . 191.
220
Zweckmässigkeit des Schönen und der Grund der ästhetischen Lust
Diese Bestimmtheit
ist jetzt zu entwickeln und zwar eben nicht mehr aus der
blossen Charakterisierung der ästhetischen Uk als Gunst. Ist die Bestimmtheit des Anspruchs des Geschmacks gewonnen, wird sich die Legitimität der von Kant postulierten relativen Zweckmässigkeit des Schönen sogleich beweisen. Wenn, was als "Anspruch der Gunst" markiert worden ist, wirklich besteht, und wenn, was ja stets unterstellt worden ist, Kant tatsächlich dem Phänomen der fürs Schöne konstitutiven ästhetischen Erfahrung nahe bleibt, dann müssen sich in der KdU Ausführungen aufweisen lassen, die die Anspruchsbestimmtheit der ästhetischen Zuwendung thematisieren. Sie sind in der Tat zu entdecken; dort nämlich, wo Kant die Lehre vom Schönen aus neuer Perspektive wiederholt: Aus dem Blickwinkel des Produzenten. In den §§ 43 bis 54 (zumal in den §§ 44 bis 49) untersucht er das eigentümliche Vermögen dessen, 32/33 der Schönes herstellt, das Genie.
b)
Kant präsentiert den Künstler zunächst ganz unpathetisch als einen Macher. "Kunst wird von der Natur, wie Thun (facere) vom Handeln oder Wirken über-
32 Das bedeutet nicht, dass nun der Horizont einer Rezeptionsästhetik verlassen würde. Wenn stimmt, was schwer zu bestreiten ist, dass die Wesenscharakteristik des Aesthetischen angemessen bloss zu erfassen ist, wenn sie aus der Betrachtung der ästhetischen Erfahrung gewonnen wird, dann kann Kants Beschäftigung mit dem Talent des Genies nur ein Resultat zeitigen, das das bisher Erreichte nicht überschreitet, sondern vertieft (in diesem Punkt allerdings anders: Biemel, op. cit.). 33 Noch einmal: Kants Behandlung des Kunst-Schönen wird als Beispiel oder Symptom fungieren für die in der KdU dennoch betriebene Reflexion auf die Anspruchsbestimmtheit der reflektierenden ästhetischen Uk. Kants Behandlung des Kunst-Schönen ist Indiz für die Existenz des von uns behaupteten Strebens im ästhetischen Vermögen. Dies immanente Streben und seine Qualität, also das was erst als Resultat der folgenden Untersuchung erscheinen wird, ist aber das der Sache nach Erste. MaW: die Eigenschaft der relativen Zweckmässigkeit, die wir beim Kunst-Schönen (sozusagen mit der ausdrücklichen Billigung Kants) ausmachen werden (indem wir sie nämlich aus dessen Genielehre erschliessen), können wir sogleich auf fürs Naturschöne annehmen - es ist ja ebenso nur Schönes, insofern es dem Anspruch der ästhetischen Uk entgegenkommt.
Innere und relative Zweckmässigkeit des Schönen
221
34 haupt (agere) ... unterschieden."
Der Macher von Schönem hat, wie jeder
Macher, eine innere Vorstellung, die ihn führt und von der das schliesslich Produzierte geprägt ist; "... er hat sich einen Zweck gedacht, dem (das Produkt) seine Form zu danken hat".^ 5 / / 3 6 Weil also der Künstler eine innere Vorstellung von dem besitzt, was er verwirklichen möchte, und weil diese Vorstellung jedenfalls ein ästhetisches Objekt, ein Schönes meint, muss er ir37 gendwie "wissen"
, was das Schön-Sein ausmacht. Schönes kann originär nur
(präsent sein blossen in der ästhetischen Erfahrung (vgl. Reflexion) § 45: "... gefällt). schön ist das, was -) in der Beurteilung 38(= ästhetischen Worauf der Künstler mithin "zielen"
muss, ist die Stiftung ästhetischer
Erfahrung. - Was heisst das aber? Nichts weniger, als das er "wissen" muss, 34 KdU, § 43, p. 173. 35 KdU, § 43, p. 174. 36 Gewiss ist derjenige, der Schönes herstellt, ein sehr spezieller Macher; das wird manifest, wenn die eigene Typik seiner Leitvorstellung und des von ihr geformten Resultats zur Sprache kommt (KdU, § 45, 47f.). Doch das hindert nicht, dass sein Tun in den allgemeinsten Zügen mit jenem Produzieren übereinstimmt, das anderes hervorbringt als "Schöne Kunst." 37 "Wissen" ist in Anführungszeichen gesetzt. Damit ist das fürs "Wissen" des Künstlers Wesentliche angedeutet. Verglichen mit dem Wissen des gewöhnlichen Herstellers ist die leitende Idee des ästhetisch Schaffenden unvollständig. Kant wird nicht müde zu betonen, dass es vom Schönen "keinen Begriff" gebe. In der Tdee, dem Planungsentwurf eines ästhetischen Produktes ist nämlich untilgbar ein Rest enthalten, der im Gegensatz zum normalen technischen Plan die beliebige Reproduzierbarkeit desselben Produkts als einer Sache von identischer Bestimmtheit (d.h. hier von "Schönheit") verhindert, ein Rest, dessen Beherrschung das Genie und seine Einmaligkeit ausmacht. MaW: das "Wissen" des Künstlers ist unvollständig, insofern es nicht lehrbar ist; - wenigstens nicht in allen Teilen. Was lehrbar ist, sind nur jene abstrakten Gesichtspunkte, unter denen die Bestimmtheit des Schönen allgemein fassbar wird. Von ihnen handeln wir jetzt. Sie geben aber bloss den allgemeinen Umriss an; die individuellen Züge, d.h. die jeweilige Konkretisierung der allgemeinen Bestimmtheit "Schönheit" fällt in die Kompetenz jenes nicht lehrbaren "Rests", in dem das "Talent" des Genies sein eigentliches Zentrum besitzt. Was soeben vom Können des Künstlers gesagt worden ist, widerspiegelt sich in seinem Resultat, dem Schönen (cf. Anm. 38 und Anm. 40). 38 Die Erzielung ästhetischer Erfahrung ist zwar durchaus angestrebt und in den Bedingungen ihres Auftretens nicht gänzlich untransparent, aber sie ist niemals eine sicher prophezeibare Reaktion. Ihr Entscheidendes ist die Spontaneität, die sich der durchgängigen Konditionierbarkeit entzieht. Das Moment der Spontaneität ist das exakte Pendant zum nicht lehrbaren "Rest", in dem das Talent des Genies gipfelt: das Genie provoziert - ohne sie dadurch zu zerstören - die Spontaneität der ästhetischen Erfahrung, deswegen ist das Können des Genies mehr als blosse Beherrschung technischer Verfahren der Reizherstellung.
222
Zweckmässigkeit des Schönen und der Grund der ästhetischen Lust
welche Form geeignet ist, den Anspruch der ästhetischen Uk zu erfüllen. Ergo: Im leitenden
"Wissen"
des Künstlers
die uns in der Bedingung geworden
spiegelt
der Möglichkeit
sich die
ästhetischer
Anspruahsbestimmtheit, Wahrnehmung
sichtbar
ist.
Den Inhalt dieses "Wissens" expliziert Kant im § 45. Nach ihm ist charakteristisch an jener Bestimmtheit des Schönen, die dem Künstler immer schon bewusst ist und sein Machen lenkt, vor allem dies, dass sie die Male Gemachten,
also die Zweckmässigkeit, mit dem Ansehen
des Natürlichen,
des also
der Un-absichtlichkeit so verbindet, dass diese zwei Momente, die sonst ja niemals konvenieren, sich nicht ausschliessen. "Die Zweckmässigkeit im Produkte der schönen Kunst (muss), ob sie zwar absichtlich ist, doch nicht absichtlich scheinen; d.i. schöne Kunst muss als Natur anzusehen sein, ob man sich ihrer zwar als Kunst bewusst i s t . " 3 9 Was der Künstler in seinem Werk verwirklichen soll, will er Schönes, d.h. etwas, das dem Anspruch ästhetischer Uk entspricht, vollbringen, ist eine Konkretisierung von Begrifflichem, nach Verstandesregeln Entschlüsselbarem, deren Gehalt dennoch im erkennbar verstandesmässig Gewollten sich nicht erschöpft, weil er als ein steter Ueberschuss von Momenten erscheint, der jedem Versuch abschliessender Erfassung das Gelingen versagt. Das Kunstprodukt tritt auf als ein Stück nicht gänzlich ausdeutbarer Natur und verleugnet gleichwohl nicht sein Gemachtsein, insofern die Regel seiner Herstel40 lung in ihren allgemeinen Zügen durchaus nachweisbar bleibt. Wie also bestimmt sich der Anspruch der ästhetischen Uk, der sich bei Kant indirekt, d.h. in der Erläuterung des "Wissens" des Künstlers um die Fundamental struktur des Schönen meldet? In der Frage ist die Antwort beschlossen. Offenbar nämlich verlangt die ästhetische Uk vom jeweils Vorlie-
39 KdU, § 45, p. 180. 40 Nach dem in Anm.37 und Anm. 38 Erwähnten lässt sich auch sagen: vom Genie her gesehen gründet die "Unabsichtlichkeit" des Schönen, d.i. die Nichtsubsummierbarkeit seiner Bestimmtheit unter einen sie hinreichend definierenden Begriff, in eben der Nichterfassbarkeit jener Kompetenz, die bei Kant die "Genialität" ist. Gibt es vom Schönen keinen (vollständigen) Begriff, so natürlich auch nicht von seinem Produzenten et vice versa. Ergo: das Schöne ist "Machbares", - gewiss, aber freilich allein für den, der durch die nicht völlig "machbare" (= lehrbare), in Teilen allerdings entschlüsselbare Eigenschaft des "Genies" ausgezeichnet ist. 41 cf. oben, p. 158ff.
(Interpretation eines Kerntextes, 1.3.)
223
genden genau das, was Kant im § 45 als das vom Künstler zu Realisierende beschreibt. Dies aber ist unter anderem Titel uns längst begegnet: die te von zweckhaft in seinem
Gemachtem
und unbegreiflich
Werk herauszubilden
der subjektiven, tert worden
inneren
Natürlichem,
hat, ist ja nichts
Zweckmässigkeit,
die der
anderes als die 41
wie sie oben
Mit-
Künstler Struktur
ausführlich
erör-
ist.
Nach dem Gesagten ist nun klar, weshalb Kant dem Schönen nicht allein eine innere, sondern ebenso eine relative Zweckmässigkeit zuordnet. es von innerer stimmten tiven
Zweckmässigkeit-ohne-Zweck
Anspruch
der ästhetischen
Zweckmässigkeit.
ist, korrespondiert
Uk und ist daher
Indem
es dem
von der Art der
berela-
42
§ 31 Erinnerung an den Text der Zweiten Einleitung (Interpretation eines Kerntextes, 1.3.)
a) 43 Was uns seinerzeit
auf den Weg gebracht hat, über Zweck und Zweckmäs-
sigkeit im Horizont ästhetischer Beurteilung nachzudenken, war ein Satz aus dem von uns als Basistext gewählten Stück der Zweiten Einleitung. Hierin kommt Kant umstandslos auf die Zweckmässigkeit des Schönen zu reden; in einer Weise, die zunächst unproblematisch dünkt, dann aber sogleich fragwürdig wird, weil eben der Zweck
dunkel
ist, demgegenüber das als schön Erfah-
rene sich als zweck-gemäss darstellt. Ist jedoch dieser Zweck, den wir als den bestimmten Anspruch der ästhetischen Uk entwickelt haben, erkannt, wird einsichtig, dass Kant den Charakter einer Vorstellung, die das "Spiel", d.h. das In-Einstimmung-Versetzt-Sein von Einbildungskraft und Verstand hervorruft, völlig zurecht unter den allgemeinen Begriff relativer Zweckmässigkeit subsummiert. Die Ueberlegung sei noch einmal formuliert: Im "Spiel" manifestiert sich die "subjektive, innere Zweckmässigkeit"; sie ist es, was die reflektierende Uk als ästhetische erwartet. In der Erfüllung solcher Erwartung bekundet sich daher in der Tat, dass die gegebene Vorstellung 42 cf. oben, Anm. 33. 43 cf. oben, p. 130.
für
224
Zweckmässigkeit des Schönen und der Grund der ästhetischen Lust
die reflektierende Uk (qua ästhetische) zweckmässig ist. Satz 3 der Zweiten Einleitung: 44 "Wenn in dieser Vergleichung (d.i. im Akt "reinen Reflektierens" der ästhetischen ük, der immer schon unter dem Anspruch auf die Gegenwart der das "Spiel" stiftenden subjektiven, inneren Zweckmässigkeit vollzogen wird. Zusatz GK) die Einbildungskraft ... zum Verstand ... durch eine gegebene Vorstellung unabsichtlich (= aus Anlass der Form subjektiver, innerer Zweck mässigkeit. Zusatz GK) in Einstimmung versetzt wird ..., so muss der Gegenstand alsdann als zweckmässig für die reflektierende Urteilskraft angesehen werden." Ein Fazit unserer extrapolierenden Interpretation des Begriffs der ästhetischen Uk war nun freilich, dass sie wohl unter die umfassende Einheit der reflektierenden Uk-überhaupt gehört, aber mit dieser nicht identisch ist, 45 obwohl
Kant selbst den Anschein des letzteren erweckt.
Erinnert man sich
an die kantische Vermengung der genannten Begriffe, sieht man sogleich, dass der Satz 3 rasch eine gefährliche PI aus i bili tat erlangen kann. Im ZustandeKommen-Lassen der Harmonie der Erkenntniskräfte befriedigt das Gegebene das Bedürfnis der reflektierenden Uk-überhaupt, deren Streben ist, die Momente Einbildungskraft und Verstand bei allem ihr Vorliegenden in Kooperation zu bringen. Das Gegebene deckt also die Prätention des Prinzips der reflektierenden Uk-überhaupt, es ist mithin "zweckmässig für die reflektierende Uk". Es war genau dieser Gedanke, der uns oben, zu Beginn der Auseinandersetzung 46 mit der Zweckmässigkeit des Schönen, Satz 3 ohne weiteres annehmbar machte
,
- und verdächtig. Was uns ja motiviert hat, diese Deutung dennoch abzulehnen, war die Unstimmigkeit, die sie zur Konsequenz hat: einerseits wird die ästhetische Uk dezidiert als absichtslos geschildert, andererseits soll sie dann trotzdem - eben als reflektierende Uk-überhaupt - von der Absicht auf Zweckmässigkeit beherrscht sein. Im Umweg über eine Neufassung des Begriffs der ästhetischen Uk ist es nun zwar notwendig geworden, die Einseitigkeit der Bestimmung der "Absichtslosigkeit" zu überwinden, aber gleichzeitig ist eben die Verschiedenheit (und freilich auch die Zusammengehörigkeit)
zwischen
44 cf. oben, p. 112f. 45 Die eigentliche Kalamität dieser von der KdU nicht strikt gemachten Trennung von Gattung (reflektierende Uk-überhaupt) und Art (ästhetische Uk) wird sich im Zusammenhang der Rekonstruktion und Kritik der "Deduktion" bemerkbar machen. Vorläufig verführt sie lediglich dazu, den Unterschied zwischen dem Prinzip der reflektierenden Uk-überhaupt und dem Prinzip der ästhetischen Uk zu übersehen; cf. oben, p. 200. 46 cf. oben, p. 128.
(Interpretation eines Kerntextes, 1.3.)
225
ästhetischer und reflektierender Uk-überhaupt unübersehbar geworden. Satz 3 darf also zwar auch
in der erwähnten Weise interpretiert werden, - in der
ästhetischen Zweckmässigkeit gibt sich in der Tat eine umgreifende Zweckmäs47 sigkeit zu erkennen
, - doch will man keine Verwirrung stiften, darf so al-
lein auf dem Hintergrund der zuvor geklärten und mittlerweile
artikulierten
Differenzierungen geredet werden. b) 48 Im Vorblick auf Späteres
sei im Anschluss an die erneut namhaft gemach-
te Scheidung zwischen reflektierender Uk-überhaupt und ästhetischer Uk eine weitere Trennung angekündigt, die von Kant selbst nicht entschieden genug vorgestellt wird. In der obigen Beschäftigung mit der Einheit der KdU war die Erklärung der Begriffe "reflektierende Uk-überhaupt" resp.
"ästheti-
sche Uk" stets von der Aufmerksamkeit auf die Unterschiedlichkeit der Figuren begleitet, in die das transzendentale Prinzip verwandelt wird. Seither steht fest, dass das transzendentale Prinzip der ästhetischen Uk nicht schlicht das transzendentale Prinzip der reflektierenden Uk-überhaupt sein kann. Die den letzten Teil dieser Arbeit beanspruchende Erörterung des schmacksurteils
Ge-
und seiner Prätention, synthesis a priori zu sein, wird ne-
ben das transzendentale
Prinzip das Prinzip
des Geschmacks
zendentales Prinzip und Prinzip des Geschmacks sind nicht
stellen. Transdasselbe.
Weshalb
nicht und wie beide Prinzipien aufeinander zu beziehen sind, ist sinnvoll erst zu behandeln, wenn die Zweistufigkeit
des ästhetischen Urteils und da-
mit die eigentliche Bedeutung des kantischen Terminus "Geschmack" vor Augen 49 gelangt ist.
An dieser Stelle sei lediglich notiert, dass zwischen beiden
Prinzipien zwar eine enge Bindung, aber keine Gleichheit besteht. Während dem ersteren die Funktion einer Bedingung der Möglichkeit von Schön-Sein zukommt, übernimmt das letztere die Aufgabe einer Transzendentales doch meinen
Prinzip
dasselbe.
der ästhetischen
Beurteilungshinsicht.
Uk und Anspruch
der Gunst
je-
Nachdem die Sache in den letzten Partien vorzüglich
unter dem ersten Aspekt angesprochen worden ist, soll sie im nächsten §en 47 cf. unten, p. 244ff. 48 cf. zum folgenden v.a. § 45. 49 cf. unten, § 43.
226
Zweckmässigkeit des Schönen und der Grund der ästhetischen Lust
noch einmal im Licht ihres anderen Namens betrachtet werden. Zuvor sei allerdings die abschliessende Bemerkung zur nun beendeten Aufdeckung einer Zweideutigkeit im kantischen Begriff der Zweckmässigkeit des Schönen erlaubt. Zweideutig ist diese wichtige Bestimmung, die das Schöne in der KdU erhält, weil sie zwischen den zwei grundsätzlich zu trennenden (a) der subjektiven mässigkeit
inneren
fürs Subjekt
Zweckmässigkeit
Bedeutungsmomenten
resp. (b) der relativen
der ästhetisch reflektierenden Uk oszilliert
Zweok50 . Es
liegt an einem fundamentalen Fehler der KdU selber, dessen Folgen für die Kohärenz der "Deduktion" im weiteren Verlauf unserer Arbeit noch detailliert besprochen werden, wenn sich ungetrübte Transparenz bezüglich des Begriffs der Zweckmässigkeit des Schönen nicht einstellt; an der mangelnden Schärfe des Konzepts der ästhetisch reflektierenden Uk nämlich, insbesondere an der nicht ausgeführten Grenzziehung zur reflektierenden Uk-überhaupt und der ausschliesslich negativen Kennzeichnung des ästhetischen Urteilsvermögens. des: wird dies nicht gegen
In-
sondern aus der Tendenz der kantisehen Schrift
ergänzend nachgeholt, ergibt sich zwanglos die Einsicht in die Notwendigkeit der zwei Pole des Gedankens von der ästhetischen Zweckmässigkeit.
§ 32 Anspruch der Gunst und Prozess der Ent-Sprechung
Das Schöne ist zweckmässig für die ästhetische Uk, indem es als subjektiv zweckmässiges ihrem Anspruch entspricht. In dieser Abstraktheit mag die Argumentation überzeugend erscheinen, doch wirkt sie reichlich formalistisch. Mit der Betonung der relativen Zweckmässigkeit erinnert die KdU jedoch an einen Zug des ästhetischen Phänomens, der von den Zwängen des begrifflichen 51 Rahmens, von dem die KdU organisiert ist, nur allzu leicht verdeckt wird. Vergegenwärtigt man sich an Beispielen, die in der ästhetischen
Erfahrung
50 Man muss sich fragen, ob eigentlich die relative Zweckmässigkeit, und zwar sowohl die des Kunst- wie die des Naturschönen, den Zusatz '-ohne-Zweck' noch verdient. - Eigentlich ja nicht, denn in beiden Fällen entspricht die Zweckmässigkeit dem wirklichen Zweck der ästhetischen Uk. Die für die KdU so bezeichnende Fügung 'Zweckmässigkeit-ohne-Zweck' bezieht sich lediglich auf die Eigenart der inneren Zweckmässigkeit; allein dort hat sie den guten Sinn, erstens auf die Nicht-Objektivität, zweitens auf die Formalität hinzuweisen: cf. aber unten p. 237. 51 cf. dazu den Schluss dieser Arbeit, p. 371f.
Prozess der Ent-Sprechung
227
geschehene Erfüllung jenes von uns sog. Anspruchs der Gunst, wird aus der Sache selbst evident, dass das Schöne in bestimmter Weise zweckmässig für oder zugunsten des ästhetisch Wahrnehmenden dünkt. Jede genuine Erfahrung von Kunst, aber auch von Naturschönem, ist Vernehmen von Sinn. Nicht bloss sprachliche Gebilde "sagen" etwas, das nicht mit ihrem Informationsgehalt, den sie auch haben mögen, zusammenfällt, sondern ebenso begründet es den Schönheitscharakter von Bildern, Landschaften und Musikwerken, dass sie "sprechen". Adorno, wenn er vom Kunstschönen handelt, evoziert das mit einem Verweis auf Rilkes "Archaischer Torso Apollos": "Die Rilkesche Zeile 'denn da ist keine Stelle, - die dich nicht sieht 1 hat jene ... Sprache der Kunstwerke in kaum übertroffener Weise kodifiziert: Ausdruck 52 ist der Blick der Kunstwerke."
Erklären, man sei "angesprochen" von Natur-
schönem, gehört seit Rousseau zum guten Ton und ist entsprechend banal geworden. Dennoch ist es dieses, was wir meinen, wenn wir von der Schönheit einer Abendstimmung betroffen sind: sie mutet uns an, wir begegnen der unbestimmbaren Offenbarung, die aus "Wanderers Nachtlied" klingt. Zur keit alles Schönen gehört jenes Moment, der "Zweckmässigkeit
für ..." eigentlich
das von der kantischen intendiert
Sprachlich-
Bestimmung
ist.
Zweckmässig ist das Schöne vor dem Anspruch der ästhetischen Uk, einem Anspruch, der in seiner Essenz der Haltung der Gunst, dem Gönnen erwächst. Als Gunst zu geschehen sei der ästhetischen Bezugnahme substantiell. Aus diesen Ergebnissen ist nun die Konsequenz zu ziehen, die in einem wichtigen Begriff der kantischen Lehre vom (Kunst) Schönen ihre Bestätigung findet. Einerseits: "Gunst" bezeichnet im primären Gebrauch einen Vollzug Subjekten,
zwischen
denn einen guten Sinn kann das Wort zunächst nur dort haben, wo
man einem Anderen, der der Freiheit fähig ist, die Möglichkeit verschaffen will, Sich von ihm her, in Freiheit also, dem die Gunst Gewährenden gegenüber zu verhalten. Freiheit ist ohne Subjektivität nicht denkbar. Anderseits: Worauf Gunst stets zielt, Zweck des Interesses dessen, der gönnt, ist stets in irgend einer Form Kommunikation, - eine Begegnung, in der beider Partner Möglichkeiten sich zwanglos ergänzend verwirklichen. Das gilt 52 Aesthetische Theorie, p. 172.
228
Zweckmässigkeit des Schönen und der Grund der ästhetischen Lust
von der wahren, nicht berechnenden oder sich am Machtgefühl erlabenden Gunst des Königs gegen seine Untertanen nicht geringer als von weniger feudal geprägten Verhältnissen der Zwischenmenschlichkeit, in denen Gunst existiert. Gunst, die sich realisiert, hat ihre Entelechie in herrschaftsfreier Kommunikation; sie kann mithin nur glücken, wenn zwei einander entsprechen. Solche gegenseitige Entsprechung ist eine Art reziproker
Zweckmässigkeit.
Kann es aber sinnvoll sein, eine derartige Zweckmässigkeit jenseits Sphäre zwischenmenschlicher
der
Interaktion anzunehmen? Offenbar wird genau so
etwas unterstellt, wenn man das Schöne als jenes auszeichnet, das zu seiner Präsenz der Gunst einer interesselosen Einstellung bedarf. Dass man dabei sachgemäss verfährt, ist nicht deduktiv zu beweisen. Rechtfertigen kann man sich nur (insofern es sich hier um einen Grundcharakter des Aesthetischen handelt) durch Hinweis auf die Tatsachen der Erfahrung des Schönen selbst. Aus solcher Schönen,
Evidenz
jedenfalls
der Erfahrung
schöpft
des Kunstschönen,
steht er ein, dass Schönes
den
Kant, wenn "Geist"
als Subjekthaftes
er als Kennzeichen
namhaft
macht.
des
Damit ge-
zu begreifen ist, wie er zu-
gleich die extensive Verwendung des Konzeptes der Gunst legitimiert und schliesslich doch noch selbst den Weg zum vertieften Verständnis der ästhetischen Zweckmässigkeit bahnt. "Man sagt von gewissen Produkten, von welchen man erwartet, dass sie sich, zum Teil wenigstens, als schöne Kunst zeigen sollten: sie sind ohne Geist, ... ein Gedicht kann recht nett und elegant sein, aber es ist ohne Geist. Eine Geschichte ist genau und ordentlich, aber ohne Geist ... Geist in ästhetischer Bedeutung heisst das belebende Prinzip im Gemüte. Dasjenige aber, wodurch dieses Prinzip die Seele belebt, der Stoff, den es dazu anwendet, ist das, was die Gemütskräfte zweckmässig in Schwung versetzt, d.i. in ein solches "Spiel", welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu s t ä r k t . " 5 4 / 5 5 Das Wesentliche jener Gebilde, denen die Qualität eignet, ästhetische Reflexion, das Ereignis des "Spiels" aktualisieren zu lassen, bringt Kant unter den Titel
"ästhetische
Idee".
53 Der Begriff der ästhetischen Zweckmässigkeit wird hier in einem Sinn vorgestellt, den wir bis jetzt noch nicht berücksichtigt haben. "Zweckmässig" ist hier Prädikat des "Spiels" und nicht der Gegenständlichkeit, die sein Anlass ist. Zweckmässigkeit ist hier also weder so etwas w i e 'Stimmigkeit', noch 'Angemessenheit an menschliche Vermögen'. Diese neue (und letzte) Bedeutungsnuance wird in den folgenden Abschnitten der vorliegenden Arbeit herausgearbeitet werden. 54 KdU, § 49, p. 192.
Prozess der Ent-Sprechung
229
Die ästhetische Idee ist aber dem Geist nicht ausser!ich. Entgegen dem unglücklichen Ausdruck "Stoff" meint Kant nicht, sie sei Mittel im Dienst eines ihr Fremden; als ästhetische in einem Dinge
Bereich,
zu erkennen
Idee hat der Geist
der sieh dem ersten gibt.
Anschein
seine
Daseins form
nach als Bezirk
blosser
Dass aber gerade fürs Schöne (und fürs Kunstschöne
zumal) die Applikation von Begriffen der Subjektivität sich aufdrängt, dass die ästhetische Idee eine Gestalt des Geistes ist, die die Freiheit voraussetzende Zuwendung der Gunst verlangt, wird klar, wenn man sich vor Augen führt, was Kant zur ästhetischen Idee notiert: sie veranlasst "viel zu denken, ohne dass ihr doch irgendein Gedanke adäquat sein kann", sie kann folglich durch "keine Sprache völlig erreicht und verständlich gemacht werden"; sie belebt das Gemüt, "indem sie ihm die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen eröffnet"; sie verweist ins "Unnennbare, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als blossem Buchsta56 ben, Geist verbindet"
, und sie tut dies dennoch in einer Weise, die die
ihr begegnende Subjektivität nicht überanstrengt und in eine schlechte Unendlichkeit treibt, sondern indem sie sie zum "Spiel" einlädt. Was ist also die ästhetische
Idee?
Gewiss nicht schlicht das Gefüge des
Werkes, die Ordnung seiner Momente, das, was der Ausdruck
"Form" (rein auf
die Bestimmtheit des Gebildes bezogen) bedeutet; mithin etwas, das auch ohne den aktuellen Vollzug seiner Auffassung durchs Subjekt ist, was es ist. Dass dies, die sozusagen objektive Bestimmtheit des ästhetischen Gegenstandes, auch zur ästhetischen Idee gehört, ist freilich unbestreitbar. Das wird
55 Die Stelle deutet an, was im nächsten Abschnitt des δ 49 der KdU unzweifelhaft wird: Kant gebraucht den Begriff "Geist" paronym. "Geist" ist ihm nämlich sowohl Attribut des Produkts wie ebenso und vor allem Attribut des Produzenten: "Geist" macht sowohl den Rang des wirklichen (d.h. nicht nur vorgeblichen) Kunstschönen aus - das lässt sich aus Wendungen wie "Gedicht... ohne Geist" ablesen - , als auch den Rang des wirklichen Schöpfers, d.h. des Genies, - das zeigen jene Stellen, in denen Kant "Geist" das "Prinzip" jenes Vermögens nennt, in dem das Talent des Genies besteht, nämlich das "Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen". Die letztere Verwendung ist die ursprüngliche, von ihr her kommt Kant zum "Geist" als einer wesentlichen Eigenschaft des (Kunst)Schönen; cf. zu diesem Problem das, was p.229f. bezüglich der "ästhetischen Idee" festgestellt wird. Zum kantischen Begriff des "Geistes" vgl. H. Dreyer, Der Begriff Geist in der deutschen Philosophie von Kant bis Hegel, Berlin 1908, p. 3-38. 56 Die erwähnten Ausdrücke stammen alle aus dem § 49 der KdU.
230
Zweckmässigkeit des Schönen und der Grund der ästhetischen Lust
klar, wo Kant die Un-endlichkeit der ästhetischen Idee an Beispielen zu er57 läutern versucht.
Aber wie ist dieser Zusammenhang zwischen ästhetischer
Idee und Form exakter zu formulieren, und welche tiefere Einsicht ins Wesen des Schönen will die KdU mit dem Titel "ästhetische Idee" festhalten? - Das Gefüge des Werkes, die Form, bewahrt nur die Möglichkeit
der ästhe-
tischen Idee, wirk-lich ist sie erst und allein in der Beziehung zwischen gegebenem "Objekt" und dem die Möglichkeit auffassenden "Subjekt". Die Anführungszeichen merken an, dass man hier das Muster des Subjekt/Objekt-Verhältnis' nur benutzen darf, sofern bewusst bleibt, dass es ein Modell ist, das zwar unumgänglich, aber brauchbar doch bloss deshalb ist, weil es die Sache ex negativo sichtbar macht: Kants Explikation der ästhetischen Idee will ja nicht die Differenz zwischen aktivem Subjekt und passivem Objekt und nicht die Weise, wie sich das Subjekt des unter seinem bannenden Blick quasi erstarrten Objekts begrifflich bemächtigt, zur Anschauung bringen, sondern zeigen, dass die ästhetische Wirklichkeit nur dort wahrhaft ist, was sie ist, wo sich zwei Aktivitäten, zwei Subjektivitäten also, zur Einheit einer Begegnung vermitteln. Die ästhetische Idee ist am Ende weder der Seite des Objekts noch der des Subjekts zuzuschlagen, sie ist, erlaubt man diese mehr dichterische als wissenschaftliche Sprache, die lebendige Mitte im Vollzug einer Interaktion:
Geist.
Soll man das Vollzugsgeschehen,
durch das die ästhetische
scheinung gelangt, näher charakterisieren muss es als
Idee zur Er-
Kommunikationspro-
zess gedacht werden. Alle phänomenologische Beobachtung der ästhetischen Erfahrung kommt nämlich darin überein, dass ihr Verlauf, in mehr oder weniger reiner Typizität, drei Aspekte hervorkehrt: das Ergriffen-Werden und Angegangen-Sein vom Gegenstand; das einholende und begreifende Eindringen in diese Anmutung; die Unabschliessbarkeit der beiden gegenläufigen Bewegungen, eine Un-endlichkeit, deren Inbegriff nicht der der Endlosigkeit, nicht der der sich perennierenden Enttäuschung von Sinnerwartungen, sondern der einer steten Erneuerung einer sich in ihr selbst erfüllenden Unterhaltung, eines in ihm selbst ruhenden "Spieles" ist; spekulativ-idealistisch
57 KdU, § 49, p. 196/97.
Prozess der Ent-Sprechung
231
58 formuliert: der beständige Schein des Absoluten an der die phänomenologische
Deskription
. Sucht man die
ihr geheimes
Vorbild
Lebensform,
hat, wenn sie
die gegenüber der identifizierenden Sprache spröde ästhetische Erfahrung zu identifizieren hofft, SO ist man auf das Ideal
des gelingenden
Gesprächs
verwiesen. In diesem (wie im "Spiel") regiert die zwanglose Korrespondenz von Frage und Antwort, die schwebende Uebereinstimmung gegenseitig gewährter Gunst, die nichts verheimlichen will, eine Entdeckung weitere anrufen macht, herrscht jene verzauberte Atmosphäre, da Erkenntnisgewinne anstrengungslos erworben zu sein scheinen. Fremderfahrung geht Uber in Selbsterfahrung, man wird konfrontiert mit den Dingen der eigenen Existenz und lernt dabei doch die Natur des Gegenübers kennen. Und zugleich, trotz des Reichtums an Gesehenem, Gehörtem, Gefühltem und Verstandenem, bleibt vieles offen, ja beinahe alles; nichts ist endgültig auf den einen Begriff zu bringen, in dem es klar geworden ist; in aller Mitteilung
ist die Gegenwart
des
Nicht-
mitteilbaren bezeugt. In den Konstellationen des Gesagten bekundet sich das Ungesagte, die Aura des Transzendenten oder des Rätsels, dehnt sich auch das 59 Unfassliche.
Das ist der kommunikativen Erfahrung des Schönen wie der des
glückenden Dialogs gemein, und "Geist" die organisierende
Mitte
solcher
ist eben das Wort, das ans
Erfahrung
Innerste,
erinnert.
Die mit der Hilfe zentraler Begriffe aus Kants Genieästhetik
skizzierte
Interpretation der ästhetischen Wahrnehmung als einer Weise gelingender Kommunikation verfolgte das Ziel, die sachliche Triftigkeit unserer Rede vom Anspruch der Gunst sicherzustellen und gleichzeitig die Absicht, der Bestimmung der ästhetischen (relativen) Zweckmässigkeit einen stärker phänomenbezogenen Inhalt zu verschaffen. Herrschaftsfreies, gunstgetragenes Gespräch 58 Als Texte, stellvertretend für die unzähligen anderen, die hier zu zitieren wären, seien vorgestellt: zum Aspekt des Angegangen-Seina: G. Boehm, Die Dialektik der ästhetischen Grenze, in: neue hefte für philosophie, Heft 5, 1973; zum Aspekt des Eindringens·. E. Staiger, t)ie Kunst der Interpretation, Zürich 1955; zum Aspekt der Un-Endlichkeit: P. Valéry, L'infini esthétique, in: Oeuvres II (Gallimard), Paris 1960. 59 Im Gegensatz zu unserer Interpretation nimmt R. Bubner diese "Unfasslichkeitsstruktur des ästhetischen Gegenstandes" zum Anlass, die Vorstellung vom "Sprechen des Kunstwerkes" zu kritisieren. Weil sie eine durchaus geläufige Auslegung der ästhetischen Erfahrung in Frage stellen, sind Bubners Ausführungen beachtlich, wenngleich sie die Berechtigung der von uns verwendeten Formeln nicht prinzipiell problematisieren können; R. Bubner, Ueber einige Bedingungen gegenwärtiger Aesthetik, in: neue hefte für philosophie, Heft 5, 1973.
232
Zweckmässigkeit des Schönen und der Grund der ästhetischen lust
realisiere als und mit dem Prozess gegenseitiger Ent-sprechung die Qualität der Zweckmässigkeit. Ent-sprechung offenbart sich nun ebenso im glückenden "Spiel": der Begriff der Zweckmässigkeit des Schönen für die ästhetische Uk, von der der Satz der Zweiten Einleitung handelt, versucht mit den Mitteln der abstrakten, erkenntnistheorieorientierten Terminologie der KdU die eigentümliche Macht des ästhetischen Gegenstandes der ihm entgegengebrachten Gunst zu antworten und sie zum Blühen zu bringen, ins Licht zu heben. Im Prozess Ent-sprechung heisst)
(und das ist ja nichts
erfüllt
sich der Anspruch
der
anderes
als das, was uns sonst
der
"Spiel"
Gunst.
Ein Mangel der vorliegenden Darstellung des ästhetischen Ereignis' mag die Tendenz sein, das "Spiel" zu sehr zu intellektualisieren, anders gesagt: die Unmittelbarkeit
der ästhetischen Wahrnehmung zu verschütten. Ausdrücke wie
"Gespräch", "Verstehen", das Kunstwort "Ent-sprechung", verführen dazu, die ästhetische Erfahrung als ein primär verbales Geschehen zu deuten und ihren Anschauungscharakter zu übersehen. Damit ginge verloren, dass die Wirkung Schönen
die einer
Epiphanie
ist.
des,
Diesem Vergessen entgegenzuwirken wäre am
besten durch eine erneute Vergegenwärtigung der Phänomene. Wir begnügen uns statt dessen mit dem Hinweis auf Kantisches: die Art wie die KdU das "Spiel" 62 am liebsten
thematisiert - nämlich gerade nicht als eine Weise der Aktua-
lisierung von Sinn, sondern als eine Gestimmtheit, als Zustand der Lust. So bewahrt Kant die Nähe
als Gefühl
und zugleich
zur spezifischen Unmittel-
barkeit der ästhetischen Erfahrung, die wir jetzt etwas aus dem Bewusstsein verdrängt haben. Im Kapitel über die Lust und in unseren Bemerkungen zum Unterschied zwischen "Lust" und "Gefühl" werden wir an diese Beobachtung zu63 rück verwiesen werden.
Die eben vorgetragene Korrektur an einer verbalorien-
tierten Auslegung der ästhetischen Erfahrung kann freilich nichts daran ändern, dass fundamentale Defizienz Gadamer sog.eine "Subjektivierung" besteht. der 64 kantischen Aesthetik in der nach 60 Zu ähnlichen Feststellungen gelangt J. Heidemann, Der Begriff des Spieles, Berlin, 1968; insbesondere im Kpl. "Spiel als Relation der Gunst". 61 Zum Begriff der Epiphanie, d.h. des Schönen als einer überwältigenden Erscheinung, als "apparition", cf. Adorno, Aesthetische Theorie, p. 123ff. 62 Ausser eben in jenen (nicht zufällig nach der "Deduktion" postierten) Partien über die "ästhetische Idee"; cf. a. unten, p. 369ff. 63 cf. unten, p. 241ff. (Lust) u.p. 250f. (Gefühl). 64 cf. oben, p. 115f. u. unten, p. 369ff.
Bedeutungen von
"Zweckmässigkeit"
Synopsis der Bedeutungen von "Zweckmässigkeit"
233
(Exkurs):
Was für die KrdrV der Begriff der Erfahrung und die KpV der des Sittlichen ist, ist für die KdU der Begriff der Zweckmässigkeit: ein Fluchtpunkt, auf den hin sich die Bemühungen des ganzen Werkes bündeln lassen. Wie schon im "Kontext" festgestellt worden ist, ist der Terminus ein Vereinigungspunkt der beiden Teile der dritten Kritik. Ausführlich diskutiert haben wir indes lediglich die Zweckmässigkeit im Horizont der kantischen Bestimmung der Schönheit. Was sich hierzu ergeben hat, soll jetzt, als das Fazit unserer diesbezüglichen Ueberlegungen, in der Form einer schematischen Begriffsgliederung vorgelegt werden. Dies R e s u m é 6 5 ist (als Resultat einer nahezu ausschliesslichen Beschäftigung mit der kantischen Lehre vom Schönen) mit Gewissheit nicht eine erschöpfende Rechenschaft über den Gebrauch von "Zweckmässigkeit" in der KdU, dennoch soll es versuchen, die von uns behandelte Benutzung dieses Terminus im weiteren Rahmen seiner sonstigen Verwendung zu situieren. Weil aber allenthalben "ungeheuer schwer analysierbare Problemverwicklungen" lauern (Marc-Wogau) 6 6 , ist von vornherein zu beteuern, dass das Vorliegende nicht mehr als eine immerhin mögliche Hinsicht präsentieren will, unter der sich die Mannigfaltigkeit der Bedeutungsnuancen koordinieren lässt. 6 7 Unser dichotomisches Schema (p. ), mit dessen Hilfe die entfaltete Bedeutung des Begriffs festgehalten werden soll, vermag auf den ersten Blick deutlich zu machen, dass mindestens ein doppelter Anlass für jene Problemverwicklungen benennbar ist: 1) Alle Differenzierungen ausser der obersten (innere vs. äussere Zweckmässigkeit) wiederholen sich als dieselben in verschiedenem Umfeld; so gibt es eine "objektiv formale" (äussere) und eine andere "objektiv formale" (innere) Zweckmässigkeit. Das wäre nicht verwirrend, wenn Kant, qualifiziert er etwas als "objektiv formal zweckmässig", genügend vollständig verführe und immer auch die oberste Bestimmung (nämlich eben die "äussere" oder "innere Zweckmässigkeit") erwähnte. Da er dies zuweilen unterlässt, kann ein Schein von Widersprüchlichkeit entstehen. 2) Eine weitere und wichtigere Quelle von Konfusionen ist darin zu erkennen, dass derselbe Gegenstand konträren Kategorien der Zweckmässigkeit unterstellt werden kann und muss. Der der reflektierenden Uk begegnende Reichtum des in der Anschauung Gegebenen ("Natur") gehört sowohl unter die Bestimmung der objektiven formalen äusseren und ebenso unter die der objektiven formalen inneren Zweckmässigkeit. Und genau diese zwiefache Zuordnung belastet j a , wie wir entwickelt haben, das Verständnis der kantischen Charakterisierung des Schönen. Denn wenn und weil im letzten Fall (wie auch andernorts) der Perspektivwandel, d.h. die neue Hinsicht, unter der ein Selbiges betrachtet und daher anders, eventuell sogar durch den Gegenbegriff der ersten Bestimmung, bestimmt werden muss, nicht ausdrücklich gemacht wird, dann 65 Nach dem Durchgang durch den Text lässt sich (wie sich zeigen wird nicht ohne das Zugeständnis vieler Ausnahmen) eine Regel fassen, nach der die Bildung des Begriffs der "Zweckmässigkeit" erfolgt. 66 K. Marc-Wogau, Vier Studien zu Kants Kri.tik der Urteilskraft, Uppsala 1938, p.44. Obwohl wir ihr in der vorliegenden Skizze nicht folgen, ist insbesondere die zweite Studie Marc-Wogaus ("Wesen und Arten der Zweckmässigkeit") die unerlässliche Hilfe für jeden, der den Begriff der "Zweckmässigkeit" textnah studieren will. 67 Sozusagen die Seitenstücke zu dieser Synopsis sind die Ausführungen über das "Prinzip der Zweckmässigkeit"; cf. oben, p. 41 ff. u. unten, p.282ff.
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