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German Pages [350] Year 2014
Palaestra Untersuchungen zur europäischen Literatur
Band 340
Begründet von Erich Schmidt und Alois Brandl Herausgegeben von Heinrich Detering, Dieter Lamping und Gerhard Lauer
Editorial Board: Irene Albers, Elisabeth Galvan, Julika Griem, Achim Hölter, Karin Hoff, Frank Kelleter, Katrin Kohl, Paul Michael Lützeler, Maria Moog-Grünewald, Per Øhrgaard
Natalia Igl
Geschlechtersemantik 1800/1900 Zur literarischen Diskursivierung der Geschlechterkrise im Naturalismus
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0276-2 ISBN 978-3-8470-0276-5 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Graeser, Camille: Komplementär-additional, 1965. Ó Camille-Graeser-Stiftung/ VG Bild-Kunst, Bonn 2014 Druck und Bindung: g Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Für Rosa
Inhalt
Vorwort und Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geschlechtersemantik 1800/1900: Historischer Wandel und literarhistorische Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹ und ›problematischer Weiblichkeit‹ – Geschlechterkrisen um 1900 . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Arthur Schnitzlers Reigen (1903) als literarische Anthropologie und exemplarische Inszenierung der Geschlechterproblematik innerhalb der Wiener Moderne . . 1.1.2 Literarische Anthropologie des Naturalismus – Vom Fokus auf das Fin de siÀcle hin zum Naturalismus als initialer Phase der Diskursivierung der Geschlechterkrise . . . . . . . 1.1.3 Zusammenfassung: Gegenstand und Aufbau der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Methodisch-theoretische Vorüberlegungen und Explikation der Untersuchungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Sozialgeschichtliche Grundlagen und deren systemtheoretische Perspektivierung . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Begriffsgeschichte – Historische Semantik . . . . . . . . . . 1.2.3 Funktionen von Literatur – Historische und systematische Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4 Positionierung zur Genderforschung – Zum Emanzipationsbegriff und der (historischen) Gleichheits- vs. Differenzhypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.5 Zum Begriff des ›Diskurses‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8 2. ›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹ – Die Herausbildung der komplementären Geschlechtersemantik um 1800 und ihre Relevanz in der Umbruchphase um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Das komplementäre Geschlechtermodell als diskursivierte Semantik um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Polarisierungen auf Gegenstands- und Metaebene – Potential und Präzisierungsbedarf der Thesen zum polaristischen Modell der ›Geschlechtscharaktere‹ . . . . . . 2.1.2 Die ›Komplementarität der Geschlechter‹ und die Ausdifferenzierung von ›Öffentlichkeit‹ und ›Privatheit‹ . . . 2.1.3 Konstruierte ›Natürlichkeit‹ – Die Universalität des Ordnungsschemas ›Geschlecht‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4 Geschlechterspezifische Perfektibilität – Von der ›weiblichen Bestimmung‹ und der ›Erziehung zur Weiblichkeit‹ oder : Rousseau und die Folgen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Zusammenfassung: Zur historischen Problemreferenz und Funktionalität des komplementären Geschlechtermodells . . 2.1.6 Exkurs: Zur ›Verwissenschaftlichung‹ der Geschlechtersemantik – Die Charakterologie der Geschlechter als Basis sprachwissenschaftlicher Taxonomie . 2.2 Geschlechterkonzeptionen im Wandel – Zwischen Stabilisierungen der Komplementärsemantik und Radikalisierungen der Differenzhypothese um 1900 . . . . . . . . 2.2.1 »Denn in der Familie stecken die Frauen« – ›Naturgeschichtliche‹ Stabilisierungsversuche der bürgerlichen Geschlechterordnung und die Rolle entwicklungstheoretischer Modellierungen . . . . . . . . . . 2.2.2 ›Bildung‹ und ›Perfektibilität‹ als zentrale Aspekte des Emanzipationskonzepts der bürgerlichen Frauenbewegung – Vom ›natürlichen‹ zum ›kulturellen Beruf‹ der Frauen . . . . 2.2.3 Die Soziologie der Geschlechter als Beitrag zur ›Verwissenschaftlichung‹ des Komplementärmodells . . . . . 2.2.4 ›Weibliche Anthropologie‹ um 1900 als Radikalisierung der Differenzhypothese – Von der kompensatorischen zur ›pathologischen‹ Weiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.5 ›Weibliche Identität‹, ›Subjektivität‹ – und Exklusionsindividualität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.6 Zusammenfassung: Stabilisierungen, Krise und diskursive Relevanz der Geschlechtersemantik um 1900 . . . . . . . . .
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Inhalt
3. Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus – Diskursivierung der Krise und Verhandlung des Ergänzungsgedankens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Naturalismus als ›Scharnier‹ der literarischen Moderne . . . . 3.1.1 Naturalistische Annäherungen an die ›Idee‹ – Zur Versöhnung von naturwissenschaftlicher Weltdeutung und ›Idealismus‹ im Monismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Hin zur ›Idee‹ II – Zur Ibsen-Rezeption im deutschsprachigen Naturalismus und der Traditionslinie humanistisch-sozialkritischer Dramatik . . . . . . . . . . . . 3.1.3 ›Geschlecht‹ in der Krise – Semantisierungen des ›Weiblichen‹ und weibliche Autorschaft im Kontext des Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4 Fallbeispiel: Naturalismus im Spannungsfeld von Tradition und Innovation – Zur Krise der »modernen Litteratur« als Krise des Bildungsbürgertums . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Exemplarische (Funktions-)Analysen: Geschlechtersemantik und literarische Anthropologie des Naturalismus . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Geglückte und verhinderte Paarbildungen – Die Problemkonstellation ›Liebe‹, ›Ehe‹ und ›Sexualität‹ . . . . . 3.2.2 Elsa Bernsteins Dramen als ›Brennglas‹ – Zwischen naturalistischer Programmatik und spezifischer Perspektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Determination, freier Wille und ›Selbsterlösung‹ – Der dramatische Experimentalaufbau als implizite Poetologie in Elsa Bernsteins Wir Drei (1893) . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Determinationshypothesen auf Text- und Figurenebene – Zur Fokussierung auf soziale Bedingungsfaktoren in Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Naturalistische Wirkungsästhetik und ›ethischer‹ Naturalismus – Zur Diskursivierung eines ›überkommenen‹ weiblichen Bildungsmodells in Elsa Bernsteins Dämmerung (1893) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Zusammenfassung und Ausblick: ›Natur‹, ›Geschlecht‹ und ›Perfektibilität‹ im literarischen und pädagogischen Diskurs um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Geschlechtersemantik und literarische Diskursivierung der ›Geschlechterkrise‹ – Fazit und Forschungsdesiderate . . . . . . . . .
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Inhalt
Verzeichnis der Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primärtexte und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort und Dank
Die vorliegende Arbeit geht auf die leicht erweiterte und aktualisierte Fassung meiner Dissertation zurück, die 2011 an der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth angenommen wurde. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Kategorie ›Geschlecht‹ innerhalb des literarischen und poetologischen Diskurses um 1900 umfassend präsent ist, geht die Studie der These nach, dass das zeitgenössisch zunehmend verunsicherte Konzept der Geschlechterkomplementarität als eine zentrale Problemreferenz der Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts anzusehen ist. Das komplementäre Geschlechtermodell wird dabei als historische Semantik aufgefasst, die sich im Kontext einer spezifischen gesellschaftsstrukturell-semantischen Problemkonstellation um 1800 diskursiv etabliert hat. Im ersten Hauptteil der Untersuchung steht zunächst die funktionsgeschichtliche Analyse dieser Geschlechtersemantik im Vordergrund, während sich der zweite Hauptteil mit der Relevanz derselben innerhalb der umfassenden Umbruchphase um 1900 befasst. Der Fokus der Untersuchung liegt jedoch im Gegensatz zur bisherigen Schwerpunktsetzung der Forschung nicht auf der Literatur der Wiener Moderne und des Fin de siÀcle, sondern auf dem Naturalismus als Initialphase der literarischen Diskursivierung der ›modernen‹ Geschlechterproblematik. Beleuchtet werden in dieser Hinsicht u. a. kanonisierte Dramen des Naturalismus wie Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889), Max Halbes Jugend (1893) und Henrik Ibsens Rosmersholm (1887, im Orig. 1886), aber auch die bislang wenig erforschten naturalistischen und naturalismusnahen Dramen der Autorin Elsa Bernstein (1866 – 1949). Diese loten die Krise der Komplementärsemantik besonders deutlich aus und lassen sich daher fruchtbar als ›Brennglas‹ heranziehen, um die generelle Relevanz der Geschlechterproblematik in Bezug auf die naturalistische Dramenästhetik zu untersuchen. Der Naturalismus leistet, so eine zentrale These der Arbeit, nicht einfach die literarische Illustration zeitgenössischer Determinationshypothesen, sondern vielmehr deren durchaus skeptische Sondierung anhand literarischer ›Fallbeispiele‹. Die Krise der tradierten Komplementärsemantik von ›Geschlecht‹ erweist sich vor diesem Hin-
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Vorwort und Dank
tergrund als zentral für den noch immer unterschätzten Beitrag des Naturalismus zur literarischen Anthropologie. Ohne einige Personen wäre die vorliegende Studie nicht in dieser Form möglich gewesen, daher möchte ich ihnen an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen. Danken möchte ich zunächst den Herausgebern für die Aufnahme meiner Studie in die Palaestra-Reihe, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags für die gute Zusammenarbeit. Prof. Dr. Martin Huber, der die Arbeit als Dissertationsschrift betreut hat, danke ich für Vieles: für den kontinuierlichen fachlichen Austausch, die Aufgeschlossenheit und Bestärkung, die anspornende Kritik und für die Möglichkeit, immer wieder neu von ihm zu lernen. Meine wissenschaftliche Sozialisation an der LMU München und damit auch die Grundlagen der vorliegenden Arbeit haben zwei weitere Personen stark geprägt. Viel verdanke ich Prof. Dr. Karl Eibl († 18. 02. 2014). Der intensive Austausch im Eibl’schen Oberseminar hat meine Auseinandersetzung mit Luhmanns Systemtheorie, mit Historischer Semantik und literarischer Anthropologie angespornt. Neben meinem Verständnis von Literatur als virtuellem Raum zur Verhandlung historisch-semantischer Problemkonstellationen hat die Zeit im Oberseminar auch meine Auffassung geprägt, dass gute Forschung nicht nur durch ›einsames‹ Arbeiten am Schreibtisch entsteht, sondern auch durch den streitbaren Diskurs – und nicht zuletzt durch gepflegte Geselligkeit. Nicht weniger verdanke ich Prof. Dr. Elisabeth Leiss. In ihren sprachwissenschaftlichen Seminaren wurde mein Blick für axiomatische Fragen geschärft und der Grundstein für meine interdisziplinäre Ausrichtung gelegt. Die Möglichkeit, für fünf Semester eine Assistentenstelle in der Germanistischen Linguistik zu vertreten, hat mein literaturwissenschaftliches Arbeiten immens bereichert und die fachliche Verbundenheit auf Dauer gestellt. Mein besonderer Dank gilt PD Dr. Wolfgang Bunzel dafür, dass er mich durch sein im Wintersemester 2006/07 in München gehaltenes Hauptseminar mit Elsa Bernsteins kaum kanonisierten Dramen bekannt gemacht hat. Der im Seminar diskutierte Clou des ›blinden‹ Vererbungsmotivs in Bernsteins Dämmerung (1893) war ein wesentlicher Impuls für mich, einen genaueren Blick auf die Positionierung naturalistischer Dramatik zu den zeitgenössischen Determinationshypothesen zu werfen. Ein nicht geringer Teil der Arbeit ist während zweier Forschungsaufenthalte im Deutschen Literaturarchiv (DLA) in Marbach entstanden – ein wunderbarer Raum zum Denken und Schreiben. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die den Ort erst zu dem machen, der er ist. Namentlich danken möchte ich Dr. Marcel Lepper für die Bewilligung eines Aufenthaltsstipendiums des DLA in der Abschlussphase meiner Arbeit. Eine Vielzahl weiterer Personen hat mich während meiner Promotionszeit durch Anregungen, bestärkende Gespräche und kritische Lektüren des Ge-
Vorwort und Dank
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schriebenen begleitet. Besonders danken will ich Dr. Elisabeth Böhm und Dr. Martina Werner für ihre fachlichen Expertisen, ihren Rat und nicht zuletzt für ihre Freundschaft. Als wichtigster Begleiterin des gesamten Denk- und Schreibprozesses danke ich Dr. Sonja Zeman, Freundin, Kollegin und Mitstreiterin in allen Fragen zur Trias ›Sprache – Denken – Wirklichkeit‹. Über den Raum des Akademischen hinaus danke ich meiner Familie und meinen Freunden für ihre Liebe, ihr offenes Ohr und ihre Geduld, für die vielen gemeinsamen Essen, Filmabende und Konzertbesuche. Jede Aufzählung von Namen bliebe selektiv, Ihr wisst, wer gemeint ist – ohne Euch würde das Wichtigste fehlen. Bayreuth, im März 2014
Natalia Igl
1.
Geschlechtersemantik 1800/1900: Historischer Wandel und literarhistorische Relevanz
1.1
Von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹ und ›problematischer Weiblichkeit‹ – Geschlechterkrisen um 1900 »Ich sags ja, Fräulein, Sie sind ein Problem.«1 »Ich weiß nicht, Fräulein, ich versteh’ Sie nicht – aber Sie machen mich so traurig.«2
Um 1900 – so der Forschungskonsens – geraten »die Geschlechterverhältnisse und geschlechtstypischen Rollenzuweisungen in Bewegung«3. Dies findet seinen Niederschlag innerhalb Kunst und Literatur neben der Omnipräsenz der Themenfelder Geschlecht und Sexualität etwa in der »Pluralisierung der Frauenbilder«4, deren prominenteste und komplementär zueinander stehende Erscheinungsformen – die femme fatale und die femme fragile – dabei als besonders prägend für »die Weiblichkeitsvorstellungen der Jahrhundertwende«5 aufgefasst werden. Als diskurs- und kulturgeschichtlicher Kontext dieser Entwicklung ist dabei vor allem die Institutionalisierung und fortschreitende Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Disziplinen wie der Psychologie und Psychiatrie, der Neurologie und Physiologie sowie der Anthropologie als relevant anzusehen. Über diese intensiv mit den Phänomenbereichen Sexualität, Geschlecht und Geschlechterrollen befassten Fachdiskurse und die teils inner1 Äußerung des Grafen gegenüber der Schauspielerin in der neunten Szene von Arthur Schnitzlers Reigen. Zehn Dialoge (Schnitzler 1962 [1903], S. 382). Zitate daraus werden im Folgenden unter der Sigle ›R‹ im Fließtext nachgewiesen. 2 Äußerung der Ärztin Sabine Graef gegenüber der jungen Patientin Isolde Ritter im zweiten Akt von Elsa Bernsteins unter dem Pseudonym ›Ernst Rosmer‹ veröffentlichtem naturalistischem Drama Dämmerung (Bernstein 2003 [1893], S. 80). 3 Fähnders 2010, S. 108. 4 Ajouri 2009, S. 188. 5 Fähnders 2010, S. 111.
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Geschlechtersemantik 1800/1900
halb, teils außerhalb derselben stattfindende Popularisierung6 des generierten Wissens vollzieht sich – auch das ist Konsens – eine grundlegende »Sexualisierung« der Gesellschaft und gesellschaftlicher Beziehungen.7 So führt etwa Stephanie Catani in ihrer an Wolfgang Riedels grundlegende Studie »Homo Natura«. Literarische Anthropologie um 1900 (1996) anknüpfenden Arbeit Das fiktive Geschlecht (2005) anschaulich aus, dass die in der Literatur um 1900 omnipräsente Auseinandersetzung mit dem ›Weiblichen‹ in Relation zu den zeitgenössischen Versuchen der Anthropologie zu sehen ist, die die Beschaffenheit des ›weiblichen Wesens‹ zu bestimmen suchen.8 Diese massive Präsenz des ›Weiblichen‹ bzw. der Kategorie Geschlecht innerhalb der verschiedenen Diskursbereiche – der Wissenschaft, der Literatur und der Publizistik – setzt Catani in Bezug zu der von Riedel beschriebenen ›anthropologischen Wende‹ im 19. Jahrhundert, in deren Folge sich der Mensch zum »Stellvertreter seiner Sexualität« entwickelt habe, »deren Aufschlüsselung gleichzeitig die Annäherung an den ›ganzen Menschen‹«9 bedeute. Damit einher geht eben jene Verunsicherung der Geschlechterkonzepte, wie sie in der Literatur um 1900 vielfach zum Gegenstand und in umfangreichen literaturwissenschaftlichen Untersuchungen als relevanter literarhistorischer Kontextfaktor herausgearbeitet wurde. Als wesentlicher sozialgeschichtlicher Kontext wie zugleich Motor dieser Entwicklung wird konsensuell die seit dem späteren 19. Jahrhundert erstarkende Frauenbewegung angeführt, deren gesellschaftliches Reformprogramm auf die Formel vom Ziel der weiblichen Emanzipation aus den patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen gebracht wird.10 Das Hauptaugenmerk der literatur- und diskursgeschichtlichen Forschung zur ›Geschlechterkrise‹ um 1900 liegt bislang – über vereinzelte Akzentverschiebungen durch anders fokussierende Forschungsbeiträge11 hinaus – klar auf der Wiener bzw. ›klassischen‹ Moderne als der historischen Konstellation, in der ein deutlicher gesellschaftlicher und literarischer Umbruch von Weiblichkeits6 Exemplarisch lässt sich hier etwa der Essayist, Literaturkritiker und ›Netzwerker der Moderne‹ (vgl. Sprengel 2010) Leo Berg anführen, der in Schriften wie Das sexuelle Problem in Kunst und Leben (1901), Geschlechter (1906, erschienen als 2. Band der von Berg herausgegebenen Reihe Kulturprobleme der Gegenwart) und Essays wie Zur Kritik der Frauenfrage (1901 [1899]) die zeitgenössisch aktuellen Diskurse um geschlechtliche Pathologien, Homosexualität, anthropologische Dispositionen und soziale Rollen behandelt. 7 Vgl. Fähnders 2010, S. 110. 8 Vgl. Catani 2005. 9 Catani 2005, S. 9, in Anschluss an Riedels zentrale These von der »biologische[n] Transformation des Naturbegriffs im neunzehnten Jahrhundert« (Riedel 1996, S. XIII). Auf Catanis wichtige Beobachtungen zum anthropologischen und literarischen Diskurs des ›Weiblichen‹ um 1900 wird in Kapitel 2.2.4 näher einzugehen sein. 10 Vgl. etwa Ajouri 2009, S. 13 sowie Fähnders 2010, S. 109. 11 Zentral zu nennen ist hier die Arbeit Geschlechterprogramme von Urte Helduser (2005).
Von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹ und ›problematischer Weiblichkeit‹
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und Männlichkeitsvorstellungen12 präsent wird. Als exemplarisch für diesen Forschungskonsens lässt sich etwa Walter Fähnders Einführungsband zur Avantgarde und Moderne (erstmals 1998, in zweiter Auflage 2010) anführen. Im Kapitel »Fin de siÀcle, Ästhetizismus, Wiener Moderne« findet sich dort auf sechs Seiten ein Überblick zu verschiedenen literarisch typisierten ›Frauenbildern‹, denen ein Abriss zu zeitgenössischen ›emanzipativen‹ Entwürfen von Weiblichkeit, sowie zu der in Anthropologie, Psychologie und Psychoanalyse intensiv betriebenen Erforschung von Sexualität und Geschlechterrollen bis hin zur Dämonisierungen ›des Weiblichen‹ vorangeht.13 Der von Fähnders in Übereinstimmung mit der Forschung gesetzte Fokus auf das Fin de siÀcle als prominenter Phase der Diskursivierung der Geschlechterkrise innerhalb der literarischen Moderne ist zunächst aus Sicht der vorliegenden Studie durchaus plausibel. Dass dieser Fokus jedoch mit Blick auf die Initialphase des umfassenden Krisendiskurses einer Justierung bedarf, wird im Folgenden zu zeigen sein. Die Problematisierung der Geschlechterrollen spiegelt sich auch in den beiden Eingangszitaten wider, anhand derer exemplarisch deutlich wird, dass der Krisendiskurs bereits im Naturalismus entscheidend präsent ist. Das erste Zitat – »Ich sags ja, Fräulein, Sie sind ein Problem.« – entstammt Schnitzlers im Folgenden näher zu beleuchtenden Stück Reigen. Zehn Dialoge (1903), genauer dem Dialog zwischen den Figuren »Graf« und »Schauspielerin« in der neunten Szene (R, S. 382). Die Attribuierung der weiblichen Figur als ›problematisch‹ zielt an dieser Stelle auf deren femme-fatale-Gestus ab, den der folgende Auszug illustriert: schauspielerin. Nun, Herr Graf, Sie sind ein Ehrenmann. Setzen Sie sich näher. graf. Bin so frei. schauspielerin. Hierher. Sie zieht ihn an sich, fährt ihm mit der Hand durch die Haare. Ich hab gewußt, daß Sie heute kommen werden! graf. Wieso denn? schauspielerin. Ich hab es bereits gestern im Theater gewußt. graf. Haben Sie mich denn von der Bühne aus gesehen? schauspielerin. Aber Mann! Haben Sie denn nicht bemerkt, daß ich nur für Sie spiele? graf. Wie ist das denn möglich? schauspielerin. Ich bin ja so geflogen, wie ich Sie in der ersten Reihe sitzen sah! graf. Geflogen? Meinetwegen? Ich hab keine Ahnung gehabt, daß Sie mich bemerkten! schauspielerin. Sie können einen auch mit Ihrer Vornehmheit zur Verzweiflung bringen. 12 Vgl. dazu den Forschungsüberblick von Erhart 2005 zur Entwicklung der Men’s studies sowie den in der Forschung konstatierten ›Krisen der Männlichkeit‹ um 1900 und 2000. 13 Vgl. Fähnders 2010, S. 108 – 114.
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Geschlechtersemantik 1800/1900
graf. Ja Fräulein … schauspielerin. »Ja Fräulein«! … So schnallen Sie doch wenigstens Ihren Säbel ab! graf. Wenn es erlaubt ist. Schnallt ihn ab, lehnt ihn ans Bett. schauspielerin. Und gib mir endlich einen Kuß. graf küßt sie, sie läßt ihn nicht los. schauspielerin. Dich hätte ich auch lieber nie erblicken sollen. graf. Es ist doch besser so! – schauspielerin. Herr Graf, Sie sind ein Poseur! graf. Ich – warum denn? schauspielerin. Was glauben Sie, wie glücklich wär mancher, wenn er an Ihrer Stelle sein dürfte! graf. Ich bin sehr glücklich. schauspielerin. Nun, ich dachte, es gibt kein Glück. Wie schaust du mich denn an? Ich glaube, Sie haben Angst vor mir, Herr Graf! graf. Ich sags ja, Fräulein, Sie sind ein Problem. schauspielerin. Ach, laß du mich in Frieden mit der Philosophie … komm zu mir. Und jetzt bitt mich um irgendwas … du kannst alles haben, was du willst. Du bist zu schön. (R, S. 381 f.)
Wie im Text deutlich wird, werden dieser Gestus und die mit ihm verbundene sexuelle Freizügigkeit von der männlichen Figur einerseits durchaus positivaffirmativ aufgenommen. Aus dem dominanten Agieren der weiblichen Figur ergibt sich andererseits aber auch ein Spannungsverhältnis, was die in Schnitzlers Text ›ausgestellten‹ Geschlechterrollenkonzepte angeht. Aufgrund der Gleichzeitigkeit von sexueller Anziehungskraft und der Verkehrung der um 1900 vorliegenden geschlechterstereotypen Zuordnung des Schemas ›aktiv/ passiv‹ zu ›männlich/weiblich‹ wird die femme fatale als Figur per se zum Problem für andere – zumal männliche – Figuren. Das zweite Eingangszitat hingegen entstammt dem zehn Jahre vor Schnitzlers Stück erschienenen, naturalistischen Drama Dämmerung von Elsa Bernstein14 (1866 – 1949), dessen Analyse – neben anderen naturalistischen und naturalismusnahen Dramen Bernsteins – in der vorliegenden Studie eine ›Brennglasfunktion‹ zukommen wird: »Ich weiß nicht, Fräulein, ich versteh’ Sie nicht – aber Sie machen mich so traurig.« – So äußert sich die im Text zunächst als Idealtypus der ›emanzipierten Frau‹ erscheinende15 Augenärztin Sabine Graef gegenüber ihrer jungen, aus bürgerlich-gehobenem Hause stammenden Patientin Isolde Ritter, als letztere damit kokettiert, wie oft sie sich in »interessante junge Männer« verliebe, was doch »das einzige Amüsante im Leben« sei (D, S. 80). 14 Für einen Überblick zu Leben und Werk der seit einiger Zeit stärker ins Interesse der Forschung gerückten Dramatikerin, die die meisten ihrer Stücke unter dem (allerdings früh gelüfteten) Pseudonym Ernst Rosmer publiziert hat, vgl. den Band von Kraft / Lorenz (Hg.) 2007; siehe auch die Rezension von Igl 2010. 15 Siehe hierzu die detaillierte Analyse in Kapitel 3.2.5.
Von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹ und ›problematischer Weiblichkeit‹
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Anders als im Schnitzler-Beispiel wird die Bewertung der auf Sexualität fokussierenden Figur hier nicht von einer männlichen, sondern von einer weiblichen Figur vorgenommen, die an dieser Stelle nicht nur dezidiert kein sexuelles Interesse am Kommunikationspartner hat, sondern sich zudem von der bürgerlich institutionalisierten Sexualisierung der weiblichen Geschlechterrolle explizit abgrenzt. Damit liegt in Dämmerung im Vergleich zur Konstellation im Reigen für die evaluierende Figur kein Spannungsverhältnis aufgrund der gleichzeitigen Bedrohung männlicher Rollenidentität und der sexuell anziehenden weiblichen Promiskuität vor – sondern ein Spannungsverhältnis zwischen zwei unterschiedlichen weiblichen Rollenkonzeptionen. Auch im Reigen ist die gleichgeschlechtliche Vergleichsdimension inszeniert: Die verschiedenen Figuren verweisen auf verschiedene weibliche wie männliche (Stereo-)Typen, Geschlechterrollen erscheinen insofern variabel, als es im Text nicht den ›männlichen‹ und den ›weiblichen‹ Typus gibt. Dass jedoch geschlechtliches Rollenhandeln aus der Figurenperspektive oder (spezifisch im Falle narrativer Texte) aus der übergeordneten Perspektive einer Vermittlungsoder Erzählinstanz explizit als problematisch gewertet wird, setzt zunächst einmal voraus, dass das Problem der Variabilität versus Invariabilität gesellschaftlich ausagierter Geschlechterrollen diskursiv präsent ist. Generell werden Probleme, die im Zusammenhang mit der (sozialen) Kategorie ›Geschlecht‹ stehen, natürlich nicht erst in der Literatur des Naturalismus verhandelt, jedoch lässt sich dieser als erste Phase der intensiven literarischen wie außerliterarischen Diskursivierung derjenigen Krise verstehen, die mit der Infragestellung des geschlechtlichen Ergänzungsgedankens16 aufkommt. Bevor also in Schnitzlers Reigen die Schauspielerin als Verkörperung eines spezifischen (medialdiskursiv inszenierten) Typus von Weiblichkeit, nämlich der femme fatale,17 als Problem adressiert werden kann, geht zunächst einmal das Obskurwerden des ›Weiblichen‹ – respektive der Geschlechtervorstellungen und Rollenkonzeptionen – voran.
16 Die Konstitution der komplementären Geschlechtersemantik als einer historisch spezifisch konturierten Konzeption wird in Kapitel 2.1 ausführlich behandelt. 17 Stephanie Catani hebt dabei in ihrer bereits genannten Studie einen wichtigen Aspekt hervor, dem auch die vorliegende Untersuchung Rechnung tragen wird: Geschlechtertypisierungen wie das Konzept der femme fatale sind nicht einfach das Resultat literarischer Inszenierungen, sondern speisen sich aus verschiedenen, im 19. Jahrhundert eng aufeinander bezogenen Diskursen aus Wissenschaft, Gesellschaft und Kunst (vgl. Catani 2005, S. 95).
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Geschlechtersemantik 1800/1900
1.1.1 Arthur Schnitzlers Reigen (1903) als literarische Anthropologie und exemplarische Inszenierung der Geschlechterproblematik innerhalb der Wiener Moderne Zunächst lässt sich – als ›Sprungbrett‹ für die nachfolgende Darlegung der Motivation und Zielsetzung dieser Studie – an einem Textbeispiel veranschaulichen, wie zentral das Themenfeld um Sexualität, Geschlecht und vor allem Geschlechterkrise für die Literatur der Jahrhundertwende ist: an Arthur Schnitzlers szenischem Text Reigen, der eine äußerst eindrückliche Inszenierung der Krise der tradierten Geschlechterrollen zeigt.18 Die Akteure in Schnitzlers Stück sind typisierte Figuren, die auf soziale Gruppen bzw. Rollen verweisen und statt mit Eigennamen unter Gattungsbezeichnungen auftreten:19 »Die Dirne«, »Der Soldat«, »Das Stubenmädchen«, »Der junge Herr«, »Die junge Frau«, »Der Ehemann« bzw. »Der Gatte«, »Das süsse Mädel«, »Der Dichter«, »Die Schauspielerin« und »Der Graf«. Innerhalb der Dialoge spielen die Eigennamen der Figuren durchaus eine Rolle, nicht zuletzt gerade dort, wo sie nicht genannt werden. So wird etwa der Soldat von der Dirne – die sich als Leocadia vorstellt – nach seinem Namen gefragt, bleibt jedoch die Antwort schuldig (vgl. R, S. 329). Der Soldat wiederum erfragt im nächsten Dialog den Namen des Stubenmädchens und rät zunächst fälschlich »Kathi« statt »Marie« (wobei auch »Marie« im Dialog unbestätigt bleibt; vgl. R, S. 330 f.), und so fort. Dass dieses Spiel mit den Figurennamen und die zwischen Typus und Individuum angelegte Figurencharakteristik sich als eine der Inszenierungsstrategien auffassen lässt, die dem Text den Charakter einer Fallstudien-Sequenz verleihen, wird im Folgenden näher auszuführen sein. Zunächst ist festzuhalten, dass die Figuren im Reigen sich trotz einer zum Teil markierten Standeszugehörigkeit gesellschaftlich nicht eindeutig verorten und mit tradierten Rollenvorstellungen in Deckung bringen lassen – wie besonders am Frauen- bzw. Figurentypus des ›süßen Mädels‹20 deutlich wird. Die in den zehn Dialogen spielerisch zur Schau gestellte gesellschaftliche Doppelmoral konstituiert sich über die im Spannungsverhältnis von Figurenrede und Figurenhandeln aufgerufenen Ideale von ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ sowie demgegenüber der
18 Für einen aktuellen Überblick zum diskursgeschichtlichen Kontext des Skandalstücks siehe Catani 2005, S. 142 – 161; zur Entstehungs- und Aufführungsgeschichte siehe grundlegend auch die Studie und Materialsammlung von Pfoser / Pfoser-Schewig / Renner 1993. 19 Siehe dazu Pross 2002, besonders S. 252 f. Mit Pross lässt sich die Typisierung pointiert als »das durchgängige Prinzip der Figurengestaltung« im Reigen bezeichnen (ebd., S. 252). 20 Vgl. dazu aktuell die typologische und literarhistorische Übersicht bei Catani 2005, S. 109 – 113.
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Aufspaltung in Rollen und ›Geschlechterinszenierungen‹, die das Ideal des ›Weiblichen‹ und des ›Männlichen‹ in Frage stellen. Der Text stellt dabei die Verunsicherung der tradierten Rollenmodelle heraus und macht eine Diskrepanz zwischen der von den Figuren beanspruchten, auf den Konzepten Exklusivität, Emotionalität und Individualität basierenden Liebessemantik und ihrem jeweiligen konkreten ›Liebesverhalten‹ deutlich.21 Als Kernkonzept von ›Liebe‹ erweist sich Sexualität: Triebhaftigkeit fungiert als Motor der Paarbildung und zugleich als inhärente Bedrohung für deren Stabilität. Im Text wird die geglückte Paarbildung durch das szenische Strukturprinzip des Kreis- oder Reihentanzes als nicht zu verstetigen gezeigt. Das Anordnungsprinzip des Reigens, bei dem eine Paarkonstellation (beginnend mit Dirne und Soldat) durch den Wechsel eines Akteurs in die nächste übergeht, bis sie schließlich (endend mit Graf und Dirne) wieder auf die Ausgangskonstellation zuläuft, erweist sich dabei als prädestiniert für die literarische Inszenierung der Geschlechterkrise. Auf das hier zugrunde liegende, für Schnitzlers Text inhaltlich wie strukturell konstitutive Spannungsverhältnis von ›Allgemeinmenschlichem‹ und ›Individuellem‹ geht Caroline Pross in ihrem Beitrag zum »Gesetz der Reihe« und der Engführung von Literatur, (medizinisch-psychologischem) Wissen und Anthropologie pointiert ein: Analog zu dem in der zeitgenössischen anthropologischen und psychopathologischen Forschung praktizierten analytischen Strukturprinzip der Reihenbildung im Sinne der Sammlung von Fallbeispielen, mit der Schnitzler sich als Mediziner fachwissenschaftlich auseinandersetzt,22 kommt im Reigen die Reihenbildung als in anthropologischer Hinsicht erkenntnisgenerierendes Mittel zum Einsatz: Auch in »Reigen« verbindet sich die Bildung einer Reihe mit der Formulierung von Aussagen über die Natur des Menschen und die allgemeinen Gesetze seines Handelns. Dieses Wissen ist nicht von Beginn an gegeben, es konstituiert sich erst im Laufe des Textes, in der Abfolge der zehn Szenen und der zehn Akte. Dabei sind es die Figuren selbst, die die Frage nach dem Allgemeinen und dem Individuellen aufwerfen und die Aufmerksamkeit auf den Anteil an Einmaligem und Wiederkehrendem in ihrem 21 Vgl. dazu den Beitrag von Neudeck / Scheidt 2002 zum Konnex von Liebessemantik(en) und Subjektivitätsproblematik in Schnitzlers Dramen. Zugrunde liegt die im Kern anschlussfähige Leitthese, dass Schnitzler in Reigen wie auch im Anatol-Zyklus »mittels der Liebesthematik den Zerfall des Subjektbegriffs [reflektiert] und […] zugleich mögliche Lösungskonzeptionen für eine Restituierung des Subjekts« verhandelt (ebd., S. 268). 22 So etwa mit Richard von Krafft-Ebings epochemachender, bis ins 20. Jahrhundert in vielfacher Neuauflage erschienener Schrift Psychopathia sexualis (1886). Insgesamt arbeitet Pross (2002, S. 254 – 257) sehr luzide Schnitzlers deutliche Orientierung am induktiven Vorgehen zeitgenössischer medizinisch-anthropologischer Sammlungen von Fallbeispielen heraus, die auf die Ableitung eines anthropologischen Paradigmas aus einer »syntagmatischen Aneinanderreihung von Einzelbeobachtungen« (ebd., S. 256) abzielen.
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Handeln lenken. […] Im Verlauf des Textes kommt es in »Reigen« somit zu einer sukzessiven Erweiterung des Aussageradius. Dieser bezieht sich zu Beginn der »Scenenreihe« noch auf die Einzelperson, von Szene zu Szene erstreckt er sich auf immer größere Gruppen, am Ende werden Aussagen über die Geschlechter und die Gattung als ganze gemacht.23
Die Figurencharakteristik und Figurenrede ist dabei trotz der starken Typisierung detailrealistisch-authentisch inszeniert, die Figuren erscheinen psychologisch motiviert und – unter anderem durch den Einsatz von soziolektalen und dialektalen Elementen in der Figurenrede – ›empirisch‹ abgesichert. Dieser Realismus der Figurenzeichnung ist gerade die Voraussetzung dafür, dass die zehn Dialoge als Fallbeispiele fungieren können, über die anthropologische Erkenntnisse zugleich inszeniert wie potentiell generiert werden können.24 Zu den reihen- und damit zugleich für den Gesamttext strukturbildenden Elementen, die den einzelnen Szenen den Status von Fallbeispielen verleihen,25 gehört neben den genannten Charakteristika der Figurenrede auch der charakteristische Einsatz des Abbruchs der Rede26 : So fällt die temporär zustande kommende Paarbildung auf dem Höhepunkt jeweils zusammen mit einer anhand von Gedankenstrichen markierten Ellipse – der eigentliche Akt bleibt also ausgeblendet. Ein Auszug aus der Szene »Der Gatte und das süsse Mädel« (Dialog VI) illustriert diesen funktionalen Einsatz der Aussparung: das süsse mädel. […] Du, in dem Wein muß was drin gewesen sein. der gatte. Ja, warum denn? das süsse mädel. Ich bin ganz … weißt – mir dreht sich alles. der gatte. So halt dich fest an mich. So … Er drückt sie an sich und wird immer zärtlicher, sie wehrt kaum ab. Ich werd dir was sagen, mein Schatz, wir könnten jetzt wirklich gehn. das süsse mädel. Ja … nach Haus. der gatte. Nicht grad nach Haus … das süsse mädel. Was meinst denn? … O nein, o nein … ich geh nirgends hin, was fallt dir denn ein – 23 Pross 2002, S. 256 f. 24 Vgl. dazu grundlegend den Beitrag »Arthur Schnitzlers ›Reigen‹ und die Sexualanthropologie der Jahrhundertwende« von Thom¦ 1998. 25 Vgl. Pross 2002, S. 256 f. 26 Zum Einsatz der Gedankenstriche bzw. der Ellipsen in Schnitzlers Reigen vgl. den Beitrag von Schlösser 2006, der in den Abschnitten »Kleine Strichkunde« (S. 39 f.) und »Ein Blick ins 18. Jahrhundert« (S. 40 – 42) eine knappe Skizze der typographischen sowie kunst- und literarhistorischen Funktionen des Gedanken- bzw. (typographisch gesprochen) des Geviertstrichs liefert. Die inszenierte Aussparung des sexuellen Aktes in Schnitzlers Reigen steht dabei in einer Tradition, für die die seit dem 18. Jahrhundert populären Bildserien Before und After (1730/31 und vor allem die Kupferstichsequenz von 1736) des englischen Malers und Satirikers William Hogarth (1697 – 1764) als exemplarisch anzuführen sind (vgl. Schlösser 2006, S. 38 f. sowie Pfoser / Pfoser-Schewig / Renner 1993, S. 15 – 17).
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der gatte. Also hör mich nur an, mein Kind, das nächste Mal, wenn wir uns treffen, weißt du, da richten wir uns das so ein, daß … Er ist zu Boden gesunken, hat seinen Kopf in ihrem Schoß. Das ist angenehm, oh, das ist angenehm. das süsse mädel. Was machst denn? Sie küßt seine Haare. … Du, in dem Wein muß was drin gewesen sein – so schläfrig … du, was g’schieht denn, wenn ich nimmer aufstehn kann? Aber, aber, schau, aber Karl … und wenn wer hereinkommt … ich bitt dich … der Kellner. der gatte. Da … kommt sein Lebtag … kein Kellner … herein … –––––––––––––––––––––––––––– das süsse mädel lehnt mit geschlossenen Augen in der Diwanecke. der gatte geht in dem kleinen Raum auf und ab, nachdem er sich eine Zigarette angezündet. Längeres Schweigen. der gatte betrachtet das süsse Mädel lange, für sich. Wer weiß, was das eigentlich für eine Person ist – Donnerwetter … So schnell … War nicht sehr vorsichtig von mir … Hm … das süsse mädel ohne die Augen zu öffnen. In dem Wein muß was drin gewesen sein. der gatte. Ja, warum denn? das süsse mädel. Sonst … der gatte. Warum schiebst du denn alles auf den Wein? (R, S. 360)
Die Ausblendung der sexuellen Handlung durch die Gedankenstriche zitiert an dieser Stelle zugleich die Zensurpraxis des 18. und 19. Jahrhunderts und lässt sich im Sinne einer vom Autor inszenierten eilfertigen Vorwegnahme möglicher Textstreichungen durch einen Zensor als ironischer Metakommentar lesen. In jedem Fall heben die Auslassungen als entsprechend semantisch aufgeladener ›Marker‹ die jeweiligen nicht dargestellten Sequenzen gerade hervor, was die oben angesprochene Deutung stützt, dass der Text den Fokus auf Sexualität als Motor der Paarbildung auf der Handlungsebene legt – und zugleich als die den Text ordnende Dynamik im metaphorischen Sinne des Klimax als dem (idealtypischen) dramatischem Strukturprinzip. Die spezifische Gattungsinnovation des Stücks liegt an dieser Stelle in der Reihung der in sich klimaktisch angeordneten Einzelszenen, wodurch eine klimaktische Struktur auf der Makroebene des Textes gerade unterbunden wird: Der Reigen ist, wie oben bereits angesprochen, nicht nur das passende Bild für die Bewegung der Figuren innerhalb der Textwelt, sondern auch eine pointiert gewählte Bezeichnung für das ästhetische Strukturprinzip des Textes. Wenngleich ein genauerer Blick auf die Figurenkonzeption und das Spannungsverhältnis der anzitierten normativen Geschlechterrollenkonzeption und der inszenierten Überschreitung in Bezug auf die Neukonzeptualisierung der Geschlechtersemantik innerhalb der Wiener Moderne durchaus analytisch lohnenswert ist, stehen jedoch im Folgenden weniger die ästhetischen Innovationen von Schnitzlers Drama im Vordergrund als vielmehr die dort aufgegrif-
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fenen ästhetischen und gattungsspezifischen Traditionen: Im Einsatz der konkreten dramatischen Mittel – sowohl mit Blick auf die spezifischen Strategien der ›Authentifizierung‹ der Figurenrede und des funktionalen Redeabbruchs wie auch mit Blick auf die Anlage der Figuren zwischen Typus und Individuum – steht Schnitzlers Text deutlich in der Traditionslinie naturalistischer Poetologie. So fungiert beispielsweise in Gerhart Hauptmanns Drama Vor Sonnenaufgang (1889) der Abbruch der Rede in analog signifikanter Weise als ›Marker‹ für eine Schlüsselsequenz, bei der es um die Möglichkeit der Paarbildung und – als Voraussetzung derselben – die gelingende Kommunikation zwischen den Geschlechtern geht:27 loth. […] Also … – er geht auf sie zu und gibt ihr die Hand – leben Sie recht glücklich! Er wendet sich und steht sogleich wieder still. Ich weiß nicht …! oder besser : – Helene klar und ruhig ins Gesicht blickend – ich weiß, weiß erst seit … seit diesem Augenblick, daß es mir nicht ganz leicht ist, von hier fortzugehen … und … ja … und … naja! helene. Wenn ich sie aber – recht schön bäte … recht sehr … noch weiter hierzubleiben –? loth. Sie teilen also nicht die Meinung Ihres Schwagers? helene. Nein! – und das – wollte ich Ihnen unbedingt … unbedingt noch sagen, bevor … bevor – Sie – gingen. loth ergreift abermals ihre Hand. Das tut mir wirklich wohl. helene mit sich kämpfend. In einer sich schnell bis zur Bewußtlosigkeit steigernden Erregung. Mühsam hervorstammelnd. Auch noch mehr w-ollte ich Ihnen … Ihnen sagen, nämlich … näm-lich [sic]: daß – ich Sie sehr hoch-achte [sic] und – verehre – wie ich bis jetzt … bis jetzt noch – keinen Mann … daß ich Ihnen – vertraue – daß ich be-reit [sic] bin, das … das zu beweisen – daß ich – etwas für – dich, Sie fühle … Sinkt ohnmächtig in seine Arme. loth. Helene!28
Das durch die Gedankenstriche, die Auslassungszeichen sowie die Trennstriche innerhalb einzelner Worte (»näm-lich«, »be-reit«, »hoch-achte«) auch im Schriftbild sichtbar gemachte Stocken, Abreißen und Wiederaufnehmen der Figurenrede markiert die Kommunikationssituation als ungewöhnlich und ›diskursiv unsicher‹. Die spezifische Funktion dieser inszenierten Unsicherheit ist – wie in Schnitzlers Reigen – sowohl auf der Handlungsebene relevant, als auch auf der Ebene der spezifischen Wirkungsästhetik des Stücks, wie die Analyse von Hauptmanns Drama in Kapitel 3.2.4 zeigen wird. Der bisherige Fokus der Forschung auf die literarische Anthropologie von Fin de siÀcle und Wiener Moderne übersieht zu weiten Teilen eben jene eng an die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen anthropologischen Fragen geknüpfte 27 Siehe hierzu die detaillierte Analyse in Kapitel 3.2.4. 28 Hauptmann 1981 [1889], S. 62 f. Zitate daraus werden im Folgenden unter der Sigle ›VS‹ im Fließtext nachgewiesen.
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naturalistischen Wirkungsästhetik und deren Relevanz für die literarischen Folgeströmungen. Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist entsprechend eine Fokusverschiebung auf den Naturalismus als literarische Strömung, die sich unter anderem über die intensive Verzahnung von literarischem und (natur)wissenschaftlichem Diskurs konstituiert.
1.1.2 Literarische Anthropologie des Naturalismus – Vom Fokus auf das Fin de siècle hin zum Naturalismus als initialer Phase der Diskursivierung der Geschlechterkrise Der oben skizzierte, von Caroline Pross beleuchtete Zusammenhang von Schnitzlers Reigen mit dem Diskurs der zeitgenössischen ›Scientia sexualis‹ rückt aus Sicht der vorliegenden Arbeit sehr überzeugend den seit dem 18. Jahrhundert explizit formulierten Anspruch von Literatur ins Zentrum, einen eigenständigen Beitrag zum Wissen über die ›Natur‹ des Menschen – zur Anthropologie – zu leisten.29 Bis hierher stehen die Ausgangsbeobachtungen der vorliegenden Studie in Übereinstimmung mit den bisherigen Forschungsergebnissen. Die Geschlechterkrise als zentrales Thema der literarischen Anthropologie um 1900 und deren bislang in der Forschung konsensuell vorgenommene Verortung innerhalb der Wiener Moderne bzw. des Fin de siÀcle ist jedoch – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – mit Blick auf die literarische Anthropologie des Naturalismus neu zu bewerten. Die Grundlagen für eine entsprechende Neubewertung sind innerhalb der Forschung etwa mit der Studie Geschlechterprogramme (2005) von Urte Helduser gelegt: Anknüpfend an die unter anderem bereits von Horst Thom¦ in seinem Grundlagenaufsatz »Modernität und Bewußtseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin de siÀcle« pointiert umrissene Beobachtung, dass das tradierte Modell der Geschlechterrollenverteilung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in seinem Geltungsanspruch grundlegend fragwürdig geworden ist,30 geht Helduser auf die konstitutive Rolle der Kategorie ›Geschlecht‹ bzw. des ›Weiblichen‹ innerhalb der literarischen Moderne ein, nimmt dabei aber eine wichtige Öffnung der
29 Zur ›Literarischen Anthropologie‹ als Manifestation einer seit dem 18. Jahrhundert beobachtbaren Affinität der sich neu etablierenden wissenschaftlichen Disziplin der Erforschung des Menschen und der ›schönen‹ Literatur vgl. die Überblicksdarstellung von Kosˇenina 2008; für die Zeit um 1900 siehe die bereits genannte Grundlagenstudie »Homo Natura« von Riedel 1996. Zur ›Literarischen Anthropologie‹ im Sinne einer literaturwissenschaftlichen Forschungsperspektive siehe grundlegend Pfotenhauer 1987 und Schings 1994, sowie als fundierte theorie- und methodengeschichtliche Überblicksdarstellung van Laak 2009. 30 Vgl. Thom¦ 200, S. 23.
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Forschungsperspektive von der dominanten Fokussierung auf das Fin de siÀcle hin zum Naturalismus vor. Die vorliegende Studie zum Wandel der Geschlechtersemantik im ›langen 19. Jahrhundert‹ und der Relevanz dieses Wandels mit Blick auf das Sozial- und Symbolsystem ›Literatur‹ legt nun eine ähnliche Perspektive zugrunde: Anders als es etwa die knapp gehaltenen Ausführungen in Fähnders literaturgeschichtlichem Überblick suggerieren, lässt sich der Naturalismus nicht befriedigend als Phase »neue[r] Akzentuierungen beim Frauenbild«31 oder – wie es Günther Mahal in seinem Epochenüberblick von 1975 formuliert hat – als Phase des ersten Auftretens von »›Emanzipierten‹ der deutschen Literatur«32 beschreiben. Stattdessen erscheint er als erste intensive Phase der literarischen Diskursivierung der Geschlechterkrise, wie im Folgenden anhand detaillierter Analysen poetologisch-programmatischer Schriften, publizistischer Essays und nicht zuletzt dramatischer Texte zu zeigen sein wird. Die vermeintlich ›emanzipierten‹ Figuren – gerne wird hier in der Forschung auf die Figur der Nora aus Henrik Ibsens Stück Et dukkehjem (Nora oder Ein Puppenheim, 1879) als ›Prototyp‹ verwiesen33 – zeigen sich bei genauerer Betrachtung als in sich oftmals brüchig dargestellte Charaktere, anhand derer in den Texten die spezifische gesellschaftliche und semantische Problemkonstellationen entwickelt und fassbar gemacht werden. Eine Untersuchungsperspektive, die Geschlechterkonzepte nicht als historisch-kulturelle, in spezifischen Funktionszusammenhängen stehende Semantik in den Blick nimmt, sondern im Sinne einer Beschreibung und Klassifikation von ›Frauenbildern‹, ›Frauentypen‹, ›Weiblichkeits- bzw. ›Männlichkeitsentwürfen‹34 deskriptiv-typologisch ausgerichtet ist, hat hier einen entscheidenden 31 Fähnders 2010, S. 108. Auch in Wolfgang Bunzels Einführung in die Literatur des Naturalismus (2008), die insgesamt knapp, aber pointiert auf die Zusammenhänge von Naturalismus und Frauenbewegung eingeht, findet sich die Formulierung vom »veränderten Frauenbild« (vgl. ebd., S. 80). In (alltagssprachlicher) Analogie zum Begriff des ›Menschenbildes‹ ist der Terminus durchaus plausibel zu verwenden, als wissenschaftlicher Analysebegriff birgt er jedoch Probleme (vgl. Igl [in Vorbereitung]). 32 Mahal 1975, S. 133; vgl. Bunzel 2008, S. 80. 33 Siehe Fähnders 2010, der in seiner Darstellung kaum mehr zur Geschlechterproblematik innerhalb des Naturalismus ausführt als folgenden Abschnitt: »Mit der Krise des Ich geraten im Fin de siÀcle die Geschlechterverhältnisse und geschlechtertypischen Rollenzuweisungen in Bewegung, an deren Umwertung bereits die naturalistische Literatur sich versucht hat – am einflussreichsten sicher Ibsen mit seinem Nora-Drama, aber auch Strindberg mit Fräulein Julie. Beide, Nora wie Julie, setzen sich über die traditionellen Rollenzuweisungen in der patriarchalischen Gesellschaft hinweg und postulieren selbständige und selbstbestimmte Weisen einer weiblichen Existenz.« (Ebd., S. 108) Auf die hier vorgenommene Reihung von ›Krise des Ich‹ und ›Geschlechterkrise‹ wird in Kapitel 3.1.3 näher einzugehen sein. 34 Auffällig ist dabei, dass innerhalb der Forschung kaum analog zum ›Frauenbild‹ vom ›Männerbild‹ gesprochen wird; eine BDSL-Titelstichwortsuche (getätigt am 07. 10. 2012)
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Nachteil: Die Formierungsphasen, in denen sich Typisierungen wie femme fatale und femme fragile, die ›Hysterikerin‹ respektive der ›Neurastheniker‹, der ›Dandy‹ und ›Flaneur‹ – die Liste ließe sich fortsetzen – herausbilden und diskursiv verfügbar werden, geraten kaum ins Sichtfeld. Und die Frage, warum sich diese Typisierungen etablieren und in welcher Weise sie literarisch eingesetzt und (eventuell widersprüchlich) perspektiviert werden, lässt sich deskriptivtypologisch nicht beantworten. Ein Kurzschluss von entworfener Textwelt und außertextueller sozialer Wirklichkeit, wie ihn etwa ein stark literaturkritisch ausgerichteter Zweig dekonstruktivistischer Ansätze vornimmt, liefert auf die Frage nach dem ›Warum‹ aus funktionsanalytischer Sicht ebenfalls keine befriedigenden Antworten. Im weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung werden die Grenzen entsprechend ausgerichteter Analysezugriffe im je konkreten Fall aufzuzeigen sein. An dieser Stelle seien zur Verdeutlichung zwei exemplarische Seitenblicke auf dekonstruktivistisch ausgerichtete Untersuchungen zu Schnitzlers Reigen geworfen: Rudolf Schier stellt in seinem Aufsatz »Zigarre, Mieder und Madonna: Schnitzlers Reigen im Hinblick auf Ibsens Ein Puppenheim« den Versuch einer kontrastiven ›Messung‹ des emanzipatorischen bzw. feministischen Gehalts von Ibsens Drama an; das Fazit birgt dabei jedoch nicht nur aufgrund der mangelnden Unterscheidung zwischen ›literarischer Figur‹ und ›realer Person‹ Irritationspotential: Es mag einem nicht sofort ins Bewusstsein kommen, aber in Wahrheit geht der Reigen in mancher Hinsicht bedeutend weiter als Ein Puppenheim. Nora mag ein damals in ganz Europa bewundertes Beispiel für das Ausbrechen aus einem patriarchalischen Prokrustesbett gewesen sein, aber ob sie, nachdem sie ihren Mann verlassen hat, eigene selbstbestimmte sexuelle Beziehungen eingehen wird, oder ob es bei ihr gar zu einer weiterführenden Selbstverwirklichung kommt, wissen wir nicht. Das mag den Reigen nicht unbedingt zu einem feministischeren Text machen als Ein Puppenheim, aber feministischer, als man es Schnitzler bisher zugetraut hätte, ist er allemal.35 liefert für den Zeitraum von 1988 bis 2011 gerade einmal 19 Treffer ; bei ›Frauenbild‹ sind es für diesen Zeitraum 185 Treffer. Die Ursachen (und Implikationen) dieser Verteilung liegen nur zum Teil im historischen Gegenstand selbst begründet (vgl. Igl [in Vorbereitung]). Insgesamt scheint ›Männlichkeit‹ – auch post-dekonstruktivistisch – ontologisch noch immer ›stabiler‹ als ›Weiblichkeit‹ wahrgenommen zu werden. Die semantische Tradition der Abgrenzung des ›Weiblichen‹ als dem ›Anderen‹ in Bezug auf das unmarkierte ›Männliche‹ als dem ›Normalen‹ und ›primär Gegebenen‹ setzt sich hier in der Tat fort; vgl. dazu exemplarisch den Forschungsüberblick Um-Ordnungen der Geschlechter von Claudia Opitz (2005). Mittlerweile geraten aber auch die komplexen gesellschaftlichen Prozesse der Konstitution und Stabilisierung (sowie Destabilisierungen) von ›Maskulinität‹ und männlichen Rollenkonzeptionen in literaturwissenschaftlichen Studien verstärkt in den Blick, vgl. den bereits genannten Forschungsbericht von Erhart 2005 sowie exemplarisch den Sammelband von Hindinger / Langner (Hg.) 2011 zu Männlichkeitskonzepten in der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 35 Schier 2003, S. 14.
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Hier wird ein gesellschaftlicher (und sich historisch wandelnder!) Wertbegriff – ›feministisch‹ – als literaturwissenschaftlicher Terminus der Analyse verwendet. Nicht nur die Ebenen ›Figur‹ und ›Person‹ geraten hierbei durcheinander, sondern auch die Ebenen ›Textwelt‹ und ›realgeschichtliche Welt‹. Eine ähnliche Blickrichtung auf den feministisch-emanzipatorischen Gehalt findet sich im Beitrag von Simela Delianidou zu den »Gestörte[n] Geschlechterbeziehungen in der literarischen D¦cadence um 1900: Arthur Schnitzlers Reigen«, der Schnitzlers Text den »Einsatz[] dekonstruktiver Methoden«36 zuschreibt. So zeige sich an der Figur der Schauspielerin besonders deutlich die für den Text konstitutive »Subversion der tradierten Geschlechterverhältnisse«37: Das bewußte Spiel der Rollen und Selbstinszenierungen erfährt in der Figur der Schauspielerin seinen Höhepunkt. Die eingesetzten Mittel zur Distanzierung von stereotypen geschlechts- und weiblichkeits-ideologischen Mustern sind reichhaltig. Maskerade und Travestie dienen qua parodistischer Übertreibung diesem subversiven Spiel ebenso wie ihre Rolle als femme fatale und phallische Frau, die als gender trouble zur totalen Inversion der binären Geschlechtermatrix führen, und so nicht nur die Dekonstruktion der Konstitution sowohl männlicher als auch weiblicher Geschlechterrollen sondern auch die Dekonstruktion der Geschlechterdifferenz zur Folge haben. […] Die Figur der Schauspielerin stellt in ihrem übertriebenen Rollenspiel, in dieser Übererfüllung der Rolle eine subversive Drohung für die patriarchale Ordnung dar. Sie versteht es, die altbewährten Projektionen weiblicher und männlicher Geschlechterrollen auf der Bühne zu aktualisieren, die dort aber der Lächerlichkeit preiszugeben und in diesem dekonstruktiven Potential der be- bzw. verlachbaren Komödie zerbröckeln zu lassen.38
Die Beobachtungen sind im Einzelnen durchaus anschlussfähig, etwa mit Blick auf die vorangehend bereits angesprochene Überzeichnung von Geschlechterklischees in der Figurentypisierung. Der von Delianidou hervorgehobene Charakter des (Rollen-)Spiels lässt sich neben der zyklischen Anordnung der Szenen in der Tat als prägendes Strukturprinzip des Textes verstehen. So setzt sich etwa das »Süsse Mädel« in der oben zitierten Sequenz mit dem »Gatten« durch ihren Ausspruch »In dem Wein muß was drin gewesen sein.« (R, S. 360) als verführte Unschuld in Szene – und grenzt sich dadurch zugleich von der sexuell freizügigen Dirne ab. Dass dies ein Spiel mit Rollen ist – die Figur des ›süßen Mädels‹ ist gerade durch den Status der Uneindeutigkeit, durch die Position zwischen naiver Geliebten und professioneller (Gelegenheits-)Liebhaberin charakterisiert –, wird im genannten Dialog sehr deutlich: Die Entgegnung des Gatten, »Warum schiebst du denn alles auf den Wein?« (R, S. 360), verweist 36 Delianidou 2003, S. 231. 37 Delianidou 2003, S. 227. 38 Delianidou 2003, S. 231.
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darauf, dass die Rolleninszenierung auch auf der Figurenebene wahrnehmbar wird. Problematisch an Delianidous Deutungsansätzen ist nun jedoch zum einen die implizit vorgenommene Gleichsetzung von Objekt- und Metaebene, zum anderen die intentionalistische Deutungstendenz. Delianidou setzt aus dekonstruktivistischer Sicht konsistenterweise den Modus der Subversion bzw. Dekonstruktion als programmatisch an (bzw. als Programm, auf das ›gute‹ Literatur letztlich verpflichtet zu sein hat): Im Reigen sind eine Vielzahl dekonstruktiver Mittel, die der Subversion der tradierten Geschlechterverhältnisse dienen, eingesetzt, die zeigen, daß das traditionelle Bild der Frau eine Projektion und Täuschung ist, ja selbst die Geschlechterrolle des Mannes wird streckenweise parodiert.39
Neben dem zu beobachtenden Intentionalismus – aus wessen Sicht »dienen« die »Mittel« einem ›subversiven‹ Zweck? – erweisen sich Delianidous Hypothesen als äußerst monoperspektivisch: Wieso ist die Parodie der (traditionellen) männlichen Geschlechterrolle durch den Zusatz »ja selbst« als unerwartet hervorzuheben? Der Grund ist meines Erachtens ein axiomatischer : Das Subversionsparadigma, dem die (oft auch implizit bleibende) Funktionshypothese von Literatur als einem Mittel der ›Subversion‹ bestehender Normen, Strukturen und Ordnungen zugrunde liegt, ist eng mit der nicht unproblematischen Repressionshypothese älterer ›feministischer‹ Forschungsansätze verknüpft, auf die im Weiteren noch näher einzugehen ist. ›Subversion der tradierten Ordnung‹ bedeutet vor dieser Folie stets ›Subversion der patriarchalen Ordnung‹. Es scheint plausibel anzunehmen, dass dekonstruktive Tendenzen daher in entsprechend ausgerichteten Untersuchungen häufiger mit Blick auf Konzeptionen von ›Weiblichkeit‹ konstatiert werden als mit Blick auf die implizit als hegemonial definierte ›Männlichkeit‹. Durch die implizite Kategorisierung der Dekonstruktion von ›Weiblichkeit‹ als dem unmarkierten Standardfall des Subversionsparadigmas werden jedoch potentiell Artefakte der Analyse erzeugt.40 39 Delianidou 2003, S. 227. 40 Nicht zuletzt wird ›Subversion‹ gerade in Untersuchungen zu weiblichen Autoren häufig zu einem Bewertungskriterium, das über ›Güte‹ und ›Richtigkeit‹ von Texten entscheidet. Eine (mittelbare) Zielsetzung vieler entsprechender Beiträge ist dabei auch die Reflexion und Revision des tradierten literaturwissenschaftlichen (Kern-)Kanons, in dem in der Tat Texte weiblicher Autoren unterrepräsentiert sind. Eine Vielzahl von Autorinnen, nämlich gerade die populären und auf dem literarischen Markt erfolgreichen, die z. B. wesentlich am Erfolg des Massenmediums Familienzeitschrift im 19. Jahrhundert beteiligt waren, fallen bei diesem intentionalistisch-gesellschaftspolitisch verkürzten Literaturbegriff jedoch aus dem dekonstruktivistischen Suchraster ; vgl. dazu grundlegend den Beitrag »Die Mädchenfrage. Zum historischen Bezugsproblem von Gabriele Reuters Aus guter Familie« von Katja Mellmann (2008).
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Kommen wir noch einmal zurück auf Schnitzlers Stück, das vorangehend als exemplarischer Beitrag zur literarischen Anthropologie innerhalb der Wiener Moderne skizziert wurde: Wie oben ausgeführt, weisen die Figuren zugleich Typisierungen wie auch Individualisierungs- und Authentizitätsmerkmale auf, die über die Figurenrede konstituiert werden. Das Personal des Reigen ist damit durchaus im Sinne der naturalistischen Poetologie entworfen, für die etwa Wilhelm Bölsche in seiner Schrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (1887) eine psychologisch motivierte Figurencharakteristik fordert, die das Allgemeine im Besonderen darstellen soll: Einen Menschen bauen, der naturgeschichtlich echt ausschaut und doch sich so zum Typischen, zum Allgemeinen, zum Idealen erhebt, dass er im Stande ist, uns zu interessiren aus mehr als einem Gesichtspuncte, – das ist zugleich das Höchste und das Schwerste, was der Genius schaffen kann.41
Die Traditionslinie von Naturalismus und Wiener Moderne bzw. Fin de siÀcle ist in dieser Hinsicht deutlich:42 Die psychologisch stimmige Figurencharakteristik wird sowohl innerhalb des Naturalismus als auch innerhalb der Strömungen der ›klassischen Moderne‹ als Grundvoraussetzung relevanter literarischer Entwürfe von ›Realität‹ gewertet. Allerdings verlagert die Literatur der Wiener Moderne den Blick programmatisch ins Innere43 des Subjekts, was sich beispielsweise in einem hohen Maß an Innovation im Bereich narrativer Gattungen niederschlägt.44 Der Fokus bei der Figurenkonzeption und der in den Texten entworfenen Handlungsstruktur liegt dabei im Vergleich zur naturalistischen Poetologie wie auch literarischen Praxis stärker auf den psychologischen statt den sozialen (und biologischen) Aspekten.45 41 Bölsche 1976 [1887], S. 11. Auf Wilhelm Bölsches Ausführungen zu einer »naturwissenschaftlich« fundierten Figurencharakteristik wird in den Kapiteln 3.1.1 sowie 3.2.4 näher einzugehen sein. 42 Wenngleich die Wiener Moderne bzw. die Strömung des ›Jungen Wien‹ sich dezidiert in Abgrenzung zur naturalistischen Bewegung konstituiert, hat sie ihre Wurzeln dennoch im (Berliner) Naturalismus – die zentrale Vermittlerfigur dabei ist Hermann Bahr, auf den im Weiteren noch einzugehen ist. Siehe dazu grundlegend die Überblicksdarstellung zur Wiener Moderne von Dagmar Lorenz (2007) sowie den Band von Peter Sprengel und Gregor Streim zur Berliner und Wiener Moderne. Vermittlungen und Abgrenzungen in Literatur, Theater, Publizistik (1998). 43 Alice Bolterauer spricht diesbezüglich pointiert von der »impressionistisch-symbolistisch motivierten ›Wende nach Innen‹« (Bolterauer 2007, S. 189), die sich ausdrucksseitig im (psychologisch basierten) Begriff der ›Seele‹ manifestiert (vgl. ebd., S. 188 f.). 44 Konkret etwa in der Etablierung narrativer Darstellungsstrategien wie der des inneren Monologs. Auch die Lyrik als »subjektive« Gattung bzw. »das Lyrische« als ein die Gattungsgrenzen überschreitender Modus stehen im Fokus der Wiener Moderne; vgl. Bolterauer 2007, S. 188 f. 45 D.h., die Handlungen der Figuren werden in der Regel als psychologisch motiviert vorgeführt (so etwa in Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl [1900] oder Hugo von Hofmannsthals
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Richten wir jedoch die Perspektive entsprechend der Ausgangsbasis der Untersuchung wieder auf den Naturalismus aus, so lässt sich festhalten: Konstitutiv für die naturalistische Anthropologie ist gerade der Fokus auf die gesellschaftlichen und biologisch-›natürlichen‹ Bedingungsgefüge des Menschen. Anders als es die bisherige Forschung jedoch gemeinhin postuliert, setzt der Naturalismus dabei nicht einfach die zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Positionen und gesellschaftlichen Debatten zu Themen wie Vererbung, Willensfreiheit und biologisch wie milieubedingter Determiniertheit des Menschen literarisch um – sondern liefert einen eigenständigen Beitrag zum anthropologischen Diskurs. Insgesamt versteht sich die vorliegende Arbeit in diesem Sinne als literaturwissenschaftlicher Beitrag zur Erforschung der historischen Semantik von ›Geschlecht‹ und der literarischen Diskursgeschichte von ›Geschlechterkrisen‹ – sowie zugleich als Beitrag zu einer Literaturgeschichte der literarischen Anthropologie.46 Der Untersuchung liegen dabei zwei spezifische Perspektivensetzungen zugrunde. Mit Blick auf die bisherige Forschung zur Geschlechterkrise innerhalb der literarischen Moderne betriff die erste Justierung der Ausgangsperspektive die Fokussierung auf den Naturalismus. Dieser wird als eine in ihrer generellen literaturgeschichtlichen Relevanz mithin unterschätzte Strömung zu beleuchten sein, in der zentrale gesellschaftliche Konzepte wie Geschlechterrollen, Ehe und Familie innerhalb stark interdiskursiv ausgerichteter literarischer und programmatisch-essayistischer Entwürfe konträr verhandelt und in ihrem Umbruchcharakter greifbar gemacht werden. Die zentrale Ausgangsthese ist dabei, dass die gesellschaftliche wie semantische Umbruchsituation im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, deren initiale literarische Diskursivierung innerhalb des Naturalismus zu beobachten ist, sich erst differenziert in den Blick nehmen lässt, wenn man den massiven – und für die Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft in seinen Auswirkungen nicht zu überschätzenden – Wandel der Geschlechterverhältnisse entsprechend einbezieht. Dies geschieht in der gegenwärtigen Forschung zum Naturalismus noch nicht in ausreichendem Maße, wie auch die oben angesprochene wichtige Studie Geschlechterprogramme von Urte Helduser zur Relevanz der Kategorie ›Geschlecht‹ innerhalb des poetologischen Diskurses um 1900 deutlich macht. Die zweite Perspektivierung, die die Arbeit innerhalb des Kontextes der naturalistischen Diskursivierung der Geschlechterkrise vornimmt, ist die Das Märchen der 672. Nacht [1895]). Siehe dazu exemplarisch Hermann Bahrs Essay Die neue Psychologie (1980) sowie den Band von Anz / Pfohlmann (Hg.) 2006 zur Psychoanalyse in der literarischen Moderne. 46 Zum Zusammenhang der Forschungsparadigmen ›Historische Semantik‹ und ›Anthropologie‹ vgl. aus sprachwissenschaftlicher Sicht den bereits etwas älteren, jedoch instruktiven Beitrag »Linguistische Anthropologie. Skizze eines Gegenstandsbereiches linguistischer Mentalitätsgeschichte« von Fritz Hermanns (1994).
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Geschlechtersemantik 1800/1900
Schwerpunktsetzung auf die naturalistischen bzw. naturalismusnahen Dramen der in der jüngeren Forschung wiederentdeckten47 Autorin Elsa Bernstein. Bernsteins Texte legen einerseits den Fokus auf die Auseinandersetzung mit der ästhetischen Moderne, insofern in ihnen zum Teil explizit auf Figuren- und Handlungsebene48, sowie implizit poetologische Fragen verhandelt werden. Neben dieser in den Texten starken poetologischen Perspektive ist – wie die sozialkritische Grundtendenz der Diskursformation ›Naturalismus‹ erwarten lässt – die intensive Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Moderne für die im Kapitel 3 analysierten Dramen konstitutiv, wobei die zentral gesetzten Diskursbereiche diejenigen sind, die die (Meta-)Kategorie ›Geschlecht‹ in ihren gesellschaftlich-kulturellen, psychologisch sowie physiologisch-anthropologischen Dimensionen verhandeln. Die detaillierte Analyse von Bernsteins im Kapitel 3 der Arbeit behandelten Dramen liefert dabei ein ›Brennglas‹, um die spezifische Wirkungsästhetik naturalistischer Dramatik näher in den Blick zu nehmen, die sich entgegen der noch immer bestehenden Forschungsmeinung49 gerade nicht auf eine Illustrationsfunktion des positivistisch-naturwissenschaftlichen Weltbildes reduzieren lässt. Der Naturalismus wird in der vorliegenden Untersuchung insgesamt als ›Scharnierepoche‹ der literarischen Moderne in den Blick genommen. Als Phase der umfassenden Diskursivierung und performativen Proklamation des gesellschaftlichen und (literar-)ästhetischen Wandels wird er im Folgenden als eine Art Verhandlungsraum der naturwissenschaftlich bzw. konkret ›darwinistisch herausgeforderten‹ idealistischen Leitkonzepte wie ›Bildung‹, ›Perfektibilität‹ sowie – mit diesen zusammenhängend – geschlechtlicher Komplementarität aufgefasst. Auf den hier konstatierten Zusammenhang der komplementären Geschlechtersemantik mit dem Perfektibilitätskonzept und einem teleologischen Bildungsbegriff wird im ersten Hauptteil der Arbeit ausführlich einzugehen sein. In dessen Zentrum steht eine für literaturwissenschaftliche 47 Vgl. Kraft / Lorenz (Hg.) 2007 sowie Igl 2010. 48 Siehe die Analyse zu Wir Drei, Kapitel 3.2.3. 49 So skizziert etwa Walter Fähnders die naturalistische Dramenästhetik zusammenfassend als eine Art Illustrationsprogramm »positivistische[r] Lehren und Erkenntnisse«: »Seinem wissenschaftlichen Anspruch folgend führt das naturalistische Theater positivistische Lehren und Erkenntnisse vor – Taines Trias der den Menschen determinierenden Faktoren race, milieu und moment/temps werden von Anbeginn an auf der Bühne zu realisieren versucht […]. In Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) ist es ein vom Alkoholismus und seiner (als gesicherte Erkenntnis ausgegebenen) Vererbung determiniertes Milieu, das den Protagonisten ihre Verhaltensweisen vorgibt und keine Chance eines selbstbestimmten Handelns gegen diese Gesetze gestattet.« (Fähnders 2010, S. 47) Anknüpfend an Barbara Beßlichs luzide Analyse in ihrem Beitrag »Anamnesen des Determinismus, Diagnosen der Schuld« (2008) wird in Kapitel 3.2.4 deutlich zu machen sein, dass diese Deutung des Dramas der empirischen Prüfung nicht standhält – und ebenso wenig die generelle Einschätzung, dass die naturalistische Dramatik die Taine’sche Determinationstrias illustriere.
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Fragestellungen relevante funktionsgeschichtliche Analyse der Komplementärsemantik, die mit Blick auf deren Konsolidierungsphase um 1800 die umfassende Umbruchphase des Geschlechtermodells um 1900 systematisch zugänglicher machen soll. Die Frauen- und Geschlechtergeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts ist in der geschichts-, literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung gut dokumentiert und von verschiedenen Zugriffsperspektiven aus auf der Basis umfänglicher Quellenauswertungen differenziert analysiert. Was sich jedoch mit Blick auf den Gegenstandsbereich der Literatur und für die vorliegende Arbeit konkret mit Blick auf den literarischen und programmatischen Diskurs des Naturalismus zeigt, ist ein theoretisches Desiderat, das von der schwerpunktmäßig sozialgeschichtlich sowie gender-theoretisch ausgerichteten Forschung bislang nicht im wünschenswerten Maße eingelöst ist. Sowohl die Sozialgeschichte wie die Genderforschung haben wichtiges Grundlagenwissen geschaffen, ohne das eine Arbeit, die sich in irgendeiner Form mit der historischen Kategorie ›Geschlecht‹ befasst, nicht auskommen kann. Dennoch erfordert die Analyse literarischer Texte, wie im nachfolgenden Kapitel zur methodischtheoretischen Verortung der vorliegenden Arbeit deutlich zu machen ist, einen stärkeren Einbezug der Funktionszusammenhänge, in denen historische Semantik wie die des komplementären Geschlechtermodells steht. Anders als die zum Intentionalismus und einem eindimensionalen Literaturbegriff tendierenden Analysezugriffe, die auf dem ›Subversionsparadigma‹ basieren, zielt ein funktionsanalytischer Zugriff nicht darauf ab, Texte auf eine ›konservative‹, ›regressive‹ oder ›progressive‹ Darstellungen von Geschlechterverhältnissen oder weiblichen bzw. männlichen Rollen hin abzuklopfen.50 Stattdessen rücken die komplexen Formen der Diskursivierung von ›Geschlecht‹ in Bezug auf historische Problemreferenzen in den Fokus. Eine solche funktionalistische Perspektive auf die Diskursivierung und den Wandel der komplementären Geschlechtersemantik, welche die Geschlechtergeschichte und damit mittelbar auch die Literaturgeschichte seit dem 18. Jahrhundert und letztlich bis in die Gegenwart hinein prägt, will die vorliegende Untersuchung im ersten Teil der Darstellung entfalten.
50 Entsprechend als vermeintlich ›in der patriarchalischen Ordnung verhaftet‹ klassifizierte Figuren- und Geschlechterkonstellationen in literarischen Texten werden im konsequentesten Fall im Sinne des angenommenen Abbildungsverhältnisses von Literatur und außerliterarischer Wirklichkeit als ›Ausdruck ihrer Zeit‹ gewertet – womit letztlich gar nichts erklärt ist und die aus Sicht der vorliegenden Arbeit zentralen Fragen nach der Funktion spezifischer semantischer Konstellationen überdeckt sind.
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Geschlechtersemantik 1800/1900
1.1.3 Zusammenfassung: Gegenstand und Aufbau der Untersuchung Die vorliegende Arbeit leistet eine funktionsgeschichtliche Untersuchung zur komplementären Geschlechtersemantik und der Diskursivierung der Geschlechterkrise innerhalb des Naturalismus. Ausgangsbasis ist dabei (1.) die Beobachtung, dass in der Forschung zum kultur- und diskursgeschichtlichen Zusammenhang von Literatur und Geschlechterkonzepten ein deutlicher Fokus auf dem Fin de siÀcle und der Wiener Moderne liegt, während die Relevanz des Wandels von Geschlechtersemantik für die Strömung des Naturalismus noch zu großen Teilen unbeleuchtet ist. Dass es sich hierbei um eine dezidierte Forschungslücke handelt, wird (2.) durch die Beobachtung gestützt, dass die in der Literatur des Naturalismus zentral verhandelten Problemkonstellationen in engem Zusammenhang mit geschlechtersemantischem Wandel stehen. Die bisherige Vernachlässigung dieses Aspekts innerhalb der Naturalismusforschung lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass dieser Zusammenhang auf der Ausdrucksseite der Texte nur partiell zugänglich ist. Geschlechterkonflikte51 gehören durchaus zu den zentralen Themen naturalistischer Texte, die im Einzelnen die Figurenkonstellation und Handlung entscheidend konstituieren.52 Dass es jedoch über den Bezug auf sozialgeschichtliche und politische Aspekte wie die Frauenfrage und -bewegung hinaus eine die Kategorie ›Geschlecht‹ betreffende konzeptuell-semantische Referenzebene der Texte gibt, wird erst im Zuge einer entsprechend perspektivierenden Analyse greifbar. Zentral für die vorliegende Untersuchung ist in dieser Hinsicht die Auffassung, dass es sich bei ›Geschlechterkonzepten‹ um eine für gesellschaftliche Selbst- und Fremdreferenz zentrale Größe handelt, die methodisch über den Begriff der ›Historischen Semantik‹53 zu erfassen ist. Verstanden werden darunter also kognitiv-sprachlich basierte Konzepte, die einem kontinuierlichen historisch-kulturellen Wandel unterworfen sind, dabei jedoch aufgrund ihrer grundlegenden sozialen wie subjektbezogenen Identifikations-, Orientierungsund Normierungsfunktion ein hohes Maß an diskursiver Stabilität aufweisen. Besonders seit der im 18. Jahrhundert beginnenden, umfassenden Naturalisierung gesellschaftlicher Basiskategorien wie ›Recht/Gesetz‹, ›(Natur-)Geschich-
51 Vgl. historische Schlagworte wie ›Frauenfrage‹, ›Frauenbewegung‹ und ›Blaustrumpf‹ sowie die Andeutung feministisch-emanzipatorischer Lektüre, die in naturalistischen Dramen hochfrequent sind. 52 Siehe exemplarisch Gerhart Hauptmanns Dramen-Trias Vor Sonnenaufgang. Soziales Drama (1889), Das Friedensfest. Eine Familienkatastrophe (1890) und Einsame Menschen. Drama (1891) sowie die für den deutschen Naturalismus prägenden Dramen Henrik Ibsens, auf die in Kapitel 3.1.2 näher einzugehen ist. 53 Siehe dazu im Folgenden die Ausführungen in Kapitel 1.2.2.
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te‹,54 ›Liebe‹, ›Familie‹ und – gewissermaßen als kategoriales antecedens – ›Geschlecht‹ werden diese Konzepte häufig als überzeitlich gültig und ›unhintergehbar‹ postuliert und gegen zeitgenössische Historisierungs- und Relativierungsversuche abgesichert. Es sind diese komplexen diskursiven Stabilisierungen und Destabilisierungen der (komplementären) Geschlechtersemantik, die im Folgenden zu untersuchen sind – Fokus und Ankerpunkt ist dabei stets die Frage nach der spezifischen Funktion des Diskursbereichs Literatur. Dass die binär codierte Kategorie ›Geschlecht‹ und der Diskursbereich bzw. – in anderer Perspektivierung – das System Literatur in einer relevanten Relation zueinander zu sehen sind, macht neben Urte Heldusers auf die Zeit um 1900 fokussierender Studie Geschlechterprogramme auch Manuela Günters Studie Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert (2008) deutlich.55 Unter Rekurs auf Armin Nassehis luziden systemtheoretischen Beitrag zur Ontologisierung des Körpers und der Naturalisierung von Geschlechterdifferenz56 verweist Günter zum einen auf die kognitiv-soziale Stabilisierungsfunktion eines dergestalt semantisch ›abgesicherten‹ Geschlechterkonzepts;57 zum anderen hebt sie hervor, dass »die Erfindung der weiblichen Körpernatur einen wichtigen Ausgangspunkt für die Ausdifferenzierung auch des Kunst- bzw. Literatursystems«58 bildet: Die Geschlechterdifferenz kann sich im funktionalen System Literatur behaupten, indem sie Wahrnehmung und Kommunikation im sichtbaren Körper strukturell verbindet und damit jene Leistung stabilisiert, die dem Kunstsystem vorrangig zugeschrieben wird. In diesem Kontext universalisiert sie sich zu einer komplexen Semantik, über die das soziale Geschlecht zum »kulturellen Formgeber« schlechthin mutiert: Natur/Kultur, Geist/Materie, Rationalität/Emotionalität bilden die Gegensätze, die dem asymmetrischen Geschlechterverhältnis Plausibilität verleihen.59
Die vorliegende Untersuchung widmet sich nun der Frage, wie diese über Binäroppositionen strukturierte komplexe Semantik von ›Geschlecht‹ sich um 1800 konstituiert, im Laufe des 19. Jahrhunderts stabilisiert und im Zuge soziostrukturellen und semantischen Wandels problematisiert wird – und in welchem wechselseitigen Zusammenhang Geschlechtersemantik und ›Literatur‹ dabei stehen.
54 Vgl. grundlegend Riedel 1996. 55 Im pointiert betitelten Kapitel »Das Weibliche ist keine Frau …« (Günter 2008, S. 43 – 50) führt die Autorin dabei sehr konzise vor, wie sich Systemtheorie und gender-orientierte Forschung literaturwissenschaftlich fruchtbar zusammenbringen lassen. 56 Vgl. Nassehi 2003. 57 Vgl. Günter 2008, S. 44 f. 58 Günter 2008, S. 45. 59 Günter 2008, S. 45 f.
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Geschlechtersemantik 1800/1900
Die Studie gliedert sich, wie bereits knapp umrissen wurde, in zwei Hauptteile. Ausgehend von dem in der Forschung zwar bis in die Gegenwart als Grundlagenstudie anzitierten, in seinem Analysepotential jedoch nicht ausgeschöpften Beitrag »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹« (1976) von Karin Hausen60 wird im ersten Hauptteil der Arbeit in Kapitel 2.1 zunächst detailliert auf die Herausbildung der komplementären Geschlechtersemantik um 1800 einzugehen sein. Kapitel 2.2 skizziert im Anschluss die semantischen Kontinuitätslinien und die spezifischen Verschiebungen, die das Komplementärmodell im Lauf des 19. Jahrhunderts erfährt. Dabei wird deutlich werden, dass sich die Komplementärsemantik Ende des 19. Jahrhunderts zwar in einer Krise befindet, als Orientierungsschema jedoch weiterhin äußerst relevant bleibt. Im Rahmen der Detailanalysen zur naturalistischen Diskursivierung der Geschlechterkrise wird zu zeigen sein, dass die intensive Auseinandersetzung des Naturalismus mit den erkenntnistheoretisch-philosophischen Konzepten des ›Idealismus‹ wesentlich mit dieser Relevanz des komplementären Geschlechtermodells zusammenhängt, insofern dieses die basalen Ordnungsmuster der (bürgerlichen) Gesellschaft stiftet. In den beiden Kapiteln 2.1 und 2.2 des ersten Hauptteils wird anhand einer intensiven Auseinandersetzung mit sozial- und geschlechtergeschichtlicher Forschung sowie anhand detaillierter Quellenanalysen herausgearbeitet, wie stark die sich um 1800 etablierende Komplementärsemantik der Geschlechter mit humanistisch-idealistischen Konzepten verzahnt ist. Zentral für die in Kapitel 2 der Arbeit zu leistende kultur- und literarhistorische Kontextualisierung der komplementären Geschlechtersemantik ist dabei die auf der Objektebene relevante begrifflich-konzeptuelle Gegenüberstellung von ›Kultur‹ und ›Natur‹. Michael Titzmann unterstreicht zu Recht die Relevanz dieser semantischen Opposition als anhaltende poetologische Bezugsgröße der Literatur vom Sturm und Drang bis zum Realismus61. Mit Blick auf die (literarische) Diskursivierung von Geschlechtersemantik erweist sich die Opposition 60 Auf Hausens eigenes Resümee zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Aufsatzes wird in Kapitel 2.1.2 kurz einzugehen sein. 61 Vgl. Titzmann 2002, S. 441. Für die Romantik hat etwa Hartmut Böhme in seinem Aufsatz »Romantische Adoleszenzkrisen« (1981) den programmatischen Kontrast von ›Natur‹ und ›Kultur‹ und dessen raumsemantische Bedeutung grundlegend herausgestellt. Infolge der psychoanalytischen Axiomatik der Untersuchung ergeben sich dabei jedoch insgesamt trotz der semiotisch anschlussfähigen Modellierung problematische ›psychologisierende‹ Textbzw. eigentlich Autorendeutungen (etwa wenn den Romantikern »eine schwere narzißtische Kränkung« aufgrund enttäuschter Revolutionshoffnungen attestiert wird; ebd., S. 162). Dem gegenüber liefert Titzmann in seinem Beitrag zu Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe (1856) eine struktural-semiotisch fundierte Modellierung dieser Basisopposition (vgl. Titzmann 2002, z. B. Schema 5, S. 461), bei der sich unter anderem mit Blick auf die in der Erzählung verhandelten Liebeskonzeptionen deutliche Anschlussmöglichkeiten für geschlechtersemantische Fragestellungen ergeben.
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›Kultur‹ versus ›Natur‹ als geradezu basal, wie im ersten Hauptteil der vorliegenden Arbeit deutlich zu machen ist.62 Insgesamt motiviert sich dieser erste, stärker kulturwissenschaftlich ausgerichtete Teil der Studie aus der Ausgangsbeobachtung, dass die Komplementärsemantik zwar in Untersuchungen zur Literatur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts immer wieder in den Blick gerät, jedoch zumeist nicht in entsprechender Weise als historische Semantik in ihren spezifischen Funktionszusammenhängen gesehen wird. Der zweite Hauptteil (Kapitel 3) geht in ausführlichen Analysen programmatisch-poetologischer Schriften und naturalistischer Dramatik sowie deren literatur- und kulturgeschichtlicher Kontextualisierung der Frage nach, wie die Krise des komplementären Geschlechtermodells und der mit diesem zusammenhängenden Konzepte innerhalb des Naturalismus verhandelt wird. Dabei wird in Kapitel 3.1 unter anderem zu zeigen sein, welche semantischen Aktualisierungsmöglichkeiten des Perfektibilitätskonzeptes und des mit diesem verzahnten geschlechtlichen Ergänzungsmodells sich vor allem im Umfeld des für den Naturalismus zentralen Darwinismus- und Monismusdiskurses ergeben. Den Kern der Textanalysen in Kapitel 3.2 bilden dabei die naturalistischen bzw. naturalismusnahen Dramen Elsa Bernsteins. Deren spezifische Perspektivierung der diagnostischen Wirkungsästhetik63 naturalistischer Dramatik lässt sich dabei, wie oben bereits knapp ausgeführt, als ›Brennglas‹ heranziehen, mit dessen Hilfe wichtige, bislang in der Forschung zu wenig beachtete Aspekte der heterogenen Strömung des Naturalismus stärker zu konturieren sind. An den bislang in der Naturalismusforschung nur punktuell berücksichtigten Texten von Bernstein lässt sich zeigen, dass die Problemkonstellation um die (gesellschaftliche wie individuelle) Verlässlichkeit der tradierten Geschlechterkonzepte bzw. den Wandel derselben entscheidend mit dem darwinistischmonistischen Diskurs enggeführt wird. Wie die exemplarischen Analysen deutlich machen, verhandeln die Texte die fraglichen Konzepte von ›Geschlecht‹ bzw. vor allem von ›Weiblichkeit‹ im Kontext einer darwinistischen64 Aktualisierung des aufklärerischen Perfektibilitätskonzepts.65 Im ersten Hauptteil der Arbeit wird detailliert zu beleuchten sein, dass gerade die im 18. Jahrhundert intensiv geführte Debatte um die ›Perfektibilität‹ und ›Bestimmung des Men62 Für einen Überblick zur basalen Relevanz der Begriffsopposition sowohl auf objekt- wie auch metasprachlicher Ebene siehe exemplarisch die Beiträge von Böhme 1996 zur historischen Semantik des Kulturbegriffs und der ›Natur/Kultur‹-Abgrenzung sowie Wanning 2006 zum Naturbegriff in der Literatur und Literaturwissenschaft. 63 Vgl. Beßlich 2008. 64 Zur breiten und heterogenen Rezeption von Darwins Werken siehe grundlegend auch den auf Wissen(schaft)spopularisierung fokussierenden Beitrag von Engels 2011, die die diskursive Relevanz und zugleich die Deutungsoffenheit ›des Darwinismus‹ hervorhebt. 65 Siehe das Schlagwort der ›weiblichen Bestimmung‹, auf das in Kapitel 2.1.4 näher einzugehen ist.
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Geschlechtersemantik 1800/1900
schen‹ bei der Diskursivierung des komplementären Geschlechtermodells um 1800 eine zentrale Rolle gespielt hat. Die für Bernsteins Dramen konstitutive Engführung des monistisch aktualisierten Konzepts der Geschlechterkomplementarität mit der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit individuellen Handelns und der Möglichkeit der Loslösung aus Determinationsverhältnissen lässt Bernsteins Positionierung innerhalb des Naturalismus bei näherer Betrachtung als weniger randständig erscheinen, als die zeitgenössische Kritik wie auch die ältere Forschung66 postulieren. Die Auseinandersetzung mit der Forschungsdiskussion wird in den einzelnen Abschnitten insgesamt einen wichtigen Stellenwert einnehmen und die empirischen Untersuchungen perspektivisch anleiten. Die komplex – da mehrschichtig – angelegte Konzeption der vorliegenden Arbeit erfordert zunächst eine explizite Entfaltung der Untersuchungsperspektive, die die nachfolgenden Ausführungen zur methodisch-theoretischen Verortung leisten sollen. Entsprechend der Zweiteilung der Arbeit wird darauf folgend mit Blick auf Prozesse semantischen Wandels einerseits eine ›Vogelperspektive‹ eingenommen, andererseits jedoch mit Blick auf die spezifischen historischen Problemreferenzen und interdiskursiven Bezüge der untersuchten literarischen und programmatischen Texte nah an die Untersuchungsgegenstände ›herangezoomt‹. Ziel der methodisch-theoretischen Vorüberlegungen ist es dabei nicht, eine abgrenzbare Theorie zu formulieren, sondern das theoretische Koordinatensystem zu umreißen, innerhalb dessen sich die Untersuchung bewegt. In seiner systemtheoretisch basierten Studie Epochen moderner Literatur (1995) liefert Gerhard Plumpe eine so pointierte Formulierung des Problems der Beschreibung komplexer Theorien – und damit letztlich auch des Problems ihrer Anwendung –, dass es erlaubt sei, sie den nachfolgenden Ausführungen gewissermaßen als Geleitwort voranzustellen: Wer eine Theorie, von der es heißt, sie wäre kompliziert oder komplex, charakterisieren will, stellt nicht den Anspruch, diese Komplexität einfach zu wiederholen. Wollte er das, so müßte er z. B. empfehlen, alle Veröffentlichungen von Luhmann zu lesen. Er will vielmehr eine simplifizierende Beschreibung dieser Theorie anfertigen, die selektiv verfährt, diesen Aspekt hervorhebt, jenen dafür wegläßt, usw. Weil die simplifizierende Beschreibung selektiv verfahren muß, ist sie notwendigerweise kontingent, d. h. sie ist auch anders möglich, anderen Beobachtungen mögen andere Beobachtungen wesentlich sein, zu deren Gunsten sie anderes unberücksichtigt lassen. Deshalb ist es völlig selbstverständlich, daß komplexe Sachverhalte – z. B. Theorien – in der unterschiedlichsten Weise beobachtet und beschrieben werden können. Die Unterscheidung
66 Vgl. exemplarisch die Einordnung Bernsteins unter der Rubrik »Naturalisten minderen Ranges« bei Hoefert (1993, S. 55 bzw. S. 69 – 71).
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»wichtig«/»unwichtig«, mit deren Hilfe die Simplifikation erfolgt, ist ja so formal, daß sie gar keine inhaltliche Option nach sich zieht, sie hat keine Präferenz.67
Der Selektionsmechanismus der Simplifikation lässt sich in der Tat nicht eigentlich vom Objekt – der Theorie – her bestimmen, sondern vom Beobachter bzw. Anwender : Es ist dessen Perspektive, dessen Erkenntnisziel, das die Vorder- und Hintergrundierung von Theorieaspekten bestimmt. Die Unterscheidung ›wichtig/unwichtig‹ ist also nicht absolut, sondern relational; und in diesem Sinne ist das Ergebnis der Perspektivierung kontingent, wie Plumpe anmerkt, sie selbst aber – und diesen Punkt gilt es aus meiner Sicht stark zu machen – ist zugleich motiviert. Die Funktion des nachfolgenden Kapitels ist es daher vor allem, die der Arbeit zugrundeliegende Perspektivierung transparent, d. h. intersubjektiv zugänglich zu machen, und sie als vom Untersuchungsgegenstand her motiviert zu verdeutlichen.
1.2
Methodisch-theoretische Vorüberlegungen und Explikation der Untersuchungsperspektive
Im ersten Band seiner Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft bringt Niklas Luhmann das grundsätzliche Komplexitätsproblem historischer Wissenschaften auf den Punkt: Kulturgeschichte ist als Gegenstand wissenschaftlicher Analyse ein außerordentlich komplexes Geschehen. Die Komplexität wächst mit den Ansprüchen, die die wissenschaftliche Analyse an sich selbst stellt. Wie läßt sich unter diesen Umständen erfolgreiche Forschung anstellen? Geht es weiter ohne vorgängige Reflexion des Problems der Komplexität?68
Die methodischen und theoretischen Vorüberlegungen im Rahmen der vorliegenden Studie zur komplementären Geschlechtersemantik und der Diskursivierung ihrer Krise innerhalb des Naturalismus sollen die von Luhmann angesprochene Reflexion dergestalt leisten, dass das hier verwendete Theoriemodell 67 Plumpe 1995, S. 33. 68 Luhmann 1980, Kapitel 5, »Selbstreferenz und binäre Schematisierung«, S. 301. Luhmann bezieht sich hier auf Kulturgeschichte, seine Beobachtung ist aber – gerade vor dem Hintergrund der Neupositionierung der Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft und der damit einhergehenden Erweiterung des disziplinären Gegenstandsbereichs – ohne Schwierigkeit auf den Bereich der Literaturgeschichte übertragbar. Seine Überlegungen zur Komplexitätsproblematik sind insgesamt eingebettet in sein systemtheoretisches Modell, das von einem wechselseitigen Prozess der Steigerung und Reduktion von Komplexität ausgeht; vgl. Luhmann 1980, Kapitel 1, »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition« (S. 9 – 71).
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mit seinen Selektionen und Perspektivierungen expliziert und in seiner Tragfähigkeit und seinen Beschränkungen transparent gemacht wird. In literaturwissenschaftlichen Arbeiten hat man es in Hinsicht auf die Textstruktur mit einer beinahe topischen Problematik zu tun, nämlich mit der Schwierigkeit, Textanalysen, historische Kontextualisierung und theoretischmethodische Perspektivierung dergestalt zu verknüpfen, dass es nicht zu einem Auseinanderfallen in einzelne Textbausteine kommt, die im ärgsten Falle inhaltlich kaum aufeinander bezogen sind.69 Methodenkapitel kommen unter solchen Umständen in Verdacht, als notwendige Pflichtübung der eigentlichen Untersuchung vorangestellt zu werden, diese jedoch letztlich nicht entsprechend methodisch anzuleiten, so dass der Bezug zu den Textanalysen nicht erkennbar wird.70 Die vorliegende Studie widmet sich demgegenüber mit annähernd gleichem Gewicht der Theoriediskussion und der literaturgeschichtlich kontextualisierten Detailanalyse. Die ›Brennglasfunktion‹ von Elsa Bernsteins Dramen hinsichtlich der Untersuchung und diskursiven Verortung der naturalistischen Dramatik wurde in Kapitel 1.1.2 umrissen. Bernsteins naturalistische Dramen lassen sich wiederum erst mit Blick auf die spezifische Beschaffenheit der komplementären Geschlechtersemantik überzeugend in Hinblick auf ihre Positionierung innerhalb der literarischen Moderne untersuchen. Die Auffächerung der Geschlechtersemantik, ihre historische und funktionale Analyse, erfordert dabei zunächst eine differenzierte Auseinandersetzung mit den verschiedenen Theoriekomplexen und Forschungsansätzen, die in Bezug auf die Kategorie ›Geschlecht‹ relevante Beschreibungsmodelle und Analyseangebote bereitstellen. Was im Rahmen dieser methodischen und theoretischen Vorüberlegungen und Abgrenzungen geleistet werden soll, ist daher die Explikation, (1.) in welchem theoretischen Kontext sich die vorliegende Arbeit verortet, (2.) welche methodischen Implikationen dieser Theoriekontext birgt und (3.) in welcher Weise die theoretisch-methodische Ausrichtung im Untersuchungsdesign – d. h. in der konkreten Analyse und Interpretation71 der untersuchten literarischen 69 Ein solches ›Auseinanderfallen‹ eines wissenschaftlichen Textes ist kein rein stilistisches Problem. Stattdessen lassen sich die textuellen Kriterien der Kohärenz und Kohäsion als Grundkriterien von Wissenschaftlichkeit auffassen, insofern als sie eine Voraussetzung für Intersubjektivität und Falsifizierbarkeit darstellen. 70 Zu Grundfragen der Methodologie vgl. etwa Danneberg 1989. 71 Zur Interpretationsproblematik und der Frage nach dem Objektivitätsanspruch bzw. der Beliebigkeit oder Motiviertheit von literaturwissenschaftlichen Textinterpretationen siehe grundlegend den Band von Danneberg / Vollhardt (Hg.) 1992, darin vor allem die Einleitung von Danneberg zur Sektion 1 (»Interpretation und Argumentation: Fragestellungen der Interpretationstheorie«, S. 13 – 23), die Einleitung von Vollhardt zur Sektion 2 (»Auslegung und Deutung literarischer Texte: Prinzipien wissenschaftlicher Bewertung und Begründung«, S. 117 – 123), sowie die Beiträge von Gerhard Pasternack (»Zur Rationalität der In-
Methodisch-theoretische Vorüberlegungen
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(sowie poetologischen, publizistischen und essayistischen) Texte – umgesetzt wird. Hinausgehend über eine reine Verortung innerhalb eines theoretischen Kontexts wird im Folgenden auch die Verknüpfung verschiedener Theoriemodelle vorgenommen, mit dem Ziel, die unterschiedlichen Perspektivierungen der verschiedenen Ansätze fruchtbar miteinander in Bezug zu setzen und so der Komplexität der Untersuchungsgegenstände gerecht zu werden, ohne dabei die jeweils eigene Axiomatik und Perspektivierung sowie den Abstraktionsgrad (Mikro- vs. Makroebene) der Theoriemodelle zu nivellieren. In diesem Kapitel geht es damit um den Entwurf einer an bestehende Modelle und Ansätze anknüpfenden, diese im Einzelnen perspektivisch modifizierenden und weiterführenden Theoriekonzeption. Die Theoriefelder, die dabei produktiv miteinander in Beziehung gesetzt werden sollen, sind im Kern die Systemtheorie Luhmann’scher Prägung,72 Historische Semantik, Begriffs- bzw. Diskursgeschichte und Sozialgeschichte, sowie – in stärkerer Modifikation – Ansätze aus dem Bereich der Frauen- bzw. Genderforschung.73 Den Nukleus des vorliegenden Theoriekonzepts bildet eine funktionalistische Axiomatik: ›Literatur‹ wird verstanden als komplexes, zeichen- bzw. kommuterpretation«, S. 149 – 168) und Karl Eibl (»Sind Interpretationen falsifizierbar?«, S. 169 – 183). 72 Zur Rezeption der Luhmann’schen Systemtheorie innerhalb der Literaturwissenschaft vgl. den Beitrag von Berg 2000, sowie die Studie von Sill 2001 zu Literatur in der funktional differenzierten Gesellschaft. Zur Reflexion der konstruktivistischen Axiomatik und ihrer methodologischen Implikationen vgl. die Untersuchung von Moser 2001. 73 Die theoretische Ausgangsposition der Studie ist damit natürlich nur unzureichend umrissen. Eine transparente Verortung innerhalb der bestehenden Theorielandschaft und eine detaillierte Darlegung der spezifisch modifizierten eigenen Theoriekonzeption wird in den folgenden Abschnitten der Arbeit zu leisten sein. Zu zwei in sich heterogenen, dennoch im weiten Sinne als Theoriefelder einzugrenzenden Bereichen soll hier eine knappe Positionierung vorgenommen werden: Zu diskursanalytischen und dekonstruktivistischen Ansätzen. Diskursanalytische Ansätze im Sinne eines sprachwissenschaftlich ausgerichteten Diskursbegriffs lassen sich an die vorliegende Theoriekonzeption durchaus anschließen. Der Diskursanalyse im engeren, i. e. Foucault’schen Sinne ist prinzipiell jedoch eine andere Perspektivierung der Untersuchungsgegenstände zu eigen, als es hier der Fall sein wird; vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 1.2.5 zur hier vorliegenden Verwendung des Diskursbegriffes. Ein konkretes Beispiel für eine inhaltlich anschlussfähige und für die vorliegende Arbeit fruchtbar zu machende diskursanalytische Arbeit stellt Romana Weiershausens Studie Wissenschaft und Weiblichkeit (2004) dar, auf die im Weiteren noch zurückzukommen ist. Dekonstruktivistische Überlegungen erscheinen mir (nur) insoweit anschlussfähig, als es in der vorliegenden Untersuchung auch darum geht, coverte Strukturmechanismen herauszuarbeiten und die Grundlagen von Kategorisierungs- und Stereotypisierungsprozessen freizulegen. Diese Reflexion kann eine systemtheoretisch-funktionsgeschichtlich fundierte Theoriekonzeption meines Erachtens überzeugend leisten, ohne dabei im Detail dekonstruktivistische Perspektiven übernehmen zu müssen – was aufgrund der gegensätzlichen Axiomatik ein eher problematisches Unterfangen wäre. Einen interessanten, da ›theoriesensiblen‹ Versuch, den auf konstruktivistischen Prämissen basierenden Luhmann’schen Ansatz in Bezug zu dekonstruktivistischen Ansätzen zu setzen, unternehmen etwa Berg / Prangel (Hg.) 1995.
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nikationsbasiertes Funktionssystem, das zugleich als soziales System (Ebene der sozialen Institutionen und Interaktionen) wie auch als Symbolsystem (Ebene der Diskurse und Strukturmuster) zu beschreiben ist, und als solches Funktionssystem eingebettet ist in komplexe historische Kommunikationszusammenhänge.74
1.2.1 Sozialgeschichtliche Grundlagen und deren systemtheoretische Perspektivierung Im ersten Hauptteil der Arbeit zur Herausbildung der komplementären Geschlechtersemantik um 1800 und ihrer Relevanz in der Umbruchphase um 1900 bilden sozialgeschichtliche Studien einen wesentlichen Ausgangspunkt der Theoriediskussion. Die stark rezipierte und nicht selten kritisierte Untersuchung von Karin Hausen zur Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹ von 1976 fungiert mit ihren in weiten Teilen aus Sicht der vorliegenden Arbeit sehr anschlussfähigen Thesen als heuristisches Kernstück des Kapitels 2.1. Ein Verdienst Hausens ist es, dass sie in ihrem mittlerweile Grundlagenstatus erlangten Aufsatz die sozialgeschichtliche Perspektive der Forschung zum deutschen bzw. europäischen Bürgertum auf die Relevanz der Geschlechtergeschichte75 gelenkt hat – eine Perspektive, die bis in die 1980er Jahre im Kernbereich der Sozialgeschichte wenig präsent war.76 Insgesamt trat die Sozialgeschichte als interdisziplinär ausgerichteter Forschungszusammenschluss in den 1960er Jahren als sehr selbstbewusstes Programm auf den Plan, mit dem dezidierten Ziel, eine neue Theorie- und Methodenära einzuläuten.77 Nach der Hochphase des Pro74 Vgl. dazu etwa den Beitrag von Linke 1998 zum Zusammenhang von Sprache, Gesellschaft und Geschichte, in dem sie das interdisziplinär ausgerichtete Forschungsfeld der Historischen Kommunikationsanalyse skizziert (siehe auch Linke 2008 sowie Tophinke 2001). Stritzke 2005 unterscheidet in ihrem Beitrag zu »Funktionen von Literatur aus Sicht der feministischen und gender-orientierten Literaturwissenschaft« in Anknüpfung an Gisela Loster-Schneider (1999, S. 241) drei Ebenen, »die in ihrem interaktiven Zusammenspiel das soziokulturelle Gesamtsystem [der Literatur] bilden«, i. e. die »Ebene des sozialhistorischen Systems«, die »Ebene der Diskurse« und die »Ebene des literarischen Systems«. Diese triadische Modellierung (im Sinne der Unterscheidung von ›Gesellschaft‹ – ›Diskurs‹ – ›Struktur‹) ist in sich durchaus plausibel, allerdings bleibt die terminologische Differenzierung zwischen der Ebene des literarischen Systems und der des übergeordneten soziokulturellen Gesamtsystem ›Literatur‹ eher vage. 75 Eine fundierte und methodisch reflektierte Einführung in den Gegenstand liefert Claudia Opitz mit ihrem Band Um-Ordnungen der Geschlechter (2005), der sowohl eine ausführliche Sach- wie auch Forschungsgeschichte bietet. 76 Siehe dazu die einleitenden Ausführungen in Kapitel 2.1.1 zur Absenz der Kategorie ›Geschlecht‹ in dem von Werner Conze und Jürgen Kocka herausgegebenen ersten Band zum Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert (1985). 77 Vgl. den differenzierten Rückblick von Ulrich Engelhardt auf den 1957 von Werner Conze
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jekts einer Sozialgeschichte der Literatur ist die Euphorie, man habe die neue Supertheorie zur Beschreibung und Erklärung literarischen Wandels gefunden, relativ schnell abgeklungen. Nichtsdestotrotz haben sozialgeschichtliche Perspektiven und Forschungsergebnisse noch immer Relevanz bzw. sind Teil des literaturwissenschaftlichen Grundlagenwissens geworden. Mit Blick auf die Frauen- und Genderforschung hat die Sozialgeschichte als geschichtswissenschaftliche Forschungsrichtung gerade für die Bereiche der Bildungsgeschichte und der Herausbildung der für das ›Bürgertum‹ konstitutiven Unterscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit bzw. häuslicher und außerhäuslicher (Erwerbs-)Tätigkeit die Basis für das noch immer gültige Handbuchwissen geschaffen. Trotz der unbestrittenen Relevanz und Anschlussfähigkeit sozialgeschichtlicher Forschung hat Sozialgeschichte als Forschungsparadigma an breiter Front Kritik erfahren. Auf einen wesentlichen Kritikpunkt gehen Martin Huber und Gerhard Lauer in ihrer Einleitung zum Band Nach der Sozialgeschichte (2000) ein, dessen Ziel es ist, »eine Bestandsaufnahme des Paradigmas ›Sozialgeschichte der Literatur‹ im gegenwärtigen Betrieb der Literaturwissenschaft anzuregen und zu fragen, welche Möglichkeit einer Neukonzeptualisierung ›nach der Sozialgeschichte‹ besteht«78. Die Kritik am sozialgeschichtlichen Paradigma betrifft die Frage nach der Relation zwischen gesellschaftlichen Strukturen und ›Realitäten‹ auf der einen und kulturellen Phänomenen wie etwa Literatur auf der anderen Seite: Unter den innerdisziplinären Problemen des sozialgeschichtlichen Konzepts wird immer wieder die unvermittelte Gegenüberstellung von Gesellschaft als determinierendem Kontext und dem davon bestimmten Text genannt. Der Eigensinn literarischer Texte, ihre ›Autonomie‹, gelten als nicht genügend berücksichtigt. Und in der Tat dürfte die Ableitung kultureller Phänomene aus Gesellschaftsstrukturen zu einseitig und als Prämisse für die literaturwissenschaftliche Praxis, die ja auf ihre Eigenständigkeit schon aus disziplinpolitischen Gründen Wert legen muß, eine problematische Vorgabe sein.79
Huber und Lauer legen hier einerseits den Einwand gegen die Sozialgeschichte dar, dass diese zu simplifizierend von einer direkten Kausalbeziehung von ›Gesellschaft‹ und ›Kultur‹ ausgehe. Andererseits verweisen sie an dieser Stelle auf einen wichtigen Punkt, der bei der Betrachtung wissenschaftlicher ›Paradigmenwechsel‹ nicht außer Acht gelassen werden darf: Für den Erfolg einer wissenschaftlichen Theorie ist nicht ausschließlich und womöglich nicht einmal zuvorderst die Güte der Theorie verantwortlich, sondern verschiedenste instibegründeten Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte, in dem er die Heterogenität des scheinbar so einheitlichen Paradigmas ›Sozialgeschichte‹ aufzeigt, die sich nicht zuletzt aus der interdisziplinären Ausrichtung ergibt (Engelhardt 2007). 78 Huber / Lauer (Hg.) 2000, Vorbemerkung der Herausgeber, S. IX. 79 Huber / Lauer 2000, S. 1 f.
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tutionelle und disziplinpolitische Interessen und Funktionszusammenhänge. Wenn eine Theorie droht, die disziplinäre Eigenständigkeit in Frage zu stellen, kann das ihr Prestige innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses mitunter stark verringern. Eingedenk dieser spezifischen ›Regeln‹ wissenschaftlicher Theorieentwicklung geht der Band Nach der Sozialgeschichte von der Beobachtung aus, dass Sozialgeschichte als literaturwissenschaftliches Paradigma aus unterschiedlichen Gründen – u. a. aufgrund der genannten Widerspiegelungshypothese – historisch geworden ist, und diskutiert Anknüpfungsmöglichkeiten an sozialgeschichtliche Konzeptionen, die deren Schwächen überzeugend abfedern können. Zwar wertet etwa Ulrike Zeuch die von Huber und Lauer angesprochene Widerspiegelungshypothese ›der‹ Sozialgeschichte als relativ starke Zuspitzung, die den sozialgeschichtlichen Ansatz sehr vereinfache.80 Ohne das gesamte Forschungsprogramm der Sozialgeschichte der Literatur als den untersuchten Gegenständen unangemessen aburteilen zu wollen – dies ist erklärterweise gerade nicht das Ziel des von Huber und Lauer herausgegebenen Bandes81 –, lässt sich aber doch mit Klaus-Dieter Ertler ein wesentliches Argument für die Einschätzung vorbringen, dass die (traditionelle) Sozialgeschichte tendenziell unterkomplex argumentiert. Ertler diskutiert in seinem Beitrag82 im genannten Sammelband die Möglichkeit der Erneuerung von Sozialgeschichte über systemtheoretische Konzepte und macht das Problem der Unterkomplexität sozialgeschichtlicher Modelle an der ihnen zugrunde liegenden Tendenz zu Kausalitätsvorstellungen fest: Das Hauptproblem der Sozialgeschichte lag in ihrer schwer hinterfragbaren Eigenpositionierung, denn sie gebrauchte Parameter, die zwar objektiv scheinende Rezeptionsbedingungen des gesellschaftlichen – und im engeren Sinne literarischen – Zusammenhangs über Stratifikation abhandelte, dabei jedoch den Umbau der Gesellschaft in eine immer stärker auf mediale Kommunikation orientierte Sozietät übersah. Konzeptuelle, auf das Subjekt aufbauende Verfestigungen wie ›Bürgertum‹, ›Arbei-
80 Vgl. Zeuch 2004, S. 13. 81 Der Titel des Bandes Nach der Sozialgeschichte impliziert zwei wesentliche Grundannahmen. Zum einen die, dass das Unternehmen einer Sozialgeschichte der Literatur insofern abgeschlossen und historisch geworden ist, als es wohl kein Paradigma der ›Neuen Sozialgeschichte‹ geben wird (vgl. Huber / Lauer 2000, S. 8). Zum anderen verweist die durch den Titel vorgenommene Selbstverortung aber auch auf bestimmte ›Standards der Sozialgeschichte‹, deren Gültigkeit nicht in Frage gestellt werden soll. Die generelle Leistung des Forschungsprogramms wird also keineswegs bestritten, stattdessen geht es den Beiträgern gerade um einen Anschluss an die relevanten sozialgeschichtlichen Vorgaben im Bereich der Theorie- und Methodenreflexion und deren Anwendung. 82 Siehe Ertler 2000.
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terschicht‹ oder ›Ideologiekritik‹ schränkten sie ein und erzeugten Verdunkelungen, die mit jenen des kritisierten Objekts in jedem Falle gleichgestellt werden konnten.83
Die Grundvoraussetzung dafür, dass Sozialgeschichte der Literatur weiterhin betrieben werden kann, ist für Ertler, dass sie ihre eigene Verortung in einer funktional höchst differenzierten Gesellschaft leistet und ihr Paradigma auf die ›neue Situation‹ abstimmt: Sie [die Sozialgeschichte] muß deshalb auch ihre eigenen Grundannahmen umformulieren lernen und erkennen, daß das Verhältnis zwischen dem Symbolsystem ›Literatur‹ und dem Sozialsystem ›Gesellschaft‹ beziehungsweise zwischen dem gesellschaftlichen System ›Literatur‹ und der ›Gesellschaft‹ eine multiple und vielschichtige Beziehung darstellt und sich hauptsächlich über Ambivalenzen und Paradoxa konstituiert.84
Die von Ertler skizzierte Aktualisierung des sozialwissenschaftlichen Paradigmas auf systemtheoretischer Basis ist vielversprechend – und durchaus nicht mehr unerprobt85 – und kann vor allem an einem Punkt ansetzen, nämlich am Begriff der Funktion: Wenn sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft nicht die Frage nach den Manifestationen gesellschaftlicher Realitäten in literarischen Texten stellt, sondern untersucht, welche Funktionen Literatur für eine Gesellschaft übernimmt, spricht sie den gesellschaftlichen Realitäten nicht die Relevanz ab, sondern verabschiedet sich von problematischen kausalen Schemata und erkennt die Komplexität der Relationen von Gesellschaft und Text an. Auch für Ertler liegt die Möglichkeit einer Erneuerung von Sozialgeschichte in einem Wechsel der Erklärungsrichtung von der Kausalität zur Funktionalität: Eine zeitgemäße Sozialgeschichte der Literatur im engeren Sinne gelangt erst dann zu ihrer vollen Entfaltung, wenn sie sich in selbstreferentiell-kritischer Form mit der Funktion von literarischen Werken als partikular gerahmten Erzählungen einläßt und deren Verbindung zu den anderen narrativen Konstrukten der Gesellschaft wie Ideologien, Geschichte(n) oder Realitätserklärungen diskursiv herzustellen vermag. Es geht darum, die vielschichtige Funktion des Erzählens bei der Beschreibung von Literatur theoretisch zu begründen und deren Relevanz für das genuine System herauszuarbeiten.86
In diesem Sinne gründet die vorliegende Untersuchung wesentlich auf Forschungsleistungen der ›älteren‹ Sozialgeschichte, was etwa in den Abschnitten zur (weiblichen) Bildungsgeschichte deutlich wird,87 und verortet sich in der theoretischen Ausrichtung innerhalb einer Neukonzeptualisierung sozialge83 84 85 86 87
Ertler 2000, S. 195. Ertler 2000, S. 200 f. Vgl. exemplarisch die Studien von Jannidis 1996 und Willems 1995. Ertler 2000, S. 201. Siehe Kapitel 2.1.4 zur ›weiblichen Bestimmung‹ und der Bildung zur ›Weiblichkeit‹.
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schichtlicher Ansätze auf der Basis von Begriffsgeschichte und Historischer Semantik.
1.2.2 Begriffsgeschichte – Historische Semantik Die interdisziplinär ausgerichteten und in sich heterogenen Forschungsfelder der Begriffsgeschichte und der Historischen Semantik sind in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Fachdiskussion durchaus präsent, obwohl sie angesichts des disziplinären Innovationsgebots häufig als tendenziell konservativ und letztlich ›abgeerntet‹ wahrgenommen werden und ihre Forschungsergebnisse in Form der mittlerweile abgeschlossenen »großen Wörterbuchprojekte«88 etwa von Joachim Ritter oder Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck den Status von Grundlagenwissen erlangt haben. Petra Boden liefert in der Vorstellung ihres Forschungsprojekts zur Forschergruppe »Poetik und Hermeneutik« und deren begriffsgeschichtlicher Arbeit eine Übersicht zur aktuellen kontrovers geführten Auseinandersetzung um die Begriffsgeschichte.89 Hier soll es im Folgenden nicht um diese Forschungsdiskussion gehen, sondern um eine knappe Explikation der für die vorliegende Untersuchung relevanten Theoriekonzepte und Gegenstandsmodellierungen, die die Begriffsgeschichte und Historische Semantik in der Folge von Reinhart Koselleck sowie Niklas Luhmann bereitstellen. Luhmann nimmt mit seinem Konzept der historischen Semantik90 einerseits klar Bezug auf den begriffsgeschichtlichen Forschungsansatz, grenzt sich aber andererseits explizit von diesem ab: Anders als bei begriffsgeschichtlichen Untersuchungen wie dem Unternehmen der Geschichtlichen Grundbegriffe (1972 – 1997) von Brunner, Conze und Koselleck geht es für Luhmann bei der systemtheoretischen Modellierung historischer Semantik um die Frage nach der 88 Siehe dazu die Einschätzung von Petra Boden: »Begriffsgeschichte zu betreiben, erscheint derzeit nicht mehr selbstverständlich. Im Gegenteil: Mit dem Abschluss der großen Wörterbuchprojekte ist eine Diskussion in Gang gekommen, die den Erfolg dieser Unternehmungen und mit ihnen die Möglichkeiten künftiger begriffsgeschichtlicher Forschung sehr unterschiedlich und meist kontrovers beurteilt.« (Boden 2010, S. 104) 89 Vgl. Boden 2010, besonders S. 105 f. Ein Überblick zu jüngeren Publikationen zur Begriffsgeschichte findet sich S. 106, Anm. 10. 90 Zum Verhältnis von Gesellschaftsstruktur und Semantik als wechselseitiger Beeinflussung und Koevolution vgl. Luhmann 1980, besonders S. 22 und 34. Claudio Baraldi umreißt den Zusammenhang in seinem Artikel zu Luhmanns Semantikbegriff wie folgt: »[D]ie Veränderung der Semantik hängt von Strukturveränderung ab, aber bestimmt zugleich den Erfolg der neuen Kommunikationsthemen und der Typisierungen des Sinnes. Trotz dieser Zirkularität evoluiert die Semantik immer mit einer zeitlichen Verzögerung gegenüber den Strukturveränderungen; die Beschreibung der Gesellschaft ist den neuen Entwicklungen immer mehr oder weniger unangemessen.« (Baraldi 1997, S. 170)
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Funktion von ›semantischen Komplexen‹ und ihres Wandels in Hinsicht auf den gesellschaftlichen Strukturwandel.91 Begriffsgeschichtliche Ansätze erklären nach Luhmann den Wandel von Semantik (bzw. von semantischen Komplexen) unter Annahme eines gesellschaftsstrukturellen Bedingungszusammenhangs, interpretieren diesen also als Folge sozialgeschichtlicher Veränderungen. Luhmanns Kritik an begriffsgeschichtlichen Fragestellungen lautet, dass diese »die Frage nach Korrelationen zwischen sozialstrukturellen und begriffs- oder ideengeschichtlichen Veränderungen«92 nicht klären: Semantische Komplexe werden dabei als Tatsachen angesehen, die sich im Laufe der Geschichte ändern. Man gelangt zu induktiven Generalisierungen – sei es zu Problembezügen, die einen historischen Prozeß der Substitution von Problemlösungen steuern, sei es zu tieferliegenden semantischen Strukturen, deren historischer Variationszusammenhang den Eindruck der Nichtzufälligkeit hinterlässt, ohne daß die Beschreibung dieses Zusammenhangs eine theoretische Erklärung dafür zu geben beansprucht. Repräsentativ dafür ist die Fragestellung des Lexikons ›Geschichtliche Grundbegriffe‹ nach semantischen Korrelaten für ›die Auflösung der alten und die Entstehung der modernen Welt‹.93
Die Annahme eines gesellschaftsstrukturellen Bedingungszusammenhangs, welcher den Wandel der semantischen Komplexe erklären könnte, bleibt im begriffsgeschichtlichen Untersuchungsdesign nach Luhmann ›unterbelichtet‹ und ist auf Behelfstermini wie ›französische Revolution‹ oder ›moderne Staaten oder bürgerliche Gesellschaft‹ angewiesen, die ihrerseits erklärungsbedürftige semantische Komplexe darstellen.94 Koselleck expliziert in seinem Beitrag »Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte« (1986) seinen begriffsgeschichtlichen Ansatz hinsichtlich der von Luhmann als problematisch bewerteten Modellierung der Relation von politisch-sozialen Sachverhalten und Begriffen, wie Christiane Frey ausführt: Statt von einem einfachen Verhältnis von Sachverhalt oder historischer Tatsache einerseits und seiner sprachlichen Vermittlung andererseits auszugehen, nimmt Koselleck ein Verhältnis der wechselseitigen Abhängigkeit an: »Weder holt das sprachliche Begreifen ein, was geschieht oder tatsächlich der Fall war, noch geschieht etwas, was 91 Bei Luhmann stellt die »Komplexität der Welt« nach Georg Kneer und Armin Nassehi das oberste Bezugsproblem der funktionalen Analyse dar (Kneer / Nassehi 1993, S. 40). Soziale Systeme übernehmen die Aufgabe, Komplexität zu reduzieren, sie »vermitteln also zwischen der unbestimmten Komplexität der Welt und der Komplexitätsverarbeitungskapazität des einzelnen Menschen« (ebd.). 92 Luhmann 1980, S. 13. 93 Luhmann 1980, S. 13 f. 94 Vgl. Luhmann 1980, S. 14. Auch Willems 1995 wertet eine entsprechende Argumentation, die Phänomene der Semantik aus sozialgeschichtlichen Faktoren ableitet, als unangemessen, da die Semantik mit ihren Anschlussmöglichkeiten für Umdeutungen erst den Rahmen setzt, in dem Veränderungen ermöglicht und erfahren werden; vgl. Willems 1995, S. 1.
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nicht durch seine sprachliche Verarbeitung bereits verändert wird« ([Koselleck 2006,] S. 13)95. Begriffsgeschichte im Sinne Kosellecks ist mithin weder die Untersuchung jener Sprache, die die für den Historiker relevanten politisch-sozialen Tatsachen beschreibt, noch das Nachzeichnen von Begriffsentwicklungen um ihrer selbst willen. Vielmehr geht es gerade um die intrikate Interdependenz von politisch-sozialen Sachverhalten und ihrer sprachlichen ›Verwirklichung‹.96
Frey hebt hervor, dass Kosellecks Ansatz »immer schon mehr als die Geschichte von Begriffen«97 zum Gegenstand hatte: Statt der Wandlung eines Begriffs nachzugehen, werden semantische Strukturen herauspräpariert; statt Texte über Kontexte verständlich zu machen, wird bestimmten Begriffen eine »ordnende Kraft« zugeschrieben, die es herauszuarbeiten gilt. Erst, wenn die Dynamik bestimmter Begriffe selbst verständlich wird, können Texte und Kontexte überhaupt eingeordnet werden – nicht umgekehrt. Dass es Koselleck wesentlich auch um Kontexte geht, ist dabei freilich nicht zu unterschlagen.98
Die Frage nach dem Verhältnis von Begriff und Sachverhalten beantwortet Koselleck, wie Frey anmerkt, in seiner Einleitung zum ersten Band der Geschichtlichen Grundbegriffe (1972) dergestalt, dass er als Ziel der Begriffsgeschichte weder die reine Wort-, Sach- oder Ereignisgeschichte noch die Ideen- oder Problemgeschichte, sondern etwas darüber hinaus gehendes beschreibt.99 Die Wortgeschichte versteht Koselleck allerdings »als Einstieg« in die Analyse der komplexen Zusammenhänge der begrifflich-semantischen Ebene mit der Ebene der politisch-sozialen Sachverhalte.100 Von einer funktionsgeschichtlichen Perspektive, wie sie Luhmanns Ansatz der Historischen Semantik zugrunde liegt, ist die Koselleck’sche Konzeptualisierung von Begriffsgeschichte und Historischer Semantik dennoch abzugrenzen. Zwar betont Koselleck die Annahme wechselseitiger Abhängigkeit sprachlichen und politisch-sozialen Wandels, die Frage nach den Gründen des Wandels rückt dabei aber kaum in den Blick.101 In seiner 95 96 97 98 99 100 101
Koselleck 2006, Beitrag »Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte« (1986), S. 9 – 31. Vgl. Frey 2008, Absatz 15. Frey 2008, Absatz 12. Frey 2008, Absatz 12. Vgl. Koselleck 1972, S. X. Vgl. Frey 2008, Absatz 14. Vgl. dazu die rekapitulierende Gegenüberstellung begriffsgeschichtlicher und historischsemantischer bzw. linguistisch-diskursanalytischer Ansätze von Dietrich Busse, der trotz der Hervorhebung der Leistungen des begriffsgeschichtlichen Großunternehmens der Geschichtlichen Grundbegriffe auch auf deren klare Grenzen hinweist. Diese liegen mit Busse dort, wo die einzelnen Handbuchartikel trotz des der Begriffsgeschichte zugrunde liegenden »epistemologischen Interesses […] auf die Beschränkungen eines isolierten Wortbedeutungsbegriffs zurückfallen und sich damit wichtige epistemologische Erkenntnismöglichkeiten verstellen« (Busse 2003, S. 2; zur begriffsgeschichtlichen Tendenz zum Nominalismus vgl. auch Kollmeier 2012 [ohne Seiten- oder Absatznummerierung]). Bleibt die Analyse also, wie der auswertende Blick auf die Argumentationsstruktur einzelner
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für den literaturwissenschaftlichen Anwendungsbereich historisch-semantischer Forschung grundlegenden, funktionsanalytischen Untersuchung zum Bildungsbegriff im 18. Jahrhundert problematisiert Fotis Jannidis dementsprechend den Erkenntniswert begriffsgeschichtlicher Untersuchungen: So brauchbar die diachrone Darstellung eines Begriffs als Indizienlieferant für historische Umbrüche wie z. B. die Sattelzeit ist, so wenig kann sie über die Gründe für die Bedeutungsveränderung und -anreicherung aussagen.102
Eine funktionalistische Untersuchungsperspektive, wie sie auch in der vorliegenden Studie eingenommen wird, wird begriffsgeschichtliche Ergebnisse in diesem Sinne als Fundament und Sprungbrett nutzen, um eine Plausibilisierung von Thesen darüber zu leisten, weshalb sich Begriffe und Konzepte in einer spezifischen historischen Konstellation auf die spezifische beobachtete Art und Weise verändern. Unter ›Historischer Semantik‹ wird somit im Folgenden ein kulturwissenschaftlich geöffneter, von Soziologie und Linguistik, Geschichts- und Literaturwissenschaft maßgeblich konturierter Forschungsansatz verstanden, dessen Potential gerade darin liegt, den Fokus von der reinen Ausdrucksseite historischer Kommunikation auf die Konzeptebene zu verschieben. Der Studie liegt damit ein interdisziplinär basiertes Konzept von Historischer Semantik zugrunde, wie es etwa Kathrin Kollmeier umreißt: Als undogmatische Sammelbezeichnung für die Erforschung semantischer Veränderungsprozesse, aber durchaus mit systematischem Anspruch hat sich mittlerweile der Terminus Historische Semantik interdisziplinär etabliert. Kulturwissenschaftliche und sprachgeschichtliche Impulse öffnen die begriffsgeschichtliche Methodik sowohl hinsichtlich des untersuchten Kommunikationsprozesses wie der historischen Analyse. Um die isolierte Betrachtung von Einzelbegriffen zu überwinden, weiteten sie vor allem die analytische Sonde aus, von einzelnen Termini auf Begriffscluster, semantische Netze, Felder und Argumentationen. Anstatt der Setzung von Begriffen, denen der Status eines hochaggregierten Grundbegriffs unterstellt (und damit konstituiert) wird, besteht der erste Schritt in der Identifikation prominenter Themen, Begriffe, Topoi und Figuren, Chiffren oder ganzer »Sprachen« (mit je eigenem Vokabular, eigener Grammatik und Rhetorik) in einem Zeit- und Sprachraum. Diese organisieren Diskurse, gehen aber unter Umständen nicht »nominalistisch« in der historischen Verwendung des einschlägigen Vokabulars auf.103
Beiträge in den Geschichtlichen Grundbegriffen zeigt, wortsemantisch orientiert und damit auf der Ausdrucksebene historischer Diskurse verhaftet, lässt sich der Zusammenhang von semantischem Wandel und sozial- wie kulturgeschichtlichem Wandel nicht überzeugend modellieren (vgl. dazu auch Busse 1987, S. 94 – 107). 102 Jannidis 1996, S. 25. 103 Kollmeier 2012 [ohne Seiten- oder Absatznummerierung].
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Im Gegensatz zu der über schriftliche Quellen zugänglichen Ausdrucksseite erweist sich die Konzeptebene historischer Kommunikation als analytisch deutlich schwerer erfassbar,104 jedoch mit Blick auf die komplexen Prozesse semantischen Wandels als entscheidend – was besonders augenfällig wird, wenn die im 19. Jahrhundert zunehmende Relevanz illustrierter Massenmedien für Prozesse der gesellschaftlichen Konstitution von Bedeutung mit einbezogen wird. So fasst Kathrin Kollmeier in ihrem gelungenen Forschungsüberblick zu Begriffsgeschichte und Historischer Semantik das historisch-semantische Programm pointiert zusammen: Der interdisziplinäre Ansatz richtet sich also auf die Sinnerzeugung vergangener Gesellschaften mithilfe von Sprache, Texten und Bildern. In der Analyse semantischer, bereits Welt deutender Überreste werden Interpretationen zweiter Ordnung betrieben, indem anhand der Konzepte und Konzeptualisierungen der jeweiligen Zeitgenossen der Denkhintergrund und die Wahrnehmungs- und Deutungshorizonte einer vergangenen Zeit rekonstruiert werden.105
Die »Wahrnehmungs- und Deutungshorizonte einer vergangenen Zeit« lassen sich nun – so eine der Prämissen der vorliegenden Studie zur historischen Geschlechtersemantik und deren Relevanz als Problemreferenz106 von Literatur – sinnvoll nur auf der Basis eines funktionalistischen Analysezugriffs erfassen, der objektsprachliche Wertungsbegriffe bzw. werthaltige Konzepte (wie etwa ›Emanzipation‹, ›Fortschritt‹, ›modern‹ oder auch ›Bildung‹) klar von metasprachlichen Beschreibungsbegriffen unterscheidet.
104 Zur Methodenfrage der Historischen Semantik vgl. den zwar bereits etwas älteren, aber pointierten Beitrag von Busse / Teubert 1994. 105 Kollmeier 2012 [ohne Seiten- oder Absatznummerierung]. Auch die methodisch-konzeptionelle Abgrenzung dieses Forschungsprogramms zu dessen relevanten Vorläufern macht Kollmeier hier noch einmal deutlich: »In diesem Gegenstandsbereich liegt die nahe Verwandtschaft zur Ideen- und Mentalitätsgeschichte. Ansätze der Historischen Semantik zielen demgegenüber stärker auf die Rekonstruktion vergangener Kommunikation, lösen diese Kontextualisierung jedoch in unterschiedlichem Grad ein. Wo klassische Begriffsgeschichte die Neuartigkeit einer Prägung als entscheidendes Moment sieht, das einen Begriff historisch auffällig und als Index geschichtlichen Wandels nutzbar macht, setzen breitere Perspektiven Historischer Semantik stärker auf dessen Umstrittenheit und Konflikthaftigkeit. Jenseits der linguistischen Ebene bestimmen sie die Verhandlung von Konzepten, Begriffen oder Argumenten in politischen und gesellschaftlichen Kommunikationssituationen funktional und spezifizieren sie hinsichtlich der jeweils Sprechenden, des politischen Regimes und weiterer sozialer und historischer Bedingungen zu einem bestimmten Zeitpunkt oder Zeitraum.« (Ebd.) 106 Zur Erläuterung dieses zentralen Analyseterminus siehe das folgende Kapitel.
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1.2.3 Funktionen von Literatur – Historische und systematische Verortung Bei der Frage nach den Funktionen von Literatur – die generell nicht abschließend zu beantworten ist und im Rahmen dieser Untersuchung mit dem Ziel einer heuristisch funktionalen Eingrenzung verhandelt werden soll – stellen sich einige Schwierigkeiten. Zum einen wird der Funktionsbegriff innerhalb literaturtheoretischer Diskussionszusammenhänge uneinheitlich verwendet, wie Fotis Jannidis, Gerhard Lauer und Simone Winko anmerken.107 Zum anderen ist zu unterscheiden zwischen historischen Bestimmungsversuchen der Funktionen von Literatur (Objektebene) und systematischen Bestimmungsversuchen (Metaebene), die den Anspruch auf überzeitliche Gültigkeit der vorgenommenen Kategorisierung erheben. Dass auch diese wissenschaftlichen Kategorisierungen keineswegs unabänderlich, sondern ihrerseits historisch sind in dem Sinne, dass sie von Perspektivierungen, theoretischen Prämissen und methodologischen Vorentscheidungen abhängen, liegt dabei auf der Hand. Trotz der grundsätzlichen Veränderlichkeit sind die systematischen Kategorien jedoch zum einen notwendig, um den Gegenstandsbereich überhaupt für Analysen zugänglich zu machen, also zu strukturieren und letztlich zu konstituieren, zum andern zwar verhandelbar, nicht aber beliebig. Dem Verdacht der Arbitrarität ist die Tatsache der Motiviertheit entgegenzuhalten: Systematische literaturwissenschaftliche Kategorien – wie etwa Epochen- und Gattungsbegriffe,108 oder eben die Beschreibung der Funktionen von Literatur – basieren zwar auf Mechanismen der Selektion und Konstruktion und haben keine ontologische Entsprechung, müssen sich aber am empirischen Material orientieren, um ›zu funktionieren‹, d. h. um den wissenschaftlichen Zugriff auf eben dieses Material zu ermöglichen. Jannidis, Lauer und Winko gehen in ihrem einleitenden Beitrag zum Band Grenzen der Literatur (2009) auf die systematischen Bestimmungsversuche des Literaturbegriffs ein und skizzieren in diesem Rahmen die zentralen historischen Funktionsbestimmungen von Literatur.109 Auf systemati107 Vgl. Jannidis / Lauer / Winko 2009, S. 22. Vgl. als Überblick auch den Artikel »Funktion« von Fricke 1997 im Reallexikon sowie den Beitrag von Sommer 2000 zur terminologischen Differenzierung des Funktionsbegriffs in der Literaturwissenschaft. 108 Die Einteilung der Literaturgeschichte in Epochen und deren argumentative Plausibilisierung gehört mit zu den grundlegenden Operationen des Literarhistorikers. Je nach Untersuchungsperspektive können andere Abgrenzungen vorgenommen werden. Der Historiker Franz J. Bauer weist in seinem Epochenprofil zum ›langen‹ 19. Jahrhundert auf den Status von Epochenbegriffen als analytische Konzepte und gedankliche Konstruktionen hin, die zwar nicht objektiv feststehend, nichtsdestotrotz aber empirisch und theoretisch motiviert sind bzw. sein müssen, um sich innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses halten zu können. Dies gilt selbstverständlich auch in Bezug auf literaturwissenschaftliche Epochenbegriffe. Vgl. Bauer 2004, S. 7 f. 109 Vgl. Jannidis / Lauer / Winko 2009, S. 22 – 28.
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scher Ebene plädieren sie für einen pragmatischen Literaturbegriff, der auf die Angabe von Funktionen der Literatur verzichten kann, was nicht die Relevanz der Explikation historischer Funktionszuschreibungen im Rahmen »der historischen Rekonstruktion des Phänomens ›Literatur‹, also auf der Objektebene«110, mindert. Im Sinne dieser engen Verknüpfung der systematischen mit der historischen Perspektive setzt die vorliegende Untersuchung einen pragmatischen, relationalen Literaturbegriff an, geht dabei aber zugleich von einem relativ abstrakt gefassten, historisch kontextualisierten Funktionsspektrum von Literatur aus. Im Folgenden wird ›Literatur‹ auf der Basis der systemtheoretischen Modellierung Luhmann’scher Prägung und im historischen Kontext der Umstellung der (primären) gesellschaftlichen Strukturierung von Stratifikation auf Funktion seit der Frühen Neuzeit als Funktionssystem mit spezifischen Problemreferenzen verstanden – eine Auffassung, wie sie Karl Eibl seinen Studien zum 18. Jahrhundert zugrunde legt. Mit Eibl lässt sich Literatur seit dem 18. Jahrhundert als funktional ausdifferenziertes System beschreiben, das einen eigenen Anspruch auf Weltdeutung erhebt. Über die Darstellung fiktionaler Welten kann dieses System in prädestinierter Weise die Funktion übernehmen, ungelöste bzw. unlösbare Problemkomplexe zu thematisieren, im kulturellen Bewusstsein zu bewahren und mögliche Lösungsstrategien durchzuspielen.111 Seither werden in der Literatur mit Eibl gesprochen die »psychohistorischen Dimensionen der Gesellschaftsgeschichte« zuweilen deutlicher sichtbar als in anderen Quellen – nicht im Sinne eines Abbildungs- oder Widerspiegelungsverhältnisses von Literatur und ›Wirklichkeit‹, sondern in dem Sinne, dass Literatur »auf Probleme, häufig ungelöste Probleme, referiert«.112 Literatur als Stätte der Thematisierung ungelöster Probleme kann also verstanden werden als Ort, an dem Problemkonstellationen und Lösungsentwürfe verhandelt werden können, auch wenn diese Problemlagen von den Autoren nur begrenzt erfassbar und noch nicht in großem Maße in einem gesellschaftlichen Diskurs artikulierbar sind. Neben der Explikation des hier angesetzten Literaturbegriffs ist für die vorliegende Untersuchung auch der Blick auf historische Bestimmungsversuche von ›Literatur‹ und historische Funktionshypothesen relevant. Dies wird im ersten Hauptteil der Untersuchung zur Herausbildung der komplementären Geschlechtersemantik um 1800 und dessen semantischer Aktualisierung und diskursiver Relevanz innerhalb der Umbruchphase des Geschlechtermodells um 110 Jannidis / Lauer / Winko 2009, S. 27. 111 Vgl. dazu Eibl 1995, besonders Kapitel II, »Das historische Bezugsproblem«, S. 35 – 61 sowie Eibl 1999, besonders S. 138 – 143. Siehe auch den Beitrag von Werle 2009 zum Schema ›Problem – Lösung‹ als einem Rekonstruktionskonzept literaturwissenschaftlicher Ideenhistoriographie. 112 Eibl 1999, S. 138.
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1900 deutlich. So hat hier eine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen gender-orientierten literaturwissenschaftlichen Ansätzen zu erfolgen, denen bestimmte Traditionslinien von Funktionshypothesen zugrunde liegen. Eine tradierte Funktionszuschreibung von Literatur – wobei der Begriff der Funktion hier eine deutliche Nähe zu dem der Intention aufweist – ist die der Gesellschaftskritik. Zur Auffassung von der gesellschaftskritischen Aufgabe von Literatur fassen etwa Jannidis, Lauer und Winko zusammen: Schon in der Protosoziologie des 19. Jahrhunderts, dann aber prominent in der Entfremdungsthese Karl Marx’ sind die Kritik des Individuums und die Kritik der Gesellschaft aneinander gekoppelt. Literatur fungiert hier vor allem als Phänomen des ›Überbaus‹, das die realen sozialen Verhältnisse ›widerspiegelt‹. Literatur habe die Funktion, so Marx und Engels in der Sickingen-Debatte, die gesellschaftlichen Antagonismen möglichst treu und nicht tendenziös darzustellen. Literatur bezieht sich damit in doppelter Weise auf die tatsächliche Entwicklung der Gesellschaft: als dialektisches Ergebnis der gesellschaftlichen Gegensätze wie als ihr Abbild.113
Feministisch orientierte Ansätze weisen aufgrund ihrer gesellschafts- und ideologiekritischen Axiomatik (sowie der Traditionszusammenhänge ihrer Theoriebildung und -adaption) eine starke Affinität zu dieser Funktionsbestimmung auf. Natürlich ist nicht jeder gender-orientierte Forschungsansatz unter dem Label ›feministisch‹ zu fassen. So unterstreicht etwa Nadyne Stritzke in ihrer fundierten Untersuchung zu »Funktionen von Literatur aus Sicht der feministischen und gender-orientierten Literaturwissenschaft« die Notwendigkeit, zwischen den verschiedenen, auch theoriegeschichtlich unterschiedlich zu verortenden Ansätzen zu unterscheiden, die unter der Bezeichnung ›Gender Studies‹ systematisch zusammengefasst werden. Stritzke konstatiert einen Mitte der 1980er Jahre einsetzenden Paradigmenwechsel: Während die Frühphase der feministischen Literaturwissenschaft einer liberal-humanistischen Identitätsvorstellung verpflichtet war und schwerpunktmäßig die weibliche Perspektive sowie die traditionelle Vernachlässigung und Unterdrückung der Frau untersuchte, basiert die gender-orientierte Literaturwissenschaft auf diskurstheoretischen, poststrukturalistisch-psychoanalytischen Identitätskonzeptionen und untersucht Konstituierungsprozesse von jeglicher Geschlechtlichkeit.114
Aber : Bisher erschlossen ist Literatur von weiblichen Autoren vor allem auf der Basis der »älteren« Axiomatik, nach der die entsprechenden Texte auf ihre kritische Haltung gegenüber patriarchalen Strukturen und ihr emanzipatorisches Potential überprüft und bewertet werden.115 So beobachtet Katja Mellmann 113 Jannidis / Lauer / Winko 2009, S. 26. 114 Stritzke 2005, S. 99 f. 115 Auch Bernsteins Werke wurden weitgehend – und werden tendenziell noch immer – aus dieser Perspektive untersucht, wie im zweiten Hauptteil der Arbeit deutlich werden wird.
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beispielsweise in der Analyse von Gisela Brinker-Gabler116 zu Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie (1895) eine für feministisch ausgerichtete Literaturwissenschaft auch gegenwärtig noch durchaus prototypische Deutungsrichtung, die man als ›doppelbödig‹ bezeichnen könnte: Reuters Roman bestätigt nach Brinker-Gabler einerseits die traditionelle Auffassung von der weibliche Bestimmung und rekurriert damit »auf den normativen Horizont der bürgerlichen Lebenswelt«, kritisiert aber andererseits zugleich »bestehende Normen und Konventionen […] vermittels der Rechtfertigung einer durch Liebe begründeten Verletzung des Tugendideals und einer Distanzierung von den ›Fesseln der Familie‹ durch eine Arbeit auf ›weiblichem‹ Berufsfeld«117. Sowohl auf deskriptiver wie auf argumentativer Ebene ist diese Deutung für Mellmann fragwürdig: Selbst wenn die deskriptiven Aussagen über den Roman in diesem Fazit allesamt historisch valide Beobachtungen wären, müsste man dennoch fragen, wie sich diese »einerseits/andererseits«-Struktur legitimiert, wenn nicht aus einer wertenden Perspektive, die von einer teleologischen ›Geschichte der Frauenemanzipation‹ ausgeht.118
Die implizite Funktionshypothese119 der ›Subversion‹ bestehender – patriarchalisch geprägter – Normen, Strukturen und Ordnungen durch Texte weiblicher Autoren spielt auch in gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, die die Kategorie ›Geschlecht‹ relevant setzen, noch immer eine Rolle. So stellt Mellmann fest, dass sich »die Tendenz literaturwissenschaftlicher Frauenforschung zur ›Aktualisierung‹ und ›Aneignungshermeneutik‹«120 auch in dem in der Analyse von Kanonisierungsprozessen sehr luziden Beitrag von Renate von Heydebrand und Simone Winko zu Geschlechterdifferenz und literarischem Kanon findet.121 Dies ist an sich nicht verwunderlich, da sich der Überblick von Heydebrand und Winko an einer feministisch-ideologiekritischen Axiomatik orientiert bzw. das Reflexionspotential entsprechend ausgerichteter Ansätze hervorhebt.122 Das im Beitrag klar formulierte Ziel ist es, über die Reflexion der Prozesse von Kanonisierung und literarischer Wertung und der Relevanz der Kategorie ›Geschlecht‹ innerhalb dieser Prozesse die Gründe 116 Die von Brinker-Gabler herausgegebene zweibändige Aufsatzsammlung Deutsche Literatur von Frauen (1988) gehört zu den ersten systematischen Versuchen einer ›weiblichen Literaturgeschichte‹. 117 Brinker-Gabler 1988, S. 174. 118 Vgl. Mellmann 2008, S. 15, Anm. 68. 119 Vgl. Stritzke 2005, S. 100. 120 Mellmann 2008, S. 15, Anm. 67. 121 Vgl. Heydebrand / Winko 1994, S. 110 f. 122 Von radikal poststrukturalistischen Ansätzen, die die ›Reflexion‹ von Systematisierung und Kategorienbildung (nicht nur) in Bezug auf literarische Kanonisierung dahingehend auf die Spitze treiben, dass diese per se als arbiträr anzusehen bzw. ausschließlich machtpolitisch motiviert seien, grenzen sich die Autorinnen dabei ab, da in deren Konsequenz eine wissenschaftliche Praxis ad absurdum geführt würde; vgl. Heydebrand / Winko 1994, S. 156.
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für die »Unterrepräsentanz von Autorinnen im literarischen Kanon« transparent zu machen und »Handlungsalternativen im Umgang mit Literatur und ihrer Kanonisierung«123 aufzuzeigen. Der Bezug auf gegenwärtige soziale bzw. diskursive Strukturen und die Zielsetzung des diskursiven Wandels erscheint mir grundsätzlich durchaus als berechtigte Zielsetzung literatur- und kulturwissenschaftlicher Arbeiten. In der kritischen Auseinandersetzung mit entsprechend ausgerichteten Studien wird jedoch deutlich – und im Folgenden zu zeigen sein –, dass diese Perspektive mit einer historisch validen Analyse und Interpretation literarischer Texte von Autorinnen tendenziell in Kollision zu geraten droht.
1.2.4 Positionierung zur Genderforschung – Zum Emanzipationsbegriff und der (historischen) Gleichheits- vs. Differenzhypothese Den Gender Studies liegt grundsätzlich keine zentrale Theorie oder Methode zugrunde. Vielmehr setzt sich, wie auch Christiane Sollte-Gresser anmerkt, das Feld heterogen zusammen und lässt in den einzelnen Forschungsansätzen unterschiedliche Modellierungen des Gegenstandsbereichs und unterschiedlich gesetzte Prämissen beobachten.124 Diese Heterogenität hebt auch Osinski hervor: Die Gender Studies sind […] in den 90er Jahren zum Sammelbegriff für feministische und nichtfeministische Arbeiten in den Kulturwissenschaften geworden, die Geschlechterverhältnisse als kontextabhängige Konstrukte in den verschiedensten Bereichen thematisieren. Sie sind keine »Methode« und haben kein »Modell«, sondern sie bezeichnen ein thematisches Interesse, das in verschiedenen Disziplinen mit unterschiedlichen Gegenstandsbestimmungen und Verfahren verfolgt wird.125
Innerhalb der deutschsprachigen Literaturwissenschaft kann man die im angloamerikanischen Raum in der Tradition der Women’s Studies seit Beginn der 1970er Jahre universitär institutionalisierten126 (im weitesten Sinne127) 123 Heydebrand / Winko 1994, S. 96. 124 Vgl. Solte-Gresser 2005, S. 57 f. Siehe auch wie bereits erwähnt Stritzke 2005. Vgl. auch die Einführung von Schößler 2008, Lindhoff 2003 zur feministischen Literaturtheorie sowie den Band von Braun / Stephan (Hg.) 2000, der einen Überblick zur Genderforschung in einzelnen Disziplinen gibt. Sehr detailliert und auf hohem Reflexionsniveau ist die Darstellung von Osinski 1998 zur feministischen Literaturwissenschaft, die feministische und gender-orientierte Ansätze und Forschungstraditionen vor allem im französischen, angloamerikanischen und deutschen Sprachraum skizziert. Osinski geht sehr differenziert auf einzelne Positionen ein, stellt sie in die jeweiligen kulturhistorisch-institutionellen Kontexte und zeigt deren mitunter problematische Prämissen auf. 125 Osinski 1998, S. 122. 126 Vgl. Osinski 1998, S. 40 – 43. Osinski weist jedoch auch darauf hin, dass feministische
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gender-theoretischen Forschungsperspektiven mittlerweile als breit etabliert ansehen.128 So fassen Annette Keck und Manuela Günter in ihrem Forschungsbericht zusammen: Geschlechterdifferenz, das erwiesen unsere Recherchen, ist längst nicht mehr nur eine Frage des Inhalts (wie noch in der Frauenbildforschung), sondern eine strukturelle Perspektive der literatur- und kulturwissenschaftlichen Analyse. Das zeigen universitäre Institutionalisierungen – Graduiertenkollegs, Forschungsprojekte, Studiengänge, Lehrstühle – und publizistische Aktivitäten wie Anthologien, Einführungen, Zeitschriften, Jahrbücher. Auch an Lexika, Nachschlagewerken und Bibliographien fehlt es inzwischen nicht mehr.129
Wie Keck und Günter vermerken, ist die Zeit um 1800 in Bezug auf das Themenfeld Weibliche Autorschaft und Literaturgeschichte gut erforscht.130 Dies ist aus ihrer Sicht zum einen Folge der generellen Fokussierung auf die ›Epo-
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Forschungsansätze in den USA mit der universitären Etablierung der Women’s Studies zwar einerseits deutlich früher als in Deutschland institutionalisiert wurden, dabei andererseits aber dennoch eher randständig geblieben sind, was sie sowohl auf systembedingte Hürden zurückführt als auch auf argumentativ-methodische Schwachstellen der Ansätze selbst, siehe ebd., S. 43: »Am niedrigen akademischen Status der Women’s Studies waren ihre Vertreterinnen selbst nicht ganz unschuldig. Ihre Prämissen und Postulate waren emanzipationspolitisch und moralisch zwar oft konsensfähig, führten fachwissenschaftlich aber nicht selten in so einseitige oder verkürzte Analysen und vor allem Wertungen, daß feministische Ansätze in akademischen Mißkredit gerieten.« Die Gender Studies selbst lassen sich als von den Women’s Studies zu unterscheidender Forschungsbereich auf die 1990er Jahre datieren und haben sich unter anderem im Zuge einer »Akzentverlagerung von women auf gender« innerhalb des feministischen Forschungsparadigmas und der »Erweiterung der Literaturwissenschaft zu den Cultural Studies« herausgebildet (Osinski 1998, S. 105). Während im angloamerikanischen Raum die Women’s Studies weiterhin neben den Gender Studies disziplinär vertreten sind, ging »das akademische Prestige in den Fachdisziplinen […] von der feministischen Dekonstruktion über auf die Gender Studies, die heute international en vogue sind« (ebd.). Erhart 2005 vermerkt in seinem Forschungsbericht die Fokuserweiterung bzw. -verschiebung innerhalb der jüngeren und gegenwärtigen Genderforschung hin zu ›Männlichkeitsforschung‹ bzw. men’s studies: »Während gender studies und ›Frauenforschung‹ mittlerweile buchstäblich lexikalisiert und in Handbüchern rekapituliert werden, erhielt die ›Männlichkeitsforschung‹ in den 1990er Jahren das Prädikat research program. Das ›erste Geschlecht‹ wurde nicht nur gesucht, sondern auch gefunden und erforscht: Davon zeugen eine Fülle von Monographien, Sammelbänden, Tagungen, Arbeitskreisen, Sonderheften, Zeitschriften, Handbüchern und mittlerweile – Forschungsberichten. Das Gebiet muß ›schon lange nicht mehr‹ begründet oder vorgestellt werden. Im Gegenteil: Gegenüber den in den USA längst altehrwürdigen women’s studies etablierten sich men’s studies als das nunmehr fast innovative Feld der Geschlechterdifferenz.« (Erhart 2005, S. 157 f.) Keck / Günter 2001, S. 201 f.; ein Überblick der jüngeren Publikationen findet sich dort in den ersten beiden Anmerkungen. Als aktuelle Handbücher zum weitgefassten, interdisziplinären Forschungsbereich Gender Studies seien hier exemplarisch angeführt: Becker / Kortendieck (Hg.) 2010, Bußmann / Hof (Hg.) 2005 sowie Braun / Stephan (Hg.) 2000. Vgl. Keck / Günter 2001, S. 206.
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chenschwelle‹ um 1800, die innerhalb der Literaturwissenschaft aufgrund der umfassenden gesellschaftlich-semantischen Veränderungen im Lauf des 18. Jahrhunderts als Beginn der (weit gefassten) Moderne gilt. Als zweiten bestimmenden Faktor werten Keck und Günter die grundlegenden – aus Sicht der vorliegenden Arbeit jedoch nicht unproblematischen – Studien von Thomas Laqueur und Claudia Honegger,131 die einen entscheidenden Wandel der gesellschaftlichen Konzeptualisierung von ›Geschlecht‹ auf die Zeit um 1800 datieren. Die Intensivierung der Forschungen zu diesem Komplex verdankt sich zum einen der Schwerpunktbildung im gesamten Fach, die die Wende zum 19. Jahrhundert als sogenannte ›Sattelzeit‹ der modernen Literaturauffassung begreift, zum anderen aber auch den wichtigen Studien von Thomas Laqueur und Claudia Honegger, die aus diskursanalytischer Sicht die Zeit um 1800 als diejenige ausgewiesen haben, in der das Geschlechterverhältnis sowohl in biologischer als auch in anthropologischer Hinsicht neu definiert wird.132
Innerhalb der gender-orientierten Forschungsansätze kann man verschiedene Prämissen unterscheiden. Als konstitutiv für feministisch ausgerichtete Positionen lässt sich zum einen die Prämisse der gesellschaftlichen Subordination von Frauen, zum anderen das Ziel der Analyse, Beschreibung und letztlich der Veränderung geschlechterbasierter gesellschaftlicher Machtstrukturen beobachten.133 Methodisch birgt ein entsprechend konzipierter Forschungszugriff dort Probleme, wo die Prämisse der Subordination im Sinne einer Prämisse der Repression intentionalistisch gedacht wird. Die in der älteren feministischen Forschung zum Teil vertretene ›Repressionshypothese‹ wird innerhalb der Geschlechterforschung bereits seit geraumer Zeit kritisch beleuchtet.134 Nichtsdestotrotz halten sich Reste der Repressionshypothese innerhalb der (ideolo131 Vgl. Laqueur 1992 und Honegger 1991. Zum Grundlagenstatus der beiden Studien innerhalb der Genderforschung vgl. Schößler 2008, S. 29 – 33. 132 Keck / Günter 2001, S. 206. 133 Für einen historisch-systematischen Abriss zum Feminismus-Begriff siehe den differenzierten Artikel von Barbara Thiessen (2010). Thiessen unterstreicht die Mehrdeutigkeit des Terminus, dessen spezifische Referenz – wie dies stets bei komplexen Konzepten der Fall ist – erst mit Blick auf den jeweiligen Verwendungskontext zu vereindeutigen ist: »Unter dem Begriff Feminismus werden heterogene Konzepte gefasst, die sich nach Ideengeschichte, Gegenstandbezug und Trägerinnen bzw. Zielgruppen feministischer Bewegungen unterscheiden lassen.« (Thiessen 2010, S. 38) Der gemeinsame Ausgangspunkt der unterschiedlichen feministischen Bewegungen ist dabei mit Thiessen »das Aufbegehren gegen die Identifizierung von Frauen als einer Männern nachgeordneten Gruppe. Ziel ist sowohl die Veränderung der Lebenssituation und gesellschaftlichen Positionierung von Frauen als auch der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Strukturen und Prozesse, die die Subordination von Frauen hervorbringen.« (Ebd.) 134 Vgl. Thiessen 2010, S. 38; siehe auch den Beitrag von Garbe 1983, auf den im Weiteren noch einzugehen ist (vgl. Kapitel 2.1.4).
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giekritischen) Axiomatik gender-orientierter Ansätze bis in die Gegenwart,135 was in der literaturwissenschaftlichen Praxis in der Regel zu unterkomplexen Deutungen führt – unter anderem, da das Verhältnis zwischen literarisch entworfenen Textwelten und der realhistorischen sozialen Wirklichkeit auf der Basis dieser Axiomatik als unmittelbares Abbildungs- und Wirkungsverhältnis modelliert wird.136 Neben den intentionalistischen Implikationen des noch immer präsenten Repressionsparadigmas sind auch essentialistische Tendenzen feministischer Ansätze zu beobachten. Wie Jutta Osinski in ihrem Versuch einer systematischen Darstellung der Feministischen Literaturwissenschaft hervorhebt, sind die Prämisse der Subordination (oder auch der Repression) und die Zielsetzung der Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse (bzw. der [weiblichen] Emanzipation) für sich genommen zu unbestimmt, als dass daraus bereits eine spezifische theoretisch-methodische Modellierung abgeleitet werden könnte.137 Vielmehr wird diese Kernaxiomatik je nach Perspektivierung durch weitere Axiome ergänzt: Wenn man die [feministischen] Modelle auf ihre Voraussetzungen hin betrachtet, stellt man fest, daß häufig Wesensaussagen über Mann und Frau gemacht werden, die keine sind. Es sind Prämissen und Postulate über die Geschlechter und ihr Verhältnis zueinander, die jedem Denkmodell vorausliegen und auf Vorentscheidungen beruhen, die geglaubt, aber nicht experimentell begründet werden können. Was die Geschlechter ihrem Wesen nach sind und ob und worin sie sich ihrem Wesen nach unterscheiden, kann bis heute niemand sagen.138 Die vielfältigen Postulate dazu aber, die es im Verlauf 135 Diese Einschätzung deckt sich mit der Beobachtung von Annette Keck und Manuela Günter : »Auch wenn eine Fortschrittsgeschichte feministischer Theoriebildung suggeriert wird und die sozialgeschichtlichen bzw. ideologiekritischen Verfahren in die Vergangenheit verschoben werden, offenbart die literaturwissenschaftliche Praxis eine Gleichzeitigkeit der verschiedenen Ansätze.« (Keck / Günter 2001, S. 205) Die ideologiekritische Axiomatik ist also keineswegs gänzlich ›überholt‹. 136 Vgl. etwa die intentionalistische Deutungstendenz in Schößler 2008, S. 25. 137 Vgl. Osinski 1998, S. 125. 138 Entgegen Osinskis von mir geteilter kritischer Einschätzung der letztgültigen ›Erklärbarkeit‹ von ›Geschlecht‹ – im Sinne des Auffindens eindeutiger Kausalzusammenhänge von Sexus und Kognition, Emotion und Verhalten von Personen – werden derzeit besonders aus der Richtung der Kognitionsforschung und Neuropsychologie vermeintliche Antworten auf die Frage nach dem ›Wesen‹ der Geschlechter geliefert. Diese sind aus Sicht aktueller Forschung etwa aus dem Bereich der Sozialpsychologie und Soziologie sowie der historischen Familien- und Geschlechterforschung (siehe exemplarisch Gestrich / Krause / Mitterauer 2003 sowie Opitz 2005) zumeist als extrem reduktionistisch zu bewerten. So führen sie interessanterweise – dem innovativen Anspruch der Disziplinen zum Trotz – äußerst tradierte, zuletzt um 1900 sehr erfolgreiche Positionen und Argumentationsstrukturen ins Feld, die vor dem Hintergrund des damaligen Aufschwungs der Naturwissenschaften ähnlich monolithisch konzipiert waren. Im Feuilleton finden sich die (popularisierten) Ausläufer der entsprechenden ›naturwissenschaftlich fundierten‹ Studien, die zum Teil heitere Ontologisierungen betreiben.
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der Geschichte bis in die Gegenwart hinein gegeben hat und gibt, lassen sich reduzieren auf zwei, die sich grundsätzlich voneinander unterscheiden und die unvereinbar sind: das Gleichheitspostulat und das Differenzpostulat.139
Dass es sich bei diesen Aussagen innerhalb feministischer Ansätze – wie generell in jedem wissenschaftlichen Theoriemodell – um Setzungen und nicht um vorgefundene Gegebenheiten handelt, betont Osinski an dieser Stelle aus gutem Grund: Auch ideologiekritische Positionen können keine Unabhängigkeit von Homogenisierungs- und Vergegenständlichungsmechanismen gewährleisten. So macht etwa Joan W. Scott deutlich, dass die einstmals angestrebte Leistung des Konzepts ›Gender‹ – nämlich Ontologisierungen, wie sie etwa beim Modell der ›Geschlechtscharaktere‹ vorliegen, durch den inhärenten Verweis des Konzepts auf die gesellschaftliche Konstitutionsebene von Geschlecht zu vermeiden – bei genauer Betrachtung an ihre Grenzen stößt.140 Das Gleichheitspostulat (bzw. die ›Gleichheitshypothese‹) geht nun davon aus, »daß Mann und Frau bis auf die biologischen und sexuell psychophysischen Unterschiede gleichartig seien«141: Dieser Auffassung nach gibt es im politischen oder sozialen Bereich keine Aufgaben und Rollen, die der Natur eher eines der beiden Geschlechter entsprechen; auch intellektuell, moralisch oder ästhetisch unterscheiden Männer und Frauen sich vom Wesen her nicht. Emanzipation heißt in diesem Denkzusammenhang der Kampf um Gleichberechtigung, um die gleiche Teilnahme der Frau am öffentlichen, intellektuellen oder eben literarischen Leben, wie der Mann sie hat.142
Dem gegenüber behauptet das Differenzpostulat (bzw. die ›Differenzhypothese‹) »über die biologischen Unterschiede hinaus eine historische und soziokulturell bedingte Verschiedenheit der Geschlechter im Denken und Fühlen«143. Entsprechend dieser Axiomatik ist auch der Emanzipationsbegriff definiert: Emanzipation heißt hier über das politische Ziel der Gleichberechtigung hinaus, daß es eine weibliche Kultur zu befreien, zu entdecken oder erst zu entwickeln gelte, die
139 Osinski 1998, S. 125 f. 140 Vgl. Scott 2001, S. 19 f. bzw. in deutscher Übersetzung S. 39 f. Scott diskutiert in ihrem Beitrag sehr überzeugend die Gründe, weshalb die Unterscheidung von sex und gender zwar einen heuristischen Wert hat und eine wichtige Differenzierung darstellt, die bestimmte Fragestellungen und Forschungsperspektiven erst ermöglicht hat (vgl. dazu auch den Grundlagentext »Gender: A Useful Category of Historical Analysis« von Scott 1986), warum diese Unterscheidung jedoch im alltagssprachlichen wie wissenschaftlichen Diskurs bei genauerer Betrachtung nicht vollzogen wird und im Sinne einer faktisch gedachten scharfen Differenz dysfunktional ist. 141 Osinski 1998, S. 126. 142 Osinski 1998, S. 126. 143 Osinski 1998, S. 126.
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jahrhundertelang unterdrückt oder verhindert wurde und allenfalls indirekte Ausdrucksformen gefunden habe in der herrschenden patriarchalischen Kultur.144
Während die Gleichheitshypothese in Bezug auf das Grundverhältnis der Geschlechter zueinander bzw. die Relation ›Mann‹/›Frau‹ und ›Gesellschaft‹ die Prämisse der Gleichwertigkeit obligatorisch einschließt, ist diese bei der Differenzhypothese je nach spezifischer Axiomatik fakultativ. Eine Positionierung auf systematischer Ebene ist nicht Ziel der vorliegenden Studie.145 Sowohl die Gleichheits- wie auch die Differenzhypothese sind – siehe Osinskis wichtigen Hinweis – gewählte Prämissen im Rahmen feministisch ausgerichteter Forschungsansätze und stehen in direkter Relation mit einem emanzipatorischen Telos, das je nach Art der Ausgangshypothesen unterschiedlich konzeptualisiert ist. Die Perspektive der vorliegenden Untersuchung ist grundsätzlich deskriptiv-analytisch: Gleichheits- und Differenzhypothese werden als Konzepte aufgefasst, die in ihrer jeweiligen historischen Konkretisierung in bestimmten Funktionszusammenhängen stehen. Ihr Status ist aus dieser Sicht der von historischer Semantik, und für die Interpretation der naturalistischen bzw. naturalismusnahen Dramen Elsa Bernsteins wird sich im weiteren Verlauf der Arbeit die Analyse ebendieser historischen Semantik als zentral erweisen. Für die Untersuchungsperspektive der vorliegenden Studie ist ein solchermaßen weit gefasstes Konzept von Genderforschung anschlussfähig, das davon ausgeht, daß Geschlechterverhältnisse, ob sie im Rahmen von Gleichheits- oder Verschiedenheitsmodellen gedacht werden, vielfältig bedingte soziale Konstrukte sind, die sich historisch ändern.146
Diese Auffassung vom gesellschaftlichen Konstruktionscharakter von Geschlechterverhältnissen und dem komplexen Bedingungsgefüge, in dem diese stehen, lässt sich mit der hier zugrunde gelegten funktionalistischen Grundaxiomatik ohne Weiteres vereinbaren. Dass damit jedoch mit Blick auf die ge-
144 Osinski 1998, S. 126. 145 Einen Versuch der Positionierung gegenüber dem Gleichheits- und Differenzmodell der Geschlechter unternimmt etwa der von der Anglistin Ingeborg Weber herausgegebene Band Weiblichkeit und weibliches Schreiben (1994), der sich anhand konkreter Textanalysen kritisch mit den poststrukturalistischen Differenztheoremen (vgl. das Konzept der ¦criture f¦minine) auseinandersetzt. Weber beschließt den Band mit dem auf der Basis der Einzelanalysen überzeugenden Fazit, dass die (feministische) These von der Spezifik ›weiblichen Schreibens‹ empirisch nicht haltbar scheint, und weist auf die wissenschaftliche Fragwürdigkeit einer implizit normativen Analysehaltung gegenüber literarischen Texten hin; vgl. Weber 1994, S. 199. 146 Osinski 1998, S. 122. Zu ›Geschlecht‹ als diskursiv-gesellschaftlicher Konstruktion siehe grundlegend etwa Butler 1990 und 1993.
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genwärtig prototypischere Ausrichtung der Genderforschung eine relativ diskrepante Verwendung des Konzepts vorliegt, soll nicht verhehlt werden.
1.2.5 Zum Begriff des ›Diskurses‹ Bevor in den nachfolgenden Kapiteln Herausbildung und Wandel des komplementären Geschlechtermodells untersucht werden, ist noch eine weitere terminologische Explikation in Hinblick auf den Begriff des ›Diskurses‹ zu leisten. Dieser wird innerhalb der Literaturwissenschaft einerseits geradezu inflationär gebraucht und ist in dieser Form häufig relativ bedeutungsoffen, andererseits steht er jedoch auch in einem spezifischen Theoriezusammenhang. In der vorliegenden Untersuchung wird der Diskursbegriff in einem weiter gefassten Sinne verwendet, wie er innerhalb sprachwissenschaftlicher Ansätze von Diskursanalyse und Kommunikationstheorie gebräuchlich ist147 – die theoriegeschichtlich durchaus mit der Diskursanalyse im Foucault’schen Sinne zusammenhängen. Neben der basalen sprachwissenschaftlichen Verwendung von ›Diskurs‹ als Oberbegriff für verschiedene Aspekte von Text vor allem im Sinne nicht schriftlich fixierter sprachlicher Äußerungen (›Diskurs‹ als »zusammenhängende Rede« und »geäußerter Text«148) rekurriert der Terminus auch in seiner engen Fassung innerhalb der Linguistik bereits auf die Aspekte der Prozesshaftigkeit und Performativität sowie der situativen und kommunikativen Relationalität sprachlicher Äußerungen. Im Zuge der Auseinandersetzung mit der durch Michel Foucault begründeten Diskursanalyse und der fortschreitenden Ausdifferenzierung sprachwissenschaftlicher Forschungsbereiche, die sich mit der ›Gebrauchsseite‹ von Sprache befassen, hat der Diskursbegriff auch in der Linguistik eine deutliche Ausweitung erfahren. Der Import des weiten Diskursbegriffs in die Sprachwissenschaft verlief dabei über den Forschungsbereich der historischen Semantik.149 Unter ›Diskurs‹ wird in textlinguistischer Sicht im Zusammenhang mit dem Konzept der Intertextualität »eine Menge von inhaltlich zusammengehörigen 147 Vgl. etwa die beiden Handbuchbeiträge von Tophinke 2001 sowie Wilhelm 2001. 148 Bußmann 2002, S. 171. 149 Bußmann 2002, S. 172 verweist auf den Beitrag von Busse / Teubert 1994, S. 10 – 28. Der Forschungsansatz der Historischen Semantik, wie er in der Literaturwissenschaft in der von Reinhart Koselleck bzw. in einer gewissen Abgrenzung zu dessen Konzeption von Niklas Luhmann geprägten Form praktiziert wird, unterscheidet sich dabei von der sprachwissenschaftlichen Ausrichtung, die bei der Untersuchung sprachlichen Bedeutungswandels zwar nach den relevanten diskursiven und situativen Kontexten fragt, aber eben nicht primär an diesen Kontexten und der konstitutiven Funktion von Semantik für die gesellschaftliche Wirklichkeit interessiert ist.
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Texten oder Äußerungen« verstanden, »die nicht […] in einer realen Gesprächssituation verknüpft sind, sondern ein intertextuelles ›Gespräch‹ in einer Kommunikationsgemeinschaft bilden«150 : Die Äußerungen des D[iskurses] konstituieren und differenzieren gemeinsam ein globales Thema und sind verknüpft durch thematische und begriffliche Beziehungen, durch gemeinsame Werthaltungen oder auch konkret durch Zitate und andere Formen der Reformulierung. In den zentralen Konzepten und Argumentationsmustern der verschiedenen D[iskurse] spiegeln sich die aktuellen Interessen und das topische Wissen einer Gesellschaft […]. Den Einzeltext in seinen vielfältigen Sinnbezügen kann man wiederum als ›interdiskursive‹ Schnittstelle unterschiedlicher D[iskurse] auffassen.151
Diese Explikation steht in sichtbarer Nähe zum Diskursbegriff bei Foucault. Zwar verwendet er diesen nicht immer einheitlich, in der Archäologie des Wissens bezeichnet ›Diskurs‹ im engeren Sinne jedoch »eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören«152. ›Diskurse‹ setzen sich für Foucault aus Komplexen von Aussagen zusammen, deren Verbindung oder ›Formation‹ bestimmten Regeln gehorcht, die historisch variabel sind. Ein ›Diskurs‹ ist damit eine Summe von Aussagen zu einem bestimmten Thema, der das Wahrnehmen, Denken und Handeln von Individuen steuert und dazu beiträgt, gesellschaftliche Realität zu konstituieren. Bis dahin scheint der in der vorliegenden Arbeit verwendete Diskursbegriff mit der (terminologischen) Konzeption der Diskursanalyse nach Foucault vereinbar zu sein. Ein weiterer anschlussfähiger Aspekt ist die eindeutige Verabschiedung intentionalistischer Erklärungsansätze, wie sie auch die oben bereits problematisierte Repressionshypothese darstellt: Da aus diskursanalytischer Sicht mit Blick auf gesellschaftliche (Sprach-)Machtverhältnisse nicht von einer »Dichotomie von Unterdrückten und Unterdrückenden«153 auszugehen ist, kann auch die »Vorstellung einer allgemeinen Theorie des Patriarchats«154 nicht als Deutungsgrundlage gesellschaftlicher Verhandlungen von ›Geschlecht‹ fungieren. Trotz dieser Überschneidungen mit diskursanalytischen Prämissen liegt das wesentliche Moment der methodisch-theoretischen Abgrenzung der vorliegenden Studie jedoch begründet in einer disparaten Auffassung von der Struktur und den Ursachen des Wandels von (literarischer) Kommunikation und deren Regeln. Philip Ajouri bringt die entsprechende Untersuchungsper150 151 152 153 154
Bußmann 2002, S. 171. Bußmann 2002, S. 171 f. Foucault 1973, S. 156. Jäger 2010, S. 390. Jäger 2010, S. 390. Mit Jäger ist »patriarchale Herrschaft [aus diskursanalytischer Perspektive, N.I.] immer im Geflecht verschiedener Machtdimensionen positioniert« (ebd.).
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spektive von Foucaults Diskursanalyse, wie sie in seiner oben genannten Schrift deutlich wird, überzeugend auf den Punkt: Aussagen aus verschiedenen Texten werden dort hinsichtlich gemeinsamer Formationsregeln untersucht, das sind Regeln, die diese Aussagen konstituieren und ihre Vervielfältigung bestimmen. Dabei wird der Erklärung des Wandels dieser Formationsregeln (und damit der Diskurse und der Literatur) meist wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Es sollen gerade keine Veränderungen, sondern Brüche beschrieben werden.155
Die vorliegende Untersuchung, die von einem konstitutiven Zusammenhang der Konzepte ›Bildung‹, ›Perfektibilität‹ und der Relevanz des komplementären Geschlechtermodells innerhalb des Naturalismus ausgeht, nimmt jedoch auf der Basis einer systemtheoretisch-wissenssoziologischen Axiomatik gerade den kontinuierlichen Wandel sowie die semantische Aktualisierung und Justierung von Konzepten in den Blick. Diese Axiomatik schließt die Prämisse ein, dass soziale Systeme kommunikationsbasiert sind – oder genauer gesagt: ausschließlich aus Kommunikation bestehen –, und dementsprechend für die beständige Anschlussfähigkeit von Kommunikation Sorge tragen müssen, um weiterhin zu existieren.156 Aus dieser Perspektive spart der Foucault’sche Ansatz genau die Stellen aus, an denen es aus (literar-)historischer Sicht gerade spannend wird: Foucault konstruiert seine Epistemen, indem er konsequent alle Warum-Fragen ausschließt. Die so entstandenen klaren Grenzen der Begriffe sollten jedoch nicht mit Diskontinuitäten des Gegenstandes konfundiert werden. Sie sind vielmehr folgerichtiges Produkt eines restriktiven Ansatzes der Begriffsbildung, der vom Historiker wieder aufgebrochen werden muß. Und die Distinktheit der Diskurse verliert gleichfalls an Dramatik, wenn man hinzudenkt, daß es allemal personale Träger, horribile dictu: Subjekte sind, die an verschiedenen Diskursen teilhaben, kognitive Dissonanzen zu vermeiden suchen und dies nicht nur mit Strategien der Abschottung, sondern auch mit solchen der Kompatibilisierung tun, also ständig für Durchlässigkeit der Diskursgrenzen sorgen.157
Ein funktionalistisch ausgerichteter Forschungsansatz, der nicht nur das Wie, sondern auch das Warum von Wandel untersucht, kann also nur mit einem Diskursbegriff operieren, der ›Diskurs‹ als Kommunikation versteht, die nicht an »epistemischen Grenzen« zum Erliegen kommt, sondern über entsprechende Aus- und Umdeutungen anschlussfähig gehalten wird. In der vorliegenden Studie wird der Diskursbegriff mit einer deutlichen Nähe, jedoch zugleich mit der oben begründeten Distanz zu dessen diskursanalytischer Definition als 155 Ajouri 2009, S. 36. 156 Vgl. dazu Luhmann 1987 zu ›Autopoiesis‹ als soziologischem Begriff. 157 Eibl / Willems 1989, S. 4.
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praktikabler Terminus kommunikationstheoretischer Prägung aufgefasst, mit dem auf die Einbettung von Literatur in komplexe kommunikationsbasierte Strukturen und deren Relevanz im Prozess der Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit rekurriert werden kann. Diese Begriffsverwendung schließt an die wissenssoziologische Definition des Terminus an, wie sie Hubert Knoblauch vornimmt: Als Pendant zum Begriff des kommunikativen Haushaltes verstehe ich Diskurse als kommunikative Prozesse der Aufrechterhaltung und Veränderung gesellschaftlich relevanter Themen und Formen.158
›Diskurse‹ bezeichnen damit dasjenige komplexe kommunikative Gefüge, innerhalb dessen sprachlich-kognitive Konzepte verhandelt und gesellschaftlich stabilisiert werden – und natürlich innerhalb dessen sie sich verändern, was als semantischer Wandel wahrnehmbar wird.159 Unter ›Diskursivierung‹ wird in diesem Sinne der komplexe wechselseitige Prozess der Bedeutungszuweisung und kommunikativen Verbreitung von Bedeutung verstanden, also der Prozess, in dem sich ›gepflegte Semantik‹ etabliert, die Mechanismen der Selektion und Vorstrukturierung von Wahrnehmung und (kommunikativem) Handeln bereitstellt, durch die wiederum die Bedeutungskonstitution und konzeptuelle Aktualisierung perpetuiert wird.
158 Knoblauch 2006, S. 209. 159 Vgl. dazu den exemplarisch den Band Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik (Busse / Hermanns / Teubert [Hg.] 1994), der einen grundlegenden Überblick zum fruchtbaren Forschungsansatz einer linguistischen Diskursanalyse gibt. Neben dem einleitenden Artikel »Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik« (Busse / Teubert 1994) ist besonders auch der Beitrag »Linguistische Anthropologie. Skizze eines Gegenstandsbereichs linguistischer Mentalitätsanalyse« (Hermanns 1994) aus literaturwissenschaftlicher Sicht interessant.
2.
›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹ – Die Herausbildung der komplementären Geschlechtersemantik um 1800 und ihre Relevanz in der Umbruchphase um 1900
2.1
Das komplementäre Geschlechtermodell als diskursivierte Semantik um 1800
Mit ihrem 1976 im von Werner Conze herausgegebenen Band Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen publizierten Aufsatz »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben« hat Karin Hausen einen sehr kritisch diskutierten, aber ohne Zweifel grundlegenden Beitrag geliefert, der bis heute als Referenztext für geschichts- und literaturwissenschaftliche Arbeiten fungiert.1 Wie im Folgenden gezeigt werden soll, hat Hausen mit ihren Überlegungen zur historischen Semantik des komplementären Geschlechtermodells – wenn auch nicht unter dieser Terminologie2 – ein wichtiges Fundament für weitere Forschungen 1 Den Grundlagenstatus von Hausens Studie für den Bereich der Genderforschung belegt etwa die 2008 erschienene Einführung in die Gender Studies von Franziska Schößler. Als Beispiel für die obligatorische Referenz siehe den Beitrag von Balmer 2009, der einen guten Überblick zur »Frau in der bürgerlichen Familie« gibt, in der Textanalyse aber stark in die Argumentationsrichtung ›weibliche Subversion patriarchaler Strukturen‹ tendiert. Erneut abgedruckt ist der Beitrag im 2012 erschienenen Band Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, in dem Hausen eigene Aufsätze aus drei Jahrzehnten der Forschung zur Geschlechtergeschichte sammelt (vgl. Hausen 2012a, S. 11). Hausen hebt hier zu Recht den Grundlagenstatus des Textes hervor, blendet jedoch auch dessen kritische Rezeption nicht aus. So stellt sie dem Aufsatz zur Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹ (1976) und dem späteren, von ihr als »wesentliche Ergänzung« bezeichneten sozial- und symbolgeschichtlichen Beitrag zu Ehepaaren im deutschen Bildungsbürgertum im späten 18. und 19. Jahrhundert (1988) einen speziell für den Band verfassten »Rückblick auf die Rezeptionsgeschichte des Geschlechtscharaktere-Aufsatzes« (Hausen 2012a, S. 12) zur Seite, auf den im Folgenden noch einzugehen sein wird. 2 Hausens Aufsatz ist, wie eingangs erwähnt, in einem anderen Theoriediskurs verortet; der Terminus ›historische Semantik‹ wird folglich von außen an den Text herangetragen. Die in Kapitel 1.2.1 skizzierte Neukonzeptualisierung der Sozialgeschichte anhand des systemtheoretischen Ansatzes Luhmann’scher Prägung erlaubt aus meiner Sicht eine plausible ›Übersetzung‹ in die entsprechende Terminologie und die konzeptuell stimmige Anbindung von Hausens Thesen an die Perspektive der vorliegenden Untersuchung.
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
bereitet, das trotz der mittlerweile erfolgten kritischen Einschränkung und teilweise auch Widerlegung einzelner Thesen in seiner Gesamtanlage tragfähig ist. Für die vorliegende Untersuchung zur Diskursivierung der Geschlechterkrise innerhalb des Naturalismus wurde als Ausgangsbeobachtung umrissen, dass das tradierte Modell der Geschlechterrollenverteilung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in seinem Geltungsanspruch grundlegend fragwürdig geworden ist. Die Omnipräsenz der Themenfelder ›Sexualität‹3 und ›Geschlecht‹ bzw. vor allem ›Weiblichkeit‹ im publizistischen, wissenschaftlichen4 und literarischpoetologischen Diskurs lässt sich als symptomatisch für den Bedarf lesen, die gesellschaftlich als gültig gehandelte Geschlechtersemantik zu aktualisieren. Wie Urte Helduser in ihrer Studie Geschlechterprogramme nachweist, findet innerhalb der programmatischen Bestimmungen der literarischen Moderne in den spezifischen Diskursformationen ›Naturalismus‹ und ›D¦cadence‹ eine »Diskursivierung von Geschlecht«5 statt; d. h. die Kategorie ›Geschlecht‹ kommt in den jeweiligen poetologischen Programmatiken explizit zum Einsatz, um die eigene Positionierung innerhalb der ›Moderne‹ vorzunehmen.6 Helduser wertet diesen Umstand als Zeichen für die Krise der tradierten Geschlechterzuordnungen7 und zeigt die enge diskursive Verknüpfung der Kategorie ›Geschlecht‹ bzw. des semantischen Felds des ›Weiblichen‹ mit der Referenz auf die Krisen3 Neben dem naheliegenden Verweis auf die Arbeiten von Sigmund Freud und wiederum deren literarische bzw. allgemein künstlerische Verarbeitung lässt sich als exemplarischer Beleg für die umfassende Präsenz des Themas ›Sexualität‹ auch der Rezeptionserfolg der in der Einleitung der Arbeit bereits erwähnten Schrift Psychopathia sexualis (1886) von Richard von Krafft-Ebing anführen. Die um 1900 äußerst populäre Publikation des Professors für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, die sich in Form von detaillierten Fallstudien mit sexuellen »Perversionen« wie Fetischismus, Flagellation und Homosexualität befasst, erschien 1893 bereits in der 8., stark erweiterten Auflage. 4 Siehe dazu die detaillierte Auswertung medizinischer und psychologischer Schriften um 1900 von Stephanie Catani, die aufzeigt, wie dort weibliche Sexualität thematisiert und oftmals pathologisiert wird; Catani 2005. 5 Helduser 2005, S. 13. Helduser knüpft mit ihrer Untersuchung unter anderem an Gisela Brinker-Gabler an, die auf die zentrale Rolle der Geschlechterdifferenz im »Projekt der Moderne« hingewiesen hat, welche unter anderem in der »explodierenden Bilderproduktion des Weiblichen um die Jahrhundertwende« greifbar werde (Brinker-Gabler 2000, S. 245). 6 Dass die Kategorie ›Geschlecht‹ nicht nur innerhalb der poetologischen Programmatik etwa in Form von Metaphorisierungen, Allegorien und Bezugnahmen auf das semantische Wortfeld signifikant zum Einsatz kommt, sondern auch im Bereich der Literaturkritik als Basiskategorie der literarischen Wertung herangezogen wird, lässt sich etwa bei Leo Berg sehen, vgl. dessen Besprechung zu Bernsteins Dämmerung in Der Zuschauer 1, 10 (1893), auf die in Kapitel 3.2.5 näher eingegangen wird. Vgl. dazu auch das entsprechende Kapitel zu Leo Berg in der Studie von Helduser (»Moderne als Geschlechterproblem: Leo Berg«, Helduser 2005, S. 147 – 183; dort insbesondere die Abschnitte »Antifeminismus als Literaturkritik«, S. 149 – 152, sowie »Naturalismus: Ästhetik und Geschlechterordnung«, S. 153 – 165). 7 Vgl. Helduser 2005, S. 13.
Das komplementäre Geschlechtermodell als diskursivierte Semantik um 1800
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erfahrung8 der (literarischen) Moderne auf. Ein Auslöser dieser Krise liegt nach Helduser in der Gegensätzlichkeit von ›weiblicher Subjektlosigkeit‹ als Grundlage der weiblichen Repräsentationsfunktion auf der einen, und weiblicher Subjektivierung auf der anderen Seite: Wenn die Repräsentationsfunktion des Weiblichen dessen Subjektlosigkeit zur Voraussetzung hat, dann stellt sich die Frage, was der weibliche Emanzipationsanspruch als Einforderung weiblicher Subjektivität und Teilhabe an der Moderne für die Konstruktion der (literarischen) Moderne bedeutet.9
Aus einer leicht justierten Perspektive ist diese Beobachtung gut an die vorliegende Untersuchung anschließbar. Wie in Kapitel 2.2.5 mit Blick auf das Problem ›weiblicher Exklusionsindividualität‹ ausgeführt wird, findet Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich ein gesellschaftsstruktureller und semantischer Wandel statt, in dessen Zuge Frauen zunehmend in die Situation der ›Multiinklusion‹10 in gesellschaftliche Funktionssysteme geraten und Identitätskonstitution mehr und mehr über eine Semantik der Exklusion geleistet werden muss.11 Um die Krise des komplementären Geschlechtermodells und seiner klaren Zuweisung von Rollen, Funktionen und Charaktereigenschaften um 1900 analytisch zu erfassen und das Modell in seiner Relevanz für die Programmatik und Ästhetik des Naturalismus bewerten zu können, ist es notwendig, die Phase der semantischen Diskursivierung desselben in den Blick zu nehmen. Karin Hausen arbeitet in ihrem Aufsatz zur Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹ heraus, dass die Etablierung des komplementären Geschlechtermodells im Sinne einer spezifischen Semantik um 1800 in engem Zusammenhang mit der ›romantischen‹12 Aktualisierung des Perfektibilitätskonzepts der europäischen Aufklärung steht.13 Die in weiten Teilen scharfsichtige Analyse stützt meine These, dass 8 Zum Themenkomplex der Moderne als Krise vgl. auch die Untersuchung von Günter 2008 zur Mediengeschichte der Literatur im 19. Jahrhundert, sowie Schneider 2005 und Magerski 2004 zur Institutionalisierung und axiomatischen Pluralisierung der Literaturkritik im Naturalismus. 9 Helduser 2005, S. 13. Wenngleich das von Sigrid Weigel formulierte Theorem von der ›weiblichen Subjektlosigkeit‹ (vgl. Weigel 1990, S. 167 et passim), das Helduser ihrer Arbeit als Prämisse zugrunde legt (vgl. Helduser 2005, S. 3), aufgrund der damit verbundenen ideologiekritischen Verengung des analytischen Blicks aus meiner Sicht argumentativ nicht unproblematisch ist, stützt ihre fundierte Quellenanalyse meine Rahmenthese, dass um 1900 eine signifikante Präsenz der Kategorie ›Geschlecht‹ und ein programmatischer Einsatz derselben in Entwürfen poetologisch-literarischer Positionierung innerhalb der gesellschaftlichen und literarischen ›Moderne‹ zu beobachten ist. 10 Vgl. Nassehi 1997. 11 Vgl. hierzu pointiert Ajouri 2009, S. 13. 12 Diese Bezeichnung ist im weiteren Verlauf noch zu explizieren. 13 Zur geschichtsphilosophischen Aktualisierung des Perfektibilitätskonzepts im Kontext der Romantik vgl. Igl 2008/09 und Igl 2006. Siehe auch Luhmanns Überlegungen zur Konzeption und Funktion der Begriffe ›Perfektibilität‹ und ›Harmonie‹ im Rahmen der Herausbildung
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
das komplementäre Geschlechtermodell als Teil einer umfassenderen semantischen Problemlösungsstrategie zu verstehen ist, welche auf den um 1800 massiv angestiegenen Bedarf an begrifflich-konzeptueller Aktualisierung reagiert, der aus dem Übergang von der (primär) stratifikatorisch zur (primär) funktional differenzierten Gesellschaft folgt.14
2.1.1 Polarisierungen auf Gegenstands- und Metaebene – Potential und Präzisierungsbedarf der Thesen zum polaristischen Modell der ›Geschlechtscharaktere‹ Hausens Untersuchung zur Herausbildung des Modells ›polaristischer Geschlechtscharaktere‹ und dessen Zusammenhang mit der historischen Entwicklung der Arbeitsteilung wurde in der Forschung in einzelnen Punkten kritisch aufgenommen und muss wie eingangs bereits angesprochen in einigen Teilen der Argumentation als widerlegt gelten. Doch zunächst: Worin besteht die genuine Leistung des Beitrags, die ihn trotz seines älteren Datums für die vorliegende Untersuchung relevant macht? Auffällig ist, dass der Beitrag einerseits in der geschichtswissenschaftlichen Rezeption und der weiteren Forschung zur Entstehung der bürgerlichen Geschlechterordnung eher skeptisch aufgenommen wurde, wodurch sein analytisches Potential meines Erachtens noch nicht im verdienten Maße herausgestellt worden ist. Und dass zugleich auf der anderen Seite etwa in einer aktuellen Überblicksdarstellung zu den Gender Studies von Franziska Schößler15 über in der Forschung als wesentlich konstatierte Einschränkungen der Hausen’schen Thesen hinweggegangen wird. Über die im Folgenden zu diskutierende kritische Bewertung ihrer Thesen hinaus ist Hausens Verdienst innerhalb des sozialgeschichtlichen Forschungsparadigmas deutlich: Mit ihrem Beitrag hat sie den Blick auf den im damaligen Forschungsmainstream stark randständigen Bereich der historischen Entwicklung des Geschlechtermodells im Prozess der Herausbildung des ›Bürgertums‹ als einer sich kommunikativ selbstkonstituierenden, sozialgeschichtlich jedoch der frühneuzeitlichen Anthropologie, die mit den Problemen der »Selbstreferenz, Negativität und Unbestimmtheit« (Luhmann 1980, S. 215) umgehen muss; vgl. ebd., S. 212 – 216. 14 Vgl. hierzu den Beitrag von Armin Nassehi zur Kategorie ›Geschlecht‹ in der funktional differenzierten Gesellschaft, in dem er auf die Funktionszusammenhänge der Ontologisierung des Körpers und der antithetischen Gegenüberstellung der Geschlechter eingeht; Nassehi 2003. 15 Schößler 2008. Nicht nur Hausens Aufsatz von 1976 (bei Schößler fälschlich auf 1978 datiert), sondern auch Silvia Bovenschens Grundlagenstudie Die imaginierte Weiblichkeit von 1979 wird im knappen Referat tendenziell zu wenig differenziert bzw. kritisch wiedergegeben – was einerseits der Textsorte der Einführung geschuldet sein mag, andererseits jedoch mit einer generellen ›homogenisierenden‹ Rezeptionstendenz der entsprechenden Studien innerhalb gender-orientierter Forschung zusammenhängt.
Das komplementäre Geschlechtermodell als diskursivierte Semantik um 1800
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schwer greifbaren Gruppierung16 geöffnet (und damit auch die Kategorienreflexion vorangetrieben, die in ideologiekritisch-feministischen Ansätzen eingefordert wurde). Zur Kontextualisierung: Noch in dem von Werner Conze und Jürgen Kocka herausgegebenen ersten Band zum Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert (1985), der sich mit dem Bildungssystem und Professionalisierungsprozessen befasst, wird die Kategorie ›Geschlecht‹ nicht näher thematisiert. Wenngleich der klare Fokus auf ›männliches Personal‹ im Forschungskontext der Professionalisierungsprozesse angesichts der spezifischen weiblichen Bildungs- und Rollenkonzeption im 19. Jahrhundert auf den ersten Blick gerechtfertigt scheint, hat Ulrich Engelhardt in seiner Studie zur kulturellen Sozialisationsfunktion ›der Frau‹ innerhalb der bürgerlichen Familienkonzeption die Notwendigkeit deutlich gemacht, beide geschlechtsspezifisch geltenden bürgerlichen Bildungs- und Rollenkonzeptionen in den Blick zu nehmen, da diese funktional aufeinander bezogen sind.17 Hausens Blickrichtung lässt sich nun – bei einer stellenweisen Modifikation und Präzisierung ihrer Thesen – mit einer zentralen Prämisse der vorliegenden Arbeit in Einklang bringen: Meines Erachtens ermöglicht es eine begriffs- und funktionsgeschichtliche Untersuchungsperspektive, der Gefahr der Ontologisierung und intentionalistischen Deutung historischer Prozesse weitgehend zu entrinnen. Zudem macht sie die Notwendigkeit obsolet, ein Initialmoment identifizieren zu müssen, an dem ein Konzept wie das der dichotomen Geschlechter(stereo)typisierung zum ersten Mal in Erscheinung getreten wäre. Nimmt man die Forderung ernst, dass ›Geschlecht‹ nicht nur als biologische, sondern vor allem auch als historische Kategorie zu betrachten ist,18 so lässt sie sich – will man über die Beschreibungsebene anthropologischer Universalien hinausgehen – nur im konkreten historischen Kontext untersuchen, und das heißt: als relationales und funktionales Konzept innerhalb eines spezifischen historischen gesellschaftlich-kulturellen Kommunikationszusammenhangs. Mit Blick auf eine solchermaßen begriffs- und funktionsgeschichtlich ausgerichtete gender-sensible Literaturwissenschaft kann Hausens Studie trotz kritischer Einschränkungen durchaus als Grundlagentext gelesen werden, in dem der semantische Wandel des Geschlechtermodells bzw. die diskursive Verfestigung des Modells der komplementären ›Geschlechtscharaktere‹ seit dem 18. Jahrhundert historisch-funktional plausibilisiert wird. Die Kritik an Hau16 Siehe dazu die zusammenfassenden Ausführungen in Kapitel 2.1.5. 17 Vgl. Engelhardt 1992. Die sehr umfang- und materialreiche Untersuchung, auf die im Folgenden immer wieder Bezug genommen wird, bezieht viele historische Zeugnisse der Frauenbildungsgeschichte mit ein und skizziert einige zentrale Etappen der Entstehungsgeschichte der polaristischen Geschlechtercharakterologie. 18 Vgl. exemplarisch Kuhn 1983, S. 29 f. sowie Scott 1986 und die kritische Bestandsaufnahme in Scott 2001.
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sens Thesen bezieht sich dabei vor allem auf die historische Verortung des Entstehungszeitraums der Geschlechterstereotype. Dass deren Herausbildung historisch weit früher anzusetzen ist als in der ›Sattelzeit‹ um 1770, und man nicht von der genuinen »Erfindung« der antithetischen Charakterisierung der Geschlechter um 1800 sprechen kann, mahnen etwa Katja Deinhardt und Julia Frindte sowie Annette Kuhn an.19 Dieser berechtigte Einwand wird im Folgenden berücksichtigt und für die notwendige Präzisierung der von Hausen vorgebrachten Thesen herangezogen. In der Rezeption von Hausens Thesen – ob kritisch oder affirmativ – wird die Möglichkeit einer stärker begriffsgeschichtlich-funktionalistischen Lesart, wie sie sich vor dem systemtheoretisch erweiterten Forschungsansatz der Historischen Semantik anbietet, kaum gesehen. Zum Teil tritt die Rezeption auch hinter den insgesamt reflektierten sozialgeschichtlichen Ansatz Hausens zurück und verbleibt im sozialgeschichtlich-ideologiekritischen ›Basis-Überbau‹-Schema, dessen Unterkomplexität in der Forschung mittlerweile eigentlich Konsens ist.20 In der Monographie Populäre Romane und Dramen im 18. Jahrhundert von Horst Hartmann und Regina Hartmann findet sich im Rahmen der Ausführungen zur Entstehung populärer Massenliteratur ein eigenes Unterkapitel mit dem Titel »Die Herausbildung von Geschlechtscharakteren als soziales Orientierungsmuster«.21 Hausens Thesen werden hier ohne Verweis auf die kritische Forschungsdiskussion aufgegriffen und in eine scheinbar funktionalistische, bei genauerer Betrachtung aber kausalistische Argumentationsstruktur eingebettet, deren ideologie- und kapitalismuskritische Axiomatik deutlich wird.22 Insgesamt lässt sich festhalten, dass Hausens Aufsatz von 1976 in seinem argumentativen Gehalt tendenziell unter- bzw. überschätzt wird. Ein kritischreflektiertes Anknüpfen an Hausens Forschungsbeitrag, der dessen analytisches und heuristisches Potential ausschöpft und dabei die zeitliche Kluft zum gegenwärtigen Forschungsstand überbrückt, erscheint mir als ein Desiderat, um dessen Einlösung ich mich im hier möglichen Rahmen bemühe. In den folgenden Abschnitten werden daher die zentralen, für die vorliegende Untersu-
19 Deinhardt / Frindte 2005, Kuhn 1983. Siehe auch den Beitrag von Rang 1986 zur »Geschichte des dualistischen Denkens über Mann und Frau«. 20 Siehe grundlegend die einleitende Diskussion bei Willems 1995, zur ›Basis-Überbau‹-Problematik besonders S. 2. 21 Hartmann / Hartmann 1991, S. 140 – 154. 22 Siehe etwa das Fazit auf S. 153 f., in dem das als soziales Orientierungsmuster fungierende Modell der ›Geschlechtscharaktere‹ in direkten Zusammenhang mit »der Herausbildung kapitalistischer Marktstrukturen« (Hartmann / Hartmann 1991, S. 153) gebracht wird. Die Eigendynamik semantischen Wandels (vgl. Willems 1995, S. 2) sowie dessen komplexe Wechselbeziehung zum gesellschaftsstrukturellen Wandel wird bei diesem kausalistischen Argumentationsansatz ausgeblendet.
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chung weiterführenden Thesen aus Hausens Beitrag diskutiert und für die weitere Anbindung an die hier relevanten Forschungskontexte aufbereitet.
2.1.2 Die ›Komplementarität der Geschlechter‹ und die Ausdifferenzierung von ›Öffentlichkeit‹ und ›Privatheit‹ Ausgangspunkt von Hausens Untersuchung ist das begriffsgeschichtlich auf das 18. Jahrhundert datierbare Auftreten der Bezeichnung ›Geschlechtscharakter‹, unter der die als Grunddisposition aufgefasste Korrespondenz von physischen und psychischen Geschlechtsmerkmalen verstanden wird: »Geschlechtscharakter«, dieser heute in Vergessenheit geratene Begriff bildete sich im 18. Jahrhundert heraus und wurde im 19. Jahrhundert allgemein dazu verwandt, die mit den physiologischen korrespondierend gedachten psychologischen Geschlechtsmerkmale zu bezeichnen. Ihrem Anspruch nach sollten Aussagen über die »Geschlechtscharaktere« die Natur bzw. das Wesen von Mann und Frau erfassen.23
Hausen geht es nun darum, »die Herausbildung und Verwendung dieses dem Stichwort ›Geschlechtscharakter‹ zugeordnete Aussagesystem nachzuzeichnen und zu interpretieren«24. Ihre zentralen Thesen sind dabei, dass es sich (1.) bei der Bestimmung der ›Geschlechtscharaktere‹ um 1800 um einen Wechsel des Bezugssystems handelt, nach dem Männer und Frauen gesellschaftlich verortet werden,25 und dass (2.) dieser Wechsel des Bezugssystems und damit die Polarisierung der Geschlechtscharaktere in Zusammenhang mit der historischen Entwicklung der Arbeitsteilung (bzw. genauer : der Dissoziation von Erwerbsund Familienleben) gesehen werden muss.26 Die oben angesprochene Kritik an der These von der »Erfindung« des weiblichen Geschlechtscharakters im späten 18. Jahrhundert scheint Hausens Überlegungen zunächst deutlich zu relativieren. Empirisch schlagkräftig ist die Kritik insofern, als sich in der von Hausen als Beleg für die noch nicht vorhandene Charaktertypisierung herangezogenen Hausväterliteratur bereits entsprechende Geschlechtertypisierungen nachweisen lassen. Die methodischen und quellenkritischen Einwände sind aber trotz aller Berechtigung gewissermaßen auszuhebeln: Mit der wichtigen Einschränkung, dass nicht der Anspruch auf die Beschreibung realgeschichtlicher, sondern begriffsgeschichtlich-semantischer Zusammenhänge erhoben wird, wie sie für den Bereich Literatur im allgemeinen und konkret für die im zweiten Hauptkapitel der vorliegenden 23 24 25 26
Hausen 1976, S. 363. Hausen 1976, S. 363. Vgl. Hausen 1976, S. 370. Vgl. Hausen 1976, S. 363.
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Arbeit zu analysierenden naturalistischen bzw. naturalismusnahen Dramen relevant sind. Doch zunächst zu den kritischen Anmerkungen von Annette Kuhn27 sowie Katja Deinhardt und Julia Frindte. Zwar wertet Kuhn Hausens begriffsgeschichtliche Verortung der sich etablierenden Charaktertypologie als stimmig,28 jedoch verwechsle Hausen den »begriffsgeschichtlich erfassbare[n] Vorgang der veröffentlichten Diskussion um die Geschlechtertypisierung nach 1770 mit dem längerfristigen sozialgeschichtlichen Prozeß der geschlechtsspezifischen Aufteilung der Arbeit und ihrer Ideologisierung«29. Bedenklich ist also aus Kuhns Sicht der von Hausen hergestellte Bezug zwischen ideologisch-begrifflicher und sozialgeschichtlicher Ebene. Aus quellenkritischer Sicht wendet Kuhn ein, dass sich auch in der von Hausen als Quellenbeleg für die noch nicht vollzogene polaristische Stereotypisierung der Kategorie ›Geschlecht‹ angeführten Hausväterliteratur bereits weibliche Geschlechterstereotype finden lassen,30 was die Datierung des von Hausen beschriebenen Konzepts der komplementären Geschlechtscharaktere um 1800 in Frage stelle. Wie Annette Kuhn grenzen sich auch Katja Deinhardt und Julia Frindte in ihrem Beitrag zu »Ehe, Familie und Geschlecht« im Band Bürgerliche Werte um 1800 von der Annahme der »abrupten« Herausbildung des Modells der komplementären Geschlechtscharaktere um 1800 ab und verweisen u. a. auf die bis in die Antike zurückgehende Unterscheidung geschlechtsspezifischer Lebens- und Aufgabenbereiche – auf der Basis der Unterscheidung spezifischer physiologischer wie psychologischer Dispositionen.31 Frindte, als Verfasserin der Abschnitte zum Geschlechterdiskurs um 1800, verweist hier unter anderem auf Schriften zur Haushaltsführung von Xenophon oder Aristoteles, in denen auch auf unterschiedliche physische und psychische Eigenschaften der beiden Geschlechter Bezug genommen wird. Intensiviert wird die Debatte um die Rangordnung der Geschlechter und die gesellschaftliche Stellung der Frau in der sogenannten Querelle de femmes, deren Beginn zumeist Ende des 14. Jahrhun-
27 Zum theoretischen Rahmen, innerhalb dessen Kuhn Hausens Thesen bewertet und kritisiert, gehört die in Kapitel 1.2.4 problematisierte feministische Repressionshypothese. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, weshalb die (nicht unberechtigte) Kritik an der Rede von der »Erfindung« der geschlechtlichen Charaktertypisierung Ende des 18. Jahrhunderts für Kuhn so schwer wiegt, dass Hausens Beitrag insgesamt als problematisch skizziert wird. 28 Mit Berufung auf die in den genannten Punkten kritisch beleuchtete Studie von Hausen konstatiert Kuhn 1983, S. 43: »Begriffsgeschichtlich ist die Entstehung der uns heute vertrauten weiblichen Geschlechterstereotypen genau zu erfassen.« 29 Kuhn 1983, S. 44. 30 Vgl. Kuhn 1983, S. 42, 44 f. sowie im gleichen Band Weigel 1983, hier S. 351. 31 Vgl. Deinhardt / Frindte 2005, besonders S. 254 – 257.
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derts angesetzt wird.32 Auch hier finden sich physische und psychische Kategorisierungen der Geschlechter : In der gesamten Debatte lassen sich von Anfang bis Ende ausführliche Reflexionen über körperliche, moralische und intellektuelle Fähigkeiten und Eigenschaften der Geschlechter finden. Wesentlicher Bestandteil der Auseinandersetzungen waren Erörterungen zum unterschiedlichen Status und den sich daraus für beide Geschlechter ergebenden Aufgaben.33
Wichtig ist an dieser Stelle anzumerken, dass Deinhardt und Frindte zwar die Kontinuität der komplementär konzipierten Geschlechterordnung herausstreichen, sich dabei jedoch von der feministischen Repressionshypothese kritisch distanzieren. Aus Sicht des gegenwärtigen Forschungsstandes zur Geschlechterund Familiengeschichte ist die Annahme einer kontinuierlichen, intendierten Unterordnung und Entmachtung von Frauen im Laufe der (Geschlechter-)Geschichte nicht haltbar. So weist Frindte auf die Reformationszeit als wichtige Zäsur hinsichtlich der Auseinandersetzung um Bedeutung und Funktion von Ehe und Familie hin, in der – hier unter Anbindung an die göttliche ordo – eine Aufwertung derselben beobachtbar sei.34 Während die ältere Forschung das frühneuzeitliche Konzept von Hausvater und Hausmutter und der jeweils zugewiesenen räumlich-sozialen Aufgabenbereiche lange als »Beginn der Unterdrückung der Frau« wertete,35 wird in der jüngeren Forschung die Auffassung vertreten, »daß den Frauen infolge der ihnen durch die Reformation verliehenen Machtbefugnisse im Haus doch eine enorme, nicht zu vernachlässigende Rolle in der Gesellschaft zugewiesen wurde«36. Frindte fasst zusammen, dass die zu Beginn des 16. Jahrhunderts erfolgte Aufwertung von Ehe und Familie die Beziehung zwischen den Geschlechtern für die kommenden Jahrhunderte festlegte. Die entsprechenden normativen Schriften37 – in denen das ausformuliert wird, 32 Vgl. Deinhardt / Frindte 2005, S. 256. 33 Deinhardt / Frindte 2005, S. 257. 34 Siehe Deinhardt / Frindte 2005, S. 257: »In Anlehnung an Luthers Theologie wurde die Ehe als einzige von Gott gewollte Form des Zusammenlebens aufgewertet. In diesem Zusammenhang erhielt auch das Haus als grundlegende Einheit des menschlichen Daseins erneut eine besondere Bedeutung. Die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts entstehende Hausväterliteratur thematisierte die Aufgaben von Frau und Mann und aller übrigen Personen des Hauses mit dem Ziel, ein harmonisches und ökonomisches Zusammenleben zu gewährleisten.« 35 Deinhardt / Frindte 2005, S. 258. 36 Deinhardt / Frindte 2005, S. 258. Frindte hebt hier hervor, dass die Frau generell nicht als »Gehilfin«, sondern »Gefährtin« des Mannes verstanden wurde; Frau und Mann »fungierten in erster Linie als Arbeitspaar« (ebd.), das in der Bewältigung der täglichen Aufgaben aufeinander angewiesen war. 37 In Bezug auf die Problematik der Rekonstruktion realgeschichtlicher Zusammenhänge auf der Basis normativ ausgerichteter historischer Quellen verweist Frindte auf die Arbeit von Renate Dürr (1998) zum Stellenwert normativer Literatur für sozialhistorische Forschungen;
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was später als ›klassische‹ weibliche Rollentrias (Gattin, Hausfrau, Mutter)38 gehandelt wird – stehen auch um 1800 nach Frindte noch in einer klaren Traditionslinie mit der frühneuzeitlichen Hausväterliteratur: Wie schon die Hausväterliteratur betonte, sollte die Frau auch um 1800 drei Hauptaufgaben erfüllen. Neben einer perfekten Hausfrau, der das ordnungsgemäße Führen des Haushaltes sowie die Aufsicht über Küche und Dienstpersonal oblag, hatte sie treusorgende Mutter und liebevolle Gattin zu sein. Die Schriftsteller und Gelehrten des ausgehenden 18. Jahrhunderts betonen immer wieder, daß die gleichmäßige Verteilung der Aufgaben die Voraussetzung für eine erfolgreiche Partnerschaft und ein glückliches Familienleben sei. Mit den Zuschreibungen »Hausmutter« und »Gefährtin des Mannes« knüpfen sie an die früheren Debatten an. In gewisser Weise stellen die Diskussionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts also eine Fortsetzung der Hausväterliteratur dar. Dabei entwickelten sich die ursprünglich mit den Aufgaben der Frau verbundenen Tugenden wie Fleiß, Häuslichkeit und Ehrbarkeit im Laufe der Frühen Neuzeit zu allgemeinen, in der Gesellschaft rezipierten und diskutierten Werthaltungen.39
Frindtes Hinweis, dass die Diskursivierung normativer Geschlechterzuschreibungen bereits in der Frühen Neuzeit zu beobachten ist und somit von einer entsprechenden Diskurstradition statt von einem abrupten (Dis-)Kurswechsel ausgegangen werden muss, ist durchaus relevant. Allerdings ist mit Karin Hausen einzuwenden, dass die Hausväter- und -mütterliteratur nicht ›die Frau‹ oder ›den Mann‹ an sich anspricht, sondern sich an Rezipienten wendet, die klar über ihre ständische Zugehörigkeit und soziale Position definiert sind.40 Darauf wird im Folgenden näher einzugehen sein, wenn es um die »semantischen Strategien« der Naturalisierung des Geschlechtermodells geht. Insgesamt entspricht Frindtes Darstellung jedoch dem Forschungskonsens, wie ein Blick auf die Synopse zur Ausdifferenzierung des Familien- und Erwerbslebens ab dem Ende der Frühen Neuzeit in der Einführung von Angelika Schaser verdeutlicht.41 Während Frindte für die Frühe Neuzeit eine Aufwertung des privaten Raums konstatiert und – anders als diskursanalytisch ausgerichtete Studien zur Geschlechtergeschichte42 – Kontinuitäten beleuchtet, statt von radikalen Paradigmenwechseln auszugehen, perspektiviert Schasers ebenfalls sozialgeschichtlich ausgerichtete Darstellung stärker den Abbau des frühneuzeitlichen Geschlechtermodells vom Ehe- als »Arbeitspaar«43 und des sich verschärfenden Herrschafts- und Bewertungsgefälles. Wie etwa Heide Wunder in mehreren Unter-
38 39 40 41 42 43
vgl. Deinhardt / Frindte 2005, S. 257. Vgl. dazu auch die Überlegungen bei Opitz 1994 sowie in der für die vorliegende Arbeit wichtigen Studie von Engelhardt 1992, besonders S. 120. Siehe die Ausführungen zum Konzept der ›weiblichen Bestimmung‹ in Kapitel 2.1.4. Deinhardt / Frindte 2005, S. 259. Vgl. Hausen 1976, S. 370. Vgl. Schaser 2006, S. 8 – 12. Vgl. Laqueur 1992, Honegger 1991. Schaser 2006, S. 10.
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suchungen herausgearbeitet hat, ist die Rollendifferenzierung in der frühneuzeitlichen Gesellschaft nicht klar an der Kategorie ›Geschlecht‹ orientiert, sondern stärker auf das übergeordnete Ziel hin ausgerichtet, »gemeinsam einen angemessenen sozialen Status zu erreichen und zu erhalten, was weder Mann noch Frau als Einzelpersonen gelingen konnte«44. Das frühneuzeitliche Geschlechterparadigma geht mit Schaser also von einer (funktionalen) Gleichwertigkeit der Ehegatten aus, und hier findet ihr zufolge im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts die wesentliche Verschiebung statt: Diese Gleichwertigkeit der Geschlechter, die auf vielen Ebenen im »ganzen Haus« austariert werden konnte, wurde gegen Ende der Frühen Neuzeit durch einen Prozess in Frage gestellt, den man unter den Schlagworten »Privatisierung und Emotionalisierung« zusammenfassen kann. Denn mit zunehmender Trennung des Privat- und Erwerbslebens kam die Vorstellung auf, dass der Ehemann seine Frau nach außen zu vertreten habe, der Gattin im Gegenzug dafür die unumschränkte Herrschaft zu Hause zustand. Der ursprünglich enge Zusammenhang von Privat- und Arbeitsleben im »ganzen Haus« wurde dadurch im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts immer weiter in einen Erwerbs- und einen Familienbereich ausdifferenziert.45 Der Mann arbeitete zunehmend außer Haus und erhielt dafür Lohn oder Gehalt, während die Frau am Erwerb nicht mehr unmittelbar beteiligt war, sondern nun über das Funktionieren des Haushalts, für die Aufsicht über das Gesinde, für die Erziehung der Kinder und die emotionale Geborgenheit aller Familienmitglieder zuständig war. Der öffentliche Bereich wurde zugleich immer mehr aufgewertet, der häusliche abgewertet. Diese Entwicklung führte dazu, dass die in der einen oder anderen Form seit jeher existierende Geschlechtervormundschaft immer restriktiver ausgelegt wurde.46
Auf das Phänomen der ›Emotionalisierung‹ geht Karin Hausen in ihrer Darstellung eher am Rande ein, wenn sie auf die neue Liebesauffassung zu sprechen kommt, die sich in der Empfindsamkeit herausgebildet hat.47 Bei der ›Emotionalisierung‹ von familiären wie freundschaftlichen Beziehungen handelt es sich jedoch, wie die Forschung mittlerweile gezeigt hat, um einen wesentlichen 44 Schaser 2006, S. 10. Schaser bezieht sich in ihrer Darstellung auf die sozialgeschichtliche Studie von Heide Wunder zu Frauen in der Frühen Neuzeit (Wunder 1992b); siehe auch Wunders Beitrag »Geschlechteridentitäten« aus dem gleichen Jahr (Wunder 1992a), sowie den Sammelband von Wunder / Engel (Hg.) 1998. 45 Mit dieser Beschreibung des Ausdifferenzierungsprozesses der Familie als einem längerfristigen Wandel lässt sich auch Frindtes Fazit verbinden: »Es kam um 1800 also nicht zu einer plötzlichen Herausbildung der sogenannten bürgerlichen Familie. Die Vorstellung des ›Ganzen Hauses‹ und die damit verbundenen Werte und Ordnungsmodelle behielten bis in das 19. Jahrhundert hinein ihre Gültigkeit. Die mit der gemeinsamen Tätigkeit von Mann und Frau sowohl im Haus als auch beispielsweise im Handwerksbetrieb verbundene Vorstellung vom ›Ehe- und Arbeitspaar‹ trifft auch noch auf die Situation um 1800 zu.« (Deinhardt / Frindte 2005, S. 259) 46 Schaser 2006, S. 10 f. 47 Vgl. Hausen 1976, S. 372.
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Faktor – gleichsam Motor wie Folge – semantischen und gesellschaftsstrukturellen Wandels.48 Katja Frindte hebt bei ihrem Überblick zur Herausbildung unterschiedlicher Liebeskonzepte im 18. Jahrhundert die Relevanz der allgemein für diesen Zeitraum beobachtbaren Emotionalisierung von Konzepten und Beziehungen hervor.49 Effekte der Emotionalisierung lassen sich nicht nur in Bezug auf die Ehepartner, sondern auch im Bereich der Kindererziehung beobachten. Zwar befassten sich auch die gelehrten Schriften um 1600 eingehend mit Fragen der Versorgung und Erziehung von Kindern, die als zentraler Zweck des Haushaltes angesehen wurde, gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird die entsprechende Diskussion jedoch intensiviert und ein besonderer Fokus auf die Mutter-Kind-Beziehung gesetzt.50 Hier lässt sich Hausen nun wieder gut anbinden, die in ihrer Studie deutlich macht, dass die neue Auffassung und Bewertung von ›Liebe‹ ein wesentlicher Bestandteil des komplementären Geschlechtermodells mit seiner klaren sozialen Rollenaufteilung ist.51 Neben der Betonung des längerfristigen Wandels der Konzepte von ›Familie‹ und ›Geschlecht‹ wird sowohl bei Deinhardt und Frindte als auch bei Schaser deutlich, dass die um 1800 weitgehend vollzogene Ausdifferenzierung der Bereiche ›Öffentlichkeit‹ und ›Privatheit‹ und die komplementäre Zuordnung der männlichen bzw. weiblichen Handlungssphäre52 innerhalb der Geschichtswissenschaften Forschungskonsens ist. Die klare Zuordnung des begrifflich-kon48 Luhmanns 1982 erstmals publizierte Studie Liebe als Passion bildet hier den Grundlagentext, auf den sich die folgende Forschung zum Wandel des Liebesbegriffs, zu empfindsamer und romantischer Liebeskonzeption (einen bibliographischen Überblick liefert Klein 2004 [in Druckvorbereitung]), mittlerweile auch über die Grenzen verschiedener Theoriemodelle hinaus bezieht. Die anhaltende Wirkung des als ›Kulturklassiker‹ bewerteten Textes dokumentiert etwa der kurze Artikel von Christian Kirchmeier in der entsprechenden Rubrik der Zeitschrift KulturPoetik (2008). Zur Emotionalisierung der Literatur im 18. Jahrhundert hat Katja Mellmann eine umfassende literaturpsychologische Studie geliefert, die ausgehend von der Diskussion aktueller Ansätze aus der Evolutionspsychologie ein Instrumentarium zur Analyse emotionaler Wirkungen literarischer Texte entwickelt (Mellmann 2006). Zum konstitutiven Zusammenhang von Literatur und Emotion und der Entwicklung eines ›theatralen‹ Erzählprinzips im 18. Jahrhundert, die mit dem parallel laufenden Wandel der Individualitätssemantik korrespondiert, siehe Martin Hubers Studie Der Text als Bühne (2003). 49 Vgl. Deinhardt / Frindte 2005, S. 260. Vgl. auch die Studie von Rüdiger Schnell zur Sexualität und Emotionalität in der vormodernen Ehe (2002). 50 Vgl. Deinhardt / Frindte 2005, S. 261 f. sowie die Zusammenfassung S. 262 f. Siehe auch die Ausführungen in Kapitel 2.1.4 zum pädagogischen Diskurs um 1800 und der Entwicklung geschlechterspezifischer Bildungskonzeptionen. 51 Vgl. Hausen 1976, S. 372. Dass die neue Liebessemantik darüber hinaus eng mit der Umstellung von Inklusions- auf Exklusionsindividualität zusammenhängt (siehe etwa Friedrich 2001), und die für das bürgerliche Ehemodell konstitutive Komplementärsemantik als ›Bewältigungsstrategie‹ der Differenzierungsfolgen zu werten ist, wird im Weiteren deutlich werden. 52 Vgl. auch Hausen 1989.
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zeptuellen Wandels zur Ebene sozialhistorischen Strukturwandels – eines der Grundprobleme geschichtswissenschaftlicher Forschung überhaupt – bleibt dabei jedoch strittig. Zwar findet sich bei Hausen ein Abschnitt, in dem explizit auf die problematische Relation zwischen »soziale[r] Vorstellung« und »soziale[r] Realität«53 eingegangen wird, eine eindeutige Auflösung wird jedoch nicht gegeben. Die geschichtswissenschaftliche Diskussion zeigt hier, wie wichtig eine präzise Trennung der Betrachtungsebenen ist:54 So ist der von Kuhn, Deinhardt und Frindte sowie Ulrich Engelhardt55 vorgebrachten Kritik an Hausen in Bezug auf einen Erklärungsanspruch hinsichtlich sozialgeschichtlichen Strukturwandels weitestgehend stattzugeben. Hinsichtlich des semantischen Wandels sind Hausens Beobachtungen dagegen anschlussfähig. Generell steht die Problematik, von (normativen) Quellen auf realgeschichtliche Zusammenhänge zu schließen, im Rahmen literaturwissenschaftlicher Untersuchungen im Gegensatz zu geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen nicht im Vordergrund. Zwar gibt es theoretisch-methodischen Klärungsbedarf hinsichtlich der Modellierung des Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft, die Rekonstruktion realgeschichtlicher Zusammenhänge anhand der Analyse ›erzählter Welten‹ des Symbolsystems ›Literatur‹ wird aber innerhalb der Literaturwissenschaft kaum mehr als Forschungsziel gesehen. Insgesamt lässt sich in Bezug auf die vor allem aus geschichtswissenschaftlicher Sicht problematisierten Überlegungen Karin Hausens also folgendes Fazit ziehen: Wenngleich Hausens Argumentationsstruktur stellenweise in die Richtung eines ›Basis-Überbau‹-Modells tendiert und die Unterscheidung zwischen der konzeptionell-semantischen und der faktisch-ontologischen Ebene in der Darstellung nicht immer klar getroffen wird,56 lassen sich die beiden zen53 Hausen 1976, S. 382. 54 Vgl. hierzu auch die mahnende Erinnerung von Andreas Gestrich in Bezug auf die methodologischen Grundvoraussetzungen und Schwierigkeiten der historischen Familienforschung und den Hinweis auf die zentralen Einflussfaktoren strukturellen und funktionalen Wandels von Haushalt und Familie: »Neben dem Wandel der Leitbilder und Normen steht die Veränderung der Strukturen und Funktionen von Haushalt und Familie. Diese beiden Ebenen der Betrachtung sind genau zu trennen. Die normativen Vorstellungen konnten die Entwicklung der demographischen Strukturen der Haushalte zwar immer wieder beeinflussen – wie sich umgekehrt Normen an Veränderungen des tatsächlichen Verhaltens anpassten. Primär scheint der Wandel der Strukturen und Funktionen von Haushalt und Familie in der Neuzeit aber durch Faktoren wie Industrialisierung, Urbanisierung und die rasche Verbreitung neuer Verkehrs- und Kommunikationsmittel gesteuert worden zu sein. Allerdings sind auch diese Zusammenhänge sehr komplex und Ursachen und Folgen keineswegs immer eindeutig.« (Gestrich / Krause / Mitterauer 2003, S. 387) 55 Auf die wichtige Studie von Engelhardt 1992 wird in Bezug auf die Geschlechter- und Bildungsgeschichte im 19. Jahrhundert noch mehrfach einzugehen sein. 56 Vgl. etwa Hausens Ausführungen zum Übergang vom »ganzen Haus« zur »bürgerlichen Familie« (Hausen 1976, S. 370 f.), die im Weiteren noch genauer zu beleuchten sind. Hier suggerieren Hausens Formulierungen eine Gleichsetzung begriffsgeschichtlichen mit real-
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tralen Thesen ihres Beitrags durchaus funktionalistisch-relational auffassen. In einer präzisierten Form implizieren sie nicht notwendigerweise die Annahme einer starken Korrelation oder eines Initialmoments, wie es in Hausens Formulierung von der »Erfindung« an der Kategorie ›Geschlecht‹ orientierter Charakterschemata im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts anklingt.57 So lässt sich bei einer klareren Unterscheidung zwischen ›kontextgebundenem‹ und ›kontextflexiblem Code‹ die erste These (Wechsel des Bezugssystems um 1800) auf die Ebene historischer Semantik beziehen. Diese Perspektive ist bei Hausen durchaus angelegt, wenn in ihrem Beitrag vom »Interesse an der Herausbildung von ›Geschlechtscharakteren‹« die Rede ist, das sich ihr zufolge »als Versuch interpretieren [lässt], ein die Verhältnisse stabilisierendes neues Orientierungsmuster an die Stelle des veralteten zu setzen«58. Hausen beschreibt hier die Ablösung eines partikularen – nämlich ständischen – Zuordnungsprinzips als Bezugssystem, das gesellschaftliche Rollenzuweisungen für Mann und Frau zulässt, durch ein universales Zuordnungsprinzip, das sich an geschlechtlichen Charakterdefinitionen orientiert.59 In dieser Form hält die These von der Herausbildung eines geschlechterspezifischen Kategorisierungsmodells um 1800 der in Untersuchungen zur Familien- und Geschlechtergeschichte angemerkten Kritik stand, nach der sich zwar der Begriff des ›Geschlechtscharakters‹ auf die Zeit um 1800 datieren lässt, nicht jedoch die Entstehung eines dichotomen Modells der Geschlechterbeschreibung überhaupt. Auch die zweite These zum Zusammenhang der Polarisierung der Geschlechtscharaktere mit der historischen der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben ist im Kern anschlussfähig. Trotz der stellenweise nicht ganz klaren Differenzierung zwischen dem begriffs- und realgeschichtlichen Status der beobachteten Phänomene60 verstehe ich Hausens Darstellung nicht als Postulat einer eindeutigen zeitlichen und strukturellen Korrelation zwischen der Herausbildung der Arbeitsteilung und der Herausbildung des Modells der
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geschichtlichem Wandel, die aus geschichts- wie literaturwissenschaftlicher Perspektive in der Tat problematisch ist. In Bezug auf das Konzept des ›ganzen Hauses‹ hat etwa Claudia Opitz die Gefahr der Ontologisierung historisch-ideologischer Topoi offengelegt, der sich die sozialgeschichtliche Forschung gegenübersieht, und einen kritischen Umgang gerade auch mit tradierter, scheinbar ›unverdächtiger‹ Terminologie angemahnt (vgl. Opitz 1994). Auf diesen wichtigen Punkt wird im Folgenden noch ausführlicher einzugehen sein. Die innerhalb der Literaturwissenschaft etwa von Jannidis 1996 systemtheoretisch gestützte Weiterführung begriffs- und funktionsgeschichtlicher Untersuchungen im Forschungszusammenhang Historische Semantik bietet das nötige methodologische Differenzierungspotential, um entsprechende unzulässige Gleichsetzungen zu vermeiden. Vgl. Hausen 1976, S. 369. Hausen 1976, S. 371. Hausen 1976, S. 370. Vgl. die Kritik von Engelhardt 1992, S. 120. Engelhardt erwähnt den Aufsatz von Kuhn 1983 als wichtigen kritischen Beitrag in Bezug auf Hausens Thesen, vgl. dort S. 121, Anm. 33.
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komplementären Geschlechtscharaktere. Vielmehr erscheint sie mir als überzeugend formulierte Beobachtung eines signifikanten Zusammenhangs zwischen der Konstitution des an der Kategorie ›Geschlecht‹ ansetzenden Aussageund Ordnungssystems und dem Wandel des »sozialen Orientierungsfeldes Familie«61 sowie der Ausprägung der Unterscheidung von privater und öffentlicher Sphäre um 180062. Die von Hausen beobachtete »Spiegelung« der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben in der Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹ – auf der Basis des Theorems der funktionalen Ausdifferenzierung wäre hier eher von einem funktionalen Zusammenhang und einer wechselseitigen Verstärkung der semantischen und sozio-strukturellen Phänomene zu sprechen – ist für das sich nach und nach als distinkte Gruppierung wahrnehmende und konsolidierende (Bildungs-)Bürgertum konstitutiv. Erheblich beschleunigt wird die Trennung von Privatleben und Berufsarbeit im 19. Jahrhundert »mit der verallgemeinerten Durchsetzung bürokratischer Prinzipien im Instanzenzug der Behördenorganisation und im Berufsbeamtentum«63, das etwa für den Professionalisierungsprozess der Berufe als eine zentrale Gruppierung angenommen werden muss.64 61 Hausen 1976, S. 371. Siehe dazu auch Lepsius 1992, der auf die für das Bürgertum konstitutive Unterscheidung ›öffentlich‹/›privat‹ sowie die (bildungs)bürgerliche ›Sozialisationsagentur Familie‹ eingeht; zur Relevanz der Familie für die Verstetigung bürgerlicher Werte vgl. auch Bruckmüller / Stekl 1995. 62 Hausen 1976, S. 374 f.; siehe auch Hausen 1989. 63 Hausen 1976, S. 384. 64 Vgl. Hausen 1976, S. 384. Siehe auch den Beitrag von Charles E. McClelland zur Professionalisierung der akademischen Berufe in Deutschland. McClellands Ausgangsthese ist, dass der Professionalisierungsprozess nicht gleichzusetzen ist mit einer Konsolidierung des Bürgertums, sondern dass er als partiell destabilisierend für das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts angesehen werden muss: »Professionalisierungsprozesse lockerten in mancher Hinsicht den Zusammenhalt des Bildungsbürgertums. Dabei ist an sein (im Vergleich zur Gesamtbevölkerung) überproportionales quantitatives Wachstum, an die Verwässerung des bildungsbürgerlichen Wertsystems und die Aufnahme neuer, vor allem naturwissenschaftlich-technischer Perspektiven in den Wissenschaftsbegriff der gebildeten Eliten zu denken. Mit ihrer Betonung der ›Zweckfreiheit der Bildung‹ blieb die akademische Berufsausbildung für die klassischen Berufe (Geistliche, Ärzte, höhere Justiz- und Verwaltungsbeamte, Professoren) gleichwohl innigst mit dem bildungsbürgerlichen Wertsystem verflochten.« (McClelland 1985, S. 233 f.) McClellands Beobachtungen verweisen auf die grundsätzliche Doppelstruktur von Vergesellschaftungsprozessen, bei der Homogenisierung nach innen und Abgrenzung nach außen auf der einen Seite, und Binnendifferenzierung und Segregation auf der anderen Seite strukturell miteinander zusammenhängende Prozesse sind. Diese Doppelstruktur lässt sich mittels der systemtheoretischen Modellierung der ›System-Umwelt‹-Relation gut erfassen, die den »rückkoppelungsintensiven« Prozess der Komplexitätszunahme und -reduktion innerhalb der funktional differenzierten Gesellschaft beschreibt. Den blinden Fleck von McClellands Studie, der in dieser Form bei älteren sozialgeschichtlichen Untersuchungen häufiger zu beobachten ist, stellt dabei die Ausblendung der Teilnahme von Frauen am Professionalisierungsprozess dar. Für die Annahme
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Auch wenn in der Forschung Konsens darüber herrscht, dass im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine Ausdifferenzierung der Bereiche ›Privatheit‹ und ›Öffentlichkeit‹ innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stattfindet,65 gibt es in Bezug auf die Verortung ›der Frau‹ jedoch wichtige Perspektivierungsunterschiede: Während bei Hausen die klare geschlechtliche Konnotation der beiden Sphären hervorgehoben wird und ihre Beobachtungen damit vor allem in Hinblick auf die normativ-evaluative Qualität der Binäropposition anschlussfähig sind, unterstreicht etwa Ulrich Engelhardt in seiner umfang- und materialreichen Untersuchung zur Rolle der Frau als Kulturträgerin in der bürgerlichen Gesellschaft die faktische Mittlerposition, die Frauen als den zentralen ›Agentinnen‹ der bürgerlichen ›Sozialisationsinstitution‹ Familie zukommt.66 Auch Werner Faulstich bekräftigt in seiner Darstellung zur Medienkulturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft diese Beobachtung, wenn er »Frauen an der Schnittstelle von öffentlichem und privatem Leben« in den Blick nimmt.67 Lässt sich also der Stellenwert von Hausens Beobachtungen für den Forschungsbereich der Sozialgeschichte tendenziell kritisch sehen, so ist er für den Bereich der historischen Semantik und damit auch für das Kommunikationsund Symbolsystem ›Literatur‹ aus Sicht der vorliegenden Untersuchung als hoch einzuschätzen. Dies unterstreicht auch Hausen selbst in ihrem 2012 gezogenen Fazit zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte ihres »Geschlechtscharaktere«Aufsatzes. Dort skizziert sie vier Prämissen, die sich aus dem Grundlagenaufsatz extrahieren lassen und aus ihrer Sicht noch immer zentral für geschlechtergeschichtliche Untersuchungen anzusetzen sind; aufgrund des Fazit-Charakters sei hier etwas ausführlicher zitiert: Erstens: diskursiv bearbeitete normative Vorstellungen haben irgendetwas mit Lebenswirklichkeiten zu tun; aber mit dieser Annahme ist überhaupt nicht entschieden, welche Menschen sich in ihrem Alltagsleben in welcher Weise positiv oder negativ auf solche Normen beziehen. Zweitens: Erwachsene Menschen gleich welchen Geschlechts und welcher sozialen Zugehörigkeit waren schon immer bestrebt und dazu herausgefordert, sich aktiv ihr Leben unter welchen Bedingungen auch immer einzurichten und auszugestalten. Drittens: Die im 19. Jahrhundert intensiv bearbeitete und gesellschaftspolitisch sehr folgenreiche konzeptionelle Trennung und zugleich geschlechtsspezifische Zuweisung von Privatheit und Öffentlichkeit ist keine Abbildung der Destabilisierung des Bildungsbürgertums durch Professionalisierungsprozesse ist aber gerade das ›Eindringen‹ von Frauen in den akademischen Bildungsbereich in jedem Fall ein relevanter Faktor. 65 Als Grundlagenstudie ist an dieser Stelle Jürgen Habermas’ Arbeit Strukturwandel der Öffentlichkeit zu nennen (vgl. Habermas 1990 [1962]). 66 Vgl. Engelhardt 1992. 67 Vgl. Faulstich 2002, S. 21 – 25. Faulstich beschreibt hier den »Strukturwandel des Öffentlichen« im Sinne des gesellschaftsstrukturellen Wandels der Funktionselite (vom Adel zum Bürgertum) und des korrespondierenden semantischen Wandels vom »Geheimen« zum »Privaten« (S. 11 – 28).
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gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern ein Ordnungsverfahren, das Trennschärfe suggeriert und zugleich die tatsächlich vielfältigen Überlagerungen und Durchmischungen der avisierten Bereiche unterschlägt. Viertens: Ungeachtet aller normativen Vorgaben ist auch für das 19. Jahrhundert davon auszugehen, dass es durchaus emotionale und passive Männer und rationale und aktive Frauen gegeben hat und dass es wohl schon immer eine Frage des Definierens war, wann Emotion rational und wann Rationalität emotional genannt wurde.68
Auch wenn in Hausens »vier Sätzen«69 eine ironische Färbung aufscheint, so sind diese doch in der Aussage- und Abgrenzungsrichtung ernst gemeint: Hausen legt den Fokus hier auf den normativen und den diskursiven Aspekt von Geschlechtervorstellungen. Damit erteilt sie ontologischen Lesarten eine klare Absage – und auch sozialgeschichtlichen, wenn diese Hausens Formulierung von der »Spiegelung« des polaristischen Modells der ›Geschlechtscharaktere‹ in der Unterscheidung der Sphären ›Öffentlichkeit‹ versus ›Privatheit‹ als implizite Wiederspiegelungshypothese deuten.70 Das analytische Potential von Hausens Ansatz liegt gerade darin, dass sozialgeschichtliche Strukturen hintergrundiert, und diskursive Strukturen vordergrundiert sind. Anknüpfend daran ist konsequenterweise der medien-, literatur- und diskursgeschichtliche Kontext in den Fokus zu rücken. Zugespitzt lässt sich formulieren, dass um 1800 – nicht zuletzt im Zuge des medialen Wandels und der Herausbildung früher ›Massenmedien‹71 – eine diskursive Verdichtung bestehender Geschlechtertypisierungen hin zu einem Modell der Geschlechterstereotypisierung stattgefunden hat. Infolge dieses Prozesses ist das komplementäre Geschlechtermodell mit der zugehörigen polaristischen Geschlechtercharakterologie zu einem für die verschie68 Hausen 2012b, S. 100. 69 Hausen 2012b, S. 100. 70 Vgl. Hausen 2012b, S. 98. Hausen hebt hier hervor, dass »das Wort ›Spiegelung‹ eine kommunikative Beziehung herstellen [sollte] zwischen zwei historischen Prozessen von langer Dauer, die selbst kaum eindeutig zu definieren sind« (ebd.). Diese Explikation stützt die Lesart der vorliegenden Untersuchung, in der Hausens Ansatz als Modellierungsversuch zweier korrespondierender Prozesse verstanden wird – nämlich des gesellschaftsstrukturellen und des semantischen Wandels. 71 Vgl. dazu Werner Faulstichs medienhistorische Überblicksdarstellung zur bürgerlichen Mediengesellschaft zwischen 1700 und 1830 (Faulstich 2002), hier besonders den Abschnitt zum Aufstieg der Zeitung zum gesamtgesellschaftlichen Medium, S. 37 – 44, sowie das Kapitel »Die Zeitschrift als Schlüsselmedium der bürgerlichen Gesellschaft«, S. 225 – 251. Siehe auch die zusammenfassende Darstellung zur Ausdifferenzierung und Konsolidierung von Zeitung und Journalismus als System im Folgeband Medienwandel im Industrie- und Massenzeitalter (1830 – 1900); Faulstich 2004, S. 28 – 47. Für die Zeit um 1900 hat Eva Klingenstein eine quellenreiche, detaillierte Untersuchung zur Diskursivierung von Geschlechterkonzeptionen und weiblicher Charakterologie in Zeitschriften geliefert, sowohl mit Blick auf die kommerzielle wie auf die engagiert-ideologisch (i. e. feministisch, sozialistisch und christlich-sozial) fundierte Frauenpresse. Klingenstein geht dabei ebenfalls auf die Rolle der Zeitschriften als Ort der Literatur ein (vgl. Klingenstein 1997).
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densten kommunikativen Zusammenhänge vorstrukturierenden, regulierenden und normierenden Schema geworden – also zu gepflegter Semantik. Wie anschlussfähig Hausens generelle Perspektive hier ist, zeigt sich in der im Aufsatz zentral gestellten Frage nach der Funktion, die dem komplementären Geschlechtermodell zukommt. Hausen geht dabei zwei Thesen nach, deren argumentativen Gehalt sie differenziert abwägt. Die erste These lässt sich unter der feministischen Repressionshypothese subsumieren und geht davon aus, dass das Modell der Geschlechtscharaktere der ideologischen Absicherung von patriarchalischer Herrschaft dient.72 Bestärkt wird diese These nach Hausen mit Blick auf den historischen Entstehungszusammenhang des mit dem Modell der ›Geschlechtscharaktere‹ verbundenen Aussagesystems, nämlich die Französische Revolution mit ihrem ›Gleichheitspostulat‹, in dessen Kontext auch die Forderung nach der Stärkung bürgerlicher Rechte für Frauen an Präsenz gewinnt. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wird dieser Zusammenhang nach Hausen noch einmal besonders virulent, »als die natürliche Wesensbestimmung der Frauen mit großer Vehemenz gegen die konkreten Emanzipationsforderungen der jetzt organisierten Frauenbewegung ins Feld geführt wird«73. Deutlich zeige sich dieser von Hausen als »Herrschaftselement«74 bezeichnete Funktionsaspekt des Komplementärmodells etwa in den Widerständen gegen die Zulassung von Frauen zu den Bereichen höherer Bildung und qualifizierter Berufe: So wird beispielsweise die Forderung, Frauen zur Gymnasial- und Universitätsausbildung zuzulassen, als Gefährdung der Mutterschaft oder als Widersinn angesichts des »physiologischen Schwachsinns des Weibes« bekämpft. Die Ende des 18. Jahrhunderts betonte Gleichwertigkeit von Mann und Frau tritt in derartigen Argumentationen völlig zurück.75
Auf die Problematik intentionalistischer Deutungsansätze wurde bereits mehrfach aufmerksam gemacht. Insofern es jedoch in den angesprochenen Kontexten um handfeste Ressourcenkonflikte und die Abwehr von konkurrierenden Anwärterinnen auf faktisches und symbolisches Kapital geht, ist in Bezug auf die Diskursivierung von Geschlechterstereotypen das interessegeleitete (Sprach-)Handeln mit dem Ziel des herrschaftlichen Machterhalts nicht von der Hand zu weisen.76 Allerdings weist Hausen darauf hin – und darin wird die 72 Vgl. Hausen 1976, S. 375. Siehe dazu grundlegend die Position von Joan W. Scott zu ›gender‹ als einer relevanten geschichtswissenschaftlichen Kategorie (Scott 1986), sowie exemplarisch die Zusammenfassung bei Schaser 2006, S. 8 f. 73 Hausen 1976, S. 376. 74 Hausen 1976, S. 376. 75 Hausen 1976, S. 376 f. Auf diese Zusammenhänge wird in Kapitel 2.2.4 näher einzugehen sein. 76 Siehe etwa den sprechakttheoretisch-konstruktivistisch ausgerichteten Ansatz von Judith
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Differenziertheit ihrer Ausführungen deutlich –, dass die Analyse des historischen Aussagesystems ›Geschlechtscharaktere‹ der Komplexität der Zusammenhänge entsprechend unterschiedliche Funktionsaspekte berücksichtigen muss. So ist, wie Hausen betont, »die Herrschaftsfunktion nur eine Komponente des sehr viel komplexeren Aussagesystems«77. Die zweite von Hausen ins Feld geführte These ist nun, dass das ›romantische‹78 Konzept der harmonischen Ergänzung den Definitionsrahmen für die Polarisierung der Geschlechtscharaktere liefert,79 woraus sich deren Funktionalität als neu herausgebildete, universale Ordnungsstruktur ableiten lässt, die auf ein spezifisches »Orientierungsbedürfnis«80 antwortet. Das komplementäre Geschlechtermodell entwickelt sich nach Hausen folglich in direktem Zusammenhang mit dem romantischen Perfektibilitätskonzept, das auf dem Prinzip der Harmonisierung und Synthese aufbaut:81 Unter dem Regulativ der Ergänzung wirkt die Entgegensetzung der Geschlechter nicht antagonistisch, sondern komplementär. Die Gegensätze ergänzen sich zur harmonischen Einheit. Die Idee der Ergänzung aber hält mit den Geschlechtern zugleich die jeweils für den Mann und die Frau als wesensmäßig erachteten sozialen Betätigungsfelder Öffentlichkeit und Familie in Harmonie zusammen. So wird es mittels der an der »natürlichen« Weltordnung abgelesenen Definition der »Geschlechtercharaktere« möglich, die Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben als gleichsam natürlich zu deklarieren und damit deren Gegensätzlichkeit nicht nur für notwendig, sondern für ideal zu erachten und zu harmonisieren.82
Das harmonisierende Komplementärmodell dient also als Lösungsstrategie im umrissenen Sinne, erzeugt aber selbst wieder Folgeprobleme bzw. Strukturen, die zu späterem Zeitpunkt als Problemkomplex (u. a. in Form des Auseinandertretens von verfügbarer Semantik und wahrgenommener Lebensrealität) identifiziert werden. Die Komplementärsemantik muss also im Laufe des 19. Jahrhunderts stetig aktualisiert und in ihrer überzeitlichen Gültigkeit bekräftigt werden. Exemplarisch für die funktionale Relevanz des Komplementärmodells in der als ›natürlich‹ verstandenen bürgerlichen Geschlechterordnung, die von polaristischen ›Geschlechtscharakteren‹ und damit der Natürlichkeit der ent-
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Butler (1990) sowie die Einleitung von Sigrid Nieberle und Elisabeth Strowick zu ihrem Band Narration und Geschlecht, der sich u. a. mit »mediale[n] und epistemische[n] Aspekte[n] narrativer Geschlechterkonstruktion« (Nieberle / Strowick 2006, S. 9) befasst. Hausen 1976, S. 377. Vgl. dazu die Explikation in Kapitel 2.1.3, S. 59 ff. Vgl. Hausen 1976, S. 377. Vgl. Hausen 1976, S. 374. Der perfektibilistische Ergänzungsgedanke plausibilisiert nach Hausen, weshalb eine »Vermischung« der ›Geschlechtscharaktere‹ als negative Entwicklung, nämlich als »Herabsinken der Humanität« (Hausen 1976, S. 378) verstanden wird. Hausen 1976, S. 378.
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sprechenden gesellschaftlichen Rollenverteilung ausgeht, kann die Abhandlung Die Familie (1855) von Wilhelm Heinrich Riehl gelten, deren Programmatik Susanne Balmer in ihrem Beitrag »Weibliche Individualität und bürgerliche Familie um 1900« skizziert: Das Werk Die Familie des Journalisten und Kulturhistorikers Riehl erscheint 1855 als vierter [recte: dritter] und letzter Band seiner Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik. Seine Bekanntheit belegen die zehn Auflagen, die bis 1889 entstehen, und Riehls Äußerung im Vorwort zur dritten Ausgabe, dass sein »Hausbuch«, wie er es nennen möchte, weil es sich an Familien und insbesondere an eine weibliche Leserschaft richtet, »rasche[n] Eingang« (IX) in die »deutsche Lesewelt« (IX) gefunden hat. Seine Ausführungen zur bürgerlichen Familie können als paradigmatisch angesehen werden.83
Balmer betont in ihrem Überblick zu Riehls Konzept der bürgerlichen Familie ganz zu Recht, dass er dieses als Ideal, nicht als unbestreitbare gesellschaftliche Realität beschreibt. Riehls Abhandlung ist in diesem Sinne gekennzeichnet durch eine Verquickung normativ-gesellschaftskritischer Intention und ontologisch-essentialistischer Argumentation, und zeigt in dieser Verknüpfung die Doppelseitigkeit von Dekadenztheorie und teleologischer Geschichtsphilosophie, die um 1800 etwa durch Jean-Baptiste de Lamarcks biologische Schriften entwicklungstheoretisch untermauert wurde. Riehls Abhandlung, auf die in Kapitel 2.2.1 näher einzugehen ist, veranschaulicht, dass die ›Naturgegebenheit‹ des bürgerlichen Geschlechtermodells das Ergebnis einer komplexen – und stetigen – diskursiven Konstruktionsleistung darstellt.
2.1.3 Konstruierte ›Natürlichkeit‹ – Die Universalität des Ordnungsschemas ›Geschlecht‹ Auf der Basis der oben vorgenommenen Modifikationen lassen sich Hausens Beobachtungen an die Forschungsergebnisse zum Zusammenhang des grundlegenden gesellschaftlichen Strukturwandels im 18. Jahrhundert und des massiven begrifflich-konzeptuellen Wandels, der diese Zeit prägt, anschließen – sowie an die Untersuchungen, die die Relevanz dieses Zusammenhangs in Bezug auf das Literatursystem herausstellen. Die zunehmende Erfahrung von Komplexität und Kontingenz befördert die Suche nach Modellen, die sich gegen Wandel weitgehend immunisieren und Kontextungebundenheit sowie überzeitliche Gültigkeit beanspruchen.84 Das um 1800 als spezifische Semantik etablierte dichotome Geschlechtermodell mit seiner bereitgestellten ›Charaktero83 Balmer 2009, S. 180. 84 Vgl. Igl 2006, 2008/09.
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logie‹ erfüllt diese Kriterien. Das Novum desselben ist nämlich, wie Hausen hervorhebt, nicht die »bloße Tatsache der Kontrastierung von Mann und Frau«, die »historisch zunächst wenig aufschlußreich«85 ist. Die signifikante Neuerung liegt Hausen zufolge stattdessen darin, »daß mit den ›Geschlechtscharakteren‹ diese Kontrastierung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine spezifisch neue Qualität gewinnt«86, die in der Anbindung des Konzepts an Ontologie und Teleologie liegt: Der Geschlechtscharakter wird als eine Kombination von Biologie und Bestimmung aus der Natur abgeleitet und zugleich als Wesensmerkmal in das Innere der Menschen verlegt. Demgegenüber sind die älteren vor allem in der Hausväterliteratur und den Predigten überlieferten Aussagen über den Mann und die Frau Aussagen über den Stand, also über die soziale Position und die diesen Positionen entsprechenden Tugenden.87
Der mit dem semantischen Wandel des Geschlechtermodells korrespondierende gesellschaftsstrukturelle Wandel ist der von der stratifikatorisch strukturierten Standesgesellschaft hin zur funktional differenzierten – ›bürgerlichen‹ – Gesellschaft. Dieser Strukturwandel, den Hausen in ihren Ausführungen nicht explizit als solchen anspricht, mit Bezug auf die Ausdifferenzierung von ›Öffentlichkeit‹ und ›Privatheit‹ als relevanten Kontext jedoch anvisiert, stellt die entscheidende übergeordnete Problemreferenz für die Konzeptualisierung von ›Geschlecht‹ als universaler und ›unhintergehbarer‹ Ordnungskategorie dar : Neuartig ist an der Bestimmung der »Geschlechtscharaktere« also offenbar der Wechsel des für die Aussagen über den Mann und die Frau gewählten Bezugssystems. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert treten an die Stelle der Standesdefinitionen Charakterdefinitionen. Damit aber wird ein partikulares durch ein universales Zuordnungsprinzip ersetzt: statt des Hausvaters und der Hausmutter wird jetzt das gesamte männliche und weibliche Geschlecht und statt der aus dem Hausstand abgeleiteten Pflichten werden jetzt allgemeine Eigenschaften der Personen angesprochen.88 85 Hausen 1976, S. 369. Hausens Anmerkung, dass »in patriarchalischen Gesellschaften seit eh und je Aussagen über das ›andere Geschlecht‹ gängige Muster der männlichen Selbstdefinition« (ebd.) waren, lässt sich nicht als ›falsch‹ bezeichnen, jedoch auch schwerlich empirisch untermauern. Aus Sicht der vorliegenden Untersuchung simplifiziert ein derartiger intentionalistischer Erklärungsansatz die komplexen Funktionszusammenhänge, in denen Geschlechterkategorisierungen stehen. 86 Hausen 1976, S. 369. 87 Hausen 1976, S. 369 f. Hausen stützt diese Aussage neben den erwähnten Quellen der Predigten und der Hausväterliteratur – deren Interpretation durch Hausen aus Sicht der geschichtswissenschaftlichen Forschung unstimmig ist, sich jedoch meines Erachtens mittels der oben vorgeschlagenen Modifikation der Hausen’schen Thesen bekräftigen lässt – auf Belege aus Zedlers Universallexicon (1735), der Oekonomischen Encyklopädie von Johann Georg Krünitz (1778), sowie dem Adelung (1796/1801), wo neben das ständische Bezugssystem in überschaubarem Ausmaß Charakterdefinitionen hinzukommen. 88 Hausen 1976, S. 370.
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
Hausen sieht diesen Wechsel des Bezugssystems von der Standesdefinition zur Charakterdefinition als historisch signifikantes Phänomen, »zumal der Wechsel mit einer Reihe anderer Entwicklungen korrespondiert«.89 Zu diesen Entwicklungen gehört nach Hausen u. a. der Übergang vom ›ganzen Haus‹ zur ›bürgerlichen Familie‹, »der seinen begriffsgeschichtlichen Niederschlag darin findet, daß aus dem Familienbegriff sowohl die Erwerbswirtschaft als auch die der Herrschaft unterstellten Hausbediensteten als Sinnkomponente verschwinden«.90 An dieser Stelle ist eine wichtige begriffliche Reflexion vorzunehmen. Wie eingangs angemerkt, unterscheidet Hausen – hierin exemplarisch für die ältere Sozialgeschichte – nicht immer klar zwischen realgeschichtlichen und begriffsgeschichtlichen Strukturen. Beim »Übergang vom ›ganzen Haus‹ zur ›bürgerlichen Familie‹ um 1800« handelt es sich weitestgehend um ein Phänomen, das den letztgenannten Strukturen zuzuordnen ist. Wie Claudia Opitz in ihrem Beitrag »Neue Wege der Sozialgeschichte?« aufzeigt,91 ist das von Otto Brunner92 formulierte Konzept vom ›ganzen Haus‹ zwar in den Geschichtswissenschaften in den unterschiedlichsten Themenstellungen und Kontexten Teil der argumentativen Struktur, aufgrund seines Konstruktionscharakters und seiner ideologischen Verhaftung jedoch durchaus problematisch. Brunner beschreibt den Übergang vom ›ganzen Haus‹ zur Familie – der Begriff ›Familie‹ hat nach Brunner erst im 18. Jahrhundert Eingang in die deutsche Umgangssprache gefunden93 – als grundlegenden ökonomischen Wandel von der europäischen Vormoderne zur Moderne. Den umfassenden gesellschaftlichen Strukturwandel, der hinter dem begriffsgeschichtlich erfassbaren Wandel steht, nimmt Brunner dabei nach Opitz nur am Rande in den Blick und führt stattdessen »die sukzessive Auflösung der (bäuerlichen) Hauswirtschaft« wesentlich »auf das weitere Ausgreifen des ›Marktes‹ im Zeitalter von Industrialisierung und Rationalisierung unter staatlicher Aufsicht zurück«.94 In dieser Modellierung der Zusammenhänge zeigt sich die eingangs skizzierte Problematik älterer sozialgeschichtlicher Ansätze, die mit ›Basis-Überbau‹Modellen operieren.95 Die entsprechende intentionalistische Argumentationsrichtung wird, wie bereits angemerkt, auch bei Hausen stellenweise deutlich, weshalb die Anbindung ihrer wichtigen Beobachtungen an die vorliegende Untersuchung der hier vorgenommenen Metareflexion bedarf. Die Unter89 90 91 92 93 94 95
Hausen 1976, S. 370. Hausen 1976, S. 371. Opitz 1994. Vgl. Brunner 1956. Vgl. Opitz 1994, S. 89. Opitz 1994, S. 89. Vgl. hierzu exemplarisch die bereits angesprochene Problematisierung bei Willems 1995.
Das komplementäre Geschlechtermodell als diskursivierte Semantik um 1800
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scheidung zwischen einem sozialgeschichtlich nicht überzeugend auf die Zeit um 1800 datierbaren Übergang vom ›ganzen Haus‹ zur bürgerlichen Kernfamilie und einem plausibel zu stützenden semantischen Wandel vom Ideal des ›ganzen Hauses‹ hin zum Konzept der Kernfamilie erweist sich hierbei als grundlegend. Der konzeptuell-semantische Wandel lässt sich für das 18. Jahrhundert in verschiedenen Diskursbereichen beobachten und wird nicht zuletzt durch Literatur in Form literarischer Entwürfe ›möglicher Welten‹ vorangetrieben, kritisch reflektiert und zu kommunikablen Schemata und ›Narrativen‹ verdichtet. Der Konstruktionscharakter von Brunners Konzept des ›ganzen Hauses‹ wurde von der sozialhistorischen und soziologischen Familienforschung mittlerweile deutlich herausgearbeitet.96 In kritischer Revision von Brunners Postulat des frühneuzeitlich noch bestehenden ›Oikos‹-Modells wurde aufgezeigt, daß die Einheit von Produktion und Familie nicht (oder nicht mehr) als charakteristisch für die Epoche anzusehen ist, bzw. sich gerade in der Zeit von 1500 bis 1800 zunehmend Familienformen entwickeln, die gerade nicht durch die Einheit von Produktion und Konsumtion gekennzeichnet waren.97
So hat die geschichtswissenschaftliche Forschungen deutlich gemacht, dass das ›ganze Haus‹ in den verschiedenen gesellschaftlichen Arbeits- und Lebensbereichen »bereits in der vormodernen Epoche in Auflösung begriffen war, bzw. nie bestanden hatte«.98 Den ideologisierten Status des Konzeptes bringt aus Opitz’ Sicht Hans-Ulrich Wehler mit seiner Formulierung von der »Legende vom ökonomisch autarken ›ganzen Haus‹« auf den Punkt und führt unter Bezugnahme auf Max Weber aus, daß die quasi-autarke Hauswirtschaft in Wirklichkeit nur ›eine Erscheinung der späteren Antike darstellt.‹ […] Kapitalistische Marktbeziehungen hatten, wenn auch manchmal noch dünn gesponnen, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts an vielen Stellen die Agrarwirtschaft längst in ihr Netz einbezogen und das – sentimental verklärte – ›Ganze Haus‹ als wirtschaftliche Einheit weithin aufgelöst[.]99
Insgesamt ist festzuhalten, dass das Konzept des ›ganzen Hauses‹ als Idealvorstellung familiären und gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Frühen Neuzeit verstanden werden muss, die nur in den seltensten Fällen in die Realität umgesetzt werden konnte. Das ›ganze Haus‹ stellt also ein ideologisches Konzept dar ; demnach ist die Vorstellung vom Abbau des ›ganzen Hauses‹ im Modernisierungsprozess eine die sozialgeschichtliche Entwicklung nicht stimmig 96 97 98 99
Vgl. dazu etwa Gestrich 1999a und Gestrich / Krause / Mitterauer 2003. Opitz 1994, S. 89 f. Opitz 1994, S. 90. Wehler 1987, S. 82 f. (zitiert nach Opitz 1994, S. 90).
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
wiedergebende, dagegen auf Homogenisierung und Idealisierung basierende These, die – wie Opitz in ihrem Beitrag herausstreicht – im Kontext eines modernisierungskritischen und kulturpessimistischen Geschichtsverständnisses angesiedelt ist.100 Für das Konzept des ›ganzen Hauses‹ bedeuten die von Opitz vorgebrachten kritischen Punkte, dass dieses nicht ohne deutliche Einschränkung im Sinne eines sozialgeschichtlich abgesicherten Terminus zu verwenden ist. Die These eines Übergangs um 1800 von der Struktur des ›ganzen Hauses‹ zur bürgerlichen Kernfamilie lässt sich also weniger auf sozialgeschichtlicher als vielmehr auf mentalitätsgeschichtlicher Ebene anstellen – nicht die realgeschichtlich erfassbare Struktur ist es, die sich in diesem Zeitraum verändert, sondern die begriffsgeschichtlich erfassbare Struktur.101 Erst wenn man den Wandel des »sozialen Orientierungsfeldes Familie«102 als semantischen statt vor allem als (vermeintlichen) sozialgeschichtlichen Wandel in den Blick nimmt, 100 Siehe dazu Andreas Gestrichs Ausführungen im zusammen mit Jens-Uwe Krause und Michael Mitterauer verfassten Handbuch Geschichte der Familie zu den konträren Perspektiven von Ehe- und Familienlehren im 19. und 20. Jahrhundert (vgl. Gestrich / Krause / Mitterauer 2003, besonders S. 379 – 383) Gestrich skizziert hier, inwieweit »die um die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnende sozialwissenschaftlich-empirische Familienforschung« (ebd., S. 382) ideologisch motiviert war : »In Deutschland und Frankreich versuchten Familienforscher wie Wilhelm Heinrich Riehl und Fr¦d¦ric Le Play ein konservatives Familienbild zu propagieren, das einen in der Vergangenheit angeblich dominanten Typ des patriarchalisch strukturierten Mehrgenerationenhaushalts als Vorbild und Garanten für persönliche und gesellschaftliche Stabilität und Sicherheit darstellte.« (Ebd.) Gestrich hält dem den Konsens der gegenwärtigen historischen Familienforschung entgegen, nachdem das ›ganze Haus‹ keineswegs der in der vorindustriellen Zeit generell dominante Haushaltstyp war, wie Riehl dies in seinem Werk Die Familie von 1855 postulierte (vgl. ebd., S. 383). Zu Riehls Aktualisierung und Stabilisierungsversuch des komplementären Geschlechtermodells als Nukleus der bürgerlichen Gesellschaftsordnung siehe ausführlich Kapitel 2.2.1. 101 Zum Status des ›Oikos‹-Konzepts innerhalb der gegenwärtigen Forschung siehe zusammenfassend auch Schaser 2006, S. 9: »Erst seit dem 18. Jahrhundert bezieht sich der Begriff ›Familie‹ auf die soziale Kleingruppe von Eltern und Kindern. Im Mittelalter und in der frühen [sic] Neuzeit galt als kleinste Organisationseinheit der Gesellschaft der Hof oder das Haus. Nicht nur Eltern und Kinder, sondern auch Gesinde, Dienerschaft und Gäste zählten damals zur Familie. Die Hausgemeinschaft wurde nicht (nur) über verwandtschaftliche Beziehungen definiert, sondern über die Bewirtschaftung eines gemeinsamen Hofes oder Haushalts. Diese Form der Familie bildete als Produktions-, Reproduktions- und Konsumtionseinheit die Grundeinheit der Gesellschaft. Der Historiker Otto Brunner hat für diese Familienform 1956 den Begriff des ›ganzen Hauses‹ geprägt, um die vormoderne Einheit von Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft unter einem Dach idealtypisch darzustellen. Wenn auch die moderne Forschung inzwischen deutlich gemacht hat, dass diese Darstellung des ›ganzen Hauses‹ den komplizierten Familienkonstellationen der Frühen Neuzeit nur ansatzweise gerecht wird und die Konzeption des ›ganzen Hauses‹ mehr über die konservative Grundhaltung des Autors aussagt als über die Familie in der Frühen Neuzeit, so zeigt sich im Bild vom ›ganzen Haus‹ doch die Idealvorstellung von Familie, welche damals vorherrschte.« 102 Hausen 1976, S. 371.
Das komplementäre Geschlechtermodell als diskursivierte Semantik um 1800
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lässt sich die übergeordnete Problemreferenz des komplementären Geschlechtermodells und der polaristisch konzipierten, anthropologisch fundierten Geschlechtscharakterologie überzeugend fassen. Ebendieser Fokus auf das, was sich mit Luhmann als historische Semantik bezeichnen lässt, ist bei Hausen durchaus angelegt, wenn sie den Übergang vom ›ganzen Haus‹ zum bürgerlichen Familienmodell (in dem ›Familie‹ auf die Kernkonstellation von Gatten und Kindern eingeschränkt wird) als Teil einer im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts wahrgenommenen »tiefgreifende[n] Veränderung des sozialen Orientierungsfeldes Familie«103 beschreibt. Hausen bezieht sich hier auf den grundlegenden Artikel »Familie« in den Geschichtlichen Grundbegriffen:104 Nach Schwab wurde offenbar das Infragestellen des alten Familienbegriffs zwischen 1780 und 1810 theoretisch so weit getrieben, daß die »soziale Rolle der Familie« überhaupt zurückgedrängt zu werden drohte. Wenn es in der Folgezeit gelang, einen neuen, restaurativen Familienbegriff zu verfestigen, so dürfte dazu das Vehikel »Geschlechtscharaktere« von nicht unerheblichem Nutzen gewesen sein. Damit läßt sich das Interesse an der Herausbildung von »Geschlechtscharakteren« als Versuch interpretieren, ein die Verhältnisse stabilisierendes neues Orientierungsmuster [Hervorhebungen N.I.] an die Stelle des veralteten zu setzen.105
Sieht man von der intentionalistischen Argumentationsstruktur ab, die im letzten Satz dieses Zitats deutlich wird, ist Hausens These im Kern anschlussfähig: Als basale Funktion der Typisierung von ›Geschlechtscharakteren‹ kann die Bereitstellung eines neuen Orientierungsmusters angenommen werden. Die Etablierung des komplementären Geschlechtermodells und der polaristischen Geschlechtercharakteristik im Sinne diskursfähiger, handlungs- und wahrnehmungsstrukturierender Konzepte (in systemtheoretisch-wissenssoziologischer Terminologie also deren Etablierung als gepflegte Semantik), lässt sich um 1800 in den verschiedenen Diskursen beobachten.106 Als Quellen herangezogen wurden Lexika sowie medizinische, pädagogische, psychologische und literarische Schriften.107 Zusammenfassend beschreibt Hausen die um 1800 etablierte Geschlechtercharakteristik wie folgt: Den als Kontrastprogramm konzipierten psychischen ›Geschlechtseigentümlichkeiten‹ zu Folge ist der Mann für den öffentlichen, die Frau für den häuslichen Bereich von der Natur prädestiniert. Bestimmung und zugleich Fähigkeiten des Mannes verweisen auf die gesellschaftliche Produktion, die der Frau auf die private Reproduktion. Als immer wiederkehrende zentrale Merkmale werden beim Manne die Aktivität und Rationalität, bei der Frau die Passivität und Emotionalität hervorgehoben, wobei sich das Be103 104 105 106 107
Hausen 1976, S. 371. Schwab 1975. Hausen 1976, S. 371. Vgl. Schößler 2008, Kapitel 2, »Zur Geschichte der Geschlechter um 1800«, S. 21 – 34. Vgl. Hausen 1976, S. 368, Anm. 9.
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
griffspaar Aktivität-Passivität vom Geschlechtsakt, Rationalität und Emotionalität vom sozialen Betätigungsfeld herleitet.108
Hausens Hinweis auf die strukturelle Koppelung von ›Natürlichkeit‹ und ›Kultivierbarkeit‹ der geschlechtlichen Gattungsmerkmale deutet den diskursiven Rahmen an, in dem die Kategorie ›Geschlecht‹ seit dem 18. Jahrhundert unter anderem innerhalb der Anthropologie109 verhandelt wird: Die variationsreichen Aussagen über »Geschlechtscharaktere« erweisen sich als ein Gemisch aus Biologie, Bestimmung und Wesen und zielen darauf ab, die »naturgegebenen«, wenngleich in ihrer Art durch Bildung zu vervollkommnenden Gattungsmerkmale von Mann und Frau festzulegen.110
Grundlegend für diese konzeptuelle Verbindung der Bereiche ›Natur‹ und ›Kultur‹ ist das Konzept der Perfektibilität, das auf eine Veredelung der gegebenen Anlagen durch Bildung abzielt, wodurch sich der Einzelne einem menschheitlichen Ideal annähern kann.111 Zusammen mit den polaristischen ›Geschlechtscharakteren‹ wird auch die Komplementarität der Geschlechter an sich auf natürliche Dispositionen zurückgeführt. So wird im Naturrechtsdiskurs des (ausgehenden) 18. Jahrhunderts etwa von Fichte in dessen Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1797) die bürgerliche Familie als ›natürliche‹ Form der Gemeinschaft postuliert:
108 Hausen 1976, S. 367. 109 Hausen stützt ihre These, dass sich mit dem komplementären Geschlechtermodell bzw. dem Konzept der Geschlechtscharaktere im 18. Jahrhundert ein umfassendes neues Orientierungsmuster herausbildet, mit dem Hinweis auf »die gleichzeitige Entwicklung der philosophischen Anthropologie und Psychologie« (Hausen 1976, S. 374), in denen Fragen zum Zusammenhang von Psyche und Physis in Bezug auf die Kategorie ›Geschlecht‹ verhandelt werden. Sie verweist hier auf Kants Vorlesungen über Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) und Humboldts Plan einer vergleichenden Anthropologie (1795). In Bezug auf die »im 18. Jahrhundert beschleunigte[] Entfaltung der psychologischen Wissenschaft« (ebd.) verweist Hausen auf die zentrale Rolle des Pietismus (vgl. ebd., Anm. 31). Der pietistischen Institutionalisierung von Emotionalität und introspektiver Selbsterfahrung und ihrer gemeinschaftsstiftenden Diskursivierung kann in der Tat eine wichtige Katalysatorfunktion bei der diskursiven Etablierung der Geschlechtercharakterologie zugesprochen werden. 110 Hausen 1976, S. 367. 111 Dass ›Perfektibilität‹ als anthropologischer Begriff dabei »eine ursprüngliche Negativität« impliziert, ist mit Luhmann (1980, S. 212) seit der »Umgründung der menschlichen Natur von Perfektion auf Perfektibilität« bei Rousseau als gegeben anzusehen. Siehe dazu auch den Beitrag von Gottfried Hornig zur Geschichte und Bedeutung des Perfektibilitätsbegriffs: »Für Rousseau bezeichnet der Perfektibilitätsbegriff einen negativ einzuschätzenden Sachverhalt, weil der Mensch vermöge der ihm eigenen Perfektibilität sich aus der Leidenschaftslosigkeit und Selbstzufriedenheit des Naturzustandes herausgelöst hat und mit sich selbst zerfallen ist.« (Hornig 1980, S. 226)
Das komplementäre Geschlechtermodell als diskursivierte Semantik um 1800
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Der Mann und die Frau sind innigst vereinigt. Ihre Verbindung ist eine Verbindung der Herzen und der Willen. […] Sonach hat der Staat über das Verhältniß beider Ehegatten gegen einander gar keine Gesetze zu geben, weil ihr ganzes Verhältniß gar kein juridisches sondern ein natürliches und moralisches Verhältniß der Herzen ist. Beide sind Eine [sic] Seele.112
In dieser Formulierung wird ein in Hausens Beitrag überzeugend herausgearbeiteter, für die Semantik des komplementären Geschlechtermodells konstitutiver Faktor angedeutet: das um 1800 »romantisch« aktualisierte idealistische Harmoniemodell und das mit diesem zusammenhängende, im Zuge der Aufklärung säkularisierte ›Kosmos‹-Konzept und dessen Popularisierung in Humboldt’scher Tradition.113 Was ist unter dem ›romantischen Harmoniemodell‹ zu verstehen, bzw. wie sieht die Aktualisierung des aufklärerischen Perfektibilitätskonzeptes im Kontext der Romantik aus?114 Dies soll ein kurzer Blick auf Joseph Görres als einen wichtigen Vermittler zwischen Aufklärungsphilosophie, Schelling’scher Naturphilosophie115 und Romantik verdeutlichen.116 Görres stand vor allem in seiner Heidelberger Zeit ab 1806 in engem Kontakt mit dem romantischen Kreis um Clemens Brentano, Achim von Arnim und 112 Fichte 1797, § 15, S. 187. 113 Andreas Daum nimmt in seiner Studie zur Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert die Kontinuität des ›Kosmos‹-Konzeptes in den Blick, das sich aus Sicht der vorliegenden Untersuchung als ›Meta-Fassung‹ des Harmonie- und des Perfektibilitätskonzepts verstehen lässt; vgl. Daum 2002. Wie Mitchell G. Ash in seinem Literaturbericht zu jüngeren Publikationen im Forschungsbereich »Wissenschaftspopularisierung und Bürgerliche Kultur im 19. Jahrhundert« zusammenfasst, verweist das von Daum als ›KosmosGedanke‹ bezeichnete Konzept auf »die von den ›Kosmos-Vorlesungen‹ Alexander von Humboldts symbolisierte utopische Hoffnung auf eine Harmonie von Mensch und Natur« (Ash 2002, S. 325 f.). Die stetige Präsenz des ›Kosmos‹-Konzeptes in Humboldt’scher Tradition ist eng geknüpft an den ab Mitte des 19. Jahrhunderts stark expandierenden populärwissenschaftlichen Buch- und Zeitschriftenmarkt. Dort manifestiert es sich in einer Vielzahl an Buchpublikationen, die ›Kosmos‹ im Titel tragen, und in Periodika wie etwa Kosmos. Zeitschrift für angewandte Naturwissenschaften (1857 – 1860) oder der darwinistisch-monistisch ausgerichteten Kosmos. Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung auf Grund der Entwicklungslehre (1877 – 1886); vgl. Daum 2002, Kapitel V und VI zur KosmosLiteratur und zur populärwissenschaftlichen Publizistik. 114 Die Bezeichnung ›romantisches Harmoniemodell‹ referiert dabei dezidiert nicht auf die ästhetische Programmatik der romantischen Literatur, sondern auf einen geschichtsphilosophischen Entwurf, der Teil des programmatischen Diskurses ist. ›Harmonie‹ ist nicht zu verstehen als etwas tatsächlich Erreichbares oder gar Eingelöstes, sondern als Modus und notwendiges Gegenkonzept zum Prinzip der Abstoßung. ›Harmonie‹ wie auch ›Perfektibilität sind damit – wie die ›progressive Universalpoesie‹ – prozesshaft und im ständigen Widerstreit mit gegensätzlichen Kräften. 115 Vgl. etwa Ovsjannikov 1978. 116 So bezeichnet Günter Häntzschel Görres als »geistigen Führer der romantischen Bewegung« in Heidelberg (Häntzschel 1989, S. 383), Wolfgang Frühwald beschreibt ihn als »Mittelpunkt der romantischen Partei, heftig befehdet von der ›Vossischen Clique‹« (Frühwald 1978, S. 934).Vgl. dazu Igl 2006, S. 6.
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
Joseph von Eichendorff und ist ein zentraler Impulsgeber für die romantische Geschichtsphilosophie und Gemeinschaftskonzeption.117 In seinen Aphorismen über die Kunst von 1802, deren programmatisches Anliegen es nach Jonas Maatsch ist, »die Polarität als allenthalben – in der Politik und Kunst ebenso wie in der Natur – gültiges Weltgesetz aufzuweisen«118, schreibt der mittlerweile ernüchterte einstige Anhänger der Französischen Revolution: Die große Idee des ewigen Friedens in der Staatenwelt, zeigte sie sich nicht zu jeder Zeit wo man sie zu realisiren suchte, als ein schönes Traumbild nur, und doch kann man diesem Bilde nicht entsagen, nicht sich von ihm reißen; die Idee des ewigen Friedens im Gebiethe der Schönheit und Erkenntniß ist nicht minder herzerhebend; und sollte sie denn nicht hier, wo die Leidenschaften minder laut dazwischen schreyen, früher und ganzer der Realisirung fähig seyn?119
Bedroht wird der »Friede« nicht nur in der Politik durch die grundsätzliche Tendenz der Entzweiung, der Aufspaltung, die nach Görres alles Menschliche wie auch alle Natur kennzeichnet.120 Görres spricht in seiner Darstellung vom »Schisma«, das alles von Menschen Begonnene durchziehe und führt als Beispiel die Wissenschaft an: [Ü]berall derselbe Antagonism zwischen den Idealisten, die aus einem Mittelpunkte nach allen Dimensionen auf alle Gegenstände des Wissens sich verbreiten, und den Realisten, die von allen den unzähligen Punkten der Erfahrung zurück auf einen Mittelpunkt hinstreben.121
Empiriker (»Realisten«) wie Theoretiker (»Idealisten«) erheben jeweils den Anspruch, den einzig wahren Zugang zur Erkenntnis zu haben – die einen über den Weg der Deduktion, die anderen über den der Induktion. Statt sich selbst einer der beiden verfeindeten Parteien anzuschließen, verweist Görres auf die Möglichkeit und Notwendigkeit der Synthese: »Nimmer scheide sich Empirie und Spekulation, und die Erkenntniß ist geborgen, und so ist es auch die Kunst, wenn Sinn und Phantasie nimmer voneinanderlaßen.«122 Dem von ihm beobachteten Grundprinzip der Abstoßung stellt Görres also ein zweites entgegen, ein Prinzip der Anziehung, in dem sich die Gegensätze aufheben,123 und zwar – wie Maatsch unterstreicht – sowohl im kulturellen wie gesellschaftlich-politischen Bereich als auch im Bereich der ›Natur‹: »Der Gegensatz der Geschlechter wird durch die Liebe überwunden, in der sich die Art fortpflanzt; Gegensätze in 117 118 119 120 121 122 123
Vgl. dazu den Beitrag von Schöning 2006. Maatsch 2005, S. 224. Görres 1932 [1802], S. 63. Görres 1932 [1802], S. 62. Görres 1932 [1802], S. 63. Görres 1932 [1802], S. 64. Vgl. Görres 1932 [1802], S. 63.
Das komplementäre Geschlechtermodell als diskursivierte Semantik um 1800
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Kunst und Wissenschaft werden im ›Ideal‹ aufgehoben.«124 Erst das Zusammenwirken dieser als komplementär verstandenen Grundprinzipien konstituiert Görres zufolge die Welt.125 Der Hinweis auf die geschlechtliche Liebe ist dabei nicht als illustrierende Metapher zu verstehen. Wie Wolfgang Riedel in seiner für den Forschungsbereich der Literarischen Anthropologie grundlegenden Studie Homo Natura (1996) zur Biologisierung des Naturbegriffs ausführt, rückt Görres »die Naturphilosophie ganz energisch ins Zeichen der Sexualität«126. Das in den Aphorismen dargelegte Harmonisierungsprogramm, das die Synthese des auf den ersten Blick Gegensätzlichen nicht nur als Möglichkeit, sondern als Notwendigkeit im Sinne eines Grundprinzips des gesamten Kosmos betrachtet,127 wird in Görres’ Schrift Die Teutschen Volksbücher (1807) zur Basis einer teleologischen Geschichtsphilosophie. Diese wiederum liefert die Grundlage für einen Gemeinschaftsentwurf, der auf die die Exklusionsfolgen des gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesses ›reagiert‹ und sich als Stabilisierungs- bzw. Konstitutionsversuch eines Inklusionsraumes beschreiben lässt.128 Die Janusköpfigkeit des Harmoniekonzepts, die im Rahmen der komplementären Geschlechtersemantik sichtbar wird, ist anhand von Luhmanns Begriffsexplikation zu verdeutlichen. Der Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung erzeugt eine Vielzahl semantischer Folgeprobleme, auf übergeordneter Ebene das der Kontingenz, von ›Welt‹ sowie ›Selbst‹. Das Harmoniekonzept hält dem »ein Postulat der Nichtkontingenz der Zusammenhangs der Teile«129 entgegen: Wenn Harmonie im Sinne einer Übereinstimmung der Phänomene oder Umstände oder im Sinne einer gleichmäßigen Entfaltung aller Kräfte erreicht ist, kann nichts mehr anders sein, ohne die Harmonie zu stören. Eine solche Nichtkontingenz der schönen Ordnung wird dann zum Argument, das die Kontingenz des Ganzen entproblematisiert; vom Verhältnis der Teile wird auf die Notwendigkeit des Ganzen zurückgeschlossen – nicht zuletzt deshalb, weil das Argument sich auf der Ebene der Gesamtwelt wiederholen läßt.130
124 Maatsch 2005, S. 224 f. 125 Siehe Görres 1932 [1802], S. 63: »Einem Prinzipe sollen die Millionen Geister, die dachten, denken und noch denken werden, nicht huldigen, die ganze Unendlichkeit wird nicht in den Brennpunkt eines Grundsatzes zusammengebrochen[.]« 126 Riedel 1996, S. 175 f.; vgl. ebd. insgesamt den Abschnitt »Naturzustand und Geschlechterordnung. Von Schiller zu Bachofen« (S. 175 – 184). 127 Vgl. Görres 1932 [1802], S. 62. 128 Vgl. Igl 2008/09 sowie Schöning 2006. 129 Luhmann 1980, S. 215. 130 Luhmann 1980, S. 215.
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
Diese Lösung des Kontingenzproblems ist jedoch nicht final stabilisierbar. ›Harmonie‹ erfordert konstante ›Pflege‹ und die stetige Bestätigung der als harmonisch aufgefassten Ordnung – es »kann nichts mehr anders sein, ohne die Harmonie zu stören«. Perfektibilitäts- und Harmoniegedanke gehen dementsprechend einher mit der Notwendigkeit von Überlegungen, wie die Verstetigung des als harmonisch aufgefassten Zustandes in der Zeitdimension geleistet werden kann. Die Institutionalisierung und Implementierung der entsprechenden Strukturen geschieht anhand von ›Bildung‹,131 die – dem Komplementärmodell gemäß – für Männer und Frauen unterschiedlich konzipiert sein muss. Sabine Doff spricht in ihrem Beitrag zur ideengeschichtlichen Grundlage für die Etablierung des höheren Mädchenschulwesens in Deutschland diesbezüglich vom »geschlechterpolaristische[n] Entwurf der deutschen Idealisten«132, der für die pädagogische Diskussion um die Ausgestaltung weiblicher und männlicher Erziehung um 1800 maßgeblich war : Männlichkeit und Weiblichkeit waren nach dem Ansatz der Geschlechterpolarität zwei grundsätzlich verschiedene Konzepte, und zwar in physischer wie psychischer Hinsicht, und wurden angesehen als die zwei entgegengesetzten und sich doch bedingenden Pole der Menschheit. Anhänger dieser Theorie waren unter anderen die Vertreter des deutschen Idealismus wie zum Beispiel Kant, Humboldt, Fichte und die Gebrüder Schlegel. Eine Untergruppe bildeten Dichter der deutschen Klassik und Romantik, die vor allem die Rolle der Frau als Mutter immer wieder hervorhoben. Stilisiert wurde von den männlichen Theoretikern ein Ideal des reinen weiblichen Wesens und Geschlechts, das sich zuerst niederschlug in einem neuen Idealbild der 131 Ulrich Engelhardt fasst hierzu pointiert den Zusammenhang soziostrukturellen und ›institutionellen‹ Wandels zusammen, in dessen Zuge die Familie als bürgerliche Sozialisationsagentur eine Aufwertung erfährt. Die Ausdifferenzierung des Bildungsbürgertums, das sich als extrem heterogene Gruppierung über den Homogenisierungsfaktor des Bildungswissens konstituiert, erforderte die Entwicklung entsprechender Sozialisationsagenturen, über die das zu entwickelnde statuskonstitutive Bildungswissen gepflegt und vermittelt werden konnte: »Erforderlich waren zum einen Entfaltung und ›Kanonisierung‹ eines statuskonstitutiven Bildungswissens, zum zweiten und zugleich inter- wie intragenerationelle Sozialisation eines Teils der Bevölkerung in dieses Bildungswissen und in das Credo von dessen gesamtgesellschaftlicher Gültigkeit. Aus alldem wiederum ergab sich die Notwendigkeit zweckdienlicher Agent(ur)en. Zu denken ist dabei zunächst vor allem an die Familie. Im Zuge der ›Kontraktion des [sogenannten] ganzen Hauses zur Kleinfamilie‹ büßte sie ihre erwerbswirtschaftliche Seite (und Begriffskomponente), somit ihren ›Betriebscharakter‹ bekanntlich zwar weitgehend ein. Sozialmoralisch aber erfuhr sie mit der Entstehung der Bürgerlichen Gesellschaft eine erhebliche Aufwertung: Als – so Schleiermachers Postulat ([im Brouillon zur Ethik,] 1805/06) –› eine Totalität all dessen, was sonst nur zerspalten vorhanden ist‹, gewann sie den Rang ›einer vollständigen Repräsentation der Idee der Menschheit‹.« (Engelhardt 1992, S. 117; zitiert wird Schleiermachers Schrift in der Edition von Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981, S. 58.) 132 Doff 2004, S. 74.
Das komplementäre Geschlechtermodell als diskursivierte Semantik um 1800
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bürgerlichen Frau: Ihre Aufgabe war innerhalb dieses Konzepts von nun an primär die Vermittlung von Humanität, die ihren Mann für den ökonomischen Kampf außerhalb des Hauses rüsten sollte.133
Dass die Geschlechtercharakterologie auch im Laufe des 19. Jahrhunderts – in dem die in der Darwinismusrezeption geprägte Formel vom ›Kampf ums Dasein‹ hochfrequent wird134 – als gültiges (normatives) Paradigma anzusehen ist, unterstreicht Hausen mit ihrer These von der Typisierung der ›Geschlechtscharaktere‹ als Ergebnis einer umfassenden Kategorisierungsleistung, die »seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis hinein ins 20. Jahrhundert mit anhaltender Intensität betrieben worden« sei. Den Status der Geschlechterstereotype als ›Weltwissen‹ illustriert exemplarisch der Artikel »Geschlechtseigentümlichkeiten« in Meyer’s großem Konversationslexikon von 1904: Auch psychische G[eschlechtseigentümlichkeiten] finden sich vor; beim Weib behaupten Gefühl und Gemüt, beim Manne Intelligenz und Denken die Oberhand; die Phantasie des Weibes ist lebhafter als die des Mannes, erreicht aber seltener die Höhe und Kühnheit wie bei letzterem.135
Wie Hausen vermerkt, wird die Geschlechtercharakterologie im Verlauf des 19. Jahrhunderts »nicht zuletzt durch Medizin, Anthropologie, Psychologie und schließlich Psychoanalyse ›wissenschaftlich‹ fundiert«136, in ihrer Gültigkeit bekräftigt und anhaltend popularisiert. Franziska Schößler schließt sich Hausen in ihrer Überblicksdarstellung zur Geschlechtergeschichte an: Die Wissenschaften entwickeln im 19. Jahrhundert Modelle, um Männer und Frauen in anatomischer Hinsicht zu unterscheiden, wobei die physische Ausstattung den Geschlechtscharakter bestimmt. Frauen sind demnach ›von Natur aus‹ passiv, häuslich, sozial und zur Erziehung prädestiniert, so dass die Privatsphäre als ihr ›natürliches‹ Aktionsfeld erscheint. Der Mann hingegen gilt seinem Geschlechtscharakter nach als aktiv, expansiv und unbeständig, so dass er der öffentlichen Welt zugeordnet werden kann. Diese binäre Geschlechterordnung ist mithin recht jungen Datums, erscheint gleichwohl nicht als historisches Konstrukt, sondern als Natur.137
Unter Bezug auf die entsprechenden Studien von Bovenschen, Honegger und Laqueur, die hier in Hinblick auf ihre jeweilige theoretische Ausrichtung bereits problematisiert wurden, beschreibt Schößler den deutlich über die Marke ›um 133 134 135 136
Doff 2004, S. 74. Vgl. Stöckmann 2005, S. 57; siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 2.2.1. Band 7 der 6. Auflage 1904, S. 685; zitiert nach Hausen 1976, S. 366. Hausen 1976, S. 369. Vgl. dazu die Studien von Honegger 1991 und Laqueur 1992, die die Rolle der sich ausdifferenzierenden und institutionalisierenden Natur- und Humanwissenschaften für die Diskursivierung des polaristischen Geschlechtermodells hervorheben. 137 Schößler 2008, S. 22. Dass Schößlers Darstellung aus Sicht der vorliegenden Studie nicht immer ganz unproblematisch ist – und wichtige Einwände gegen die Thesen von Hausen 1976 nicht diskutiert werden –, wird im Folgenden noch näher zu beleuchten sein.
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1800‹ hinausgehenden Prozess als Übergang vom Gleichheits- zum Differenzpostulat: Wird der Frau die Reproduktion, das heißt die Aufzucht der Kinder, ihre Erziehung etc. im häuslichen Bereich zugeordnet, so dem Mann die Produktion, die weitaus vielfältigere Arbeit jenseits des Hauses. Diese ›erste‹ Arbeitsteilung in der bürgerlichen Familie beglaubigten Wissenschaften wie die Biologie und die Anthropologie als natürliche Ordnung. Sie entwickelten im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine Differenztheorie, die Männlichkeit von Weiblichkeit physisch wie psychisch voneinander [sic] abtrennte und die Gleichheitspostulate der Aufklärung bzw. der Französischen Revolution zurücknahm.138
Schößlers Einschätzung, dass die Differenztheorie im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend wissenschaftliche Untermauerung erfuhr, lässt sich mit Stephanie Catani bekräftigen, die in ihrer Studie Das fiktive Geschlecht den anthropologischen Diskurs des Weiblichen um 1900 untersucht.139 Allerdings ist hier noch einmal zu betonen, dass die Differenzhypothese nicht rückblickend homogenisiert werden darf: ›Ungleichheit‹ ist in den jeweiligen historischen Konzeptualisierungen nicht notwendigerweise gleichgesetzt mit einer ungleichen Wertigkeit. Anders gesagt: Von einem beobachteten Primat der geschlechtlichen Differenzhypothese ist nicht die Gültigkeit der feministischen Repressionshypothese abzuleiten. Einen solchen Kurzschluss vermeidend, lassen sich unbestritten im medizinischen und psychologischen Diskurs um 1900 repressive und misogyne Positionen beobachten, die Frauen pathologisieren und sexualisieren.140 Diese ›Radikalisierungen der Differenzhypothese‹, wie ich sie bezeichnen möchte, lassen sich vor dem Hintergrund des gesellschaftsstrukturellen und semantischen Wandels um 1900 funktionsanalytisch plausibilisieren. Nicht zuletzt aber werfen sie bestimmte semantische Folgeprobleme auf, die auch innerhalb des literarischen Diskurses aufgegriffen und verhandelt werden.141 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Konstruktionscharakter des komplementären Geschlechtermodells durch die wissenschaftliche und metaphysische Rückführung sozialer Gegebenheiten auf biologische Disposition und unveräußerliche Prädestination überdeckt wird, wodurch das Modell gegen 138 Schößler 2008, S. 22. 139 Siehe Catani 2005. 140 Vgl. entsprechend Catani 2005 zur »Krankheit Frau« und zur weiblichen Sexualität, die entweder in ihrer Absenz oder absoluten Präsenz als weibliche Wesensbestimmung fungiert. 141 So positioniert sich etwa Bernsteins ›spätnaturalistisches‹ Drama Maria Arndt (1908), in dem eine Harmonisierung von komplementärem Geschlechtermodell und Gleichheitspostulat zu beobachten ist, dezidiert gegen die Radikalisierungen der Differenzhypothese, wie sie etwa Otto Weininger in Geschlecht und Charakter (1903) oder Paul Julius Möbius in seiner Schrift Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (1900) vornehmen.
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Kontingenz abgesichert und in seinem Status als universales, gegen historischen Wandel gefeites Ordnungsprinzip bestätigt wird. Dies gilt sowohl in der Phase der Diskursivierung des Modells der polaristischen Geschlechtscharaktere wie auch im weiteren Verlauf der kommunikativen Festigung des Komplementärmodells als gepflegte Semantik. Im Laufe des 19. Jahrhunderts sind für diese Bestätigung jedoch immer härtere Geschütze aufzufahren, die gleichzeitig mit der Radikalisierung der Differenzannahme das Komplementärmodell in Frage zu stellen drohen, da dieses Harmonie- und Ergänzungsmodell der Geschlechter angesichts des als ›defektiv‹ wahrgenommen weiblichen Parts seine Grundvoraussetzung der männlichen und weiblichen Perfektibilität einbüßt.
2.1.4 Geschlechterspezifische Perfektibilität – Von der ›weiblichen Bestimmung‹ und der ›Erziehung zur Weiblichkeit‹ oder: Rousseau und die Folgen? Wie Fotis Jannidis in einer kultursemiotischen Analyse aufzeigt, erfährt die Formel von der ›Bestimmung des Menschen‹ zwischen 1740 und 1850 eine regelrechte Inflation.142 Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts tritt sie deutlich seltener auf, vor allem im Umfeld der Verhandlung der ›Frauenfrage‹ ist das Konzept jedoch weiterhin äußerst präsent, nun allerdings im Vergleich zum 18. Jahrhundert mit einer Bedeutungsverengung: Während dort die Bestimmungsformel hauptsächlich in Verbindung mit dem Wort ›Menschheit‹ oder ›Mensch‹ auftritt und Variationen (›Bestimmung des Mannes‹, ›Bestimmung des Weibes‹) selten sind,143 verlagert sich der Fokus im Zuge der Stabilisierungsversuche der ›bürgerlichen‹ Geschlechtersemantik vor allem auf die Frage nach der weiblichen Bestimmung, nun häufig gefasst unter der Bezeichnung des ›natürlichen Berufs‹ des Weibes. Diese begriffliche Verschiebung lässt sich meines Erachtens zum einen als Hinweis auf eine gesteigerte Kontingenzerfahrung sehen, andererseits als Versuch, die Basiskategorie ›Geschlecht‹ von ebendieser zu entlasten.144 142 Vgl. Jannidis 2002. Siehe auch die Kurzbiographie von Karl Eibl zu Johann Joachim Spalding, der mit seiner Schrift Die Bestimmung des Menschen (1748) entscheidend zur Popularisierung der ›Bestimmungsformel‹ beiträgt und das Perfektibilitätskonzept vom Gattungsbezug (›menschheitliche Veredelung‹) auf das Individuum hin perspektiviert; vgl. Eibl 1996. Wie Eibl hervorhebt, ist die Bedeutung Spaldings (wie auch anderer »Populärphilosophen«) kaum zu überschätzen: »So wurde die Vorstellung von der Vervollkommnung der Einzelseele über den engeren Umkreis Spaldings hinaus zur Anlagefläche für den neuhumanistischen Bildungsbegriff und die moderne Individualitätssemantik.« (Eibl 1996, S. 140) 143 Vgl. Jannidis 2002, S. 76. 144 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 2.2.2.
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Bei der Diskursivierung der komplementären Geschlechtersemantik und der geschlechtsspezifischen Aktualisierung des Perfektibilitätskonzepts kommt Jean-Jacques Rousseaus (Erziehungs-)Schriften145 eine wichtige Rolle zu. Helga Brandes, die in ihrem Artikel »Frau« im Lexikon der Aufklärung einen entscheidenden Paradigmenwechsel im Modell der Geschlechterrollen auf die Zeit nach 1740 datiert,146 konstatiert diesbezüglich mit einem Seitenblick auf die Rolle der Literatur bei der Diskursivierung der polaristischen Geschlechtercharakterologie: Der sich entfaltende Rousseauismus begründet mit seiner Geschlechterauffassung (Differenz der Geschlechter, ›Polarisierung der Geschlechtscharaktere‹ anstelle des Prinzips der Egalität) das Paradigma der »schönen Seele«, das die Philosophen aufgreifen und die Klassiker idealisieren (Schiller : Würde der Frauen).147
Auch Hansjürgen Blinn unterstreicht mit Blick auf weibliche Bildungs- und Erziehungskonzepte um 1800 den Einfluss Rousseaus und der ›Geschlechtscharaktertheorie‹:
145 Zentral zu nennen sind hier Rousseaus Schrift Êmile, ou De l’Êducation (1762) sowie der ein Jahr zuvor publizierte Roman Julie, ou La Nouvelle H¦lose, der die komplementäre Erziehungskonzeption literarisch inszeniert. 146 Brandes 2001, S. 128. 147 Brandes 2001, S. 128. Schiller – bzw. der Konstellation der Weimarer Klassik – scheint neben Rousseau aus Sicht der Genderforschung ein wichtiger Stellenwert in Bezug auf die Diskursivierung der komplementären Geschlechtersemantik zuzukommen. So zitiert Franziska Schößler in der Einleitung des Kapitels zur Geschlechtergeschichte um 1800 in ihrer bereits genannten Überblicksdarstellung einen Ausschnitt aus Schillers Gedicht Das Lied von der Glocke (1799), um die maßgebliche Beteiligung der Literatur »an der Popularisierung der neuen Geschlechterordnung« (Schößler 2008, S. 22) zu illustrieren. Diese Einschätzung folgt meines Erachtens aus der ideologie- und kanonkritischen Perspektive der feministischen Literaturwissenschaft, die den weiträumigen Ausschluss weiblicher Autoren aus der Literaturgeschichte unter anderem auf die Genie- und Autonomieästhetik des 18. Jahrhunderts zurückführt; vgl. die Thesen zur weiblichen Unterrepräsentation im Kanon bei Heydebrandt / Winko 1994, S. 140 – 145, besonders S. 141, 143 und 145. Die Relevanz des Mediums Literatur bei der Herausbildung der Geschlechteranthropologie hebt auch Ulrich Engelhardt hervor, allerdings mit einer deutlichen Differenzierung und Abgrenzung vom Unterdrückungspostulat. So beobachtet er für das 18. Jahrhundert eine »Inflation stereotyper, nicht zuletzt romanförmiger Wesensbestimmungen von unverkennbarer Ambivalenz«, wobei »nicht etwa lediglich Abdrängung in die gesellschaftspolitische Marginalität einer ›imaginierten Weiblichkeit‹ (Bovenschen), sondern sehr wohl auch die irreversible Anerkennung der Gleichrangigkeit des weiblichen Menschen« (Engelhardt 1992, S. 132) als parallele Entwicklungen zu vermerken seien: »Bis in den ästhetisierenden, heute so befremdlichen Kultus der ›schönen Seele‹, ja des ›schönen Verstandes‹ oder ähnlichem mehr als gedachtem Einklang von Natur und Kultur transportierte die ganze Empfindsamkeitsideologie emanzipatorische Implemente der Aufklärung.« (Ebd.)
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Jean-Jaques Rousseau geht in seinem Erziehungsroman Êmile (1762) von der natürlichen Unterlegenheit der Frau aus und ist davon überzeugt, daß die Frau nur wegen des Mannes da sei. Deshalb besitze sie keinen bildungsmäßigen Eigenwert.148
Dem Rousseau’schen Differenzmodell liegt dabei, wie Schößler im Überblick zur Geschlechtergeschichte in ihrer Einführung in die Gender Studies ausführt, eine grundlegende Hierarchisierung der Geschlechter zugrunde, die der Unterordnung des Weiblichen die männliche Autonomie entgegensetzt.149 Die Unterscheidung der Sphären ›Öffentlichkeit‹ und ›Privatheit/Familie‹ korrespondiert bei Rousseau mit den als natürlich aufgefassten komplementären ›Geschlechtscharakteren‹: Rousseau entfaltet in seinen Schriften dasjenige Geschlechtermodell, das bis weit in das 20. Jahrhundert hinein Geltung besitzen wird und die Reichweite männlicher/weiblicher Aktivität definiert: Steht im Zentrum der bürgerlichen Ordnung die emotionalisierte Kleinfamilie, die als befriedeter Raum – so will es zumindest die Ideologie – der feindlichen Außenwelt trotzt, so werden die produktiven und reproduktiven Tätigkeiten auf die beiden Geschlechter aufgeteilt und diese Arbeitsteilung als natürlich erklärt. Es entsteht ein (scheinbar) durch die Natur beglaubigtes binäres System, das Räume und Tätigkeiten geschlechtlich codiert: Der Mann steht der Frau gegenüber, der öffentliche (männliche) Bereich dem (weiblichen) Haus. Die geschichtswissenschaftliche Forschung der letzten Jahre hat allerdings nachgewiesen, dass insbesondere im frühen 19. Jahrhundert die Grenzen zwischen den abgetrennten Sphären Familie und Arbeitswelt weitaus durchlässiger waren als gemeinhin angenommen [.]150
An dieser Stelle ist ein näherer Blick auf die generelle Axiomatik der Darstellung hilfreich: Schößlers Analyse des polaristischen Geschlechtermodells zielt ab auf eine kritische Reflexion der Geschlechtergeschichte und auf einen konkreten Bezug zur Gegenwart. Dem ideologiekritisch-engagierten Kontext der Genderforschung entsprechend – und innerhalb dieser Axiomatik durchaus berechtigt – findet sich eine nicht am historischen Kontext ansetzende, sondern überzeitliche Problematisierung des binären Geschlechtermodells: Problematisch an diesem binären Modell ist, dass die häusliche Reproduktionsarbeit nicht als Leistung gilt, weibliche Arbeit also unsichtbar gemacht und politisch nicht repräsentiert wird. Problematisch ist zudem, dass eine Hälfte der Bevölkerung auf eine bestimmte Tätigkeit fixiert wird, die unterschiedlichen Potenziale und Begabungen von Frauen also nicht berücksichtigt werden. Problematisch ist zum Dritten, dass das
148 Blinn 1999, S. 81. 149 Vgl. Schößler 2008, S. 23. 150 Schößler 2008, S. 24. Schößler bezieht sich hier auf die Studie von Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz »Es ist ein Junge!« Einführung in die Geschichte der Ma¨ nnlichkeiten in der Neuzeit (2005), S. 108 f.
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Argument, die Arbeitsteilung entspräche der Natur der Geschlechter, diese gesellschaftliche Organisationsform nahezu unangreifbar macht.151
Die historische Kontextualisierung der Diskursphänomene im Hinblick auf die Referenzprobleme und Funktionszusammenhänge, vor deren Hintergrund der semantische Wandel des Geschlechtermodells stattfindet, rückt damit allerdings nicht in den Blick. Stattdessen ist die Perspektive eher kausalistisch, wenn Schößler schreibt: Das wirkmächtige Modell Rousseaus konnte selbst durch die Gleichheitsansprüche, die die Französische Revolution nach 1789 formulierte, nicht in Frage gestellt werden. Vielmehr bestätigte die sich etablierende bürgerliche Gesellschaft auch in ihrer rechtlichen Kodifizierung während der Revolutionsjahre die Unterordnung des Weiblichen, genauer : den Ausschluss aus dem Bereich des Menschseins und der politischen Entscheidungen.152
Problematisch an dieser Analyseperspektive ist, dass historische Prozesse (sozialer wie auch begrifflich-semantischer Wandel) direkt auf intentionales Handeln zurückgeführt werden. Während es in Bezug auf den Erlass von Gesetzen und Resolutionen oder der Konstitution einer Verfassung mehr als plausibel ist, intentionales Handeln der Akteure vorauszusetzen und von Intentionen wie Ausweitung und Erhalt von Herrschaftsansprüchen auszugehen, und all diese kommunikativen Akte von unleugbarer Relevanz für gesellschaftsstrukturelle Veränderungen und institutionellen Wandel sind, greift ein intentionalistisches Modell in Bezug auf begrifflich-semantischen, ideen- oder mentalitätsgeschichtlichen Wandel zu kurz. Hier bietet die Studie von Hausen deutlich differenziertere Beobachtungen – die Schößler ebenfalls in wichtigen Aspekten verkürzt zusammenfasst: Das Geschlecht definiert sich also seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr über soziales Handeln, nicht über eine gesellschaftliche, ständisch organisierte Rolle (als Hausmutter, als Hausvater), sondern über die physische Ausstattung des Menschen. Der Körper allein entscheidet über das Geschlecht – eine Auffassung, die heute selbstverständlich erscheint und doch erst im 19. Jahrhundert entstanden ist. Nicht von der Hand zu weisen ist, dass dieses physische Differenzprogramm dazu eingesetzt wurde und wird, um die Entfaltungsmöglichkeiten von Frauen zu beschneiden und sie aus relevanten gesellschaftspolitischen Systemen auszuschließen. Carl Theodor Welcker beispielsweise hält in seinem Artikel Geschlechterverhältnisse aus dem Staatslexikon (1838) die Forderung nach bürgerlicher Gleichheit in Hinblick auf die Frauen für problematisch: »Kaum bedarf es nun wohl noch besonderer Beweisführung, daß bei solchen Verschiedenheiten der Geschlechter, bei solcher Natur und Bestimmung ihrer Verbindung, 151 Schößler 2008, S. 24. 152 Schößler 2008, S. 25.
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eine völlige Gleichstellung der Frau mit dem Manne in den Familien- und in den öffentlichen Rechten und Pflichten, in der unmittelbaren Ausübung derselben, der menschlichen Bestimmung und Glückseligkeit widersprechen und ein würdiges Familienleben zerstören würde.« (Welcker 1838 in: Hausen 1978 [recte: 1976], S. 376) Das biologisch verankerte Modell einer physisch-psychischen Geschlechterdifferenz rechtfertigt hier ganz augenscheinlich die Dominanz des Mannes.153
Auch hier zeigt sich, dass Schößler zwar Hausens Belege für die Etablierung des polaristischen Geschlechtermodells übernimmt, jedoch nicht deren funktionsanalytische Perspektive. Schößlers Aussage, dass das auf die unveränderliche physiologische Ausstattung zurückgeführte Modell der sich auch in psychologischer Hinsicht ergänzenden Geschlechter zur Rechtfertigung einer männlichen Hegemonie herangezogen wird, ist vom zugrunde gelegten Analysestandpunkt aus richtig – bleibt aber mit Blick auf die historische Verortung der untersuchten historischen Semantiken zu undifferenziert und erklärt auch hier wiederum nur kausalistisch die von der Jetztzeit her wahrgenommene Geschichte der weiblichen Unterdrückung in der bürgerlichen Gesellschaft. Dass hier eine Differenzierung notwendig ist, macht etwa der materialreich gestützte Beitrag von Ulrich Engelhardt zur normativen Platzierung der Frau als (sekundärer) »Kulturträgerin« in der bürgerlichen Gesellschaft während der Frühzeit der deutschen Frauenbewegung sehr deutlich.154 Dass auch innerhalb der feministisch ausgerichteten Geschlechter- bzw. Frauenforschung bereits seit längerem Abgrenzungsversuche gegenüber dem Unterdrückungspostulat und der Vorstellung von der ›unrühmlichen‹ Rolle Rousseaus als Verfechter einer repressiven weiblichen Bildungskonzeption zu beobachten sind, illustriert ein Aufsatz von Christine Garbe. In ihrem Beitrag »Sophie oder die heimliche Macht der Frauen. Zur Konzeption des Weiblichen bei J.-J. Rousseau« (1983) bezieht die Autorin mit dem Hinweis auf Rousseaus Konzeption der ›weiblichen Perfektibilität‹ kritisch Position gegen die ›feministische Repressionshypothese‹. Garbes Darstellung ist zwar mit Blick auf einen irritierenden Umgang mit Zitaten155 insgesamt nicht unproblematisch, vermeidet aber zum einen eine Gleichsetzung von literarischem Diskurs und his-
153 Schößler 2008, S. 28. 154 Siehe Engelhardt 1992. 155 Rousseaus Êmile wird in der deutschen Übersetzung mit dem Kommentar zitiert, dass von der Verfasserin »stillschweigend Korrekturen« an Stellen vorgenommen wurden, an denen nach ihrer Einschätzung »die Übersetzung mißverständlich oder ungenau« sei (Garbe 1983, S. 86, Anm. 1). Diese intransparente Vorgehensweise der Konjektur einer als unzulänglich wahrgenommenen Übersetzung macht die Argumentationsstruktur des Beitrags, die sich auf die Auslegung von Zitaten stützt, leider in dieser Hinsicht grundlegend angreifbar. Die Ausgangsperspektive ist dabei vielversprechend und hätte mehr philologische Genauigkeit verdient.
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torischer Wirklichkeit,156 und trifft zum anderen mit ihren kritischen Einwände gegen eine feministisch-ideologiekritische Lektüre der Rousseau’schen Schriften157 einen wichtigen Punkt, der – wie an Schößlers Einführung deutlich wird – auch gegenwärtig noch Relevanz besitzt. So anschlussfähig es ist, wenn Schößler Rousseau als einen wesentlichen Popularisator des komplementären Geschlechtermodells wertet, so diskutabel wird es, wenn sie den Erfolg seiner Erziehungsschriften auf das (gesellschaftliche im Sinne von männliche) Interesse am Erhalt patriarchalischer Machtstrukturen zurückführt.158 Garbes kritische Überlegungen zur theoriegeleiteten Lektürehaltung gegenüber Rousseau lassen sich hier meines Erachtens trotz der zwischen beiden Publikationen verstrichenen Zeitspanne von 25 Forschungsjahren als noch immer relevantes, konstruktives Differenzierungsangebot heranziehen, das sich auch stimmig an die Hausen’sche Analyseleistung anknüpfen lässt. In Abgrenzung zu Bovenschen problematisiert Garbe überzeugend, dass bei einer feministisch-ideologiekritischen Lektürehaltung gegenüber Rousseau »das, was von ihm als spezifische Funktionsweise des Weiblichen entworfen wird, gar nicht erst in den Blick kommt«159. Die von ihr eingangs skizzierte Wertung Rousseaus ist bis in gegenwärtige Darstellungen hinein im Wesentlichen unverändert geblieben: Aus feministischer Sicht steht das Urteil über JEAN-JACQUES ROUSSEAU weitgehend fest: Er gilt als einer der ersten Vertreter der »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« (KARIN HAUSEN 1976), wenn nicht gar als der Erfinder des Ergänzungstheorems, demzufolge eine »harmonische Ergänzung« der Geschlechter nur denkbar ist, wenn man von Natur aus unterschiedliche Geschlechtseigenschaften bei Mann und Frau annimmt.160
Wie Bovenschen in ihrer Studie Die imaginierte Weiblichkeit (1979) ausführt, privilegiere das von Rousseau in dessen Êmile, ou De l’Êducation (1762) entworfene komplementäre Geschlechtermodell ganz klar den Protagonisten Êmile, also – wie Bovenschen folgert – den Mann:161 156 Garbe unterstreicht in ihren Ausführungen den generellen Bedeutungsüberschuss der literarischen und pädagogischen Schriften Rousseaus: »ROUSSEAUs überaus raffinierter und komplexer Strategie des Schreibens und der Selbstdarstellung ist weder mit einer ideologiekritischen noch sonst einer auf Eindeutigkeit zielenden Lesart beizukommen« (Garbe 1983, S. 68). Wie in der vorliegenden Arbeit bereits ausgeführt wurde, liefert das Konzept der Historischen Semantik eine überzeugende Lösung für das Problem der TextKontext-Modellierung, indem es die Relationen als vermittelt und nicht direkt abbildend oder kausal beschreibt. 157 Vgl. Garbe 1983, S. 65 f. 158 Vgl. Schößler 2008, S. 25. Siehe dazu die Ausführungen weiter oben. 159 Garbe 1983, S. 66. 160 Garbe 1983, S. 65. 161 Vgl. Bovenschen 1979, S. 173.
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[D]ieser soll qua freier Erziehung zum freien und autarken Individuum herangebildet, zur Entwicklung und Vervollkommnung all seiner Fähigkeiten angeleitet werden; Sophie dagegen erscheint überhaupt erst auf der Bildfläche, als Emile eine »geschlechtliche Ergänzung« (BOVENSCHEN 1979, 173) sucht; zudem ist ihre gesamte Erziehung inhaltlich an der Komplettierung des Mannes orientiert [.]162
Die von Bovenschen bei Rousseau identifizierte Vorstellung von der »Appendixfunktion der Frau«163 sei dadurch belegt, dass Rousseau das für ihn wesentliche Merkmal des Menschen, die Perfektibilität, als in der weiblichen ›Natur‹ nicht angelegt sehe.164 Garbe hält dieser Position entgegen, dass bei Rousseau explizit in Bezug auf die Frau von der (Möglichkeit der) Vollkommenheit gesprochen wird.165 Was Garbe an dieser Stelle nicht deutlich macht: In der von Rousseau beschriebenen Konzeption ergänzen die spezifisch männliche und die spezifisch weibliche Perfektibilität einander, wodurch das Komplementärmodell der Geschlechter zur Bedingung der Möglichkeit des übergeordneten Ziels der menschheitlichen Perfektibilität wird.166 An diese Perspektive lassen sich nun einerseits die Ergebnisse der materialreichen Studie von Ulrich Engelhardt zur normativen Platzierung der Frau als »Kulturträgerin« in der bürgerlichen Gesellschaft anschließen,167 zum anderen die Überlegungen von Christoph Frei zu Rousseaus Staatstheorie, in denen er dessen parallele Konzeptualisierung von ›Staat‹ (als der größten gesellschaftlichen Struktureinheit) und ›Ehe‹ (als der kleinsten gesellschaftlichen Struktureinheit) herausarbeitet, die sich auf der Basis der hier angestellten Überlegungen
162 163 164 165
Garbe 1983, S. 66. Bovenschen 1979, S. 165. Vgl. Garbe 1983, S. 66. Vgl. Garbe 1983, S. 66 f. Garbe argumentiert in ihrem Beitrag, dass ein Differenzmodell noch nicht ohne weiteres ein Modell der Unterdrückung impliziere (vgl. ebd., S. 67 f.). 166 Vgl. Rousseaus Ausführungen »Sophie oder die Frau« im Fünften Buch des Êmile (Rousseau 2009 [1762], S. 719 – 898). Rousseau sieht Mann und Frau sowohl durch Differenzen sowie durch Gemeinsamkeiten zueinander bestimmt, wobei sich alles Gemeinsame auf die Gattung, alles Verschiedene auf das Geschlecht beziehe (vgl. Rousseau 2009 [1762], S. 720). Ihr Verhältnis – bzw. ihre »Vereinigung« – ist ausgerichtet auf ein »gemeinsame[s] Ziel« (ebd., S. 721). Angesichts der beobachteten Doppelstruktur aus Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten liegt für Rousseau »die Sinnlosigkeit der Streitereien um den Vorrang oder die Gleichberechtigung der Geschlechter« (Rousseau 2009 [1762], S. 720) auf der Hand: »als ob jedes von beiden, wenn es nach seiner besonderen Bestimmung [Hervorhebung N.I.] den von der Natur vorgesehenen Zielen zustrebt, nicht vollkommener wäre, als wenn es sich dem anderen angleiche! In dem, was sie gemeinsam haben, sind sie gleich; in dem, was sie voneinander unterscheidet, sind sie unvergleichbar. Eine vollkommene Frau und ein vollkommener Mann dürfen sich im Geiste ebenso wenig gleichen wie im Antlitz, und in der Vollkommenheit gibt es kein Mehr oder Weniger.« (Ebd., S. 720 f.) 167 Engelhardt 1992.
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als eine Verweis auf ein übergeordnetes Harmoniemodell bzw. -ideal verstehen lässt.168 Christoph Frei zeigt auf, dass sowohl in Rousseaus Contrat Social (1762) wie auch im Êmile (1762) und der Nouvelle H¦lose (1761) jeweils eine »Führerfigur« zu finden ist, die aus dem Hintergrund die Wirklichkeit dessen kontrolliert und strukturiert, der auf Führung angewiesen ist.169 Dieser Figur kommt jeweils die delikate Aufgabe zu, die Schützlinge zu leiten und sie dabei zugleich in ihrem Anspruch auf Unabhängigkeit und Willensfreiheit zu bekräftigen: »Jede direkte Bevormundung, jede erkennbare Form der Abhängigkeit wird geschickt vermieden. Der Zögling tut, was er will; sein Wille wird indessen sanft gesteuert.«170 Die »Analogie zwischen dem erzieherischen und dem politischen Projekt«171, die Frei deutlich macht, verweist zum einen auf den Status der Familie als der ›Keimzelle‹ der bürgerlichen Gesellschaft. Zum anderen verweist sie auf das für Rousseaus Gesellschaftstheorie axiomatische Spannungsverhältnis: Der durch die Gesellschaft und ihre Institutionen kompromittierte, ja degenerierte Mensch172 kann entweder durch eine radikale Individualisierung im Sinne des Heraustretens aus der Gesellschaft »geheilt« werden oder aber er muss – da der Rückzug aus der Zivilisation gesamtgesellschaftlich nicht möglich ist – radikal vergesellschaftet werden, was wiederum seinen »ursprünglichen Neigungen«173 zuwiderläuft.174 Die Vereinigung des Unvereinbaren erfordert nun eben jenes ausgeklügelte Harmonisierungsprogramm, das den Einzelnen über die Erziehung zur Gemeinschaft ›gesellschaftsfähig‹ macht. ›Harmonie‹ ist dabei das Gleichgewicht des Ungleichen. Der Ausgangsort, in dem diese Harmonie gegeben sein muss, um auf gesamtgesellschaftlicher Ebene wirksam zu werden, ist die Familie bzw. die Ehe. Frei schreibt hierzu: Wo Rousseau die gute Ehe und die Aufgaben beider Partner diskutiert, stoßen wir allerorten auf jene ungeheuerliche Spannung, welche schon die politische Lehre kennzeichnet. Auf der einen Seite wird versichert, es könne nur der Mann die höchste Autorität für sich in Anspruch nehmen; die Frau dagegen habe zu gehorchen. Dass die Souveränität allein dem Mann zufällt, wird im Detail begründet, mitunter aber auch schlicht in den Rang einer Naturgesetzlichkeit erhoben. Auf der anderen Seite findet die formale Vorherrschaft auch hier ein informelles Gegenstück in der diskret verdeckten Einflussnahme durch die kluge Lebenspartnerin. Wohl muss die Frau dem Mann gehorchen, doch es fällt ihr nicht schwer, den vermeintlichen Führer selbst in die gewünschte Richtung zu führen. […] Die kluge Frau regiert, während sie doch ihrem 168 169 170 171 172 173 174
Vgl. Frei 2000, besonders S. 227 – 232. Siehe als knappen Abriss auch Frei 2007. Vgl. Frei 2000, S. 228. Frei 2002, S. 228. Frei 2000, S. 229. Vgl. Frei 2000, S. 208. Frei 2000, S. 212. Vgl. Frei 2002, S. 211 f.
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Mann gehorcht. Sie beherrscht in Vollendung l’art de faire vouloir, die Kunst der indirekten Führung.175
Das Konzept der »indirekten« weiblichen Führung des Mannes – zumal in der häuslichen Sphäre – ist für die diskursive Aushandlung der polaristischen Geschlechtercharakterologie um 1800 sehr anschlussfähig. Deutlich wird hier mit Blick auf die historische Spezifik des zugrundeliegenden Differenzmodells auch, dass die patriarchalische Hierarchisierung der Geschlechter nicht mit einer Zuschreibung niederer Wertigkeit ›der Frau‹ einhergeht – im Gegenteil wird ›der Frau‹ als Harmonisierungsinstanz eine entscheidende Systemstelle zugewiesen.176 Auf diesen Status als stabilisierender Instanz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung geht Ulrich Engelhardt in seiner oben genannten Studie ein. Engelhardts zentrale, überzeugend gestützte These ist, dass die sich institutionalisierende Frauenbewegung um 1900 ihre wesentlichen normativen Konzepte aus eben jenem im späten 18. Jahrhundert begründeten bürgerlichen Geschlechtermodell bezieht,177 das vielfach als Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Unterdrückung von Frauen gesehen wird. Entgegen der geläufigen Diagnose von der historisch konstanten untergeordneten Stellung der Frau in der Gesellschaft, die sich erst im Zuge der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft, wie etwa Barbara Duden argumentiert, zu einer »bis in die Psyche hineinreichenden Unterdrückung«178 gesteigert habe, sieht Engelhardt mit Max Weber eine »zumal mit der Revolutionsepoche langsam, aber anhaltend steigende Bedeutung von Frauen als anerkannte ›Transporteure‹, wenn nicht ›(Ko-) Produzenten‹ soziokultureller Leitwerte und daran ausgerichteter Lebensfüh-
175 Frei 2000, S. 229. 176 ›Frau‹ hat damit den Status von ›Funktion‹, nicht von ›Person‹, wie in der Forschung zur Geschlechtergeschichte aus feministisch-ideologiekritischer stimmig angemerkt wird. Was bei der aus gegenwärtiger gesellschaftskritischer Sicht berechtigten Problematisierung jedoch oftmals übersehen wird ist, dass auch ›der Mann‹ in diesem Sinne ›Funktion‹ ist und die emphatische Subjektkonstitution Teil einer semantischen Problemlösungsstrategie. In der Literatur um 1900 – etwa in Texten von Hofmannsthal, Schnitzler und Musil (vgl. die Arbeit von Klein 2004 [in Druckvorbereitung]) – werden die anhaltenden Folgeprobleme deutlich, die an die semantische Umstellung auf Exklusionsindividualität des in der Regel männlichen Individuums um 1800 anschließen. Zur Notwendigkeit der historischen Differenzierung zwischen ›männlicher‹ und ›weiblicher‹ Exklusionsindividualität siehe den Ausblick in Kapitel 2.1.5 sowie die Ausführungen in Kapitel 2.2.5. 177 Vgl. dazu auch Engelhardt 1995 zum Diskurszusammenhang »Frauenemanzipation und Naturrecht« und der »normativen ›Vorbereitung‹ der Frauenbewegung in der Spätaufklärung«. 178 Engelhardt (1992, S. 114) zitiert aus Barbara Dudens 1977 im Kursbuch erschienenen Aufsatz »Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert«, S. 125.
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rungsweise(n)«179. Dies deckt sich mit der Beobachtung von Sigrid Weigel, die trotz der von ihr konstatierten historischen Marginalisierung ›weiblicher Subjektivität‹ die aktive Beteiligung von Frauen an der Affirmation und Produktion gesellschaftlicher Semantik hervorhebt: In der westlichen Kulturgeschichte ist es eindeutig so, daß unser Blick von der Geschichte und auch von den Geschlechterverhältnissen, davon, was Männer und Frauen waren oder sind, welche Rollen sie hatten usw., geprägt ist durch einen männlich dominierten Blick. Das geht eben bis in die Sprache hinein; unser Denken ist geprägt davon, daß das männliche Subjekt im Zentrum steht, daß die Wahrnehmung und Organisation der Wirklichkeit aus seiner Perspektive vorgenommen wird. Frauen sind aber in die Geschichte selber eingebunden, auch als Redende und nicht nur als Opfer und Stumme. Sie haben ja Teil an dieser Geschichte, sie reproduzieren sie sogar in einem ganz hohen Maße; und obwohl das als Reproduktion abgewertet wird, sind die Frauen die Stützen dieser Gesellschaft, dieses Systems.180
Insgesamt ist also herauszustreichen, dass das komplementäre Geschlechtermodell gerade nicht zu einer gesellschaftlichen Irrelevanz von Frauen führt, sondern diesen im Gegenteil eine zentrale kompensatorische und stabilisierende Funktion zuweist.181 Dies plausibilisiert auch, weshalb, wie Engelhardts Beitrag deutlich macht, die Komplementärsemantik und die Vorstellung von der weiblichen Wesensbestimmung182 in der bürgerlich-gemäßigten Frauenbewe179 Engelhardt 1992, S. 114. 180 Weigel 1992, S. 123 f. 181 An dieser Stelle sei zur Verdeutlichung noch einmal angemerkt, dass die beobachtete gesellschaftliche Relevanz ›der Frau‹ innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft aus einer funktionalistischen Untersuchungsperspektive konstatiert wird. Es wird damit nicht impliziert, dass es keine Benachteiligungen, Repressionen und negativen Wertungen gegenüber Frauen im untersuchten Zeitraum gegeben hat. Diese unbestrittenen historischen Fakten sind jedoch auf einer anderen Ebene zu verorten, als die Untersuchung hier in den Blick nimmt. Mit der Darstellung von Engelhardt (1992) wird deutlich, dass die ›Repressionshypothese‹ diese Ebenen-Unterscheidung nicht im notwendigen Maße vornimmt. 182 Siehe die von Johann Heinrich Campe in seinem Buch Väterlicher Rath für meine Tochter von 1789/90 (8. Aufl. 1819) dargelegte Rollentrias »Hausfrau, Gattin, Mutter«, welche dieser als »eine naturgesetzlich ableitbare, die allgemein ›menschliche‹ überlagernde ›Bestimmung‹ des Weibes« verstand; Engelhardt 1992, S. 124. Vgl. auch Hausen 1976, S. 373, Anm. 29. Zum Einfluss von Campes pädagogischen Schriften auf die Konzeption und Institutionalisierung weiblicher Bildung siehe auch Doff 2004, S. 72 f. Campes Schrift – und die Reaktionen darauf – wird in der Forschung insgesamt als exemplarisch für den Geschlechterdiskurs um 1800 angesehen, vgl. Deinhardt / Frindte 2005, S. 253: »Neben Campe beschäftigte sich eine große Zahl von Schriftstellern und Gelehrten im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert mit der Frage nach der Position von Mann und Frau in der Gesellschaft. Die Flut von Schriften, die sich der Bestimmung, den Möglichkeiten und vor allem den Grenzen von Frauen widmete, war charakteristisch für jene Phase. Eng gekoppelt an diese Problematik wurde eine besonders intensive Diskussion über die Funktion von Ehe und Familie für die bürgerliche Gesellschaft geführt. Doch nicht nur Schriftsteller und Gelehrte machten die Verteilung der Rollen für Mann und Frau zum Thema. Die Zeitge-
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gung des 19. Jahrhunderts im Kern weitgehend affirmativ als Grundlage der emanzipatorischen Forderungen herangezogen werden183 – die vor allem eine Forderung nach einer Reform der Mädchen- und Frauenbildung sind. Die spezifische, geschlechterdifferenzierte Bildungskonzeption, die sich im Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert etabliert,184 institutionalisiert einerseits die komplementären Geschlechterrollen, gleichermaßen soll sie die funktional ineinandergreifende Aufteilung der Handlungssphären erst ermöglichen: Die in wenigen Jahren entworfene »polaristische Geschlechterphilosophie« leistet schließlich die theoretische Fundierung [der neuen Liebes- und Ehekonzeption, N.I.] durch die Aufspaltung und zugleich Harmonisierung der von der Aufklärung als Ideal entworfenen vernünftigen Persönlichkeit in die unterschiedlich qualifizierte männliche und weibliche Persönlichkeit. Die Gleichrangig- und Gleichwertigkeit von Mann und Frau ausdrücklich betonend, wird folgenreich für die angemessene soziale Position die unterschiedliche Qualität der Geschlechter herausgearbeitet. Erst die Ergänzung der in der Frau zur Vollkommenheit entwickelten Weiblichkeit mit der im Mann zur Vollkommenheit entwickelten Männlichkeit soll die Annäherung an das Ideal der Menschheit ermöglichen.185
Diese Bedingung der Möglichkeit von Perfektibilität ist es, die Rousseau in seinen Erziehungsschriften ausarbeitet. Wie Sabine Doff anmerkt, interpretierte die breite Mehrheit der zeitgenössischen Erziehungstheoretiker Rousseau allerdings »zumeist einseitig und übernahm vor allem die den Bildungsanspruch der Frau einschränkenden Gedanken«186. Diese einseitige Deutungsperspektive
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nossen selbst nahmen in Briefen und anderen Selbstzeugnissen auf die theoretischen Reflexionen Bezug.« Wie in Kapitel 2.2.2 näher zu beleuchten sein wird, bezieht die bürgerliche Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts ihr zentrales Vokabular (›Bestimmung‹ des Menschen bzw. der Frau, ›menschheitliche Veredelung‹, ›Bildung‹, ›Harmonie‹, etc.) aus der idealistisch-humanistischen Tradition. Für einen aktuellen Überblick zur Frauenbewegung zwischen 1815 und 1933 vgl. die Darstellung von Schaser 2006. Die vehement geführte Debatte um die Institutionalisierung der Erziehung und Bildung ist kennzeichnend für die Konsolidierungsphase des Bürgertums um 1800; vgl. dazu Conze / Kocka (1985, S. 11) zur ›Bildung‹ als dem strukturgebenden Element der soziokulturellen Gruppierung des Bürgertums im 19. Jahrhundert. Siehe dazu auch Doff 2004, S. 69: »In der Frage der Mädchenbildung wird wie an kaum einem anderen Thema deutlich, wie einschneidend der im 18. Jahrhundert begonnene und im 19. Jahrhundert fortgesetzte Wandel der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland war. Das ausgehende 18. Jahrhundert war die pädagogische Epoche, in der erstmals ausführlicher über weibliche Bildung diskutiert wurde, wenn sich die Hauptwerke führender Theoretiker auch weiterhin mit der höheren Bildung der Knaben beschäftigten.« Hausen 1976, S. 373. Doff 2004, S. 72. Siehe dazu ebenfalls die sehr detaillierte Auswertung der Debatte um Mädchen- und Frauenbildung im 18. Jahrhundert bei Engelhardt 1992, besonders S. 121 – 152, sowie die Studie von Margret Friedrich Zur Geschichte der schulischen Mädchenerziehung in Österreich im »langen« 19. Jahrhundert, die viele auch auf Deutschland zu
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hat sich innerhalb der (feministisch-ideologiekritisch ausgerichteten) Forschung zur Frauen- und Geschlechtergeschichte wie oben skizziert zum Teil fortgesetzt. Entsprechend der Rousseau’schen Konzeption und ihrer Rezeption im pädagogischen Diskurs der Zeit sah die geschlechterspezifische Erziehung für Mädchen ein auf die Erfüllung der Rollentrias ›Gattin, Hausfrau, Mutter‹ ausgerichtetes Bildungsmodell vor: Abgesehen von den Kulturtechniken sollten nur solche Dinge gelehrt werden, die der weiblichen Bestimmung dienten; weibliche Erziehung war also ausschließlich funktionsgebunden.187
Hier ist jedoch anzumerken, dass auch die männliche Erziehung – als bürgerliche! – klar funktionsgebunden ist, allerdings dem Konzept der männlichen Bestimmung und Subjektvorstellung entsprechend anders – und offener – ausgerichtet. Doff betont, dass bei der weiblichen Bildungskonzeption nicht nur »ideengeschichtliche Argumente«188, sondern »auch handfeste materialistische Interessen« im Vordergrund standen: Mit der biologistischen Reduzierung der Frau auf das ans Haus gebundene Muttertier konnten männliche wirtschaftliche Konkurrenzängste für lange Zeit wirkungsvoll bekämpft werden.189
Dieser Perspektive ist aus meiner Sicht aufgrund der bereits problematisierten Überbetonung intentionaler Aspekte mit Blick auf die Zeit um 1800 eher zurückhaltend zu begegnen. In Bezug auf die Entwicklung im 19. Jahrhundert, wenn in der nun konsolidierten bürgerlichen Gesellschaft im Zuge der sich institutionalisierenden Frauenbewegung die potentielle Konkurrenz durch weibliche Anwärter auf Ämter und Anstellungen zur realen Gefahr zu werden droht, erfährt die von Doff angestellte These eine deutliche Plausibilisierung. Insgesamt lässt sich zusammenfassen, dass das komplementäre Geschlechtermodell die Basis für die umfassende Institutionalisierung von ›Bildung‹ wird, die im 18. Jahrhundert in Gang kommt. Anders gesagt: Das signifikant Neue und für die Entwicklung im 19. Jahrhundert relevante an der komplementären Geschlechterkonzeption, die sich um 1800 etabliert, sind die umfassenden Impliübertragende relevante Aspekte der Diskursivierung und Institutionalisierung weiblicher Bildungskonzeptionen herausarbeitet; vgl. Friedrich 1999. 187 Doff 2004, S. 71. 188 Doff 2004, S. 130. Gemeint sind hier wohl ideengeschichtliche ›Aspekte‹, die natürlich keine »Argumente«, sondern nur Erklärungszusammenhänge sein können. In diesem kleinen begrifflichen Lapsus manifestiert sich möglicherweise die bereits angesprochene, auch diesem Beitrag zur Frauen- und Bildungsgeschichte eignende Tendenz, intentionale gegenüber funktionalen Aspekten stark zu vordergrundieren. 189 Doff 2004, S. 72.
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kationen für das bürgerliche Selbstverständnis und die Modellierung der neu entstehenden Bildungsanstalten, sowie für die weitere Konsolidierung des normativen Deutungssystems der gesellschaftlichen Gruppierung ›Bürgertum‹, die sich an der Kategorie ›Geschlecht‹ als basisstrukturierender Zuordnung orientiert. Die Heterogenität und problematische Kategorisierung des ›Bürgertums‹ als gesellschaftliche Gruppierung wird in der Forschung berechtigterweise immer wieder betont – sowohl für das 18. wie auch das 19. Jahrhundert. So fasst Werner Faulstich zusammen: Daß es sich beim Bürgertum im 19. Jahrhundert weder um einen Stand noch um eine Klasse handelt, ist in der Forschung unbestritten. Die heute meist vertretene These freilich, daß sich die Ideologie vom Bürgertum einer faktischen Einheitlichkeit der »bürgerlichen Gesellschaft« in Form übergreifender kultureller Bildungsideale und Wertemuster oder einem identischen Lebensstil verdankt […], muß in Zweifel gezogen werden.190
Die Einheitlichkeit des bürgerlichen Wertesystems ist mit Faulstich nicht faktisch gegeben, sondern vielmehr suggeriert »durch ein bestimmtes ›Kommunikationssystem‹, durch eine bestimmte Art von Öffentlichkeit«191. Faulstichs Perspektive lässt sich stimmig an Karl Eibls Explikation von ›Bürgertum‹ – hier im Kontext des 18. Jahrhunderts – anschließen, die ebenfalls auf den kommunikativ-semantischen Status und zudem deutlich auf den dynamischen Charakter der Kategorie hinweist: Es existiert inmitten der ständischen Gesellschaft ein Bewegungsraum, sowohl was räumliche als auch was soziale Mobilität anbelangt, und wer am Alten klebt, gerät leicht in eine Sackgasse. Wenn wir vom ›Bürgertum‹ dieser Zeit sprechen, dann bezeichnen wir damit zunächst keinen Stand, sondern diesen Bewegungsraum. Bildlich gesprochen: Der Idealtyp des ›Bürgers‹ sitzt in der Kutsche oder im Gasthaus. Hier kommt es immer wieder zu unvorhergesehenen, schwer zu planenden Interaktionen von Individuen unterschiedlicher Herkunft, von Normensystemen unterschiedlicher Struktur und Tradition […]. Hier entsteht ein großer Reflexions-, Abstimmungs- und Selbstdeutungsbedarf. Damit wird vielleicht deutlich, was das heißt, daß das Gemeinsame dieses Neubürgertums das Problem war, nichts Gemeinsames zu haben.192
Der Bedarf der Standardisierung und institutionellen Verstetigung von ›Bildung‹ resultiert zum einen aus der Notwendigkeit, die identitätskonstitutiven Werte für die im eben ausgeführten Sinne konzeptuelle Gruppierung des Bürgertums über die Implementierung im Sozialisationsprozess gegen Kontingenz abzusi190 Faulstich 2004, S. 15. 191 Faulstich 2004, S. 15. 192 Eibl 1995, S. 52 f. Vgl. aktuell auch den von Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis und Marianne Willems herausgegebenen Band Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert (2006).
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chern. Zum anderen resultiert der Institutionalisierungsprozess aus der am Distinktionsmerkmal ›Bildung‹ ansetzenden Legitimationsfunktion für den gesellschaftlichen Führungsanspruch des Bürgertums. Voraussetzung für die identitätskonstitutive Funktion des Bildungskonzepts ist wiederum dessen spezifische teleologische, mit dem Konzept der Perfektibilität verknüpfte Ausformung im 18. Jahrhundert.193 Die übergeordnete Problemreferenz, mit der der semantische Wandel des Bildungsbegriffs zusammenhängt – wie auch die Herausbildung des komplementären Geschlechtermodells – ist der umfassende gesellschaftsstrukturelle Wandel von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung, der die Herausbildung verschiedener (semantischer) ›CopingStrategien‹ befördert und erfordert. Da semantische Problemlösungen stets Folgeprobleme generieren, ist die Erarbeitung geschlechtsspezifischer Bildungskonzepte um 1800 in diesem Sinne eine logische Folge des Bedarfs der zeitlichen Verstetigung des komplementären Geschlechtermodells, dessen zentrale Funktion in der Bereitstellung eines kontingenzresistenten, da als ›ahistorisch‹ konzipierten Inklusionsraums liegt.
2.1.5 Zusammenfassung: Zur historischen Problemreferenz und Funktionalität des komplementären Geschlechtermodells Die spezifische Funktion der um 1800 etablierten komplementären Geschlechtersemantik ist auf übergeordneter Ebene zu beschreiben als die Bereitstellung einer überzeitlichen und gegen gesellschaftlich-kulturellen Wandel immunisierten Ordnungsstruktur, die den ›Verlust‹ der vertikalen stratifikatorischen Differenzierung in bestimmten Aspekten abfängt. Zugleich wird die Geschlechterdifferenz bzw. Ungleichheit der Geschlechter durch ihre Naturalisierung zu einem Legitimationsschema für soziale Ungleichheit schlechthin, wie etwa der im Kontext der politischen Situation um 1848/49 und der nachfolgenden restaurativen Strukturen zu sehende kulturkonservative Konsolidierungsversuch der bürgerlichen Geschlechterordnung von Wilhelm Heinrich Riel (Die Familie, 1855) verdeutlicht. In Hinblick auf den massiven gesellschaftsstrukturellen und semantischen Wandel bezüglich der Verortung des Einzelnen in der Gesellschaft und die Anforderungen, die die zunehmende Multiinklusion in verschiedene gesellschaftliche Funktionssysteme an die Subjektkonstitution stellt, ist die komple193 Siehe dazu grundlegend Fotis Jannidis’ Aufsatz zur ›Bildung‹ als ›Bestimmung des Menschen‹, in dem er die bis Mitte des 20. Jahrhunderts – gekoppelt an das Bestehen der Gruppierung des ›Bildungsbürgertums‹ – anhaltende Relevanz des teleologischen Bildungsbegriffs als »vieldiskutiertes und für die Orientierung und Vergesellschaftung einer sozialen Formation zentrales Konzept« (Jannidis 2004 [1999], S. 2) hervorhebt.
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mentäre Geschlechtersemantik gekoppelt an die Herausbildung zweier diametral zueinander konzipierter, funktional aufeinander bezogener Sphären: der Privatheit des Heims und der Öffentlichkeit, in der der – männliche – Bürger seinem Beruf nachgeht.194 Dem Heim und der Familie kommt dabei der Status eines Regenerations- und Inklusionsraumes zu, wie es Karin Hausen in ihrem Grundlagenbeitrag von 1976 in der treffenden Formulierung von der »Refugium-Funktion von Familie und Frau«195 im 19. Jahrhundert auf den Punkt bringt. Das Phänomen der semantischen Umstellung von Inklusions- auf Exklusionsindividualität betrifft in dieser Weise also hauptsächlich den männlichen Teil der vom sozio-strukturellen Wandel erfassten Personengruppen. Weibliche Exklusionsindividualität ist in der Phase der Diskursivierung und Etablierung der Komplementärsemantik gerade nicht der Regelfall, sondern angesichts der starken Einschränkung der weiblichen Teilnahme an gesellschaftlichen Funktionssystemen und deren Institutionen durch die bürgerliche Gesellschaftsordnung und die metonymische Koppelung ›der Frau‹ an den Inklusionsraum ›Haus‹ eine markierte Ausnahme. Diese in jüngeren und jüngsten literaturgeschichtlichen Darstellungen zur Literatur um 1900 – etwa in Horst Thom¦s Grundlagenaufsatz »Modernität und Bewußtseinswandel« oder in Philip Ajouris gelungenem Einführungsband196 – immer wieder betonte geschlechtsspezifische Unterscheidung, die in Bezug auf das Luhmann’sche Theorem der Umstellung von Inklusions- auf Exklusionsindividualität im 18. Jahrhundert zu treffen ist, wird in der Forschung insgesamt noch zu wenig explizit gemacht. Fakt ist jedoch: Wenn vom Übergang der Inklusionsindividualität zur Exklusionsindividualität im 18. Jahrhundert gesprochen wird, bezieht man sich damit implizit auf das männliche Individuum. An dieser Stelle ist der wissenschaftskritischen Haltung aus feministischer Richtung durchaus beizupflichten, die im gegenwärtigen Wissenschaftsdiskurs 194 Die komplementäre Geschlechtersemantik – das soll hier noch einmal betont werden – ist in ihrer Diskursivierung und Etablierung funktional klar an das sich mehr und mehr als distinkte Gruppierung wahrnehmende ›Bürgertum‹ im 18. Jahrhundert gekoppelt. Vgl. dazu Hausens Hinweis auf den Zusammenhang von Semantik und Sozialstruktur : »Mit Phänomenen der gesellschaftlichen Realität korrespondierte die Polarisierung der Geschlechter zunächst ganz offensichtlich einzig und allein dort, wo sie um die Wende zum 19. Jahrhundert entwickelt wurde, nämlich im gebildeten Bürgertum.« (Hausen 1976, S. 383) Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird das Komplementärmodell mit seiner Geschlechtercharakterologie und den zugehörigen Liebeskonzeptionen jedoch zunehmend gesamtgesellschaftlich relevant und über die Grenzen der bürgerlichen ›Führungseliten‹ hinaus popularisiert. 195 Hausen 1976, S. 385. 196 Vgl. Thom¦ 2000, S. 23 sowie Ajouri 2009, S. 13. Siehe auch Uta Kleins These, dass der »Austritt der Frau aus dem ›Heim‹« im Zuge des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses im 19. Jahrhundert sich »als weibliche Exklusion und autonome Individualisierung verstehen« (Klein 2004 [in Druckvorbereitung], S. 4) lässt.
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eine die Kategorie ›Geschlecht‹ betreffende Schieflage in der Wahrnehmung moniert. Dass im Falle der Aussagen über den semantischen Wandel der Konstitution des Individuums um 1800 der unmarkierte Sexus tatsächlich mit einer begrifflichen Unschärfe und Verallgemeinerung einhergeht, die wichtige historische Zusammenhänge für die Analyse verdeckt, wird im nachfolgenden Exkurs in Kapitel 2.1.6 verdeutlicht werden, der einen knappen historischen und insbesondere systematischen Abriss der Genus-Sexus-Debatte liefert.197 Gezeigt hat sich in der obigen Theoriediskussion auch, dass es nicht haltbar ist, aus dem historischen Differenzpostulat auf eine Repressionsintention zu schließen. Die Differenzhypothese und das Komplementärmodell bedingen sich einerseits, beide schließen allerdings die Annahme der Gleichwertigkeit der Geschlechter gerade deshalb nicht aus, weil die Geschlechterdifferenz funktional konstituiert ist. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verschiebt sich hier die Axiomatik im Rahmen verschiedener Geschlechtertheorien in Richtung einer klaren Werthierarchie – die Radikalisierung der Differenzhypothese impliziert die Verabschiedung des Komplementärmodells der Geschlechter, wie es etwa Elsa Bernstein in ihren Dramen ›einzukreisen‹ versucht. Bevor nun in Kapitel 2.2 ein Abriss über die gesellschaftliche Relevanz und den semantischen Wandel des Komplementärmodells im 19. Jahrhundert zu geben ist, soll im Folgenden in einem knappen Exkurs auf die enge Verflechtung der Diskursivierung und Konsolidierung der Geschlechtersemantik mit der Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems eingegangen werden.
2.1.6 Exkurs: Zur ›Verwissenschaftlichung‹ der Geschlechtersemantik – Die Charakterologie der Geschlechter als Basis sprachwissenschaftlicher Taxonomie Dass es sich beim polaristischen Geschlechtermodell in der spezifischen Konzeptualisierung um 1800 um eine neue – und äußerst produktive – Semantik handelt, wird auch durch Beobachtungen zur Theoriegeschichte der Sprachwissenschaft untermauert: Mit der universitären Institutionalisierung und disziplinären Ausdifferenzierung der Deutschen Philologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts findet das Konzept der ›Geschlechtscharaktere‹ auch Eingang in 197 Während feministische Ansätze in der Sprachwissenschaft aufgrund einer starken Fokussierung auf Phänomene des sprachlichen Gebrauchs und einer mangelnden Abgrenzung zu formal-systemischen Aspekten von Sprache oftmals zu problematischen Thesen kommen, ist die von mir eingeforderte Gender-Sensibilität im Falle des Theorems zum Wandel der Individualitätssemantik nicht sprach- und ideologiekritischen Überlegungen geschuldet, sondern ist meines Erachtens die Grundlage einer differenzierten, historisch validen Analyse der entsprechenden Zusammenhänge.
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die sprachwissenschaftliche Theoriebildung. So wurde die seit der griechischen Antike innerhalb der Grammatiktheorie diskutierte Genus-Sexus-Frage198 im 18. Jahrhundert etwa von Herder und Adelung in deren Überlegungen zur Sprache aufgegriffen und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts als Debatte um grammatische Kategorisierungen vor allem von Jacob Grimm dominiert, den Karl Brugmann später vehement kritisierte.199 Grimm geht von einer Kongruenz der grammatischen Kategorie des ›Genus‹ mit der biologischen Kategorie des ›Sexus‹ aus und vertritt im dritten Band seiner Deutschen Grammatik (1831) eine androzentrische Position, bei der er »das Maskulinum als die älteste und ursprünglichste Position« konzipiert, »die anscheinend als Ausgangspunkt zur Charakterisierung der anderen grammatischen Geschlechter dient«200. Für die Charakterisierung der drei Genera orientiert sich Grimm am Merkmalskatalog201, den das Modell der komplementären ›Geschlechtscharaktere‹ zur Verfügung stellt: [D]as masculinum scheint das frühere, größere, festere, sprödere, raschere, das thätige, bewegliche, zeugende; das femininum das spätere, kleinere, weichere, stillere, das leidende, empfangende; das neutrum das erzeugte, gewirkte, stoffartige, generell unentwickelte, collective. […] Diese Kennzeichen stimmen zu den bei dem natürlichen Genus […] aufgestellten[.]202
Das Genus der leblosen Dinge ist nach Grimms These »mittels Analogiebildung zwischen Begriffen und den männlichen und weiblichen Wesen erfolgt«203. Grimms Theorie, die an den ›Sexualkatalog‹ der Genuskategorien anknüpft, den 198 Zur historischen Datierung der Debatte vgl. Irmen / Steiger 2005, S. 214 f. Im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert ist mit Irmen und Steiger eine signifikante Veränderung innerhalb der Genustheorie zu beobachten, in deren Rahmen Genus und Sexus zunehmend analog gesetzt werden. Insgesamt gibt der Aufsatz einen fundierten historischen Überblick der Theorieentwicklung, in seiner argumentativen Ausrichtung in Bezug auf Funktion und Gebrauch der Kategorie Genus ist er jedoch nicht unproblematisch. So grenzt sich Martina Werner (2012) in ihrer diachron-systemgrammatisch argumentierenden Untersuchung zum Genus deutlich von der Position von Irmen und Steiger ab, die sprachliche – bzw. genau gesagt: grammatische – Strukturen und deren Wandel vornehmlich auf Sprecherintentionen zurückführen und außer Acht lassen, dass grammatische Strukturen nicht unmittelbar vom Sprecher willkürlich beeinflusst werden können. 199 Vgl. Irmen / Steiger 2005, S. 220 f. 200 Irmen / Steiger 2005, S. 220. Irmen und Steiger werten die Verwendung des generischen Maskulinums auf der Basis ihrer Untersuchungsergebnisse als nicht rein formalen Aspekten der Sprache geschuldet: »Es finden sich über Jahrhunderte hinweg Anhaltspunkte für einen im Sprachgebrauch sich manifestierenden Sexismus, der darauf hinweist, dass die sprachliche Konvention des generischen Maskulinums vor einem ideologischen Hintergrund entstanden ist.« (Irmen / Steiger 2005, S. 214) 201 Vgl. die Übersicht bei Hausen 1976, S. 368. 202 Grimm 1890 [1831], S. 357, zitiert nach Irmen / Steiger 2005, S. 220. 203 Irmen / Steiger 2005, S. 220.
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unter anderem Herder und Adelung aufgestellt hatten,204 kommt dank der Semantik des polaristischen Geschlechtermodells mit geringem argumentativen Aufwand aus: Im Rahmen einer Axiomatik, die den Zusammenhang von physiologischen und psychologischen bzw. geschlechtlichen mit charakterlichen Eigenschaften ontologisiert und damit absolut setzt, liegen Analogiebildungen zwischen dem natürlichen und dem grammatischen Geschlecht nahe.205 Tatsächlich geht auch Karl Brugmann – Formalist und entschiedenster Gegner der Grimm’schen Theorie – von einem Zusammenhang zwischen Genus und Sexus aus, aber gerade in umgekehrter Kausalbeziehung: Erst die Existenz des Genus rege die Vorstellungskraft an. Gerade bei der Personifizierung von Lexemen würde dies deutlich, denn der gewählte Sexus richte sich hier nach dem Genus des Lexems. So wird im Deutschen, dem grammatischen Geschlecht des Wortes entsprechend, der Hunger bildlich als Mann dargestellt, wohingegen er im Französischen, gemäß dem femininen Genus von la faim, als Frau personifiziert wird. »Das grammatische Geschlecht war schon vorher da, die Einbildungskraft benutzte es nur« ([Brugmann 1889,] S. 102).206
Formalistische Ansätze wie der von Brugmann, in denen Genus als morphosyntaktische Kongruenzerscheinung verstanden wird, haben durchaus eine Traditionslinie, im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts sind sie allerdings gegenüber dem Mainstream der Genustheorien, die von einer Genus-Sexus-Kongruenz ausgehen, in einer randständigen Position. Insgesamt ist der von Grimm vertretene Ansatz vor dem Hintergrund des um 1800 von den Romantikern aufgegriffenen Ganzheits- und Harmonie-Konzepts zu sehen, das von Komplementär- und Analogieverhältnissen der Dinge in der Welt ausgeht.207 204 Vgl. dazu Naumann 1986 zur Grammatiktheorie des Deutschen im 18. und 19. Jahrhundert, hier S. 194; siehe auch Irmen / Steiger 2005, S. 220. 205 Vgl. den Hinweis von Leiss (1994, S. 284), dass sich vor dem als gültig vorausgesetzten Modell der antithetisch konzipierten Geschlechtscharaktere eine argumentative Fundierung der Grimm’schen Theorie erübrigte. 206 Irmen / Steiger 2005, S. 221. Zitiert wird Karl Brugmanns 1889 in der Internationalen Zeitschrift für allgemeine Sprachwissenschaft erschienener Beitrag »Das Nominalgeschlecht in den indogermanischen Sprachen«. Werner 2012 liefert Belege, die Brugmanns Ansatz stützen. 207 Vgl. Igl 2008/09, 2006. Philosophisch modelliert findet sich das Harmonieprinzip etwa bei Schelling, auf den sich Joseph Görres (vgl. Kapitel 2.1.3) in seinen ab 1806 an der Universität Heidelberg abgehaltenen Vorlesungen bezieht (vgl. den Überblick bei Just 1955, sowie Igl 2006, S. 30 f., Anm. 103 f.). In naturwissenschaftlicher Ausrichtung liegt das Prinzip Humboldts fünfbändiger Kosmos-Schrift (1845 – 62) zugrunde; vgl. dazu Daum 2002. Ein Ziel bei Grimms sprachwissenschaftlichen Studien ist die Rekonstruktion der indogermanischen ›Ursprache‹; diese Perspektive der historischen Sprachbetrachtung ändert sich erst mit den Arbeiten der Junggrammatiker, die sich stark an naturwissenschaftlichen Methoden und Modellen orientieren und eine ›Verwissenschaftlichung‹ der Sprachwissenschaft anstreben. Eine wesentliche Voraussetzung dieser Verwissenschaftlichung der Disziplin ist für die Junggrammatiker die Hinwendung zur formalen Seite von Sprache und
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Da das Beispiel der Genus-Sexus-Debatte die Problematik intentionalistischideologiekritisch ausgerichteter Ansätze allgemein und zugleich mit konkretem Bezug auf die für die vorliegende Studie zentrale Kategorie ›Geschlecht‹ verdeutlicht, sei an dieser Stelle ein kurzer Seitenblick auf die gegenwärtige linguistische Theoriediskussion gestattet. Die in der Entstehungsphase der Deutschen Philologie etwa von Jacob und Wilhelm Grimm vorgenommene Sexualisierung von Grammatik208 hat die Auseinandersetzung mit der Kategorie ›Genus‹ insgesamt stark geprägt. Im 20. Jahrhundert hat die Genus-Sexus-Debatte innerhalb der Sprachwissenschaft noch einmal deutlich an Schärfe gewonnen und wird – über den Bereich der Grammatiktheorie hinausgehend – bis in die Gegenwart hinein geführt, da es bei ihr nicht zuletzt um die gesellschaftspolitische Seite von Sprache und Sprachhandlungen geht. Die feministische Sprachkritik der 1970er und 80er Jahre hat durchaus zu Recht auf sexistische Strukturen des Sprachgebrauchs hingewiesen.209 Allerdings laufen die einzelnen Positionen Gefahr, die auch aus Sicht einer ideologiekritischen Axiomatik eigentlich problematische Genus-Sexus-Gleichsetzung – handelt es sich hierbei doch um eine Ontologisierung von ›Geschlecht‹ – letztlich selbst fortzuführen.210 Der im Rahmen der sprach- und ideologiekritisch ausgerichteten Diskussion weitgehend diskreditierte Ansatz von Kalverkämper 1979 argumentiert von einer formalistisch-strukturalistischen Axiomatik ausgehend, dass es sich beim eine Abwendung von der ›kulturwissenschaftlich‹ ausgerichteten Philologie, wie sie die der Romantik nahe stehenden Sprachforscher mit Blick auf ihre Zielsetzung einer kulturellnationale Identitätskonstitution in ihre Sprachbetrachtung betrieben haben. Vgl. die Darstellungen von Jäger 2006 sowie Putschke 1998 zu den Junggrammatikern und der stark ideologischen Ausrichtung der historischen Sprachforschung um 1800, von der sich diese abgrenzen. 208 Vgl. Leiss 1994 sowie Werner 2012, vor allem S. 12 – 21 und S. 190 – 197. Diese beiden systemgrammatischen Studien widmen sich wie Grimm dem Desiderat, die Genusverteilung als nicht-arbiträr zu erklären – jedoch auf der Basis einer grundsätzlich anderen Axiomatik. 209 Vgl. die Beobachtungen von Rothermund 1998 zu automatischen geschlechtsspezifischen Assoziationen, die generisch maskuline Text-Subjekte bei Lesern hervorrufen. Für einen reflektierten Überblick zu den Leistungen, Schwierigkeiten und Desideraten des Forschungsbereichs der ›Feministischen Linguistik‹ siehe auch Hornscheidt 2000. 210 Vgl. die kritischen Anmerkungen von Leiss 1994. Eine sprachwissenschaftlich haltbare Genustheorie kann sich in der Analyse nicht nur auf den spezifischen Fall von Personenbezeichnungen beschränken, sondern muss die gesamte Klasse der Nomina miteinbeziehen. Einen aktuellen Überblick zum Diskussionsstand in der Linguistik gibt der Band Gender in Grammar and Cognition von Unterbeck / Rissanen (Hg.) 2000, vgl. darin vor allem die Einleitung von Unterbeck (S. xv-xlvi) und den Beitrag von Leiss (S. 237 – 258); siehe auch die Beiträge von Bußmann 2005 im interdisziplinär ausgerichteten Handbuch Geschlechterforschung / Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften und von Hornscheidt 2000 in der von Christina von Braun und Inge Stephan herausgegebenen Einführung Gender-Studien.
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generischen Maskulinum tatsächlich um die unmarkierte, ›Sexus‹-neutrale Form handele und eine explizite morphologische Markierung des Femininums die Suggestion einer aus grammatischer Sicht nicht gegebenen Kongruenz von Genus und Sexus bestärke.211 Wie auch in Bezug auf den Begriff der Emanzipation in Kapitel 1.2.4 dargelegt, ist bei der Genus-Sexus-Debatte darauf zu achten, die historische und systematische Ebene bei der Analyse nicht intransparent zu vermengen. Stattdessen geht es um einen reflektierten und differenzierten Zugriff zum einen auf die Ebene des Sprachgebrauchs und der konkreten im kommunikativen Kontext zugewiesenen, über die Zeit veränderlichen Semantik von sprachlichen Äußerungen, zum anderen auf die Ebene der sprachlichen Struktur und der inhärenten grammatischen Semantik und Funktion und deren Wandel.212 Der Blick auf die universitäre Institutionalisierungsphase der Philologie und die Rolle der um 1800 diskursiv verfügbaren komplementären Geschlechtersemantik bei der (sprach)wissenschaftlichen Theoriebildung illustriert den sich wechselseitig verstärkenden Wirkungszusammenhang von diskursiver Etablierung, Popularisierung und wissenschaftlicher Absicherung des Geschlechter211 Vgl. Kalverkämper 1979. Zur Kritik an Kalvenkämpers These der Unmarkiertheit des (generischen) Maskulinums vgl. exemplarisch Posch 2011. Generell sehen sich strukturalistische Ansätze wie die von Kalverkämper aus poststrukturalistischer Richtung leicht mit dem Vorwurf des reduktionistischen Positivismus konfrontiert. Dass ideologiekritische Ansätze, die auf die Dekonstruktion von Machtstrukturen und Kategorisierungsprozessen abzielen, tendenziell zu einer intentionalistischen Interpretation neigen und die Ebenen von Struktur und Gebrauch in der Analyse mitunter argumentativ problematisch vermengen, wurde in Kapitel 1.2.4 bereits angesprochen. Ungeachtet der wichtigen Reflexion über Mechanismen des Sprachgebrauchs, die etwa die feministisch orientierte Sprachwissenschaft eingefordert und angeregt hat, müssen die Forschungspositionen zu ›Sprache im Gebrauch‹ dennoch durch diachrone grammatiktheoretische Untersuchungen flankiert werden. Die entsprechend ausgerichtete Studie von Werner 2012 grenzt die historischen Bestimmungsversuche von ›Genus‹ klar von einer systematischen Kategorisierung nach dem gegenwärtigen Stand der Grammatikforschung ab. Vgl. dazu auch die von Martina Werner verfasste Handreichung für die Frauenbeauftragte der LMU München Zur Verwendung geschlechtergerechter Sprache – die grammatische Kategorie Genus (2007), in der sie betont, dass »Grammatik weitaus weniger diskriminierend ist, als gemeinhin angenommen« (Werner 2007, S. 11). Werner macht deutlich, dass Ansätze zu einem gendergerechten Sprachgebrauch stattdessen stärker an der Ebene des Wortschatzes anzusetzen haben, da dieser im Gegensatz zur nicht direkt auf ›Realität‹ rekurrierenden Grammatik »soziokulturelle[] Zustände sehr differenziert« abbildet (ebd., S. 12). 212 Für das gegenwärtige Deutsch ist der Status von Genus als grammatischer Kategorie insofern fraglich, als dieses kein vollständiges Paradigma aufweist, aus dem Sprecher je nach Kontext wählen könnten. Bereits im Althochdeutschen ist aus Sicht der aktuellen Forschung nur noch ein Reliktsystem einer grammatikalisierten Genuskategorie vorhanden (vgl. Froschauer 2003). Eine ›sexualisierte‹ Reanalyse von Genus durch die Sprecher lässt sich vor diesem Hintergrund erklären, da eine in ihrer Funktion nicht mehr stabile grammatische Kategorie für Sprecher gewissermaßen ›opak‹ wird und Kohärenz stiftende Interpretationen evoziert.
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modells und unterstreicht die enge konzeptuelle Relation desselben zum Ganzheits- und Harmoniekonzept, auf die auch Hausen hinweist. Zudem soll der Exkurs auf die innerhalb der Sprachwissenschaft noch immer andauernde Genus-Sexus-Debatte die weiterhin notwendigen Bemühungen unterstreichen, in der Forschung – sei sie literatur-, sprach- oder kulturwissenschaftlich ausgerichtet – in Bezug auf die Kategorie ›Geschlecht‹ klar zwischen systematischer und historischer Zugriffsebene zu unterscheiden.
2.2
Geschlechterkonzeptionen im Wandel – Zwischen Stabilisierungen der Komplementärsemantik und Radikalisierungen der Differenzhypothese um 1900
Wie aus der vorangehenden Darstellung zur Etablierung der geschlechtlichen Komplementärsemantik bereits mehrfach deutlich wurde, erforderte diese im Laufe des 19. Jahrhunderts eine stetige diskursive Aktualisierung, wie sie etwa Wilhelm Heinrich Riehl innerhalb der dreiteiligen Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik im dritten Band Die Familie (1855) vornimmt. In Schriften wie dieser, die einen klaren gesellschaftskritischen Impetus haben, wird das inhärente Spannungsverhältnis des Komplementärmodells sichtbar : So werden auf der einen Seite die Merkmale der ›Naturgegebenheit‹ und ›überzeitlichen Gültigkeit‹ als konstitutiv zugeschrieben, auf der anderen Seite verhehlt etwa Riehl nicht den normativen Charakter seiner kulturkritischen Streitschrift für das einzulösende und zu bewahrende Ideal der ›Familie‹. Die Familie als bürgerliche Sozialisationsagentur, in der die komplementäre Geschlechterordnung die Grundunterscheidung von ›Privatheit‹ und ›Öffentlichkeit‹ sowohl stützt als auch von dieser wiederum wechselseitig bestärkt wird, ist ein über kommunikatives Handeln konstituiertes und zusammengehaltenes Gefüge. Orientierungsmuster für dieses kommunikative Handeln bieten zum einen volkspädagogisch-›kulturwissenschaftliche‹ Schriften wie diejenige Riehls, zum anderen vor allem die (Schema-)Literatur sowie die Textgattung der Anstandsbücher. Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl skizzieren in ihrer sozialgeschichtlichen Darstellung zum österreichischen Bürgertum im 19. Jahrhundert die Fokusveränderung, die die Ratgeberliteratur im Laufe der Konsolidierung des Bürgertums erfährt: Eine unverzichtbare Grundlage bürgerlicher Kommunikation waren gemeinsame Verhaltensnormen und symbolische Formen, wie sie in zahlreichen Anstandsbüchern formuliert und im Zuge individueller Sozialisationsprozesse internalisiert wurden. Wandlungen in Zielsetzungen, Inhalt und Argumentationslinien dieser Benimm-Ratgeber lassen auf strukturelle Veränderungen im Lebensstil der sich als bürgerlich
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verstehenden Menschen schließen. Die Etikettenbücher des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts waren von emanzipatorischen Ansprüchen gegenüber der Aristokratie erfüllt. Sie plädierten zwar opportunistisch für die Aneignung und Beherrschung adeliger Verhaltensstandards, stellten diesen jedoch einfachere, rationellere und »praktische« Umgangsrituale gegenüber. Grundgedanke dieser neuen Richtlinien für den »Mittelstand« waren die Dominanz »innerer Werte« und die Ablehnung einer bloß äußerlichen Zurschaustellung eines aristokratischen Habitus. Der »vernünftige« Bürger trug seine Tugenden in sich und nicht an sich.213
Während der Fokus um 1800 in der Sondierungs- und Formierungsphase des in sich sehr heterogenen Bürgertums214 noch auf der Abgrenzung gegenüber dem Adel liegt und der gesellschaftliche Führungsanspruch mit dem Hinweis auf ein intrinsisches und dadurch unveräußerliches Tugendkonzept bekräftigt wird, beobachten Bruckmüller und Stekl eine davon zu unterscheidende zweite Phase, in der es zentral um die Tradierung ›bürgerlicher‹ Tugenden und Symbolsysteme sowie die Vorrangstellung der Wissenschaft – nicht der Religion – als Legitimationsgrundlage der ›bürgerlichen‹ Moral geht.215 Im Zuge der Strukturveränderungen des Bürgertums und, wie die Autoren folgern, auch einer gesellschaftlichen Stabilisierung desselben, wandelten sich auch die Intentionen und Inhalte der Benimm-Ratgeber, die sich nun verstärkt der Kanonisierung und Pflege als genuin bürgerlich verstandener Kultur und Werte widmen.216 Bürgerliche Kultur beruht mit Bruckmann und Stekl auf der Übernahme bestimmter konstitutiver Wertorientierungen, 213 Bruckmüller / Stekl 1995, S. 180. 214 Vgl. grundlegend den Beitrag von M. Rainer Lepsius zum Bildungsbürgertum als ständischer Vergesellschaftung (Lepsius 1992). 215 Diese Fokusverschiebung lässt sich soziologisch auch als Wechsel von der Außen- auf die Innenperspektive beschreiben. 216 Siehe Bruckmüller / Stekl 1995, S. 180 f.: »In der Folge verzichteten die Anstandsbücher auf die Betonung von Gesellschaftsgegensätzen, was auf eine verstärkte Anerkennung bürgerlicher Formationen schließen läßt. Man konzentrierte sich vielmehr in der zweiten Jahrhunderthälfte zunehmend auf die Kanonisierung älterer bürgerlicher Werte wie Fleiß, Sparsamkeit, Ordnungsliebe, Aufrichtigkeit und Mäßigkeit sowie auf die Vermittlung von hochspezialisierten Handlungsmustern für alle nur denkbaren Situationen des Alltagslebens. Dabei entwickelten die Publikationen ein verfeinertes Sensorium für eine Perfektionierung der Selbstkontrolle sowie für die Verschärfung von Scham- und Peinlichkeitsgrenzen. Durch ›vernünftige‹ Begründungen vor allem medizinischer Art erhielten diese Imperative eine wissenschaftlich fundierte Legitimation. Gediegenheit und Unauffälligkeit wurden zu gängigen Verhaltensmaximen. Die Kenntnis der breiten Palette von Symbolsystemen – von Tischsitten über Konversation, Grußformeln, Sauberkeit, Kleidung bis hin zum Briefstil – kennzeichnete den Bürger und unterschied ihn vom Proletarier, nicht aber vom Kleinbürger, wenn der dieses Instrumentarium ebenfalls beherrschte; damit verbundener materieller Aufwand und Sachwerte waren nur für interne Rangfragen maßgeblich. Vor allem in Beamtenkreisen war man auf reiche Heiraten, auf Zusatzeinkommen oder auf Darlehen bzw. Gehaltsvorschüsse angewiesen, um einen standesgemäßen Lebensstil finanzieren zu können.«
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dem uneingeschränkten Vertrauen auf die verändernde Kraft des Individualismus […]; einer positiven Einstellung zu Arbeit und Leistung; der Achtung von Erfahrung, Solidarität und Zuverlässigkeit […]; dem Streben nach Sicherheit und Beständigkeit; dem Glauben an kontinuierlichen Fortschritt; der Wertschätzung namentlich von humanistischer Bildung und schönen Künsten; einer starken Bindung an Elternhaus und Familie.217
Diese Wertorientierungen geraten im Laufe des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses im 19. Jahrhundert mehr und mehr in Bedrängnis. Im fortschreitenden Prozess der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und den sich verändernden Arbeits- und Lebensbedingungen erfordert das geschlechtliche Komplementärmodell, das für die Implementierung und Verstetigung der bürgerlichen Wertvorstellungen in der Sozialisationsagentur Familie grundlegend ist und den häuslichen Raum als Kompensationssphäre für die Folgen des gesellschaftlichen Strukturwandels definiert, eine ständige Rückversicherung.218 So wird mit Hausen die anfangs emphatisch beschworene Harmonie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend prekär, als das Ideal der mütterlichen und liebenden Frau im Frieden des Hauses und damit im Windschatten der Gesellschaft immer weniger gedeihen wollte, zugleich aber das von der Frau kultivierte Refugium erstrebenswerter denn je erschien und die Welt des Mannes zunehmend kulturkritisch in Frage gestellt wurde.219
Wenn Ulrich Engelhardt für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts einen internen Strukturwandel des Bildungsbürgertums von einer prinzipiell offenen, innovativen Größe hin zu einer kastenähnlich abgeschlossenen, defensiv verkrusteten Prestigeformation konstatiert, welche die Beteiligung von Frauen im öffentlichen Bereich beschränkt,220 sind seine Beobachtungen im Kern stimmig. Sie lassen aber an dieser Stelle außer Acht, dass die zunächst konstitutive Of217 Bruckmüller / Stekl 1995, S. 181 f. 218 Dass neben der ›Familie‹ natürlich auch der ›Beruf‹ als ganz zentraler bürgerlicher Sozialisationsraum fungiert, tritt in dieser Arbeit aufgrund der Untersuchungsperspektive stärker in den Hintergrund, soll aber damit keineswegs als randständig bewertet werden. Im Gegenteil sind die beiden Sphären ›Familie‹ und ›Arbeit‹ bzw. ›Beruf‹, wie in Kapitel 2.1 ausgeführt, diametral aufeinander bezogen und stellen beide – wie Philip Ajouri unter Verweis auf Thomas Nipperdeys grundlegende geschichtswissenschaftliche Darstellung (Nipperdey 1998) pointiert ausführt – bürgerliche Inklusionsräume dar, in denen die Identifikation mit bzw. Ausbildung von bürgerlichen Wertvorstellungen zu beobachten ist (vgl. Ajouri 2009, S. 13). Exemplarisch diskursiviert findet sich die Sozialisations- und Inklusionsfunktion des bürgerlichen Berufs in Gustav Freytags Erfolgsroman Soll und Haben (1855). 219 Hausen 1976, S. 379. Hier ist noch nichts über das ›Warum‹ dieser Veränderungen ausgesagt; diese Frage wird im Folgenden mit Blick auf den zunehmenden Modernisierungsprozess im 19. Jahrhundert immer wieder schlaglichtartig beleuchtet werden. 220 Vgl. Engelhardt 1992, S. 154.
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fenheit221 in der Formierungs- und Selbstverortungsphase des ›Bürgertums‹ aufgrund der funktionalen Rollenverteilung für Frauen gerade nicht in größerem Umfang gegolten haben kann. Wie bereits am Ende von Kapitel 2.1.2 knapp skizziert, ist Wilhelm Heinrich Riehls 1855 publizierter und bis ins 20. Jahrhundert hinein immer wieder neu aufgelegter Band Die Familie – der seinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit als Standardwerk innerhalb der frühen sozialwissenschaftlich-empirischen Familienforschung222 durchaus lange Zeit behaupten konnte – ein zentraler und sowohl im wissenschaftlichen wie im privat-häuslichen Kontext stark rezipierter Text, der als erfolgreicher Prototyp der kultur-konservativen Stabilisierungsversuche der bürgerlichen Geschlechtersemantik gelten kann. Auf die wesentlichen semantischen Kontinuitätslinien wie spezifischen Verschiebungen, die das auch Ende des 19. Jahrhunderts als gepflegte Semantik weiterhin präsente Komplementärmodell erfährt, soll im Folgenden näher eingegangen werden.
2.2.1 »Denn in der Familie stecken die Frauen«223 – ›Naturgeschichtliche‹ Stabilisierungsversuche der bürgerlichen Geschlechterordnung und die Rolle entwicklungstheoretischer Modellierungen Im Vorwort seiner Abhandlung Die Familie (1855) merkt der Kulturhistoriker Riehl die erbauliche Wirkung an, die sein Werk während des Schaffensprozesses für den Autor entfaltet habe, und äußert die Hoffnung, dass dieses auch dem Leser zum Trost und Tonikum werde: In bangen Tagen häuslicher Angst und Sorge hat mich die Bearbeitung gerade dieses Gegenstandes, der ja so ganz besonders im deutschen Gemüth anklingt, getröstet und muthig erhalten. Vielleicht fühlen es einige Leser, vorab dem zweiten Theile, an, daß dieses Buch dem Autor während des Schaffens wie zu einem Trostgedicht wurde, und verspüren wohl gar unter ähnlichen Umständen eine annähernd ähnliche Wirkung des Buches. (Fam, S. IX)
Diese geleitenden Worte des Autors verweisen auf die beiden programmatischen Kernaspekte des Bandes: Zum einen bezieht sich Riehl auf eine spezifische Referenzproblematik, auf die er in »häuslicher Angst und Sorge« blickt – die letztlich eine Angst und Sorge um das ›Haus‹224 darstellt. Zum anderen zielt er ab 221 Siehe die Ausführungen in Kapitel 2.1.4 zum ›Bürgertum‹ des 18. Jahrhunderts als nicht ständisch zu fassende Gruppierung und – mit Karl Eibl gesprochen – »Bewegungsraum« (Eibl 1995, S. 52). 222 Siehe Gestrich 2003, S. 382 f. 223 Riehl 1855, S. 10. Zitate daraus werden im Folgenden unter der Sigle ›Fam‹ mit dem jeweiligen Seitennachweis im Fließtext nachgewiesen. 224 Vgl. dazu Kapitel zwei des zweiten Buches »Haus und Familie«, das den Titel »Das ganze
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auf eine Restabilisierung der konsensuellen bürgerlichen Werte und eine Affirmation der bürgerlichen Gruppenidentität. Die Schrift, die als exemplarisch für die Verquickung normativ-gesellschaftskritischer Intention und ontologisch-essentialistischer Argumentation gelten kann, ist eine Verteidigung des bürgerlichen Familienideals gegen die als zersetzend wahrgenommenen gesellschaftlichen Veränderungen und Reformierungsbewegungen, allen voran die Bewegung der Frauenemanzipation. In seinem Vorwort macht Riehl den Status des Konzepts ›Familie‹ für seine Gesellschaftstheorie deutlich: Dieses Buch über die »Familie« bildet den Schlußstein meiner »Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik« und zwar, wie mir scheint, nicht bloß den Schlußstein als den zuletzt eingefügten, sondern als den eigentlich schließenden Stein, der das Gewölbe erst zusammenhält und den festen Mittelpunkt ausmacht, darin der Gegendruck aller Pfeiler und Mauern seine Stütze findet. (Fam, S. V)
Die Familie als Nukleus der bürgerlichen Gesellschaft(sordnung) ist für Riehl »organisch« und damit einerseits die naturgegebene »Urform« von Gemeinschaft und Keimzelle der Vergesellschaftung, andererseits aber zugleich von Verfall bedroht. Auf die vielfältigen Bedrohungen der Familie geht Riehl vor allem im Kapitel »Die Emancipirung von den Frauen« (Fam, S. 50 – 85) detailliert ein. Hier skizziert er die Gefährdung, die aus seiner Sicht von den weiblichen Emanzipationsbestrebungen für die bürgerliche Gesellschaftsordnung ausgeht und verweist auf die der Emanzipationsforderung zugrundeliegende Pervertierung von ›Weiblichkeit‹: Die emancipierten Frauen stellen sich jetzt gewappneten Armes auf den Boden des Naturrechts, um die äußersten Consequenzen der Ausebnung des historischen Sittenund Rechtsbestandes zu ziehen, und jenes Heraustreten des Weibes aus dem Heiligthume des Hauses, welches bis dahin höchstens als Ausnahme seine Rechtfertigung fand, für die Regel zu erklären. Dahinter steckt die Ueberweiblichkeit, die gar leicht in ihr Gegentheil, die Unweiblichkeit umschlägt; sie hat bereits des verschiedenen Gebildeten unsers nationalen Lebens ihren Stempel aufgeprägt, und von ihr müssen wir uns emancipiren. (Fam, S. 65 f.)
Riehl kennzeichnet hier also das »Heraustreten des Weibes aus dem Heiligthume des Hauses«225 als Verstoß einerseits gegen die sakrosankte gesellschaftliche Haus« trägt. Zum Begriff des ›ganzen Hauses‹ und seiner problematischen Verwendung als historischem Fachterminus vgl. den Aufsatz von Opitz 1994 sowie die detaillierten Ausführungen in Kapitel 2.1.3. 225 Im Kontext der von Uta Klein formulierten These, dass der »Austritt der Frau aus dem ›Heim‹« sich »als weibliche Exklusion und autonome Individualisierung verstehen« lässt (Klein 2004 [in Druckvorbereitung], S. 4), wird Riehls kulturpessimistisch gerichtete, analytisch aber durchaus pointierte Formulierung wieder aufzugreifen sein (siehe Kapitel 2.2.5).
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
Ordnung, andererseits gegen die natürliche Ordnung.226 Diese wird für ihn in der Geschlechterdifferenz sichtbar : »In dem Gegensatz von Mann und Weib z. B. läßt sich erst die sociale Ungleichheit als ein ewiges Naturgesetz im Leben der Menschheit erweisen.« (Fam, S. VI) Die »Ueberweiblichkeit« versteht Riehl hingegen als »Uebermaß der Sonderung der Geschlechter« (Fam, S. 47), einen Prozess, in dem Frauen ›genuin männliche‹ Charakterzüge und Verhaltensweisen annehmen – wodurch das Komplementärmodell entschieden in seiner Einlösbarkeit in Frage gestellt wird.227 Die gesellschaftspolitische Wirkungsabsicht der Bewahrung des ›Gegebenen‹ und der Abwehr von Reformbestrebungen wird in der folgenden Passage sehr deutlich: In dem Gegensatz von Mann und Weib ist die Ungleichartigkeit der menschlichen Berufe und damit auch die sociale Ungleichheit und Abhängigkeit als ein Naturgesetz aufgestellt. Wer Mann und Frau nicht wieder zur Geschlechtseinheit zurückführen kann, der vermesse sich auch nicht, das Menschengeschlecht zur socialen und politischen Einheit und Gleichheit zu führen. (Fam, S. 5)228
226 Dass die bürgerliche Gesellschaftsordnung im 19. Jahrhundert als ›natürliche‹ Ordnung proklamiert wird, wurde bereits angemerkt. In Gustav Freytags Soll und Haben (1855), der wie vorangehend erwähnt als exemplarisch für die literarische Diskursivierung der Sozialisations- und Inklusionsfunktion des bürgerlichen Berufs angesehen werden kann (vgl. Kapitel 2.2, S. 119, Anm. 218; siehe auch den Abschnitt zu Freytags »Programmroman« in Stockinger 2010, S. 145 – 160), bringt eine Aussage des Kaufmanns Schröter die Gleichsetzung von ›bürgerlicher Gesellschaft‹ und ›Zivilisation‹ bzw. ›Kultur‹ auf den Punkt. So führt der Kaufmann gegenüber dem Protagonisten Anton Wohlfart auf dem Weg in feindliches Gebiet der revoltierenden polnischen Bauern aus: »›[…] Es gibt keine Race, welche so wenig das Zeug hat, vorwärtszukommen und sich durch ihre Capitalien Menschlichkeit und Bildung zu erwerben, als die slawische. […]‹ ›Sie haben keinen Bürgerstand,‹ sagte Anton eifrig beistimmend. ›Das heißt, sie haben keine Cultur,‹ fuhr der Kaufmann fort; ›es ist merkwürdig, wie unfähig sie sind, den Stand, welcher Civilisation und Fortschritt darstellt und welcher einen Haufen zerstreuter Ackerbauern zu einem Staate erhebt, aus sich heraus zu schaffen.‹« (Freytag 1856 [1855], 2. Bd., 1. Abschnitt, S. 17) 227 Auch hier kann Freytags Roman Soll und Haben (1855) als Beispiel der literarischen Diskursivierung des von Riehl formulierten Problems dienen: Die Jugendliebe Anton Wohlfarts, Lenore von Rothsattel, bereitet ihrer Mutter durch ihr »wildes« Wesen (vgl. Freytag 1856 [1855], 1. Bd., 3. Abschnitt, S. 43) immer wieder Sorge. Eine entsprechende Erziehung soll verhindern, dass aus Lenore »ein Original« (ebd.) wird, was aus Sicht der Baronin Rothsattel Lenores gesellschaftliche Zukunft – ganz konkret im Sinne ihre Verehelichung – gefährdet (vgl. ebd.). Im sechsten Buch kommt es zwischen Anton Wohlfart und Lenore zu einer letzten Unterredung vor Antons Abreise vom polnischen Gut. Lenore hat mittlerweile ihre (standesgemäße) Liebe zum Freiherrn von Fink erkannt und wird von Anton in ihrer Absicht bestärkt, sich als gute und verständige Hausfrau um das Gut, um Heim und Herd zu kümmern (vgl. Freytag 1856 [1855], 3. Bd., 1. Abschnitt, S. 748 – 750): »Und wenn ich jemals in die Lage käme, seiner [i. e. Finks] künftigen Gattin einen Rat zu geben, so wäre es der Rat, daß sie gerade ihm gegenüber sich vor allem hüte, was bei Frauen für gewagt oder keck gilt. Was ihm eine Fremde angenehm macht, weil es ihm schnell leichte Vertraulichkeit gestattet, gerade das wird er an seiner Hausfrau am wenigsten achten.« (Ebd., S. 750) 228 Die zirkuläre Struktur dieser biologistischen Argumentation ist bei näherer Betrachtung
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Statt einer Angleichungsbewegung von Mann und Frau im Sinne der gleichen Teilnahme an politischer und beruflicher Öffentlichkeit proklamiert Riehl die Notwendigkeit einer Festigung und Wertschätzung der Differenzierung, womit er sich ganz entschieden gegen den als Bedrohung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung wahrgenommenen Prozess der Modernisierung – im Sinne der fortschreitenden funktionalen Ausdifferenzierung, die im 19. Jahrhundert nach und nach auch Frauen verstärkt betrifft – stellt: Ueber der unmittelbaren Beziehung des Mannes zum Staate wird die in der Familie vermittelte des Weibes vergessen. Freilich handelt der Mann auf der politischen Bühne, während die Frau nur eine ruhende Macht im Staate ist. Der aber weist sich als ein schlechter Logiker aus, der die ruhende und leidende Kraft für gleichbedeutend nimmt mit einer nicht vorhandenen. In der That, die Frauen können sich beschweren darüber, daß man sie vergißt im öffentlichen Leben. Ich bin ein Mitkämpfer für die verrufene »Emancipation der Frauen,« [sic] indem ich kämpfe für eine bedeutend erweiterte Geltung und Berücksichtigung der Familie im modernen Staat. Denn in der Familie stecken die Frauen. Sie sollen wirken für das öffentliche Leben, aber man soll ihrer dabei nicht ansichtig werden, denn sie sollen zu Hause bleiben. Diese Wirksamkeit im Hause aber ist den Frauen zur Zeit noch sehr verkümmert, und wird es bleiben, so lange die Lehre von der Familie das Aschenbrödel unter den Disciplinen der Volkskunde bleibt. (Fam, S. 10)
Rhetorisch durchaus geschickt positioniert sich Riehl hier mit seiner Ausdeutung des Emanzipationsbegriffs und seiner Problematisierung der gegenwärtigen Situation in der volkskundlichen Forschung und öffentlichen Wertung als fortschrittsorientiert. Obwohl sein Programm dezidiert konservativ ausgerichtet ist – die obigen Ausführungen knüpfen klar an das Modell der polaristischen Geschlechtscharaktere an und weisen eine deutliche Nähe zu Rousseaus Konzept der weiblichen »art de faire vouloir«229 auf –, gibt sich Riehl also einen progressiven Anstrich, indem er das seit dem 18. Jahrhundert diskursiv gefestigte bürgerliche Familienkonzept mit dem Attribut ›modern‹ verknüpft. Was Riehl in seiner ›Problemanalyse‹ durchaus prägnant erfasst, ist, dass im Konzept der ›Familie‹ und der komplementären Gegenüberstellung der öffentlichen und privaten Sphäre die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu sehen ist, und dass diese im Zuge des Heraustretens ›der Frau‹ aus der ›Familie‹ und dem ›Heim‹ – im Sinne einer Rollenausweitung über die Trias ›Gattin, Hausfrau, Mutter‹ hinweg – ihren wesentlichen Stabilisierungsmechanismus einbüßt. Riehls Abhandlung ist daher in gleicher Weise geschichtsphilosophisch-an-
recht deutlich, die Rhetorik der ›Letztbegründungen‹ scheint das ›Henne-Ei-Problem‹ jedoch ausreichend zu überdecken. 229 Frei 2000, S. 229. Vgl. die Ausführungen zu Rousseaus ›Harmonisierungsprogramm‹ in Kapitel 2.1.4.
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thropologisch argumentierende Kultur- und Gesellschaftstheorie, wie auch normativ-pädagogische Erziehungsschrift. Vor dem Hintergrund des als problematisch wahrgenommenen Struktur- und Wertewandels setzt Riehl die (charakterliche) Ungleichheit der Geschlechter einerseits als kulturübergreifende Universalie, die ›Kultur‹ überhaupt erst ermögliche, andererseits als graduelles Konzept, das hoch entwickelte von niedrig entwickelten Zivilisationen unterscheide: Auf den untersten Stufen der Gesellschaft ist die Charakterfigur von Mann und Weib noch nicht in ihren vollen, bestimmten Umrissen herausgezeichnet. Das Gegenbild wird erst fertig mit der steigenden Gesittung. Denn die ächte Civilisation sondert und gliedert, die schlechte ebnet aus. Das Bauernweib ist in jeder Beziehung, bis auf das allgemeine körperliche Gepräge hinab, noch ein Halbmann: Erst im höheren Culturleben tritt das ganze Weib dem ganzen Mann in jedem Zug charakteristisch gegenüber. (Fam, S. 10 f.)
Die »ächte Civilisation« ist diejenige, in der die Geschlechterdifferenzierung sowohl in physiologischer und psychologischer, wie auch in ökonomisch-sozialer Hinsicht klar ausgeprägt ist und eine eindeutige gesellschaftliche Rollenverteilung vorgibt, wie es – darin ist Riehls Analyse sehr stimmig – für die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts konstitutiv ist. Wenngleich Riehl eben keine »Gesellschaftsgeschichte«, sondern eine »Naturgeschichte« schreibt, die von der organischen230 Gewachsenheit und entwicklungsgeschichtlichen Überlegenheit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung ausgeht, ist seine Abhandlung dabei auch aus seiner eigenen Sicht normativ und nicht einfach deskriptiv konzipiert. Damit stellt sie sich, wie am Ende des Kapitels 2.1.2 bereits angemerkt, zum einen in eine Traditionslinie kultur- und gesellschaftskritischer Schriften in der Folge Rousseaus,231 die die Möglichkeit der menschheitlichen 230 Zum Organismuskonzept und dessen Relevanz innerhalb gesellschaftstheoretischer Entwürfe seit dem 18. Jahrhundert vgl. den entsprechenden Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie (Meyer 1984, besonders Sp. 1338 – 1345). 231 Siehe hierzu etwa Georg Bollenbecks Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, der die für kulturkritische Ansätze insgesamt charakteristischen »Ambivalenzen […] zwischen diagnostischer Genauigkeit und antimoderner Verblendung« (Bollenbeck 2007, S. 16) in den Blick nimmt. Siehe dazu auch die Rezension von Oliver Pfohlmann »Seiner Zeit böse sein« auf literaturkritik.de (2008). Im einleitenden Kapitel expliziert Bollenbeck den Untersuchungsgegenstand ›Kulturkritik‹ wie folgt: »Es gibt nicht die Kulturkritik, sondern es gibt unterschiedliche Kulturkritiken als textuelle Konkretisationen eines allgemeinen Reflexionsmodus: Werke mit einem redundanten antimodernem [sic] Ressentiment und Werke mit großen diagnostischen Qualitäten.« (Bollenbeck 2007, S. 16 f.) Anders als es Bollenbecks Differenzierung suggeriert, lässt sich jedoch etwa bei Riehls Abhandlung sowohl ›konservative‹ Modernisierungskritik wie auch analytisch-diagnostisches Potential aufzeigen. Stimmig wird Bollenbecks Ausgangsthese erst dann, wenn von der Ambivalenz innerhalb des jeweiligen kulturkritischen Werkes ausgegangen wird, nicht von zwei verschiedenen Typen kulturkritischer Werke. Mit seinem Konzept des ›kultur-
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Vervollkommnung der ständigen Bedrohung des Verfalls gegenüberstellt.232 Zum anderen nimmt Riehl mit seinem Theorem der kulturellen Höherentwicklung Bezug auf den zeitgenössischen (Natur-)Wissenschaftsdiskurs und die seit Beginn des 18. Jahrhunderts diskutierten entwicklungstheoretischen Ansätze. Zwar erschien Darwins Abhandlung The Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life ›erst‹ 1859,233 entwicklungstheoretische Ansätze etwa von Jean-Baptiste de Lamarck waren aber innerhalb der Naturwissenschaften bereits um 1800 präsent. Wie James D. Steakley anmerkt, lieferte Darwin mit seiner Entwicklungstheorie dementsprechend keine völlig neuen Erkenntnisse, sondern leistet vielmehr eine umfassende Systematisierung und Empirisierung zeitgenössischer Ansätze und Beobachtungen aus Bereichen wie Biologie, Anthropologie und Archäologie. Geradezu umwälzend war nach Steakley Darwins allumfassende Optik, die alle bisherigen Entwicklungskonzepte plötzlich biologisch untermauerte, indem er für seine Einsichten wesentlich mehr Material und wesentlich wahrscheinlichere Erklärungen als irgendeiner seiner Vorgänger herbeibringen konnte.234
Auf die Vorreiterrolle der sich um 1800 herausbildenden Biologie verweist auch Wolfgang Riedel in seiner Studie zur literarischen Anthropologie um 1900.235 Riedel konstatiert für das beginnende 19. Jahrhundert einen epistemischen Paradigmenwechsel, da die rasch an Deutungshoheit gewinnende neue naturkundliche Disziplin sich als »generelle Lebenswissenschaft […] über die klassischen Fächergrenzen zwischen Botanik, Zoologie und Anthropologie hin-
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kritischen Reflexionsmodus‹ nimmt Bollenbeck diese inhärente Spannung als konstitutives Merkmal von Kulturkritik an – die obige Formulierung erscheint dementsprechend etwas unglücklich gewählt. Vgl. Luhmanns Ausführungen zur »Umgründung der menschlichen Natur von Perfektion auf Perfektibilität« bei Rousseau (Luhmann 1980, S. 212): »Perfektibilität garantiert nicht eine schließlich erreichte Perfektion, sie ist weder die Keimkraft einer Entwicklung, noch eine Mitursache der Vollendung; sie ist nur ein euphemistischer Ausdruck für die doppelte Möglichkeit der Perfektion und der Perversion« (ebd., S. 213). James D. Steakley weist in seinem Beitrag zur Darwin(ismus)rezeption und zu Konstitution und Wandel des Monismus darauf hin, dass generell in Deutschland weniger Darwins Schriften selbst gelesen wurden als die seiner Popularisatoren, wenngleich erstere durchaus allgemein verfügbar waren. Bereits wenige Wochen nach der englischen Erstausgabe hatte der Paläontologe Heinrich Bronn Darwins Schrift The Origin of the Species ins Deutsche übersetzt und 1861 unter dem Titel Die Entstehung der Arten veröffentlicht, allerdings mit Auslassungen und der Beigabe einer Liste kritischer Äußerungen. Mit der durch Viktor Carus 1875 erneut besorgten Übersetzung und Herausgabe von Darwins gesammelten Werken war jedoch eine verlässliche Rezeptionsgrundlage gegeben (vgl. Steakley 1981, S. 37). Steakley 1981, S. 39. Vgl. Riedel 1996, S. 157 – 174.
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wegsetzt«236. Damit bietet die Biologie innerhalb des sich ausdifferenzierenden Wissenschaftssystems letztlich eine Perspektive, an die innerhalb der deutschsprachigen Darwinismusrezeption etwa Ernst Haeckel und Wilhelm Bölsche anknüpfen, wenn sie in einem geschickten semantischen Schachzug die im 19. Jahrhundert in der Krise befindliche idealistische Naturphilosophie237 über die Darwin’sche Entwicklungstheorie erneuern. Im Zuge der monistischen Umdeutung des Darwinismus wurde das (teleologisch gewendete) Evolutionsmodell in hohem Maße diskursprägend238 – und ›Entwicklung‹ schließlich zum »Zauberwort«, wie Haeckel im Vorwort seiner Schrift Natürliche Schöpfungsgeschichte (1868) schreibt.239 Die Loslösung des Entwicklungskonzepts vom Kontext der Biologie zeigt sich im generellen Siegeszug entwicklungsgeschichtlichen Vokabulars innerhalb wissenschaftlicher, essayistischer und literarischer Publikationen.240 Ingo Stöckmann fasst das rhetorische Potential des Darwinismus pointiert zusammen und gibt einen überzeugenden Hinweis auf den Grund der hohen Attraktivität darwinistischer Denkfiguren: Bekanntlich gehört die Entwicklungslehre Darwins ungeachtet der Widerstände, die ihre Rezeption erschwert haben, zu den großen Bildspendern des ausgehenden 19. 236 Riedel 1996, S. 158. 237 Vgl. dazu Stöckmann 2005, S. 53, der auf die zum Ende des 19. Jahrhunderts vollzogene Loslösung der »exakten Naturwissenschaften aus ihrer Umklammerung durch die Naturphilosophie idealistischen Zuschnitts« (ebd.) hinweist, sowie Krauß-Theim 1992 (ebenfalls S. 53), die in ihrer Arbeit überzeugend belegt, dass sich in Deutschland die als »überkommen« geltende idealistische Naturphilosophie gegenüber dem naturwissenschaftlichen Materialismus durchsetzen konnte. Auch Stöckmann stellt dies nicht eigentlich in Abrede, verortet den naturphilosophischen Ansatz jedoch klar innerhalb des populärwissenschaftlichen Diskurses (vgl. Stöckmann 2005, besonders S. 53 f. und S. 60 f.) – der letztlich für die literarische Auseinandersetzung mit dem Darwinismus gegenüber dem ›streng‹ fachwissenschaftlichen Diskursbereich ausschlaggebend ist. 238 Hierzu findet sich bei Steakley, der in seinem Aufsatz den Fokus auf den Zusammenhang von politischer Entwicklung (1848er-Revolution, Sozialistengesetze, etc.) und Darwinismusrezeption bzw. -popularisierung legt, ein interessanter Hinweis: Die in ihrer Relevanz für die literarische Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert nicht zu unterschätzende, von dem ehemaligen ›Achtundvierziger‹ Ernst Keil gegründete Zeitschrift Die Gartenlaube »wurde das führende Organ der Popularisierung Darwins innerhalb der allmählich entstehenden Massenpresse« (Steakley 1981, S. 42). 239 Haeckel 1868, S. IV. Vgl. dazu auch Ajouri 2007, S. 90 – 94 zum idealistisch und realistisch gefilterten Darwin. 240 Vgl. Steakley 1981, S. 39. Auf die in Deutschland eng an den Bereich der Literatur geknüpfte Darwinismusrezeption und einen Überblick zur entsprechenden Forschung wird in Kapitel 3.1.2 näher einzugehen sein. Die Produktivität der Denkfigur vom ›Kampf ums Dasein‹ zeigt sich etwa bei einem Blick in die zentralen Periodika des Naturalismus, in denen Beiträge – sei es zur Frauenemanzipation, sei es zu Literatur- und Theater – sich dieser Formel argumentativ bedienen. Exemplarisch illustriert sie auch der Titel einer hochschulpolitischen Streitschrift von Wilhelm Wundt von 1913 – Die Psychologie im Kampf ums Dasein.
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Jahrhunderts. Über die Gründe dieser – wohlgemerkt nicht nur fachwissenschaftlichen – Konjunktur kann im Einzelnen spekuliert werden; sicher ist aber wohl, dass die soziomorphen Konzepte des Darwinismus mitsamt ihrer von Darwin selbst eingestandenen Metaphorizität vor allem dazu geeignet scheinen, den als haltlos erfahrenen Modernisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts eine prägnante Anschauung entgegenzuhalten. Der Gedanke liegt jedenfalls nahe, dass sich die literarische Rezeption darwinistischer Konzepte – insbesondere die geradezu topische Rede vom ›Kampf ums Dasein‹, der gewissermaßen das Bewegungsgesetz der Moderne zu erfassen schien – vor allem von dem prekären Problem herschreibt, wie der Prozess der Modernisierung überhaupt begriffen werden kann.241
Entwicklungsgeschichtliches Vokabular lässt sich in diesem Sinne sowohl im Rahmen ›progressiv‹ und fortschrittsoptimistisch ausgerichteter Programmatiken einsetzen, um die Notwenigkeit und »Richtigkeit« des Wandels zu bekräftigen – wie etwa innerhalb der naturalistischen Bewegung oder im Kontext der Frauenbewegung –, aber auch im Rahmen ›konservativer‹ kulturkritischer Positionen, die den gesellschaftlichen Wandel als dekadenten Verfall einer idealisierten und ontologisierten Ordnung auffassen. Riehl konnte Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht auf das im Zuge der Darwinismusrezeption bereitgestellte begriffliche Beschreibungsinventar zur semantischen Handhabung des Modernisierungsprozesses zurückgreifen, doch wie oben bereits angemerkt, gab es auch vor 1859 schon entwicklungstheoretische Ansätze, die als Begriffs- und Bildspender fungieren konnten. Dass Riehls organologisches Entwicklungsmodell mit der monistischen Umdeutung des Darwinismus gut vereinbar ist, verdeutlicht Haeckels Schrift Ueber Arbeitstheilung in Natur- und Menschenleben von 1869, in der dieser ähnlich wie Riehl die Arbeitsteilung als anthropologisches, ja organologisches Grundprinzip beschreibt, das jedweder Komplexitätssteigerung und Weiterentwicklung vorausgehe.242 Die geschlechterspezifische Arbeitsteilung setzt Haeckel dabei als basale Differenzierung an, die sich auch bei nicht höher entwickelten »Naturvölkern« finde und die Grundlage für weitere soziale Differenzierungsprozesse darstelle.243 Die Nähe zu Riehls Vorstellung von der zivilisatorischen Katalysatorfunktion der Geschlechterdifferenz wird hier sehr deutlich. Gerade die Familie als Nukleus der bürgerlichen Gesellschaft und Kristallisationsort der komplementären Geschlechterdifferenzierung sieht Riehl jedoch im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung einer permanenten Bedrohung ausgesetzt – einer Bedrohung, die im Kontext der nationalen wie internationalen politischen Entwicklungen um 1848/49, wo sich auch in Deutschland die so241 Stöckmann 2005, S. 57. 242 Vgl. Haeckel 1869, S. 3. 243 Vgl. Haeckel 1869, S. 6.
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zialistisch ausgerichtete Frauenbewegung institutionell formierte,244 sehr reale Züge annimmt. Riehls Problemanalyse kommt zu einem eindeutigen Schluss: Die Geschichte unseres politischen Elends läuft parallel mit unserer Geschichte der Blaustrümpfe. Wo aber das öffentliche Leben einen kräftigen neuen Aufschwung nimmt, da sind allezeit die Frauen in den Frieden des Hauses zurückgetreten. (Fam, S. 52)
Der Fokus der Riehl’schen Abhandlung liegt neben der Ursachenforschung bezüglich der Probleme der Gegenwart dementsprechend auf einer Explikation, wie Frauen ihrem ›natürlichen Beruf‹ trotz widerstrebender gesellschaftlicher Tendenzen gerecht werden können. Zentrale Zielsetzung des Textes ist die Stabilisierung des Komplementärmodells und die Bekräftigung des mit diesem korrespondierenden geschlechterdifferenten Erziehungs- und Bildungskonzeptes, wie es im pädagogischen Diskurs um 1800 entworfen und in der Institutionalisierung der Mädchenschulbildung zu Beginn des 19. Jahrhunderts umgesetzt wurde.245 Riehl aktualisiert das Konzept der ›weiblichen Bestimmung‹ und der exemplarisch von Johann Heinrich Campe formulierten Rollentrias ›Gattin, Hausfrau, Mutter‹, allerdings mit einer um die Mitte des 19. Jahrhunderts beobachtbaren begrifflichen Verschiebung, bei der statt von der ›Bestimmung des Weibes‹ vom »natürlichen Beruf« des Weibes gesprochen wird. Diese Verschiebung von ›Bestimmung‹ zu ›Beruf‹ ist, so meine These, einerseits mit der gesteigerten Kontingenzerfahrung und Krise teleologischer Weltdeutungsmuster246 zu erklären, verweist andererseits mit der Attribuierung ›natürlich‹ aber auf den Versuch, die Basiskategorie ›Geschlecht‹ von ebendieser Kontingenz zu entlasten und die auf ›Natur‹ gegründete Komplementärsemantik zu restabilisieren. Riehl postuliert entsprechend die Unhintergehbarkeit des weiblichen ›Berufs‹: Der Mann kann seinen Lebensberuf wählen, er kann ihn wechseln, er kann sich selbst im reiferen Alter noch neue Berufe schaffen. Der Frau wird der Beruf angeboren und sie muß in ihm verharren. (Fam, S. 16)
Diese Ontologisierung ist bei Riehl Teil einer explizit gegen die Frauenemanzipation gerichteten Programmatik. Wie im nachfolgenden Kapitel 2.2.2 zu zeigen ist, greift die sich institutionalisierende bürgerliche Frauenbewegung die Vorstellung von der ›weiblichen Natur‹ im Kern auf und nimmt eine semantische
244 Vgl. dazu den knappen Überblick bei Schaser 2006, S. 15 – 22. 245 Vgl. den Überblick von Doff 2004. 246 Siehe die materialreiche und analytisch scharfsichtige Untersuchung von Philip Ajouri zur Krise von ›Realteleologie‹ und ›Erzählteleologie‹ im 19. Jahrhundert bzw. im literarischen Realismus, die die Darwin’sche Entwicklungslehre ausgelöst hat (Ajouri 2007).
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Erweiterung vor, indem sie das Konzept des ›natürlichen Berufs‹ nicht etwa negiert, sondern ihm das Konzept des ›kulturellen Berufs‹ zur Seite stellt. Insgesamt wird in Riehls Schrift damit eine für den Geschlechterdiskurs im 19. Jahrhundert relevante Fokusverschiebung innerhalb des Konzepts der ›Geschlechtscharaktere‹ deutlich: Die Frau ist definiert über den Geschlechtscharakter, während der Mann über die allgemeine ›Gattungszugehörigkeit‹ hinaus einen individuellen Charakter hat. An diese Perspektive schließt Georg Simmel mit seiner These vom ›weiblichen Differenzierungsmangel‹247 an, auf die in Kapitel 2.2.3 noch genauer einzugehen ist. Der Charakterbegriff, der ursprünglich aus einem typographischen Kontext stammt und dort abgeleitet von griech. waq\sseim (›charassein‹, i. e. »prägen, ritzen«) ›Prägung‹ sowie ›Merkmal‹, ›Zeichen‹ und ›Buchstabe‹ meint, hat bereits im Griechischen die auf Personen bezogene Nebenbedeutung von ›Haupteigenschaft‹ und ›Unterscheidungsmerkmal‹.248 Zedlers Universallexikon verzeichnet 1733 die Verwendung des Charakterbegriffs im Sinne von ›Wesensmerkmal‹.249 Der Charakter einer Person meint in dieser Bedeutung zunächst einen Teil derselben, eine ›charakteristische‹ Eigenschaft oder auch ein soziale Insigne, nicht die jedoch Person als Ganzes. Die metonymische Bedeutungserweiterung, die der Begriff im Laufe der Zeit erfährt, wird etwa in der psychologischen Studie Prinzipien der Charakterologie (1926) des Philosophen und politischen Feuilletonisten Theodor Lessing deutlich. ›Charakter‹ wird hier als ›Wesen‹ – nicht Wesensmerkmal – verstanden. Die auf den Menschen als ›Ganzes‹ abzielende Charakterologie als »Wesenskunde«250 wird von Lessing wie folgt erläutert und historisch kontextualisiert: Woher kommt dieser Name? Er wurde zuerst verwendet von einem tiefsinnigen Schriftsteller aus der Schule Schopenhauers. Von Ju l i u s B a h n s e n , einem im Stile Jean Pauls schreibenden, sehr ursprünglichen Philosophen, welcher 1868 [recte: 1867] ein pädagogisches Lehrwerk herausgab unter dem Titel: Charakterologie. Damit begründete er einen neuen Wissenszweig: die Charakterographie und Pathographie, welche nicht begehrt, die Wesensarten (in Bahnsens Fall die Wesensarten der zu erziehenden jungen Menschen) zu zergliedern und sie zurückzuführen auf Funktionen und Elemente; vielmehr sich betrachtend hinstellt vor das ganze unzerstückelte Gebilde und nun versucht aufzuweisen die wiederkehrenden »Paradigmata«, die Typen oder Klassen, die Konstitutionen oder Urbilder ; also angesichts der flutenden und
247 Vgl. Simmel 1985 [1890], S. 28 f. 248 Vgl. Kluge 2002, S. 168. 249 Vgl. die Lemmata in Zedlers Universallexikon (1733, Bd. 5, Sp. 2003 f.). Im Mhd. findet sich das Wort karacter auch in der Bedeutung von »Zauberschrift« und wird etwa bei den Mystikern im 14. Jahrhundert in Bezug auf die Seele verwendet (vgl. Lexer 1872, Sp. 1516). 250 Lessing 1926, S. 74.
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fließenden Gestaltenfülle überall die Frage aufwirft: Welche Idee (Goethe würde sagen: Welches »Urphänomen«) steht wohl zeitlos dahinter?251
Lessing bezieht sich auf Julius Bahnsens zweibändige Schrift Beiträge zu einer Charakterologie mit besonderer Berücksichtigung pädagogischer Fragen (1867), in der dieser auf eine Typologie von »Individualitäten« und eine anthropologisch-naturgeschichtlich fundierte Temperamentenlehre abzielt. Durch minimale Markierung wird deutlich, dass sich Bahnsens Charakterologie zunächst nur auf den Mann bezieht.252 Erst im zweiten Band findet sich neben einem Anhang mit »Aphorismen zur Völkerpsychologie« auch ein Appendix, der ›das Weib‹ berücksichtigt. Dieser trägt den bezeichnenden Titel »Kurze Monographie über charakterologische Eigenthümlichkeiten des weiblichen Geschlechts«253 und markiert – der gegenteiligen Rhetorik des Verfassers zum Trotz – deutlich die Ausgliederung des ›Weiblichen‹ aus dem allgemeinen Gegenstand der Charakterologie.254 Auf Lessing, der dem Sozialismus und der Frauenbewegung nahe stand,255 wird in Kapitel 3.2 in Bezug auf Elsa Bernstein noch einmal zurückzukommen sein. Sein 1898 in der Gesellschaft publizierter Essay Zwei Münchener Dichterinnen. Ernst Rosmer und Helene Böhlau ist eine wichtige Quelle, die über die zeitgenössische Rezeption und Bewertung von Bernsteins Dramen Aufschluss gibt. Lessings Entwurf einer wissenschaftlichen ›Charakterologie‹ als »Wesenskunde« in seiner 1929 publizierten Studie fußt in einer Axiomatik, die sich auch im genannten Essay zu Bernstein und Böhlau256 zeigt: Im Fokus steht der Versuch, den ›Charakter‹ und das ›Wesen‹ des jeweiligen Dichters zu erfassen und diesen als ›Typus‹ zu identifizieren. Das Modell der polaristischen Geschlechtscharaktere stellt hier durchaus den übergeordneten Rahmen, wird dabei jedoch nicht absolut gesetzt, sondern liefert einen Code zur Beschreibung 251 Lessing 1926, S. 74. 252 Etwa durch Hinweise auf spezifisch männliche Bildungsinstitutionen oder auf die Relevanz, pädagogische Maßnahmen bereits im Knabenalter anzusetzen (vgl. Bahnsen 1867, Bd. 1, S. 4 f. et passim). 253 Bahnsen 1867, Bd. 2, S. 297 – 327. 254 Vgl. Bahnsen 1867, Bd. 2, S. 297. 255 Das Moses Mendelssohn Zentrum der Universität Potsdam veranstaltete 2003 die internationale Tagung »Sinngebung des Sinnlosen«. Zum Leben und Werk des Kulturkritikers Theodor Lessing (1872 – 1933), innerhalb derer sich Forscher verschiedener Fachbereiche mit Lessings intensiver Beteiligung an verschiedenen Bereichen des öffentlichen Diskurses befasst haben. Vgl. den Tagungsband von Kotowski (Hg.) 2006, darin besonders den Beitrag von Barbara Beßlich, »Theodor Lessing und die Münchner Moderne. Poetologische Randbemerkungen eines Außenseiters« (S. 75 – 93). 256 Die Novellistin und Romanautorin Helene Böhlau (1856 – 1940) ist innerhalb der genderorientierten Literaturwissenschaft gut erforscht und kanonisiert. So gilt etwa Böhlaus Halbtier! (1899) als prototypischer Vertreter des ›Emanzipationsromans‹ (vgl. BrinkerGabler 2000).
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der verschiedenen Wesensmerkmale der porträtierten Dichterinnen.257 Diese werden als Hoffnungsträger und zugleich Ausnahmeerscheinungen258 vorgestellt, die – neben wenigen anderen wie etwa Maria Janitschek259 – einen Beitrag zur Erneuerung des Literaturbetriebs leisten: Vor wenigen Jahrzehnten noch fand das weibliche Publikum, das damals eigentlich das einzige lesende war, die Befriedigung seiner geistigen Bedürfnisse bei Schriftstellerinnen wie Frau Marlitt oder Fräulein Werner.260 Heute behandelt die gebildete Frau solche Romanarbeiten mit einer vielleicht etwas erzwungenen Geringschätzung, denn vom poetischen Standpunkt sind schließlich derartige Fabulier- und Erzähltalente mit ihrer köstlichen Unberührtheit von zersetzenden und ablenkenden Geistesfragen 257 Die kontrastive Typisierung von Bernstein und Böhlau erfolgt dabei über die Zuweisung spezifisch ›männlicher‹ wie ›weiblicher‹ Eigenschaften – so habe Böhlau einen »weiblichen Kopf bei einem männlichen Herzen«, Bernstein einen »männlichen Kopf […] und ein weibliches Herz« (Lessing 1898, S. 21). 258 Vgl. Lessing 1898, S. 17. 259 Auch Maria Janitschek (1859 – 1927) war vor allem als Novellistin bekannt. In den Novellensammlungen Vom Weibe. Charakterzeichnungen (1896) und Die neue Eva (1902) finden sich interessante narrative Strategien, die über Wechsel in der Distanz (›dramatischer‹ vs. ›narrativer‹ Modus) und Fokalisierung (vor allem Null- vs. interne Fokalisierung) eine Spannung von Figuren- und Erzählinstanz erzeugen und einen ironisierenden Effekt haben. Während die hochfrequente direkte Rede einer naturalistischen Ästhetik der ›Authentizität‹ nahesteht (d. h. Alltagssprache, Interjektionen und Ellipsen aufweist), ist die Erzählinstanz in den nichtdialogischen Passagen deutlich präsent und perspektiviert das Erleben und Agieren der Figuren dergestalt, dass widersprüchliche oder unbewusste Motive und Beschränkungen derselben aufgezeigt werden. So nimmt etwa die Sammlung Die neue Eva in kurzen »Szenenbildern« zeitgenössische Geschlechterstereotype aufs Korn – und zwar sowohl die Stereotype des ›konservativ‹-tradierten Modells von ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹, wie auch die Stereotype der ›emanzipierten‹ Rollenentwürfe. In der Erzählung Darüber kommt kein Weib hinweg … (Janitschek 1902, S. 51 – 69) wird das zeitgenössische Unterdrückungspostulat in Paarung mit Nietzsches Emphase der »Umwertung aller Werte« (vgl. Kapitel 2.2.6, S. 166, Anm. 370) ironisch auf die Spitze getrieben, wenn die Studentin Fräulein Gröhl – ein recht sprechender Name – mit ihrer Studie »Über die Verkümmerung der Stimmbänder am untern Kehlkopf der Luftröhre bei den weiblichen Singvögeln« die auch im Tierreich herrschende Unterdrückung der Frauen belegen und zu ihrer Beseitigung beitragen will: »›Sehen Sie, ich brauch’ bloss ein bisschen zu feilen und ins Reine zu schreiben, dann bin ich fertig.‹ Fräulein Gröhl führte nämlich den schneidigen Beweis, dass nicht nur die erlauchten Herren der Schöpfung in der Vogelwelt, sondern auch deren Gattinnen die Gabe des Gesanges besässen, wenn – jetzt kommt der wichtige Punkt! wenn das zweite Paar Stimmbänder ihres untern Kehlkopfes nicht bis zur völligen Unnachweisbarkeit verkümmert wäre. Bekanntlich trifft jedes Organ dieses Schicksal, dessen Funktionen verhindert werden. Die Singvögelweibchen sind eben auch durch den grausamen Egoismus ihrer Männer unterdrückt und aufs Piepsen angewiesen worden; den Gesang betrachten die Herren Gatten als ihr ausschliessliches Recht. ›Diese Arbeit,‹ die Kandidatin klopfte auf das Heft, ›wird eine Umwälzung der Werte in der Vogelwelt bewirken.‹« (Ebd., S. 58 f.) 260 Eugenie Marlitt (1825 – 1887) und Elisabeth Werner (1838 – 1918) verfassten jeweils äußerst erfolgreiche Unterhaltungsromane und gehörten zu den wichtigsten Beiträgern der Gartenlaube.
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schließlich ebensoviel wert, als die meisten von denen, die in sozialen, philosophischen und ästhetischen Problemen brillieren. Bekannte doch sogar Gottfried Keller, bei Frau Marlitt »viel gelernt zu haben«. Daß aber in dem Geschmack der Frauen heute wirklich eine Umwandlung vor sich ging, das zeigt, daß Schriftstellerinnen wie die Böhlau und Rosmer heute die stärksten Erfolge davontrugen [sic] und geradezu Lieblinge des Lesepublikums geworden sind.261
Auf den hier von Lessing angesprochenen Wandel des weiblichen Literaturgeschmacks respektive der weiblichen Literaturproduktion von der Unterhaltungsliteratur262 hin zu einem Leseinteresse und einer weiblichen Beteiligung am Feld der ›Dichtung‹ wird in Kapitel 3.1.3 zur Semantisierungen des ›Weiblichen‹ und weiblicher Autorschaft im Kontext des Naturalismus näher einzugehen sein. Die folgenden Kapitel widmen sich zunächst dem Wandel der Geschlechtersemantik (i. e. des Komplementärmodells und der polaristischen Charakterologie der Geschlechter), den diese im Laufe des 19. Jahrhunderts erfährt.
2.2.2 ›Bildung‹ und ›Perfektibilität‹ als zentrale Aspekte des Emanzipationskonzepts der bürgerlichen Frauenbewegung – Vom ›natürlichen‹ zum ›kulturellen Beruf‹ der Frauen Eine wesentliche Veränderung, die die Geschlechtersemantik im Laufe des 19. Jahrhundert erfährt, lässt sich als eine schrittweise Ablösung des Modells der polaristischen Geschlechtscharaktere vom Modell der Komplementarität beschreiben. Während die beiden Aspekte zuvor eng miteinander verzahnt waren – wie vorangehend ausgeführt wurde, ist deren Zusammenspiel für die Diskursivierung und Konsolidierung der Geschlechtersemantik um 1800 konstitutiv –, fungieren sie zunehmend als nicht mehr in direkter Relation zueinander stehende Paradigmen. Dieser Prozess der semantischen Abkoppelung von ›Komplementarität‹ und ›Polarität‹ wird vor allem in zwei Diskursbereichen vorangetrieben, die sich zum Teil explizit voneinander abgrenzen, zum Teil über ihre Axiomatik implizit divergieren: Im Kontext der (bürgerlichen) Frauenbewegung wird das Konzept des weiblichen ›Geschlechtscharakters‹ dergestalt aktualisiert, dass die klare Zuordnung ›der Frau‹ zur häuslichen Sphäre verabschiedet und die Charakterologie stattdessen als Orientierungsschema eingesetzt wird, das anzeigt, welche Berufsfelder der ›natürlichen‹ Weiblichkeit ent261 Lessing 1898, S. 17. 262 Die (frühen) Vertreter des Naturalismus belegen diesen »Zustand« der gründerzeitlichen Massenproduktion von Unterhaltungsromanen mit dem Schlagwort der ›verweiblichten‹ Literatur, von der sich das naturalistische Erneuerungsprogramm als dezidiert ›männliches‹ Unternehmen abgrenzt; siehe dazu Kapitel 3.1.3 und 3.1.4.
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sprechen. Auf diese Umdeutung und den mit ihr verbundenen weiteren semantischen Aktualisierungsbedarf, der sich spezifisch am Konzept des ›Natürlichen‹ zeigt, wird in Kapitel 3.2.6 noch einmal näher einzugehen sein. Innerhalb der »antifeministischen«263 Positionen im medizinisch-anthropologischen Diskurs, den Stephanie Catani in ihrer Arbeit zur Anthropologie des ›Weiblichen‹ um 1900 in den Blick nimmt,264 lässt sich, wie weiter oben bereits angesprochen, eine Radikalisierung der polaristischen Geschlechtercharakterologie beobachten. Die spezifischen Problemreferenzen und semantischen Folgeprobleme dieser Verschärfung der Geschlechterpolarität werden in Kapitel 2.2.4 näher beleuchtet. Im Folgenden wird zunächst eine knappe Übersicht zur strategischen Aktualisierung der Konzepte von ›Bildung‹ und ›Perfektibilität‹ innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung gegeben. In seinem detaillierten Überblick zu dem im 19. Jahrhundert mit zunehmender Schärfe geführten gesellschaftlichen Disput über die Frage der weiblichen Bildung zeigt Ulrich Engelhardt sehr anschaulich, wie zentral der Begriff der ›Bildung‹ sowohl für das bürgerliche Selbstverständnis als auch für die sich institutionalisierende Frauenbewegung war.265 Bildung stellte das Distinktion gewährende Gut des ›Bürgers‹ dar, über das mit Argusaugen gewacht wurde – und Bildung stand im Zentrum der Forderung nach weiblicher Emanzipation. Engelhardt erklärt den Status des Bildungsgedankens aus dem humanistischaufklärerischen Kontext heraus, was sich mit den Untersuchungsergebnissen von Fotis Jannidis zur Semantik und Funktion des Bildungsbegriffs im 18. Jahrhundert deckt.266 ›Bildung‹ als Voraussetzung der ›menschheitlichen Veredelung‹, als ›Motor der Entwicklung‹ und bürgerliches symbolisches Kapital ist der entscheidende Funke, an dem sich – wie in Kapitel 2.1.4 ausgeführt – sowohl um 1800 als auch um 1900 umfangreiche Debatten entzünden.
263 Vgl. dazu Hedwig Dohms Essayband Die Antifeministen (1902), in dem die Berliner Autorin und Frauenrechtlerin mit gewohnt pointierter Rhetorik und analytischem Scharfblick die verschiedenen »Motive«, die dem »Ansturm gegen die Frauenbewegung« zugrunde liegen, anhand der Unterscheidung vierer Kategorien von »Antifeministen« skizziert (Dohm 1902, S. 5). Dohm unterscheidet hier die »Altgläubigen«, die »Herrenrechtler, zu denen ich die Charakterschwachen und die Geistesdürftigen zähle«, die »praktischen Egoisten« und die »Ritter der mater dolorosa« (ebd.). Im Rahmen der von Nikola Müller und Isabel Rohner im Berliner Trafo-Verlag herausgegebenen Edition Hedwig Dohm (2006 ff.) ist auch die Neuauflage dieses wichtigen Quellendokuments der Frauenbewegung geplant. 264 Siehe Catani 2005. 265 Siehe den Abschnitt »‹Geistige Emanzipation‹ und ›tätiges Eingreifen in das Staats- und politische Leben‹ als weiblicher Beitrag zur ›Welt-Erlösung‹«, Engelhardt 1992, S. 155 – 160. Engelhardt bezeichnet die Frauenbewegung sogar als »von Grund auf bildungsreligiös« (Engelhardt 1992, S. 158). 266 Vgl. Jannidis 1999 und 1996.
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Wieder wird hier greifbar, was in zahllosen Varianten quellenkundig ist: das Axiom vom unaufhaltsamen Siegeszug höherer Bildung als richtunggebender Kraft des menschlichen Akkulturationsprozesses und omnipotenten Strukturprinzip moderner Gesellschaft. Es war d i e ideelle Basis auch der Frauenbewegung, die unter dem allumfassenden Fahnenwort Humanität antrat. Die damit umrissene Leitvorstellung entsprang eben jener bildungsbürgerlichen Geschichtsdeutung und Sinnstiftung, durch die sich die »Literatur- und Weltfrage« der Frauenemanzipation in erster Linie, wenn nicht ausschließlich als eine Angelegenheit evidenter » U n g l e i c h h e i t d e r B i l d u n g « von Mann und Frau darstellte, wie der Dresdner Archivar und Historiker Dr. Carl Eduard Vehse in einer Vortragsfolge 1842/43 anführte.267
Die frühe Frauenbewegung gründet in ihrer Axiomatik auf dem aufklärerischen Konzept der ›Humanität‹ und dem Gedanken der menschheitlichen Veredelung. Dass sich nicht nur Vertreter der Frauenbewegung, sondern auch Autoren und Programmatiker des Naturalismus an diesen Konzepten orientieren, wird in Kapitel 3.1.1 auszuführen sein, wo auf die wichtige Rolle des Darwinismus einzugehen ist, der sowohl dem naturalistischen Diskurs wie auch dem der Frauenemanzipation das grundlegende entwicklungstheoretische Vokabular stiftet.268 Luise Otto (später Otto-Peters), die als Begründerin der deutschen Frauenbewegung gilt, sah in Carl Eduard Vehse »einen der ersten Anreger der Frauenfrage in Deutschland«269, der das vor dem Hintergrund des Perfektibilitätsgedankens gewissermaßen Ungeheuerliche an der herrschenden Bildungssituation von Frauen scharfsichtig identifiziert habe: Recht kritisch kam er nämlich zu einem Befund, der sich überhaupt erst in bildungsbürgerlicher Optik als eine Art Webfehler der Gesellschaftsverfassung ausnehmen konnte: Zwar seien »die Männer in ein h ö h e r e s , g e i s t i g e s L e b e n a l l g e m e i n e r B i l d u n g eingetreten«, die Frauen dagegen »nicht in diese e r w e i t e r t e W i s s e n s w e l t nachgerückt«, sondern »auf ihrem beschränkten Bildungsstandpunkt zurückgeblieben«. Damit sagte er nicht weniger, als daß ihr Anschluß an den epochalen Fortschritt des homo sapiens noch nicht vollzogen, ergo auch die wünschenswerte »Freiheits- und Gleichheitsatmosphäre« zwischen den Geschlechtern noch nicht erreicht sei. Da diese jedoch »nur das Produkt einer G l e i c h m ä ß i g k e i t d e r B i l d u n g « sein könne, müsse auch »die Frau einen g e i s t i g e n F o n d s haben« – was wiederum voraussetze, daß sie »ein Bedürfnis nach einer f e i n e r e n u n d f r e i e r e n B i l d u n g , nach einem höheren Ver267 Engelhardt 1992, S. 155. 268 Elsa Bernsteins Orientierung an der humanistisch-idealistischen Axiomatik ist in ihren Texten sehr deutlich. Wie in Kapitel 3.1 auszuführen sein wird, erfährt die idealistische Philosophie – der programmatischen Abgrenzung zum Trotz – über die monistische Umdeutung des Darwinismus im Naturalismus eine Aktualisierung, die in der Forschung allerdings mit Blick auf die Relevanz der komplementären Geschlechtersemantik innerhalb der naturalistischen Diskursivierung der Geschlechterkrise noch nicht ausreichend beleuchtet wurde. 269 Engelhardt 1992, S. 156.
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gnügen an einem e r n s t e n , g e i s t i g e n S t o f f e « entwickele und sich jedes »feinere Bildungsmittel« (etwa das Theater) zunutze mache, das dem materiell sorgenlosen »gebildeten Mittelstand« zur Verfügung stehe. Aus dieser Sicht, die die gesamte Topik statusspezifischer Weltinterpretation erfaßte, kam Vehse folgerichtig zu einem Programm » g e i s t i g e r E m a n z i p a t i o n «, einzuleiten durch einen »freien Verein der Damen unter sich für ihre geistige Bildung«.270
Wenn aber nun Bildung als der notwendige Weg zur allgemeinen menschheitlichen Veredelung verstanden wird, dann kann eine Gesellschaft aus Vehses Sicht dieses Ziel nicht erreichen, die den Bildungszugang für die Hälfte der Menschen versperrt.271 Zusammenfassend lässt sich mit Engelhardt sagen, dass für die sich Mitte des 19. Jahrhunderts formierende bürgerliche deutsche Frauenbewegung der Zugang zu Bildungswissen als »via regia zu genereller Gleichstellung«272 galt und somit die Forderung nach einem gleichberechtigten Zugang der Frauen zum Bildungssystem nachdrücklicher verfolgt wurde als Forderungen nach der Beendigung sozialer Benachteiligung oder nach größeren Freiheiten der persönlichen Lebensgestaltung.273 Die ›soziale Frage‹ wurde innerhalb der Frauenbewegung ebenfalls thematisiert, und die Emanzipationsbestrebungen umfassten auch den Bereich der weiblichen Erwerbsarbeit und selbständigen Lebenshaltung, doch auch da war die übergeordnete Zielsetzung die Verwirklichung humaner, d. h. per Bildungswissen egalisierter Beziehungen [zwischen Mann und Frau, N.I.] […], und zwar in sämtlichen Bereichen der Daseinsgestaltung einschließlich der Konfliktarenen.274
Katja Mellmann weist nun in ihrem Beitrag zum historischen Referenzproblem der »Mädchenfrage« für Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie (1895) mit Thomas Nipperdey darauf hin, dass eine Homogenisierung ›der Frauenbewe270 Engelhardt 1992, S. 156. 271 Vehses Gleichheitspostulat geht dabei zunächst nicht über die Grenzen der bürgerlichen ›Schicht‹ hinaus. Stattdessen fungiert, wie Engelhardt betont, sowohl in seinem als auch in Luise Ottos »Bildungsprogramm« das ›Bürgertum‹ als Führungsschicht, die die »niederen Stände« schrittweise einer weiteren ›Veredelung‹ zuführen soll: »Während ihrer gesamten Formierungs- und Konstitutionsphase, zu einem guten Teil auch noch bei ihrer späteren Diversifizierung in stark unterschiedliche bis gegensätzliche Strömungen lag sie auf der Generallinie, die Luise Otto nicht zuletzt aus Vehses Darlegungen ableitete und sehr selbständig weiterzog. Folglich agierte die Bewegung zunächst vor allem zugunsten eines Ausschnitts der weiblichen Bevölkerung, der jedoch ausdrücklich als pars pro toto aufgefaßt wurde: nämlich zuvörderst für ›Gleichstellung der Frauen wenigstens der gebildeten Stände‹ mittels ethisch vervollkommnender und intellektuell autonomisierender ›tieferer, geistiger Bildung‹ (Vehse).« (Engelhardt 1992, S. 158; vgl. dazu auch das ›volkspädagogische‹ Programm bei Joseph Görres; Igl 2008/09.) 272 Engelhardt 1992, S. 157. 273 Vgl. Engelhardt 1992, S. 157. 274 Engelhardt 1992, S. 157.
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
gung‹ historisch nicht stimmig ist, da diese sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts von den aufklärerisch-ideologischen Begründungszusammenhängen entfernt hat und ihre Ziele und Argumentationslinien stattdessen deutlich auf die sich verändernde soziale Lebensrealität von Frauen Bezug nehmen.275 Vor dem Hintergrund der zunehmenden Notwendigkeit einer Lebenshaltung außerhalb des Modells der bürgerlichen Ehe war die Emanzipationsbewegung entsprechend pragmatisch ausgerichtet: In der Tat war die Frauenbewegung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts »zuerst eine Bewegung unverheirateter Frauen« und die Forderung nach besseren Bildungschancen weniger eine aus abstrakten Gleichheitsidealen abgeleitete als eine praktische Forderung. Dadurch unterscheidet sich die (bürgerliche) Frauenbewegung zur Zeit der so genannten »Frauenfrage« von ihren Vorläufern im Umfeld der Französischen Revolution und des Vormärz, als die theoretischen Grundsätze von ›Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‹ eine vor allem ideengeschichtliche Innovation in Gang setzten.276
Die Unterscheidung zwischen der Programmatik der frühen Frauenbewegung im Kontext der europäischen Revolutionen und der späteren bürgerlichen Frauenbewegung ist Forschungskonsens, und Mellmanns Verweis auf die lebenspraktische und eben nicht vordringlich ideelle Ausrichtung der letzteren ist im Grundsatz unstrittig. Eine gewisse Differenzierung ist hier jedoch aus Sicht der vorliegenden Untersuchung nötig: So ist zu beobachten, dass die bürgerliche Frauenbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich zwar von der politischeren und radikal-aufklärerischen Ausrichtung entfernt, bei allem Pragmatismus jedoch klar an dem aufklärerischen Perfektibilitätskonzept orientiert bleibt. Dieses liefert nämlich gerade die semantische Strategie, mit der die am Komplementärmodell orientierte weibliche Bildungskonzeption, die den Zugang zu Bildungsinstitutionen für Frauen umfassend reglementiert, auszuhebeln ist. Zugleich – und das ist der Clou an dieser Strategie – wird das Komplementärmodell selbst über den Rückbezug auf die ›Bedingungen der Möglichkeit von Perfektibilität‹ aktualisiert und affirmiert. Die Argumentation der (männlichen wie weiblichen) Anhänger der Frauenbewegung ist gerade die, dass ein gesellschaftlicher Fortschritt nur auf der Basis einer »G l e i c h m ä -
275 Vgl. Mellmann 2009, S. 17 sowie Nipperdey 1998, S. 76. 276 Mellmann 2008, S. 17. Dies deckt sich auch mit der Beobachtung, die Engelhardt seinem obigen Fazit als Nachsatz beifügt: »Dieses Fazit soll keineswegs besagen, daß wirtschaftlichsoziale Beweggründe ephemer gewesen seien. Denn nur zu massiv war allein schon der demographisch analysierbare Versorgungsdruck durch zunehmendes ›Junggesellenthum … gerade in den gebildeten Städten‹ […], also die zeitweilig als regelrecht dramatisch betrachtete Subsistenznot unverheirateter Frauen, deretwegen die sog. Frauenfrage von Zeitgenossen spitz als ›eigentlich eine Geheimratstöchterfrage‹ ausgegeben werden konnte [.]« (Engelhardt 1992, S. 157)
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ß i g k e i t d e r B i l d u n g «277, also durch die Überwindung der diskrepanten Bildungsverteilung zu erlangen sei.278 Während nun etwa bei Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie (1895), wie Mellmann überzeugend ausführt, die pragmatische Komponente der Emanzipationsbewegung deutlich vordergrundiert ist, wenn die ›Mädchenfrage‹ als wichtiges Referenzproblem des Textes »plotgenerierend und -strukturierend« wirkt und die Protagonistin Agathe auf ihrem Leidensweg »des ›Wartens auf den Bräutigam‹«279 gezeigt wird, rückt in Elsa Bernsteins Dramen die Idee bzw. das Problem der Perfektibilität ins Zentrum. Dieser Unterschied korrespondiert bis zu einem bestimmten Punkt auch mit den unterschiedlichen Gattungsanforderungen und -traditionen. Der Roman hat sich im Laufe des ›langen 19. Jahrhunderts‹ als bevorzugte Textgattung für die Darstellung von ›Lebensläufen‹ und ›Entwicklungsgängen‹ etabliert. Im Falle des Reuter’schen Textes wird die Handlung – i. e. die Vorbereitung der Protagonistin auf ihre ›Bestimmung‹ zur Ehe, die Suche eines passenden Partners und das Scheitern an dieser Aufgabe – basal über den Kontext der von Konkurrenzdruck und Präsentationszwang geprägten Situation des ›Heiratsmarkts‹ entwickelt und strukturiert. Demgegenüber begünstigt das Drama als Textgattung auch innerhalb der idealismuskritischen Strömung des Naturalismus sowohl aufgrund von Gattungstraditionen wie auch spezifischen Struktureigenschaften eher die Darstellung eines exemplarisch verdichteten und auch in zeitlicher Hinsicht zugespitzten Konflikts, der über die Textgrenze auf eine ›Idee‹ hinausweist. So manifestiert sich in Bernsteins Drama Dämmerung (1893) – wie in Kapitel 3.2.5 zu zeigen sein wird – in der Figur Isolde Ritter einerseits die problematische Bildungskonzeption für ›höhere Töchter‹ und verweist andererseits das Scheitern der Figuren über den ›pragmatischen‹ Problemkomplex hinaus auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von ›Perfektibilität‹ und der ›Bildung‹ des ›ganzen Menschen‹. Dass die idealistisch-humanistische Unterfütterung für den Emanzipationsdiskurs auch der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstitutiv ist – wenngleich auch prinzipielle Anhänger der Frauenbewegung wie Maria Janitschek das Humanitätspathos derselben als tendenziellen Habitus ironisieren280 – erscheint mir mit Blick auf die semantischen Folgeprobleme, die das von Riehl angeprangerte »Heraustreten des Weibes aus dem Heiligthume des Hauses« (Fam, S. 65 f.) mit sich bringt, von hoher Relevanz. Für die bürgerliche Frauenbewegung ist ein semantisches Spannungsverhältnis von lebenspraktisch ausge277 Engelhardt 1992, S. 156. 278 Siehe die oben skizzierte ›Problembeschreibung‹ bei Carl Eduard Vehse, auf die sich später Luise Otto stützt. Zur humanistischen Traditionslinie der Frauenbewegung vgl. etwa Schaser 2006; siehe auch die detaillierten Quellenanalysen im Kapitel 3.2.6. 279 Mellmann 2008, S. 18. 280 Siehe Kapitel 2.2.1, S. 131, Anm. 259.
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richteter ›Progressivität‹ und konzeptuellem ›Konservatismus‹ kennzeichnend. In seinem Artikel »Konservative Frauenbewegung (1865 – 1933)« löst Helmut Stubbe-da Luz die scheinbare Paradoxie einer der Zielsetzung nach progressiven, dabei aber in der Selbstverortung gleichzeitig dezidiert konservativ ausgerichteten Bewegung anhand einer Explikation von »Konservatismus« auf: Die konservative bürgerliche Frauenbewegung stehe für einen Konservatismus, der gerade nicht Ideologie der Gewohnheitsmenschen oder der vom Status quo profitierenden ist, sondern – ausgehend von als ›bewährt‹ oder ›natürlich‹ betrachteten Zuständen, die es in ihren Grundzügen zu bewahren gelte – auf der Suche ist nach einem optimalen Tempo des sozialen und Wertewandels.281
Wie in der vorliegenden Arbeit bekräftigt wird, stellt das von Stubbe-da Luz treffend als geschlechteranthropologisches ›Ergänzungsparadigma‹282 bezeichnete Komplementärmodell eine wesentliche Prämisse dar, auf der die Programmatik der Frauenbewegung um 1900 gründet und von dem neue Konzepte der Beteiligung und Betätigung von Frauen im öffentlichen Raum abgeleitet werden.283 Vor diesem Hintergrund plausibilisiert sich die Erschließung derjenigen beruflichen Tätigkeitsfelder »im Bereich von Kranken- und Sozialpflege sowie im Bildungswesen«, die als mit der »natürlichen ›Mütterlichkeit‹«284 vereinbar galten. Eine ahistorische Verwendung des Emanzipationsbegriffs im Sinne einer ›Loslösung von Geschlechterstereotypen‹ erweist sich vor diesem sozial- und begriffsgeschichtlichen Hintergrund als fehlleitend. Stubbe-da Luz verweist auf den sich langsam vollziehenden semantischen Wandel des Komplementärmodells im Laufe des 19. und vor allem 20. Jahrhunderts: Erst allmählich, überwiegend wohl gar erst in der zweiten Hälfte des 20. Jhdt.s, gewannen gegenüber dem gewissermaßen »asymmetrisch-dualistischen« Ergänzungsparadigma ausgewogen-dualistische, egalitäre oder sogar androgyne Konzeptionen an Bedeutung, d. h. Frauen und Männer wurden als ungleichartig, aber (annähernd) gleich wertvoll und berechtigt angesehen, oder als verschieden, aber rechtlich und politisch vollkommen gleichgestellt gewünscht, oder gar als kulturell konvergierend erhofft – im Sinne eines unter dem Aspekt »männlich/weiblich« fast monistischen Menschenbildes, worin die konstitutionellen Geschlechtsunterschiede als sekundär betrachtet werden.285 281 Stubbe-da Luz 1996, S. 324. 282 Vgl. Stubbe-da Luz 1996, S. 325. 283 Vgl. dazu auch die entsprechende Beobachtung im Beitrag von Karin Hausen zur Axiomatik der bürgerlichen Frauenbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts: »Ihre Forderungen nach bildungsmäßiger und politischer Gleichberechtigung begründeten diese Frauen seit Ende der siebziger Jahre damit, daß es die ›Kulturaufgabe‹ der Frauen sei, in der inhumanen Männerwelt durch Weiblichkeit mehr Humanität zu verwirklichen.« (Hausen 1976, S. 380) 284 Stubbe-da Luz 1996, S. 325. 285 Stubbe-da Luz 1996, S. 325.
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Diese von Stubbe-da Luz beschriebene Verschiebung von einem »‹asymmetrisch-dualistischen‹ Ergänzungsparadigma« hin zu einer »ausgewogen-dualistische[n]« Konzeption verweist auf die in Kapitel 1.2.4 angesprochene Notwendigkeit, die innerhalb der Genderforschung gebräuchliche Unterscheidung von ›Gleichheits- vs. Differenzhypothese‹ jeweils historisch zu kontextualisieren. Wie ausgeführt, greift die bürgerliche Frauenbewegung für die Neubestimmung der weiblichen Wirkungssphäre erneut auf das Perfektibilitätskonzept zurück, das als wesentlicher konzeptioneller Kontextfaktor der Herausbildung des Modells der komplementären Geschlechtscharaktere gelten kann. Das Komplementärmodell wird affirmiert und zugleich als Basislegitimation der eingeforderten und unternommenen Neuverortung ›der Frau‹ innerhalb der Gesellschaft herangezogen. Dass die ›Frauenfrage‹ trotz der klaren sozialen und lebenspraktischen Bezüge, die in der intensiv geführten Debatte für und wider die weibliche Emanzipation immer präsent sind, auch eine theoretische Frage ist, wurde bereits bei Riehl deutlich: Die jeweilige Position der an diesem Diskurs Beteiligten steht in Relation zu den zugrundeliegenden Kultur- und Gesellschaftstheorien. Im Folgenden werden einige Positionen der ›weiblichen Anthropologie‹ um 1900 beleuchtet, die sich einerseits als Diskursbeiträge zu einer weiteren ›Verwissenschaftlichung‹ des Geschlechtermodells verstehen lassen, auf einer anderen Ebene dagegen als Radikalisierung der Differenzhypothese und des Modells der polaristischen ›Geschlechtscharaktere‹. Der ›theoretische‹ Zugriff auf ›das Weibliche‹, der dieses klar als Untersuchungsobjekt setzt (welches als solches selbst nicht in die Position des Beobachters rücken kann) steht etwa bei Georg Simmels Überlegungen zu einer »Psychologie der Frau« im Zentrum. Den Soziologen Simmel als Gegner der ›Frauenemanzipation‹ zu klassifizieren, hieße an dessen deskriptiv-analytischem Selbstverständnis vorbeizusehen. Seine Überlegungen zum weiblichen Gattungscharakter sowie die kulturkritischen Implikationen, die seinen soziologischen Schriften inhärent sind, erlauben es jedoch, ihn hier in einer Funktion als argumentatives ›Scharnier‹ zwischen der skizzierten Programmatik der bürgerlichen Frauenbewegung und der im Folgenden zu umreißenden impliziten Programmatik der ›weiblichen Anthropologie‹ um 1900 heranzuziehen. In der Form einer expliziten Programmatik findet sich der theoretische Zugriff auf ›das Weibliche‹ etwa in dem 1897 in der Wiener Rundschau erschienenen Essay »Gegen die Emancipation des Weibes« von (Dr.) Paul Weisengrün. Dieser versteht die ›Frauenfrage‹ als Frage der Wesensbestimmung und damit als metaphysischen Gegenstand, der sich der realpolitischen Kritik entzieht:
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
Was ist nun das Weib? Erst jüngst hat sich eine Frau dagegen verwahrt, dass man ihm alles mögliche Räthselhafte andichte. Das Weib, meint sie, ist weder ein Thier noch eine Halbgöttin, sondern vor Allem ein Mensch … Eine Frau hat da leicht reden. Sie versteht das erkenntnistheoretische Problem, das die Frauenfrage, theoretisch gesprochen, für uns bedeutet, nicht im Geringsten. W i r f ü h l e n u n d d e n k e n a l s M ä n n e r u n d w o l l e n d a s I n n e r e d e s We i b e s e r k e n n e n , d a s e b e n a n d e r s d e n k t u n d f ü h l t . Hier liegt dieselbe erkenntnis-theoretische [sic] Schwierigkeit vor, wie wenn wir mit unseren so kümmerlichen, einseitigen, nur dürftigen Zwecken angepassten Sinnen und Organen die Natur ganz erfassen wollen, die an sich ebensowenig schön oder hässlich, grausam oder nützlich ist, wie das Weib. Sicherlich stecken alle Beurtheilungen der Natur und des Weibes in uns, und aus diesen Beurtheilungssphären und Beurtheilungsmöglichkeiten können wir nie und nimmer hinaus. Doch besitzen wir nun einmal den metaphysischen Trieb, die Natur trotz alledem zu erkennen, und mühsam und unsicher tappend gelangen wir ja doch immer einen Schritt weiter ; nur dauert unser Erkenntnisprozess eben unendlich lang. Nicht viel schlechter und nicht viel besser geht es uns mit dem Weibe. D a s W e i b h i n g e g e n h a t d a s m e t a p h y s i s c h e B e d ü r f n i s n i c h t . Sie greift, psychisch gesprochen, nach dem Manne wie der Wilde nach Mond und Sonne. Der M a n n a n s i c h existiert für das Weib nicht.286
Die psychologischen und vor allem diskursiven Mechanismen der Identitätskonstitution über die Abgrenzung vom ›Anderen‹ sind innerhalb der Literaturwissenschaft mittlerweile umfassend verhandelt worden, besonders intensiv u. a. im Rahmen der Gender und Postcolonial Studies, die sich mit dem gesellschaftlich markierten ›Anderen‹ befassen. In Weisengrüns Ausführungen werden die identitätskonstitutiven Aspekte der Selbst- und Fremdreferenz287 sehr deutlich, wenn etwa ›das Weib‹ durch Analogisierung mit dem erkenntnistheoretischen Untersuchungsobjekt ›Natur‹ in der tradierten Zuordnung zu diesem semantischen Feld bestärkt und zugleich die Position des männlichen Forschersubjekts absolut gesetzt wird. Die Analogie von ›Weib‹ und ›Wildem‹ bekräftigt die im polaristischen Modell angelegte Grundzuordnung ›Mann/ Kultur‹ und ›Frau/Natur‹. Während nun Simmel in seinen Schriften die Analogie von ›Frau‹ und ›Natur‹ grundsätzlich positiv besetzt sieht, wird das ›Natürliche‹ etwa bei Paul Julius Möbius ins Pathologische gewendet. Dies wird im Folgenden zu skizzieren sein,
286 Weisengrün 1897, S. 504. 287 Vgl. dazu die Ausführungen von Cornelia Bohn und Alois Hahn in deren Beitrag »Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung: Facetten der Identität in der modernen Gesellschaft«, wo sie hervorheben, dass Identitätskonstitution – auf personaler wie sozialer Ebene – stets sowohl über Definition nach ›innen‹ als auch über Abgrenzung nach ›außen‹ geschieht. Bohn und Hahn sprechen diesbezüglich »von einer selbstreferentiellen und einer fremdreferentiellen Bestimmung von Identität« (Bohn / Hahn 1999, S. 38); vgl. auch Igl 2008/09, S. 110 f.
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wobei zunächst Simmels Aktualisierung und Stabilisierungsversuch der polaristisch-komplementären Geschlechtersemantik in den Blick genommen wird.
2.2.3 Die Soziologie der Geschlechter als Beitrag zur ›Verwissenschaftlichung‹ des Komplementärmodells In ihrer Einleitung zur Sammlung von Georg Simmels Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter gehen Heinz-Jürgen Dahme und Klaus Christian Köhnke auf dessen durchaus plausible These ein, dass die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts »eine Folge der strukturellen Differenzierung zwischen häuslichen und öffentlichen Funktionen«288 sei. Simmels Analyserichtung scheint in der Tat nicht so weit entfernt von den gegenwärtigen Modellierungen des Zusammenhangs innerhalb der Soziologie und Geschlechterforschung. Die im vorliegenden Kapitel eingenommene Perspektive auf Simmels Geschlechtersoziologie und -psychologie ist aber dennoch eine klar historisierende: Simmels Überlegungen zur Psychologie der Frauen289 und zur Weiblichen Kultur290 sind zwar in ihrer analytischen Kompetenz und ihrer dezidierten Abgrenzung von kulturpessimistischen Prämissen wie etwa von Riehls ›Familienprojekt‹ klar zu differenzieren, erweisen sich bei näherer Betrachtung aber als Dokumente der um 1900 aktualisierten Verwissenschaftlichung und Ontologisierung der polaristisch konzipierten Geschlechterdifferenz. Simmels Essay Zur Psychologie der Frauen steht deutlich in der diskursiven Tradition derjenigen Ansätze, die eine zirkuläre Zuordnung von psychischen zu physischen Eigenschaften vornehmen und von der Geschlechter(stereo)typisierung die prädestinierten sozialen Rollen ableiten. Zwar verweist Simmel eingangs auf die Problematik, ›die Frauen‹ als Gruppe zu kategorisieren, nimmt eine solche Kategorisierung mittels seiner These vom ›weiblichen Differenzierungsdefizit‹ aber nichtsdestotrotz vor.291 Simmels dem Anspruch nach empi-
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Dahme / Köhnke 1985, S. 13 f. 1890 erstmals publiziert in der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. 1902 erschienen in der Neuen Deutschen Rundschau. Siehe Simmel 1985 [1890], S. 27: »Wenigstens auf ein relatives Recht indes, die Frauen als unter sich einheitlichere Wesen anzusehen, weist der Umstand hin, daß sie selbst ein stärkeres Gefühl von gegenseitiger Solidarität haben als die Männer, wo bei diesen nicht besondere Gründe des Zusammenschlusses vorliegen.« Während »Einheitlichkeit« bei Männern also externale Gründe braucht (d. h. gegebenenfalls intentional verursacht ist), ist diese für Simmel bei Frauen auf internale Ursachen zurückzuführen (und somit kausal bedingt und nicht ohne Weiteres veränderbar). Die Problematisierung einer Psychologie ›der Frauen‹ als Gattungswesen im einleitenden Satz der Abhandlung Zur Psychologie der
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
risches Vorgehen – er bezieht sich unter anderem auf die weibliche Physiognomie als objektiver »Verkörperung« eines generellen ›weiblichen Differenzierungsmangels‹ und der größeren Nähe ›der Frau‹ zum Gattungstypus292 – entlarvt sich bei genauerer Betrachtung als äußerst theoriegeleitet in dem Sinne, dass seine Beobachtungen deutlich durch die ontologisch untermauerte Geschlechterstereotypik des Modells der polaristischen ›Geschlechtscharaktere‹ vorgefiltert sind und dadurch selbstbestätigend werden. So fasst Simmel in seinen Bruchstücken aus einer Psychologie der Frau (1904) zusammen: Dieser Kernpunkt aller Psychologie der Frauen: daß sie die einheitlicheren und ganzeren Wesen sind, d. h. diejenigen, bei denen die Elemente des inneren Daseins enger miteinander verknüpft sind – die seelischen Spiegelungen ihres schwer ausdrückbaren, innigeren Eingewachsenseins in die dunkle Einheit aller Natur –, läßt begreifen, daß sie die treueren Wesen sind, anhebend von ihrer Anhänglichkeit an alte Besitzstücke, eigene und die geliebter Menschen, an »Erinnerungen« greifbarer wie innerlichster Art. Denn die Struktur ihrer Seele läßt an jedem Ding die einst damit verbundenen Werte und Gedanken und Gefühle schwer trennbar haften, die Energie in ihrer inneren Einheit hält zusammen, was sich je in ihr getroffen hat. Der Mann ist pietätsloser, weil er die Dinge mehr in ihrer herausgelösten Sachlichkeit ansieht, das einzelne genießt in seiner Seele nicht mehr den Vorteil, von alldem, was es einstmals war und womit es sich einstmals berührte, getragen und verklärt zu sein. Differenziertheit macht untreu, denn wo unsere Wesensteile gegeneinander selbständig sind, ergreift die Entwicklung bald das eine, bald das andere Interesse, bringt den inneren Menschen in wechselnde Formen, gibt der Gegenwart die volle Freiheit, sich aus sich selbst zu entscheiden. Darum ist, mit der Frau verglichen, der Mann in aller Hinsicht untreuer, weil ihm jene Einheitlichkeit abgeht, die die Seele in dem Bann dessen was je in ihr gelebt hat, festhält, wodurch er denn freilich Möglichkeiten der Entwicklung und einen Reichtum an Wegerichtungen gewinnt, die der Treue versagt sind.293 Frauen erweist sich damit als rhetorisches Mittel, das den Vorwurf der »ungehörigen« Komplexitätsreduktion aushebeln soll. 292 Vgl. Simmel 1985 [1890], S. 28. Die ontologische Argumentationsweise zeigt sich hier in einer Art Augenschein-Empirie und zieht zur Stütze Vergleiche aus der Artenforschung heran (was auf der Basis der Darwin’schen Evolutionstheorie einerseits wissenschaftlich valide ist, andererseits aufgrund der häufig ungenauen Unterscheidung der Ebenen ›Form‹ und ›Funktion‹ Gefahr läuft, zu Übergeneralisierungen und letztlich Ontologisierungen zu führen): »Auf dem Gebiet des Körperlichen zunächst dürfte die Behauptung eines Differenzierungsmangels der Frauen Geltung haben. Durch die ganze Natur hindurch ist das weibliche Geschlecht weniger modifiziert als das männliche; das Weibchen ist überall den Jungen der eigenen Spezies ähnlicher als das Männchen; bei den verschiedensten Menschenrassen haben Messungen ergeben, daß die Männer weit mehr voneinander verschieden sind als die Frauen. Und dieses Verhältnis wiederholt sich am Individuum. Die Oberfläche des männlichen Körpers ist mehr differenziert als die des weiblichen. Das Knochengerüst tritt energischer [!] hervor, macht sich durch Hebungen und Senkungen bemerkbar, während bei dem Weibe die gleichmäßigeren Fettpolster als eine mehr ebene, nur in großen Zügen gehobene und gesenkte Fläche erscheinen lassen.« (Ebd.) 293 Simmel 1985 [1904], S. 179 f.
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Vor dem Hintergrund der Simmel’schen Abhandlung Einiges über die Prostitution in Gegenwart und Zukunft (1892) ist seine essentialistische Wesensbestimmung der Frau als ›treu‹ und des Manns als tendenziell ›untreu‹ zugleich Erklärungsversuch wie Legitimationsangebot der bürgerlichen Moral, die zeitgleich in der Literatur etwa bei Arthur Schnitzler als ›Doppelmoral‹ thematisiert wird. Dahme und Köhnke erfassen diese historischen Diskurszusammenhänge offenbar nicht, wenn Sie auf die aus ihrer Sicht bislang als lückenhaft anzusehende Rezeptionsgeschichte von Simmels »geschlechtersoziologischen«294 Schriften verweisen: Anfänglich waren es Repräsentantinnen der Frauenbewegung, die Bruchstücke aus Simmels Frauenschriften aufgriffen. Vor allem seine Frage nach der Möglichkeit einer weiblichen Kultur, die die Gleichstellung und Gleichberechtigung der Frau unter Anerkennung einer spezifischen Weiblichkeit intendierte, ist schon früher von Vertreterinnen der gemäßigten Richtung der bürgerlichen Frauenbewegung, wie etwa Helene Lange, die Mütterlichkeit als Zentralaspekt des Frau-Seins begriff, rezipiert worden. Der radikale, feministische Flügel der Frauenbewegung freilich lehnt Simmels These eines »charakterologischen Unterschieds der Geschlechter« und seine anthropologische Tendenz, Frauen als das »undifferenziertere, geschlechtslosere Wesen«, das kein Entwicklungsprinzip hätte, zu betrachten, ab. Seine Deutung der gegenwärtigen Kultur und Gesellschaft als überwiegend ›männlich‹ – will sagen: von Männern geschaffen und von männlichen Normen gesteuert – sowie sein Vergleich der gesellschaftlichen Stellung der Frau mit der eines Sklaven weisen zwar starke Parallelen mit der ›feministischen Gesellschaftstheorie‹ auf, doch scheint seine als konservativ empfundene Psychologie der Frau einer adäquaten Rezeption noch immer im Wege zu stehen.295
Inka Mülder-Bach erwidert in ihrem analytisch sehr pointierten Beitrag »Kultur und Geschlecht. Georg Simmels Konstruktion der Weiblichkeit« auf das von Dahme und Köhnke formulierte Rezeptionsdesiderat, es sei »nicht allein die 294 Wie Inka Mülder-Bach betont, handelt es sich jedoch – anders als der Titel des Bandes verspricht – nicht um eine »Philosophie und Soziologie der Geschlechter«, »sondern eine Soziologie der Frau und eine Philosophie der Weiblichkeit, in der einmal mehr nur die weibliche Geschlechtsidentität als solche markiert ist, die männliche dagegen in der universalen Kategorie ›Mensch‹ aufgehoben scheint« (Mülder-Bach 1998, S. 217). 295 Dahme / Köhnke 1985, S. 13. Simmels These vom ›weiblichen Differenzierungsmangel‹ korrespondiert in der Tat in gewisser Weise mit dem feministischen Theorem von der ›weiblichen Subjektlosigkeit‹, das Sigrid Weigel in ihrer Studie Topographien der Geschlechter (1990) formuliert hat und als Voraussetzung für die Repräsentationsfunktion des ›Weiblichen‹ im literarischen Diskurs der (frühen) Moderne versteht. Allerdings versteht die feministisch-ideologiekritisch ausgerichtete Forschung die ›weibliche Subjektlosigkeit‹ als Folge des Ausschlusses von Frauen aus der (Literatur-)Geschichte und als (Zuschreibung) von außen kommend, nicht als weibliche Wesenhaftigkeit. Simmels Konzept ist – bei aller soziologisch-analytischen Distanz – im Grundzug hingegen essentialistisch, wie im Folgenden anhand einiger Textstellen aus seinen Abhandlungen zur Psychologie und Soziologie der Frauen zu illustrieren ist.
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ebenso konservative wie spekulative Psychologie der Frau, die die Kritik zur einzig ›adäquaten‹ Rezeptionsform von Simmels Texten macht, sondern vor allem das Interesse, das sie implizit leitet«296. Dieses Interesse sei kein »unmittelbar praktisches oder politisches«297, sondern theoretisch motiviert298 : So gehe es Simmel darum, die innerhalb seiner philosophischen Soziologie – bzw. seiner soziologischen Philosophie299 – zentralen »Wertreihen«300 Individualität und Geschlechterpolarität miteinander zu verknüpfen. Wie Mülder-Bach überzeugend ausführt, steht Simmel vor dem theoretischen Dilemma, die beiden für eine kulturelle Entwicklung als grundlegend angesehenen Aspekte der Ausdifferenzierung von Individualität auf der einen und Differenz der Geschlechter auf der anderen Seite über ein übergeordnetes, widerspruchfreies Entwicklungskonzept zu modellieren: Die These vom »Differenzierungsmangel« besagt also nicht, daß das weibliche Geschlecht keine Evolution durchlaufen hätte. Nur stellt sich seine Entwicklung als Ausdifferenzierung des Geschlechtlichen aus einem ursprünglichen Zustand relativer Indifferenz von Männlichem und Weiblichem dar. Während der Mann im evolutionären Prozeß einerseits immer individueller, andererseits immer stärker ›Mensch an sich‹ wird, prägt die Frau immer stärker die Züge der Weiblichkeit aus, die, gerade indem sie in sich undifferenziert bleiben, von der Differentialität des Mannes unterschieden ist. So ist die »typisch vollendete Frau« dadurch charakterisiert, daß sie das »Gattungsmäßige, eigentlich Unpersönliche, zu etwas völlig Persönlichem macht, so innerlich erzeugt, als träte es hier zum ersten Male aus dem Einzigkeitspunkt der Persönlichkeit heraus in die Welt« (SchG, 215)301 Nur durch diese Verdoppelung des evolutionären Prinzips vermag Simmel, die Wertreihen Individualität und Geschlechterpolarität miteinander zu vermitteln.302
296 Mülder-Bach 1998, S. 229. Der im von Aleida Assmann und Heidrun Friese herausgegebenen Sammelband Identitäten erschienene Beitrag ist der Teilwiederabdruck eines 1987, also sehr zeitnah zur kritisch beleuchteten Anthologie von Dahme und Köhnke, publizierten Aufsatzes, vgl. den Hinweis ebd., S. 217. 297 Mülder-Bach 1998, S. 229. 298 Vgl. Mülder-Bach 1998, S. 230. 299 Die Verwobenheit analytisch-deskriptiver und normativer Strukturen wird in Simmels Texten in der Tat immer wieder deutlich, wie im Folgenden zu illustrieren ist. 300 Mülder-Bach 1998, S. 223. Siehe dazu auch den stimmigen Hinweis, dass es sich bei Simmels Theorem des Differenzierungsdefizits um eine Aktualisierung der tradierten Geschlechtersemantik handelt: »Simmels These vom weiblichen Differenzierungsmangel ist zunächst nichts anderes als die Reformulierung des seit der Aufklärung vorherrschenden Begriffs von der ›Natur‹ der Frau, dem allenfalls das disziplinäre Gewand der Soziologie den Anschein von Neuheit verleiht. Spezifisch ist jedoch das Interesse, das ihn zu dieser Reformulierung bestimmt. Es leitet sich aus dem Konflikt zweier Wertreihen ab, die seine Theorie der Differenzierung in Einklang zu bringen versucht.« (Mülder-Bach 1998, S. 221.) 301 Zitat aus Simmels Abhandlung Das Relative und das Absolute im Geschlechter-Problem (1911), in der Anthologie von Dahme / Köhnke (Hg.) 1985, S. 200 – 223. 302 Mülder-Bach 1998, S. 222 f.
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Tatsächlich liefert Simmel zwar einerseits eine historische Erklärung des ›weiblichen Differenzierungsmangels‹, erhebt ihn aber andererseits zu einem normativ-konstitutiven Element von ›Weiblichkeit‹.303 So bedeutet der »Versuch der Gleichstellung« der Geschlechter für Simmel eine von ihm als problematisch bewertete »gewachsene [im Sinne von ›anwachsende‹, N.I.] Funktionsteilung«304 unter den Frauen: Die Verteidiger der Emanzipation, die die Frauen von der Fesselung an Strickstrumpf und Kochtopf erlösen möchten, pflegen dies nicht zu bedenken, daß, da die hiermit bezeichneten Funktionen weder entbehrt, noch, aus sehr guten Gründen den Frauen abgenommen werden können [Simmel bezieht sich hier auf »das Gebären und die Pflege des ersten Kindesalters«; N.I.], eine steigende Differenzierung unter ihnen zwar eine Reihe von Frauen davon befreien kann, um sie höheren und geistigeren Berufen zuzuwenden, aber nur um den Preis, daß die übrigen viel enger und in viel spezialisierterer Weise an jene Funktionen gefesselt werden.305
Die Hervorhebung der ›Schattenseiten‹ der – im Simmel’schen Sinne – funktionalen Ausdifferenzierung ist dabei vor dem oben skizzierten Zusammenhang der beiden konträr aufeinander bezogenen »Wertreihen« zu sehen – und der grundsätzlichen Kompensationsfunktion, die Simmel ›dem Weiblichen‹ im Modernisierungs- und Individualisierungsprozess der Gesellschaft zuweist. Ganz ähnlich wie Simmel perspektiviert auch Ferdinand Tönnies in seiner soziologischen Studie Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie von 1887 – die allerdings erst in der zweiten Auflage von 1912 stark rezipiert wurde – den gesellschaftlichen Wandel der Geschlechterrollen im Modernisierungsprozess als potentielle Gefährdung der ›natürlichen Weiblichkeit‹ und des kompensatorischen Potentials ›der Frau‹ gegenüber den Modernisierungsfolgen.306 Auf das generelle Interesse der sich institutionalisierenden 303 An dieser Stelle wird die Nähe zu Riehls kulturkonservativem Modell sehr deutlich: Auch dieser setzt die Geschlechterdifferenz als Voraussetzung für den Zivilisationsprozess an und sieht das weibliche Ideal in einer Verkörperung des Gattungsmäßigen. 304 Simmel 1985 [1890], S. 46. 305 Simmel 1985 [1890], S. 46. 306 Karin Hausen fasst Tönnies’ konservativ-kulturkritische Position pointiert zusammen: »Bezeichnenderweise fußen auch dessen Überlegungen auf den kontrastierten ›Geschlechtscharakteren‹, wenn er den weiblichen ›Wesenswillen‹ eingehen läßt in die organische Gruppenverbindung der Kategorie Gemeinschaft und wenn er dieser die ideelle und mechanische Gruppenverbindung der Gesellschaft gegenüberstellt, die geprägt sein soll von der ›Willkür‹ [bzw. mit Tönnies dem ›Kürwillen‹, N.I.] des Mannes. Für Tönnies verkörpert das Weib mit seinem unmittelbaren Verhältnis zu den Personen und Dingen den natürlichen, der Mann hingegen als der Berechnende den künstlichen Menschen, der in seiner fortgeschrittensten Ausprägung als Kaufmann selbst seine Mitmenschen wie Mittel und Werkzeuge zum Zwecke der Bereicherung einsetzt. Die von ihm diagnostizierte, im Zuge der Vergesellschaftung fortschreitende Zurückdrängung der Gemeinschaft bedroht jedoch auf lange Sicht die Familie und damit auch die fraulichen Qualitäten. Denn eine Frau,
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
(Kultur-)Soziologie an Geschlechterfragen geht Klaus Lichtblau in seiner wissenschaftsgeschichtlichen Studie Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende (1996) ein. Lichtblau weist hier ebenfalls auf die ähnliche Theoriekonzeption von Simmel und Tönnies hin und verortet beide Ansätze innerhalb einer kulturkritischen Theorietradition.307 Auch der Literaturkritiker und Nietzscheanhänger Leo Berg nimmt eine zu Simmels Modellierung sehr ähnliche Perspektive ein.308 Einerseits ist Berg ein klarer Vertreter der »Leitidee der Moderne«309, der für die ästhetische wie auch gesellschaftliche Modernisierung eintritt.310 Andererseits problematisiert er den gesellschaftlichen Wandel gerade mit Blick auf die Frauenemanzipation. Wenn Berg in seinem erstmals 1899 publizierten Essay Zur Kritik der Frauenfrage dem ›freien Naturzustand‹ der Frauen, die sich anders als die Männer der »Prägeanstalt der Staatsmaschine«311 nicht aussetzen müssen, die gesellschaftliche »Dressur«312 gegenüberstellt, knüpft er an ein Sehnsuchtstopos an, das auch Simmel mit seiner oben skizzierten Vorstellung von ›der Frau‹ als dem »einheitlicheren und ganzeren Wesen« und deren »innigeren Eingewachsenseins in die dunkle Einheit aller Natur«313 aufruft: Die Frauen, die bislang noch die Natur, das anarchische Element in der Gesellschaft bildeten, die guten Freundinnen aller Derer, die noch frei und Natur [im Gegensatz zu »Dressur«, N.I.] waren, der Künstler, der Kinder, sowie der starken Männer, sie wollen
307 308
309 310 311 312 313
die wie eine Fabrikarbeiterin den Einflüssen der Gesellschaft direkt ausgesetzt ist, »wird aufgeklärt, wird herzenskalt, bewußt. Nichts ist ihrer ursprünglichen[, trotz aller erworbenen Modifikationen immer wieder angeborenen] Natur fremdartiger, ja schadhafter [recte: schauderhafter]‹.« (Hausen 1976, S. 379 f.; Tönnies Schrift wird hier – ohne Kennzeichnung der Auslassung und nicht ganz korrekt – zitiert in der zweiten Auflage [Berlin 1912], S. 197.) Vgl. Lichtblau 1996, besonders die Abschnitte »Zur Genealogie der modernen ›Geschlechterfrage‹« (S. 280 – 292) und »Männliche Wissenschaft und ›weibliche Kultur‹« (S. 292 – 315). Siehe dazu den jüngst von Peter Sprengel herausgegebenen Band Im Netzwerk der Moderne: Leo Berg (2010), der den Briefwechsel 1884 – 1891 sowie Kritiken und Essays zum Naturalismus enthält. Sprengels ausführliche Einführung (S. 7 – 74) gibt einen detaillierten Überblick zu Bergs (programmatisch nicht ohne weiteres zu vereindeutigenden) Positionierung im ›literarischen Feld‹ der Moderne und seinem Schwanken zwischen enthusiastischem Fortschrittsoptimismus und – speziell in Bezug auf das Thema der Frauenemanzipation – ›konservativer‹ Kulturkritik. Vgl. dazu grundlegend auch Urte Heldusers grundlegende Untersuchung des Geschlechterdiskurses in Bergs Schriften (Helduser 2005, S. 147 – 183; siehe Kapitel 2.1, S. 66, Anm. 6), auf die sich Sprengel ebenfalls stützt (vgl. Sprengel 2010, S. 52 f.). Sprengel 2010, S. 10. Vgl. Sprengel 2010, besonders die Abschnitte »Burschenschaftsreform und Moderne« (S. 15 – 22) und »Mit neuen Göttern – Kulturkritik zwischen Aufbruch und Resignation« (S. 22 – 29). Berg 1901 [1899], S. 79. Berg 1901 [1899], S. 76. Simmel 1985 [1904], S. 179.
Geschlechterkonzeptionen im Wandel
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nun auch in die Prägeanstalt der Staatsmaschine, und nennen das naiver Weise: Befreiung der Frau. Sie wollen die Knechtschaft en gros eintauschen gegen die Knechtschaft im Einzelnen. Sie ziehen es vor, das kleine Rad an der Staatsmaschine zu sein, z. B. Unterhilfsbeamtin, als die zweite Großmacht eines Reiches, das sie selbst gebildet haben, der Familie. Sie kündigen dem einzelnen Manne den Gehorsam und wollen dafür dem Manne im Prinzip dienen, denn des Mannes ist der Staat. Das eben ist ihre geistige Prostitution.314
Wie Simmel setzt auch Berg für die positiv gewertete (ästhetische) Moderne die komplementär zueinander gerichteten Prinzipien ›Individualität‹ und ›Geschlechterpolarität‹ an. ›Individualität‹ entspricht dabei dem ›männlichen‹ Fortschrittsprinzip, die Geschlechterdifferenz jedoch ist die Voraussetzung für die soziale Stabilität. Wo der gesellschaftliche Wandel die Familie als den Nukleus der bürgerlichen Gesellschaft erfasst, sieht Berg das Gleichgewicht der entgegengesetzt wirkenden Prinzipien gefährdet: Die Familie, der Sinn und der Zweck der Ehe, ist heut zwischen zwei Mühlsteine geraten, Staat und Individuum, die sie zermalmen wollen. Alle Emanzipationsbestrebungen der Frau, ob von Staats oder Individuums wegen, sind mit am Zerstörungswerke. Und daß sie es nicht wissen oder nicht zugeben wollen und dürfen, macht sie nur gefährlicher.315
Wie bereits mehrfach angesprochen wurde und in Kapitel 2.2.5 näher auszuführen sein wird, ist Bergs (wie Simmels oder auch Riehls) Diagnose mit Blick auf die Referenzprobleme des gesellschaftlichen und semantischen Wandels an sich scharfsichtig. In gewohnt pointierter Weise vermerkt Berg in seinem Essay Zur Kritik der Frauenfrage (1899) das Unerhörte: »Schließlich ist das moderne Weib aber nicht nur Weib, sondern auch I n d i v i d u u m ; das moderne Weib will sogar seine Individualität entdeckt haben.«316 Berg sieht den ›Individualisierungsprozess‹ der Frauen als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Verfallsprozesses, als »Entartung«317. Grundlegend für Bergs Perspektive ist hierbei auch, wie Urte Helduser herausgearbeitet hat,318 das Postulat von der »Verweiblichung« der modernen ›individualisierten‹ Gesellschaft im Allgemeinen sowie der Literatur und Kunst im Speziellen: 314 315 316 317
Berg 1901 [1899], S. 79. Berg 1901 [1899], S. 76. Berg 1901 [1899], S. 86. Berg 1901 [1899], S. 87. Dies ist durchaus im Nordau’schen Sinne zu verstehen – wobei nicht vergessen werden darf, dass Berg nicht zuletzt als Mitbegründer des Vereins »Durch!« einer der zentralen Akteure der Berliner Moderne sowie bekennender »Nietzsche-Bewunderer« (Sprengel 2010, S. 35) ist, während Nordau Nietzsche als exemplarischen Vertreter der von ihm kritisierten »Ich-Sucht« auf die Seite des ›Entarteten‹ verbucht, wie letztlich auch »alle jüngeren literarischen und künstlerischen Strömungen am Ende des 19. Jahrhunderts« (Catani 2005, S. 224). 318 Helduser 2005, S. 147 – 183.
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
Jede starke Leistung ist die Rache des Individuums an der Natur und Gesellschaft. Die Kunst ist zum Theil die Folge konträr sexueller Begabung. Daher die Entartung der Genies. Ein Stück Weib steckt in jedem Künstler ; die Frauen aber, die wirklich etwas geleistet haben, sind wohl fast sämmtlich konträr beanlagt gewesen [.]319
Hier verbinden sich Aspekte der »im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert stereotyp geübte[n] Feminisierungskritik«320 mit dem Natürlichkeitspostulat: Gerade, wenn ein Weib etwas leistet, hat es sein Geschlecht verlassen. Denn jede Leistung in der Oeffentlichkeit ist eine Ueberwindung der Scham, und »darüber kann kein Weib hinweg.« Einem Weibe, das in seiner Scham noch intakt ist, wird es stets wider den Strich gehen, sich öffentlich zu produzieren und sei es auch in der abstraktesten Wissenschaft. Das Theater ist nicht ohne Grund ein Bordell geworden, als es von den Frauen erobert wurde. Und daran tragen nicht die Kavaliere die Schuld, sondern der Umstand, daß in die Oeffentlichkeit gehen für eine Frau, zumal, wenn sie mit ihrem Leibe öffentlich wird, immer heißt, ins Bordell gehen; denn die Oeffentlichkeit, das ist das Bordell der Frau. Der einzelnen Frau zu sagen, sie gehöre ins Haus, ist Blödsinn und ist noch ungerechter Blödsinn, wenn sie gar kein Haus hat, wenn man ihr sogar das Haus genommen hat. Aber die Frauen gewaltsam, aus Politik oder aus allerlei Mode-Narrheiten, wie Rad-Sport, Fecht-Sport und andere Zeit-Perversionen, in die Oeffentlichkeit zu stoßen, das heißt die Natur zu prostituieren. Das Haus ist nämlich wirklich so etwas wie die erweiterte Schamhaut des Weibes.321
Wenn sich ›die Frau‹ dieser »erweiterte[n] Schamhaut« im Zuge des Heraustretens aus der häuslichen Wirkungssphäre und dem Eintritt in die berufliche Öffentlichkeit entäußert, prostituiert sie nach Berg zugleich ihre ›Natur‹. Die hier noch konkret zum gesellschaftlichen Wandel in Bezug gesetzte Krise des ›Weiblichen‹, dessen Abgleiten in die ›Unnatur‹ und ins Pathologische, wird innerhalb der anthropologischen Ansätze um 1900 komplett in die Biologie und den Körper verlagert – und wird zugleich Menetekel wie Beschwörungsformel.
2.2.4 ›Weibliche Anthropologie‹ um 1900 als Radikalisierung der Differenzhypothese – Von der kompensatorischen zur ›pathologischen‹ Weiblichkeit Wie im Ausgang des Kapitels 2.1.3 zur Ontologisierung der geschlechtlichen Charakterologie angemerkt, hat die Differenzhypothese im Laufe des 19. Jahrhunderts im Rahmen der sich ausdifferenzierenden wissenschaftlichen Disziplinen beständige Aktualisierungen erfahren. Ebenfalls angemerkt wurde be319 Berg 1901 [1899], S. 86 f. 320 Helduser 2005, S. 195. 321 Berg 1901 [1899], S. 87.
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reits, dass diese Aktualisierungen sich zum Teil als Radikalisierungen bezeichnen lassen. Stephanie Catani geht in ihrer Studie Das fiktive Geschlecht auf die verschiedenen Entwürfe von Weiblichkeit zwischen 1885 und 1925 in anthropologischen Schriften auf der einen und literarischen Texten auf der anderen Seite ein. Den Zusammenhang von literarischem und außerliterarischem Diskurs modelliert sie dabei unter Bezugnahme auf Wolfgang Riedels Studie »Homo Natura«. Literarische Anthropologie um 1900 (1996) sehr anschlussfähig, indem sie Literatur als spezifisches Medium auffasst, in dem eine literarische Anthropologie betrieben wird, die nicht einfach eine ›Übersetzung‹ anthropologischer Diskurse aus Medizin und Psychologie darstellt.322 Catani problematisiert eine Vernachlässigung dieser Eigenständigkeit der Diskurse, wie sie etwa in genderorientierten Forschungsansätzen immer noch zu beobachten ist: Mit Vorliebe werden Otto Weiningers »Geschlecht und Charakter« und vorzugsweise die zeitgenössische Hysterielehre in der literaturwissenschaftlichen Forschung als anthropologische Vorlagen benutzt, um ihnen zeitgenössische literarische Frauenbilder entgegenzusetzen. Hierbei zeigt sich die Gefahr, grundsätzliche Unterscheidungen zwischen literarischem und anthropologischem Diskurs aufzuheben, um Urteile über den Diskurs der weiblichen Sexualität um 1900 zu fällen. Eine Literaturwissenschaft würde dergestalt in literarischen Texten lediglich Bestätigungen für den anthropologischen Diskurs suchen und wird so der Eigenständigkeit, die Literatur bei der Inszenierung von extraliterarischem Wissen beweist, nicht gerecht.323
Im ersten Teil ihrer Untersuchung liefert Catani eine ausführliche und differenzierte Analyse allgemeinmedizinischer, gynäkologischer, psychologischer und anthropologisch-philosophischer Schriften, die sich der weiblichen Wesensbestimmung widmen. Die beiden ersten Kapitel fassen dabei die verschiedenen Ansätze überzeugend zu den Punkten »›Krankheit Frau‹: Die Pathologisierung des weiblichen Körpers« und »Geschlecht ohne Geist: Zur sexuellen Identität der Frau« zusammen. Die generelle Annahme einer pathologischen weiblichen Konstitution, wie sie etwa der Neurologe Paul Julius Möbius in seiner Schrift Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (1900) als »unum322 Vgl. Catani 2005, S. 11 f. 323 Catani 2005, S. 14 f. Catani grenzt sich an dieser Stelle zudem dezidiert von einer Untersuchungshaltung ab, die »die ausgewählten Texte auf ihren möglichen emanzipatorischen Gehalt« überprüft »oder den jeweiligen Autoren sozialkritische Impulse« zuschreibt (ebd., S. 15). Die in der Konzeption sehr überzeugende Studie fokussiert insgesamt auf die »Interdependenz zwischen wissenschaftlichen Diagnosen und literarischen Inszenierungen« des Weiblichen um 1900 (ebd., S. 11) und bezieht sozialgeschichtliche Aspekte nur am Rande mit ein (vgl. ebd.). In dieser Hinsicht kann die vorliegende Untersuchung zur komplementären Geschlechtersemantik das Angebot einer perspektivischen Ergänzung machen.
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
strittene Wahrheit«324 postuliert, erweist sich als Ergebnis und zugleich konstitutives Element einer Strategie der hierarchischen Kategorisierung. Catani zitiert und bewertet Möbius’ »bemerkenswerte[] Schlussfolgerungen« aus der Prämisse der weiblichen Pathologie: »Das normale Verhalten des Kindes ist bei dem Erwachsenen pathologisch, das des Weibes bei dem Manne, das des Negers bei dem Europäer.« Weiblichkeit – das wird rasch deutlich – präsentiert nicht nur »das andere«, sondern stets »das unterlegene«, weil kranke und damit schwächere Geschlecht.325
Indem die Annahme radikaler, unvereinbarer Differenzen an der biologisch fundierten Kategorie ›Geschlecht‹ durchgespielt wird, kann sich das Hierarchisierungsprogramm gegen kulturelle und geschichtliche Relativierung immunisieren und als »natürlich« erwiesene klare gesellschaftliche Strukturprinzipien behaupten, die der sich weiter ausdifferenzierenden Lebenswelt eine verlässliche Ordnung gegenüberstellen. Wie bei Riehls Naturgeschichte des deutschen Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik fungiert ›Geschlecht‹ als Basiskategorie gesellschaftlich-kultureller Strukturierung und Hierarchisierung. Das Problem des historischen Wandels lässt sich dabei über ein sozialdarwinistisches Entwicklungsmodell handhaben, bei dem die Zielrichtung der Entwicklung wiederum in den Prämissen klar vorgegeben ist. Dass die Überlegungen der Mediziner wie Möbius, Richard von Krafft-Ebing und anderen ihrem Anspruch auf empirische Fundierung zum Trotz stark theoriegeleitet sind, hebt auch Catani hervor. Eine Prämisse ist die Koppelung von ›Krankheit‹ und ›Weiblichkeit‹: Die – im Gegensatz zum Mann – generell, gleichsam durch ihr Geschlecht bedingt kranke Frau scheint hinsichtlich der wissenschaftlichen Befunde über die weiblichen Geisteskrankheiten eine Grundprämisse darzustellen, die sämtlichen anthropologischen Abhandlungen vorausgeschickt wird. »Krankheit« meint einen explizit weiblich konnotierten Begriff, der – auch wenn er in Bezug auf den Mann verwendet wird – nichts von seiner generell femininen Determination einbüßt: so werden dem pathologisch auffälligen Mann eben weibliche Eigenschaften zugeschrieben, die seine »Schwäche« begründen.326
324 Catani 2005, S. 21. 325 Catani 2005, S. 21. Zitiert wird der Text von Möbius in der 12., unveränderten Auflage (Halle 1922), hier S. 3. 326 Catani 2005, S. 20. Vgl. dazu auch die Überblicksdarstellung von Schößler zur Geschlechterkrise um 1900 (Schößler 2008, S. 38 – 45) und der »Überlagerung von Weiblichkeit und stigmatisierter Ethnizität« (ebd., S. 41) in Weiningers Geschlecht und Charakter (1903).
Geschlechterkonzeptionen im Wandel
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Diese Beobachtung verweist bereits auf Otto Weiningers Konzept des ›weiblichen Geschlechtscharakters‹, das die Semantik der Geschlechtercharakterologie in kulturkritischer Ausrichtung aktualisiert. Eine weitere Prämisse der anthropologischen Analysen des ›Weiblichen‹ liegt in der Zuschreibung grundsätzlich verschiedener männlicher und weiblicher Dispositionen: Während beim Mann von einem Dualismus von Körper und Geist ausgegangen wird, wird der Frau der ›Geist‹ tendenziell abgesprochen bzw. als nicht vom Körperlichen – und der Sexualität – abtrennbar angenommen. Insgesamt stützen sich die skizzierten Ansätze in ihrer Axiomatik jeweils auf das polaristische Modell der ›Geschlechtscharaktere‹. Von der Fokusverschiebung auf den weiblichen »Gattungscharakter« bei Riehl über Simmels Theorem des Differenzierungsmangels und der größeren Nähe des Weiblichen zum »Naturzustand« bleibt die grundsätzliche oppositionelle Modellierung des Geschlechterverhältnisses erhalten. Allerdings zeigt sich innerhalb der anthropologischen Aktualisierung der Geschlechtersemantik um 1900 eine Verschärfung der Hierarchisierung der Geschlechter hin zu einer deutlich negativen Attribuierung, ja Pathologisierung des ›Weiblichen‹.327 Die Absolutsetzung der Diskrepanz zwischen ›Mann‹ und ›Frau‹ radikalisiert dabei das Polaritätskonzept dergestalt, dass zugleich eine wesentliche Grundlage des Konzepts der Komplementarität der Geschlechter verabschiedet wird: Wenn ›die Frau‹ nur noch Geschlechtscharakter ist, und dieser per se pathologisch, dann ist damit ihre Perfektibilität ausgeschlossen – und letztlich auch die gesamtgesellschaftliche oder ›menschheitliche‹ Vervollkommnung. Statt des Perfektibilitätsgedankens wird eine Degenerationshypothese proklamiert. Ansätzen wie denen von Möbius und Weininger liegt eine radikal-kausalistische und kulturkritische Axiomatik zugrunde, wie sie sich exemplarisch in der zweibändigen, äußerst erfolgreichen ›Skandalschrift‹ Entartung (1892/93) von Max Nordau findet, in der dieser ›Degeneration‹ nicht nur als medizinische, sondern auch gesellschaftliche Diagnose versteht und »der [›modernen‹] Kunst, Kultur und Gesellschaft im Allgemeinen«328 einen defizitären Charakter attestiert. Die Position Nordaus ist dabei dezidiert naturwissenschaftlich-evolutionstheoretisch ausgerichtet329 und bewertet – wie schon Riehl in seiner Naturgeschichte zur bürgerlichen Kleinfamilie, nur jetzt tatsächlich im biologischen Sinne – den wahrgenommenen Abbau der Geschlechterdifferenz als Fehlent327 Vgl. auch Schößler 2008, S. 41, die auf die binäre Differenzierung des Frauenbildes in »Mutter/Hure« (ebd.) hinweist und zusammenfasst: »Um 1900 radikalisierte sich der Geschlechterantagonismus, Weiblichkeit wurde mythisiert und in binäre Bilder aufgespalten, zudem über das Krankheitsbild der Hysterie pathologisiert.« (Ebd., S. 47) Ausführlich siehe dazu die differenzierte Analyse bei Catani 2005. 328 Catani 2005, S. 20. 329 Vgl. Helduser 2005, S. 191.
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
wicklung330 und Abweichung von der »natürlichen« Ordnung. Der Rückbezug auf die polaristische Geschlechtersemantik ist vor diesem kulturkritischen Hintergrund klar ›funktional‹ motiviert, da das ontologisch begründete Geschlechtermodell als verbindliches und kontingenzresistentes Ordnungsschema fungieren kann. Neben der zunächst aus funktionaler Sicht festzumachenden Leistung der Kontingenzreduktion und gesellschaftlichen Basisstrukturierung, wird bei den skizzierten Positionen aber auch eine konkrete Wirkungsabsicht deutlich. Wie bereits im einleitenden Kapitel dieser Arbeit im Rahmen der methodisch-theoretischen Verortung ausgeführt wurde, greifen intentionalistische Deutungen bei der Analyse komplexer Diskurszusammenhänge im Regelfall zu kurz. Dennoch blendet eine grundsätzlich funktionalistische Untersuchungsperspektive das, was Karin Hausen in ihrem Grundlagenbeitrag als »Herrschaftselement«331 bezeichnet, natürlich nicht aus: Gerade das Möbius’sche Pamphlet ist im Kontext der harschen Gegnerschaft zu sehen, die den Verfechtern des Frauenstudiums entgegengebracht wurde. Romana Weiershausen skizziert in ihrem 2007 in IASL erschienenen Beitrag »Literaturgeschichte als Wissenschaftsgeschichte. Wissenschaftlicher Wandel und Literatur in der frühen Moderne: das Beispiel der Frauen« das Spektrum der gängigen Einwände gegen das Frauenstudium: Die wiederkehrenden Argumentationsmuster zeigen die Nachhaltigkeit der Vorurteile der Gegner und Gegnerinnen des Frauenstudiums. Sie beriefen sich auf ein vorgebliches ›Wesen‹ der Frau, eine Strategie, der schwer beizukommen war, da sie sich mit dem herrschenden Geschlechterdiskurs der Zeit im Einklang befand. Argumentiert wurde mit einer geringeren Leistungsfähigkeit des weiblichen Gehirns, mit einer allgemein ›zarten‹ Konstitution, die bei zu großer geistiger Beanspruchung (die schon bei gymnasialer Schulbildung gegeben sei) zu körperlicher Erkrankung führe, einer ›natürlichen‹ Schamhaftigkeit, die die Beschäftigung speziell mit medizinischen Gegen-
330 Wie Urte Helduser jedoch betont, vertritt Nordau keine Dekadenzthese, »weil er davon ausgeht, dass das ›Entartete‹ im Evolutionsprozess aufgrund seiner ›Unfruchtbarkeit‹ unterlegen ist und den gesellschaftlichen Fortschritt nicht aufhalten kann« (Helduser 2005, S. 196). Dieser Anspruch auf terminologische Genauigkeit – wie hier in Bezug auf die klare Unterscheidung zwischen ›Dekadenz‹ und ›Degeneration‹ – ist für Heldusers Studie insgesamt kennzeichnend. An dieser Stelle scheint es jedoch plausibel, auch Nordaus Modell in eine »Traditionslinie« kulturkritisch-gesellschaftstheoretischer Ansätze einzugliedern, die ›Fortschritt‹ und ›Verfall‹ als zwei untrennbar miteinander verbundene Modi ansehen (vgl. Kapitel 2.2.1). In diesem Sinne sind ›Dekadenztheorien‹ und (teleologische) ›Entwicklungstheorien‹ nicht als grundsätzlich unvereinbare Modelle, sondern als Perspektivierungen zu betrachten, die die jeweils andere Komponente immer schon mit evozieren. Bekräftigt wird diese Deutung auch durch den Hinweis auf die Verquickung von biologisch begründeten Degenerationsvorstellungen und dem sich auf kulturellen Niedergang beziehenden Konzept der ›D¦cadence‹ in Ajouri 2009, S. 180 f. 331 Hausen 1976, S. 376. Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 2.1.2.
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ständen verbiete, oder aber – bei gegebener Leistungsfähigkeit der Frauen – mit Degeneration und ›Vermännlichung‹.332
Die Geschlechtercharakterologie fungiert hier in der Tat als Legitimationsschema der Zugangsbeschränkung. Diese Beschränkung ist einerseits zu plausibilisieren mit Blick auf die zentrale Funktion, die der geschlechterdifferenten Aufteilung der Handlungssphären und Aufgabenbereiche innerhalb der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zukommt. Die Abwehr der weiblichen Bildungsund Berufsansprüche ist aus dieser Perspektive zugleich ein Versuch der Vermeidung gesellschaftlicher Destabilisierung wie auch kognitiver Dissonanz, da die komplementäre Geschlechtersemantik Überschreitungen der Rollengrenzen nicht in stärkerem Maße vorsieht.333 Weiershausens Zusammenfassung setzt hier genau die richtigen Akzente: Der Einzug von Frauen in die Alma Mater vollzog sich im Deutschen Reich langsam und gegen erhebliche Widerstände. Die zeitgenössische Publizistik belegt, mit welcher Vehemenz die Debatte seit der ersten Immatrikulation von Frauen an einer deutschsprachigen Universität in der Schweiz (Zürich, 1867) in bürgerlichen Kreisen geführt wurde. Beiträge zur Streitfrage »über die Befähigung der Frau zum wissenschaftlichen Studium und Berufe« finden nicht nur Eingang in die verschiedenen Organe der Frauenbewegung, etwa die von Helene Lange herausgegebene Zeitschrift Die Frau, oder in Periodika, die dem akademischen Milieu verpflichtet waren, wie die Münchener Medizinische Wochenschrift. Die Kontroverse wurde ebenso – und darin spiegelt sich die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Debatte – in den großen übergreifenden Kulturzeitschriften wie der Deutschen Rundschau, der Freien Bühne bzw. Neuen Rundschau und der Gartenlaube ausgetragen.334
Die bürgerliche Ordnung ist durch die Infragestellung der semantischen Opposition von weiblich besetzter Privatsphäre und männlich besetzter Öffentlichkeit einem hohen Problemdruck ausgesetzt. Die im obigen Zitat genannten »Kulturzeitschriften«335 sind diejenigen Publikationsorgane, in denen sich die ›ästhetische Moderne‹ zur ›gesellschaftlichen Moderne‹ positioniert – und das eben keineswegs im Sinne eines sich abzeichnenden Konsens, sondern in Form einer anhaltenden Debatte mit unterschiedlichen Auffassungen, was als gesellschaftlicher (sowie ästhetischer) ›Fortschritt‹ zu werten sei. Die Fraueneman332 Weiershausen 2007, S. 175. 333 Vgl. dazu Weiershausens Arbeit Wissenschaft und Weiblichkeit. Die Studentin in der Literatur der Jahrhundertwende (2004), in der sie vom inhärenten Widerspruch der (historischen) semantischen Merkmalszuweisung von ›Weiblichkeit‹ bzw. ›Frau‹ und ›Wissenschaft‹ ausgeht. 334 Weiershausen 2007, S. 174 f. 335 Zur wichtigen literatur- und kulturgeschichtlichen Quellenfunktion von Kulturzeitschriften vgl. den in IASL erschienenen ausführlichen Beitrag »Kultur – Zeit – Schrift. Literaturund Kulturzeitschriften als ›kleine Archive‹« (2009) von Gustav Frank, Madleen Podewski und Stefan Scherer.
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zipation wird in den entsprechenden Zeitschriften ebenso vehement verfochten wie bekämpft. Neben der Problematik der semantischen Destabilisierung, mit der sich die »erhebliche[n] Widerstände«336 gegen das Frauenstudium plausibilisieren lassen, ist bei den Gegnern im Einzelnen ein klares Interesse der Verteidigung eigener Machtansprüche und Deutungshoheit zu beobachten. So geht es beim wissenschaftlichen Nachweis der mangelnden Studierfähigkeit der Frauen als Gattungswesen nicht zuletzt um die Vermeidung einer unangenehmen (und letztlich wiederum gesellschaftlich destabilisierenden) Konkurrenzsituation: Innerhalb der Debatte spielten Mediziner, insbesondere Physiologen eine zentrale Rolle. Sie waren in doppelter Weise herausgefordert: als Experten in anthropologischen Fragen, zu denen sie im Zuge der positivistischen Wende in den Wissenschaften avanciert waren, und als (zukünftig) ›Betroffene‹, da (neben philologischen Fächern für das höhere Lehramt an Mädchenschulen) vor allem Medizin von den ersten Studentinnen in Zürich als Fach gewählt wurde. Zwei der bekanntesten Schriften von Gegnern des Frauenstudiums stammen von Physiologieprofessoren: Theodor W. Bischoffs Das Studium und die Ausübung der Medicin durch Frauen (1872) und Paul Julius Möbius’ Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes (1900, zahlreiche weitere Auflagen). In diesen Schriften, und das ist für die Diskurskonstellation durchaus typisch, wird aus der Position der anerkannten Autorität heraus argumentiert, der Konstruktion eines weiblichen ›Geschlechtscharakters‹ werden Daten physiologischer Forschung (insbesondere Hirn-Vermessungen) beigegeben, die die Funktion unwiderlegbarer wissenschaftlicher Beweise erfüllen sollen.337
Eigentlich neu waren die Positionen und Argumente der Gegner nicht, wie Ulrich Engelhardt zusammenfasst.338 Die Ontologisierung und Verwissenschaftlichung der komplementären Geschlechtersemantik ist, wie in Kapitel 2.1.3 und 2.1.6 detailliert ausgeführt, ein wesentlicher Begleitprozess ihrer Herausbildung um 1800. Im Laufe des 19. Jahrhunderts läuft der semantische »Absicherungsprozess« der Geschlechterordnung parallel zur Ausdifferenzierung und Institutionalisierung der einzelnen Fachwissenschaften und zum generellen Siegeszug der Naturwissenschaften. Gegen die Ontologisierung des Geschlechtermo336 Weiershausen 2007, S. 174. 337 Weiershausen 2007, S. 175 f. 338 Die Frage nach der Studierfähigkeit der Frauen wird im 19. Jahrhundert keineswegs zum ersten Mal gestellt. So »war der Streit, ›ob das weibliche Geschlechte auch zum Studiren geschickt sey‹, in Gottscheds Vernünftigen Tandlerinnen [sic!] 1738 schon so entschieden als ›abgedroschen‹ disqualifiziert worden, daß es dem Verfasser eines großen Werks über Die Frauen in der Zeit des Aufschwunges des Deutschen Geisteslebens im nachhinein kurzweg ›sonderbar‹ vorkam, daß solcherlei Dispute ›am Ende des neunzehnten Jahrhunderts vielfach wie etwas funkelnagelneues angesehen wurden‹!« (Engelhardt 1992, S. 127) Der im Zitat erwähnte Titel ist Band 1 des zweibändigen Werks Die Frauen in der Geschichte des Deutschen Geisteslebens des 18. und 19. Jahrhunderts von Adalbert von Hanstein (Leipzig 1899/1900; Zitat S. 80).
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dells über das Konzept des ›Geschlechtscharakters‹ hat die Autorin und Frauenrechtlerin Hedwig Dohm bereits 1876 in ihrem Essay Die Eigenschaften der Frau die Forderung gesetzt, den Aspekt der Sozialisation stärker zu berücksichtigen. Dohms Argumentation stützt sich dabei auf wissenschaftstheoretische (und angesichts des naturwissenschaftlichen Anspruchs auf Deutungshoheit auch wissenschaftskritische) Überlegungen: Ich glaube an die seelischen Unterschiede der männlichen und weiblichen Eigenart. Die Feststellung aber, das heißt die wissenschaftliche Begründung dieser Unterschiede geht über die Fassungs- und Erkenntnißkraft unsers Zeitalters hinaus, und wer nicht zauberkundig ist, gleich jenen Sonntagskindern, die im Schooß der Erde ihre verborgensten Schätze erblicken, der wird nimmermehr die tiefsten Geheimnisse der Menschenbrust schauen, ehe Wissenschaft, Erfahrung und geläuterte Vernunft sie erschlossen haben. Ueberzeugungen, deren Quellen Glauben und Gefühl sind, mögen subjectiv für den Inhaber derselben entscheidend sein, für die Erkenntniß sind sie werthlos.339
Insgesamt trifft Dohm in ihrem Essay eine pointierte Unterscheidung zwischen ›faktischer‹ und ›Schein-Empirie‹, die letztlich theoriegeleitet das in der Anschauung des Untersuchungsobjekts findet, was sie zu finden erwartet: Ich weiß, daß Männer, die unsere höchste Achtung und Verehrung erheischen, wie Virchow und andere, meine Meinung nicht theilen, sondern unmittelbar von der körperlichen Organisation der Frau ganz bestimmte Eigenschaften des Charakters ableiten. So spricht es Virchow in seiner Schrift: »Die Zelle und das Weib« entschieden aus, daß als Folge eines bestimmten körperlichen Organs, einer Drüse, das Weib ausgestattet sei mit »Tiefe des Gefühls, der Wahrheit der unmittelbaren Anschauung, Sanftmuth, Hingebung, Treue.« Virchow spricht diese Ansicht in der Form eines wissenschaftlichen Resultats aus. Ehe ich aber einer solchen Ansicht als einer bewiesenen wissenschaftlichen Wahrheit beizupflichten mich entschließen kann, möchte ich fragen, zu welcher Kategorie von Wesen die Anhänger obiger Meinung diejenigen Frauen rechnen, die keiner Tiefe des Gefühls, keiner Wahrheit der unmittelbaren Anschauung, keiner Sanftmuth, Hingebung und Treue fähig sind? Frauen, deren Existenz doch nicht abzuleugnen ist. Es müßten entweder diese weiblichen Geschöpfe in die Klasse der Abnormitäten, der Ungeheuer, die gegen den Willen der Natur in’s Dasein getreten sind, verwiesen werden, oder der Beweis, daß eine Drüse des Weibes Ursache und Quelle der angeführten Eigenschaften ist, wäre nicht geführt.340
Statt der aus ihrer Sicht unwissenschaftlichen monokausalen Deutungsperspektive, die die Empirie vernachlässigt, proklamiert Dohm ein Wissenschaftskonzept, das sich der langwierigen, interdisziplinären Untersuchung komplexer Zusammenhänge verschreibt und anstatt mechanistische Ursachenforschung zu betreiben über Funktionen argumentiert: 339 Dohm 1876, S. 53. 340 Dohm 1876, S. 53 f.
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
Daß unser Auge zum Sehen bestimmt ist, läßt sich aus seiner Construktion wissenschaftlich, mit mathematischer Gewißheit beweisen. Die Erfahrung bestätigt die Wissenschaft – wir sehen, und nur bei Verletzung oder Störung des Sehapparates tritt Erblindung ein. Wenn nun das weibliche Organ der Frau in voller Gesundheit funktionirt und sie zeigt dennoch keine Spur von Tiefe des Gemüths, Sanftmuth u.s.w., so würde ich das für einen Beweis halten, daß ein absolut nothwendiger Zusammenhang zwischen dieser körperlichen Bildung und den angeführten Eigenschaften nicht vorhanden ist.341
Um 1900 treten Medizin, Psychologie und speziell die Neurowissenschaften mit einem enormen Selbstbewusstsein auf, so dass Dohms Kritik, es handle sich bei den Aussagen über die ›Geschlechtscharaktere‹ um »Glauben und Gefühl«342 an dem uneingeschränkten Wissenschaftsanspruch der entsprechenden Disziplinen abprallen muss. Wie in Kapitel 3.2.6 zur diskursiven Verzahnung von Literatur und Pädagogik im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert gezeigt werden soll, werden jedoch gerade im Kontext der naturalistischen Darwinismusrezeption anthropologische Konzepte verhandelt, die sich von den kausalistischen Deutungsansätzen der zeitgenössischen Forschung dezidiert abgrenzen. Insgesamt wird im zweiten Hauptteil der Arbeit die in der Naturalismusforschung noch immer weitgehend proklamierte ›Determinationshypothese‹ zu problematisieren sein, die etwa Dramen wie Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) als handlungs- bzw. konfliktgenerierendes Axiom zugrunde liegen soll.343 Das folgende Kapitel zu ›weiblicher Identität‹, ›Subjektivität‹ und ›Exklusionsindividualität‹ greift zunächst noch einmal einen Aspekt auf, der vorangehend bereits gestreift wurde: die Frage nach dem Zusammenhang gesellschaftlichen und semantischen Wandels in Bezug auf die Konstitution ›weiblicher Identität‹ bzw. deren literarische Diskursivierung. Die Frage nach der Relation von Literatur und ›Weiblichkeit‹ mit Blick auf das Thema ›weibliche Autorschaft‹ und ›weibliche Subjektivierung‹ wird mit konkretem Bezug auf den Naturalismus als erster umfassenden Phase der Diskursivierung der Geschlechterkrise in Kapitel 3.1.3 zu beleuchten sein.
341 Dohm 1876, S. 54 f. 342 Dohm 1876, S. 53. 343 So weist Barbara Beßlich in ihrem Aufsatz »Anamnesen des Determinismus, Diagnosen der Schuld. Ärztlicher Blick und gesellschaftliche Differentialdiagnostik im analytischen Drama des Naturalismus« (2008) anhand von Hauptmanns Vor Sonnenaufgang auf die determinationsskeptischen Tendenzen des deutschen Naturalismus hin; vgl. dazu Kapitel 3.2.4.
Geschlechterkonzeptionen im Wandel
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2.2.5 ›Weibliche Identität‹, ›Subjektivität‹ – und Exklusionsindividualität? Das »Jahrhundert des Individuums«344, also die historische Konstellation, in der sich die ›moderne‹ Individualitätssemantik herausgebildet und diskursiv etabliert hat, liegt zur Zeit des Naturalismus – der im zweiten Hauptkapitel der Untersuchung als ›Scharnier‹ der literarischen Moderne in den Blick zu nehmen sein wird – bereits weit zurück. Der semantische Wandel von der Inklusions- zur Exklusionsindividualität ist um 1800 ebenso vollzogen wie der gesellschaftsstrukturelle Wandel von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung, mit welchem er im wechselseitigen Verhältnis steht. Wie im einleitenden Kapitel der Arbeit jedoch ausgeführt wurde, ist beim Rekurs auf den semantischen und gesellschaftsstrukturellen Wandel im 18. Jahrhundert stets zu bedenken, dass von einem Umbau der primären gesellschaftlichen Strukturierungsform in oben genannter Weise gesprochen wird, was »Reste« anderer Strukturierungsformen auf sekundärer Ebene nicht ausschließt. Primär liegt seit dem 18. Jahrhundert also eine funktional differenzierte Sozialstruktur vor, und primär kann der Einzelne seine Individualität nur über die Abgrenzung zu den Rollenanforderungen der einzelnen gesellschaftlichen Funktionssysteme konstituieren, statt über die Zugehörigkeit zu einem »Ganzen«. Dennoch bestehen bis ins 19. Jahrhundert hinein gesellschaftliche Bereiche fort, in denen eine »Totalintegration«345 des Einzelnen konzeptuell angelegt ist: dies sind die Bereiche Arbeit bzw. Beruf und Ehe bzw. Familie. Hier überdauerten – wie Philip Ajouri in seiner Einführung zur Literatur um 1900 anknüpfend an Horst Thom¦ schreibt – »alte Bestandteile der Inklusionsindividualität«346. In seinem grundlegenden Beitrag »Modernität und Bewußtseinswandel in der Zeit des Naturalismus und des Fin de siÀcle« weist Thom¦ darauf hin, dass sich auch im 19. Jahrhundert, nachdem um 1800 bereits die generelle Umstellung der Individualität durch Inklusion auf die Individualität durch Exklusion erfolgt ist, noch »Relikte«347 der alten, auf stratifikatorischer Ordnung basierenden Inklusionsindividualität finden. Um 1900 werden diese Relikte nun endgültig zersetzt und die letzten ›Schutzräume‹ abgebaut, die eine Abwehr der Folgen von Rollenpluralisierung des Einzelnen versprachen. Die Familie ist in der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur Sozialisationsagentur, sondern fungiert mit ihrer Basisstrukturierung und klaren Rollenverteilung anhand der Kategorie ›Geschlecht‹ auch als entsprechendes Refugium, das soziale und semantische Differenzierungsfolgen abfangen soll. Wie in den vorangehenden Kapiteln 344 345 346 347
Vgl. Jannidis 1996. Nassehi 1997, S. 123 f. Ajouri 2009, S. 13. Thom¦ 2000, S. 23.
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
ausgeführt wurde, steht ›die Frau‹ innerhalb des um 1800 diskursivierten komplementären Geschlechtermodells metonymisch für das Heim, dessen Stabilisierungsfunktion – und Stabilität – im Verlauf des 19. Jahrhunderts im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung mehr und mehr gefordert wird. Günter Häntzschel fasst die Kompensationsfunktion der Familie und der weiblichen Rollenkonzeption – wie wir sie etwa bei Riehl und Simmel, aber auch innerhalb der Programmatik der bürgerlichen Frauenbewegung beobachten konnten – in seiner Darstellung zu »Geschlechterdifferenz und Dichtung« in der Hanser Sozialgeschichte wie folgt zusammen: Je mehr die öffentliche Lebenswelt durch die als bedrohlich empfundenen Entwicklungen in Industrialisierung, Volkswirtschaft, Politik und Naturwissenschaft verändert wird und ein Klima mentaler Irritationen hervorruft, desto stärker bemüht man sich, die häusliche Welt stabil zu erhalten, das abgeschirmte Heim als Refugium hochzuschätzen, in der Familie Schutz vor den Bedrängnissen des Alltags und der Umwelt zu suchen und die Frau als Bewahrerin der ersehnten Ordnung zu verehren.348
Wie Thom¦ und auch Ajouri jedoch anmerken, wird die Möglichkeit, sich innerhalb der Bereiche Arbeit bzw. Beruf und Ehe bzw. Familie als Individuum zu verorten, um 1900 aufgrund der sich wandelnden gesellschaftlichen Realität von Familie und Arbeit und der »ihnen kulturell zugeschriebenen Bedeutungen«349 massiv in Frage gestellt: Vor allem die Mitglieder bürgerlicher Schichten definierten ihre Identität über einen Eliteberuf, dem sie immer noch einen persönlichen Bildungswert zuschreiben konnten. Gleichwohl eintretende Erfahrungen von Fremdbestimmtheit wurden wohl durch die Familie ausgeglichen. Nach bürgerlichem Selbstverständnis ist sie nicht der gesellschaftlichen Rationalität verpflichtet, sondern in der zweckfreien personalen Liebe der Gatten begründet und konnte deshalb als Ort des selbstbestimmten Lebens eingeschätzt werden. Der eigentliche Mensch verwirklicht sich in der familiären Intimität. Er tritt hier zudem in eine Welt ein, die vor dem unberechenbaren und irritierenden Wandel menschlicher Stimmungen, Emotionen und Triebimpulse geschützt ist, da der Status der Mutter, des Vaters oder der Kinder nicht als gesellschaftlich erzeugte und damit veränderbare Rollen erkannt, sondern als Naturformen der Liebe interpretiert werden. Wenn aber Beruf und Familie den Menschen ausmachen, dann dauern in der funktional differenzierten Gesellschaft Relikte der alten Inklusionsindividualität fort. Diese zerfallen um 1900 und lösen so eine Krise der individuellen Handlungsregulierung aus.350
Unter der »Krise der individuellen Handlungsregulierung« lässt sich das Kontingentwerden überindividuell gültig erachteter Vorstrukturierungen individueller Handlungsräume verstehen – oder einfacher gesagt: das Schwinden 348 Häntzschel 2000, S. 57. 349 Ajouri 2009, S. 13. 350 Thom¦ 2000, S. 23.
Geschlechterkonzeptionen im Wandel
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klarer Orientierungen darüber, wie ein geglückter Lebenslauf aussehen kann und auf welche Weise er zu bewerkstelligen ist. Betroffen von dieser Krise sind grundsätzlich Personen beiderlei Geschlechts, allerdings ist der strukturelle und semantische Wandel um 1900 besonders vor dem Hintergrund des komplementären Geschlechtermodells mit seiner Zuordnung der Frau zur Sphäre des ›Heims‹ und der Familie folgenreich. Ajouri vermerkt, dass ›die Frau‹ innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ihre Individualität aufgrund der stark beschränkten Teilhabe an den verschiedenen gesellschaftlichen Systemen351 »nur über ihre Zugehörigkeit zur Familie bestimmen«352 konnte. Die gesellschaftlichen und semantischen Veränderungen im Bereich von Ehe und Familie, welche in einem Verhältnis der wechselseitigen Rückkoppelung stehen, führen nun um 1900 zu einer »Freisetzung« der Frau aus dem familiären Inklusionsraums. An dieser Stelle ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass mit dieser Beobachtung keine sozialgeschichtliche Umwälzung im Sinne einer statistisch nachweisbaren immensen Abnahme von Eheschließungen oder Zunahme von Scheidungen zum Ende des 19. Jahrhunderts postuliert werden soll.353 Die Destabilisierung von Ehe und Familie sowie die Pluralisierung der gesellschaftlich möglichen Lebensentwürfe müssen in der historischen Realität nicht notwendigerweise in einem wahrzunehmenden Ausmaß konkret manifestiert sein. Allein das Vorhandensein von Alternativentwürfen führt jedoch zur weiteren Destabilisierung des komplementären Geschlechtermodells und erhöht den Problemdruck in Bezug auf Stabilisierungsversuche desselben. Dies unterstreicht auch Thom¦:
351 Auch wenn die feministische Repressionshypothese aufgrund ihrer intentionalistischen Axiomatik aus Sicht der vorliegenden Arbeit nicht haltbar ist, darf nicht vergessen werden, dass die bürgerliche Gesetzgebung Frauen bis ins 20. Jahrhundert sowohl im öffentlichen wie im privaten Bereich rechtlich stark einschränkte und unter männliche Obhut stellte: »Erst mit der Gesetzgebung der Weimarer Republik wurde in Deutschland die volle Rechtsfähigkeit und politische Mündigkeit der Frau anerkannt. Ihre gesetzliche Bindung an den Haushalt jedoch blieb bis in die Familiengesetzgebung der Bundesrepublik hinein erhalten. Das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 bestimmte noch kategorisch, daß die Frau den Haushalt für den Mann zu führen habe. Erwerbsarbeit war damit Sache des Mannes, während verheiratete Frauen sich auf die Familie konzentrieren sollten. […] Noch im Familienanpassungsgesetz von 1957 wurde die Haushaltstätigkeit der Frau als Normalzustand definiert. Erwerbstätigkeit war ihr nur gestattet, ›soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist‹.« (Gestrich 1999a, S. 28 f.) Die in Kapitel 1.2.4 skizzierte feministische Hypothese der Subordination lässt sich mit Blick auf diese historische Gesetzeslage diskursiv eindrücklich belegen. 352 Ajouri 2009, S. 13. 353 Vgl. dazu Mellmann 2008, S. 7, Anm. 20.
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
Es scheint, als sei das Krisenbewußtsein nicht so sehr durch eine Veränderung der realen Lebensverhältnisse als durch deren ›moderne Semantisierung‹ ausgelöst worden.354
Durch die Entstehung von Alternativmodellen, die zur bürgerlichen Ehe- und Liebeskonzeption in Konkurrenz stehen, wird ein Maß an Kontingenz erzeugt, das unabhängig von der »Veränderung der realen Lebensverhältnisse« eine ganz und gar »reale« Bedrohung für die tradierten Modelle darstellt.355 Wenn es alternative Entwürfe gibt, so heißt das: es könnte auch anders sein. Die a priori bestehende Gültigkeit, auf der das von Thom¦ beschriebene bürgerliche Ehemodell gründet, wird im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr in Frage gestellt und das Modell so in seinen Grundfesten erschüttert. In ihrer Dissertation zur ›Liebe‹ als Folgeproblem von Individualität in der Literatur um 1900 beschreibt Uta Klein den »Verlust von Privatkohärenz«356 und die Relevanz von ›Liebe‹ als Stabilisierungsstrategie des Subjekts als konstitutiv für die moderne Individualitätssemantik. Gemeint ist damit, dass sich in Folge der Auflösung des Kompensationsmodells ›Heim‹ Liebe im Sinne der Liebesbeziehung zweier Partner als einzig verbleibender potentieller Stabilisierungsort des Einzelnen (und gewissermaßen ›Vereinzelten‹) herausbildet – wenngleich das Zustandekommen von Liebesbeziehungen deutlich unwahrscheinlicher geworden ist und eine Verstetigung derselben nicht möglich scheint. Der Austritt der Frau aus dem ›Heim‹ lässt sich mit Klein verstehen als weibliche Exklusion und autonome Individualisierung:357 Um 1900 bedeutete ›Emanzipation‹ vor allem Austritt aus der Inklusionssphäre des »Heim[s]« und Eintritt in die Exklusionssphäre der »Welt«. Die Familie verliert für die Frau ihre Funktion als identitätsbestimmendes Stratum. Die Möglichkeit der Teilhabe an den Teilsystemen der öffentlichen Welt einerseits und die Entbindung von dem einen festen Bestimmungsort Familie andererseits exkludiert sie nun ihrerseits in vollem Umfang, wie das für das männliche Individuum seit Mitte des 18. Jahrhunderts gilt.358
354 Thom¦ 2000, S. 24. Thom¦ handhabt das Problem der Modellierung des Verhältnisses von Gesellschaft bzw. sozialer ›Wirklichkeit‹ und Literatur, indem er einerseits auf den wirklichkeitskonstitutiven Charakter literarischer Darstellungen verweist, andererseits auf den Umstand, dass Zeitgenossen bestimmte Ereignisse, Phänomene und Entwicklungen als signifikant und hochfrequent bewerten, auch wenn die nachträgliche Betrachtung der Realgeschichte zu anderen Ergebnissen kommt. 355 Auf diese Zusammenhänge wird in Kapitel 3.2 zu den Voraussetzungen und Verhinderungen glückender Paarbeziehungen näher einzugehen sein. 356 Klein 2004 [in Druckvorbereitung], S. 4. 357 Vgl. Klein 2004 [in Druckvorbereitung], S. 4. 358 Klein 2004 [in Druckvorbereitung], S. 29 f.
Geschlechterkonzeptionen im Wandel
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In dieser für die vorliegende Untersuchung sehr anschlussfähigen Zuspitzung wird die Notwendigkeit deutlich, die grundlegend von Niklas Luhmann formulierten und in der literaturwissenschaftlichen Forschung umfänglich gestützten Thesen zum semantischen Wandel von Identitätskonstitution359 mit Blick auf die Kategorie ›Geschlecht‹ zu spezifizieren. Wie in Kapitel 2.1.5 bereits angemerkt, bezieht sich das Luhmann’sche Theorem der Umstellung von Inklusions- auf Exklusionsindividualität im 18. Jahrhundert spezifisch auf das männliche Individuum, wenngleich diese Referenz nicht explizit gemacht wird. Weibliche Exklusionsindividualität ist angesichts der Zuweisung des Funktionsraums ›Haus‹ und ›Familie‹ innerhalb der bürgerlichen Geschlechter- und Gesellschaftsordnung gerade nicht der Regelfall. Wie bei Wilhelm Heinrich Riehl, Georg Simmel oder auch bei Leo Berg zu beobachten war, wird ›weibliche Individualität‹ grundsätzlich als gesellschaftliche Fehlentwicklung und aufgrund des ›weiblichen Gattungscharakters‹ letztlich als contradictio in adiecto aufgefasst. Nichtsdestotrotz bringt Leo Berg die Umbruchsituation des Ge359 Die Begriffe ›Identität‹ und ›Individualität‹ werden in der Forschung je nach Axiomatik der Ansätze in unterschiedlicher Relation zueinander gesetzt. Exemplarisch für eine Ausrichtung, die emphatisch von der Existenz des ›autonomen Subjekts‹ ausgeht, sei der Beitrag »Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs« des Psychologen Jürgen Straub angeführt, der in dem von Aleida Assmann und Heidrun Friese herausgegebenen Band Identitäten (1998) erschienen ist, der auch den Beitrag von Inka Mülder-Bach zu Simmels Konstitution des ›Weiblichen‹ enthält (vgl. Kapitel 2.2.3). Aus Straubs Sicht stehen »die Begriffe Identität und Individualität für zwei sachlich unbedingt zu unterscheidende Aspekte einer Theorie menschlicher Subjektivität« (Straub 1998, S. 78): »Begriffsgeschichtlich und theoretisch plausibler als die Behauptung, Identität sei von Individualität abhängig (vice versa), ist der Gedanke, das eine als Widerpart des anderen zu begreifen. Das Individuelle erscheint in dieser Perspektive als das prinzipiell nicht Identifizierbare und auch in die personale Identität nicht integrierbare. Vielmehr wird das Individuum als eine ›Instanz‹ verstanden, die in keiner Ordnung, keiner Struktur rationalen Wissens, keiner Sprache, keiner Grammatik, keinem Zeichensystem, keiner Hermeneutik restlos aufgeht, also niemals vollständig vermittelbar und mitteilbar ist: individuum est ineffabile.« (Ebd.) Dieser letztlich idealistisch ausgerichteten Begriffsdefinition lässt sich als exemplarische funktionalistische Modellierung diejenige der Soziologen Cornelia Bohn und Alois Hahn gegenüberstellen. In ihrem Beitrag »Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung: Facetten der Identität in der modernen Gesellschaft« (1999) grenzen Bohn und Hahn die Begriffe ›Identität‹ und ›Individualität‹ auf der Basis einer strukturellen Distinktion ab: »Während wir Individualität als eine Form der Schließung auffassen, die das Besondere vom Allgemeinen und Individuen von anderen Individuen unterscheidet, fassen wir Identität als Beschreibung von Individualität auf.« (Bohn / Hahn 1999, S. 36) ›Identität‹ und ›Individualität‹ stehen also nicht in Opposition zueinander, sondern bezeichnen zwei unterschiedliche Ebenen. Wie die Autoren verdeutlichen, gibt es auch beim modernen Exklusionsindividuum zwei Teilaspekte der Identitätskonstitution, nämlich Selbstreferenz und Fremdreferenz (vgl. ebd., S. 38). Das Spezifikum der Moderne ist nun nach Bohn und Hahn, dass der Aspekt der biographischen Identität und damit der Abgrenzung im Vordergrund steht, insofern als sich die Semantik von Inklusion wie Exklusion verändert hat und dem Problem der Exkludiertheit des Individuums zu begegnen ist.
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schlechtermodells mit seinem bereits oben zitierten Ausspruch auf den Punkt: »Schließlich ist das moderne Weib aber nicht nur Weib, sondern auch I n d i v i d u u m ; das moderne Weib will sogar seine Individualität entdeckt haben.«360 Das Diktum von der vermeintlichen »Entdeckung« der Individualität ist innerhalb literatur- und kulturwissenschaftlicher Forschung mittlerweile nur noch selten vorzufinden. Innerhalb der gender-orientierten Forschung ist jedoch im Kontext der positiven Wertungskriterien ›weiblicher Subjektkonstitution‹ und ›Autonomisierung‹ eine gewisse Affinität zum ›Entdeckungspostulat‹ zu beobachten. Auch hier zeigt sich die Notwendigkeit, klar zwischen der historischen (Selbst-)Beschreibung – wie etwa Leo Bergs sarkastischem Kommentar – und der systematischen Analyse zu unterscheiden. So weisen Karl Eibl und Marianne Willems darauf hin, dass »zum richtigen Begreifen der Problematik [der] modernen Individualität ein teleologisches Vorurteil«361 abgeworfen werden müsse: Individualität im Sinne solcher semantischer Handhabung von Exklusion [wie Niklas Luhmann sie beschreibt, N.I.] wird nicht ›entdeckt‹, sie ›erwacht‹ nicht, als sei sie Jahrzehntausende lang verschollen gewesen oder habe geschlafen, sondern sie wird eigens erfunden und erzeugt, um die Exklusion abzustützen und für die Individuen möglichst unschädlich zu handhaben.362
Auch ›weibliche Individualität‹ wird um 1900 nicht einfach entdeckt und im Sinne einer ›emanzipativen Befreiung‹ beansprucht, sondern dient als semantische Problemlösungsstrategie der Handhabung von zunehmender Exklusion bzw. Multiinklusion. In Kapitel 3.1.3, das näher auf die Diskursivierung der Krise des Geschlechtermodells im Kontext des Naturalismus eingeht, werden wichtige Aspekte der Neuverortung von ›Geschlecht‹ in der ›literarischen Moderne‹ zu beleuchten sein.
2.2.6 Zusammenfassung: Stabilisierungen, Krise und diskursive Relevanz der Geschlechtersemantik um 1900 Wie vorangehend gezeigt wurde, erfährt die komplementäre Geschlechtersemantik und die mit dieser korrespondierende polaristische Geschlechtercharakterologie im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl an Stabilisierungsversuchen. Unter erheblichem diskursiven Aufwand und mithilfe einer am naturwissenschaftlichen Diskurs orientierten Rhetorik werden in Schriften wie 360 Berg 1901 [1899], S. 86. Vgl. Kapitel 2.2.3, S. 147. 361 Eibl / Willems 1996, S. 4. 362 Eibl / Willems 1996, S. 4.
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Wilhelm Heinrich Riehls Die Familie (1855) die normativen Konzepte des bürgerlichen Geschlechtermodells als »natürliche Ordnung« proklamiert. Zwei zentralen Schlagworten des naturwissenschaftlich und ab den 1860er Jahren spezifisch darwinistisch363 geprägten 19. Jahrhunderts – ›Fortschritt‹ und ›Entwicklung‹ – kommt im Kontext zum Teil konträr ausgerichteter Ansätze eine wichtige Rolle zu. So deklariert Riehl sein kulturkonservatives Programm der Bewahrung der ›Familie‹ als der wichtigsten Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft wie oben gesehen klar als fortschrittsorientiert. Demgegenüber sucht die bürgerliche Emanzipationsbewegung gerade den von Riehl gefürchteten Austritt der Frau aus dem ›Heim‹ als notwendigen (Fort-)Schritt auf dem Weg der gesellschaftlich-menschheitlichen ›Veredelung‹ zu legitimieren. Wie in Kapitel 2.2.2 ausgeführt, ist die bürgerliche Frauenbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwar nicht mehr im gleichen Maße radikalaufklärerisch ausgerichtet wie im Kontext der Französischen Revolution oder um 1848, sie bleibt aber trotz ihres Pragmatismus klar am aufklärerischen Perfektibilitätskonzept orientiert. Dieses fungiert als semantischer ›Hebel‹, um auf der Basis einer grundsätzlichen Affirmation des Komplementärmodells die zunehmende Durchlässigkeit der Grenzen geschlechtsspezifisch definierter Handlungsräume – vor allem in Bezug auf den Zugang zu Bildungsinstitutionen und professionalisierten Berufen – einerseits als notwendigen Wandel zu bekräftigen. Andererseits liefert das Perfektibilitätskonzept eine erprobte Semantik, um diesen Veränderungsprozess überhaupt erst semantisch handhabbar zu machen und ihn statt als ›Problem‹ und ›Krise‹ als gesellschaftlichen Fortschritt identifizieren zu können. Auch Georg Simmel knüpft in seinen Schriften zur weiblichen Soziologie und Psychologie, wie gezeigt wurde, klar an die Komplementärsemantik und das Konzept der polaristischen Geschlechtscharaktere an und konzipiert das ›Weibliche‹ als Kompensationsprinzip, das dem (grundsätzlich positiv gewerteten) gesellschaftlichen Differenzierungs- und Individualisierungsprozess als notwendige Ergänzung gegenüber steht. Dabei ist die Simmel’sche Aktualisierung der Konzepte, wie Inka Mülder-Bach vermerkt, nicht einem eindeutigen kulturpolitischen Ziel geschuldet, sondern durch theorieinhärente Zusam363 Vgl. dazu etwa die bereits in Kapitel 2.1.3 erwähnte Untersuchung von Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848 – 1914 (2002); sowie die Studie von Werner Michler, Darwinismus und Literatur. Naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich 1859 – 1914 (1999). Zu Inszenierungs- und Popularisierungsstrategien in der Wissenschaftsvermittlung des 19. Jahrhunderts siehe allgemein den Band von Samida (Hg.) 2011, darin besonders den Beitrag von Christoph Gradmann zur Übernahme bakteriologischer Konzepte in den politischen Diskurs sowie den Beitrag von Eva-Marie Engels zur Darwin-Rezeption und -Stilisierung innerhalb des Wissenschaftsdiskurses des 19. Jahrhunderts.
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menhängen motiviert. Wie in den vorangehenden Abschnitten deutlich wurde, ist im Laufe des 19. Jahrhunderts ein stetiger Prozess der ›Verwissenschaftlichung‹ des bürgerlichen Geschlechtermodells zu beobachten, in deren Kontext auch Simmels Geschlechtersoziologie zu sehen ist. Um 1900 werden die Komplementärsemantik und die weibliche Charakterologie auf breiter Basis Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses und der u. a. soziologischen, psychologischen und medizinischen Analyse. Insgesamt ist zu beobachten, dass die Stabilisierung des komplementären Geschlechtermodells trotz umfänglicher Anstrengungen offenbar nicht auf Dauer gewährleistet werden kann: Die Realisation der auf der Komplementärsemantik beruhenden Zuweisung geschlechtsspezifischer sozialer Rollen und Handlungsräumen wird in der gesellschaftlichen Wahrnehmung immer unwahrscheinlicher, wie die Schlagworte der ›Frauenfrage‹, der ›Jungfern- oder Mädchenfrage‹364 und der anhaltende, nicht zuletzt in Zeitschriften wie Die Gesellschaft und Freie Bühne bzw. Neue Deutsche Rundschau geführte Diskurs um die weibliche Emanzipation anzeigen. Das Paradigma der polaristischen ›Geschlechtscharaktere‹ erfährt dabei im Laufe der Zeit eine Fokusverschiebung auf den ›weiblichen Geschlechtscharakter‹. Innerhalb der anthropologischen Ansätze um 1900 wird das ontologisch begründete Modell der polaristischen ›Geschlechtscharaktere‹ dergestalt radikalisiert, dass es der Komplementaritätsthese letztlich konträr gegenübersteht: Das ›pathologische Weibliche‹ kann die Bedingungen der Möglichkeit von Perfektibilität nicht erfüllen. Auf der anderen Seite erweist sich die (weibliche) Geschlechtercharakterologie in ihrer popularisierten Form um 1900 als äußerst präsentes und produktives Schema, dessen Strukturfunktion sowie Stabilisierung eng mit der Herausbildung der Massenmedien verbunden ist – und nicht zuletzt mit dem sich in dieser Zeit rasant entwickelnden Bereich der (Bild-)Reklame.365 Die mit Typisierungen und Stereotypen arbeitende Werbung ist zum einen auf eine für den potentiellen Konsumenten transparente Bildsprache und klare Verständlichkeit der verwendeten Zeichen angewiesen und macht sich zum anderen Assoziationsspielräume derselben zu Nutze, die auf eine Funktionalität hinter
364 Siehe Mellmann 2008. 365 Etwa ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist mit Werner Faulstich ein medialer Visualisierungsschub zu beobachten, der unter anderem vom Medium des (Flug-)Blatts ausgeht (vgl. Faulstich 2004, S. 125 – 144). Im Zuge der zunehmenden Verbreitung des (Werbe-)Plakats sind visuelle Darstellungen unterschiedlicher Funktion in der Öffentlichkeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich omnipräsent: »Im Industrie- und Massenzeitalter spielte das Plakat eine größere Rolle als jemals zuvor. Als Medium trug es insgesamt mit seinem Wandel vom Schriftplakat zum Bildplakat entscheidend zur Verbildlichung des öffentlichen Raumes bei.« (Ebd., S. 145)
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den ökonomischen Interessen verweisen. So hebt Werner Faulstich die Identifikations- und Distinktionsfunktion hervor, die Reklame für Käufer hat: Werbung wurde für Massenartikel und in größerem Umfang ab 1890 auch für Markenartikel und Luxusgüter betrieben, mit denen vordergründig mehr Qualität zu einem höheren Preis angeboten wurde, hintergründig aber vor allem der Wust des unüberschaubar gewordenen Angebots auch sozial, schichtenspezifisch, zum Ausweis von Rang und Status der Käufer gegliedert und durchsichtig wurde.366
Dabei setzen sich insgesamt, wie Faulstich betont, die »klassischen bürgerlichen Geschlechtscharaktere in ihrer hierarchischen Positionierung innerhalb der Kleinfamilie«367 in der Werbung voll durch. Weshalb dies so ist, lässt sich meines Erachtens mit Blick auf den Rezipientenkreis von Reklame plausibilisieren: Die potentiellen Käufer, um die etwa in illustrierten Familien- und Unterhaltungszeitschriften mit Anzeigen geworben wird, gehören zum Großteil eben denjenigen gebildeten bürgerlichen Kreisen an, für die die Orientierung an der komplementären Geschlechtersemantik grundlegend ist. Der Anteil weiblicher Leser der entsprechenden Magazine ist dabei – der Rollenaufteilung gemäß – als hoch einzuschätzen.368 Ähnlich wie ›Schemaliteratur‹ oder die außerliterarische Textgattung der Anstandsbücher und Haushaltsratgeber, auf die in Kapitel 3.2.6 noch näher einzugehen sein wird, ist ›Reklame‹ als klar funktionsgebundene (Text-)Gattung, die sich die ›unmittelbare‹ Wirkung visueller Darstellungen zunutze macht, eng an gepflegte Semantiken geknüpft. In beiden Fällen ist die Identifikationsmöglichkeit grundlegend für den Verkaufserfolg; während Anstandsbücher zentral auf eine Einübung und Festigung tradierter Normen und Rollenmodelle abzielen, greift Reklame strategisch auf dieselben zu, um über die oben angesprochenen Identifikations- und Distinktionsangebote das beworbene Produkt auf dem Markt zu platzieren und gegenüber der Konkurrenz durchzusetzen. Wie ausgeführt wurde, ist die Frage nach dem gesellschaftlichen Ort ›der Frau‹, nach ihrer ›Natur‹ (im Gegensatz zu der von Hedwig Dohm angeklagten gesellschaftlichen »Dressur«) und nach dem ›weiblichen Subjekt‹ im Zuge der Frauenbewegung etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts innerhalb eines eigenen gesellschaftlichen Diskurses etabliert und wird äußerst konträr diskutiert.369 Der Literatur kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Rele366 Faulstich 2004, S. 156 f. 367 Faulstich 2004, S. 159. Die Werbewirksamkeit des ›Weiblichen‹ ist in der Forschung zur Reklame um 1900 gut dokumentiert, vgl. ebd. 368 Vgl. grundlegend die Ausführungen zur Geschichte des Lesens von Erich Schön im Handbuch Lesen (1999), hier besonders S. 51. 369 So fasst etwa Eda Sagarra in ihrem Überblick zur Situation von deutschsprachigen Autorinnen der Zeit von 1900 bis 1933 zusammen: »Though the actual yield in terms of giving women greater access to civic and political rights may have been meagre, the previous
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›Weiblichkeit‹ zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹
vanz zu, da diese einerseits interdiskursive Bezüge herstellt und gesellschaftliche Debatten in literarischen Fallbeispielen zugespitzt aufgreift, auf der anderen Seite als Medium der Generierung fiktionaler Welten wesentlich an der Auslotung neuer Möglichkeiten der Semantisierung der Geschlechterdifferenz beteiligt ist. Im Folgenden wird mit der in sich heterogenen ›Scharnierepoche‹ des Naturalismus die initiale Phase der literarischen Diskursivierung der Geschlechterkrise in den Blick genommen. Anhand der kontextualisierenden Analyse poetologisch-programmatischer Essays sowie naturalistischer Dramentexte soll herausgearbeitet werden, in welcher Weise zum einen die Krise der Geschlechtersemantik als kulturell-soziale Problemstellung wie auch als Sinnbild der Moderne bzw. des Fortschritts und der modernen »Umwertung aller Werte«370 verhandelt wird. Zum anderen wird zu zeigen sein, wie über die spezifische Wirkungsästhetik naturalistischer Dramatik eine Annäherung an den zeitgenössischen Diskurs der Pädagogik stattfindet, innerhalb dessen entwicklungstheoretischer Axiomatik eine Aufwertung der Komplementärsemantik unter einer gleichzeitig dezidierten Abgrenzung vom Modell des ›weiblichen Geschlechtscharakters‹ zu beobachten ist. decade had witnessed in many areas of social and political life a degree of popular mobilization hitherto unknown, in the broad context of which the women’s question established itself in the public mind. The first decade of the new century was to see the struggle for women’s rights firmly placed on the political agenda. Political parties, however little some might sympathize with the aims of what was now widely accepted as die Frauenfrage, felt nonetheless under constraint to respond or at least to be seen to respond to it.« (Sagarra 1993, S. 1 f.) Selbst politische Parteien, die nicht die Zielsetzungen der Frauenbewegung teilten, mussten Position beziehen. Die Frauenfrage war kein Randthema, das einzelne Spezialisten beschäftige, sondern prägte den öffentlichen Diskurs der Zeit in zentraler Weise (vgl. ebd. S. 2), wie mit Blick auf die Präsenz der Debatte in den zeitgenössischen Kulturzeitschriften bereits angemerkt wurde. 370 Zu Nietzsches Programm der gesellschaftlichen Re-Semantisierung und dessen Prägung der bekannten Formel vgl. den Beitrag von Jörg Salaquarda im Archiv für Begriffsgeschichte (1978): »Das interpretierende Subjekt wählt aus, setzt fest, schätzt ab, wertet. Da es aber immer schon ›Dinge‹ vorfindet, d. h. für N[ietzsche]: Produkte früherer Wertungen, ist seine Tätigkeit faktisch ein ständiges Neu-bewerten, oder eben ein ›Umwerten‹. ›Werthe legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten, – er schuf erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn! … Schätzen ist Schaffen: hört es ihr Schaffenden! Schätzen selber ist aller geschätzten Dinge Schatz und Kleinod. Durch das Schätzen erst giebt es Werth: und ohne dies Schätzen wäre die Nuss des Daseins hohl. Hört es, ihr Schaffenden! Wandel der Werthe, – das ist Wandel der Schaffenden. Immer vernichtet, wer ein Schöpfer sein muss‹. Neufestsetzung von Werten und komplementär dazu Destruktion überlieferter Werte, haben ihr Fundament im Schätzen und Vernichten, die den Existenzvollzug ausmachen. Im Sinne N[ietzsche]s gedacht meint ›Umwertung‹ daher den Lebensvollzug des Menschen bzw. […] den Seinsvollzug alles Seienden. Eine ›Umwertung aller Werte‹ ist dementsprechend, ihrem formalen Sinn nach, die Neufestsetzung und Neuabschätzung des Seienden im Ganzen.« (Salaquarda 1978, S. 159)
3.
Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus – Diskursivierung der Krise und Verhandlung des Ergänzungsgedankens
3.1
Der Naturalismus als ›Scharnier‹ der literarischen Moderne
In den nachfolgenden Kapiteln wird der Naturalismus als erste umfassende Phase der Diskursivierung der Geschlechterkrise in den Blick genommen. Um die Relevanz der komplementären Geschlechtersemantik innerhalb der ›naturalistischen‹ Essayistik und der in Kapitel 3.2 näher beleuchteten Dramen von Elsa Bernstein und Gerhart Hauptmann herauszuarbeiten, ist zunächst zu klären, welche zentralen Aspekte der in sich heterogenen Strömung des Naturalismus für die hier eingenommene Untersuchungsperspektive im Fokus stehen. In der aktuellen Forschungsdiskussion wird deutlich, dass eine wesentliche Herausforderung der literaturgeschichtlichen Einordnung des Naturalismus in der Handhabung seiner Heterogenität liegt, in der Divergenz der einzelnen Phasen und Gruppierungen sowie der notwendigen Unterscheidung zwischen inszenierter Innovation und partiell aufgegriffener – dabei jedoch ›um-etikettierter‹ Tradition.1 So zeigt sich in den im Folgenden ausgewerteten Manifesten und Essays einerseits die selbstkonstitutive Funktion der programmatischen 1 Zu den sozialgeschichtlichen, politischen und kulturellen Kontextfaktoren, die für die Herausbildung des naturalistischen Literaturprogramms als zentral anzusehen sind, vgl. grundlegend Peter Sprengels Band Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1870 – 1900 (1998); siehe auch Thomas Nipperdeys Deutsche Geschichte 1866 – 1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist (1998), in der dieser auch auf den Zusammenhang von literarischer und gesellschaftlicher Moderne eingeht (vgl. Nipperdey 1998, S. 770 – 796). Eine aktuelle literaturgeschichtliche Überblicksdarstellung mit einer Zusammenfassung der gesellschaftlichkulturellen Kontextfaktoren des Naturalismus bietet Wolfgang Bunzel in seiner 2008 erschienen Einführung, sowie Walter Fähnders in seinem erstmals 1998 publizierten, 2010 in der zweiten, (vor allem bibliographisch) erweiterten und aktualisierten Auflage erschienenen Band zur Avantgarde und Moderne 1890 – 1933. Ingo Stöckmann, der in seiner Arbeit Der Wille zum Willen (2009) den Naturalismus als Gründungskonstellation der literarischen Moderne in den Blick nimmt, hat 2011 einen Einführungsband zum Naturalismus vorgelegt. Die von Bunzel beobachtete Randständigkeit der Naturalismusforschung (vgl. Bunzel 2008, S. 15) ist damit nicht komplett behoben, das Forschungsinteresse an der Strömung nimmt jedoch deutlich zu.
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
Abgrenzung vom ›Alten‹ und der Ausrichtung auf einen zukünftigen Zustand (der Literatur, der Kritik, des Publikums und der Gesellschaft) anhand von semantisierbaren Kampfbegriffen2 wie ›Moderne‹ und ›Entwicklung‹.3 Andererseits lassen sich – innerhalb derselben Quellen – Versuche beobachten, die neue Programmatik an tradierte Positionen anzubinden bzw. spezifisch idealistische Konzepte über den darwinistisch-monistischen Diskurs zu erneuern. Die vorliegende Untersuchung betrachtet in diesem Sinne gerade die etwa von Lothar L. Schneider angesprochene Pluralisierung programmatischer Positionen als konstitutiv für die naturalistische Strömung als »Startfeld der literarischen Moderne«4. Sie fokussiert dabei auf die Strategien der Diskursivierung und Aktualisierung problematisch gewordener ästhetischer und philosophischideologischer Konzepte, die im publizistischen wie literarischen Diskurs zum Einsatz kommen. Im Spannungsfeld zwischen Krisendiskurs und Fortschrittsoptimismus nimmt der Naturalismus, wie Wolfgang Bunzel in seiner 2008 erschienenen Überblicksdarstellung zusammenfasst, eine »historische Scharnierfunktion« ein und lässt sich beschreiben als Bewegung, die eine ›konventionelle‹, immer noch an den ästhetischen Paradigmen des 19. Jahrhunderts ausgerichtete und mit Relikten idealistischer Kunstauffassung operierende Ästhetik mit einer wissenschaftlich inspirierten Verfahrenslogik und einer bislang nicht dagewesenen Art des Umgangs mit dem Medium Sprache auf eine Weise verbindet, wie sie einzig in der Klassischen Moderne denkbar ist, und damit präzise die Nahtstelle zwischen der ersten und der zweiten Phase der Makroperiode Moderne markiert.5
Die Auffassung des Naturalismus als Initialphase der literarischen Moderne ist Forschungskonsens. Allerdings problematisiert Bunzel die »Stereotypisierung des Naturalismus als Übergangsphase«6, die sich nicht nur in den zeitgenössischen Urteilen – pointiert etwa in Hermann Bahrs Diktum von der »Entbindung der Moderne« und schließlich der »Überwindung des Naturalismus«7 –, sondern auch in der Forschung festgesetzt hat. Diese Problematisierung scheint berechtigt, denn das ›Übergangs‹-Stereotyp ist sicher ein Aspekt, der für die ge2 Vgl. Schneider 2005, S. 9. 3 So etwa in dem 1887 in der Gesellschaft publizierten Essay von Bertha von Suttner zu Georg Brandes literarischer Studie Moderne Geister (ebenfalls 1887), in dem Suttner mit der Suggestivkraft des »noch undefinierbaren Begriffs« (Suttner 1887, S. 759) des ›Modernen‹ operiert und für eine ›entwicklungstheoretisch‹ fundierte Literaturkritik eintritt, wie sie zwei Jahre später auch Julius Hart in seinem Manifest zur empirischen Ästhetik als Zukunftsvision proklamiert (siehe Kapitel 3.1.1). 4 Schneider 2005, S. 9. 5 Bunzel 2008, S. 11. 6 Bunzel 2008, S. 11. 7 Siehe den gleichnamigen Band bzw. darin den entsprechend betitelten Essay (Bahr 2004 [1891], S. 128 – 133).
Der Naturalismus als ›Scharnier‹ der literarischen Moderne
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ringe Attraktivität des Forschungsgegenstandes – etwa im Vergleich zur vielbeachteten Wiener Moderne – mit verantwortlich zeichnet: Dies hat verschiedentlich zur ästhetischen Geringschätzung des naturalistischen Kunstprogramms geführt: Indem das ihr aufgrund der Temporalität der Moderne eigene Element des Transitorischen in der Sekundärliteratur meist eine negative Bewertung erfuhr, wurde die naturalistische Bewegung kurzerhand als Ganzes zur literarisch unergiebigen Interregnumsperiode erklärt. Die gegenwärtige Forschungslage ist ein zumindest mittelbares Ergebnis dieser verengten Sichtweise.8
Nicht zuletzt dieser proklamierte ›Übergangscharakter‹ und die bereits thematisierte Heterogenität der naturalistischen Programmatik gestalten die literaturgeschichtliche Eingrenzung schwierig. Lothar L. Schneider knüpft in seiner Studie Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik (2005) an den Forschungskonsens zum Naturalismus als Epochenscharnier und Übergangsphase hin zur literarischen Moderne an, wertet diesen jedoch gerade nicht als abgesehen von dessen ›Entbindungsfunktion‹ unbedeutende Übergangsphase. Stattdessen sieht Schneider in der für den Naturalismus konstitutiven Pluralisierung von Wertungskonzepten und der starken Gruppenbildung der Akteure entscheidende Elemente des sich ›modernisierenden‹ Literatursystems. Schneider illustriert in einer knappen Skizze die konstatierte Heterogenität des »naturalistischen Diskussionsfeldes«9 sowie verbindende Strukturelemente zwischen den von ihm unterschiedenen sechs Gruppierungen, die – so seine Formulierung – die »Startkonstellation der Moderne«10 bilden. In seiner Zusammenfassung wird der strategische Positionierungsversuch der jeweiligen Akteure zwischen Tradition und Innovation anschaulich auf den Punkt gebracht: 1) Bereits Mitte der achtziger Jahre versuchen die Brüder Hart mit einem inhaltlichen Wechsel von idealistisch-philosophischer zu naturwissenschaftlich drapierter Leitmetaphorik eine Restitution des literaturpolitischen Anspruchs des Realismus. 2) In der Vereinigung »Durch!«, einer Melange von Reformstudenten (meist der Literaturwissenschaft), angehenden Publizisten und Schriftstellern, wird emphatisch die Moderne proklamiert – aber bei genauer Betrachtung erweist sie sich als Versuch der Restitution der alten patrimonialen Kritik. Beide Vorhaben scheitern. 3) Konsequenter agieren die Nietzsche-Verehrer Leo Berg und Hermann Conradi. Sie postulieren eine radikale Trennung von Kunst bzw. Kritik bzw. Moral und reden einem poetisch-formalen, wie einem existenziell-heroischen Ästhetizismus das Wort. 4) Dagegen wiederum steht mit der Person Eugen Wolffs der Versuch, die Literatur inhaltlich an die Tradition rückzubinden, deren Geltungsverlust aber didaktisch mit 8 Bunzel 2008, S. 11. 9 Schneider 2005, S. 7. 10 Schneider 2005, S. 7.
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
dem Konzept einer auf Vermittlung ausgerichteten Literaturwissenschaft und der dezidierten Hinwendung zur Lebenswelt zu kompensieren.11
Diese vier Gruppierungen oder »Spielarten« markieren mit Schneider »die Frühphase naturalistischer Diskussion«12, während 5) und 6) »einen zentralen Antagonismus« entwickeln, der aus der Sicht literaturwissenschaftlicher Retrospektive rasch entschieden scheinen mag, aber zeitgenössisch bis weit über den Untersuchungszeitraum hinaus Geltung behalten sollte.13
Gemeint sind die beiden zentralen naturalistischen Zeitschriften (und die mit ihnen assoziierten Beiträger), die Gesellschaft und die Freie Bühne, auf deren zentrale Rolle für die interdiskursive Auseinandersetzung mit der Geschlechterkrise im Kapitel 2.2.6 bereits hingewiesen wurde: In den programmatischen und polemischen Artikeln der beiden wichtigsten Periodika des Naturalismus, der »Gesellschaft« und der »Freien Bühne«, stehen sich die Vertreter eines literaturpolitischen und die Vertreter eines formalästhetischen Primats gegenüber.14
In den beiden Publikationsorganen manifestiert sich zudem die Opposition der naturalistischen Zentren Berlin und München und vor allem das Ringen der »Münchner Fraktion«15, die Vorreiterposition der Berliner Naturalisten einzuholen. Insgesamt korrespondiert deren dominante Stellung auch mit einer »Schwerpunktverlagerung in der Gattungspräferenz«16 von der Erzählprosa auf das Drama, 11 12 13 14
Schneider 2005, S. 7 f. Schneider 2005, S. 8. Schneider 2005, S. 8. Schneider 2005, S. 8. Schneider schreibt hier weiter : »Während die Diskussion der ›Gesellschaft‹ auf den ›gemäßigten‹ Naturalismus der Heimatkunst mit seiner weltanschaulichen Problematik und seinen poetischen Konventionalismen verweist, gelingt der ›Freien Bühne‹ die Entwicklung eines Konzepts, das den Bedingungen des literarischen Marktes Rechnung trägt und dennoch die interne Dynamik der Literaturentwicklung forciert, in dem es ausschließlich formale Prinzipien zum Kriterium des ästhetischen Urteils erhebt.« 15 Bunzel 2008, S. 54. 16 Bunzel 2008, S. 53. So markiert mit Bunzel die Gründung des Vereins ›Freie Bühne‹ am 5. April 1889 »den Übergang von der zweiten zur dritten Phase des Naturalismus in Deutschland« und in der Folge »den Verlust der literarischen Führungsrolle« Münchens, da »sich der Durchbruch des Bühnennaturalismus fast ausschließlich in der Reichshauptstadt ereignete« (ebd.). Wie Bunzel pointiert umreißt, führt diese Entwicklung sowohl zu einer Multiplikation der »Anhänger« des Naturalismus und bestärkt zugleich die Herausbildung sich abgrenzender ästhetischer Positionen: »Die Gründung der ›Freien Bühne‹ wirkte auf die weitere Entwicklung des deutschen Naturalismus letztlich wie ein Katalysator : Sie forcierte nicht nur die zeitgenössische Dramenproduktion, sondern stieß auch die Bildung ähnlicher weiterer Vereinigungen an. Auf diese Weise sorgte sie für eine rasche Ausdifferenzierung der naturalistischen Bewegung, beförderte indirekt aber auch das Entstehen von literarischen
Der Naturalismus als ›Scharnier‹ der literarischen Moderne
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das einerseits eine größere Öffentlichkeitswirkung versprach und andererseits einen Darstellungsmodus bot, der auf zwischengeschaltete Narrationsinstanzen verzichtete und so ein größeres Maß an Unmittelbarkeit ermöglichte.17
Dass nun trotz der Divergenz der naturalistischen Gruppierungen und Programme von dem Naturalismus als literarischer Bewegung zu sprechen ist, begründet Wolfgang Bunzel mit der durch die Abgrenzung nach außen erzeugten Konvergenz. Bunzel verortet den in seiner Programmatik divergierenden Naturalismus »als eigenständige Diskursformation innerhalb eines größeren literaturgeschichtlichen Epochenzusammenhangs«, nämlich des Realismus.18 Konstitutiv für den Naturalismus als einer eigenständigen Strömung oder ›Diskursformation‹ innerhalb des dominierenden realistischen Kunstprogramms im 19. Jahrhundert ist nun nach Bunzel unter anderem, »dass er zentrale Prämissen realistischer Ästhetik mehr oder weniger deutlich verabschiedet«19, allen voran das ästhetische Prinzip der ›Verklärung‹.20 Darauf ließe sich
17
18 19 20
Gegenströmungen, weil die Etablierung des Naturalismus ihn für jüngere Autoren uninteressant werden und seine Hegemonie ästhetische Alternativmodelle entstehen ließ.« (Bunzel 2008, S. 53) Der Beschleunigungsprozess der Entstehung und »Überwindung« literarischer Strömungen und Bewegungen erklärt sich in der ›Moderne‹ damit einerseits durch die Notwendigkeit der Positionierung innerhalb des literarischen Feldes, dessen Sättigungsgrad in Bezug auf einzelne Strömungen schnell erreicht scheint. Die Voraussetzung dieser schnellen (Über-)Sättigung liegt dabei zum anderen in der Semantik der ›Moderne‹ selbst, die in der Ausrichtung auf ›Zukunft‹ und ›Entwicklung‹ stets in Bewegung bleiben muss – die Avantgarde darf nie zu lange an einer Stelle stehen, sonst wird sie zur Nachhut. Bunzel 2008, S. 53. Auch Vera Ingunn Moe geht in ihrer Untersuchung zur Relevanz der Rezeption französischer, skandinavischer und russischer Literatur auf die beiden Zentren München und Berlin und deren an die jeweiligen Vorbilder Zola und Ibsen geknüpften Gattungspräferenz ein; vgl. Moe 1983, S. 191. Bunzel 2008, S. 7. Bunzel 2008, S. 9. Insgesamt zielt Bunzels Einführung – der Funktion der Textsorte geschuldet – stärker als Lothar L. Schneiders Untersuchung auf die Einheitlichkeit der naturalistischen Strömung ab. Schneider sieht das gemeinsame Strukturelement der in sich heterogenen Bewegung weniger auf der Ebene einer übergeordneten ästhetischen Grundaxiomatik als vielmehr auf der Ebene der beteiligten Akteure. Diese sind, wie Schneider skizziert, entweder dezidiert zu Gruppen zusammengeschlossen, oder aber bei aller Divergenz dennoch über die gemeinsame Teilnahme an den jeweiligen Debatten um die naturalistische Programmatik, um Wertungskriterien und ästhetische Positionierung – also durch ein Abgrenzungsverhältnis – miteinander verbunden (vgl. Schneider 2005, S. 8 f..; implizit kommt hier Bourdieus Konzept des ›literarischen Feldes‹ zur Anwendung). Während Bunzels Überblicksdarstellung die ästhetische Programmatik des Naturalismus als zwar uneinheitlicher, aber dennoch abgrenzbarer literaturgeschichtlicher Epoche greifbar machen muss, und dies in der Einleitung vor allem über die Abgrenzung zum Verklärungskonzept des ›poetischen Realismus‹ bewerkstelligt (vgl. Bunzel 2008, S. 8 f.), verweist Schneider stärker auf die divergierenden Interpretationen und Konzeptualisierungen des Mimesis-Postulats und versteht gerade die gewissermaßen performativ aufrecht erhaltene Uneinigkeit über die konkrete ästhetische
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
mit Claudia Stockinger entgegnen, dass die naturalistische Programmatik stellenweise nicht so weit von der des Realismus abweicht und die Abgrenzung eher aus Gründen der autonomen Verortung im ›literarischen Feld‹ besonders stark gemacht wurde.21 Auch Bunzel geht aber – im Konsens mit der bestehenden Naturalismusforschung – nicht von einem radikalen Paradigmenwechsel vom ›poetischen‹ zum ›konsequenten‹ Realismus aus, stattdessen verweist er auf ambivalente Selbstverortung des Naturalismus innerhalb des Literatursystems und dessen »Doppelstrategie im Umgang mit der Vorgängerbewegung […], die den Naturalismus zwischen bewusster Anknüpfung an das Bestehende und radikalem Bruch mit der Tradition oszillieren«22 lasse. Die scheinbare Unsicherheit in der zeitgenössischen Benennung der naturalistischen Bewegung, die teils als ›Naturalismus‹, häufig aber als ›Realismus‹ bezeichnet wurde, hat für Bunzel einen deutlich strategischen Hintergrund. Mit Blick auf die Positionierung der ›modernen‹ Autoren – sowie ihrer Verleger, Kritiker, etc. – im ›literarischen Feld‹ »bot der weitgehend synonyme Gebrauch der beiden Bezeichnungen ›Realismus‹ und ›Naturalismus‹ große Vorteile, weil er – je nach Bedarf – eine Ankoppelung an unterschiedlich akzentuierte künstlerische Paradigmen gestattete«23 : Was aus heutiger Sicht leicht den Eindruck von Unentschiedenheit erweckt, war unter den Bedingungen literarischer Öffentlichkeit im späten 19. Jahrhundert deshalb durchaus eine kluge Verwirrtaktik, die dazu beitrug, dass das ästhetische Programm der naturalistischen Bewegung vom Publikum leichter akzeptiert werden konnte.24
Dieser anschlussfähige Blick auf die strategische Selbstkonstitution des Naturalismus, der sich in seinen Manifesten und Programmschriften zur Literatur und Kritik über die Ausrichtung auf die ›Zukunft‹ und die Proklamation eines zu erneuernden Literaturbetriebs definiert,25 bekräftigt die Perspektive der vor-
21
22 23 24 25
Realisation des Verhältnisses von Literatur und ›Wirklichkeit‹ als epochenkonstitutiv (vgl. Schneider 2005, S. 8 f.). Vgl. Stockinger 2010, S. 212. In einem zehnseitigen Überblick zum »Epochenrand« Naturalismus gibt Stockinger in ihrer Einführung zur ›realistischen Großepoche‹ einen pointierten und bei aller Kürze differenzierten Überblick über die wichtigsten Aspekte naturalistischer Programmatik und Ästhetik. Bunzel 2008, S. 10. Bunzel 2008, S. 10. Bunzel 2008, S. 10. Siehe dazu auch die von Leo Berg in dessen aphoristischer Abhandlung Der Naturalismus. Zur Psychologie der modernen Kunst (1982) skizzierten Schwierigkeit der Begriffsexplikation: »Wer im Naturalismus eine Reaction erkennt, ist ebenso im Recht, als wer ihn als einen Fortschritt ansieht. Und zugleich ist er etwas an die Gegenwart gebundenes. Also etwas Vergangenheit, etwas Vergänglichkeit, etwas Zukünftiges. Ich bestimme ihn als: Rückkehr zur Natur, als Annäherung an die Natur und als Zeichen der »Zeit der Naturwissenschaften«, d. h. als den speziellen Ausdruck der modernen Weltanschauung, insbesondere der sozialen Bewegung.« (Berg 1892, S. 4)
Der Naturalismus als ›Scharnier‹ der literarischen Moderne
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liegenden Untersuchung, die statt auf radikale Brüche auf diskursive Anschlusshandlungen fokussiert.26 Im Folgenden wird jedoch ein Aspekt stärker zu differenzieren sein: Wenngleich die Richtigkeit von Bunzels Resümee außer Zweifel steht, dass sich der Naturalismus entschieden vom Prinzip der ›Verklärung‹ abgrenzt, ist mit Blick auf die naturalistische Auseinandersetzung mit den neuen naturwissenschaftlichen und den ›überkommenen‹ idealistischen Weltdeutungsmodellen weniger von einem scharfen Paradigmenwechsel auszugehen. Vielmehr ist zwischen dem proklamierten Bruch und den Versuchen der semantischen Aktualisierung und Fusionierung zu unterscheiden. So bricht die Kontinuität »zum philosophischen Leitkonzept des Idealismus […] mit Einsetzen des Naturalismus« aus Sicht der vorliegenden Untersuchung nicht einfach ab. Tatsächlich scheint sie zunächst im Kontext der darwinistischen Teleologiekrise27 abzureißen, doch im Rahmen der Überführung des Darwinismus in eine monistische Weltanschauungsphilosophie ist eine zumindest vorübergehende Stabilisierung idealistischer Semantik zu beobachten, wie etwa Peter Sprengel in seiner Studie zu Darwin in der Poesie (1998) ausführt.28 Der Naturalismus als ›Scharnier‹ der literarischen Moderne, als Phase der umfassenden Diskursivierung und performativen Proklamation des gesellschaftlichen und ästhetischen Wandels lässt sich aus dieser Sicht beschreiben als Verhandlungsraum der Bedingungen der Möglichkeit einer Erneuerung idealistischer Leitkonzepte wie ›Bildung‹, ›Perfektibilität‹ und geschlechtlicher Komplementarität bzw. – auf übergeordneter Ebene – des Prinzips der Teleologie. Neben der Auseinandersetzung mit dem Darwinismus sind im Folgenden vor allem zwei konstitutive Aspekte der in sich heterogenen und je nach »Phasen und Flügeln, Regionen und Gattungen«29 divergierenden Bewegung des Naturalismus näher zu berücksichtigen: Zum einen ist dies die vor allem für den frühen Naturalismus charakteristische Orientierung an sozialkritischen The26 Tradierte Konzepte bzw. gepflegte Semantiken werden nicht einfach aufgegeben. Stattdessen evoluieren sie in Relation zu ihrer (diskursiven) Umwelt und werden so aktualisiert und ›umetikettiert‹. Gerade die eingangs in diesem Kapitel angesprochenen Aspekte der Inszenierung von Innovation und der Proklamation des radikalen Bruchs mit Traditionen scheinen mir für Literaturgeschichte insgesamt von hoher Relevanz zu sein. Hier bietet Pierre Bourdieus literatursoziologischer Ansatz und sein Konzept des ›literarischen Feldes‹ eine wichtige perspektivische Ergänzung zu Luhmanns systemtheoretischem Ansatz, der nicht handelnde Akteure, sondern Kommunikation als Handlung in den Blick nimmt. Als exemplarische feldtheoretische Arbeit zur literarischen Moderne sei die Studie von Christine Magerski Die Konstituierung des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871. Berliner Moderne, Literaturkritik und die Anfänge der Literatursoziologie (2004) angeführt. 27 Vgl. die Arbeit von Ajouri 2007, auf die im folgenden Kapitel einzugehen ist. 28 Vgl. Sprengel 1998a, S. 21. 29 Sprengel 1998b, S. 110.
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
men und Auseinandersetzung mit den ›überkommenen‹ Werten und Normen der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Grundausrichtung des Naturalismus ist, wie Peter Sprengel betont, nicht mit einer sozialistischen oder sozialdemokratischen Haltung der naturalistischen Autoren gleichzusetzen.30 Eher ist sie in einer humanistisch-aufklärerischen Tradition zu sehen, wie sie auch mit dem Übergang der Vorbildfunktion von Êmile Zola auf Henrik Ibsen deutlich wird.31 Der zweite hier näher zu beleuchtende Aspekt, der sich auch als Aktualisierungskontext der sozialkritischen Grundausrichtung des Naturalismus auffassen lässt, ist dementsprechend die Vorbildfunktion, die im Zuge der Veränderung der Gattungspräferenz vom Roman auf das Drama den Werken Ibsens zukommt. Der übergeordnete Fokus des zweiten Hauptteils der vorliegenden Untersuchung liegt auf der Relevanz der komplementären Geschlechtersemantik innerhalb des programmatisch-poetologischen und literarischen Diskurses der ›Scharnierepoche‹ der literarischen Moderne. Dass der Umbruch der Geschlechterverhältnisse im Naturalismus – der sich einerseits von den bürgerlichen literarischen Institutionen abzugrenzen suchte, andererseits eine Etablierung in eben diesen Institutionen anstrebte32 – nicht ausschließlich als Krise wahrgenommen wurde, sondern auch als Signatur der emphatisch proklamierten Moderne und des Kampfbegriffs der ›Zukunft‹ fungiert, wird etwa in Eugen Wolffs bekannter Allegorie von der ›Moderne‹ als Frau deutlich. Auf diese
30 Vgl. Sprengel 1998b, S. 109. 31 Vgl. dazu den pointierten Abschnitt zum für die naturalistische Bewegung relevanten Kulturtransfer aus dem europäischen Ausland in Bunzel 2008, S. 30 – 38. 32 Vgl. dazu die von Lothar L. Schneider (2005) skizzierten drei Etappen des literaturgeschichtlichen »Weges in die Moderne« im 19. Jahrhundert. Nach der ersten Etappe der Herausbildung einer realistischen Literaturpolitik und der zweiten gründerzeitlichen Phase, in der mit Schneider eine Verschiebung hin zu einem marktbasierten Modell literarischer Öffentlichkeit und eine Institutionalisierung der Literaturkritik zu beobachten ist, konstituiert sich die naturalistische dritte Etappe – wie oben bereits angesprochen – vor allem über die Pluralisierung der Konzepte literarischer Wertung und eine starke Gruppenbildung der Akteure im institutionalisierten Literaturbetrieb. Auf die Spannungsverhältnisse, die die Positionierung der Naturalisten sowie der nachfolgenden Avantgarde-Strömungen innerhalb des literarischen Feldes prägen, weist Peter Sprengel in einer pointierten Zusammenfassung hin: »Über die soziologischen Gesetzmäßigkeiten, die sich beim ›Bildungs- und Auflösungsprozess von Avantgardegruppen‹ beobachten lassen, ist die Literaturwissenschaft seit einigen Jahren durch Pierre Bourdieu belehrt. Doch schon vor dessen Einsichten in die ›Regeln der Kunst‹ war den Historikern der klassischen Moderne die Bedeutung bewusst, die der Aufbau von Gegenöffentlichkeiten für die Konstituierung neuer Literaturund Kunstrichtungen besitzt und zumal in der historischen Konstellation des Wilhelminismus besaß, die einerseits durch eine radikale Kommerzialisierung des kulturellen Lebens, andererseits durch seine Gängelung im Rahmen politischer und religiöser Normen (Buchund Theaterzensur, sog. Unzuchtsparagraph, Straftatbestand der Majestätsbeleidigung) geprägt war.« (Sprengel 2010, S. 9 f.)
Der Naturalismus als ›Scharnier‹ der literarischen Moderne
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wird in Kapitel 3.1.2 zur Semantisierung des ›Weiblichen‹ und zu weiblicher Autorschaft im Kontext des Naturalismus noch einzugehen sein.
3.1.1 Naturalistische Annäherungen an die ›Idee‹ – Zur Versöhnung von naturwissenschaftlicher Weltdeutung und ›Idealismus‹ im Monismus Eingedenk der vorangegangenen Differenzierungen zielt die hier gewählte Formulierung von der naturalistischen Annäherung an die ›Idee‹ nicht auf die Behauptung ab, dass die Ästhetik des poetischen Realismus wieder etabliert würde. Wo der ›prototypische‹ realistische Roman von der komplexen modernen Wirklichkeit und ihren Gefährdungen für das bürgerliche Individuum erzählt, das bei ›guter Führung‹ und erfolgreicher Bildung und Festigung seines Charakters den teils widrigen Umständen zum Trotz einen geglückten Lebenslauf vollzieht,33 hat sich die Perspektive im Naturalismus deutlich dahin verschoben, das Scheitern der Figuren an den Umständen zu inszenieren.34 Wie Philip Ajouri in seiner Studie zur Krise der (Real- und Erzähl-)Teleologie zeigt, ist diese Verschiebung bereits innerhalb des Realismus zu beobachten,35 wenn in Gottfried Kellers erster Fassung des Grünen Heinrich (1854/55) die Handlung eben nicht teleologisch-finalistisch ›vom Ende her‹ motiviert ist36 und
33 Selbstverständlich handelt es sich hier um eine sehr holzschnittartige Skizze. Eine differenzierte aktuelle Übersicht zur realistischen Großepoche, zu prototypischen Strukturen realistischen Erzählens und konkreten, von der Prototypik abweichenden realistischen Werken gibt die einführende Darstellung von Stockinger 2010 sowie die Aufsatzsammlung von Begemann 2007. 34 Dass hier im Einzelnen zu differenzieren ist, versteht sich in Anbetracht der Axiomatik der Arbeit von selbst, die von Verschiebungen statt von radikalen Brüchen ausgeht. Ein eindrückliches Beispiel innerhalb der Novellistik des poetischen Realismus für die Inszenierung des Scheiterns von Figuren an den familiären Umständen und den gesellschaftlichen ›Verkrustungen‹ ist etwa Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe (1856). Mit Blick die Heterogenität des Realismus liefert Philip Ajouri mit seiner 2007 publizierten Dissertation zu der durch den Darwinismus ausgelösten Teleologiekrise eine wichtige Korrektur der prototypischen Auffassung vom ›realistischen‹ Erzählen. 35 Mit seiner Arbeit zur Krise der Teleologie im Realismus geht es Ajouri nicht zuletzt darum, das »verzerrte Bild« zu korrigieren, dass die Darwinismusrezeption in Deutschland »ausschließlich durch den idealistischen ›Filter‹ einer restaurierten Teleologie wahrgenommen wurde« (Ajouri 2007, S. 7). 36 Vgl. Ajouri 2007, S. 24 ff. zum narratologischen Begriff der ›Motivation von hinten‹, den Clemens Lugowski in seiner Dissertation Die Form der Individualität im Roman (Frankfurt, 1976) geprägt hat. Lugowski bezeichnet mit dem Terminus das dichterische Mittel, das die kompositorische Geschlossenheit eines Werkes im Sinne der Teil-Ganzes-Relation erzeugt (vgl. Ajouri 2007, S. 26). Ajouri verweist jedoch darauf, dass der Begriff innerhalb der Erzählforschung mittlerweile eine deutliche Differenzierung und Spezifizierung erfahren hat, während Lugowski bei der Begriffsverwendung nicht eindeutig zwischen den Ebenen der
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die Entwicklung des Protagonisten keinen glücklichen Verlauf nimmt. In einer Negation des Entwicklungsnarrativs endet der Roman mit dem Tod des jungen, noch nicht bürgerlich etablierten Heinrich.37 In der überarbeiteten Fassung von 1879/80 weist der Roman jedoch im Gegensatz zur stark anachronischen Struktur der Erstfassung eine chronologische Erzählweise auf und endet damit, dass der Protagonist als Beamter und Ehegatte seinen Platz in der bürgerlichen Gesellschaft findet. Die Krise scheint innerhalb der Diegese bewältigt zu sein, die für den ›bürgerlichen Realismus‹ programmatische Konzeption der Verlässlichkeit der natürlichen (bürgerlichen) Ordnung und der Ausrichtung auf die hinter der Wirklichkeit liegende ›Idee‹, die der Dichter hervorbringen solle, scheint vorerst stabilisiert. Wie schon der Realismus grenzt sich auch der Naturalismus mit seinem programmatischen Wirklichkeitsbezug dezidiert vom Idealismus als philosophische Grundlage der Weltdeutung wie der Ästhetik ab.38 Wie jedoch oben bereits angesprochen wurde, findet im Zuge der Rezeption des Darwinismus und dessen Überführung in einen Monismus eine Aktualisierung und Popularisierung idealistischer und humanistischer Konzepte statt. Zu den zentralen Akteuren dieser Erneuerungsbewegung gehören Wilhelm Bölsche und Ernst Haeckel, die die in der Krise befindliche Teleologie und somit den Gedanken der Perfektibilität über eine geschickte Perspektivierung wiederbeleben.39 Auf die formalen Komposition und der Vorgänge innerhalb der erzählten Welt (vgl. ebd. S. 27 f.) – anders gesagt: zwischen discours und histoire – unterscheidet. 37 Ajouri betont dabei, dass die fehlende kausale Motivierung den Leser – dessen Erwartung an das Gattungsschema des Bildungsromans von Keller gebrochen wird – auf die kompositorische Motivierung der erzählten Ereignisse hinweist: »Der Schluß ist freilich im künstlerischen Sinn notwendig und damit motiviert. Die antiteleologische Durchführung handlungsrelevanter Schemata führt ja gerade auf den Tod des Helden hin. Die kompositorische Motivierung schien Keller offenbar so stark zu sein, daß er glaubte, auf eine kausale Begründung des Todes verzichten zu können. Heinrichs Irrwege und sein schuldhaftes Verhalten schienen auszureichen, um den Helden sterben zu lassen.« (Ajouri 2007, S. 274) 38 Vgl. die Ausführungen von Claus-Michael Ort zu »Realismus, Idealismus, Realidealismus« in dessen Beitrag »Was ist Realismus?« (Ort 2007, S. 14 – 17). Dass der ›poetische Realismus‹ das Mimesis-Gebot über das Konzept der ›Verklärung mit einem ›Real-Idealismus‹ versöhnt, ist bekannt (vgl. ebd., S. 16 – 23); nichtsdestotrotz dient die Abgrenzung vom (philosophischen) Idealismus als selbstkonstitutives Element der realistischen Ästhetik (vgl. ebd., S. 17). Dies lässt es aus Sicht der vorliegenden Arbeit als nicht zu gewagt erscheinen, sowohl den (poetischen) Realismus als auch den Naturalismus als literarische Strömungen zu beschreiben, die zentral mit der Problematisierung und Aktualisierung idealistischer Semantik befasst sind. 39 Für einen knappen Überblick der aktuellen Forschung zur »nachdarwinische[n] Wiedereinführung der Teleologie« vor allem durch Haeckel und Bölsche siehe Ajouri 2007, S. 7. Drei der dort genannten Studien seien hier als grundlegend angeführt: Karl Eibls Aufsatz zur Vermittlungsreihe »Darwin, Haeckel, Nietzsche« und dem »idealistisch gefilterte[n] Darwin in der deutschen Dichtung und Poetologie des 19. Jahrhunderts« (2000), Peter Sprengels bereits erwähnte Studie Darwin in der Poesie (1998), die den Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts nachgeht und die entschei-
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zentrale Rolle der Darwinismusrezeption für den Naturalismus – und umgekehrt zugleich auf die zentrale Rolle der Literatur vor allem für die Popularisierung des Darwinismus – hat etwa Peter Sprengel mit seiner Studie Darwin in der Poesie (1998) nachdrücklich hingewiesen. In dieser Untersuchung zur entscheidenden Rolle der Literatur für die Darwinismusrezeption und -popularisierung40 knüpft er an das 1988 von Dieter Kafitz formulierte Desiderat der Naturalismusforschung an, dass der Zusammenhang von Darwinismus und Literatur – sowie die Relevanz der Darwin’schen Entwicklungslehre für die (literarische) Anthropologie der Zeit – genauer zu bestimmen sei.41 Mittlerweile kann dieses Desiderat als weitgehend eingelöst gelten.42 Nachdem die grundlegende Relevanz des Darwinismus für die literarische Moderne in der Forschung außer Zweifel steht, sind gegenwärtig Ansätze der stärkeren Differenzierung in Bezug auf die naturalistische Diskursivierung darwinistisch-monistischer Konzepte zu beobachten. Die von Dieter Kafitz formulierte (vorläufige) These, dass der Naturalismus in Deutschland primär biologistisch bestimmt sei,43 wird etwa von Barbara Beßlich abgeschwächt. Wie in Kapitel 3.2.4 näher auszuführen sein wird, weist Beßlich in ihrem Beitrag »Anamnesen des Determinismus, Diagnosen der Schuld« (2008) überzeugend nach, dass in der Literatur des deutschen Naturalismus eine signifikante Tendenz zur Relativierung der biologischen Determinationshypothese beobachtbar ist. Anknüpfend an Beßlichs Beobachtungen und ihre fundierte Textanalyse zu
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dende Rolle der Literatur im Prozess der monistischen Umdeutung der Evolutionstheorie herausarbeitet, sowie Monika Ficks Untersuchung Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende (1993), die im Kapitel zu Naturalismus, Sensualismus und Mystik bei Gerhart Hauptmann auf dessen »‹idealistischen Realismus‹« eingeht (Fick 1993, S. 226). Vgl. Sprengel 1998a. Vgl. auch den Abschnitt zu »Biologie und Naturphilosophie« in Sprengels Band zur Literaturgeschichte Von der Reichsgründung bis zur Jahrhundertwende (Sprengel 1998b, S. 74 – 84). So fasst Kafitz in seinem 1988 erschienenen Aufsatz »Tendenzen der Naturalismus-Forschung und Überlegungen zu einer Neubestimmung des Naturalismus-Begriffs« zusammen: »Der Naturalismus, so läßt sich abschließend sagen, war weder eine sozialistische noch eine extrem realistische oder exakt naturwissenschaftliche Literaturbewegung, wie die ältere Forschung behauptet hatte, er ist auch nicht ausreichend erfaßt durch die neuere ideologiekritische oder diskursanalytische Relativierung solcher Feststellungen. Zu wünschen wäre, daß von der weiteren Forschung über die soziologische und sozialgeschichtliche Standortbestimmung der 70er Jahre hinaus die Bedeutung des Darwinismus für das Naturund Menschenbild der Zeit genauer herausgearbeitet würde. Bis dahin mag als These gelten, daß der Naturalismus in Deutschland primär biologistisch bestimmt ist.« (Kafitz 1988, S. 29) Vgl. den Abriss zur aktuellen Forschungssituation in Anm. 39 des vorliegenden Kapitels. Einen grundlegenden Beitrag liefert auch Barbara Krauß-Theim mit ihrer von Dieter Kafitz betreuten Dissertation Naturalismus und Heimatkunst bei Clara Viebig. Darwinistischevolutionäre Naturvorstellungen und ihre ästhetischen Reaktionsformen (1992), auf die im Folgenden noch einzugehen ist. Vgl. Kafitz 1988, S. 29.
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Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) wird auch mit Blick auf Elsa Bernsteins Dämmerung (1893) deutlich werden, dass in Bezug auf die naturalistische ›Vererbungsthematik‹ eine wichtige Differenzierung zwischen Textebene und Figurenebene vorzunehmen ist. So wird stärker als bisher zu unterscheiden sein zwischen einer ›biologistischen Axiomatik‹ des Naturalismus – im Sinne der poetologischen Umsetzung der ›biologischen Determinationshypothese‹ innerhalb naturalistischer Texte – und einer auf psychologische und soziale Determinationsgefüge fokussierenden naturalistischen Programmatik, bei der nicht die faktische physische Determiniertheit der Figuren behauptet, sondern deren Glaube an dieselbe als eigentliche Ursache ihrer Handlungsunfähigkeit vorgeführt wird. Dass die in sich heterogene Programmatik des Naturalismus keineswegs von einer eindeutigen pessimistischen Auffassung der Determiniertheit des Menschen ausgeht, welche die Literatur wiederum auf der Basis ihres Wirklichkeitsanspruches abzubilden habe, macht etwa Barbara Krauß-Theim in ihrer Untersuchung zu darwinistisch-evolutionären Naturvorstellungen und deren Relevanz innerhalb des Naturalismus sowie der Heimatkunstbewegung deutlich.44 So fasst sie den Fortschrittsoptimismus zusammen, den der Siegeszug der Naturwissenschaften bzw. des Darwinismus innerhalb der ästhetisch-poetologischen Diskussion auslöst: Das »Gesetz der organischen Fortentwicklung« wurde zum »obersten aller Naturgesetze« erklärt, und Arno Holz glaubte bereits 1884 im Darwinismus eine »neue Religion« zu erkennen, die den Menschen mit sich und der Welt versöhne. So wie Holz mit Hilfe der Naturwissenschaften »zu einer positiven Weltanschauung« zu gelangen hoffte, waren Wilhelm Bölsche und Heinrich Hart davon überzeugt, daß der Darwinismus zu einer Erneuerung auch in Poesie und Ästhetik beitragen werde. Wenn Bölsche in den Naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie die Naturwissenschaften zur »Basis« des »gesamten modernen Denkens« erhob, waren für ihn Naturwissenschaft und Darwinismus synonyme Begriffe, der Darwinismus der »Grundpfeiler der gesamten neueren Ästhetik«.45
Das bereits angesprochene inhärente Krisenpotential der Darwin’schen Evolutionstheorie wird dabei nicht in Abrede gestellt. Wie in Krauß-Theims pointierten Ausführungen deutlich wird, deckt das evolutionstheoretische Weltdeutungsmodell einerseits kausale Gesetzmäßigkeiten und objektive Relationen der Phänomene in der Natur auf, führt andererseits aber auch zu einem massiven Einbruch von Kontingenz, indem es die Kausalität und »Historizität aller natürlichen Entwicklung«46 behauptet. Schließlich – und hierin liegt die von 44 Vgl. Krauß-Theim 1992. 45 Krauß-Theim 1992, S. 54 f. 46 Krauß-Theim 1992, S. 55.
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Freud bezeichnete »biologische Kränkung«47 – erbringt die Deszendenztheorie »den Nachweis des evolutionären Zusammenhangs zwischen Mensch und belebter Natur und stellt das christliche Dogma von der Erschaffung des Menschen in Frage«48. Die ›Rettung‹ der Teleologie als eines kohärenzstiftenden Prinzips, das Kontingenzerfahrungen angesichts gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse abzufedern vermag, geschieht nun, wie vorangehend angesprochen, anhand der Überführung des Darwinismus in eine monistische Weltanschauung.49 Dieser Prozess geht keineswegs reibungslos und linear vonstatten,50 sondern als sukzessive Fokusverschiebung von einer mechanisch-materialistischen Naturvorstellung (u. a. bei Carl Vogt, Ludwig Büchner und Jakob Moleschott) hin zu einer organischen Naturvorstellung der idealistischen Naturphilosophie im Umfeld des Friedrichshagener Kreises.51 Im Monismus wird schließlich die von den Materialisten abgelehnte Teleologie und die Vorstellung vom »Wirken eines geistigen oder göttlichen Prinzips in der Natur«52 re-installiert. Der Sieg des Weltanschauungs-Darwinismus über den naturwissenschaftlichen Materialismus ist dabei das Ergebnis einer mit hohem Aufwand betriebenen Theoriearbeit und Popularisierung, allen voran durch Ernst Haeckel und Wilhelm Bölsche. Der Zoologe Haeckel verbindet Darwins Evolutionskonzept mit dem u. a. von Ludwig Büchner in dessen Schrift Kraft und Stoff (1855) konzipierten, weit gefassten Einheitsbegriff, wobei er die Deszendenztheorie auf die anorganische Natur ausweitet.53 Wie der Titel seiner Schrift Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft von 1892 bereits in Aussicht stellt, 47 Freud beschreibt in seiner 1917 erschienenen Arbeit Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse drei schwere Kränkungen, die »der allgemeine Narzißmus, die Eigenliebe der Menschheit […] von seiten der wissenschaftlichen Forschung erfahren hat« (Freud 1996 [1917], S. 164): Die Widerlegung des geozentrischen Weltbildes (kosmologische Kränkung), der Nachweis der Abstammung des Menschen vom Tier (biologische Kränkung) und schließlich die Erkenntnis der Psychoanalyse, »daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus« (ebd., S. 169) (psychologische Kränkung). Die Erkenntnisse der Wissenschaften stellen also nicht nur die Deutungsmacht des Erklärungsmusters Religion in Frage, sondern negieren auch die Existenz eines freien Willens und die Verlässlichkeit der sinnlichen Wahrnehmung (siehe das Beispiel der ›aufgehenden‹ Sonne, an dem Hermann Bahr in seinem Essay Das unrettbare Ich von 1903 die Auflösung von Objektivität illustriert; vgl. Klein 2004 [in Druckvorbereitung], S. 59 – 69). 48 Krauß-Theim 1992, S. 55. 49 Siehe Krauß-Theim 1992, S. 55 f.: »Das dualistische Weltbild von einem (Gott-)Schöpfer und der erschaffenen Natur weicht einem Monismus im Sinne des Bewußtseins von der Alleinheit der Natur. Diese aus dem Evolutionsgedanken resultierende Vorstellung von der Einheit und Verwandtschaft aller lebendigen Naturphänomene war um die Jahrhundertwende, einmal abgesehen von kirchlichen Kreisen, weitgehend anerkannt.« 50 Vgl. die Problematisierung des innerhalb der Forschung suggerierten, vermeintlich glatten Anschlusses idealistischer und darwinistischer Axiomatik in Ajouri 2007, S. 7. 51 Vgl. Krauß-Theim 1992, S. 52 – 70. 52 Krauß-Theim 1992, S. 53. 53 Vgl. Krauß-Theim 1992, S. 56.
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integriert Haeckel die Darwin’sche Evolutionstheorie in ein Alleinheitskonzept54, in dem das Universum als beseelt verstanden wird. Der Mensch ist für Haeckel Teil dieser Einheit, seine Seele Teil der allumfassenden »Weltseele«55 : Der Gedanke eines den Gesamtkosmos umspannenden Evolutionsprozesses, der »grundsätzlichen Einheit der organischen und anorganischen Natur«, und die Vorstellung beseelter Materie sind fundamentale Bestandteile des Haeckelschen Monismus. […] Die Annahme eines einheitstiftenden, in der Allnatur waltenden Prinzips oder Gesetzes verweist auf naturreligiöse Implikationen. Der Monismus ist aus der Sicht Haeckels nicht nur eine »Confession«, ein verbindendes Element zwischen Wissenschaft und Religion, sondern wird letztlich zu einer »monistischen Naturreligion«, der »wahren Religion der Zukunft« entfaltet.56
Wilhelm Bölsche agiert als einer der zentralen Multiplikatoren des Haeckelschen Evolutionsmodells und (Mit-)Begründer einer idealistisch-monistischen Weltanschauung. Krauß-Theim nimmt Bölsches Schrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (1887)57 mit der Frage nach ihrer Relevanz für dessen monistisch-idealistische Weltanschauung in den Blick. Bölsche formuliert dort auf der Basis der Annahme eines grundlegenden Harmonieprinzips eine teleologische Auffassung der naturgeschichtlichen Zusammenhänge:58 Durch die Annahme einer treibenden Idee in der Natur als Tendenz zum Harmonischen wird der darwinistische Wirkungszusammenhang von Selektion und Deszendenz idealisiert und mit einem eschatologischen Impetus versehen: Evolution bedeutet Fortschritt in der Entwicklung der einzelnen Spezies und zielt auf die Harmonie ihres Zusammenlebens: »Das letzte Ziel des grandiosen Daseinskampfes […] ist nichts andres, als der dauernde Wohlstand von Generationen, die in Einklang mit der Umgebung gelangt sind«, heißt es bei Bölsche. Die natürliche Entwicklungsgeschichte erhält so einen moralischen und ästhetischen Sinn, Selektion zielt – anders als im Darwinismus, wo die der natürlichen Anpassung der Lebewesen an ihre Umwelt dient – immer auf Vervollkommnung, auf die Entfaltung des Guten und Schönen. Die biologische Evolutionstheorie wird monistisch interpretiert und zur idealistischen Weltanschauung überhöht.59
54 Vgl. dazu auch Haeckels 1892 in der Freien Bühne publizierten Beitrag Die Weltanschauung der monistischen Wissenschaft, in dem er seinen Grundgedanken von der »kosmischen Einheit« (Haeckel 1892, S. 1158) ausführt. 55 Haeckel 1902 [1892], S. 295. 56 Krauß-Theim 1992, S. 57. 57 Mit der 1976 von Johannes J. Braakenburg besorgten Edition des Textes, die durch zeitgenössische Rezensionen und eine Bibliographie der Schriften Bölsches ergänzt wird, liegt das wichtige Dokument naturalistischer Poetologie – das zugleich die Verzahnung von Darwinismusrezeption und Literatur illustriert – in einer hilfreichen Studienausgabe vor. 58 Vgl. Bölsche 1976 [1887], S. 49. 59 Krauß-Theim 1992, S. 60 f.
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Bölsches Grundlagen-Schrift von 1887 wird in der Forschung standardmäßig als eine der zentralen programmatischen Schriften naturalistischer Poetologie zitiert. In seinem Beitrag »Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie und ihr Text« skizziert Ingo Stöckmann Bölsches poetologische Abhandlung als »eine der historischen Antworten«60 auf die Frage nach den spezifischen (gesellschaftlichen) Funktionen von Literatur und deren kultureller Vermittlung angesichts der von ihm beobachteten Tatsache, dass im ausgehenden 19. Jahrhundert »die Orientierungsleistungen der Literatur offenbar auf die Naturwissenschaften übertreten«61. ›Wissenschaftspopularisierung‹ erweist sich aus dieser Perspektive als Problemlösungsstrategie und bezeichnet mit Stöckmann eine diskursive Konstellation, »die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts […] auf das tiefe Selbstzerwürfnis der modernen Kultur reagiert hat«62. Vor dem Hintergrund sich ausdifferenzierender, zu einander in Konkurrenz tretender Deutungs- und Sinnstiftungsmodelle im 19. Jahrhundert zielt Wissenschaftspopularisierung bekanntlich darauf, der fortschreitenden Unterbrechung zwischen den positiven Wissenschaften und der sonstigen ›Lebenswelt‹ eine gewissermaßen mittlere, jedenfalls vermittelnde Ebene entgegenzuhalten. Auch wenn diesem Interesse durch die spezifischen [i. e. humanistisch geprägten, N.I.] Bildungsvoraussetzungen des anvisierten Publikums zunächst enge Grenzen gezogen wurden, wird man derartige Wissensvermittlung zu jenem Ensemble an kulturellen Praktiken und Wertorientierungen zählen müssen, mit denen das Bürgertum nach 1850 seine kulturelle Vergesellschaftung betrieben hat.63
Wissenschaftspopularisierung fungiert damit als Strategie zur Bereitstellung einer Mittlerinstanz zwischen Wissenschaften und ›Lebenswelt‹. Bölsches poetologischer Text zielt nun darauf ab, die Literatur als den tradierten Diskursbereich, der ›Lebenswelt‹ vermittelt, vor der drohenden Funktionslosigkeit zu retten und an die Deutungs und Schöpfungsmacht der Wissenschaft anzubinden. Dabei schreibt Bölsche nach Stöckmann »einen Mythos von der Gesetzmäßigkeit der modernen Kultur«64 aus: In ihr [der modernen Kultur, N.I.] wirkt eine Fortschrittsdynamik, die die expandierenden Naturwissenschaften unaufhaltsam aus sich hervortreiben. Zugleich aber steht das 19. Jahrhundert unter dem Bann einer Selbstzerfallenheit, in der, so Bölsche, »eine Wissenschaft, die energisch vorgeht und neue Begriffe schafft« auf eine »Literatur« trifft, »die zurückbleibt, und mit Begriffen arbeitet, die keinen Sinn und Verstand mehr haben«[.]65 60 61 62 63 64 65
Stöckmann 2005, S. 55. Stöckmann 2005, S. 54. Stöckmann 2005, S. 53. Stöckmann 2005, S. 53. Stöckmann 2005, S. 55. Stöckmann 2005, S. 55. Stöckmann zitiert hier Bölsche 1976 [1887], S. 4: »Die Basis unseres
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Stöckmann verweist auf den lange Zeit bestehenden Forschungskonsens, nach dem Bölsches programmatische Ausrichtung an den Naturwissenschaften und dessen Analogisierung von Literatur und Experiment als paradigmatisch für den Naturalismus aufgefasst wurde.66 Allerdings zählt die Formel von der Verbindung von Wissenschaft und Literatur aus Stöckmanns Sicht »zunächst nur zu den Ausläufern der außerordentlich widerspruchsreichen und vielstimmigen Zola-Rezeption, die den deutschen Naturalismus von Beginn an geprägt hat«67. Mit Blick auf die oben umrissene Heterogenität, die für den Naturalismus bzw. dessen programmatische Positionen als konstitutiv anzusehen ist, ist Stöckmanns Abschwächung beizustimmen. Bölsches an Zolas Konzept des ›roman exp¦rimental‹ orientierte Analogisierung von Literatur und Experiment durchbricht, wie Stöckmann zusammenfasst, keineswegs die Schranken traditioneller Poetologie: Das Experiment im Sinne Bölsches ist lediglich ein Produkt von semantischen Ähnlichkeitsbeziehungen, so dass »Dichter« und »Chemiker« im tertium des Experiments formal dieselbe paradigmatische Struktur ausbilden wie »Menschen« und »Chemikalien« im tertium der »Reaktion«. Überdies gibt es in Bölsches »naturwissenschaftlichen Grundlagen« eine verschwiegene Rückbindung an ästhetikgeschichtliche Traditionen – und zwar in dem Maße, wie das Experiment poetologische und repräsentationstheoretische Kategorien aufruft, die unverkennbar in den Programmhaushalt des bürgerlichen Realismus und der dort in ältere Traditionen wahrscheinlicher bzw. modaler Darstellung (mimesis) zurückreichen.68
Die zentrale Forderung Bölsches in seiner Grundlagen-Schrift ist denn auch nicht die Verwissenschaftlichung der Literatur in dem Sinne, dass sich die Literatur an wissenschaftlichen Methoden orientieren solle, sondern im Sinne gesammten [sic] modernen Denkens bilden die Naturwissenschaften. Wir hören täglich mehr auf, die Welt und die Menschen nach metaphysischen Gesichtspuncten zu betrachten, die Erscheinungen der Natur haben uns allmählich das Bild einer unerschütterlichen Gesetzmässigkeit alles kosmischen Geschehens eingeprägt […].« Weiter geht die Stelle mit »[…], dessen letzte Gründe wir nicht kennen, von dessen lebendiger Bethätigung wir aber unausgesetzt Zeuge sind.« (Ebd.) Dieses Spannungsverhältnis von ›wissen‹ und ›glauben (müssen)‹, macht deutlicher, was Stöckmann unter dem »Mythos von der Gesetzmäßigkeit der modernen Kultur« versteht: Gemeint ist einerseits die von Bölsche konstatierte völlige Orientierung des »modernen Denkens« an den Naturwissenschaften und deren Zielsetzung, allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu formulieren. Andererseits verweist Stöckmanns Formulierung auf den ideologisch-geschichtsphilosophisch abgefederten Unsicherheitsfaktor, der den nach Bölsche zwar erfahrbaren, bislang aber nicht bis ins Letzte ergründbaren Gesetzmäßigkeiten innewohnt. Stöckmann vertritt in seinem Aufsatz entsprechend die These, »dass ›Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie‹ ihren programmatischen Anspruch in einer bezeichnenden Selbsthintertreibung nur durch genuin literarische, d. h. metaphorische und narrative Verfahren realisieren können« (Stöckmann 2005, S. 55). 66 Vgl. Stöckmann 2005, S. 56. 67 Stöckmann 2005, S. 56. 68 Stöckmann 2005, S. 56.
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ihrer Orientierung an den Resultaten der Wissenschaften als Voraussetzung »eine[r] echte[n] realistische[n] Dichtung«69. Auf diesen Punkt weisen auch Tom Kindt und Tilmann Köppe in ihrem Beitrag »Literatur und Medizin. Systematische und historische Überlegungen anhand programmatischer Texte des europäischen Naturalismus« (2008) hin.70 So betone Bölsche zwar immer wieder die »Wechselbeziehung zwischen naturwissenschaftlichem Denken und poetischem Schaffen«71, setze letzten Endes jedoch eine Relation von Dichtung und Wissenschaft an, »die im Wesentlichen als bloße literarische Verarbeitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse charakterisiert ist«72. Nach Bölsche muss also die Literatur den (an sich durchaus traditionellen poetologischen) Kriterien der Logik, Wahrscheinlichkeit und Motiviertheit (der Handlung) Rechnung tragen, und zwar auf der Basis des aktuellen Erkenntnisstandes der naturwissenschaftlich fundierten Humanwissenschaften73. »Jede poetische Schöpfung«, die den genannten Kriterien zu entsprechen sucht, ist mit Bölsche »vom Standpuncte der Wissenschaften betrachtet nichts mehr und nichts minder als ein einfaches in der Phantasie durchgeführtes Experiment«74. Über diesen gemeinsamen Modus des Experiments sieht Bölsche Literatur und Wissenschaft verbunden, wie Stöckmann konstatiert. Das Ziel der »echte[n] realistische[n] Dichtung«75 liegt dabei in einer produktiven, ja schöpferischen Annäherung von Naturwissenschaft und Poesie, von »Ideal und Wirklichkeit«76 : Einen Menschen bauen, der naturgeschichtlich echt ausschaut und doch sich so zum Typischen, zum Allgemeinen, zum Idealen erhebt, dass er im Stande ist, uns zu interessiren aus mehr als einem Gesichtspuncte, – das ist zugleich das Höchste und das Schwerste, was der Genius schaffen kann. Wie so der Mensch Gott wird, ist darin enthalten, aber es wird jederzeit auch darin sich offenbaren, wie so er Gottes Knecht ist.
69 Bölsche 1976 [1887], S. 11. 70 Vgl. Kindt / Köppe 2008, S. 271 f. Kindt und Köppe geht es in ihrem Beitrag zuvorderst um das Problem der undifferenzierten Verwendung des Wissensbegriffs in der Literaturwissenschaft. Wenngleich die Analyse zweier historischer poetologischer Quellentexte eine etwas fragliche Basis für ihre wissenschaftskritische Argumentation darstellen (vgl. auch die Rezension von Krämer 2009, Abs. 22), ist die Analyse von Bölsches Schrift selbst pointiert und schlüssig. Allerdings mutet es angesichts ihres starken Plädoyers für eine kritisch reflektierte Begriffsverwendung und terminologische Genauigkeit mild ironisch an, dass sie den Text fälschlicherweise auf 1886 (Entstehung) statt 1887 (Publikation) datieren. 71 Bölsche 1976 [1887], S. 39. 72 Kindt / Köppe 2008, S. 272. 73 Der Mensch ist dabei, wie Bölsche im ersten Kapitel zur »versöhnenden Tendenz des Realismus« (Bölsche 1976 [1887], S. 3 – 11) ausführt, sowohl »das vornehmste Object naturwissenschaftlicher Forschung« (ebd., S. 4) wie auch der Poesie. 74 Bölsche 1976 [1887], S. 7. 75 Bölsche 1976 [1887], S. 11. 76 Bölsche 1976 [1887], S. 11.
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Das Erhebendste dabei ist der Gedanke, dass die Kunst mit der Wissenschaft empor steigt.77
Die Funktion von Literatur ist es demnach, das, was die Naturwissenschaften über die menschliche Gattung in Erfahrung bringen, einerseits in Form ›realistisch‹ gezeichneter Figuren zu konkretisieren, diese jedoch wiederum als Fallbeispiele für die übergeordnet wirkenden Gesetzmäßigkeiten vorzuführen. Erst dann vermögen diese Figuren »zu interessiren aus mehr als einem Gesichtspuncte«, erst dann sind sie weder reine Ausnahmefälle noch bloße Typen – und erst dann leistet die Literatur aus Bölsches Sicht einen Beitrag zur Anthropologie und kann über diesen Weg auch einen Status als Orientierungs- und Deutungssystem beanspruchen, das den Wissenschaften ebenbürtig scheint. Dass diese Aussöhnung der ›wissenschaftlichen‹ und der ›literarischen Anthropologie‹, die Bölsche mithilfe einer Verschmelzung idealistischer und darwinistischer Konzepte anstrebt, bei aller Euphorie in Bezug auf den wissenschaftlichen Fortschritt zwar als etwas Erreichbares, aber dennoch klar in der Zukunft Liegendes erscheint, ist konstitutiv für diese wie für ähnliche naturalistische Programmschriften. Auch bei Bertha von Suttner, die durch den immensen Rezeptionserfolg ihres Antikriegsromans Die Waffen nieder! (1889) bekannt wurde und 1905 den Friedensnobelpreis erhielt, wird der ›progressive‹ – und gesellschaftlich läuternde – Charakter einer »naturwissenschaftlich fundierten« Ästhetik deutlich. So verweist Suttner in ihrem Essay zu Georg Brandes Modernen Geistern – einer »Galerie litterarischer Bildnisse« zu Heyse, Ibsen, Taine etc.78 – auf den Umbruchcharakter der Zeit und die Suggestivkraft des »noch undefinierbaren Begriffs«79 des Modernen: Aber das Wort »modern«, hier im Sinn von neu und nicht etwa »modisch« – denn nichts ist noch weniger »in der Mode« als der moderne Geist – dieses Wort wird in naher Zukunft seine diesfällige Ausdruckskraft verlieren, wenn das dadurch Bezeichnete älter und alt geworden sein wird; wenn diejenigen Gedanken und Gefühle, Bestrebungen und Anschauungen, zu welchen bisher erst eine kleine Schar Auserle-
77 Bölsche 1976 [1887], S. 11. 78 Schon in Wilhelm Arents für den Naturalismus programmatisch wegweisenden Anthologie Moderne Dichter-Charaktere (1885), in deren Einleitung mit dem Titel »Unser Credo« Hermann Conradi emphatisch den Aufbruch in die literarische Moderne proklamiert, wird der Anspruch auf Erneuerung der Kunst in den versammelten Gedichten in Thematik und Darbietungsweise kaum eingelöst (vgl. Stockinger 2010, S. 212). Auch in Georg Brandes’ Modernen Geistern verweist etwa die Nennung von Paul Heyse auf eine stärkere Traditionalität, als die Erneuerungsprogrammatik suggeriert. Im Gegensatz zum Manifestcharakter der Arent’schen Anthologie sucht Brandes Darstellung jedoch gerade die Traditions- bzw., mit Suttner : Entwicklungslinien von Literatur sichtbar zu machen. 79 Suttner 1887, S. 759.
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sener sich bekennt, zur allgemein herrschenden Weltanschauung herangereift sein werden. Dann wird der moderne in den universellen Geist sich verwandelt haben.80
Das semantisch noch offene Attribut ›modern‹ verweist für Suttner auf das angestrebte ›Neue‹ und vor allem Zukünftige, und deutet damit zugleich auf den wahrgenommenen Übergangscharakter der eigenen Zeit hin: Von einer Gruppenkonstellation soll der »moderne Geist« zum »universellen Geist« einer neuen Weltanschauung werden. Das Ziel der »kleine[n] Schar Auserlesener« ist es dabei, den Aufbruch in die ›Moderne‹ und den Reifungsprozess der Gesellschaft voranzutreiben – worin sich ein deutlich teleologisches Geschichtsverständnis zeigt. ›Modern‹ meint also den Modus der stetigen Progression hin auf das Ziel der universell gültigen, »allgemein herrschenden«81 Weltdeutung als Grundlage der veredelten gesellschaftlichen Ordnung. Der Begriff der ›Weltanschauung‹ markiert hier klar, in welchem Diskurskontext Suttners Programmatik zu verorten ist. So führt sie aus, dass Brandes bei seiner Dichtertypologie empirischanalytisch vorgeht und Bedingungsverhältnisse zwischen den »Eigenschaften des Dichters«, seiner Produktionsweise und seinem Werk »aufzudecken« versucht: Brandes verfährt, wie man sieht, nach der naturwissenschaftlichen Methode und steht – wie dies ja selbstverständlich bei einem »modernen Geist« der Fall sein muß – ganz und gar auf entwicklungswissenschaftlichem Boden. Das Auffallende ist hierbei, daß er seinen Standpunkt, den er nie verläßt, nie hervorhebt. Obwohl von naturwissenschaftlicher Denkart durchdrungen, wird in dem Buche das Wort Naturwissenschaft höchstens vorübergehend erwähnt, und es ist da weder von Darwin und Häckel [sic] noch von Evolution und Selektion die Rede. Gerade so wie es ja durchweg christlich gedachte Bücher gibt, in welchen Gott Vater und Gott Sohn, Sündenfall und Erlösung gar nicht besprochen werden. Und diese Art ist eigentlich die vorgeschrittenere [sic]. Sie zeigt an, daß des Autors Überzeugung selbständig in ihm fortlebt, und daß er bei seinem Publikum das Verständnis desselben voraussetzt.82
Modernität wird also gleichgesetzt mit »naturwissenschaftlicher Denkart«, und diese wiederum verweist auf die Darwin’sche Evolutionstheorie, deren disziplinenübergreifenden Siegeszug – der sich nur auch auf den Bereich der Kunst erstrecke – Suttner pointiert zusammenfasst: Die naturwissenschaftliche Denkart, die sich nach und nach aller Zweige menschlichen Wissens bemächtigt, die bei den eigentlichen Naturdisziplinen, als Zoologie, Biologie u. s. w. begonnen, später aber die moralischen und sozialen Wissenschaften ergriffen hat, weist nun als eine ihrer letzten Errungenschaften noch die Kunstkritik auf.83 80 81 82 83
Suttner 1887, S. 759. Suttner 1887, S. 759. Suttner 1887, S. 762. Suttner 1887, S. 762.
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
Die Aufgabe von Literaturkritik – und damit implizit auch die Beschaffenheit und Funktion von Literatur – beschreibt Suttner in ihrem 1887 erschienen Essay ganz im Sinne von Bölsches im gleichen Jahr erschienener Programmschrift: Die Aufgabe der naturwissenschaftlich betriebenen Kunstkritik läßt sich in wenigen Sätzen formulieren. Es heißt, die verschiedenen Erscheinungen in ihrem Zusammenhang zu erklären, ihr geschichtliches Werden zu verfolgen, ihre Beziehungen zueinander und zu der Außenwelt zu erkennen und die Gesetze zu finden, denen sie gehorchen.84
Ausgangspunkt dieser Methode ist dabei nach Suttner die von Hippolyte Taine formulierte Erkenntnis, »daß ein Kunstwerk nicht vereinzelt dasteht, daß daher die umgebende Ganzheit untersucht werden muß, von welcher das betreffende Werk abhängt, und aus welcher dasselbe sich erklärt«85. Der oben angesprochene Zukunftscharakter, den Suttner der umrissenen »naturwissenschaftlich« basierten literarischen Wertung zuschreibt, wird in Julius Harts Essay Eine scheinempirische Poetik (1889) noch deutlicher. Hart skizziert dort seine Vision der Entwicklung von einer »intuitiven« über eine »schein-empirische« hin zu einer »wahrhaft empirischen« Ästhetik:86 Aber es darf wohl keinem Zweifel unterliegen, daß die Ästhetik der Zukunft zu ganz festen Kunstgesetzen gelangen wird, die auf unumstößlicher Wahrheit beruhen, nichts mit Regelzwang zu tun haben, Genie und Talent nicht einschnüren, sondern umgekehrt ihre freie Entfaltung als erste Notwendigkeit fordern und fördert. Und so wird die laxe Alltäglichkeit, daß über den Geschmack nicht zu streiten ist, hinter der sich heute Verständnislosigkeit und Denkfaulheit so billig verschanzen, in Zukunft wohl niemandem mehr ungestraft hingehen, und zwar von dem Augenblicke an, wo eine wahrhaft empirische Poetik vorhanden sein wird: eine Poetik, welche die Psychologie des Dichters enthält und auf einer gründlichen Analyse der Werke der Dichtkunst, der verfehlten wie der als Meisterwerke bewährten, sich aufbaut, die aber nicht minder die geschichtliche Entwicklung der Poesie von ihrem Ursprunge an zu würdigen und für das Verständnis der Poesie von heute zu verwerten weiß.87
Suttners und Harts Forderung nach einer Verwissenschaftlichung der Literaturkritik auf der Basis des Methodenprimats der Empirie und des Theoriemodells der Entwicklungsgeschichte ist, wie oben angesprochen, vor dem Problem der wahrgenommenen Progressivität der ›Moderne‹ zu sehen, in der das einzig Kontinuierliche die Veränderung zu sein scheint. Als eigentliches Problem wird genau genommen die Überkommenheit des tradierten Literaturbetriebes verstanden, die einem angemessenen Umgang desselben mit der modernen Lite84 85 86 87
Suttner 1887, S. 763. Suttner 1887, S. 762. Vgl. Hart [Julius] 1889, S. 29 f. Hart [Julius] 1889, S. 29 f.
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ratur entgegensteht.88 Die Krise der literarischen Moderne ist in diesem Sinne vor allem eine Krise der ›veralteten‹ Kritik und des ›falschen‹ Publikums, wie in Kapitel 3.1.4 an einem essayistischen ›Fallbeispiel‹ zu illustrieren sein wird. Vor diesem Hintergrund wird erneut deutlich, dass es sich bei den programmatischen Abgrenzungsbewegungen des Naturalismus vom ›Idealismus‹ und dem ›poetischen Realismus‹ vor allem um für die Selbstkonstitution essentielle Distinktionsstrategien handelt und, wie eingangs mit Claudia Stockinger angemerkt, weniger um eindeutige inhaltliche Unterschiede im jeweiligen ästhetischen Programm.89 Die Tendenz der Aktualisierung idealistisch-humanistischer Konzepte, wie sie im Rahmen der Untersuchungsperspektive der vorliegenden Studie als wichtiger Faktor der ›Diskursformation‹ Naturalismus angesehen wird, lässt sich nicht nur im Kontext der Darwinismusrezeption beobachten, sondern auch im Kontext der Rezeption der Dramatik Henrik Ibsens.
3.1.2 Hin zur ›Idee‹ II – Zur Ibsen-Rezeption im deutschsprachigen Naturalismus und der Traditionslinie humanistisch-sozialkritischer Dramatik In der Dezemberausgabe 1889 der von Fritz Mauthner herausgegebenen Zeitschrift Deutschland findet sich eine kurze Rezension zu den 1890 bei S. Fischer in der Reihe Moderne Dramen erschienenen Werken Henrik Ibsens.90 Der als »R.« signierende Rezensent hebt hervor, wie erfolgreich Ibsen von den unterschiedlichsten Rezipientengruppen aufgenommen wird: Es wird von Jahr zu Jahr deutlicher, daß kein lebender Dichter der unbestimmten Sehnsucht des Publikums nach einer neuen Kunstrichtung so gelegen gekommen ist, wie Henrik Ibsen. Er wirkt auf die Gegenwart doppelt: einmal direkt durch die unerbittliche Kraft seiner besten Dichtungen, der »Gespenster« und der »Wildente«, dann aber noch mehr indirekt dadurch, daß der Name Ibsen zur Fahne einer großen Bewegung geworden ist. Allerlei Dichter und Kritiker berufen sich für die verschiedensten Lebensanschauungen und Kunstrichtungen auf denselben Mann. Auch wer nicht in der Lage ist, in Ibsen blindlings den befreienden Dichter unserer Zeit zu verehren, auch wer 88 Vgl. dazu Magerski 2004. Spezifisch zur Relevanz Henrik Ibsens für den Deutschen Naturalismus vgl. Magerskis Beitrag »Henrik Ibsen im deutschen literarischen Feld um 1900« (2007). 89 Vgl. Stockinger 2010, S. 212. 90 Mit Ibsens Drama Rosmersholm (1887 [Orig.: 1886]), zu dem Elsa Bernstein sich über ihr Pseudonym assoziiert, eröffnet der 1886 von Samuel Fischer gegründete Verlag am 28. Januar 1887 sein Programm, was dessen Zielsetzung verdeutlicht: Im Zentrum steht »die Literatur und jede buchgemäße Form der Auseinandersetzung mit den Themen der Gegenwart« (Beck [Hg.] 1986, S. 5).
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in »Rosmersholm« und in der »Frau vom Meere« ein erhebliches Nachlassen der agitatorischen Kraft, wie der plastischen Schönheit beklagen muß, der wird unter allen Umständen dankbar dafür sein müssen, daß Ibsens machtvolle Erscheinung das Interesse an künstlerischen Fragen wieder einmal geweckt hat.91
Wie oben bereits angesprochen, findet innerhalb der naturalistischen Bewegung eine »Schwerpunktverlagerung in der Gattungspräferenz«92 von der Erzählprosa auf das Drama statt, die eng mit der Vormachtstellung der Berliner Naturalisten und einer Verschiebung des Rezeptionsinteresses von Êmile Zola auf Henrik Ibsen zusammenhängt.93 Die Ausrichtung an ausländischen Vorbildern hatte insgesamt hohe Relevanz für die Entwicklung und Ausdifferenzierung des deutschen Naturalismus.94 So zeigt etwa Vera Ingunn Moe für die »Konstituierung der deutschen naturalistischen Bewegung« auf, »dass diese erst durch die Kenntnis [im Sinne der Popularität, N.I.] der Ibsenschen Dramen eine breite Basis gewann«.95 Moe skizziert pointiert das Identifikations- und Homogenisierungspotential der Ibsen-Rezeption, das in der obigen Rezension angesprochenen wurde: Zum einen wurde Ibsens ›germanische‹ Herkunft von vielen deutschen Naturalisten als Aushängeschild benutzt, um ihn als Muster glaubwürdig erscheinen zu lassen. Zum anderen ging es sehr vielen Naturalisten um eine Erneuerung der Bühne. Die Modernität der Ibsenschen Dramen konnte als interpretierbare Grösse verstanden werden, und der grössere ›Leerstellenbetrag‹ ermöglichte eine Rezeption gemäss dem Erwartungshorizont deutscher Naturalisten. Zolas Romane wirkten zwar einigend gegenüber den Vertretern einer traditionellen Ästhetik, seine Romane und auch sein Drama ›Th¦rÀse Raquin‹ waren aber zu umstritten, um einigend auf die ganze Bewegung zu wirken. Dostojewskis Romane wiederum wirkten innerhalb bestehender naturalistischer Gruppen, waren aber zu wenig umkämpft, um in der Auseinandersetzung um neue ästhetische Ziele eingesetzt zu werden.96
91 R. 1889/90, S. 231 f. 92 Bunzel 2008, S. 53. 93 Die intensive Ibsen-Rezeption dokumentiert etwa der von Wilhelm Friese herausgegebene Band Ibsen auf der deutschen Bühne (1976), der neben wichtigen Theaterkritiken aus der Konsolidierungsphase der Ibsen’schen Dramatik in Deutschland auch eine Übersicht der deutschsprachigen Erstaufführungen enthält. 94 Vgl. Bunzel 2008, S. 30 – 38. Siehe grundlegend auch Vera Ingunn Moes Studie Deutscher Naturalismus und ausländische Literatur (1983), in der sie den ästhetischen Wandel untersucht, »der sich mit der Rezeption der Werke von Zola, Ibsen und Dostojewski vom Realismus zum Naturalismus vollzog« (Moe 1983, S. 188). Die Arbeit ist nicht komparatistisch ausgerichtet, sondern bezieht sich dezidiert auf die programmatische Konstitution des deutschen Naturalismus. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Rolle, die die Rezeption der Ibsen’schen Dramatik für die Entwicklung des deutschen Naturalismus spielte. 95 Moe 1983, S. 191. 96 Moe 1983, S. 191.
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Die konstitutive Rolle von Ibsens Dramatik für den deutschsprachigen Naturalismus ergab sich nach Moe erst infolge der Übersetzung des Dramas Gengangere / Gespenster (1881 / 1884) und der durch Georg Brandes vorangetriebenen Präsentation der Dramen Ibsens innerhalb der deutschen literarischen Öffentlichkeit »im Sinne eines ›naturalistischen‹ Erwartungshorizontes«97. Mit der umfassenden Ibsen-Rezeption ab 1886/87 etabliert sich schließlich eine spezifische Ausrichtung des deutschen Naturalismus. Deutlich wird diese Entwicklung mit Moe an der Diskussion von Ibsens Dramen Gespenster98, Rosmersholm (1887) und Vildanden / Die Wildente (1884 / 1887): »Für deutsche Naturalisten war nun die konsequente Behandlung einer Idee ein wichtiges Kennzeichen ›moderner‹ Literatur.«99 Die Hervorhebung des ›Ideengehalts‹ der Ibsen’schen Dramen als dem zentralen Gütekriterium und Ausweis ihrer Modernität ist nach Moe ein Indiz dafür, »dass die deutschen Naturalisten sich nur schwer von den traditionellen ästhetischen Kategorien lösen konnten«100, verweist das Kriterium doch auf Kategorien, die für den ›poetischen Realismus‹ charakteristisch sind. Vor dem Hintergrund der in Kapitel 3.1 skizzierten notwendigerweise ›doppelseitig‹ (i. e. auf Abgrenzung wie auf Anschlussfähigkeit) ausgerichteten Positionierung der Naturalisten innerhalb der literarischen Moderne ist die Fortführung tradierter poetologischer Konzeptionen unter aktualisierter Terminologie bzw. unter dem Signum des ›Neuen‹ nicht überraschend. Aus Sicht der vorliegenden Untersuchung verweisen die Versuche, die idealistisch basierte Ästhetik zu aktualisieren, auf eine übergeordnete gesellschaftlich-semantische Problemreferenz der naturalistischen Bewegung: Wie in Kapitel 3.1.1 ausgeführt, muss die Literatur, die sich im 18. Jahrhundert als spezifisches Funktionssystem mit einem eigenen Anspruch auf Weltdeutung etabliert hat, angesichts der Konkurrenz durch die Naturwissenschaften und deren beanspruchter Deutungshoheit ihr Verhältnis zur gesellschaftlichen – und wissenschaftlich verbürgten – ›Wirklichkeit‹ neu bestimmen. Wilhelm Bölsches Grundlagen-Schrift ist beispielsweise ein entsprechender Bestimmungsversuch der Funktion von Literatur und damit ihrer gesellschaftlichen Relevanz. Die für das 19. Jahrhundert prägenden idealistisch-humanistisch fundierten Konzepte, zu denen – wie im ersten Hauptteil der Arbeit ausführlich dargestellt – 97 Moe 1983, S. 191. Insgesamt arbeitet Moe in ihrer Studie heraus, dass Ibsen innerhalb der Diskussion um die literarische Moderne und die Formierungsdebatten des deutschen Naturalismus nicht nur für die Entwicklung der Dramatik als Schlüsselfigur fungiert, »sondern zuvor bereits für die Prägung der naturalistischen Theorie in Deutschland, wie für den entsprechenden Literaturbegriff« (ebd., S. 194). 98 Mit dem 1884 ins Deutsche übersetzten, 1886 am Augsburger Stadttheater in Deutschland uraufgeführten Stück wird 1889 der Berliner Theaterverein ›Freie Bühne‹ eröffnet, auf das als nächste Inszenierung direkt Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) folgte. 99 Moe 1983, S. 137. 100 Moe 1983, S. 137.
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›Bildung‹, ›Perfektibilität‹ und mit diesen eng verknüpft auch das komplementäre Geschlechtermodell gehören, weisen um 1870101 zunehmend semantischen Aktualisierungsbedarf auf. Im vorangehenden Abschnitt zur Wiedereinsetzung des Teleologieprinzips über die strategische Umdeutung des Darwinismus zu einer monistischen Quasireligion wurde die Verflechtung naturalistischer Programmatik und idealistischer Denkfiguren bereits beleuchtet. In Ibsens Dramatik erscheinen nun für viele Rezipienten innerhalb der deutschen naturalistischen Diskursformation einerseits die Anforderungen an eine ›realistische‹ Dramenästhetik umgesetzt, bei einer gleichzeitigen Verdichtung des dramatischen Konflikts auf eine ›Idee‹, die das jeweilige Stück über die bloße Darstellung eines Wirklichkeitsausschnittes hinaushebt und der für das Selbstverständnis der naturalistischen Bewegung durchaus relevanten Vorstellung vom dichterischen ›Genius‹ Tribut zollt.102 Auch Wolfgang Bunzel stellt die »auf mehreren Ebenen«103 prägende Rolle Ibsens für den Naturalismus und vor allem die naturalistische Dramatik heraus. Wie schon Zola hat auch Ibsen über die intensive Rezeption seiner Texte »das Spektrum der bevorzugten Themen beeinflusst und entscheidend dazu beige101 Dass die deutsche Reichsgründung mit der Wiedereinführung des Kaisertums und dem folgenden innerdeutschen Kulturkampf keineswegs zu einer gesellschaftlichen und semantischen Stabilisierung führt, macht Peter Sprengel in seinem Epochenporträt deutlich: »Die Konstituierung des neuen Deutschen Reichs vollzog sich jenseits demokratischer Legitimation. Der Traum des Liberalismus, die nationale Einheit, wurde in einer Weise verwirklicht, die gerade für die engagierteste Fraktion des Bürgertums zum Trauma werden mußte.« (Sprengel 1998b, S. 9) Der Kulturkampf als Projekt der Absicherung staatlicher Hegemonie und Teilprozess gesellschaftlicher Modernisierung (vgl. ebd., S. 15) geht einher mit und verweist zugleich auf Einbußen der Religion als Institution der Weltdeutung und Strukturierung von Lebensläufen. 102 Wie Bunzel hervorhebt, ist trotz »der Anlehnung an den Selbstdarstellungsgestus der Sturm-und-Drang-Bewegung« und »der plakativen Übernahme mancher ihrer Argumentationsfiguren« (Bunzel 2008, S. 39) nur eine partielle »Erneuerung der Geniekonzeption des 18. Jahrhunderts« (Kolckenbrock-Netz 1981, S. 118) zu beobachten. So steht der Geniebegriff »bei den jungen Autoren der 1880er Jahre […] lediglich als Signum für den sich von hergebrachten Vertextungsregeln emanzipierenden Künstler, der seine Werke ohne Rücksicht auf ihren finanziellen Ertrag und ihre Wirkung beim Publikum verfasst.« Der Begriff des ›Genies‹ zielt damit nach Bunzel »vorrangig auf die ›unverbildete‹ und gleichsam urwüchsige Gestaltungsmacht des um literarische Konventionen unbekümmerten Autorsubjekts« (ebd.). Allerdings zeigt sich in der Gegenüberstellung des ›männlichen Genies‹ und der ›verweiblichten Literatur‹, wie sie etwa Leo Berg vornimmt, eine deutliche Zuspitzung des Konzeptes in Richtung der Vorstellung von einem autonomen Schöpfersubjekt (vgl. die Ausführungen in Helduser 2005 zur »Geschlechtergeschichte des Genies«, S. 208 – 214), die »die geniale Künstlerpersönlichkeit« gerade doch als »prometheische Figur« (Bunzel 2008, S. 39) erscheinen lässt. In der Analyse des ›Fallbeispiels‹ zur Annäherung idealistischer Denkfiguren und naturalistischer Programmatik in Kapitel 3.1.4 wird die deutliche Anknüpfung an einen emphatischen Geniebegriff im ›Ausklang‹ des Naturalismus zu beobachten sein. 103 Bunzel 2008, S. 34.
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tragen, dass bislang tabuisierte Wirklichkeitsbereiche zur literarischen Darstellung gelangten«104. Spezifisch für Ibsen lassen sich hierbei »die Ansiedlung der Handlung im sozialen Milieu des gehobenen Bürgertums und die Fokussierung des Sozialraums Familie als Ort von Konflikten«105 nennen. Am deutlichsten sind dabei »seine Einflüsse im Hinblick auf Dramaturgie, Figurenzeichnung und Sprachgestaltung«106 : So prägt Ibsen zum einen »das Handlungsschema des analytischen Dramas«, das zur prototypischen Form naturalistischer Dramatik avanciert, zum anderen akzentuiert er nach Bunzel »ein bis dahin reichlich unspezifisches Rollenmuster« neu und entwickelt es weiter »zu einem eigenständigen Figurentyp«107. Gemeint ist die Figur des ›Boten aus der Außenwelt‹ – oder auch ›Boten aus der Fremde‹ – deren dramaturgische Relevanz Bunzel zu Recht betont und die er präziser mit dem Terminus der ›Katalysatorfigur‹ bezeichnet sieht:108 »Die Katalysatorfigur des naturalistischen Dramas, die temporär Bestandteil der Handlung wird, dient mithin der ›Analyse des Milieus‹«109. Ihre Spezifik erhält sie dabei dadurch, dass es sich hier jeweils um eine zu einem feststehenden Figurenensemble hinzutretende Person handelt, die von ihrer Herkunft, ihrer Sozialisation oder ihrem Bildungsstand her in einem Kontrastverhältnis zu den übrigen Akteuren steht und deren Anwesenheit eine Veränderung im Geschehensablauf bewirkt. Es ist also eine Figur, die auf Grund ihrer Differenzqualität als Störquelle fungiert und so zum Handlungsauslöser in einer bis dato statischen Situation wird[.]110
Der Katalysatorfigur kommt damit innerhalb der naturalistischen Dramatik, die den dramatischen Konflikt nicht aus der Figurenhandlung, sondern aus der Statik des Milieus, der (wahrgenommenen) Determiniertheit und Handlungsunfähigkeit der Figuren motiviert, die Funktion der dramatischen Handlungsentwicklung zu, die zudem die Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart sichtbar werden lässt. Bunzel führt als Beispiele für entsprechende Funktionsfiguren neben Wilhelm Scholz in Hauptmanns Friedensfest (1890) und Alfred Loth in Vor Sonnenaufgang (1889) dezidiert Sabine Graef in Bernsteins Dämmerung (1893) an. Wie die Textanalyse zu Bernsteins Drama in Kapitel 3.2.5 zeigen wird, ist diese Kategorisierung etwas zu differenzieren. Bei einer rein funktionalen Interpretation der Figur gerät ein relevanter Aspekt der im Stück verhandelten Problemkonstellation nicht im entsprechenden Maße in den Blick. Nimmt man den 104 105 106 107 108 109 110
Bunzel 2008, S. 34. Bunzel 2008, S. 34. Bunzel 2008, S. 34. Bunzel 2008, S. 34. Vgl. Bunzel 2008, S. 34. Bunzel 2008, S. 35. Bunzel 2008, S. 35.
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Begriff des ›Katalysators‹ ernst, so würde dies bedeuten, dass die jeweilige Figur als ›Reaktionsbeschleuniger‹ auf den Handlungsverlauf wirkt, selbst aber im Laufe der dramatischen Entwicklung keine Veränderung erfährt. Auf Hauptmanns Loth scheint dies zuzutreffen: Er bleibt seinen »Prinzipien« treu und verlässt am Ende des Stücks das Elend der Familie Krause, weiterhin unverheiratet und weiterhin blind gegenüber den eigentlichen sozialen Problemen.111 Auf die Figur der Augenärztin Sabine Graef trifft dies so jedoch nicht in analoger Weise zu. So äußert sich etwa Fritz Mauthner in seiner Kritik zur Aufführung von Bernsteins Dämmerung durch die Freie Bühne in Berlin am 30. März 1893 besonders irritiert durch den beobachtbaren, für ihn jedoch nicht motivierten Wandel Sabine Graefs vom – so seine Zuspitzung – wunsch- und geschlechtslosen »Rezeptenautomat« zum verliebten »Käfer«.112 Nimmt man es terminologisch also genau, wäre sinnvollerweise von einer ›Katalysatorfunktion‹ zu sprechen, die von einer Figur erfüllt werden kann, ohne dass die entsprechende Figur über diese Funktion vollständig definiert sein muss. Ebenfalls relevant für die Ausprägung der naturalistischen Dramatik in Deutschland ist, wie Bunzel zusammenfasst, die Orientierungsfolie, die Ibsen in Bezug auf die allgemeine Figurencharakteristik und die Relation von Handlungsort und Figurenpsychologie bietet. So sind die dramatis personae stark »durch ihren Habitus und ihr nonverbales Verhalten charakterisiert« und »die Schauplätze der Handlung« fungieren »als bewusstseinsprägendes Milieu«113. Die damit einhergehende funktionale »Aufwertung der Regiebemerkungen«114 und die Tendenz der Überschreitung von Gattungsgrenzen sind etwa bei einem Blick in Roy C. Cowens zweibändige Anthologie Dramen des deutschen Naturalismus115, die auch Bernsteins Dämmerung (1893) enthält, augenfällig und gehören zu den zentralen Kriterien der literaturgeschichtlichen Kategorisierung 111 Diese stehen mit der ›sozialen Frage‹ nur mittelbar in Zusammenhang. Die Bergarbeiter, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen Loth verbessern will, treten im Drama selbst »nicht in Erscheinung« (Sprengel 1998b, S. 492). Im Zentrum der dramatischen Darstellung steht nach Sprengel »vielmehr das ›Milieu‹ der Expropriateure (Ingenieur Hoffmann) und der durch die Minen unter ihren Äckern über Nacht reich gewordenen Kohlebauern (Krause). Dabei geht es weniger um das soziale Ungleichgewicht einer Gesellschaft, in der das Elend der einen den Luxus der anderen ermöglicht, als vielmehr um die Selbstzerstörung der Neureichen selber. Die Waffe, mit der sie sich zugrunde richten, heißt Alkohol« (ebd., S. 493). Wie in Kapitel 3.2.4 zu zeigen sein wird, ist das Scheitern der Verbindung zwischen Loth und Helene nicht eigentlich Folge des Alkoholismus’ der Familie Krause, als vielmehr der deterministischen Weltanschauung Loths, die zu seinem humanistisch-idealistischen Reformprogramm und seiner Forderung an eine ›emanzipierte‹ Partnerin im Widerspruch steht. 112 Mauthner 1892/93, S. 431. 113 Bunzel 2008, S. 35. 114 Bunzel 2008, S. 35. 115 Cowen (Hg.) 1981.
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naturalistischer Dramatik. Als in dieser Hinsicht prototypisches Beispiel kann etwa Die Familie Selicke (1890) von Arno Holz und Johannes Schlaf gelten, in dem die Grenzen von narrativer und dramatischer Gattung beinahe aufgeboben scheinen. Holz und Schlaf haben auch in Hinblick auf die Handhabung von Sprache116 als Authentizitätsmarker und Medium der Manifestation sozialer wie psychischer Determiniertheit sowie die Verdichtung des Handlungsorts ›Familie‹ – die in der Familie Selicke nicht mehr als bürgerliche Sozialisationsagentur sondern determinierendes ›Milieu‹ erscheint – Standards naturalistischer Dramenästhetik gesetzt, zu der sich die naturalistischen Dramatiker positionieren müssen.117 Wie schon bei Holz und Schlaf kommt auch in Max Halbes Drama Jugend (1893) dem unbewussten Verhalten von Figuren eine hohe Relevanz für deren Charakterisierung zu. Dem Stück vorangestellt ist keine Übersicht der dramatis personae im eigentlichen Sinne, sondern eine mit »Menschen«118 betitelte detaillierte Charakterisierung – und Typisierung – der Figuren, in der die anthropologische Grundproblematik der menschlichen Situierung zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹ als Referenzproblem des Stücks markiert wird. Der anthropologische Konflikt119 wird in Halbes Jugend (1893) anhand des Versagens religiöser Leitfiguren dargestellt. Auch hier ist der intertextuelle Bezug zu Ibsens Dramen deutlich, nicht nur mit Blick auf die Religions- bzw. Kirchenkritik in Gespenster (1884), sondern auch mit Blick auf die Verhandlung der Frage nach der religiösen oder ›natürlichen‹ Verankerung von Moral in Rosmersholm (1887). Auch in Bezug auf Elsa Bernsteins ›naturalistische‹ Dramatik erweisen sich die von Ibsen angestoßenen programmatischen und dramaturgischen Entwicklungen des deutschen Naturalismus als sehr relevant: Über die Wahl ihres Pseudonyms ›Ernst Rosmer‹ verortet sich Bernstein innerhalb einer spezifischen Naturalismuskonzeption, die eher auf eine Synthese von ›idealistischer‹ und ›realistischer‹ Ästhetik hin ausgerichtet ist. Die in der Ibsen’schen Tradition stehende naturalistische Dramatik fokussiert stark auf den Problemkomplex der überkommenen bürgerlichen Werte und Normen, auf den verdichteten und zugleich häufig defizitären Sozialisationsort der Familie – und sie stellt in ihrer Verhandlung des ›Vererbungstheorems‹ dem biologischen Aspekt sehr deutlich den sozialen Faktor zur Seite. Diesen für Ibsens Dramen relevanten Aspekt der ›sozial ererbten‹ Determinationsfaktoren hebt auch Wilhelm Bölsche in seiner 116 Vgl. Bunzel 2008, S. 62 f. 117 Hauptmann nimmt diese Positionierung explizit vor, wenn er sein Drama Vor Sonnenaufgang (1889) »Bjarne P. Holmsen, dem konsequentesten Realisten, Verfasser von ,Papa Hamlet‹« zueignet; vgl. Cowen (Hg.) (1981), Bd. 1, S. 806. Vgl. auch Sprengel 1998b, S. 492. 118 Vgl. Halbe 1981 [1893], S. 433 f. 119 Siehe hierzu auch Kapitel 3.2.
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Grundlagen-Schrift von 1887 hervor. Vor dem Hintergrund der Lamarck’schen These von der Vererbung erworbener Eigenschaften an die nächste Generation,120 versteht Bölsche die »indirecte Vererbung« als eine Art psychische Kontamination des Menschen durch »das unbrauchbare Alte«, durch »veraltete Moral«121 und leere Konvention. Auf diesen Zusammenhang wird in Kapitel 3.2 zur Verhandlung um Determination und freien Willen in der naturalistischen Dramatik bzw. speziell bei Elsa Bernstein und Gerhart Hauptmann näher einzugehen sein. Bei aller Relevanz der Vorbildfunktion Ibsens für die Entwicklung einer deutschen naturalistischen Dramatik darf jedoch nicht übersehen werden, dass zugleich eine intensiv betriebene Ibsen-Kritik zu beobachten ist, die sich nicht zuletzt am Problem der ›weiblichen Individualisierung‹ entzündet.122 So ist etwa die Autorin Laura Marholm eine entschiedene Gegnerin Ibsens – und der Frauenbewegung. Wie Manfred Brauneck und Christine Müller in ihrem Kommentar zu Marholms literatur- und kulturkritischem Essay Die Frauen in der skandinavischen Dichtung (1890)123 ausführen, sieht diese die Problematik der Frau nicht in ihrer sozialen Bestimmtheit, sondern in ihrem natürlich-geschlechtlichen Wesen, das zu einer Verwirklichung des Mannes bedarf, das Weib, das ›eine Kapsel ist über der Leere, die erst der Mann kommen muss zu füllen.‹124
Auch Max Nordau übt in seiner Schrift Entartung (1893) harsche Kritik an dem, was er »Ibsenismus« nennt, und worunter er einen von Ibsen und anderen »Demagogen« gepredigten gefährlichen – da »zersetzenden« – ›Individualismus‹ versteht.125 Ibsens ›Individualismus‹ stellt er dabei einen ›Kollektivismus‹ gegenüber, dessen Status als ›natürlicher‹ und ›höherentwickelter‹ Ordnung er darwinistisch begründet: Freiheit des Individuums! Das Recht der Selbstbestimmung! Das Ich sein eigener Gesetzgeber! Wer ist dieses Ich, das sich seine Gesetze geben soll? Wer ist dieses »Selbst«, für das Ibsen das Recht fordert, sich allein zu bestimmen? Wer ist dieses freie Individuum? Daß der ganze Begriff eines Ichs, welches der übrigen Welt als etwas 120 Vgl. Bunzel 2009, S. 181. 121 Bölsche 1976 [1887], S. 20. 122 Siehe dazu die Ausführungen zum Problemkomplex ›weiblicher Individualisierung‹ und ›Exklusionsindividualität‹ in Kapitel 2.2.5. Zu verweisen ist hier besonders auf Leo Bergs pointierte Polemik und Krisenbeschreibung in Bezug auf die Bedrohung des bürgerlichen Geschlechtermodells und damit der gesamtgesellschaftlichen ›natürlichen‹ Ordnung durch die Frauenemanzipation. 123 In Auszügen abgedruckt in Brauneck / Müller (Hg.) 1987, S. 624 – 626. 124 Brauneck / Müller (Hg.) 1987, S. 626. 125 Siehe das entsprechende Kapitel in Nordau 1892/93, Bd. 2 (1893), S. 153 – 271 sowie die Auszüge (mit Kommentar) in Brauneck / Müller (Hg.) 1987, S. 627 – 634. Die folgenden Zitate aus Nordaus Schrift sind dem gekürzten Abdruck im Band von Brauneck und Müller entnommen.
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Fremdes und Ausschließendes entgegengesetzt wird, eine Täuschung des Bewußtseins ist, haben wir bereits in der »Psychologie der Ichsucht« gesehen, ich brauche also hier nicht wieder dabei zu verweilen. Wir wissen, daß der Mensch, wie jedes andere sehr zusammengesetzte und hochentwickelte Lebewesen, eine Gesellschaft oder ein Staat von einfacheren und einfachsten Lebewesen, von Zellen und Zellensystemen oder Organen ist, die alle ihre eigenen Verrichtungen und Bedürfnisse haben. Sie sind im Laufe der Entwicklung des Lebens auf der Erde zusammengetreten und haben Veränderungen erlitten, um höhere Verrichtungen leisten zu können, als sie der einfachen Zelle und dem ursprünglichen Zellenhaufen möglich sind. Die höchste Verrichtung des Lebens, die wir bisher kennen, ist das helle Bewußtsein, der vornehmste Inhalt des Bewußtseins ist die Erkenntniß und der sichtbarste und nächste Zweck der Erkenntniß ist, dem Organismus immer bessere Lebensbedingungen zu verschaffen, also sein Dasein möglichst lange zu erhalten und es mit möglichst vieler Lustempfindung zu füllen. Damit der Gesammtorganismus seiner Aufgabe nachkommen könne, sind die Bestandtheile verpflichtet, sich einer strengen Rangordnung zu fügen. Anarchie in seinem Innern ist Krankheit und führt rasch zum Tode.126
Nordau beschreibt die entwicklungsgeschichtliche Komplexitätszunahme als zielgerichtete ›um-zu‹-Entwicklung, die Abläufe innerhalb eines Organismus werden als analog zu denen innerhalb eines Staates gezeichnet. In dieser durchaus traditionellen127 Gleichsetzung staatlicher und ›natürlicher‹ Organisationsprinzipien zeigen sich zum einen die anthropomorphisierenden Tendenzen, welche den sich als dezidiert wissenschaftlich gerierenden kulturkritischen Diskurs prägen, zum anderen wird deutlich, wie sich mechanistischkausalistische und teleologische Aspekte im epocheprägenden Konzept der ›Entwicklung‹ vermengen. Das »freie Individuum« konstituiert sich für Nordau über das »bewußte Ich« als das »erwägende, sich erinnernde, beobachtende, vergleichende Denken«: Wenn man also von dem Ich spricht, welches das Recht haben soll, sich selbst zu bestimmen, so kann man nur das bewußte Ich, das erwägende, sich erinnernde, beobachtende, vergleichende Denken meinen, nicht aber die unzusammenhängenden, meist mit einander im Kampfe liegenden Unter-Ichs, welche das Unbewußte in sich schließt. Das Individuum ist der urtheilende, nicht der triebhafte Mensch. Freiheit heißt die Fähigkeit des Bewußtseins, Anregungen nicht blos aus den Reizen der Organe, sondern auch aus denen der Sinne und aus den eigenen Erinnerungsbildern zu schöpfen. Die Ibsensche »Freiheit« ist die tiefste und stets selbstmörderische Sklaverei. Sie ist die Unterjochung des Urtheils unter den Trieb und die Auflehnung eines Einzelorgans gegen die Herrschaft jener Kraft, welche für das Wohl des Gesammt-Organismus zu sorgen hat.128 126 Nordau 1892/93, Bd. 2 (1893), S. 261 f. (siehe auch Brauneck / Müller [Hg.] 1987, S. 628 f.). Der Abschnitt zur »Psychologie der Ichsucht« findet sich in Nordau 1892/93, Bd. 2, S. 3 – 42. 127 Zur Analogisierung von ›biologischem‹ und ›gesellschaftlichem‹ Organismus vgl. Meyer 1984. 128 Nordau 1892/93, Bd. 2 (1893), S. 263 (siehe auch Brauneck / Müller 1987, S. 629 f.)
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
Einen theoretischen Hintergrund von Nordaus Organismus- und Bewusstseinsbegriff stellen zweifellos Ernst Machs Überlegungen zum Konstruktionscharakter des ›Ich‹, die ebenfalls im Kontext der Darwinismusrezeption und der Diskussion um ›Bewusstsein‹ und ›freien Willen‹ zu sehen sind. In den »antimetaphysischen Vorbemerkungen« zu seinem Hauptwerk Beiträge zur Analyse der Empfindungen (1886) relativiert Mach die Objektivität von Wahrnehmung und Wirklichkeit. Das ›Ich‹ hat dabei den Status einer »ideellen denkökonomischen Einheit«129, deren Aufgabe die Suggestion der Kontinuität von Bewusstsein und Identität ist. Machs Überlegungen stellen einen wichtigen Kontext für die Literatur um 1900 und die in ihr verhandelte (Erkenntnis-)Krise des Subjekts dar. So greift Hermann Bahr, der schon 1891 die »Überwindung des Naturalismus« proklamiert,130 als umtriebiger Popularisator naturwissenschaftlicher wie ästhetischer Diskurse und als Ausrufer eines ›Jung-Wien‹131 für seinen Essay Das unrettbare Ich (1903) auf eine Formulierung Ernst Machs zurück.132 In äußerst eindringlicher Weise entwirft Bahr dort die Krise des modernen Individuums, das sich seiner Identität nicht dauerhaft versichern kann.133 Wie im folgenden Kapitel zur Relevanz der Geschlechterkrise für das Programm der naturalistischen Erneuerung des Literaturbegriffs auszuführen ist, hängen die in der Literatur um 1900 verhandelte Subjektkrise und der Wandel der Geschlechtersemantik eng miteinander zusammen.
3.1.3 ›Geschlecht‹ in der Krise – Semantisierungen des ›Weiblichen‹ und weibliche Autorschaft im Kontext des Naturalismus Wie Urte Helduser in ihrer Studie Geschlechterprogramme (2005) gezeigt hat, kommt dem ›Weiblichen‹ eine Schlüsselposition innerhalb der Programmatik des Naturalismus zu, sowohl im Sinne der abgrenzenden Setzung desselben als einem Gegenentwurf zu einer »verweiblichten« Literatur,134 wie auch im Sinne
129 Siehe die »Antimetaphysischen Vorbemerkungen« in Mach 1886, S. 1 – 24, hier S. 18. 130 Siehe Bahr 2004 [1891]. 131 Vgl. dazu das Kapitel »Herrmann Bahr und die Differenzierung der literarischen Moderne zwischen Wien und Berlin« in Sprengel / Streim 1998, S. 45 – 114. 132 Die Aussage »Das I c h ist unrettbar.« findet sich in einer Fußnote in Machs »antimetaphysischen Vorbemerkungen« (Mach 1886, S. 18, Anm. 12) und ist angesichts der funktionalistischen Untersuchungsperspektive der Mach’schen Studie zunächst weniger emphatisch-skandalös zu verstehen, als Hermann Bahrs Perspektivierung suggerieren mag. 133 Vgl. Klein 2004 [in Druckvorbereitung], S. 59 – 69 (siehe Kapitel 3.1.1, S. 179, Anm. 47). 134 Vgl. die bei Helduser 2005, S. 195 angesprochene ›Feminisierungskritik‹ der naturalistischen Programmatiker (siehe auch Kapitel 2.2.3); auch Gisela Brinker-Gabler weist darauf
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einer allegorischen Identifikationsstrategie des Naturalismus mit der ›Moderne‹. Helduser skizziert entsprechend die von Eugen Wolff in dessen Essay Die jüngste deutsche Literaturströmung und das Prinzip der Moderne (1888) vorgenommene Allegorisierung. Dieser in den Litterarischen Volksheften erschienene Text geht auf einen zwei Jahre zuvor im Verein Durch! gehaltenen und in der Deutschen academischen Zeitschrift abgedruckten Vortrag Wolffs zurück, in dem seine Verortung des Naturalismus zwischen überkommenem Idealismus und »übertriebener«, ja entstellender Wirklichkeitsdarstellung noch deutlicher wird.135 Für Wolff wird das Kunstideal der Moderne verkörpert durch »ein junges Weib mit jedem Glanze der Keuschheit, wie er keine Jungfrau zieren kann, denn es ist nicht der harmlose Zug der Nichtwissenden, es sind die schmerzverklärten Züge der Wissenden, die überwunden hat [sic]«136 : Nicht Ebenmass der Glieder schmückt dies Weib in wilder Schönheit umrahmt ihr Haar Stirn und Nacken, und in wilder Hast eilt sie dahin … Daheim harrt wohl ein geliebter Sprössling ihrer, für den sie tagsüber gearbeitet, nun wird sie mit ihm vereint den Lohn der Arbeit geniessen, darum beflügeln sich ihre Schritte. Und wer, gefesselt von ihrem Anblick, ihr folgt, der idealsuchende Jüngling wagt auch dieses Weib nicht zu berühren wie jene Göttin, aber er mag nicht vor ihr niederknien, ihr muss er folgen, mit Eifer nachstreben, um ihr nahe zu sein wortlos, wunschlos … aber nicht gedankenlos, vielmehr lebt es in ihm auf, wie wenn ein lang Gesuchtes gefunden, ein lange nach Gestaltung Ringendes sich gestalte; und es flüstert in ihm: die Moderne!137
Wolff grenzt das moderne Kunstideal sowohl ab von der lebensfernen Klassik – dem »Bild der antiken Göttin« –, als auch von dem »Ekel«-Naturalismus in der Art Zolas138 – der »Dirne, die sich frech durch die Strassen spreizt«139. Die ›Frau‹
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hin, dass die Diagnose der »Feminisierung der Kunst und Literatur« um 1900 zum gängigen »Repertoire der Kulturkritik« gehört (Brinker-Gabler 2000, S. 243). Helduser vermerkt in ihrer Arbeit, dass der Vortrag »nicht mehr nachweisbar« (Helduser 2005, S. 1) sei, mittlerweile ist der unter dem Titel Die Moderne. Zur »Revolution« und »Reform« der Litteratur erschienene Artikel allerdings als Digitalisat online verfügbar ; vgl. Wolff 1886. Wolff 1886, S. 2. Wolff 1886, S. 2. Zola selbst ist für Wolff zwar ein wichtiger Vorkämpfer der modernen Literatur, sein Fokus auf das »Hässliche« dabei aber zwar »hochmoralisch«, jedoch eben »nicht ästhetisch« (Wolff 1886, S. 1). Zolas Bedeutung liegt für Wolff vor allem darin, dass »er die Aufmerksamkeit […] wieder auf den Naturalismus als mächtiges Kunstmittel lenkte, denn wenn auch die extreme Uebertreibung desselben sich aus den Grenzen der Kunst heraus verirrt, so ist doch der künstl[e]risch verklärte Naturalismus, der zu idealer Versöhnung vollendete Realismus die grossartigste Darstellungsart jeder wahren, echten Kunst« (ebd., S. 1 f.). Mit der Proklamation des ästhetischen Werts der »Sittlichkeit« weist Wolff der Literatur eine bestimmte Funktion zu, wie es auch in der Formulierung vom »Naturalismus als mächtige [m] Kunstmittel« deutlich wird: Literatur soll das ›Ideal‹ darstellen und steht im Dienste eines Veredelungsprogramms – jedoch nicht im Sinne des ›prodesse‹ als Mittel zur Veredelung, sondern vor allem als Medium der Dokumentation des fortschreitenden Entwicklungsprozesses.
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als Allegorie der Moderne ist weder höhere Tochter noch Proletarierin oder gar »Blaustrumpf«. Sie vereint in sich das Wissen um das moderne Leben, die schmerzvolle Lebenserfahrung, und zugleich die Verklärung dessen zum Ideal. Und sie ist Mutter, erfüllt also ihren ›natürlichen Beruf‹ und bürgt damit auch für die Progression – die »Fortpflanzung« und fortschreitende Entwicklung – des (Kunst-)Ideals der Moderne. Neben dieser weiblichen Allegorisierung der ›Moderne‹ und der damit verbundenen weiblichen Attribuierung naturalistischer Schlüsselkonzepte (wie des ›Natürlichen‹, des ›Progressiven‹ und der Verbindung des ›Realen‹ mit dem ›Idealen‹) operiert der Naturalismus jedoch, wie oben angemerkt, mit der dezidierten Abgrenzung gegenüber dem ›Weiblichen‹ im Sinne des ›Epigonalen‹140 und des industrialisierten literarischen Massenmarktes. Diesen literaturpolitischen Hintergrund fasst Wolfgang Bunzel sehr schlüssig zusammen: Im Grunde verfolgte der Naturalismus eine Doppelstrategie: Er brandmarkte unter rhetorischem Rückgriff auf die herkömmliche gender-Dichotomie jede Form von geschlechtsspezifischem Adressatenbezug, der sich zu seiner Legitimierung auf die moralischen Konventionen der Gesellschaft beruft, und öffnete im Gegenzug seine Publikationsorgane weit für schreibende Frauen, die sich den Normierungen der Gründerzeitliteratur widersetzten. Damit suchte man eine Entwicklung einzudämmen, die etwa in der Mitte des 18. Jahrhunderts eingesetzt und seitdem zu einer internen Segmentierung des Marktes symbolischer Güter geführt hat.141
Gemeint ist hier die Ausdifferenzierung des Literaturmarktes in »einen elitären und einen populären Sektor […], wobei der Rezipientenkreis populärer Belletristik vorrangig aus Frauen bestand«142. Die von Bunzel skizzierte fortschreitende geschlechterspezifische Ausdifferenzierung der Literatur im 19. Jahrhundert in Hinblick auf Funktion und Adressatenbezug von Texten ist dabei im Zusammenhang mit der im ersten Hauptteil der vorliegenden Untersuchung detailliert herausgearbeiteten Basisfunktion der komplementären Geschlechtersemantik innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu sehen. Dass der Naturalismus nun, wie Bunzel ausführt, mit diesem geschlechterabhängigen Verständnis von Literatur nachhaltig aufräumt,143 ist insofern zutreffend, als er den Bereich der ›Schema-Literatur‹ aus dem Literaturbegriff ausschließt – und sich
139 Wolff 1886, S. 2. 140 Siehe dazu das ›Fallbeispiel‹ in Kapitel 3.1.4, in dem die naturalistische Abgrenzung von der gründerzeitlichen Schwemme der als solcher wahrgenommenen Epigonen- und TrivialLiteratur illustriert wird. Siehe auch die Ausführungen in Kapitel 3.2.1 zur Aufführungskritik Leo Bergs zu Bernsteins Dämmerung (1893). 141 Bunzel 2008, S. 80. 142 Bunzel 2008, S. 80. 143 Vgl. Bunzel 2008, S. 80.
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als literarische Strömung insgesamt über den Bezug zur Krise der bürgerlichen Gesellschaftsordnung konstituiert. Wie sieht es nun aber mit der Beteiligung von weiblichen Autoren an der ›Diskursformation‹ Naturalismus aus? Insgesamt ist »in den letzten beiden Dekaden des 19. Jahrhunderts ein eklatanter Anstieg der Zahl literarisch und journalistisch tätiger Frauen«144 zu verzeichnen. Bunzel fasst die Situation zusammen: Obgleich es kaum Schriftstellerinnen gibt, die man umstandslos als Naturalistinnen bezeichnen kann, und obgleich Frauen an den Gruppenbildungsprozessen der naturalistischen Bewegung keinen nennenswerten Anteil haben, spielt der Naturalismus für die Geschichte weiblicher Autorschaft doch eine besondere Rolle. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass der im Zeichen des Naturalismus entwickelte Impetus, die soziale Situation unterprivilegierter Bevölkerungsschichten und tabuisierte Themenbereiche zur Darstellung zu bringen, den Blick automatisch auch auf die Situation der Frau in der Gesellschaft lenkte.145
Bunzels von der naturalistischen Ästhetik ausgehender Erklärungsansatz der literarischen Präsenz der ›Frauenfrage‹ und schließlich auch der zunehmenden (und zunehmend wahrgenommenen) Beteiligung von Autorinnen am literarischen Diskurs ist im Kern plausibel. Er erfasst jedoch nicht den hier in den vorangehenden Kapiteln herausgestellten Zusammenhang, dass die Poetologie des Naturalismus und dessen Funktionszuschreibung zur Literatur selbst wiederum in Relation zu den als zunehmend problematisch empfundenen bürgerlichen Vergesellschaftungsstrukturen und geschlechtsspezifischen Rollenkonzeptionen ausgehandelt wird. Ungeachtet dieser aus Sicht der vorliegenden Untersuchung etwas einseitigen Perspektivierung der Zusammenhänge, ist Bunzels detaillierte Auseinandersetzung mit dem Thema weiblicher Autorschaft im Kontext des Naturalismus eine wichtige Leistung seines Einführungsbandes, die diesen von vergleichbaren Bänden deutlich abhebt. Wie unten noch auszuführen ist, blendet etwa Walter Fähnders erstmals 1998 veröffentlichte Überblicksdarstellung zu Avantgarde und Moderne auch in der zweiten, aktualisierten und erweiterten Auflage von 2010 die verstärkte Präsenz von Autorinnen im Naturalismus völlig aus. Insgesamt perspektiviert die Forschung das Thema weibliche Autorschaft, wie in Kapitel 1.2.4 bereits knapp umrissen wurde, stark aus einer feministisch-gendertheoretischen und kanonkritischen Richtung. In Darstellungen zur literarischen Moderne, die sich nicht dezidiert mit GenderAspekten befassen, ist dieser Themenkomplex noch immer eher randständig.146 144 Bunzel 2008, S. 78. 145 Bunzel 2008, S. 81. 146 Auch Philip Ajouri geht in seiner insgesamt äußerst detaillierten und differenzierten Einführung zur Literatur um 1900 (2009) weder im Abschnitt zum Naturalismus, noch im
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Der analytische Mehrwert einer funktionalistischen Untersuchungsperspektive wurde in der vorliegenden Arbeit bereits mehrfach betont. Auch mit Blick auf die systematische Beschreibung des historisch konstatierten Problems der Epigonalität weiblicher Autorschaft erweist sich eine funktionsbezogene Modellierung als fruchtbar, wie im Folgenden zu zeigen ist. In ihrem Aufsatz zu Geschlechterdifferenz und literarischem Kanon vermerken Renate von Heydebrand und Simone Winko zum Problem der geringen Kanonchancen von Autorinnen, dass ›Frauenliteratur‹ mit dem Ziel der ›Subjektwerdung‹ der Frau als Literaturtypus offenbar immer schon zu spät komme. Ihre summarische Darstellung verdeutlicht das Dilemma der (scheinbaren) ›weiblichen Epigonalität‹: Wenn um 1800 bei Autoren die ›hohe‹ Literatur autonom wird, müssen sich Autorinnen in didaktischen Romanen erst in ihre heteronome Rolle, die als ihre ›Natur‹ ausgegeben wird, einüben oder dürfen sie allenfalls partiell in Frage stellen; wenn im Laufe des 19. Jahrhunderts für die Autoren das Konzept des rede- und handlungsmächtigen Subjekt bereits fragwürdig wird, suchen Autorinnen erst Modelle von autonomen Frauensubjekten zu entwerfen.147
Angesichts der im ersten Hauptteil der vorliegenden Untersuchung gezeigten funktional motivierten Etablierung, der fortwährend versuchten (und nötigen) Stabilisierung und schließlich der ›Krise‹ der Geschlechtersemantik seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts lässt sich jedoch außerhalb eines Antezedens- bzw. Epigenesis-Modells argumentieren. Anstatt ein ›Hinterherhinken‹ weiblicher Subjektkonstitution anzunehmen, die erst zu einem Zeitpunkt diskursive Präsenz erlangt, wenn männliche Subjektkonstitution bereits einer Metareflexion unterzogen wird, ist es plausibler, beide Phänomene als zusammenhängend aufzufassen: Die Krise männlicher Subjektkonstitution steht in Zusammenhang mit den selben gesellschaftsstrukturellen und semantischen Veränderungen wie die Krise weiblicher Subjektkonstitution. Dass sich die Krise jeweils unterschiedlich auswirkt, ist vor dem Hintergrund der komplementären Konzeption des Geschlechtermodells nicht verwunderlich. Für die vom entsprechenden Wandel betroffenen weiblichen Personen ist die Krise der Geschlechtersemantik vor allem mit der Notwendigkeit verbunden, eine Individualitätssemantik zu entwickeln, die ihre zunehmende Exklusion bzw. Multiinklusion verarbeiten kann. Für die betroffenen männlichen Personen ergeben sich aus der Verschiebung des Geschlechterparadigmas entsprechend der um 1800 vollzogenen semantischen Umschaltung von Inklusions- auf Exklusionsindividualität andere semantische Folgeprobleme.148 Abschnitt zu Autorschaft auf die Beteiligung weiblicher Autoren am literarischen wie publizistischen Diskurs ein. 147 Heydebrand / Winko 1994, S. 112. 148 Auf diese Folgeprobleme bzw. deren literarische Diskursivierung geht etwa Uta Klein in
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Wie nahe die bisherige Forschung zum Teil am historischen Postulat der Epigonalität weiblicher Autorschaft argumentiert, wird etwa in Gisela BrinkerGablers Beitrag zu »Weiblichkeit und Moderne« im siebten Band der Hanser Sozialgeschichte (2000) deutlich. Brinker-Gabler führt hier die randständige Kanonisierung vieler Autorinnen auf inhaltliche und stilistische Aspekte ›weiblicher‹ Literatur zurück, die die entsprechenden Texte angesichts der ›männlich‹ geprägten literarisch-ästhetischen Tradition von vornherein aus dem Kanon ausschließen.149 So arbeiten Autorinnen in ihren Texten nach BrinkerGabler an der ›Grenze Frau‹, wodurch die Texte ihr zufolge oft ästhetische Brüche enthalten und sich schwer kategorisieren lassen: [D]ie Werke der weiblichen Autorinnen [lassen] sich in der Regel nicht eindeutig literarischen Richtungen und Schulen und damit bestehenden kritischen und interpretativen Paradigmen zuordnen […]. Tatsächlich erscheinen sie häufig als Mischungen, manchmal sogar ganz widersprüchlicher Stiltendenzen wie Naturalismus und Ästhetizismus. Verantwortlich ist dafür, daß in diesen Werken eine Arbeit an der empirischen, historischen und symbolischen ›Grenze Frau‹ erfolgt, eine theoretische und praktische Verschiebung, Verwischung oder Neuformulierung der Grenze(n) oder Differenz(en) zwischen den asymmetrischen und asynchronischen Geschlechterpositionen. Eine solche ›Grenzarbeit‹ verlangte, die Gegenwart, d. h. ›Theorie und Praxis‹ der Moderne aus geschlechtsspezifischer Perspektive in Augenschein zu nehmen und Positionen für Frauen zu entwerfen, d. h. über ›männliche‹ und ›weibliche‹ Modelle hinaus Handlungs- und Begehrensstrukturen von Frauen zu entfalten bzw. zu artikulieren. Ein solches Projekt der komplexen ›Grenzarbeit‹ und Grenzüberschreitung in unterschiedliche Richtungen war schwerlich ohne Brüche und künstliche Verrenkungen zu verwirklichen.150
Geht man wie oben ausgeführt davon aus, dass die Problematik der weiblichen Subjektkonstitution nicht substanziell anders geartet ist als die der männlichen ihren Analysen von Texten Hofmannsthals, Schnitzlers und Musils ausführlich ein; vgl. Klein 2004 [in Druckvorbereitung]. Vgl. auch den 2005 in IASL erschienenen Forschungsbericht von Walter Erhart zum Stand der interdisziplinären Men’s Studies, besonders den Abschnitt »1900/2000 – Krisen der Männlichkeit?« (S. 218 – 225) zur literarischen bzw. spezifisch narrativen Inszenierung der »Krisen und Ängste männlicher Identitäten« (Erhart 2005, S. 220). 149 In Bezug auf den grundsätzlich dominanten normativen Literaturbegriff, der historischempirisch gesehen tatsächlich vor allem von männlichen Akteuren innerhalb der mit Literatur befassten gesellschaftlichen Institutionen tradiert wurde respektive wird, ist diese These grundsätzlich plausibel (vgl. auch die Ausführungen von Heydebrand / Winko 1994, besonders S. 139 – 145). Die bei Brinker-Gabler aufscheinende Tendenz zur Generalisierung und damit potentiellen Ontologisierung einer geschlechterdifferenten Autorschaftskonzeption ist jedoch aus Sicht der vorliegenden Untersuchung problematisch – und empirisch nicht valide (vgl. Weber 1994). 150 Brinker-Gabler 2000, S. 246. Vgl. auch Brinker-Gablers Beitrag »Perspektiven des Übergangs. Weibliches Bewußtsein und frühe Moderne« im von ihr herausgegebenen zweibändigen Handbuch. Deutsche Literatur von Frauen (1988), Bd. 2, S. 169 – 205 und 557 – 559.
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Subjektkonstitution, sondern dass beide Problembereiche über eine gemeinsame übergeordnete Problemreferenz und das gemeinsame, brüchig gewordene Bezugssystem der komplementären Geschlechtersemantik miteinander verbunden sind, verlieren die von Brinker-Gabler als geschlechtsspezifisch konstatierten stilistischen Differenzen an Plausibilität: Die von ihr genannten »widersprüchlichen Stiltendenzen« lassen sich bei männlichen Autoren – nicht zuletzt im Kontext der literarischen Diskursivierung der ›Krise des Ich‹ – ebenfalls finden. Die Vorstellung von einer stilistischen ›Reinform‹ erweist sich gegenüber der Empirie schnell als Konstrukt, sowohl in Bezug auf das Gesamtwerk von Autoren wie auch auf Einzeltexte. So wird zwar etwa Gerhart Hauptmann als der naturalistische Dramatiker schlechthin gehandelt, doch sind seine Stücke für den in sich heterogenen Naturalismus151 aus Sicht der Forschung nicht ohne Weiteres als prototypisch anzusetzen.152 Insgesamt ist Hauptmanns Werk – auch darin dem von Elsa Bernstein nicht unähnlich153 – durch einen Stilpluralismus und eine Offenheit für verschiedene literarische Strömungen gekennzeichnet, die sich zum Teil dezidiert von Aspekten der naturalistischen Programmatik abgrenzen.154 Allerdings: Blickt man auf die Ebene der Wirkungsästhetik, relativiert sich der Status von stilistischer Varianz als hinreichendes Merkmal für die Kategorisierung eines Textes als ›naturalistisch‹ versus ›nicht-naturalistisch‹. Die für ›den Naturalismus‹ trotz seiner Heterogenität konstitutiven Aspekte sind aus Sicht der vorliegenden Untersuchung nicht überzeugend auf der stilistischen Ebene anzusetzen, wie in Kapitel 3.2 anhand exemplarischer Textanalysen auszuführen ist. Konsensfähig an Brinker-Gablers oben zitierten Überlegungen ist aus Sicht der vorliegenden Untersuchung, dass in der Literatur um 1900 – sowohl von 151 Siehe auch die Differenzierung bei Peter Sprengel: »Vom Naturalismus allgemein zu sprechen ist freilich kaum möglich. Man müßte sogleich zwischen verschiedenen Phasen und Flügeln, Regionen und Gattungen unterscheiden, von den einzelnen Dichter-Individualitäten ganz zu schweigen.« (Sprengel 1998b, S. 110) 152 So wird Hauptmann, wie Sprengel zusammenfasst, »über Deutschland hinaus zum führenden Vertreter des Naturalismus auf der Bühne, muß sich allerdings auch immer wieder die Frage gefallen lassen, wieweit es eigentlich mit seinem Naturalismus her sei.« (Sprengel 1998b, S. 491) 153 Siehe etwa die Märchendramen Die versunkene Glocke (1896) von Hauptmann und Königskinder. Ein deutsches Märchen (1894) von Bernstein. 154 Siehe dazu auch die Problematisierung der Epochenbegriffe und Stilbezeichnungen für die Literatur ›um 1900‹ bei Walter Fähnders: »Kompliziert wird das plurale Nebeneinander [verschiedener literarischer Bewegungen und Stilrichtungen, N.I.] dadurch, dass sich das Phänomen des Stilpluralismus nicht allein in der Synchronie der Ismen, sondern auch bei einzelnen Autoren, in einzelnen Arbeitsphasen, sogar in einzelnen Werken verfolgt werden kann.« (Fähnders 2010, S. 91) Fähnders illustriert den werkimmanenten Stilpluralismus ebenfalls am Beispiel Hauptmanns: »Gerhart Hauptmann lässt auf die Weber, Inbegriff für naturalistisches Theater in Deutschland, binnen kürzester Frist ein neuromantisch-symbolistisches Drama wie Die versunkene Glocke folgen.« (Ebd.)
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männlichen wie weiblichen Autoren – die Grenzen und Differenzen zwischen den Geschlechtern neu verhandelt werden. Die Stabilisierungsversuche der funktionalen Differenzierung des bürgerlichen Geschlechtermodells können dieses nicht dauerhaft gegen Kontingenz absichern. Innerhalb der semantischen und gesellschaftlichen Umbruchphase, in der sich ab den späten 1870er Jahren die literarische Moderne im durchaus heterogenen Programm des Naturalismus formiert, erlangt die Krise der tradierten Geschlechtersemantik schließlich den Status eines unleugbaren Faktums. Die literarische Moderne ist gerade durch die umfassende Präsenz und Problematisierung der Kategorie ›Geschlecht‹ gekennzeichnet, was allerdings in der gegenwärtigen Forschung wie oben bereits angemerkt insgesamt noch zu wenig miteinbezogen wird. Wenn etwa Walter Fähnders in seiner Überblicksdarstellung zu Avantgarde und Moderne 1890 – 1933 (2010) im ersten Hauptkapitel zu Naturalismus, Fin de siÀcle und ›historischer Moderne‹ erst im Abschnitt »Fin de siÀcle, Ästhetizismus, Wiener Moderne«155 auf »Geschlechterverhältnisse und Frauenbilder«156 eingeht, ist das aus Sicht der vorliegenden Untersuchung – und mit Blick auf die auch von Fähnders zitierte Studie von Urte Helduser zum programmatischen Einsatz der Kategorie ›Geschlecht‹ bei der Positionierung des Naturalismus innerhalb der Moderne bzw. als Moderne157 – irritierend. Dass im recht umfangreichen Abschnitt »Zur Lage des Schriftstellers«158 in keinem Unterpunkt auf die Lage von Autorinnen oder auch die dezidierte Abgrenzung des frühen Naturalismus gegenüber einer »verweiblichten« Literatur eingegangen wird – bis auf einen minimalen Hinweis auf den Programmartikel des ersten Heftes der naturalistischen Münchner Zeitschrift Die Gesellschaft, der »dem ›journalistischen Industrialismus‹ sowie, in auffallend männlich-chauvinistischem Jargon, der Backfisch-Litteratur‹ und der ›Altweiber-Kritik‹ den Kampf ansagt«159 –, erstaunt da eigentlich schon nicht mehr. Fähnders’ Fokussierung auf »Frauenbilder« und »emanzipative« Entwürfe von Weiblichkeit sowie auf die Literatur des Fin de siÀcle als eigentlicher Phase der Diskursivierung der Geschlechterkrise kann – wie in Kapitel 1.1 umrissen – als exemplarisch für einen noch immer (implizit) bestehenden Forschungskonsens gelten, dem die vorliegende Arbeit ein Korrektiv hinzufügen möchte: Mit der Krise des Ich geraten im Fin de siÀcle die Geschlechterverhältnisse und geschlechtertypischen Rollenzuweisungen in Bewegung, an deren Umwertung bereits die naturalistische Literatur sich versucht hat – am einflussreichsten sicher Ibsen mit 155 156 157 158 159
Vgl. Fähnders 2010, S. 80 – 122. Vgl. Fähnders 2010, S. 108 – 114. Vgl. Helduser 2005. Vgl. Fähnders 2010, S. 51 – 70. Fähnders 2010, S. 65.
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
seinem Nora-Drama, aber auch Strindberg mit Fräulein Julie. Beide, Nora wie Julie, setzen sich über die traditionellen Rollenzuweisungen in der patriarchalischen Gesellschaft hinweg und postulieren selbständige und selbstbestimmte Weisen einer weiblichen Existenz.160
Inwieweit sich der durch die Figur der Nora aus Ibsens Et dukkehjem (Nora oder Ein Puppenheim, 1879) verkörperte Konflikt – oder das »Noraproblem«161, wie Sigfrid Hoefert in seiner älteren Darstellung zur naturalistischen Dramatik schreibt – durch diese Beschreibung überzeugend fassen lässt, lässt sich durchaus in Frage stellen. Zweifellos fungiert Ibsens Stück als ein »Banner[] der sich formierenden deutschen Frauenbewegung«, wie Peter Sprengel in seinem Epochenporträt schreibt. Mit Blick auf die in Kapitel 2.2.2 dargelegte Ausrichtung der bürgerlichen Frauenbewegung auf die komplementäre Geschlechtersemantik und die semantisch aktualisierten Konzepte von ›Bildung‹ und ›Perfektibilität‹ erweist sich ein historisch zu schwach kontextualisierter Emanzipationsbegriff als inhaltlich ungenau und potentiell ideologiehaltig. Ibsens Puppenheim-Drama entwirft nicht eigentlich eine »Emanzipationsgeschichte« in dem Sinne, dass die weibliche Hauptfigur sich in einem emphatischen Akt der Selbstermächtigung »über die traditionellen Rollenzuweisungen in der patriarchalischen Gesellschaft« hinwegsetzt und eine »selbständige und selbstbestimmte«162 weibliche Existenzweise postuliert. Vielmehr steht im Zentrum des Dramas das Versagen des bürgerlichen Komplementärmodells, wenn Noras Gatte Torvald Helmer nicht das aus der von Nora – ihm zuliebe – vor Jahren begangenen Unterschriftenfälschung resultierende Unheil von der Familie abwendet, indem er die Verantwortung auf sich nimmt, sondern stattdessen Nora verurteilt und aus der Familie zu exkludieren droht. Das »Wunderbare«, auf dessen Erfüllung Nora hoffte, löst sich nicht ein, ihre Ehe erscheint als bloßes Zusammenleben, nicht als wirkliche komplementäre Gemeinschaft. Insgesamt ist aus Sicht der vorliegenden Untersuchung die ›Krise des Ich‹ – im Sinne der Krise der männlichen Subjektkonstitution –, wie oben in Bezug auf die These der ›weiblichen Epigonalität‹ ausgeführt, nicht als auslösender Faktor des Wandels der »Geschlechterverhältnisse und geschlechtertypischen Rollenzuweisungen« anzusehen. Statt in einem eindeutigen Ursache-Wirkungs-Verhältnis stehen beide Phänomene in einer wechselseitigen Relation und lassen sich auf das übergeordnete Referenzproblem der Krise der Geschlechtersemantik beziehen.163 Die jeweils unterschiedlich beschaffene und diskursivierte 160 161 162 163
Fähnders 2010, S. 108. Vgl. Hoefert 1993, S. 59. Fähnders 2010, S. 108. An dieser Stelle wird die Komplexität der systemtheoretisch fundierten Modellierung
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männliche wie weibliche Subjektkrise um 1900 verweisen damit auf den gesellschaftlich-semantischen Modernisierungsprozess. Eine ganz ähnliche, aus funktionalistischer Untersuchungsperspektive sehr überzeugende Deutung – die zugleich noch einmal das Problematische an Brinker-Gablers oben zitierter Auffassung von stilistischer ›Reinheit‹ unterstreicht – nimmt Peter Sprengel in Bezug auf die ›antinaturalistischen‹ literarischen Strömungen um 1900 vor. Anstatt diese in Vergleich zu jenem als völlig andersgeartet zu beschreiben oder gar eine Bewertung vorzunehmen, welche Strömung nun als ›tatsächlicher‹ Beginn der literarischen Moderne anzusetzen sei, beschreibt Sprengel die verschiedenen ›Ismen‹ als strukturell analog und vor allem als Teildiskurse eines übergeordneten (Problem-)Diskurses: Noch die antinaturalistischen Bewegungen des Ästhetizismus und Symbolismus scheinen das Modell des Naturalismus zu kopieren, lassen sich als Gegen-Reaktionen innerhalb einer von den Naturalisten eröffneten Debatte und damit letztlich als Station eines identischen Prozesses erklären: des Prozesses der literarischen Modernisierung.164
Eine Frage bleibt in Bezug auf das Thema weiblicher Autorschaft angesichts der zentralen Position, die in den folgenden Analysen den Dramen von Elsa Bernstein zukommt, noch anzusprechen: Die Frage nach der Spezifik ›weiblichen Schreibens‹ bzw. nach der potentiellen Relevanz der Kategorie ›Geschlecht‹ in Hinblick auf die Autorfunktion165. Stephanie Catani kommt in ihrer Studie zur ›weiblichen Anthropologie‹ um 1900 bei ihren Beispielanalysen literarischer Diskursivierungen von ›Weiblichkeit‹ zu dem Ergebnis, dass in den von ihr untersuchten Texten von Ricarda Huch (Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren, 1893) und Franziska zu Reventlow (Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil, 1913) »deutlicher als bei den behandelten männlichen Autoren [i. e. Schnitzler, Hofmannsthal, Wedekind, Musil und Kafka; N.I.] […] die Frage nach weiblicher Individualisierung und Autonomie« thematisiert wird.166 deutlich – die nicht mit einer mangelnden Entschiedenheit bei der Erklärung der Zusammenhänge zu verwechseln ist (im Sinne von: ›es hängt eben alles irgendwie mit allem zusammen‹), sondern sich aus der grundlegenden Annahme der wechselseitigen Relationalität von ›System‹ und ›Umwelt‹ ergibt. Der Zusammenhang von gesellschaftsstrukturellem und semantischem Wandel lässt sich auf dieser Basis letztlich beschreiben als rekurrente Wechselwirkung von Problemlösungsaktivitäten und der Entstehung von Folgeproblemen, sowohl auf gesellschaftsstruktureller wie semantischer Ebene. 164 Sprengel 1998b, S. 108. 165 Vgl. dazu grundlegend den Beitrag von Jannidis 1999 zum Nutzen des Konzepts der Autorfunktion für die literaturgeschichtliche Analyse und Kontextualisierung von Texten. 166 Catani 2005, S. 324. Vgl. auch Catanis Exkurs »Zum Problem der ›weiblichen‹ Autorschaft« (Catani 2005, S. 293 – 296), in dem sie sich vor allem auf Sigrid Nieberles für die in Folge des
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
Wie bereits im einleitenden Kapitel zu den methodisch-theoretischen Vorüberlegungen dieser Arbeit deutlich wurde, ist die typologische Bestimmung ›weiblicher Subjektivität‹ (genauso wie ›männlicher Subjektivität‹) im Sinne spezifischer Kennzeichen weiblicher (wie männlicher) Autorschaft als problematisch einzuschätzen. Die Behauptung eines genuin ›weiblichen Schreibens‹ lässt sich bislang empirisch nicht überzeugend untermauern.167 Dennoch decken sich Catanis Ergebnisse mit den im Rahmen der vorliegenden Untersuchung abgestellten Beobachtungen zur Diskursivierung der Geschlechterkrise innerhalb der naturalistischen Dramatik: Auch bei Elsa Bernsteins Dramen liegt der Fokus stärker auf den weiblichen Figuren, als dies etwa bei Gerhart Hauptmann, Max Halbe oder Arno Holz und Johannes Schlaf der Fall ist. Eine nicht-essentialistische Plausibilisierung dieses beobachteten Phänomens ist dabei mit Verweis auf die durch Autoren in der literarischen Produktion notwendigerweise zu treffende Selektion und Perspektivierung der erzählten Welt zu geben: Ohne einen ontologischen Ursachenzusammenhang zu unterstellen, ist es plausibel anzunehmen, dass der Kategorie ›Geschlecht‹ bei der bewussten wie unbewussten Vorder- und Hintergrundierung spezifischer Problemkonstellationen innerhalb eines literarischen Textes eine grundsätzliche Relevanz zukommt, da die etwa in einem Drama verhandelten Konflikte geschlechtsspezifisch zu verorten sind und die Akteure geschlechtlich distinkte Figuren sind. Fasst man nun Literatur, wie in Kapitel 1.2.3 ausgeführt, als Stätte der Thematisierung ungelöster Probleme auf, also als System bzw. Diskurs, innerhalb dessen über die Darstellung fiktionaler Welten in prädestinierter Weise ungelöste bzw. unlösbare Problemkomplexe thematisiert, im kulturellen Bewusstsein bewahrt und mögliche Lösungsstrategien durchgespielt werden können,168 so ist der stärkere Fokus auf spezifisch ›weibliche‹ historische Referenzprobleme bei Autorinnen wie Huch, Reventlow und Bernstein nachvollziehbar, ohne dass man dadurch versucht sein muss, deren literarische Werke »lebensweltlich« zu erklären. ›Weibliche Autorschaft‹ ist um 1900 zweifellos gesellschaftlich markiert, die Autorinnen partizipieren häufig zugleich am literarischen Diskurs wie auch
poststrukturalistischen Diktums vom ›Tod des Autors‹ wieder relevant gewordene Autorschaftsdebatte wichtigen Beitrag »Rückkehr einer Scheinleiche? Ein erneuter Versuch über die Autorin« (1999) bezieht. 167 Vgl. den bereits zitierten Band von Ingeborg Weber, Weiblichkeit und weibliches Schreiben (1994), sowie die pointierte Zusammenfassung zum Forschungsproblem ›weibliches Schreiben‹ in Jutta Osinskis Einführung in die feministische Literaturwissenschaft (vgl. Osinski 1998, S. 131 – 134). Auch Stephanie Catani geht in ihrer Studie auf das Problem des »weiblichen Diskurses« ein (vgl. Catani 2005, S. 15 – 18), und spricht von einer »Leerstelle innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion […], die bis heute nicht endgültig ausgefüllt werden konnte« (ebd., S. 15). 168 Vgl. Eibl 1995 und 1999.
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an der Debatte um die ›Frauenfrage‹169, so dass das Thema ›Geschlecht‹ immer schon präsent ist, sei es durch Markierung von außen oder eigene Setzung. Auf die doppelte Präsenz der Kategorie ›Geschlecht‹ – einerseits auf textueller Ebene, andererseits im Kontext der Literatur- und Theaterkritik – wird in den nachfolgenden Kapiteln anhand konkreter Textanalysen einzugehen sein. Zunächst wird das vorliegende Kapitel zum Naturalismus als ›Scharnier‹ der literarischen Moderne und diskursivem Verhandlungsraum ›idealistischer‹ und ›realistischer‹ Konzepte mit der Analyse eines als Fallbeispiel dienenden Essays abgeschlossen. Die folgenden Ausführungen übernehmen dabei die Funktion der Zusammenfassung der vorangehend aufgefächerten Aspekte, die im Rahmen der hier eingenommenen Untersuchungsperspektive als zentrale konstitutive Faktoren für die heterogene Strömung des Naturalismus angesehen werden. Zugleich fungiert das Kapitel als Überleitung zu den nachfolgenden Detailanalysen, bei denen es zuvorderst um die Frage nach der Diskursivierung der Geschlechterkrise und die Verhandlung der Konzepte von ›Bildung‹, ›Perfektibilität‹ und ›Komplementarität‹ – beziehungsweise: ›Liebe‹ – geht.
3.1.4 Fallbeispiel: Naturalismus im Spannungsfeld von Tradition und Innovation – Zur Krise der »modernen Litteratur« als Krise des Bildungsbürgertums Wichtige programmatische Schriften der naturalistischen Bewegung – zum Teil zentrale Manifeste, zum Teil exemplarische Quellentexte – sind über verschiedene Editionen gut zugänglich,170 nichtsdestotrotz sind darüber hinaus in den zentralen Publikationsorganen wie der Freien Bühne und der Gesellschaft natürlich noch eine Unzahl weiterer, noch nicht erschlossener Quellen zu finden, die die intensive Auseinandersetzung um die literarische Moderne illustrieren. Ein solcher Quellentext, der verschiedene für die vorliegende Untersuchung 169 So etwa Irma von Troll-Borostyni oder Hedwig Dohm (siehe Kapitel 3.2.6). 170 Siehe vor allem die umfangreiche Sammlung Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880 – 1900 von Manfred Brauneck und Christine Müller (1987); ferner Erich Ruprechts Materialband Literarische Manifeste des Naturalismus (1962) sowie Theo Meyers für erste Studienzwecke hilfreiche Sammlung zur Theorie des Naturalismus (1997 [1973]). In beiden Anthologien wird die starke Präsenz der Geschlechterproblematik innerhalb naturalistischer Programmschriften nicht ersichtlich. Besonders bei der umfassenden Zusammenstellung von Brauneck und Müller, die in einzelnen Kommentaren zu den Quellentexten durchaus auf die Relevanz der ›Frauenfrage‹ oder der naturalistischen Abgrenzung von einer »verweiblichten« Literatur eingehen, fällt das Fehlen eines entsprechenden eigenen Abschnitts deutlich auf – und bekräftigt so die Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung, die Rolle der Geschlechtersemantik für den Naturalismus deutlicher herauszustellen.
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intertextuelle bzw. interdiskursive Bezüge aufweist und anhand dessen sich die in den vorangehenden Abschnitten ausgelegten Fäden zusammenführen (und zugleich an die Ausführungen im ersten Hauptteil der vorliegenden Untersuchung anbinden) lassen, soll im Folgenden als Fallbeispiel für die Aktualisierung idealistischer Konzepte im Kontext des Naturalismus herangezogen werden. Der 1894 in der Gesellschaft erschienene siebenseitige Essay Der Naturalismus und das deutsche Publikum des nicht näher bekannten Beiträgers Curt Heinrich171 lässt sich als exemplarisch für die Orientierungskrise des Literaturbetriebs lesen und zieht ein Resümee nach der Hochphase der naturalistischen Theoriebildung, die die moderne Literatur poetologisch zu begründen suchte. Zu den anzitierten Kontexte gehören unter anderem Bölsches Schrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Literatur (1887) sowie das im Zuge der Darwinismusrezeption und teleologisch-monistischen Umdeutung der Evolutionstheorie vor allem durch Haeckel und Bölsche entworfene Weltanschauungskonzept, Nietzsches Lebensphilosophie und Konzept der ›Umwertung aller Werte‹, wie auch die um 1900 äußerst populäre Schrift Psychopathia sexualis Richard von Krafft-Ebings (1886; 1893 bereits in der 8., erweiterten Fassung erschienen). Bölsches Schrift Das Liebesleben in der Natur. Eine Entwicklungsgeschichte der Liebe ist erst 1898 erschienen, die Entmoralisierung von Sexualität und naturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Triebhaft-Sinnlichen findet sich aber bereits in Bölsches früheren Schriften. In Bezug auf die nachfolgend in Kapitel 3.2 in den Blick zu nehmende naturalistische Dramatik und die in ihr beobachtbare Aushandlung von ›Perfektibilität‹ und Geschlechterkomplementarität erweist sich der Essay von Heinrich als Glücksfund: Die Krise der literarischen Moderne ist aus seiner Sicht vor allem eine Krise des Bildungsbürgertums. Wie im ersten Hauptteil der vorliegenden Arbeit gezeigt wurde, steht die komplementäre Geschlechtersemantik in einer direkten funktionalen Relation zur bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Deren Normen und Werte, deren Begriffsinventar und gepflegte Semantik weisen Ende des 19. Jahrhunderts einen enormen Aktualisierungsbedarf auf. Wenn der Naturalismus als erste umfassende Phase der Diskursivierung der Geschlechterkrise – im Sinne der Krise der komplementären Geschlechtersemantik und der an diese geknüpften klaren geschlechtsspezifischen Rollenzuweisungen sowie für den ›Lebenslauf‹ von Männern wie Frauen relevanten Orientierungsfunktion – verstanden wird, erhält der im Folgenden ausgewertete Essay den Charakter eines wichtigen Dokuments der Relation soziostrukturellen und semantischen Wandels. Die Argumentationsstruktur des Textes basiert – auch darin wieder exemplarisch für den Versuch der Neuverortung der ›modernen‹ Literatur – auf einer 171 Im Folgenden wird der Essay unter der Sigle ›CH‹ mit Seitenangabe im Fließtext zitiert.
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doppelten Abgrenzungsbewegung: Einerseits geht es dem Autor um eine Abgrenzung vom ›epigonalem‹ idealistischen Realismus und dem nach MärchenSchemata funktionierenden ›Trivial-Realismus‹172 der im Erfolgs(massen)medium Familienzeitschrift erscheinenden Fortsetzungsromane und Novellen.173 Kunst bzw. Literatur soll nach Heinrich keinem – aus seiner Sicht – seichten prodesse et delectare dienen und das bürgerliche Mittelstandspublikum in seiner Konsumhaltung bestärken, sondern das wahre sinnliche Leben und die »Tiefen der menschlichen Natur« (CH, S. 1478) darstellen,174 ohne dabei jedoch in Elendsdarstellungen abzudriften. Hier wird bereits die zweite Abgrenzung deutlich, nämlich gegenüber einem Naturalismus Zola’scher Prägung:175 Aufgabe der Kunst ist nach Heinrich nicht die Widerspiegelung von Wirklichkeit, sondern die Darstellung der »Wahrheit« (CH, S. 1480). Die programmatische Forderung, dass der moderne Dichter »aus dem Zeitlichen das ewig Gültige herauszuarbeiten« habe, findet sich exemplarisch in Heinrich Harts Manifest Die realistische Bewegung. Ihr Ursprung, ihr Wesen, ihr Ziel im ersten Jahrgang des Kritischen Jahrbuchs (1889): Nicht das Was bedeutet in der Literatur das meiste, sondern das Wie. Die stoffliche Modernität, die Darstellung gegenwärtiger Parteikämpfe, die Verwertung ›brennender‹ Zeitfragen ist sehr geeignet, durch sich selbst die Teilnahme weiter Kreise des Publikums zu gewinnen, aber dieser Erfolg ist ein Erfolg für den Tag, wenn der Dichter nur das Stoffliche bietet, wenn er es nicht versteht, aus dem Zeitlichen das ewig Gültige herauszuarbeiten, die Charaktere realistisch und psychologisch zu Typen zu vertiefen, die Tendenz zum Ideal zu erheben. Auf die Tendenz legt sich bald der Staub der Jahre. Nach wenigen Jahrzehnten schon steht das Volk den Gegenständen ehemaligen Hasses und ehemaliger Liebe gleichgültig gegenüber, und was der Dichtung, als sie entstand, zum Segen gereichte, wird ihr in der Folge zum Fluch.176
Die Brüder Heinrich und Julius Hart proklamieren einerseits einen empirischnaturwissenschaftlich gestützten »objektiven Realismus«, grenzen sich jedoch andererseits von einem Abbildungs-Realismus ab. Statt »Wirklichkeit« abzu172 Siehe dazu im Folgenden genauer Kapitel 3.2.5. 173 Vgl. dazu Bunzel 2008, S. 8, Sprengel 1998b, S. 108 und grundlegend Stegmann 2006. 174 Auch hierzu siehe Stegmanns Überblick zu Familienzeitschriften und Illustrierten im ›langen 19. Jahrhundert‹ und der Entwicklung von »Unterhaltung als Massenkultur«, insbesondere den Abschnitt zur »Familienblattmoral«, die Themen wie Erotik bzw. Sexualität generell, Scheidung oder auch Selbstmord aus der dort abgedruckten Literatur verbannte (vgl. Stegmann 2006, S. 25 f.). 175 Zu Zola als »kontrovers diskutierte[r] Bezugsfigur für die naturalistischen Schriftsteller in Deutschland« (Bunzel 2008, S. 32) siehe etwa die Dokumente zur Zola-Rezeption in Brauneck / Müller (Hg.) 1987, S. 646 – 736. 176 Hart 1889, S. 52. Harts Abgrenzung gegenüber ›Tendenzstücken‹ und die Forderung an den Dichter, dass dieser »aus dem Zeitlichen das ewig Gültige herauszuarbeiten« habe, verweist auf den spezifischen Aktualisierungsversuch idealistischer Axiomatik.
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bilden, müsse Literatur die »Wahrheit des Lebens« durchdringen und gestalten, sie habe »in erster Reihe« mitzuarbeiten »am großen Bau der Menschheit, der allumfassenden Humanität«177 und solle schließlich – wie auch Bölsche dies in seiner Grundlagen-Schrift proklamiert – der Wissenschaft ebenbürtig sein und sich in ihren Schöpfungen an der Natur (statt am ›Ideellen‹) orientieren: Die Wissenschaft erforscht die Gesetze, welche Natur und Menschheit beherrschen, die Dichtung gibt eine Neuschöpfung beider in typischen Charakteren, in Verkörperung aller Erscheinungen, ihrem Wesen, ihrem ideellen Kerne, nicht ihren zufälligen Äußerlichkeiten nach. Gesetze dort, hier Typen. Diese Aufgabe erfüllen kann jedoch die Poesie nur, wenn sie objektiv verfährt, wenn der Dichter schafft wie die Natur selbst.178
Eine solche Literaturkonzeption erfordert jedoch eine entsprechend ›gebildete‹ Leserschaft. Gerade mit dieser steht es nach Curt Heinrich jedoch nicht zum Besten. In seinem Essay bewertet er »die Beziehungen zwischen unserem modernen Naturalismus und dem gebildeten deutschen Publikum« als »leider noch sehr gering und, wo vorhanden,« als die »denkbar schlechtesten« (CH, S. 1476). Den Bildungsstatus des Publikums bzw. der Leserschaft sieht er dabei sehr kritisch: Das ›Bildungsbürgertum‹179 habe seine kulturelle Bildung weitgehend eingetauscht gegen akademisches Leistungswissen (vgl. CH, S. 1480 f.). In dieser Beobachtung artikuliert sich die Krise der literarischen Moderne, die auch Krise der Kritik ist: Die ›Bildungselite‹ ist nicht in der Lage, über die neue Literatur zu urteilen, da sie die nötige kulturelle Kompetenz nicht mehr besitzt und mit ›veralteten‹ Wertungskriterien und einem aus Sicht der sich formierenden jüngeren literarischen Strömungen überkommenen Literaturbegriff operiert. Das Publikum des Mittelstandes, von jeher der traditionelle Träger unsrer Kultur und Wissenschaft, sträubt sich ängstlich und hartnäckig gegen alles, was den leisesten Beigeschmack von Naturalismus hat. Sehnsüchtig, anhänglich umklammert es seine 177 Hart 1889, S. 52 f. 178 Hart 1889, S. 53. 179 Auf das »widersprüchliche Verhältnis« der literarischen Moderne zum Bürgertum geht Helmuth Kiesel in seiner Geschichte der literarischen Moderne (2004) ein. Kiesel hebt hervor, dass die naturalistischen Autoren durchaus an einer »Kooperation« mit der bürgerlichen Gesellschaft interessiert waren (vgl. Kiesel 2004, S. 40) und sich noch nicht wie die »spätere[n] Avantgardisten« (ebd.) vom Bürgertum als diesem überlegen abgrenzten. Allerdings darf hier nicht die dezidierte Kritik gegenüber dem tradierten und als ausgehöhlt verstandenen (bildungs)bürgerlichen Wertesystem ausgeblendet werden, von dem sich etwa Eugen Wolff und Leo Berg mit humanismus- und idealismuskritischen Äußerungen distanzieren. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Etablierungsversuch der Naturalisten im ›literarischen Feld‹ und beim bürgerlichen Publikum und dem gleichzeitigen Distinktionsbedürfnis – also letztlich die Spannung zwischen marktpolitischen Notwendigkeiten der »Verträglichkeit« und literaturpolitisch-ästhetischen Notwendigkeiten der Neuerung – hat auch Lothar L. Schneider in seiner oben zitierten Arbeit Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik (2005) überzeugend in den Blick genommen (vgl. Kapitel 3.1).
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Ebers, Dahn, Freytag; die Besseren schwärmen für Paul Heyses Novellen […]. Die zierlichen Goldschnittbände aus dem Verlag von Liebeskind gewähren auf dem Weihnachtstische mit den verschiedenen papyris Ebers eine reizvolle Abwechslung. Eine besondere Spezies ist der Frauenroman. Auch nach dem Tode der genialen Erfinderin ernährt die Marlittiadenindustrie [Hervorhebung N.I.] so manches Mitglied des schönen Geschlechts, und ach, das Monopol wird nicht einmal immer von den männlichen Kollegen respektiert. (CH, S. 1476)
Heinrichs knapper Abriss knüpft an die im Umfeld der Diskursformation des Naturalismus erhobene Forderung nach der Erneuerung der Literatur an und impliziert die Unterscheidung zwischen dem sich breit etablierenden literarischen Massenmarkt – das Genre des ›Frauenromans‹ wird dabei als Höhepunkt der Industrialisierung der Literaturproduktion angesehen, bei der nicht mehr Kunst, sondern Konsumgüter erzeugt werden180 – und dem eigentlichen Bereich der Literatur als Kunst, der durch (Weiter-) Entwicklung gekennzeichnet ist.181 Das Bildungsbürgertum erscheint als konsum- und prestigeorientiert und kann mit Literatur nach Heinrichs satirischer Zusammenfassung nur in Form von Unterhaltungslektüre oder in Form von repräsentativen Prachtausgaben etwas anfangen.182 Die Frage nach der Aufgabe von Literatur innerhalb der modernen Gesellschaft ist im Umfeld des Naturalismus viel diskutiert.183 Der gebildete Mittelstand weist der Kunst nach Heinrich vor allem die Funktion des delectare zu: Die Kunst soll ja erfreuen. Mit diesem halb seraphisch gehimmelten, halb polemisch gebrüllten Schlagworte wird alles, was die Augen unangenehm öffnen oder Nerven und Leidenschaften in eine, das sanfte Maß der aurea mediocritas bös überschreitenden Erregung setzen könnte, resolut beiseite geschoben. Den Namen Zolas in Damengesellschaft zu nennen, gilt als Verbrechen, und als ein Unglückspilz kürzlich in allerdings etwas exklusiver Gesellschaft von Halbes Jugend zu sprechen anfing, entstand epidemisches Kopfschütteln und Naserümpfen. In Berlin selbst verschwindet dieses 180 Vgl. dazu die Zusammenfassung bei Fähnders zur »Lage des Schriftstellers« im ausgehenden 19. Jahrhundert: »Die Subsumption von Kunst und Literatur unter die Marktgesetze der ›freien Konkurrenz‹ zeitigte für die Autoren massive Veränderungen: die Entwicklung der Literatur zur Ware und die des Schriftstellers in die Lohnabhängigkeit.« (Fähnders 2010, S. 52; Hervorhebung im Original fett gedruckt) 181 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 3.1.3. 182 In Bezug auf den Repräsentations- und Ausstattungscharakter bildender Kunst im »Lebenshaushalt der Gründerzeit« siehe auch Wilhelm Schlinks Beitrag »‹Kunst ist dazu da, um geselligen Kreisen das gähnende Ungeheuer, die Zeit, zu töten.‹« (1992). 183 Vgl. exemplarisch Wilhelm Bölsches vielrezipierte Grundlagen-Schrift (Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik, 1887) sowie Wolfgang Kirchbachs ähnlich argumentierende Schrift Was kann die Dichtung für die moderne Welt noch bedeuten? (1888) (zur Verbindung von naturwissenschaftlicher Weltwahrnehmung und einem idealistischen Wahrheitsbegriff, der für die Funktionszuschreibung von Poesie sowohl bei Bölsche als auch bei Kirchbach grundlegend ist, vgl. Brauneck / Müller (Hg.) 1987, S. 402).
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konservative Element schon vielfach hinter dem zweiten Publikum, von dem ich später reden will.184 Aber überall verdanken Halbe, Tovote, selbst Sudermann (Ehre, Sodoms Ende bes.) nicht jenen privilegierten Bildungsträgern ihre großen Erfolge, sondern der allmählich heranwachsenden emanzipierten Jugend [Hervorhebung N.I.]. Im Gegenteil, Väter und Mütter wetteifern miteinander, ihre christlichen Häuser von dem modernen »Schmutze« rein zu halten, und es ist oft possierlich anzusehen, wie bei solchem Generalwaschfeste Männlein und Weiblein einträchtiglich mit der grünen Seife der Moral und dem Spülwasser ethisch-religiöser Phrasen für Thron und Altar herumhantieren.185 (CH, S. 1476 f.)
An naturalistischen Darstellungen schrecken das gebildete Mittelstandspublikum nach Heinrich zwei Faktoren ab: »Sinnlichkeit und soziales Elend« (CH, S. 1477). Die »Feigheit und Schwäche« (CH, S. 1477), die dieser Ablehnung nach Heinrich zugrunde liegen, sieht er als Folge der Dominanz religiöser Weltdeutungen und Wertesysteme und hält diesen – konsequenterweise mit darwinistischem Vokabular – die monistische Weltanschauungsphilosophie entgegen: Was es [das Publikum, N.I.] geworden ist, ist es in notwendiger Folge, nach dem ehernen Gesetze historischer Entwicklung geworden. Das Entsagungsgebot Jesu, durch fast zwei Jahrtausende getreulich vom Vater dem Sohne vererbt, läßt auch den Bürger des neunzehnten Jahrhunderts in jeder Fleischeslust nur die Sünde erblicken, und von der Sünde, wenn sie auch noch so süß ist, darf man nicht reden. Ja selbst wo diese Erinnerung schon erloschen ist, wo die Keime moderner Weltanschauung auf fruchtbaren Boden gefallen sind, schämt man sich der »tierischen Leidenschaft«. (CH, S. 1477)
184 Zum ›weltstädtischen Format‹ Berlins und der (beworbenen) weltanschaulichen Offenheit des Berliner Bürgertums siehe auch die von Günther Rühle edierten »Berliner Briefe« des Kritikers und Essayisten Alfred Kerr, der die Breslauer Zeitung zwischen 1895 und 1900 mit seiner Kolumne aus der Reichshauptstadt beliefert. Das Lob auf Berlin findet sich (dem Programm der Kolumne gemäß) an vielen Stellen, so auch im Brief vom 17. November 1895, in dem Kerr die Aufführung von Bernsteins Künstlerkomödie Tedeum (ED 1896) am Berliner Deutschen Theater kommentiert – die ihm, anders als den von ihm beobachteten Autoren und Kritikern wie Herman Sudermann, Max Halbe und Fritz Mauthner, keine Begeisterung entlocken kann (vgl. Kerr 1997 [1895 – 1900], S. 93 – 96). Kerr schildert seine Unterhaltung mit dem »angebliche[n] Ernst Rosmer«, der »im Leben bekanntlich Elsa Bernstein« heißt (ebd., S. 95), in der er entgegen Bernsteins Verteidigung der »Bierstadt« München (ebd., S. 96) zu dem Resümee kommt, »daß Berlin für den literarischen Menschen doch die beste Stadt der deutschredenden Länder ist«: »Wien mit seiner zurückgebliebenen Kunst kommt nicht in Betracht; auch für den nicht, der keine modern-literarischen Inspirationen sucht, der aber das lebendige, flutende, flotte Leben begehrt, welches in Berlin um drei Uhr nachts noch immer stärker ist als in Wien um fünf Uhr nachmittags. […] In München vollends wird man – man braucht nur so verwegen zu sein wie die tapfere Frau Elsa Bernstein – ein wenig boykottiert.« (Ebd.) Vgl. auch die umfangreiche Darstellung zur Berliner und Wiener Moderne von Peter Sprengel und Georg Streim (1998). 185 Zugespitzt findet sich das hier von Heinrich zitierte Motiv des bigotten Moralisierens und das Thema der Generationenkluft u. a. in Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (1891).
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Der von Heinrich verwendete Begriff der ›Liebe‹ schließt Sexualität mit ein bzw. ist äquivalent zu ›körperliche Liebe‹: Die Liebe, der wir die, wenigstens für den Augenblick, ungetrübtesten Stunden des Glücks verdanken, wird bei Tage mit dem grauen Nebelschleier des Unanständigen, shocking verhängt. (CH, S. 1477)
Bei dieser konzeptuellen Engführung, die wie in Kapitel 1.1.1 gezeigt exemplarisch auch in Schnitzlers Reigen (1903) greifbar wird, handelt es sich nicht um eine ›individuelle‹ Begriffsverwendung, sondern um historische Semantik, die im Rahmen eines umfassenderen Diskurses ausgehandelt und konsolidiert wird: (Körperliche) Liebe ist das, was im alltäglichen ›Kampf ums Dasein‹ die »ungetrübtesten Stunden des Glücks« (CH, S. 1477) beschert – diese Position rekurriert zum einen auf die Entmoralisierung der Sexualität als natürlichem Fortpflanzungsakt im Kontext der Evolutionstheorie, geht über die Vorstellung von einer reinen Fortpflanzungsfunktion der Sexualität aber zugleich deutlich hinaus. Einen wesentlichen Hintergrund dieser Deutung von Sexualität stellt das Alleinheitskonzept dar, nach dem Sexualität eine Schlüsselfunktion im Kosmos zukommt. Der Gedanke der ›Alleinheit‹, der auch auf die Denkfigur von der ›Kette der Wesen‹186 rekurriert, ist für den monistisch-teleologischen Darwinismus konstitutiv, der die ›materialistische Kränkung‹, mit der die Abstammungslehre den Menschen als Krone der göttlichen Schöpfung auf einen Platz in der naturgesetzlich erklärbaren Artenreihe zurückverweist, durch eine strategische Wiedereinsetzung der Teleologie abfängt.187 Idealtypisch manifestiert sie sich in Bölsches bereits angesprochenem dreibändigem Werk Das Liebesleben in der Natur. Eine Entwicklungsgeschichte der Liebe (1898). Dies wird besonders deutlich in Heinrichs Ausführung, dass die jungen naturalistischen Dichter, die sich von den Gründerzeitliteraten und der die Sexualität aussparenden Literatur abzugrenzen suchten, in der »Sinnlichkeit« die »Quintessenz aller Lebenskraft« (CH, S. 1478) erkannten. Innerhalb der monistischen Weltanschauung ist Sexualität diejenige Kraft, die den Fortschritt aller Wesen zu einer höheren Entwicklungsstufe ermöglicht – und ist somit auch Grundvoraussetzung für die menschheitliche Perfektibilität. Die Aufwertung der Sexualität bzw. die Ablehnung moralischer Wertungskriterien in Bezug auf dieselbe ist eine klare Folgerung aus den Prämissen des darwinistisch aktualisierten Idealismus. In Kapitel 3.2.5 wird näher darauf einzugehen sein, wie der 186 Bekannt wurde die Formel durch die Arbeit The Great Chain of Being: A Study of the History of an Idea (1939) von Arthur O. Lovejoy, der wesentlich an der Etablierung des Forschungsbereichs der Ideengeschichte beteiligt war. Vgl. dazu den Beitrag von Philip Ajouri »Lovejoy und die Folgen. Zur Geschichte der History of Ideas« in der Zeitschrift für Ideengeschichte (2007). 187 Vgl. Sprengel 1998a, S. 21 f.
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monistische Alleinheitsgedanke und das ›Schlüsselprinzip‹ der Sexualität innerhalb des eng mit dem literarischen Diskurs verzahnten (reform)pädagogischen Diskurses zur Restitution des Perfektibilitäts- und Ergänzungsgedankens herangezogen wird. Wie in Heinrichs Ausführungen insgesamt deutlich wird, hat sich im Zuge der Darwinismusrezeption die Forderung nach einem gesellschaftlichen Paradigmenwechsel herauskristallisiert: Sexualität unterliegt nach Auffassung derjenigen, die den naturwissenschaftlichen Fortschritt begrüßen, nicht mehr dem Hoheitsgebiet der Religion, sondern dem der Wissenschaften, und ist also keine Frage mehr von Moral, sondern von ›Normalität‹ und ›Anormalität‹.188 Die moralische Verurteilung der Sinnlichkeit von Seiten der Religion macht aber nach Heinrich auch vor dem explizit der Fortpflanzung dienenden Institut der Ehe nicht halt: Selbst für die Ehe, dieses heilige Institut, die Sünde moralisch zu machen, ist eine Ausnahme [von der moralischen Verurteilung der Sexualität, N.I.] selten gestattet. Jeder weiß zwar, daß selbige erfunden ist, das alte Jehovagebot zu realisieren: »Seid fruchtbar und mehret euch!« und preist von Herzen die Einrichtung, ohne welche kein Exemplar des homo sapiens mehr sündigen und seine Sünde gewissenhaft abbüßen könnte, aber es offen auszusprechen oder gar sinnliche Leidenschaft und brünstige Liebeslust künstlerisch darzustellen, ist auch hier ein horreur. Alles, was auf diese gewaltige Kraft des menschlichen Organismus und seine mannigfaltigen Bethätigungen und Komplikationen im sozialen Leben deutlich, offen hinweist (weise verhüllt, mit idealen Floskeln verbrämt, steht die Sache ganz anders), ist in Acht und Bann gethan; Unwissenheit heißt Unschuld, Schwäche Tugend. Wahrlich es ist Zeit, daß wieder einer aufstände, um mit schallender Stimme hineinzurufen: letamoe?te189 Wandelt euch! Werft die Maske ab, die euch schon lange nicht mehr steht. Laßt den Christen, werdet zum Menschen! – (CH, S. 1477 f.)
Hier liegt eine ähnliche Formulierung vor wie in Bernsteins ›spätnaturalistischem‹, deutlich am pädagogischen Diskurs um 1900 ansetzenden Drama Maria Arndt (1908), allerdings kategorial versetzt: Während Maria Arndt in Bernsteins Stück äußert, dass »es für die Frau wohl an der Zeit [wäre], Gottes Tochter zu werden«190, liegt die Menschwerdung in Heinrichs Formulierung gerade in einer 188 Siehe dazu die von Richard von Krafft-Ebing in dessen Schrift Psychopathia sexualis (1886 et passim) vertretene Auffassung, dass Homosexualität aufgrund ihres ›Angeborenseins‹ und der nicht gegebenen ›Ansteckungsgefahr‹ nicht moralisch zu verurteilen sei. KrafftEbing setzte sich auf der Basis seiner Deutung von Homosexualität als angeborener neuropsychopathischer Störung einerseits (wenn auch vergeblich) für deren Entkriminalisierung ein, trug durch diese Ontologisierung andererseits jedoch auch entscheidend mit zur Pathologisierung von Homosexualität bei. 189 ›Metanoeite‹ von griech. ›meta‹ = »um, über« und ›noein‹ = »denken«, Aufforderung Jesu im Evangelium nach Matthäus. 190 Rosmer 1908, S. 27.
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Loslösung vom christlichen Ordnungssystem, das ihm zufolge die menschliche ›Natur‹ verleugnet. Neben dem Faktor der Sinnlichkeit war der zweite Grund für die Ablehnung des Naturalismus durch das »Publikum im Mittelstande« (CH, S. 1478) nach Heinrich »die ungeschminkte Darstellung des sozialen Elends und der Tiefen der menschlichen Natur« (CH, S. 1478). In der Ablehnung der Darstellung sozialen Elends in der Kunst zeigt sich für Heinrich einerseits erneut die Rückständigkeit des bürgerlichen Publikums; zum anderen aber auch die für ihn berechtigte Forderung nach der Abkehr von einem Naturalismus, der Dichtung als »möglichst unretouchierte photographische Wiedergabe der Alltagswirklichkeit« (CH, S. 1479) konzipiert. Als der Naturalismus zuerst seine Parole ausgab, war es der Ruf nach Wahrheit, Wahrheit des Stoffes und Wahrheit der Form. Gegen den in seiner zimperlichen Schwäche immer anmaßender gewordenen Pseudoidealismus und einen lackierten Realismus, der die Poesie des soliden Bürgerstandes, frisch auf Flaschen gezogen, dem braven Bürgersmann nach des Tages Sorg’ und Mühen als Abendtrunk kredenzte, erhob sich die sehr unsolide neue Generation, die ihre Stoffe nicht mehr aus dickleibigen Kontobüchern und modrigen codices ziehen wollte, sondern zuerst wieder der Stimme des eigenen Herzens und des eigenen jugendheißen Blutes lauschte. Sie, die jungen Dichter, sahen die Sinnlichkeit, in der sie die Quintessenz aller Lebenskraft [Hervorhebung N.I.] erkannten, aus dem Gebiete poetischer Darstellung verbannt, jede Leidenschaft ängstlich nach den Paragraphen des Wohlanstandes geregelt und gepreßt. Was Wunder, wenn sie zuerst etwas allzuforsch Front machten, überall n u r die Sinnlichkeit aufsuchten und später in die Gefahr gerieten, die Sklaven einer Manier zu werden. (CH, S. 1478)
Die als notwendig empfundene Überwindung der kraftlosen Literatur des (poetischen) Realismus durch die jungen Naturalisten steigerte sich Heinrich zufolge im jugendlichen Eifer zu einer motivischen Fixierung und formalen Übergeneralisierung. Dem gesellschaftlichen Aufbegehren des literarischen Nachwuchses steht er wohlwollend kritisch gegenüber : Mit der radikalen Opposition gegen alles Shockingtum und jede Leisetreterei verband sich bei den Jüngstdeutschen191 die Neigung, auf der Suche nach Stoffen und Novellen überhaupt aus dem Rahmen der Gesellschaft herauszugehen. Proletariat und Halbwelt mit ihrer Offenheit der Leidenschaften und des Begehrens mußten ihnen den Hintergrund zu ihren Bildern liefern. Sie wollten eben keinen Kulturschmuck und Firle191 Vgl. Peter Sprengels Anmerkung, dass die Naturalisten sich »in der Tradition des Jungen Deutschland bzw. des Vormärz« (Sprengel 1998b, S. 109) sahen. Allerdings ist das »sozialkritische Engagement« (ebd.) der Bewegung nicht gleichbedeutend mit einer faktischen Nähe der Autoren zum Sozialismus. Sprengels Wertung, dass das naturalistische Engagement »in seinem Kern eher humanitär und liberal« und nicht umstürzlerisch motiviert war, lässt sich an Heinrichs oben zitierte Äußerung anknüpfen, »[d]aß es ganz so schlimm damit [i. e. mit dem Sozialismus, N.I.] nicht gemeint war« (CH, S. 1479).
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fanz, sondern reine, unverfälschte Natur. Sie haßten die Gesellschaft mit ihrer Verlogenheit, ihrem Egoismus und legten ihr die Verantwortung auf für das entsetzliche Elend, auf das sie bei ihren Entdeckungsreisen stießen. »Seht her, s o s c h ö n u n d g u t ist alles, s o herrlich ist es eingerichtet, s o zufrieden und glücklich sind die Menschen,« riefen sie höhnisch und deckten mit schonungsloser Hand den ganzen Schmutz, das ganze fast unsagbare Elend der Millionen auf. »Wahrheit,« ächzten sie, »glaubt ihr in euren Kirchen zu holen; hier habt ihr sie, seht sie euch an!« Ein starker sozialistischer Zug ging durch alle Werke dieser Schule, der Henckel, Hauptmann, Kretzer, Alberti u. a., welcher ganz dazu angethan war, dem friedliebenden Bourgeois eine Gänsehaut überlaufen zu lassen. Daß es ganz so schlimm damit nicht gemeint war, konnte er nicht wissen, und einzelnen besonders schneidigen Produkten gegenüber kann man ihm sein Gruseln nicht einmal verdenken. Einige der jungen Stürmer fingen nämlich an, bald nach ihrer berechtigten Opposition gegen eine überlebte Schablonendichtung völlig zu vergessen, daß es außer Dirnen und zu Grunde gerichteten Proletariern noch Wesen gäbe, die zwar nicht ganz tadellos, aber doch immerhin würdig wären, mit dem Namen »Mensch« bezeichnet zu werden. (CH, S. 1479)
Für Heinrich drohte die literarische Anthropologie des Naturalismus in dessen emphatischer ›Sturm- und Drang‹-Phase den eigentlichen »Menschen« aus dem Blick zu verlieren. Im Hintergrund seiner milden Polemik steht die intensiv geführte Debatte um Willensfreiheit und Determination des Menschen. Entgegen der in der (älteren) Forschung starken Tendenz, die Determinationshypothese als zentralen Bestandteil der ›prototypischen‹ naturalistischen Ästhetik zu werten, weist etwa Barbara Beßlich, wie bereits in Kapitel 3.1.1 angemerkt, auf die determinismusskeptischen Perspektiven innerhalb der naturalistischen Dramatik hin. Bereits in Wilhelm Bölsches ›einschlägiger‹ Schrift Die Naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (1887) wird eine entscheidende Differenzierung in Bezug auf das ›Vererbungstheorem‹ deutlich, wenn Bölsche zwar einerseits die Willensfreiheit im engeren Sinne negativ bescheidet, die »Willensunfreiheit« jedoch nicht im Sinne einer absoluten Determiniertheit, sondern im Sinne einer Gesetzmäßigkeit menschlichen Denkens und Handelns versteht.192 Dass die Forschung eher der Determinations-Fährte folgt, lässt sich mit Blick auf die zeitgenössisch wahrgenommene Dominanz des Themas plausibilisieren und exemplarisch anhand Leo Bergs rhetorisch gewohnt zugespitzter Darstellung in seinem Band Der Naturalismus. Zur Psychologie der modernen Kunst (1892) illustrieren. Berg beschreibt darin den vom Naturalismus gezeichneten Menschen als mitleidsvolle Figur, die sich im stetigen Kampf um den eigenen (physischen wie psychischen) Erhalt befindet: 192 Vgl. den Abschnitt zur »Willensfreiheit« in Bölsche 1976 [1887], S. 12 – 26, dessen Zusammenfassung Bölsche mit folgender Bemerkung einleitet: »Ich glaube gezeigt zu haben, wie gross unsere Unkenntniss im Einzelnen besonders bei der Vererbungsfrage noch ist.« (Ebd., S. 25)
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Die Helden moderner Dichtung kämpfen nicht um Ideen, wie im christlichen Zeitalter der Poesie (das aber übrigens bis zum Jahre 1805 reicht), sie kämpfen auch nicht um Besitz und Weltherrschaft, wie die homerischen und fast alle epischen Helden; sie kämpfen um sich selbst. Der Mensch ist Kampfplatz und Kämpfer und Kampfobjekt in eins, er ist der Schauplatz der Tragödien, Held, »Schauspieler und Zuschauer zugleich«.193
Richtige »Helden« wie in den von Berg angesprochenen antiken Dramen und Epen gibt es ihm zufolge in der »neuen Dichtung« nicht: Sie zeigt ihn [den Helden im Sinne des Protagonisten, N.I.] in seiner Blösse und seiner Nichtigkeit, denn sie ist gegen den modernen Menschen als das Produkt der modernen Cultur feindlich gesinnt. Ihre höchste Kunst zeigt sie, wenn sie dies Gebild [sic] rückbilden kann, zurück bis zum Embryo, und zwar zum krankhaft infizierten Embryo. Was Wunder, dass sie bei der Darstellung des Mutterleibes (der modernen Gesellschaft) länger verweilt als bei diesem Embryo selber? Dass sie mit so zäher Consequenz das V e r e r b u n g s t h e m a behandelt? Kann sie den modernen Menschen schlimmer kompromittieren, als indem sie zeigt, dass er schon im Keime nichts getaugt hat? Dass alles schon von Vater’n und Mutter’n herkommt? Ja, dass er sogar (und hier schwingt sie sich plötzlich über diesen modernen Menschen kühn hinweg), dass er sogar im Grunde ein bejammernswertes Geschöpf ist und eigentlich viel mehr Mitleid als Hass verdient?! …194
Der (moderne) Mensch als bemitleidenswertes, unfreies und ›prädestiniertes‹ Geschöpf – so führt ihn die naturalistische Literatur nach Berg vor. Die moderne Dichtung zeigt keine Helden mehr, die etwas außerhalb ihrer selbst erringen könnten (Ruhm und Ehre, Macht und Besitz, Ideale etc.), sondern nur noch Figuren, die – vergeblich – um sich selbst ringen, um Rettung vor dem drohenden Zerfall (auch dies wieder im ganz konkreten körperlichen und psychischen Sinne im Kontext des literarischen Motivs ererbter Pathologien, wie auch im Sinne des Zerfalls moralischer Wertvorstellungen und gesellschaftlicher Ideale). Dass diese von Berg konstatierte naturalistische Anthropologie mit Blick auf die konkreten dramatischen Ausführungen bei Elsa Bernstein und Gerhart Hauptmann jeweils zu perspektivieren ist, soll im folgenden Verlauf der Arbeit deutlich werden. Das Fazit des zunächst im Fokus stehenden Essays von Curt Heinrich zur Entwicklung der modernen Literatur (und der verweigerten Entwicklung ihrer ›unmodernen‹ Leserschaft) ist nun, dass es nach der Hochphase der naturalistischen Strömung in Deutschland zu einer Übergeneralisierung inhaltlicher und formaler Strukturen gekommen ist. Das mimetische Prinzip, auf das sich der ›konsequente Realismus‹ stützte, wurde dabei nach Heinrich auf der Basis einer 193 Berg 1892, S. 87 f. 194 Berg 1892, S. 130.
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einseitigen Wahrnehmung und einer Verkennung der spezifischen Beschaffenheit von »Kunst« umgesetzt: Nach dem Autoritätsmuster Zolas wurde, wie schon angedeutet, zu der Wahrheit des Stoffes die Wahrheit der Form gefordert. Man pries als das vollkommene Dichtwerk die möglichst unretouchierte photographische Wiedergabe der Alltagswirklichkeit. Aber daß auch in dieser Schönes neben dem vielen Häßlichen, Edles neben dem Gemeinen vorhanden ist, schien man oft zu vergessen. So, daß die Versuchung nahe trat, zu glauben, die Bestrebungen liefen darauf hinaus, nur das Häßliche häßlich, das Ekelhafte ekelhaft darzustellen und auch Männer von der Lektüre der »Neusten« abschreckte, die redlich bemüht waren, den Geist der neuen Zeit zu fassen. Man nahm begeistert die Losung auf, die uns aus Frankreich im »roman exp¦rimental« frisch importiert wurde. Die Dichtkunst, hieß es, ist eine Wissenschaft (vide Harsdörfer [sic], poetischer Trichter!), reine Objektivität ist das Poetische, und vor lauter Wahrheitsbegeisterung war man dahin gekommen – die Wahrheit auf den Kopf zu stellen. Denn Dichtkunst und reine Wissenschaft sind Antinomien in jedem Punkte, wenn auch von dem Dichter gefordert werden muß, daß er die Ergebnisse der Wissenschaft seiner Zeit in sich aufgenommen und verarbeitet habe. Die Kunst soll ihre Aufgabe noch immer in der Darstellung der W a h r h e i t , nicht der Wirklichkeit erblicken. (CH, S. 1479 f.)
Mit dieser Funktionsbestimmung der Literatur, die ›Wahrheit‹ statt ›Wirklichkeit‹ darstellen solle, nimmt Heinrich zugleich Abstand von der Auffassung des Autors als poeta doctus und referiert auf die Figur des poeta vates,195 des Dichters als Seher : Was macht denn den g r o ß e n Dichter? Doch nicht seine Kenntnisse, nicht seine Scharfsichtigkeit und Beobachtungsgabe, auch nicht die mehr oder minder bedeutende Fähigkeit des Schreibens und Reimens (wenn dieses alles auch unumgänglich zum Dichter gehört), sondern die g r o ß e eigenartige Weltanschauung [Hervorhebung N.I.], welche die ganze umgebende Welt, Natur und Menschen, Gegenwart und Vergangenheit in e i n e m Brennpunkte zu sammeln, und den mannigfaltigen Bildern und Gestalten, die sich dem Geiste aufdrängen, um von ihm geläutert und gehoben, wiedergeboren zu werden, denselben lebenskräftigen Herzschlag mitzugeben vermag. (CH, S. 1480)
Über das monistische Konzept der ›Weltanschauung‹ wird damit für Heinrich eine Verknüpfung von Naturalismus und Idealismus möglich. Der ›konsequente Naturalismus‹, der sich gerade vom Anspruch der künstlerischen Läuterung der ›Wirklichkeit‹, wie sie Fontane als Programm des poetischen Realismus formuliert,196 lossagt und die unverklärte Darstellung derselben zum Ideal erhebt, stellt für Heinrich eine Entwicklungsetappe dar, die selbst auch der Läuterung 195 Zum Wiederaufleben dieses Autorkonzeptes im Umfeld Friedrich Nietzsches vgl. auch Ajouri 2009, S. 64. 196 Vgl. Fontane 1969 [1853].
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bedurfte, eine jugendliche Phase des Stürmer- und Drängertums, auf die nun die Reife folgt (vgl. CH, S. 1480). Die Läuterung der literarischen Moderne im Sinne einer Versöhnung von Naturalismus und Idealismus geht also vonstatten über das monistische Konzept der ›Weltanschauung‹ und eine Aktualisierung der Genieästhetik197, die auch die Funktion der Abgrenzung ›eigentlicher‹ von ›uneigentlicher‹ Literatur (im Sinne der industrialisierten Massenproduktion) erfüllt. Als einen wesentlichen Wegbereiter dieser als notwendig angesehenen Entwicklung führt Heinrich den als genialisch aufgefassten und zugleich – durchaus kongruent mit dem Status des Genies – unverstandenen Friedrich Nietzsche an: Ein mächtiger Helfer im Kampfe ist F r i e d r i c h N i e t z s c h e , die gewaltigste und eigenartigste Persönlichkeit des fin de siÀcle. Er mahnt mit Donnerworten, daß wir über der B r e i t e die H ö h e nicht vergessen dürfen, daß das Große und Kraftvolle auch das Gute ist, wie er es seit langer Zeit wieder mutig ausspricht, daß wir Wollen und Leidenschaften besitzen, nicht, um sie zu unterdrücken, sondern um uns mit ihnen zu neuer Höhe zu erheben. – – Das »gebildete« Publikum zwar verhält sich auch dieser neuen fröhlichen Wendung gegenüber äußerst ablehnend. Es schimpft über Nietzsche, ohne eine Zeile von ihm gelesen zu haben, verspottet kindlich, was es nicht versteht, und läßt sich von den erbaulichen, mitunter auch lachhaften, aber immer angenehm und spannend zu lesenden Historien der Frau Baronin von Knobelshof-Brenkendorf geb. von Eschstruth198 in ein sanftes Nachmittagsnickerchen wiegen. – – – (CH, S. 1480)
Hier wird deutlich, dass der Verfasser des Essays sich nicht eigentlich innerhalb des Naturalismus’ positioniert, sondern – wie einleitend angemerkt – ein Resümee nach dem Naturalismus als wichtiger Etappe ›hin zur literarischen Moderne‹ zieht. Dabei greift seine Deutungsperspektive die für die naturalistische Selbstkonstitution grundlegenden Konzepte der ›Entwicklung‹ und der Ausrichtung auf die ›Zukunft‹ auf,199 und markiert mit der Bezeichnung des »fin de siÀcle« eine neue Schwellensituation. Das »gebildete« Publikum, das Heinrich schon in den ersten Abschnitten seines Essays als eine Art ›kritische Masse‹ vorstellt, die der positiv gewerteten Entwicklung der modernen Literatur antagonistisch gegenübersteht, nimmt 197 Siehe die Ausführungen in Kapitel 3.1.2, S. 190, Anm. 102. 198 Nataly von Eschstruth (1860 – 1939) war als Verfasserin historischer Dramen und zumeist im höfisch-aristokratischen Milieu spielender Unterhaltungsromane auf dem gründerzeitlichen Literaturmarkt sehr erfolgreich (vgl. Brinker-Gabler / Ludwig / Wöffen [Hg.] 1986, S. 83 – 85). Der Verweis auf die unter anderem von Kaiser Wilhelm II geförderte Autorin steht hier für die Konsumhaltung des bildungsbürgerlichen »Publikums«, das »erbauliche«, d. h. für die bürgerliche Identitätskonstitution dienliche Historiendarstellungen einer Auseinandersetzung mit der im Umbruch befindlichen Gegenwartsliteratur klar vorzieht. 199 Siehe Kapitel 3.1.1.
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Heinrich im folgenden Abschnitt anhand einer Explikation des Attributs ›gebildet‹ näher in den Blick: »Gebildet«, ich werde sofort verständlicher, wenn ich ein Wörtchen hinzusetze, »akademisch gebildet«, d. h. diverse staatlich überwachte Examina überstanden habend. Was solch ein Glücklicher weiß, womit er sich beschäftigt, ob er sich auch nur in der geringsten Sache den Luxus einer eigenen Ansicht leisten kann, wen kümmert’s? Er ist in die Hallen der Bildung eingetreten, und wird mit freundlichem Händeschütteln empfangen. Nun h a t er sie, nun ist das Große erreicht, schwarz auf weiß bezeugt liegt es in seinem Schreibtische. An i h n wenden sich jetzt Schriftsteller und besonders Verleger, für i h n entstehen jedes Jahr neue illustrierte Zeitschriften, was i h m gefällt, bringt Ehre und Gewinn, und endlich, da so viele es ihm sagen, hält er sich selbst für den kompetenten Richter über vernünftige und unvernünftige, gute und »gemeine« Bücher. Sieht er nun gar diese seine Meinung, kraft der geistigen Uniformität aller »ordentlichen Mitglieder an dem Pack der Menschheit« überall bestätigt (wobei einige Leithämmel tüchtig voranposaunen und »kritisch begründen«), so ist sein Litteratururteil fertig, der Modepoet gemacht. (CH, S. 1480 f.)
Heinrich setzt hier der akademischen Bildung, die auf das Erlangen eines Status, eines akademischen Grades abzielt, implizit einen Bildungsbegriff entgegen, der durch Progressivität gekennzeichnet ist.200 Die Krise des Bildungsbürgertums, die Heinrich an der von ihm beschriebenen Krise des Publikums (im Sinne einer Krise der Kritik, der Beurteilung der neuen Kunst) festmacht, liegt für ihn in der Ablösung von (kulturellem) Bildungswissen durch (akademisches) Leistungswissen. Diese Diagnose wird im Wesentlichen – wenn auch ohne die implizite Wertung – durch die sozialgeschichtliche Forschung bestätigt: Wie im zweiten Kapitel dieser Arbeit ausgeführt, kommt dem Bildungswissen, das gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass es nicht auf eine berufliche Praxis bezogen ist, im Prozess der bürgerlichen Vergesellschaftung eine wesentliche Funktion zu. Im Zuge der fortschreitenden Institutionalisierung der (gehobenen) Bildung und der Professionalisierung der Berufe wird der identitätsstiftende Charakter des nicht-berufsbezogenen Bildungswissens noch verstärkt. Die akademische Bildung befähigt ihre Träger nun in Heinrichs Augen gerade nicht dazu, sich eine differenzierte Meinung über Kunst – d. h. konkret: ›moderne‹ Kunst – zu bilden. Eine Vermittlung zwischen Kunst bzw. Literatur und Gesellschaft können die entsprechenden Personen nicht mehr leisten, zumal sie nach Heinrichs Auffassung die Fähigkeit zur Reflexion der beschränkten Urteilsbasis entbehren und dementsprechend keine Aktualisierung ihrer Wertungskriterien vornehmen: 200 Damit rekurriert er auf das Konzept von Bildung, wie es sich in der begriffsgeschichtlich signifikanten Übergangszeit im 18. Jahrhundert herausgebildet hat. Siehe dazu die Ausführungen im ersten Hauptteil der vorliegenden Untersuchung, besonders Kapitel 2.1.4 und 2.1.5.
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Daß der gebildete Mann während seiner ganzen Lehr- und Universitätszeit sich den Kuckuck was um die deutsche Litteratur geschert hat, daß alle die modernen Fragen ihn niemals mehr als recht oberflächlich bewegt haben, oder gar für ihn keine Fragen waren, ja, daß meist die vielgerühmten humanistischen Studien seit dem Abiturientenexamen links liegen geblieben und dem engsten Fachstudium [Hervorhebung N.I.] gewichen sind, – weiß er wohl recht gut, aber das traurigkomische Produkt dieser Bildungsfaktoren zu erkennen und durch Zufügung neuer Werte zu v e r b e s s e r n , wird ihm nicht einfallen. (CH, S. 1481)
Hier wird erneut der für den gesamten Essay zentrale Topos der ›Jugend‹ angesprochen: Später in Amt und Würden angelangt, wird dann allmählich auch die Erinnerung an die unreife Jugend zum Erlöschen gebracht. Man hat doch (selten, aber doch einigemal) zu sündigen den Mut gehabt, man hat wohl gerade die Bücher eifrig gelesen, welche man heute bitter verdammt. Zwar ist solche Erinnerung an ferne Sünden nicht ohne eine gewisse süße Wehmut, und vor den Augen des gestrengen Herrn Gerichtsrats steigt schattenhaft in rosig flimmernden Wolken ein holder Mädchenleib auf . . . . . aber wo blieben da Moral, Sitte, Gesellschaft und last not least die Religion. (CH, S. 1481)
Während der saturierte und arrivierte akademisch gebildete Vertreter des bürgerlichen Mittelstands in seinen verkrusteten Strukturen verharrt und die eigene Stürmer- und Dränger-Phase weitgehend aus dem Gedächtnis getilgt hat, verbindet sich mit der »neuen« Jugend Heinrichs Hoffnung auf eine Revitalisierung der Literatur : Das ist die alte Bildung, das akademische gebildete Mittelstandspublikum (der an Zahl geringe Adel schließt sich, soweit er Bücher liest, mit wenigen glänzenden Ausnahmen dem Bürgertume an), aber schon ist eine zweite wahre Bildung und ein zweites Publikum erstanden. Die moderne, emanzipierte Jugend ist auch den alten Weg gegangen [!], aber sie ist dabei nicht stehen geblieben. Sie hat erkannt, daß, wie jeder Mensch, so jede Zeit sich selbst das Nächste ist, sie hat mutig alle überlebten Vorurteile, alles modrige Gerümpel längst überholter Zeiten beiseite geschoben und sich dafür eine weite, freie Weltauffassung, deren Basis die Errungenschaften der modernen Wissenschaft bilden, in tapfrer Arbeit erkämpft. Viele Irrtümer mögen dem einzelnen anhaften – es ist die Jugend –, viel Leid und Unfrieden mag in dem Streite zwischen dem Alten und dem Jungen in Haus und Familie getragen werden; doch mit ihm thut unsere Kultur einen, wenn auch heute oft noch unsicher erscheinenden Schritt v o r w ä r t s . Vorwärts kann aber allein die K r a f t , und K r a f t ist L e b e n . (CH, S. 1481 f.)
Die fortschrittsoptimistische Beurteilung der literarischen – und kulturellen – Entwicklung durch den Verfasser gründet sich auf der Beobachtung, dass eine (fortschreitende) Ablösung des mittelständischen Bildungsbürgertums durch ein »zweites Publikum« (vgl. CH, S. 1477) stattfindet, das im Umgang mit der modernen Literatur geschult ist und sich zum großen Teil aus ihren Produzenten zusammensetzt. Dem von Heinrich angesprochenen »Streite zwischen dem
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Alten und dem Jungen« (CH, S. 1482) – hier referiert er auf den auch für die naturalistische (Abgrenzungs-)Bewegung konstitutiven Topos der querelle des anciens et des modernes – kommt dabei eine Katalysatorfunktion zu. Anders als verschiedene Zeitgenossen deutet Heinrich die Krise der Moderne im Sinne eines Widerstreits verschiedener Positionen, die jeweils Deutungshoheit beanspruchen, als im Kern durchaus konstruktiv. Die darwinistische Rhetorik erweist sich in ihrer Axiomatik auch hier als teleologisch und als monistischvitalistisch aktualisiert: Im ›Kampf ums Dasein‹ besteht das Kraftvolle, das Vitale; die generelle Entwicklung ist nach »vorwärts« ausgerichtet – hin auf die (kulturelle) Vervollkommnung. Der hier angesprochene Vitalitätsgedanke verweist bereits auf die Literatur der Wiener Moderne und den bereits angesprochenen programmatischen Aufsatz von Hermann Bahr, Die Überwindung des Naturalismus (1891). Heinrichs Resümee nach der Hochphase des Naturalismus weist also über diesen hinaus auf die weiteren sich herausbildenden Strömungen der literarischen Moderne. Im letzten Absatz seines Essays macht Heinrich die dargelegte Ausrichtung auf eine Überwindung des Naturalismus noch einmal deutlich: Unsere moderne, emanzipierte Jugend bildet den Leserkreis unserer naturalistischen (wenn dieser terminus technicus heute noch berechtigt ist) und modernen Dichter, aus ihr rekrutiert sich der junge Nachwuchs, und ihr ist es zu verdanken, daß auch andere Dichter den Mut finden, einen frischeren, freieren Ton anzuschlagen, wie, daß ganz allmählich von Jahr zu Jahr das große Publikum anfängt, auch einmal (noch leider recht selten) den lebenskräftigen, machtvollen Liedern der neuen Sänger zu lauschen. Zugleich aber ist seine rückhaltslose Kritik der beste Schleifstein für alle Unebenheiten und Auswüchse der modernen Dichtung. Nein, wir sind keineswegs geneigt, dem Häßlichen einen Lorbeerkranz aufzusetzen. Was wir erlangen [vermutlich sollte hier »verlangen« stehen, N.I.], ist O f f e n h e i t , S c h ö n h e i t und K r a f t ; was wir verabscheuen und bekämpfen z i m p e r l i c h e S c h w ä c h e und s e l b s t s ü c h t i g e V e r l o g e n h e i t . – (CH, S. 1482)
Die Wahrnehmung des Naturalismus als Übergangs- und (notwendige) Initialphase der literarischen Moderne prägt, wie gezeigt wurde, sowohl die zeitgenössische Auffassung wie auch die literaturwissenschaftliche Forschung. Die vorangegangenen Abschnitte dieses Kapitels zum Naturalismus als ›Scharnierepoche‹ sollten deutlich machen, dass die in der naturalistischen Programmatik stets präsente Vorstellung vom Übergangscharakter der Bewegung dabei keineswegs in eine vorschnelle Kategorisierung und literaturgeschichtliche ›Abfertigung‹ derselben münden muss. Vielmehr zeigt sich ein weiterer Forschungsbedarf bezüglich der Strategien der Diskursivierung und Inszenierung von ›Modernität‹, die innerhalb des Naturalismus zur Anwendung kommen, der sich wesentlich über das diskursive Spannungsfeld von Krisenwahrnehmung und Fortschrittspathos, über die programmatische Abgrenzung vom ›Alten‹ und
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zugleich die deutliche Anknüpfung an tradierte idealistisch-humanistische Konzepte konstituiert. Im folgenden Kapitel rückt nun die Frage nach der Relevanz ins Zentrum, die der Diskursivierung der Geschlechterkrise und der Verhandlung des geschlechtlichen Ergänzungsgedankens innerhalb des Naturalismus zukommt.
3.2
Exemplarische (Funktions-)Analysen: Geschlechtersemantik und literarische Anthropologie des Naturalismus
Die exemplarischen Analysen zur Relevanz der Kategorie ›Geschlecht‹ innerhalb der literarischen Anthropologie des Naturalismus perspektivieren die in Kapitel 2.2 geleistete Auffächerung des historischen Wandels der Geschlechtersemantik im ›langen 19. Jahrhundert‹ nun noch einmal spezifisch mit Blick auf den Diskursbereich der Literatur. In Kapitel 3.2.1 ist dabei zunächst die literarisch verhandelte Problemkonstellation um ›Liebe‹, ›Ehe‹ und ›Sexualität‹ näher zu beleuchten. Hier wird deutlich zu machen sein, inwieweit das Motiv der geglückten respektive verhinderten Paarbildung als eine für den Naturalismus konstitutive Bezugnahme auf die komplementäre Geschlechtersemantik aufzufassen ist. Die Dramenanalysen in den Kapiteln 3.2.2 mit 3.2.5 fundieren textnah die im einleitenden Kapitel der vorliegenden Studie umrissene Ausgangsthese, dass der Naturalismus als Initialphase der umfassenden (literarischen) Diskursivierung der Krise des geschlechtlichen Komplementärmodells zu bewerten ist. In den vorangehenden Ausführungen zum Naturalismus als ›Scharnier‹ der literarischen Moderne wurden bereits einige Schlaglichter auf poetologische Traditionslinien, dramenästhetische Neuerungen und (aus literaturwissenschaftlicher Sicht) kanonische naturalistische Dramen geworfen. Der Fokus der folgenden Beispielanalysen liegt nun, wie ebenfalls in der Einleitung ausgeführt, auf den bislang innerhalb der Forschung nur punktuell beachteten naturalistischen bzw. naturalismusnahen Dramen Elsa Bernsteins sowie Gerhart Hauptmanns Drama Vor Sonnenaufgang. Dass der hier entwickelte Deutungsansatz, der den Naturalismus als eng verzahnt mit der Problematisierung der komplementären Geschlechtersemantik sieht, auch in Bezug auf ein erweitertes Analysekorpus fruchtbar ist, lässt sich knapp mit Blick auf einige dem naturalistischen Kernkanon201 zugerechnete Texte verdeutlichen. 201 Siehe als Referenzgrößen u. a. die Zusammenstellung der zweibändigen Anthologie naturalistischer Dramen von Cowen (Hg.) 1981 sowie die Textauswahl für die »Einzelanalysen repräsentativer Werke« bei Bunzel 2008.
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
So gehört Hauptmanns 1889 publiziertes und aufgeführtes »soziales Drama« Vor Sonnenaufgang in eine Reihe mit seinen Stücken Das Friedensfest. Eine Familienkatastrophe (1890) und Einsame Menschen. Drama (1891). Im Zentrum aller drei Dramen steht der Handlungs- und Konfliktraum ›Familie‹ – und die Frage nach der Möglichkeit ›glückender‹ Partnerschaften vor dem Hintergrund der potentiell (!) determinierenden sozialen und genealogisch-biologischen Bedingungsgefüge. Wie Ernst Weber in seinem luziden Beitrag »Naturalismuskritik in Gerhart Hauptmanns frühen Dramen Das Friedensfest und Einsame Menschen« (2002) ausführt, entfalten und bestätigen die beiden von ihm untersuchten Dramen »nicht eine deterministische Weltsicht, sondern deck[en] deren subjektive Bedingungen auf«202. So fasst Weber die determinismuskritische Grundkonstante der Hauptmann’schen Dramen-Trias203 mit Blick auf das erste und dritte Stück der Reihe zusammen: Hauptmann nimmt in Einsame Menschen ein Thema wieder auf, das er mit der Figur des Sozialreformers Loth in Vor Sonnenaufgang (1889) zuerst angeschlagen hat: die Diskrepanz zwischen einem idealistischen, auf das Glück der Menschheit gerichteten Streben im Namen der neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und einer inhumanen Lebensführung, die vor einer Aufgabe versagt, welche den persönlichen Einsatz erfordert. Loth bricht das Liebesverhältnis zu Helene ab und zerstört damit ihr Leben, weil er eisern an seiner Vorstellung von Erbgesundheit festhält.204
Die detaillierte Textanalyse in Kapitel 3.2.4 wird zeigen, dass Webers Position im Kern anschlussfähig ist. Die von ihm hinsichtlich der Figur Loth beobachtete Diskrepanz zwischen Idealismus und Ideologie verweist dabei implizit auf eine notwendige Prämisse der differenzierten Textanalyse, nämlich die klare Unterscheidung zwischen der »Selbstdeutung der Figuren« und den vom Gesamttext gemachten Deutungsangeboten. Dass diese Deutungsebene des Textes nicht durch die ›Autorintention‹ verbürgt sein muss, hebt Weber dabei zurecht hervor: Hauptmann gelingt es, ob intendiert oder nicht, Friedensfest und Einsame Menschen als Dramen erscheinen zu lassen, die zwar mit dem Kunstprogramm des Naturalismus konform zu gehen scheinen, gleichwohl dessen anthropologische Voraussetzung, die Willensunfreiheit des Menschen, als zweckgebundene private Ideologie entlarven.205
202 Weber 2002, S. 173. 203 Siehe Karl S. Guthkes Formulierung von der »naturalistische[n] Trilogie« (Guthke 1962, S. 40). Guthkes Deutungsansatz kann jedoch als prototypisch für die ältere Naturalismusforschung gelten, die – wie auch noch Fähnders 2010 – von der Illustrationsfunktion naturalistischer Texte mit Blick auf das Vererbungsparadigma ausgeht (vgl. auch den pointierten Abriss älterer Forschungsthesen bei Weber 2002, S. 173). 204 Weber 2002, S. 184. 205 Weber 2002, S. 185.
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An dieser Stelle zeigt sich jedoch auch ein Abgrenzungsbedarf zu Webers ansonsten fruchtbarem Ansatz: Weber richtet sein Konzept des naturalistischen Kunstprogramms am ›konsequenten Naturalismus‹ aus, für das er das Drama Die Familie Selicke (1890) von Arno Holz und Johannes Schlaf als prototypischen Vertreter nennt. In diesem Punkt kommt die vorliegende Studie zu einer deutlich anderen Perspektivierung: Die Infragestellung der anthropologischen Voraussetzung der Willensunfreiheit ist nicht überzeugend als eine im naturalistischen Drama vorgenommene Naturalismuskritik zu bewerten. Stattdessen manifestiert sich darin der innerhalb des literarischen Paradigmas ›Naturalismus‹ erhobene Anspruch, dass die Literatur (und die Bühne als Wirkungsort) einen eigenständigen Beitrag zur Genese anthropologischen Wissens zu liefern in der Lage sei. In Kapitel 3.2.4 wird die entsprechende Abgrenzung naturalistischer Dramenpraxis von der etwa in Wilhelm Bölsches poetologischer Schrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (1887) postulierten anthropologischen Deutungshoheit der Naturwissenschaften näher zu beleuchten sein. Ausgangsthese der vorliegenden Studie und der folgenden exemplarischen Analysen ist in diesem Sinne, dass ›der Naturalismus‹ keineswegs in der Gesamtheit der literarischen Strömung als ›konsequenter Naturalismus‹ im Sinne eines – wie Walter Fähnders dies darstellt – Illustrationsprogramms »positivistische[r] Lehren und Erkenntnisse«206 zu verstehen ist, sondern dass für den Naturalismus die Auseinandersetzung mit den biologischen und sozialen Determinationshypothesen konstitutiv ist. Ein so modifiziertes NaturalismusKonzept setzt für die Strömung noch immer den Bezug zum naturwissenschaftlichen Diskurs der Zeit als wesentliches Charakteristikum an – vermeidet dabei jedoch die aus literaturgeschichtlicher Sicht nicht überzeugende, da zu enge inhaltliche Definition dieses Bezugsverhältnisses. Mit Blick auf die dramenästhetischen Standards, die Holz und Schlaf mit der Familie Selicke innerhalb des Naturalismus setzen, ist diesem Stück nun tatsächlich der Status der ›Prototypik‹ zuzusprechen. Wie in Kapitel 3.1.2 ausgeführt wurde, müssen sich naturalistische Dramen in der Folge zum Holz/ Schlaf ’schen Paradigma verhalten und positionieren. Es wäre jedoch literaturgeschichtlich kurzsichtig, den paradigmatischen Anspruch der Ko-Autoren dahingehend überzubewerten, dass ihnen die Prägungs- und Deutungshoheit für die gesamte naturalistische Poetologie zugesprochen wird. Die von Holz und Schlaf über ihre (der Gattungszugehörigkeit nach) dramatischen wie narrativen Texte207 gesetzten ›naturalistischen Standards‹ umfassen, wie vorangehend 206 Fähnders 2010, S. 47; vgl. auch Kapitel 1.1.2, S. 32, Anm. 49. 207 Vgl. Kapitel 3.1.2, S. 193, Anm. 117 zur exemplarisch genannten Bezugnahme von Gerhart Hauptmann auf Papa Hamlet.
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
knapp skizziert, vor allem Aspekt der Annäherung von dramatischer und narrativer Textgestalt (dominante Präsenz von nicht durch inquit-Formeln eingeleiteter direkter Rede in narrativen Texten; stark erweiterter, tendenziell narrativer Nebentext im Drama), der ›authentischen‹ Gestaltung von Figurenrede (Soziolekt und Dialekt, idiosynkratische Ausdrücke, Ellipsen und Redeabbrüche, Ausrufe, etc.) sowie der Fokussierung auf den Handlungs- und Konfliktraum ›Familie‹. Die implizit von Holz und Schlaf zugrunde gelegten sozialen und psychologischen Determinationshypothesen sind hingegen nicht als definiens ›des Naturalismus‹ zu werten – sondern als relevante Bezugsgröße naturalistischer Anthropologie. Dass diese Positionierung entgegen der in den Texten auf der Figuren- und Handlungsebene zum Teil ausgelegten ›Spuren‹ in signifikanter Weise nicht einfach affirmativ geschieht, zeigt der Blick auf die Differentialdiagnostik in Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (Kapitel 3.2.4) und die strategische Hintergrundierung biologischer Determinationsfaktoren in Bernsteins Dämmerung (Kapitel 3.2.5). Dies gilt auch für einen Text wie Max Halbes Drama Jugend (1893), in dem die Determinationshypothesen zunächst deutlich den anthropologischen Wissensrahmen zu konstituieren scheinen, innerhalb dessen weitere anthropologische Problemstellungen verhandelt werden. Halbes Stück, das ebenfalls zum naturalistischen Kernkanon gerechnet wird,208 lässt sich insgesamt als Experimentalaufbau einer Adoleszenz- und Gesellschaftskrise verstehen, in dem die Inadäquatheit eines religiös basierten Bewertungs- und Orientierungssystems in Bezug auf kritische Entwicklungsphasen wie ›Jugend‹ dargestellt wird. Als Referenzsystem, das eine stimmige Weltdeutung und Anleitung für die adäquate Handhabung der Hemmnisse einer ›geglückten‹ Adoleszenz bereitstellen kann, erscheint nicht die Religion, sondern die Anthropologie: Der innerhalb der naturalistischen Dramatik zentral verhandelte anthropologische Grundkonflikt zwischen biologischer Determiniertheit und Milieuprägung einerseits und Willensfreiheit und individueller Handlungsverantwortung andererseits wird in Halbes Stück konkretisiert als Konflikt in Bezug auf die Frage nach der kulturell-religiösen oder aber ›natürlichen‹ Verankerung von Ethik und Moral. Das im Stück gezeigte Versagen religiöser Leitfiguren manifestiert sich dabei proleptisch bereits in dem mit »Menschen« betitelten Personenverzeichnis bzw. in der darin gegebenen Figurencharakteristik.209 Wie vorangehend bereits deutlich wurde, ist die Auseinandersetzung des Naturalismus mit den zeitgenössischen (natur)wissenschaftlichen Positionen zu 208 Sowohl bei Cowen als auch Bunzel ist Jugend berücksichtigt, vgl. S. 223, Anm. 201 im vorliegenden Kapitel. 209 Vgl. dazu den knappen Abriss in Kapitel 3.1.2 zur (funktionalen) Ausweitung des Nebentextes im naturalistischen Drama.
Exemplarische (Funktions-)Analysen
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kognitivpsychologischen, erbbiologischen und soziologischen Bedingungsgefügen des Individuums dabei eng gekoppelt an Geschlechterkonzepte. Der für die naturalistische Strömung konstitutive Bezug auf den anthropologisch-darwinistischen Diskurs ist wie ausgeführt dahingehend inhaltlich offen, ob das ›wissenschaftlich verbürgte‹ Wissen im jeweiligen Text stärker als konstitutiver Rahmen oder als Abgrenzungsfolie für die jeweilige literarisch entworfene Problemkonstellation fungiert. Generell zeigen die exemplarischen Detailuntersuchungen und analytischen Stichproben mit Blick auf den naturalistischen ›Kernkanon‹ eine klare Tendenz zu einem auslotenden Zugriff naturalistischer Texte auf den zeitgenössischen Wissen(schaft)sdiskurs.210 Die enge Verzahnung von Naturalismus und Geschlechterdiskurs wurde in den vorangehenden Kapiteln deutlich gemacht.211 Die Bezugnahme auf das komplementäre Geschlechtermodell und die gesteigerte Unsicherheit der Komplementärsemantik findet sich in den einzelnen Texten jedoch in der Regel covert codiert.212 Im Zentrum der folgenden Analysen stehen die naturalistischen bzw. naturalismusnahen Dramen Elsa Bernsteins, da dort die Verhandlung der Komplementärsemantik besonders deutlich aufgezeigt werden kann. Dominant gesetzt ist dort zum einen die Referenz auf die Geschlechterproblematik im Sinne des zeitgenössischen Diskurses um Emanzipation, ›weibliche‹ Bildungskonzepte und Geschlechterrollenwandel, zum anderen der Fokus auf Paarkonstellationen, deren Gelingen – und vor allem deren Scheitern. So wird die Analyse zu Bernsteins Drama Dämmerung (1893) in Kapitel 3.2.5 herausarbeiten, dass die im Stück grundsätzlich positiv besetzte Komplementarität als nicht mehr hinreichende Voraussetzung für die gelingende Paarbildung bzw. deren Stabilisierung fungiert. Stattdessen verweist der Text anhand deren 210 Auch mit Blick auf ein erweitertes Analysekorpus wird die hier vorgenommene Justierung des literaturgeschichtlichen Naturalismuskonzepts meines Erachtens auf breiter Basis zu stützen sein. Mit einer wichtigen Einschränkung: Für den Bereich der literarischen Produktion, der sich mit dem – selbst wiederum nicht ganz unproblematischen – Begriff der ›Schemaliteratur‹ fassen lässt, ist ein intensiver auslotender Zugriff auf die zeitgenössischen Wissen(schaft)sdiskurse weniger erwartbar. Grund dafür ist, dass dieser Bereich von Literatur noch einmal in spezifischen Funktionszusammenhängen steht (siehe die Ausführungen in Kapitel 3.2.6) als der Bereich von Literatur, dessen Akteure sich dezidiert mit dem Anspruch auf literarische Innovation im ›literarischen Feld‹ zu etablieren suchen und sich das Etikett einer ›Bewegung‹ verleihen. Auch für Texte, die stärker stilistisch-thematisch als ›epistemisch‹ an den Naturalismus als literarisches Programm anknüpfen gilt jedoch, dass diese – trotz eines geringeren Grades an (poetologischer) Reflexion – als virtuelle Räume der Inszenierung und Diskursivierung von Problemkonstellationen aufzufassen sind (siehe hierzu die eingangs in Kapitel 1.2.3 geleistete funktionalistische Begriffsbestimmung von ›Literatur‹). 211 Siehe grundlegend auch Helduser 2005. 212 Dass in den Texten nicht explizit auf ›das Komplementärmodell‹ referiert wird, leitet sich natürlich aus dessen metasprachlichem Status ab.
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
Scheiterns auf ein als überkommen gezeigtes Bildungskonzept, das als ›Hypothek der alten Zeit‹ einer ganzheitlichen Entwicklung junger Mädchen hin zur individuellen Handlungsverantwortung und Rollenkompetenz entgegensteht. Insgesamt dienen die Analysen von Bernsteins Dramen als ›Brennglas‹, um den Blick auch für diejenigen Texte zu schärfen, in denen die Referenz auf ›Geschlecht‹ als für die verhandelte Problemkonstellation relevante Größe ausdrucksseitig weniger deutlich vorgenommen wird. Für eine weitere exemplarische Analyse wird in dieser Hinsicht Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) herangezogen, das dem naturalistischen ›Kernkanon‹ zugerechnet wird. Auch hier wird sich zeigen lassen, dass für das Drama der Bezug auf das komplementäre Geschlechtermodell von grundlegender Relevanz ist. Innerhalb der komplexen Problemkonstellation des Stücks wird, so die in Kapitel 3.2.4 zu belegende Deutungshypothese, das Komplementärmodell im Sinne einer präsupponierten Ausgangsbasis von ›gelingender Paarbildung‹ in Frage gestellt. Implizit wird damit verwiesen auf den geschlechtersemantischen Wandel bzw. auf die Kategorie ›Geschlecht‹ als relevantem Faktor innerhalb des im Drama ausgeloteten sozial-anthropologischen Bedingungsgefüges.
3.2.1 Geglückte und verhinderte Paarbildungen – Die Problemkonstellation ›Liebe‹, ›Ehe‹ und ›Sexualität‹ Die Themen Liebe, Sexualität und Ehe(krise) sind in den literarischen und essayistischen Beiträgen in Zeitschriften wie der Gesellschaft, der Freien Bühne oder der Wiener Rundschau allgegenwärtig. Der in letztgenannter Zeitschrift erschienene Essay Die Humanitätsfrage in der Ehe (1897) des nicht näher bekannten Verfassers R. Jacobsen ist eine Quelle, an der sich die (semantische) Krise des bürgerlichen Ehemodells anschaulich zeigen lässt.213 So behandelt Jacobsen die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer »glücklichen Ehe« mit Blick auf das Harmoniemodell der Geschlechter, das er bei Leopold von Sacher-Masoch beschrieben findet: Soviel ich mich entsinne, war es der Schriftsteller Sacher-Masoch, der seinerzeit eine feine und geistreiche Definition von den Bedingungen d e r g l ü c k l i c h e n E h e aufstellte. Er warf den Grundsatz auf: Der grösste physische Gegensatz zwischen Mann und Frau, vereinigt mit der grössten g e i s t i g e n Harmonie, sei die sicherste Basis für dieselbe. Mit anderen Worten: der Mann v o l l k o m m e n Mann, die Frau 213 Die Wahrnehmung, dass sich die Ehe als bürgerliche Institution und Konzept der Verstetigung von Paarbeziehungen in einer Krise befindet, stützt sich dabei vor allem auf literarische »Fallbeispiele« – so ist Jacobsens Essay eigentlich ein literaturkritischer Beitrag zu Texten von Gabriele d’Annunzio und Leo Tolstoi.
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v o l l k o m m e n Frau, zwei Wesen, einander scharf entgegengesetzt, aber geistig so eng wie möglich gleichgesinnt, zusammenklingend wie zwei gleichgestimmte Saiten.214
Eben dieses komplementäre Geschlechtermodell ist am Ende des 19. Jahrhunderts in der Krise. Aus Jacobsens Sicht ist die Vorstellung von der Harmonie der Geschlechter eine Illusion, die es in der Wirklichkeit, also fernab von normativen Idealen, nie gegeben hat. Was die Definition von Sacher-Masoch nämlich außer Acht lasse, sei die »treulose Natur« der erotischen Liebe: Die Definition ist scharf und tief empfunden, von einem Mann geschrieben, der als Erotiker der Liebe viel gelebt, sie gefühlt und durchgedacht hat, aber trotzdem hält sie nicht vollkommen Stich. Die erotische Liebe ist leider von Natur so treulos, dass selbst das vollständige Vorhandensein dieser seltenen Bedingungen nicht einmal die völlig glückliche Ehe garantiren würde. Könnten wir uns z. B. einen Mars und eine Venus denken, sich liebend, in Ehe verbunden, gleichzeitig von irgend einer gemeinsamen grossen Idee beseelt, so würde die Treulosigkeit in diesem Falle doch nicht unmöglich sein, wo nicht in Thaten, so doch in Gedanken vielleicht. Denn die erotischen Gefühle sind eben mit allen möglichen Bestimmungen incommensurabel (die Alten sagen »blind«), und die Z e i t , worauf die Haltbarkeit der Ehe basirt ist, ist vor allem ihr Feind.215
Jacobsen sieht die Krise der Ehe also nicht als Resultat eines Wandels des Geschlechtermodells und eines Verlustes der Harmonie zwischen den Geschlechtern im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung, sondern führt sie auf systeminhärente Gründe zurück: Die Störungsanfälligkeit haftet der Ehe in Form der Sexualität nach Jacobsen immer schon an. Was Jacobsen als überzeitliches Problem beschreibt, lässt sich mit Blick auf den umfassenden gesellschaftsstrukturellen und semantischen Wandel im 18. Jahrhundert in einen klaren Bezug zu historischen Problemreferenzen setzen: In der semantischen Neukonzeptualisierung von ›Ehe‹ und ›Familie‹ wird um 1800 statt der ökonomischen Absicherung die ›Liebe‹ zur legitimen normativen Basis der Ehe, womit eine Fokusverschiebung vom ›Haushalt‹ auf die ›Familie‹ (im Sinne der partnerschaftlichen Beziehung der Gatten und der Beziehung zwischen Eltern – vor allem Mutter – und Kind) einhergeht. Innerhalb dieses generellen Emotionalisierungsprozesses, wie er in Kapitel 2.1.2 näher beleuchtet wurde, gerät auch der Bereich der Sexualität zunehmend in den Blick. ›Liebe‹ ist dabei zugleich semantische Lösungsstrategie wie auch semantisches Folgeproblem innerhalb der fortschreitenden funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Wenn aber Sexualität zum zentralen Definiens einer Liebesbeziehung wird, und diese Sexualität als triebhaft und für das sich autonom 214 Jacobsen 1897, S. 910. Vgl. dazu die Ausführungen zu Rousseaus Differenzmodell der Geschlechter in Kapitel 2.1.4 (insbesondere das Êmile-Zitat auf S. 103, Anm. 166). 215 Jacobsen 1897, S. 910.
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
wähnende Subjekt als nicht kontrollierbar erscheint – wie dies etwa Sigmund Freud und Richard von Krafft-Ebing in ihren stark rezipierten Schriften darlegen –, dann erweist sich das Modell der harmonischen Geschlechterkomplementarität als nicht mehr tragfähig. Wie Uta Klein in ihrer Untersuchung zu ›Liebe‹ als Folgeproblem von Individualität an Texten von Hofmannsthal, Schnitzler und Musil herausgearbeitet hat, wird die Liebesbeziehung im Zuge der ›(Kohärenz-)Krise des Subjekts‹ im 19. Jahrhundert – die aus der Auflösung des ›Heims‹ als einem der ›Welt‹ gegenüberstehenden Kompensationsmodell resultiert –, zu einer der zwei möglichen Stabilisierungsbereiche des Subjekts.216 Zugleich ist aber die Verwirklichung und Stabilisierung von Liebesbeziehungen deutlich unwahrscheinlicher geworden.217 Zur Bedeutung der Liebe bzw. Liebesheirat äußert sich auch Georg Simmel in seinem Essay Zur Psychologie der Frauen (1890), in dem er die Relevanz von ›Liebe‹ im Prozess der gesellschaftlichen ›Individualisierung‹ hervorhebt. In Simmels Entwurf fungiert ›Liebe‹ innerhalb des zunehmend unwahrscheinlich werdenden Prozesses der Paarbildung in gewisser Weise als Anzeigevorrichtung, die über Erfolg oder Misserfolg des auf Komplementarität basierenden »instinktive[n]« Selektionsmechanismus’ Auskunft gibt: Als in einem Tendenzdrama vor mehreren Jahren die Behauptung ausgesprochen wurde, jede Heirat, die nicht rein aus gegenseitiger Liebe geschähe, wäre unsittlich und könne nie zum Heil der Gattung führen, wurde in der darüber entstandenen Kontroverse eingewendet, in früheren Zeiten und in niederen Ständen kämen Liebesheiraten so gut wie gar nicht vor und dennoch hätte die Gattung keinen Schaden genommen. Allein die Berechtigung jener Forderung liegt darin, daß die Menschen immer individueller werden; unter einer relativ homogenen Masse von Menschen ist es ebenso 216 Die andere Stabilisierungsmöglichkeit des Subjekts, die zugleich das zweite konstitutive Element moderner Individualität darstellt, liegt Klein zufolge in deren Steigerung. Dieses Steigerungsmoment von Individualität ergibt sich nach Klein infolge der Durchgängigkeit von Welt- und Ich-Zerfall, und lässt sich als Versuch einer innerindividuellen Stabilisierung begreifen, die in Innerlichkeit und Illusion mündet (vgl. Klein 2004 [in Druckvorbereitung], S. 4). Klein führt hier den Begriff der selbstbezüglichen Kontingenz ein und arbeitet die entsprechenden Phänomene in einer luziden Analyse u. a. an Hofmannsthals Ein Brief (1902) und Hermann Bahrs Essay Das unrettbare Ich (1903) heraus. 217 Vgl. Klein 2004 [in Druckvorbereitung], S. 4. f. Klein fasst die semantische Problemstellung zusammen: »Auf diese Weise erhalten persönliche Beziehungen in der gepflegten Semantik zur Jahrhundertwende um 1900 eine höhere Aufmerksamkeit, und zwar als Problem, das zwischen Notwendigkeit und Unmöglichkeit angesiedelt ist […]. Das Bedingungsverhältnis zwischen Individualität und Intersubjektivität konstituiert sich damit aus nicht lösbaren Paradoxien. In zugespitzter Form werden sie vor allem in Zweier- oder Liebesbeziehungen sichtbar« (ebd., S. 5). Liebe wird in der Literatur um 1900 also vor allem vor dem Problem der unlösbaren Paradoxien formuliert, die aufgrund einer für die Jahrhundertwende spezifischen Identitätskonstitution entstanden sind. Die ›neue‹ Liebeskonzeption ist nach Klein angesiedelt zwischen Sehnsucht und Skepsis: »Mit der Jahrhundertwende um 1900 wird das Ende der Liebe zum konstitutiven Bestandteil der Liebessemantik« (ebd.).
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relativ gleichgültig, welches Paar sich zusammentut; je unterschiedlicher die Individuen sind, desto enger ist für den einzelnen die Wahl, die eine möglichst vollkommene Nachkommenschaft garantiere. Und wir haben nun einmal kein Kriterium, das diese Wahl überhaupt im richtigen Sinne entscheide, als das freilich oft genug unzulängliche und bloß instinktive der gegenseitigen Anziehung; die sonstigen Kriterien sind nur negativer Art, z. B. einerseits vererbte Krankheiten, andererseits auskömmliche äußere Lage. Wenn es auch scheint, daß man zueinander paßt, weil man sich liebt, so wird dem, wenigstens für die hauptsächlicheren Beziehungen, wohl zugrunde liegen, daß man sich liebt, weil man zueinander paßt. Darum ist in den unteren Ständen, wo die Differenzierung noch nicht so weit vorgeschritten ist als in den oberen, sehr leidenschaftliche und sehr individuelle Liebe verhältnismäßig selten.218
›Liebe‹ ist für Simmel nicht die Bedingung der Einlösung von Perfektibilität – des »Heil[s] der Gattung« – sondern letztlich der Indikator von erfolgreich realisierter Komplementarität: Man passt nicht zueinander, weil man sich liebt, sondern man liebt sich, weil man zueinander passt. Insgesamt zeigt sich in Simmels Essay die enge diskursive Verknüpfung von literarischem und wissenschaftlichem Diskurs: Simmel nimmt auf eine durch ein »Tendenzdrama« ausgelöste Debatte Bezug, und auch der Hinweis auf die »vererbte[n] Krankheiten«219 setzt einen intertextuellen Bezug zur (naturalistischen) Literatur. Eine wesentliche Konstituente der Massenpresse um 1900 ist die bereits angemerkte, nicht nur inhaltlich-thematisch gegebene Verzahnung von Literatur und wissenschaftlichen bzw. politischen Diskursen, sondern auch die ›räumliche‹ Nähe,220 da Zeitschriften wie die Freie Bühne, die Wiener Rundschau, die Nation oder die Gesellschaft keine Fachzeitschriften im Sinne einer spezifischen Eingrenzung der aufgenommenen Textgattungen und behandelten Gegenstände sind, sondern – siehe etwa die wechselnden Untertitel der Gesellschaft – Literatur, Kunst, (Sozial-)Politik und Wissenschaft gleichermaßen in den Blick nehmen.221 Wie selbstverständlich die Literatur als Lieferantin von ›Fallbeispielen‹ herangezogen wird, um ›soziologische‹ und ›psychologische‹ Thesen zu stützen, wird in Simmels weiteren Ausführungen deutlich:
218 Simmel 1985 [1890], S. 51 f. 219 Simmel 1985 [1890], S. 51. 220 Darauf wird in Kapitel 3.2.6 mit Blick auf die Nähe von Literatur und Pädagogik noch näher einzugehen sein. 221 Siehe auch Wolfgang Bunzels entsprechenden Hinweis zum ›ganzheitlichen‹ Anspruch von Publikationsorganen wie der Gesellschaft in Bezug auf die Berücksichtigung aktueller künstlerischer und gesellschaftlicher Strömungen und Debatten (vgl. Bunzel 2008, S. 78 f.). Die Textsorte, die dieser interdiskursiven Ausrichtung entspricht und um 1900 einen wahren Siegeszug feiert, ist der Essay. Vgl. dazu die Beiträge des von Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann herausgegebenen Tagungsbandes Essayismus um 1900 (2006).
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
Häufig ist freilich der Fall, daß Mädchen niederen Standes eine unbedingte Leidenschaft für einen höherstehenden Mann fassen, wie Gretchen für Faust und Clärchen für Egmont, den sie dann ganz ohne Kritik, ohne Abschwächung dadurch, daß sie ähnliche kennten, lieben. Allein dies sind jedenfalls nur die besseren Naturen, in denen schon die dunkle Ahnung einer höheren und individuelleren Existenzweise, als ihr Stand sie bietet, aufgetaucht ist, für welche Ahnung ihnen nur der gebildete Mann die Erfüllung darbietet. Gerade das also, was im allgemeinen die leidenschaftlichere Liebe in den niederen Ständen verhindert, der Mangel an individueller Differenzierung, läßt sie begreiflicherweise um so stärker da entstehen, wo dieser Mangel bewußt wird und seine Ausgleichung vermöge der Unterschiedsempfindlichkeit eine um so stärkere Gefühlswirkung haben muß. – Ich möchte auch glauben, daß die abnehmende Heiratsfrequenz, die sich überall bei wachsender Kultur findet, nicht nur aus den wirtschaftlichen Verhältnissen und der Gelegenheit zu außerehelichen Befriedigungen hervorgeht, sondern auch aus jener mit der Kultur steigenden Individualisierung der Persönlichkeit, die es immer schwieriger und unwahrscheinlicher macht, die Rechte zu finden, diejenige, die die differenzierten Eigenschaften des anderen gerade durch ihre differenzierten Eigenschaften möglichst ergänzt [Hervorhebungen N.I.].222
Auch hier erweist sich das komplementäre Geschlechtermodell als Orientierungsfolie der Partnerwahl und zugleich als angestrebtes Ideal, das im Zuge der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung im Sinne einer zunehmenden »Individualisierung der Persönlichkeit« immer weniger einlösbar scheint. Simmel stellt, wie in Kapitel 2.2.3 ausgeführt wurde, dem generell als kulturellen Fortschritt aufgefassten gesellschaftlichen Individualisierungsprozess das Konzept des ›weiblichen Gattungscharakters‹ als kompensatorisches Prinzip gegenüber. Damit aktualisiert er zugleich das Komplementärmodell und verstärkt die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts beobachtbare Fokusverschiebung innerhalb des Modells der polaristischen Geschlechtscharaktere hin auf den ›weiblichen Geschlechtscharakter‹, der in seiner Pathologisierung um 1900 schließlich das Komplementärmodell zum Kippen zu bringen droht. Bei Simmel steht das geschlechtliche Komplementärmodell also insgesamt in einem Spannungsverhältnis: Zum einen hat es den Status einer notwendigen Grundlage der Vergesellschaftung und der kulturellen Entwicklung, zum anderen erscheint es als durch den gesellschaftlichen Individualisierungsprozess bedroht. Wie jedoch im ersten Hauptteil der vorliegenden Untersuchung ausgeführt, hat sich die komplementäre Geschlechtersemantik selbst als semantische Problemlösungsstrategie innerhalb des Prozesses der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft herausgebildet, und ist verzahnt mit dem Wandel der Individualitätssemantik, dessen Folgeprobleme sie wiederum abfedert.223 Auch Katja Mellmann schneidet diesen Zusammenhang in ihrem 222 Simmel 1985 [1890], S. 52. 223 Ein derart ›verletzliches‹ Gleichgewicht kann – wie die in Kapitel 2.1 und 2.2 skizzierten
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Beitrag zu Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie (1895) an, wenn sie unter Bezugnahme auf Luhmann auf das »Ideal der individualisierten Liebesheirat« eingeht, das der Konzeption der Ehe als weiblicher »Versorgungsanstalt«224 entgegengesetzt wird. So antwortet das »komplementaristische[] Eheideal[]« auf »eine veränderte gesamtgesellschaftliche Einbindung des Subsystems ›Familie‹ in einer funktional differenzierten Gesellschaft«225 : Im Unterschied zur ständisch regulierten Heirat in stratifizierten Gesellschaften »[kontinuiert] die Familie nicht mehr durch die Generationen, sondern [muß] jeweils neu gegründet werden«; die traditionelle »d¦claration de sa naissance« des werbenden Mannes wird im 19. Jahrhundert deshalb durch »die Erklärung der Heiratsabsicht« abgelöst, die sich auf die Zukunft (die neu zu gründende Kernfamilie), nicht auf die Vergangenheit (die Herkunftsfamilie, die durch die Heirat nur fortgesetzt würde) bezieht. Damit verbunden ist ein mit jeder Familiengründung neues Risiko, denn die neue Kernfamilie setzt den in der Herkunftsfamilie erreichten sozialen Stand nicht einfach fort, sondern muss sich ihren je eigenen selbst erst schaffen. Die Wahl des richtigen Partners ist deshalb von nicht zu überschätzender Wichtigkeit und wird durch »Liebe« geregelt, d. h. durch eine Liebessemantik, die die individuellen Fähigkeiten des Partners im Hinblick auf eine gemeinsame Bewährung im ›Kampf ums Dasein‹ genau einzuschätzen hilft. Diese Liebessemantik könnte man als eine neue Vernunftliebe im Rahmen der romantischen Liebessemantik beschreiben, die zwar wie die empfindsame Vernunftliebe auf ›Tugend‹ basiert (auch wenn unter ›Tugend‹ nun andere Eigenschaften verstanden werden als um 1750), diese ›Tugend‹ aber als Individualität des Partners codiert. Mit anderen Worten: Der ›tugendhafte‹ Partner ist nicht mehr gegen einen anderen ebenso ›Tugendhaften‹ austauschbar, wie er das in der Empfindsamkeit prinzipiell noch war, sondern der Einzige, mit dem eine glückbringende Verbindung möglich scheint.226
Das in der Forschung als ›Aschenbrödel-Motiv‹227 beschriebene Grundmodell ›trivialer‹ Liebesromane des 19. Jahrhunderts, für das Eugenie Marlitts Roman Goldelse (1866) als prototypisch gelten kann,228 verweist – wie Katja Mellmann stimmig anmerkt – auf das von ihr so bezeichnete ›komplementaristische
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unterschiedlichen Stabilisierungsversuche zeigen – nur über hohen kommunikativ-diskursiven Aufwand erzeugt, dabei jedoch angesichts des fortwährenden und sich wechselseitig aufeinander auswirkenden gesellschaftsstrukturellen und semantischen Wandels bei allem Aufwand nicht auf Dauer geschaltet werden. Mellmann 2008, S. 11. Mellmann 2008, S. 12. Mellmann 2008, S. 12 f. Siehe auch Niklas Luhmanns Beitrag zum »Sozialsystem Familie« (1990) sowie dessen grundlegende Studie Liebe als Passion (1982). Peter Sprengel spricht in seinen Ausführungen zur geschlechtsspezifisch ausgerichteten Unterhaltungsliteratur des 19. Jahrhunderts – Frauenromane für die (jungen) Damen, Abenteuerromane für die (jungen) Herren (vgl. Sprengel 1998b, S. 202 – 209) – in Bezug auf die Romane der Bestsellerautorin Eugenie Marlitt auch von der »Aschenputtel-Struktur« (ebd., S. 204). Vgl. Mellmann 2008, S. 12.
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
Eheideal‹229 – in der Terminologie der vorliegenden Untersuchung also auf das komplementäre Geschlechtermodell. ›Liebe‹ als semantische Problemlösungsstrategie, die eine Orientierungsfolie für die im 19. Jahrhundert sozial hoch relevante, dabei aber zunehmend problematisch werdende Partnerwahl bietet, wird als Code um 1900 erneut aktualisierungsbedürftig. So erscheint Liebe als Voraussetzung der Ehe in der Diskussion um die im Wandel befindlichen gesellschaftlichen Strukturen und (normativen) Konzepte mitunter als geradezu irrational und der Verwissenschaftlichung (im Sinne der Rationalisierung) aller menschlichen Lebensbereiche zuwiderlaufend. So nimmt etwa der Kritiker G. L. die Aufführungskritik zu Emil Marriots (i. e. Emilie Mataja)230 Stück Der Heiratsmarkt. Sittenbild in 3 Akten (1895) zum Anlass einer generellen Bewertung des ›Eheproblems‹ in und außerhalb der Literatur.231 Deutlich wird dabei auch die sozialdarwinistische und für ›rassenbiologische‹ Ausformungen anschlussfähige Axiomatik, vor deren Hintergrund sich das Konzept der Liebesheirat aus L.’s Sicht als idealistisch überhöht und damit letztlich als ›unzeitgemäß‹ ausnimmt: Ueber dieses Stück lässt sich nichts sagen. Was es will und meint, ward uns so oft schon gepredigt, dass an ein stoffliches Interesse von vorneherein nicht zu denken ist. Wir Alle haben es schon dutzendmal vernommen, dass Liebesehen besser, dass sie schöner sind als nüchterne Verstandesheiraten; und wir Alle haben zugestimmt, mit Worten zugestimmt, weil wir nicht wagten, die Zweifel, die wir etwa hegten, laut zu künden. Und dennoch gaben und geben wir heimlich und leise denen Recht, die bei der Eheschliessung das materielle Moment in Rücksicht ziehen. Wenn die Ehe, wie die Gesetze normiren, vor Allem der Fortpflanzung, der Erhaltung des Menschengeschlechtes dient, dann ist im Interesse der Kinder, ihrer guten Entwicklung und vollen Entfaltung eine sichere Existenz der Eltern natürlich geboten. Ja, von diesem Standpunkt der Racenentwicklung [!] aus müsste der Vernunft bei der Eheschliessung noch eine weit bedeutendere Rolle zugewiesen sein. Um thatsächlich eine Auslese heranzuziehen, um ein möglichst festes, willensstarkes, ungebrochenes Menschenmaterial [!] zu sichern, müsste der Verstand der Eltern geradezu die Körperbeschaffenheit, die Gesundheit, die Stärke des Schwiegersohnes prüfen. Vermögen und Kraft – das müssten beide Theile 229 Vgl. Mellmann 2008, S. 12. 230 Die dem Naturalismus nahe stehende Wiener Autorin und Feuilletonistin Emilie Mataja (1855 – 1938) ist nicht kanonisiert und gegenwärtig noch am ehesten als Briefpartnerin von Leopold von Sacher-Masoch bekannt; vgl. den von Michael Farin und Albrecht Koschorke herausgegebenen Briefwechsel (Sacher-Masoch 1987). 231 G. L.’s Verriss des (vermeintlichen) ›Tendenzstücks‹ Marriots bzw. Matajas schließt direkt an seine Aufführungskritik zu der von Engelbert Humperdinck komponierten MelodramFassung von Elsa Bernsteins Königskindern (1897, zunächst 1895 [vordatiert auf 1894] als Drama bei S. Fischer erschienen) an, in der er die vermeintliche Tendenzlosigkeit des Stücks hervorhebt. Vgl. L. / K-r. 1897 (H. K-r. geht auf Humperdincks Vertonung ein). Auf diese Besprechung wird im folgenden Kapitel mit Blick auf das in den Königskindern ›kippende‹ Aschenbrödel-Schema noch zurückzukommen sein.
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bieten. Erst dann wäre die Ehe wahrhaft vernünftig, weil sie ihrem Zweck erst dann ganz entsprechen könnte …232
Die hier formulierte deterministisch-materialistische Auffassung vom Zweck der Ehe und der für die »Racenentwicklung« notwendigen Voraussetzung der Gesundheit der Ehegatten (den ›Produzenten‹ des »möglichst feste[n], willensstarke[n], ungebrochene[n] Menschenmaterial[s]«) stellt letztlich ebenfalls eine semantische Aktualisierung des problematisch gewordenen Perfektibilitätskonzeptes dar – die jedoch wiederum Folgeprobleme mit sich bringt.233 G. L.’s kausalistischer Perspektive, die ›Liebe‹ als irrationalen und nicht lebenspraktischen Bedingungsfaktor der Paarbildung bewertet, steht die Semantisierung von ›Liebe‹ (im Sinne einer Einheit von Körperlich-Sexuellem und GeistigMetaphysischem) als Schlüsselprinzip allen organischen Lebens innerhalb des monistischen Alleinheitskonzeptes gegenüber.234 Insgesamt wird deutlich, dass die Bedingungen der Möglichkeit gelingender – und über die Zeit stabiler – Paarbeziehungen im literarischen, publizistischen wie auch wissenschaftlichen Diskurs des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sehr konträr diskutiert werden. Innerhalb des Naturalismus wird der Problemkomplex vor allem im Rahmen des wahrgenommenen Wandels der Geschlechterverhältnisse sowie der Frage nach den menschlichen Determinationsfaktoren und der (Un-)Möglichkeit des freien Willens verhandelt. Anders als die Naturalismusforschung dabei zum Teil noch immer suggeriert, vollziehen naturalistische Texte dabei in der Regel eher diskursive Suchbewegungen, als dass sie zeitgenössisches ›Wissen‹ schlicht literarisch ›ins Bild setzen‹. Die naturalistischen bzw. naturalismusnahen Dramen Elsa Bernsteins, die im Folgenden als analytisches ›Brennglas‹ herangezogen werden, lassen sich dabei als exemplarisch für diese Suchbewegungen lesen, die den Naturalismus als erste umfassende Diskursivierungsphase der Krise der komplementären Geschlechtersemantik trotz aller Heterogenität der naturalistischen Programmatik kennzeichnen. Zugleich verweisen sie durch die deutliche Fokussierung auf soziale und psychische anstatt ›unhintergehbare‹ biologische Determinationsfaktoren einerseits sowie die Annahme einer individuellen Handlungsverantwortung andererseits über die enger umrissene naturalistische Diskursformation hinaus auf jenen Diskursbereich, in dem sich die monistisch basierte teleologische Vorstellung von der individuellen und menschheitlichen ›Entwick232 L. 1897, S. 517. 233 Diese zeitgenössische Ideologie lässt sich in deutlichen Bezug setzen zu der Position der Figur Alfred Loth aus Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889). Der entsprechende Diskurs wird im Drama anhand der Figur Loth jedoch nicht nur aufgegriffen, sondern wird durch die im Text inszenierten, ideologisch bedingten Fehlentscheidungen der Figur in seinen Aporien beleuchtet (siehe die Textanalyse in Kapitel 3.2.4). 234 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel 3.1.1 sowie 3.1.4.
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lung‹ bis in die Gegenwart gehalten hat: auf die Pädagogik, die sich um 1900 als ›Reformpädagogik‹ etabliert, und die sich im Prozess ihrer fachwissenschaftlichen Institutionalisierung wesentlich auf die in der Literatur bereitgestellten ›Fallbeispiele‹ stützen kann. Bevor diese Zusammenhänge genauer auszuführen sind, wird in den folgenden Abschnitten das naturalistische Spannungsfeld von Determinationshypothesen und Determinationsskepsis abzustecken sein.
3.2.2 Elsa Bernsteins Dramen als ›Brennglas‹ – Zwischen naturalistischer Programmatik und spezifischer Perspektivierung Dass weibliche Autoren im 19. Jahrhundert häufig unter Pseudonym publizierten,235 ist angesichts der etwa von Wolfgang Bunzel skizzierten Gegebenheiten des literarischen Marktes nicht erstaunlich: Innerhalb des sowohl im Bereich der Produktion wie der Rezeption geschlechtsspezifisch ausdifferenzierten Literaturmarkt des 19. Jahrhunderts, in dem für weibliche Autoren hauptsächlich die Beschickung des Unterhaltungssektors als Form der Beteiligung am literarischen Diskurs offen stand,236 bot der Gebrauch eines Pseudonyms die Möglichkeit, geschlechtsbedingte Grenzen durchlässiger zu machen. So bedienten sich »nicht wenige Schriftstellerinnen, die in der literarischen Welt ernst genommen werden wollten, […] eines männlichen oder zumindest geschlechtsneutralen Pseudonyms, um die weibliche Autorschaft zu verbergen«237. Dass es im 18. und 19. Jahrhundert keine oder doch kaum Dramatikerinnen gegeben habe, entlarvt Susanne Kord in ihrer Studie Ein Blick hinter die Kulissen. Deutschsprachige Dramatikerinnen im 18. und 19. Jahrhundert (1992) übrigens als literaturgeschichtliches Vorurteil.238 Helga Kraft fasst diesen blinden Fleck der Forschung pointiert zusammen: Es war bis vor kurzem relativ unbekannt, daß auch in der Vergangenheit viele Stücke von Autorinnen aufgeführt wurden. Nur ganz wenige davon sind heute noch bekannt, weil zumeist nur männliche Schriftsteller Gelegenheit hatten, ihre Stücke auch zu veröffentlichen.239
Die Rahmenbedingungen des literarischen Marktes im 18. und 19. Jahrhundert, zu denen auch die drohende Trivialisierung der Werke von Autorinnen gehört,240 235 Vgl. Budke / Schulze 1995, S. 12 f. Siehe auch die grundlegende Studie Sich einen Namen machen. Anonymität und weibliche Autorschaft 1700 – 1900 von Kord 1996. 236 Vgl. Bunzel 2008, S. 80. 237 Budke / Schulze 1995, S. 13. 238 Vgl. Kord 1992; siehe auch die Beiträge von Kord 1999, Reiterer 1999 sowie – mit Blick auf das 20. Jahrhundert – Kraft 1999. 239 Kraft 1999, S. 279. 240 Beate Reiter betont in ihrem Beitrag zu Erfolgsdramatikerinnen des 19. Jahrhunderts die
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befördern die Verwendung eines Pseudonyms durch weibliche Autoren – und eben diese pseudonyme Autorschaft erschwert wiederum die literaturgeschichtliche Sichtung weiblicher Dramenautoren der Zeit.241 Auch Elsa Bernstein tritt nun zunächst unter Pseudonym in die literarische Öffentlichkeit ein.242 Mit der Benennung als ›Ernst Rosmer‹ verortet sie sich zum einen innerhalb des Naturalismus – und hier wiederum innerhalb der spezifisch durch Ibsen geprägten Ausrichtung243 –, zum anderen verweist das männliche Pseudonym auf Bernsteins auch durch ihre Affinität zur dramatischen Gattung bestärkten Anspruch, sich innerhalb einer ›männlichen‹ Literaturtradition zu positionieren und sich von der »verweiblichten« Literatur des Massenmarktes abzugrenzen. Bernstein stellt sich auf die Seite derer, die eine ›Erneuerung‹ der Literatur anstreben und ihre gesellschaftliche Funktion außerhalb eines als überkommen empfundenen Modells des prodesse et delectare auszuloten suchen. Ihre in der zeitgenössischen Rezeption wie auch in der älteren Forschung244 tendenziell eher kritisch bewertete stilistische Offenheit lässt sich vor diesem Hintergrund im Kontext ihres Versuchs sehen, neue Möglichkeiten der literarischen Darstellung zu erproben. Nach der frühen Aufdeckung ihres Inkognitos ist es eben diese Intention der programmatischen Verortung innerhalb der Strömung des Naturalismus und darin in der durch Ibsen geprägten Ausrichtung, die Bernstein durch die anhaltende Verwendung des Pseudonyms – die überwiegende Mehrzahl ihrer Texte
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Kluft zwischen literarischem Erfolg und literaturgeschichtlicher Kanonisierung: »Zu den erfolgreichsten und populärsten Theaterschriftstellern des 19. Jahrhunderts zählten Frauen. Ihr bedeutender und mächtiger Einfluß auf die Spielpläne wurde bereits zu ihren Lebzeiten erkannt und häufig negativ kommentiert. Nichtsdestotrotz waren die Bühnen von der Produktion zugkräftiger Kassenstücke abhängig […]. Popularität zu Lebzeiten war jedoch noch lange kein Garant für die literaturwissenschaftliche Überlieferung. Ganz im Gegenteil, es scheint, als ob gerade der überragende Erfolg diesen Theaterschriftstellerinnen zwangsläufig den Ruf der Trivialität eingebracht hätte.« (Reiter 1999, S. 247) Zumindest hinsichtlich der Publikationsbedingungen lassen sich jedoch Ende des 19. Jahrhunderts mit Blick auf den sich weiter ausdifferenzierenden Sektor der Literatur- und Kulturzeitschriften entscheidende Änderungen beobachten, auf die im Folgenden noch einzugehen sein wird. Vgl. Kord 1996b, S. 161 – 164. In Bezug auf den Stellenwert von Ibsens Rosmersholm für Bernsteins Schreiben ist auch auf ihre Rezension des Stücks in der Frankfurter Zeitung vom August 1887 hinzuweisen (vgl. ViÚtor-Engländer 2007, S. 167 bzw. Joachimsthaler 1995, Bd. 1, S. 342). Die programmatischen Implikationen des von Elsa Bernstein gewählten Pseudonyms wurden bereits in Kapitel 3.1.2 mit Blick auf die Ibsen’sche Dramatik beleuchtet. In den Detailanalysen zu Bernsteins Dramen wird in den folgenden Kapiteln auf die konkreten programmatischen Bezüge und intertextuellen Verweisstrukturen zu Ibsens Dramen näher einzugehen sein. So vor allem in der 1985 erschienenen Bernstein-Monographie von Ulrike ZophoniassonBaierl, deren Wert leider kaum in den Interpretationen zu sehen ist, sondern vor allem in der Zusammenstellung wichtiger Kontextinformationen und der Auswertung der spärlichen verbliebenen Materialien.
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publiziert sie als Ernst Rosmer – deutlich markiert. Gelüftet wird Bernsteins Pseudonym tatsächlich bereits in direktem Anschluss an die Erstaufführung von Bernsteins Drama Dämmerung (1893) durch die ›Freie Bühne‹ in Berlin am 30. März 1893. In seinem positiven Resümee vermerkt der Mitbegründer des Berliner Theatervereins Paul Schlenther im Magazin für Litteratur : Die Dame nennt sich noch Ernst Rosmer. Ihr wahrer Name wird aber nicht lange unbekannt bleiben, und so weit er in die Welt dringt, so weit wird man nach einem zweiten weiblichen Dramatiker von dieser Kraft und Innigkeit vergeblich suchen. […] Ernst Rosmer oder (fort mit der Maskerade) Frau Elsa Bernstein ist unter den Berufensten eine Auserwählte.245
Auch Fritz Mauthner bespricht die Aufführung des Stücks und verweist in einer Fußnote auf das offene Geheimnis, wer sich hinter dem Pseudonym verbirgt: »Die Tagesblätter verrathen, daß die Gattin des bekannten Rechtsanwalts Bernstein die Verfasserin ist.«246 Auf Mauthners sehr kritisch gehaltene Rezension von Bernsteins Stück wird im Rahmen der Textanalyse in Kapitel 3.2.5 noch zurückzukommen sein. Hier sei zunächst nur der Teil der Besprechung näher beleuchtet, in dem Mauthner Bernsteins Eintritt in den naturalistischen Diskurs als gründlich misslungen – und vor allem die Wahl des Stücks als schädigend für die ›Freie Bühne‹ als Vorkämpferin der modernen, naturalistischen Dramatik – bewertet: Die besonderen Schwierigkeiten des Bühnenwesens machten für den dramatischen Naturalismus einen Verein nöthig. Die Freie Bühne kam und kämpfte. Doch unmittelbar nach ihrem schönsten Erfolge, nach der Aufführung der »Weber«, zeigte sich der Fluch der Sünde, eine Menge für das Persönlichste gedrillt zu haben, für individuellen Kunstgenuß. Die Leiter des Vereins haben einen Fehlgriff begangen und die Vereinsmitglieder, Philister der litterarischen Revolution, haben in gutem Glauben Beifall geklatscht. Es war ein recht hübscher Erfolg. Aber er kann der Freien Bühne mehr schaden, als einst der lärmendste Theaterskandal. Wer die Freie Bühne frei zu fördern immer bestrebt war, wer überdies dem pseudonymen Verfasser der »Dämmerung« allerlei Fähigkeiten zugesteht, der darf um so ernster ausdrücken, daß dieses Schauspiel kein Werk der modernen Kunst ist, sondern alte, durch und durch sentimentale Poesie, die sich nur sehr geschickt mit den gebrochenen Farben der diesjährigen Mode geschminkt hat. […] Ernst Rosmer ist wahrscheinlich ein ganz beachtenswerthes Talent. Wir werden dem Namen vielleicht und meinetwegen hoffentlich noch oft begegnen. Aber in die Reihe der Ibsen, Tolstoi, Goncourt, Hauptmann gehört er nicht.247 245 Schlenther 1893, S. 223. 246 Mauthner 1892/93, S. 432. Zu Max Bernstein siehe die umfangreiche zweibändige Studie von Jürgen Joachimsthaler (1995). 247 Mauthner 1892/93, S. 431 f. Insgesamt wurde Bernsteins Dämmerung – sowohl die Aufführung wie auch das Stück an sich – in der zeitgenössischen Kritik mehrheitlich verrissen, was, wie Romana Weiershausen anmerkt, möglicherweise auf die »aufführungsbedingte direkte Konkurrenz« (Weiershausen 2004, S. 228) zu Hauptmanns Erfolgsstück Die Weber
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Mauthners Kritik entzündet sich vor allem an dem von ihm beobachteten »Verzicht auf die beiden wichtigsten Forderungen moderner Kunst, auf feste klare Technik und auf feste klare Charakteristik«248. Aus Sicht der vorliegenden Untersuchung sind die von Mauthner beschriebenen Brüche in der Handlung und Figurencharakteristik nicht als ›Verstöße‹ gegen die naturalistische Poetologie zu werten. Stattdessen erscheinen sie als poetologische Perspektivierung, die gerade angesichts der in Kapitel 3.1 aufgezeigten Anknüpfung des Naturalismus an idealistische Konzepte – von denen dieser sich über den Kampfbegriff des ›Modernen‹ selbstkonstitutiv abgrenzt – das Spannungsverhältnis von teleologischen und kausalistischen Deutungsmodellen sichtbar machen, innerhalb dessen sich die naturalistische Poetologie und Anthropologie bewegt. Trotz Bernsteins einerseits objektiv geglückter Positionierung innerhalb des naturalistischen Diskurses – ihre Dramen wurden in den Zentren der deutschsprachigen literarischen Moderne (Berlin, München und Wien) gespielt, in den zentralen Publikationsorganen besprochen und zum großen Teil im naturalistischen Hausverlag S. Fischer249 publiziert – ist von Beginn der Rezeption an eine deutlich kritische Wertung zu beobachten. Diese lässt sich einerseits auf die generelle Orientierungskrise der Literaturkritik zurückführen, die in der Konstitutionsphase der literarischen Moderne kaum mehr auf verbindliche Wertungskriterien zurückgreifen kann.250 Insgesamt unterscheidet dies Bernstein zunächst nicht von Autoren wie Hauptmann oder Halbe, deren Stücke nicht weniger kritisch rezipiert werden. So geht etwa Leo Berg in seiner Kritik zu Hauptmanns Biberpelz (1893), an die die Besprechung zu Bernsteins Dämmerung direkt anschließt, mit dem bereits etablierten naturalistischen Dramatiker nicht weniger streng ins Gericht, wenn er dessen Figurencharakteristik bemängelt und den Dialektgebrauch als »Caprice oder […] Unvermögen, das Schriftdeutsch zu beherrschen«251 wertet. Gerade in Anbetracht der Parallelen, die sich etwa zwischen Gerhart Hauptmanns und Elsa Bernsteins Werken bzw. deren stilistischen Ausrichtungen aufzeigen lassen,252 wird dennoch deutlich,
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mitbedingt war, das am 26. Februar 1893 durch die ›Freie Bühne‹ uraufgeführt wurde. Vgl. dazu auch Peter Sprengels Ausführungen zum Aufführungsverbot der Weber, Sprengel 1998b, S. 147 sowie 502 f. Mauthner 1892/93, S. 432. Vgl. die von Knut Beck besorgte Bibliographie 100 Jahre S. Fischer Verlag 1886 – 1986 (1986), die Aufschluss über das zunächst stark auf die naturalistische Strömung, um 1899 auf Symbolismus bzw. Wiener Moderne fokussierende Verlagsprogramm gibt; siehe auch die kurze Skizze in Sprengel 1998b, S. 132 f. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 3.1.1 zu den Bemühungen um eine ›naturwissenschaftlich‹ fundierte, d. h. auf objektiven, empirisch überprüfbaren Kriterien basierende Ästhetik und Literaturkritik. Berg 1893, S. 319. So heben etwa Rita Bake und Birgit Kiupel, die Herausgeberinnen von Bernsteins Theresienstadt-Aufzeichnungen (vgl. Bernstein 2005), unter Bezug auf die frühe Bernstein-Studie
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dass der Faktor ›Geschlecht‹ eine nicht unwesentliche Rolle bei der Rezeption von Bernsteins Dramen spielt. So lässt sich beobachten, wie in Bergs Besprechung zu Bernsteins dramatischem Debüt253 die stereotypisierte Kategorie ›Geschlecht‹ – deren Vorteil gerade in ihrer ontologisch verbürgten Invariabilität liegt – als Wertungsmatrix der orientierungsbedürftigen literarischen Kritik herangezogen wird.254 Die »Sexualisierung« der Kritik, die das Produkt weiblicher Autorschaft von vornherein aus dem Spektrum ›autonomer‹ Literatur exkludiert, ist eine Strategie, unveränderliche Wertungskriterien, ja sogar eine Wertungsschablone, zu entwerfen, um das in der Krise befindliche System der Kunst- und Literaturkritik zu stabilisieren.255 Das ›Weibliche‹ ist dabei mit dem Epigonalen assoziiert und steht axiomatisch konträr zu männlich besetzter genuiner Schöpfungskraft.256 Bergs deduktives Vorgehen lässt die an sich differenzierte Besprechung von Bernsteins Stück stellenweise in eine Bestätigung der Ausgangsthesen über die Verfasstheit des ›Weiblichen‹ übergehen, und ist zugleich ein kritisches Resümee der naturalistischen Bewegung, die ihren Zenit aus Bergs Sicht bereits überschritten hat:257 Das Schauspiel »Dämmerung«, durch welches sein Verfasser sich mit Erfolg in die Litteratur eingeführt hat, ist im besondern Grade interessant für die Entwicklung, welche das naturalistische Schauspiel bei uns genommen hat, und ein typisches Bei-
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von Kurt Wiener (1923) hervor, dass Bernstein sich etwa symbolistischen oder neoklassizistischen Darstellungsweisen deutlich früher als Hauptmann zuwandte (vgl. Bake / Kiupel 2007, S. 209). Das bereits an sich auf einer unstimmigen Axiomatik basierende Vorurteil von Bernsteins Epigonalität, auf das sich auch die weiter oben schon problematisierte (siehe S. 237, Anm. 244) Arbeit von Zophoniasson-Baierl von 1985 stützt, wird damit empirisch ausgeräumt. Genau genommen stellt das 1891 entstandene und 1893 im E. Albert Verlag publizierte Stück Wir Drei Bernsteins dramatisches Debüt dar, allerdings wurde dieses nie aufgeführt und vor allem im Verbund mit dem Drama Dämmerung wahrgenommen, mit dem die Rezeptionsgeschichte der Autorin beginnt. Siehe dazu auch die Ausführungen von Peter Sprengel und Gregor Streim, die in ihrer Darstellung zur Berliner und Wiener Moderne (1998) auf die variable Semantisierungsmöglichkeit der »Antinomie ›männlich – weiblich‹« (Sprengel / Streim 1998, S. 241) und deren Anwendung als Wertungsmatrix innerhalb der Literatur- und Theaterkritik hinweisen (vgl. ebd., S. 241 – 243). Hier zeigt sich funktional eine deutliche Parallele zur Sexualisierung der Grammatik um 1800, auf die der Exkurs in Kapitel 2.1.6 eingeht. Vgl. dazu grundlegend Helduser 2005, besonders den Abschnitt »Zur Geschlechtergeschichte des Genies«, S. 208 – 214. Zu verweisen ist hier auch auf Bergs Essay Phasen des Idealismus (1890), auf dessen polemische Bestandsaufnahme des naturalistischen Erneuerungsprogramms im Ausblick der Arbeit knapp einzugehen sein wird. Berg wertet dort die Strategie der naturwissenschaftlichen Aktualisierung idealistischer Konzepte als Bewältigungsversuch der Modernisierungsfolgen (vgl. Berg 1890, S. 627) und sieht im Festhalten am Idealismus ein Indiz dafür, dass das naturalistische Projekt der ›männlichen‹ Läuterung der ›verweiblichten‹ (d. h. zur industriellen Massenware sowie zur ›gefühligen‹ Erbauungsdichtung gewordenen) Literatur an seine Grenzen stößt.
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spiel dafür, wie pathologische Themata in der Dichtung nicht behandelt werden sollten. Damit will ich zunächst nun nicht behauptet haben, es wäre eine schlechte und wertlose Arbeit. Drei Tugenden will ich an ihm vorerst rühmen, ehe ich mich mit seinem naturalistischen Laster beschäftige, drei große Tugenden, die den Erfolg des Verfassers begründen und mich überhaupt berechtigen, diese Dichtung als eine markante Erscheinung für die Entwicklung zu betrachten.258
Die erste Tugend des Stücks liegt für Berg in der Figurencharakteristik: »Ernst Rosmer, hinter welchem Pseudonym sich, nebenbei bemerkt, eine Frau verbirgt, kann Gestalten schaffen, ganze Menschen«, so vor allem »den liebenswürdigen prächtigen Wiener Musiker, den alten Heinrich Ritter, eine Figur, die Leben hat und Leben ausatmet, eine der frischesten Gestalten der ganzen modernen dramatischen Litteratur«259. Die beiden weiteren Tugenden, die Berg dem Stück zunächst anerkennt, sind einerseits kompositorische Klarheit und andererseits die »spezielle Frauentugend« der »Sauberkeit der Ausführung«: Jedenfalls fehlt es Ernst Rosmer nicht an Gestaltungskraft; und wo die Dichterin diese im Stich läßt, ersetzt sie sie durch Klarheit der Komposition und Einfachheit der Darstellung und alle ihre Figuren besitzen Anschaulichkeit und Verständlichkeit. Und das ist die zweite Tugend, die ich an Ernst Rosmer zu rühmen habe. Die dritte Tugend ist eine spezielle Frauentugend; es ist die Sauberkeit der Ausführung, die Sorgfalt, mit der das Ganze durchgearbeitet ist. Das Gemälde breitet sich vor uns aus wie eine sauber und mit unendlicher Geduld ausgeführte große weibliche Handarbeit, in der auch Verkehrtes und Unnötiges mit derselben Liebe, demselben Gleichmut, derselben Ausdauer gearbeitet ist wie das Schöne und Wichtige.260
Mit diesem zweischneidigen Lob markiert Berg die Randständigkeit Bernsteins innerhalb des ›männlich‹ attribuierten Aktionsraums der literarischen Moderne: Ernst Rosmer gehört nicht zu den Dichterinnen, welche ihr Geschlecht nicht verraten. »Dämmerung« ist eine echt weibliche und mithin eine total undramatische Arbeit [Hervorhebung N.I.], ohne Kern, ohne Energie, ohne Mittelpunkt, ohne Entwicklung, ohne revolutionäres Pathos. Es ist so gleichmäßig im Bau, im Stil, in der Stimmung, wie nur je ein Drama, gewesen ist. Daß es trotzdem von der Bühne herab gewirkt haben kann, darf uns nicht wunder nehmen, da die Bühne, und zumal die moderne Bühne, keineswegs ein ausschließliches Kriterium für das Dramatische abgiebt. »Dämmerung« ist aber nicht einmal eine Novelle, es liegt nur eben der Kern zu einer Novelle darin; das Schauspiel giebt Zustände, nicht einmal seelische Zustände, äußere Zuständlichkeiten, wie sie ein Frauenauge sieht, nicht ohne Stimmung dargestellt, aber so 258 Berg 1893, S. 318. 259 Berg 1893, S. 318. Bereits die Figur der Isolde Ritter sieht Berg als weniger gelungen und abgerundet, die Figur der Augenärztin Sabine Graef schließlich als völlig gescheitert an. Auf Bergs Kritik an der Figurencharakteristik wird im Rahmen der Dramenanalyse in Kapitel 3.2.5 noch zurückzukommen sein. 260 Berg 1893, S. 318.
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unpoetisch klar angeschaut und abgezeichnet, daß keine tiefere tragische oder lyrische Ergriffenheit aufkommen kann. Grade der Titel wird Lüge gestraft, poetische Stimmungs-Dämmerung bietet das Schauspiel nicht. —261
Dass Berg bei seiner Wertung ›theoriegeleitet‹ vorgeht und sich an der Geschlechtercharakterologie orientiert, deren spezifische Zuschreibungen besonders in Kapitel 2.2.3 der vorliegenden Arbeit detailliert herausgearbeitet wurden, wird in diesem Abschnitt sehr deutlich: Bernsteins unverhohlenes Geschlecht – in der Tat ist das Pseudonym ja durch Schlenther aufgedeckt worden –262 erscheint Berg ursächlich für die von ihm konstatierte Energie- und Entwicklungslosigkeit des »echt weiblichen« und damit per definitionem »total undramatische[n]« Stücks, dessen Verfasserin nur »äußerliche Zuständlichkeiten« klar anschauen und abzeichnen, nicht jedoch wahrhaftige Eindrücke poetisch schaffen könne. Nicht zuletzt die Vagheit eines Konzepts wie der »tiefere[n] tragische[n] oder lyrische[n] Ergriffenheit«, die Bernsteins Stück nicht hervorzurufen in der Lage sei, legt Bergs deduktive Argumentationsstruktur offen. Bernsteins Positionierung innerhalb des Naturalismus über das von ihr gewählte Pseudonym und die stilistisch-thematische Ausrichtung ihrer ersten beiden, 1893 veröffentlichten Dramen Wir Drei und Dämmerung wird in der zeitgenössischen Rezeption zwar insgesamt kritisch aufgenommen, im Kern jedoch nicht bestritten. Bernstein beteiligt sich mit ihren Dramen an den innerhalb der naturalistischen Strömung zentral verhandelten Problemkomplexen. Diese umfassen einerseits die Frage nach den Determinationsfaktoren des Menschen, nach der Möglichkeit des freien Willens und des selbstbestimmten Handelns, andererseits – auf zweiter Ebene – die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit gelingender Paarbildung im Sinne eines Überschreitens der biologisch, psychologisch und milieubedingten Grenzen, die dem Individuum gesetzt scheinen. Die spezifische Perspektivierung dieser Problemkomplexe in Bernsteins Dramatik lässt sich auch anhand des bekanntesten Stücks der Autorin genauer herauspräparieren, das aus dem naturalistischen Darstellungsparadigma zunächst deutlich herausfällt: an ihrem Drama Königskinder. Ein deutsches Märchen in drei Akten (1894). Das von Engelbert Humperdinck vertonte, 1894 (vordatiert auf 1895) bei S. Fischer erschienene Drama wurde in der ersten Fassung als Melodram am 23. Januar 1897 am Münchner Hoftheater uraufgeführt, in der Opernfassung 261 Berg 1893, S. 318. 262 Nachdem es nicht möglich ist, das Wissen um das tatsächliche Geschlecht des Verfasser zu hintergehen, kann der zunächst unmarkierte Faktor ›Geschlecht‹ wie bei Berg zum zentralen Referenzkriterium der literarischen Kritik werden (siehe auch Kord 2003, S. xx f.). Wäre das Pseudonym ungelüftet gewesen, hätte Berg die von ihm wahrgenommenen stilistischen und dramaturgischen Eigenschaften anhand anderer Kriterien bewerten müssen.
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schließlich am 28. Dezember 1910 an der Metropolitan Opera in New York.263 Seine ästhetische (Gattungs-)Innovation liegt einerseits im Bereich der lyrischen Verssprache – auf die im Weiteren noch einzugehen sein wird –, andererseits in der Verbindung eines für die Textsorte ›Märchen‹ typischen Narrativs mit Aspekten naturalistischer Dramatik. So greift Bernsteins Stück den oben skizzierten »Märchencharakter«264 des für den ›trivialen‹ Liebesroman des 19. Jahrhunderts konstitutiven »Prädestinationsschema[s]«265 auf und stellt zugleich starke intertextuelle Bezüge und Parallelen zu Ibsens Rosmersholm (1887) her : Wie Johannes Rosmer und Rebekka West in Ibsens Stück finden auch die beiden Königskinder – der Königssohn und die Gänsemagd, die durch das Überwinden ihrer Furcht zum Königskind wird – nur für kurze Zeit zueinander. Ihre jeweilige Komplementarität kann das zugleich läuternde wie zerstörerische ›Gesetz‹ von Rosmersholm266 respektive das höhnende Volk, das die Königskinder nicht (an)erkennt und sie als Betrüger aus der Stadt jagt, nicht bezwingen. In Rosmersholm sterben die Liebenden einerseits einen selbstbestimmten, gemeinsamen Tod, andererseits ist der Freitod die Sühne für vergangene Schuld267 – und folgt zugleich aus der gesellschaftlichen Unmöglichkeit der Verbindung Johannes Rosmers und Rebekka Wests. Bernsteins Königskinder – aus der Gesellschaft ausgeschlossen, frierend, hungrig und elend – entschlafen am Ende des Stücks, vergiftet und zugleich erlöst durch ein verzaubertes Brot.268 263 Zur Entstehungs- und Erfolgsgeschichte der Königskinder siehe den von Eva Humperdinck herausgegebenen Band mit Briefen und Dokumenten (2003). Insgesamt ist das Stück relativ bekannt, wird jedoch nicht mit Bernstein assoziiert. Die dramatische Erstfassung ist in der öffentlichen Wahrnehmung mittlerweile so gut wie nicht mehr präsent, in Aufführungsbesprechungen zu der noch immer gespielten Oper Humperdincks wird Bernstein oft nicht einmal als Librettistin namentlich genannt. Dieser Nivellierungstendenz entgegen steht jedoch etwa das Programmbuch zur Premiere der Oper am 29. Oktober 2005 im Nationaltheater München, das einen Abriss zur Entstehungs- und Aufführungsgeschichte derselben gibt und Bernsteins Dramenfassung würdigt. 264 Sprengel 1998b, S. 204. 265 Mellmann 2008, S. 12. 266 Die »Lebensanschauung von Rosmersholm« verlangt, dass Rebekka und Rosmer ihre Schuld sühnen. Vgl. Ibsen 1902 [1887], S. 105. 267 Siehe die Ausführungen zur Deutung von Ibsens Stück durch Paul Schlenther weiter unten. 268 Das Brot hat die Gänsemagd in ihrer Zeit bei der Hexe selbst gebacken und mit einem Spruch belegt: »Wer davon ißt, mag das Schönste sehn, / So er wünscht, sich zu geschehn.« Auch die Hexe spricht über das Brot ihren Zauber. »Nun sieh dir mit klugen Augen an, / Was du geknetet. / Es wird nicht hart, es wird nicht alt, / Wer es hälften ißt, stirbt ganzen Tod.« (Rosmer 1894, S. 16; im Folgenden im Text unter der Sigle ›KK‹ nachgewiesen) Das Sprüchlein der Gänsemagd erklärt die Hexe für wirkungslos, und prophezeit ihr stattdessen: »Wird [das Brot] erst einen Hungrigen laben, / Dann bist du für immer zur Hexe geschuldet.« (Ebd.) Indem nun die Gänsemagd selbst das Brot zusammen mit dem Königssohn isst, erlöst sie ihn und sich aus einem Dasein in gesellschaftlicher Verbannung und bricht zugleich den Bann der Hexe und die Macht der Genealogie. Vgl. hierzu auch den Verweis von Peter Sprengel auf den Ermächtigungscharakter der Selbsttötung Helenes in
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Das gängige Schema des ›Aschenbrödel-Motivs‹ sieht die erfolgreiche Paarbildung nach bestandenen Bewährungsproben vor. Mit Blick auf die Orientierungsfunktion, die dem schematisch-trivialen Liebesroman in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesichts des gesellschaftsstrukturellen und semantischen Wandels zukommt, bringt Mellmann die ›Zielrichtung‹ dieses Schemas überzeugend auf den Punkt. Im trivialen Liebesroman […] trifft weibliche Tugend (häufig veranschaulicht durch Mittellosigkeit, die eine Erziehung zu »Repräsentation, Tand, Flitter und kostspielige [n] Vergnügungen« verhindert) in einer Art Prädestinationsschema mit männlicher Führungskompetenz (häufig veranschaulicht durch adlige Abstammung) zusammen. Auf diese Weise bildet sich ein jeweils ideales Gespann für den modernen ›Kampf ums Dasein‹: Der Mann wird von seiner Melancholie befreit, die ihn davon abhält, seinen Pflichten in der Welt nachzukommen, und die Frau wird durch die Heirat aus ihrem sozial peripheren Dasein entbunden und der Wirkungskreis ihrer Tugend damit vom Privaten ins Gesellschaftliche ausgeweitet.269
Wie in dem von Mellmann untersuchten Roman Gabriele Reuters wird dieses Schema auch in Bernsteins Königskindern nicht eingelöst bzw. als nicht einlösbar entworfen. Der Wirkungskreis der Tugend der Gänsemagd erfährt keine Ausweitung ins Gesellschaftliche, der Königssohn kann seinen gesellschaftlichen Führungspflichten nicht nachkommen. Das Komplementärmodell wird in den Königskindern zwar als grundsätzlich realisierbar dargestellt, allerdings mit einer wesentlichen Einschränkung: Während das ›richtige‹ Paar zusammenfindet – Königssohn und Gänsemagd erkennen einander und bestehen die nötigen Bewährungsproben, um vereint zu werden –, wird ihnen der soziale Status aberkannt. Eine dauerhafte Stabilisierung der Paarbeziehung und eine Ausweitung des Perfektibilitätskonzepts von der individuellen auf die gesellschaftliche Ebene scheitert an der Verweigerung der Stadtbewohner, ihre bestehenden Konzepte über soziale Führungsgestalten zu aktualisieren. Der Autorin und Kritikerin Juliane D¦ry erscheint diese Verweigerung innerhalb wie auch außerhalb der dramatischen ›Diegese‹ nachvollziehbar. So schreibt sie in ihrer 1894 in der Gesellschaft erschienenen Rezension: Ja, wenn es bloß ein Märchen wäre – wie würde ich da lachen und weinen in leichtfertigster Gläubigkeit! Aber wir sind ja im Theater. Da bin ich ein ganz anderer, nicht mehr so dumm, daß ich alles verstünde, nein, verstockt klug und werfe mein Mitleid nicht zum Fenster hinaus. Der Bettler bleibt für mich ein simpler Bettler, so lang ich ihn nicht als König gesehen. Ich muß ihn beneidet haben, wenn ich ihn bedauern soll.270 Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889), worauf in Kapitel 3.2.4 noch zurückzukommen ist. 269 Mellmann 2008, S. 12. 270 D¦ry 1894, S. 1625.
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D¦ry kritisiert zuvorderst die (aus heutiger Sicht als literarische Innovationsleistung erscheinende) Gattungsvermischung, die zu einer aus ihrer Sicht unzulässigen Vermengung naturalistischer Dramenästhetik (und damit einer spezifischen Wirkungsästhetik) mit der Symbolstruktur des Märchens führt. Aus der Überschreitung der Gattungsgrenzen wie auch der Grenzen der naturalistischen Ästhetik ergibt sich für die Rezensentin auch eine defizitäre Figurenzeichnung: Man glaubt der Gänsemagd die Prinzessin nicht. Das ist nun einmal so. Warum mit Fingern darauf zeigen? Ist denn die Thatsache gar so beschämend? Und der Schweinehirt ist kein Kronprätendent! Das giebt’s nicht. Auf der Bühne nicht! Wo wäre das je vorgekommen? Das gehört ins Märchen. Dem Prinzen im Märchen glaube ich alles, dem Märchenprinzen auf der Bühne nichts. Wer sagt mir, daß dieser hergelaufene Knabe ein König ist? Sein Kronenreiflein? Wiederum ein Symbol! Man kommt zu keinem Genuß.271
Naturalistischer Authentizitätsanspruch und Symbolgehalt des Märchens schließen sich aus D¦rys Sicht aus, ebenso wie sich auf Figurenebene eine naturalistische, psychologisch motivierte Charakteristik, die das Allgemeine im Besonderen darstellen soll,272 und die Typisierung des Märchenpersonals in ihren Augen als nicht kompatibel erweisen.273 Wie in Bezug auf die Gattungen erscheint ihr auch in Bezug auf die Figuren des Stücks der Ergänzungsgedanke nicht einlösbar : Wenn aber auch zwei so selbständige Naturen sich ergänzen wollen, wo doch bekanntlich zwei Ganze kein Ganzes geben. Man bietet uns zu viel, wir haben nichts davon. Theaterstück und Märchen! Zuviel des Glücks!274
271 D¦ry 1894, S. 1625. 272 Vgl. Bölsches Ausführungen zu einer ›naturwissenschaftlich‹ fundierten Figurencharakteristik: »Einen Menschen bauen, der naturgeschichtlich echt ausschaut und doch sich so zum Typischen, zum Allgemeinen, zum Idealen erhebt, dass er im Stande ist, uns zu interessiren aus mehr als einem Gesichtspuncte, – das ist zugleich das Höchste und das Schwerste, was der Genius schaffen kann.« (Bölsche 1976 [1887], S. 11; siehe auch Kapitel 3.1.1, S. 183 f.) 273 Dass derartige Gattungsüberschreitungen in der naturalistischen Dramatik nicht selten sind, wurde bereits in Kapitel 3.1.2 etwa mit Blick auf die Engführung von narrativen und dramatischen Strukturen bei Holz und Schlaf angesprochen. In Hinblick auf die Figurenzeichnung findet sich etwa in Max Halbes Jugend (1893) ein ähnliches Spannungsverhältnis wie in Bernsteins Königskindern. So operiert auch Halbes Text mit einer starken Typisierung der Figuren auf der einen Seite, die das ›Allgemeinmenschliche‹ deutlich vordergrundiert, und mit einer differenzierten Figurencharakteristik auf der anderen Seite, die den Blick auf die Frage nach der Milieuprägung und der individuellen Handlungsverantwortung lenkt. 274 D¦ry 1894, S. 1625.
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Während D¦ry den aufklärerischen Impetus des Stücks markiert, sich jedoch gegen dessen wahrgenommene Wirkungsabsicht der moralischen Läuterung verwehrt,275 versteht der namentlich nicht genauer zu eruierende Rezensent G. L. Bernsteins Königskinder als absichtslos ästhetisches Erbauungsstück. So äußert er sich in seiner Kritik zur Aufführung der Melodram-Fassung des Stücks im Theater an der Wien (Wiener Rundschau, 1897) sehr positiv über das aus seiner Sicht von jeder sozialkritischen Haltung freie Drama: Weil es so ganz tendenzlos, aus reiner Freude am Naiven ein buntes, schillerndes Bild entfaltet, deshalb ist dieses Stück uns theuer, und weil wir Kinder sein und allem Ballast der Cultur entsagen dürfen, deshalb empfinden wir es als Erlösung.276
Diese Interpretation hat dabei relativ wenig mit dem Drama selbst zu tun, sondern gründet eher in einer naturalismuskritischen Ausgangshaltung des Rezensenten, die sich in der offensichtlichen Werthaltigkeit der hervorgehobenen (vermeintlichen) Tendenzlosigkeit des Stücks andeutet, sowie in seiner Aussage »Unsere Zeit blickt, vom Vorwärtshasten ermüdet, verlangenden Auges nach rückwärts«277. Dass sich das Drama als Verhandlungsraum des bürgerlichen Humanitätsideals und der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit individueller wie menschheitlicher Perfektibilität auffassen lässt, rückt dementsprechend in L.’s Kritik nicht in den Blick. Eine ganz andere Perspektivierung nimmt hingegen der Naturalist Johannes Schlaf in seiner 1895 in der Freien Bühne erschienenen Rezension vor. Schlaf interpretiert das Stück als allegorisch und weist auf die romantische, jedoch nicht romantisierende Grundstruktur hin. Eingangs markiert er dabei für die informierten Leser Bernsteins Nähe zur naturalistischen Programmatik und das symbolische Kapital, das die Autorin mit ihren Dramen Dämmerung und Wir Drei innerhalb der literarischen Moderne erworben hat: Ernst Rosmer hat sich mit ihren beiden Dramen »Wir Drei« und »Dämmerung« einen wohlverdienten Namen erworben. Ihr neues Märchenspiel thut ihm keinen Abbruch. Es ist keine romantisirende Läpperei, sondern der Vollgehalt des altdeutschen Volksmärchens kommt zu seiner guten Wirkung. Nicht so herzpackend schlicht, ist die Weise dieses Märchendramas mit dem kunstvollen Wechsel seiner freien gereimten Verse: moderner, pointirter, archaisirend in der Sprache. Hier und da will es einen anwehen in Sprache und Stimmung wie aus einem Wagner’schen Musikdrama. Aber in prächtiger dramatischer Steigerung kommt das Schicksal der beiden Königskinder des 275 So wendet sich der Schluss der Rezension noch einmal gegen eine Vermengung autonomieund wirkungsästhetischer Konzepte und eine vermeintliche Infantilisierung des moralisch belehrten Publikums: »Das so viel Schönheit dazu noch sich mit der Moral abgiebt! Wozu denn? Ich will nicht besser werden, nein, nein. Überhaupt kein Märchen hören! Ich bin kein Kind mehr, ich bin das Publikum!« (D¦ry 1894, S. 1625) 276 L. / K-r. 1897, S. 516. 277 L. / K-r. 1897, S. 516.
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Märchens und Volksliedes, die in der Fremde »verderben und sterben«, zu neuer und eigenartiger Wirkung. Das aus den Hausmärchen der Gebrüder Grimm bekannte herrliche Märchen von der »Gänsehirtin« scheint der Verfasserin vornehmlich Anregung gegeben zu haben. Der sommerliche und winterliche »Hellawald«, wo die Hexe ihr Häuschen hat, »Hellabrunn«, die mittelalterliche Stadt mit dem Leben und Treiben ihrer Bürger : alle guten, alten Märchenrequisiten, die ganze, gute, alte Romantik übt ihren unverwüstlichen Zauber. In diesem Stimmungsmilieu aber die Not der Adelsgeister, zu deren Psychologie dieses Drama einen gutwertigen Beitrag liefert; die Verlegenheit der gehaltlosen Heerdenmenge, deren fette Freiheit sich nachgerade nach einem Halt und einem Führer sehnt, und die ihn, weil sie ihn im Kleide des Landfahrers trotz aller Orakelweisungen und Anzeichen nicht zu erkennen vermag, mit Schimpf und Schande ins Elend stösst: es sind die alten Themen mit ihrer guten alterprobten Wirkung.278
Schlafs pointierter Verweis auf die »Not der Adelsgeister« korrespondiert mit der oben angesprochenen intertextuellen Verbindung zu Ibsens Rosmersholm – auch dort scheitert das Vorhaben der gesellschaftlichen Erneuerung, der geistigen Befreiung und Läuterung der Menschen: rebekka […]. Wie schön war’s, wenn wir in der Dämmerung unten in der Stube saßen und einander halfen, die neuen Lebenspläne zu entwerfen. Du wolltest in das lebendige Leben eingreifen – in das lebendige Leben des Tages –, wie Du sagtest. Du wolltest wie ein befreiender Gast von Heim zu Heim ziehen. Wolltest die Geister und die Willen Dir gewinnen. Adelsmenschen schaffen rings umher – in weiteren und weiteren Kreisen. Adelsmenschen. rosmer. Frohe Adelsmenschen. rebekka. Ja – frohe. rosmer. Denn es ist die Freude, die die Geister adelt, Rebekka. rebekka. Und meinst Du – nicht auch der Schmerz? Der große Schmerz? rosmer. Ja, wenn man durch ihn hindurch könnte. Über ihn hinweg. Ganz über ihn hinweg.279
In seiner Einleitung des achten Bandes der bei S. Fischer erschienenen Werkausgabe Ibsens geht Paul Schlenther auf das für Ibsens Stücke zentrale Motiv der »idealen Forderung« ein. Dieser hat sich etwa Gregers Werle in Ibsens Wildente verschrieben, wo der heimkehrende Sohn des Großhändlers Werle in einer Art moralischem Kreuzzug durch seine lebensferne Aufklärungsideologie Unheil über die Familie Ekdal bringt, statt der erhofften Erlösung. In Ibsens Rosmers278 Schlaf 1895, S. 628. Der letzte Satz der Rezension macht deutlich, dass Schlaf der von ihm in ihrer Komposition und Wirkung gelobten symbolistischen Märchentragödie keinen prägenden Einfluss innerhalb der literarischen Moderne zuspricht: Es sind für Schlaf die durchaus relevanten »alten Themen« mit ihrer anerkennenswerten, aber eben »guten alterprobten Wirkung«, die keinen Beitrag zur weiteren Entwicklung der modernen Dramatik liefern. 279 Ibsen 1902 [1887], S. 59.
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holm gerät nun die »ideale Forderung« nach Schlenther »nicht zu Durchschnittsmenschen, wie Gina und Hjalmar Ekdal, sondern zu jenen Auserlesenen, zu denen Hedwig Ekdal berufen war«280 ; d. h. an den Expastor Rosmer, der sich von angeerbten und anerzogenen Anschauungen über Staat und Kirche losgemacht hat und einem Zukunftsreich frohe, edle Menschen erziehen will, die das doppelseitige Ideal der individuellen Freiheit und der die Gefahren einer solchen Freiheit ausgleichenden Opferfreudigkeit verkörpern.281
Anders als der »vereinsamte[] Grübler« Gregers Werle, »dessen tiefsinnig bornierter Hartschädel über ein trostloses Familienschicksal hinweg treuherzigtäppisch ein Weltglück sucht«282, ist Johannes Rosmer für Schlenther als »Enkel eines uralten, bodenständigen, Land und Leute lenkenden Edelgeschlechts« nicht blinder Ideologe, sondern »eine feine, sinnende, zum Edelsten und Reinsten strebende Seele, ein geistiger Aristokrat von Natur aus«283. Schlenthers Deutung erweist sich mit Blick auf Elsa Bernsteins Verortung innerhalb des Naturalismus als sehr pointiert: Rosmer sehnt sich darnach [sic], Licht zu bringen in das Düster der menschlichen Abscheulichkeiten, die Menschen zur Selbsterkenntnis, zur Reue, zur Verträglichkeit zu führen. »Ach, was für eine Lust wär’ es dann, zu leben. Kein haßerfüllter Streit mehr. Nur Wettstreit. Aller Augen gerichtet auf das eine Ziel. Jeder Wille, jeder Sinn vorwärts strebend, – empor, – ein jeglicher auf seinem eigenen, naturnotwendigen Wege. Das Glück aller, – geschaffen durch alle.« (S. 70) Wie er und Rebekka in reiner Freundschaft keusch und geistig beisammen leben, so soll die Menschheit leben. Er, den kein Mensch jemals hat lachen sehen, fühlt in sich große Anlagen zum Fröhlichsein. Er will sein Evangelium von der Freude, die die Geister adelt, von den »frohen Adelsmenschen« an die Stelle alter Überlieferungen setzen, von denen der Priester und der Abkömmling eines alten Geschlechts sich selbst innerlich losgesagt hat. Die freie, frohe Genossin soll ihm helfend zur Seite bleiben. Was er selbst an sich erlebt, ein freies Zusammensein von Mann und Weib, ohne Ehe, aber auch ohne »freie Liebe«, hält er auch anderwärts für möglich und fast für normal; obwohl er, auch darin ein echter Rosmer, noch immer nicht lachen kann; obwohl es einen Weg in der Welt giebt, den sein Gewissen zu gehen vermeidet, den Steg über den Mühlengraben.284
In Rosmersholm wird jenes Spannungsverhältnis zwischen idealistisch-humanistischen Konzepten und biologischen wie sozialen Determinationshypothesen diskursiviert, das innerhalb der deutschsprachigen naturalistischen Dramatik insgesamt zentral verhandelt wird und spezifisch bei Bernstein in Richtung des psychisch-sozialen Aspekts perspektiviert wird. Wie in Ibsens Stück wird dem 280 281 282 283 284
Schlenther 1902, S. IX. Schlenther 1902, S. IX. Schlenther 1902, S. IX. Schlenther 1902, S. IX f. Schlenther 1902, S. XII.
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Subjekt (bzw. Individuum) auch in Bernsteins Dramen eine individuelle Handlungsverantwortung zugesprochen. Bei Ibsen wie bei Bernstein sind dem Subjekt aufgrund der »verkrusteten« Strukturen der Gesellschaft im Allgemeinen und des spezifischen Milieus im Besonderen einerseits Grenzen gesetzt, hier wie dort werden jedoch innerhalb dieser Grenzen Möglichkeiten der ›Eigengesetzlichkeit‹ entworfen. So hebt Schlenther in seiner Einleitung zu Rosmersholm hervor, dass Johannes Rosmer nicht einfach nur dem »Gesetz von Rosmersholm« – im Sinne des ›Schattens der Vergangenheit‹, der das gegenwärtige und zukünftige Handeln der Figur determiniert – unterworfen ist, sondern dieses Gesetz im Sinne eines handlungsmächtigen, selbstkonstitutiven Subjekts selbst mitbegründet, auslegt und wahrt: Rosmers Fähigkeit, Menschen umzuwandeln, hat sich an Rebekka erwiesen, und gerade Rebekka ist es, die ihm den verlorenen Glauben an die Fähigkeit der Menschenseele, sich adeln zu lassen, nur durch einen Beweis ihrer Liebe wiedergeben kann. Dieser Beweis kann nur ihr Opfertod sein, denn nach der alten Rosmerschen Familienanschauung verlangt Verbrechen Sühne. Wohin sie Rosmers Weib getrieben hat, muß sie selber gehen,285 und Johannes Rosmers eigene frei gewordene Lebensanschauung führt zu demselben Ziel: »Es ist kein Richter über uns. Und darum müssen wir sehen, wie wir selbst Justiz üben.«286
Rosmers (Selbst-)Wirksamkeit liegt in der Stiftung einer Ordnung, die über den individuellen Handlungsraum hinausgeht und durch das Zusammenleben mit ihm auch die zuvor moralisch verworfene Rebekka erfasst: Der geistige Umgang mit dem edlen, feinen, stillen, keuschen Mann hat tief in Rebekkas verwüsteter Natur eine bessere Seele geweckt, ihre Leidenschaften geläutert, ihre Triebe geadelt, alles Große in ihr frei gemacht. Was Geburt, Gewöhnung, Erziehung in dieser natürlichen Tochter einer Hebamme und eines Geburtshelfers erniedrigt, herabgedrückt, verschmutzt hatten, dringt hervor wie ein Edelstein aus dem Erdmorast.287
285 Rebekka hat Rosmers Frau Beate, die ihrem Mann keine Kinder gebären konnte und unter diesem Umstand seelisch wie körperlich leidend »hysterisch« geworden ist, in dem Glauben bestärkt, sie und Johannes Rosmer hätten ein Verhältnis. Beate Rosmers Sprung vom Steg über dem Mühlengraben in den Tod ist damit tatsächlich, wie Schlenther schreibt, eine Selbstopferung, um dem Gatten eine (zweck)erfüllte Ehe mit Rebekka zu ermöglichen. (Vgl. Schlenther 1902, S. X f.) 286 Schlenther 1902, S. XIV. 287 Schlenther 1902, S. XI. Rebekka beschreibt ihre Läuterung durch Rosmer als eine Art Ansteckung: »Es ist die Lebensanschauung des Hauses Rosmer, oder wenigstens D e i n e Lebensanschauung, – die meinen Willen angesteckt hat. […] Und ihn krank gemacht hat. Ihn geknechtet hat mit Gesetzen, die früher für mich nicht gegolten haben. Das Zusammenleben mit Dir, – Du, das hat meine Seele geadelt. […] Die Lebensanschauung der Rosmer adelt. Aber – schüttelt den Kopf – aber, – aber – […] – aber sie tötet das Glück.« (Ibsen 1902 [1887], S. 96)
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Die Grenze der Perfektibilität wird jedoch klar markiert: Eine Ausweitung des idealistisch-humanistischen Erneuerungsprogramms auf die gesellschaftliche Ebene ist nicht möglich. Der ehemalige Pastor Rosmer wird eben kein Verkünder der ›Erlösung‹ für alle, sondern findet mit Rebekka nur die individuelle Erlösung im selbstgewählten – und dabei zugleich als einzigem Ausweg erscheinenden – ›Freitod‹. Auch hier bringt Schlenther das paradoxe Verhältnis von selbstbestimmter Wahl und psycho-sozial bedingtem Zwang auf den Punkt, das den Akt der Selbsttötung der beiden Figuren charakterisiert: Eins geworden im Leben wie im Tod, gehen sie zusammen froh und freiwillig in den Tod, da sie unter dem Schatten des Vorangegangenen nicht zusammen leben können.288
Schlenthers Fazit zu Rosmersholm erscheint mit Blick auf Bernsteins Königskinder wie eine Bekräftigung der gezeigten Unmöglichkeit, das gattungstypische happy ending des Märchens einzulösen: »Das froh und frei gewordene Adelsmenschenpaar verläßt die Welt.«289 Komplementarität geglückt – Paar tot. Bernsteins dramatisches ›Antimärchen‹ Königskinder, das über die Titelgebung als Märchendrama spezifische Gattungserwartungen aufruft (und zugleich den Bruch mit diesen signalisiert), weist trotz der symbolistischen Grundstruktur deutlich naturalistische Züge auf, wenngleich es über den Sprach- und Beschreibungsrealismus naturalistischer Dramen hinausgeht. Die lyrische Verssprache des Stücks und die auf Mittelachse gesetzte Präsentationsform verweisen dabei jedoch nicht auf eine gewollte Rückbindung an die ›klassische‹ Verssprache, sondern auf den dezidierten Versuch, eine ›moderne‹ Dichtungssprache und Textgestaltung zu finden. Bernsteins 1894 publiziertes Stück liegt in dieser Hinsicht in einer deutlichen Nähe zu Arno Holz’ 1898/99 erschienenem ›spätnaturalistischen‹ Gedichtzyklus Phantasus. Die Gattung des Märchens, zu der sich Bernsteins Drama nun bereits durch die Titelwahl assoziiert, operiert mit den Schemata – oder auch ›Meta-Narrativen‹ – der Erlösung der Figuren aus einem Bannkreis und ihres beschwerlichen aber zuletzt erfolgreichen Übergangs von der Herkunfts- in die Fortpflanzungsfamilie. Die Positionierung der Königskinder innerhalb der naturalistischen Diskursformation290 korrespondiert mit der Aushebelung dieser Schemata und der Fokusverschiebung auf die Faktoren des (gesellschaftlichen) Scheiterns der Figuren. Auf individueller Ebene scheint die positive Subjektkonstitution – wie auch die geschlechtliche Komplementarität – durchaus möglich. Allerdings wird diese zur bewussten Setzung und ist nicht a priori 288 Schlenther 1902, S. XV. 289 Schlenther 1902, S. XVI. 290 Der Text entsteht parallel zum naturalistischen Drama Wir Drei (1893), in dem er sogar selbst vorkommt: als Erfolgsstück der dezidiert naturalistisch-modernen Autorin Sascha (vgl. Rosmer o. J. [1893], S. 31).
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gültig, wenn Königssohn und Gänsemagd durch die jeweils mutwillige291 Überschreitung der Standesgrenzen zueinander finden. So wird im ersten Akt die Bedingung der Möglichkeit der Paarbildung dargelegt:292 königssohn. Was schreckt dir die Augen weit? / Was wurzelt dich ein? Wir sind auf der Schwelle. / Eile ziemt uns, nicht Aufenthalt. gänsemagd. Schau den Wald! / Er will’s nicht haben. / Mit allen Zweigen / Will er mich fassen, / Das sind Arme, die mich umneigen. / Alle Blumen schrein! / Und schau den Raben. / Und meine Gänslein wollen mich nicht lassen. / Ich werd zu Stein! (Sie bricht in die Knie.) königssohn. Ist ein Zauber in deinen Sinnen, / Mußt ihm entrinnen! gänsemagd. Aber der Boden hält mich fest, / In die Sohlen wächst mir die Erde. königssohn (sich erzürnend). Ich verlasse dich, wenn du mich verlässt. / Deine Gänseheerde / Gilt dir besser als ich. gänsemagd (will sich emporreißen und bricht wieder zusammen). Ich kann nicht … ich fürchte mich! königssohn (in Empörung ausbrechend). Fürchten ist Schmach! Bist du verzagt, / So hast du gelogen. / Eigen in alle Zeit! / Und nicht einen Pfeilschuß weit / Bist du in Treuen mit mir gezogen. / Knechtsdirne! Niedrige Magd! gänsemagd (schreit auf. Sehr leise). Gehe, König! Du bist nicht gut! / Du hast mich in’s Antlitz geschlagen. königssohn. Königsblut und Bettelblut / Sollen nicht miteinander wagen. / Die Krone schenkt’ ich zu deinen Füßen, / Das muß ich büßen / Mit Leiden / Und Scheiden. […] (KK, S. 29 – 31)
Das Paar kann nur als Vereinigung zweier selbstermächtigter Subjekte bestehen. Wenn die Gänsemagd nicht dem (sozialen und familiären) Bannkreis entrinnt, so bleibt sie »Eigen in alle Zeit«. Erst als die Gänsemagd sich nach der Bekräftigung durch den Spielmann293 – die zentrale Mittlerfigur im Stück – in einer an 291 Im Sinne der älteren Wortbedeutung als einem Handeln aus eigenen Antrieb, nach freiem Willen. 292 Aus Platzgründen werden die Zitate im Folgenden nicht zentriert wiedergegeben, die Verseinteilung wird dabei durch Schrägstriche gekennzeichnet. Die im Original in kleinerem Schriftgrad gedruckten Regieanweisungen werden kursiv gesetzt. 293 Dieser fungiert als Prophet und Überbringer der Botschaft, dass die Gänsemagd selbst ein Königskind sei, allerdings anders als im Märchen-Schema vorgesehen nicht durch Adel der Geburt, sondern durch das »Lieben und Leiden« der Eltern: »Zwei Königsmenschen, voll Kraft und Gewalt, / Gaben dir Atem und Erdengestalt. / Wohl kannt’ ich die Beiden. / Die Henkerstochter, der Henkersknecht / Waren königsecht / In ihrem Lieben und Leiden. / Nicht die Throne allein / Tragen Königsleben / Aus Bettelschande, aus Hungerpein, / Können sich Könige auferheben. / So sei es dir heute herrlich gesagt: / Ein Königskind ist die Gänsemagd!« (KK, S. 54 f.) Hier wird erneut der intertextuelle Bezug zu Ibsens Rosmersholm deutlich: Auch Rebekka West stammt als »natürliche[] Tochter einer Hebamme und eines Geburtshelfers« (Schlenther 1902, S. XI) aus einer sozial stigmatisierten Familienkonstellation und erscheint, wie Paul Schlenther pointiert formuliert, durch »Geburt, Gewöhnung, Erziehung […] herabgedrückt, verschmutzt« (ebd.). Im Prozess der Läute-
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Wagner294 gemahnenden Sequenz durch ein emphatisches Gebet selbst erlöst (vgl. KK, S. 56),295 darf sie die Krone tragen und kann, einem Messias gleich,296 beim zwölften Glockenschlag in die Hellastadt schreiten, wo sie der Königssohn als ebenbürtiges Königskind erkennt: königssohn. Wahr! gänsemagd. Mein lieber Knabe, ich komm’ zu dir. / Hab mein Fürchten überwunden, / Und einen freudigen Mut gefunden, / Darf deine Krone mit Rechten tragen. königssohn (stürzt leidenschaftlich aufjauchzend zu ihr, wirft sich nieder, umklammert ihre Kniee, inbrünstig). Der ich mit Sehnen ergeben bin, / Du Liebesverschönte, / Du Sonnengekrönte, / O du meine hohe Königin. (KK, S. 95)
In den Augen des »in wild höhnendes Geschrei und Gelächter« (KK, S. 95) ausbrechenden Volkes sind die Königskinder jedoch Betrüger, der Spielmann kann nicht vermitteln, und die Königskinder werden schließlich aus der Stadt gejagt. Der im Stück zentral verhandelte Gedanke, dem in Bernsteins Werken insgesamt eine Schlüsselposition zukommt, ist der der Selbstermächtigung bzw. ›Selbsterlösung‹: Sowohl die naturalistischen als auch die symbolistischen – wie etwa Königskinder oder das Versdrama Mutter Maria. Ein Totengedicht in fünf Wandlungen (1900) – oder neoklassizistischen Dramen – etwa Themistokles (1897) oder Nausikaa (1906) – loten die Bedingungen der Möglichkeit des freien Handelns des (männlichen wie weiblichen) Subjekts aus. Die glückende Subjektkonstitution, die die Wahrnehmung der individuellen Handlungsverantwortung impliziert, wird wiederum als Voraussetzung der Geschlechterkomplementarität entworfen. Dabei zeigt sich, dass das bei Bernstein diskursivierte rung durch die »ansteckende« Lebensanschauung Johannes Rosmers wurde nun das »Große in ihr« befreit und »dringt hervor wie ein Edelstein aus dem Erdmorast« (ebd.). 294 Auch Theodor Lessing hebt in seinem »Dichterinnenportät« zu Bernstein die Nähe ihrer lyrischen Sprachverwendung zu Wagner hervor, betont jedoch die Stimmigkeit, in der Bernstein ihre »archaisierende Neigung« ästhetisch umsetzt: »Ihrer Sprache gelingen oft Wortprägungen von berauschender Schönheit und Prägnanz; zumal in ihrem Meisterwerke, dem entzückenden Märchenspiel von den ›Königskindern‹, finden sich Wendungen von überraschender Seelenschönheit. – Es mag sein, daß diese Sprache von der Richard Wagners beeinflußt wurde, ist doch der bekannte Musiker Heinrich Porges, der begeisterte Interpret Wagners, Ernst Rosmers Vater – indessen ist diese archaisierende Neigung bei Ernst Rosmer mehr als ein bloßer Tick; es ist wirklich die Maske, die ihr am schönsten und kleidsamsten steht.« (Lessing 1898, S. 19) 295 Das Programm der Selbsterlösung wird wiederum vom Spielmann formuliert: »Willst du ein Königskind dich heißen, / Mußt du eigen den Zauber zerreißen. / Tapfer, wer nimmer der Furcht empfunden, / Tapferer, wer die Furcht überwunden.« (KK, S. 55 f.). 296 Siehe die detaillierte, inszenierungstechnisch nicht einfach umzusetzende Regieanweisung: »(Mit dem elften Glockenschlage reißen die Wächter die Querbalken des Thores nach rechts und links zurück, mit dem zwölften springt es weit auf, die Sonne bricht strahlend durch die Wolken. Inmitten ihrer Gänseschaar [sic] zieht die gänsemagd ein, einige Schritte hinter ihr geht der Spielmann. Sie hat die Haare lang über die Schultern herabhängen, auf dem Haupt trägt sie die Krone. […])« (KK, S. 94 f.)
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Komplementärmodell vom Konzept der polaristischen Geschlechtscharaktere Abstand nimmt: Die ›Führungsaufgabe‹ kommt in ihren Dramen – wie etwa in den Königskindern zu beobachten ist – nicht allein den männlichen Figuren zu, sondern gilt wechselseitig für männliche wie weibliche Figuren. Im Konzept der ›Selbsterlösung‹ wird die geschlechterspezifische Rollenaufteilung stark hintergrundiert, das Ergänzungsmodell erscheint hier statt als ›asymmetrischdualistisch‹ als ›ausgewogen-dualistisch‹.297 Insgesamt ist der in Bernsteins Werken in den Blick genommene Problemfaktor nicht die biologische Determination – sei es durch ›Sünden der Väter‹ bzw. degenerative physische Dispositionen, sei es durch den Faktor ›Geschlecht‹ –, sondern die soziale und individuell-psychische Beschränkung des Einzelnen. Deren Reichweite und Grenzen werden in Bernsteins Texten in unterschiedlichen stilistischen Gestaltungen diskursiv umrissen, jedoch immer im Kontext der von der Autorin durch die Beibehaltung ihres längst aufgedeckten Pseudonyms selbstgesetzten Assoziation zum Naturalismus.
3.2.3 Determination, freier Wille und ›Selbsterlösung‹ – Der dramatische Experimentalaufbau als implizite Poetologie in Elsa Bernsteins Wir Drei (1893) In ihrem Beitrag »Gender – Art – Science. Elsa Bernstein’s Critique of Naturalist Aesthetics« wertet Astrid Weigert Bernsteins Drama Dämmerung (1893) als einen Beitrag zum ästhetischen Diskurs des Naturalismus.298 Dass das Stück eine implizite Poetologie aufweist, ist eine wichtige Beobachtung, die auch für das im Folgenden näher zu beleuchtende Drama Wir Drei (1893)299 relevant ist. Allerdings resultiert die Relevanz nicht allein aus der Tatsache, dass die Dramen Dämmerung und Wir Drei eine implizite poetologische Komponente enthalten – 297 Siehe die Ausführungen in Kapitel 2.2.2, S. 138 f., zu Helmut Stubbe-da Luz’ pointiertem Abriss zur semantischen Aktualisierung des geschlechteranthropologischen ›Ergänzungsparadigmas‹ innerhalb der Programmatik der Frauenbewegung um 1900 (vgl. Stubbe-da Luz 1996, S. 325). 298 Vgl. Weigert 2007, S. 78. 299 Entstanden ist der Text 1891, der im E. Albert Verlag in München erschienene Band trägt kein Publikationsdatum. Die Deutsche Nationalbibliothek wie auch die Bayerische Staatsbibliothek datieren den Band auf 1893, was sich auch mit den Angaben in verschiedenen Nachschlagewerken deckt und in dieser Untersuchung als Erscheinungsdatum angegeben wird. Vereinzelt sind in der Forschung konkurrierende Datierungen zu beobachten: So verzeichnet die Bibliographie im von Helga W. Kraft und Dagmar C. G. Lorenz herausgegebenen Band mit grundlegenden Beiträgen zu Bernsteins Leben und Werk (2007) 1891 als Erscheinungsjahr (Kraft / Lorenz [Hg.] 2007, S. 233), Astrid Weigert datiert das Drama in ihrem dort enthaltenen Aufsatz ohne Begründung auf 1892 (vgl. Weigert 2007, S. 77).
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diese ist literarischen Texten letztlich immer schon inhärent300 –, sondern aus der spezifischen Art und Weise, wie sich Bernstein über die beiden naturalistischen Dramen zur Programmatik des Naturalismus positioniert. Wie im vorangehenden Kapitel skizziert wurde und im Folgenden näher zu beleuchten ist, lässt sich Bernstein mit ihrer deutlichen Hervorhebung des Aspekts der individuellen Handlungsverantwortung und der Möglichkeit der subjektiven Selbstermächtigung zunächst eher am Rande der prototypischen Poetologie des Naturalismus verorten. Gerade der Blick auf zwei als prototypisch geltende Texte – nämlich auf Bölsches vorangehend bereits thematisierte programmatische Schrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (1887) sowie auf Hauptmanns Drama Vor Sonnenaufgang (1889) – zeigt jedoch, dass die in der Forschung angenommene Prototypik naturalistischer Poetologie (und Anthropologie) stärker zu differenzieren ist.301 So inszenieren naturalistische Dramen nicht einfach die Determiniertheit des Menschen, sondern loten in dramatischen Experimentalaufbauten die sozialen, biologischen und psychologischen Bedingungsfaktoren aus, die das Subjekt in seinem Handeln und Denken begrenzen. Die implizite Poetologie in Bernsteins Dramen erscheint aus dieser Perspektive weit weniger randständig. Astrid Weigerts zentrale These ist nun, dass Bernsteins Dämmerung kritisch auf die Debatte um die Verwissenschaftlichung der Kunst Bezug nimmt. So werde über das Scheitern der Verbindung zwischen dem Musiker Heinrich Ritter und der Ärztin Sabine Graef ein Scheitern der »Versöhnung« der Sphären von Kunst und Wissenschaft dargestellt. Die kontrastive Gegenüberstellung der Figuren wertet Weigert wiederum als implizite Kritik des Stücks an der in Bölsches Grundlagen-Schrift geforderten Annäherung der Kunst an die Wissenschaft.302 Die von Weigert aufgezeigten Bezüge sind durchaus relevant, allerdings setzt ihre Perspektivierung des Stücks zwei Prämissen an, die sich aus Sicht der 300 Die im literarischen Produktionsprozess notwendige bewusste oder unbewusste Auseinandersetzung mit literarischer Programmatik, mit Gattungserwartungen und (seit der ›Autonomisierung‹ der Literatur) dem expliziten Innovationsgebot ›imprägniert‹ den Text mit einer mehr oder weniger latenten Poetologie, die im Rezeptionsprozess wiederum mehr oder weniger stark wahrgenommen und ausgedeutet wird. Auf die Notwendigkeit der impliziten oder expliziten Positionierung eines Textes zu relevanten Autoren und Werken wurde in Kapitel 3.1.2 mit Blick auf die von Holz und Schlaf gesetzten Standards naturalistischer Dramenästhetik bereits hingewiesen. 301 Siehe die Ausführungen zu Dieter Kafitz’ vorläufiger Definition des Naturalismus als primär biologisch bestimmter Strömung in Kapitel 3.1.1. 302 Siehe Weigert 2007, S. 79: »The poet’s work must become, in Bölsche’s terminology, a ›poetic experiment‹ that ties science and literature together. According to Bölsche, with this approach, a ›reconciliation‹ of the two fields could be achieved, which would elevate art together with science and thus ensure literature’s relevance for the future.« Weigert bezieht sich auf das erste Kapitel von Bölsches Schrift, »Die versöhnende Tendenz des Realismus« (Bölsche 1976 [1887] auf S. 3 – 11).
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vorliegenden Untersuchung als problematisch erweisen. Die erste Prämisse betrifft das bei Bölsche entworfene Konzept der Verwissenschaftlichung der Poesie. Wie im Kapitel zur ›Scharnierepoche‹ des Naturalismus skizziert, knüpft der von Bölsche, den Brüdern Hart oder auch Bertha von Suttner dargelegte Verwissenschaftlichungsanspruch der literarischen Produktion und Rezeption durchaus an tradierte ästhetische Konzeptionen an. Weigert bezieht sich für ihre Deutung von Dämmerung als Problematisierung des naturalistischen Verwissenschaftlichungsprogramms vor allem auf Bölsches Ausführungen zur analogen Struktur des wissenschaftlichen und des literarischen ›Experiments‹. Dass diese Analogie keineswegs einen radikalen Bruch mit der poetologischen Tradition bedeutet, sondern letztlich als ›naturalistische‹ semantische Aktualisierung des Mimesis-Konzeptes zu sehen ist, hat Ingo Stöckmann überzeugend ausgeführt.303 Die Annäherung von Naturwissenschaft und Poesie versteht Bölsche, wie in Kapitel 3.1.1 gezeigt wurde, gerade im Sinne einer schöpferischen Annäherung von »Ideal und Wirklichkeit«304, in der psychologischen Motiviertheit der Figuren und deren trotz ihrer detailrealistisch-authentischen Charakteristik eingelösten Verweisfunktion auf das Allgemeinmenschliche. Weigert geht jedoch in ihrem Beitrag letztlich weniger von Bölsches poetologischen Ausführungen aus, als vielmehr von einer gendertheoretisch-feministischen Hypothese: So schließt sie von der Abgrenzung des Naturalismus gegenüber der ›verweiblichten‹ gründerzeitlichen (Massen-)Literatur auf eine generelle Ablehnung weiblicher Autorschaft innerhalb der naturalistischen Programmatik.305 Dass hier jedoch sowohl mit Blick auf die Semantisierung des ›Weiblichen‹ sowie auf weibliche Autorschaftskonzeptionen deutlich zu differenzieren ist, wurde in Kapitel 3.1.3 ausgeführt. Als zweite zu problematisierende Prämisse von Weigerts Beitrag zeigt sich damit also der Rekurs auf die feministische Repressionshypothese. So geht Weigert vom historisch in dieser Form nicht stimmigen Faktum des stark beschränkten Zugangs weiblicher Beiträger zu den führenden naturalistischen Publikationsorganen aus – bzw. von deren weitgehender Exklusion aus dem programmatischen Diskurs. Diese Zugangsbeschränkung sieht sie wiederum durch Bernsteins Gattungswahl indiziert: The fact that Bernstein employs the genre of the drama for her critique is significant because it foregrounds the limited venues available to women for participating in the male domain of aesthetic discourse. Male authors and theorists edited and published 303 Vgl. Stöckmann 2005, S. 56. 304 Bölsche 1976 [1887], S. 11. 305 Auf der Basis der beobachteten »gender-specific references« (Weigert 2007, S. 79) wertet Weigert damit die innerhalb des programmatischen naturalistischen Diskurses von Bölsche und anderen eingeforderte Verwissenschaftlichung der Literatur als »at least to some extent an attempt to curb and de-legitimize the authorship of women« (ebd., S. 80).
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the relevant literary journals, which in the case of the Naturalists were Die Gesellschaft, Durch! (»Across!«) and Freie Bühne (»Free Stage«). In addition, the contributors were almost exclusively male. More important, though, male authors had the option of publishing both aesthetic reflections and literary works, often combining the two to publicly state an aesthetic position.306
Empirische Belege für diese These finden sich in Weigerts Beitrag allerdings nicht – was insofern nicht verwundert, da sich das angebliche Fehlen weiblicher Beiträger anhand eines kursorischen Blicks durch die Inhaltsverzeichnisse zeitgenössischer Literatur- und Kulturzeitschriften empirisch ohne Anstrengung relativieren lässt. Wie anhand der Ausführungen in Kapitel 3.1.3 bereits deutlich wurde, liegt der von Weigert herangezogenen Prämisse somit eine sich perpetuierende Wahrnehmungsverzerrung zugrunde: Es lässt sich nachweisen, dass die Beteiligungen von weiblichen Autoren am ästhetisch-poetologischen wie auch am literarischen Diskurs innerhalb des Naturalismus deutlich höher ist, als es aufgrund der gegenwärtigen Kanonisierungs- und Forschungslage den Anschein hat.307 So erscheinen etwa in den zentralen naturalistischen Publikationsorganen Die Gesellschaft und Freie Bühne nicht nur literarische Beiträge von Autorinnen wie Bertha von Suttner308, Irma von Troll-Borostyni309, Lou Andreas-Salom¦310, Laura Marholm311, Franziska von Kapff-Essenther312 und 306 Weigert 2007, S. 78. 307 Vgl. dazu Wolfgang Bunzels Ausführungen zum »Zuwachs literarisch und journalistisch tätiger Frauen« Ende des 19. Jahrhunderts (Bunzel 2008, S. 78 f.). 308 Siehe die Ausführungen zu Suttners Essay zu einer naturwissenschaftlich fundierten Literaturkritik in Kapitel 3.1.1. 309 Vgl. Troll-Borostynis 1886 in der Gesellschaft erschienenen Beitrag Der französische Naturalismus, in dem sie sich an der Gattungsdiskussion beteiligt und eine programmatische Abgrenzung des (konsequenten) ›Realismus‹ vom ›Idealismus‹ (im Sinne des ›poetischen Realismus‹) vornimmt vgl. Troll-Borostyni 1886, S. 215. Vgl. auch Brauneck / Müller (Hg.) 1987, S. 212 – 215. Mit dem dort in Auszügen abgedruckten genannten Beitrag »leitet die Gesellschaft eine 5-teilige Aufsatz-Reihe ein zum Thema Die Wahrheit im modernen Roman« (ebd., S. 215). 310 Die umfassende Beteiligung Andreas-Salom¦s am literarischen und essayistischen Diskurs um 1900 ist etwa bei einem Blick in den elektronischen Bestandskatalog des Deutschen Literaturarchivs Marbach augenfällig, der allein für den (ausgewerteten) Bibliotheksbestand 190 selbständig und unselbständig erschienene Publikationen der Verfasserin auflistet. Exemplarisch für ihre Auseinandersetzung mit dem Naturalismus sei ihre literaturpsychologische Studie Henrik Ibsen’s Frauen-Gestalten nach seinen sechs Familiendramen (1892) angeführt, die Wilhelm Bölsche vorab in der Freien Bühne (1891) positiv bespricht. 311 Die Ibsen-Kritikerin und Gegnerin der Emanzipationsbewegung »propagierte bereits 1890 in ihrer Aufsatzreihe in der Freien Bühne das Frauenbild Strindbergs, des ›fanatischen Weiberhassers‹, wie er auch genannt wurde, als ihr Frauenideal« (Brauneck / Müller [Hg.] 1987, S. 626). Brauneck und Müller werten Marholms Position als exemplarisch für eine programmatische Verschiebung innerhalb der (literarischen) Moderne: »Marholms IbsenKritik ist symptomatisch für die um 1890 einsetzende Veränderung in der naturalistischen Bewegung. In dem Übergang von Ibsen zu Strindberg, in der Absage an frauenemanzi-
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anderen, sondern auch regelmäßig Kritiken, Essays und gesellschafts- wie literaturpolitische Streitschriften derselben.313 Dass diese Autorinnen sich nicht »umstandslos als Naturalistinnen bezeichnen«314 lassen, ist dabei letztlich kaum relevant: Von den Beiträgern zum programmatischen Diskurs des Naturalismus – d. h. denjenigen Autoren und Kritikern (beiderlei Geschlechts), die an der Verhandlung der zentralen poetologischen Begriffe und Konzepte in den wichtigen Publikationsorganen beteiligt sind – lassen sich bei genauerer Betrachtung nur wenige eindeutig ›dem Naturalismus‹ zuordnen. Es ist richtig, dass die naturalistischen Manifeste so gut wie ausschließlich von männlichen Autoren – und in einem Gestus der ›neuen Männlichkeit‹ – verfasst wurden, so etwa von Julius und Heinrich Hart, Eugen Wolff oder Georg Michael Conrad. Die Akteure der frühnaturalistischen Phase gehören, wie Lothar L. Schneider skizziert hat, gewissermaßen einer Kohorte von jungen Männern an, die sich im Literaturbetrieb zu etablieren suchen und über Gruppenbildungen und Vereinsgründungen Präsenz zeigen.315 Die Stolperfalle, die die Naturalismusforschung nun vermeiden muss, ist die ungeprüfte Gleichsetzung des insbesondere
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patorische Positionen zugunsten eines neuen Weib-Mythos, kündigt sich zugleich die Ablösung eines rationalen, naturwissenschaftlich bestimmten Weltbildes als ein umfassender, für die geistige Entwicklung der Jahrhundertwende charakteristischen Prozeß an.« (Ebd.) Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass das zumindest dem Anspruch nach »naturwissenschaftlich bestimmte[] Weltbild[]« und das der Anhänger der Frauenemanzipation mitunter in einem Spannungsverhältnis stand, wenn etwa Physiologen und Neurologen wie Möbius und andere einen wissenschaftlich belegten »Schwachsinn des Weibes« postulierten. Siehe dazu die in Kapitel 2.2.4 ausgeführten Gegenpositionen von Hedwig Dohm sowie den Hinweis in Brauneck / Müller (Hg.) (1987, S. 215), dass Troll-Borostyni »im ersten Jahrgang der Gesellschaft […] gegen die biologistische Argumentation [des Philosophen Eduard] v. Hartmanns die Forderung nach Frauenemanzipation« verteidigte. Die Autorin und Leiterin einer Privatschule Franziska Essenther bzw. von Kapf-Essenther (1849 – 1899; geb. Blumenreich) beteiligte sich bereits 1875 an »Fragen zur Entwicklung des modernen Romans« (Brauneck / Müller [Hg.] 1987, S. 220) und publizierte in der Folge mehrere poetologische Beiträge, unter anderem in den Berliner Monatsheften der Brüder Hart (1885) und in der Gesellschaft (1886); vgl. dazu Brauneck / Müller (Hg.) 1987, S. 216 – 220. Der 1886 in der Gesellschaft erschienene Beitrag Der Anfang vom Ende des Romans stellt den zweiten Teil der oben in Anm. 309 erwähnten Aufsatzreihe zum »modernen Roman« dar. Die drei Folgebeiträge stammen von Conrad Alberti, Julius Hillebrand und Ferdinand Avenarius; vgl. Brauneck / Müller (Hg.) 1987, S. 215. Vgl. dazu auch die exemplarische Auflistung von »Schriftstellerinnen, die durch den Naturalismus zu einem eigenen künstlerischen Ausdruck fanden, häufig in dessen Publikationen präsent oder ästhetisch von dessen Programm beeinflusst sind« in Bunzel 2008, S. 81 f. Bunzel 2008, S. 81. Vgl. Schneider 2005, S. 7 f. Die Textsorte des (Gründungs-)Manifests ist in dieser Phase dementsprechend frequent, wird jedoch in der Konsolidierungs- und Ausdifferenzierungsphase des Naturalismus deutlich seltener.
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frühnaturalistischen ›Männlichkeitsprogramms‹ mit einem Ausschluss weiblicher Beiträger aus dem programmatischen Diskurs.316 In Bezug auf Elsa Bernstein lassen sich Weigerts Beobachtungen insofern fruchtbar machen, als Bernstein zwar das gesamte Spektrum literarischer Gattungen bedient – neben ihren dramatischen Arbeiten ist sie als Lyrikerin etwa in der Illustrierten Jugend sehr präsent und Karl Kraus verweist auf sie als »sympathische Novellistin«317 –, sich jedoch kaum explizit am programmatischen Diskurs beteiligt.318 Der Blick auf die implizite Poetologie ihrer Dramen Dämmerung und Wir Drei ist daher eine wichtige Voraussetzung für Bernsteins literaturgeschichtliche Verortung innerhalb der naturalistischen Strömung. Auch Weigerts Hinweis auf den Bezug der beiden genannten Dramen auf Bölsches Grundlagen-Schrift, die als prototypisches Beispiel der naturalistischen Modellierung des Verhältnisses von Dichtung und Wissenschaft gelten kann,319 ist unbestritten berechtigt. Wie in Bernsteins eher symbolistisch ausgerichteter Märchentragödie Königskinder (1894) wird auch in dem klar dem Naturalismus zuzuordnenden Stück Wir Drei eine Perspektivierung der naturalistischen Determinationshypothesen vorgenommen. So steht in Bernsteins nie zur Aufführung gebrachtem, als Lesedrama jedoch durchaus rezipiertem Erstlingswerk320 316 Vgl. dazu Bunzel 2008, S. 80 f., der diesem interpretatorischen Kurzschluss in einer knappen, aber prägnanten Darstellung den Boden entzieht. 317 Kraus 1899, S. 28. Kraus äußert sich in einer knappen Besprechung zu einer Aufführung von Bernsteins »Gemütskomödie« Peter Kron (i. e. Tedeum, 1896) im Wiener Burgtheater grundsätzlich sehr kritisch. So zeige »die Dichterin in geradezu erschreckend deutlicher Weise, wie der ganze schildernde Naturalismus, der in den Details einer philiströsen Häuslichkeit aufgeht, schließlich in L’Arronge’scher Gemütlichkeitsmeierei enden muss und sich nur Dank seiner schlechten Mache als selbständiges Genre noch zu behaupten vermag.« »Dennoch«, so Kraus, »hätte die sympathische Novellistin, der selbst in dem gründlich verfehlten ›Peter Kron‹ manch feiner Zug gelang, nicht so hochmüthig und lümmelhaft abgethan werden müssen.« In gewohnt Kraus’scher Pointe setzt er noch hinzu: »Über den Zustand des heutigen Burgtheaters, den es anlässlich der letzten Neuheit wieder einmal entblößte, wird sich bald ausführlich sprechen lassen.« (Ebd.) 318 Diesbezüglich lässt sich Bernsteins deutlicher Fokus auf den persönlichen Austausch hervorheben. In ihrer Münchner Wohnung in der Briennerstraße 8, aus der Bernstein 1939 von den Nationalsozialisten vertrieben wurde, unterhielt sie seit den 1890er Jahren einen Salon, in dem unter anderem Ibsen, Fontane, Huch, Hauptmann, Rilke und Hofmannsthal zu Gast waren (vgl. Bake / Kiupel 2007, S. 212 f., Kord 2003, S. xv oder auch Nieberle 2000, S. 21 f.). Im Zuge der Zwangsräumung ihrer Wohnung sind der Nachlass ihres Ehemanns, des Rechtsanwalts Max Bernstein (1854 – 1925), sowie die meisten Manuskripte und Dokumente Elsa Bernsteins verloren gegangen und nach ihrer Internierung im Konzentrationslager Theresienstadt höchstwahrscheinlich von den Nationalsozialisten vernichtet worden (vgl. Bake / Kiupel 2007, S. 219). 319 Diese Prototypik ist nach Kindt und Köppe auch ein wesentlicher Grund für die positive Resonanz, die Bölsches Studie zuteilwurde (vgl. Kindt / Köppe 2008, S. 271). 320 Theodor Lessing bewertet Wir Drei als das neben den Königskindern »bedeutendste der Rosmer’schen Bücher« (Lessing 1898, S. 25), Johannes Schlaf nennt das Drama in seiner oben zitierten Rezension zu Bernsteins Märchentragödie in einem Atemzug mit Dämme-
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nicht nur die Frage nach den handlungsbestimmenden Faktoren im Zentrum, sondern auch die Frage nach den Möglichkeiten der Veränderung, des aktiven Eingreifens der Figuren innerhalb der sie prägenden sozialen Konstellationen. Das titelgebende Dreiecksverhältnis zwischen dem jungen Schriftsteller Richard Ebner, seiner Frau Agnes und der Autorin Sascha Korff – deren (Berufs-) Stand als einziger nicht in der Personenübersicht genannt wird, in der jedoch ihr (androgyner) Name an erster Stelle steht – wird als Experimentalaufbau dargestellt, bei dem der Figur der Sascha zunächst die Rolle des Experimentators zukommt. Die erfolgreiche, ›moderne‹ Autorin Sascha, deren Figurencharakteristik männlich wie weiblich codierte Aspekte aufweist, steht sowohl zu Agnes wie zu Richard in einem engen Bezugs- und Vertrauensverhältnis. Das Verhältnis vor allem zwischen Agnes und Sascha erweist sich jedoch als äußerst spannungsreich. Während Richard – der sich als Vertreter eines als überkommen gekennzeichneten Literaturprogramms nur schwer in der literarischen Öffentlichkeit platzieren kann – gewissermaßen bei Sascha in die Lehre geht, die dem ›modernen‹ Literaturprogramm des Naturalismus zugeordnet ist,321 versucht Agnes die dominante Präsenz Saschas aus ihrer Beziehung zu Richard auszublenden. Die Ehe zwischen Richard und Agnes ist, wie im initialen Dialog zwischen Agnes und ihrer Haushälterin und Ersatzmutter Betty deutlich wird, erst durch Saschas Zutun zustande gekommen: agnes. Ich weiß schon, ich weiß schon – du bist eifersüchtig auf Sascha. betty. Auf ihre große Nas’? Wär’ mir recht. Giften thut’s mich, daß sie dich so anders gemacht hat. Zum ersten Mal die Hand geben – aus war’s. Alles hast du gethan, was sie gewollt hat. Gelernt, gelesen, und andere Kleider getragen – und verliebt. agnes (fährt zusammen, leise und nervös). Sei still. betty. Wer hat’n Richard auf ’s Land gebracht? Wer hat euch in der Stadt immer wieder zusamm’ eingeladen? Wer hat dir alle Tag’ von ihm erzählt? Und bei ihm wird sie’s g’rad’ so gemacht haben. Das bos’t mich am meisten, daß du durch sie einen Mann gekriegt hast. (WD, S. 12)
Sowohl über Agnes als auch über Richard scheint Sascha in ihrer Funktion als Vorbild und Leitfigur zu verfügen und deren scheinbare Unterlegenheit zu markieren, bei Richard in Bezug auf seine Autorschaft, bei Agnes in Bezug auf ihre Weiblichkeit. Die Haushälterin Betty fungiert dabei als kontrastive und reflexive Funktionsfigur in mehrerlei Hinsicht. So steht sie zum einen auf der Handlungsebene der selbstbewusst-emanzipierten, mit den Grenzen der Gerung und markiert mit den beiden Titeln die naturalistische Positionierung der Autorin (vgl. Schlaf 1895, S. 628). 321 Mit am greifbarsten wird dieses Lehrer-Schüler-Verhältnis in einer Unterhaltung zwischen Sascha, Agnes und Richard am Ende des ersten Aktes (vgl. Rosmer o. J. [1893], S. 36 f.), auf die weiter unten noch zurückzukommen ist. Die Zitate aus dem Text werden im Folgenden unter der Sigle ›WD‹ nachgewiesen. Die im Original in kleinerem Schriftgrad gedruckten Regieanweisungen werden kursiv gesetzt.
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schlechterrollen spielenden Sascha sowohl in Bezug auf ihre Vorbildfunktion für Agnes kritisch gegenüber, wie auch in Bezug auf Richards schriftstellerische Arbeit. Saschas Schreibstil erscheint ihr unpoetisch und gerade nicht vorbildhaft: […] so gewöhnliche Wörter, wie man s’alle Tag’ daherredet. […] Das ist gar keine Kunst. Gut’n Tag und gut’n Abend, und wie geht’s Ihnen, das kann ich auch schreiben. Dem Richard seine Geschichten sind viel schöner. (WD, S. 11)
Bettys Ablehnung der naturalistischen Darstellungsform von Figurenrede, die über Alltagssprache, dialektal gebräuchliche Klitika, etc. Authentizität erzeugt und die Milieuzugehörigkeit der Figuren markiert, gibt dem Ganzen dadurch eine ironische Note, dass die Techniken eben bei der Figur der Betty zur Anwendung kommen. Hier perspektiviert der Text von der Handlungs- und Figurenebene auf die poetologische Metaebene. Diese für das Genre des Künstlerdramas charakteristische Doppelstruktur, bei der sowohl auf Textebene wie auf Figurenebene poetologische Positionen verhandelt werden, kulminiert äußerst spannungsgeladen in der Figur Saschas als ›der Dritten‹, die einerseits Teil der problematischen Figurenkonstellation ist und zugleich Anspruch auf eine ›objektive‹ Beobachterposition erhebt. Saschas Rolle als Beobachter und vor allem auch selbstmächtiger Experimentator wird in der Szene nach ihrer unangekündigten Ankunft in der Ebner’schen Wohnung deutlich: ([…] Sascha im Reisepelz, lebhaft, lachend) sascha. Kinder, da bin ich. Werft ihr mich wieder hinaus? agnes. Sascha! Wo kommst du her? richard (gleichzeitig). So eine Freude! Legen sie doch ab! sascha. Vom Bahnhof. Vier Wochen fort und soll mich ins Bett legen, ohne die kleine Agnes anzugucken. Sie auch, Richard, so nebenbei. Mädel, laß dich anschau’n. Bleich! Was hast du? richard. Geben sie doch her! Gar nichts hat sie. (Nimmt ihre Sachen und geht hinaus.) sascha (ihm nachsprechend). Sie müssen’s wissen. agnes. Und deine Koffer? sascha. Bahnhof geblieben. Werden morgen geholt. Ich seh’ aus wie eine Wilde, nicht wahr? Zwölf Stunden auf der Bahn! Ah, meine Knochen! Könnt ich mir nicht die Hände waschen? agnes. Gewiß. (Geht an die Schlafzimmerthür.) sascha. Soll ich mit? agnes (aus dem Zimmer heraussprechend). Es ist kalt und kein Licht. Ich bringe dir die Sachen heraus. sascha. Ah so – sie läßt nicht gern jemand in ihr Schlafzimmer. (Dehnt sich behaglich.) Wie gut es hier ist! Ich hab’ das Gefühl – alles gehört mir, mir! Tisch und Stühle und Agnes und Richard – ich pack’s in meine Schürze, wie das Riesenfräulein Bäuerchen und Pferde. Zum Spielzeug! Au! Wie mich das Corsett drückt – (WD, S. 20 f.)
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In dem Bild des Kindes, das mit seinem Spielzeug liebevoll und zugleich unnachgiebig bis hin zur Brutalität verfährt, manifestiert sich das motivationale Spannungsverhältnis, in dem Saschas manipulatives Agieren steht: Einerseits ist ihr Vorgehen deutlich selbstdienlich motiviert. So konstituiert sie sich als eigenmächtiges Subjekt gerade über die Objektkonstitution – siehe die Reihe der »Tische und Stühle und Agnes und Richard« – ihrer Schützlinge. Zum anderen verfolgt sie jedoch einen als altruistisch ausgewiesenen Plan, Agnes wie auch Richard zu ›veredeln‹, sie einem Ideal näher zu bringen. Richard erhält von Sascha sowohl Empfehlungen in Bezug auf seine Ehe als auch berufliche Ratschläge. In Richards Verehrung des Dichterfürsten Paul Heyse, mit dem er in Korrespondenz steht, und seiner Lektüre wissenschaftlicher Arbeiten zu Autoren wie dem Epigrammatiker Christian Wernicke (1661 – 1725) wird im Stück das Aufeinandertreffen zweier verschiedener Literaturkonzeptionen diskursiviert. Agnes’ ironischer Einwurf in den Dialog zwischen Sascha und Richard ist dabei eine von zahlreichen Markierungen im Stück, die die vermeintliche geschlechterstereotype Zurückhaltung der Figur brechen und die polaristische Charakterologie als nicht zuverlässiges Deutungsschema ausweisen: sascha. […] Richard, ich bin sehr unzufrieden mit Ihnen. Sind Sie denn nicht im stande [sic], diese verdammte Literatur los zu werden? Ich lasse mir von Ihnen erzählen. Sie fangen mit Paul Heyse an und hören mit Christian Wernicke auf. Correspondieren Sie doch lieber mit Ihrer Waschfrau, verkehren Sie mit ein paar jungen Rüpeln und Taugenichtsen, und anstatt Doktorarbeiten zu lesen stecken Sie Ihre Nase ins grüne Gras und schauen Sie zu, wie die Käfer von den Stengeln purzeln. agnes (ironisch). Im Winter? richard. Wenn es aber nicht in meiner Natur liegt – sascha. Dann müssen Sie’s in Ihre Natur hineinlegen. Alles haben Sie aus zweiter Hand. Leben und Kunst. Sie denken über das Leben und lesen über die Kunst. Immer an den Leitungsröhren, nie an der Quelle. Was ist das für ein unjugendliches Uebereinandergehocke mit Menschen, die angezogen sind wie Sie, essen wie Sie, gebildet sind wie Sie – lieber möcht’ ich Sie in ein Zuchthaus stecken. Da könnten Sie ein Dichter werden. In Ihrem literarischen Kaffeehaus werden Sie höchstens ein Schriftsteller und das ist, weiß Gott, was Jämmerliches. (WD, S. 37)
Sascha formuliert hier das emphatische Programm der sich von Traditionszusammenhängen emanzipierenden ›literarischen Moderne‹, inklusive der Abgrenzung wahrer, ›viriler‹ Dichtung von der epigonalen Schriftstellerei. Das von ihr vertretene Konzept der Verwissenschaftlichung der Kunst ist dabei ganz im Sinne des von Bölsche oder auch von Arno Holz formulierten Prinzips der Annäherung der Kunst an die ›Natur‹ zu verstehen. Nicht die rückwärtsgewandte Philologie ist für Sascha die adäquate Wissenschaft der Literatur, sondern eine empirisch verfahrende Menschenkunde, eine Anthropologie oder – mit Holz – eine »S o c i o l o g i e «:
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
Die ganze bisherige Aesthetik war nicht, wie sie schon damit prunkte, eine W i s s e n s c h a f t von der Kunst, sondern vorerst nur eine P s e u d o w i s s e n s c h a f t von ihr. Sie wird sich zu der wahren zukünftigen, die eine S o c i o l o g i e der Kunst sein wird und nicht wie bisher – selbst noch bei Taine – eine P h i l o s o p h i e der Kunst, verhalten wie ehedem die Alchemie zur Chemie oder die Astrologie zur Astronomie.322
Gegenüber Agnes und Richard agiert Sascha zunächst als Experimentator, der eine Analyse betreibt und die Ergebnisse des Versuchs kritisch auswertet. So geht die Autorin mit ihrem ›Zögling‹ Richard streng ins Gericht: Sie tadelt ihn sowohl hinsichtlich seiner Rolle als Autor wie als Ehemann für seine Versäumnisse, verweigert ihm die Anerkennung seiner vermeintlichen Erfolge und kontert seinen Einwand der ›Naturgegebenheit‹ mit dem Verweis, dass er die Natur der (ihn umgebenden) Menschen nicht richtig wahrnehme: sascha […]. Richard – mit Ihnen hab’ ich mich blamiert. richard. Mit mir? sascha. Ich hab mir ihre Ehe ganz anders vorgestellt. richard. Wir sind doch sehr glücklich. sascha. Sehr glücklich! Wie fad sie das sagen! Sie sind zwei Jahre verheiratet, Sie sollten unsinnig glücklich sein, rasend, toll. richard. Sie rechnen nicht mit den Naturen. Agnes ist nur für ein ruhiges Glück geschaffen. Sie ist nicht leidenschaftlich. sascha. Sie Hans Taps! Ich kenne Agnes länger, und wie ich sehe, besser als Sie. Agnes ist klug, sogar kühl, in allem was nicht mit ihrem Gemüt zusammenhängt. Ihr Gemüt hat mehr leidenschaftliche Zärtlichkeit als – hätt’ ich Sie Ihnen sonst herausgesucht! (Schlägt sich auf den Mund.) O ich Schaf! richard. Ist da etwas Schlimmes dabei, daß ich Agnes durch Sie lieben gelernt habe? sascha. N–ein. Nur denke ich manchmal, es wäre besser, Sie hätten Agnes durch sich lieben gelernt. Gelernt, gelernt! Das schokiert [sic] mich. richard: Ich hätte nie eine Frau genommen, die nicht Sie mir – sascha. Das fand ich auch ganz in der Ordnung – damals. Sie gefielen mir so gut. […] (WD, S. 54)
In dieser Textstelle werden zwei wichtige Aspekte angedeutet: Zum einen hatte Sascha möglicherweise selbst Interesse an Richard, hat dieses jedoch nicht in die Tat umgesetzt. Stattdessen hat sie ihn einer aus ihrer Sicht idealen Verbindung zugeführt,323 die sich allerdings nicht so entwickelt hat, wie von ihr erhofft. Zum 322 Holz 1891, S. 122. 323 Die Ellipse in Saschas Äußerung über Agnes – »Ihr Gemüt hat mehr leidenschaftliche Zärtlichkeit als – hätt’ ich Sie Ihnen sonst herausgesucht!« (WD, S. 54) – lässt sich hier durchaus in dem Sinne interpretieren, dass Sascha zwar an Richard partnerschaftlich interessiert war, ihre Verbindung jedoch nicht als zukunftsfähig angesehen und deshalb nach einer passenderen Partnerin für ihn Ausschau gehalten hat. Der Referent des von Sascha im obigen Satz angestellten Vergleichs wäre demnach Sascha selbst.
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anderen scheint hier ein Moment moralischen Skrupels gegenüber ihrer Vermittlerrolle und deren manipulativem Charakter auf, wenn sie über den empfundenen semantischen Widerspruch von »lieben« und »gelernt« stolpert. Im weiteren Verlauf des Stücks wandelt sich Saschas Rolle in der Dreierkonstellation grundlegend. Am Ende des zweiten Aktes sind Richard und Agnes getrennt, nachdem Richard der von ihm zum weiblichen Ideal verklärten Sascha seine Liebe gestanden und diese ihn abgewiesen hat (vgl. WD, S. 60 f.). Agnes hat Richard gehen lassen und sich auch von Sascha gelöst. Diese erfährt in der Folge des von ihr wesentlich mitverursachten Leides nun jedoch – ganz ähnlich wie die Figur der Rebekka in Ibsens Rosmersholm (1887) – eine Läuterung: So führt Sascha aus, sie habe nach dem Verlust ihrer Freunde und der folgenden Einsamkeit zum ersten Mal über sich selbst nachgedacht, über ihren »Charakter« (WD, S. 77), und erkenne schließlich »das Gesetz [ihres] Wesens« (WD, S. 79), das ihrer Handlungsmacht Grenzen setzt. Von der Rolle als eigenmächtiger Beobachter und Experimentator, der über die Figuren seines ›Rollenspiels‹ verfügt und sie lenkt, wird Saschas Status über diesen Akt der Subjektivierung – der auf dem Höhepunkt des Stücks im dritten Akt stattfindet – nun eigentlich erst der einer Figur, die mit den anderen auf gleicher Ebene agiert. Der vierte und fünfte Akt entwerfen eine (Selbst-)Erlösungs- und Liebeskonzeption, wie sie schon in der Märchentragödie Königskinder zu beobachten war, die in Wir Drei als Stück der Autorin Sascha namentlich zitiert wird. Angesprochen wird das Stück – das sei hier mit Blick auf die poetologische Relevanz dieses metafiktionalen Elements eingeschoben – in einer Sequenz, die einerseits Saschas etablierten Status innerhalb des Literaturbetriebs herausstellt, andererseits ihre künstlerische Unabhängigkeit vom Urteil der Kritik: sascha. […] Ich habe kein Gespür für den Erfolg. Ich habe keinen Ehrgeiz. Nach außen. Ob sie mich beklatschen oder auspfeifen – ich kann mir nichts dabei denken. agnes. Du bist eben noch nicht ausgepfiffen worden. sascha. O ja. Ich habe die Ehre gehabt. In der PremiÀre wurde nach dem ersten Akt gezischt. Das Direktorlein stürzte leichenblaß auf die Bühne, ich war allein in der Loge. Da drehte ich ganz vergnügt eine lange Nase in den Spiegel und hielt mir nach meiner schlechten Gewohnheit einen Monolog. Gerade der erste Akt ist der beste. Wahr ohne Absichtlichkeit und dadurch poetisch. Dann, als die Effekte dahertölpelten, als ich mit Entsetzen ein paar grobe Schnitzer gewahrte – da schrieen sie wie verrückt bravo. Der Regisseur zerrte mich heraus – richard. Wie oft sind Sie gerufen worden? sascha. Das weiß ich nicht. Geschämt hab’ ich mich. Geweint hab’ ich. Denn vor mir war ich durchgefallen. […] Kurz, ich habe mir versprochen, nie wieder einer PremiÀre von mir beizuwohnen. agnes. Bis die nächste an die Reihe kommt. sascha (steht auf) Die ist an der Reihe. Heute Abend geben sie zum ersten Mal die Königskinder.« (WD, S. 30 f.)
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
Indem Sascha als Autorin des zeitgleich zum Drama Wir Drei entstandenen Stücks Königskinder genannt wird, legt der Text durch diese Parallelsetzung von Textwelt und außertextueller Wirklichkeit nahe, Saschas Ausführungen als Hinweis auf die Autorschaftskonzeption Bernsteins zu lesen. So weist sie an dieser Stelle ihre Überschreitungen von Stil- und Gattungsgrenzen, die später in der Literaturkritik tatsächlich kritisch aufgenommen werden, vorweg als künstlerisch motiviert aus. Auf der inhaltlichen Ebene werden an dieser Textstelle unterschiedliche Liebeskonzeptionen zueinander in Kontrast gesetzt, was wiederum mit einer Kontrastierung zweier (Autor-)Figuren einhergeht: »Die Liebe ist Schmerz und Opfer«, hält Sascha Richard entgegen, der Liebe als »Atem und Begehren und Rausch« (WD, S. 98) definiert. Während Rausch und Leidenschaft in einer Ehe vergehen,324 sind »Schmerz und Opfer« die Stabilisationsfaktoren, anhand derer die Paarbeziehung verstetigt werden kann. Und zwar nicht nur Schmerz und Opfer des Paares selbst, sondern – und hier wird der Aspekt der gelingenden Subjektwerdung und Adoleszenz angesprochen – auch der leidvolle Verzicht Saschas als einer ›Mutter-Figur‹ auf ihre ›elterliche‹ Verfügungsgewalt. Nach erlebtem und durchgestandenem Leid325 finden Richard und Agnes am Schluss des Stückes eigenständig zueinander. Wo die Paarbeziehung zunächst das Resultat fremder Beeinflussung und nicht als Folge eigenen Wollens und ›Erkennens‹ zustande gekommen ist, steht am Ende des Stücks die ›selbstmächtige‹ Einlösung des Komplementärmodells. Wie die Königskinder in Bernsteins Märchentragödie müssen auch Agnes und Richard ihre ›wahre Natur‹ erkennen und sich selbst aus ihrem jeweiligen Bann lösen, um als Paar vereint sein zu können. Sascha tritt aus dieser ohne ihre Katalysatorfunktion zustande gekommenen Verbindung nun jedoch als ›Fremdkörper‹ freiwillig aus:
324 Vgl. den in Kapitel 3.2.1 skizzierten Problemaufriss R. Jacobsens, der in seinem Essay Die Humanitätsfrage in der Ehe (1897) die Bedingungen der Möglichkeit einer verstetigten Paarbeziehung in den Blick nimmt und die Hindernisse nicht auf historischen Wandel der Geschlechterverhältnisse, sondern auf anthropologische Grundlagen zurückführt. Auch bei Bernstein wird der Faktor der sich wandelnden Geschlechterrollen insofern hintergrundiert, als nicht in der ›neuen Weiblichkeit‹ oder ›neuen Männlichkeit‹ die Lösung des ›Liebes‹-Problems liegt, sondern in einem als überzeitlich – und übergeschlechtlich – gültig dargestellten Programm der Selbstermächtigung zum einen, und der Selbstopferung zum anderen. 325 Wie bereits in der Exposition des Stücks angedeutet wird, ist Agnes schwanger. Richard erfährt jedoch erst kurz vor ihrer Niederkunft von seiner Vaterschaft, und nicht dieser ›Umstand‹ ist es, der Agnes und Richard wieder zusammenführt, sondern erst Richards Anerkennen seiner Handlungsverantwortung (vgl. WD, S. 110) und Agnes’ Überwindung ihres betäubenden Schmerzes über die Totgeburt des Kindes (vgl. WD, S. 110 f.).
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agnes (schaut Sascha an). Wir drei. sascha (erwidert den Blick voll und tritt zurück. Mit tiefem Ernst). Nein Agnes, das sind wir nicht mehr und sollen es nie mehr werden. Zwei sollt ihr sein, eins sollt ihr sein. Ich bin zu stark, um jedem von euch nicht ein Stück Leben zu nehmen. Und euer Leben muß euch ganz gehören. (WD, S. 112)
Für Sascha selbst gibt es keine gelingende Paarbildung, sondern nur die Rolle des Beobachters – und des Autors als Schöpfer (vgl. WD, S. 112). Die implizite Poetologie oder – wie Astrid Weigert in Bezug auf Dämmerung formuliert – die implizite Kritik an der poetologischen Programmatik des Naturalismus in Wir Drei richtet sich weniger gegen eine Verwissenschaftlichung der Kunst im Sinne der Ausrichtung der Ästhetik am naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand. Vielmehr problematisiert sie deren Implikation einer hierarchisierenden Reihung der Faktoren ›Wissenschaft‹, ›Kunst‹ und ›Leben‹ – und deckt das Konzept des objektiven Beobachters und Experimentators als Konstruktion auf. Wie in Wir Drei anhand der Figur der Sascha entworfen wird, dokumentiert der (Autor als) ›Forscher‹ nicht einfach Tatsachen, sondern schafft diese durch sein aktives Lenken der Situation. Dass diese wirkmächtige Autorposition im Stück eine Einschränkung erfährt, indem Sascha den oben beschriebenen Ebenenwechsel vollzieht, lässt sich dabei als Bestärkung der für Bernsteins Positionierung innerhalb des Naturalismus zentralen Hervorhebung der individuellen Handlungsverantwortung auffassen. Insgesamt inszenieren Bernsteins Dramen eine Abschwächung der biologischen Determinationshypothese, wie in Kapitel 3.2.5 anhand von Dämmerung (1893) mit Blick auf die spezifischen Strategien dieser Hintergrundierung ›natürlicher‹ Bedingungsfaktoren noch näher zu beleuchten sein wird. Dass diese Perspektivierung auf soziale Bedingungsfaktoren – entgegen dem noch immer bestehenden Forschungskonsens zum »biologisch bestimmten«326 Naturalismus – durchaus als symptomatisch für die naturalistische Programmatik gelten kann, wird im Folgenden deutlich werden. Die u. a. auf Barbara Beßlichs luziden Beitrag zur Determinismusskepsis der naturalistischen Dramatik gestützte Analyse wird zudem zeigen, dass die Literatur nicht als nachgelagerter Raum der Illustration des naturwissenschaftlichen Erkenntnisstandes dienen will, sondern dass sie beansprucht, einen eigenen Beitrag zur Erforschung des Menschen in seinen physiologischen und psychologischen Bedingtheiten zu leisten.
326 Vgl. Kafitz 1988, S. 29.
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
3.2.4 Determinationshypothesen auf Text- und Figurenebene – Zur Fokussierung auf soziale Bedingungsfaktoren in Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) Wie bereits in Kapitel 3.1.1 knapp dargelegt, nimmt Barbara Beßlich in ihrem Beitrag »Anamnesen des Determinismus, Diagnosen der Schuld« (2008) eine wichtige Differenzierung in Bezug auf die naturalistische Dramatik vor. So weist sie nach, dass in der dramatischen Praxis, anders als die emphatisch ›naturwissenschaftlich‹ ausgerichtete literarische Theorie stellenweise suggeriert, eine signifikante Tendenz zur Relativierung der biologischen Determinationshypothese zu beobachten ist. Nach dem bisherigen Konsens der Forschung327 lassen sich naturalistische Dramen im Allgemeinen wie folgt charakterisieren: Naturalistische Dramen handeln von medizinischen Themen und betonen Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie (Wilhelm Bölsche); sie literarisieren den Darwinismus, problematisieren die Willensfreiheit und erörtern die erbbiologische Bedingtheit des Menschen. Dabei bedienen sich naturalistische Dramen oft der analytischen Form, bei der das wesentliche Ereignis der Bühnenhandlung vorausliegt und erst im Verlauf des Dramas allmählich ersichtlich wird.328
Demgegenüber ist Beßlichs Ausgangsthese, dass das analytische Drama des Naturalismus eine »diagnostische Ästhetik« aufweist, die den Leser bzw. Zuschauer in eine Deutungskonkurrenz zu den dramatischen Figuren treten lässt, deren diagnostische Kompetenz infrage gestellt wird.329 Diese Wirkungsästhetik zielt dabei auf die Relativierung erbbiologischer Determinismusvorstellungen ab und rückt an ihrer Stelle den Aspekt sozialer Bedingtheit in den Vordergrund. Aus Sicht der vorliegenden Arbeit ist gerade diese Perspektivierung zwischen 327 Peter Sprengel weist in seiner Literaturgeschichte grundsätzlich darauf hin, dass die ›starke‹ Form der Determinationshypothese im Naturalismus nur in wenigen Texten tatsächlich realisiert ist und damit für die Strömung insgesamt nicht als repräsentativ gelten kann. Indem er aber zugleich vom »Ideal« einer konsequenten Umsetzung der naturalistischen Vorstellungen spricht, bekräftigt er dennoch indirekt das Primat der normativ-expliziten Poetologien, denen die literarische Umsetzung (und deren implizite Poetologie) nachgelagert ist: »Innerhalb der Geschichte des Naturalismus bedeutet der ›konsequente Realismus‹ nur eine kurze Phase. Es ist nicht mehr als eine Handvoll von Texten, in denen man die Theoreme des Positivismus von der Determination des Menschen durch Milieu und Vererbung inhaltlich und formal vollständig umgesetzt findet. Möglicherweise handelt es sich dabei um ein Ideal, das für Autoren und Leser schwer erträglich ist. Jedenfalls folgt auf diesen Höhepunkt der naturalistischen Entwicklung sehr schnell das Ende der Bewegung. Wohlgemerkt nur das Ende des Naturalismus als selbstbewußter, sich nach außen zusammenschließender Bewegung. Die Errungenschaften seines Stils werden noch für die Dauer von mindestens zwei Jahrzehnten konserviert, bis sie sich in der Zirkulation neuer literarischer Trends verlieren.« (Sprengel 1998b, S. 113) 328 Beßlich 2008, S. 285. 329 Vgl. Beßlich 2008, S. 285.
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›Natur‹ und ›Kultur‹ im Sinne eines Abtastens der zentralen Bedingungsgefüge, die menschliches Handeln bestimmen, für die naturalistische Dramatik und die naturalistische Anthropologie konstitutiv. Diese Sicht wird durch Beßlichs pointiert formulierte These bekräftigt: Konsens der germanistischen Forschung ist es, dass sich die analytischen Dramen von Gerhart Hauptmann, Johannes Schlaf und Max Halbe mit der biologischen Determiniertheit des Menschen beschäftigen. Im Unterschied zur Forschung bin ich aber der Ansicht, dass viele dieser analytischen Dramen zwar vorführen, inwieweit Figuren von ihrer erblichen Determination und Präformierung überzeugt sind, aber es wird dem genauen Leser und aufmerksamen Zuschauer zugleich die Möglichkeit eröffnet, in einer Gegendiagnose festzustellen, dass viele dieser biologischen Determinismusannahmen auf falschen Voraussetzungen beruhen, und zwar nicht retrospektiv von heute aus betrachtet, sondern aus dem Wissen der Zeit heraus [Hervorhebungen N.I.].330
Wie vorangehend bereits skizziert wurde, kommt auch bei Bernstein die von Beßlich beobachtete dramenästhetische Strategie der Relativierung der biologischen Determinationshypothese zur Anwendung. In der Entlarvung der ›biologischen Schein-Determiniertheit‹ liegt nach Beßlich einerseits ein Unterschied der deutschen naturalistischen Dramen zu den skandinavischen, andererseits zeigt sich ihr zufolge in diesem Punkt auch »eine wichtige Differenz zwischen essayistischer Theorie und dramatischer Praxis«331 innerhalb der deutschen naturalistischen Literatur : Während Zola etwa in Madeleine F¦rat oder Ibsen in Die Frau am Meer regelrechte Theorien der Vererbung in die fiktionale Praxis umsetzen, präsentieren die hier zur Debatte stehenden deutschen Dramen die erbbiologischen Determinismusvorstellungen weitaus skeptischer und konfrontieren sie mit Vorstellungen sozialer Bedingtheit. Während Ernst Haeckel definiert, »der menschliche Wille ist ebenso wenig frei als derjenige der höheren Tiere«, Wilhelm Bölsche in den naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie die »Thatsache der Willensunfreiheit« des Menschen für eindeutig erklärt, und Conrad Alberti die »jahrhundertealte Legende vom freien Willen des Menschen« als zerstört betrachtet, nimmt sich die deutsche dramatische Praxis dem Problem der Willensfreiheit differenzierter und ambivalenter an.332
Hier sind jedoch aus Sicht der vorliegenden Untersuchung zwei Differenzierungen vorzunehmen: Zum einen erscheint Beßlichs Unterscheidung zwischen dem deutschen determinismusskeptischen Naturalismus und dem norwegischen Naturalismus, der die Determinationshypothese deutlicher affirmativ behandle, mit Blick auf Henrik Ibsens Dramen als zu allgemein. So wird in Ibsens Rosmersholm (1887), wie in Kapitel 3.2.2 umrissen wurde, zwar die Be330 Beßlich 2008, S. 288 f. 331 Beßlich 2008, S. 289. 332 Beßlich 2008, S. 289.
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dingtheit der Figuren und die Begrenztheit ihrer Handlungsmöglichkeiten gezeigt. Allerdings liegt der Fokus dabei deutlich auf den sozialen Bedingungsgefügen. Zudem inszeniert das Stück gerade das Spannungsverhältnis von psycho-sozialer Determiniertheit und einer in Grenzen stattfindenden Selbstermächtigung und Eigengesetzlichkeit der Figuren. Auch in einem anderen Drama Ibsens – in der Wildente (1887, im Original 1884) – ist meines Erachtens in Bezug auf die dort angestellten biologischen Determinationshypothesen zwischen der Figuren- und der Textebene zu unterscheiden: So arbeitet der Text vor allem mit den wiederkehrenden Symbolstrukturen und ›Indizien‹, die von den Figuren mit Bedeutung versehen und interpretiert werden. Die Figur Hjalmar Ekdals wird in mehrerlei Hinsicht als unzuverlässig gezeichnet und unterliegt zudem dem Einfluss des ideologisch verblendeten Gregers Werle333, der Ekdal in seiner Deutungstendenz bestärkt, die Familienverhältnisse als illegitim anzunehmen. Der zweite Aspekt, in dem Beßlichs Thesen zur spezifischen Behandlung der Determinationshypothesen innerhalb des deutschen Naturalismus etwas zu justieren sind, ist die von ihr konstatierte Kluft zwischen essayistischer Theorie und dramatischer Praxis. Die Beobachtung einer Diskrepanz zwischen normativer Poetologie und der implizit in Dramen verhandelten Poetologie wie auch die generelle Bekräftigung der Notwendigkeit eines kritisch-differenzierenden Umgangs mit expliziten poetologischen Aussagen naturalistischer Autoren und Theoretiker ist zunächst völlig anschlussfähig. Gerade in Bezug auf die von Beßlich exemplarisch genannte Grundlagen-Schrift von Bölsche scheint mir jedoch in Bezug auf die poetologische Konzeptualisierung der Determinationshypothesen eine stärkere Differenzierung nötig: Wie bereits angesprochen wurde, legt Bölsche einen deutlichen Schwerpunkt auf das Phänomen der »indirecte[n] Vererbung«, worunter sich eine Art psychische Kontamination des Menschen durch »das unbrauchbare Alte« und eine »veraltete Moral«334 verstehen lässt. Zwar weist dieses am Lamarckismus orientierte ›sekundäre‹ Vererbungskonzept335 eine klare biologische Komponente auf, nichtsdestotrotz wird der Faktor der psycho-sozialen Prägung von Bölsche in Bezug auf die literarische Auseinandersetzung mit den ›Gesetzen‹, denen das menschliche Handeln, Denken und Fühlen unterworfen ist, als besonders relevant hervorgehoben.336 Die von Beßlich bei Hauptmann beobachtete Fokussierung auf die soziale Bedingtheit weicht also zunächst nicht genuin von Bölsches Perspektivierung ab.
333 334 335 336
Siehe die in Kapitel 3.2.2 skizzierten Ausführungen in Schlenther 1902, S. IX. Bölsche 1976 [1887], S. 20. Vgl. Bölsche 1976 [1887], S. 18. Vgl. Bölsche 1976 [1887], S. 20 f.
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Mit Blick auf eine Stelle aus Bölsches Abhandlung, die seinen Ausführungen zur ›indirekten Vererbung‹ unmittelbar vorangeht, lässt sich Beßlichs im Kern schlagkräftige These etwas präzisieren. So ließe sich nämlich die von ihr luzide veranschaulichte diagnostische (Wirkungs-)Ästhetik naturalistischer Dramen als eine Einlösung der von Bölsche grundsätzlich bekräftigten (gesellschaftlichen und epistemologischen) Funktion der Literatur verstehen, die sich jedoch über die von ihm im weiteren Verlauf seiner Grundlagen-Schrift formulierten Grenzen des ›zulässigen‹ Umgangs mit »der Vererbungsfrage« hinwegsetzt: Beschränkt, wie unsere Kenntnisse von dem ganzen Gewebe der Vererbungsfragen gegenwärtig noch sind, müssen sie dem Dichter, der in ihnen das Material tragischer oder versöhnender Verknotungen sucht, eine starke Resignation und scharfe Kritik als Grundbedingung an’s Herz legen. Rechnen soll er mit der Vererbungsfrage als Ganzem, das ist sicher. Aber er soll nicht spielen damit, sich nicht muthwillig auf Gebiete begeben, die der Fackel des Forschers selbst noch verschlossen sind. Die Zukunft wird erst zeigen können, wie eigentlich diese Dinge eingreifen in’s Leben des Einzelnen, wie die Sünden und Vorzüge der Ahnen sich unmittelbar im Gehirne des Enkels rächen. Immerhin mag heute schon der grandiose Romancyklus von Zola eine durchdachte Vorahnung für das Kommende darstellen. Wenn man sich aber vergegenwärtigen will, welche zahllosen dichterischen Vorwürfe in dem Spiel der Ideenketten, an die Schule und erste Bildung uns schmieden, enthalten sind, so kann man im Grunde nur warnen vor dem einseitigen Betonen der Vererbungsconflicte, so lange die Physiologie noch nicht in festen Gesetzen die nöthigen Prämissen aufgestellt. Man soll sie beachten, wo man durch den Stoff nothwendig auf sie geführt wird, aber sie noch nicht in den Vordergrund drängen, wo es nicht durchaus nöthig ist.337
Nicht der Fokus auf das soziale Bedingungsgefüge scheint vor diesem Hintergrund die eigentliche Grenzüberschreitung der naturalistischen Dramatik zu sein, sondern der eigenmächtige Anspruch, einen Beitrag zur anthropologischen Forschung zu leisten, und nicht nur die Erkenntnisse der »Physiologie« nachgelagert zu illustrieren.338 Diese Inanspruchnahme einer eigenen Deutungskompetenz der Literatur zeigt Beßlich anhand der Analyse von Hauptmanns Dramen Vor Sonnenaufgang (1889) und Das Friedensfest (1890) überzeugend auf. So werden innerhalb der naturalistischen Dramatik erbbiologische Determinismusvorstellungen nicht einfach literarisch diskursiviert, sondern gezielt demontiert:339 337 Bölsche 1976 [1887], S. 20. 338 Diesen Anspruch wertet Bölsche an anderer Stelle als durchaus nicht unberechtigt (vgl. Kapitel 3.1.1, S. 151 ff.). An dieser Stelle wird jedoch die Rangordnung zwischen ›Naturwissenschaft‹ und ›Poesie‹ sehr deutlich, wenn Bölsche die ›Forscherambitionen‹ des Dichters in die Schranken weist. 339 Siehe dazu auch die Ausführungen zum größtenteils anschlussfähigen Beitrag von Weber 2002 in Kapitel 3.2.
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Im dramatischen Einzelfall erweisen sich die deterministischen Phänomene sehr viel widersprüchlicher als in der literarischen Theorie. Die Figuren Hauptmanns werden, so meine These, regelrecht zu Opfern falscher erbbiologischer Prämissen. Dies zu ermitteln, wird zur Aufgabe des Lesers, der eine Familienanamnese der Figuren erhebt und so etwaige Fehldiagnosen des biologischen Determinismus relativieren kann. Die erbbiologischen Primärhypothesen und Verdachtsdiagnosen der Figuren werden vom Leser nach einer gründlichen Anamnese durch eine gesellschaftliche Differentialdiagnostik korrigiert.340
In Bernsteins Drama Dämmerung (1893) wird diese Differenzialdiagnostik, anders als etwa in Hauptmanns Vor Sonnenaufgang, zusätzlich auf der Handlungsebene inszeniert: So wird das Augenleiden von Heinrich Ritters Tochter Isolde vor der Anamnese durch Sabine Graef von den behandelnden – männlichen – Ärzten irrtümlich als degenerative Schädigung infolge einer väterlichen Syphiliserkrankung interpretiert. Die Fehldiagnose sowie die unwirksame Therapie mittels Quecksilbereinspritzungen resultieren aus einer fahrlässig gehandhabten Anamnese: Aufgrund bigotter moralischer Hemmnisse341 holen die Ärzte nur ungenügende Informationen über die Patientin bzw. eine mögliche familiäre Vorbelastung ein und machen zudem ihre Diagnose Heinrich Ritter gegenüber nicht explizit – dem sie jedoch gerade durch das Verschweigen des Syphilis-Verdachts ungeprüft unzüchtiges Verhalten unterstellen. Insofern sind sowohl Isolde als auch Heinrich Ritter bis zum Erscheinen der Ärztin Sabine Graef Opfer einer erbbiologisch-deterministischen Fehldiagnose. Dass innerhalb der Rezeption des Dramas gerade die Anamnese-Sequenz, in der Sabine Graef Heinrich Ritter auf den Verdacht der Syphilis als Ursache von Isoldes Krankheit befragt, die meisten Irritationen hervorgerufen hat und etwa von Theodor Lessing gar als dramaturgisch überflüssig angesehen wurde,342 bestärkt die von Beßlich konstatierte (und hier vorangehend etwas anders perspektivierte) Differenz zwischen literarischer Theorie und dramatischer Praxis. Dramen wie Hauptmanns Vor Sonnenaufgang und Bernsteins Dämmerung unterlaufen die typisierte Funktionslogik, die den biologischen wie auch sozialen Determinationshypothesen innerhalb des programmatischen Diskurses etwa bei Bölsche zugestanden wird. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Frage nach der biologischen vs. sozialen Bedingtheit des menschlichen Handelns – anders als es poetologische Beiträge suggerieren mögen – innerhalb der naturalistischen Dramatik als nicht abschließend geklärt behandelt werden.343 340 Beßlich 2008, S. 290. 341 Auf die Schädlichkeit der Doppelmoral, die vordergründig dem Schutz der Frauen vor unsittlichen Themen dient, in diesem Fall jedoch die Patientin zum Opfer eines medizinischen Behandlungsfehlers macht, wird in Dämmerung mehrfach eingegangen. 342 Vgl. Lessing 1898, S. 25. 343 Dieser Verhandlungsbedarf wird dabei mit Beßlich im Drama durch eine Infragestellung
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Im Folgenden wird ausgehend von Beßlichs Perspektivierung ein knapper Blick auf Gerhart Hauptmanns Drama Vor Sonnenaufgang (1889) zu werfen sein. Dabei wird der Fokus hier vor allem auf der Konstellation Loth/Helene liegen, deren gescheiterte Paarbildung aus Sicht der vorliegenden Untersuchung im Mittelpunkt des Stücks steht. In Vor Sonnenaufgang, das zugleich ›soziales Drama‹ wie ›Familiendrama‹ ist, geht es nicht zentral um die ›soziale Frage‹ im eigentlichen Sinne, sondern um die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit ›geglückter Lebensläufe‹ bzw. der erfolgreichen Vergesellschaftung des Individuums. Das Scheitern der Verbindung zwischen Loth und Helene ist weniger Folge des Alkoholismus’ der Familie Krause, als vielmehr Konsequenz der deterministischen Weltanschauung Loths, die zu seinem humanistisch-idealistischen Reformprogramm und seiner Forderung an eine ›emanzipierte‹ Partnerin im Widerspruch steht.344 In ihrer knappen Zusammenfassung der Handlung – bzw. genau genommen der Ausgangskonstellation, aus der das dramatische Geschehen seinen Lauf nimmt – gibt Beßlich einen pointierten Überblick über das Stück: Hauptmanns soziales Drama Vor Sonnenaufgang präsentiert die Familie des schlesischen Bauern Krause, in die der Reichtum kam, als sie die kohlefündigen Felder verkaufte. Trunksucht und Langeweile bestimmen nun Krauses tatenloses Dasein. Krauses ältere Tochter Martha, die mit dem Ingenieur Hoffmann verheiratet ist, ist ebenfalls alkoholsüchtig. Frau Krause, die zweite Frau des Bauern, hat ein Verhältnis mit dem Verlobten ihrer Stieftochter Helene, und Bauer Krause nähert sich im Vollrausch dieser jüngeren Tochter Helene in inzestuöser Absicht. In diesem Milieu wirkt Helene Krause, die jüngste Tochter, wie ein Fremdkörper. Helene war von ihrem 10. bis 17. Lebensjahr in Pension in Herrnhut und ist erst seit vier Jahren wieder in Witzdorf. Sie aus dem schlesischen Sodom und Gomorrha zu erretten, erscheint mit alttestamentarischem Nachnamen, Alfred Loth, der nationalökonomische Bote aus der Fremde, der nach Witzdorf kommt, um eine sozialkritische Studie über die Lage der schlesischen Kohlearbeiter zu verfassen. Der Gesinnungsethiker Loth hatte zusammen mit dem Pragmatiker Hoffmann studiert. Loth ist ein leidenschaftlicher Abstinenzler und Idealist, der seine sozialreformerischen Ideen mit rigorosen Vorstellungen von der erbbiologischen Bedingtheit des Menschen verbindet. Loth verliebt sich in Helene, als er aber vom Alkoholismus ihres Vaters und ihrer Schwester erfährt, verläßt [sic] er sie, weil er eine Verbindung mit der Tochter eines Alkoholikers nicht mit seinen erbhygienischen Vorstellungen vereinbaren kann. Das Drama endet mit Helenes Selbstmord, nachdem sie erfahren hat, dass Loth sie verlassen hat.345
Schon in dieser perspektivisch natürlich durch Beßlichs Thesen strukturierten, jedoch nicht im engen Sinne interpretativen Zusammenfassung wird deutlich, der Autorität von Arzt-Figuren konkretisiert, in dessen Gegenzug die anamnetische Autorität des Lesers bestärkt wird; vgl. Beßlich 2008, S. 290. 344 Siehe Kapitel 3.1.2, S. 192, Anm. 111. 345 Beßlich 2008, S. 291 f.
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dass der eigentliche Konflikt des Stücks nur mit Blick auf die Figurencharakteristik Loths richtig zu erfassen ist. Deren Widersprüchlichkeit ist bei genauerer Betrachtung nicht als dramatische Gestaltungsschwäche zu bewerten, sondern als wesentliches bedeutungstragendes Element, das auf die Diskrepanz zwischen Theorie und Empirie verweist. Die Tragik des Stücks liegt dabei darin, dass aufgrund von Loths beschränkter Sicht nicht die deterministische Theorie an der empirischen Realität überprüft und verworfen wird, sondern dass die Realität an der empirie-resistenten Determinationshypothese scheitern muss. Peter Sprengels Überblick zu Hauptmanns erstem naturalistischen und zugleich erstem veröffentlichten Drama, der die ›biologische Bestimmtheit‹ als konstituierenden Faktor naturalistischer Dramatik voraussetzt, erfasst diesen Zusammenhang nicht. So fokussiert Sprengel vor allem auf die ihm zufolge zeitgenössisch als eindeutig geklärte Frage nach der Erblichkeit des Alkoholismus: Durch Alkoholismus ist Bauer Krause zum »reinen Tier« geworden – in seiner äußeren Erscheinung ebenso wie in seinem Verhalten, den »unzüchtigen Griffen«, mit denen er Tochter Helene bedroht. An den Folgen seines angeborenen Alkoholismus ist das erste Kind aus Hoffmanns Ehe mit der alkoholsüchtigen Krause-Tochter Martha gestorben; am Ende des Stücks steht die Totgeburt ihres zweiten Kindes. Kein Zweifel, hier waltet das eherne Gesetz eines naturwissenschaftlich begründeten Determinismus! Wobei wir natürlich vom damaligen Stand der Genetik und Drogenforschung auszugehen haben, wie er sich etwa in Gustav Bunges seinerzeit weit verbreitetem Vortrag Die Alkoholfrage (1887) niederschlägt. Loth selbst zitiert daraus im I. Akt: »Die Wirkung des Alkohols, das ist das Schlimmste, äußert sich sozusagen bis ins dritte und vierte Glied.«346
Gerade die von Sprengel als unzweifelhaft perspektivierte Alkoholiker-Genealogie ist jedoch mit Beßlichs Lektüre des Stücks in Frage zu stellen. Die Grenzen einer determinationsaffirmativen Interpretation des Stücks treten denn auch in Sprengels folgender Relativierung deutlich zutage: Die Wirkung dieser Thesen [zur Erblichkeit des Alkoholismus, N.I.] auf den Zuschauer oder Leser von Hauptmanns Stück wird allerdings dadurch einigermaßen geschwächt, daß Loth seine Rede vor Mitgliedern der Familie Krause hält, ohne im geringsten zu realisieren, in welcher Weise sie selbst von der »Alkoholfrage« betroffen sind, und ohne ihre eigenartigen Reaktionen auch nur im Ansatz zu verstehen.347
Sprengel spricht hier durchaus treffend von der »Weltfremdheit des Räsonneurs und seiner Ignoranz gegenüber der Tragik des Lebens«, betont allerdings die scheinbare Unentschlossenheit des Stücks in Bezug auf die »Figur des Sozialreformers und seiner Botschaft«, die anders als die Kommentatorfiguren im »späteren Meisterdrama des Naturalismus« keiner »umfassenden Ironisierung« 346 Sprengel 1998b, S. 493. Die zitierte Stelle findet sich in Hauptmann 1981 [1889], S. 29. 347 Sprengel 1998b, S. 493.
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unterworfen sei.348 Genau an diese vermeintlich inkonsequente Figurengestaltung ist jedoch aus Sicht der vorliegenden Untersuchung anzuknüpfen. So ergibt sich die Ironisierung im Sinne der Distanzierung von der Figurenwahrnehmung gerade durch die Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlichen Anspruch des Sozialreformers Loth und seinem völligen Versagen als Empiriker. Beßlich bringt die nicht einfach aufgrund einer bestimmten Lektürehaltung anders perspektivierten, sondern durch das Auseinanderfallen von Figurenwahrnehmung349 und der vom Text selbst entworfenen Zusammenhänge gezeigten Konstellationen und Verhaltensweisen der Figuren auf den Punkt: »Wenn irgendetwas in dieser Familie den Alkoholismus induziert, ist es wohl eine Determination des Milieus, nicht eine erbbiologische Festlegung.«350 Dies erfasse Loth jedoch nicht, »weil er nicht die entscheidenden anamnetischen Fragen an Helene richtet«351. Seine humanistisch-aufklärerische Ideologie entlarvt sich schließlich als hehres Ideal, das vor dem Hintergrund seiner mit dem Perfektibilitätsgedanken unvereinbaren, deterministischen Axiomatik als von ihm nicht einlösbar gezeigt wird. Wie die Tischszene im ersten Akt – auch anhand von detaillierten, narrativinterpretatorischen Regieanweisungen – verdeutlicht, wird Loth im Stück als Theoretiker gezeigt, der in der Praxis als Beobachter wenig taugt. Diese Szene, in der dem dozierenden Loth die zunehmende Unruhe bei Tisch und nicht zuletzt Helenes Interesse an ihm sowie ihre deutliche Markierung der willentlichen Regulierbarkeit des Alkoholkonsums völlig entgeht, trägt stark komödienhafte Züge. Da es sich um eine Schlüsselszene handelt, in der sowohl Loths deterministisches Weltbild und seine Empirie-Resistenz entfaltet werden, wie auch konträr dazu eine implizite Figurencharakterisierung Helenes geliefert wird, die die Aspekte des ›Wollens‹ und der individuellen Handlungsmacht als für sie leitend zeigt, wird diese Sequenz im Folgenden ausführlicher zitiert: loth. […] Hätte ich nun das ehrenwörtliche Versprechen abgelegt, nicht zu heiraten, dann könnte ich schon eher trinken, so aber … meine Vorfahren sind alle gesunde, kernige Menschen gewesen. Jede Bewegung, die ich mache, jede Strapaze, die ich überstehe, jeder Atemzug gleichsam führt mir zu Gemüt, was ich ihnen verdanke. Und dies, siehst du, ist der Punkt: ich bin absolut fest entschlossen, die Erbschaft, die ich gemacht habe, ganz ungeschmälert auf meine Nachkommen zu bringen. frau krause. Du! – Schwiegersuhn! – inse Bargleute saufen woahrhaftig viel: doas muuß woahr sein. kahl. Die saufen wie d’ Schweine. helene. Ach! so etwas vererbt sich? 348 349 350 351
Sprengel 1998b, S. 493. D.h. spezifisch bei Loth: dem Wahrnehmungsversagen. Beßlich 2008, S. 294. Beßlich 2008, S. 294.
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loth. Es gibt Familien, die daran zugrunde gehen, Trinkerfamilien. kahl halb zu Frau Krause, halb zu Helene. Euer Aller, dar treibt’s au a wing zu tull. helene weiß wie ein Tuch im Gesicht, heftig. Ach, schwatzen Sie keinen Unsinn. frau krause. Nee, do hier enner asu patziges Froovulk oa; asu ’ne Prinzessen. Hängst de wieder amol de Gnädige raus, wie? – Asu fährt se a Zukinftigen oa. Zu Loth, auf Kahl deutend. ’s is nämlich d’r Zukinftige, missen Se nahmen, Herr Dukter, ’s is alles eim reenen. helene aufspringend. Hör auf! oder … hör auf, Mutter! oder … frau krause. Do hiert doch aber werklich … na, do sprecha Se, Herr Dukter, iis das wull Bildung, hä? Weeß Gott, ich hal se wie mei eegenes Kind, aber die treibt’s reen zu tull. […] hoffmann begütigend. […] Ja … von was sprachen wir doch? Richtig! – vom biederen Alkohol! Er hebt sein Glas. Nun, Mama: Frieden! – Komm, stoßen wir an – seien wir friedlich – machen wir dem Alkohol Ehre, indem wir friedlich sind. Frau Krause, wenn auch etwas widerwillig, stößt doch mit ihm an. Hoffmann, zu Helene gewendet. Was, Helene?! – dein Glas ist leer? … Ei der Tausend, Loth! du hast Schule gemacht. helene. Ach … nein … ich … […] hoffmann. Aber du warst doch sonst keine von den Zimperlichen. helene batzig. Ich habe eben heut keine Neigung zum Trinken, einfach! hoffmann. Bitte, bitte, bitte seeehr um Verzeihung. – – Ja, von was sprachen wir doch? loth. Wir sprachen davon, daß es Trinkerfamilien gäbe. hoffmann auf’s neue betreten. Schon recht, schon recht, aber … Man bemerkt zunehmenden Ärger in dem Benehmen von Frau Krause, während Herr Kahl sichtlich Mühe hat, das Lachen über etwas, das ihn innerlich furchtbar zu amüsieren scheint, zurückzuhalten. Helene beobachtet Kahl ihrerseits mit brennenden Augen, und bereits mehrmals hat sie durch einen drohenden Blick Kahl zurückgehalten, etwas auszusprechen, was ihm sozusagen auf der Zunge liegt. Loth, ziemlich gleichmütig, mit Schälen eines Apfels beschäftigt, bemerkt von alledem nichts. (VS, S. 29 – 32)
Die Widersprüchlichkeit von Loths Anspruch, einen »Kampf um das Glück aller« (VS, S. 41) zu kämpfen, sein Selbstverständnis als Verfechter eines Perfektibilitätsprogramms auf individueller wie menschheitlicher Ebene352, während er letztlich an die Unausweichlichkeit der menschlichen Determiniertheit glaubt, werden im Drama immer wieder etwa anhand kontrastiver Figurenperspektivierungen (Loth vs. Helene / Loth vs. Hoffmann) herausgestellt. Wie auch in Bernsteins Dramen Königskinder (1894) und Wir Drei (1893) wird in Hauptmanns Vor Sonnenaufgang der individuelle Wille als Voraussetzung für den glückenden Übergang von der Herkunfts- in die Fortpflanzungsfamilie bzw. die Realisation und Verstetigung einer Paarbeziehung angesetzt. Auch die Figur des Loth setzt diese Bedingung an. Loths Forderungen an eine potentielle Partnerin, die er im Beisein von Helene gegenüber Hoffmann er352 Siehe den Dialog zwischen Loth und Helene im zweiten Akt (VS, S. 39 – 45, besonders S. 40 f.).
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läutert (vgl. VS, dritter Akt, S. 55 – 57), sind vor allem zweierlei: »Leibliche und geistige Gesundheit der Braut zum Beispiel ist conditio sine qua non.« (VS, S. 56) Zudem müsste sie »über gewisse gesellschaftliche Vorurteile hinaus sein« (VS, S. 57) und dürfte – was Hoffmann als »geradezu u n v e r s c h ä m t e « und wohl nicht zu erfüllende Forderung bewertet – »nicht davor zurückschrecken, zuerst – falls sie nämlich wirklich Liebe zu mir empfände – das bewußte Bekenntnis abzulegen« (VS, S. 57). Die erste der beiden Voraussetzungen klärt Loth im Gespräch mit Hoffmann – nicht jedoch mit Helene – in einer Art Checkliste ab.353 Die zweite, unerhörte Forderung erfüllt Helene selbst in einem aktiven Schritt der Überwindung gesellschaftlicher und individueller Schranken. Als Loth infolge der Auseinandersetzung mit Hoffmann über sein geplantes sozialkritischreformerisches Enthüllungsbuch (vgl. VS, S. 61 f.) vom Krause’schen Gutshof abreisen will, offenbart ihm Helene ihre Gefühle (VS, S. 62 f.): loth. […] Also … – er geht auf sie zu und gibt ihr die Hand – leben Sie recht glücklich! Er wendet sich und steht sogleich wieder still. Ich weiß nicht …! oder besser : – Helene klar und ruhig ins Gesicht blickend – ich weiß, weiß erst seit … seit diesem Augenblick, daß es mir nicht ganz leicht ist, von hier fortzugehen … und … ja … und … naja! helene. Wenn ich sie aber – recht schön bäte … recht sehr … noch weiter hierzubleiben –? loth. Sie teilen also nicht die Meinung Ihres Schwagers? helene. Nein! – und das – wollte ich Ihnen unbedingt … unbedingt noch sagen, bevor … bevor – Sie – gingen. loth ergreift abermals ihre Hand. Das tut mir wirklich wohl. helene mit sich kämpfend. In einer sich schnell bis zur Bewußtlosigkeit steigernden Erregung. Mühsam hervorstammelnd. Auch noch mehr w-ollte ich Ihnen … Ihnen sagen, nämlich … näm-lich: daß – ich Sie sehr hoch-achte und – verehre – wie ich bis jetzt … bis jetzt noch – keinen Mann … daß ich Ihnen – vertraue – daß ich be-reit bin, das … das zu beweisen – daß ich – etwas für – dich, Sie fühle … Sinkt ohnmächtig in seine Arme. loth. Helene!
In dieser bereits in der Einleitung der vorliegenden Arbeit zitierten Textpassage wird eindringlich Helenes Selbstermächtigung und -überwindung inszeniert, die über die sprachliche Darstellung, das Abreißen und Wiederaufnehmen der 353 Siehe VS, S. 58: »loth […]. Wie alt ist eigentlich deine Schwägerin? / hoffmann. Im August einundzwanzig gewesen. / Loth. Ist sie leidend? / hoffmann. Weiß nicht. – Glaube übrigens nicht – macht sie dir den Eindruck? – / loth. Sie sieht allerdings mehr verhärmt als krank aus. / hoffmann. Na ja! die Scherereien mit der Stiefmutter … / loth. Auch ziemlich reizbar scheint sie zu sein?! / hoffmann. Unter solchen Verhältnissen … Ich möchte den sehen, der unter solchen Verhältnissen nicht reizbar werden würde … / loth. Viel Energie scheint sie zu besitzen. hoffmann. Eigensinn! loth. Auch Gemüt, nicht? hoffmann. Zu viel mitunter … […]« Hoffmanns Antworten bieten zwar eine Deutungsperspektive, die die familiären Umgebungsfaktoren als Auslöser von Helenes »Reizbarkeit« hervorhebt, lassen allerdings Raum für deterministische Interpretationen vonseiten Loths.
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Rede, als Grenzerfahrung intersubjektiv wahrnehmbar wird. Anhand dieser gerade durch den Verlust von Kontrolle performativ gezeigten Ermächtigung der Figur liefert das Stück einen Beleg für die Möglichkeit, qua Willenskraft aus dem sozialen Bedingungsgefüge herauszutreten. Die Beziehung zwischen Loth und Helene kommt in der Folge tatsächlich zustande. Als jedoch das Kind von Hoffmanns alkoholkranker Frau Martha – Helenes Schwester – bei der Geburt stirbt, sieht sich Loth in seinem deterministischen Weltbild bestärkt. Bekräftigt wird er darin noch von Dr. Schimmelpfennig, der mit seiner ärztlichen Autorität die Degenerationsthese (vgl. VS, S. 79, 81) im Allgemeinen als wissenschaftlich verbürgt und die erbliche Vorbelastung Helenes im Speziellen als Faktum (vgl. S. 83, 86 f.) erscheinen lässt. Als einziger Ausweg aus der Situation erscheint Loth die Trennung von Helene,354 und Helene wiederum die Selbsttötung. Wie Peter Sprengel hier überzeugend anmerkt, trägt Helenes Selbstmord »Züge eines Freitods, mit dem sie sich als moralisches Subjekt behauptet«355. Die Formulierung vom »moralischen Subjekt« ist hier allerdings etwas irreführend – so geschieht der Selbstmord nicht aus dem Motiv heraus, eine geschlechtliche moralische Verfehlung zu beseitigen und gesellschaftlicher Schande zu entgehen. Stattdessen lässt er sich eher verstehen als Helenes willentlicher Abbruch der Genealogie, deren von Loth zugeschriebene Unhintergehbarkeit sie im Leben auch durch die oben skizzierte Willensanstrengung nicht entkräften konnte. In gewisser Weise positioniert sich Hauptmanns Stück damit – ähnlich wie die Dramen Bernsteins – auf der Seite eines ›ethischen‹ Naturalismus, der die Unmenschlichkeit der Determinationshypothesen und des Degenerationskonzeptes aufzeigt. Versteht man die naturalistische Dramatik, wie Beßlichs Textanalysen nachdrücklich bekräftigen, nicht als Inszenierung des zeitgenössischen ›physiologischen‹ und ›anthropologischen Wissens‹, sondern als (beabsichtigte) eigenständige Beiträge zum zeitgenössischen anthropologischen Diskurs, ergibt sich ein klarer Präzisierungsbedarf der prototypischen Auffassung des Naturalismus. Auch die hier angestellten Analysen sprechen für diese 354 Loths Entschluss der Trennung von Helene beruht, wie Beßlich ausführt, auf »mangelndem medizinischem Überblick« (Beßlich 2008, S. 293) und einer fehlerhaften Determinationshypothese: »[…] Loth nimmt fälschlicherweise an, dass Helene erblich vorbelastet ist. Bei genauer anamnetischer Rekonstruktion der Familiengeschichte, kann der Leser ermitteln (und Rolf Christian Zimmermann hat dies beeindruckend vorgeführt, ohne allerdings die Folgen für eine diagnostische Ästhetik des analytischen Dramas zu berücksichtigen), dass der Alkoholismus in diese Familie nicht mit den Genen, sondern mit dem Reichtum und der Langeweile kam.« (Ebd.) Die von Beßlich angesprochene Textanalyse von Rolf Christian Zimmermann trägt den treffenden Titel »Hauptmanns ›Vor Sonnenaufgang‹. Melodram einer Trinkerfamilie oder Tragödie menschlicher Blindheit?« (Zimmermann 1995). Auch Bernsteins Drama Dämmerung lässt sich in mehrerlei Hinsicht als eine solche »Tragödie menschlicher Blindheit« bezeichnen, wie in Kapitel 3.2.5 deutlich werden wird. 355 Sprengel 1998b, S. 495. Siehe auch Kapitel 3.2.2, S. 243 f., Anm. 268.
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Neuperspektivierung. Werden die in diesem Kapitel ausgeführten Beobachtungen und Thesen zudem an Kapitel 2.2.4 dieser Arbeit rückgebunden, in dem die ›weibliche Anthropologie‹ um 1900 als Radikalisierung der geschlechtlichen Differenzhypothese aufgezeigt wurde, lässt sich ein wichtiger Aspekt noch deutlicher herausstellen: Die naturalistische Dramatik tritt potentiell in Opposition bzw. in ein »Verhandlungsverhältnis« zur zeitgenössischen Anthropologie, die im Zuge der Pathologisierung des ›Weiblichen‹ eine semantische Folgeproblematik erzeugt. Wie in Kapitel 2.2.4 ausgeführt, wird bei der Verabsolutierung des ›weiblichen Geschlechtscharakters‹ zugleich das auf dem Komplementärmodell der Geschlechter aufbauende Konzept der Perfektibilität in Frage gestellt. Die Auseinandersetzung mit der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Perfektibilität wurde in Kapitel 3.1 als konstitutives Element der naturalistischen Strömung herausgearbeitet. Mit Blick auf die Textanalysen wird deutlich, dass diese in der poetologischen Diskussion zu beobachtenden Verhandlungen um die tradierten, als überkommen empfundenen idealistischen Konzepte nicht ›bloße Theorie‹ sind, sondern in der literarischen Praxis stattfinden. Im Folgenden wird mit Elsa Bernsteins Drama Dämmerung (1893) eine literarische Diskursivierung der Perfektibilitätsproblematik in den Blick genommen, die jene im Naturalismus umfassend thematisierte Grenzlinie zwischen Determination und individuellen Handlungsfreiräumen mit einer deutlichen Absage an die biologische Determinationshypothese herauspräparieren lässt.
3.2.5 Naturalistische Wirkungsästhetik und ›ethischer‹ Naturalismus – Zur Diskursivierung eines ›überkommenen‹ weiblichen Bildungsmodells in Elsa Bernsteins Dämmerung (1893) Während in Bernsteins 1891 entstandenem Drama Wir Drei die Einlösbarkeit des komplementären Geschlechtermodells unter der Bedingung der vorangehenden weiblichen wie männlichen Subjektwerdung und willentlichen Lösung aus Determinationsverhältnissen gezeigt wird, rücken in Dämmerung (1893)356 356 Als Textgrundlage der Analyse dient die 2003 von Susanne Kord vorgelegte, mit einer ausführlichen Einleitung versehene Neuedition von Dämmerung (nach einem 1894 erschienenen Reprint der 1893 bei S. Fischer erschienenen Erstausgabe; Zitate daraus werden im Folgenden im Text mit der Sigle ›D‹ und der Seitenangabe angeführt). In einem früheren Neuabdruck liegt das Stück wie bereits erwähnt auch in Roy C. Cowens zweibändiger Anthologie naturalistischer Dramen vor, wo es jedoch nur von einem knappen Kommentar zur Entstehung und einigen wenigen Anmerkungen begleitet wird (vgl. Cowen [Hg.] 1981, S. 833 f.).
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diese Bedingungsgefüge selbst näher in den Blick – auch hier wieder anhand einer kontrastiven Figurenkonstellation: Wo mit der Figur der Agnes und den ihr zugewiesenen Attributen der Duldsamkeit und Häuslichkeit zunächst das tradierte Schema der weiblichen Charakterologie aufgerufen wird, das sich jedoch im Stück als nicht mehr einfach gegeben, sondern (in Grenzen) individuell verhandelbar erweist, wird mit der Figur der Isolde die polaristische Charakterologie als gesamtgesellschaftlicher Problemfaktor markiert. Als Typus der ›höheren Tochter‹ steht Isolde für eine tradierte, geschlechterspezifische Bildungskonzeption, die – wie Katja Mellmann in ihrer Untersuchung zu Gabriele Reuters Aus guter Familie (1895) gezeigt hat357 – in ihrem lebenspraktischen Bezug als problematisch wahrgenommen wird. Isoldes im Stück gezeigte ›Charakterschwäche‹, ihre Tendenz zur Langeweile, zu manipulativem Verhalten und selbstinduzierter bzw. melodramatisch inszenierter Überspanntheit, nimmt interdiskursiv Bezug auf die Argumentationsstrukturen der bildungsreformerischen Programmatik im Kontext der bürgerlichen Frauenbewegung. Diese geht einerseits von ganz ›pragmatischen‹ Gründen aus, die eine Reform des Bildungssystems erforderlich machen: nämlich der Notwendigkeit, Frauen auf eine mögliche Berufsausübung vorzubereiten, falls die Einlösung ihres ›natürlichen Berufs‹ als Gattin, Hausfrau und Mutter nicht gelingen sollte. Wie in Kapitel 2.2.2 ausgeführt wurde, orientiert sich das Emanzipationsprogramm der bürgerlichen Frauenbewegung dabei jedoch klar an idealistisch-humanistischen Konzepten. So liefert der Rückbezug auf ein nicht nach Sexus differenziertes Konzept von ›allgemeinmenschlicher Perfektibilität‹ zum einen die semantische Strategie, mit der die am geschlechtlichen Komplementärmodell orientierte weibliche (als defizitär und überkommen wahrgenommene) Bildungskonzeption argumentativ auszuhebeln ist. Zum anderen erfolgt durch die Perspektivierung des Perfektibilitätskonzepts zugleich eine semantische Rückkoppelung, in deren Zuge das Konzept der Komplementarität ebenfalls eine semantische Aktualisierung erfährt. Vor dem Hintergrund dieses Diskurses, in dem der gesamtgesellschaftliche Fortschritt an die Bedingung geknüpft wird, die diskrepante Bildungsverteilung zu überwinden, verweist die Figur der Isolde auf die ›Hypotheken der alten Zeit‹, die sowohl die gesellschaftliche, wie auch die individuelle Entwicklung behindern.358 Die Kontrastfigur des Stücks, die Ärztin Isolde Graef, ist dabei allerdings 357 Vgl. Mellmann 2008. Siehe die detaillierten Ausführungen zur Aktualisierung des teleologischen Bildungskonzepts innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung in Kapitel 2.2.2, in denen auch Mellmanns Studie zur literarhistorischen Problemreferenz der ›Mädchenfrage‹ skizziert wird. Auf diese wird im nachfolgenden Kapitel 3.2.6 zur Verzahnung von Literatur und Pädagogik noch einmal zurückzukommen sein. 358 Bernsteins übergeordnete Perspektivierung auf die sozialen Bedingungsfaktoren menschlichen Handelns wird hier erneut deutlich. Im Folgenden wird zu zeigen sein, wie
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nicht einfach ein Gegenmodell, an dem die ›emanzipierte‹ Rollen- und Bildungskonzeption gezeigt wird. Vielmehr wird anhand der kontrastiven Figurenkonstellation das Defizitäre beider von ihnen repräsentierten Bildungsmodelle dargestellt,359 wodurch auf eine übergeordnete Problemkonstellation der Geschlechterrollenproblematik verwiesen wird. So diskursiviert das Stück, wie im Folgenden eingehender zu beleuchten ist, die Krise des tradierten Geschlechtermodells und der Komplementärsemantik dergestalt, dass die weibliche ›Emanzipation‹ im Sinne der Ausweitung des Handlungs- und Rollenspektrums zwar als ›lebenspraktisch‹ erforderliche Entwicklung perspektiviert wird, zugleich jedoch als noch offener Problemkomplex, dessen Lösung nicht im vermeintlich ›modernen‹ Frauentypus zu liegen scheint. Dass dieser Typus der ›emanzipierten‹, selbstermächtigten Frau im Naturalismus nicht einfach als neue literarische Figur »auftaucht«, wie etwa Günther Mahal in seiner älteren Epochendarstellung formuliert,360 wurde bereits in Kapitel 3.1.3 herausgestrichen. Wie gezeigt, lässt sich der Naturalismus gerade als Phase der Diskursivierung der Geschlechterkrise und Versuch der Aushandlung einer aktualisierten Geschlechtersemantik beschreiben, in der eben gerade nicht ›geglückte‹ Entwürfe weiblicher Emanzipation auf die Bühne gebracht werden. So werden die Vertreterinnen des ›modernen‹ Frauentypus etwa in Wir Drei (1893) oder Dämmerung keineswegs als uneingeschränkt eigenmächtige Subjekte vorgeführt, sondern unterlaufen im jeweiligen Drama eine Entwicklung, die die ›Leerstellen‹ der Subjektkonstitution aufzeigt.361 Gerade diese Leerstellen haben jedoch sowohl in der zeitgenössischen Rezeption wie auch innerhalb der Forschung zu Irritationen sowie zu unstimmigen Deutungen geführt. Um die Problematik der in der Rezeption dominanten Kritik an der Figurencharakteristik deutlich machen zu können, ist zunächst auf die Figurenkonstellation und Konfliktstruktur des Stücks einzugehen. Romana Weiershausen, die in ihrer Studie zur literarischen Diskursivierung von Wissenschaft und ›Weiblichkeit‹ um 1900 eine anschlussfähige Deutungsperspektive des Dramas bietet, fasst die zentralen Aspekte überzeugend (perspektivierend) zusammen: das Stück über die Strategie der Setzung eines ›blinden Motivs‹ die biologischen Bedingungsfaktoren dezidiert ausschaltet. 359 Vgl. dazu die Untersuchung von Romana Weiershausen (2004), auf deren Deutungsperspektive des Stücks sich die folgenden Ausführungen grundlegend stützen. 360 Vgl. Mahal 1975, S. 133. Vgl. auch die in dieser Forschungstradition stehende Perspektive von Walter Fähnders, der der naturalistischen Literatur »neue Akzentuierungen beim Frauenbild« (Fähnders 2010, S. 108) attestiert. 361 An dieser Stelle ist die zuvor in Kapitel 3.1.1 vorgenommene Differenzierung in Bezug auf die ›Katalysatorfunktion‹ relevant: Sowohl die Autorin Sascha als auch die Ärztin Sabine Graef fungieren für den Handlungsverlauf des jeweiligen Stücks als Katalysator. Beide Figuren lassen sich dabei jedoch nicht allein über diese Funktion definieren, sondern sind gerade in ihrer durchlaufenen Entwicklung für die verhandelten Problemkomplexe als zentrale ›eigenständige‹ Figuren anzusehen.
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[Der] Witwer Heinrich Ritter [lebt] allein mit seiner Tochter Isolde. Seiner an einer schweren Augenerkrankung leidenden Tochter zuliebe hat er seine Mutter verlassen und ist mit Isolde von Wien nach München gezogen – vordergründig, weil dort die ärztliche Versorgung besser sei. Bald jedoch offenbart sich ein weiterer Grund: Eifersüchtig ist Isolde darauf bedacht, die Liebe ihres Vaters mit niemandem teilen zu müssen, auch nicht mit ihrer Großmutter. Bereits die Ausgangslage des Dramas zeigt Ritter in seiner Bereitschaft, die eigenen Bedürfnisse denen der kranken Tochter unterzuordnen: Nicht nur persönliche Vereinsamung hat der Weggang aus Wien mit sich gebracht, sondern auch berufliche Kompromisse. Ritter, Dirigent und leidenschaftlicher Wagnerianer, hat die gesellschaftlich angesehene und künstlerisch anspruchsvolle Direktion der Wiener Gesellschaftskonzerte aufgeben müssen. Statt dessen [sic] ist er nun als Musiklehrer in einer Stadt tätig, unter deren kultureller Provinzialität er leidet […]. In dieser Situation tritt die Augenärztin Dr. Sabine Graef auf, die als Vertretung zur Behandlung Isoldes ins Haus kommt. Zunächst wird sie nur von Isolde akzeptiert – ihr Vater […] hegt starke Ressentiments gegen weibliche Ärzte. Doch dieses Verhältnis kehrt sich langsam um. Neben der wachsenden Achtung vor ihrer medizinischen Kompetenz (sie führt eine schwierige Operation an Isoldes Augen mit beachtlichem Erfolg durch) wird ihm Sabine Graef allmählich zur unentbehrlichen, geistig anregenden Gesprächspartnerin[.] Die schließlich entstehende Liebe zwischen beiden weckt jedoch Isoldes Eifersucht. Sie setzt ihre Krankheit als letztes Mittel ein, um ihren Vater an sich zu binden: Infolge eines halbherzigen Selbstmordversuchs erblindet Isolde vollständig, woraufhin Ritter auf sein privates Glück verzichtet.362
Die wesentliche Irritation, an der sich die zeitgenössische Kritik entzündet, stellt nun der scheinbar unmotivierte Umschwung im Verhalten Sabine Graefs dar, die zunächst vor allem über ihre Professionalität und Rationalität charakterisiert wird, im Laufe der sich intensivierenden Beziehung zu Heinrich Ritter jedoch zunehmend ›emotional‹ und vermeintlich ›unterwürfig‹ agiert.363 So konstatiert etwa Fritz Mauthner in seiner bereits erwähnten Aufführungskritik, in der er die »Probe auf die Echtheit des Rosmer’schen Naturalismus« als »ungünstig ausgefallen«364 ansieht, in Bezug auf die aus seiner Sicht misslungene Figur : Was dem Stück im Wege steht, ein wahrhaft modernes Drama zu sein, ist gerade der Versuch, eine so moderne Erscheinung wie eine Frau von gelehrtem Beruf in den Mittelpunkt zu stellen. Äußerlich ist das ja geglückt. Aber mit modernen Augen gesehen ist dieses Weib nicht.365
362 Weiershausen 2004, S. 229 f. 363 Dass diese Deutungsperspektive nicht nur innerhalb der zeitgenössischen Literaturkritik, sondern auch innerhalb der gegenwärtigen Forschung dominiert, wird im Weiteren zu problematisieren sein. 364 Mauthner 1892/93, S. 432. 365 Mauthner 1892/93, S. 432.
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Die Figur fällt ihm zufolge, wie Weiershausen pointiert paraphrasiert, »in nicht nachvollziehbarer Weise von einem Extrem ins andere«366 : Die Aerztin, die anfangs wie ein Rezeptenautomat funktioniert, wunschlos und geschlechtslos, wird plötzlich verliebt wie ein Käfer oder wie – ich will lieber keinen Vergleich aus der schlimmeren Weiberlitteratur heranziehen.367
Mauthner zufolge hätte »der Verfasser« Rosmer mit dem Stück entweder »idealistisch verfahren [können] und die Aerztin als das geschlechtslose Weib der Zukunft unberührt bleiben lassen von dem, das uns alle bändigt«, oder aber er hätte »realistisch sein und das überlegene Weib in ihrer ganz alltäglichen Liebe zu einem Männchen zeigen«368 können. Dass sich jedoch eine »Frau von gelehrtem Beruf«369, also der ›Idealtypus‹ einer ›Emanzipierten‹, wie ein »verliebter Käfer« oder gar eine heiratswillige, schwärmerische Debütantin verhält, erscheint Mauthner als innerer Widerspruch. Aus Sicht der vorliegenden Untersuchungsperspektive trifft er mit dieser Einschätzung durchaus einen wichtigen Punkt – mit Blick auf die Funktionslogik des Stücks ist jedoch das scheinbare Schwanken der Figurenzeichnung zwischen einem ›tradierten‹ und einem ›modernen‹ Frauentypus nicht als kompositorischer Bruch, sondern als bedeutungstragendes Spannungsverhältnis zu deuten. In der zeitgenössischen Rezeption ist allerdings die Wahrnehmung der unstimmigen, psychologisch wie auch poetologisch nicht ausreichend motivierten Charakteristik Sabine Graefs dominant,370 wie sie etwa in Leo Bergs bereits angesprochener Rezension zu beobachten ist. So erscheint ihm die Figur als reine »Phrase in dichterische Gestalt umgesetzt«371: Wie schlecht unserm Ernst Rosmer die Vermenschlichung des Modernen gelingt, beweist vor allem der weibliche Arzt, Sabine Gräf [sic], der in dem Stücke vorkommt. In dieser Figur wollte die Verfasserin keineswegs ein überspanntes, emanzipiertes oder 366 367 368 369 370
Weiershausen 2004, S. 234. Vgl. Mauthner 1892/93, S. 432. Mauthner 1892/93, S. 432. Mauthner 1892/93, S. 432. Mauthner 1892/93, S. 432. Wie Romana Weiershausens Auswertung der zeitgenössischen Rezeption des Stücks zeigt, wurde die Figur Sabine Graef nur sehr vereinzelt positiv aufgenommen. So hebt etwa die Theaterkritikerin Ella Mensch in ihrer Studie Die Frau in der modernen Litteratur. Ein Beitrag zur Geschichte der Gefühle (1898) hervor, dass Bernstein mit Sabine Graef »die Gestaltung einer modernen, wissenschaftlich tätigen Frau« (Mensch 1898, S. 91; zitiert nach Weiershausen 2004, S. 232) gelungen sei. In dem 1914 in den Sozialistischen Monatsheften erschienenen Beitrag Die neue Frau in der neuen Frauendichtung wertet Wally Zepler die Figur der Augenärztin als vollendete Darstellung der neuen, emanzipierten Weiblichkeit (vgl. Zepler 1914, S. 54 f.; vgl. Weiershausen 2004, S. 231 f.). Insgesamt stellen diese (im Kontext der Frauenbewegung stehenden) Lesarten jedoch eine deutliche Ausnahme dar (vgl. Weiershausen 2004, S. 234). 371 Berg 1893, S. 319.
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dämonisches Weib schildern (die meiste Dämonie hat, wie sehr fein beobachtet wird, die Kranke), sondern ein einfach schlicht bescheidenes Weib, eine echte Frauennatur, die treu, fleißig und geschickt ihres Berufes waltet, ohne Prätensionen auftritt, und in der zum Schluß trotz ihrer Selbstbeherrschung, trotz ihres bedeutenden Geistes das Weib, das natürliche Weib hervorbricht. Aber aus dieser Figur ist unversehens ein medizinischer Blaustrumpf geworden, ein echter rechter unnatürlicher Blaustrumpf, an dem nichts als die Pedanterie wahr ist, deren geistige Überlegenheit sich als ein gewisses prätentiöses Gethue und kühle Reserve giebt, und an deren gänschenhafte Verliebtheit zum Schluß wir ebenso wenig glauben wie an ihre wissenschaftliche Bedeutung.372
Vor dem für Bergs Kritik grundlegenden Deutungsschema des ›weiblichen Geschlechtscharakters‹, das in Kapitel 3.2.1 beleuchtet wurde, erscheint ihm die zunächst aus seiner Sicht gelungene Darstellung von ›echter Frauennatur‹ und ›natürlicher Weiblichkeit‹ dort gebrochen, wo aus der Figur »ein echter rechter unnatürlicher Blaustrumpf« wird. Damit bezieht sich Berg auf die in Kapitel 3.2.3 bereits zitierte Anamnesesequenz zwischen Sabine Graef und Heinrich Ritter, auf die im Folgenden ausführlicher einzugehen sein wird. Die wahrgenommene Inkonsistenz der Figur Sabine Graef ruft nicht nur in der zeitgenössischen Rezeption Irritationen hervor, sondern mündet auch innerhalb der Forschung in Deutungsperspektiven, die wesentliche Aspekte des Dramas außer Acht lassen. In ihrer luziden Untersuchung des Stücks gibt Romana Weiershausen einen detaillierten Forschungsüberblick,373 in dem als dominante Einschätzung die Kritik am mangelnden emanzipatorischen Gehalt der doch eigentlich so modernen Figur der Augenärztin hervortritt. Wie in der vorliegenden Untersuchung mehrfach deutlich geworden ist,374 weisen Interpretationsansätze, die den Emanzipationsbegriff als systematische Beschreibungs- und Bewertungskategorie heranziehen, eine stark verengte Analyseperspektive auf. Wenn etwa Sarah Colvin schreibt, dass Dämmerung als »a document of female limitation and the choice of self-deceit«375 zu betrachten sei, wird sie den im Stück verhandelten Problemkomplexen nicht gerecht. Statt die Funktion(en) der Figur Sabine Graef zu analysieren und ihre Entwicklung durch das Drama hindurch zu kontextualisieren, bewertet Colvin diese auf der Basis der übergeordnet angesetzten feministischen Repressionshypothese. Die ahistorische Verwendung des Emanzipationsbegriffs führt in der Konsequenz letztlich zu einer Bewertung des Dramas als ›anti-emanzipatorisch‹ und als Affirmation eines tradierten weiblichen Rollenmodells. 372 Berg 1893, S. 319. 373 Vgl. Weiershausen 2004, S. 234 – 238. 374 Siehe vor allem die Kapitel 1.2.4 sowie 2.2.2, in denen der Emanzipationsbegriff als historischer Terminus differenziert und als systematischer Terminus problematisiert wird. 375 Colvin 1997, S. 74.
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Ganz ähnlich wie Colvin argumentieren Michaela Giesing und Ulrike Zophoniasson-Baierl, die Bernstein Inkonsequenz in der Charakteristik und vergebene Chancen376 bis hin zu einem »Unvermögen […], klar Stellung zu beziehen«377 vorwerfen, da »die Möglichkeit der eigentlich modern konzipierten Frauengestalt in einer konventionellen Wendung«378 wieder zurückgenommen werde. Auch Susanne Kord, die unter anderem mit ihrer Neuedition von Dämmerung einen wichtigen Beitrag zur Erschließung von Bernsteins Werk geleistet hat, spricht von Sabine Graefs »slow slide into conformity«379. Kord merkt zwar an anderer Stelle rechtfertigend an, dass der ›Sieg‹ der tradierten Ordnung in Bernsteins Dramen dem Anspruch auf Realismus geschuldet sei.380 Doch auch ihrem Blick entgeht dabei, dass Sabine Graef nicht einfach von der ›emanzipierten‹ in die ›traditionelle‹ Rolle zurückfällt – denn genau betrachtet gibt es die ›emanzipierte Rolle‹ als klar konturierte Identifikationsfolie und erprobtes Modell der individuellen Lebensführung noch nicht.381 Der analytische Tunnelblick, der sich aus der metasprachlichen Verwendung des Emanzipationsbegriffs ergibt, lässt sich an einer in der Forschung häufig als Beleg für die ›Rückfall-These‹ angeführten Textstelle zeigen. Es handelt sich um folgenden kurzen Dialog aus dem vierten Akt, der sich zwischen Ritter und Sabine entspannt, nachdem sich beide ihre gegenseitige Zuneigung offenbart
376 377 378 379
Vgl. Weiershausen 2004, S. 235, Anm. 66. Siehe auch Giesing 1984, S. 189 f. Zophoniasson-Baierl 1985, S. 124. Weiershausen 2004, S. 235. Kord 2003, S. xxiii; vgl. Weiershausen 2004, S. 235. In ihrer Studie zu deutschsprachigen Dramatikerinnen des 18. und 19. Jahrhunderts fasst Kord in Bezug auf Dämmerung zusammen: »Obwohl die Fähigkeit der Frau zu beruflicher Tätigkeit hier nicht angezweifelt wird, wird doch eins unmißverständlich ausgedrückt: für die Frau ist der Beruf nicht der Weg zum Glück.« (Kord 1992, S. 86; vgl. Weiershausen 2004, S. 236) 380 So führt sie in der Einleitung zu ihrer englischen Übersetzung von Bernsteins Maria Arndt (1908) aus: »A frequent subject of her plays is the culturally sanctioned oppression of women; her female figures are often torn between adherence to social norms and desires for personal autonomy. Bernstein’s insistence on a realistic portrayal of her contemporary society is partly expressed in the fact that most of her autonomous heroines are forced back into conventional roles or uphold them voluntarily. The ambivalence and compromising nature of her dramatic endings has disappointed traditional and feminist critics alike.« (Kord 1996a, S. 81) 381 Diesem Aspekt zollt Kords spätere Bewertung der Dramen Wir Drei, Dämmerung und Maria Arndt als »symbolic protofeminist experiments« (Kord 2007, S. 155) Tribut. Allerdings ist aus Sicht der vorliegenden Untersuchung weder die Bezeichnung als ›protofeministisch‹ sehr aussagekräftig, noch erscheint Kords über diesen Terminus vorgenommene Distanzierung von einer Kategorisierung der Dramen als ›naturalistisch‹ überzeugend. Wie in den vorangehenden Kapiteln 3.2.2 und 3.2.3 gezeigt wurde, verortet sich Bernstein trotz der in ihren Werken vorgenommenen spezifischen inhaltlichen und stilistischen Perspektivierungen klar innerhalb der Diskursformation des Naturalismus.
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haben und Sabine den implizit geäußerten Antrag Ritters (ebenfalls implizit) angenommen hat:382 ritter […] Ist das nun nicht hunderttausendmal schöner als die ganze lumpige Medizinkomödie? sabine (den Kopf an seine Schulter gelegt): Schöner – ist es. ritter : Ich werde dich lehren glücklich sein. Schläge kriegst du, wenn du nicht glücklich bist. Und den Verstand treib’ ich dir aus. sabine: Ich will ganz dumm werden – ganz glücklich dumm. (D, S. 121)
Susanne Kord zitiert diese Sequenz in ihrer Einleitung zur Neuedition von Dämmerung und nimmt die Figuren dabei in ihrer Interpretation etwas zu sehr beim Wort: With the nameless bliss [i. e. dem »namenlosen Glück[]« (D, S. 120), das Sabine über die Verlobung mit Ritter empfindet; N.I.], she experiences a lethargy that permits her to give up her vocation in medicine and let herself be forced, even beaten, into marriage.383
Wie wenig diese Deutung der Figurencharakteristik gerecht wird, zeigt sich, wenn man die gesamte Dialogpassage in den Blick nimmt. Im verliebten Wortwechsel vor der – als liebevoll neckend aufzufassenden – Androhung der Schläge wird Heinrich Ritters gerade nicht als »tyrannisch«384 dargestelltes Wesen deutlich: ritter : Sag’ mal Heinrich zu mir. sabine (zögert ein wenig). ritter : Na? Folgen! sabine (leise und rasch): Heinrich. ritter : So ist’s recht. Du wirst mir überhaupt folgen. Neumodische Mucken giebt’s nicht. Das heißt: du kannst weiter doktern. (Sie anschauend.) Ach – thu’ was du willst. Wenn du mich nur lieb hast. Nein, Kinder, so ein Glück auf meine alten Tage. Grad’ hinausschreien könnt’ ich vor Freude. Und die Mutter! Die wird ja – ganz – (die Stimme versagt ihm). (D, S. 120)
Nicht patriarchales Tyrannentum, sondern emotionale Ergriffenheit des durch seine Liebe ›verjüngten‹ und etwas verlegenen Heinrich Ritter inszeniert das Stück an dieser Stelle. Ritters Äußerung »Ach – thu’ was du willst. Wenn du mich nur lieb hast.« (D, S. 120) steht damit nicht nur im Gegensatz zum davor geäußerten Anspruch auf eheliche Weisungsbefugnis – sondern die Figurenrede 382 Siehe D, S. 120: »ritter: […] Ich will jung sein für meine hübsche schöne Frau – ich will dir gefallen. / sabine (aus tiefstem Herzen, indem sie seine Hand an ihre Brust preßt): Oh – du gefällst mir.« 383 Kord 2003, S. xxiii. 384 Vgl. Kord 2003, S. xxiii.
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und -charakteristik stehen auch in klarer Opposition zu der von Kord bzw. insgesamt in der Forschung eingenommenen Deutungsperspektive. Wie der Blick auf die textuellen Inszenierungsstrategien zeigt, stellt die ›Rückfall-These‹ ein klares Hindernis für eine stimmige Textanalyse dar. Weder lassen sich die Figuren sinnvoll anhand von Kategorien wie ›emanzipatorisch‹ oder ›patriarchalisch‹ charakterisieren, noch ist der im Text verhandelte Konflikt über ein entsprechendes Binärschema zu erfassen. Was Bernsteins Drama liefert, ist ein Experimentalaufbau, innerhalb dessen bestimmte Variablen hintergrundiert und ›ausgeschaltet‹ werden, während andere als die entscheidenden in den Fokus rücken. Wie bereits Weiershausen herausgearbeitet hat, ist ›Bildung‹ der für die im Stück verhandelte Problemkonstellation zentral gesetzte Aspekt.385 Wie Weiershausen unterstreicht, handelt es sich dabei jedoch nicht einfach um die Einlösung eines »Topos der Zeit […], der wissenschaftliche Bildung und Berufstätigkeit in einen Gegensatz zu weiblicher Erfüllung [stellt]«386, wie etwa Michaela Giesing schlussfolgert. Stattdessen inszeniert der Text die Diskrepanz verschiedener – geschlechtsspezifischer! – Bildungskonzepte und vollzieht eine ›Suchbewegung‹ nach einer neuen, umfassenden Bildungskonzeption. Werfen wir einen genaueren Blick auf die Strategie und das Ergebnis des Experimentalaufbaus in Dämmerung: Die im Drama entworfene Grundkonstellation diskursiviert, wie oben bereits knapp umrissen, über die Kontrastierung der Figuren Isolde und Sabine Graef die Krise der mit dem komplementären Geschlechtersemantik verzahnten weiblichen Bildungskonzeption, wie sie im ersten Hauptteil der vorliegenden Studie ausführlich dargestellt wurde. Wie Weiershausen überzeugend herausarbeitet, wird dabei als kontrastives Ideal eine Bildungskonzeption entworfen, die nicht einfach die im Stück problematisierte bürgerliche Konzeption der ›schöngeistigen‹ Bildung für ›höhere Töchter‹ durch ein professionalisiertes Bildungskonzept ersetzt, sondern auf ein ganzheitliches, gleichermaßen auf die Ausbildung von Verstand und Gefühl gerichtetes Modell der »Herzensbildung«387 abzielt. Die zwar wissenschaftlich gebildete Sabine Graef entbehrt, wie Weiershausen konstatiert, zu Beginn des Dramas eben jener emotional-sozialen Bildung, deren Notwendigkeit sie erst in ihrer Beziehung zu Heinrich Ritter erfährt.388 Isoldes Bildung wird dabei in beiderlei Hinsicht als defizitär gezeigt: Zwar bedient sie sich im neckenden Gespräch mit dem in sie verliebten Kunststudenten Carl explizit einer studentischen Sprache, ihre offensichtliche Un385 Vgl. Weiershausen 2004, S. 238. 386 Weiershausen 2004, S. 236. 387 Weiershausen 2004, S. 233. Zur Bildungskonzeption in Dämmerung siehe hier besonders S. 238 – 252. 388 Vgl. Weiershausen 2004, S. 238.
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kenntnis der universitären Fachsprache markiert jedoch zugleich umso deutlicher ihre Ausgeschlossenheit aus den entsprechenden Bildungsinstitutionen. So will sie von Carl mit möglichem Klatsch über Sabine Graef versorgt werden und stellt diesem zur Belohnung ironisch einen »Dieffenbach als Bierzipfel« in Aussicht (D, S. 61).389 Im Kontrast zu Isoldes zur Schau gestellter Souveränität in Bezug auf den studentischen Soziolekt tritt im Folgenden jedoch ihre Unkenntnis in Bezug auf die Institution der Universität hervor, wenn sie sich wundert, wo Sabine Graef »nur Medizin gelernt hat« (D, S. 62; Carls Antwort: »In Zürich! Wo denn. An unsere Universitäten dürfen keine Frauenzimmer.«) und nicht weiß, was ›summa cum laude‹ bedeutet (vgl. ebd.). Auch ihre emotional-soziale Bildung wird als lückenhaft gezeichnet, sie erscheint als hochmanipulativ bzw. – nach Alfred Kerr – gar als »egoistisch-eitle, lüsterne und respektlose Kröte«390. Dass Isolde eifersüchtig darauf bedacht ist, ihren Vater für sich allein zu haben, erweist sich bei genauerer Betrachtung als durchaus ›rational‹ motiviert: Aufgrund ihrer mangelnden (beruflichen) Bildung und zudem ihrer körperlichen Einschränkung ist sie auf die Versorgung durch ihren Vater oder aber durch eine Ehe angewiesen. Das Zustandekommen letzterer wird im Stück jedoch aufgrund ihrer Krankheit und der aus dieser resultierenden Abgeschiedenheit als unwahrscheinlich dargestellt. Den einzigen Anwärter, den Kunststudenten Carl, lehnt Heinrich Ritter aufgrund dessen mangelnder Reife und finanzieller Absicherung als inadäquat ab (vgl. D, S. 104 – 106). Das einzige zwischen Isolde und Sabine stattfindende Zwiegespräch ist mit Weiershausen eine »Schlüsselszene für die Bewertung der entgegengesetzten Bildungskonzepte, die beide Frauen verkörpern«391. Zum Bewertungsmaßstab wird dabei – in Rekurs auf den zeitgenössischen Geschlechterdiskurs – die Sittlichkeit der Frau:
389 Ein ›Bierzipfel‹ ist ein unter Verbindungsstudenten getauschtes Couleurband, der »Dieffenbach« meint hier höchstwahrscheinlich ein Kinder- bzw. Erbauungsgedicht des evangelischen Theologen Georg Christian Dieffenbach (1822 – 1901), der mit seinen Kinderschriften Für unsere Kleinen (1884 – 98) als einer der ersten Jugendschriftsteller in Hessen bekannt wurde (vgl. Steitz 1957, S. 640). 390 Sprengel 1998b, S. 518; vgl. Kerr 1895. Hedwig Dohm beschreibt in ihrer bereits 1876 erschienenen Streitschrift Die Eigenschaften der Frau derartige vermeintlich naturgegebene weibliche Charakterschwächen als Resultate der weiblichen Sozialisation: »Das Salonleben producirt träge, intrigante, graciöse, putzsüchtige und nervöse Individuen, die ›demi monde‹ üppige, herzlose, verschwenderische und raffinirte Exemplare der Weiblichkeit. – Dieser Einfluß der socialen Stellung der Frau auf ihre Charakterbildung wird meistens ignorirt und man führt die Art und Weise ihres Denkens, Handelns und Fühlens auf einen angebornen Geschlechtscharakter zurück.« (Dohm 1976, S. 15) 391 Weiershausen 2004, S. 239.
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Hier aber, und das ist entscheidend, erweist sich die Frau, die Medizin studiert hat, der behüteten Tochter moralisch weit überlegen. Gerade in diesem Punkt kehrt Bernstein die Erwartungen um, denen zufolge bei der Medizinerin, nicht bei der nach gesellschaftlichem Muster erzogenen Bürgertochter Anlagen zum unsittlichen Lebenswandel vorliegen.392
Im Gespräch mit Sabine Graef gibt sich Isolde kokett und betont, wie oft sie sich in »interessante junge Männer« verliebe, was doch »das einzige Amüsante im Leben« (D, S. 80) sei. Sabine ist von Isoldes Äußerungen betroffen: sabine (steht auf, ein wenig beklemmt): Ich weiß nicht, Fräulein, ich versteh’ Sie nicht – aber Sie machen mich so traurig. isolde (steht ebenfalls auf und nimmt vertraulich Sabines Arm): Sie müssen mir Geständnisse ablegen. Sie müssen doch ein zu ereignisreiches und pikantes Leben hinter sich haben. sabine: O nein! isolde: Ein Fräulein Doktor! Und Sie können sans gÞne mit mir reden. Ich bin gar nicht mehr so naiv dumm. Also Sie haben schon nackte Menschen gesehen? sabine: … Ja. isolde: Frauen – und Männer? sabine: … Ja. isolde: Gott, ist das eigentlich unanständig. Macht’s Ihnen Vergnügen? sabine (macht sich von ihrem Arm los und sieht ihr fest in die Augen): Was meinen Sie damit? isolde (keck und unbefangen): Sie müssen überhaupt eine Menge wissen, was man sonst nicht weiß, – Mädchen. In Büchern wird manches angedeutet – in medizinischen muß doch das viel ärger stehen? Wird man nicht verdorben dadurch? sabine (sieht sie von der Seite an): Es kommt auf die Person an, nicht auf das Buch – scheint mir. (D, S. 80 f.)
Isolde rekurriert mit ihren Fragen auf die um 1900 weit verbreitete Auffassung, dass Frauen durch die wissenschaftliche Betätigung und besonders durch das Studium der Medizin sittlich verdorben würden,393 doch wie Weiershausen darlegt, zeigt sich in diesem Gespräch genau die umgekehrte Situation: »Nicht Wissen und Aufklärung führen zur Unsittlichkeit, so die die herrschende Meinung umkehrende Aussage, sondern Unwissenheit und Unaufgeklärtheit.«394 Die Strategie, mit der das Drama nun insgesamt den Fokus von der biologischen Determinationshypothese auf den Aspekt der Sozialisation und schließlich der individuellen Handlungsverantwortung lenkt, ist die gezielte Setzung eines ›blinden Motivs‹, über das der Topos der ›Vererbung‹ als nicht hand392 Weiershausen 2004, S. 239 f. 393 Wie in Kapitel 2.2.4 mit Weiershausen 2007 umrissen, stellte die Angst vor der sittlichen Verrohung der Frau einen der zentralen Einwände dar, die in der Debatte um deren Zulassung zum Hochschulstudium vorgebracht wurden (vgl. auch Glaser 1996, S. 300 – 303). 394 Weiershausen 2004, S. 240.
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lungsrelevant verabschiedet wird. Sowohl in der zeitgenössischen Rezeption wie in der älteren Forschung395 wurde dieser strategisch-wirkungsästhetische Aspekt zumeist übersehen. Als exemplarisch kann hier die Einschätzung Theodor Lessings gelten: Das eminente Schauspiel »Dämmerung« leidet leider unter seichteren Stellen; auch macht es der gerade herrschenden Mode einige äußerlich bleibende Konzessionen. Die weibliche Ärztin Sabine ist zweifellos eine feine Figur, aber was die Untersuchung Ritters auf Lues [i. e. Syphilis] bedeuten soll, ist mir unverständlich. Ob ihre Inquisition medizinisch überhaupt nötig war, mag dahin gestellt sein; dichterisch aber ist sie unnötig und die betreffende Szene dürfte fehlen, ohne daß dadurch das Stück im geringsten betroffen würde.396
Die umfangreiche Anamnese-Sequenz im ersten Akt (D, S. 36 – 48) liefert jedoch, wie in Kapitel 3.2.4 zur ›diagnostischen Wirkungsästhetik‹ naturalistischer Dramen bereits umrissen wurde, eine nicht nur in der Theorie, sondern in der Praxis vorgenommene Verhandlung der biologischen Determinationshypothese. Folgender Auszug aus der Befragung Heinrich Ritters durch Sabine Graef illustriert, wie Sabines abschließende Diagnose anhand von verbalen und vor allem nonverbalen ›Authentizitätsmarkern‹ als verlässlich dargestellt wird: sabine (sieht in ihr Notizbuch): Sie heirateten mit – mit siebenundzwanzig. Sie werden vorher gelebt haben wie alle jungen Leute – ritter (dunkelrot, unterbricht sie heftig): Bitte mein Fräulein. Ich war fünf Jahre mit meiner Frau verlobt. sabine: Eine so lang dauernde Verlobung ist gewöhnlich kein Hindernis. ritter (springt auf): Hören sie mal – Sie haben schöne Ansichten. sabine: Ich habe keine Ansichten. Nur Erfahrungen. ritter (heftig, jedoch bemüht, sich zu beherrschen): Sie haben mich zu fragen, was ins ärztliche Gebiet gehört. Aber es giebt Dinge, die man als Geheimnis zu betrachten hat. sabine: Es giebt Dinge, denen man das Geheimnis und den Nimbus nehmen muß. Darin liegt ihre Gefahr.397 395 So erkennt Ulrike Zophoniasson-Baierl in ihrer Studie zu Bernsteins Werken, deren problematische Deutungsperspektive bereits angesprochen wurde, genau wie die zeitgenössischen Kritiker nicht die spezifische Funktionslogik der Anamnese-Sequenz. Stattdessen bemängelt sie Bernsteins vermeintliche »Halbherzigkeit, mit der sie typische [naturalistische] Themen aufnimmt« (Zophoniasson-Baierl 1985, S. 54) und deutet das nicht weiter ausgeführte Motiv als »eine etwas oberflächliche Konzession an die augenblickliche Mode« (ebd., S. 56). 396 Lessing 1898, S. 25. Auch Fritz Mauthner wertet, wie Romana Weiershausen ausführt, die inkonsequente Umsetzung des Vererbungsmotivs als »ärgsten Streich« und das deutlichste Beispiel für Bernsteins »Anfängerschaft in der Technik« (Mauthner 1892/93, S. 432); vgl. Weiershausen 2004, S. 242. 397 Das Geheimnis und der Nimbus des hier angedeuteten Gegenstands der Sexualität und Sexualmoral zeigen sich im Drama in doppelter Hinsicht als Gefahr: Einerseits in Isoldes aus ihrer Unaufgeklärtheit und Unselbständigkeit herrührendem Hang zur ›Unsittlichkeit‹,
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ritter : Ich sehe gar nicht ein, weshalb das zwischen uns zur Sprache kommen soll. Sinnlos! (Vor ihr stehen bleibend.) Genieren Sie sich denn nicht? sabine: Sie verstehen mich nicht oder wollen mich nicht verstehen. ritter (hilflos die Hände zusammenschlagend): In Kuckuks Namen, ich verstehe Sie nicht. sabine: Sie sollen mir sagen, ob die Möglichkeit einer spezifischen Belastung väterlicherseits ausgeschlossen ist – ritter : Sie meinen wohl, ich weiß, was spezifische Belastung ist? sabine (schweigt einen Augenblick, dann so gleichmäßig wie alles Vorangegangene): Lues. ritter (die Hände in den Hosentaschen, sieht sie verständnislos an. Wiederholt gleichgiltig [sic]): Lues – (langsam den Klang des Wortes sich erinnernd). Was?? (Fährt empor mit beiden Händen an die Stirne, wütend.) Sind Sie verrückt? (In zorniges Gelächter ausbrechend.) Vielleicht trauen Sie mir auch noch zu, daß ich silberne Löffel gestohlen habe. sabine (unbeirrt): Also nein? ritter : Lächerlich! Einfach lächerlich! Und Sie mußten wissen, daß man bei einem gebildeten Menschen – sabine (mitleidig lächelnd): Ach! Die gebildeten Menschen – ritter : So, und die sittlichen Grundlagen – sabines (Gesicht wird ernst und finster): Das Schwächste im geistigen und körperlichen Organismus sind die sittlichen Grundlagen. Das weiß jeder Arzt. ritter : Dann würde ich an Ihrer Stelle voraussetzen, daß ich lüge. sabine (schaut ihn an): Lügen – ihr Kind vielleicht blind machen, das können Sie nicht. Ihre Unkenntnis der Krankheit hat mich irregeführt. Darum mußt’ ich fragen. Sie haben geantwortet – ich glaube Ihnen – Ich werde nochmals nachsehen. (Geht in das Schlafzimmer [Isoldes].) (D, S. 47 f.)
Gerade die in den Regieanweisungen dargelegten, nicht willkürlich zu beeinflussenden Reaktionen Heinrich Ritters verbürgen, dass die erbliche Belastung als Ursache von Isoldes Erkrankung ausgeschlossen werden kann. Dadurch, dass das Vererbungsmotiv im Stück bewusst verworfen wird, rücken als relevante Bedingungsgefüge das Soziale und das Individuell-Psychologische in den Fokus. Anhand der Figuren Sabine Graef und Heinrich Ritter werden im sozialen und psychologischen Bereich – in gewissen Grenzen – Entwicklungsmöglichkeiten vorgeführt, und auch das Konzept der geschlechtlichen Komplementarität erscheint als einlösbar. Dies gilt jedoch nicht für Isolde. Für diese liegt in der später selbstverursachten Erblindung die einzige Möglichkeit der Stabilisierung und Verstetigung ihrer familiären Beziehung – wohlgemerkt derjenigen innerhalb andererseits in der im vorangehenden Kapitel bereits angesprochenen unethischen Behandlungsmethode der Ärzte. Das an den darwinistisch-monistischen Diskurs anknüpfende pädagogische Programm der Sexualaufklärung, das im nachfolgenden Kapitel 3.2.6 noch genauer zu umreißen ist, wird hier im Stück mit Blick auf die Frage nach den Bedingungen einer gelungenen Charakterentwicklung in der (weiblichen) Adoleszenz als relevant markiert.
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der Herkunftsfamilie, aus der sie eigentlich im Sinne einer geglückten Entwicklung heraustreten müsste. So fasst Weiershausen zusammen: Für Isolde, die selbst nichts darstellt, wird die Krankheit zum Mittel, das ihr das Mitleid des Vaters garantiert. Die Erblindung, die sie sich aktiv wünscht, um der sich entwickelnden Beziehung zwischen ihrem Vater und Sabine Graef etwas entgegensetzen zu können – »wär’ ich ihr doch ins Messer gefahren, daß sie mir das Aug’ zerschnitten hätte« [D, S. 124] – tritt schließlich als Folge des Selbstmordversuchs ein. Damit ergibt sich für die Krankheit der Tochter eine bemerkenswerte Kausalität: Ihr Erblinden ist in Dämmerung nicht die Folge physiologischer Zwangsläufigkeiten, sondern einer psychisch bedingten Ausweglosigkeit, die ihre Grundlage in einer fehlgeleiteten Erziehung hat.398
Versteht man wie Weiershausen die Figur der Sabine Graef als Repräsentantin einer neuen ›Weiblichkeit‹, die durch ihre Entwicklung im Drama von ihrer einseitigen Spezialisierung im Bereich des Verstandes zu einer Entfaltung der Sphäre des Gefühls die Notwendigkeit illustriert, dass beide Sphären der Kultivierung bedürfen, wird an Isoldes Intervention deutlich, wie fragil dieser Entwurf noch ist. Als Verkörperung des tradierten bürgerlichen Konzepts weiblicher Erziehung steht Isolde damit tatsächlich für eine ›Hypothek der alten Zeit‹. Die Überwindung dieser gesetzten Grenze der individuellen Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten stellt die im Stück entworfene Konstellation nur anhand einer Erneuerung der gesellschaftlichen Bildungskonzeption und (Sexual-)Moral in Aussicht. Insgesamt lässt sich Dämmerung als das für Bernsteins Positionierung innerhalb des Naturalismus wichtigste Drama als eine spezifische Diskursivierung von Bölsches Konzept der ›indirekten Vererbung‹ lesen. In seiner GrundlagenSchrift expliziert Bölsche dieses wie folgt: Die indirecte Vererbung, das unbrauchbare Alte, das uns in unserer Bildung, durch unsere Umgebung allenthalben belastend in’s Gehirn gegraben wird, tausend begabte Köpfe im Kampfe mit dem lebendigen Neuen zu Tode hetzt, uns als unechte Religion, veraltete Moral, conventioneller Humbug, historische Entartung und was sonst noch alles, den Geist trübt und für die Ziele der Gegenwart blind macht: das ist durchschnittlich weit gefährlicher, als die dunklen chemischen und physikalischen Mächte, die hier oder dort eine Familie in allen Phasen des Wahnsinns untergehen lassen oder an den geschlechtlichen Fähigkeiten eines unschuldigen Nachkommen die sexuellen Verrücktheiten des Urgroßvaters rächen. Es sind harte, unerbittliche Gesetze im Einen, wie im Andern, aber im letzteren Falle haben sie mehr von jener dunklen Tragik, die allen Geschehen der Natur geheimnisvoll zu Grunde liegt, im ersteren sehen wir den Kampf menschlich lebhafter und näher vor Augen, wir fühlen die Schmerzen, wie die
398 Weiershausen 2004, S. 242.
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Triumphe innerlich blutiger und siegesstolzer mit, weil wir mehr verstehen und stärker durchfühlen, dass die Sache auch einmal anders werden könnte durch unser Zuthun.399
In Bernsteins Drama Dämmerung wird durch den zunächst anzitierten und dann deutlich verabschiedeten naturalistischen Topos der ›Sünden der Väter‹ das biologische Vererbungstheorem hintergrundiert und stattdessen der Fokus auf die von Bölsche skizzierte »indirecte Vererbung« gelegt: Die Ursache für das Augenleiden der Tochter liegt nicht in einer »sexuellen Verrücktheit[]« des Vaters, und das eigentliche Leiden Isoldes erweist sich gerade als nicht physischer Natur : Nach der erfolgreich verlaufenen Operation durch die Ärztin Sabine Graef scheint Isoldes völlige Genesung gewährleistet. Was den guten Ausgang und die gelingende Paarbeziehung Heinrich Ritters und Sabine Graefs – und letztlich auch einen potentiell glückenden Austritt Isoldes aus der Herkunftsfamilie – verhindert, ist mit Bölsche gesprochen »das unbrauchbare Alte, das uns in unserer Bildung, durch unsere Umgebung allenthalben belastend in’s Gehirn gegraben wird«400. Anders als Osvald Halving in Henrik Ibsens Drama Gespenster (1884, im Original 1881), bei dem am Ende des Stücks die gefürchtete Gehirnparalyse seiner väterlich ererbten Syphiliserkrankung401 ausbricht und ihn ›schwachsinnig‹ – hier ganz wörtlich im Sinne des Versagens seiner Sinneswahrnehmung zu verstehen – immer wieder nach der Sonne fordern lässt, wird Isolde nicht Opfer der ›Sünden der Väter‹ bzw. einer biologischen Determiniertheit. Stattdessen erblindet sie infolge ihres eigenen aktiven Handelns, das jedoch – anders als etwa in Bernsteins Wir Drei (1893) – nicht in eine ›Selbsterlösung‹ und Subjektwerdung mündet, sondern eine bereits zuvor bestehende Abhängigkeit nun für immer zementiert.
399 Bölsche 1976 [1887], S. 20 f. 400 Bölsche 1976 [1887], S. 20. 401 Vgl. Sprengel 1998b, S. 79 f. Wie Sprengel hier zu Recht hervorhebt, finden sich im Stück jedoch auch zahlreiche Andeutungen darauf, »daß Oswald [sic] außerdem den Zug zu einem unsittlichen Lebenswandel von seinem Vater geerbt hat und insofern Gelegenheit zu einer Primärinfektion [mit Syphilis] besaß« (ebd., S. 80). Diese Verzahnung von biologischer und sozialer Determiniertheit ließe sich möglicherweise im Rahmen einer detaillierten Analyse näher aufdröseln. Zu berücksichtigen wäre dabei in jedem Fall die klare Unterscheidung von Text- und Figurenebene, die in Kapitel 3.2.4 unter Bezug auf Beßlichs Aufsatz zur ›diagnostischen Wirkungsästhetik‹ als maßgebliche Prämisse deutlich gemacht worden ist. Bis dahin lässt sich mit Sprengel zusammenfassen, dass sich in Ibsens Gespenstern »das Erbe der Vergangenheit als unüberwindbar« (ebd.) erweist. Dennoch scheint die These nicht zu gewagt, dass das Stück ähnlich wie die späteren Dramen Hauptmanns nicht einfach den wissenschaftlich belegten biologischen Determinismus illustriert, sondern im Sinne der literarischen Anthropologie das Bedingungsgefüge zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹ zu fassen versucht, in das der Mensch und sein ›freier Wille‹ eingebunden sind.
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Die in Dämmerung über die Strategie der expliziten Setzung der Vererbungsthese als ›blindem Motiv‹ und ihrer empirischen Widerlegung im Rahmen der (anders als etwa bei Hauptmanns Vor Sonnenaufgang) drameninternen Anamnese vorgenommenen Perspektivierung auf die psycho-sozialen Bedingungsfaktoren verweist auf einen Zusammenhang, der im abschließenden Kapitel 3.2.6 zu beleuchten ist: auf die Verzahnung und schließlich die funktionale Ausdifferenzierung des literarischen und des pädagogischen Diskurses um 1900. Wie vorangehend verdeutlicht wurde, hängt die von Beßlich illustrierte ›diagnostische Wirkungsästhetik‹ naturalistischer Dramatik, die auf eine kritische Hinterfragung biologischer Determiniertheitsannahmen abzielt, eng mit dem Anspruch des literarischen Diskurses auf eine eigene Deutungskompetenz hinsichtlich der ›kulturellen‹ und ›natürlichen‹ Bedingungsfaktoren menschlichen Handelns zusammen. Wie etwa im Rahmen der Analyse von Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1889) zu beobachten war, scheint die positivistisch-naturwissenschaftliche Weltdeutung keine tragfähige Grundlage für die semantische Aktualisierung der Geschlechterkonzeptionen und die Stabilisierung von Paarbeziehungen liefern zu können. Stattdessen führen Dramen wie Vor Sonnenaufgang oder auch Bernsteins Wir Drei anhand von Figuren wie dem lebensfernen Ideologen Loth und der Experimentatorin Sascha – die beide als Anthropologen agieren, beide jedoch zugleich einen aufklärerischen Führungsanspruch erheben – ein Auseinandertreten von Theorie und Empirie, von ›wissenschaftlicher‹ Objektivität und Lebenswirklichkeit vor. Das folgende Kapitel, das den zweiten Hauptteil der Untersuchung abschließt und die vorangegangenen Analysen zur naturalistischen Diskursivierung der Geschlechterkrise an die Ausführungen zu Etablierung und Wandel der Geschlechtersemantik im ersten Hauptteil rückzubinden sucht, stellt zugleich einen ersten Ausblick der Arbeit dar. Im Prozess der Ausdifferenzierung der literarischen Moderne und der zunehmenden Pluralisierung konkurrierender ästhetischer Programme lässt sich nach dem wirkungsästhetischen Fokus des Naturalismus etwa im Kontext des Ästhetizismus ein erneuter Autonomisierungsversuch der Literatur beobachten. Der innerhalb der heterogenen naturalistischen Programmatik verhandelte Anspruch der sozialreformerischen Wirkmächtigkeit der (›naturwissenschaftlich erneuerten‹) Literatur geht zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom Bereich der ›literarischen Avantgarde‹ vor allem auf den Bereich der Pädagogik über.
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3.2.6 Zusammenfassung und Ausblick: ›Natur‹, ›Geschlecht‹ und ›Perfektibilität‹ im literarischen und pädagogischen Diskurs um 1900 Die diskursive Verzahnung von Literatur und Pädagogik ist um 1900 zunächst nichts genuin Neues. Wie im ersten Hauptteil der Arbeit ausgeführt wurde, hat sich die für die bürgerliche Gesellschaftsordnung konstitutive Komplementärsemantik der Geschlechter gerade im diskursiven Zusammenspiel literarischer Entwürfe, pädagogischer Streit- und Erziehungsschriften sowie kulturkritischgesellschaftstheoretischer Abhandlungen herausgebildet und konsolidiert.402 Nachdem sich von der Mitte des 18. bis Anfang des 19. Jahrhunderts der pädagogische als spezifischer Diskurs etabliert hat, innerhalb dessen die dem komplementären Geschlechtermodell gemäße Erziehung von Knaben und Mädchen diskutiert wurde und die jeweiligen Bildungskonzepte über die entsprechenden häuslichen und außerhäuslichen Bildungs- und Sozialisationsanstalten nach und nach institutionalisiert wurden, lässt sich eine zweite Etappe der Konsolidierung dieses Diskurses beobachten. So differenziert sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die fachwissenschaftliche Pädagogik aus, die als Beobachtungsinstanz zweiter Ordnung die bürgerlichen Bildungseinrichtungen reflektiert und einer Kritik unterzieht. Die sogenannte »Reformpädagogik«403, für die Ellen Keys stark rezipierter Band Das Jahrhundert des Kindes (1900) als ein zentrales Gründungsdokument gelten kann,404 konstituiert sich um 1900 als gesellschaftliche Erneuerungsbewegung, die anhand der entwicklungstheoretischen Aktualisierung des Naturbegriffs die als schädlich wahrgenommene – da gegen die ›natürlichen‹ Anlagen des Kindes gerichtete – Bildungs- und Erziehungskonzeption kritisiert und reformieren will.405 Auf der Basis der teleologischen »Lesart« der Evolutions402 Exemplarisch manifestiert sich diese diskursive Verquickung etwa bei Jean-Jacques Rousseau, der alle drei genannten Diskursbereiche bedient (vgl. Kapitel 2.1.4). 403 Vgl. dazu Winfried Böhms knappe Geschichte der Pädagogik (2010). Unter der »Reformpädagogik« lässt sich mit Böhm »allgemein jene um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aufkommende Kritik an dem in nahezu allen entwickelten Industrienationen aufgebauten und organisierten Schulsystem« verstehen, »eine Kritik, die sich dann von der Schule auf die gesamte Erziehung ausdehnt« (Böhm 2010, S. 112). Siehe grundlegend auch den Artikel von Jürgen Oelkers im Historischen Wörterbuch der Pädagogik (2004). 404 Vgl. Böhm 2010, S. 110. Rainer Maria Rilke rezensiert das Buch der schwedischen Reformpädagogin und Essayistin am 8. Juni 1902 im Bremer Tageblatt und Generalanzeiger und affirmiert dort das Konzept der ›natürlichen Entwicklung‹, das Ellen Key einer als kindes- und lebensfeindlich aufgefassten ›Erziehung‹ gegenüberstellt (vgl. ebd., S. 110 f.). Für einen Überblick zu »Jugendkult, Reformpädagogik und Jugendbewegung zu Beginn des ›Jahrhunderts des Kindes‹« siehe den Beitrag von Justus H. Ulbricht (2000). 405 Vgl. den Überblick von Böhm zu den Erziehungskonzeptionen im »Schnittpunkt von Natur, Gesellschaft und Person« (S. 107 – 124), die seit Rousseau bzw. Leibniz mit einer »Absolutsetzung der Natur in den Theorien einer ›natürlichen Erziehung‹« operieren und
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theorie, die den Gedanken der Perfektibilität entgegen der eigentlichen Ausklammerung der Teleologie in Darwins Theoriemodell wieder einsetzt, operiert die sich herausbildende fachwissenschaftliche Pädagogik mit einem anthropologischen Ansatz, der in deutlichem Widerspruch zu den Positionen der ›weiblichen Anthropologie‹ um 1900 steht, die den Perfektibilitätsgedanken – wie in Kapitel 2.2.4 gesehen – zugunsten einer radikalisierten Differenzhypothese verabschieden: Der Mensch wird als ein Wesen betrachtet, das sich organisch aufgrund keimhafter Entwicklungstriebe von innen heraus entwickelt. Seine ›Anlagen‹ tragen die Tendenz zu ihrer vollkommenen Ausfaltung in sich selber; die Entwicklung folgt inneren, dem Kinde eingeborenen Gesetzen. Erziehung ist wesentlich nachgebende Hilfe und Unterstützung der naturhaft wirksamen Kräfte. Grundlage der wissenschaftlichen Pädagogik wird die theoretische Erforschung und die praktische Befolgung der Gesetze der kindlichen Entwicklung.406
Die enge Verzahnung von literarischem und pädagogischem Diskurs,407 bei der die monistische Umformung des Darwinismus eine entscheidende Rolle spielt, eine »Umdeutung der Erziehung zu einer organischen Selbstentfaltung« vornehmen (Böhm 2010, S. 108). 406 Böhm 2010, S. 111. 407 Siehe dazu auch die Ausführungen von Eva Klingenstein zur Präsenz literarischer Texte in der Wiener Frauenpresse um 1900 (vgl. Klingenstein 1997, S. 102 – 128) und die funktionsanalytische Untersuchung der Zeitschriftenliteratur (vgl. ebd., S. 129 – 162). Hier leistet Klingenstein zunächst eine überzeugende Abgrenzung von normativ vs. historisch definierter ›Trivialliteratur‹ und setzt schließlich dem literaturwissenschaftlich problematischen (und bereits in den 1970er Jahren problematisierten) Begriff den wertneutralen Terminus der ›Referenzliteratur‹ gegenüber : »In der traditionellen Semantik verweist der Terminus der ›Referenz‹ auf die ›Beziehung zwischen dem sprachlichen Ausdruck […] und dem Gegenstand der außersprachlichen Realität, auf den sich der Ausdruck bezieht‹. In Analogie dazu sollen hier mit ›Referenzliteratur‹ diejenigen Texte charakterisiert werden, die sich vor allem durch die Beziehung zwischen literarischem Ausdruck und dem Gegenstand der außerliterarischen ›Realität‹, auf den sich der Ausdruck bezieht, bestimmen lassen. D.h., daß damit Texte bezeichnet sind, die im Gegensatz zu selbstreferentieller Hochliteratur ihre Bedeutung erst durch die Abgleichung mit einem außerliterarischen Kontext gewinnen, in den sie gestellt sind und in dem sie überhaupt erst entstehen.« (Ebd., S. 146 f.) Diese funktional gerichtete Definition ist im Kern durchaus anschlussfähig – allerdings stößt sie dort an ihre Grenze, wo die generalisierte Aussage in Bezug auf die ›selbstreferentielle Hochliteratur‹ sich als Wesensbestimmung entpuppt, die der Empirie nicht standhält: Literatur, egal ob ›Höhenkamm‹ oder nicht, steht als Form der ›Kommunikation‹ immer schon in Bezügen zur außerliterarischen Realität. Eine absolute Funktionsunterscheidung ist aufgrund der komplexen Produktions- und Rezeptionszusammenhänge letztlich nicht möglich. Geht man jedoch von einer graduellen Skala aus, bietet Klingensteins Kategorie der ›Referenz‹ bzw. ›Referentialität‹ eine produktive Basis der systematischen Unterscheidung von Texten. Das graduell verstandene Differenzkriterium der ›Referentialität‹ lässt sich auch mit dem stärker strukturalistisch ausgerichteten Bestimmungsversuch von Hans Dieter Zimmermann verbinden, der den Terminus der ›Schema-Literatur‹ als nicht-normativen Beschreibungsbegriff vorschlägt (vgl. Zimmermann 1979, in 2. Aufl. 1982 unter dem pointierten Titel Trivialliteratur? Schemaliteratur!).
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wird im Folgenden anhand exemplarischer Quellen pädagogischer und naturalistischer Programmatik zu veranschaulichen sein. Die leitende These dieses Kapitels ist dabei, dass die naturalistische Literatur für den pädagogischen Diskurs relevante ›Fallbeispiele‹ geliefert hat, auf die sich dieser in seinem Anspruch auf Reformierung der Erziehungsinstitutionen stützt. Während die naturalistische Dramatik innerhalb ihrer literarischen Fallbeispiele die biologischen, sozialen und psychischen Bedingungsgefüge menschlichen Handels abtastet und auf die Grenzlinien der Entwicklungsmöglichkeiten fokussiert, setzt die fachwissenschaftliche Pädagogik die Veränderlichkeit des Menschen als Prämisse an. Der systemeigene Code kann nicht Biologie, sondern muss Sozialisation als entscheidenden Faktor ansetzen. Wie in den vorangehenden Kapiteln deutlich wurde, hat die naturalistische Dramatik mit ihrer ›diagnostischen Wirkungsästhetik‹ und ihren literarischen Fallbeispielen die Diskursmuster geprägt, auf die die Pädagogik um 1900 zurückgreifen kann. So wird das Konzept der ›Natürlichkeit‹, das schon innerhalb der Programmatik des Naturalismus und seiner Selbstkonstitution als ›literarische Moderne‹ im Zentrum stand, auch innerhalb der ›neuen Pädagogik‹ zentral. Im Kontext der fortschreitenden Institutionalisierung und Verwissenschaftlichung der Kindererziehung und Schulbildung im 19. Jahrhundert wird vor allem im Rahmen der sogenannten Reformpädagogik die Frage nach der ›richtigen‹ Erziehung von Kindern gestellt. Diese Thematik war bereits im 18. Jahrhundert äußerst virulent und wurde – speziell mit dem Blick auf die geschlechtlich differenzierten Erziehungsziele – kontrovers diskutiert.408 Insgesamt lässt sich für das 18. Jahrhundert beobachten, dass Fragen der Kindererziehung ein zentraler Stellenwert im öffentlichen Diskurs zukommt. Da die Familie, wie im ersten Hauptteil der vorliegenden Arbeit ausgeführt, als bürgerliche Sozialisationsagentur fungiert, ist der diesbezüglich hohe Bedarf konzeptueller und handlungspraktischer Abstimmung nicht verwunderlich.409 Zwei miteinander verknüpfte Prozesse lassen sich im 19. Jahrhundert beobachten: Zum einen die fortschreitende Institutionalisierung und Professionalisierung der Pädagogik, zum anderen deren Popularisierung, wie sie sich in der im Laufe des 19. Jahrhunderts zur wahren Flut anwachsenden Ratgeberliteratur »materialisiert«.410 Der Markt für diese Gattung bzw. Textsorte411 (ent)steht im 408 Siehe Kapitel 2.1.4. 409 Vgl. etwa Gestrich 2005 zur familialen Werteerziehung im deutschen Bürgertum um 1800, sowie Nassen 1982 zur Vermittlung bürgerlicher Affekt- und Verhaltensstandards in der Kinder-, Jugend- und Ratgeberliteratur des späten 18. Jahrhunderts. 410 Vgl. dazu den 2009 erschienenen Beitrag von Daniela Richter zum Engagement deutscher Bürgertumsfrauen in der Kindererziehung des 19. Jahrhunderts, der das treffende Zitat »Lasset eure Kinder Menschen werden« im Titel trägt. Richter hebt mit Blick auf die pädagogische Ratgeberliteratur hervor, dass die maßgebliche Beteiligung von Frauen an
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Kontext des umfassenden gesellschaftsstrukturellen und semantischen Wandels und der Herausbildung der bürgerlichen Führungsschicht. Dieser Prozess geht, wie oben bereits ausgeführt, mit einem hohen Reflexions-, Strukturierungs- und Stabilisierungsbedarf einher. Hier greift nun die Basisfunktion von Gattungen, seien es literarische oder nicht-literarische, die sich auf der textinternen und auf der textexternen Ebene verorten lassen: Neben der internalen Ordnungsfunktion von Gattungsunterscheidungen führt Doris Tophinke in ihrem Überblick zu universalen Aspekten kommunikativen Handelns die externale Funktion der Strukturierung von Kommunikationsprozessen an,412 auf die bereits Wilhelm Voßkamp in seinem grundlegenden Beitrag zu Gattungen als ›literarisch-sozialen Institutionen‹ hingewiesen hat.413 Raymund Wilhelm, der Gattungen in ihrer historischen Doppelstruktur aus Tradition und Innovation und ihrem strukturell-inhaltlichen Spannungsverhältnis aus Norm und Abweichung als »habitualisierte, einem stetigen Wandel unterworfene Regelkomplexe«414 bezeichnet, verweist in seinem Artikel »Diskurstraditionen« in Abgrenzung zu soziolinguistischen Ansätzen stärker auf den Aspekt der Traditionalität als auf den der Funktionalität von Gattungen. Die beiden Dimensionen der textuellen und diskursiven Strukturierung kommunikativer Prozesse durch Gattungen, die Tophinke anführt, sind jedoch auch für seine Überlegungen grundlegend, wie sein Verweis
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der Entwicklung der Familienkultur im 19. Jahrhundert in der Forschung noch immer erstaunlich wenig zur Kenntnis genommen werde (vgl. Richter 2009, S. 142). Mit dieser Einschätzung unterstreicht Richter das Desiderat, das Ulrich Engelhardt bereits 1992 in seinem für die Ausführungen in Kapitel 2.1 grundlegenden Beitrag zur normativen Platzierung der Frau als ›Kulturträgerin‹ in der bürgerlichen Gesellschaft skizziert hat, dass nämlich der Blick von der pauschalisierenden Repressionshypothese weg auf eine differenzierte Analyse der Konstitutionsprozesse von ›sozialer Wirklichkeit‹ hin geöffnet werden muss. Der Begriff ›Textsorte‹ ist tendenziell offener als der der ›Gattung‹, der trotz der innerhalb der Literaturwissenschaft nachvollzogenen Öffnung des historisch als geschlossen konzipierten (triadischen) Gattungsmodells noch die »Basisunterscheidung« von ›Lyrik‹, ›Dramatik‹ und ›Epik‹ bzw. ›Prosa‹ impliziert. In seinem sprach- wie literaturwissenschaftlich fundierten Beitrag zu Diskurstraditionen und -gattungen verwendet Raymund Wilhelm die Termini ›Textsorte‹ und ›Gattung‹ nicht synonym, sondern als Hyponyme zum Hyperonym ›Texttyp‹. Wilhelm verweist diesbezüglich auf die in der literaturwissenschaftlichen Gattungslehre wie auch in der Textlinguistik gängige Unterscheidung zweier Texttypenbegriffe: »Texttypen können zum einen als klassifikatorische Konstrukte, zum anderen als historisch beschreibbare, im Bewußtsein der Sprecher/Schreiber verankerte Normen aufgefaßt werden […]. Im ersten Fall möchte ich von ›Textsorten‹, im zweiten Fall von ›Gattungen‹ sprechen« (Wilhelm 2001, S. 468 f.). Tophinke 2001, S. 49. Vgl. Voßkamp 1977. Dass Gattungen zwar für Produzenten und Rezipienten von Texten als »verlässliche«, d. h. relativ stabile Schemata wahrgenommen werden, aber dennoch historischem Wandel unterliegen, folgt dabei aus der wechselseitigen »Komplementarität von Gattungserwartungen und Werkantworten« (ebd., S. 30). Wilhelm 2001, S. 470.
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auf die Rezipientenseite verdeutlicht: »Als Normen der Textproduktion und Textrezeption sind die Gattungen im Bewußtsein der Sprecher verankert. Sie sind in erster Linie als ›Gattungsvorstellungen‹ zu beschreiben.«415 Gattungen haben als gesellschaftlich herausgebildete, textuelle Schemata im skizzierten Sinne die Funktion, »die Gegenwart zu vermitteln und zu regulieren, aber auch die Vergangenheit zu rekonstruieren sowie die Zukunft zu projektieren«.416 Wie Tophinke zusammenfasst, strukturieren Textgattungen also zum einen »die alltägliche und mit alltäglichen Inhalten befaßte Kommunikation, bestätigen damit alltägliches Wissen sowie alltägliche Praktiken und erzeugen auf diese Weise ein ›kommunikatives Gedächtnis‹«, zum anderen rekonstruieren sie »die großen Daten der Geschichte und schaffen so ein ›kulturelles Gedächtnis‹«.417 Neben die inhaltliche Ebene tritt zudem noch eine metastrukturelle: In beiden Fällen kommen Zuschreibungen von Verbindlichkeitsgraden, von Wahrheits- und Geltungsansprüchen hinzu, die die Erwartung an die von den Textgattungen strukturierten Kommunikationsprozesse sowie die Orientierung an ihnen weitergehend regulieren[.]418
Gattungen – literarische wie außerliterarische – tragen also in diesem Sinne immer schon ihre eigene Rezeptionsanleitung in sich bzw. konstituieren über die Struktur des Textes hinaus zugleich die jeweiligen Kontexte, in denen der Text im Sinne eines Kommunikationszusammenhangs steht. Das Genre bzw. die Textgattung der Ratgeberliteratur, die sich seit Ende des 18. Jahrhunderts parallel zu 415 Wilhelm 2001, S. 469. 416 Tophinke 2001, S. 49. 417 Tophinke 2001, S. 49. Besonders deutlich wird diese Orientierungs- und Strukturierungsfunktion an der Gattung der Konversationslexika, die im 19. Jahrhundert einen publizistischen Siegeszug antraten. Claude D. Conter fasst deren Funktionalität und programmatischen Anspruch zusammen: »Als eine neue Form des standardisierten und institutionellen Wissens wurde zudem das Konversationslexikon zu einem populären Medium der Wissensvermittlung, d. h. zu einer Schnittstelle für das Zusammentreffen von den Bestrebungen nach Wissensverbreitung und von der Entwicklung der Massenkommunikation. Dabei knüpfen die Konversationslexika ab 1820 bewusst an die Volksaufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts an, indem sie zunächst auf die Verbreitung nützlicher Kenntnisse hinweisen, wobei der Nutzen für das Alltagsleben evident sein sollte.« (Conter 2008, S. 28) Der Gattungswandel vom Projekt der ›Enzyklopädie‹ hin zum Konversationslexikon ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines paradigmatischen Wandels der Auffassung von Sprache zu betrachten, die in der philosophischen Diskussion immer weniger als Erkenntnisinstrument und immer mehr als Medium der Kommunikation und des Ausdrucks von Gedanken verstanden wurde; vgl. dazu den historisch-systematischen Überblick zur Sprachphilosophie von Elisabeth Leiss (2009). Die ›Sprachkrise‹ im Sinne einer Erkenntniskrise verschärft sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend und stellt bekanntermaßen ein wesentliches Bezugsproblem der Literatur der Jahrhundertwende dar (exemplarisch verwiesen sei auf Hofmannsthals Ein Brief [1902] oder auch Musils Törleß [1906]). 418 Tophinke 2001, S. 49.
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den periodisch erscheinenden Massenmedien419 – und dem entsprechenden Massenpublikum – etabliert hat,420 markiert nun ihren ubiquitären Wahrheitsund Geltungsanspruch in deutlichster Weise und steht damit den illustrierten (Unterhaltungs-)Zeitschriften in Hinblick auf den Einsatz reklamewirksamer Rhetorik und umfangreicher Bebilderung in nichts nach.421 Nicht zu vernachlässigen ist dabei der enge diskursive Zusammenhang zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Texten. In ihrer Untersuchung zum historischen Bezugsproblem von Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie (1895) zeigt Katja Mellmann, wie ein fiktional-literarischer Texte inhaltlichstrukturell auf zeitgenössische Ratgeberliteratur Bezug nimmt – und wie schließlich Textsortengrenzen produktiv überschritten werden. Während Reuters Roman als überzeugende literarische Darstellung einer auch innerhalb der Ratgeberliteratur adressierten und als akut und virulent wahrgenommenen »sociale[n] Massenerscheinung«422 bewertet wurde – nämlich der Problematik, dass mehr und mehr junge bürgerliche Frauen aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen nicht in den Stand der Ehe gelangten, sondern der Ausbildung zur Ehe zum Trotz unverheiratet blieben –, stehen etwa die Erfolgsromane Eugenie Marlitts den Anstands- und Lebenshilfebüchern für (bürgerliche) Mädchen und Frauen funktional äußerst nahe. Wie in den Ratgebern so geht es auch in den Marlitt’schen Liebesromanen um das Einüben des bürgerlichen Eheideals, um »das Zueinanderfinden zweier komplementär charakterisierter, allein 419 Vgl. Faulstich 2002 sowie 2004. 420 Einen spezifischen Überblick gibt etwa die Anthologie von Günter Häntzschel zur Bildung und Kultur bürgerlicher Frauen 1850 – 1918, die eine Vielzahl an Quellen aus dem publikationsreichen Feld der »Anstandsbücher und Lebenshilfen für Mädchen und Frauen« bereitstellt (Häntzschel [Hg.] 1986). 421 Siehe etwa die mit der Abbildung einer in ein Buch vertieften (Haus-)Frau illustrierte Werbeanzeige auf dem Rückumschlag des 84. Heftes von Möller’s Bibliothek für Gesundheitspflege und Volksaufklärung, Hauswirtschaft und Unterhaltung (1911): »Es ist dieser Tage ein Buch erschienen, das bald in dem Besitze jeder Frau sein wird. Es ist ›Das Praktische Frauenbuch‹, das in seiner Fülle und Reichhaltigkeit ohne gleichen ist. Es lehrt die Frau richtig handeln in allen Lebenslagen: im Glück und im Unglück, in der Gesundheit und bei Krankheiten, als junge Mutter, die ihren Mutterfreuden entgegensieht und als Mutter in der Pflege ihres Sprößlings. Es sagt, wie man schön wird und schön bleibt. Es tischt eine Menge praktischer Kochrezepte auf, gibt Winke für Haus und Hof, für den gesellschaftlichen Verkehr und informiert über die Rechte und Pflichten der Frau als Tochter, Gattin, Mutter und Hausherrin. Alles was die Frau angeht, ist in dem Buche enthalten. Es ist ein Born, aus dem die Frau täglich schöpfen kann und der doch unversiegbar bleibt. […] Zwei Prachtbände! 1000 Seiten stark. Ueber 2000 Abbildungen, 10 farbige Tafeln und ein zerlegbares Modell des weiblichen Körpers. Preis elegant gebunden nur 12 Mark. […]« 422 So formuliert es 1898 der Rechtswissenschaftler Eugen Ehrlich in einem Essay, der eine klare Lektüreempfehlung für Reuters Roman ausspricht; vgl. Mellmann 2008, S. 2. Abgedruckt ist der Essay im Materialienband der von Mellmann 2006 besorgten Neuedition von Reuters Roman.
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jeweils defizitärer Individualitäten«.423 In Anbetracht dieser Sozialisationsfunktion stand die Lektüre der entsprechenden Romane nicht unter gesellschaftlichem Vorbehalt: Im Unterschied etwa zu dem lesedidaktischen Feldzug der Spätaufklärung gegen die ›Romanenliebe‹ der Frauen genoss der triviale Liebes- und Familienblattroman des 19. Jahrhunderts die Zustimmung weiter Kreise als sittigender Einfluss auf das weibliche Geschlecht, das mit der Lektüre solcher Romane seine Kompetenz für das Erkennen ›wahrer Liebe‹ – und damit seiner Kompetenz für eine kluge Wahl unter den erschwerten Bedingungen des ›Heiratsmarktes‹ – schulte.424
Auch hier ist aber – wie Mellmann in ihrem Beitrag ebenfalls betont – von der Unterstellung einer intentionalen Struktur abzusehen: Nicht der Erhalt des Patriarchats ist es, worauf die Ratgeber für junge Frauen abzielen, sondern die Vorbereitung auf eine glückende Ehe und damit die Einlösung der tradierten Vorstellung weiblicher Perfektibilität in der Ergänzung der polaristisch charakterisierten Geschlechter und der Erfüllung der jeweiligen Rollenkonzeption. Wo die bürgerliche Basiseinheit ›Familie‹ nicht zustande kommt, wo also die Verehelichung junger Frauen nicht gelingt und diesen die Versorgung in der Ehe aufgrund der gesellschaftlichen Lebensrealität versagt bleibt, muss nach Auffassung zeitgenössischer Ratgeberautorinnen wie Marie Calm, Caroline S. J. Milde oder Julie Burow die Bildungskonzeption dieser Tatsache Rechnung tragen.425 Calm und Milde streichen dabei in ihren Ausführungen heraus, dass die weibliche Rollentrias von ›Gattin, Hausfrau und Mutter‹ ohne Zweifel der »natürliche Beruf«426 der Frau sei – und demnach der Weg, auf dem weibliche Perfektibilität zu erlangen ist. Dieser Umstand weist eine emanzipatorische Lesart und undifferenzierte Subsumption der entsprechenden Darstellungen unter das Schlagwort der ›Frauenbewegung‹ in ihre Schranken: Wie Katja Mellmann anschaulich am 423 Mellmann 2008, S. 11. 424 Mellmann 2008, S. 11. Vgl. dazu auch Stegmann 2006, S. 26 zur Prüderie des Familienblattromans und dessen Orientierung an gesellschaftlichen Konventionen. Stegmann spricht hier von der Herausbildung einer »eigenständige[n] Familienblattmoral, die auf Dauer zu einer anachronistischen Bevormundung insbesondere junger Frauen als Leserinnen führte, die für unmündig erklärt wurden, was vonseiten der neuen bürgerlichen Frauenbewegung nach 1900 auf heftige Kritik stoßen sollte« (Stegmann 2006, S. 26). 425 Vgl. die Darstellung bei Mellmann 2008, S. 4 – 7. 426 Vgl. Mellmann 2008, S. 5. Bei Burow findet sich demgegenüber eine De-Ontologisierung der geschlechtlichen Rollenzuordnung: die Ehe erscheint als wählbarer Beruf, nicht als weibliche Berufung: »Im Unterschied zu Calm (1832 – 1887) und Milde (1830 – 1903) ist bei Burow (1806 – 1868), die noch der Vormärz-Generation angehört, in der Tat eine emanzipatorische Selbstverwirklichungssemantik anzutreffen. Doch das Bezugsproblem dieser eher offensiven als defensiven Strategie ist dasselbe: ›Die Ehen werden seltener, die Zahl der einsam bleibenden Mädchen mehrt sich.‹« (Mellmann 2008, S. 6 f.)
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Quellenmaterial herausarbeitet, schließen sich die tradierte Geschlechterkonzeption mit dem zugrunde liegenden Komplementärmodell und die Forderung nach einer auf berufliche Tätigkeit ausgerichteten Mädchen- und Frauenbildung keineswegs aus, wenngleich mit der explizit gemachten Möglichkeit der Teilnahme von Frauen an der Berufswelt die grundlegende geschlechterbezogene Unterscheidung von privater und öffentlicher Sphäre in Frage gestellt wird. In diesem Kontext lässt sich jedoch beobachten, wie die Charakterologie der Geschlechter als produktives Schema herangezogen wird, um ›zulässige‹ von ›unzulässigen‹ weiblichen Berufsfeldern zu unterscheiden. Als sinnvolle Berufsfelder werden dabei all die Tätigkeiten aufgefasst, die den als genuin weiblich verstandenen Wesenszügen – der Fürsorglichkeit, Dienstbarkeit, etc. – entsprechen; die Semantik des privaten Raums mit der zugeordneten familiären Fürsorgefunktion der Frau wird damit auf Bereiche des öffentlichen Raums ausgeweitet und der inhärente Grundkonflikt, der in der ›Aufweichung‹ der konstitutiven Opposition liegt, wird gewissermaßen semantisch ausgehebelt.427 Bei dieser »semantischen Anstrengung« wird deutlich, dass die Kategorie des ›Natürlichen‹ – neben der des ›Realismus‹ im Sinne der lebenspraktischen Referenz – zu den zentralen Aspekten gehört, die die Debatte um Erziehung und Bildung um 1900 strukturieren, und auch der bürgerlichen Frauenbewegung die Zielrichtung vorgibt. So unterscheidet Thekla Skorra in ihrem 1898 in der Gesellschaft erschienenen Essay »Wie die ›Bewegungsweiber‹ sich zum Manne stellen« – einer Verteidigungsrede der bürgerlichen Frauenbewegung – zwischen dem ›natürlichen‹ und dem ›kulturellen‹ Beruf der Frau.428 Letzterer ziele ab auf die »Fortentwicklung des ganzen Menschengeschlechts«: Sind doch wir Frauen gerade zu Erzieherinnen des Menschengeschlechts berufen, sowohl von der Natur, wie von der Geschichte; ist doch der Mann vom ersten Keim seines Entstehens an die Fürsorge und Obhut der Frau gegeben.429
Der von Mellmann beobachtete Pragmatismus findet sich auch bei Skorra, die die Notwendigkeit der beruflichen Bildung von Mädchen mit der Gefahr der ausbleibenden Ehe begründet – und eine Aufklärung von Jungen und Mädchen über die »eigene Natur« »auf wissenschaftlichem, naturgeschichtlichem Wege«: Sobald ihre körperliche Reife weit genug vorgeschritten ist, wollen wir dem Mädchen, das den Fortpflanzungsprozeß in der übrigen Natur ja doch schon aus dem Schulunterrichte kennt, sagen: ›Wie die Erde das Samenkorn aus der Hand des Sämanns 427 Siehe dazu besonders Kapitel 2.1.2 sowie 2.1.4 zu den geschlechtsspezifischen Bildungskonzeptionen und Funktionsräumen. 428 Vgl. Skorra (1898), S. 171 f. 429 Skorra 1898, S. 172. Siehe hierzu die Ausführungen zur Affirmation der komplementären Geschlechtersemantik innerhalb der Programmatik der bürgerlichen Frauenbewegung in Kapitel 2.2.2.
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empfängt und in ihrem Schoße birgt und ernährt bis seine Zeit gekommen, und der Keim sich losringt und sein Köpfchen ans Tageslicht streckt, so auch der Mensch.‹ Alles ohne Mystik und ohne Sinnlichkeit. ›Und ihr, meine Töchter, sollt es einmal der Mutter Erde gleichthun und sollt auch Mutter werden, das ist euer natürlicher Beruf. Darum müßt ihr euren Körper und eure Seele rein erhalten, damit ihr dereinst, wenn der rechte Mann sich findet, eure Mutterpflichten voll und ganz erfüllen könnt. Weil wir aber nicht wissen können, ob und wann dieser rechte Mann kommt, darum müssen wir euch auch noch zu einem bürgerlichen Berufe erziehen, damit ihr auch ohne Mutterschaft kein unnützes und darum unbefriedigtes Mitglied der Gesellschaft seid; damit nicht etwa die Notwendigkeit einer pekuniären Versorgung euch zwingt, dem lasterhaften oder ungeeigneten Manne die Hand zu reichen. Treibt dagegen die Liebe euch einem sittlich verkommenen Manne in die Arme, nun so wißt ihr, nach eurer Erziehung, was ihr von einem solchen zu erwarten habt.430
In diesem Erziehungskonzept zeigt sich eine strategische Ausweitung der Semantik des Naturbegriffs, wie sie im Zuge der Darwinismusrezeption ermöglicht wurde: Die ›natürliche‹ Ordnung steht dabei nicht im grundsätzlichen Gegensatz zur ›gesellschaftlichen‹ Ordnung – und somit gibt es auch keinen inhärenten Widerspruch zwischen ›natürlichem‹ und ›bürgerlichem‹ Beruf der Frau –, sondern fungiert als übergeordnetes Bezugssystem. Auf dessen Basis wird innerhalb des pädagogischen Diskurses eine Unterscheidung vorgenommen zwischen der ›natürlichen‹ Entwicklung von Kindern, die es zu fördern gelte, und der ›unnatürlichen‹ gesellschaftlichen ›Verbildung‹, die die freie Entfaltung des Einzelnen mit dem Ziel der bestmöglichen Eingliederung in die Gesellschaft behindere. In Bezug auf die spezifisch weibliche Bildungssituation findet sich diese Gegenüberstellung etwa in Hedwig Dohms bereits zitiertem Essay Die Eigenschaften der Frau (1876), wo sie in Anknüpfung an das Perfektibilitätskonzept die Notwendigkeit einer Pädagogik formuliert, die der ›Natur‹ des Menschen im Allgemeinen gerecht wird und eine freie Entfaltung der spezifisch ›weiblichen Natur‹ ohne gesellschaftliche Überformung ermöglichen soll: Müssen nun die Frauen so sein, wie sie sind, und könnten sie nicht ganz anders sein? Gewiss, sie könnten es. Der Einfluß der Erziehung und Lebenslage auf jeden Einzelnen wie auf ganze Gesellschaftsgruppen ist von unermeßlicher Wichtigkeit. Was kann der Mensch nicht aus den Menschen machen – im Guten wie im Schlimmen! Ebenso wie Energie, Freude an der Arbeit, Ehrgeiz, Rohheit und Genußsucht Resultate der männlichen Erziehung sind, so sind Sentimentalität, Furchtsamkeit, Mangel an Denk- und Körperkraft Resultate der weiblichen Lage und Erziehung. Die Neger, die als Sclaven sich so dumm, tückisch und unzuverlässig erwiesen haben, sie werden nach der völligen Umgestaltung ihrer socialen Stellung und Erziehung auch ihre Gefühls- und Denkweise allmälich umwandeln. 430 Skorra 1898, S. 175.
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Auch die menschliche Seele ist ein Feld, auf dem man das Unkraut ausjäten und edlen Samen einstreuen muß, damit es gute Früchte trage. Die Frauen sind nicht oberflächlich und trivial von Natur, sondern die Erziehung behaftet sie mit diesem Makel, indem sie ihnen diejenigen Beschäftigungen, diejenigen Studien und Gebiete der Thätigkeit vorenthält, an denen selbständiges Denken sich entwickelt.431
Dohm widerspricht in ihrer Schrift der in der wissenschaftlichen Fachwelt zu dieser Zeit vielfach geäußerten Meinung, dass bestimmte Tätigkeitsfelder für Frauen aufgrund ihrer naturgegebenen Eigenschaften nicht geeignet seien, indem sie auf die de facto existierenden Frauen hinweist, die diese Eigenschaften – etwa »Sanftmut, Hingebung, Treue«432 – nicht aufwiesen und somit, nach Ansicht derer, die diese Eigenschaften auf die biologische Beschaffenheit der Frau zurückführen, wider die Natur sein müssten.433 Die körperliche Verschiedenheit der Geschlechter ist für Dohm also kein hinreichendes Argument, die Frau vom Zugang zu bestimmten Gebieten auszuschließen. Das komplementäre Geschlechtermodell mit dem zugrunde gelegten Perfektibilitätskonzept wird bei Dohm – wie auch bei Troll-Borostyni – den Radikalisierungen der geschlechtlichen Differenzhypothese als klar positiv besetzter Entwurf entgegengestellt: Die Unterschiede aber der männlichen und weiblichen Seele mögen sein, welche sie wollen, sie dürfen und sollen die Frauen nicht hindern, nach höchster Vervollkommnung zu ringen. Vervollkommnung aber heißt die schrankenlose Erweiterung der geistigen Erkenntniß und Thätigkeit, und bis zu einem gewissen Grade auch der körperlichen. Wer aber dieser Vervollkommnung willkürlich eine Grenze setzen will, der vertritt das Princip des Bösen, er gehört zu den culturfeindlichen Elementen der Gesellschaft. Dieses innere Drängen des Weibes nach Entwicklung ihrer Kräfte ist nicht eine Corruption der Natur, sondern die inbrünstige Sehnsucht, zu ihr zurückzukehren. Wir suchen noch heut das Ideal des Weibes in einer Richtung, die dem Fortschritt feindlich entgegensteht, und streben darnach, die D r e s s u r zu vervollkommnen. Idealität aber hat nichts zu schaffen mit einer solchen sittlichen Galvanisierung, sondern sie geht Hand in Hand mit der N a t u r . Und das ist der Kampf, der sich in der Seele des Weibes vollzieht – der Kampf zwischen N a t u r und D r e s s u r . Wer in diesem Kampfe siegen wird? Nicht die D r e s s u r ; denn sie ist das Werk abgestorbener Generationen. Aus der Zukunft aber, einer fernen vielleicht, wenn der freien Entwickelung des Weibes 431 Dohm 1976, S. 50 f. 432 Dohm 1976, S. 43. 433 Dohms Strategie, die theoriegeleiteten Aussagen der ›weiblichen Anthropologie‹ durch die Konfrontation mit unstrittigen Fakten als schein-empirisch zu entlarven, wurde in Kapitel 2.2.4 bereits beleuchtet. Ihre satirisch-polemische Rhetorik erinnert dabei streckenweise an Karl Kraus’ rhetorische Entlarvungen der Phrasenhaftigkeit des publizistischen Diskurses um 1900.
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keine Schranke mehr gesetzt ist, wird ein Geschlecht emporblühen, dessen Herrlichkeit wir heut kaum ahnen, ein Geschlecht voll Schönheit und Grazie, voll Kraft und Intelligenz, denn schließlich bleibt die Natur immer Siegerin, weil sie eins ist mit der Wahrheit und unzerstörbar.434
In seinem 1899 erschienenen Essay Zur Kritik der Frauenfrage kehrt Leo Berg dieses von Dohm skizzierte Oppositionsverhältnis von »Natur« und »Dressur« gerade um, wenn er dem ›freien Naturzustand‹ der Frauen die gesellschaftliche »Dressur«435 gegenüberstellt, der die Männer im Rahmen ihrer Rollenanforderungen ausgesetzt seien. Wie an dieser Stelle deutlich wird, ist die Emanzipationsdebatte auch eine Debatte um die Deutung des Naturbegriffs und der Vorstellung von gesellschaftlichem Fortschritt. Das zehnbändige, zwischen 1903 und 1911 in zweiter Auflage erschienene Encyklopädische Handbuch der Pädagogik skizziert unter dem Lemma »Natürlichkeit« die Axiomatik, die für die reformpädagogischen Ansätze der Zeit trotz deren teils unterschiedlicher Ausrichtung in spezifischen Fragen als grundlegend angesehen werden kann. August Kind, der Verfasser des Artikels, führt hier aus: Je und je ist in Kulturvölkern die Forderung erhoben worden, daß die Menschen natürlich sein und bleiben sollten. Das geschieht auch in der Gegenwart. Solcher Wunsch ist berechtigt. Alles Unnatürliche ist etwas Ungesundes. Es gilt nicht, in den Naturzustand zurückzukehren und alle Kultur abzutun, wofür seinerzeit Rousseau eintrat. Denn das ist unmöglich und wäre kein Fortschritt, sondern Rückschritt. Bei dem Verlangen nach Natürlichkeit handelt es sich auch nicht um eine bestimmte Lebensweise, daß wir uns etwa nach den Vorschriften der Naturheilkunde richten müßten. Bei dem Worte Natürlichkeit denkt man vielmehr an einen inneren Zustand, an ein geistiges Gepräge. Den Gegensatz bildet das Gezierte, das Gemachte, das Verbildete.436
Die Gleichsetzung des »Unnatürlichen« mit dem »Ungesunden« gründet sich auf den unter anderem durch Wilhelm Bölsche – den ›Mittler‹ zwischen Naturwissenschaften und Literatur – popularisierten und monistisch umgedeuteten darwinistisch-evolutionären Naturbegriff, der auch innerhalb der Poetologie des Naturalismus zentral ist.437 So wird etwa in Bölsches Grundlagen-Schrift von 1887, die – wie bereits ausgeführt – das Ziel der »Versöhnung« von Literatur und 434 Dohm 1876, S. 55 f. Elsa Bernsteins 1908 erschienenes Drama Maria Arndt greift diesen Diskurs dezidiert auf und formuliert anhand der erprobten Strukturen der ›diagnostischen Wirkungsästhetik‹ naturalistischer Dramen, die den Fokus von der biologischen Determination auf die sozialen Bedingungsgefüge verlagern, eine explizite Absage an die zeitgenössischen Radikalisierungen der Differenzhypothese. 435 Berg 1901 [1899], S. 76. Siehe Kapitel 2.2.4. 436 Kind 1907, S. 125 f. 437 Siehe Kapitel 3.1.2.
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Wissenschaft artikuliert, ein normatives Natürlichkeits- bzw. Normalitätskonzept umrissen, das dem Dichter die Darstellung des »Unnatürlichen« nur zum Zwecke der Kontrastierung gestattet: Die Darstellung von Pathologien, von Krankheit und Leid in der Literatur ist aus Bölsches Sicht nur dann gerechtfertigt, wenn sie das monistische Harmonieprinzip ex negativo bestätigt.438 Auch für die fachwissenschaftlich etablierte Pädagogik ist der darwinistischmonistische Fortschrittsoptimismus grundlegend, trotz der gesellschaftskritischen Haltung. So grenzt Kind das pädagogische Natürlichkeitsaxiom in seinem Artikel klar von kulturpessimistischen Positionen ab, für die im obigen Zitat exemplarisch Rousseau angeführt wird. Die Opposition lautet nun nicht mehr ›Kultur‹ versus ›Natur‹; stattdessen sei ›Natürlichkeit‹ ein »innere[r] Zustand«, ein »geistiges Gepräge«439 des einem ›Kulturvolk‹ zugehörigen Menschen. Der Verfasser unterstreicht die überindividuelle Relevanz des genannten individuellen Zustandes, indem er diesen als von den Kontexten der ›Weltanschauung‹ und der Lebensreformbewegungen unabhängig beschreibt. Dass es nicht um die Gegenüberstellung eines Kultur- und eines Naturzustandes geht – ebenso wenig wie um emphatisch verstandene Individualität440 –, wird auch im folgenden Abschnitt deutlich: Natürlich sein heißt aber nicht: sich gehen lassen. Das ist Unerzogenheit. Ebenso wenig soll damit dem modernen »Sichausleben« das Wort geredet werden. Denn dieses führt zur Rücksichtslosigkeit und Gewissenlosigkeit. Gemeint ist vielmehr eine innere Un438 Siehe Krauß-Theim 1992, S. 63: »Gegenüber dem Endziel der Entwicklungsgeschichte, der Verwirklichung von moralischer und ästhetischer Vollkommenheit, kann das ›Ungesunde‹ im weitesten Sinne nur als eine Variation im Evolutionsprozeß verstanden werden. Kolkenbrock-Netz [1981] hat nachgewiesen, daß der an der biologischen und psychologischen Norm orientierte Normalitätsbegriff Bölsches qualitativ, nämlich ästhetisch bewertet und gegenüber dem ›Kranken‹ zum Ideal verklärt wird. Dabei ist das Allgemeine, Typische, Vollkommene, Harmonische und Schöne mit dem ›Normalen‹ und ›Gesunden‹ identisch, während das Pathologische als individuelle Ausnahmeerscheinung des normalen Allgemeinzustandes erscheint.« 439 Kind 1907, S. 126. 440 Zwar fällt der Begriff der ›Individualität‹, gemeint ist hier jedoch nicht die »radikale« Form einer ›Exklusionsindividualität‹, sondern eine Form der »Eigenart«, die den Einzelnen zwar aus der Masse hervorhebt, aber im Wortsinne der ›Übereinstimmung mit sich selbst‹ zur gesellschaftlichen Inklusion befähigen soll: »Weiter vermag das leidige Verlangen steter Rücksichtnahme die freie Entfaltung der Individualität hintanzuhalten. Wenn Menschen das Übergewicht, das ihnen ihre Lebensstellung gibt, mißbrauchen und immer erwarten und darauf dringen, daß man sich ängstlich nach ihren Ansichten und Wünschen richtet, so werden die zu ihnen im Abhängigkeits- oder Pietätsverhältnis Stehenden leicht verschüchtert, wagen nicht, ihre eigene Art, ob sie noch so gesund ist, geltend zu machen, lassen natürliche Keime, die in ihnen liegen, unentwickelt.« (Kind 1907, S. 126) Auch hier stellt der monistisch ausgelegte Darwinismus die Konzeptebene zur Verfügung, über die die harmonische Verbindung und sinnhafte Verknüpfung des an sich Unterschiedenen und die Entwicklung auf einen höheren Grad der Vollkommenheit hin formuliert werden kann.
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befangenheit und die Treue gegen die eigene gottgegebene Natur. Harmlosigkeit ist ein Zeichen von Natürlichkeit, aber kein Erfordernis für sie. Wer Welt und Menschen kennt, wird nicht mehr harmlos sein können, aber Lebenserfahrung muß mit natürlichem Wesen zusammengehen können. Denn es kommt dabei nur auf die innere Sicherheit und die Wahrung der berechtigten Eigenart an.441
Das Faktum der menschlichen Vergesellschaftung birgt allerdings verschiedene Gefahren, die einer geglückten Entwicklung hin zum Zustand der »Natürlichkeit« abträglich sind: Die größte Gefahr für alle Natürlichkeit liegt in der Form und dem Konventionellen. Formen und Bräuche können an sich segensreich wirken. Es wohnt ihnen erziehliche Kraft inne, durch sie werden wir angehalten, auf uns zu achten und uns zusammenzunehmen. Aber leicht werden sie Hauptsache, Selbstzweck und üben einen verhängnisvollen Zwang aus. Formen und Bräuche sind oft ohne sittlichen Wert, gleichgültiger Art oder veraltet und werden dann zu unnötiger Last. Wo ihre Bedeutung überwuchert, wird das Empfinden gefälscht, Selbständigkeit und Wahrhaftigkeit erstickt.442
An dieser Stelle wird eine klare Bezugnahme des Handbuchartikels zu der innerhalb der naturalistischen Programmatik verhandelten Einwirkung überkommener Konzepte auf den Menschen deutlich. Angeknüpft wird dabei an eine Problembeschreibung, wie sie exemplarisch mit Bölsches Konzept der ›indirekten Vererbung‹ vorliegt. Zur Verdeutlichung sei hier noch einmal Bölsches Erläuterung zitiert. So fasst er unter dem Konzept das unbrauchbare Alte, das uns in unserer Bildung, durch unsere Umgebung allenthalben belastend in’s Gehirn gegraben wird, tausend begabte Köpfe im Kampfe mit dem lebendigen Neuen zu Tode hetzt, uns als unechte Religion, veraltete Moral, conventioneller Humbug, historische Entartung und was sonst noch alles, den Geist trübt und für die Ziele der Gegenwart blind macht[.]443
Die bei Bölsche deutlich deterministisch perspektivierte Problembeschreibung wird im pädagogischen Handbuchartikel ›entwicklungsoptimistisch‹ gewendet. Wie Bölsche problematisiert auch Kind – der im Autorenverzeichnis des Handbuchs als Pfarrer ausgewiesen ist – in seiner Darstellung die Religion als potentielle Bedrohung der ›Natur‹ und des »Wahrheitssinnes«444. Blinder Gehorsam gegenüber Autoritäten – seien diese weltlicher oder geistlicher Art – wird aus Sicht der Reformpädagogik zum Problem. Die Autoren des Naturalismus haben im Rahmen der gesellschaftskritischen Auseinandersetzung mit der zivilisatorischen Moderne zum Ende des 19. Jahrhunderts einen umfang441 442 443 444
Kind 1907, S. 126. Kind 1907, S. 126. Bölsche 1976 [1887], S. 20. Kind 1907, S. 126.
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reichen Fundus an entsprechenden Problementwürfen, narrativen Schemata und Topoi bereitgestellt, auf die der pädagogische Diskurs nun seinerseits wieder zugreifen kann. Die enge diskursive Verknüpfung ergibt sich dabei bereits über die Publikationsformen: In Zeitschriften wie der Gesellschaft und der Freien Bühne finden sich literarische Beiträge – eben auch ›naturalistische Fallbeispiele‹ wie Max Halbes Jugend (1893) – in direkter Nachbarschaft zu pädagogischen (Streit-)Schriften.445 Die Aktualisierung des bereits um 1800 in Hinblick auf die veränderte Individualitätssemantik als Schlüsselbegriff fungierenden Bildungskonzeptes geschieht nun, wie in Kapitel 3.1.1 gezeigt wurde, über das Darwinistische Evolutionsmodell bzw. dessen monistische Umdeutung, die es erlaubt, das relationale Strukturprinzip von der Kausalität auf die Teleologie umzuschalten: Die Bildung soll die Natur in uns veredeln, die Selbstbeherrschung soll sie im Zaume halten, die Religion soll sie weihen. Aber wie die Pflanzen draußen in der Natur, soll auch die menschliche Persönlichkeit sich frei entfalten können. Die verschiedenen Pflanzen haben ihre verschiedene Art.446
Insgesamt nimmt der Verfasser dabei im Artikel keine geschlechtliche Unterscheidung vor – der Mensch wird als Gattungswesen markiert, bei dem die Kategorie ›Geschlecht‹ nicht in entscheidendem Zusammenhang mit der individuellen wie menschheitlichen Perfektibilität steht. Diese auffällige Absenz – die vor dem Hintergrund der tradierten Zuordnung der Binäropposition ›männlich/weiblich‹ zum Gegensatzpaar ›Kultur/Natur‹ noch deutlicher heraussticht – wird zu guter Letzt durch die spezifische Verwendung des Wortes ›Geschlecht‹ unterstützt, das in dem Artikel nur einmal, und zwar im letzten Satz, fällt: Nur wenn der Jugend das berechtigte Maß von Freiheit gelassen wird, kann es [das Kind, N.I.] sich die rechte Natürlichkeit bewahren, und kann ein gesundes und starkes Geschlecht heranwachsen.447
»Geschlecht« referiert hier also nicht auf Sexus, sondern auf eine genealogisch, vor allem aber soziologisch erfassbare Gruppe: enger gefasst auf ›Generation‹, weiter gefasst auf die Menschheit als gesamte. Dies erklärt sich aus Sicht der 445 So ist der Abdruck des ersten Aufzugs von Halbes Stück in der Freien Bühne (1893) gerahmt von einem polemischen Essay zur bzw. gegen die »Litteratur-Psychiatrie« (Heinrich Ströbel, S. 421 – 428) und der Abhandlung »Praktische Pädagogen. Ein Beitrag zur Reform des Erziehungswesens« (Otto Rillmann, S. 447 – 454), die das bestehende institutionalisierte Bildungssystem kritisiert und die universitäre Ausbildung von »praktischen Pädagogen« fordert, zugleich aber auch die tradierte Aufteilung der Geschlechterrollen bekräftigt und auf die familiäre Erziehungsaufgabe von Frauen verweist. 446 Kind 1907, S. 126 f. 447 Kind 1907, S. 127.
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vorliegenden Untersuchung dadurch, dass innerhalb des Natürlichkeitskonzepts der Pädagogik um 1900 die komplementäre Geschlechtersemantik als axiomatisch gilt, weshalb gerade nicht explizit auf eine Geschlechterdifferenz verwiesen werden muss. Die ›natürliche‹ weibliche wie männliche Entwicklung ist in dieser Konzeption gerade diejenige, in der nicht nur die Jugend zu einem »gesunde[n] und starke[n] Geschlecht« heranwächst, sondern die auch für das Fortbestehen des gesamten ›Geschlechts‹ grundlegend ist. Wie in dem »naturgeschichtlichen« Aufklärungskonzept des oben angesprochenen Essays von Thekla Skorra deutlich wird, basiert die ›neue‹ Pädagogik ganz wesentlich auf der monistischen Aktualisierung des Perfektibilitätsgedankens. So stellt Peter Sprengel in seiner Studie zu Darwin in der Poesie heraus, dass das von Haeckel und Bölsche entworfene Konzept der ›All-Einheit‹, deren Voraussetzung die Sexualität ist, den Nukleus des entgegen der eigentlichen Darwin’schen Abkehr von teleologischen Prämissen wiedereingesetzten Teleologieprinzips bildet.448 Wenn Skorra dafür plädiert, dass in Analogie zum »Fortpflanzungsprozeß in der übrigen Natur« dem Mädchen – wie dem Jungen – auch die menschlichen Fortpflanzung ganz wissenschaftlich, »ohne Mystik und ohne Sinnlichkeit«449, erklärt werden soll, so wird der Bruch mit den bürgerlichen Moralvorstellungen gerade mit dem Hinweis auf den ›natürlichen Beruf‹ der Frau als Mutter gerechtfertigt.450 Auf die Verzahnung des pädagogischen und des literarischen Diskurses – und deren Verknüpfung mit dem monistisch ausgedeuteten Darwinismus, der gewissermaßen als ›diskursives Scharnier‹ zwischen Naturalismus und Reformpädagogik fungiert – wurde oben bereits mehrfach verwiesen. Als paradigmatisch lässt sich hierbei Elsa Bernsteins Drama Maria Arndt (1908) anführen, in dem das oben skizzierte geschlechterpädagogische Aufklärungskonzept aufgegriffen wird, wenn die Titelfigur ihrer adoleszenten Tochter Gemma gegenüber deren individuelle Handlungsverantwortung betont. Der Sinn der naturwissenschaftlichen Bildung Gemmas liegt für Maria in der Erkenntnis der ›AllHarmonie‹, deren Schlüsselprinzip (wie in Kapitel 3.1.4 ausgeführt) die Sexualität darstellt: Du weißt so viel und ich habe dich mit voller Absicht darüber belehren lassen, wie Zeugen und Werden in der Natur vor sich geht. Wie es sich verändert und erhöht hat mit der Vollkommenheit der Wesen. Der große Zauber, der begonnen haben mag mit dem Ineinanderfließen zweier Wellen im Urgewässer und der endet in der Liebe von Mann und Weib.451 448 449 450 451
Sprengel 1998a, S. 21 f. Skorra 1898, S. 175. Vgl. Skorra 1898, S. 175. Siehe dazu auch die Ausführungen in Kapitel 2.2.2. Rosmer 1908, S. 66 f.
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Die sexuelle Aufklärung Gemmas ist mithin aus Marias Sicht die Voraussetzung für deren gelungene Subjektwerdung und die Einlösung des Perfektibilitätskonzeptes.452 Exemplarisch deutlich wird der diskursive Zusammenhang auch im Falle Irma von Troll-Borostynis, die sich neben der Debatte um die ›Frauenfrage‹ und die Erziehung der Jugend453 unter anderem an der poetologischen Diskussion zum Naturalismus454 beteiligt hat. In der Reihe Möller’s Bibliothek für Gesundheitspflege und Volksaufklärung, Hauswirtschaft und Unterhaltung veröffentlicht Troll-Borostyni 1912 die Schrift So erziehen wir unsere Kinder zu Vollmenschen. Ein Elternbuch. Im einleitenden Abschnitt »Erziehungsziele« formuliert die Autorin in Anlehnung an den Darwinismus- und Monismus-Diskurs der Zeit die zugrundeliegende Axiomatik des reformpädagogischen Programms: Wie es in der Natur keinen Stillstand gibt, sondern nur Weiterentwicklung oder Rückbildung, so auch im Leben des sozialen Organismus. Die Bedingungen für die weitere vor- oder rückschreitende Entwicklung des menschlichen Gemeinwesens liegen vorzugsweise in den neuen Generationen. Der Bestand der Zukunft ist von der Zusammensetzung und der Art der Heranbildung der neuen Geschlechter abhängig. So wie wir die Erben unserer Vorfahren sind, ebenso wirken das Wissen und Können, das wir auf unsere Nachkommen übertragen, entscheidend auf den Entwicklungsprozeß der Menschheit.455
Das Entwicklungs- und Vererbungstheorem, das in der Darwin’schen Konzeption nicht teleologisch, sondern kausal konzipiert ist, findet sich hier in der von Haeckel und Bölsche betriebenen und durch ihn zugleich popularisierten monistischen Umdeutung, die eine Aktualisierung des Perfektibilitätskonzepts ermöglicht. Mit Hilfe des Darwinismus lässt sich dieses von einer philosophischen Fundierung lösen und unter Berufung auf Empirie ›verwissenschaftlichen‹. Dadurch wird das Konzept von Kontingenz befreit und gegenüber gesellschaftlichem Wandel immun gemacht. Wenn nun aber die Perfektibilität des Einzelnen und damit auch die der Gesamtheit als »naturgegeben« und als natürliches Telos – als Bildungsziel – konstituiert ist, rückt wiederum die Frage nach der adäquaten Beschaffenheit der Bildung ins Zentrum: 452 Vgl. Rosmer 1908, S. 65 f. sowie 67. 453 Siehe die umfangreiche Schrift Die Gleichstellung der Geschlechter und die Reform der Jugenderziehung (1888) sowie den in drei Teilen in der Freien Bühne erschienenen Beitrag Das Recht der Frau. Eine sozialpolitische Studie (1893). 454 Troll-Borostyni grenzt in ihrem 1886 in der Gesellschaft erschienenen Beitrag Der französische Naturalismus den ›Idealismus‹ vom ›Realismus‹ ab und bestärkt mit ihrer Begriffsbestimmung eine in der Phase der Konsolidierung des Naturalismus innerhalb der programmatischen Diskussion weitgehend konsensfähige Ausrichtung; vgl. Moe 1983, S. 131. 455 Troll-Borostyni 1912, S. 3.
Exemplarische (Funktions-)Analysen
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Die moralische und intellektuelle Befähigung der heranwachsenden Generationen, den großen Kulturaufgaben der Gesellschaft gerecht zu werden, ist für eine glückliche Lösung derselben von höchster Bedeutung. Hieraus ergibt sich die hohe Wichtigkeit der Beschaffenheit der Jugenderziehung und zugleich die Verpflichtung der Gesellschaft, ihre ganze Kraft für eine möglichst günstige Jugenderziehung einzusetzen, d. h. für Schaffung der bestmöglichen Bedingungen zur fortschrittlichen Weiterentwicklung der menschlichen Gesellschaft.456
Wie im oben untersuchten Handbuchartikel zur »Natürlichkeit« von 1907 verbindet auch Troll-Borostyni in ihren Ausführungen einen Fortschrittsoptimismus mit einer gesellschaftskritischen Grundhaltung und versteht die Reform des Erziehungswesens als Grundlage der gesellschaftlichen Weiterentwicklung. Der Menschen ist ihr zufolge das Produkt sowohl »seiner ihm angeborenen Anlage« als auch »seiner Erziehung, nämlich der äußeren Einflüsse«: Und die tägliche Erfahrung gibt Zeugnis von der unleugbaren Wichtigkeit der Erziehung, von deren Einfluß auf Körper, Charakter und Intellekt zum größten Teil das Glück des einzelnen und durch diesen mittelbar in unabsehbarer Kette das Wohl des ganzen Menschengeschlechts abhängt.457
Die vermeintliche Gewissheit des zuvorderst wirksamen biologischen Bedingungsgefüge, das nach Auffassung zeitgenössischer physiologischer, neurologischer und anthropologischer Positionen den Menschen sowohl in Bezug auf seine Gattungszugehörigkeit wie auch spezifisch in Bezug auf seinen Sexus in »Körper, Charakter und Intellekt« formt, wird innerhalb der reformpädagogischen Programmatik als empirisch nicht haltbar verworfen. Die Strategie für diese Absage an die biologische Determinationshypothese liefert dabei gerade jenes Modell, das die Vorstellung von der zielgerichteten Entwicklung des Menschen und der Möglichkeit seiner Entfaltung und Veredelung hin zum individuellen wie menschheitlichen Ideal zwischenzeitlich auf eine harte Probe stellt. Gemeint ist der Darwinismus, dessen Rezeption zunächst, wie Philip Ajouri in seiner Studie gezeigt hat, in eine Teleologie-Krise führt, in der das auf idealistisch-humanistischen Konzepten basierende Weltdeutungsmodell sowohl für den ›realweltlichen‹ Bereich wie auch in Bezug auf die Ordnungsprinzipien fiktionaler Welten in seiner Gültigkeit entschieden fragwürdig geworden ist.458 Im Zuge der monistischen Umformung des Darwin’schen Evolutionsmodells, die wie oben ausgeführt wesentlich in Verzahnung der Darwinismusrezeption mit der Literatur betrieben wurde, werden eben jene kompromittierten idealistischen Konzepte, allen voran das Konzept der Perfektibilität, restituiert. Die Rolle des Naturalismus als ›Scharnierepoche‹ der literarischen Moderne ist in 456 Troll-Borostyni 1912, S. 3. 457 Troll-Borostyni 1912, S. 4. 458 Vgl. Ajouri 2007.
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Die komplementäre Geschlechtersemantik im Kontext des Naturalismus
dieser Hinsicht, wie gezeigt wurde, nicht zu unterschätzen: Anders als der bisherige Konsens zur Naturalismusforschung noch immer suggeriert, illustriert die naturalistische Dramatik nicht einfach den als wissenschaftlich belegt geltenden biologischen Determinismus, sondern versucht im Sinne der literarischen Anthropologie das Bedingungsgefüge zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹ zu fassen, in das der Mensch und sein ›freier Wille‹ eingebunden sind. Aus Sicht der vorliegenden Arbeit ist gerade diese Perspektivierung zwischen ›Natur‹ und ›Kultur‹ im Sinne eines Abtastens der zentralen Bedingungsgefüge, die menschliches Handeln bestimmen, für die naturalistische Dramatik und die naturalistische Anthropologie konstitutiv. Die von Barbara Beßlich luzide herausgestellte ›diagnostische Wirkungsästhetik‹ naturalistischer Dramen – die oben anhand der ›Brennglasfunktion‹ der Darstellung von Elsa Bernsteins spezifisch ›ethischer‹ Naturalismuskonzeption schärfer zu konturieren war – zielt dabei gerade auf die Relativierung erbbiologischer Determinismusvorstellungen ab. An deren Stelle rückt sie den Aspekt sozialer Bedingtheit in den Vordergrund und verweist auf die – in Grenzen – vorhandene Möglichkeit der individuellen wie menschheitlichen Entwicklung. Mit diesen ›Suchbewegungen‹ liefert der Naturalismus einen Fundus an Problembeschreibungen und Perspektivierungsstrategien, auf den sich der zeitgenössische pädagogische Diskurs entscheidend stützen kann. Im Prozess der Ausdifferenzierung der literarischen Moderne und der Bestärkung des ästhetischen Autonomiepostulats innerhalb von Strömungen wie dem Ästhetizismus und Symbolismus geht in der Folge das Primat der expliziten Sozialkritik und des gesellschaftlichen Erziehungsauftrages nun von der Literatur gewissermaßen auf den Bereich der sich fachwissenschaftlich institutionalisierenden (Reform-)Pädagogik über. Die Naturalismus als – in Anlehnung an Herrmann Bahr – ›Geburtshelfer‹ der literarischen Moderne, leitet damit tatsächlich über seinen Versuch, den gesellschaftlichen Geltungsanspruch von Literatur angesichts der ›Bedrohung‹ durch die Naturwissenschaften zu bekräftigen,459 einen für die literarische Moderne als konstitutiv geltenden ›Autonomisierungsprozess‹ ein.
459 Siehe dazu die Ausführungen zu Bölsches Grundlagen-Schrift in Kapitel 3.1.1, die sich mit Ingo Stöckmann als »eine der historischen Antworten« (Stöckmann 2005, S. 55) auf die Frage nach den spezifischen (gesellschaftlichen) Funktionen von Literatur und deren kultureller Vermittlung verstehen lässt – nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass im ausgehenden 19. Jahrhundert »die Orientierungsleistungen der Literatur offenbar auf die Naturwissenschaften übertreten« (ebd., S. 54).
4.
Geschlechtersemantik und literarische Diskursivierung der ›Geschlechterkrise‹ – Fazit und Forschungsdesiderate
Wie die vorliegende Untersuchung zur Diskursivierung der Geschlechterkrise innerhalb des Naturalismus gezeigt hat, stellt die komplementäre Geschlechtersemantik im Rahmen des programmatisch-poetologischen und literarischen Diskurses der naturalistischen ›Scharnierepoche‹ der literarischen Moderne eine zentrale Bezugsgröße dar. Im ersten Hauptteil der Arbeit wurde dabei detailliert ausgeführt, in welchem gesellschaftlich-semantischen Funktionszusammenhang sich die spezifisch gefasste, eng mit dem aufklärerischen Konzept der Perfektibilität und zugleich mit einer polaristischen Geschlechtercharakterologie verknüpfte Komplementärsemantik herausgebildet hat. So wurde gezeigt, dass diese innerhalb des für das 18. Jahrhundert konstitutiven Prozesses der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft an die Herausbildung zweier diametral zueinander konzipierter, funktional aufeinander bezogener Sphären gekoppelt ist: an das ›Heim‹ als privaten Regenerations- und Inklusionsraum und die sich zunehmend ausdifferenzierende Öffentlichkeit. Wie dabei deutlich wurde, stellt ›weibliche Exklusionsindividualität‹ in der Phase der Diskursivierung und Etablierung der Komplementärsemantik gerade nicht den Regelfall dar. Im Zuge des von Wilhelm Riehl als problematische Entwicklung konstatierten »Heraustretens des Weibes aus dem Heiligthume des Hauses« (Fam, S. 65)1 werden jedoch Entwürfe weiblicher Exklusionssemantik relevant, die mit umfänglichen Verschiebungen innerhalb des polaristisch konzipierten Geschlechterparadigmas einhergehen. Anhand der Analysen im zweiten Hauptteil der Arbeit wurde deutlich gemacht, dass sich die heterogene Strömung des Naturalismus in Bezug auf diesen umfänglichen gesellschaftlichen und semantischen Wandel als erste Phase der intensiven literarischen Diskursivierung der ›Geschlechterkrise‹ auffassen lässt. Damit ist aus Sicht der vorliegenden Untersuchung eine Korrektur der bisherigen dominanten Fokussierung auf die Literatur des Fin de siÀcle bzw. der Wiener Moderne angezeigt, auf die sich die Forschung zur Diskursivierung der 1 Siehe Kapitel 2.2.1 sowie Kapitel 2.2.5. Vgl. auch Klein 2004 [in Druckvorbereitung].
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Subjekt- und Geschlechterkrise innerhalb der literarischen Moderne bislang konzentriert hat.2 Dass der Umbruch der Geschlechterverhältnisse im Naturalismus nicht ausschließlich als Krise wahrgenommen wurde, sondern auch als Signatur der emphatisch proklamierten Moderne und des mit darwinistischentwicklungstheoretischer Rhetorik unterfütterten Kampfbegriffs der ›Zukunft‹ fungiert,3 wurde dabei etwa in Kapitel 3.1.3 zur Semantisierung des ›Weiblichen‹ ausführlich umrissen. Insgesamt wurde herausgearbeitet, dass das im Kontext der naturalistischen Programmatik und Literatur intensiv verhandelte Darwin’sche Evolutionsmodell mit seinem zentralen Begriff der ›Entwicklung‹ und der diskursiv äußerst produktiven Formel vom ›Kampf ums Dasein‹ ein Beschreibungsinventar für gesellschaftliche Modernisierungskrisen zur Verfügung stellt. Als ein vom Ordnungssystem ›Moral‹ losgelöstes Orientierungsschema lässt sich der monistisch umgedeutete Darwinismus einerseits auf die lebenspraktischen Probleme der Gesellschaft und des Einzelnen beziehen – also auf semantisch-faktische Problemfelder wie Ehe, Familie, Liebe, Beruf. Zugleich lassen sich die Schwierigkeiten der gelingenden Lebensführung in modernen Zivilisationen mithilfe monistisch-darwinistischer Begrifflichkeiten im spezifischen gesellschaftlichen Kontext erklären wie auch überzeitlich und kulturunabhängig plausibilisieren.4 Wie die Ausführungen zur versuchten Aussöhnung von naturwissenschaftlicher Weltdeutung und ›Idealismus‹ innerhalb der monistischen Darwinismusrezeption gezeigt haben, lässt sich der Naturalismus als Phase der umfassenden Diskursivierung und performativen Proklamation des gesellschaftlichen und ästhetischen Wandels zugleich als ein sich innerhalb der literarischen Moderne konstituierender Verhandlungsraum der Bedingungen der Möglichkeit einer Erneuerung idealistischer Leitkonzepte verstehen. Wie intensiv sich die Selbstkonstitution des Naturalismus als Programm der ›Erneuerung‹ von Kunst und Gesellschaft an den Begriffsbestimmungen von ›Idealismus‹ und ›Realismus‹ abarbeitet, ist dabei abschließend noch einmal anhand eines Resümees des Kritikers und Essayisten Leo Berg zu verdeutlichen. In seinen stets 2 Als eine der wenigen Ausnahmen sei hier auf Urte Heldusers Studie Geschlechterprogramme (2005) verwiesen, auf deren wichtige Perspektivensetzung auf den Naturalismus bereits in der Einleitung der vorliegenden Arbeit hingewiesen wurde. 3 Sabina Becker unterstreicht mit Blick auf die literarische Moderne die Doppelstruktur zwischen Krisenwahrnehmung und Fortschrittspathos (vgl. Becker 2008, Abs. 5 f.), die schließlich im Kontext der Neuen Sachlichkeit als letzter Phase der literarischen Moderne (vgl. Becker 2002, S. 93) in eine »emanzipatorische Aufbruchstimmung« (Becker 2008, Abs. 5) mündet. 4 In diesem Sinne ist etwa ›Der Kampf ums Dasein‹ ein Metanarrativ, das für die literarische Diskursivierung problematisch gewordener ›Lebensläufe‹ narrativ kohärenzstiftend wirken kann.
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zugespitzten, mitunter äußerst scharfsichtigen Beobachtungen markiert er, wie in den vorangehenden Analysen mehrfach deutlich wurde, oftmals die zentralen Problemkonstellationen, die die naturalistische Programmatik und Dramatik verhandelt. So auch in seiner 1890 in der Zeitschrift Moderne Dichtung erschienenen »Studie« zu den Phasen des Idealismus, in der Berg zwischen dem »I d e a l i s m u s d e r V e r g a n g e n h e i t «, der eben diese zum Ideal erhebe, dem opportunistischen »Real-Idealismus« der Gegenwart – »alles, was oben auf ist, wird durch ihn verherrlicht« – und dem »I d e a l i s m u s d e r Z u k u n f t « unterscheidet.5 Dieser sei im Gegensatz zu den beiden anderen einerseits »ein schöner, vornehmer, gleichsam ein idealer Idealismus«6 – als dessen talentvollsten Vertreter Berg den »jungen H[einrich] Hart«7 ansieht.8 Andererseits sei dieser »Zukunftsidealismus« aber ebenso »naiv«9 wie der rückwärtsgewandte, von dem er sich abgrenzt: Man hat sich diese alte Welt genauer angesehen und ist dahinter gekommen, dass die noch schlimmer, jedenfalls nicht besser sei als die moderne. Ja, in gewissem Sinne ist diese sogar schon als eine Erfüllung der Vergangenheit anzusehen. Die Poesie und die Philosophie der Verzweiflung folgt der Romantik auf dem Fuße. Da kam wie eine Offenbarung, wie eine Himmelserscheinung die moderne Naturwissenschaft mit ihren Entstehungs- und Entwicklungstheorien. Ja, was verzagen wir denn! Wir stehen ja noch an der Schwelle der Kindheit des Menschengeschlechts. Und wieder tauchte ein »Dermaleinst« in der Seele des Menschen als tröstendes Eiland, als führender Stern auf. Muthig, muthig, verzagte Seele! Nur fortgesteuert auf dem wilden Ocean! Mögen Winde dich immer umbrausen, mögen die Wellen thurmhoch dir neben dem Kopfe zusammenschlagen! Heils schon genug, wenn du auch nur als Sterbender noch die Küste erblickst, wenn du auch nur auserkoren bist, zu ahnen die Herrlichkeit der neuen Welten!10
Berg bringt hier das auf den Punkt, was – wie eingangs skizziert – in der Naturalismusforschung der letzten zwei Dekaden umfassend herausgearbeitet wurde: Die »moderne Naturwissenschaft mit ihren Entstehungs- und Entwicklungstheorien« liefert die semantische Grundlage, um die durch ebendieselbe moderne Naturwissenschaft angeschlagene Teleologie zu restituieren und damit auch das Konzept der Perfektibilität, der (Möglichkeit zur) menschheit5 Berg 1890, S. 627. Bergs Unterscheidung der drei Phasen bzw. Typen des ›Idealismus‹ korrespondiert auch mit der dreigliedrigen Bestimmung des ›Naturalismus‹, die er an den Anfang seiner im Grundton aphoristischen Abhandlung Der Naturalismus. Zur Psychologie der modernen Kunst (1982) stellt. 6 Berg 1890, S. 627. 7 Berg 1890, S. 628. 8 Wie in Kapitel 3.1 ausgeführt, proklamieren Heinrich und Julius Hart eine »naturwissenschaftliche« Erneuerung der Literatur und Literaturkritik. 9 Berg 1890, S. 627. 10 Berg 1890, S. 627.
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lichen Veredelung, zu aktualisieren. Polemisch zugespitzt, aber im Kern durchaus treffend, wertet Berg die Strategie der naturwissenschaftlichen Absicherung des ›Idealismus‹ als psychologischen Schutzmechanismus einer »verzagte[n] Seele«, die sich in der unwirtlichen Wetterlage der Moderne über das Ideal der ›Erneuerung‹ als einer heilbringenden Zukunftsahnung neuen Mut macht. Diese ›Coping-Strategien‹ finden jedoch vor Berg keine Gnade, der damit implizit den in der naturalistischen Programmatik postulierten Kampf gegen die »literarische ›Verweiblichung‹«11 und für »eine ›männliche‹ Erneuerung der Literatur«12 als Schein- oder zumindest nur Wortgefecht bewertet: Die männlichsten und productivsten Naturen aber sind niemals Idealisten, sowenig als sie Realisten im gewöhnlichen Sinne sind! Sie prophezeien nicht und sie sehnen sich nicht. Sie schaffen sich selber eine Zukunft; und sie werden auch immer auf irgend eine Weise mit dem Leben, sowie die Männer (und das sind ja die productiven Talente!) noch stets mit den Weibern fertig!
Die Unvereinbarkeit des ›männlich‹-naturalistischen Erneuerungsprogramms mit der Ausrichtung auf ein ›Ideal‹ liegt dabei für Berg in dessen Korrelation von ›Weiblichkeit‹ und ›Idealismus‹: »Wo aber der Idealismus herrscht, da ist immer das Weib oben auf!«13 Das Merkmalsschema, auf das sich diese postulierte Korrelation stützt, liefert auch hier das in Bergs Schriften axiomatische Modell der polaristischen Geschlechtscharaktere: Die passive, ›konservative‹ und nur sekundär produktive Frau steht dem aktiven, ›progressiven‹ und alleinig genuin produktiven Mann gegenüber. ›Idealismus‹ ist für Berg gleichbedeutend mit einem mittelbar-beschreibenden Zugriff auf Welt, nicht mit einem tatkräftigschöpferischen. So verkehren die ›Idealisten‹ nach Berg »mit der Welt gewöhnlich nur noch durch ein Medium«14, während der ›echte‹, »der tapfere Realist und Naturalist« »die Realität bezwungen haben«15 müsse: Man sieht, wo Realismus und Idealismus sich ewig scheiden: nämlich dort, wo sich der Blick für Realitäten zu trüben beginnt, wo die Kraft sie zu beherrschen gebrochen – oder noch nicht stark genug ist! –16 11 Helduser 2005, S. 64. 12 Helduser 2005, S. 63. Siehe dazu insgesamt das Kapitel »Naturalismus: Moderne als männliches Programm« in Heldusers Studie, darin vor allem den Abschnitt »Aufruf zur Männlichkeit« (S. 63 – 73), in dem die Autorin anhand einer detaillierten Analyse programmatischer Texte von Michael Georg Conrad exemplarisch aufzeigt, wie sich der Naturalismus als ›männliches‹ Programm der literarischen Erneuerung positioniert. Siehe auch Kapitel 3.1.3 der vorliegenden Untersuchung. 13 Berg 1890, S. 628. 14 Berg 1890, S. 628. 15 Berg 1890, S. 629. 16 Berg 1890, S. 630.
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Hier lässt sich mit einem abschließenden Blick auf die von Berg durchaus mit Wohlwollen, jedoch aufgrund seiner spezifischen Axiomatik nicht als genuinschöpferisch verstandene Autorin Elsa Bernstein eine auf das ›Weibliche‹ (als historisch-semantische Kategorie) bezogene produktive ›Erneuerungsmöglichkeit‹ konstatieren: Analog zur ›Brennglasfunktion‹, die der Blick auf Bernsteins Dramen und deren spezifische Perspektivierung der innerhalb des Naturalismus zentral verhandelten Problemkonstellationen in der vorliegenden Studie mit dem Ziel einer schärferen Konturierung der naturalistischen Poetologie entfalten konnte, birgt der stärkere Einbezug der historisch-semantischen Kategorie ›Geschlecht‹ in die Kernbereiche literaturgeschichtlicher Untersuchungsperspektiven ein deutliches Innovationspotential. Und dies nicht nur in Hinblick auf die stets relevante Reflexion wissenschaftlicher Terminologie und potentieller Ideologiehaltigkeit von Konzepten, sondern vor allem auch – dies sollte vorangehend deutlich geworden sein – in Hinblick auf zentrale Fragen der literaturwissenschaftlichen Historisierung und Systematisierung.
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CH
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Personenregister
Adelung, Johann Christoph 85, 113 f. Ajouri, Philip 15 f., 62 f., 67, 111, 119, 126, 128, 152, 157 – 159, 173, 175 f., 179, 199, 213, 218, 309 Alberti, Conrad 216, 257, 267 Andreas-Salom¦, Lou 256 Anz, Thomas 31 Ash, Mitchell G. 91 Assmann, Aleida 144, 161 Bahnsen, Julius 129 f. Bahr, Hermann 30 f., 168, 179, 196, 222, 230, 310 Bake, Rita 239 f., 258 Balmer, Susanne 65, 84 Baraldi, Claudio 46 Bauer, Franz J. 51, Beck, Knut 187, 239 Becker, Ruth 56 Becker, Sabina 312 Begemann, Christian 175 Berg, Henk de 41 Berg, Leo 16, 66, 146 – 148, 161 f., 169, 172, 190, 194, 198, 210, 216 f., 239 – 242, 281 f., 303, 312 – 315 Bernstein, Elsa 15, 18, 32, 37 f., 40, 53, 60, 66, 96, 112, 130 f., 134, 137, 167, 178, 187, 191 – 194, 198, 202, 205 f., 212, 214, 217, 223, 226 – 228, 234 – 246, 248 – 250, 252 – 255, 258, 264 f., 267, 270, 274, 276 – 278, 281, 283, 285, 287 f., 290 – 292, 303, 307, 310, 315, 317 Bernstein, Max 238, 258
Beßlich, Barbara 32, 37, 130, 156, 177, 216, 265 – 273, 276, 291 f., 310 Blinn, Hansjürgen 98 f. Boden, Petra 46 Böhm, Winfried 293 f. Böhme, Hartmut 36 f. Bohn, Cornelia 140, 161 Bollenbeck, Georg 124 f. Bölsche, Wilhelm 30, 126, 176, 178 – 184, 186, 189, 193 f., 208, 210 f., 213, 216, 225, 245, 254 – 256, 258, 261, 266 – 270, 290 f., 303 – 305, 307 f., 310 Bolterauer, Alice 30 Bourdieu, Pierre 171, 173 f. Bovenschen, Silvia 68, 95, 98, 102 f. Brandes, Georg 168, 184 f., 189 Brandes, Helga 98 Braun, Christina von 55 f., 115 Brauneck, Manfred 194 f., 207, 209, 211, 256 f. Braungart, Wolfgang 231 Brinker-Gabler, Gisela 54, 66, 130, 196 f., 201 f., 205, 219 Bruckmüller, Ernst 79, 117 – 119 Brugmann, Karl 113 f. Brunner, Otto 46, 86 – 88 Büchner, Ludwig 179 Budke, Petra 236 Bunzel, Wolfgang 26, 167 – 174, 188, 190 – 194, 198 f., 209, 223, 226, 231, 236, 256 – 258 Bußmann, Hadumod 56, 61 f., 115 Busse, Dietrich 48 – 50, 61, 64
346 Butler, Judith
Personenregister
60, 83
Campe, Johann Heinrich 106, 128 Catani, Stephanie 16, 19 f., 66, 96, 133, 147, 149 – 151, 205 f. Colvin, Sarah 282 f. Conrad, Georg Michael 257, 314 Conradi, Hermann 169, 184 Conze, Werner 42, 46, 65, 69, 107 Cowen, Roy C. 192 f., 223, 226, 277, 317 Dahme, Heinz-Jürgen 141, 143 f. Danneberg, Lutz 40 Darwin, Charles 37, 125 – 128, 142, 163, 173, 176 – 180, 185, 294, 307 – 309, 312 Daum, Andreas 91, 114, 163 Deinhardt, Katja 70, 72 – 77, 106 Delianidou, Simela 28 f. D¦ry, Juliane 244 – 246 Dieffenbach, Georg Christian 286 Doff, Sabine 94 f., 106 – 108, 128 Dohm, Hedwig 133, 155 f., 165, 207, 257, 286, 301 – 303 Duden, Barbara 105 Dürr, Renate 73 Eibl, Karl 41, 52, 63, 97, 109, 120, 162, 176, 206 Engel, Gisela 75 Engelhardt, Ulrich 42 f., 69, 74, 77 f., 80, 94, 98, 101, 103, 105 – 107, 119, 133 – 137, 154, 296 Engels, Eva-Maria 37, 163 Erhart, Walter 17, 27, 56, 201 Ertler, Klaus-Dieter 44 f. Fähnders, Walter 15 – 17, 26, 32, 167, 199, 202 – 204, 211, 224 f., 279 Faulstich, Werner 80 f., 109, 164 f., 298 Fichte, Johann Gottlieb 90 f., 94 Fick, Monika 177 Fontane, Theodor 218, 258 Foucault, Michel 41, 61 – 63 Frank, Gustav 153 Frei, Christoph 103 – 105, 123 Freud, Sigmund 66, 179, 230
Frey, Christiane 47 f. Freytag, Gustav 119, 122, 211 Fricke, Harald 51 Friedrich, Hans-Edwin 76, 109 Friedrich, Margret 107 f. Friese, Heidrun 144, 161 Friese, Wilhelm 188 Frindte, Julia 70, 72 – 77, 106 Froschauer, Regine 116 Frühwald, Wolfgang 91 Garbe, Christine 57, 101 – 103 Gestrich, Andreas 58, 77, 87 f., 120, 159, 295 Giesing, Michaela 283, 285 Glaser, Edith 287 Görres, Joseph 91 – 93, 114, 135 Gradmann, Christoph 163 Grimm, Jacob 113 – 115, 247 Grimm, Wilhelm 115, 247 Günter, Manuela 35, 56 – 58, 67 Guthke, Karl S. 224 Habermas, Jürgen 80 Haeckel, Ernst 126 f., 176, 179 f., 208, 267, 307 f. Hahn, Alois 140, 161 Halbe, Max 193, 206, 211 f., 226, 239, 245, 267, 306 Häntzschel, Günter 91, 158, 298 Hart, Heinrich 169, 178, 209 f., 255, 257, 313 Hart, Julius 168 f., 186, 209, 255, 257, 313 Hartmann, Horst 70 Hartmann, Regina 70 Hauptmann, Gerhart 24, 32, 34, 156, 167, 177 f., 189, 191 – 194, 202, 206, 216 f., 223 – 226, 228, 235, 238 – 240, 244, 254, 258, 266 – 272, 274, 276, 291 f., 317 Hausen, Karin 36, 42, 65, 67 – 72, 74 – 86, 88 – 91, 95, 100 – 102, 106 f., 111, 113, 117, 119, 138, 145 f., 152 Heinrich, Curt 208 – 222317 Helduser, Urte 16, 25, 31, 35, 66 f., 146 – 148, 151 f., 190, 196 f., 203, 227, 240, 312, 314
347
Personenregister
Hermanns, Fritz 31, 64 Heydebrand, Renate von 54 f., 200 f. Heyse, Paul 184, 211, 261 Hindinger, Barbara 27 Hoefert, Sigfrid 38, 204 Hofmannsthal, Hugo von 30, 105, 201, 205, 230, 258, 297 Holz, Arno 178, 193, 206, 225 f., 245, 250, 254, 261 f. Honegger, Claudia 57, 74, 95 Hornig, Gottfried 90 Hornscheidt, Antje 115 Huber, Martin 43 f., 76 Huch, Ricarda 205 f., 258 Humperdinck, Engelbert 234, 242 f. Humperdinck, Eva 243 Ibsen, Henrik 26 f., 34, 171, 174, 184, 187 – 194, 203 f., 237 f., 243, 247 – 249, 251, 256, 258, 263, 267 f., 291 Igl, Natalia 18, 26 f., 32, 67, 84, 91, 93, 114, 135, 140 Irmen, Lisa 113 f. Jacobsen, R. 228 f., 264 Jäger, Ludwig 115 Jäger, Margarete 62 Janitschek, Maria 131, 137 Jannidis, Fotis 45, 49, 51 – 53, 78, 97, 109 f., 133, 157, 205 Joachimsthaler, Jürgen 237 f. Just, Leo 114 Kafitz, Dieter 177, 254, 265 Kalverkämper, Hartwig 115 f. Kapff-Essenther, Franziska von Kauffmann, Kai 231 Keck, Annette 56 – 58 Kerr, Alfred 212, 286 Key, Ellen 293 Kiesel, Helmuth 210 Kind, August 303 – 306 Kindt, Tom 183, 258 Kirchmeier, Christian 76 Kiupel, Birgit 239 f., 258
256
Klein, Uta 76, 105, 111, 121, 160, 179, 196, 200 f., 230, 311 Klingenstein, Eva 81, 294 Kluge, Friedrich 129 Kneer, Georg 47 Kocka, Jürgen 42, 69, 107 Köhnke, Klaus Christian 141, 143 f. Kolkenbrock-Netz, Jutta 304 Kollmeier, Kathrin 48 – 50 Köppe, Tilmann 183, 258 Kord, Susanne 236 f., 242, 258, 277, 283 – 285, 317 Kortendieck, Beate 56 Koselleck, Reinhart 46 – 48, 61 Kosˇenina, Alexander 25 Kotowski, Elke-Vera 130 Krafft-Ebing, Richard von 21, 66, 150, 208, 214, 230 Kraft, Helga W. 18, 32, 236, 253 Krämer, Olav 183 Kraus, Karl 258, 302 Krauß-Theim, Barbara 126, 177 – 180, 304 Krause, Jens-Uwe 58, 77, 87 f., Krünitz, Johann Georg 85 Kuhn, Annette 69 f., 72, 77 f. Lamarck, Jean-Baptiste de 84, 125, 194 Langner, Martin-M. 27 Laqueur, Thomas 57, 74, 95 Lauer, Gerhard 43 f., 51 – 53 Leiss, Elisabeth 114 f., 297 Lepsius, M. Rainer 79, 118 Lessing, Theodor 129 – 132, 252, 258, 270, 288 Lexer, Matthias 129 Lichtblau, Klaus 146 Lindhoff, Lena 55 Linke, Angelika 42 Lorenz, Dagmar C. G. 18, 30, 32, 253 Loster-Schneider, Gudrun 42 Lovejoy, Arthur O. 213 Ludwig, Karola 219 Luhmann, Niklas 38 f., 41, 46 – 48, 52, 61, 63, 65, 67 f., 76, 89 f., 93, 111, 125, 161 f., 173, 233
348 Maatsch, Jonas 92 f. Mach, Ernst 196 Magerski, Christine 67, 173, 187 Mahal, Günther 26, 279 Marholm, Laura 194, 256 Marriot, Emil 234 Marlitt, Eugenie 131 f., 233, 298 Martschukat, Ju¨ rgen 99 Mataja, Emilie 234 Mauthner, Fritz 187, 192, 212, 238 f., 280 f., 288 McClelland, Charles E. 79 Mellmann, Katja 29, 53 f., 76, 135 – 137, 159, 164, 232 – 234, 243 f., 278, 298 – 300 Mensch, Ella 281 Meyer, A[hlrich] 124, 195 Mitterauer, Michael 58, 77, 87 f. Möbius, Paul Julius 96, 140, 149 – 152, 154, 257 Moe, Vera Ingunn 171, 188 f., 308 Moser, Sibylle 41 Mülder-Bach, Inka 143 f., 161, 163 Müller, Christine 194 f., 207, 209, 211, 256 f. Musil, Robert 105, 201, 205, 230, 297 Nassehi, Armin 35, 47, 67 f., 157 Nassen, Ulrich 295 Naumann, Bernd 114 Neudeck, Otto 21 Nieberle, Sigrid 83, 205, 258 Nietzsche, Friedrich 131, 147, 166, 169, 176, 208, 218 f. Nipperdey, Thomas 119, 135 f., 167 Nordau, Max 147, 151 f., 194 – 196 Oelkers, Jürgen 293 Opitz, Claudia 27, 42, 58, 74, 78, 86 – 88, 121 Ort, Claus-Michael 176 Osinski, Jutta 55 f., 58 – 60, 206 Otto, Luise 134 f., 137 Ovsjannikov, Michail F. 91 Pfohlmann, Oliver 31, 124 Pfoser, Alfred 20, 22
Personenregister
Pfoser-Schewig, Kristina 20, 22 Pfotenhauer, Helmut 25 Plumpe, Gerhard 38 f. Podewski, Madleen 153 Posch, Claudia 116 Prangel, Matthias 41 Pross, Caroline 20 – 22, 25 Putschke, Wolfgang 115 Rang, Britta 70 Reiterer, Beate 236 Renner, Gerhard 20, 22 Reuter, Gabriele 29, 54, 135, 137, 233, 244, 278, 298 Reventlow, Franziska zu 205 f. Richter, Daniela 295 f. Riedel, Wolfgang 16, 25, 35, 93, 125 f., 149 Riehl, Wilhelm Heinrich 84, 88, 117, 120 – 125, 127 – 129, 137, 139, 141, 145, 147, 150 f., 158, 161, 163, 311, 317 Rilke, Rainer Maria 258, 293 Rissanen, Matti 115 Rosmer, Ernst 15, 18, 130, 132, 193, 212, 214, 237 f., 241, 243, 246, 248 – 250, 252, 258 f., 280 f., 307 f., 317 Rothermund, Klaus 115 Rousseau, Jean-Jacques 90, 97 – 104, 107 f., 123 – 125, 229, 293, 303 f. Ruprecht, Erich 207 Sacher-Masoch, Leopold von 228 f., 234 Sagarra, Eda 165 f. Salaquarda, Jörg 166 Samida, Stefanie 163 Schaser, Angelika 74 – 76, 82, 88, 107, 128, 137 Scheidt, Gabriele 21 Scherer, Stefan 153 Schier, Rudolf 27 Schings, Hans-Jürgen 25 Schlaf, Johannes 193, 206, 225 f., 245 – 247, 254, 258 f., 267 Schlenther, Paul 238, 242 f., 247 – 251, 268 Schlösser, Hermann 22 Schneider, Lothar L. 67, 168 – 172, 174, 210, 257
349
Personenregister
Schnell, Rüdiger 76 Schnitzler, Arthur 15, 17 – 25, 27 f., 30, 105, 143, 201, 205, 213, 230, 317 Schön, Erich 165 Schöning, Matthias 92 f. Schößler, Franziska 55, 57 f., 65, 68, 89, 95 f., 98 – 102, 150 f. Schulze, Jutta 236 Schwab, D. 89 Scott, Joan W. 59, 69, 82 Sill, Oliver 41 Simmel, Georg 129, 139 – 147, 151, 158, 161, 163 f., 230 – 232 Skorra, Thekla 300 f., 307 Solte-Gresser, Christiane 55 Sommer, Roy 51 Sprengel, Peter 16, 30, 146 f., 167, 173 f., 176 f., 190, 192 f., 196, 202, 204 f., 209, 212 f., 215, 233, 239 f., 243, 266, 272 f., 276, 286, 291, 307 Steakley, James D. 125 f. Stegmann, Dirk 209, 299 Steiger, Vera 113 f. Steitz, Heinrich 286 Stekl, Hannes 79, 117 – 119 Stephan, Inge 55 f., 115 Stieglitz, Olaf 99 Stockinger, Claudia 122, 172, 175, 184, 187 Stöckmann, Ingo 95, 126 f., 167, 181 – 183, 255, 310 Straub, Jürgen 161 Streim, Gregor 30, 196, 212, 240 Strindberg, August 26, 204, 256 Stritzke, Nadyne 42, 53 – 55 Strowick, Elisabeth 83 Stubbe-da Luz, Helmut 138 f., 253 Sudermann, Herman 212 Suttner, Bertha von 168, 184 – 186, 255 f. Taine, Hippolyte 32, 184, 186, 262 Teubert, Wolfgang 50, 61, 64 Thiessen, Barbara 57 Thom¦, Horst 22, 25, 111, 157 – 160 Titzmann, Michael 36 Tönnies, Ferdinand 145 f.
Tophinke, Doris 42, 61, 296 f. Troll-Borostyni, Irma von 207, 256 f., 302, 308 f. Ulbricht, Justus H. 293 Unterbeck, Barbara 115 van Laak, Lothar 25 Vehse, Carl Eduard 134 f., 137 ViÚtor-Engländer, Deborah 237 Vollhardt, Friedrich 40 Voßkamp, Wilhelm 296 Wagner, Richard 246, 252 Wanning, Beberli 37 Weber, Ernst 224 f., 269 Weber, Ingeborg 60, 201, 206 Weber, Max 87, 105 Wedekind, Frank 205, 212 Wehler, Hans-Ulrich 87 Weiershausen, Romana 41, 152 – 154, 238, 279 – 283, 285 – 288, 290 Weigel, Sigrid 67, 72, 106, 143 Weigert, Astrid 253 – 256, 258, 265 Weininger, Otto 96, 149 – 151 Weisengrün, Paul 139 f. Werle, Dirk 52, 247 f., 268 Werner, Elisabeth 131 Werner, Martina 13, 113 – 116 Wernicke, Christian 261 Wiener, Kurt 240 Wilhelm, Raymund 61296 f. Willems, Marianne 45, 47, 63, 70, 86, 109, 162 Winko, Simone 51 – 55, 98, 200 f. Wöffen, Angela 219 Wolff, Eugen 169, 174, 197 f., 210, 257 Wunder, Heide 74 f. Zedler, Johann Heinrich 85, 129 Zepler, Wally 281 Zeuch, Ulrike 44 Zimmermann, Hans Dieter 294 Zimmermann, Rolf Christian 276 Zola, Êmile 171, 174, 182, 188, 190, 197, 209, 211, 218, 267, 269
350 Zophoniasson-Baierl, Ulrike 283, 288
Personenregister
237, 240,