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German Pages 220 Year 2020
Ulrike Lingen-Ali, Paul Mecheril (Hg.) Geschlechterdiskurse in der Migrationsgesellschaft
migration – macht – bildung | Band 6
Editorial Die Reihe wird herausgegeben von Paul Mecheril.
Ulrike Lingen-Ali (Dr. phil.), geb. 1971, lehrt am Institut für Pädagogik an der Universität Oldenburg. Ihre Schwerpunkte sind migrationsgesellschaftliche Geschlechterverhältnisse und Zugehörigkeitsordnungen, Fluchtverhältnisse, Orientalismus, Othering und Intersektionalität. Paul Mecheril (Prof. Dr.) ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Migration an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld. Seine Schwerpunkte sind methodologische und methodische Fragen interpretativer Forschung, pädagogische Professionalität, migrationsgesellschaftliche Zugehörigkeitsordnungen, Macht und Bildung.
Ulrike Lingen-Ali, Paul Mecheril (Hg.)
Geschlechterdiskurse in der Migrationsgesellschaft Zu »Rückständigkeit« und »Gefährlichkeit« der Anderen
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Inhalt
Rückständigkeitsgenerative Geschlechterdiskurse in der Migrationsgesellschaft Eine Einleitung Ulrike Lingen-Ali/Paul Mecheril ...................................................... 7
Befreiung als Beherrschung Emanzipation und Viktimisierung unter rassistischen Bedingungen María do Mar Castro Varela/Nadine Sarfert ........................................... 17
Bedrohung sexueller Freiheit im Kontext von Fluchtmigration Anmerkungen und Rückfragen zu Widersprüchen im Diskurs um die Homophobie der ›Anderen‹ Marc Thielen ........................................................................ 41
Gender als Sprache der Grenzpolitiken Gender und Border Work Sabine Hess........................................................................ 59
Vom Andauern der »Rasse« als einem Drohwort in der Rassismuskritik Vassilis S. Tsianos.................................................................. 85
Spot the Difference Differenzwissen im Kontext von Segregation in Vorbereitungsklassen für neuzugewanderte Schüler*innen Juliane Karakayalı ................................................................. 119
Feministisch begründete Deutungshoheiten und Zusammenhänge in Geschlechterdiskursen über Musliminnen in Deutschland Meltem Kulaçatan .................................................................. 141
Von ›kultureller Rückständigkeit‹ zu nationaler ›Modernisierung‹? Repräsentationen migrantischer Musliminnen in Deutschland zwischen Aneignung und Selbstermächtigung Sylvia Pritsch ..................................................................... 165
Unsere unschuldigen Frauen Anna Sabel........................................................................ 201
Autorinnen und Autoren..................................................... 215
Rückständigkeitsgenerative Geschlechterdiskurse in der Migrationsgesellschaft Eine Einleitung Ulrike Lingen-Ali/Paul Mecheril The effect of mobility and migration is to secularize relations which were formerly sacred. (Park 1928: 888)
Wenn wir Migration zunächst als eine spezifische Form der körperlichen Grenzüberschreitung verstehen, dann hat es Bewegungen von Menschen über Grenzen mutmaßlich zu allen historischen Zeiten und fast überall gegeben. Die Konsequenzen grenzüberschreitender Bewegungen können hierbei als Phänomene untersucht und verstanden werden, in denen neues Wissen, Erfahrungen, Sprachen und Perspektiven in soziale Zusammenhänge eingebracht und diese entsprechend umgestaltet und verändert werden. Die Überschreitung von Grenzen, die grenzüberschreitenden Bewegungen von Menschen, ihrer Lebensweisen, Geschichten und Erinnerungen, fordert die Register der symbolischen, juristischen und moralischen Legitimierung von Grenzen heraus. Migration als Überschreitung von Grenzen geht aber zugleich auch mit der Bestätigung und Verunsicherung des Bestehenden einher. So werden beispielsweise nationalstaatliche Grenzen im Moment der Überschreitung in besonderer Weise sichtbar und in ihrer Geltungsmacht bekräftigt und sogar auch, wie etwa die Geschichte des Schengener Raums zeigt, wieder eingerichtet. Die Überschreitung von Grenzen, um es in knappster Form zu sagen, schwächt und stärkt die Gültigkeit und den sakralen Nimbus (Park 1928), der Ordnungen (Deutschland, Europa) umgibt, die Grenzen hervorbringen.
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Mit der Überschreitung von Grenzen wird die Frage der Zugehörigkeit, des Wir und Nicht-wir, und damit der natio-ethno-kulturell Anderen diskursiv ausgehandelt. Das Sprechen über jene, die migrationsgesellschaftlich als Andere gelten und als solche hervorgebracht werden, das Sprechen und Schreiben über Flüchtlinge und Migranten (Friese 2017), die mediale und politische Visualisierung von Flüchtlingen und Migranten (Wintzer 2016) hat zunehmend den Modus einer Dämonisierung (imaginierter) Anderer angenommen (vgl. die Beiträge in Castro Varela/Mecheril 2016) – nicht zuletzt im Zuge der diskursiven Geschehnisse rund um die Silvesternacht in Köln (Dietze 2016; Messerschmidt 2016) und den Terroranschlägen in deutschen Städten (Tuschhoff 2016). Zivilisatorische Rückständigkeit und die mit diesem sittlichen Mangel der Anderen verbundene terroristische und sexuelle Gefahr, die buchstäblich von ihren Körpern ausgeht, sind dabei wesentliche Momente dieser Dämonisierung. Vier Aspekte sind mit dieser imaginierten Rückständigkeit und Gefahr der imaginierten Anderen verbunden, die in den Beiträgen des vorliegenden Bandes in unterschiedlicher Weise behandelt werden: a) Die Praxis der Zuschreibung, der Deutung und des Erlebens der Rückständigkeit Anderer ist funktional für die vermeintliche Legitimität der Zurückweisung der (menschenrechtlich verbürgten) Ansprüche dieser Anderen (wie beispielsweise die Verschärfung der Asylgesetze und die Intensivierung der auf das Prinzip der Abschottung setzenden europäischen Flüchtlingspolitik). Weil die Anderen rückständig und gefährlich, dämonisch und ungezügelt sind, so die vielleicht kürzeste Analyseformel, sind wir befugt, uns vor ihnen und somit unsere Vorrechte zu schützen. b) Diese Praxis der Zuschreibung, der Deutung und des Erlebens der Rückständigkeit Anderer tritt vermehrt dann auf, wenn eine Ordnung, die durch die leibliche wie symbolische Präsenz Anderer nicht nur angezeigt, sondern auch in ihrer Legitimität befragt und in ihrer Gültigkeit problematisiert wird, in eine Krise gerät (Mecheril 2019). c) Der dominanzkulturelle Sinn und die affektiv-praktische Wirksamkeit der Rückständigkeitszuschreibung können nur erfasst werden durch eine Historisierung der Zuschreibungsmuster und eine Analyse historischer (Dis-)Kontinuitäten der entsprechenden Affektlogiken (Mecheril/van der Haagen-Wulff 2016). d) Der imaginierte Körper der Anderen und nicht zuletzt seine Sexualisierung spielen zur kulturellen Plausibilisierung der immer auch einen Reiz
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mit sich führenden Gefahr, die von ihm ausgeht, eine bedeutsame Rolle. Diese wird dem Körper der migrationsgesellschaftlichen Anderen, die im Zuge dieses Prozesses zu Anderen werden, nicht zuletzt über migrationsgesellschaftliche Geschlechterdiskurse zugewiesen. Im Folgenden einige kursorische Anmerkungen, die in den Beiträgen des vorliegenden Bandes differenzierter ausgeführt und um weitere Aspekte ergänzt werden.1 Die Sexualisierung der Anderen und die Zuschreibung der Bedrohung unserer Körper und unserer Ordnung, die von ihrer Sexualität und der mit ihnen verbundenen terroristischen Gefahr (vgl. Wendekamm 2015: 204ff.) ausgeht, ist eine Praxis, die auch kennzeichnend für solche Kontexte ist, die in einer rassistischen Tradition stehen, von der sie sich zwar formell entschieden abgesetzt haben, die gleichwohl wirksam ist (Balibar 1990), wie das Deutschland der Gegenwart. Die medialen Darstellungen und öffentlichen Kommentare etwa zu der Kölner Silvesternacht verweisen auf eine tief verwurzelte, historische Amnesie (vgl. Stoler 2011) im Hinblick auf rassistische Wirklichkeit. Verwiesen sei hier auf die Assoziation der Türken vor Wien, die auf die zweite Belagerung Wiens durch das Osmanische Reich im Jahre 1683 anspielt und weiterhin Ängste gegenüber muslimischen Bevölkerungen zu mobilisieren in der Lage ist. Das Narrativ der wehrhaften Österreicher, die die ›wilden Horden‹ mit einer kleinen Armee besiegen, ist heute noch populär wirksam, um damit die Einwanderung aus muslimischen Ländern zurückzuweisen. Die Sexualisierung natio-ethno-kulturell kodierter Anderer lässt sich exemplarisch auch mit Blick auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nachzeichnen, in der das Rheinland unter französischer Besatzung stand. Von den ungefähr 85 000 französischen Soldaten stammten circa 30 000 bis 40 000 aus den französischen Kolonien aus Nord- und Westafrika – Tunesien, Marokko, Algerien, Senegal, auch aus Madagaskar und einigen anderen Regionen. Die Konsequenzen eines Ereignisses – ein marokkanischer Soldat schießt in eine Runde von Zivilisten und tötet dabei deutsche Staatsbürger (Wigger 2007) – war eine anhaltende, landesweit koordinierte Protestkampagne mit umfassender internationaler Unterstützung gegen die Präsenz von ›farbigen‹ Soldaten im Rheinland, getragen von sexualisierenden, verunglimpfenden und 1
Die folgenden Ausführungen gehen auf eine Passage aus einem bereits publizierten Text zurück (Mecheril/van der Haagen-Wulff 2016).
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propagandistischen Parolen und Bildern, mit der die vermeintliche Bedrohung des »gesamten abendländischen Kulturkreis« begründet wurde (Wigger 2007: 11). In der öffentlichen Propagandakampagne gegen die Schwarzen französischen Soldaten im Rheinland entzündete sich gesellschaftliche Empörung an der Bedrohung durch die (vermeintlich) unbändigen, lüsternen Körper der Anderen. In der Repräsentation als sexuell triebhaft, libidinös unkontrolliert und gewalttätig wird den Schwarzen Soldaten gewaltsam Menschlichkeit, Handlungsvermögen und menschliche Würde abgesprochen. Mindestens ebenso eindrücklich und ebenso mobilisierend ist jene diskursive Barbarisierung der Anderen, die iterative Performanz ihrer Rückständigkeit (und damit unserer zivilisatorischen Fortschrittlichkeit), die in einer Kontinuität zu den orientalistischen Bildern der Kolonialzeit stehen (s. etwa Castro Varela/Dhawan 2015: 96ff.). Eine der zentralen Legitimierungsthesen der kolonialen Zivilisierungsmission war die Repräsentation der Anderen als barbarisch, unberechenbar und mithin gefährlich. Wie ist, wenn es sich bei sexueller oder terroristischer Gewalt faktisch oder vermeintlich um Gewalt durch natio-ethno-kulturell markierte Andere handelt, die Intensität der dieser Gewalt folgenden Affekte, die Heftigkeit, in der Bedrohung erlebt wird, die bodenlose Stärke der Angst und die Unbeugsamkeit der Wut zu verstehen? Insbesondere in dem phantasmatischen Bild des natio-ethno-kulturell kodierten, nicht zuletzt muslimischen Anderen (vgl. Amir-Moazami 2018) bestätigt sich Europa seines Vorzugs. Europas Zivilisiertheit bedarf der Unzivilisiertheit der Anderen.2 Weil dieser natioethno-kulturell kodierte, selbstkonstitutive Akt in der Abgrenzung von imaginierten Anderen ein religiöses Moment in sich trägt und von diesem Moment unmerklich getragen wird, kommt ihm affektive Evidenz zu. Es ist die sakrale Dimension natio-ethno-kulturell kodierter Zugehörigkeitskontexte, die durch den Bezug auf das Religiöse besonders eindringlich mobilisiert werden können. In dem Ansinnen, die Spannung zwischen profaner und sakraler Welt zu überwinden (Eisenstadt 2000), ist der Nationalstaat »keineswegs nur ein säkulares Gebilde, sondern nimmt vielmehr die spirituellen Ansprüche der Religion auf, samt den Verpflichtungen, die das Individuum nun gegenüber dem Staat als dem Gesamten hat« (Knoblauch 2009: 35). Natio-ethnokulturell kodierte Zugehörigkeitspraktiken lassen mithin in einem beachtli2
»Die Engländer sind nicht deshalb rassistisch, weil sie die Schwarzen hassen, sondern weil sie ohne die Schwarzen nicht wissen, wer sie sind« (Hall 1999: 93).
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chen Maße sakrale Verfahren der Sinnstiftung zu und benötigen diese insbesondere in Zeiten der Krise der natio-ethno-kulturell kodierten Zugehörigkeitsordnung. Auch aus diesem Grund findet gelegentlich ein Rückgriff auf das Religiöse statt, um das Natio-ethno-kulturelle und Derivate dieser diffusen, aber wirksamen Vorstellungswelt, wie Kulturkreis, Abendland, Europa, zu bestärken oder um mittels des Religiösen das Natio-ethno-kulturelle zu bestätigen: »Es ist bezeichnend, dass die unmittelbare ›Reaktion‹ auf die Sichtbarkeit des Islam in Europa weniger die Verstärkung der christlichen Kultur ist als die des kulturellen und politischen Nationalismus« (ebd.: 37). Die Modi des Sichtbarmachens des Islam in Europa und mithin die Herstellung der muslimisierten Anderen kann, mit Gabriele Dietze (2017) gesprochen, als sexualpolitische Stigmatisierung bezeichnet werden: Muslime seien in Deutschland einerseits unerwünscht, weil sie ein ›rückständiges‹ Sexualregime pflegen, unterdrückt sind und sich nicht autonom sexuell entfalten wollen und deshalb nicht in eine freie Gesellschaft ›passen‹. Andererseits seien sie unerwünscht, weil sie eine gefährlich aggressive Sexualität hätten, die sie zu Straßenbelästigungen motiviere, wie die Ereignisse in Köln in der Silvesternacht 2015/16 gezeigt hatten (ebd.: 18). Mit diesem »sexuellen Exzeptionalismus« (ebd.) wird ein Überlegenheitsnarrativ auf Grundlage der imaginierten Rückständigkeit der Anderen entwickelt, das sowohl die dramatisierte Gegenüberstellung von muslimischer sexueller Unterdrückung und abendländischer sexueller Selbstbestimmung benötigt, als auch rassifizierte Vorstellungen von Religion einer Säkularität gegenüberstellt.
Zu den Beiträgen des Sammelbandes Der öffentliche Aufschrei und die aus dem »Ereignis Köln« (Hark/Villa 2017) resultierende Proklamation der gesellschaftlichen Bedrohung ist in mehrfacher Weise produktiv: Sie schreibt die Bedrohung in die Körper der nordafrikanischen, arabischen, muslimischen Anderen ein und zieht eine Grenze, die deutlich macht, wer zu den bedrohten und wer zu den bedrohenden Körpern gehört: Der als bedrohlich markierte Körper verwirkt darin das Recht auf Artikulation. Wer unsere Frauen gefährdet, existiert nicht mehr, nicht weiter als in der Körperlichkeit der Bedrohung und der Bedrohlichkeit des Körpers. In der Folge werden Wesen und Körper dieser Anderen in Diskursen in einer
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Form fokussiert, die eine Grundlage für die zunehmende Legitimation der Überwachung und Bestrafung dieser Anderen ausbildet. Vor diesem Hintergrund thematisiert der Sammelband europäische und westliche Praktiken der geschlechterpolitischen Behauptung, Visualisierung und Hervorhebung der Gefahr und der Rückständigkeit Anderer wie auch die Konsequenzen dieser Praktiken in unterschiedlichen Räumen. Die Beiträge dieses Bandes beleuchten die Zusammenhänge zwischen der Herstellung des Anderen als rückständig und/oder gefährlich aus unterschiedlichen Perspektiven. Maria do Mar Castro Varela und Nadine Sarfert greifen mit ihrem Beitrag Befreiung als Beherrschung. Emanzipation und Viktimisierung unter Kontext rassistischer Gesellschaften die Debatte um das Diskursereignis Köln auf und fokussieren rassistische Diskurse in feministischen Kontexten, indem sie unter Rückgriff auf die Analysen von Gayatri Chakraworty Spivak auf historischdiskursive Kontinuitäten verweisen. Ihr Beitrag ist als Plädoyer für die Revision liberaler Emanzipations- und Solidaritätsdiskurse zu verstehen und fordert dazu auf, Solidarität in eine Richtung neu zu denken, die imperiale Positionen schwächt. Marc Thielen problematisiert in seinem Beitrag Bedrohung sexueller Freiheit im Kontext von Fluchtmigration. Anmerkungen und Rückfragen zu Widersprüchen im Diskurs um die Homophobie der »Anderen« Diskurse zu einer bedrohlichen, vermeintlich kultur- bzw. religionsbedingt ›fremden‹ Männlichkeit. Er zeichnet dabei nach, wie in diesem Zusammenhang Rassismus befördert und legitimiert wird und zugleich heteronormative Machtverhältnisse der Mehrheitsgesellschaft verschleiert und dethematisiert werden. Der Diskurs um die vermeintlich durch Migration bedrohte sexuelle Freiheit werde primär zur Rechtfertigung repressiver Grenzregime instrumentalisiert. Sabine Hess zeichnet in ihrem Beitrag zu Gender als Sprache der Grenzpolitiken. Gender und Border Work auf Grundlage von Forschungen aus dem Bereich der kritischen Grenz- und Migrationsforschung in den letzten 15 Jahren nach, dass die Aneignung und Rekodierung von Gender-Artikulationen in einem antimigrationspolitischen Sinne schon länger im Kontext europäischer Grenzpolitiken zu beobachten ist. Diese Aneignungen greifen auch humanitäre, menschenrechtliche Argumente diskursiv und praktisch auf und stellen eine erfolgreiche Diskursstrategie des Europäischen Grenzregimes dar, mit der nicht nur das migrantische Subjekt diszipliniert wird, sondern auch imperial ausgreifend Mobilitätsrechte zu- und aberkannt werden.
Rückständigkeitsgenerative Geschlechterdiskurse in der Migrationsgesellschaft
Vassilis Tsianos geht in seinem mit Vom Andauern der »Rasse« als einem Drohwort in der Rassismuskritik überschriebenen Beitrag der rassismustheoretischen Debatte zwischen Robert Miles und Paul Gilroy nach und plädiert an die Kommentierung der Debatte anschließend und an der Praxis des racial profilings exemplifizierend gegen eine Entkopplung von race und Rassismus. Mit Frantz Fanons Figur der gelebten Erfahrung des Schwarzen erörtert Tsianos die Bedeutsamkeit der Unterscheidung zwischen Antirassialismus und Antirassimus. Die verkörperte Erfahrung von race beleuchtet der Beitrag mit Bezug auf die repräsentationskritische Figur der »artikulierten Praxis« im Sinne Donna Haraways und offeriert damit eine Alternative zwischen einem biologistischen Realismus und der Ersatzempirie des Sozialkonstruktivismus. In ihrem Beitrag Spot the difference: Differenzwissen im Kontext von Segregation in Vorbereitungsklassen für neuzugewanderte Schüler*innen untersucht Juliane Karakayalı das Verhältnis von natio-ethno-kulturellem Differenzwissen und Segregation im Kontext sogenannter Willkommensklassen. Sie arbeitet heraus, dass die organisationale Praxis der Segregation sich mit einem stereotypisierenden und homogenisierenden Unterscheidungswissen der Lehrkräfte über die Migrationsanderen verbindet, in Ermangelung curricularer Vorgaben zum strukturierenden Moment der Unterrichtsgestaltung wird und damit das Wissen um Differenz durch Segregation erst produziert bzw. verfestigt wird. Meltem Kulaçatan befragt in ihrem Beitrag Feministisch begründete Deutungshoheiten und Zusammenhänge in Geschlechterdiskursen über Musliminnen in Deutschland die aktuelle Verschränkung von nationalstaatlichen Narrativen, Vorstellungen von nationalstaatlichen Abwehrstrukturen, Zuwanderung, Fluchtmigration, Geschlechterverhältnissen und Frauenrechten sowie individualisiertem Religionsbezug. Sie veranschaulicht dabei, wie politische Praktiken in bestimmten gesellschaftspolitischen Kontexten normalisiert werden, sodass Frauenrechte eingeschränkt werden bzw. nicht für alle Frauen gültig sind. Diese Praktiken analysiert die Autorin als Missbrauch frauenrechtlich relevanter Anliegen zur Durchsetzung einschränkender politischer Maßnahmen mit dem Ziel der Aberkennung von gesellschaftlicher Pluralität. Sylvia Pritsch erörtert in ihrem Beitrag Von ›kultureller Rückständigkeit‹ zu nationaler ›Modernisierung‹? Repräsentationen migrantischer Musliminnen in Deutschland zwischen Aneignung und Selbstermächtigung das Gebot der Sichtbarkeit des Gesichts im öffentlichen Raum und fragt sowohl nach den Positionen,
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die im bundesdeutschen Narrativ der Muslima zugewiesen werden, als auch nach den Bedingungen, unter denen muslimische/muslimisierte Frauen überhaupt sichtbar werden können. Die Autorin befragt dabei Diskursereignisse, in denen Modernisierung und Diversität im Zusammenhang mit Nation und Geschlecht thematisiert werden, und richtet ihren Blick auf die Ambivalenz von Strategien muslimischer Frauen zwischen Selbstermächtigung und nationaler Aneignung. Anhand von Erfahrungen aus der Workshoparbeit zu Bildern muslimischer Männlichkeiten in der deutschen Gesellschaft richtet Anna Sabel mit ihrem Beitrag Unsere unschuldigen Frauen einen (selbst-)reflexiven Blick auf die Zusammenhänge zwischen Sexismus und Rassismus. Dabei fokussiert sie insbesondere die Angst vor dem »anderen Mann«, Begehren, Machtverhältnisse und Beschämung im Kontext rassistischer Verhältnisse und weißer Positioniertheit.
Literatur Amir-Moazami, Schirin (Hg.) (2018): Der inspizierte Muslim. Wissensproduktion und Machtreproduktion im Forschungsfeld Islam in Europa. Bielefeld: transcript. Balibar, Étienne (1990): Gibt es einen Neo-Rassismus? In: Balibar, Etienne/Wallerstein, Immanuel: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Hamburg: Argument Verlag, S. 23-38. Castro Varela, Maria do Mar/Dhawan, Nikita (2015): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript. Castro Varela, Maria do Mar/Mecheril, Paul (Hg.) (2016): Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart. Bielefeld: transcript. Dietze, Gabriele (2016): Das ›Ereignis Köln‹. In: Femina Politica 1 (2016), S. 93102. Dietze, Gabriele (2017): Sexualpolitik: Verflechtungen von Race und Gender. Frankfurt/New York: Campus. Eisenstadt, Shmuel N./Schluchter, Brigitte (2000). Die Vielfalt der Moderne. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Friese, Heidrun (2017): Flüchtlinge: Opfer – Bedrohung – Helden. Zur politischen Imagination des Fremden. Bielefeld: transcript.
Rückständigkeitsgenerative Geschlechterdiskurse in der Migrationsgesellschaft
Hall, Stuart (1999): Ethnizität: Identität und Differenz. In: Engelmann, Jan: Die kleinen Unterschiede: Der Cultural Studies-Reader, Frankfurt a.M./New York, S. 83-98. Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene (2017): Unterscheiden und herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart. Bielefeld: transcript. Knoblauch, Hubert (2009): Populäre Religion. Auf dem Weg zu einer spirituellen Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Campus. Mecheril, Paul (2019): Migrationsgesellschaft als Arena gegenwartsdiagnostischer Praktiken. Eine analytische Annäherung. In: Alkemeyer, Thomas u.a. (Hg.): Gegenwartsdiagnosen. Kulturelle Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung in der Moderne. Bielefeld: transcript, S. 461-480. Mecheril, Paul/van der Haagen-Wulf, Monika (2016): Bedroht, angstvoll, wütend: Affektlogik der Migrationsgesellschaft. In: Castro Varela, María do Mar/Ders. (Hg.): Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart. Bielefeld: transcript, S. 119-143. Messerschmidt, Astrid (2016): Nach Köln – sprechen über Sexismus und Rassismus. Vortrag bei einer vom Netzwerk für Rassismuskritische Migrationspädagogik in Baden-Württemberg organisierten Veranstaltung an der Universität Tübingen am 28. Januar 2016, online unter www.rassismuskritik-bw.de (Zugriff: 30.04.2020). Park, Robert (1928): Human Migration and the Marginal Man. In: The American Journal of Sociology 33, H. 6 (Mai), S. 881-893. Stoler, Ann L. (2011): Colonial Aphasia: Race and Disabled Histories in France. In: Public Culture 23, H. 1, S. 121-156. Tuschhoff, Christian (2016): Terrorgefahr in Deutschland: Bedrohungsperzeption vs. tatsächliche Erfahrung. In: Freie Universität Berlin: Aus der Forschung 5 [19 Seiten], online unter https://refubium.fuberlin.de/bitstream/handle/fub188/19257/Terror.pdf?sequence=1 (Zugriff: 30.04.2020). Wendekamm, Michaela (2015). Die Wahrnehmung von Migration als Bedrohung. Zur Verzahnung der Politikfelder Innere Sicherheit und Migrationspolitik. Wiesbaden: Springer VS. Wigger, Iris (2007). »Die Schwarze Schmach am Rhein«: Rassische Diskriminierung zwischen Geschlecht, Klasse, Nation und Rasse. Münster: Westphälisches Dampfboot. Wintzer, Lina-Marie (2016): Graduate Section: Die visuelle Darstellung von Migranten – Wandel und Kontinuitäten im deutschen Mediendiskurs. In:
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Global Media Journal. German Edition 6, H. 1, online unter www.db-thue ringen.de/servlets/MCRFileNodeServlet/dbt_derivate_00035511/GMJ11 _Wintzer.pdf (Zugriff: 30.04.2020).
Befreiung als Beherrschung Emanzipation und Viktimisierung unter rassistischen Bedingungen María do Mar Castro Varela/Nadine Sarfert Dabei geht es nicht darum, die kleinen Vorteile, die den Frauen eingeräumt werden, gegen die kleinen Errungenschaften der Männer aufzuwiegen, sondern in der Tat darum, alles platzen zu lassen. (Despentes 2009: 167)
Einleitung Laut dem Bericht des Ministeriums für Inneres und Kommunales des Landes NRW über die Übergriffe am Hauptbahnhof Köln wurden in der Nacht zum 01.01.2016 […] auf dem Bahnhofsvorplatz sowie im Hauptbahnhof Köln eine Vielzahl von Sexual-, Raub- und Diebstahlsdelikten begangen. Opfer waren nahezu ausschließlich Frauen. Sowohl Einsatzkräfte der Polizei Köln und der Bundespolizei als auch Zeugen berichteten von zeitweilig chaotischen Zuständen. Auf dem Bahnhofsvorplatz sowie der angrenzenden Treppe zur Domplatte hatten sich zeitweise mehr als 1000 Personen angesammelt. Dabei handelte es sich überwiegend um männliche Personen im Alter zwischen ca. 15 und 35 Jahren, die dem äußeren Eindruck nach aus dem nordafrikanischen/arabischen Raum stammten. Ein Großteil dieser Personen war stark alkoholisiert. […] Innerhalb dieser Menschenmenge bildeten sich Gruppen unterschiedlicher Größe, die unter anderem Frauen massiv sexuell bedrängten und sie teilweise bestahlen. (2016: 1)
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Die Vorfälle dominierten lange die Medienberichterstattungen und Talkshows. Eine typische Berichterstattung las sich wie folgt: Was Lisa vor fast genau einem Jahr vor dem Haupteingang des Kölner Doms passiert ist, hat ihr Vertrauen so erschüttert wie noch nichts in ihrem damals erst 19-jährigen Leben. Das Vertrauen in ihre eigene Stärke. In die Polizei. In den Staat. Eine Erfahrung, vor der sie nicht einmal Lars, ihr Tanzpartner, »mein bester Freund«, schützen konnte, obwohl er in jenen verhängnisvollen Minuten dicht bei ihr war. Beschützer-Instinkte weckt die 1,63 Meter kleine und höchstens 50 Kilogramm wiegende zierliche Frau mühelos. Ihre auffallend langen, hellblonden Haare trägt sie beim Gespräch offen. So wie fast immer. Auf das spontane Kompliment reagiert sie verlegen. »Blonde Haare, das kann auch ein Nachteil sein«, sagt sie. Zum Beispiel in der Silvesternacht.1 Rassistische Vorstellungen wurden in der Zeit in vielen Gesprächen recht freizügig ventiliert. Viele Menschen in Deutschland schienen es schon immer gewusst zu haben: Wenn Deutschland die Grenzen für junge männliche geflüchtete Menschen öffnet, würde, so die hegemoniale Annahme, damit Gewalt, Sexismus und Antisemitismus ins Land kommen (s. Arnold/König 2016). Nachdem in der Silvesternacht auf der Kölner Domplatte Hunderte von Frauen meldeten, von jungen migrantischen Männern sexuell belästigt worden zu sein, wurden historisch vermittelte, rassistische Vorurteile mobilisiert und zuweilen lustvoll ausagiert. So fragt sich Alice Schwarzer in dem schnell geschriebenen2 und zusammengestellten Buch, ob jetzt »diese Scharia-Muslime […] auch mitten in Europa Frauen aus dem öffentlichen Raum vertreiben« wollen (2016: 19). Es ließe sich hier durchaus fragen: Wer und was sind »Scharia-Muslime«? Und welche Ängste werden hier auf Kosten von wem geschürt? Wie auch andere Bücher, die ähnliche Töne anschlagen, verkauft sich das Buch gut und Alice Schwarzer wird oft in Talkshows zum Thema eingeladen. Feministische bzw. feministisch klingende Argumente 1
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Hier ein kurzer Bericht der Mitteldeutschen Zeitung ein Jahr nach den Vorfällen von Köln: www.mz-web.de/panorama/silvesternacht-2015-so-erlebte-eine-fraudie-sexuellen-uebergriffe--25397252 (Zugriff: 30.04.2020). Das Buch erschien bereits fünf Monate nach den Vorfällen und enthält Beiträge unterschiedlicher Autor/-innen. Der Tenor ist aber durchgängig derselbe: Die Einwanderung muslimischer Männer wird als Bedrohung skizziert und der Islam als solcher als rückständig dargestellt.
Befreiung als Beherrschung
eingelassen in rassistische Diskurse stellen eine bekannte gesellschaftliche Repräsentation dar. Gabriele Dietze (2016: 178) spricht in diesem Zusammenhang pointiert von »Ethnosexismus«: Ethnosexismus wird hier als eine Art von Kulturalisierung von Geschlecht verstanden, die ethnisch Markierte aufgrund ihrer Position in einer angeblich problematischen oder ›rückständigen‹ Sexualität oder Sexualordnung diskriminiert. Eine typische Besprechung/Beurteilung des Buches von Schwarzer auf amazon.de liest sich wie folgt: »Ich bewundere den Mut von Alice Schwarzer und der anderen Autoren. Sie stellen nicht nur fest, was passiert ist, sondern klagen auch klar an und sagen, dass diese Barbarei einen kulturellen Hintergrund hat, den man benennen kann und sollte. Ebenso, dass dies nicht der erste Vorfall dieser Art ist und dass es täglich in der islamischen Welt passiert.« Aktualisiert werden hier u.a. koloniale Bilder, die den ehemalig Kolonisierten absprechen, ihre Sexualität kontrollieren zu können und davon ausgehen, dass sie sexistisch seien, weil sie nicht zivilisiert seien (s. etwa McClintock 1994; Stoler 2003). Nicht erst seit den Vorfällen der Silvesternacht in Köln wird über die angebliche Bedrohung der emanzipierten westlichen Welt durch Einwanderung (insbesondere junger Männer aus sogenannten muslimischen Ländern) debattiert (s.Munsch/Gemende/Weber-Unger Rotino 2007). Es handelt sich dabei, wie wir zeigen werden, um einen bekannten rassistischen Diskurs, der sich auch in feministischen Kontexten nachweisen lässt. Die wiederholt vorgebrachten Argumente behaupten immer wieder, dass eine vermeintlich kulturelle Differenz junge muslimische Männer per se zu einer Bedrohung ›westlicher Werte‹ mache. Es scheint uns bedeutsam, in diese Debatte einzugreifen, indem wir fragen, was eigentlich der Gegenstand der Auseinandersetzung ist: Geht es wirklich um kulturelle Differenz? Zugleich ist es bei der Bearbeitung der Fragen angeraten, die in den medialen und politischen Diskursen zu der Gefahr, die vermeintlich insbesondere von muslimischen Männern ausgeht, vorgebrachten Argumente zu historisieren. Oder anders gewendet: historisch-diskursive Kontinuitätslinien freizulegen, denn das Sprechen von den sexualisierten Anderen ist weder neu noch zufällig. In seiner bahnbrechenden kolonialen Diskursanalyse Orientalism (1978) konnte Edward Said u.a. zeigen, wie »[w]ertungsunterfütterte Aussagen über die Einwohner kolonisierter Länder […] als Fakten präsentiert [wurden], gegen die wenige Einwände formulierbar waren. Ist dieser Prozess erst
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einmal in Gang gesetzt, wächst selbst anekdotischen oder fiktiven Informationen Faktenstatus zu, weil sie innerhalb des kolonialistischen Geflechts von Machtbeziehungen produziert werden.« (Mills 2007: 118; s.a. Castro Varela/Dhawan 2020: 99ff.) Dann wird auch deutlich, warum das Thema der »Emanzipation« – insbesondere die sogenannte »Frauenemanzipation« – ein diskursanalytisch prominentes Feld postkolonialer Studien darstellt (Spivak 1981; McClintock 1994; Rao 2014). Lange schon wird hier darauf aufmerksam gemacht, dass die normative Idee der Emanzipation immer auch eine exkludierende war und zudem für imperialistische Zwecke instrumentalisiert wurde und wird (s.a. Castro Varela/Dhawan 2016). Da Emanzipation immer normativ ist, gehen mit ihr Kriterien einher, die erfüllt werden müssen, um im liberalen Sinne als emanzipiertes Subjekt gelten zu können. Das reicht von normativen Ideen bzgl. des Umgangs mit dem eigenen Körper und Begehren hin zu ästhetischen Vorgaben, die festlegen, welche Kleidung etwa eine emanzipierte Frau zu tragen hat bzw. nicht tragen sollte. So gilt das Tragen eines Kopftuchs den liberalen Feministinnen in Europa als unemanzipiert und wird zuweilen als ein bloßes Symbol der Unterdrückung gelesen (kritisch etwa Bielefeldt 2004), während das Tragen von High Heels zwar in den 1970er- und 1980er-Jahren einer heftigen feministischen Kritik unterzogen wurde, aber heute in den bildlichen Repräsentationen oft Emanzipation symbolisiert, obschon sie gesundheitsschädlich3 sind und die Tragenden in ihrer Mobilität einschränken. Die sogenannte Kopftuchdebatte ist dabei Teil eines dominanten antimuslimischen Rassismus (s.a. Amir-Moazami 2018) und illustriert die normative Schließung des Emanzipationsdiskurses, die mit der Exklusion der ›anderen Frau‹ einhergeht. So hat beispielsweise die Ausstellung »Contemporary Muslim Fashions« im Frankfurter Museum für Angewandte Kunst, die im April 2019 eröffnet wurde,4 einen Sturm in
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In 2016 startete Nicola Thorpe eine Petition mit dem Titel Make it illegal for a company to require women to wear high heels at work, nachdem sie von ihrem Arbeitgeber entlassen wurde, weil sie sich weigerte, High Heels zu tragen. Dies führte zu heftigen Diskussionen im britischen Parlament, nachdem in wenigen Tagen mehr als 150 000 Frauen die Petition unterzeichnet hatten (vgl. www.theguardian.com/world/2016/may/12/nicola-thorp-high-heel-petition-receives-100000-plus-signatures [Zugriff: 30.04.2020]). Gleichzeitig warnen Ärztinnen und Ärzte seit vielen Jahren vor den Gesundheitsrisiken, die mit dem Tragen von High Heels einhergehen (vgl. etwa www.derstandard.at/story/1073703/aerzte-warnen-vor-high-heels [Zugriff: 30.04.2020]). Siehe www.museumangewandtekunst.de/de/besuch/ausstellungen/contemporarymuslim-fashions (Zugriff: 30.04.2020).
Befreiung als Beherrschung
den deutschen Feuilletons ausgelöst, weil die Vorstellung, dass muslimische Frauen modern und mithin emanzipiert sein können, der Mehrheit nicht nur nicht verstehbar ist, aber auch nicht hingenommen wird, weil es die normative Idee von Emanzipation infrage stellt. Im nachfolgenden Text fokussieren wir das Thema Emanzipation in der Intersektion von Rassismus und Sexismus, wie es im westlichen europäischen Sicherheitsdiskurs deutlich wird, bei dem eingewanderte junge Männer als Bedrohung für den demokratischen Westen und insbesondere die emanzipierten westlichen Frauen markiert werden (vgl. BandhauerSchöffmann 2009; Castro Varela 2016). In diesem Zusammenhang nutzen wir Argumente aus dem prominenten Text der postkolonialen Intellektuellen Gayatri Chakravorty Spivak Can the Subaltern Speak? und machen diese für die Analyse der aktuellen sexistisch-rassistischen Diskurse in Deutschland/Europa produktiv. Der Beitrag versteht sich als ein Plädoyer für die Revision liberaler Emanzipations- und Solidaritätsdiskurse.
Die trickreiche Forderung nach Emanzipation Es hat sich mittlerweile auch in rechten Kreisen etabliert, feministische Argumentationen zu instrumentalisieren, um rassistische Forderungen zu legitimieren und etwa Asylrechtsverschärfungen durchzusetzen. Nach »9/11« setzte sich im Westen auch ein Diskurs durch, der Kriege legitimierte, in dem bekundet wurde, es gehe um das Wohl der Frauen: Sicherheitsdiskurse nach 9/11 machten sich nicht mehr an bedrohlichen Frauen fest, sondern inszenieren bedrohte Frauen, die von westlichen Männern vor rückständigen, islamischen Männern beschützt werden müssten. Die Legitimationsstrategien für einen Krieg gegen den Terrorismus und sogenannte »Schurkenstaaten« bauten zentral auf die Darstellung des Weiblichen und eine Verteidigung von (westlichen) Frauenrechten. (Bandhauer-Schöffmann 2009: 67) Von einer rassistischen Instrumentalisierung feministischer Ideen zu sprechen impliziert jedoch, dass der Feminismus (also: die feministische Theoriebildung und Frauenbewegungen) selbst frei von eigenen Rassismen ist. Wir möchten dieser einfachen Setzung hier nicht folgen. Nicht neu ist die Darlegung, dass die europäische Frauenbefreiung historisch mit rassistischen Maßnahmen und Praxen einherging bzw. auf dem Rücken von schwarzen
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Menschen und kolonisierten Frauen und Männern ausgetragen wurde. In diesem Sinne kann etwa die Verschärfung des Sexualstrafrechts im Herbst 2016 auch im Zusammenhang mit der Debatte um die Geschehnisse in Köln 2015 gesehen werden. Die diskursive Explosion um die ›barbarischen Nordafrikaner‹5 ist im Grunde, so unsere Meinung, auch eine Reaktion auf die Willkommenskultur, die viele als unpatriotisch beschreiben, weil sie nicht der eigenen Gruppe (›den weißen Deutschen‹) galt, sondern ›Fremden‹ zugutekam. Dies ist auch ein Grund für die Zunahme der gesellschaftlichen Akzeptanz und der Unterstützung der rechten Alternative für Deutschland (AfD). Von daher überrascht auch nicht, dass ein wichtiger Punkt des Wahlprogramms der Partei mit »Migrationspakt6 stoppen« formuliert ist. Unter anderem wird hier auch ein racial profiling befürwortet und dafür geworben, dass die deutsche Bevölkerung selbst bestimmen kann, wen sie ins Land lässt.7 Wenn staatliche Regulierungen ›Fremden‹ zugutekommen, so kann dies im Rahmen dieser Denkfigur nur damit einher gehen, dass die eigene Gruppe deprivilegiert wird bzw. zu kurz kommt. In dieser Perspektive ist es dann 5
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In der Debatte wurde explizit oder implizit immer wieder der Dualismus von Zivilisation und Barbarei aufgerufen, wobei nordafrikanische Männer – im Gegensatz zu Europäern – als unzivilisiert und barbarisch konstruiert wurden. Diese essenzialisierende Zuschreibung setzte sich im nächsten Jahr fort. An Silvester 2016 setzte die deutsche Polizei auf ein rassistisches Profiling und kontrollierte alle jungen Männer, die ihnen nordafrikanisch erschienen. Über Funk wurde die Abkürzung »NAFRI« genannt. Das polizeiliche Vorgehen geriet zum Politikum und zum Skandal. Im Blog »Sprachlog« analysiert der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch den Begriff »NAFRI«, der laut dem Kölner Polizeipräsidenten ein von der Polizei entwickelter Begriff ist, der sowohl »Menschen aus Nordafrika« als auch »nordafrikanische Intensivstraftäter« bezeichnet. Stefanowitsch bemerkt, dass die Bezeichnung »eine Doppeldeutigkeit zwischen Menschen und Straftätern aus einer bestimmten geografischen Region herausgebildet [hat], die potenziell rassistische Denk- und Handlungsweisen auslösen bzw. verstärken kann« (vgl. www.sprachlog.de/2017/01/03/nafris-einsprachwissenschaftliches-gruenen-seminar [Zugriff: 30.04.2020]). Mit »Migrationspakt« ist das internationale Agreement »Globale Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration« von 2018 gemeint, die unter Führung der Generalversammlung der Vereinten Nationen erarbeitet wurde. Mit der Unterzeichnung verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, Maßnahmen zu ergreifen, um internationale Migration einzudämmen, indem auf der einen Seite die Lebenssituation in den Herkunftsländern verbessert wird. Auf der anderen Seite soll darauf geachtet werden, dass während der Wanderung und bei der Ankunft die Menschenrechte gewahrt werden (www.un.org/depts/german/migration/A.CONF.231.3.pdf [Zugriff: 30.04.2020]). Siehe www.afd.de/migrationspakt-stoppen (Zugriff: 30.04.2020).
Befreiung als Beherrschung
auch folgerichtig, dass schwarze Frauen* und Queers als Betroffene von sexualisierter Gewalt in der Debatte nach der Silvesternacht 2015 größtenteils ausgeblendet wurden – ebenso wie die weißen deutschen Täter, die es auch gab.8 Dies scheint uns ein Indiz dafür zu sein, dass es im Diskurs vordergründig weniger um sexuelle Gewalt geht, sondern dass dieser eher eine Form des Patriotismus und Nationalismus darstellt, der ohne Rassismus gar nicht denkbar ist. So macht die Journalistin Hilal Sezgin in einem Kommentar in der Zeit deutlich, warum es respektlos ist, bei insgesamt 23 namentlich bekannten Tatverdächtigen zu schließen, dass alle jungen Männer, die Asyl beantragt haben, aus Marokko, Tunesien oder aus Syrien stammen, potenzielle Sexualstraftäter sind (vgl. Sezgin 2016: o. S.) Der Text Can the Subaltern Speak? von Gayatri Chakravorty Spivak kann uns hier auf einige wichtige Bruchstellen hinweisen, die in der Diskussion um Sexismus im Kontext rassistischer Strukturen selten diskutiert werden.9 Spivak hat den westlichen Feminismus einer kontinuierlich kritischen Hinterfragung ausgesetzt und dabei unter anderen die Repräsentationspolitiken angegriffen, die unhinterfragt alle Frauen repräsentieren wollen, ohne die feministische Komplizenschaft mit imperialistischen Politiken unter die Lupe zu nehmen.10 Unter anderem erinnert Spivak daran, dass das Othering außereuropäischer Frauen letztlich dazu beigetragen hat, Imperialismus und Kolonialismus als eine soziale Mission zu legitimieren. So diente den britischen Kolonialherren in Indien etwa die Praxis der Witwenverbrennung (sati) als Beweis dafür, dass es sich bei der indischen Gesellschaft um eine nicht nur ›barbarische‹, sondern auch frauenverachtende handele. Das Verbot des sati wurde als Befreiung beschrieben und diente gleichzeitig der Legitimierung der kolonialen Unterjochung. Als Schlüsselmanöver kann die Konstruktion eines unterdrückten weiblichen Subjekts verstanden werden, als eine Weise, die die Durchsetzung eines modernen Regimes des Empire legitimiert. Die Kolonialherrschaft nutzte gewissermaßen den Körper der indischen Witwen 8
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So berichtet die Zeit Online in einem kurzen Artikel über die Oberbürgermeisterin von Köln an. »Von den 183 Beschuldigten gelten 55 als Marokkaner, 53 als Algerier, 22 als Iraker, 14 als Syrer und 14 als Deutsche.« (www.zeit.de/zeit-magazin/2016-06/henriettereker-armlaenge-aeusserung-fehler [Zugriff: 30.04.2020]) Ich (María do Mar Castro Varela) möchte an dieser Stelle meinen Freundinnen Aïcha Diallo, Leila Haghighat und Natascha Khakpour, mit denen ich regelmäßig SpivakTexte lese und diskutiere, für wichtige Anregungen danken. Die weiteren Ausführungen zu Spivaks prominentem Text stellen eine Variation des Kapitels 3 aus Castro Varela/Dhawan 2015 dar.
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als ideologischen Kampfplatz. Das Verbot der Witwenverbrennung wurde dadurch legitimiert, dass nicht nur behauptet wurde, dass die indische Frau befreit, sondern auch das kolonisierte Land in eine emanzipierte Moderne geführt würde. In diesem Zusammenhang bemerkt Spivak (2008), dass der weiße Mann versuche, die »braune Frau vor dem braunen Mann zu retten« (81). Ihre Intention hier ist es, nachzuzeichnen, wie die Handlungsmächte der subalternen Frau in der dominanten Repräsentation unterbunden werden. Indem die patriarchalische Stimme ihre Freiheit zelebriert, wird die Stimme der subalternen Frau unhörbar. Die Stimme der Frauen wird zwischen den Antagonismen der britischen Kolonialherren und den machtvollen Brahmanen, die lange Zeit in Hindukontexten die einzigen waren, die legitimiert waren, soziale und politische Praxen zu sanktionieren, gelöscht und unhörbar. Letztere bezeichneten die Selbstverbrennung der Witwe als ihre freie Entscheidung, während Erstere der subalternen Frau die liberale Freiheit zu bringen trachteten (vgl. ebd.: 93). Zwischen diesen zwei Versionen ›freier Wahl‹ wurde, wie Spivak eindrucksvoll zeigt, die Handlungsmacht der subalternen Frau paradoxerweise unmöglich gemacht. Fortwährend ist es eine patriarchale Stimme, die für die subalterne Frau spricht, während die Stimme der Frauen selbst stumm bleibt. Zwischen Patriarchat und Imperialismus, Subjektkonstituierung und Objektformierung, verschwindet die Figur der Frau, und zwar nicht in ein unberührtes Nichts hinein, sondern in eine gewaltförmige Pendelbewegung, die in der verschobenen Gestaltwerdung der zwischen Tradition und Modernisierung gefangenen »Frau der Dritten Welt« besteht. (Ebd.: 101) Es ist der Abgrund, der sich zwischen diesen beiden Positionen auftut, der Spivak interessiert und den sie dekonstruktivistisch ausbuchstabiert. Spivaks Text ist ein vielzitierter Text, der sowohl vielfältige postkoloniale Studien als auch rassismuskritische Analysen grundiert. Oft wird jedoch die Pointe des Textes verpasst. Viele Autor/-innen lesen Spivaks Argumentation als eine bloße Anklageschrift gegen Kolonialismus und gegen die epistemische Gewalt, die dieser entfaltete, um das imperiale Herrschaftssystem zu sichern. Auch wenn dies sicher Teil der Darlegung ist, so geht es Spivak doch eher darum zu zeigen, wie eine Koalition widerstreitender Patriarchate die weibliche Stimme zum Verstummen bringt. Diese Aussagen und die Analyseperspektive des Textes sind hochaktuell, da die Skizzierung der synergetischen, patriarchalen Machtstränge bedeutsam ist, um die gegenwärtigen rassistisch-sexistischen Diskurse zu untersuchen. So werden Spivaks Analyse
Befreiung als Beherrschung
zur Folge subalterne Frauen als Effekt der konvergierenden lokalen und imperialen Patriarchate zum Verstummen gebracht. Der Vergleich ist natürlich immer mit Vorsicht und Behutsamkeit vorzunehmen, ist es doch immer risikoreich, den Kontext einer Untersuchung zu missachten. Die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2016 kann wohl kaum mit dem britischen Empire im 19. Jahrhundert in eins gesetzt werden, jedoch ist es legitim, die Analyse dazu zu nutzen, um aufzuzeigen, wie in einem Manöver, das vorgibt, die Freiheit von Frauen zu schützen, diese zum Verstummen gebracht wird. Nun scheint es die weiße Frau und die Frau of Color, die vor dem ›braunen‹ Mann geschützt werden muss. Die Rolle des weißen Mannes jedoch bleibt auch im Narrativ der europäischen Gegenwart unangetastet: Er ist der Retter; derjenige der die Freiheit bringt und schützt. Ein fataler Diskurs, der zum einen alle Frauen in die Position der Schutzbedürftigen katapultiert, dabei die nicht weißen Männer dämonisiert und gleichsam die Frauen entlang der imaginierten Zugehörigkeit zum vermeintlich freien Westen spaltet und zu unvereinbaren Antagonistinnen erklärt. Ein Diskurs, der auch aufgrund rassistischer Grenzziehungen dafür Sorge trägt, dass die weiße europäische Frau immer von dem für sie eigentlich verhängnisvollen Emanzipationsdiskurs profitiert. Obschon nämlich derselbe sie in der Position der zu Beschützenden lässt, erhebt er sie gleichzeitig über die anderen Frauen und Männer. Die Funktionsweise und die diversen Konsequenzen – insbesondere für Frauen und Queers of Color, lassen sich u.a. nachlesen in den Schriften des Schwarzen Feminismus (s. etwa Davis 1981; Hill Collins 1990). Und auch queere Theoretiker/-innen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die vermeintliche Emanzipation der weißen heterosexuell-bürgerlichen Frau gewaltvoll erkauft wurde. Paul Beatriz Preciado beispielsweise deutet in seinem Buch Testo Junkie (2016) auf eine Heteronormativität und ein Geschlechterregime hin, das mit allen Mitteln aufrechterhalten wird, und spricht gar von einem pharmapornografischen Regime, bei dem pharmazeutisch-synthetische Stoffe und die Lustproduktion den gesellschaftlichen Prozess regulieren. Der Körper und das Leben selbst werden dabei zum Artefakt. Darüber hinaus haben wir es mit einer langen und bitteren Kontinuität eines rassistischen Sexualdiskurses zu tun (s. etwa Stoler 2002). Sexuelle Übergriffe begangen von weißen Europäern an den (ehemalig) Kolonisierten waren in den deutschen Kolonien nicht nur an der Tagesordnung, es war auch aufgrund der in den deutschen Kolonien geltenden dualen Rechtsordnung kaum möglich, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Die Vergewaltigung von schwarzen Frauen durch weiße Männer wurde dadurch geradezu
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legitimiert. Zudem unterlagen die Richter »nur einer sehr eingeschränkten Kontrolle durch die kolonialen Aufsichtsbehörden« (Sippel 2003: 308). Umgekehrt wurden schwarze Täter, die weiße Frauen sexuell belästigten, zumeist so gut wie immer verurteilt. Das Strafmaß konnten Peitschenhiebe sein, aber auch die Todesstrafe war bei derlei Vergehen nicht unüblich (s. etwa Mamozai 1996). »Studies of gender and empire have shown persuasively that key symbols of the colonial state were secured by the ways in which gender was regulated, sexuality was patrolled, and race was policed.« (Stoler 2003: 210) Hier wurde bereits ein Diskurs etabliert, der das unterschiedliche Maß bei der Ahndung sexueller Übergriffe legitimiert, indem rassistische Vorstellungen des hypersexuellen und sexistischen außereuropäischen Mannes und des kontrollierten weißen Sexualtriebs durchgesetzt werden. Wenden wir uns nun dem konkreten männlich-nationalistischen Schutzdiskurs zu, der von den Vorfällen in Köln 2015 befeuert wurde und der u.a. eine breite Entsolidarisierung mit geflüchteten Menschen zur Folge hatte. Die noch im Sommer 2015 gefeierte Willkommenskultur beginnt bereits sechs Monate später deutlich zu bröckeln.
Listige Beherrschung: zur Konstruktion von Schutzbedürftigen Nach den ersten Berichterstattungen zur Silvesternacht in Köln hat sich schnell von linker und feministischer Seite Widerstand geregt, und es wurde der inhärente Rassismus der Debatte sowie die damit zusammenhängenden rassistischen Forderungen problematisiert und zurückgewiesen. So hat etwa die Kampagne #ausnahmslos die stattgefundene Kulturalisierung von Sexismus problematisiert und darauf hingewiesen, dass Sexismus und männliche Gewalt nicht kulturspezifisch seien, sondern die Aufmerksamkeit (auch) auf weiße Täter gerichtet werden müsse (vgl. http://ausnahmslos.org). Jedoch wurde schnell deutlich, wie schwierig es war, in diese Debatte kritisch zu intervenieren, ohne entweder die stattgefundene sexuelle Gewalt in der Silvesternacht zu relativieren oder auf der anderen Seite dem rassistischen Diskurs in die Hände zu spielen. Es handelte sich um einen fast unmöglichen Drahtseilakt, sich gleichermaßen antirassistisch und antisexistisch zu positionieren, da die Skandalisierung der sexualisierten Gewalt unweigerlich den rassistischen Diskurs befeuerte. Diese Vereinnahmung feministischer Forderungen konnte unter anderem dadurch gelingen, dass – und darum soll es im Folgenden gehen – in dieser Debatte die Frau als passiv und schutzbe-
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dürftig konstruiert wurde und diese patriarchale Geschlechtszuschreibung mit rassistischen Bildern verwoben wurde. Schon in den ersten medialen Reaktionen von Focus, Spiegel und Co. wurde das Stereotyp des gefährlichen migrantischen Mannes zusammen mit dem Bild der schutzlosen, gefährdeten weißen Frau aufgerufen, wodurch die gesamte Berichterstattung durch das zentrale Narrativ beherrscht war: »Wir« müssen »unsere« Frauen vor den migrantischen Männern retten. Besonders eindrücklich zeigt sich dies an dem Cover des Nachrichtenmagazins Focus, auf dem ein nackter weißer Frauenkörper übersäht mit schwarzen Handabdrücken abgebildet und mit der reißerischen Bildüberschrift »Nach den Sex Attacken von Migranten. Sind wir noch tolerant oder schon blind?« versehen ist (Focus 2016, vgl. Mecheril/Haagen-Wulff 2016). Die Frage, wie Frauen geschützt werden können, schien omnipräsent: In der Wochenzeitung Zeit wird der Beschützer als ausgestorbene Figur in Deutschland betrauert (vgl. Soboczynski 2016), es wurden Schutzzonen für Frauen gefordert (vgl. Kuhn 2017) und im Anschluss an den Gewaltforscher Baberowski wurde problematisiert, dass deutsche Männer nicht mehr »prügeln« könnten, weshalb sie ihre Frauen nicht gegen die Übergriffe verteidigt hätten (vgl. dpa 2016). All diesen Äußerungen liegt die patriarchale Vorstellung zugrunde, dass Frauen durch Männer geschützt und gerettet werden müssen – eine Vorstellung, in der Männer die Subjektposition innehaben und Frauen erneut auf die Objektposition verwiesen sind. In diesem Narrativ wird nicht nur Sexismus, Frauenunterdrückung und patriarchale Gewalt als Problem der »Anderen« konstruiert und dadurch weiße Täter und hiesige patriarchale Strukturen unsichtbar gemacht. Vielmehr werden darüber hinaus Frauen als passive Opfer, als bedrohte, schutzbedürftige und hilflose Objekte konstruiert und festgeschrieben, die durch den (weißen) Mann gerettet und beschützt werden müssen. Mit dieser Erzählung wird ein historisch weit zurückreichender Mythos reaktiviert: Die sogenannte damsel in distress (›Jungfrau in Nöten oder verfolgte Unschuld‹) ist ein bekanntes Motiv der Literatur, das seine Ursprünge in der griechischen Antike hat und in diversen Märchen auftaucht, aber erst im 18. Jahrhundert – zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaftsformation – seine volle Blüte erreicht hat (vgl. Schmid-Bortenschlager 2005). Bis heute ist es ein beliebtes und verbreitetes Sujet in Romanen, Comics, Filmen und Computerspielen (King Kong, Popeye u. v.a.; vgl. Sarkessian 2013). Das Muster dieser Damsel-in-distress-Trope ist, dass eine Frau bedroht oder entführt wird und der (in der Regel heterosexuelle männliche) Held sie retten muss. Es handelt sich also um eine stereotype Darstellung von Frauen als grundsätzlich
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schwach, chronisch bedroht, passiv und unfähig, sich selbst zu helfen, wogegen der Mann, der die Frau retten muss, als besonders fähig stark und aktiv inszeniert wird und somit als handlungsfähiges Subjekt vorgestellt, aufgeführt und beschworen wird. Die Darstellung der Figur »bedrohte Frau, die vom Mann geschützt und gerettet werden muss« folgt der dem patriarchalen Geschlechterverhältnis grundsätzlich innewohnenden Subjekt-Objekt-Logik, in der der Mann den aktiven Pol einnimmt und der Frau die passive Seite zukommt. Diese stereotype Geschlechterdarstellung wird auch in der Gegenwart beim Thema sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung wiederkehrend aufgerufen. So konstatiert Mithu Sanyal (2016): Der Vergewaltigungsdiskurs ist eine der letzten Bastionen und Brutzellen für Geschlechterzuschreibungen, die wir ansonsten kaum wagen würden zu denken, geschweige denn auszusprechen – und zwar durch alle politischen Lager und Gesellschaftsschichten hindurch. […] Die Propaganda im Kalten Krieg der Geschlechter besagt, dass weibliche Sexualität ein bedrohtes Gebiet ist, das geschützt und verteidigt werden muss. (13f.) In der Berichterstattung über die Vorfälle in Köln 2015 zeigt sich ebenfalls eine Konzentration auf diese sexistische Vorstellung, dass Frauen von Männern behütet und beschützt werden müssen. Gleichzeitig – und darin besteht eine gewisse ökonomische Raffinesse dieser Herrschaftspraxis – wird nicht nur die Frau als passives Objekt in diesen Erzählmustern hervorgebracht, sondern auch der »andere« Mann als Bedrohung und Gefahr abgewertet und auf die Position des Anderen verwiesen. Es handelt sich bei dem Narrativ »der weiße Mann rettet die Frau vor dem fremden Mann« also um eine Doppel- bzw. Dreifachbewegung: Weiße westliche Männlichkeit kann sich als aktives, vernünftiges, rationales und selbstkontrolliertes Subjekt stilisieren, während gleichzeitig Frauen als passive, schutzbedürftige Objekte und »andere« Männer als triebgesteuert, unkontrolliert, wild und damit gefährlich konstruiert und auf einer symbolisch unteren Ebene angeordnet werden. Es wird also gleichzeitig patriarchale und koloniale Herrschaft gesichert und reproduziert. Dieser Mechanismus verweist auf eine seit Langem in der feministischen und postkolonialen Theorie bekannte Herrschaftsdynamik. Andrea Maihofer beispielsweise hat im Anschluss an Adorno/Horkheimer und Foucault dargelegt, wie solche Momente der (Selbst-)Stilisierung von bürgerlicher (westlicher) Männlichkeit Konstitutions- und Reproduktionsbedingung moderner
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Macht und Herrschaft sind. Danach ist es für die bürgerliche Subjektwerdung grundlegend notwendig, dass das Individuum lernt, seine innere Natur, d.h. die Triebe, Lüste und Leidenschaften, zu beherrschen und zu kontrollieren und dadurch Herr seiner selbst zu werden. Nur wer diese Fähigkeit der Selbstbeherrschung entwickelt hat, erfüllt die Voraussetzung, ein Haus zu regieren und in der Polis andere zu regieren. Die Konstituierung des »männlichen« Subjekts vollzieht sich »im Herrwerden des herrschenden Mannes (also nicht des Mannes an sich) über andere (z.B. über andere Männer und Frauen) wie über sich selbst« (Maihofer 1995: 118). Umgekehrt wird demjenigen, der (vermeintlich) nicht in der Lage ist, seine Triebe und Leidenschaften zu kontrollieren, gleichermaßen der Subjektstatus abgesprochen. »Dabei wird das jeweils andere zum ›Anderen‹ schlechthin und erstens mit ›Weiblichkeit‹, zweitens mit ›Natur‹ assoziiert sowie drittens zum Objekt der Beherrschung degradiert.« (Ebd.: 115) Die Zuschreibung – wie sie im Diskurs um Köln immer wieder stattgefunden hat (vgl. Dietze 2017) –, dass bestimmte Männer nicht in der Lage seien, ihre Triebe zu kontrollieren und mit den Verlockungen westlicher Weiblichkeit weder zurechtkämen noch dies wollten; sprich, das phantasierende »Fabulieren« (vgl. Mbembe 2014) des anderen Mannes als unkontrolliert und triebgesteuert, dient somit auch dazu, den konkreten Anderen das Subjektsein, das Bürgersein abzusprechen, wodurch anschließende rassistische und rechtskonservative Forderungen – wie etwa das Außerkraftsetzen des Asylrechts – gerechtfertigt erscheinen können.11 Diese diskursive Verschiebung legitimiert also gleichzeitig die Beherrschung der Frau (da schwach und hilfebedürftig) und die Beherrschung des schwarzen Mannes (da unkontrolliert und gefährlich) und sichert dadurch die Vormachtstellung des bürgerlichen weißen Mannes. Dieser kann sich überdies noch von Sexismusvorwürfen absetzen, denn indem Sexismus in den anderen Mann verlagert und dort bekämpft wird, ist es möglich, sich als Verfechter von Frauenrechten zu stilisieren und sich einer eigenen antisexistischen Haltung zu vergewissern (vgl. Messerschmidt 2016: 160).12 11
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Diesen Mechanismus beschreibt Stuart Hall anhand einer Debatte im sechzehnten Jahrhundert, die sich um die Frage drehte, inwiefern Sklaverei mit christlichen Werten vereinbar sein kann. Als ›Lösung‹ bot sich schließlich an, von unterschiedlichen Graden von Menschlichkeit auszugehen. Gerade dadurch, dass Schwarzen die Menschlichkeit abgesprochen wurde, erhielt die Sklaverei ihre Legitimität (vgl. Hall 1994: 169). Raewyn Connell weist in ihrem Konzept der ›patriarchalen Dividende‹ darauf hin, dass die meisten Männer Frauen nicht belästigen oder angreifen würden, aber jene die es
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Im Ringen um Hegemonie wird bürgerliche (d.h. konstitutiv auch immer männliche und weiße) Herrschaft zwar durchaus auch infrage gestellt und herausgefordert, geht dann aber doch gestärkt hervor. Zwar wurde im Jahr 2016 der § 177 StGB zum sexuellen Übergriff um den Nein-heißt-nein-Grundsatz erweitert, aber dieses Ergebnis steht in einem multiplen Bedeutungszusammenhang, da der Zeitpunkt dieser Reform unmittelbar in die Debatte um Köln fällt und damit erneut eine frauenpolitische Forderung auf dem Rücken von Schwarzen und People of Color ausgetragen wurde und mit rassistischen Maßnahmen einherging.13 Dass zeitgleich das Aufenthaltsgesetz verschärft wurde und der § 177 somit konstitutiv mit rassistischen Unterscheidungen verknüpft ist, verunmöglicht es, den Paragrafen als feministische Errungenschaft zu verstehen. Auch wurde das kolonial-rassistische Motiv des schwarzen Vergewaltigers (vgl. Davis 1981) erneut aktiviert, welches historisch zu Lynchmorden geführt hat (vgl. Dietze 2017: 285f.) und heute nicht nur als beliebte Figuration von der extremen Rechten eingesetzt wird (vgl. Dörfler 2018), sondern auch von bürgerlich-konservativen Positionen zur Verschärfung der Asylgesetzgebung herangezogen wird.14 Selbst wenn die asylrechtlichen Veränderungen möglicherweise auch ohne die Debatte um die Kölner Vorfälle im Jahr 2015 durchgesetzt worden wären, bot das Vorstellungsbild der ›durch den anderen Mann sexuell bedrohten Frau‹ eine Legitimationsgrundlage, wodurch die breite dominanzgesellschaftliche Zustimmung zu den Gesetzesverschärfungen gesi-
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tun, ihr Verhalten kaum als deviant betrachten, sondern im Gegenteil das Gefühl hätten, »vollkommen im Recht zu sein« (2006: 104) und »sich von einer Ideologie der Suprematie ermächtigt« (ebd.) fühlten. Das heißt, eigenes übergriffiges Verhalten kann normalisiert und legitimiert werden, während gleichzeitig sexualisierte Gewalt kulturalisiert bzw. ›rassifiziert‹ wird. Obgleich der Kampf um das Frauenwahlrecht in den USA zu Beginn stark mit der Abolitionist*innen-Bewegung verbunden war, haben sich die weißen Frauenrechtlerinnen zunehmend auch rassistischer Argumentationen bedient und das Frauenwahlrecht als Argument für die Stärkung der weißen Vorherrschaft eingefordert (vgl. Davis 1981). »Exakt das war die Strategie der Frauenrechtskämpferinnen des Südens im frühen 20. Jahrhundert. Sie argumentierten, dass sie das Wahlrecht deshalb brauchten, um ihr Stimmengewicht gegen die schwarzen Männer in die Waagschale werfen zu können.« (Dietze 2013: 211) Auch deutsche Frauenverbände sowie die weiße deutsche Frauenbewegung profitierten nicht nur vom Kolonialismus, sondern waren selbst ein aktiver Teil der kolonial-rassistischen Agenda (vgl. Dietrich 2007). 7-Punkte-Programm zur Bekämpfung von Sexualstraftaten, vgl. www.bayern.de/7punkte-programm-zur-bekaempfung-von-sexualstraftaten (Zugriff: 30.04.2020).
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chert war. Wie gut dieses Bild wirkt, haben rechte Gruppen und Parteien längst erkannt. Immer wieder wird dieses Narrativ angebracht, um zu Gewalt gegen Geflüchtete aufzurufen oder diese zu rechtfertigen (ebd.). Nicht zuletzt zieht auch die Reproduktion der stereotypen Geschlechtszuschreibungen – der Frau als schutzbedürftiges, hilfloses, passives Objekt und dem Mann als aktives, heroisches und handlungsfähiges Subjekt – geschlechterpolitische Effekte nach sich: Dass die »Geschlechtscharaktere auch als Herrschaftsideologie entwickelt und benutzt wurden« (Hausen 1976: 184) und bis heute als solche fungieren, zeigt sich unter anderen darin, dass im Nachgang zu den Kölner Silvesterübergriffen bestimmte Verhaltensmaßnahmen und Schutzzonen für Frauen gefordert wurden.15 Durch die Konstruktion der Frau als hilfloses, bedrohtes und schutzbedürftiges Wesen ist es möglich, nach Maßnahmen zu verlangen, die die Bewegungsfreiheit genau jener einschränken, die es zu schützen gilt. Das, was als Schutz bezeichnet wird, entpuppt sich somit als patriarchaler Herrschaftsmechanismus, denn die iterative Beschwörung der Gefahr und Bedrohung durch Männer kann dazu führen, dass Frauen sich von öffentlichen Räumen fernhalten. Auch wenn es politisch notwendig ist, die Bedingungen, Formen und Konsequenzen der Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit von Frauen in patriarchal strukturierten Zusammenhängen zu erkennen, handelt es sich bei der Repräsentation von Verletzlichkeit aber um ein zweischneidiges Schwert: Indem ein politisches Subjekt als verletzlich definiert wird (und damit als des Schutzes würdig, aber auch des Schutzes bedürftig), wird diesem Subjekt in unserem Denken sein Subjektstatus abgesprochen, stattdessen wird es zu einem Objekt, das beschützt werden muss. Mit anderen Worten: Wenn wir sagen, dass Frauenberatungsstellen und Frauenhäuser notwendig sind – und ich bin davon überzeugt dass sie notwendig sind –, sagen wir damit in der abendländischen Logik ebenfalls, dass Frauen nicht gleich stark und gleich autonom sind, was wiederum eine größere Entmündigung – zum Schutz von Frauen – nach sich zieht. (Sanyal 2016: 146)16
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Auf einer Pressekonferenz wurde Frauen nahegelegt, einen gewissen Sicherheitsabstand zu fremden Menschen zu wahren und sich nicht von ihrer Gruppe zu entfernen (vgl. Pressekonferenz mit Oberbürgermeisterin Henriette Reker am 5. Januar 2016, online unter www.youtube.com/watch?v=KRzfSx-I-3o [Zugriff: 30.04.2020]). Die Oberbürgermeisterin hat sich nachträglich für diese Äußerung entschuldigt. Dieses Dilemma, das Sanyal beschreibt, ist natürlich keineswegs spezifisch für die Debatte in Köln – sondern ein Problem, mit dem sich Feministinnen schon seit jeher kon-
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Nun stellt sich hier die Frage, wie es möglich ist, in diesen Diskurs politischstrategisch zu intervenieren. Wie über die konkreten Vorfälle und die Tatsache, dass die Täter in Köln migrantisch waren, sprechen, ohne selbst rassistisch zu sein oder rassistischen Argumentationen in die Hände zu spielen? Zunächst muss vermutlich akzeptiert werden, dass der Diskurs ganz elementar und grundsätzlich von Rassismus durchzogen und daher ein »neutrales« und »uninvolviertes« Sprechen überhaupt nicht möglich ist und womöglich auch gar nicht das Ziel sein sollte. Die Debatte ist konstitutiv rassistisch, weil das öffentliche Sprechen über sexualisierte Gewalt zu diesem Zeitpunkt in der Art und Weise, wie sie stattfanden, überhaupt nur deshalb möglich war, weil die Täter als migrantisch markiert wurden. Wie etwa #ausnahmelos und andere feministische und linke Medien deutlich gemacht haben, werden sexuelle Übergriffe auf dem Oktoberfest keineswegs vergleichbar medial aufgeführt und als Sensation und Skandal wiederholt ins öffentliche Bewusstsein gebracht.17 Wenn die Debatte aber per se rassistisch war und ist, ist es kaum möglich, über die in der Kölner Silvesternacht 2015 stattgefundene sexuelle und sexualisierte Gewalt zu sprechen, ohne dabei entweder die konkret erlebte Gewalt der Betroffenen zu relativieren oder aber nicht zugleich den rassistischen Diskurs zu befeuern. Denn bei jedem Sprechen darüber drängt sich unweigerlich die Frage auf, warum diese Übergriffe Erwähnung finden, wogegen jene sexuellen Gewalttaten von mehrheitlich deutschen Tätern, die auf anderen Großveranstaltungen verübt werden oder täglich im häuslichen Umfeld stattfinden, weitgehend unthematisiert bleiben. Es ist darum notwendig, für die Machtförmigkeit des eigenen Sprechens Verantwortung zu übernehmen und auf die innere Struktur und (koloniale) Kontinuität dieses Diskursereignisses hinzuweisen.
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frontiert sehen (Reifizierung). In einer heterosexistischen Gesellschaft ist es dringend notwendig, Schutz für Frauen, die von den gesellschaftlichen Strukturen nun mal negativ betroffen sind, zu fordern. Jedoch schreibt diese Forderung gleichzeitig Frauen in der schwachen Position fest, womit die Geschlechterstereotype, die Teil der hegemonialen Unterwerfungspraktik sind, wiederum reproduziert werden. Die Lösung dafür kann nicht sein, dieses Dilemma zu der einen oder anderen Seite hin aufzulösen. Vielmehr gilt es, diese Widersprüchlichkeit auszuhalten. Ebenso bleibt es unthematisiert, dass die große Mehrzahl der sexualisierten Gewalttaten aus dem persönlichen Nahumfeld der Betroffenen verübt werden (vgl. bmfsfj 2013: 16).
Befreiung als Beherrschung
Verantwortung in Zeiten der Konjunktur rassistischer Artikulationen Bisher sollte deutlich geworden sein, dass das Entwickeln und gleichzeitige Absprechen einer Subjektposition ein zentraler Aspekt bürgerlicher Formen von Macht und Herrschaft darstellt. Auch im Diskurs um Köln wird zeitgleich zur Stabilisierung der bürgerlich männlich weißen Subjektposition allen anderen Positionierungen der Subjektstatus und die dazugehörige Handlungsfähigkeit abgesprochen. Und genau durch dieses Absprechen wird patriarchale und rassistische Herrschaft reproduziert und stabilisiert. Eben aus diesem Grund ist es notwendig, die unterschiedlichen Akteur/-innen in dem Diskursereignis Köln als handlungsfähige Subjekte wahr- und ernst zu nehmen. Da sind zum einen die betroffenen Frauen, deren Stimmen und Positionen dadurch unterdrückt wurden, dass medial vor allem auf die Täter bzw. deren Herkunft fokussiert wurde und sie irgendwann lediglich im Kampf gegen Asylbewerber/-innen (als Damsel-in-distress-Figuren) instrumentalisiert wurden. Feministische Initiativen und Vereine, die sich gegen sexualisierte Gewalt gegen Frauen* und Mädchen* richten, fordern schon seit Jahrzehnten, Betroffene in den Mittelpunkt zu rücken und ernst zu nehmen.18 Des Weiteren gilt es auch, die Täter aus Köln als handelnde Subjekte anzuerkennen und ernst zu nehmen, was selbst von kritischen Interventionen gegen die rassistische Berichterstattung oftmals versäumt wurde. So hat Massimo Perinelli etwa treffend analysiert, dass antirassistische Interventionsoder Abgrenzungsversuche oftmals mit einer »paternalistischen Identitätspolitik« (Perinelli 2016) reagiert haben, in deren Rahmen Geflüchtete immer nur als Opfer erschienen und damit als Täter nicht infrage kämen. In dieser Reaktion steckt indes eine Entmündigung, die ihrerseits die Spaltung zwischen Deutschen und vermeintlich Nichtdeutschen vergrößert, statt eine erfolgreiche Strategie der Auflösung von Rassismus zu verfolgen. Diese Reaktion spricht von einer Moral der Schuld, in der die anderen immer nur Getriebene ihres Schicksals sind, niemals aber verantwortliche Menschen sein können. (Ebd.)
18
Vgl. etwa die Kampagne des Bundesverbands der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland (bff): Vergewaltigung verurteilen – Für eine Reformierung des § 177 StGB, online unter www.frauen-gegen-gewalt.de/vergewaltigung-verurteilen.html (Zugriff: 30.04.2020).
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In diesem Sinne muss jede adäquate Intervention in diesen Diskurs die Täter als Subjekte ernst nehmen. Das heißt erstens, jede Homogenisierung und Verallgemeinerung, die behauptet, dass diese (»Araber«, »Nordafrikaner«, »Männer«) so seien, muss konsequent zurückgewiesen werden. Zweitens gilt es – und hier lässt sich erneut an Perinelli anschließen –, neben der Forderung nach wirksameren Rechten für die betroffenen Frauen auch gleiche Rechte für jene zu fordern, denen diese bislang verwehrt blieben. »Dazu gehört auch das Recht der Täter von Köln, nach hiesiger Rechtsprechung angeklagt und verurteilt zu werden, statt sie mit Abschiebung zu bedrohen« (ebd.). Und nicht zuletzt gilt es auch jene in den Blick zu nehmen, die in der gesamten Debatte unsichtbar gemacht wurden: schwarze Frauen und Frauen of Color, die nicht nur täglich Gewalt ausgesetzt sind, sondern dieser auch in beeindruckender Weise widerstehen (vgl. bspw. https://www.women-inexile.net). Ihre Widerstandsgeschichten stellen den intellektuellen Stoff dar, der feministische Zukünfte denken lässt, in denen niemand auf Kosten von anderen in die Emanzipation entlassen wird.
Fazit Die Lage bleibt schwierig. Es geht uns nicht darum, eine simplifizierende globale Schwesternschaft anzurufen. Die Positionen, die Frauen weltweit einnehmen, werden bestimmt von ihren Klassenpositionen, rassifizierten Grenzen, heteronormativer Gewalt etc. All dies ist in der jeweiligen kolonialen Kontinuität zu betrachten (s. etwa Castro Varela/Dhawan 2020). Dies macht eine Solidarität, die an eine gemeinsame Erfahrung »als Frauen« appelliert, zu einer sinnfreien Übung. Darauf ist bereits hinlänglich hingewiesen worden (etwa Spivak 1981; Castro Varela/Dhawan 2016). Eine zynische Resignation kann aber kaum die Lösung sein. Es gilt vielleicht vielmehr, Solidarität neu zu denken, wie dies die Kampagne #ausnahmslos mit einigem Erfolg auf den Weg gebracht hat. Solidarität kann nicht heißen, dass die privilegiert sind, denen, die weniger privilegiert sind, unter die Arme greifen, sie schützen und ihnen eine Stimme geben. Dies würde sie – das hat Spivak in vielen ihrer Schriften zeigen können (s. etwa Spivak 2008) – in ihrer herrschenden Position nur stabilisieren. Europa erlebt seit einigen Jahren einen enormen Rechtsruck und eine Normalisierung von rassistischer und sexistischer Gewalt (s. Hark/Villa 2016).
Befreiung als Beherrschung
Gender und Queer Studies werden verteufelt, während konservativ-nationalistische Stimmen die Emanzipation und damit einhergehende Freiheit der Frauen schützen wollen, indem sie Migration streng regulieren. In Kauf genommen wird dabei, dass Menschen auf der Flucht umkommen und in Europa angekommen unter unzumutbaren Zuständen (oft jahrelang) darauf warten, sich ein neues Leben aufbauen zu können, wenn sie nicht direkt wieder abgeschoben werden. Gewaltförmige Praxen wie Sexismus und Antisemitismus werden dabei auch normalisiert, indem sie externalisiert werden: Menschen, die aus außereuropäischen (insbesondere muslimischen) Ländern eingewandert sind, bringen diese mit und verbreiten sie – so der hegemoniale Diskurs. Wieder einmal sind die ehemalig Kolonisierten diejenigen, die kontaminiert sind. Ob dies Krankheiten, Viren oder angeblich ›unzivilisiertes Verhalten‹ sind; Europa, so das hegemoniale eurozentrische Narrativ, muss sich schützen (hierzu kritisch etwa Dhawan 2014).
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Bedrohung sexueller Freiheit im Kontext von Fluchtmigration Anmerkungen und Rückfragen zu Widersprüchen im Diskurs um die Homophobie der ›Anderen‹ Marc Thielen
Im Kontext der jüngeren Migrationsbewegungen, die gesellschaftlich unter dem Schlagwort der sogenannten ›Flüchtlingskrise‹ von 2015 verhandelt werden, und insbesondere seit den Debatten um die Kölner Silvesternacht 2015/16 lässt sich eine Reinszenierung und Zuspitzung schon länger geführter Diskurse zu einer bedrohlichen, vermeintlich kultur- bzw. religionsbedingt ›fremden‹ Geschlechterkonstruktion beobachten (vgl. Castro Varela/Mecheril 2016; Hark/Villa 2017). Während es seit den 1970er-Jahren beim dominanten Blick der Mehrheitsgesellschaft auf Gastarbeiter/-innen zunächst um eine vermeintlich homogene und problematische ›türkische‹ Männlichkeit ging, verlagerte sich die Aufmerksamkeit bei Geflüchteten auf ›arabische‹ bzw. ›nordafrikanische‹ Männlichkeiten. Unverändert ist der argumentative Bezug auf den Islam, obgleich sich die sehr unterschiedlichen Herkunftsregionen Geflüchteter durch eine ausgeprägte ethnische und religiöse Diversität auszeichnen. Muslimische Männlichkeit erweist sich im dominanten Blick des Westens als eine stigmatisierte Männlichkeit (vgl. Eving 2008), der neben einer patriarchalischen Dominanz gegenüber Frauen seit Anfang der 2000er-Jahre zunehmend auch eine ausgeprägte Intoleranz gegenüber sexuellen Minderheiten vorgeworfen wird (vgl. Yilmaz-Günay 2014). Diese nun an Geflüchtete adressierte Zuschreibung lässt sich exemplarisch an einem Bericht der ARD vom Januar 2017 zu einer Akzeptanzstudie zu sexueller Vielfalt (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2017) verdeutlichen.1 1
Der vom WDR produzierte Beitrag mit dem Titel Studie zur Homosexualität. Die Toleranz ist begrenzt war bis 2019 in der ARD-Mediathek abrufbar.
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Anlässlich der Publikation wurde ein schwules Paar interviewt, das über seine Erfahrungen mit Diskriminierung berichtet: »Es sei deutlich zu spüren, dass die Aggressionen zugenommen hätten, seitdem die Populisten in Deutschland auf dem Vormarsch seien« – wird Jan Polzer, einer der beiden Partner, zitiert. Weiter heißt es: Das Makabre: Als Homosexuelle stünden sie zwischen den Fronten zweier Lager, die sonst so gar nichts gemein haben: Auf der einen Seite die AfDAnhänger, auf der anderen Seite junge Migranten oder Asylsuchende, die aus Kulturkreisen stammten, in denen Homosexualität überhaupt nicht akzeptiert werde. Die Nichtakzeptanz sexueller Minderheiten wird als eine Eigenschaft gesellschaftlicher Problem- bzw. Randgruppen identifiziert, die entweder als politisch motiviert – bei Anhänger/-innen der AfD – oder als kulturell tradiert – bei Migrant/-innen und Geflüchteten – dargestellt wird. Der Begriff »Lager« homogenisiert Geflüchtete und Migrant/-innen in unzulässiger Weise und suggeriert eine gemeinsam geteilte Weltanschauung, die – darauf verweist die Kriegsmetapher »Front« – in Gewalt gegen Homosexuelle mündet. Aus Sicht einer kritischen Migrationsforschung ist markant, dass im Beitrag ein weißes deutsches – also ›einheimisches‹ – Schwulenpaar als von jungen Eingewanderten – also ›Fremden‹ – bedroht dargestellt wird. Die Behauptung einer durch (Flucht-)Migration importierten Homophobie führt zu einer spezifischen pädagogischen Adressierung Geflüchteter. So fordert der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland angesichts einer im »kulturellen Gepäck« von Geflüchteten mitgebrachten Homophobie, dass »die Rechte und die Situation von LSBTI […] verpflichtendes Thema in den Integrationskursen sein [müssen] und dort angemessen breit thematisiert werden« (LSDV 2017). Auch pro familia – Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e. V. – plädiert in einer Publikation für die sexuelle Bildung Geflüchteter, damit sich »alle Menschen mit den in unserer Kultur verbreiteten Vorstellungen von Gleichberechtigung […] sexueller Selbstbestimmung sowie Anerkennung von sexueller Vielfalt auseinandersetzen« (Matthiesen u.a. 2016, S. 14, Hervorh. d. Verf.). Der vorliegende Beitrag hinterfragt den Diskurs um die Homophobie der ›Anderen‹ und zeigt, dass damit nicht nur Rassismus befördert und legitimiert, sondern zugleich heteronormative Machtverhältnisse der Mehrheitsgesellschaft verschleiert und dethematisiert werden. In Anbetracht des problematischen Umgangs mit queeren Geflüchteten im deutschen Asyl wird die These vertreten, dass der Diskurs um die
Bedrohung sexueller Freiheit im Kontext von Fluchtmigration
vermeintlich durch Migration bedrohte sexuelle Freiheit primär zur Rechtfertigung repressiver Migrationspolitiken und Grenzregimen instrumentalisiert wird.
1.
Der Diskurs um die Homophobie der ›Anderen‹
Ähnlich wie Debatten um ›fremde‹ Geschlechterkonstruktionen im Allgemeinen, so hat auch der Diskurs um die vermeintlich kultur- bzw. religionsbedingte Homophobie von Geflüchteten eine längere Vorgeschichte, die YilmazGünay (2014) im Zusammenhang mit antimuslimischen Sexualpolitiken seit dem 11. September 2001 rekonstruiert. Markant für den deutschen Kontext ist der unter dem Schlagwort »Muslimtest« bekanntgewordene Gesprächsleitfaden zur Einbürgerung, den Baden-Württemberg 2006 eingeführt hat.2 Der Gesprächsleitfaden zur Überprüfung der Haltung zur freiheit-demokratischen Ordnung liegt der Entscheidung zugrunde, wer Deutscher werden darf und wer nicht. Neben der Gleichberechtigung von Mann und Frau ist dort auch Homosexualität ein Thema. So lautet die 29. Frage im Dokument: »Stellen Sie sich vor, Ihr volljähriger Sohn kommt zu Ihnen und erklärt, er sei homosexuell und möchte gerne mit einem anderen Mann zusammen leben. Wie reagieren Sie?« Der Leitfaden unterstellt, dass eine positive Reaktion auf ein innerfamiliäres Coming-out Teil ›deutscher Leitkultur‹ sei. Dass an der Gültigkeit einer derartigen nationalen Selbstinszenierung empirisch Zweifel bestehen, zeigt die eingangs zitierte Akzeptanzstudie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2017: 9), in der ca. 40 Prozent der Befragten angeben, dass sie es »sehr oder eher unangenehm« fänden, wenn der eigene Sohn schwul sei. Gleichwohl markierte auch der frühere Bundespräsident Joachim Gauck auf einer Einbürgerungsfeier anlässlich 65 Jahre Grundgesetz im Mai 2014 Homophobie explizit als ein migrantisches Phänomen – neben weiteren, öffentlich immer wieder monierten ›Integrationshemmnissen‹ aufseiten der Eingewanderten – bspw. Ghettobildung, Jugendkriminalität und patriarchalische Weltbilder (vgl. Bundespräsidialamt 2014: 7). Derartige Argumentationen im politischen Raum werden nicht zuletzt auch durch den Verweis auf wissenschaftliche Studien legitimiert. So ist 2
Der Gesprächsleitfaden ist online einzusehen unter www.baden-wuerttemberg.datenschutz.de/gesprachsleitfaden-fur-die-einburgerungsbehorden-stand-01-09-2005 (Zugriff: 30.04.2020).
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z.B. in einer 2010 im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend publizierten Expertise zu Gewaltphänomen bei männlich-muslimischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund festgehalten, dass Homosexualität mit der traditionellen Männerrolle von Muslimen nicht vereinbar sei (vgl. Toprak/Nowacki 2010: 12). Als Beleg dient den Autor/-innen eine vom deutschen Lesben- und Schwulenverband finanzierte Studie von Bernd Simon (2008), die auf einer Befragung von Schüler/-innen in Berlin gründet. Ausgehend von der These einer Ungleichzeitigkeit im Verhältnis zur Homosexualität, wird die Häufigkeit homophober Einstellungen bei deutschen, türkischen und Aussiedlerjugendlichen verglichen. Als ausschlaggebend für die bei den türkischen Jugendlichen erhöhten Zustimmungswerte zu Items, die auf Homophobie verweisen, nennt der Autor den Islam, die Akzeptanz traditioneller Männlichkeitsnormen sowie die selteneren persönlichen Kontakte zu Homosexuellen. Im Fazit heißt es: »Die Studie liefert robuste Hinweise darauf, dass sich in Deutschland Jugendliche mit Migrationshintergrund in ihrer Einstellung zur Homosexualität deutlich von Jugendlichen ohne Migrationshintergrund unterscheiden« (ebd.: 97). Allerdings erscheint die angeblich klare Differenz von Migranten und Nichtmigranten in der Studie als brüchig, verweist doch der Autor selbst auf Befunde zu homophoben Einstellungen bei über 50 Prozent der deutschen Bevölkerung Anfang bzw. über 30 Prozent Mitte der 2000er-Jahre (ebd.: 88). Ein Jahr nach Simon hat Peter Schmalz (2009) eine qualitative Studie zur Homophobie von Migrantinnen vorgelegt, die sich allerdings durch ein höchst fragwürdiges, vom Autor selbst problematisiertes Sampling auszeichnet: Die sich narrativ als nichthomophob inszenierenden ›deutschen‹ Interviewpartnerinnen stammen überwiegend aus dem persönlichen Umfeld des Forschers. Die Beispiele zeigen, dass die aktuellen Diskurse um die Homophobie von Geflüchteten an eine in unterschiedlichen Kontexten der Mehrheitsgesellschaft konstruierte Selbstbeschreibung anschließen, nach der Deutschland sich – so eine Formulierung von pro familia im einleitend erwähnten Beitrag zur Sexualaufklärung von Geflüchteten – als eine »westeuropäische sexualliberale Kultur« (Matthiesen u.a. 2016: 16) versteht (vgl. Thielen 2018). Die Anerkennung von sexueller Vielfalt und die Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten werden demzufolge zur Abgrenzung von nichtwestlichen, insbesondere muslimisch geprägten Kulturen genutzt. Mit Zülfukar Çetin lässt sich von Homonationalismus sprechen, demnach die Akzeptanz von Lesben und Schwulen »als Ausdruck einer ›Zivilisationsüberlegenheit‹ speziell gegen-
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über muslimischen Gesellschaften betrachtet wird« (2015: 36). Die rassistische Unterscheidung von zivilisiert und nichtzivilisiert wird also gegenwärtig unter veränderten Vorzeichen fortgeführt. War bürgerliche Subjektivität in der Moderne noch untrennbar an Heterosexualität geknüpft (vgl. Reckwitz 2008), schließt sie heute ausdrücklich die Toleranz gegenüber bestimmten Formen von Homosexualität ein. Nach Iman Attia ist die rassistische Externalisierung von Homophobie für westliche Gesellschaften von einem doppelten Nutzen: »Sie entlastet von der historischen Verantwortung für den Export von Heteronormativität, Homo- und Transphobie und sie entlastet von der aktuellen Verantwortung, sich für die Anerkennung und Gleichberechtigung verschiedener und fluider Sexualitäten einzusetzen« (2014: 20f.). Eine Folge der ›Migrantisierung‹ von Homophobie besteht in der Untersichtbarmachung queerer Migrant/-innen und Geflüchteter.
2.
Unsichtbarmachung queerer Migrant/-innen und Geflüchteter
Das einleitend erwähnte Interview der ARD stellt weißen deutschen Schwulen heterosexuelle homophobe Migranten und Geflüchtete gegenüber. In jener Differenzkonstruktion spiegelt sich eine Verbindung von Rassifizierungsund Sexualitätsdiskursen wider, auf die bereits María do Mar Castro Varela und Nikita Dahwan (2009) hingewiesen haben. Die Autor/-innen zeigen, dass Migrant/-innen angesichts der Vernachlässigung von Sexualität in der Migrationsforschung pauschal und durchgängig als heterosexuell gedacht werden. Nach Umut Erel wird selbstverständlich unterstellt, dass migrantische Lebensweisen »auf strikt heterosexuellen Beziehungs- und Familienformen, auf Blutverwandtschaft, Ehe und patriarchaler Dominanz« (2007: 252) beruhen. Studien, die sich mit der Lebenssituation von queeren Migrant/-innen beschäftigen, werden im öffentlichen Raum wenig wahrgenommen. Dies gilt z.B. für die Arbeiten von Wenzel Bilger (2012) zur Identität von schwulen Deutschtürken oder von Zülfukar Çetin (2012) zu binationalen schwulen Paaren in Berlin. Möglicherweise erlangen solche Untersuchungen – im Gegensatz zu solchen über vermeintlich gewaltbereite Migranten – wenig Aufmerksamkeit, da stereotype Erwartungen nicht erfüllt werden. So erscheinen die Familien und Communities der Interviewten – dies zeigt auch eine schon ältere Studie von Michael Bochow (2000) zu jungen schwulen Türken in Deutschland – erwartungswidrig nicht pauschal als homophob, zugleich werden aber z.T. ausgeprägte Rassismuserfahrungen in Deutschland sichtbar, gerade auch
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in einer sich gerne als tolerant und bunt inszenierenden Schwulencommunity. Auch im Diskurs um die vermeintlich durch Fluchtmigration importierte Homophobie droht die Situation von queeren Geflüchteten verdeckt zu werden (vgl. Küppers, Bundesstiftung Magnus Hirschfeld 2019). Dabei stellen Geschlecht und Sexualität ganz entscheidende Fluchtmotive dar (vgl. ArbeiterSamariter-Bund NRW e. V. 2016; Queer Amnesty Schweiz 2014). Zülfukar Çetin (2017) erinnert in diesem Zusammenhang an eine weitgehend unbekannte Migrationsgeschichte: Anfang des 20. Jahrhunderts suchten schwule Männer aus Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern, die Homosexualität unter Strafe stellten, in Istanbul Zuflucht, einer Stadt, die damals angesichts sexueller Freiheiten auch von vielen osmanischen Homo- und Transsexuellen bewohnt wurde. Die Selbstinszenierung als westeuropäisch liberale Sexualkultur steht also in Spannung zur historischen Verfolgung von Homosexuellen bis ins 21. Jahrhundert hinein. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg das von den Nazis verschärfte Sexualstrafrecht gegen Homosexuelle übernommen und auch noch viele Jahre aktiv angewendet hat. Zugleich ist daran zu erinnern, dass die westeuropäischen Gesetze gegen sexuelle Minderheiten in vielen kolonialisierten Ländern als Vorbild dienten und demzufolge eine wesentliche Ursache für die gegenwärtig prekäre Menschenrechtslage sind (vgl. Attia 2014; Castro Varela/Dhawan 2009). Seit Ende der 1980er-Jahre ist Homosexualität in Deutschland vom Grundsatz her als Fluchtmotiv anerkennungsfähig (vgl. Senatsverwaltung für Jugend und Familie 1994). Im Kontext der sogenannten ›Flüchtlingskrise‹ von 2015 geriet das Thema queere Geflüchtete in den medialen Fokus, als Anfang 2016 die erste Wohnunterkunft für homosexuelle Geflüchtete in Nürnberg eröffnet wurde. In einem darauf bezogenen Spiegel online-Bericht wird ein 24-jähriger Mann aus dem Iran zitiert, dessen streng islamische Familie ihn töten wollte.3 In seiner Sammelunterkunft werde er nun von anderen Geflüchteten diskriminiert, ausgelacht und verspottet. In diesem Beitrag, aber auch in vergleichbaren anderen Berichten – etwa in einem
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Der Beitrag ist online abrufbar unter www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/nuern berg-erste-unterkunft-fuer-homosexuelle-fluechtlinge-a-1075019.html (Zugriff: 30.04.2020).
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der Süddeutschen Zeitung vom Juli 20174 – werden »Landsleute« der queeren Geflüchteten für die Probleme in den Unterkünften verantwortlich gemacht. Wenngleich der Hinweis auf die prekäre Situation von sexuellen Minderheiten in den Unterkünften richtig und wichtig ist, bedarf die Analyse der Hintergründe einer kritischen Betrachtung: Der im Kontext von Migrant/-innen zugerechneter Straftaten typische Rekurs auf die Herkunft der Täter/-innen bestätigt vermeintlich, dass deren ›Kultur‹ bzw. ›Religion‹ und die daraus resultierenden ›fremden‹ Männlichkeitskonzepte das entscheidende Problem seien (vgl. Spindler 2006). Nach alternativen Ursachen, etwa der Art der Unterbringung in den Sammelunterkünften, den prekären und rechtlich reglementierten Lebensbedingungen im Asyl oder den fehlenden Schutzkonzepten, braucht dann nicht mehr gefragt zu werden. Dass sexuelle Minderheiten und andere von hegemonialen Männlichkeitserwartungen abweichende Personen in totalen Institutionen häufig Opfer von Diskriminierung und Gewalt werden, ist weder ein neues noch ein muslimisches oder migrantisches Phänomen. Mechthild Bereswill (2006) beschreibt Prozesse der gewaltsamen Über- und Unterordnung unter jungen Männern im deutschen Strafvollzug. In New York wurde vor etlichen Jahren ein eigener Gefängnistrakt für Homosexuelle zu deren Schutz eingerichtet. Ebenfalls in New York kam es 2003 zur Gründung der Harvey Milk School, einer Schule für Lesben und Schwule, die sich an Regeschulen bedroht fühlten. Die Ethnisierung bzw. Kulturalisierung von Homophobie ist also mit der Gefahr verbunden, dass die institutionellen Ursachen sowie andere Formen von Gewalt im Asyl ausgeblendet werden. Letzteres ist vor allem dann der Fall, wenn die Täter/-innen Angehörige der deutschen Mehrheitsgesellschaft sind. So wird im erwähnten Beitrag der Süddeutschen Zeitung zum Schutz queerer Geflüchteter in Bezug auf lesbische Frauen von einer »doppelten Bedrohung« gesprochen: »Neben homophober müssen sie auch sexistische Gewalt befürchten.« Müsste aber nicht mindestens von einer dreifachen Bedrohung gesprochen werden, wenn man die rassistischen Gewalttaten gegen Geflüchtete und deren Unterkünfte berücksichtigt? Allein im Jahr 2016 wurden 3 500 entsprechende Taten in Deutschland verzeichnet (vgl. Deutscher Bundestag 2017). Homophobe Gewalt gilt es vor diesem Hintergrund in ihrer Verschrän-
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Der Beitrag ist abrufbar unter www.sueddeutsche.de/muenchen/homosexuellefluechtlinge-hier-genauso-in-gefahr-wie-in-der-heimat-1.3606236 (Zugriff: 30.04.2020).
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kung mit individuellen, institutionellen und strukturellen Gewaltdynamiken im totalen Flüchtlingsraum zu analysieren.
3.
Zur Situation queerer Geflüchteter im Asyl
Beim Blick auf die Lebenssituation von queeren Geflüchteten im deutschen Asyl stellt sich die Frage, ob aus der Selbstinszenierung als westeuropäisch sexualliberale Kultur eine besondere Verantwortung für die zweifelsohne schutzbedürftige Gruppe resultiert. Wenn sich die Betroffenen – wie es in der skizzierten Medienberichterstattung heißt – in den Gemeinschaftsunterkünften genauso unsicher fühlen wie in ihren Herkunftsländern, gilt es zu fragen, wie die deutsche Asylbürokratie auf diese Problematik reagiert. Grundsätzlich zeigen vorliegende Studien, dass sich Gewalt insbesondere in größeren Unterkünften nicht mit der Religion oder Kultur der Bewohner/-innen, sondern mit den repressiven Lebensbedingungen der totalen Institutionen erklären lässt. In Interviews erzählen queere Geflüchtete von unterschiedlichen Umgangsweisen beim Bekanntwerden von homophoben Gewalterfahrungen. Während einzelne von der Verlegung in andere Zimmer berichten, machten andere die Erfahrung, dass ihnen nicht geholfen wurde, nachdem sie ihre Situation gegenüber den zuständigen Behörden offengelegt hatten. Diese Geflüchteten mussten weiterhin mit den Gewalttätern zusammenleben, zum Teil sogar in den gleichen Zimmern (vgl. Thielen 2020). Auch die Erfahrungen im Zuge der Asylantragstellung und Asylentscheidung sind beim Fluchtgrund Sexualität frappierend. Der Schwulen- und Lesbenverband verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass sich queere Geflüchtete mit unangemessenen Fragen zu ihrem Privat- und Sexualleben konfrontiert sehen und mit homophobem Anhörungspersonal zu rechnen haben (LSDV 2017). In der von mir durchgeführten Studie wurde ein Interviewter in der mündlichen Anhörung vom zuständigen Bundesamtsmitarbeiter ausgelacht, als er von sexualisierter Gewalt im Iran berichtet hat. Ihm und anderen Interviewten wurde nicht geglaubt.5 Aus der prinzipiellen Anerkennungs-
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Mehrheitlich mussten die von mir interviewten Männer ihre sexuelle Orientierung durch fragwürdige medizinische oder psychologische Gutachten nachweisen. Diese umstrittene Praxis hat der Europäische Gerichtshof angesichts des unverhältnismäßigen Eingriffs in die Persönlichkeit Betroffener mit einem Urteil vom Januar 2018 untersagt.
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fähigkeit des Fluchtmotivs der sexuellen Orientierung folgt demnach noch längst keine tatsächliche Anerkennung, selbst bei Geflüchteten aus Ländern wie dem Iran, in denen homosexuelle Handlungen unter Strafe stehen und unter bestimmten Umständen sogar mit dem Tod geahndet werden können. Deutsche Verwaltungsgerichte bestätigten die negativen Asylbescheide noch in den 2000er-Jahren immer wieder mit zum Teil fragwürdigen Begründungen (vgl. Thielen 2020). So wurde häufig mit dem inzwischen abgeschafften Diskretionsprinzip argumentiert (vgl. Markard/Adamietz 2013; Titze 2012): Diesem zufolge könnten die Geflüchteten trotz der strafrechtlichen Bedrohung in Länder wie den Iran zurückkehren und ihre Sexualität dort in unauffälliger Weise oder in bestimmten sozialen Nischen ausleben. In manchen Gerichtsurteilen wurde in geradezu zynischer Weise der gänzliche Verzicht auf Sexualität empfohlen. Die massive Bedrohung von sexuellen Minderheiten in den Herkunftsländern wird in solchen Entscheidungen billigend in Kauf genommen. Anspruch auf die Privilegien der westlich sexualliberalen Kultur haben demnach offenbar in erster Linie etablierte Angehörige der Mehrheitsgesellschaft. Katharina Bager und Sarah Elsuni (2017) kritisieren, dass Asylentscheidungen auf europäischer Ebene auch aktuell zeigen, dass den Angehörigen sexueller Minderheiten selbst Abschiebungen in Staaten wie den Iran oder Libyen drohen, in denen nachweislich verfolgt wird. Auch die Initiativen zur Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien als sogenannte sichere Herkunftsländer zeigen, dass die Menschenrechtssituation von sexuellen Minderheiten kaum von Belang ist, wird in den genannten Ländern doch gleichgeschlechtliche Sexualität unter Strafe gestellt. Insofern ist es fraglich, ob es bei der Problematisierung der Homophobie der ›Anderen‹ tatsächlich um den Schutz von sexuellen Freiheiten geht. Naheliegender scheint eine Instrumentalisierung der Debatte zur Legitimation restriktiver Grenzregime und europäischer Abschottungspolitiken. Hierzu werden die Rechte sexueller und geschlechtlicher Minderheiten – so formulieren es Sabine Hark und PaulaIrene Villa treffend – »gegen das Fremde, das Andere, den Islam, jedenfalls gegen das, was angeblich nicht Westen ist, in Stellung gebracht« (2017: 20).
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4.
Die ›Migrantisierung‹ von Homophobie im Kontext der Dethematisierung von Heteronormativität
Die Markierung von Homophobie als ein Problem der ›Anderen‹ im Spiegel eines nationalen Selbstverständnisses als westlich sexualliberale Kultur macht Migrant/-innen zu Adressat/-innen einer sie disziplinierenden sexualpädagogischen Aufklärung und erweckt zugleich den Eindruck, dass sich die Mehrheitsgesellschaft mit derartigen Fragen nicht mehr zu beschäftigen braucht. Homophobie scheint hier ja überwunden und allenfalls noch eine Begleiterscheinung defizitärer und rückständiger Personen in den Randzonen der Gesellschaft zu sein. Ungeachtet aller gesellschaftlichen Veränderungen – von der sukzessiven Entkriminalisierung von Homosexualität bis hin zur Öffnung der Ehe für Lesben und Schwule – vollzieht sich geschlechtlich-sexuelle Vielfalt keineswegs in einem machtfreien Raum, wie es die Konstruktion der sexualliberalen Kultur suggeriert. Ein individualpsychologisches Verständnis von Homophobie im Sinne einer übersteigerten, irrationalen und angstbegründeten Abneigung gegenüber sexuellen Minderheiten bei Angehörigen vermeintlich randständiger sozialer Milieus verkennt die durch Normalisierungs- und Hierarchisierungsprozesse konstituierte Geschlechterordnung, die mit dem Konzept der Heteronormativität bezeichnet wird. Jener Begriff – so formulieren es Jutta Hartmann und Christian Klesse (2007, S. 9) – »beschreibt ein zentrales Machtverhältnis, das alle wesentlichen gesellschaftlichen Bereiche, ja die Subjekte selbst durchzieht«. Grundlegend ist die Annahme von zwei klar voneinander abgrenzbaren, sich ausschließenden Geschlechtern, die sich wechselseitig sexuell begehren. Die durch kulturelle Praktiken hervorgebrachte Geschlechterordnung wird demzufolge naturalisiert, wodurch ein diskursives Regime hegemonialer Heterosexualität hervorgebracht wird, das heterosexuelles Begehren als natürlich und normal erscheinen lässt. Die Norm der Heterosexualität bringt demnach Homound Bisexualitäten sowie transgender, transsexuelle oder intersexuelle Körperlichkeiten als Abweichungen von Normalität hervor. Im pädagogischen Feld zeigt sich die Wirkmächtigkeit von Heteronormativität dann, wenn Bildungspläne reformiert und geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in positiver Weise thematisiert werden sollen. Hiergegen formiert sich regelmäßig Widerstand, beispielsweise in Form von Eltern- und Bürgerinitiativen, wie die »Demo für Alle« (www.demofueralle.de). Deren Forderungen kommen in Slogans wie »Ehe und Familie vor! Stoppt Gender-Ideologie
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und Sexualerziehung unserer Kinder!«6 zum Ausdruck. Muslimische Verbände sucht man im Kreise der offiziellen Unterstützer/-innen vergebens. Dafür findet man aber christliche Initiativen katholischer und evangelischer Couleur ebenso wie Gruppierungen der Regierungsparteien CDU und CSU. Ein Förderer der Initiative ist die Stiftung für Familienwerte, die genau das fordert, was eingewanderten Muslim/-innen unterstellt und zum Vorwurf gemacht wird: die Fokussierung von Familie auf Tradition und Religion: »Jungen Familien wieder Mut zu machen, die traditionellen, christlichen Familienwerte mit Freude zu leben, ist unser ganz besonderes Anliegen.«7 Die Bewegung ist offensichtliches kein deutsches, sondern ein europäisches Projekt. So verweisen die Seiten gegen die Reform der Bildungspläne auf die Kampagne »Vater, Mutter, Kind. Europäische Bürgerinitiative zum Schutz von Ehe und Familie«. In Anspielung auf die gleichgeschlechtliche Ehe wird gefordert, Ehe zu definieren als »die dauerhafte und treue Gemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau zum Zweck der Familiengründung«8 . Als bedroht erscheint hier die heteronormative Geschlechterordnung, die entsprechend gegen sexuelle Vielfalt verteidigt werden soll. Dass Heteronormativität nach wie vor auch pädagogische Institutionen in der Mehrheitsgesellschaft entscheidend prägt, zeigt die Studie von Bettina Kleiner (2015). Ihr geht es nicht um die Frage, ob bestimmte Schüler/ -innen Homophobie mit in die Schule bringen, sondern um die alltägliche Wirkungsweise von Geschlechternormen in der Institution. Auf der Basis episodischer Interviews untersucht Kleiner, wie lesbische, schwule, bisexuelle und Trans*Jugendliche schulische Interaktionen und schulischen Unterricht und insbesondere die unterrichtliche Thematisierung von Sexualität und Lebensweisen erleben. Die Schule erscheint in den Narrativen als eine Institution normalisierender Gewalt. Die von Kleiner analysierten biografischen Episoden verweisen auf heteronormative Aufrufungen im schulischen Alltag. Kennzeichnend sind einerseits Äußerungen und Repräsentationen gesellschaftlicher Normalität und andererseits das Fehlen anderer Lebensentwürfe, im Schweigen, Weghören und Wegsehen. Heteronormativität entfaltet ihre Wirkung also häufig subtil, leise und unauffällig und bleibt vielfach unsichtbar. Kleiners Studie zeigt, dass Jugendliche, die sich nicht fraglos heterosexuell und geschlechtlich konform verorten, im schulischen Alltag das Risiko
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Vgl. https://demofueralle.wordpress.com (Zugriff: 30.04.2020). Vgl. www.stiftung-familienwerte.de (Zugriff: 30.04.2020). Vgl. www.mumdadandkids.eu/de (Zugriff: 30.04.2020).
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tragen, ausgelacht und abgewertet, diffamiert und beschämt zu werden. Die im Kontext von Einwanderung postulierte sexuelle Freiheit des Westens erweist sich vor dem Hintergrund derartiger empirischer Befunde als begrenzt, da deutlich wird, dass Geschlecht und Begehren auch in der Mehrheitsgesellschaft kulturell hervorgebracht, normalisiert und reguliert werden.
5.
Plädoyer für eine rassismus- und heteronormativitätskritische Sexualpädagogik in der Migrationsgesellschaft
Die im Beitrag skizzierten Diskurse um die Homophobie muslimischer Migrant/-innen und Geflüchteter zeigen, dass in der vordergründigen Sorge um das Wohlergehen sexueller Minderheiten in der Mehrheitsgesellschaft bestehende Dominanz- und Ungleichheitsverhältnisse verdeckt und zugleich stabilisiert werden, indem sich Rassismus und Heteronormativität in einer spezifischen Weise miteinander verschränken. Mit dem Verweis auf die Verteidigung der durch Einwanderung bedrohten sexuellen Freiheit wird der Rassismusverdacht entkräftet, der mit der Thematisierung migrantischer Homophobie verbunden ist. Der Fokus auf die migrantische Homophobie und das aktive Vorgehen dagegen – u.a. durch pädagogische Aufklärung – wiederum machen es obsolet, sich selbstkritisch mit heteronormativen Machtverhältnissen der Mehrheitsgesellschaft auseinanderzusetzen. Die Sexualpädagogik, der in den aktuellen Integrationsdebatten eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird, sollte zurückhaltend gegenüber den an sie gestellten Erwartungen sein. Es besteht nämlich die Gefahr, dass sich das pädagogische Handeln für ein präventionspolitisches Programm einspannen lässt, in dessen Vollzug ihm die Rolle einer Gefahrenabwehr zukommt, verbunden mit einer »stigmatisierenden Einmischung in die privaten Angelegenheiten der Menschen« (Timmermanns/Tuider/Sielert 2004: 13). Letzteres ist zum Beispiel dann der Fall, wenn im Kontext von Integrationskursen oder im Rahmen von Aufklärungsworkshops in Wohngruppen für unbegleitete minderjährige Geflüchtete das sexualpädagogische Prinzip der Freiwilligkeit aufgegeben wird, da den Zugewanderten pauschal ein Förderbedarf in Sachen Gleichberechtigung und Toleranz zugeschrieben wird. Statt zielgruppenspezifische Konzepte zu entwickeln, die von einer pauschalen Andersartigkeit von Neueingewanderten ausgehen, sollten Sexualpädagogik und Sexualerziehung die eigenen Inhalte reflektieren, die sie an Kinder und Jugendliche vermitteln.
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Eine aktuell laufende Studie von Cindy Ballaschk (2017) zur schulischen Sexualerziehung in Berlin verweist auf erheblichen Reflexionsbedarf. Das als allgemeingültig postulierte Wissen von Pädagog/-innen ist der Untersuchung nach durch verengte Wissensbestände zu Geschlecht, Sexualität und Migration gekennzeichnet. Geschlecht rekurriert ausschließlich auf Zweigeschlechtlichkeit und blendet Trans- und intergeschlechtliche Lebensweisen aus. Zudem wird Sexualität in erster Linie in Bezug auf die Reproduktionsfunktion thematisiert und damit heteronormativ strukturiert. Zugleich erscheint das pädagogisch vermittelte Wissen mit rassistischen Vorannahmen verwoben, wenn Schüler/-innen als Angehörige einer bestimmten ›Herkunft‹ aufgerufen werden und diesen daraus folgend ein ›falsches‹ Wissen zu Sexualität oder rückständige Einstellungen zur Geschlecht und Sexualität unterstellt wird. Die heteronormativitätskritisch zu problematisierende Unterscheidung von binären, klar abgrenzbaren und hierarchisierten sexuellen Identitäten wird auch im Diskurs um die Bedrohung der westlich sexualliberalen Kultur durch homophobe Geflüchtete und Migrant/-innen reproduziert. Dabei ist interessant, welche Subjektpositionen aufgerufen und welche verschwiegen werden. Der einleitend erwähnte Leitfaden zur Einbürgerung bezieht sich bezeichnenderweise nur auf männliche Homosexualität. Die Studie von Simon (2008) fokussiert Toleranz gegenüber Schwulen und Lesben. Andere Subjektpositionen jenseits heteronormativer Ordnung werden hingegen nicht thematisiert und bleiben somit aus der Debatte um sexuelle und geschlechtliche Freiheiten ausgeklammert.
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Bedrohung sexueller Freiheit im Kontext von Fluchtmigration
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Gender als Sprache der Grenzpolitiken1 Gender und Border Work Sabine Hess
Während sich in den letzten 20 bis 30 Jahren eine genderbezogene Migrationsforschung international relativ virulent etablieren konnte, scheint das Feld der Flucht- und Grenzforschung diesbezüglich noch in den Kinderschuhen zu stecken. So beklagt noch der jüngst erschienene Sammelband Women and Borders (Shekhawat/Del Re 2018), der bereits die Ereignisse aus den Jahren 2015 und 2016 zum Thema hat, als Hundertausende Fluchtmigrant/-innen ihren Weg nach Westeuropa bahnen konnten, noch weitausholend das Fehlen einer Forschungsagenda, die Flucht, Grenze und Gender intersektional zusammendenkt. Auch wenn aus dem Bereich der Fluchtforschung vor allem auch in den letzten Jahren einige umfängliche genderanalytische Sammelbände und Forschungen erschienen sind (Freedman 2016; Buckley-Zistel/Krause 2017; Freedmann/Kivilcim/Baklacioglu 2017), scheint die analytische Kategorie Gender/Sexualität in den internationalen Border Studies immer noch nicht angekommen zu sein (Shekhawat/Del Re 2018: 7 f). Auch im Rahmen der Diskussionen im Kontext des Netzwerks kritische Migrationsund Grenzregimeforschung hat die Analyse des Wechselverhältnisses von Gender und den Politiken der Migration in der Konstruktion von Grenzen bislang einen eher randständigen Platz eingenommen, wenn man allein die geringe Anzahl an Beiträgen hierzu in den letzten drei Grenzregime-Bänden betrachtet (Bahl/Ginal/Hess 2010; Neuhauser/Hess/Schwenken 2017). Ich möchte im Folgenden genealogisch zeigen, dass ganz im Kontrast zur wissenschaftlichen »Unterbelichtung« von Gender (Hess/Neuhauser/Schwenken 2017) Genderargumente sowohl in der Öffentlichkeit als auch in den Po1
Den Titel habe ich in leichter Abänderung Miriam Ticktins Buch Sexual Violence as the Language of Border Control: Where French Feminist and Anti-immigrant Rhetoric Meet (2008) entlehnt.
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litiken der Migrationskontrolle schon seit den 1990er-Jahren einen nicht zu vernachlässigenden zentralen Platz eingenommen haben. Dabei gibt dies keinen Grund zur geschlechterforscherischen Freude, wie es spätestens das Diskursereignis »Kölner Silvesternacht« deutlich macht, wie es Gabriele Dietze in ihrer Analyse bezeichnete (2016). »Köln« und seine nachträglichen hitzigen Diskussionen offenbarten nicht nur ein bisher unbekanntes Potenzial an gesellschaftlichem Rassismus im Gewand der Sexismusanklage (vgl. hierzu auch Pernelli 2016). Vielmehr wurde hier die leicht aktivierbare Diskursfigur von »Sex Mob« und »Rape Culture« (Dietze 2016; Werthschulte 2017) in Verbindung mit Geflüchteten geschaffen, welche seitdem nach jedem neuen medialisierten Gewaltereignis, das in irgendeiner Form mit Geflüchteten in Zusammenhang gebracht werden kann, zu rechten Aufmärschen führt.2 Unsere Forschungen im Kontext des Forschungsprojekts »Gender, Flucht, Aufnahmepolitiken«3 zeigen hierbei, dass lange vor der Silvesternacht 2015/16 nicht nur die Figuren des »gewaltbereiten männlichen Flüchtlings« und sein Pendant der geflüchteten Frau als »schutzbedürftiges Opfer von Gewalt« medial breit etabliert waren (Elle/Hess 2018). Vielmehr zeigen die Analysen, dass gerade diese spezifische Art der Vergeschlechtlichung des Diskurses dazu beitrug, die sogenannte Flüchtlingskrise zu problematisieren und eine Zäsur der Willkommensstimmung Anfang 2016 einzuleiten.4 Doch nicht nur auf der Straße, auch im Bereich der Politik haben Genderargumente – insbesondere in ihrer Verengung auf Gewalt und den Schutz von Frauen wie auch im Sinne der kulturalistischen Aneignung der Forderung nach Gleichstellung als westliches Kulturgut – eine organisierende Kraft und politische Sprengkraft weit über das rechtspopulistische Feld hinaus erfahren. Insbesondere die genderbezogene Rassismusforschung unter dem Einbezug der Erkenntnisse feministischer postkolonialer Studien weisen
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So hat 2018 in Chemnitz über mehrere Tage ein rechter Mob die Straßen der Stadt bestimmt, nachdem ein Streit, der zum Tod eines Deutsch-Chilenen geführt hatte, als Tat von Geflüchteten kolportiert wurde. Das Forschungsprojekt mit Teilprojekten an den Universitäten Oldenburg, Osnabrück und Göttingen wird vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur mit einer Laufzeit von 2017 bis 2020 gefördert, vgl. https://www.imis.uni-osnabrueck.de/forschung/flucht_und_schutzsuchende/gender_flucht_aufnahmepolitiken. html (Zugriff: 30.04.2020). Beispielsweise wenn der Münchner Soziologe Armin Nassehi vor einer »Maskulinisierung öffentlicher Räume« warnte: Was jetzt tun – in zwölf Punkten. In: Die Welt vom 5. Oktober 2016.
Gender als Sprache der Grenzpolitiken
seit Längerem darauf hin, wie gender- und sexualitätspolitische Tropen einen immer zentraleren Platz in kulturfundamentalistischen, rassistischen und antimigrantischen Diskursen eingenommen haben (u.a. Fekete 2005; Mendel/Neuhold 2015; Villa/Hark 2017). Genderartikulationen scheinen angesichts verschiedenster Faktoren wie der Transformation rassistischer Artikulationsformen – Stichwörter wären hier der antimuslimische Rassismus oder der postliberale, reflexive Rassismus (Attia 2009; Lentin/Titley 2011; Pieper/Tsianos 2011) – und der damit zusammenhängenden Neuziehung der Außen- und Binnengrenzen des europäischen Projekts sowie andererseits der Faktizität einer postmigrantischen Gesellschaft zu einer wesentlichen Positionierungsstrategie der Mehrheitsgesellschaft geworden zu sein (Mendel/Neuhold 2015). Die für den Westen als erreicht eingestufte Geschlechtergleichheit firmiert immer stärker, gerade auch in einem liberalalternativen Milieu, zur Markierung und Vermessung von Differenz und »Integrationsfähigkeit« gegenüber den »MigrationsAnderen« (Mecheril/Castro Varela/Dirim 2010; Tsianos 2015; Dean 2019; Hark/Villa 2017). Im Folgenden werde ich, aufbauend auf einer Reihe eigener Forschungsprojekte zum Europäischen Grenzregime sowie von Forschungen aus dem Bereich der kritischen Grenz- und Migrationsforschung in den letzten 15 Jahren, zeigen, dass die Aneignung und Rekodierung von Genderartikulationen in einem antimigrationspolitischen Sinne allerdings schon länger im Kontext europäischer Grenzpolitiken zu beobachten ist und eine erfolgreiche Diskursstrategie des Europäischen Grenzregimes darstellt. Genderargumente leisten anscheinend, wie sich zeigen lässt, auf eine spezifische Weise ganz hervorragend »border work«, wie die neueren internationalen Border Studies das »doing border« durch eine Vielzahl von unterschiedlichst positionierten Akteuren praxeologisch zum Ausdruck bringen (Rumford 2009; Hess 2018). Hierbei kam es zu einer folgenreichen, auf den ersten Blick nahezu widersprüchlich anmutenden Verkoppelung von Gender- und Grenzpolitiken, die die US-amerikanische Kulturanthropologin und Humanitarismusforscherin Miriam Ticktin auf den Nenner von »protecting women, while protectig borders« bringt (2008: 866). Angesichts der neuerlichen Konjunkturen von Gender- und Gewaltschutzdiskursen und -politiken im Zusammenhang mit der Flüchtlingsaufnahme seit 2015 möchte ich einen reflexiven Blick zurückwerfen, nicht um Analogien im strikten Sinne zu heute zu konstruieren, sondern vielmehr um für die Effekte spezifischer – auch gut gemeinter – feministischer Politiken zu sensibilisieren, die eine »rassistische Gleichstellungspolitik« begründen helfen und zu einer »feministischen Disziplinierung
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des migrantischen Subjekts« beitragen, wie es Esra Erdem (2009) vor Jahren schon hinsichtlich von integrationspolitischen Verschärfungen so treffend herausgearbeitet hat. Diese Koppelung von Gender- und Grenzpolitiken ist, wie ich im nächsten Abschnitt argumentieren werde, zum einen auf die spezifische bisherige Konstruktion des europäischen Grenzregimes zurückzuführen. Dieses hat bis zu den Ereignissen in 2015 nicht auf platte Abschottung gesetzt, sondern auf ein »filtering« der Migrationsbewegungen (Walters 2006; Andreas 2). Auch ist es nicht gänzlich in einer Versicherheitlichung seiner Praktiken und Politiken aufgegangen, wie es durchaus ein Strang der Border Studies mit dem Konzept der »securitization« interpretiert(e) (Huysmans 2). Vielmehr werde ich zeigen, wie bereits zu Beginn seines spezifischen Ausbaus das europäische Grenzregime – verstanden als ein mehr oder weniger entgrenztes und deterritorialisiertes Ensemble aus Techniken, Infrastrukturen, Diskursen, Akteuren, Gesetzen (Transit Migration Forschungsgruppe 2007) – auch humanitäre, menschenrechtliche Argumente diskursiv und sogar praktisch aufgriff, ja aufgreifen musste, welche einen spezifischen »humanitarian-security nexus« begründeten (Andersson 2017). Dies werde ich eingehender am Beispiel des bis in die 2010er-Jahre hinein diskursiv sehr zentralen Aktionsfelds der Antiund-counter-trafficking-Politik, der deutschen Integrationspolitik, sowie an dem seit 2015 entstehenden Feld des Vulnerabilitätsdispositivs zeigen. Dabei werde ich zunächst in paradigmatischer Absicht skizzieren, wie das Anti- oder Counter-trafficking-Praxis- und Diskursfeld ganz zentral seit Anfang der 2000er-Jahre die Ausrichtung des EU-Grenzregimes, insbesondere seine Externalisierungsstrategie, mitbedingte und legitimierte, indem es einen menschen- und frauenrechtlichen Konsens dahingehend organisieren half, dass restriktive Grenzkontrollen wichtig und richtig seien. Ich spreche hier nicht, und das scheint immer wieder notwendig zu sein zu betonen, über den fortdauernden Skandal des Frauen-, Kinder- und Menschenhandels, einen ökonomischen informellen kriminellen Sektor, der aber auch ohne Migrationskontrollpolitik strafrechtlich bestens verfolgt werden könnte. Vielmehr geht es mir hier darum herauszuarbeiten, wie das Antitrafficking-Diskursund Praxisfeld zu einer derartig produktiven Art und Weise des »border work« wurde. Von Interesse ist hierbei, wie es funktionieren konnte, dass ein frauenund menschenrechtlicher Diskurs, der im Kern auf den Schutz der Opfer von Frauenhandel und Zwangsprostitution abzielt, so gut kooptierbar war, dass er, wie Claudia Aradau, eine feministische Sicherheitstheoretikerin, argumentiert, lange »glücklichst im Kontext der EU mit dem Sicherheitsfeld und
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der Anti-Immigrationspolitik verheiratet« war (2004: 253). Allerdings geht es mir in diesem Artikel nicht in erster Linie um ein Verständnis dieses politischen Praxis- und Diskursfelds im engeren Sinne – das habe ich bereits an anderer Stelle mehrfach ausgeführt (Hess 2013; 2012), sondern um die Frage, was es für eine intersektional argumentierende feministische Theorie und Praxis bedeutet, dass die Migration von weiblich lesbaren Personen die internationale Bühne vor allem im Gewand des Opfers, in der humanitaristischen Sprache und Iconographie des »leidenden«, »verletzlichen Körpers« betritt, womit ich auch feministische Politikansätze befragen will, die international als »politics of pity« (Aradau 2004) oder »of compassion« (Ticktin 2011) bzw. als »politics of vulnerability« (Butler 2004; 2016) gefasst werden. Die andere Seite der hier analysierten Passung von Gender- und Grenzpolitiken stellen spezifische genderanalytische und feministische Artikulationen und bewegungspolitische Tropen dar wie die hier angesprochene Perspektive auf den »leidenden verletzlichen Körper« und »genderbezogene, sexualisierte Gewalt«. Diese tendieren dazu, den staatlichen Rechts- und Gewaltapparat anzurufen, und scheuen sich nicht, Allianzen und Arbeitsbündnisse mit Akteuren aus diesen Kontexten einzugehen (Bahl/Ginal/Hess 2010; Fitzgerald 2010; Ticktin 2011: 17ff.). So arbeitet auch Miriam Ticktin in ihrer Studie zu Frankreich am Beispiel der dortigen Kopftuchdebatte oder am Beispiel einer dort in den frühen 2000er-Jahren stattgefundenen »rape«-Debatte in Migranten-Communities heraus, dass »regimes of care« im Kontext von rassifizierten Politiken der Mobilitätskontrolle nur zu oft als ihre Kehrseite »regimes of surveillance and policing« mitproduzieren (2011: 23). Eine Sichtung der jüngsten Veröffentlichungen im Bereich Gender, Flucht und Grenze zeigt hierbei, dass der Topos der »geschlechterbasierten Gewalt« (»gender based violence«) über die genannten Forschungskontexte hinweg wieder zur Zentralperspektive des entstehenden Feldes der Gender-BorderRefugee-Studies zu werden scheint, wie es Titel intendieren, die Gender, Violence, Refugees zu einem Nexus zusammenziehen (Buckley-Zistel/Krause 2017; Freedman 2016). Auch in diesem Zusammenhang gilt es wieder zu betonen, dass der »migration-violence«-Nexus (Freedman 2017: S. 128) insbesondere auch als Effekt der restriktiven vorgelagerten Grenzpolitiken, wie sie Alison Gerard und Sharon Pickering mit ihren genderspezifischen Effekten ausführlich darstellen (2014)5 , insbesondere für flüchtende Frauen, Kinder und ande5
Sie können insbesondere herausarbeiten, dass der weiblich lesbare Körper nicht nur zur Zielscheibe unermesslicher Gewalt des Grenzregimes wird, sondern auch zur letz-
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re vulnerable Gruppen mit besonderen Herausforderungen, Schwierigkeiten und Leid einhergeht und von einem »Gewaltkontinuum« von den Herkunftskontexten bis in die vermeidlichen Zielkontexte zu sprechen ist (Krause 2012). So thematisiert auch der vielversprechende Sammelband von Shekhawat und Del Re mit seinen zehn Studien vor allem den Zusammenhang von Gender, Gewalt und Grenzen, die zwar deutlich machen, dass Grenzregime höchst vergeschlechtlicht sind, insofern sie spezifische vergeschlechtlichte Erfahrungen, Praktiken und Subjekte/Subjektivitäten produzieren. Allerdings drängt auch hier die redundante Nennung von »violence« als Grenzerfahrung Fragen von Praxis, Handlungsmächtigkeit und Agency an den Rand. Auch bleibt in dieser Perspektive Gender wieder das andere, das äußere der Grenzregime. Eine derartige empirische genderanalytische Perspektive zeigt wieder nicht, wie die Grenzregime selbst auf vergeschlechtlichten Modi basieren und selbst Gender anrufen und performieren im Versuch, Migration zu regulieren und zu kontrollieren. Dabei ist gerade die spezifische Figur des weiblichen Opfers von (genderbezogener) Gewalt und das daran gekoppelte Bild der schutzlosen Frau des Südens (Mohanty 1984) mittlerweile tief eingeschrieben als zentrales diskursiv-zentrales Instrument des Grenzregimes, wie ich im Folgenden im Rahmen meines kleinen unsystematischen Rückblicks herausarbeiten werde (vgl. auch Olivius 2017).
Politiken der Externalisierung oder: Protecting Women while protecting Borders Die EU-Migrations- und Grenzpolitik, wie sie über die Jahre mit dem Schengener Abkommen (1985), dem Amsterdamer Vertrag (1998) und den verschiedensten Gipfel- und Arbeitsgruppentreffen ausbuchstabiert und entwickelt wurde (Walters/Haahr 2004; Hess/Tsianos 2007; Hess/Kasparek 2017; Hess 2018), hat es über die Jahre geschafft, diskursiv den Ausbau seiner sogenannten gemeinsamen Außengrenze sowie von Kontrollpolitiken geografisch weit darüber hinaus, aber auch geografisch weit hinein in die nationalen Territorien und Gesellschaften als humanitäre Maßnahme im Kampf gegen Schlepper und Schleuser zu kodieren. Auch die jüngsten ten Ressource der Frauen und von einer sexualisierten Körperökonomie zu sprechen ist durch die spezifischen Bedingungen des immer restriktiveren vorgelagerten Grenzregimes.
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Abwehrmaßnahmen nach dem »langen Sommer der Migration« und neuen Abkommen mit Transitländern wie Libyen oder der Türkei (Hess/Heck 2017), die zum Stopp der nahezu gesamten zivilgesellschaftlichen und staatlichen Seenotrettung im Mittelmeer führten und die Zahl der Todesopfer wieder rasant ansteigen ließ, wurden als humanitäre Schutzmaßnahme verkauft, Leben zu retten, in dem Geflüchtete vor der riskanten Überfahrt abgehalten würden (Stierl 2018). Dieser Ansatz, der vorsah, die Migration bereits auf ihren Routen, am besten bereits in den Herkunftsländern zu selektieren und zu »steuern«, führte bereits Ende der 1990er-Jahre, Anfang der 2-Jahre zum sogenannten »migration route approach« (Hess/Kasparek 2019; Dietrich 1999) und folglich zu einer forcierten Externalisierungspolitik, einer Politik der »remote control« im Sinne einer Vorverlagerung zentraler kontrollpolitischer Praxen in die Transit- und Herkunftsregionen der Migrations- und Fluchtbewegungen hinein (Lahav/Guiraudon 2; Lavenex 2004; Hess/Tsianos 2007; Bialasiewicz 2012). Angesichts der Konstitution der Migrationsbewegungen als »mixed migration flows«, wie wissenschaftliche Einsichten in die Komplexität von Migrationsfluchtbewegungen auf der internationalen Politikbühne technisch aufgegriffen wurden (Gosh 2018), galt es hierbei jedoch Schutzaspekte der Genfer Flüchtlingskonvention und alsbald auch im Sinne der Opfer von Frauen- und Menschenhandel zu berücksichtigen (Ratfisch/Scheel 2010). Allerdings vermochte das Grenzregime gerade die Schutzaspekte als Argument für eine forcierte Externalisierung einzusetzen, die erst ein Herausfiltern der wahren Schutzbedürftigen ermögliche. Im Rahmen unseres ersten ethnografischen Forschungsprojekts der Transit Migration Forschungsgruppe entlang der europäischen Außengrenzen in der südosteuropäischen Peripherie hatten wir bereits zu Beginn der 2002er-Jahre auf diese humanitaristische Paradoxie oder Ambivalenz des europäischen Grenzregimes hingewiesen und die gouvernementale Funktion des Asylregimes sowie des Anti-trafficking-Komplexes mit dem Begriff der »NGOisierung« gefasst (Karakayli/Hess 2007). Spätere Studien, die im Kontext der kritischen Humanitarismusforschung entstanden (Fassin 2007; Ticktin 2011; Walters 2011; Cuttita 2016; Perkowski 2018) demonstrieren ebenfalls, dass das europäische Grenzregime von Anfang an aus einem nicht widerspruchsfreien Mix aus versicherheitlichten und humanitaristischen Diskursen und Praktiken besteht, wobei beide Logiken im Wechselwirkungsverhältnis zueinander stehen und sich durchaus
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auch gegenseitig stützen (Andersson 2017; Walters 2011).6 Mit dem »Global Approach to Migration and Mobility« 2005 und seiner Erweiterung 2011 fand die in humanitaristische Diskurse eingebettete Externalisierungspolitik der Europäischen Grenz- und Migrationskontrollpolitik als ganzheitlicher und in der Tat globaler, imperialer Politikansatz seine offensive Ausbuchstabierung (European Commission 2007).7 Rückblickend lässt sich als zentraler diskursiver Aufschlag für diese Ausrichtung das sogenannte Blair-Papier aus dem Jahre 2002 interpretieren, welches den wohlklingenden Namen Secure Borders, Save Havens (Home Office 2002) trug und welches eine imperiale Vorverlagerung der Kontrollpolitiken bis in die Transit- und Herkunftsländer als Schutz der Transitmigrant/-innen in epischer Breite ausbuchstabierte. So forderte Blair bereits damals die Einrichtung von Asyllagern, genannt »Save Havens«, entlang der Routen ein, was derzeit wieder unter dem Begriff der »disembarkation platforms« (Europäische Kommission 2018) diskutiert wird. Hierbei nutzt bereits das Blair-Papier eine vergeschlechtlichte Rhetorik und bettete seinen moralischen Unbedenklichkeitsgestus in eine vergeschlechtlichte Darstellung der Opfer des Transits ein (vgl. Fitzgerald 2012). So argumentierte das Blair Papier bereits mit der besonderen Verletzlichkeit des weiblichen migrantischen Körpers und verkoppelte unmittelbar Frauenmigration mit Frauenhandel zum Zwecke sexueller Ausbeutung (2012: 232). Dies fand einen breiten Resonanzraum bis weit hinein ins feministische und humanitäre Akteursfeld. So zeichnet sowohl Ticktin (2011) als auch Fitzgerald (2010) nach, wie die Figur des weiblichen Opfers sexualisierter Gewalt seit Anfang der 2000er-Jahre zum »model subjects of humanitarian aid«
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Hier greift dann auch Didier Fassins zentrales Charakteristikum der humanitären Macht: »But humanitarian intervention is also a politics of life, as I suggest to phrase it, in that it takes as its object the saving of individuals, which presupposes not only risking others but also making a selection of which existences it is possible or legitimate to save.« (2007) Die Politik der Abkommen und der Hineinnahme der nordafrikanischen Transitländer in die Logiken und Politiken des europäischen Grenzregimes, wie sie seit 2016 wieder forciert lanciert werden, haben daher eine lange Geschichte, zu sehen am Rabat Action Plan 2006, der sogenannten Tripoli Deklaration 2006 oder dem sogenannten EuroMed-Gipfel 2007. So wurden Länder wie Libyen, Tunesien, Marokko und Ägypten schon seit 2011 v.a. über das Instrument der sogenannten Mobilitätspartnerschaften des Global Approaches enger denn je in das EU-Grenzregime integriert.
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wurde, was auch mit Kompromissstrategien der internationalen Frauenbewegungen des Nordens und des Südens korrespondierte, körperliche Integrität und eine Politik des Körpers und nicht etwa internationale sozioökonomische Ausbeutungsverhältnisse zentral zu fokussieren. Ticktin schreibt: »What emerged was a victim-subject, particularly one of sexual harm, seen in isolation from other injustices or forms of exploitation – this was the only way to get around the tensions between the feminist movements in the North and the South« (2011: 17). Dieser Politikwechsel von »politics of social justice« zu »politics of the body« (ebd.: 250) sollte folgenreich sein. Damit einher ging jedoch eine weitere Verengung, nämlich des Gewaltkomplexes. So arbeiten insbesondere intersektional argumentierende feministische Studien heraus, dass auch hier strukturelle sozioökonomische Gewaltaspekte, wie sie eher Frauen des Südens und rassifizierte und sozial deklassierte Frauen des Nordens betreffen, in den Gewaltnarrativen der internationalen Frauenbewegung weitgehend marginalisiert wurden zugunsten von eindimensional auf Gender und Sexualität und hier auf »private/public divide«-bezogene Artikulationen, die interpersonale, Körperbezogene, sexualisierte und häusliche Gewalt dominant setzten und damit strukturelle intersektional zu verortende Gewalt dethematisierte (Hall 2015: 396-398).8 Diese problematische Vereinfachung des Gewaltkomplexes spiegelt sich auch in der Normenauslegungspraxis internationaler humanitärer Organisationen wie dem UNHCR und scheint derzeit ebenfalls öffentliche und politische Diskussionen über die spezifischen Bedürfnisse und Vulnerabilitäten von geflüchteten Frauen mit zu strukturieren, wie ich anschließend ausführen werde (u.a. Miller 2004; Olivius 2017).
Antitrafficking-Politik und »governance feminism« Vor allem der Kampf gegen Frauen- und Menschenhandel mit dem ikonografisch gestellten Bild des absoluten willenlosen – nackten – Opfers skrupelloser
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In diesem Sinne sieht Hall auch die eingeschlagenen feministischen Strategien zunehmend kritisch, die Gewalt gegen Frauen entpolitisiert und das Thema zunehmend zum einen in die Hände von psychologisch geschulten Professionellen und zum anderen in die Hände eines strafenden Staates gelegt hätten und somit zu einer Medikalisierung und Individualisierung der Thematik geführt hätte (s. auch Kelly/Radford 1998: 72).
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Menschenhändler, wie es Rutvica Andrijasevic (2005) detailreich herausarbeitet, hat ein weites, auch feministisches Akteursfeld in das EU-Grenzregime integriert und war in der Lage, die Gleichung »protecting women while protecting borders!« sinnvoll erscheinen zu lassen. Dies war eine erstaunliche diskursive Leistung, deren Gehalt noch deutlicher wird, wenn man sie so übersetzt, dass Abschiebungen der Opfer9 und Migrationsabwehr als Schutz und Rettung von Frauen dargestellt werden konnten – wobei diese Rekodierung von Frauenschutzargumenten im Gewand migrationskontrollpolitischer Rationalitäten auch wiederum feministisch-antirassistische Kritik evoziert hat, die diesem Politikfeld auch über die Jahre seine Legitimität zu einem gewissen Grade wieder entziehen konnte (u.a. Doezama 2002; Böker 2009). Dabei zeigt Helen Schwenken in ihrer Forschung, dass der Erfolg der feministischen Antitrafficking-Kampagnenarbeit gerade im EU- und UNUmfeld zu Beginn der 2002er-Jahre (Palermo-Protokoll 2003) durch hohe Kosten erkauft wurde, indem er eben nur durch Allianzen mit dem Sicherheitsfeld und der Migrationspolitik möglich wurde. Man könnte jedoch auch andersherum sagen: Für die Kampagnenfrauen bestand auf EU-Ebene wie in den weltweiten UN-Foren das »window of opportunity« darin, sich an das damals im Ausbau begriffene sicherheitsmigrationspolitische Politikfeld der EU anzulehnen (kurz nach dem Abschluss des Vertrags von Amsterdam 1998 und dem großen migrationspolitischen Gipfel in Tampere 1999) und ihren Diskurs ebenfalls als »sicherheitspolitisches« bzw. als »ordnungspolitisches« Thema von nationalem Belang zu framen (vgl. Schwenken 2006). Dabei zeigen sowohl Miriam Ticktin als auch Helen Schwenken, dass es sich hierbei um spezifische Frauen- bzw. feministische Gruppen handelte, die mehr und mehr auch im Rahmen der UN-Foren und des international dominanter werdenden menschenrechtlichen Regimes auf staatliche und v.a. juridische Macht setzten. Ticktin bezeichnet diese feministische Spielart in Anlehnung an Janet Halley als »governance feminism« (Ticktin 2011b: 252), welcher die Anschlussfähigkeit von feministischen Diskurspositionen an regulative staatliche Politik sucht(e). Wie meine Forschung in den 2000er-Jahren zu den Foren und Praktiken der Europäisierung der Migration jedoch deutlich machte (Hess 2013), ging es in den unzähligen Konferenzen, Seminaren, Workshops und Meetings, die hierzu im Osten und Süden der Welt einberufen wurden, jedoch durchaus 9
Interessanterweise waren in diesem Zusammenhang die Täter noch national situierte Männer, deren Aufenthalt/Staatbürgerschaft nicht infrage gestellt wurde.
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auch um »Opferschutz«. Allerdings firmierten unter Opferschutz Maßnahmen wie der Aufgriff und die Identifizierung gehandelter Frauen via Migrationskontrollen, ihre polizeiliche Gewahrsamnahme und Befragung nach Reiserouten, ihre Unterbringung bzw. Einschließung in Frauenhäusern für den Opferschutz und den Zeugenstand sowie ihre Rückführung in die Herkunftsländer. Dabei förderten die wenigen Studien, die an den Sichtweisen und Erfahrungen von betroffenen Frauen ernsthaft interessiert waren, die Janusköpfigkeit und negativen Effekte dieser durchaus auch von sich feministisch bezeichnenden NGOs durchgeführten Opferschutzpolitik klar zutage. So berichteten Frauen in einer kleinen Studie des International Centers for Migration Policy Development, welches als europäischer Think Tank und Speerspitze europäischer Externalisierungspolitik in Richtung Ost- und Südosteuropa nicht im Verdacht steht, promigrantisch zu sein, nicht nur von unsachgemäß und schlecht ausgeführten Praktiken der Polizeien und von NGOs, die den Frauen eher Angst machten, sie bedrohten, verhöhnten, sie in Unkenntnis über ihre Lage ließen. In zahlreichen Ausschnitten machten die Migrant/-innen auch deutlich, dass die zu ihrem Schutz erkorenen Maßnahmen nicht in ihrem Sinne sind; vielmehr demonstrieren diese Selbstzeugnisse davon, dass das, was als Opferschutz firmiert, sich gegen die betroffenen Frauen wendet (icmpd 2007). Auch die UN musste in einer Studie konstatieren, dass viele der befragten Trafficking-Opfer sich gegen ihre Rückführungen aussprachen und zu vermuten ist, dass Rückführungen gerade ihre Verletzlichkeit steigern (Fitzgerald 2012). Dabei können alle kritischen Studien zeigen, dass dieses Maßnahmenbündel den migrantischen Frauenkörper insbesondere im Zusammenhang mit der Routenabfrage und der Etablierung diverser vernetzter Datenbanken von Europol, Frontex etc. nicht nur zur Zielscheibe diverser hochtechnologisierter und vernetzter Wissenspraktiken machte. Es aktivierte auch in bester gouvernementaler Weise eine bisher nicht denkbare Inter-agencyKooperation zwischen Akteuren des Law Enforcements, internationalen migrationspolitischen Organisationen wie der IOM10 bis hin zu kleinen lo10
Gerade die International Organization for Migration (IOM) hat in den 2000er-Jahren dieses Politikfeld stark über Kampagnen betrieben und sich zu der internationalen Organisation in dem Bereich aufgeschwungen – immer mit der doppelten Rhetorik des Schutzes und der Versicherheitlichung. In gewisser Weise herrschte in den 2000erJahren auf internationaler Ebene eine gewisse Arbeitsteilung zwischen dem für den Flüchtlingsschutz zuständigen UNHCR und der sich für das Antitrafficking-Feld zuständig erklärenden IOM (Hess/Karakayali 2007).
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kalen feministischen NGOs. Und dort, wo es keine gab, wurden sie noch aus EU-Geldern gegründet (das Daphne-Aktionsprogramm der EU sah v.a. den Aufbau von NGOs vor), wie es der gouvernementale EU-Politikstil verlangt. Das hier beschriebene Wissensregimes sowie die damit einhergehende intersektorale Akteurskonstellation ist ein wesentlicher Baustein der Geburt der humanitären Grenze, wie sie William Walters in The Birth of the humanitarian border 11 (2011), ohne genauer auf das Antitrafficking-Feld und den Beitrag feministischer Diskurs- und Akteurskonstellationen einzugehen, beschreibt. In diesem Sinne produziert gerade der Humanitarismus einen tiefen bzw. breiten Staat und führte zu einer spezifischen Integration und Artikulation von gender- und sexualitätspolitischen Identitäten und Positionen, wie es auch Jasbir Puar für den US-amerikanischen Kontext in Terrorist Asemblages: Homonatinónalism in Queer Times (2007) beschrieb.
Integrationspolitische Verwerfung: Zwangsehen, Ehrenmorde, Sprachnachweispflicht Doch nicht nur auf dem Feld der europäisierten Grenz- und Migrationskontrollpolitik, sondern auch auf dem Gebiet der deutschen Zuwanderungs- und Integrationspolitik wurden in den letzten Jahren immer wieder Verschärfungen zentral durch genderpolitische Argumentationen legitimiert. Eines der jüngsten Beispiele ist die kontrovers geführte Debatte um die sogenannte Sprachnachweispflicht für nachziehende Ehepartner/-innen aus bestimmten Herkunftsländern im Rahmen der Reformierung des Zuwanderungsgesetzes im Jahr 2007 (Gutekunst 2018), welche der Europäische Gerichtshof in einem Urteil 2014 ohne Härtefallklausel als unvereinbar mit dem bestehenden Assoziierungsabkommen z.B. mit der Türkei erachtete. Dabei konnten Befürworter/-innen dieser Art des verschärften Einreisehindernisses für Menschen, die im Rahmen des Ehegatten- und Familiennachzugs zu ihren Partner/-innen nach Deutschland migrieren wollten, auf bereits wohl etablierte Narrative über »Ehrenmorde« und »Zwangsheiraten« aus den hitzigen Debatten der Jahre zuvor um ein erstes deutsches Zuwanderungsgesetz aufbauen, die sehr
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Er sieht die humanitäre Grenze da entstehen, als ihre Überquerung zu einer Frage von Leben und Tod wurde, wie dies insbesondere für die Überquerungen des Mittelmeers im letzten Jahrzehnt zunehmend auch medial zunehmend problematisiert wurde (vgl. auch Hess/Kasparek 2017).
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nachdrücklich dazu führten, dass der ›Islam als Religion der weiblichen Unterdrückung‹ und patriarchaler vormoderner Kultur betrachtet wurde (vgl. Erdem 2009: 188). Esra Erdem beschrieb die diskursive Situation damals mit folgenden Worten: Für Feministinnen barg die Integrationsdebatte eine doppelte Überraschung: erstens kam es für viele unerwartet, als plötzlich die Gleichberechtigung als grundlegender Wert der deutschen Gesellschaft in die Diskussion eingebracht wurde und die Situation von Migrantinnen im medialen Diskurs zunehmend in den Vordergrund rückte….Die zweite Überraschung kam als migrantische Anti-Gewalt-Aktivistinnen sich zwar vereinzelt, aber medienwirksam zu Wort meldeten, um die konservative politische Linien zu unterstützen. (Ebd.) Auch hier lässt sich rückblickend feststellen, wie die Integrations- und Zuwanderungsdebatte scheinbar ein Window of Opportunity für spezifische Spielarten eines migrantischen Anti-Gewalt-Aktivismus darstellte, das Problem der Gewalt gegen Frauen in migrantischen Communities auf eine spezifische Weise – nämlich hier wieder zum Preis ihrer kulturalistischen und rassifizierenden Setzung – zum Politikum und hierüber zum Objekt migrationspolitischer Regulationen zu machen. Von nun an scheinen Frauen-Gleichstellungsargumente einen zentralen Platz insbesondere in antimuslimischen Rassismen zu haben. Dies hat dann auch dazu beigetragen, dass die Einführung der Sprachnachweispflicht, welche zertifizierte Deutschkenntnisse bereits zur Visumsantragsstellung für bestimmte Herkunftsländer verlangt und damit ein höchst selektives Einwanderungshindernis im Feld des Ehegattennachzugs schuf, als frauenpolitische Schutzmaßnahme umkodiert werden konnte. Und auch diesmal führte dies zu einer Verschärfung der Politik der »remote control« und einer Ausweitung des Feldes des Border Works, wie es die Kulturanthropologin Miriam Gutekunst in ihrer jüngst abgeschlossenen Forschung über »Migration, Heirat und staatliche Regulierung im europäischen Grenzregime« (2018) herausarbeiten kann. So folgt Gutekunst in ihrer Forschung den Diskursen und Akteuren bis nach Marokko in das Goethe-Institut als einzigen staatlich anerkannten Zertifikatsträger und das deutsche Konsulat, die im Zusammenhang mit der Sprachnachweispflicht zu vordersten Grenzhütern werden. Hierbei kann sie sehr anschaulich zeigen, wie sich die neueren antimuslimischen Migrationskontrolldiskurse mit alten kolonialen Genderdiskursen vermengen und die deutschen Beamten und Angestellten letztlich nur »abhängige, unterwür-
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fige Frauen« als »Hausfrauen« erkennen, die in dieser vergeschlechtlichten kulturalisierten Logik nichts Böses im Schilde führen können (2018: 161ff.). Dabei verweist sie auf eine interessante Diskursverschiebung: So geht es den deutschen Beamten und Angestellten in Marokko nur noch marginal darum, Frauen zu ›retten‹. Vielmehr definierten sie im Kontext der deutschen Integrationsdebatte ihre Aufgabe zunehmend um und sahen sich in der Rolle des Integrationsfrontwächters aufgerufen zur »Disziplinierung der Mobilität«, wobei Gender und Sexualität/Heteronormativität zu den zwei zentralen Chiffren wurden, den im neoliberalen Sinne »guten Migranten/die gute Migrantin«, der Deutschland nicht täuschen will, herauszufiltern und die anderen abzulehnen (ebd.: 229ff.). Männern wurde dabei eine höhere Täuschungsabsicht unterstellt, da ihnen als arabisch-muslimischer Mann nicht zugeschrieben wurde, den Weg des »Ehe- und Familiennachzugs« aus Beziehungsgründen zu beschreiten. Gutekunst arbeitet jedoch auch heraus, dass der Ehegattennachzug im Zuge einer »kolonialen Mixophobie«, wie es der französische Rassismustheoretiker Taguieff (2001) ausdrückt, seit Beginn einwanderungspolitischer Regelungen immer wieder diskutiert und kontrolliert wurde, wobei zumeist die »fremde Frau« als Trägerin von Kultur und reproduktiven Fähigkeiten als Bedrohung der Nation dargestellt wurde und hiermit in den Fokus biopolitisch-rassistischer Mobilitätspolitiken geriet.
Neue Ambivalenzen im alten Gewand: Gender, Flucht und das Vulnerabilitätsdispositiv Seit den Entwicklungen des »langen Sommers der Migration 2015« hat die Frage nach geschlechtsspezifischen Erfahrungen und Strukturen im Kontext von Flucht und Migration eine neue mediale und programmatische Aufmerksamkeit erfahren. Nicht nur in der Medienberichterstattung rund um Fluchtmigration werden Frauen und LGBTIQ immer öfter sichtbar, auch lässt sich ein wahrer Boom an nationalen und kommunalen Programmen und Konzepten beobachten, die geschlechtsspezifische – insbesondere frauenspezifische – Aufnahmepolitiken und -strategien zum Thema haben, wie es Johanna Elle und Sabine Hess in ihrem Forschungsprojekt im Rahmen von »Gender Flucht, Aufnahmepolitiken« zeigen können (2019). Zahlenmäßig haben die wenigen Monate des Jahres 2015 und 2016, als die Länder der Balkanroute mehr oder weniger selbst die Flüchtlingsbewegungen durch die Installierung des »formalen Korridors« weiterleiteten (Hess/Kasparek 2019), in der Tat zu einer
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Zunahme des Frauen- und Kinderanteils auf über 60 Prozent der Fluchtmigrant/-innen geführt (Muižnieks 2016). Dies ließ in Deutschland den Frauenanteil unter den registrierten Geflüchteten in etwa um sieben Prozent auf 41,3 Prozent steigen, wie es neuere Zahlen des Bundesamtes für Migration und Integration demonstrieren (vgl. Mediendienst Integration und Migration 2016). Die sukzessive Rekriminalisierung und Schließung der Balkanroute seit März 2016 vor allem durch die faktische Schließung der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland sowie durch den sogenannten EU-Türkei-Deal haben insofern überproportional Frauen und Kinder getroffen, die sich bereits auf den Weg gemacht hatten, als die Route noch passierbar schien, ohne sich groß zu verschulden, sich in Abhängigkeit von Schmugglernetzwerken zu begeben und sich als kriminalisierte »Illegale« clandestin fortbewegen zu müssen (Gerad/Pickering 2014; Hudson 2018). Dabei haben Frauen- und Kinder als ›vulnerable Gruppen‹ entlang der ganzen Route mit dem Eintreffen der humanitären Akteure, insbesondere des UNHCRs, durchaus eine besondere Aufmerksamkeit erfahren, wie es unser Forschungsprojekt »Transit Migration II. De- und Restabilisierung des europäischen Grenzregimes« entlang der europäischen Außengrenze und der Balkanroute 2016 aufzeigen konnte (vgl. https://transitmigration-2.org). Aufbauend auf Guidelines on the Protection of Refugee Women des UNHCR (1991) und weiterer diesbezüglicher Ausformulierungen hinsichtlich der Implementierung gendersensitiver Maßnahmen in der Ankunftssituation und im Asylverfahren (Martin 2017), sahen wir entlang der Route in Transitcamps und anderen von NGOs etablierten Anlaufstellen immer wieder durch EU und UNHCR zertifizierte »women or children friendly spaces«, die allerdings angesichts der ganz grundlegenden äußerst prekären sozialen und rechtlichen Infrastrukturen oftmals eher zynisch anmuteten (Hess/Heck 2016). Doch auch auf rechtlicher Ebene spielt(e) der Topos der vulnerablen Gruppen bzw. der Vulnerabilität in und angesichts all der Schließungsversuche des Asylsystems entlang der Route eine zunehmend zentrale Rolle, überhaupt noch in den Genuss humanitärer Aufmerksamkeit und von Schutz zu kommen, wie es Forschungen zum griechisch-europäischen »Hot-Spot-System« auf den Ägäischen Inseln (Hänsel 2018; Antonakaki/Kasparek/Maniatis 2016) oder zu den zwei »Transit-Zonen« entlang der ungarisch-serbischen Grenze als die einzigen Möglichkeiten, überhaupt einen Zugang zum EU-Asylsystem zu erhalten (Beznec/Speer/Stojić Mitrović 2016), zeigen. Dabei lässt sich feststellen, dass exponentiell zum Abbau asylrechtlicher Garantien und der Aus-
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höhlung des asylrechtlichen Schutzes entlang der gesamten Route – beginnend in der Türkei, über das vom EU-Türkei-Deal ebenso erfasste Griechenland und entlang der Balkanroute – im Kontext des neuen post-2015 Grenzregimes ein Vulnerabilitätsdispositiv entstanden ist, welches den Rück- und Abbau des Asylrechts abfedert (Hess/Kasparek 2017). Allerdings wird hierdurch Recht in einen höchst willkürlichen, da nicht einklagbaren, und selektiven Wohltätigkeitsakt verwandelt, wie es Didier Fassin in From rights to favour (2016) als generelle Tendenz im europäischen Asylrecht festhält. Hierbei werden Asylsuchende zunehmend nicht mehr als Subjekte mit ihnen zustehenden Rechten verstanden, aus denen Ansprüche erwachsen, sondern als Objekte humanitär organisierter Aufmerksamkeit und Wohlfahrt (vgl. auch Elle/Hess 2019; Binder/Hess 2019). Dabei baut das Vulnerabilitätsdispositiv auf anderen Rationalitäten und Blickregimen auf als die in der Genfer Flüchtlingskonvention und der europäischen Qualifikationsrichtlinie festgehaltenen asylrechtlichen Bestimmungen. So zählt nicht mehr die Verfolgungsbiografie, sondern naturalisierbare Faktoren und insbesondere der versehrte, leidende Körper, welcher anhand von »Vulnerability Score Cards« quantifizierend hierarchisiert wird. Während in früheren Jahren Zeugnisse über den eigenen politischen Aktivismus eine Sechs im Asyllotto darstellten, sind heute ärztliche Gutachten der begehrte Schriftsatz. Am untersten Ende dieser neuen Hierarchisierungsmaschinerie steht der allein reisende, gesunde Mann – der Held des alten Flüchtlingsdiskurses –, der nun als Gefahr rekodiert, sich selbst überlassen und zunehmend zum Objekt sicherheitspolitischer, freiheitsberaubender Maßnahmen12 wird, während Frauen, Kinder und Familien in das humanitäre Blickregime fallen. Die Forschungen zeigen aber auch, dass dem neuen Selektionsmechanismus aufseiten der Geflüchteten bereits mit einem neuen Set von Strategien begegnet wird. So werden Familien auf Zeit gegründet; andere Familien trennen sich, da als allein reisende Mutter oder Vater mehr Chancen bestehen auf Unterkunft und die Eröffnung eines Asylverfahrens; Kinder werden ausgeliehen und Verletzte nehmen zu … wie wir es im Verlauf unserer Feldforschungen beobachten konnten. Auch für die deutsche Aufnahme- und Asylpolitik lässt sich seit 2015 eine gestiegene Sensibilität für genderspezifische Fragestellungen und Bedarfe
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So deuten sowohl in Österreich als auch in Deutschland jüngste Gesetzesvorlagen auf eine massive Ausweitung von Abschiebe- sowie Abschiebehaftgründen hin.
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feststellen, wobei auch hier – wie unsere zweijährige Forschung in Niedersachsen zeigt – insbesondere der Vulnerabilitätsbegriff und das Thema des »Gewaltschutzes« die Debatte unter staatlichen und nicht staatlichen Akteuren sowohl aus der Flüchtlingspolitik als auch aus feministischen Hilfeeinrichtungen und Initiativen gleichermaßen bestimmen und handlungsleitend wurden. Während es in Deutschland in den allermeisten Bundesländern bislang keine gesetzlich verbindlich geregelten Standards für Gemeinschaftsunterkünfte aller Art für Geflüchtete gibt, hat die Debatte um den Schutz von Frauen und Kindern in Massenunterkünften unter der Perspektive des Gewaltschutzes dazu beigetragen, auch staatlicherseits erste »Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften« zu formulieren. So wurden durch manche Länderministerien wie in Niedersachsen, ebenso wie auch auf Bundesebene federführend durch das Bundesfamilienministerium unter Mitarbeit von UNICEF und anderen feministischen Organisationen durchaus sehr differenzierte und umsichtige Gewaltschutzkonzepte ausgearbeitet (2017).13 Allerdings verlassen derartige Konzepte bislang in den allermeisten Fällen nicht die Ebene von Empfehlungen (bislang hat nur das Land Berlin es zu einer Voraussetzung zum Abschluss von Betreiberverträgen gemacht), sodass international und in europäischen Rechtsakten verbriefte Schutzmaßnahmen in Deutschland immer noch auf ihre Verrechtlichung und Implementierung harren (Rabe/Leisering 2018: 37ff.; Elle/Hess 2019).14 Zudem ist zu fragen, ob
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Darin thematisieren die Autor/-innen einerseits den Aspekt zwischenmenschlicher Gewalt. Sie gehen mit ihrem vorgeschlagenen Maßnahmenbündel aber auch auf strukturelle Schwierigkeiten in den Unterkünften und im Versorgungssystem ein. Säulen sind hierbei ein einrichtungsinternes Schutzkonzept sowie menschenwürdige, schützende und fördernde Rahmenbedingungen. Allerdings verblieb das sehr umfassende und umsichtig geschriebene Papier auf einer empfehlenden Ebene mit etwa 100 deutschlandweiten Pilotprojekten und wurde Ende 2018, ohne große Entrüstung auszulösen, komplett eingestellt. Auch das Gewaltschutzkonzept in Niedersachsen, welches das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung (MS) und das Ministerium für Inneres und Sport (MI) ausschließlich für die dem Land unterstellten Erstaufnahmeunterbringungen entwickelt haben, verbleibt auf der Ebene reiner Empfehlung (Quellen). Internationale Rechtsakte sind u.a. die UN-Frauenrechtskonvention CEDAW (1981), die Europäische Charta für Menschenrechte (2000) und zahlreiche Protection Guidelines des UNHCR wie insbesondere die sogenannte Istanbul-Konvention oder die EUAufnahmerichtlinie 2013/33/EU selbst (siehe Pelzer/Pichl 2015).
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derartige Konzepte zu einer grundsätzlichen Problematisierung von Massenunterkünften als strukturell gewaltoffene Räume beitragen oder den Massenunterkünften vielmehr, wie mancherorts bereits geschehen, nun ein Persilschein ausgestellt wird, wenn sie über einen Frauenrückzugsraum verfügen. Andererseits hat die gestiegene Sensibilität für das Thema nicht nur unzählige, auch feministische Akteure der Gewaltpräventionsarbeit neu in dem Bereich aktiv werden lassen; auch sind auf kommunaler und Landesebene eine Reihe runder Tische, Fachtagungen und Beratungsinfrastrukturen entstanden, die sich mit der Situation geflüchteter Frauen befassen und versuchen, das Feld der Projektträger und Beratungseinrichtungen besser zu vernetzen. Dabei ist nicht nur ihre Projektförmigkeit angesichts von kurzatmigen Themen- und Finanzierungszyklen derartiger outgesourcter sozialer Arbeit ein großes Problem (s. Elle/Hess 2019), wie es zahlreiche chronisch unterfinanzierte feministische Frauenprojekte nach wie vor beklagen. Deutlich wird jedoch auch in diesem Praxis- und Diskursfeld, dass derartige Artikulationen und Problematisierungen sich eher durchsetzen können und an staatliche Programmatiken anschlussfähig sind, die einen »Gleichstellungsvorsprung« der westlichen Gesellschaften postulieren und die Gewaltthematik nicht im Rassismus und dem Grenz- und asylpolitischen Komplex verorten – wie es die wenigen Selbsthilfeorganisationen von geflüchteten Frauen, wie Women in Exile tun –, sondern v.a. interpersonal fassen und sie in der vermeintlich vormodernen, patriarchalen Kultur der Herkunftsgesellschaften und Familien begründet sehen. Damit lässt sich nicht nur die eigene vermeintlich fortschrittliche Rolle und Position als Retter/-in weiterhin gut behaupten, vielmehr führt eine derartige Konstruktion zu einer Veränderung, einer Externalisierung und Auslagerung der Gewaltproblematik aus der eigenen Gesellschaft (und ihrer Verfasstheit) und ihrer essenzialisierenden Kulturalisierung. Geflüchtete Frauen insbesondere aus dem arabischen Raum stehen somit, wie es unsere begleitenden Forschungen auch in der ehrenamtlichen Flüchtlingsunterstützungsszene zeigt, erst einmal unter dem generellen Vorbehalt, unterdrückt zu sein und von ihren Männern befreit werden zu müssen (und nicht etwa dem bevormundenden restriktiven deutschen Asylsystem), wie es auch Elizabeth Olivius (2017) für den schwedischen Aufnahmekontext zeigt.
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Von Schützen zu Fordern – zur Rettung des deutschen »Gleichstellungsvorsprungs« Diese gerade skizzierte Sprecher/-innenposition und Narrativierung zeigt insbesondere im integrationspolitischen Feld wieder diskurspolitische Effekte, die – ob intendiert oder unintendiert – eine Zusammenschaltung von Gleichstellungspolitiken und restriktiven Einwanderungsdiskursen ermöglichen, indem sie einen spezifischen Integrationsimperativ an geflüchtete Frauen begründen, der nahezu einem Paradigmenwechsel von Schützen zu Fordern gleichkommt (Elle/Hess 2019). So fühlen sich immer mehr gleichstellungspolitische Akteure auch angerufen, »Integrationsarbeit« zu leisten. Dabei werden geflüchtete Frauen nicht mehr ausschließlich als ›schützenswertes Geschlecht‹ adressiert, sondern bekommen einen besonderen, aktiven Part im Kontext von Integrations- und Anpassungsleistungen für die gesamte Familie zugesprochen. Unter derartig bedeutungsschwangeren Titeln wie »Gleichberechtigung leben. Unsere Werte, unsere Rechte«15 geht es in den zahlreichen Programmen nicht nur um Sprachvermittlung und eine forcierte Arbeitsmarktintegration, sondern auch um die Vermittlung von »Genderkompetenzen«. Dabei werden geflüchtete Frauen keineswegs nur um ihrer selbst willen adressiert und ihnen also in ihrem eigenen Interesse geholfen, sich zu »integrieren«. Vielmehr zeugen derartige Titel von der affektiv stark aufgeladenen Intention derartiger eindimensionaler Gleichstellungspolitiken, Gleichberechtigung als »unseren Wert« zu retten und geflüchtete Frauen dazu anzuhalten, ihre Söhne und Männer dahingehend zu disziplinieren. Dies produziert für geflüchtete Frauen, so wurde uns immer wieder in den Gesprächsrunden deutlich, ein extremes Spannungsfeld zwischen den oben beschriebenen Subjektpositionen des »Vulnerabilitätsdiskurses« (arm, hilflos, passiv, Opfer) einerseits und andererseits dem Apell bzw. der Forderung, als Trägerin der Familie für deren Integration und Anpassung Sorge zu
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Hier geht es um das Projekt »GleichbeRECHTigt leben – unsere Werte, unser Recht« des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung (www.gleichberechtigt-leben.de), mit dem gleichen Vokabular argumentiert z.B. auch Thomas de Maizière in seinem Plädoyer für die »deutsche Leitkultur« am 30. April 2017 in Zeit online (www.zeit.de/politik/deutschland/2017-04/thomasdemaiziere-innenminister-leitkultur [Zugriff: 30.04.2020]).
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tragen (als Starke, Sorgende, Wissende), die im Namen der Geschlechtergerechtigkeit formuliert wird. Dabei sind beide Diskurse mit spezifischen moralisch aufgeladenen, affektiven Vorstellungen verbunden: Beide stehen im Zeichen des Schutzes und der Rettung, wobei diese Ziele im Integrationsdiskurs allerdings vornehmlich in Richtung des Schutzes und der Rettung der deutschen Frau und ihrer erreichten »Gleichstellungsvorsprünge« umgedeutet werden. Angesichts des zunehmend zu beobachtenden repressiven Integrationsabschiebekomplexes ist diese Verkopplung von Gleichstellungsdiskursen und Integrationsimperativ folgenreich (zur Kritik des Integrationsimperativs u.a. Hess/Moser 2009). »Gleichstellung« wird zunehmend zum Gradmesser gelungener Integration erhoben, wobei ihre Nichterfüllung in den Augen der Verwaltung ein Abschiebegrund darstellt. In diesem Sinne zeigen auch die jüngsten migrationspolitischen Dynamiken, Diskurs- und Praxisfelder eine hochgradige Verstrickung und Verkoppelung mit genderpolitischen Tropen, Narrativierungen und politischen Akteurskonstellationen. Dabei habe ich durch diesen unsystematischen Rückblick durch verschiedene migrationspolitische Konjunkturen und Schauplätze migrationspolitischer Kontroversen versucht herauszuarbeiten, wie insbesondere eindimensionale gleichstellungspolitische Ansätze und eine spezifische enggeführte »politics of the body«, welche insbesondere die Trope des leidenden passiven Frauenkörpers dominant stellt, anschlussfähig ist an verschiedene regulative Politiken der Migrationskontrolle, die nicht nur eine Disziplinierung des migrantischen Subjekts beinhalten, sondern selbst imperial ausgreifend Mobilitätsrechte zu- und aberkennen. Genderpolitische Diskurse eignen sich in diesem Sinne, auf hervorragende Weise Border Work im Namen des westlichen Fortschritts zu leisten. Angesichts der rechtspopulistischen Aufladung und Verschiebung des Diskursterrains im migrationspolitischen Bereich müssen frauen- und genderpolitische Akteure aufpassen, dass »protecting women« nicht zunehmend zu einer Frage von »protecting borders« wird.
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Vom Andauern der »Rasse« als einem Drohwort in der Rassismuskritik Vassilis S. Tsianos I feel much less at home here now than I did when I came. I have lived here for 57 years but I am no more English now than I ever was, I am not a liberal Englishman like you. In the back of my head are things that canʼt be in the back of your head. That part of me comes from a plantation, when you owned me. I was brought up to understand you, I read your literature, I knew »Daffodils« off by heart before I knew the name of a Jamaican flower. You don’t lose that, it becomes stronger. (Hall 2007)
Im Hinterkopf des folgenden Beitrages spielt sich eine andere Szene ab. Darin galt es nicht, die Deutschen zu verstehen, wie sie zu schreiben, wie sie zu werden, sondern sie waren diejenigen, vor denen man sich fürchtete. Sie galten als Feinde, sie waren die Besatzer. Und daher war das Projekt Migration nach Deutschland begleitet von einem großen Unverständnis und umgeben von einem schweigenden Vorwurf. Meine Narzisse war ein Kriegsspiel. Die Deutschen gegen die Alliierten. Und weil meine Eltern in Deutschland waren, musste ich immer den deutschen Offizier spielen. Auch die Dramaturgie des Spiels war festgelegt: Am Anfang konnte ich einige Kriegserfolge erzielen, aber am Ende hatte ich dann immer zu verlieren. In Deutschland habe ich mich für meine Eltern geschämt, wenn sie versucht haben, wie die Deutschen zu sein oder wie die Deutschen
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sie haben wollten. In meinem Hinterkopf arbeitet das Un-/Bewusstsein einer bedrohten Differenz. Mein Hinterkopf weiß, dass sie uns nicht verzeihen werden, dass wir ihnen erlaubt haben, uns zu erniedrigen. Das Thema dieses Artikels ist race, die gelebte Erfahrung ihrer prekären Verkörperung und die Kritik an der Entkoppelung von race und Rassismus in der deutschsprachigen Rassismusdiskussion.1 Wenn ich im Folgenden von race spreche, dann ist mir bewusst, dass eine sozialkonstruktivistische Auszeichnung des Begriffs »Rasse« oder race via Anführungszeichen oder Kursivsetzung das Problem der Ontologie des Körpers, das in der Rassismusanalyse besteht, nicht zu lösen vermag. Zudem gibt es – und das sollen das vorangestellte Zitat und die Vorbemerkung deutlich machen – große Unterschiede, die mit der sprachlichen Übersetzung des Konzeptes einhergehend auch seine unterschiedlichen geopolitischen und historischen Wirkungs- und Artikulationskontexte in einer materiell-semiotischen Weise betreffen. Mit dem von mir vorgeschlagenen Ansatz der Ko-Artikulation von race und Rassismus versuche ich, die Figur der verkörperten Erfahrung von race zusammen mit der repräsentationskritischen Figur der »artikulierten Praxis« im Sinne Donna Haraways zu denken: »Das Repräsentierte ist dauerhaft auf den Status dessen reduziert, der Handlungen entgegennimmt, nicht (und niemals) zum KoAkteur in einer artikulierten Praxis einander unähnlicher aber miteinander verbundener sozialer Partner wird.« (1995: 45) Race im Sinne der Koartikulation ist nicht additive Repräsentation negativ markierter Subjektpositionen, sondern artikulierte Praxis einander unähnlicher, aber miteinander verbundener Erfahrungsfelder riskanter Struktur- und Herrschaftsverhältnisse und zugleich die Modalität, in der sie erlebt, erlitten und gelebt werden, d.h. auch die Form, in der sie angeeignet, aber auch durchkämpft werden. Race im Sinne der Koartikulation ist also beides: sozialstrukturelles Paradigma zur Beschreibung rassistischer Verhältnisse und Positionierungen und das Vermögen der Verkörperung dieser Positionierungen. In dem ersten Kapitel versuche ich, einen der bekanntesten Vertreter der Entkopplung von race und Rassismus, Robert Miles, und seiner These der Rassialisierung im Kontext der Kritik von Paul Gilroy zu situieren. In dem anschließenden zweiten Kapitel demonstriere ich exemplarisch die Konsequenz 1
An dieser Stelle will ich mich für entscheidende Korrekturen und inspirierende Kommentare bei Brigitta Kuster, Tobias Mulot, Mark Terkessidis, Ephtimia Panagiotidis, Anna-Esther Younes und Paul Mecheril bedanken.
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der Entkopplung am Gegenstand des racial profilings. Um meine These der Koartikulation von race und Rassismus in die Geschichte des Antirassismus bzw. des Antikolonialismus einzubetten, nehme ich im dritten Kapitel zunächst die Spuren einer Genealogie wieder auf, die Frantz Fanon mit der Figur der gelebten Erfahrung des Schwarzen auf den Punkt gebracht hat. Im vierten Kapitel begründe ich die Unterscheidung zwischen Antirassialismus und -rassimus und versuche, sie im Wirkungskontext einer von den critical race studies inspirierten Theorie des racial states (Glenn 2002; Goldberg 2002; Omi/Winant 2015; Elias/Feagin, 2016) und der Produktion von Weisheit zu denken. Im abschließenden fünften Kapitel versuche ich, die Produktivität der Perspektive der Koartikulation zu verdeutlichen, indem ich zwei exemplarische Aspekte der verkörperten Erfahrung von race in Deutschland darstelle.
1.
»I am not Robert Miles« (Paul Gilroy)
Während in der deutschsprachigen Rassismusdebatte die Namen Robert Miles, Stuart Hall und Paul Gilroy problemlos in einem Zug genannt werden, stehen sie im britischen Kontext für einen unversöhnlichen »Streit der Fakultäten« der kritischen Rassismustheorie.2 (Solomos/Back 1996; Carter/Virdee 2008: Virdee, 2014) Zentraler Streitpunkt zwischen Miles und Hall/Gilroy ist der Stellenwert der Erfahrung von race in der Rassismusdefinition bzw. die Entkopplung von race und Rassismus. Der Begriff der Erfahrung ist der 2
Es ist hier nicht die Stelle, eine ausführliche Problematisierung dieser selektiven Rezeption der britischen Rassismusdebatte in Deutschland zu rekonstruieren. Selektive Rezeption, prekäre disziplinäre Institutionalisierung und Kommunikationsblockaden scheinen die Landschaft der kritischen Rassismusdebatte in Deutschland immer noch zu dominieren (siehe ausführlicher dazu: Manuela Bojadzijev et.al. 2019). Als Beispiel will ich auf die verschränkte Genealogie der Instersektionalitätsperspektive mit der Kategorie race (und nicht mit Rassismus) verweisen. Im Zentrum des deutschsprachigen Feminismus der 1980er- und 1990er-Jahre stand der Umgang mit der Kategorie race, um damit auf die Ausschlüsse und Marginalisierungen der Women of Color innerhalb des westlichen Feminismus aufmerksam zu machen. Diese Debatte mündete in die Begegnung mit US-amerikanischen Critical Legal und race Studies (und vor allem mit dem Werk von Kimberlé Crenshaw), welche zur Etablierung der Intersektionalitätskritik in den deutschsprachigen kritischen Sozial- und Kulturwissenschaften geführt hat (Meyer 2017: 35-41 Kimberlé Crenshaw, 2019). Siehe auch die für diese Diskussion paradigmatischen Beiträge von Gabriele Dietze (2014) und Cengiz Barskanmaz (2019).
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zentrale Punkt, der die Ansätze von Edward. P. Thompson mit denen von W. E. B. Du Bois und C. L. R. James verbindet (Tsianos 2015). In seiner berühmten Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus Louis Althussers präzisiert Thompson sein Verständnis von Erfahrung als kultureller Praxis: Was wir meiner Ansicht nach entdeckt haben, liegt in einem fehlenden Begriff: der »menschlichen Erfahrung«. Das ist genau der Begriff, den Althusser und seine Anhänger aus dem Club des Denkens unter den Namen »Empirismus« ausbürgern möchten. Männer und Frauen kehren in diesem Begriff aber auch wieder als Subjekte – zwar nicht als autonome Subjekte, »freie Individuen«, aber als Personen, die ihre determinierten Stellungen und Verhältnisse im Produktionsprozess als Bedürfnisse, Interessen, und Antagonismen erfahren und die dann diese Erfahrung »handhaben« innerhalb ihres Bewusstseins und ihrer Kultur (zwei weitere Begriffe, die die theoretische Praxis ausschließt) auf äußerst komplexe (ja, »relativ autonome«) Weise und die dann (oft, aber nicht immer durch die entsprechenden Klassenstrukturen vermittelt) ihrerseits auf die determinierte Situation handelnd einwirken. (1980: 225) Das Wir, das Thompson hier die Erfahrung entdecken lässt, muss Stuart Hall einbeziehen, der dieses Vermächtnis Thompsons aufgenommen hat und es in seine für die Rassismusforschung paradigmatische Formel »übersetzte«: »›Rasse‹ ist die Modalität, in der Klasse gelebt wird, das Medium, in dem Klassenverhältnisse erfahren werden, die Form, in der sie angeeignet und durchgekämpft werden.« (Hall 1994: 133) Mit seinem Verständnis der Rassialisierung unternimmt Robert Miles erneut den Versuch, den Begriff der Erfahrung aus der Rassismusdefinition auszubürgern. Theodor Goldberg weist die Verwendung des von Robert Miles starkgemachten Begriffs der racialisation zurück. Der Begriff ist, so Goldberg, in seinen meisten Verwendungen zumindest ambivalent, wenn nicht gar inhaltsleer. Man kann meist weder explizit noch kontextuell unterscheiden, ob er als ein rein deskriptiver Begriff oder mit weitergehenden normativen und kritischen Implikationen verwendet wird. Oft wird er lediglich verwendet, um rassistisch bedingte soziale Lagen, die durch rassistische Zuschreibungen aufgeladen und markiert sind, als solche zu beschreiben. Aber unter dieser deskriptiven Ebene scheint oft implizit, damit ungeklärt und meist theoretisch unmotiviert, eine Verwerfung der normativen Setzungen auf, die diese scheinbar neutrale Beschreibung in sich trägt. Der Mangel an Spezifität verwischt eine Grenze und unterstellt die Antwort auf eine Frage, die nicht offen
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gestellt wird. Nämlich die, ob eine racial characterization immer unvermeidbar rassistisch ist. Goldberg beharrt im Gegensatz dazu darauf, zwischen race und Rassismus zu unterscheiden, begrifflich ebenso wie politisch. Für das Unterscheiden von race und Formen des Rassismus in ihren tiefen, komplexen und oft quälenden Verbindungen bedarf es einer Anerkennung ihrer Verbindung ebenso wie dessen, was sie voneinander trennt. (Goldberg 2009: 67; 2002: 12) Die Lösung der Verknüpfung von race und Rassismus kann nur analytisch in den jeweiligen geopolitischen Formationen von Rassismus untersucht werden. Nur von racialisation statt von race zu sprechen bedeutet, Rassenkonstruktion als eine soziologische Invariable des Etablierten/Außenseitermodells bzw. des Ingroup-outgroup-Modells in die Rassismusanalyse einzuführen, die letztlich weder in der Lage ist, den Zusammenhang von Antirassismus und Antirassialismus zu denken noch die Wirkmächtigkeit des racial state – das heißt die genuine Einschreibung von race in der Staatlichkeit der postkolonialen Moderne – zu identifizieren. Robert Miles geht dabei soweit, dass er selbst Politiken, die im US-amerikanischen Kontext als affirmative action bezeichnet werden, für eine Form der racialisation hält. (Miles 1989: 76) Miles geht es im Kern darum, den seiner Einschätzung nach häufig unpräzise verwendeten Begriff Rassismus im Rahmen eines sozialkonstruktivistischen Ansatzes in ein tragfähiges soziologisches Konzept zu überführen. Im Gegensatz zu Michael Banton, der davon ausgeht, dass race relations durchaus adäquat analysiert werden können, ohne Rassismus exakt definieren zu müssen, hält Miles dem entgegen, dass Rassismus durchaus Bestandteil der Analyse sein muss, dies aber voraussetzt, dass Rassismus exakt definiert werden muss. Die Zuschreibung von sozialer Bedeutung zu bestimmten phänotypischen oder herkunftsbezogenen Gruppenkonstruktionen ist demzufolge das zentrale Definitionsmerkmal von Rassismus als Ideologie. Diese Gruppenkonstruktionen müssen notwendigerweise negativ bewertend sein und die ungleiche Behandlung der so definierten Gruppen beabsichtigen. (Banton/Miles in Cashmore 1984: 228) Der Begriff, den Miles hierfür einführt, ist racialisation, im Deutschen meist mit Rassenkonstruktion übersetzt. Racialisation, das droht in der deutschen Übersetzung wegzufallen, ist im milesschen Sinne aber immer ein Prozess, kann deshalb auch als Verb to racialise verwendet werden. Rassismus ist in dieser Definition die Äußerungsform der Ausgrenzung, sie ist für Miles immer im Kontext anderer »Ausgrenzungpraktiken und anderer Äußerungsformen ausgrenzender Ideologien« zu bestimmen (1992: 130). Miles läuft Ge-
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fahr, damit in die Falle einer sozialkonstruktivistischen Reduktion zu laufen, die race, so der Vorwurf von Howard Winant, auf übergeordnete Kategorien wie Klasse zurückführt (182). So stellt Miles infrage, ob die massenhafte Arbeitslosigkeit, die Arbeiter/-innen karibischer oder asiatischer Herkunft in den 1980er-Jahren in Großbritannien traf, die Folge rassistischer Ausschließungspraktiken war. Vielmehr, so sein Argument, war lediglich die relative Überrepräsentation dieser Arbeiter/-innen in besonders stark von Restrukturierungsprozessen betroffenen Industriesektoren der Grund dafür (1989: 56). Wenn Miles tatsächlich die Relevanz von race als soziale Kategorie anerkennt, wie in seiner Analyse des britischen Kolonialismus in Kenia, wo er die Bedeutung der Rassenkonstruktion für die Ingangsetzung der ursprünglichen Akkumulation in der Kolonie betont, so bleibt für ihn race letztlich eine Maske, hinter der sich reale Ausbeutungsverhältnisse verbergen (100ff.; Solomos/Back 1996: 8). Es geht Miles im Wesentlichen darum, race in toto als Konzept in den Mülleimer der analytisch unbrauchbaren Begriffe zu befördern. Miles radikaler Antirassialismus attackiert primär den Erfahrungsbegriff der Antirassisten als Identitätspolitik und gefährliches Konstrukt. (Miles 1989: 5) Wenn race Konstrukt ist, d.h. fiktiv und nicht real, ist auch die damit verbundene Erfahrung von race irrelevant für die Rassimusanalyse. Anstatt einem Begriff von race als soziale Ungleichheitskategorie nachzugehen, entwickelt er den Begriff des Prozesses von racialisation als genuin rassismusanalytisches Konzept. »I therefore employ the concept of racialisation to refer to those instances where social relations between people have been structured by the signification of human biological characteristics in such a way to define and construct differentiated social collectivities.« (75) Für Miles ist der Prozess von racialisation unauflösbar mit der Migration von Arbeitskräften verbunden, in der sich der Bedarf der kapitalistischen Ökonomie nach globaler Mobilität einerseits und die Mobilität einschränkenden Grenzziehungen und Politiken von Staatsbürgerschaft andererseits überlagern. Race politics sind somit für Miles immer regulatorische Politiken der Arbeitskraftmobilität. Racial consciousness und darauf beruhende Politiken können deshalb für Miles keine Rolle bei der Entwicklung progressiver Politikansätze spielen (Solomos/Back 1996: 9). Da für Miles black politics oder überhaupt minority politics nur verschobene Derivate des Klassenkonflikts sind, sind sie zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht in genuin klassenbasierte Politiken überführt werden. Politics of race können für Miles lediglich Rassismus angreifen, nicht jedoch die zugrundliegenden ökonomischen Formationen. Das berühmte Diktum Stuart Halls, dass race die Modalität ist, »in der
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Klasse gelebt wird, das Medium, in dem Klassenverhältnisse erfahren werden, die Form, in der sie angeeignet und durchgekämpft werden« (Hall 1994: 133), verkehrt Miles in die Aussage, dass Rassismus die Modalität sei, in der Klasse gelebt und durchgekämpft wird (Miles 1988: 447). Paul Gilroy hat Miles’ Abwendung von black politics bereits 1982 vehement kritisiert. In dem vom Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) herausgegeben Band The Empire Strikes Back und in seinem Buch There Ain’t No Black in the Union Jack (1987) arbeitete er heraus, warum black politics durchaus in der Lage sind, nicht nur Rassismus, sondern auch Kapitalismus zu adressieren. John Solomos und Les Back betonen, dass der wesentliche Fortschritt der Arbeit Gilroys und der Race and Politics Group des CCCS darin bestand, die Rolle des autoritären staatlichen Rassismus genauer in den Blick zu nehmen und gleichzeitig die relative Autonomie race-basierter sozialer Bewegungen gegenüber dem Klassenantagonismus herauszuarbeiten (1996: 91). Der Klassencharakter von black struggles, so Gilroy, ist nicht Resultat dessen, dass Schwarze in ihrer Mehrheit Arbeiter/-innen sind, auch wenn das faktisch oft zutreffend ist, vielmehr zeigen ihre Kämpfe für Bürgerrechte, gegen staatliche Übergriffe oder als Lohnarbeiter/-innen, dass sie Bestandteil dessen sind, wie sich die Arbeiterklasse politisch konstituiert (1982: 302). Statt von racialisation spricht Gilroy im Anschluss an Michael Omi und Howard Winant von race formation. Race formation im Sinne von Omi und Winant ist ein dreischrittiger Prozess, er umfasst die ideologische Artikulation, in der sozialen Praktiken und Erklärungsmustern mittels des race-Konzeptes Bedeutung zugewiesen wird, ebenso wie die Überführung in eine Unterwerfungsfaktizität durch institutionelle und individuelle Praktiken und die neuen Instabilitäten und Widersprüche, die das so etablierte Regime aus sich heraus infrage stellen (Omi/Winant 1983; Gilroy 2001: 35ff.). Vor allem auch in der Verwendung des Begriffs der ideologischen Verknüpfung (ideological articulation) bei Miles und bei Vertreter/-innen des CCCS wird eine entscheidende Differenz sichtbar. Während Miles darauf abhebt, dass »Ideologien einen gemeinsamen Gehalt oder einen verallgemeinerten Gegenstand besitzen können, mittels dessen sie miteinander verbunden oder in Beziehung gesetzt werden können« (1992: 116), insbesondere »die falsche Behauptung, es gebe innerhalb der menschlichen Gattung natürliche Unterteilungen, die angeboren und universell seien« (ebd.), stehen für die Autor/ -innen des C C C S die praktischen Konsequenzen der Verknüpfung im Vordergrund. Artikulation ist für sie kein ideologiekritisches Konzept, vielmehr plädieren sie für eine präzise Verwendung. Es geht ihnen darum zu verstehen,
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wie race die verschiedenen Elemente zusammenbindet, in denen ökonomische und soziale Krisen erlebt werden und wie race dabei den individuellen und kollektiven Erfahrungen einen Ausdruck auf politischen und ideologischen Ebenen gibt (Solomos u.a. 1982: 28). Racialisation ist in diesem Sinne nicht lediglich eine ideologische Verknüpfung von Bedeutungskonstruktionen, vielmehr hat race eine gesellschaftliche Materialität, ist also artikulierte Praxis.3 Zentral für Gilroys Argumentation ist die Betonung der racial formation, von der Omi und Winant sprechen. Wenn die Herausbildung von sozialen Gruppen durch Prozesse der racialisation und des institutionalisierten Rassismus als ein kontinuierlicher und kontingenter Prozess der Formation analog zum Prozess der Klassenformation verstanden wird, dann macht es keinen Sinn, den daraus erwachsenden Widerstandspotenzialen ein analytisches Verständnis abzusprechen (Gilroy 2002: 36). Bereits in seinem Aufsatz im CCCS-Band zitiert Gilroy 1982 einen kurzen Text aus der Zeitschrift Black Echoes, der einen kapitalismuskritischen Ansatz aus schwarzer Perspektive formuliert, und verwahrt sich gegen das gängige marxistische Verständnis einer solchen Analyse als Ausdruck eines defizitären Klassenbewusstseins (302). Kollektive Identitäten, die sich durch race, kommunitäre oder lokale Zugehörigkeiten in all ihrer Spontanität artikulieren, sind mächtige Werkzeuge, Aktionen zu koordinieren und Solidaritäten zu fundieren. Race, so Gilroy abschließend, must be retained as an analytic category not because it corresponds to any biological or epistemological absolutes, but because it refers investigation to the power that collective identities acquire by means of their roots in tradition. These identities, in the forms of white racism and black resistance, are the most volatile political forces in Britain today. (339) Der zugrunde liegende Konflikt zwischen Miles und Gilroy besteht letztlich in der Frage, was whiteness ist. Während Gilroy, wie in der zitierten Passa3
Ein Zusammendenken von race und Klasse, das auf eine Repräsentationskritik von kollektiven Identitäten verzichtet, läuft Gefahr, die Artikulation von gelebten und vorgestellten Gemeinschaften in der kapitalistischen Moderne entweder ideologiekritisch auf falsches Bewusstsein zu reduzieren oder soziologistisch als »ethnosoziale« Determinanten sozialen Handelns zu reifizieren. Auf diese Weise erscheint es unmöglich, race und Klasse als soziales Verhältnis zu konzipieren, d.h. als etwas, das mehr ist als eine einfache Entsprechung von Bewusstseinsformen zu ihren Produktionsbedingungen.
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ge, ausdrücklich von white racism spricht, geht es Miles gerade darum zu behaupten, dass Rassismus kein »ausschließliches Produkt und Wesensmerkmal europäischer ›weißer‹ Kulturen und Gesellschaften ist« (Miles 1991: 12). Für Miles ist Rassenkonstruktion ein dialektischer Prozess der Konstruktion von Bedeutungen. Wenn die nordeuropäischen Entdecker und Kaufleute Afrikaner/-innen als »schwarz« bezeichneten, so setzten sie sich damit implizit ans andere Ende einer Dichotomie der Hautfarben. »Das ›Schwarz-Sein‹ der Afrikaner*in spiegelte das ›Weiß-Sein‹ der Europäer*in; diese miteinander verbundenen Gegensätze verwiesen aufeinander in einer Totalität der Konstruktion von Bedeutungen« (101). Er weist jedoch immer wieder in expliziter Abgrenzung zu der Gruppe des CCCS die Bezugnahme auf eine Kategorie der Erfahrung in der Rassismusanalyse zurück. Für ihn gibt es keine privilegierte Erfahrung der von Rassialisierung Betroffenen, die einer »absoluten Subjektivität« Vorschub leisten würde (14). Gilroy beharrt dagegen zu Recht darauf, dass blackness und whiteness keine äquivalenten Gegensätze sind. Oder, wie David Roediger im Anschluss an eine Formulierung James Baldwins schreibt: »It is not merely that whiteness is oppressive and false; it is that whiteness is nothing but oppressive and false.« (1994: 13) Whiteness, so Roediger, hat keinen positiven Kern: »Whiteness describes […] not a culture but precisely the absence of culture. It is the empty and therefore terrifying attempt to build an identity based on what one isn’t and on whom one can hold back.« (13) Whiteness ist mehr und zugleich weniger als eine dialektisch abgerungene Bedeutungskonstruktion, sie ist das Subjektivierungsangebot des racial states per se. Miles schildert in einem Interview 2011 eine Anekdote, mit der er die Gleichwertigkeit der Zuschreibung von Blackness und whiteness illustrieren will. Eingeladen als Referent zu einer Konferenz in – wie er sagt – einem »foreign country«, wurde er von den Gastgeber/-innen am Flughafen nicht erkannt, weil sie offenbar einen schwarzen Referenten erwarteten. Für Miles eine wundervoll persönliche Erfahrung, wie der Prozess der racialisation funktioniert (2011: 2016). Dass diese Erfahrung keineswegs äquivalent zu der Erfahrung schwarzer Akademiker/-innen ist, macht Paul Gilroy in einem Witz deutlich, wenn er sagt: »[R]enouncing race for analytical purposes is not to judge all appeals to it in the profane world of political cultures formally equivalent. I am not Robert Miles.« (1998: 842) Heute würden wir einfach von white fragility sprechen (Eddo-Lodge 2019). An dieser Stelle sollten wir ein Zwischenresümee versuchen. Wir haben bis zu diesem Punkt der Argumentation nachvollziehen können, dass in der Auseinandersetzung zwischen Robert Miles und Paul Gilroy, race und Ras-
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sismus als die zwei Pole eines Spannungsverhältnisses innerhalb der kritischen Rassismusdebatte fungieren. Miles elaboriert mit seinem strukturalistischen Begriff von Rassismus seinen daraus abgeleiteten Ansatz der »Rassenkonstruktion«, der kategorisch die Referenz auf eine Subjetkategorie von race ablehnt. Mit der Suspendierung von race aus der Rassismusanalyse suspendiert er bezeichnenderweise die Ambivalenzmodalitäten von Subjektivität und Körperlichkeit, die in der Koartikulation von race und Rassismus eingeschrieben sind. Denn mit dem Konzept der Rassenkonstruktion können wir lediglich Subjektivierungseffekte rekonstruieren, aber keinesfalls die Affekte der verkörperten Erfahrung von race erfassen. Miles Analytik suspendiert darüber hinaus aber vor allem auch unser Vermögen, die Dominanz von whiteness als die zentrale Herrschaftsdimension einer rassistischen Formation ausweisen zu können. Ich rekurriere damit auf Goldbergs Verständnis von race: »Race is made to matter […]. Race is embodied and spatialized, is sourced and sensed through the interactive play and performance of spaces and bodies.« (2005: 220) Rassismus, so Sarah Ahmed, »is a way of describing histories of struggle, repeated over time and with force, that have produced the very substance or matter we call inadequately ›race‹.« (2004: 49)
2.
Racial Profiling ohne race?
Der UN-Fachausschuss äußert sich in seiner aktuellen Empfehlung an die deutsche Regierung zur Beseitigung von rassistischen Diskriminierungen sehr kritisch zum Anwendungsbereich der bundespolizeilichen Kontrollbefugnis. Er verweist auf die Gefahr von de facto rassistischen Diskriminierungen, die mit der praktischen Anwendung der generellen Kontrollbefugnis hingenommen werden, und fordert ihre Abschaffung. Die Bundesregierung erklärt in ihrem Bericht an den UN-Ausschuss, dass die (Bundes-)Polizei kein racial profiling anwende, weil eine Maßnahme dieser Art weder mit einem demokratischen Verständnis von Polizeiarbeit noch mit dem Rechtsstaat vereinbar sei. (Rotino 2017: 54) Die hier behauptete Unvereinbarkeit von Diskriminierung aufgrund von race und colorblind-Exekutive steht emblematisch für die postrassistische Staatsraison der Bundesrepublik4 : Es gibt 4
Siehe ausführlicher zum Verhältnis von Rassismus und postmigrantischer Gesellschaft Tsianos u.a. 2016, Tsianos 2019 und Tsianos/Karakayali 2014 sowie Castro Varela/Mecheril 2016.
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keinen Rassismus, weil es keine Rassen gibt bzw. kein racial profiling, weil die Polizei nicht nach race kategorisieren kann. Gleichwohl hat die Kölner Polizei Silvester 2016/17 Menschen abhängig von ihrer vermuteten Herkunft und unabhängig von ihrem Verhalten kontrolliert. Das geht aus der Lageabschlussmeldung des Kölner Polizeipräsidiums eindeutig hervor: »Ab 22:00 Uhr befanden sich in und um den Kölner Hauptbahnhof bis ca. 1 000 Personen mit nordafrikanischem Hintergrund. Alle Personen, die dem nordafrikanischen Spektrum zugeordnet werden konnten, wurden außerhalb des Hauptbahnhofs im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten einer Identitätsfeststellung unterzogen.« (Maxwill/Siemens 2017) Interessanterweise verrät die Meldung einiges über polizeiliche Ad-hoc-Maßnahmen, in diesem Falle eine verdachtsunabhängige Gruppenkontrolle. Dies war nicht Teil des Sicherheitskonzepts, sondern wurde spontan beschlossen, so der Kölner Polizeipräsident Mathies. Dieser hatte schon direkt nach der Silvesternacht davon gesprochen, dass die Stimmung zu kippen drohte und die Männer (im Kölner Polizeijargon »Nafris«) aufgrund ihrer aggressiven Stimmung festgehalten worden waren. Dass die aggressive Stimmung mit der Tatsache zu tun gehabt haben könnte, dass die Bundespolizei die zu kontrollierenden Personen massenweise durch eine gesonderte Tür in die Arme der Landespolizei geleitet hatte und auf diese Weise die Alltagserfahrungen junger männlicher Migranten mit racial profiling bestätigte bzw. in Kauf nahm, wird nicht einmal in Erwähnung gezogen (s. ausführlicher dazu Tsianos 2018, ECRI, 2020, S. 38 ff). Spätestens an dieser Stelle lässt sich erahnen, was eine methodologische Epidermophobie bzw. Somatophobie in der kritischen Rassismusdebatte anrichten kann: ohne Hautfarbe kein racial profiling, im besten Fall ein ethnic profiling. Dem ethnic profiling wäre mit entsprechender Dekonstruktionsarbeit scheinbar beizukommen, wobei die farbenblinde normative Kraft institutionalisierter Rassismen faktisch wiederhergestellt würde. Die republikanischen Befürworter einer colorblind-Staatsraison betreiben mittlerweile das Projekt, den Begriff race aus der Präambel der französischen Verfassung zu streichen. Der Bezug auf race in der Präambel von 1958, so ihr Argument, sei nicht mehr zeitgemäß. Eine Streichung würde zeigen, dass die Französische Republik sich von der Vergangenheit eines Glaubens an biologische Differenzen von races humaines ebenso distanziert hat wie von seiner Geschichte der Sklaverei, der Kollaboration und des Kolonialismus. Eine Gruppe um die postkolonialen Theoretikerinnen Françoise Vergès und Emilia Roig weist zu Recht darauf hin, dass diese Argumentation zu verstehen ist
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im Trend eines postracial republicanism, der darin besteht, race von Rassismus getrennt zu denken (Vergès u.a. 2018). Rassismus, so die Verfasser/-innen, ist nicht das Ergebnis von Rassentheorien (racialism), sondern vielmehr dienten Letztere dazu, den Rassismus zu rechtfertigen. Der Versuch des postracialism, dem Rassismus durch die Unterdrückung des Begriffs race/»Rasse« seine Wirkmächtigkeit zu entziehen, muss ins Leere laufen (Roig/Barskanmaz 2013). Und noch schlimmer, die Streichung des Begriffs race gibt ohne Not eine etablierte juristische Tradition preis, die es ermöglicht, rassistische Diskriminierungen als solche zu einem Gegenstand beklagbaren Unrechts zu machen (Barskanmaz 2011 und 2018). David Theo Goldberg beschreibt das, was in der aktuellen französischen, aber inzwischen auch in der deutschen Debatte auftaucht, als ein delinking of race from racism. Das ist nicht nur eine treffende Phrase, vielmehr steht es für die entscheidende rassismustheoretische konzeptionelle Setzung, die den Kern von Goldbergs Buch The Threat of Race (2009) bildet (s. ausführlicher Lentin/Titley 2011: 62-70; Tsianos 2014; Tsianos/Pieper 2011; Opratko 2019, Barskanmaz, 2019). Sein Ausgangspunkt ist das Umschlagen von historischen antirassistischen Bewegungen in eine staatlich vermittelte Form des antiracialism. An diesen Punkten, so Goldberg, wird das Ende von Rassismus damit verwechselt, gegen die Kategorie race zu opponieren. Die Zurückweisung von Rassismus wird auf die Zurückweisung des Begriffs race reduziert. Goldberg besteht vehement darauf, dass die Trennung von Antirassismus und Antirassialismus, wie sie am prominentesten in den rassimustheoretischen Arbeiten von Robert Miles vertreten wird, grundsätzlich falsch ist.5 The connection between antiracial conception and antiracist commitment suggests a complexity I am concerned here to explore. For I shall be suggesting that there are crucial moments when the necessity and complexity of this connection are lost sight of, and antiracism reduces primarily, principally, or completely to antiracial commitment, to antiracialism. At these moments, the end of racism is confused with no more than being against race, the end of race substituting to varying degrees for the commitment to – the strug-
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Siehe für eine Kritik der milesschen Rezeption in Deutschland die Pionierarbeit von Terkessidis 2004: 82f. Für die Einordnung der Konturen der Rassismuskritik in Deutschland siehe Mecheril/Melter 2011: 13-25. Für die Fundierung der critical race studies in der deutschsprachigen Rassismusdebatte siehe die Pionierarbeit von Cengis Barskanmaz Recht und Rassismus 2019: 19-118.
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gles for – ending racism. The refusal of racism reduces to racial refusal; and racial refusal is thought to exhaust antiracism. (Goldberg 2009: 1) Was, so Goldbergs Frage, wird durch diese Reduktion begraben, lebendig begraben? Welches Erbe rassistischer Verhältnisse bleibt in dieser Durchstreichung unartikuliert, verworfen und verdrängt? Weder Äußerungen von Trauer und Melancholie auf der Seite der rassistisch Marginalisierten (vgl. etwa den Hashtag »MeTwo«) noch weiße Selbsterhöhung und Triumphalismus auf der anderen Seite sind in diesem Setting adressierbar. Sie bleiben den Gesellschaften als eine dauerhafte Bedrohung, als Threat of race eingeschrieben.
3.
Zur verkörperten Erfahrung von race
Frantz Fanons Kapitel »Die erlebte Erfahrung des Schwarzen« beginnt mit einem berühmt gewordenen Satz: »›Dreckiger N.6 !‹« Oder einfach: »›Sieh mal ein N.!‹« (2013: 93) Homi K. Bhabha schreibt dazu:
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Fanon hat geradezu exzessiv den Begriff »nègre« auf Französisch benutzt, der sich kaum zutreffend – wie das die Übersetzung aus den 1970er-Jahren tut – mit dem deutschen Wort »Neger« übertragen lässt, insbesondere wegen der affirmativen Verwendung im Kontext der négritude, mit der Fanon sich kritisch beschäftigt hat. Achille Mbembe etwa ist es, der den Begriff »nègre« als Chiffre von race wiedereingesetzt hat, vor allem mit seinem Buch Critique de la raison nègre, das im Suhrkamp Verlag – gewissermaßen um das Problem der rassistischen, aber auch affirmativen Verwendung von nègre/race bereinigt – unter dem Titel Kritik der schwarzen Vernunft erschienen ist. Um die Schwierigkeiten der Übersetzung deutlich zu machen und um auf die Bösartigkeit hinzuweisen, die dem deutschen Text durch die exzessive Verwendung des »NWorts« innewohnen, will ich das deutsche »N-Wort« hervorheben. Damit wird auch auf die fehlende Aneignungs- und Selbstbehauptungsgeschichte in Deutsch verwiesen, die das »N-Wort« bis heute – abgesehen von wenigen minoritären Gegenerzählungen – in einer scheinbar unbestrittenen Monolithik anhält. Zuletzt hat das Urteil des Landesverfassungsgerichts Greifswald zur Verwendung des »N-Worts« in einer Parlamentsdebatte gezeigt, dass dieses »nach heutigem Sprachgebrauch in der Regel als abwertend verstanden wird. Ob es tatsächlich so gemeint ist, kann jedoch nur aus dem Zusammenhang heraus beurteilt werden. Es kann zitierend oder ironisch verwendet oder benutzt werden, um über das Wort, seine Verwendung und seine Verwendbarkeit zu sprechen. Dann kann es geeignet sein, zur inhaltlichen Auseinandersetzung beizutragen«, vgl. dazu www.mv-justiz.de/gerichte-und-staatsanwaltschaften/landesverfassungsgericht/Presse/?id=156204&processor=processor.sa.pressemitteilung (Zugriff: 30.04.2020).
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Wann immer diese Worte voll Wut oder Hass geäußert werden, […] ob sie über den weiblichen Körper oder den Mann anderer Hautfarbe gesagt werden, ob sie wie in Südafrika praktisch offiziell geäußert werden oder wie in London oder New York offiziell zwar verboten sind, aber nichtsdestoweniger in die gestrenge Präsentation von Statistiken über Schulleistungen und Verbrechen, Visumsvergehen und Verstöße gegen das Einwanderungsgesetz eingeschrieben sind; wo immer »Dreckiger N.!« oder »Sieh mal, ein N.« zwar nicht gesagt wird, sich aber an einem Blick ablesen oder in der peinlichen Pause eines plötzlichen Schweigens vernehmen lässt; wann immer und wo immer ich einen Rassisten sprechen höre oder seinen Blick auffange, erinnert mich das an Fanons beschwörenden Essay »Die erlebte Erfahrung des Schwarzen« und seine unvergesslichen ersten Zeilen. (2000: 353) »›Sieh mal, ein N.!‹«, bei Fanon ist es ein kleiner weißer Junge in der Bahn, der diesen Satz äußert, mehrmals wiederholt und dann ausruft: »›Mama, schau doch der N. da, ich hab‹ Angst.‹« Fanon beschreibt die Tiefe dieses einfachen Satzes in dem Kapitel »Die erlebte Erfahrung des Schwarzen«: Ich konnte nicht mehr, denn ich wusste bereits, dass es Legenden, Geschichten, die Geschichte und vor allem die Geschichtlichkeit gab, […]. Und das Körperschema, an mehreren Stellen angegriffen, brach zusammen und machte einem epidermischen Rassenschema Platz. In der Eisenbahn ging es nicht mehr um eine Erkenntnis in der dritten Person, sondern in der dreifachen Person. In der Eisenbahn überließ man mir nicht einen, sondern zwei, drei Plätze. (2013: 95f.) Ein Stück weiter spitzt Fanon die körperliche Erfahrung noch einmal zu: Mein Körper kam ausgewalzt, zerteilt, geflickt zu mir zurück ganz in Trauer an jenem weißen Wintertag. Der N. ist ein Tier: der N. ist schlecht, der N. ist bösartig, der N. ist hässlich; sieh mal, ein N., es ist kalt, der N. zittert, der N. zittert, weil er friert, der kleine Junge zittert, weil er Angst vor dem N. hat, der N. zittert vor Kälte, jener Kälte, die dir die Knochen verrenkt, der niedliche Kleine zittert, weil er glaubt, dass der N. vor Wut zittert, der kleine weiße Knabe wirft sich in die Arme seiner Mutter: Mama, der N. will mich fressen. Ringsum der Weiße, oben reißt sich der Himmel den Nabel aus, die Erde knirscht unter meinen Füßen, und ein weißes, weißes Lied. Das viele Weiß, das mich ausbrennt… Ich setzte mich hinter den Ofen und entdeckte meine Livrée. Ich hatte sie nicht gesehen. Sie ist wirklich häßlich. […] Ich war im Begriff, wütend zu werden. Seit langem war das Feuer erloschen, und abermals
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zitterte der N. »Schau nur, er ist schön, dieser N …« »Der schöne N. scheißt auf Sie, Madame!« Schamröte zierte ihr Gesicht. Endlich war ich befreit von meiner Grübelei. […] Sie sollten was erleben! Ich hatte sie ja gewarnt. Die Sklaverei? Man sprach nicht mehr davon, eine böse Erinnerung. Meine angebliche Minderwertigkeit? Ein Scherz, über den man am besten lachte. Ich vergaß alles, jedoch unter der Bedingung, dass die Welt mir nicht mehr ihre Flanke entzog. Ich musste meine Schneidezähne ausprobieren. Ich spürte, dass sie kräftig waren. (97f.) David Goldberg greift in seinem Buch The Threat of Race diese berühmte Passage Fanons auf und macht sie zu einem Kernstück seiner Rassismusanalyse. »Fanon’s incisive response – ›I bite‹ – signals acting on, and out, the reifying stereotype, here both racial and racist, and undercutting it, bringing the reader up short […]. If you think there are animals here, the animals bite back.« (2009: 8) Goldbergs Argumentation ist so wichtig, weil er der Episode, die Fanon erzählt, bis zum Ende folgt und nicht vorschnell wie in der Rezeption meist üblich bei der Einführung des »epidermischen Rassenschemas« aussteigt. Eine solche übereilte Lesart schien mir etwa bei Simone Browne in ihrem hervorragenden Buch Dark Matters. On the Surveillance of Blackness (2015) gegeben. Eine Formulierung Stuart Halls aufgreifend, dass Epidermalisierung buchstäblich die Einschreibung von race auf die Haut sei, entwirft sie eine aufschlussreiche Geschichte der Überwachungstechniken des schwarzen Körpers, die sie ausgehend von der Tortur des Brandmarkens der Versklavten in der Plantage liest (99). Doch wenn wir Halls Fanon lesen, gibt es im Begriff der Epidermalisierung mehr zu finden. Das andere Körperschema, wie Fanon es nennt, arbeitet Hall zu so etwas wie dem zweiten Körper aus: »Ein wundervolles Wort, Epidermalisierung: buchstäblich die Einschreibung von race auf die Haut. Diese Rüstung von »race« gibt dem schwarzen Subjekt, was Fanon ein anderes »Körperschema« nennt. Aber, wie er immer wieder hervorhebt, ist dieses Schema kulturell und diskursiv, nicht genetisch oder physiologisch.« (1996: 16) Hall insistiert darauf, dass jede Rückkehr zu einem essentialisierten schwarzen Subjekt etwas wieder aufruft, wovor Fanons Arbeit gerade flieht, indem er eine schwarze Subjektivität zu denken versucht, die den antikolonialen Kampf wagt. Mit einem Rekurs auf Judith Butler wendet Hall eine solche Perspektive um, indem er sagt, dass schwarze Körper Körper von Gewicht sind, sie zählen nicht, weil sie Wahrheit hervorbringen, sondern weil sie Bedeutung schaffen (ebd.: 24). Diese ist, so Hall, die Lektion, die wir lernen sollten: Wann immer
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und wo immer in der Eisenbahn die erlebte Erfahrung des schwarzen Mannes oder der schwarzen Frau Platz nimmt, sitzt sie auf den Plätzen neben ihnen, die der weiße Mann oder die weiße Frau frei lässt, als das Double des race-Körpers.7 Es gibt einen Dialog Fanons mit seinem Lehrer und einem der wichtigsten Vertreter der négritude, Aimé Césaire, der sich auf die eigene rassistische Mitwisserschaft (im Original »complicité«) bezieht. »Als Césaire«, so Fanon, »in Frankreich lebte und sich auf sein Literaturexamen vorbereitete, fand er seine Feigheit wieder.« Er wusste, dass es Feigheit war, aber er konnte niemals sagen weshalb.« (2013: 162) Fanon bezieht sich hier auf eine der faszinierendsten Stellen in Aimé Césaires Cahier du retour au pays natal (1993), die es verdient an dieser Stelle zitiert zu werden: Eines Abends in der Straßenbahn mir gegenüber ein N. Es war ein N., groß wie ein Orang-Utan, und er versuchte sich auf der Straßenbahnbank möglichst klein zu machen. Er versuchte auf dieser schmierigen Straßenbahnbank seine gigantischen Beine loszuwerden und seine zittrigen Hände, die Hände eines verhungerten Boxers. Und alles hatte ihn verlassen, verließ ihn. Seine Nase, die einer abgetriebenen Halbinsel glich, sogar sein N-tum (im Original »négritude«) entfärbte sich unter einer unermüdlichen Gerbung. Der Gerber war das Elend, das jähe Elend, dick, mit hängenden Ohren, dessen Tatzenschläge in diesem Gesicht zu grindigen Inseln vernarbten. Oder vielleicht war es auch ein unermüdlicher Steinmetz, das Elend (im Original: »wird la Misère« großgeschrieben), der an einer scheußlichen Kartusche werkte. Man sah ganz deutlich, wie der emsige böswillige Daumen die bucklige Stirn herausgewölbt, die Nase als zwei parallele unheimliche Tunnel in die Tiefe getrieben, die Lippe übermäßig verlängert und, als Meisterzug der Karikatur, dazu die allerkleinsten winzigsten Öhrchen geschnitzt, poliert und anlackiert hatte. Es war ein schlottriger N. ohne Rhythmus und Maß. Ein N., dessen Augen eine blutunterlaufene Müdigkeit rollten. Ein schamloser N., dessen Zehen aus der halbgeöffneten Grube seiner Schuhe stinkend hervorgrinsten. Man könnte nicht behaupten, das Elend habe sich umsonst abgerackert, ihn fertig zu machen. Es hatte ihm die Augen ausgehöhlt, hatte ihn mit Staubfarbe geschminckt und mit allerlei Augenschleim. Es hatte den leeren Raum zwischen der festen Gebisslade und den verschrumpf7
An dieser Stelle gibt es selbstverständlich eine in der Forschung oft besprochene Verbindung zu dem von W. E. B. Du Bois geprägten Begriff der »double consciousness«, auf die ich hier nicht näher eingehen kann.
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ten Backen in die Länge gezogen, hatte die kleinen glänzenden Stoppeln eines Zweitagebartes daraufgepflanzt, hatte das Herz verschreckt, den Rücken gekrümmt. Und das Ganze bildete wirklich einen scheußlichen N., einen schwermütigen N., einen Brummbär-N., eine Memme von einem N., der auf dem Knotenstock seine Hände faltete zum Gebet. Ein in eine alte abgetragene Weste gewickelter N. Ein garstiger und komischer N., und hinter mir kicherten Frauen die ihn sich ansahen. Er war KOMISCH UND GARSTIG, GARSTIG UND KOMISCH, tatsächlich. Ich hisste ein großes mitschuldiges (»complice«) Lächeln … Meine Feigheit war wieder da! (Césaire 1967: 61f.) Während Césaire hier die Mitwisserschaft detailreich und körperlich zum Ausdruck bringt, legt Fanon all seine Finger in diese Wunde, um den Mechanismus der Feigheit, wie er sagt, zu verstehen: »Der N. in der Straßenbahn ist komisch und garstig. Ganz gewiss hat Césaire sich amüsiert. Weil zwischen diesem wirklichen N. und ihm keinerlei Gemeinsamkeit bestand.« (Fanon 2013: 162) Fanon kennt diese Mitwisserschaft gut. Und er weiß, dass sie tief unter die Haut geht. In Das »nordafrikanische Syndrom« (1972) beschreibt er den Rassismus französischer Ärzte im Umgang mit algerischen Patient/ -innen. Es ist seine eigene Subjektivität als französischer Arzt, die er dabei beschreibt: Jeder Araber ist ein eingebildeter Kranker. Der junge Arzt oder der junge Student, der niemals einen kranken Araber gesehen hat, weiß […], dass »diese Typen Schauspieler sind«. […] Das ist stärker als ich, sagte mir ein Assistenzarzt […] Sehr gut! Das ist stärker als ich. Wenn ihr wüsstet, was in meinem Leben stärker ist als ich. Wenn ihr wüsstet, was mich in meinem Leben in den Stunden quält, wo die anderen ihren Verstand einschläfern. (Fanon 1972: 19) Was Fanon hier zum Vorschein bringt, ist das rassistische Wissen, welches race produziert. Fanon ist sehr wohl in der Lage zu wissen, was sein weißer französischer Kollege weiß – er nennt es, den Verstand einschläfern. Denn was er weiß, ist, wie er sagt, stärker als er selbst. Das ist der Ort seines eigenen Leides an der Erfahrung, aus dem rassistischen Konsens ausbrechen zu wollen. In Schwarze Haut, weiße Masken beschreibt er erneut den zweiten Körper, den das rassistische Wissen schafft. Eine Erfahrung, die er macht, wie er schreibt, »jedes Mal, wenn wir einen Araber sehen, mit gehetzter Miene, misstrauisch, scheu, in jene langen zerschlissenen Jacken gehüllt, die eigens für sie hergestellt zu sein scheinen.« Und weiter:
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So manches Mal sind wir am helllichten Tag von Polizeibeamten festgenommen worden, die uns für einen Araber hielten und, wenn sie unsere Herkunft erfuhren, sich beflissen entschuldigten: »Wir wissen doch, dass ein Martiniquaner anders ist als ein Araber.« Wir widersprachen heftig, aber man sagte uns: »Sie kennen sie nicht.« (Fanon 2013: 78) Doch Fanon hat sie kennengelernt. Als Psychiater in Algerien hat er das »nordafrikanische Syndrom« sehr viel genauer zu lesen gelernt. Was er kennenlernte, war die Einschreibung der Situation einer Siedlungskolonie und des Rassismus in die Körper der Kolonialisierten. In L’an V de la révolution Algérienne (1959; Aspekte der Algerischen Revolution, dt. 1969) beschreibt er die körperliche Äußerungsform dieser Erfahrung als eine permanente Verkrampfung, die er in Les damnés de laterre (1961; Die Verdammten dieser Erde, dt. 1969) neu aufgreift und in ein Verhältnis zu den Träumen setzt. (Fanon 1969: 86-88; 2015: 43-47) Epidermalisierung ist hier viel mehr als die Einschreibung von race auf die Haut, denn die Haut ist, um mit Ta-Nehisi Coates zu sprechen, was »zwischen mir und der Welt« liegt (2015), also Medium einer situierten Erfahrung und nicht arbiträrer Subjektivierungseffekt einer Zuschreibung. »In der kolonialen Welt«, so Fanon, »konzentriert sich das affektive Vermögen des Kolonisierten auf der Oberfläche der Haut; sie ist empfindlich wie eine offene Wunde gegen ätzende Stoffe. Und die psychische Disposition schrumpft ein, verkrampft und entlädt sich in muskulären Reaktionen, die manchen Wissenschaftler auf die Idee gebracht haben, der Kolonisierte sei ein Hysteriker.« (2015: 47) Der Gegenpart zu der Verkrampfung findet sich in den Träumen der Kolonisierten: Als erstes lernt der Eingeborene, auf seinem Platz zu bleiben, die Grenzen nicht zu überschreiten. Deshalb sind die Träume der Eingeborenen Muskelträume. Ich träume, dass ich springe, dass ich schwimme, dass ich renne, dass ich klettere. Ich träume, dass ich vor Lachen berste, dass ich den Fluss überspringe, dass ich von Autorudeln verfolgt werde, die mich niemals einholen. Während der Kolonisation hört der Kolonialisierte nicht auf, sich zwischen neun Uhr abends und sechs Uhr früh zu befreien. (43)
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4.
Antirassialistischer Rassismus
In seinem Buch Kritik der schwarzen Vernunft greift Achille Mbembe das gerade beschriebene fanonsche Bild der verkörperten Erfahrung von race auf und schreibt: Durch einen in zahlreichen Studien untersuchten Prozess der Ausstreuung, aber vor allem der Eintrichterung ist diese dicke Kruste aus Dummheiten, Lügen und Phantasmen zu einer äußeren Hülle geworden, die seither dazu bestimmt ist, an die Stelle ihres Seins, ihres Lebens, ihrer Arbeit und ihrer Sprache zu treten. Diese ursprünglich einem Kleid ähnelnde Hülle ist mit der Zeit versteinert und hat sich in ein Außenskelett verwandelt, in eine Kalkschale – eine zweite Ontologie – und ein Krebsgeschwür – eine schwärende Wunde, die an dem davon Befallenen nagt, ihn verschlingt und schließlich zerstört. […] Seit dem 19. Jahrhundert erlangten diese Schale und dieses Krebsgeschwür eine nahezu eigenständige Existenz […]. Und die Verwandlung der Menschen afrikanischer Abstammung in »Neger«, das heißt in auszubeutende Körper und Rassensubjekte, gehorcht in mehrfacher Hinsicht einer dreifachen Logik der Verknöcherung, Vergiftung und Verkalkung. (2014: 83f.) Mbembe wirft hier eine für die These der Koartikulation von race und Rassismus interessante Frage auf. Wenn wir David Theo Goldberg folgen,8 dann markiert die Mitte des 19. Jahrhunderts auch den Übergang von der Dominanz eines naturalistischen Rassismus zu einem historizistischen Rassismus. In seiner Bahn brechenden Arbeit zum Verhältnis von Staatlichkeit und Rassismus The Racial State (2002) argumentiert Goldberg, dass seit dem 19. Jahrhundert die Inferioritätsbehauptung des monistischen Naturalismus vom historizistisch argumentierenden Rassismus verdrängt wurde, der eine Art Pädagogisierung der »historischen Unreife« von minorisierten autochtonen Bevölkerungen anvisierte (2002: 74f.). Wenn wir also den historizistischen Rassismus mit Mbembes Versteinerungsprozess von race zu einem Außenskelett zusammenbringen, dann entsteht die nahezu eigenständige Existenz des Doubles des race-Körpers historisch, d.h. die Rüstung, von der Hall spricht, kommt erst im Horizont der Historisierung
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Dieser Teil der nun folgenden Rekonstruktion des Ansatzes von Goldberg ist ausführlich in dem Buch von Tobias Mulot und mir Racial Politics: eine affektive Genealogie der Gleichheit (im Erscheinen) erarbeitet.
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von race, d.h. auch der Möglichkeit, dass race aufhörte zu existieren, zur vollen Geltung. Goldbergs The Racial State stellt uns vor die Aufgabe, das Verhältnis von Staatlichkeit und Rassismus grundsätzlich neu zu denken. Die Frage ist nicht, ob die Politik dieses oder jenes Staates rassistisch ist, sondern vielmehr gilt es zu verstehen, dass moderne Staaten immer racial states sind. Wenn Goldberg von einer Koartikulation von race und dem Nationalstaat der Moderne spricht, meint er, dass race nicht etwas ist, was dem modernen Staat als etwas Additives eingewoben wurde, vielmehr haben Staaten ihre Modernität mittels der Konstitution von race gewonnen. Die Herausbildung des Staates der Moderne ist aufs Engste mit dem kolonialen Projekt Europas verbunden (Mezzadra 2010; Boatcă 2016). As sets of institutions, and as ways of thinking and institutionalizing the governance of societies racial in both their metropolitan and their colonial expression, racial states emerged materially out of, as they were elaborated in response to, the »challenges« of colonial rule. And so conceptually they gave rise to conceiving the possibility of the colonial, while they emerged institutionally in elaborating rule in the colonies and – though less visibly but at least as presumptively – to mark the nature and scope of metropolitan society in Europe too. (Goldberg 2002: 109) Die entscheidende Pointe in Goldbergs Racial State ist die Verschiebung des Fokus von race und blackness zur Hervorhebung der Konstitution von whiteness. Obwohl der Rassismus blackness adressiert, negativ markiert und marginalisiert, produziert der racial state primär whiteness. Racial States, then, are states that historically become engaged in the constitution, maintenance, and management of whiteness, whether in the form of european domination, colonialism, segregation, white supremacy, herrenvolk democracy, Aryanism, or ultimately colorblind – or racelessness. These are all states of white rule, where white governance and norms of white being and being white historically prevail. They are states, that is, where whiteness increasingly becomes the norm. Racial states, in short, are states ultimately where whiteness rules. (195) Goldberg unterscheidet zwei konzeptionelle Linien, in denen sich racial states entwerfen. Die naturalistische und die historizistische bzw. progressivistische Linie. Beide Linien koexistierten durchaus, aber die naturalistische war dominant vom 17. Jahrhundert bis ins 19. Jahrhundert, während die histori-
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zistische erst ab dem 19. Jahrhundert ihre Dominanz entfaltete (74). Die naturalistische Linie des racial states etablierte mit den Wirtschaftsweisen von Versklavung eine Beziehung der puren Ausbeutung der Unterworfenen. Zur Quelle des Mehrwerts gemacht, sowohl als ausbeutbare Arbeitskraft als auch als handelbare Güter, ließen sich durch race als inferior markierte Menschen definieren. Die historizistische Linie dagegen behauptet keine grundlegende Inferiorität, sondern eine »Unreife« der in Kolonialismus und Segregation Unterworfenen. Mit der Einbindung der Kolonialisierten in den Weltmarkt als Arbeitskräfte in verschiedenen Freiheitsgraden wird das Versprechen auf Fortschritt verbunden, ein Versprechen, das zugleich mit der Fortschreibung der race-Positionierung immer weiter in eine nie zu erreichende Zukunft vertagt wird. Auf diese Weise bleiben die Kolonisierten in einem permanenten Status des »not quite/not white«, wie Homi K. Bhabha schreibt (1994: 92; Goldberg 2002: 96). Mit der Abkehr von der ›Sklavenwirtschaft‹ im 19. Jahrhundert schwand die naturalistisch begründete Sicherheit der weißen Vorherrschaft: With abolition and the changed conditions it represents, with the tearing apart of the world that slave-based colonization reflected and the increasingly assertive resistance to racial subjection and domination, confidence in the positions of whites, in their giveness, waned. […] From this point on, then, whiteness explicitly and self-consciously becomes a state project. To say that it is a state project is not to say that the state had been absent from earlier racial manifestations nor that whiteness was now a product only of state definition. Rather, it is to say that from this moment the state explicitly, deliberatively, and calculatingly takes the lead in orchestrating the various instrumentalities in the definition and materialization of whiteness. (176)9 Ann Laura Stoler hat den Zusammenhang von historizistischem Rassismus und whiteness in ihrer Studie Race and the Education of Desire (1995) detailliert untersucht. In kritischem Anschluss an Foucault überwindet sie dessen eurozentristische, aber auch der Geschlechtsblindheit geschuldete Beschränkung auf den männlich dominierten metropolitanen Kontext und fragt nach der Herausbildung des Konzepts von whiteness als Entwurf eines bürgerlichen Selbstverständnisses in den europäischen Kolonien. Kolonialismus, so führt sie aus, war kein gesichertes bürgerliches Projekt. Er war nicht einfach der Import einer Selbstdefinition europäischer Mittelklassen in die Kolonien, sondern 9
Siehe ausführlicher dazu die Pionierarbeiten von Roediger 1991 und 2005, Saxton 1992, Allen 1998 sowie Glenn 2002.
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vielmehr die Selbsterfindung von begehrlichen Subjektivitäten im kolonialen Kontext (99). Stoler besteht allerdings darauf, dass es nicht darum geht, zu behaupten, die europäische Kultur sei in den Kolonien erfunden worden, vielmehr geht es darum, zu verstehen, dass das, was als genuin europäisch entworfen wurde, in einem imperialen Kontext durchgearbeitet wurde – und umgekehrt. Während im Kolonialrassismus race eine machtförmige Überschreibung von Klassen- und Geschlechterpositionen ist, werden in der Dekolonisierung Klasse und Geschlecht zu der Form, in der race unter den Bedingungen vorgeblicher racelessness fortexistiert (vgl. Guénif-Souilamas/Mace 2004). Goldberg bezeichnet die aktuelle Ausformung des racial state nach dem Ende kolonialer Staatlichkeit durch die Unabhängigkeiten und Segregation als raceless state (2002: 200-238). Die historizistische Linie in der Definition des racial state hat, wie beschrieben, die naturalistische Linie im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend überlagert. Wie eingeschränkt auch immer war dabei ein Bezug auf ein Rechtskonzept enthalten, das die formelle Gleichheit von als gleich Definierten garantierte. »This abstract(ed) commitment to formal equality«, so Goldberg, in turn, entails the colorblinding constitutionalism of racelessness as the teleological narrative of modernization of racial progress. Racelessness is the logical implication of racial historicism. It is the perfect blinding of modernist rationality and the maintenance of de facto, if deraced, racial domination juridically ordered and exercised. (203) Im 20. Jahrhundert begann der moderne Staat, seinen Anspruch auf Modernisierung zunehmend mit einem Beharren auf racelessness zu unterfüttern. »That is to say, through its insistence upon rendering invisible the racial sinews of the body politic and modes of rule and regulation. Racelessness came to represent state rationality regarding race.« (Ebd.) Goldberg kommt in The Threat of Race (2009) zu einer bemerkenswerten Feststellung: Am Ende aller großen antirassistischen Kämpfe der letzten zwei Jahrhunderte gab es einen Umschlag, mit dem an die Stelle einer anfänglich breiten sozialen, politischen, wirtschaftlichen und auf rechtliche Gleichstellung zielenden Mobilisierung die Reduktion auf einen formellen Antirassialismus trat (19). Die Unterscheidung zwischen Antirassismus und Antirassialismus ist eine entscheidende goldbergsche Innovation für die Rassismustheorie der Gegenwart. Während für die Rassismustheorie die konzeptionelle Unterscheidung zwischen Rassismus und Rassenlehre (racialism) schon lange
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geläufig ist (Fredrickson 2011: 207ff.; Banton u.a. in Cashmore 1984: 214ff.), gelingt es Goldberg erstmals, die Dynamiken von Antirassismus und Antirassialismus in eine Staatstheorie des Rassismus, oder genauer, in eine allgemeine Theorie des racial states einzufügen: Antiracialism is to take a stand, instrumental or institutional, against a concept, a name, a category, a categorizing. It does not itself involve standing (up) against (a set of) conditions of being or living, as it is not always clear what those conditions might in fact be for which race is considered to stand as a sort of shorthand. Is antiracialism a counter to claims about biology, or a counter to a social/cultural set of articulations, a mode of expression or its lack, a sense of naturalized entitlement or historically ordered incapacity? Antiracism, by contrast, conjures a stance against an imposed condition, or set of conditions, an explicit refusal or a living of one’s life in such a way one refuses the imposition, whether one is a member of the subjugated population or the subjugating one. It is an insistence that one not be reduced, at least not completely, to or by the implications marked by the imposition and constraint, by the devaluation and attendant humiliation. At the limit, antiracism is the risk of death, the willingness to forego life, perhaps at once the measure of the severity of the imposition, dislocation, and curtailment, and of the seriousness of the commitment. There clearly is no evidence of antiracialism ever commanding that sort of risk. (2009: 10) Die globale antikoloniale Bewegung und die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung sind, so Goldberg, als Teil des zweiten großen Zyklus antirassistischer Mobilisierung zu verstehen, der die 1920er- bis 1960er-Jahre prägte (ebd.; siehe ausführlicher dazu Young 2001). Die Delegitimierung des naturalistischen Rassismus mit dem Sieg über den deutschen Faschismus in dieser Phase bestärkte die Tendenz historizistischer Regime des racial rule, ihre eigene racial Artikulation unter dem Schleier einer formalen Verwerfung ihrer eigenen naturalistischen Vorgeschichte zum Verschwinden zu bringen. (Goldberg 2002: 207) Die emblematische UNESCO-Erklärung zum Rassismus von 1950 brachte den Siegeszug des historizistischen Rassismus auf eine globale Ebene (UNESCO 1969).10 Die in den UNESCO-Erklärungen formulierte allgemeine Verwerfung naturalistisch begründeter Rassismen unterminierte alle Versuche, race als klassifikatorische Kategorie des Sozialen zu ver10
Zur abenteuerlichen Durchsetzungsgeschichte der UNESCO-Erklärungen siehe Joas 2015: 265ff., Kühl 2014: 245ff. und Kerner 2009: 105ff.
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wenden. Dieser »emergent skepticism regarding racial distinction« (Goldberg 2015: 60) wurde verstärkt durch das Beharren auf colorblindness in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, ebenso wie durch den non-racialism, der 1955 die Grundlage der Freedom Charter der südafrikanischen Apartheidsgegner/-innen bildete. Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall des Apartheidsregimes in Südafrika begann schließlich eine neue Phase, in der Antirassialismus global an die Stelle des Antirassismus trat. In the wake of these emergent shifts in global capital and cultural formations – from the colonial to the postcolonial, segregationist to desegregationist, apartheid to post-apartheid, nationalized to globalized – naturalism’s intensely raced racelessness gave way almost hegemonically to the state of whitened colorblinding. The colorblinding state can be understood in this scheme of things as the ultimate victory of states of whiteness purged of their guilt and self-doubt, the language of race giving way to the lexicon of a bland corporate multiculturalism and ethnic pluralism. (Goldberg 2002: 207) Zentral in Bezug auf racial rule (74-97) in der Axiomatik der racial europeanization (Goldberg 2009: 72ff.), wie Goldberg sie beschreibt, sind im Wesentlichen zwei Elemente: die Gleichsetzung von Rassismus mit seiner extremsten Form des eliminatorischen Antisemitismus im Holocaust und die Durchstreichung der eigenen Geschichte des Kolonialrassismus durch die Entkopplung von Kolonie und kontinentaleuropäischer Metropole. (154) Für Goldberg gehört der Holocaust auf eine einzigartige Weise zu Europa. Seine unbestreitbare Singularität als Menschheitsverbrechen ist untrennbar mit der Geschichte Europas verbunden. Der Holocaust konfrontiert Europa mit der radikalen Vernichtungskraft der Idee der »Rasse«. Er war ein zivilisatorischer Wendepunkt, nach dem die Berufung auf »Rasse« und Rassenklassifizierungen keinen institutionellen, normativen und sozialen Einschreibungsort haben durfte. Diese zentrale Konsequenz aus der historischen Erfahrung des Holocausts und die damit einhergehende europäische Reduktion von race auf den Antisemitismus strich gleichzeitig Europas kolonialrassistische Geschichte durch. Damit erschien es möglich, Kolonialismus als ein soziales Verhältnis zu betrachten, das buchstäblich im Außen Europas und außerhalb Europas stattfand und nicht konstitutiver Bestandteil des europäischen Erbes war und ist. Kolonialismus hat in dieser Sichtweise, so Goldberg, keinen oder nur geringen Einfluss auf den Nationalstaat der europäischen Moderne. Während die historische For-
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schung in diesem Zusammenhang von postkolonialer »historical amnesia« spricht, präferiert Ann Laura Stoler (2016) die Figur der »colonial aphasia«: But forgetting and amnesia are more than misleading terms to describe this guarded separation and the procedures that produced it. As I argue here, very little of these histories has been or is actually forgotten: it may be displaced, occluded from view, or rendered inappropriate to pursue. It may be difficult to retrieve in a language that speaks to the disparate violence it engendered. But it is neither forgotten nor absent from contemporary life. Aphasia, I propose, is perhaps a more appropriate term, one that captures not only the nature of that blockage but also the feature of loss. […] Rather, calling the phenomenon colonial aphasia emphasizes both the loss of access and active dissociation. In aphasia, an occlusion of knowledge is the issue. It is not a matter of ignorance or absence. Aphasia is a dismembering, a difficultly in speaking, a difficultly in generating a vocabulary that associates appropriate words and concepts to appropriate things. Aphasia in its many forms describes a difficulty in retrieving both conceptual and lexical vocabularies and, most important, a difficulty in comprehending what is spoken. (128) Wir können den Streit um den Critical Whiteness-Ansatz in der rassismuskritischen Debatte in Deutschland (vgl. ausführlicher Karakayali 2015; Axster/Figge 2018) als das Symptom dieser »colonial aphasia« innerhalb der deutschsprachigen Rassismusdebatte lesen. Denn der Ansatz von Critical Whiteness reagierte zu Recht auf die skandalöse Dethematisierung kolonialer Wirkverhältnisse in der rassismuskritischen Theoriediskussion in Deutschland (Ha u.a. 2007; Eggers u.a. 2017; Eggers 2017; Piesche 2018). Ich verstehe die Perspektive der Koartikulation von race und Rassismus als das selbstreflexive Gegenstück zur »colonial aphasia«.
5.
Schluss
Ich habe versucht, eine Alternative zwischen race-Realismus und einem der Ersatzempirie verpflichteten Sozialkonstruktivismus in der Rassismustheorie zu begründen, indem ich mich an die korporealistische Wende des feministischen Projektes von Elisabeth Grosz, Claire Colebrook und Donna Haraway anschließe. Brigitta Kuster arbeitet diese konzeptionelle Wahlverwandtschaft zwischen der Epistemologie des feministischen Korporealismus und der Radical Black Theory heraus, wenn sie deren Verständnis von dem ver-
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körperten, situierten Aspekt der Subjektivität in den Vordergrund stellt und dabei den Körper keinesfalls als diskursiver Effekt, aber auch nicht als eine vordiskursive Entität und schon gar nicht als einen vollständigen Organismus konzipieren lässt: »Corporeality« (körperliche Existenz, Leiblichkeit) entsteht in und durch Verhältnisse und Prozesse des Werdens. Innerhalb dieses Werdens lokalisiert der Feminismus der Radical Black Theory allerdings eine Differenz, nämlich jene zwischen fleh und body (Spillers 1987). Das nicht vergeschlechtlichte »Fleisch« adressiert die primäre Erzählung einer Ontologie von race/Rasse; es entspricht einer schwarzen Verbindung zur Welt, die Spillers »that degree zero of social conceptualization« nennt (Kuster 2019). Sie besteht darin, die Koartikulation von race und Rassismus als das Wirkungsfeld der verkörperten Erfahrung von Differenz innerhalb der alltäglichen Ordnungen der Staatlichkeit des Rassismus zu bestimmen. Das werde ich abschließend mit einem prominenten und einem weniger prominenten Fall aus dem Alltag von Migrant*innen und Black People of Color in Deutschland erläutern.11 Ein schwarzes deutsches Paar, das mit seinen zwei minderjährigen Kindern auf der Zugfahrt von Mainz nach Koblenz war, wurde im Jahre 2015 von Bundespolizist*innen einer Ausweiskontrolle unterzogen. Nach § 22 Absatz 1a des Bundespolizeigesetzes (BPolG) ist die Polizei zur Verhinderung unerlaubter Migration in Zügen und Bahnhöfen befugt, »soweit auf Grund von Lageerkenntnissen oder grenzpolitischer Erfahrung anzunehmen ist, dass diese zur unerlaubten Einreise genutzt werden«, bei jeder Person Ausweiskontrollen durchzuführen. Doch außer ihnen wurde keine der anderen weißen Reisenden im Zugabteil kontrolliert. Daraufhin haben sie die Bundespolizei erfolgreich angeklagt. Das Oberverwaltungsgericht Koblenz erklärte die Kontrolle als rechtswidrig mit der Begründung, dass für die durchgeführte Kontrolle die phänotypische Erscheinung der Kontrollierten ein mittragendes Kriterium für die polizeiliche Maßnahme war. Die eingelegte Berufung der Bundespolizei blieb erfolglos (Rotino 2017: 52). Das Oberverwaltungsgericht Koblenz hat somit zum ersten Mal zur Frage der Vereinbarkeit der polizeilichen Befugnis der verdachtsunabhängigen Kontrollen mit dem verfassungsrechtlich verankerten Verbot rassistischer Diskriminierung Stellung bezogen (Art. 3 Abs. 3 GG), also indirekt eine
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Das Akronym BPOC steht für die politische Selbstbezeichnung Black und People of Color, die eine geteilte Rassismuserfahrung aufgreift und diese in eine kollektive Positionierung einfließen lässt (siehe Crenshaw, Kimberlé 2019: 4).
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Stellungnahme zu racial profiling und institutionalisiertem Rassismus vorgenommen. Die Juristin Sophie Rotino hebt in ihrem Kommentar zum Koblenzer Urteil (Urteil vom 21. April 2016, Az. 7 A 11 108/14, OVG) die herausragende Bedeutung des Urteils für den Umgang mit racial profiling hervor. Dabei analysiert sie die verfassungsrechtliche Außerkraftsetzung der polizeilichen Argumentation, die ich hier etwas ausführlicher zitieren will: In seinem Urteil erklärt das OVG jedoch, dass die Vorschrift (der bundespolizeilichen Kontrollbefugnis) verfassungsrechtlichen als auch europarechtlichen Vorgaben entspricht. Die Norm enthalte keinen strukturellen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot aus Artikel 3 Absatz 3 GG.12 Allerdings differenziert das Gericht zwischen der Verfassungsmäßigkeit der Norm und ihrer Anwendung im konkreten Fall. Letztere kann rechtswidrig sein, wenn im Einzelfall gegen das grundgesetzlich verankerte Diskriminierungsverbot verstoßen wird. Ein solcher Verstoß liegt nicht erst vor, wenn die verdachtsunabhängige Kontrolle ausschließlich an ein diskriminierendes Merkmal anknüpft, wie beispielsweise an die Hautfarbe. Es kann sich bereits um eine Diskriminierung handeln, wenn das diskriminierende Merkmal einen Teil des Motivbündels bildet, das zur Kontrolle führt. Diese Tatsache muss laut Gericht jedoch die kontrollierte Person beweisen, und nicht die Polizei. Die Beweislast trägt die Bundespolizei nur dann, wenn die Begründung für die Auswahlentscheidung nicht nachvollziehbar erscheint. So lag der Fall hier. Die Bundesbeamten vermochten das Gericht nicht davon zu überzeugen, dass die Hautfarbe nicht ein mitentscheidendes Kriterium für ihre Kontrolle gewesen war. (2017: 52ff.) Der inzwischen leider verstorbene kenianische Schriftsteller Binyavanga Wainaina (damals DAAD-Fellow in Berlin) war hier von einem Taxifahrer verprügelt worden. Im Gespräch erzählte er mir, wie es geschah: Er hatte ein Taxi gerufen, das ihn zu einem Arzt und dann zum Flughafen bringen sollte. Weil er an den Sprachbeeinträchtigungsfolgen eines Schlaganfalls litt, ist es ihm nicht gelungen, die Adresse schnell anzusagen. Daraufhin hat der Taxifahrer
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»Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich«. Artikel 3 (3): »Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.«
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seine Tasche aus dem Taxi geworfen, ihn herausgezerrt und verprügelt. Seine Nachbarn in Charlottenburg haben ihm trotz seiner Rufe nicht geholfen, betont er. Wainaina wurde von dem Vorfall nicht nur körperlich versehrt, er machte eine Erfahrung der Retraumatisierung, die nur Nichtweiße Menschen in Deutschland machen können: »Ich fühle mich schmutzig schwarz«, sagte er mir. »Der Taxifahrer war ein Deutscher wie Sie«, fuhr er mir gegenüber ohne Umschweife fort. In diesem Moment fand ich meine Feigheit wieder. »Ma lâcheté retrouvée!«
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Spot the Difference Differenzwissen im Kontext von Segregation in Vorbereitungsklassen für neuzugewanderte Schüler*innen Juliane Karakayalı
Der Umgang von Schulen mit Migration bzw. mit Schüler*innen mit Migrationserfahrung ist bereits seit Jahrzehnten Gegenstand verschiedenster und vielfältigster theoretischer Forschungsperspektiven. Infolge der verstärkten Einwanderung seit dem Sommer 2015 ist insbesondere die Gruppe der neuzugewanderten Schüler*innen1 in den Fokus der Forschung geraten. Gründe dafür sind, dass für diese Gruppe spezifische Anforderungen an eine angemessene Sprachdidaktik formuliert werden und dass für diese Gruppe besondere Beschulungsformate eingerichtet wurden, die in den verschiedenen Bundesländern höchst unterschiedlich gestaltet sind und in der Praxis häufig auch innerhalb der Bundesländer variieren (vgl. Massumi/Dewitz 2015). In Berlin wurden in allen Klassenstufen und Schulformen separierte Vorbereitungsklassen für neuzugewanderte Schüler*innen eingerichtet, sogenannte Willkommensklassen,2 in denen innerhalb eines Jahres Deutschkenntnisse vermittelt werden sollen, um dann die Teilnahme am Regelunterricht zu ermöglichen (vgl. SenBJF 2018).3 Die Senatsverwaltung für Jugend, Bildung
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Richtiger wäre es möglicherweise. zu sagen, dass diese Gruppe nicht verstärkt in den Fokus geraten ist, sondern dass diese diskursiv und organisatorisch konstituiert wurde. Der Begriff des »Willkommens« im Kontext der Einwanderung 2015ff. ist bereits vielfach fundiert kritisiert worden. Da die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (SenBJF) die Bezeichnung »Willkommensklassen« in allen Dokumenten verwendet, wird er auch in diesem Text benutzt. Bis 2016 war der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend, Familie auch der Bereich Wissenschaft zugeordnet. Darum lautet die Abkürzung der für die Willkommensklassen
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und Familie macht kaum verbindliche Vorgaben für die konkrete Ausgestaltung dieser Klassen, insbesondere in Bezug auf zu lehrende Inhalte sind die Schulen – bisher – völlig frei.4 Eine rassismus- und organisationstheoretisch informierte, an Grundschulen in Berlin durchgeführte Studie ist der Frage nachgegangen, wie die Schulen mit diesem Mangel an Vorgaben umgehen. Woran orientieren sich Lehrkräfte bei der Entwicklung von Lerninhalten und -zielen? Die Untersuchung zeigt, dass auch Lehrkräfte in Willkommensklassen – wie bereits in anderen Studien zu Interaktionen zwischen Lehrkräften und Schüler*innen nachgewiesen – natio-ethno-kulturelle Differenzkonstruktionen über ihre Schüler*innen entwickeln (vgl. BMI/SVR 2017; Pörnbacher 2011; Rose 2012; Weber 2003). In Ermangelung konkreter Vorgaben, was und wie genau in Willkommensklassen gelernt werden soll, werden diese zur Orientierung in der Unterrichtsgestaltung. Dies geschieht auch darum, weil die Willkommensklassen weitgehend eine Parallelstruktur innerhalb der Schule darstellen. Untersucht wird also der Zusammenhang zwischen Segregation und natio-ethno-kulturellem Differenzwissen. Motiviert ist diese Untersuchung auch durch die Geschichte separierter Beschulung von Schüler*innen mit Migrationserfahrung, wie sie in Berlin im Rahmen der sogenannten Ausländerregelklassen erfolgte, die bis in das Schuljahr 1995/96 hinein schulrechtlich verankert waren. Über die konkrete Praxis dieser Klassen liegen nur wenige Erkenntnisse vor, eine systematische Erforschung ist nie erfolgt. Die Einrichtung dieser Klassen wurde einerseits mit der Notwendigkeit einer spezifischen Deutschförderung, andererseits mit der kulturellen Differenz der nichtdeutschen Schüler*innen gerechtfertigt. Die Klassen wurden erst nach langjährigen und intensiven Kämpfen insbesondere migrantischer Elternverbände aus dem Schulrecht gestrichen. Kritisiert wurden die mangelhafte Unterrichtsqualität, die keinen Beitrag zur Chancengleichheit leiste, und die Separierung selbst, die als Stigmatisierung empfunden wurde (vgl. Karakayalı u.a. 2016b; Karakayalı 2020: 180ff.). Vor diesem Hintergrund verdient der Rückgriff der Berliner Schulpolitik auf eine separierte Beschulungsform für Schüler*innen mit Migrationserfahrung eine besonders sorgfältige Analyse – auch wenn sie, wie im Fall der Willkom-
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zuständigen Senatsverwaltung für Dokumente bis 31. Dezember 2016 »SenBJW«, ab dem 1. Januar 2017 »SenBJF«. Die SenBJF hat angekündigt, im Jahr 2019 ein Curriculum für Willkommensklassen zu erarbeiten. Dies ist bis Februar 2020 allerdings nicht erfolgt.
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mensklassen und im Gegensatz zu den Ausländerregelklassen, nur temporär angelegt ist.
Unterscheidungswissen und Segregation in der Schule Rassismus ist ein gesellschaftliches Verhältnis, das Menschen anhand verschiedener möglicher Merkmale (Hautfarbe, vermutete Herkunft, Religionszugehörigkeit oder anderes) als Gruppen konstruiert, denen in homogenisierender und essentialisierender Weise (zumeist negativ konnotierte) Verhaltensweisen, Wertmaßstäbe oder Eigenschaften zugeschrieben werden und für die aufgrund dieser Zuschreibungen der Zugang zu materiellen, sozialen und symbolischen Ressourcen behindert, limitiert oder vorenthalten wird (vgl. Hall 1994; Miles 1989; Kalpacka/Rähtzel 2017). Die »Konstruktion des Anderen« erfolgt dabei gemäß einer »binären Spaltung« (Hall 1990: 13), indem sich Gruppen über den Ausschluss anderer konstituieren. Der Begriff der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit reflektiert die Tatsache, dass Vorstellungen über Nationalität, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit oder die vermutete »Kultur« zumeist amalgamieren und bei der Konstruktion von Gruppen nicht voneinander zu unterscheiden sind (vgl. Mecheril 2003). Die Begriffe »Zugehörige« und »Migrationsandere« (vgl. ebd.) verweisen auf die Relationalität dieser Konstruktionen, die zudem flexibel sind. Dieser zentrale Aspekt des Rassismus wird mit dem in der postkolonialen Theorie entstanden Konzept des Othering beschrieben (Said 1978). Othering, zum Teil als »VerAndern« (Reuter 2011) oder »Different-machen« (Castro Varela/Dhawan 2005) ins Deutsche übersetzt, beschreibt Prozesse, in denen Gruppen diskursiv, symbolisch sowie durch soziale Praxen als komplementär unterschiedliche »Andere« erzeugt und festgeschrieben und einem »Wir« gegenübergestellt werden. Dem »Anderen« werden dabei vor allem negative, abgewertete Eigenschaften, Verhaltensweisen und Wertmaßstäbe zugeordnet, die häufig ihren Ursprung in kolonialen Verhältnissen haben und sich dementsprechend in Vorstellungen einer rückständigen Kultur (insbesondere eines rückständigen Geschlechterverhältnisses, vgl. Ahmed 1993), Gewalt oder Irrationalität ausdrücken, in die aber gleichzeitig auch ein Begehren eingeschrieben ist (Hall 2000: 15). Othering erfüllt dadurch auch die Bestätigung einer Normalität, des – vermeintlich – Richtigen, und wirkt produktiv, indem diese Konstruktionen sowohl Ausschlüsse als auch Zugehörigkeiten produzieren (vgl. Mecheril 2003). Die Unterscheidung zwischen Zugehörigen und Nichtzugehörigen
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wird in Interaktionen, durch Diskurse und Institutionen und auf der Ebene von Symbolen immer wieder neu hervorgebracht. Auch in der Schule ist diese Unterscheidung relevant, sie ist in die Regeln und Routinen der Organisation eingelassen, etwa wenn der Migrationshintergrund der Schüler*innen erhoben wird oder mehrsprachige Kinder von der Einschulung zurückgestellt werden (vgl. Kuhn/Mai 2016). Die Schule als Organisation entwickelt dabei einen eigenlogischen Umgang mit den an sie herangetragenen, meistens widersprüchlichen, Erwartungen und Problemstellungen (March 1990), etwa einerseits allen Kindern Bildung zu ermöglichen, andererseits an Leistung orientiert zu sein und über begrenzte Ressourcen zu verfügen. Da die Schule in einem permanenten Austausch mit ihrer Umwelt steht und Entscheidungen, die sie fällt, gegenüber einer (sozialkulturellen) Umwelt legitimieren muss (Berger/Luckmann 1966; Radtke/Gomolla 2009: 65), folgt sie einem Repertoire an Professions- und Alltagswissen über gesellschaftliche Realität, das selektiv interpretiert wird (vgl. Hormel 2010: 177). In verschiedenen Studien wurde bereits darauf hingewiesen, wie ein Alltagswissen über Migration das Handeln der an Schule beteiligten Akteur*innen strukturiert (beispielsweise in der Interaktion zwischen Lehrkräften und Schüler*innen, Pörnbacher 2011, Rose 2012, Weber 2003) und auch, wie professionelles Wissen, etwa in der Tradition der Ausländerpädagogik oder der interkulturellen Pädagogik an der Konstruktion der Migrationsanderen beteiligt ist (vgl. Kessl/Plößer 2010). Mit der Erwartung an die Schüler*innen, dem »Monolingualen Habitus« (Gogolin 1994) der Schule zu entsprechen oder nur Deutsch zu sprechen (vgl. Karakayalı/zur Nieden 2013) oder die gesamte Schullaufbahn in Deutschland verbracht zu haben (zum Begriff des Seiteneinsteigers Mecheril/Shure 2015), konstruiert Schule eine Normalität, innerhalb derer diejenigen, die ihr nicht entsprechen, als Migrationsandere identifiziert werden können. Dieses Unterscheidungswissen ist nicht neutral, sondern in Machtverhältnisse eingebettet und führt, wie sich in zahlreichen Studien nachweisen lässt, zu Bildungsbenachteiligung (vgl. BMI/SVR 2017; Diehl u.a. 2015; Radtke/Gomolla 2009). Eine der sichtbarsten Formen des Unterscheidens ist Segregation. Segregation an Schulen ist bisher wenig erforscht: Zu den sogenannten Ausländerregelklassen liegen kaum Untersuchungen vor (vgl. Karakayalı u.a. 2017; Puskepeleit/Krüger-Potratz 1999) und aktuelle Segregationsphänomene werden zumeist unter der Perspektive »Elternwahlverhalten« untersucht (vgl. Breidenstein/Krüger/Roch 2014; Schneider u.a. 2012; kritisch dazu Karakayalı/zur Nieden 2014; Stosic 2014). Segregation entlang natio-ethno-kultureller Zu-
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gehörigkeit als organisationale Praxis schließt das Berliner Schulgesetz ausdrücklich aus, nur wenn neuzugewanderte Schüler*innen nicht dem Regelunterricht auf Deutsch folgen können, dürfen Willkommensklassen eingerichtet werden, in denen temporär intensiv Deutsch gelehrt wird (vgl. SenBJW 2014). Aber auch Willkommensklassen stellen das Ergebnis eines institutionellen Differenzierungsprozesses dar, indem das Beherrschen der deutschen Sprache als Normalitätserwartung vorausgesetzt wird. Wacquant beschreibt Segregation (am Beispiel des Ghettos) als »Maschine zur Produktion kollektiver Identitäten« (vgl. ebd.: 143), indem die Unterschiede zwischen den räumlich Segregierten sowohl in ihrer eigenen als auch in der Perspektive der Außenstehenden einschmelzen und sich damit sowohl die Segregierten als auch die Nichtsegregierten als homogene Gruppen wahrnehmen. Segregation produziert eine spezifische Sichtbarkeit der Segregierten und führt zu einer verstärkten Problemwahrnehmung eben dieser Gruppe (vgl. Häußermann 2007; siehe auch die Perspektive von Eltern, deren Kinder segregierte Schulen besuchen Karakayalı/zur Nieden 2019). Segregation produziert also oder verfestigt das Wissen um Differenz. Im Folgenden soll am Beispiel der sogenannten Willkommensklassen dem Verhältnis von Differenzwissen und Segregation nachgegangen werden. Dafür werden Ergebnisse einer 2016 durchgeführten Studie referiert, in deren Rahmen 18 Willkommensklassen an 13 Grundschulen in acht Berliner Bezirken untersucht wurden, indem Lehrkräfte (18) und Schulleitungen (12) interviewt sowie teilnehmende Beobachtungen im Unterricht durchgeführt wurden (12). Die Interviews mit Schulleitungen, Lehrkräften und Behörden wurden kodiert, inhaltsanalytisch ausgewertet (vgl. Gläser/Laudel 2013; Kuckartz 2012) sowie einzelne narrative Passagen hermeneutisch interpretiert (vgl. Oevermann 2000; Wernet 2000).
Die Organisation der Willkommensklassen Die Einführung von Willkommensklassen wurde 2011 damit begründet, dass die Zahl der Zuzüge aus dem Ausland sich »dergestalt erhöht [habe], dass die bestehenden ›Lerngruppen für Sprachförderung‹ den Bedarf nicht decken konnten« (SenBJW 2014: 1). Dabei handelte es sich insbesondere um Kinder, deren Eltern im Zuge der EU-Osterweiterung aus Rumänien und Bulgarien
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nach Deutschland kamen.5 Die Einführung der Klassen war von einer Rhetorik der Überforderung begleitet: Man sei unvorbereitet und von den hohen Zahlen der zu beschulenden Kinder und Jugendlichen überrascht worden, auch gäbe es kein Personal und keine Konzepte (vgl. Thöne/Will 2012).6 Die separierte Beschulung wurde mit einem Mangel an Deutschkenntnissen begründet, aber auch mit Entwicklungsrückständen dieser Kinder, die angeblich schnell aggressiv reagierten, sodass es notwendig sei, sie durch Separierung erst einmal »schulfähig« zu machen (vgl. Bezirksamt Neukölln 2012: 9). Die Zahl der Willkommensklassen stieg mit der zunehmenden Migration und spätestens ab 2015 sprunghaft an: Im Dezember 2016 besuchten 12 545 Schüler*innen 1 056 Willkommensklassen an allen Schulformen, aktuell (im Februar 2020 lag die letzte Abfrage vom November 2019 vor) werden 6 270 Schüler*innen in 540 Willkommensklassen unterrichtet. Für diese Klassen bestehen kaum verbindliche Vorgaben; nur der Leitfaden zur Integration neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher in die Kindertagesförderung und die Schule der SenBJF bieten eine grobe Orientierung. Hier ist festgelegt, dass die Kinder der Schulpflicht unterliegen und, falls keine ausreichenden Deutschkenntnisse vorhanden sind, in »vorbereitenden separierten Deutschlernklassen« beschult werden sollen (vgl. SenBJW 2016).7 Die Schulen sind darum gezwungen, weitgehend selbstständig Verfahrensweisen zur Organisation der Klassen zu entwickeln.8 Die Untersuchung ergab, dass meist alle strukturellen Überlegungen und die gesamte Organisation der Abläufe und der zu lehrenden Inhalte den Lehrkräften dieser Klassen obliegen. Eine Struktur dafür hat kaum eine der untersuchten Schulen entwickelt. Da kein Curriculum9 besteht, variieren die Lehrinhalte von Schule zu Schule und selbst von Klasse zu 5 6
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In der Berliner Tagespresse waren diese Klassen schnell als »Roma-Klassen« berüchtigt. Dass Schulen unvorbereitet seien und Ausbildung und Konzepte für den Umgang mit Schüler*innen mit Migrationserfahrung fehlten, wird seit Jahrzehnten fast wortgleich von Bildungsverwaltungen und Schulen wiederholt, wann immer eine größere Zahl an Menschen nach Deutschland migriert (vgl. Karakayalı 2020: 180ff.). Einige wenige Schulen folgen dem nicht und unterrichten die Kinder integrativ, d.h., dass diese in eine Regelklasse eingeschult werden und ergänzenden Deutschunterricht erhalten. Die SenBJW führt diese Möglichkeit nicht im »Leitfaden« auf. Auch in der hier referierten Studie wurden diese Klassen beforscht. Zu den Ergebnissen siehe Karakayalı u.a. 2020. Zu den weiteren Ergebnissen der Untersuchung vgl. Karakayalı u.a. 2017. Das Fehlen eines Curriculums wurde lange damit begründet, dass die Zusammensetzung der Willkommensklassen zu heterogen sei für ein einheitliches Curriculum.
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Klasse an einer Schule. Fachunterricht wie Mathematik, Englisch oder Sachunterricht finden nur sporadisch statt und wenn, dann nicht angepasst an das, was in der altersstufenentsprechenden Regelklasse gelehrt wird. Dies hat auch damit zu tun, dass viele der Lehrkräfte als Quereinsteiger*innen (13 von 18 aus dem Sample) keine Erfahrungen mit dem Regelschulbetrieb haben. Verbindliche Kriterien, anhand derer zu entscheiden wäre, wann Kinder in eine Regelklasse wechseln können, gab es zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht, viele Lehrkräfte (13) verließen sich auf ihre Intuition oder legten zusätzliche andere Kriterien zugrunde als nur die Deutschkenntnisse. Institutionalisierte Vorgaben, was das (Lern-)Ziel einer Willkommensklasse sein soll und wie dies zu erreichen wäre, fehlen also; verbindlich festgelegt ist nur, dass neuzugewanderte Kinder und Jugendliche ohne ausreichende Deutschkenntnisse, um dem Regelschulbetrieb folgen zu können, segregiert Deutsch lernen sollen. Hier stellt sich die Frage, wie Lehrkräfte ihre Aufgabe in den Willkommensklassen selbst definieren. Die Auswertung der Interviews ergibt, wie im Folgenden zu sehen ist, dass Lehrkräfte offensichtlich nicht nur die Vermittlung von Deutschkenntnissen als ihre Aufgabe ansehen, sondern darüber hinaus eigene Lernziele entwickeln. Diese ergeben sich aus den Vorstellungen der Lehrkräfte über die Schüler*innen, die auch kulturalisierende Zuschreibungen beinhalten. Insofern generiert die organisationale Praxis des fehlenden Curriculums ein natio-ethno-kulturelles Unterscheidungswissen.
Willkommensklassen als Lernorte für die Migrationsanderen Neben der Aufgabe, den neuzugewanderten Schüler*innen Deutsch zu vermitteln, ist eines der zentralen Themen in den Interviews, die mit Lehrkräften in Willkommensklassen geführt wurden, dass die Willkommensklassen auch als Ort verstanden werden, an dem die Kinder in Deutschland übliche Verhaltensweisen lernen sollen, die sie als Migrationsandere noch nicht kennen (können). Eine besondere Aufmerksamkeit erhält dabei das Sozialverhalten der neuzugewanderten Schüler*innen. Gerade in der Grundschule nimmt soziales Lernen generell einen vergleichsweise großen Raum ein im Gegensatz zu gegenstandsbezogenem Lernen, ebenso wie Bemühungen der Lehrkräfte um die Etablierung eines angemessenen Arbeitsverhaltens, das – ebenso wie das Sozialverhalten – im Regelschulbetrieb auch auf einem Zeugnisanhang bewertet wird (vgl. SenBJF 2018). Die Vermittlung eines spezifischen Sozial-
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verhaltens, das vor allem darin besteht, nicht die Abläufe des Schulbetriebs zu stören, wird dabei von den Lehrkräften zum Teil als wichtiger erachtet als die Vermittlung von Deutschkenntnissen. Wenn er sagt, öffnet die Hefte, dann müssen die das machen. Er wird nicht mehr die Zeit haben, so einzugehen, wie das jetzt vielleicht möglich ist bei einer Klassenstärke von zehn, wie es momentan ist. Es muss einfach alles viel, viel besser klappen und das ist halt das Wichtigste überhaupt, dass die Kinder es schaffen. Da ist es gar nicht so wichtig, dass sie die Zahlen bis 20 nicht können. (LK 16) Hier erscheint eine spezifische Disziplin, den Anweisungen einer Lehrkraft ohne Umstände nachkommen zu können als relevanter, als gegenstandsbezogenes Wissen zu erwerben. Die Fähigkeit, nach Aufforderung die Hefte öffnen zu können, wird hier mehr gewichtet, als die Fähigkeit zu verstehen, was in dem geöffneten Heft steht. Das Einüben des Einhaltens von Regeln wird denn auch zum zentralen Lernziel der Willkommensklasse erklärt: I: Ja. Und ähm [.] an welchen Lernzielen orientieren Sie sich? B: Lernzielen. Hm [.] gut. Also [.] man könnte es vielleicht soziales Lernen(lacht kurz) als soziales Lernen umschreiben. Also erst mal- also mir geht es nicht darum, dass sie die Buchstaben können, das ist schön, wenn sie das mitnehmen und auch das Rechnen. Sondern es geht darum, dass sie erst mal ähm überhaupt äh eine Idee haben, was Schule ist, viele waren noch nie in der Schule. Ähm also das Ankommen in der Schule ähm äh, mit ihnen gemeinsam [.] zu arbeiten, dass sie dann auch Regeln nicht nur verstehen, sondern auch einhalten. […] Und wie gesagt, nebenbei ähm äh auch die Buchstaben natürlich. (LK 7) Das Befolgen von Regeln wird zum Kern von dem, »was Schule ist«, erklärt. Der eigentliche, von der Senatsverwaltung für Bildung festgelegte Zweck der separaten Klassen, möglichst intensiv Deutsch zu vermitteln, um den Übergang in den Regelbetrieb zu ermöglichen (vgl. SenBJW 2016), tritt hier zurück hinter die allgemeine Idee der Einpassung der Kinder in institutionelle Abläufe in einer deutschen Schule. Auch wenn es grundsätzlich zur Aufgabe der Grundschule gehört, Regeln und ihre Einhaltung zu vermitteln, erscheint diese ungleiche Gewichtung zum gegenstandsbezogenen Lernen im Kontext der Willkommensklassen als besonders bedenklich. Denn die neuzugewanderten Schüler*innen sollen in der separierten Willkommensklasse eigentlich die Deutschkenntnisse erwerben, die sie brauchen, um dem Re-
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gelbetrieb folgen zu können. Das damit ohnehin zumeist schon verbundene Versäumnis eines altersentsprechenden Fachunterrichts (vgl. Karakayalı u.a. 2016) verschärft sich zusätzlich damit, dass die (begrenzt angelegte) Zeit in den Willkommensklassen eher für das Einüben von Verhaltensregeln genutzt wird als für die Vermittlung von Deutschkenntnissen, wenn das Erlernen von Buchstaben und Rechnen zur Nebensache, zu »schön, wenn sie das mitnehmen«, erklärt wird. Das Einhalten von Regeln zu vermitteln, erscheint den Lehrkräften auch darum als so relevant, weil sie offensichtlich davon ausgehen, dass die neuzugewanderten Schüler*innen einen besonderen Bedarf haben, den Umgang mit Regeln zu erlernen, weil sie dies noch nicht können. Der Grund dafür wird darin gesehen, dass diese Kinder andere, ungünstige Vorerfahrungen mitbringen. Dazu gehört nicht nur ein Mangel an Schulerfahrungen, sondern auch Schulerfahrungen, die hinderlich sind für die Beschulung in Deutschland. Die Arbeit am Arbeits- und Sozialverhalten wird so zur Bearbeitung der angenommenen kulturellen Differenz der Schüler*innen. Denn im Kontext der Willkommensklassen fungiert der Rekurs auf das Arbeits- und Sozialverhalten auch als Markierung der Migrationsanderen: [W]eil sie sechs Wochen brauchen um hier anzukommen und überhaupt zu lernen, wie funktioniert der Schulalltag, dass man sich ja doch anders benimmt, als in ihren Heimatländern, dass es keine Schläge gibt und dass man trotzdem diszipliniert sein muss und solche Sachen. Das ist schon wichtig, dass sie das in der Willkommensklasse lernen. (LK 2) Die durchaus heterogenen »Heimatländer« der neuzugwanderten Schüler*innen werden in diesem Zitat homogenisiert und einem Schulalltag »hier« gegenübergestellt. Dieser muss in der Willkommensklasse separat erlernt werden, unter anderem deshalb, weil von den Schüler*innen angenommen wird, dass diese sich ohne die Anwendung von Gewalt nicht diszipliniert verhalten werden, weil die Anwendung von Gewalt zur Normalität in Schulen außerhalb von Deutschland gehört. Die Gegenüberstellung von brutalen schulischen Erziehungsmethoden überall außerhalb von und einer Schule, die ganz ohne diese Methoden auskommt in Deutschland, reproduziert dabei Vorstellungen von (unterdrückender) Rück- und (befreiender) Fortschrittlichkeit (vgl. Tiefenbacher 2012). Unter den Lehrkräften scheint es dabei unterschiedliche Auffassungen davon zu geben, wie dieses Sozialverhalten besonders gut zu erlernen sei: entweder separat in der Willkommensklasse oder gemeinsam mit anderen, »deutschen« Kindern:
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[U]nd die Hälfte unserer Arbeit hier ist ja nicht nur Spracharbeit und- und Wissen vermitteln, sondern Verhalten. Und das lernen sie eigentlich besser, wenn sie unter, sage ich mal zweidrittel Deutscher oder zumindest hier sozialisierter Kinder sind, als wenn sie alle unter sich sind und wieder ihre Sprache gleich reden. (LK 1) Hier erscheinen »Deutsche oder zumindest hier sozialisierte« als Vermittler*innen, die dabei helfen, dass die neuzugewanderten Schüler*innen das erwünschte Sozialverhalten übernehmen. Damit das wirkungsvoll sein kann, wird ein spezifisches Mischungsverhältnis für notwendig befunden, wie es im Kontext von Schule und Migration immer wieder diskutiert wird (vgl. Karakayalı/zur Nieden 2019; 2020) sowie im gesamtgesellschaftlichen Diskurs um Integration (vgl. Karakayalı 2007). Dabei wird in dem Zitat das Sozialverhalten gleichgesetzt mit einem Sprachverhalten: Das erwünschte und noch zu erlernende Sozialverhalten kann offensichtlich nicht erworben werden, wenn dabei eine andere Sprache als Deutsch gesprochen wird. Hier wird ganz im Sinne des oben beschriebenen Othering anhand der Sprache eine Grenze gezogen zwischen den Neuzugwanderten und den Fraglos-Zugehörigen (vgl. Broden/Mecheril 2007: 21), wobei die Sprachkenntnisse mit einer spezifischen Verhaltenszuschreibung amalgamieren. Der oben bereits thematisierte Topos der anderswo als in Deutschland herrschenden rohen Gewalt wird aber nicht nur auf die gewaltvolle Struktur der Schule in anderen Ländern bezogen, sondern auch auf das Verhalten der migrationsanderen Schüler*innen: [W]o es viel, viel mehr noch um Sozialverhalten und soziales Lernen geht, als um äh- als um jetzt äh Sprache lernen und Schreiben lernen. Das machen die auch, ne? Klar. Aber [.] also äh [.] ganz einfach, äh ganz- ga- sich an Regeln halten, äh was ist überhaupt eine Regel und warum macht man das, etwas gemeinsam tun, Sachen aushandeln und nicht gleich draufhauen, ne? Solche Sachen. (LK 5) Das Aushandeln von Konflikten wird hier als weiterer Lerngegenstand identifiziert, wobei angenommen wird, dass die Neuzugewanderten dies noch nicht beherrschen, sondern im Gegenteil »gleich draufhauen«. Hier scheint sich ein auch medial stark verbreiteter Diskurs von migrantischen Männlichkeiten als »bedrohliche Andere« zu spiegeln, auch wenn an dieser Stelle nicht nach Geschlecht differenziert wird, wer da »gleich draufhaut« (vgl. Fegter 2013). Während den Schüler*innen hier eine Art archaisches Faustrecht zugeschrieben wird, das sie an die Schule in Deutschland mitbringen, wird die Notwendig-
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keit des Erlernens eines friedlichen Umgangs auch darum gesehen, weil die Lebensbedingungen in den Sammelunterkünften Gewalt produzieren (Fried u.a. 2018): B: Die Lernziele. Ja, im Prinzip ähm ja. Vielleicht könnte man das auch noch so formulieren, dass man das Lernziel, man beschimpft sich nicht gegenseitig, man akzeptiert sich gegenseitig, man respektiert sich und [.] man fängt nicht an äm wie- [.] dem die Grabenkämpfe irgendwie aus dem Hangar [Sammelunterkunft für Geflüchtete] mitzubringen. Ist aber schwer. Weil das ist das, was sie lernen. (LK 8) Neben einem spezifischen Verhalten sind es aber auch andere Fähigkeiten und Techniken, die den Lehrkräften als erlernenswert erscheinen und für die die Unterrichtszeit in den Willkommensklassen genutzt wird. Dazu gehört insbesondere das in Bildungseinrichtungen in Deutschland breit etablierte und sehr geschätzte Basteln.10 Das Erlernen von Basteltechniken wird dabei als notwendiger Unterrichtsinhalt betont. Die vielfältigen möglichen positiven Aspekte des gemeinsamen Bastelns – Förderung von Kreativität und Feinmotorik etwa oder die Tatsache, dass es sich hier um eine weitgehend nonverbale Tätigkeit handelt (Kirchner 2009) – stehen dabei offensichtlich nicht im Vordergrund: Wenn ich mit den Kinder, es ist ja auch wichtig andere Fertigkeiten, nicht nur das Schreiben, sondern auch, wie gehe ich mit einer Schere um, wie klebe ich, vor allem, wie verhalte ich mich mit einer Schere, dass ich die nur in der Hand habe, wenn ich schneide und sonst liegt sie auf dem Tisch, sowas muss man ja alles schulen. Schule heißt ja nicht nur Schreiben und andere Sachen, auch mit einem Kleber umzugehen und grade zu schneiden, Kreise zu schneiden, das sind ja alles Sachen, die ich auch gerne fördern möchte. (LK 16) Der Umgang mit Schere und Kleber erscheint als ein herausforderungsvoller eigener Unterrichtsgegenstand, der im Rahmen einer eigenen »Schulung«
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Die Häufigkeit und Ausführlichkeit, mit der die interviewten Lehrkräfte das Basteln als wichtigen Unterrichtsgegenstand thematisieren, steht in Kontrast zur vergleichsweise ›dünnen‹ Fachliteratur zu diesem Thema. Möglicherweise spiegelt sich hier die starke Ausrichtung der Schule an Werten der Mittelschicht. So weist die Sinus-Milieustudie die hohe Relevanz von Hand- und Bastelarbeiten für Mittelschichtsmilieus nach (vgl. Sinus 2004).
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von Grund auf erlernt werden muss und der ähnlich viel Aufmerksamkeit verlangt wie das Erlernen der deutschen Sprache. Diese hohe Gewichtung des Bastelns als notwendige und zu erlernende Fertigkeit wird von vielen Lehrkräften geteilt. Dies spiegelt sich auch in Zertifikaten wie z.B. dem »Scheren-Führerschein« (Roessler 2018), der auch in Regelklassen zur Anwendung kommt. Im Kontext der Willkommensklassen wird nicht Basteln zu können bzw. noch nie gebastelt zu haben allerdings als ein kulturelles Defizit der neuzugewanderten Schüler*innen gedeutet, das es zu beheben gilt. Und, im Umkehrschluss, wird Basteln als Ausdruck einer spezifischen Kultur in Deutschland, als Kulturtechnik verstanden: »Ich habe also Musik. Ich habe Kunstunterricht, wo ich malen lasse, aber auch Formen zeichnen, schneiden. Kulturtechniken, die ihnen zum Teil überhaupt noch nicht bekannt sind« (SL 7). Dieses Defizit im Bereich des Bastelns wird als so gewichtig gedeutet, dass die Willkommensklasse – die ja qua Definition eine Schulklasse ist – zur Vorschule uminterpretiert wird, indem sich die Lehrkraft darauf orientiert, den Schüler*innen den Umgang mit Materialien nachholend beizubringen, den Kinder in Deutschland ihrer Meinung nach bereits erlernt haben, noch bevor sie in die Schule kommen. Und natürlich habe ich festgestellt, dass die Kinder, die ganz ohne Deutschkenntnisse sind, nicht nur ganz ohne Deutschkenntnisse sind, sondern auch Kindergartenjahre fehlen. Ja? Und äh dass sie keine Schere halten können, oder- oder die Farben nicht kennen, [.] mit einem Stift äh nicht mal ihren Namen, was unsere Fünfjährigen hier natürlich schon liebend gerne machen. Also ohne jegliche Vorkenntnisse hier reinkommen. Und das ist, was ich hier mache, das ist so eine Art Vorschule, Vorbereitung, Fitmachen für die Schule. (LK 6) Die Kinder in Deutschland erscheinen dabei den neuzugewanderten Kindern als überlegen; die neuzugewanderten Schüler*innen müssen erst einmal auf den Stand der in Deutschland geborenen Fünfjährigen gebracht werden. Das Schreibenkönnen des eigenen Namens wird hier, ganz im Sinne des Otherings, zu einem Unterscheidungsmerkmal zwischen »uns« und »ihnen«. Im Berliner Schulsystem ist eine Rückstellung von der Einschulung wegen fehlender Kindergartenjahre nicht zulässig. Im Fall dieser Willkommensklasse allerdings wird die ganze Klasse zur Vorschulklasse umgedeutet, womit kein altersadäquates gegenstandsbezogenes Lernen mehr angeboten wird. Der Mangel an notwendigen Fähigkeiten, um in der deutschen Schule bestehen zu können,
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wird aber auch auf die als nicht angemessen empfundenen Erziehungsmethoden der neuzugewanderten Eltern zurückgeführt, die ihre Kinder nicht so fördern, wie es in den Augen der Lehrkraft nötig wäre: Hier kommen Kinder rein, Acht- Neunjährige die von ihren Eltern äh mitgebracht werden, wo die Jacke noch ausgezogen wird, wo die Schuhe hingestellt werden von den Eltern, dachte ich oh Moment mal, es muss zur Selbständigkeit erzogen werden, es müssen äh Wege gelernt werden, also Orientierung ist- äh ist noch nicht da. Also vieles ist nicht da, was an normalen Klassen auf Anhieb erwartet wird, ja? Ein Tempo beim Umziehen äh für die Sportstunden. (LK 6) Auch hier werden Lernziele formuliert, die nichts mit dem Erlernen der deutschen Sprache zu tun haben. Vielmehr muss hier der behütende Erziehungsstil der Eltern der neuzugewanderten Schüler*innen von der Lehrkraft ausgeglichen werden, durch eine andere Art der Erziehung. Denn dieser verhindert, dass die Kinder im Regelbetrieb mitmachen können, ohne ihn wegen langsamen Umziehens oder aus Unkenntnis von Wegen zu stören. Die Willkommensklasse wird zu einem Ort, an dem diesem als problematisch empfundenen Erziehungsstil etwas anderes entgegengesetzt werden kann. Diese Problematisierung des Verhaltens der Eltern deckt sich mit den Ergebnissen der Forschung zum Umgang von Schulen mit Eltern mit Migrationshintergrund generell, die häufig als Bildungshemmnis konstruiert werden (Kollender 2016; Bender-Szymanski/Hesse 1987). Als ein weiterer, zu lernender Inhalt jenseits des Deutschen erscheint den Lehrkräften das Geschlechterverhältnis. Eine der im Interview gestellten Fragen lautete: »Sehen Sie einen besonderen Unterstützungsbedarf für Mädchen?« Von 18 befragten Lehrkräften haben 13 diese Frage explizit verneint oder darauf hingewiesen, dass sie Unterschiede zwischen den Kindern eher am Charakter als am Geschlecht festmachen würden. Nur fünf der Lehrkräfte haben entweder als Antwort auf diese Frage oder von sich aus das Thema der Geschlechterverhältnisse in den ›Willkommensklassen‹ der Kinder, die diese Klassen besuchen, problematisiert (vgl. Karakayalı u.a. 2016). Dabei wurde jeweils die Vorstellung formuliert, dass es ein spezifisches Geschlechterverhältnis in Deutschland gäbe, das von den neu hinzukommenden Kindern erst »erlernt« werden müsse. Ja, natürlich auch so ein bestimmtes Regularium zu erlernen. Also Deutsch ist schon sehr, also nicht die Deutsche Sprache, sondern Deutschland ist
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schon sehr so von… Ich glaube, wir haben sehr, sehr viele Regeln. Wir lieben wahrscheinlich auch Regeln, keine Ahnung. Wir wollen dann auch noch so unglaublich demokratisch sein. Ich versuche, das auch mit ihnen einzuüben. Zum Beispiel vorhin, das war ein ganz kleiner Impuls bei diesem Mikado. Was sind denn jetzt eigentlich eure Regeln? Wie läuft das denn hier eigentlich? Geht es jetzt darum, dass die Mädchen immer gegen die Jungs verlieren? Also stärker, schwächer? (LK 18) Wie auch schon in anderen Zitaten wird hier das Erlernen eines Regulariums zum Lerngegenstand in Willkommensklassen erklärt, wobei sich dieses Regularium nicht nur auf die Schule, sondern auf ganz Deutschland bezieht, das – hier scheint ein impliziter Vergleich auf – in Relation zu anderen Ländern durch sehr viele Regeln gekennzeichnet ist. Ebenso wie Regeln muss Demokratie mit den Kindern in Willkommensklassen eingeübt werden, weil die diese offensichtlich nicht beherrschen. Eine Gelegenheit für dieses Einüben stellt das Mikadospiel dar, bei dem, so erscheint es hier, die undemokratischen Regeln der natio-ethno-kulturell anderen Schüler*innen offensichtlich werden, nämlich dass die Mädchen immer gegen die Jungen verlieren. Die Schüler*innen, so die Annahme, müssen erst noch lernen, dass in Deutschland nicht immer die (stärkeren) Jungen gewinnen. Problematisierungen des Geschlechterverhältnisses werden auch von den Schulleitungen vorgenommen, die allerdings jeweils darauf verweisen, dass sie mit den Kindern direkt gar keinen Kontakt haben, sondern nur von Kolleg*innen »etwas« gehört hätten. Während auf das Verhalten der Mädchen eher wenig detailliert eingegangen wird – es finden sich allenfalls allgemeine Bemerkungen darüber, dass Mädchen in den Herkunftsgesellschaften wenig berücksichtigt werden –, wird das Verhalten der Jungen problematisiert, die in einem besonderen Aufmerksamkeitsfokus zu stehen scheinen, wobei deren als dominant charakterisiertes Verhalten zum Teil auf deren Muslimischsein zurückgeführt wird und den Diskurs um ein spezifisch muslimisches Geschlechterverhältnis spiegelt (zum antimuslimischen Rassismus Shooman 2014). Darüber hinaus finden sich in den Interviews mit den Lehrkräften und Schulleitungen allerdings vielfältige Thematisierungen von Geschlecht, die auf eine eher traditionelle Vorstellung von heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit bei den Interviewten selbst verweisen und die alles andere als geschlechteregalitär sind. So wünschen sich viele Lehrkräfte mehr Mädchen in der Klasse, weil die ruhiger seien, Mädchen werden sehr viel häufiger als Übersetzerinnen für die Eltern erwähnt, eine Lehrerin wünscht sich einen starken Mann an
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ihrer Seite, der sie im Falle von körperlichen Auseinandersetzungen schützen könne, eine Mädchenfußballmannschaft wird als witzig empfunden, insbesondere wenn Mädchen mit Kopftuch mitspielen, und Lehrerinnen werden als natürlich mütterlich bezeichnet. Warum Geschlecht in den Interviews vergleichsweise wenig thematisiert wird – zumindest gemessen am gesamtgesellschaftlichen Diskurs um die Gefährlichkeit gerade auch der männlichen Migrationsanderen – kann hier nicht geklärt werden.
Othering als Orientierung in der Unterrichtsgestaltung Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Beschulung in Willkommensklassen in hohem Maße von Quereinsteiger*innen gestaltet wird und sich durch einen Mangel an Vorgaben in Bezug auf Lernziele und -materialien auszeichnet. Durch diesen Mangel an Vorgaben bei gleichzeitiger segregierter Beschulung und damit einhergehender weitgehender Entkopplung vom Regelschulbetrieb müssen die Lehrkräfte eigene Lernziele bestimmen. Dabei folgen sie einerseits der in der Grundschule gängigen Orientierung auf das Sozial- und Arbeitsverhalten. Diese wird allerdings kulturalisiert. In den Interviews finden sich vielfältige Annahmen über die neu zugewanderten Kinder und ihr kulturell begründetes Anderssein, mit dem dann die Notwendigkeit eines spezifischen Unterrichtsangebots begründet wird. So wird das Nichtbeherrschen bestimmter Verhaltensweisen und Techniken hervorgehoben, wie der Umgang mit Stift, Schere und Papier, Pünktlichkeit, Selbstständigkeit und Disziplin, deren Vermittlung eigentlich zu den Kernaufgaben der Grundschule gehört, die aber in den Interviews als spezifisches kulturelles Defizit erscheinen. Ganz offensichtlich lassen sich die Lehrkräfte hier von einer defizitären Perspektive auf die Schüler*innen leiten, die dann auch zur Identifikation notwendiger Lehrinhalte führt, in der die Vermittlung von Deutschkenntnissen nur als eine Aufgabe unter vielen weiteren zu vermittelnden Inhalten erscheint. Hier findet sich das Unterrichtskonzept »Soziales statt Lernen« wieder, das bei Lehrkräften beobachtet wurde, die gegenüber als »schwierig« wahrgenommenen Schüler*innen die Arbeit an deren Sozialverhalten in den Vordergrund rücken und demgegenüber den Fachunterricht vernachlässigen (vgl. Herrmann 2010). Das Kennenlernen möglicherweise anderer Verhaltensweisen, wie beispielsweise einem anderen Geschlechterverhältnis, wird in den für Schule üblichen didaktischen Formaten formuliert, die aus »zeigen«, »erlernen«, »einüben« und »verstehen
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müssen« bestehen (vgl. Helsper 2001). Die von den Kindern bereits gemachten Erfahrungen werden dabei nicht als Ressource gesehen, an die in einer pluralen Gesellschaft angeknüpft werden kann, vielmehr scheinen zuvor gemachte Erfahrungen ganz im Sinne des gesellschaftlichen Diskurses um Integration überschrieben werden zu müssen (vgl. Karakayalı 2009). Gleichzeitig wird die Schule in ihrem Regelbetrieb als problematisch beschrieben, weil dort ein gewisses Funktionieren der Kinder vorausgesetzt und Schnelligkeit und Disziplin erwartet werden bei gleichzeitig unzureichendem Betreuungsschlüssel. Letztendlich wird aber nicht eine allgemeine Kritik an den für alle problematischen Verhältnissen (schlechter Betreuungsschlüssel, Zeit- und Notendruck) in der Schule formuliert, sondern diese allgemeinen Probleme werden als Probleme der Gruppe der neu zugewanderten Kinder beschrieben. Die in den Interviews vorgenommenen Kulturalisierungen schließen an andere Befunde zu Othering in der Schule an (vgl. Pörnbacher 2011; Rose 2012; Weber 2003). Die Besonderheit besteht darin, dass sie im Kontext der Willkommensklassen in besonderer Weise wirksam werden, da die oft unzureichend ausgebildeten Lehrkräfte bei fehlender struktureller Unterstützung auf stereotypisierende und homogenisierende Zuschreibungen zurückgreifen und diese in Ermangelung curricularer Vorgaben zur Orientierung in ihrer Unterrichtsgestaltung werden. Die organisationale Praxis der Segregation verbindet sich mit einem Unterscheidungswissen der Lehrkräfte über die Migrationsanderen und wird zum strukturierenden Moment der Unterrichtsgestaltung.
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Feministisch begründete Deutungshoheiten und Zusammenhänge in Geschlechterdiskursen über Musliminnen in Deutschland1 Meltem Kulaçatan
Einleitung Im Januar 2018 wurde der Berliner Hauptbahnhof zum Schauplatz gesellschaftspolitischer Bruchlinien der sich in Deutschland seit Jahren zuspitzenden sogenannten Kopftuchdebatte. Dort waren nämlich große Werbeplakate der Süßwarenfirma Katjes zu sehen. Die Firma bewirbt ihre Produkte auch deshalb so erfolgreich, weil sie frei von tierischen Zusatzstoffen ist. So weit, so gut! Allerdings wurde die Firma im Zuge ihrer Kampagne zum neuen Sortiment des veganen »Alles Veggie«-Angebots2 zur Zielscheibe antimuslimischer Rassismen und Ressentiments, die sich spezifisch gegen Kopftuch- bzw. Hijab-tragende Muslim*innen richteten. Unter dem Begriff antimuslimischer Rassismus können folgende Signifikanzen festgehalten werden: Die Historikerin Yasemin Shooman beschreibt 2011 im Zusammenhang mit dem antimuslimischen Rassismus folgende Charakteristika und Dynamiken: Die Einstellungen von Menschen gegenüber Gruppen basieren nicht auf individuellen Vorlieben und Abneigungen, vielmehr handelt es sich bei der Frage, welche Gruppen als fremd wahrgenommen werden, um einen aktiven Konstruktionsprozess, in dessen Rahmen bestimmte Bilder und Stereo-
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Dieser Artikel erscheint im Kontext des vom LOEWE-Programm des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst geförderten Forschungsschwerpunkts »Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten« an der Goethe-Universität Frankfurt. Vgl. www.katjes.de und www.youtube.com/watch?v=v1j4sSl7Gog.
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type produziert werden und als soziales Wissen kursieren. Wie solche Diskurse entstehen und gesellschaftlich wirksam werden, hat viel mit Machtund Dominanzverhältnissen in einer Gesellschaft zu tun. Shooman zufolge führt das zu Machtasymmetrien zwischen der sogenannten Mehrheitsgesellschaft und marginalisierten Minderheiten. Kritiker/-innen dieses Begriffs betonen, dass es keinen spezifischen antimuslimischen Rassismus gebe. Schließlich handle es sich um eine Religionszugehörigkeit und nicht um eine Ethnie. Die Religionswissenschaftlerin und Soziologin Naime Çakır (2019) betont hingegen, dass es sich bei den gegenwärtigen Formen der Islamfeindlichkeit um antimuslimischen Ethnizismus handelt: »Ein antimuslimischer Ethnizismus ist demnach keine Religionskritik, da es sich hier um keine sachlich-fundierte Auseinandersetzung mit den islamischen Quellen bzw. mit der islamischen Geistesgeschichte und deren kulturellen Erbe handelt.« Diese Dynamik ist laut Çakır für die Homogenisierung einer bestimmten Menschengruppe charakteristisch, indem die Differenzbestärkung betont wird und die Unterschiede sowie Unvereinbarkeiten besonders hervorgehoben werden (ebd.). Mit Blick auf die in Europa lebenden Muslim*innen und den antiislamischen Ethnizismus (Çakır 2018) bedeutet das, dass einer Menschengruppe von weltweit ca. 1,5 Milliarde Muslim*innen, die in Sprache, Traditionen, Länderspezifika, Historie, Lebensstilen und Spiritualität heterogen sind, Vielfalt abgesprochen wird; sie werden als homogene Einheit einem als Ganzheit imaginierten Islam einverleibt. Auch der Soziologe James Carr verwendet den Begriff »Anti-Muslim Racism« (2014). Carr untersuchte Phänomene des antimuslimischen Rassismus in Irland mit einem besonderen Augenmerk auf Geschlechter-spezifischen Aspekten. Der Sozialwissenschaftler Ozan Zakariya Keskinkılıç definiert unter antimuslimischem Rassismus verschiedene »wirkmächtige Diskurse« und Praktiken, die Menschen, die als Muslim*innen wahrgenommen, markiert und kategorisiert werden, zur »Zielscheibe von Anfeindungen und Diskriminierungen« machen (2016). In der Katjeswerbung werden die Süßigkeiten von einem Model genascht, das einen Hijab trägt. Passend zur Katjesgrundfarbe trägt sie ihren Hijab in Pink-Rosa. Dass vegetarische und vegane Produkte zunehmend einen festen Platz nicht nur bei Süßigkeiten, sondern in vielen Segmenten der Lebensmittel- und Bekleidungsindustrie einnehmen und sich erfolgreich vermarkten lassen, hat nicht nur mit dem Trend zur gesunden Convenience als Lifestyle zu tun. Vegane Produkte werden sowohl von vegetarisch
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orientierten Kund*innen als auch von Muslim*innen und Jüd*innen in Deutschland gekauft, denen die Einhaltung religiöser Speisevorschriften wichtig ist. Die in Rede stehende Firma hat sich dadurch werbestrategisch einen neuen Kundenkreis erschlossen. Diese Form der Werbestrategie trat vor allem während der 1990er- und 2000er-Jahre unter dem Begriff »Ethno-Marketing« auf den Plan. Gemeint sind hierbei Produkte und Lebensmittel für Konsument*innen, und zwar unabhängig von ihrer Verweildauer sowie ihrer tatsächlichen Herkunft in Deutschland, deren Konsumorientierung von einem Großteil der normalerweise verfügbaren Waren zwischen Banane, Milch und Leberwurst nicht abgedeckt wird. Der Begriff ist allerdings insofern problematisch und deshalb diskussionswürdig, da er a priori von ethnisch kategorisierbaren Konsument*innen ausgeht, deren Kaufverhalten herkunftsspezifisch ausgeprägt sei. In Deutschland wurden mit dieser Strategie anfangs vor allem Menschen mit russischer oder türkischer Herkunftsbiografie erfasst. Dazu gehören insbesondere Lebensmittel sowie weitere Haushaltswaren, aber auch Kosmetika, Kleidung und Finanzprodukte sowie Autos. Deutschland hat im Vergleich mit anderen Einwanderungsländern erst spät die Lukrativität dieser Form des Marketings und Verkaufs entdeckt (Wildberger 2006). Insofern steht die Firma Katjes zunächst in einer bewährten Tradition der Erweiterung des Sortiments und der dazu gehörigen Werbestrategie. Man könnte fast sagen: Die Aktion war überfällig. Was den Islam angeht, adressiert die Firma ihr Marketing an Kund*innen, deren Essgewohnheiten halāl sind. Diese arabische Vokabel3 besagt, dass die konsumierten Lebensmittel zum einen den religiösen islamischen Vorschriften entsprechen, zum anderen zumindest nicht gesundheitsschädlich sind. Aus dem Werbefoto ist nur mit Einschränkung erkennbar, ob es sich um eine Muslimin oder möglicherweise um eine fromme Jüdin oder Christin handelt – selbiges könnte genau so für jedes Model ohne Hijab auf ähnlichen Werbeplakaten von Katjes gelten (Leretz 2018). Tatsächlich handelt es sich bei dem abgelichteten Model um Vicenca Petrovic, die serbischer Herkunft ist und in Berlin lebt. Petrovic selbst gibt an, christlich-orthodox zu sein. Diese Spielart der oszillierenden Indifferenz mag bewusst initiiert sein und als Sinnbild für die diverse sowie offene Gesellschaft gelten. Sie orientiert sich 3
Koran 2:168. »Halālan tayyiban« bedeutet so viel wie »gesund und rein«; die hier verwendeten Transkriptionen aus dem Arabischen folgen nicht dem Standard der DMG, sondern einer vereinfachten Form.
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jedoch primär an werbestrategischen Kriterien, mittels derer neue Kund*innen angesprochen werden sollen. Ob es der Firma also um ein Plädoyer für die plurale Gesellschaft geht, sei dahingestellt. Aber dass sich Menschen angesprochen fühlen, deren Herz für Vielfalt schlägt, liegt nahe. Insofern ist es nur konsequent, dass hier vorrangig nach einem professionellen Model gesucht wurde und andere Kriterien, etwa ob sie nun wirklich Muslimin ist oder nicht, in den Hintergrund rücken. Wegen ihrer Werbeplakate sah sich die Firma Katjes mit harschen Reaktionen konfrontiert. Die Kommentare in sozialen Netzwerken richteten sich gegen das Model, die von den Kritker*innen als Muslimin markiert wurde. Formuliert wurde die »Angst vor der Islamisierung Deutschlands« sowie dem »falschen Signal« – man könnte doch keine junge Frau mit Hijab abbilden, wenn doch jeder wisse, dass das islamische Kopftuch ein Mittel der Unterdrückung sei (Wollny 2018). Der Firma Katjes wurde zur Last gelegt, sie verharmlose durch ihre Werbung die Zurücksetzung muslimischer Frauen. Der Süßwarenhersteller erklärte daraufhin, dass die Zielgruppe von Katjes vielfältig sei.4 Die aktuelle Werbekampagne adressiere junge Frauen, die »Spaß am Leben haben und sich dabei bewusst ernähren«. Es geht um eine ganz normale »Kundenakquise« mit dem Ziel, sich eine konsumfreudige sowie ernährungsbewusste neue weibliche, junge und urbane Klientel zu erschließen. Von anderer Seite wurde die Firma Katjes dahingehend kritisiert, dass sie ja gar kein »echtes muslimisches Model« engagiert hätte. Von daher sei die Glaubwürdigkeit der Firma rundheraus infrage zu stellen – ihren Produkten sei zu misstrauen, was die Medienmacherin Esra Karakaya betonte (Bordoğan 2018). Allerdings hatten bereits andere Großkonzerne wie L’oreal muslimische Models engagiert (Young 2018).5 Dazu gehörte die Britin Amena Khan Leicester, die nach wie vor erfolgreich in der Branche tätig ist. Der Journalist Michael Wollny (2018) fragt mit Blick auf die islamfeindlichen Reaktionen deshalb zu Recht:
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Vgl. www.morgenpost.de/vermischtes/article213277805/Aerger-fuer-Katjes-wegenKopftuch-Werbung.html (Zugriff: 30.04.2020). Mittlerweile ist die Geschäftsverbindung zwischen Amena Khan und der Kosmetikfirma L’Oreal aufgrund ihrer antiisraelischen Tweets aus ihrer Vergangenheit aufgelöst worden. Im Frühsommer 2020 hat Amena Khan ihren Hijab abgelegt, was sie medienwirksam auf ihrem Instagram-Account dokumentiert hat ((https://www.instagram. com/amenakhan/).
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Wenn ein Süßwarenhersteller in Deutschland mit Schimpf und Schande überzogen wird, weil er für ein vegetarisches Produkt wirbt, dann wirft das zunächst die Fragen nach der Dünnhäutigkeit überzeugter Fleischkonsumenten auf. Wenn dann aber klar wird, dass sich der Zorn gegen naschende Muslime richtet, lautet die Frage: Was läuft hier eigentlich falsch? Der Unmut oder die Wut der Kommentator*innen in den sozialen Medien richtete sich vor allem gegen in Deutschland lebenden Musliminnen, die hier als Beleg für die vermeintliche Islamisierung Deutschlands angeführt werden. Darüber hinaus sehen die Nutzer*innen und Kommentator*innen Aspekte und Anliegen der Gleichberechtigung in Deutschland in Gefahr, wenn Frauen mit Hijab über die Werbung repräsentiert und damit Normalität signalisiert wird: Wer Katjes isst, gehört dazu – mit oder ohne Tuch. Aufschlussreich an dieser Debatte ist, dass die Diskussion um werbungsbasierte Präsentation von gleichberechtigter Teilhabe, Zugehörigkeitsnormalität und Repräsentation sogenannter Minderheiten (Stichwort Ethnomarketing) über das Konsumverhalten und moderne Konsummittel, wozu sich die Firma Katjes zum Teil selbst in ihrer Argumentation positioniert, nicht kritisch genug hinterfragt wird. Die Anmutung von Repräsentation wird hier auf die erwünschte Teilhabe am Konsum zurückgeführt und steht in einem reziproken Verhältnis zur vollwertigen Anerkennung als Person. Im Kontext dieser Kritik stellten die Medienmacherin Esra Karakaya und ihre Gäste in ihrer Sendung BlackRockTalk die Authentizität des Süßwarenherstellers von Katjes infrage. Die zunächst positiv empfundene Repräsentierung einer Muslimin als gesellschaftliche Normalität durch das Werbemodell wich der Ernüchterung, als deutlich wurde, dass es sich nicht um eine »echte Hijabi« handelt, sondern um ein Model, das (eigentlich) kein Kopftuch trägt.6 Eine Möglichkeit zur Auflösung der möglichen Ambivalenzen in diesen Werbeformaten wäre, wenn sich beispielsweise Aktivist*innen und Medienmacher*innen wie Esra Karakaya mit der entsprechend beauftragten Werbeagentur im Vorfeld im Sinne einer pluralen und diversen Repräsentanz beraten könnten. Ein weiterer problematischer Aspekt, der einer eingehenden Betrachtung bedarf, ist die Frage danach, inwieweit der weibliche Körper als ökonomische und optimierbare ästhetische Ressource dient – und in welcher Form genau Frauen mit Hijab dabei der Vermarktbarkeit von Produkten dienen. Sonja Eismann (2014) merkt dazu an:
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Vgl. www.youtube.com/watch?v=th0xyWTMcb0 (Zugriff: 30.04.2020).
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Auch wenn die Idee, dass mit diesen endlich Bilder von Frauen, die quasi nirgends zirkulieren bzw. aufgrund bestehender Schönheitsstandards von Medien und Werbung zensiert werden, sichtbar werden und so ein stärkendes Gefühl von Gemeinschaft entsteht (z.B. für Women of Colour, dicke oder ältere Frauen), das individuell – glücklicherweise – als extrem empowernd erfahren wird, so ändern diese Abbilder jedoch nichts daran, dass die Wertigkeit von Frauen anhand ihrer Körper bemessen wird. Anhand der üblichen Topoi und Diskussionen werden der Hijab bzw. das Kopftuch zur Projektionsfläche, auf der diffuse Ängste um die Aufweichung der Frauenrechte in Deutschland ausgetragen werden. Ähnlich wie in den »Diskursexplosionen« nach Köln (Amir-Moazami 2016) werden hier Frauenrechte im Kontext nationaler Narrative und Metanarrative entdeckt, verteidigt und rekonstruiert. So wird, berechtigt oder nicht, der Sorge Ausdruck verliehen, dass zugunsten von »Minderheiten« Frauenrechte ausgespielt werden und folglich die Umsetzung von Frauenrechten verebbt (Holzleithner 2009). Eine in diesem Zusammenhang aus der jüngsten Vergangenheit aktive und medial erfolgreiche Gruppe sind die Initiatorinnen des Hashtags 120db.7 Dabei handelt es sich um junge Frauen, die der identitären Bewegung angehören. Hinter dieser Fahne versammeln sich unterschiedliche identitär orientierte Gruppierungen, die völkisch und ethnopluralistisch sowie kulturrassistisch orientiert sind. Identitäre Aktivist*innen gehen von geschlossenen Kulturkreisen aus, die aus »biologisch reinen« Volks- und Abstammungsgemeinschaften bestehen. Die Aktivist*innen kritisieren vor allem die Erosion der ethnischen Reinhaltung des europäischen Kulturkreises durch die sogenannte Islamisierung Europas. Unter dem Hashtag 120db prangern die identitären Aktivist*innen den Verlust ihres Schutzes in Europa und Deutschland durch »importierte« sexuelle Gewalt an und fordern vor allem »autochthone« Frauen dazu auf, sich eigenständig zu wehren, da die Rechtsmittel und die Rechtsstaatlichkeit in Europa und Deutschland versagten. Sie bezeichnen ihre Aktion als den »wahren Aufschrei«8 in Anspielung an den #Aufschrei aus dem Jahr 2013, den die Journalistin Anne Wizorek9 gemeinsam mit Kollegin-
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Vgl. www.youtube.com/watch?v=FSXphiFknyQ (Zugriff: 30.04.2020). So stand es auf der ehemaligen Internetseite zu lesen: www.120db.info; vgl. nun https://twitter.com./120dezibel (Zugriff: 30.04.2020). Vgl. www.annewizorek.de/buch (Zugriff: 30.04.2020).
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nen ins Leben gerufen hatte, nachdem der ehemalige FDP-Politiker Rainer Brüderle die Journalistin Laura Himmelreich sexuell belästigt hatte. Die Macherinnen von #120db bedienen sich der Vorarbeit von Frauen, die sich öffentlich gegen sexualisierte Gewalt und sexuelle Belästigungen wehren, werten sie aber zugleich dadurch ab, dass deren Erfahrungen nicht ernst genommen werden. In ihrer Videobotschaft missbrauchen die Frauen Todesopfer sexualisierter Gewalt aus der jüngsten Gegenwart, die durch migrierte oder geflüchtete Männer verübt worden sind. Sie stilisieren ihre Anklage als eine Stimme für diese toten Frauen, indem diese namentlich genannt werden. In stetigen Wiederholungen wird das imaginäre Narrativ über die zuvor scheinbar sicheren, vor allem gewaltfreien Verhältnisse für Frauen in Deutschland und Europa konstruiert, was nicht den Fakten entspricht. Seit dem Sommer 2015, so die Macherinnen der Botschaft, sei alles anders für Frauen in Europa. Man mag die Initiatorinnen als kleine identitäre Gruppe begreifen. Allerdings treten sie sehr medienwirksam und aktionistisch auf, sodass sie sich der Aufmerksamkeit des Auditoriums sicher sein können. Sie greifen zudem Anliegen aus dem Femonationalismus auf (Farris 2017), der auf den Ausbau von Grenzen abzielt, retrograde wie völkische Politiken vertritt und »autochthone« Frauen als Imagination nationalstaatlicher Anliegen versteht. Das heißt, dass diese Frauen als »reine«, als schützenswerte Frauen angesehen werden, deren Unversehrtheit und Fortpflanzungsfähigkeiten durch die Gefahr von außen, also der migrierten Männer, akut bedroht ist. Eine meiner Meinung nach neue Qualität kommt hierbei durch die Aktion www.erklaerung2018.de zum Ausdruck: Unterzeichner wie Henryk M. Broder, Thilo Sarrazin oder Basam Tibi wenden sich gegen die »Masseneinwanderung«; sie bestärken die Initiatorin Vera Lengsfeld in folgendem Statement: Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird (www. erklaerung2018.de). Vera Lengsfeld war ehemalige Politikerin bei Bündnis 90/Die Grünen, bevor sie zur CDU wechselte. Sie ist mittlerweile ohne Parteibuch. Illustriert wird dieses Statement durch ein Foto demonstrierender Frauen, die ein Banner mit dem Schriftzug »Es reicht!« in den Händen halten. Nun sind etliche der prominenteren männlichen Unterzeichner nicht für ihre feministisch orien-
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tierte Haltung in der Öffentlichkeit bekannt. Offenbar geben sich neue Allianzen die Hand, wenn es darum geht, rassifizierende und sexualisierende Markierungen zum Zwecke der Mobilmachung gegen Einwanderungspolitiken und Fluchtmigration vorzunehmen. Unter den Unterzeichner*innen sind viele bekannte Namen aus der Öffentlichkeit, der Wissenschaft, der Medizin und den Medien, was die Dramatik und die Krassheit dieser Aktion noch stärker hervortreten lässt. Biologistische Argumentationen, wie sie auch hier indirekt bedient werden, sind tief in den verschiedenen Metanarrativen europäischer Nationalstaaten verankert. Sie gehen sowohl auf den Kolonialismus als auch den Faschismus zurück (Lutz/Kulaçatan 2016). Allerdings tritt hier ein weiterer Aspekt hinzu, der mit den Grenzregimen in Europa und den USA und mit der Vermittlung autoritativer Innenpolitik sowie mit der zunehmenden Salonfähigkeit antiliberaler Tendenzen im Kontext freiheitlich und rechtsstaatlicher Demokratien zu tun hat. Gemeint sind die gegenwärtigen globalen Veränderungen hinsichtlich der Rassialisierung und Sexualisierung von Flucht, Migration und Geschlecht sowie ihrer Verquickung mit nationalprotektionistischen Visionen. Die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown (2017) stellt fest: Darum ist die Figur des Migranten so entscheidend: In ihr verschmilzt der arabische Muslim mit dem illegalen mexikanischen Einwanderer, die Mauer an der Südgrenze der Vereinigten Staaten verbindet sich mit dem Einreiseverbot für Muslime, und das falsche Versprechen, die guten Jobs zurückzubringen, mit dem ebenso falschen Versprechen, die Bürgerinnen und Bürger vor Verbrechen und Terror zu schützen. Erodierte Grenzen, erodierte Wirtschaftsmacht und Sicherheit werden auf diese Weise mit einer rassifizierten Kausallogik verwoben […] dass die Zukunft, wenn es überhaupt eine geben wird, das Ende der weißen männlichen Vormachtstellung bedeutet. Manche Angehörige dieser langen herrschenden Minderheit sind offenbar willens, die gesamte Welt mit sich in den Abgrund zu reißen. Nationalstaatliche Narrative sowie Vorstellungen von nationalstaatlichen Abwehrstrukturen werden in einer breiten europäischen medialen Öffentlichkeit in die Debatten um Zuzug, Fluchtmigration, Geschlechterverhältnisse und Frauenrechte verwoben. In diesem Beitrag geht es deshalb darum, einen Teilaspekt dieser angeschnittenen und skizzierten Vermengungen und Diskursstränge herauszubilden. Im Folgenden stehen mehrere Ereignisse seit dem Frühjahr/Sommer 2016 im Mittelpunkt, die in Deutschland stattgefunden haben. In Deutschland wurde vor allem das Tragen des sogenannten
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Burkinis in Schwimmbädern kritisiert, was zum Teil zu einem Ausschluss von Frauen führte, die mit diesem Kleidungsstück ihren Körper beim Baden vollständig bedecken. Ausgehend von diesen Ereignissen, wird auf vorherige Diskursstränge Bezug genommen, die diesem Topoi zugrunde liegen. Im Sinne einer kritischen Bezugsetzung wird der Beitrag um den individualisierten Religionsbezug ergänzt, zumal dieser in den gesamten Debatten noch eine völlig untergeordnete Rolle spielt. Das Ziel des Beitrags ist es jedoch nicht, die verschiedenen individuellen Motivationen für das Tragen von bestimmten Kleidungsformen hinsichtlich theologischer und religiös-habitueller Praxis zu analysieren; das kann, trotz aller Notwendigkeit, hier nicht geleistet werden. Anhand der ausgewählten Beispiele soll indes veranschaulicht werden, wie politische Praktiken nach wie vor in bestimmten gesellschaftspolitischen Kontexten entsprechend normalisiert werden, sodass Frauenrechte eingeschränkt werden bzw. nach wie vor nicht für alle Frauen gültig sind.
Aushöhlungsprozesse der demokratischen Grundordnung entlang weiblicher Körper In Deutschland reißen die Diskussionen um den Hijab, das sogenannte Burkaverbot oder die wieder aufkeimende Forderung, Lehrerinnen das Tragen des Kopftuchs im Unterricht zu verbieten, nicht ab (Bax 2017). Trotz seiner Justierung im März 2015, worin das Bundesverfassungsgericht klarstellte, dass ein generelles Kopftuchverbot für Lehrerinnen an Schulen in Deutschland nicht rechtens ist, spitzt sich die Lage weiter zu. Diese Forderung erhält weiterhin Unterstützung vonseiten sogenannter Kronzeuginnen, die laut Yasemin Shooman als »authentische islamkritische Stimmen« zum Einsatz kommen (BVerfG 2015: 49). Bereits Birgit Rommelspacher bezeichnete in ihrer Arbeit zu »Islam-Diskursen« in Deutschland Menschen, die aus ihrem autobiografisch Erlebten und mit davon abgeleiteter empirischer Plausibilität das Wort erheben, als »native informants« (2010). Zu den nach wie vor aktiven prominenten Vertreterinnen innerhalb der Diskurse in Deutschland zählen Frauen wie Seyran Ateş, Necla Kelek, die Schweizerin Saida KellerMessahli und in jüngster Gegenwart Zana Ramadani. Allen vier Frauen ist gemeinsam, dass sie auf ihre Herkunftsbiografien in muslimischen Lebenswelten verweisen. Vielfach beschreiben sie ihre Erfahrungen mit patriarchalen und misogynen Strukturen, die sie jedoch essentialistisch auslegen und vor allem generalisieren. Es geht keinesfalls darum, die Existenz patriarcha-
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lisch strukturierter Systeme und ihrer destruktiven Folgen infrage zu stellen (Lutz 2001). Sie sind weltweit vorhanden und nicht auf einzelne Regionen oder Religionen beschränkt. Und gegenwärtig erleben entsprechende wiedererstarkende Entwicklungen mit christlich-fundamentalistischen Ausrichtungen und entsprechender frauenfeindlicher Agenda weltweit ihre Renaissance (Brown 2017; Kappert 2017; Arps 2017). Die native informants werden vor allem in der Politik eingesetzt. So wurde die Publizistin und Rechtsanwältin Seyran Ateş durch das Land Berlin als Vertreterin berufen, um das Berliner »Neutralitätsgesetz« im Kontext des Kopftuchverbots für Lehrer*innen zu verteidigen (Bax 2017). Ihre eigentliche Expertise besitzt Ateş als Rechtsanwältin und Juristin. Und so müsste auch ihr das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in seiner juristischen Gänze bekannt sein. Allerdings verwies sie in Interviews vielfach auf ihre persönliche Ansicht, indem sie erklärte, dass sie prinzipiell gegen das Tragen des Kopftuchs sei. Ihre Ansicht unterstreicht sie wahlweise durch den Bezug zum Säkularismus in Deutschland oder den Laizismus nach kemalistischer Lesart in der Türkei. Der türkische Laizismus ist geprägt durch das Verbot von islamisch-religiösen Kleidungsformen von Frauen in der Öffentlichkeit, wozu auch das Kopftuch gehört (Göle 1995). Die Diskussionen um das Kopftuchverbot an Schulen, in Dienstgebäuden und in staatsdienstlichen Ämtern sowie das Kopftuchverbot an Universitäten hatte in der Türkei bis weit in die 2000er-Jahre zu heftigen Debatten und massiven individuellen Einschnitten im Leben vieler bildungsorientierter, aufstrebender junger türkischer Musliminnen geführt (Yurdakul/Korteweg 2016). Das Kopftuchverbot in der Türkei wurde ab dem Jahr 2014 schrittweise aufgehoben. Das geschah jedoch nicht im Sinne der politischen Hinwendung zu einer offeneren und gleichberechtigteren Gesellschaft, sondern entlang der politischen Agenda der AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi [Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung]), die unterschiedliche weibliche Lebensentwürfe gegeneinander ausspielt (Dursun 2018). Die genauere Betrachtung der Entwicklung der Geschlechterpolitiken in der Türkei seit der Republiksgründung würde den Rahmen des vorliegenden Beitrags überschreiten. Allerdings ist die Selbstpositionierung, die Seyran Ateş hierin als öffentliche Person in ihrer Rolle als Moscheegründerin und angehende Imamin einnimmt, so zumindest das selbsterklärte Ziel, in gewisser Weise befremdlich: Ateş präsentiert sich in diesem politischen Kontext als Vertreterin der Frauenrechte in Deutschland. Als Juristin bleibt sie jedoch hinter ihrer persönlichen Argumentation zurück.
Feministisch begründete Deutungshoheiten und Zusammenhänge
Wie bereits erwähnt, hat das Bundesverfassungsgericht im März 2015 ein Urteil gegen das generelle Kopftuchverbot von Lehrerinnen an Schulen in Deutschland gefällt (BVerfG 2015). Die konsequente Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts wird häufig an Schulen umgangen, indem erklärt wird, dass der Schulfrieden in Gefahr sei, dies mit Bezug auf den entsprechenden Passus im Urteil.10 Andererseits wird argumentiert, dass das Kopftuch per se Ausdruck und Symbol einer patriarchalischen Gesellschaft sei und keinen Platz im Raum Schule habe, da dort die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen vermittelt werde (Werner 2019). Am Beispiel des Radiogesprächs in der DLF-Sendung Tag für Tag am 21. Januar 2019 mit dem ehemaligen Lehrer und Pädagogen Rainer Werner lässt sich exemplarisch beobachten, was am Beispiel des Islams und der islamischen Kleidungsform im Schulunterricht statuiert wird: die Aushöhlung der demokratischen Grundsätze in der pluralen Gesellschaft, einhergehend mit einem paternalistisch wirkenden problematischen Habitus. Der humanistisch-pädagogische Ansatz des Gesprächspartners kippt ins Gegenteil von dem, was zunächst von seiner Seite aus intendiert wird, nämlich die integrative Funktion des pädagogischen Handlungsfelds Schule. In dieser Gemengelage bleiben relevante Überlegungen auf der Strecke. Den angehenden Lehrerinnen wird der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert oder ganz versperrt, indem ihnen eine Asymmetrie – qua Herkunft und Kleidung – mit Blick auf das Geschlechterverhältnis unterstellt wird. Daraus wird wiederum abgeleitet, dass die betroffenen Frauen weder in ihrer Weltanschauung neutral seien noch Vorbilder für die Schüler*innen sein könnten (Löhr 1998). Ausgehend von der »Causa Fereshta Ludin«, merkt Birgit Rommelspacher an: […] dass es dabei nicht in erster Linie um Fragen der Selbstbestimmung von Frauen geht, sondern sehr viel mehr um die Frage, welches Konzept von Geschlechterverhältnis in dieser Gesellschaft verpflichtend ist, d.h. wer in dieser Gesellschaft die Deutungsmacht hat. Es scheint hier also eher um die Frage kultureller Dominanz als um die Befreiung der Frau zu gehen. (2002: 124) Wenngleich der Fall Fereshta Ludin in der Vergangenheit liegt und ihre Klage sowie der daraus erfolgte langjährige Prozess zur Neujustierung des Urteils
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Teilergebnisse im laufenden Projekt: Kulaçatan/Behr 2018.
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führte, hat die grundlegende Frage nach dem verpflichtenden Geschlechterverhältnis in dieser Gesellschaft sowie nach der kulturellen Dominanz nichts an ihrer Aktualität verloren. Die Frage nach der Befreiung der Frau muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Nach wie vor löst die Kopftuchdebatte heftige Emotionen aus, und ein Ende des Kopftuchs als oszillierende und politisierte Projektionsfläche ist nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Gerade die permanenten Wiederaufnahmen der Forderungen nach einem sogenannten Burkaverbot und der problematisierende Umgang mit dem Ganzkörperbadeanzug in Schwimm- und Freibädern beinhaltet wohl eher »das eigene Selbstverständnis« sowie »die Durchsetzung der Werte der dominierenden Kultur« als die Frage danach, welchen Stellenwert »Werte wie Pluralismus und Religionsfreiheit« in dieser Gesellschaft besitzen (ebd.: 125). Rommelspacher betont den Universalismus, der hierbei als Strategie eingesetzt wird, um »die eigenen Interessen und Dominanzansprüche gegenüber den Anderen durchzusetzen – und das im Namen der Befreiung und Selbstbestimmung« (ebd.). Ähnlich verhält es sich bei anderen Formen der Ganzkörperbekleidung, die von einem Teil der Muslim*innen in Europa getragen wird. Jüngst hat die Debatte um den Ganzkörperbadeanzug von Musliminnen in Deutschland im baden-württembergischen Ort Villingen-Schwenningen zu erneuten Diskussionen geführt. Ungeachtet der Reaktionen aufseiten der Besucher*innen im Schwimmbad verhielten sich die Stadt wie auch das Personal des Schwimmbads professionell und gelassen. Zwei Muslim*innen waren am 7. März 2018 in das Schwimmbad in Villingen-Schwenningen gekommen und mit dem sogenannten Burkini schwimmen gegangen. Empört zeigten sich wohl einige Badegäste darüber, dass die beiden Besucher*innen in »voller Montur« und in »der Burka« zum Schwimmen gegangen seien. Allerdings ergaben weitere Recherchen, dass diese Aussagen nicht stimmten. Beide Schwimmer*innen trugen Burkinis, die den gängigen Hygienestandards entsprechen und aus Polyamid bestehen, sodass sich der Stoff nicht vollsaugen kann (Spitz 2018). Die Bezeichnung »Burkini« setzt sich aus den Begriffen »Burka« und »Bikini« zusammen. Der Ganzkörperbadeanzug geht auf die Erfindung der australisch-lybischen Designerin Aheda Zanetti (2016) zurück. Sie kreierte einen Badeanzug, der den ganzen Körper bedeckt, UV-Strahlen abhält und aus Polyamid besteht. In Australien werden ihre Badeanzüge auch von Nichtmuslim*innen getragen, da hier die Gefahr durch die Sonneneinstrahlung und dadurch an Hautkrebs zu erkranken deutlich größer ist. Zu den Kundinnen gehören auch orthodoxe Jüdinnen (weltweit) sowie Frauen, die nach einer Brustkrebserkrankung vorzugsweise einen solchen Badeanzug tragen. Die
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persönlichen Motive der Kundinnen sind unterschiedlich. Insgesamt ist der Wunsch, aktiv schwimmen zu gehen und sich körperlich zu betätigen, einer der Hauptgründe für die Wahl des Ganzkörperbadeanzugs bei muslimischen und jüdischen Träger*innen (Lemel 2016). Die Designerin Zanetti hatte einen Coup gelandet, indem sie die zuvor bestehende Marktlücke entdeckte und die weltweite Nachfrage der Kund*innen aufgegriffen hat (Behr 2014). Anders gelagert als in Villingen-Schwenningen war der Fall einer Muslim*in im Schwimmbad im bayerischen Neutraubling: Im Juni 2016 trug eine Schwimmerin einen Ganzkörperbadeanzug.11 Vonseiten der Kommune und der Betreiber des Schwimmbads wurde moniert, dass die Frau ihren Burkini am Frauenbadetag angezogen hatte. Daneben übten weitere Badegäste grundsätzliche Kritik am Ganzkörperbadeanzug der Schwimmer*in. Am Frauenbadetag selbst war allerdings ein männlicher Bademeister anwesend. Zudem ist das Bad von außen einsehbar. Die Reaktionen und das Unverständnis hatten zur Folge, dass erstmals in Bayern ein sogenanntes Burkiniverbot für ein Schwimmbad erlassen wurde. In der Satzung steht nun, dass die Benutzung des Neutraublinger Hallenbades aus hygienischen Gründen »eine allgemein übliche Badebekleidung« erfordert. Erst später stellte sich heraus, dass es weniger um die fehlende Einhaltung der Hygienevorschriften ging (die Hygiene war nicht das Problem). Es ging vielmehr um einen Reflex auf die Reaktion der Badegäste, die sich durch die Trägerin und ihren Ganzkörperbadeanzug gestört fühlten. In der bayrischen Landeshauptstadt München hingegen existiert kein solches »Burkiniverbot«. Der Sprecher der Münchener Stadtwerke Michael Solic erklärte im Münchener Merkur, dass jeder in München schwimmen können soll, solange der Stoff der Badekleidung aus Kunstfasern besteht (Merkur 216). Anderweitig bestünde Gefahr für die Badegäste. Im Fall in Neutraubling wurde, im Gegensatz zu München, die provokante Frage aufgeworfen, was die freie Religionsausübung mit dem Tragen des Burkinis noch zu tun hätte, nachdem der Burkini doch eine jüngere Erfindung sei. Damit gerät die Verhältnisbestimmung von religiösem System und persönlichem religiösem Lebensstil ins Visier – und damit die Frage, ob über den nützlichen Religionsbezug nicht vom eigentlichen Problem abgelenkt wird. Die freie Ausübung des Bekenntnisses, was als subjektives Recht im Grundgesetz verankert ist, und die Sache mit dem Burkini lassen sich nicht sinnvoll über einen konstruierten Zusammenhang erschließen. 11
Vgl. die dpa-Meldung unter www.welt.de/156090048 (Zugriff: 30.04.2020).
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Es handelt sich bei allen Fällen vorrangig um einen Teil der hiesigen »Zugehörigkeitsdiskurse« (Mecheril 2014). Laut Mecheril erzeugen Zugehörigkeitsdiskurse Wirklichkeiten, die sowohl machtvoll als auch komplex sind. Folglich münden sie in Zugehörigkeitsverhältnissen: Zugehörigkeitsverhältnisse stellen zentrale Referenzen politischer Auseinandersetzungen […] dar, was sicher nicht allein als Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden werden darf, sondern vielleicht eher als Repräsentationspraxis, in der das zu Repräsentierende erst entsteht. Die Geschichte Deutschlands zeigt, dass sowohl im Umgang mit sogenannten Minderheiten als auch im Umgang mit der Frage, was »Deutschsein« auszeichnet, ein eher nationalistisch als republikanisch geprägtes Verständnis vorherrschte […] Nach wie vor gilt, dass das nationale Selbstverständnis Repräsentationsverhältnisse prägt. Die grundsätzliche Frage, weshalb eine Frau, die sich dem Postulat der nackten Haut oder der Nacktheit entzieht, mit Aggressionen, Ausschließungspraxen und Diskriminierungen sowie Stigmatisierungen rechnen muss, wird hierbei selten gestellt. Diesen Diskurssträngen und Verboten liegt unter anderem die Vorstellung eines statischen und monolithischen Religionsverständnisses zugrunde. Religionen sind jedoch stets in Bewegung. Sie werden von Menschen gestaltet, umgesetzt und habituell in heterogenen Formen praktiziert. Sie werden zudem in ihren ästhetischen Formen auch sichtbar gemacht. Wie die islamfeindlich motivierten Reaktionen und die Bekleidungspräferenzen weitaus unaufgeregter und selbstverständlicher gehandhabt werden, zeigt das Beispiel der US-amerikanischen jüdischen Designerinnen Mimi Hecht und Mushki Notik aus New York. Mimi Hecht und Mushki Notik entwerfen unter ihrem eigenen Label Mimu Maxi in Brooklyn Kleidung entsprechend jüdischer Bekleidungsvorschriften (vgl. www.mimumaxi.com). Dabei werden die Ellbogen und die Knie bedeckt gehalten, und die Krägen sind geschlossen. Die beiden erfolgreichen Designerinnen verfolgen einen minimalistischen Stil in gedeckten Farben, den sie als »modest« bezeichnen und der von religiös orientierten Jüdin*nen und Muslim*innen getragen wird. Mimi Hechts und Mushki Notiks Idee wurde aus der Not heraus geboren: Sie wünschten sich Kleidung, die ihrer religiösen Einstellung als chassidische Jüdinnen entspricht, jedoch kleidsam, modisch und feminin ist. Zu diesen Formen der weiblichen religiösen Selbstermächtigung gehört auch die Betrachtung des individuellen Performanzcharakters, der diesen Entwürfen und Angeboten zugrunde liegt. Im Zusammenhang mit feministischer Theo-
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logie und Religion als Kategorie von Wissen weist die Theologin Ulrike Auga auf die Bedeutung des Performanzcharakters von Religion hin: Es lohnt sich, den Performanzcharakter von Religion anstelle von kollektiver Identität zu betonen. Es bedeutet ausdrücklich nicht, Glaubensinhalte zu verwerfen, sondern vielmehr, sie von ihrer ideologischen Verzerrung und ihrem universalistischen Anspruch der Vorrangigkeit nachhaltig zu befreien […], es ist mir wichtig, Religion, beziehungsweise Erfahrung, in Bezug auf »umfassende Konzeptionen« als Ort der Entstehung von neuem Wissen und gesellschaftlicher Imagination ernst zu nehmen. (2013: 58-60) Auga bezieht sich auf den Begriff »Human Flourishing«. Sie verwendet diesen Begriff affirmativ und in Abgrenzung zu den postkolonialen und postsäkularen feministischen Debatten, in denen »das Ziel der Befreiung mit ›westlichen Werten‹ wie Freiheit, Emanzipation und Individualismus« fokussiert wird. »Human Flourishing« verschiebe laut Auga diesen Fokus auf das »performative gute Leben« als menschlichem Blühen. Damit soll ausgesagt werden, dass die »Widerstände und Visionen vielfältiger sind sowie individueller in Bezug auf Subjektformation und das Entstehen von Handlungsfähigkeit betrachtet werden sollten« (ebd.: 59). Augas Analysen beziehen sich auf die epistemische Ordnung von Religion und Geschlecht. Diese Analyse kann helfen, die Performanz im Sinne der Subjektformationen und der Entstehung von Handlungsfähigkeiten von Musliminnen in Einwanderungsländern und Migrationsgesellschaften zu verstehen. Sie gestattet es, den Vollzug der Subjektformationen und der daraus folgenden Handlungsmacht nicht als Gegenrede oder Antipode zu den Reglementierungen individueller religiös-ästhetischer habitueller Praktiken zu verstehen, zu denen Kleidungsformen dazugehören. Sie sind vielmehr in den Teil der notwendigen Verhandlungs- und Aushandlungsprozesse innerhalb der Migrationsgesellschaft zu verorten. Diese Verhandlungs- und Aushandlungsprozesse können als eine zwingende Notwendigkeit für Frauenrechte und emanzipatorische Selbstermächtigung verstanden werden. Dazu gehört es, die Stigmatisierung aufzulösen, welche durch den bereits beschriebenen Prozess der Kategorisierung geschieht, und den Akt der Selbstermächtigung, in diesem Fall die theologischfeministisch orientierte Selbstermächtigung, in den Horizont mit einzubeziehen. Die Erkenntnis, dass Religionen keine statischen homogenen Gebilde sind, gilt für alle Religionen und ist nichts Islamspezifisches. In diesem Zusammenhang lohnt sich ein nochmaliger Blick auf die nationalen Metanarrative: Sara Farris verweist im Zusammenhang von Frauenrechten
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und Femonationalismus in Europa auf die Sexualisierung von Rassismus und die Rassialisierung von Sexismus: On the one hand, the notion of sexualization of racism emphasizes that racism is sexed because it relies on different stereotypes of othered men and women – as oppressors and sexual threats, and as victims and sexual objects/property, respectively. But it is also sexualized insofar as the racist imagery operates through powerful metaphors and desires. That is, racist ideologies express the desire to dominate the Other through the fantasies of possessing the body of the racialized woman and of sexually humiliating the racialized man. (2017: 74) Farris’ Erläuterungen und Analyse beziehen sich auf die Instrumentalisierung von Frauenrechten in rechten Parteien in Europa. Sie bezeichnet dieses Phänomen als »Femonationalismus«. Unabhängig vom Geschlechterdiskurs in rechten Parteien sind in dieser Argumentation zwei Aspekte enthalten, die für die Diskussion um das Verbot des Ganzkörperbadeanzugs, aber auch für die Kopftuchdebatte (Yurdakul/Korteweg 2016: 188) hilfreich sind. Sie treffen ebenso für Selbstpositionierungen von Politikern zu, die versuchen, sich von rechts abzugrenzen. Was das Tragen des Ganzkörperbadeanzugs angeht, so wird vielfach davon ausgegangen, dass es sich primär um ein Kleidungsstück handelt, welches von muslimischen Männern aufgenötigt wird. Das sexualisierte Argument, den weiblichen Körper und sekundäre Geschlechtsmerkmale verbergen zu wollen, wird dabei vorausgesetzt, wohingegen die Option, dass es sich um eine bewusste Entscheidung handelt, den eigenen Körper nicht nackt oder teilweise nackt zeigen zu wollen, außer Acht gelassen wird (Albers Ben Chamo 2016). Obwohl sich die bundesdeutsche Gesellschaft als säkular bezeichnet, besitzt die christliche Religion im öffentlichen Raum ihren festen Platz im Sinne des forum externum. Die Doppelmoral, die dem säkularen Selbstverständnis in diesen Diskussionen und Politiken zur Last gelegt werden kann, hat zur Folge, dass Zeichen islamischer Religiosität genau an diese Doppelmoral erinnern: Aber auch auf der persönlichen Ebene beunruhigt sie, weil sie an Ungeklärtheiten und Unentschiedenheiten rührt, und dabei vor allem an den Widerspruch zwischen einem aufgeklärten, säkularen Selbstbild und faktisch formaler Bindung an Aspekte der Kirche und des Glaubens, die die meisten selbst nicht gerne eingestehen. (Rommelspacher 2002: 131)
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Die weitere in Anlehnung an Farris inhärente Begründung liegt in der Sexualisierung der betroffenen Frauen innerhalb rassistisch vorhandener Motivationsgründe vonseiten der Dominanzkultur. Diese werden jedoch in der Form vorgetragen, dass sowohl auf säkulare, laizistische Grundprinzipien als auch auf die Gestaltung des Geschlechterverhältnisses in der Dominanzkultur verwiesen wird (Farris 2017). Hinzu kommt die Forderung nach Integration, die Muslim*innen zu erbringen haben. Riem Spielhaus stellt hier fest, dass Politiker*innen vielfach zu definieren versäumten, was mit Integration gemeint sei(n könnte) bzw. was das einzelne Individuum in welcher Form dazu tatsächlich beitragen könnte (2012). Stattdessen werden Muslim*innen regelmäßig als »Integrationsverweigerer« angeführt oder als besondere Gruppe, die speziell integriert werden müsse. Zu diesem Diskurs tritt hinzu, dass die Tatsache, sich als muslimisch und deutsch zu verstehen, nach wie vor nicht gedacht wird (Foroutan 2016). Diese Formen der Fremdzuschreibungen betreffen insbesondere Frauen, die aufgrund ihres Kleidungsstils als Musliminnen erkennbar sind. In einem der Interviews, die im Rahmen eines Forschungsprojekts über Selbstpositionierungen von jungen Musliminnen in pädagogischen Handlungsfeldern an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. durchgeführt werden (RelPos),12 erklärte eine der Interviewpartnerinnen, dass sie eine Art Alltagszensor stets mit sich trage: Sie versuche durch ihr Verhalten, nicht negativ aufzufallen, da sie einerseits die Sorge habe, als nicht integriert zu gelten, und andererseits Rückschlüsse auf sie als Muslimin in der Öffentlichkeit gezogen werden könnten. Das gehe so weit, dass sie bei ihrer Bekleidung, insbesondere ihrem Kopftuch, ihre Lieblingsfarbe Schwarz vermeide, um nicht als potenzielle »Gefährderin« eingestuft zu werden. Sie gehört der dritten Generation der türkischstämmigen Einwander*innen in Deutschland an. »Nicht negativ auffallen« bedeutet in ihrem alltäglichen Kontext auch, dass sie alles zu vermeiden versucht, was ihr Verhalten mit vorherrschenden Stereotypen in der Dominanzkultur in Verbindung bringen könnte. Dazu gehört beispielsweise, dass sie sich stets mehrmals rückversichert, tatsächlich bei Grün über die Ampel zu gehen und nicht bei Rot, obwohl keine Autos in der Nähe sind. Dabei sieht sie sich um und versucht, die Menschen, die gemeinsam mit ihr an der Straße stehen, anhand ihrer Reaktionen und Blicke einzuordnen. Zugleich ist sie fest davon überzeugt, dass sie aufgrund ihres 12
Vgl. das interdisziplinäre LOEWE-Projekt RelPos zu Modalitäten und Konstellationen religiöser Positionierungen, online unter http://relpos.de (Zugriff: 30.04.2020).
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Kopftuchs – trotz gegenteiliger Rechtsgrundlage – weder eine Anstellung als Lehrerin erhalten wird noch nach ihrer Promotion eine realistische Aussicht als zukünftige Hochschullehrerin hat. Unabhängig davon, dass eine Karriere in der Wissenschaft insbesondere für Frauen (leider) nach wie vor sehr prekär ist, wurde bei näherem Eingehen auf diese Überzeugung deutlich, dass ihre Verunsicherung und ihre Angst, »etwas falsch machen zu können« und »eh nicht erwünscht zu sein«, massiv in ihrem Selbstbild verankert sind.13 Die Frage stellt sich also in der Tat, was »Integration« meint und weshalb trotz erfolgreicher Bildungsabschlüsse, Mehrsprachigkeit und wie in diesem Fall ehrenamtlichem Engagement und starker Identifikation mit Deutschland als gelebter Heimat (zuweilen verwenden die Interviewpartnerinnen auch den Begriff »zu Hause«) Ausschlusskriterien greifen und Diskriminierungsparadigmen so wirkungsmächtig sind und sich durch hohe Anspannungen körperlich festschreiben. Birgit Rommelspacher erklärt hierzu: [N]un begegnet uns in der islamischen Frau, die das Kopftuch trägt, eine Position, die ohne Umschweife die Verschiedenheit der Geschlechter betont. Dies rührt also an einen allergischen Punkt in der westlichen Debatte: Die Feministinnen werden provoziert, weil ihre Politik widersprüchlich ist, wenn sie auf der einen Seite Gleichheit einfordern und zugleich die Differenz betonen. Die Mehrheit von Männern und Frauen wird provoziert, weil die meisten gerne von Partnerschaft und Gleichberechtigung sprechen, sich in ihrem Privatleben aber kaum danach richten. Je größer die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, desto größer das Bedürfnis, über eine forcierte Emanzipationsrhetorik die eigene Fortschrittlichkeit unter Beweis zu stellen. (2002: 127) Die Zugehörigkeit von Musliminnen wird insbesondere über die Debatten um das Kopftuch, das sogenannte Burkaverbot, sowie die Teilverbote des Ganzkörperbadeanzugs – des Burkinis – ausgetragen. Laut Yurdakul und Korteweg bedeutet dies, dass nationale Zugehörigkeit in der deutschen Integrationsdebatte über das Kopftuch verhandelt wird (2016: 189). Hier ließe sich einschränkend argumentieren, dass es sich nicht um eine Verhandlung im Sinne einer Aushandlung von zwei Seiten auf partnerschaftlicher Augenhöhe handelt, da die Ergebnisse der Verhandlungen keine Handlungssicherheit und Orientierungssicherheit zulassen. Trotz beispielsweise des klaren Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts zur Revision des Kopftuchurteils aus dem 13
Teilergebnisse im laufenden Projekt: Kulaçatan/Behr 2018.
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Jahr 2003 werden angehende weibliche muslimische Lehrkräfte, sofern sie ein Kopftuch tragen, mit Ausschlusskriterien aufgrund ihrer Kleidungsform konfrontiert, die ihnen den Zugang zu ihrem Berufsfeld einschränken oder unmöglich machen. Diese diffusen oder auch konkret greifbaren Einschränkungen, die dann zur existenziellen beruflichen Gefahr der betroffenen Studentinnen werden können, sind kaum beleuchtet. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bedeutet für einen Teil der Betroffenen in ihrer Alltagspraxis keine Rechtssicherheit, obwohl es genau das – für beide Seiten – sein sollte. Insgesamt handelt es sich bei den gegenwärtigen politischen Praktiken, die weit in die Intimsphäre der betroffenen Frauen eingreifen, nicht um eine feministisch orientierte Politik, die zum Ziel hat, die Freiheit aller Frauen* als Individuen zu gewährleisten. Es handelt sich um gar keinen Feminismus, sondern um den Missbrauch von frauenrechtlich relevanten Anliegen zur Durchsetzung einschränkender politischer Maßnahmen im Kontext der Vermeidungsstrategie einer realen Anerkennung der pluralen und offenen Gesellschaft, deren freiheitliche Weiterentwicklung nicht mehr als Konsens verstanden wird.
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Von ›kultureller Rückständigkeit‹ zu nationaler ›Modernisierung‹? Repräsentationen migrantischer Musliminnen in Deutschland zwischen Aneignung und Selbstermächtigung Sylvia Pritsch
Vorspann: »Gesicht zeigen«1 Im Jahr 2017 führte der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) das Vorhaben von einem »Verbot der Vollverschleierung in Teilen des öffentlichen Lebens« folgendermaßen aus: Wir sind uns einig, dass wir ein Gebot auch rechtlich vorschreiben wollen, Gesicht zu zeigen, da wo es für das Zusammenleben unserer Gesellschaft nötig ist – am Steuer, bei Behördengängen, am Standesamt, in Schulen und Universitäten, im öffentlichen Dienst, vor Gericht.2
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»Gesicht zeigen« ist sprachlich neutral – auch wenn hier Frauen gemeint sind. Frauen oder Frauen*? Oder sind indirekt doch auch Männer/Männer* angesprochen? Politiker*innen und Kopftuchträger*innen? Oder doch die vorab vergeschlechtlichte Bezeichnung? Diese sprachpolitische Frage stellt sich mir immer wieder, ohne dass ich sie hätte klar beantworten können. Daher gebe ich sie weiter an die Leser*innen – wo immer ein * auftaucht oder fehlt – welche Bezeichnung wäre an der betreffenden Stelle angemessen? Burka, Niqab oder Hidschab – wie sich muslimische Frauen verschleiern. Unter dem Stichwort »Burkaverbot« läuft derzeit die Debatte um die Vollverschleierung muslimischer Frauen. Dabei ist hierzulande kaum einmal eine Burka zu sehen – im Gegensatz zu Niqab oder Hidschab. Wir erklären die Unterschiede (19.08.2016). In: Stern online unter www.stern.de/politik/ausland/burka--niqab-oder-hidschab---das-sind-dieunterschiede-7016664.html (Zugriff: 30.04.2020).
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Mit dieser Äußerung wurde nicht nur ein Verbot (der »Vollverschleierung«) in ein Gebot der Sichtbarkeit als staatsbürgerliche Pflicht verwandelt, sondern auch die Grenzen des Rechtsstaates erreicht. Denn das bundesdeutsche Recht kannte weder eine entsprechend umfassende Verpflichtung noch ließ sich das Verbot in der zunächst diskutierten Form eines Vollverbots durchsetzen, ohne das im Grundgesetz verankerte Recht auf freie Religionsausübung zu verletzen. Unter diesen widersprüchlichen Bedingungen, ein Verbot durchsetzen zu wollen, das auf das Tragen von Burkas und Niqabs in Bereichen des öffentlichen Raums abzielte, was zwar im rechtlichen Sinne so nicht benannt werden durfte, aber dennoch zweideutig als »Burkaverbot« im öffentlichen Diskurs zirkulierte, verschwammen sowohl der Gegenstand der Regulierung als auch deren Legitimationen. Die Forderung »Gesicht zu zeigen« erscheint vieldeutig aufgeladen: De Maizière zufolge diene sie der Integration, indem »wir unsere Werte und die Grenzen unserer Toleranz gegenüber anderen Kulturen deutlich machen und vermitteln«.3 Was hier aufgerufen wurde, ist die altbekannte Verknüpfung von Rückständigkeit und Gefahr mit muslimischer (Dress-)Symbolik: »Das Kopftuch wird im Spannungsverhältnis von Säkularismus und Religion oftmals als Angriff auf die öffentliche Sicherheit sowie auf westliche Werte wie die Frauenrechte stilisiert«, so Korteweg/Yurdakul (2016: 11), die das Kopftuch als »Metonym von Differenz« bestimmen (242). Die Bedeckung des Körpers, so das Ergebnis der internationalen Studie Kopftuchdebatten in Europa, gilt in Deutschland als Zeichen fehlgeschlagener Integration schlechthin und hat sich so weit verfestigt, dass es dafür keinerlei Begründungen braucht. In diesem Sinne brachte es zuvor die Bundeskanzlerin auf den Punkt: »Aus meiner Sicht hat eine vollverschleierte Frau in Deutschland kaum eine Chance sich zu integrieren.«4 Ob hingegen die Verhängung einer Ordnungsstrafe im Fall der Missachtung dafür dienlich sei, wurde nicht thematisiert, dafür jedoch Integration als Sanktionssystem verdeutlicht.5
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Thomas de Maizière: »Die Burka ist kein Sicherheitsthema« (19.08.2016). In: Welt online unter www.welt.de/politik/deutschland/article157750439/Die-Burka-ist-keinSicherheitsthema.html (Zugriff: 30.04.2020). Vgl. die dpa-Meldung Vollverschleierte hat kaum Chance, sich zu integrieren vom 28. August 2016, online unter www.welt.de/politik/deutschland/article157739089/Vollverschleierte-hat-kaum-Chance-sich-zu-integrieren.html (Zugriff: 30.04.2020). Vgl. Mecheril 2011. Siehe zu der Kritik von Amnesty International am weiter gefassten österreichischen Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz als Grundrechtsverstoß in AI 2017: 4.
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Nicht nur »Integration«, auch eine weitere positive Konnotation der im Deutschen eher ungewöhnlichen Formulierung »Gesicht zeigen« scheint sich aus dem englischsprachigen Gebrauch und aus ihrer Verwendung für zivilgesellschaftliches Engagement zu entlehnen, als ein »Bekenntnis« zu einer Sache. Auch dieses kann im nationalen Interesse stehen, wie es etwa bei der Repräsentation eines »weltoffenen Deutschlands« durch prominente Vertreter*innen aus Politik und Medien bei der Kampagne »Gesicht zeigen!« demonstriert wird. Bei aller Dringlichkeit von Antidiskriminierungsarbeit erscheinen Kopftuchträgerinnen höchstens am Rande präsent – ein nationales Bekenntnis erfordert anscheinend auch hier Haut und Haar.6 Das mehrfach von de Maizière angeführte »Zusammenleben«, für das ein unbedecktes Gesicht die Voraussetzung darstellen soll, übersetzt sich im schließlich verabschiedeten Gesetz zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung als »die Funktionsfähigkeit der Verwaltung« sowie »das Selbstverständnis des demokratischen Rechtsstaats«, für die eine »vertrauensvolle Kommunikation der staatlichen Funktionsträger mit den Bürgerinnen und Bürgern« unabdingbar sei.7 Sollte das Tragen eines Niqab die Verwaltung nun funktionsunfähig machen, gar die Grenze des demokratischen Rechtsstaats erreichen? Um das plausibel erscheinen zu lassen, wurde der Sicherheitsdiskurs je nach politischer Zielsetzung und Adressat*innenkreis aktiviert oder dementiert,8 was wiederum den Vorwurf mit sich brachte, lediglich Symbolpolitik aus parteipolitischen Gründen zu betreiben. Tatsächlich lässt sich von symbolischer Regulation sprechen,9 wodurch 6 7
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Vgl. die Kampagnen des Vereins »Gesicht Zeigen!« (www.gesichtzeigen.de); speziell #zeigtgesicht [https://zeigtgesicht.de/18.12.2019). Das Gesetz zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften regelt die Bekleidung staatlicher Funktionsträger*innen (Beamt*innen, Richter*innen, Soldat*innen) ebenso wie amtliche Verfahren zur Identitätsfeststellung (Passausstellung, Wahlen). International begann die Serie von Verboten 2010 in Belgien und erreichte 2017 Deutschland und Österreich. In der parteipolitischen Berliner Erklärung für Sicherheit und Zusammenhalt (2016) stellte de Maizière den Zusammenhang her: »›Freiheit muss in Sicherheit gewährleistet sein‹ […]. ›Wir lehnen die Burka ab‹ […]. ›Sie passt nicht zu unserer weltoffenen Gesellschaft.‹« (www.welt.de 19.08.2016) – um zeitgleich zu behaupten, dies sei »keine Frage der Sicherheit, sondern des gesellschaftlichen Zusammenhalts« (Kröning 2016). Kröhnert-Othman und Lenz (2002) entwickelten diesen Begriff auf der Grundlage von Bourdieus Kategorie des symbolischen Kapitals, um »Wechselverhältnisse zwischen symbolischen Kämpfen um Anerkennung, dem symbolischen Kapital und dem ökonomischen und kulturellen Kapital im sozialen Raum« zu bezeichnen (ebd.: 171). Sie
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mit der Rede vom »Burkaverbot« muslimisch markierten Frauen Gentilität abgesprochen und der Zugang zum gemeinschaftlichen Zusammenleben geregelt bzw. verwehrt wird.10 Das Gesichtsverhüllungsverbot sichert dies gesetzlich ab, insofern es de facto Frauen im »muslimischen« Dress sind, die betroffen sind – von gesichtsverdeckenden Frisuren oder Bärten ist nicht die Rede, entsprechende Dienstkleidung ist ausgenommen. Ein deutliches Beispiel also für die Verwobenheit von Symbolpolitik und Recht, ebenso wie für die Rolle der Sichtbarkeit weiblicher Körper und ihrer Kontrolle im Dienste der Nation sowie der Gewaltförmigkeit nationalistischer Politiken der Sichtbarkeit. Letztere erwies sich nicht nur als Machtdemonstration zu Kolonialzeiten, sondern ist, so Silke Wenk, auch den aktuellen europäischen Debatten um ein »Burkaverbot« inhärent: »Das Schaugebot oder auch der Schauzwang in westeuropäischen Ländern korrespondiert mit dem Gebot, sichtbar zu sein bzw. sich sichtbar zu machen.« (2012: 48). Wenk zieht eine Verbindung von einem westlichen »Sichtbarkeitsregime« zum Panoptismus Michel Foucaults: Es geht mithin um Ordnungen der Un/Sichtbarkeit, die von den Subjekten, denen als solchen Anerkennung zukommen soll, bestimmte Praktiken des Zu-Sehen-Gebens verlangen. Praktiken, die notfalls mit Gewalt durchgesetzt werden, um den Erhalt oder die Wiederherstellung der Ordnung zu sichern, in einem Wechselspiel von physischen und struktureller – medial vermittelter – Gewalt. (Ebd. 48f.) Inwiefern nun die nationale Ordnung durch die Zuweisung bestimmter Positionen an muslimische Frauen gestützt wird, wurde anhand der Repräsentationsfunktion von Differenz und Vermittlung bundesdeutscher Narrative in-
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setze an der Ambivalenz des symbolischen Kapitals an, dessen Anerkennung soziale Existenz sichert, das zum anderen aber nicht explizit und messbar erscheint, sondern durch Offenheit und prekäre Balancen sozialer Beziehungen für die »Verschleierung von Herrschaft und berechnendem Interesse« sorge (ebd.: 172). »Symbolisches Kapital« kann, in der Lesart Bourdieus von Kröhnert-Othman und Lenz (2002), in Form von »Ehre« angehäuft werden: »Ehre erscheint in ihrer integrierenden und kohärenzstiftenden Funktion nicht nur als Auszeichnung von Einzelnen und Gruppen und als Signatur von Höherwertigkeit, sondern eben auch als existenzielle Grundlage von Sozietät und überlebensnotwendiges Gut der Einzelnen.« (Ebd.: 172). Und weiter: »In einem negativen Sinne sorgt es damit für die Verkennung objektiver sozialer Ungleichheit und für die Reproduktion einer symbolischen Ordnung, die eine hierarchische Gliederung der Gesellschaft mit symbolischer Gewalt durchsetzt.« (Ebd.)
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zwischen vielfach aufgearbeitet. In den folgenden beiden Unterkapiteln soll dies unter Bezug auf die Thematisierung der sogenannten Kopftuchdebatten aufgenommen werden, also in einem Spannungsfeld von Weiblichkeit, Nation und Religion, um die Funktionen der widersprüchlichen Positionierungen aus meiner Außenperspektive in einer kursorischen Zusammenschau akademischer Analysen und populärkultureller sowie regierungspolitischer Texte zu verdeutlichen. Daran schließt sich die Frage an, unter welchen Bedingungen Frauen*, die sich selbst als Muslima bezeichnen, in und zwischen diesen Zwängen ›Gesicht zeigen‹, also sichtbar werden können. Dies soll anhand der gegensätzlichen Positionierungen der radikalen Islamkritikerin sowie der deutschen Muslima diskutiert werden. Ein Blick auf den bundesdeutschen Diskurs um die Nation zeigt, dass diese Positionen längst Eingang gefunden haben in nationale Marketingstrategien und Modernisierungsbemühungen. Zugleich wird deutlich, mit welchen Schwierigkeiten es verbunden sein kann, den Modernitätsgeboten zu folgen. Hier eröffnet sich ein problematisches Feld zwischen Strategien der visuellen wie ökonomischen Integration und neoliberalen Anforderungen an ein weiblich-migrantisches Subjekt in der Figur des Muslim Top Girl. Dabei handelt es sich um eine höchst ambivalente Positionierung, die nicht allein als Spiegel und Grenze des nationalen Kollektivs in Anspruch genommen wird, sondern auch als Vermittlungsinstanz zwischen Homogenität und Diversität, also gleichsam als Objekt und Subjekt nationaler Selbstbestimmung zugleich. Abschließend möchte ich auf künstlerische Strategien zur Repräsentation muslimischer Kopftuchträgerinnen verweisen, die mit der Vielfalt auch die Gewalt des Sichtbarkeitsgebots deutlich machen.
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Figurierung von Differenz und Traditionalität
Jenseits aller Gewöhnung erscheint die Verknüpfung nach wie vor erklärungsbedürftig: Weshalb können weiblich-konnotierte Bekleidungsstücke als Angriff auf die öffentliche Sicherheit und das nationale Zusammenleben erscheinen? Einen Hinweis darauf liefert ein historischer Blick auf die Verschränkung von Nation und Geschlecht in der Moderne. Wie die Geschlechterforschung zeigen konnte, kommt Weiblichkeit in der Geschichte der modernen Nationen nicht nur die Rolle biologischer, sondern auch kultureller Reproduktion auf vielfachen Ebenen zu. Die symbolische Doppelrolle besteht darin, sowohl Integration wie Differenz, Bewahren der Tradition wie Durchsetzung
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von Neuerungen auf der Basis von Naturalisierungen zu repräsentieren. Nira Yuval-Davies prägte dafür den Begriff der »symbolischen Grenzwächterin«: These border guards can identify people as members or non-members of a specific collecitivity. They are closely linked to specific cultural style of dress and behaviour as well as to more elaborate bodies of customs, religion, literary and artistic mode of production, and, of course, language. (1997: 23) Auch McClintock hebt die »emotive politics of dress« im Kontext nationaler Sichtbarkeitspolitiken hervor: »Because, for male nationalists, women serve as the visible markers of national homogeneity, they become subjected to expecially vigilant and violent discipline. Hence the intense emotive politics of dress.« (1995: 365). Im Kontext der deutschen Nationalgeschichte betont Planert ebenfalls eine herausragende Rolle von Damenbekleidung im 19. Jahrhundert, die im Zuge eines »Modenationalismus« politisiert wurde (Planert 2000: 36). Die Definition der Frau als Kulturträgerin qualifizierte sie sowohl nach innen wie nach außen als Repräsentantin einer homogenen, als ›deutsch‹ verstandenen Nationalkultur (ebd.: 31). Das oben beschriebene Gebot der Sichtbarkeit ruft mit der Betonung der »natürlichen« Erkennbarkeit, die dem Zeigen des (weiblichen) Gesichts unterstellt wird, eine ähnliche Form der Naturalisierung im Kontext einer nationalen Sichtbarkeitspolitik auf. Vor diesem hier nur angedeuteten Hintergrund erscheint die Koppelung von weiblich-muslimisch konnotiertem Dress und nationaler Zugehörigkeit negativiert. In einer metonymischen Verschiebung der Differenz werden Fragen der Zugehörigkeit von Muslim*innen insgesamt ausgehandelt. Dieser Verdacht liegt auch bei dem oben beschriebenen Beispiel aus dem bundesdeutschen Migrationsdiskurs nahe: Während die lautstark geforderte Regulierung muslimischer Gemeinschaften mittels eines »Islamgesetzes« auf Grundlage der bundesdeutschen Gesetzeslage nicht zu realisieren war,11 heftete sich der Regulierungswille wieder an den Dress von Frauen. Dass dies kein neues Phänomen ist, zeigen die regelmäßig wiederkehrenden sogenannten Kopftuchdebatten. Immer wieder richten sich Regulierungspraktiken an die Kleidung
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Siehe etwa Spitzenpolitiker der Union fordern Islamgesetz in: Zeit online vom 2. April 2017, online unter www.zeit.de/politik/deutschland/2017-04/cdu-wahlprogrammislamgesetz-julia-kloeckner-wahlkampf (Zugriff: 30.04.2020).
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von Frauen und Mädchen, die stellvertretend für die Liberalität muslimischer Communities bewertet wird.12 In den Kopftuchdebatten verdichten sich, so Müller aus kommunikationstheoretischer Perspektive, Differenzlinien von Gender, Ethnizität und Religiosität (2011: 145). Das Kopftuch als »Verdichtungssymbol« erscheint als privilegierter Differenzmarker zwischen Tradition und Religiosität einerseits und Moderne und Säkularität andererseits und bedarf, wie in dem oben ausgeführten Beispiel, keinerlei Begründung mehr (ebd., 155). In dieser Differenzposition stellten Kopftuchträgerinnen im öffentlichen Raum, so Korteweg/Yurdakal in ihrer Studie um nationale Zugehörigkeitskonflikte, eine Herausforderung für das bundesdeutsche nationale Narrativ dar, das zwar auf einem staatlichen Neutralitätsgebot in Bezug auf Religionen basiert, christliche Symbole jedoch durch eine Umwertung zu Kultursymbolen privilegiere und damit zu Zeichen der deutschen Zugehörigkeit erkläre, wie es in zahlreichen Diskussionen um Kopftuchverbote im schulischen Bereich der Fall war (2016: 211). Damit kommt die stabilisierende Funktion dieser Differenzposition in den Blick. Die Islamwissenschaftlerin Shirin Amir-Moazami weist auf die weitreichenden Implikationen einer liberal-säkularen Matrix, welche sie als eine weitgehend vernachlässigte hegemoniale Machtstruktur identifiziert, die nicht nur nationale Grenzziehungen zwischen den Bereichen Politik und Religion strukturiere, sondern über Inkorporationen auch affektive Befindlichkeiten angesichts als abweichend deklarierter Körperpraktiken (Amir-Moazami 2016: 33).13 Das säkulare Selbst konstituiert sich demnach 12
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Während sich diese Debatten nach den unterschiedlichen Migrationen in den 1980erund 1990er-Jahren sowie nach den Anschlägen 2001ff. immer wieder neu entzündeten, schien ab Mitte der Nullerjahre eine gewisse Normalität einzukehren. Nach den jüngeren Einwanderungsbewegungen verschärfte sich die Tonlage nach 2015 wieder deutlich. Ein Zeichen dafür war die ebenso häufige wie unzutreffende Bezeichnung »Burkaverbot«, die zur Polarisierung der öffentlichen Diskussionen um die gesetzlichen Regelungen 2016/17 beitrug, nachdem in den Jahren zuvor, wie Korteweg/Yurdakul (2016: 204) ermittelten, in der Bundesrepublik keine größeren Diskussionen um die Legitimität von Burka oder Niqab festzustellen waren. Vgl. auch zur BurkiniDebatte Castro Varela 2016. »Den Regulierungen des Religiösen im öffentlichen Raum liegt damit immer auch ein bestimmtes Verständnis von der Art und Weise zugrunde, wie man sich als Bürger_in dieser Gesellschaft zu verhalten hat […]. Säkularität umfasst damit eine häufig vernachlässigte Dimension, die man als die emotionalen und inkorporierten Strukturen liberal-säkularer Ordnungen bezeichnen könnte. Sie prägen Alltagspraktiken und Ha-
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in Abgrenzung zu denjenigen, die im Dienste der Homogenisierung in unterschiedlichen Anrufungen einer »Muslimifizierung« unterzogen werden (ebd.: 35; zum Begriff auch Shooman 2014). Çakir analysierte entsprechende Vereinheitlichungen im bundesdeutschen Diskurs als Ethnisierung des Islam, durch die transnationale ethnische Gruppen in einer »neoethnischen Konstruktion« zusammengefasst werden (2014: 157). In dieser Perspektive erscheint die muslimisch-migrantische Kopftuchträgerin als eine Figur, die als bearer of the muslim collective die unterstellte Gesamtheit einer islamischen Gemeinschaft repräsentiert und damit als Projektionsfläche ein als bundesdeutsch konnotiertes ›säkulares‹ Selbst absichert, das seine christliche Fundierung kulturalisiert. Eng verwoben mit dieser Differenzsetzung ist die Entgegensetzung von Modernität und Traditionalität, wie sie im Topos der unterdrückten Muslimin zum Ausdruck kommt. Wie Schooman herausarbeitet, steht dieser in seiner stereotypen Form gerade nicht im Dienste der Emanzipation muslimischer Frauen, sondern dient ebenfalls der Selbstvergewisserung: Denn die Schicksale der von Zwangsheirat und anderen Gewaltformen betroffenen Frauen festigen ein dominierendes Islambild, das durch die Zuschreibung von Rückständigkeit und Unzivilisiertheit gekennzeichnet ist, während die aus freien Stücken Kopftuch tragende Frau die Deutungshoheit der Mehrheitsgesellschaft infrage stellt. (Shooman 2014, 89) Bei der Ablehnung des Kopftuchs, wie sie gerade im Namen der Emanzipation und nicht zuletzt auch von feministischer Seite artikuliert wird,14 kommen die kolonial-historischen Wurzeln häufig nicht in den Blick. Meyda Yeğenoğlu hat auf die tiefgehende Verflechtung feministischer Diskurse mit dem modernen Sichtbarkeitsregime hingewiesen sowie auf die Folgen der Entschleie-
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bitus auf subtile Weise und kommen vor allem dann zum Vorschein, wenn eingeschliffene Gewissheiten hinterfragt werden, etwa durch Körperpraktiken wie das Kopftuch, das u.a. auch Regime von Sichtbarkeit des Körpers, Transparenz und Kontrolle stört.« (Amir-Moazami 2016: 33) Zur Kritik an entsprechenden Positionen, wie sie von der Zeitschrift Emma vertreten werden, vgl. Kerner 2009: 366ff.
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rung als ein gewaltsamer Eingriff in die Körperidentität.15 Diese Gewaltförmigkeit bleibt zumeist hinter dem Rettungsanspruch verborgen.16 Im Gegenzug erlaubt die Zuweisung zu Traditionalität und Rückständigkeit in Koppelung mit der Qualifizierung von muslimischen Kopftuchträgerinnen als »unemanzipiert« die Abgrenzung der »modernen« westlichen Frau und ihrer Gesellschaft. Traditionelle Werte, die für die Bewahrung der Nation einstanden – Mutterschaft im Kontext von weiblicher Tugend und Ehre, Tradition und Zusammenhalt der Gemeinschaft – erscheinen heute in öffentlichen Diskursen häufig unter dem Vorzeichen »unemanzipiert« und »altmodisch«. Damit sind sie aber nicht verschwunden oder unpopulär, ganz im Gegenteil: Bei einer repräsentativen Studie stimmten 2009 in Deutschland 53 Prozent der Meinung zu, »Frauen sollten ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ernster nehmen« (Zick u.a. 2011: 72f.). Genau dies jedoch wird muslimischen Communities zugesprochen, was wiederum eine Grundlage darstellt für die beschriebenen abwertenden Positionierungen »der« muslimischen Frau als »Opfer« – von unangemessenen Vorstellungen von Ehe und Ehre – oder »Gefahr« aufgrund eines Kinderreichtums, der wiederum mit Bildungsmangel und vermeintlich unemanzipierter Verhaftung an Religion und Kultur verknüpft wird – kurz, das bekannte Stereotyp des antimuslimischen Rassismus »zwischen paternalistischer Viktimisierung und Dämonisierung« (Shooman 2014: 98), das sich nicht zuletzt an die (imaginierte) Geburtenrate heftet (vgl. Schultz 2016: 123f.). Dagegen hebt sich ein modernisiertes Weiblichkeitsbild ab. Folgt man den Analysen von Angela McRobbie zum neoliberalen Geschlechtervertrag, so treten in der westlichen Welt vergleichsweise neue Figuren hervor, die das traditionelle Frauen- und Mutterbild ablösen: Junge Frauen werden als Subjekte gesellschaftlicher Modernisierung angesprochen, als Top Girls, die ihre gesellschaftliche Partizipation über berufliche Karriere und Konsum verwirkli15
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»I also suggest that the colonial feminist discourse to unveil women in the name of liberation was linked not only to the discourse of Enlightenment, but also to the scopic regime of modernity which is characterized by a desire to master, control, and reshape the body of subjects by making them visible. Since the veil prevents the colonial gaze from attaining such a visibility and hence mastery, its lifting becomes essential. I argue that the desire to unveil women should not be seen simply as an uncovering of their bodies, but as a re-inscription, for the discourse of unveiling is no less incorporated in the existential or embodied being of Oriental women than the discourse of veiling.« (Yeğenoğlu 1998: 12) Vgl. zu einer entsprechenden Kritik Castro Varela/Dhawan 2016.
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chen (McRobbie 2009). Als Ergänzung dazu erscheint die perfect mom, die angehalten ist, Karriere und Familie in einer strategischen Work-Life-Balance auszutarieren (McRobbie 2015). Ein Blick in die sozialen Medien zeigt eine Vielzahl von Mummy-Blogs, die diesen Befund bestätigen: Frauen mit Kindern erscheinen als Familienmanagerinnen, die mittels verschiedener Zeitund Selbsttechnologien ihre Familie unternehmensgleich führen. Diese Figuren versinnbildlichen das adult-worker-Modell des postindustriellen Zeitalters in seiner feminisierten Version, das einen emanzipatorischen Gewinn verspricht. Wie McRobbie aufzeigt, sind die traditionellen Zwänge gerade nicht außer Kraft gesetzt, sondern müssen dem neuen Modell angepasst werden, denn herkömmliche Schönheits- und andere gesellschaftliche Normen gilt es weiterhin zu erfüllen (2011a). Umso entlastender mag es daher erscheinen, die Nichterfüllung auf die Muslimisch-Andere zu projizieren, der abgesprochen werden kann, sich dem Sichtbarkeitsgebot und dem damit verbundenen Konkurrenzdruck zu stellen. Durch die Kulturalisierung bleiben jene Faktoren unbenannt, die dem idealen Karriereweg entgegenstehen – Diskriminierungen bis hin zu Berufsverboten für Kopftuchträgerinnen im öffentlichen Dienst (vgl. Klausing 2013) oder prekäre Arbeitsverhältnisse. Kathrin Klausing weist zudem darauf hin, dass die orientalisierenden Stereotypen von Rückwärtigkeit, Fremdheit und Gefahr in dem Maße einen Auftrieb in öffentlichen Medien erfuhren, wie muslimische Frauen in der Öffentlichkeit sichtbarer wurden und Positionen beanspruchten (ebd., 86) – also tatsächliche Konkurrenzsituationen (nicht nur) zwischen Frauen* entstanden. Damit kommen die Konfliktlinien in den Blick, die anhand der Figur der muslimischen Kopftuchträgerin ausgehandelt werden. Müller spricht diesbezüglich von einer »medialen Hyperritualisierung« (2011: 145), durch die kopftuchtragende Frauen als Projektionsfläche für die Bewältigung von allgemeinen Ängsten erscheinen, die sich an dem Konstrukt der multiethnischen Gesellschaft entlang von Differenzlinien entzündeten – sei es in Bezug auf als ambivalent erlebte Geschlechterbeziehungen, auf ökonomische Konkurrenzsituationen oder (religiös begründete) Einschränkungen von Freiheiten.17
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Vgl. auch die weitergehende Analyse struktureller Aspekte von Bojadzijev (2018), die danach fragt, inwieweit die Figur der Geflüchteten (figure of refugee) im öffentlichen Diskurs als »sozialer Seismograph« gegenwärtiger soziopolitischer Konflikte zum Einsatz kommt.
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2.
Modernität und Vermittlung
Die Repräsentation muslimischer Frauen als Projektionsfläche für Differenz, welche das säkulare, moderne und emanzipierte Selbst absichert, beschreibt nur einen Aspekt der Positionierungen. Relevant ist ebenfalls die Positionierung als Projektionsfläche der Vermittlung zwischen den resultierenden Polaritäten. Müller spricht hinsichtlich der Medienrepräsentation von Migrant*innen in den 2000er-Jahren von einer paradoxen Pluralität, um die Gleichzeitigkeit von negativen Darstellungen und positiven Bewertungen als »gut integriert« zu benennen (2011: 151). Die längere Zeit wohl bekannteste öffentliche Positionierung muslimischmigrantischer Frauen ist die der radikalen Islamkritikerin, die seit Mitte der 1990er-Jahre und insbesondere ab den 2000er-Jahren eine erhöhte mediale Sichtbarkeit erhielt. Aus dieser Position wurde u.a. Kritik an geschlechterbasierter Gewalt in konservativen muslimischen Migrant*innenfamilien in medienwirksamer Weise artikuliert. In Form von vielfachen hohen nationalen Auszeichnungen wurde dies als Engagement im Namen der Emanzipation und der Menschenrechte von Frauen, von Freiheit oder Liberalität von der Mehrheitsgesellschaft ausdrücklich anerkannt.18 Allerdings erwies sich diese Position in mehrfacher Hinsicht als begrenzt: Erstens, so die Kritik von islamisch- und postmigrantisch-feministischer Seite, sei sie nur deshalb akzeptabel, weil sie als »authentische« Stimme wahrgenommen würde, welche islamfeindliche Denkmuster bestätige. »In diesem Moment«, so Castro Varela/Dhawan (2016: 24), »verquickt sich ein hegemoniales Zuhören, welches nur das hört, was die dominanten Verhältnisse reflektiert, mit der Forderung der politisierten Minderheiten nach dem Recht auf eine eigene, eben authentische Stimme«. Unhörbar bleiben so strukturelle, gesellschaftlich verursachte Gründe für Gewalt. Denn, so Naime Çakir: Die Unterschiede zwischen muslimisch geprägten Frauen lassen sich nicht allein in der Differenz »säkular« versus »religiös« beschreiben, sondern nur vor dem Hintergrund von Bildungsmöglichkeiten, Chancen auf dem
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An dieser Stelle sollen nicht die vielfältigen Diskussionen wiederholt werden. Sie entfachten sich vielfach an den Äußerungen von Necla Kelek, die ab 2001 mit ihren umstrittenen Thesen über die muslimische Parallelgesellschaft in Deutschland für Aufsehen sorgte. Ähnliche Aufmerksamkeit erhielten auch Seyran Ates oder Serap Çileli; Letzterer wurde 2005 das Bundesverdienstkreuz verliehen.
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Arbeitsmarkt, Abhängigkeit von Ehemann und Familie sowie Sprachkenntnissen. Nur entlang dieser Merkmale lassen sich die Fragen nach Unterdrückung, der Diskriminierung und den Emanzipationsmöglichkeiten dieser Frauen beantworten. Denn unterdrückte und fremdbestimmte Frauen gibt es sowohl unter »säkularen« als auch unter »praktizierenden« Musliminnen – genau so, wie in beiden Gruppen auch Frauen zu finden sind, für die Gleichberechtigung und Teilhabe am Gesellschaftsleben eine pure Selbstverständlichkeit sind. (Çakir 2006) Eine solche Typisierung, so Çakir weiter, werde dem Problem auch deshalb nicht gerecht, weil der Unterschied so trennscharf nicht sei, denn es gebe »eine große Zahl muslimischer Frauen […], die sich sowohl als › praktizierende‹ Muslime – ob mit oder ohne Kopftuch – wie auch im staatsrechtlichen Sinne als ›säkular‹ verstehen« (ebd.). Zum anderen können die Kritikerinnen die Differenzposition auf diese Weise nicht verlassen, sondern bleiben dem Assimilationsparadox verhaftet: Es verwundert daher nicht, dass vor allem jene Muslime als besonders kompatibel gelten, die wortstark ›europäische Normen und Werte‹ preisen und die den Islam in ein überkommenes teleologisches Projekt der Moderne einzuschmelzen oder gar zum Verschwinden zu bringen versuchen – die Necla Keleks, Bassam Tibis oder Fadela Amaras Europas. Bedauerlicherweise bleiben auch sie außergewöhnliche Bürger, weil auch sie als muslimische Andere zum Sprechen gebracht werden und als solche antworten. (Amir-Moazami 2016: 26) Amir-Moazami führt die beiden Aspekte von Abgrenzung und Anerkennung im Begriff des Assimilationsparadoxes zusammen: »Die Paradoxie der Anerkennung, Assimilation oder gegenwärtig Integration besteht also vor allem darin, dass im Prozess des Anerkennens […] ›Minderheiten‹ stets aufs Neue markiert und produziert werden.« (ebd.: 27). Damit geht es also nicht allein um das Nebeneinander verschiedener Darstellungsformen, sondern um ein strukturelles Phänomen, das »Bestandteil einer modernen Machttechnik und in den modernen Nationalstaat eingeschrieben ist« (ebd.). Ein dritter Aspekt der Kritik seitens muslimischer Feminist*innen und Aktivist*innen bezieht sich darauf, dass diese lautstarke und undifferenzierte Islamkritik die langjährige Aufklärungs- und Beratungsarbeit verdecke, die an der Basis von islamischen Frauenorganisationen, islamisch-feministischen Zusammenschlüssen und Aktivist*innen geleistet wurde und wird
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(Gümüsay 2013). Sie nehmen genau die hybride Position ein, der die dominante Stereotypisierung von Differenz keinen Platz einräumt. Die seit Mitte der 1990er-Jahre entstandenen muslimischen Frauenorganisationen grenzten sich sowohl gegenüber patriarchalen theologischen Auslegungen des Islam durch muslimische Verbände ab als auch von rassistischen Stereotypen, denen sie eine eigene Identität entgegenzusetzen suchten (vgl. Gamper/Reuter 2008: 81, Çakir 2006). Diese Entwicklung steht auch im Kontext internationaler islamischer Frauenbewegungen, in denen sich islamische Feminismen bzw. ein islamisch begründeter Einsatz für Frauenrechte in Abgrenzung zum »säkularen Feminismus« etablierte. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Freiheit in Bezug auf die Auslegung des Korans und zugehöriger Schriften und der Auffassung des Geschlechterverhältnisses, dessen Spektrum sich zwischen einem religiös begründeten komplementären Verhältnis und sozialer Konstruktion bewegt.19 Auch in Deutschland sind vielfältige Ansätze zu finden, die verschiedene Ziele verfolgen, wie Bildung und Beratung in den Bereichen Gesundheit, Familie u.a. von und für muslimische Frauen, theologisch-hermeneutische Studien mit eigenständigen Koranauslegungen und/oder die politische Vertretung muslimischer Frauen.20 Bei allen Unterschieden der Glaubensrichtungen und -ausdeutungen sowie des Stellenwerts islamischer wie feministischer Selbstverortungen oder Abgrenzungen erscheint als gemeinsame Grundlage der Initiativen der Abbau von geschlechtsspezifischen Benachteiligungen, wofür der religiöse Bezug, insbesondere der Erwerb von Deutungskompetenz der religösen Schriften, als Empowerment in Anspruch genommen wird. Ein emanzipatorisches Verständnis des Islam erscheint so als dezidierter Gegenentwurf zum Bild der unterdrückten muslimischen Frau (Çakir 2014: 9). Die Position der islamischen Frauenrechtlerin, so das Ergebnis von Gampers Untersuchung muslimischer Frauenvereine in Deutschland, wird häufig von intellektuellen Frauen der 2. oder 3. Generation muslimischer Ein19
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»Mit islamischen FeministInnen sind somit diejenigen AkteurInnen gemeint, deren wesentliche Argumentationsgrundlage für die Einforderung von Frauenrechten der Koran und die Überlieferungen des Propheten Muhammad darstellt, und nicht etwa die UN-Konventionen für Menschenrechte.« (Salah 2010: 49) Diese Bewegung wird stark getragen von Aktivist(*)innen und Wissenschaftler(*)innen, die sich jedoch nicht alle als feministisch bezeichnen. Vgl. Netzwerke wie das Zentrum für Islamische Frauenforschung (ZIF, www.zifkoeln.de) oder die Begegnungs- und Fortbildungsstätte muslimischer Frauen e.V. (BFmF, www.bfmf-koeln.de) – einen Überblick gibt Çakir 2016.
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wander*innenfamilien eingenommen, denen es gelungen sei, eine »hybride Identität aus ihrer Herkunfts- und Aufnahmekultur sowie ihrem Verständnis von Islam und weiblicher Identität« auszubilden (Gamper 2011: 277). Auch Korteweg/Yurdakul konstatieren: »Das dominante Narrativ der Zugehörigkeit mag die Existenz dieser Frauen als deutsche Musliminnen nicht anerkennen, aber ihre Alltagspraxis zeigt, dass ein sehr viel kosmopolitischeres Verständnis von Zugehörigkeit möglich ist. Diese Zugehörigkeit ist dann nicht mehr in der Homogenität einer vermeintlich gemeinsamen Kultur verwurzelt.« (2016: 228). Die Sichtbarkeit der deutschen Muslimin hat sich seit 2010 auch durch eine stärkere akademische Beschäftigung mit dem Thema der Rolle von Frauen im Islam bzw. Gender und Islam erhöht sowie durch die Eröffnung von Zentren und Studiengängen verstärkt. Diese Entwicklung profitiert von dem internationalen Interesse, das die Verknüpfung »Islam und Frauen« gewonnen hat, so dass islamische Feministinnen »gern gesehene Gäste« auf internationalen Konferenzen und in Talkshows« sowie in vielen nationalen und internationalen Netzwerken wurden (Salah 2010: 51). Auf verschiedenen Kanälen der sozialen Medien in eher popkulturellen und/oder akademischen Kontexten sind in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren (queer-)feministische und/oder frauenpolitische Personen sichtbar geworden„ die auch mit Kopftuch/Hijab als Gläubige auftreten und dies thematisieren. Dazu zählen Journalist*innen und Blogger*innen aus ganz unterschiedlichen politischen Richtungen, wie Kübra Gümüsay, Lamya Kaddor, Sineb El Masrar oder Khola Maryam Hübsch, ebenso wie verschiedene Autor*innen des Blogs Young Urban Muslims (vormals HuffPost) oder »Hijabis – Kopftuch als Lifestyle« (https://www.allure.com/story/muslim-hijabiwomen-talk-about-hijabs) oder die durch Provokationen bekannt gewordene Rapperin und Akademikerin Reyhan Şahin, die als Lady Bitch Ray bzw. Dr. Bitch Ray auftritt. Deutlich wird hier die Heterogenität, die als Überlagerungen verschiedener Ansprüche und Bedürfnisse sowie Konfliktlinien kritisch benannt wurden, einschließlich der Kritik an Frauenorganisationen und Akteurinnen als zu konservativ oder fundamentalistisch (vgl. El Masram 2016). Wenn auch das Bild der deutschen Muslimin oder muslimischen Migrantin dadurch an Präsenz gewonnen hat, so bleiben die Aufgaben der Repräsentation und Vermittlung weiterhin an dieser Position haften – nicht immer führt das zur Aufhebung von Stereotypen, wie Gümüsay die zugewiesene Funktion als »Pressesprecherin des Islam« kritisiert (2012). Erschwert bis unmöglich ge-
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macht erscheint durch die Politisierung des Kopftuchs die Position der kopftuchtragenden Muslima, die ihren Glauben nicht öffentlich vertreten möchte, und damit die Wahrnehmung des Kopftuchs als Privatangelegenheit, nicht als politisches Statement. Zudem erscheint diese hybride Positionierung fragil und dem Druck von verschiedenen Seiten ausgesetzt, wie Çakir in Bezug auf Muslima feststellt, die sie als emanzipatorisch-feministisch orientiert bezeichnet: Sie drohen in den ihnen zugewiesenen Rollen gefangen zu bleiben. Je nach Perspektive und festgezurrten Interessenssphären legen diese sie als armes, von patriarchalen Mächten drangsaliertes Opfer fest, als gefährliche, das Eigene bedrohende islamistische Fundamentalistin oder als glaubens-schwache Muslima, die, von westlich-emanzipatorischen Ideologien beeinflusst, vom korrekten Weg ihrer eigentlichen religiös vorgezeichneten Bestimmungen und den daraus resultierenden Aufgaben einer Frau abgekommen ist. Für etablierte säkulare Feministinnen bleiben sie mysteriös und unglaubwürdig, so lange sie einem Glauben anhängen, der aus deren vermeintlich aufgeklärten Perspektiven per se frauenfeindlich ist. Es scheint, dass diesen Frauen trotz aller redlichen Bemühungen von keiner Seite Glauben geschenkt wird. Das mag möglicherweise auch ihre Stärke ausmachen. (2016: 11) Auch diese Positionierungen sind also in ihrer Wirksamkeit eingeschränkt durch die Struktur des Assimilationsdilemmas, das die Durchlässigkeit zwischen den Positionen begrenzt und die Sprecher*in auf eine Differenzposition festzulegen sucht, ohne wirksame Differenzen anzuerkennen.
3.
Muslim Top Girl – das Dilemma der Modernisierung
Strategien für den Umgang mit Dilemmata zwischen Ausgrenzung und Selbstbehauptung setzen auch direkt am muslimisch konnotierten Dress und seiner Vermarktung an. Adelt, Autorin der Studie Kopftuch und Karriere (2014) beschreibt »vestimentäre Anpassungsstrategien«, die von jüngeren Frauen eingesetzt würden, um dem Dilemma zu entgehen. Insofern mit bestimmten Formen des Kopftuchs – das wiederum im Zusammenhang mit der restlichen Kleidung gesehen werden muss – einerseits eine mus-
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limische Zugehörigkeit demonstriert wird21 und damit eine Differenz vom vorherrschenden Mainstream und zugleich der Wille sowie der Anspruch auf Partizipation bestehen, erhält die Frage der Sichtbarkeit eine strategische Funktion. Unter dem von Tarlo (2010: 189) entlehnten Begriff der visuellen Integration beschreibt Adelt Strategien der Umkodierung des muslimischen Dresses von »Rückständigkeit« zu »Modernität«, von »Unterdrückung« zu »Selbstbestimmung« entsprechend dem aktuellen Selbstverständnis der befragten muslimischen Frauen (Adelt 2014: 389). Diese vestimentären Strategien setzen auf Integration und Normalisierung über Kompromisse: Die Rolle der Mode ist von besonderer Bedeutung für die Frage der (visuellen) Integration. Dies zeigt die Taktik der Kompensation durch Stil und Geschmackskompetenz, denn ihre Aufgabe ist es, zwischen Vorstellungen von der gläubigen Muslimin und der berufstätigen Frau zu vermitteln. Insofern ist sie unverzichtbar für die Frauen […]. Denn modische Tücher und Schals, neue Bindetechniken oder ihre Kombination mit modischer Kleidung betonen, dass es sich um mehr als um eine religiös motivierte Bekleidung handelt; es ist eine Kleidung, die sowohl religiösen als auch weltlichen Vorstellungen gerecht werden muss. Es ist die Kleidung von Frauen, die sowohl den einen als auch den anderen Ansprüchen gerecht werden wollen. (Ebd.: 402) Ob das Auftreten der Kopftuchträgerinnen in beruflichen Kontexten jedoch tatsächlich als Zeichen der Fortschrittlichkeit aufgefasst wird, sieht Adelt angesichts der undifferenzierten Bewertung der Kopfbedeckung als fraglich an (ebd.: 394). Letztlich riskieren diese Bekleidungsstrategien auf Kosten der Kopftuchträgerinnen zu gehen, denn das Sichtbarmachen des religiösen Bezuges in Verbindung mit Bildung, Berufstätigkeit, Aktivität führe, so die Studie, häufig zu einem Rechtfertigungsdruck. Aus dem neuen Ideal der gläubigen Muslimin, so ein Fazit der Autorin, könne leicht eine Dreifachbelastung durch die Ansprüche von Religion, Familie und Beruf entstehen. Auch in Hinblick auf eine veränderte soziale Zuordnung – eine »Umdeutung des muslimischen Kopftuches von einem Kleidungsstück, das mit Unterprivilegiertheit assoziiert wird, hin zu einem religiösen Kleidungsstück, das von gebildeten und berufstätigen Frauen getragen wird« (ebd.: 403) – wird der Erfolg durchkreuzt von juristischen Verbotsmaßnahmen, die genau diesen Zutritt etwa zu Tätigkeiten im Öffentlichen Dienst erschweren oder verhindern (vgl. auch
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Vgl. zur Diversität und Unterschieden des muslimischen Kopftuchs Şahin 2014.
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ebd.: 329-335) – wie dem zu Beginn geschilderten Gesetz zum »Gesichtsverhüllungsverbot«. Diese Diskussionen stehen im Kontext internationaler Debatten und Produktionen islamischer Mode, die in einem Stilmix Elemente, die als westlich gelten mit solchen, die als muslimisch akzeptiert sind, verbinden und sich so von streng zurückhaltender islamischer Kleidung abgrenzt. Adelt verweist auf das Ideal »der modernen bedeckten Frau« als »moderne Konsumentin«. Auch als Unternehmerinnen sind muslimische Frauen* an diesen Entwicklungen beteiligt. Die Kommerzialisierung, so Adelts Schlussfolgerung, spiele eine wichtige Rolle in der »Visualisierung eines neuen islamischen Frauenbildes«, denn dafür brauche es ein breites Angebot (ebd.: 403). Die emanzipatorische Seite islamischer Mode stellte Emma Tarlo anhand der Biografie dreier muslimischer Britinnen heraus und verknüpfte sie mit der Vision von »new forms of Islamic cosmopolitanism«, in der die konventionellen Dichotomien von religiös/säkular, traditionell/modern, Islam/Westen überwunden werden könnten (2011: 2). Sie betonte das Zusammenspiel zwischen lokalen Umständen und globalen Kräften, als deren Ergebnis die islamischen Modestile zu betrachten seien, was nicht mit einem einfachen Rückgriff auf eine vereinheitlichte »Kultur« gleichzusetzen wäre, sondern sich vielmehr selbstständigen Aneignungs- und Verknüpfungsprozessen verdanke (ebd.: 27). In der Zwischenzeit ist bedeckende Kleidung unter dem Label »Modest Fashion« auch in Deutschland auf dem Weg zu einem anerkannten Modestil, der sowohl auf den Laufstegen als auch im Museum gezeigt wird.22 Ob diese Mode die emanzipatorischen Ansprüche erfüllen und dominierende Normen von Schönheit und Sichtbarkeit abweisen kann oder sich aber als eine weitere »sphere of feminine self-policing« erweist, so McRobbies Bewertung der Zuwendung junger Frauen zum Bereich der Mode (2011), bleibt eine zu klärende Frage. Während Adelt und Tarlo ein pragmatisches bzw. selbstständiges Handlungsmodell der modernen, muslimischen Berufstätigen und Konsument*in/Produzent*in beschreiben, scheint als Kehrseite das auf, was in zwei Studien als die Konstruktion eines muslim top girl nachgezeichnet wird. Naaz Rashid (Großbritannien) und Shelina Kassam (Kanada) stellen
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Vgl. Jakoby 2019; zwar werden hier keine Niqabs gezeigt, die unter die Gesichtsverhüllung fallen, wohl aber Hijabs in Verbindung mit Sonnenbrillen, die auch als Anspielung gelesen werden können. Zur Ausstellung in Frankfurt a.M. im April 2019 vgl. Weinhold 2019.
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Figurierungen vor, die McRobbies Konzept der neoliberalen Konstruktion weiblicher Subjekte der Exzellenz entsprechen (2009). Rashid weist jedoch auf einen entscheidenden Unterschied: Anders als das westlich und nichtmuslimisch konzipierte Top Girl unterliegt das Konstrukt des model muslim girl, das sie für Großbritannien untersucht, einem ähnlichen »Girl Effect« wie entwicklungspolitische Diskurse. Dieser besteht darin, Mädchen und Frauen im Dienste der Entwicklung von Ländern des globalen Südens anzusprechen und zu fördern, während globale strukturelle Faktoren dahinter verdeckt blieben. In ähnlicher Manier, so das Untersuchungsergebnis, richtete sich der Fokus in Großbritannien auf muslimische Mädchen, die vor ihren vermeintlich nicht engagierten bzw. unterdrückenden Communities »gerettet« werden müssten, was in ein nationales Interesse eingebettet wird (Rashid 2016: 259f.). Zentral ist die Anforderung der Vermittlung zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Communities, die direkt in den Dienst von nationaler (Sicherheits-)politik gestellt wird, wie auch Kassam beschreibt. Ihr Ansatzpunkt ist die Figur der can do woman, womit sie die Konstruktion der modernen muslimischen Frau im kanadischen Magazin Muslim Girl bezeichnet: »[…] a particular type of identity for Muslim women as a marketable global citizen and neo-liberal subject in an increasingly consumerist world. This identity imagines an ideal Muslim woman, portrayed as liberal, open-minded, educated, fashionable, a ›can-do‹ woman who remains committed to the principles of her faith.« (Kassam 2011: 543f.) In dem kurzlebigen Magazin wurden beispielhaft Perspektiven von innen artikuliert, die sich zu einer idealisierten Figur verdichteten: »This so-called ›modern‹ Muslim (read: ›good Muslim‹) is juxtaposed both against the ›fundamentalist‹ Muslim (read: ›bad Muslim‹) and the ›normalized‹ white North American subject.« (Ebd.). Zentral ist auch hier das Moment der Vermittlung, das Kassam über das Konzept der familiar stranger herleitet: »[A] woman who is both ›North American‹ and ›Muslim‹«, zugleich ein Symbol von Modernität und »ideal of the ›good‹ pious woman that carries the ideals of ›tradition‹ on her body« (ebd.: 557f.). Der gesellschaftliche Erfolg erscheint über eine individuelle Entscheidung zu »education, emancipation and empowerment« zu erreichen zu sein (ebd.: 552), während die ideale muslimische Frau zugleich in einer muslimischen Gemeinschaft verortet ist, die sie repräsentiert und die selbst idealerweise modernisiert und amerikanisiert erscheint: »The ›ideal‹ Muslim woman is represented as a modern, cosmopolitan woman who
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belongs to ›both worlds‹ to carry forward this re-imagined idealized vision of Muslim womanhood and the re-imagined Muslim community.« (Ebd.: 556) Hier wird also nicht die kreative Aneignung eines modernisierten Auftretens hervorgehoben, sondern die Anpassung an neoliberale wie nationale Anforderungen: »(The ›good muslim‹) can be assimilated into the nation, and can then both reinforce the nation’s image as benevolent, and be co-opted into support for the policies of the state.« (Ebd.: 560f.). Auf diese Weise wird die Grenzziehung der Nation über das Merkmal »emanzipiert« versus »unterdrückt« nicht aufgegeben, sondern in die Doppelkonstruktion der good/bad muslims (nach Mandani 2004) hinein verlagert. Im Effekt erscheint durch die Inklusion der good muslims die Nation als modernisiert. Diese Zweiteilung erscheint implizit auch in der Untersuchung von Rashid, die zeigt, wie die Stärkung muslimischer Mädchen und Frauen hinsichtlich beruflicher Karrieren in Kanada in ein Sicherheitsprogramm integriert war. Spezielle Programme adressierten muslimische Frauen als Ehefrauen, Töchter und Schwestern mit der Maßgabe, extremistischen, islamistischen Entwicklungen in ihren Familien vorzubeugen. Das Empowerment von Frauen durch Bildung, wie es das Programm versprach, war also kein Selbstzweck, sondern eine Voraussetzung für die Bekämpfung von Terrorismus (Rashid 2016: 258). Was aus dieser fragwürdigen Verknüpfung resultiert, ist nun nicht allein eine Positionierung von Muslima als »bearer of the Migrant-Muslim collective«, sondern die Stilisierung als Retterinnen der Nation.
4.
Die »Neuen Deutschen« und die »gute Nation«?
Die Figur der ›good Muslima‹ wird auch in Deutschland in mehrfacher Weise für nationale Interessen eingespannt. So äußerte sich der damalige Bundesfinanzministers Schäuble 2016 folgendermaßen: »Für uns sind Muslime in Deutschland eine Bereicherung unserer Offenheit und unserer Vielfalt. Schauen Sie sich doch mal die dritte Generation der Türken an, gerade auch die Frauen! Das ist doch ein enormes innovatorisches Potenzial!«23 Tatsächlich wird dieses innovative Potenzial in diversen nationalen Öffentlichkeits- und Marketingstrategien zum Einsatz gebracht, wobei sich 23
Wolfgang Schäuble: »Afrika wird unser Problem sein« (08:06:2016). In: Zeit online unter www.zeit.de/politik/deutschland/2016-06/wolfgang-schaeuble-aussenpolitikwandel-afrika-arabische-welt (Zugriff: 30.04.2020).
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die Repräsentationen junger muslimischer Migrant*innen nicht auf ein Geschlecht beschränken. So kommen etwa in dem von öffentlich-rechtlichen Sendern betriebenen Youtube-Kanal »Germania«, der die Normalität multikultureller Gesellschaft zu zeigen beabsichtigt, Rapper*innen, Schauspieler*innen und andere Künstler*innen und Influencer*innen zu Wort und ins Bild. Sie haben sich bereits einen Namen in der Popkultur gemacht und äußern sich in einzelnen Videos zu ihrem Werdegang an unterschiedlichen Orten, zwischen Erfahrungen von Zugehörigkeit und Zurückweisung als Migrant*innen, als Nachkommen in zweiter und dritter Generation. Das Serienformat erweist sich als ambivalent: Einerseits wird durch die vielfältigen biografischen Erzählungen ein Bild von Diversität in Deutschland vermittelt, das auch Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen einschließt. Allerdings erscheinen Letztere individualisiert und ihre Bearbeitung den Anpassungsstrategien der Einzelnen überlassen. Kritisiert wird zudem, dass genau diejenigen Erzählungen, welche die Normalität der Einwanderungsgesellschaft abbilden sollen, nicht im regulären TV-Programm, sondern in einer Nischensparte untergebracht sind (Nickel 2018). In Bezug auf die Geschlechterrepräsentation ist bemerkenswert, dass trotz der fragwürdigen Benennung und Aufmachung des Kanals – »Germania« in Frakturschrift – auf eine bildliche weibliche Figurierung oder Allegorisierung verzichtet wird. Die deutsche Nation erscheint hier nicht feminisiert, sondern diversifiziert. Zum anderen wird die oben beschriebene Bilderpolitik in Bezug auf Kopftuchträgerinnen reproduziert – sie kommen bei der Präsentation erfolgreicher Frauen nicht vor. Im bundesdeutschen, regierungsoffiziellen Kontext findet sich auch der von Rashid beschriebene Rettungsdiskurs wieder. Unter der unübersichtlichen Vielfalt von Projekten, wie sie im Bundesprogramm »Demokratie leben!« des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zusammengeführt sind, befindet sich in der Rubrik »Modellprojekte zur Radikalisierungsprävention« (2015-2019) auch eines unter dem Titel Frauen stärken Demokratie (Frauenbegegnungsstätte UTAMARA e.V.): Das Projekt stellt dabei das Potenzial und die Verantwortung von Frauen in ihrer Rolle als Mutter und als politische, handlungsfähige Subjekte einer demokratischen Gesellschaft in den Mittelpunkt. Es will Frauen, Mütter und junge Frauen im Leben und in der Vermittlung demokratischer Grundwerte und Haltungen in ihrer Familie und in der Gemeinde, sensibilisieren und stärken und damit der Gefahr einer Radikalisierung junger Menschen
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durch salafistische Organisationen aktiv, eigen- und sozial-verantwortlich entgegenzuwirken. (https://www.demokratie-leben.de/modellprojekte/ radikalisierungspraevention.html [Zugriff: 30.04.2020]) Ähnlich wie von Rashid beschrieben, ist auch dieses Angebot gespickt mit Unterstellungen eines per se undemokratischen Verhaltens, Ignoranz gegenüber gewaltfreier Erziehung sowie Unkenntnis in Bezug auf religiöse Identität und Ideologien in nicht näher bezeichneten Migrationsfamilien, die in dieser Hinsicht der Aufklärung bedürfen. Das Auswärtige Amt wirbt auf seiner Webseite deutschland.de ebenfalls mit der Integrationskraft junger Frauen. Unter dem Titel Sozialarbeit gegen Fundamentalismus wird eine Sozialarbeiterin im Interview vorgestellt, die ehrenamtlich Präventionsarbeit an Schulen und Jugendclubs in Hinblick auf salafistische Gruppierungen leistet (vgl. Berg 2019). Problematisch erscheint hier nicht, dass eine wichtige und notwendige soziale Arbeit der Öffentlichkeit präsentiert wird. Diese unbezahlte Arbeit wird jedoch als »privates Engagement« einer Frau vorgestellt, die durch ihr Auftreten als kopftuchtragende Muslima eine scheinbar natürliche Verbindung zur adressierten Gruppe potenzieller »Gefährder« und »Gefährderinnen« aufzuweisen scheint. Solcherart für nationale Marketingzwecke instrumentalisiert, kann Deutschland als »good multicultural nation« erscheinen. Denn genau das möchte die Webseite vermitteln – ein Bild von Deutschland als »viefältig und lebendig«. Angesichts der real existierenden Vielfalt gibt es einige Ansätze, diese in einem neuen Nationalnarrativ abzubilden. In einem postmigrantischen Verständnis, wie es etwa Naika Foroutan vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) vertritt, erscheint Heterogenität als »deutsche Normalität«, welche auf die Fixierung nationaler Identität verzichtet: »Das ›Deutschsein‹ wandelt sich und wird vieldeutiger«: Eine narrative Ausweitung der deutschen Identität hätte zur Folge, dass das Migrantische selbst zum konstitutiven Element des nationalen Narrativs und der deutschen Identität würde: Deutschland würde sich dann als »Nation of Immigrants« neu erzählen, dem Deutschsein wäre das Migrantische dann inhärent und stünde ihm nicht mehr als Gegensatz gegenüber. (Foroutan 2015) Dies ist auch das Anliegen von Netzwerkgruppen, die sich auf dem Blog Die neuen Deutschen als Interessensvertretung für Menschen in unterschiedlichen
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beruflichen Feldern »mit Migrationsgeschichte« organisieren.24 »Integration« wird hier nicht als Sonderbehandlung für Zugewanderte verstanden, sondern als Ausgleichsmaßnahmen für Ungleichheiten, die alle Bevölkerungsgruppen einbeziehen. Denn während »Integration« gefordert und gelebt wird, bestehen bekanntlich hohe Hürden. Als entscheidendes Hindernis wird immer wieder auf das deutsche Modell der Kulturnation verwiesen, das eng an Homogenitätsvorstellungen geknüpft ist und die Zugehörigkeit sich an möglichst vollständiger Assimilation im Sinne von Anpassung (an die »Leitkultur«) bemisst (s.a. Korteweg/Yurdakul 2016: 211). Mecheril spricht hier von einem »Integrationsdispositiv« als einem Bündel von Anforderungen und Maßnahmen, ein »Netz, das zwischen kulturellen, institutionellen, bürokratischen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und medialen Ereignissen gespannt ist, in welchen ein natio-ethno-kulturelles ›Wir‹ sich von seinem ›Anderen‹ scheidet.« (2011: 53) Das Integrationsdispositiv legitimiert demnach nicht nur Ungleichbehandlungen, sondern erscheint als Versuch der Bewältigung einer Krise der Nation, ausgelöst durch verschiedene Formen der Grenzüberschreitung. Unter diesen Voraussetzungen steht der Verzicht auf eine Fixierung nationaler Identität in weiter Ferne. Eine breite Aufmerksamkeit erhielt hingegen die kulturnationalistische Neudeutung einer »neuen deutschen Identität«, wie sie von Martina und Herfried Münkler 2016 vorgelegt wurde. Dieser weit rezipierte und auch auf der Internetseite des Auswärtigen Amts zu findende Entwurf proklamiert ein »tolerantes«, »weltoffenes und nicht mehr ausschließlich ethnisch definiertes Deutschland« (Münkler/Münkler 2016: 18). Im Unterschied zu dem nicht näher bestimmten »Zusammenleben«, wie es von CDU-Politikern zur Legitimation von Kleidungsvorschriften angeführt wurde (s.o.), werden die »Merkmale des Deutschseins« hier benannt: Sie umfassen u.a. einen Verfassungspatriotismus nach Habermas ebenso wie Säkularismus und freie Lifestyle- und Partner*innenwahl. Das zentrale Argument für die Akzeptanz von Migration und Vielfalt aber ist ein ökonomisches, nämlich die Sicherung des materiellen Status quo der Nation unter Vermeidung von gesellschaftlichen Spaltungen. Eingebettet in ein ökonomisch-demografisches Nationalnarrativ erscheint Einwanderung in Deutschland bekanntlich affirmierbar Denn eine unter nationalökonomischen Gesichtspunkten als 24
Vgl. allgemein https://dieneuendeutschen.wordpress.com; für den Medienbereich Die Neuen Medienmacher (www.neuemedienmacher.de/ueber-uns/standpunkte).
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günstig bewertete biopolitische Zusammensetzung der Bevölkerung steht, wie Schultz analysierte, im Dienst der Projektion einer vielversprechenden nationalen Zukunft (Schultz 2016: 134). Unter dem Schlagwort replacement von Arbeitskräften wird nationale Nützlichkeit ökonomisch in Hinblick auf Alter, Familie, Geschlecht bzw. Fertilität bestimmt, was u.a. auch zu einer Hierarchisierung von Bleiberechten bzw. dem Überdenken von Einwanderungsgesetzen führte (ebd.: 130ff.). Dass diese Phänomene nicht als einfache Ein- oder Ausschlüsse gefasst werden können, sondern als differenzierte und differenzierende Mechanismen in Abhängigkeit von jeweiligen Arbeitsmarkterfordernissen und Migrationsregimes betrachtet werden sollten, so dass Grenzziehungen einer permanenten Aushandlung überantwortet werden, haben Mezzadra und Neilson (2011) mit dem Begriff der differenziellen Inklusion erneut in die Diskussion gebracht. Nationale Grenzen erweisen sich demnach längst nicht so fixiert, wie häufig unter einer kulturessentialistisch verengten Perspektive homogener Nationenmodelle behauptet, sondern unterliegen längst globalen wie regionalen Entwicklungen nicht allein ökonomischer Art.25 Pluralität und Diversität erscheinen in dieser Perspektive nicht als Gegensatz, sondern als Charakteristika einer »(spät-)modernen Nation« (vgl. Mayer 1986: 91). Allerdings bestehen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Strömungen Ungleichzeitigkeiten, die zu Polarisierungen führen. Bojadžijev (2018) hat unter Bezug auf die »Flüchtlingskrisen«-Diskurse nach 2015 aufgezeigt, wie durch aktuelle Migrationspraktiken bislang ungelöste Konflikte im Zusammenhang mit sozialer Diversität und Infrastruktur sowie Neoliberalisierung und Transnationalisierung aufbrechen. Migration fungiere als »sozialer Seismograph«, worüber grundlegende soziale und politische Fragen um soziale Diversität und Zugehörigkeiten, die jahrzehntelang ignoriert worden seien, in den Blick kämen.26 Ansätze wie die von Münkler/Münkler, die an25
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Daran sind staatliche wie nichtstaatliche Gruppen und Instanzen beteiligt, die beständig alte Mythen und Figuren umarbeiten und neue hervorbringen. Vgl. zu nationalen Re- und Dekodierungen von (alltags-)kulturellen Erscheinungen (insbes. nach 1989) Götz 2011: 20. »In this process, I argue, migration is increasingly becoming a social seismograph through which to assess broader social discourse, introspections, as well as visions of community, insofar as migration has become figurative for vital negotiations and polarisations on belonging. In the migration debate, which reflects a demographic shift as well as change in self-identity, the negotiations and polarisations indicate underlying anxieties and tensions in a time when ideas of national community seem increas-
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getreten sind, gesellschaftliche Spaltungen zu überwinden, erreichen dies gerade nicht, da sie, wie Bojadžijev kritisiert, genau diejenigen neoliberalen Deregulierungen favorisierten, welche die gesellschaftlichen Polarisierungen befördern, was aber hinter dem gemeinschaftsstiftenden Ansinnen häufig übersehen werde (2018: 345). Zudem erscheint der Erwerb der Staatsbürgerschaft als individuell zu erbringende Leistung angelegt, sodass neue Ausschlüsse erzeugt werden (ebd.). Damit erscheint das Konzept als eine erweiterte Neuauflage des Integrationsdispositivs, mit dem adaptierte nationale Einund Ausschlüsse verbunden sind, nicht aber existierende Polaritäten vermittelt werden. Diese Vermittlungsarbeit wird weiterhin delegiert – gerne an junge Frauen als migrantische Subjekte der Exzellenz. Zusammenfassend lässt sich also konstatieren, dass sich diese muslimisch-migrantische Positionierung als höchst ambivalent erweist, insofern sie nicht allein als Spiegel und Grenze des nationalen Kollektivs in Anspruch genommen wird, sondern auch als Vermittlungsinstanz zwischen Homogenität und Diversität, also gleichsam als Objekt und Subjekt zugleich. Vergleichbar mit der von Bojadžijev beschriebenen Figur der Geflüchteten (figure of refugee) als internal other (vgl. Bojadžijev 2018: 337f.) geht es auch bei der in diesem Text beschriebenen Figur der muslimisch-migrantischen Kopftuchträgerin um eine Repräsentation widersprüchlicher und konflikthafter Zugehörigkeitspolitiken und Umarbeitungen traditioneller Strukturen in Verbindung mit Migrationsprozessen. Diese stehen im engen Zusammenhang mit Umarbeitungen von Geschlechterverhältnissen und Nationalpolitiken. In diesem Sinne lassen sich auch die Debatten um das Kopftuch als sozialer Seismograph bezeichnen, repräsentiert durch die Figur der muslimisch-migrantischen Kopftuchträgerin als internal other, zugleich Objekt und Subjekt nationaler Selbstfindung.
ingly irrelevant, and transnational affiliations and practices of belonging across distant societies seem as important of a commitment to any local community. While theses transnational processes have been apparent for years if not decades, the refugee movement triggered a new set of ideas about belonging and political affiliation.« (Bojadžijev 2018: 337)
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5.
Un-/Sichtbarkeiten und die Umkehr des Blicks
Insgesamt weisen die akademischen Analysen und populärkulturellen bzw. regierungsoffiziellen Texte, die hier zusammengetragen wurden, um muslimisch-weiblich konnotierte Positionierungen näher zu betrachten, widersprüchliche Fremd-, aber auch Selbstzuweisungen auf. Während bekennende muslimische Frauen Wertschätzung erfahren können als öffentliche Vermittlerinnen unter der Maßgabe eines normentsprechenden Auftretens, so blieb die alltägliche Vermittlungsarbeit, die bereits in den Communities geleistet wurde, lange unsichtbar. Wird ein Karriereweg nach neoliberalen Maßgaben eingeschlagen, so müssen strukturelle Benachteiligungen individuell aufgefangen werden. Stets aufs Neue erweisen sich die Auswirkungen des Assimilationsparadoxes als Hürden, wobei eine letztliche Differenz im Dienste der Selbstvergewisserung der Mehrheitsnormen unhintergehbar erscheint. Darin zeigt sich auch die enge Verwobenheit von Sichtbarkeitsund Integrationsgebot, wie sie sich in den wiederkehrenden Debatten um Kopf- und Gesichtsbedeckung immer wieder erneuert (vgl. dazu auch Wenk 2012). Das hat unterschiedliche Reaktionen aufseiten der solchermaßen Adressierten hervorgerufen. Was inzwischen ebenfalls in den Blick gerückt wurde, sind Kritik, Abkehr und Aufbegehren gegen die uneingelösten Versprechen gesellschaftlicher Teilhabe, die mit Integrationsangeboten in Verbindung stehen.27 Gümüsay (2017) betont die besondere Wachsamkeit von Nachkommen von Einwanderungsfamilien in der dritten Generation gegenüber reduzierenden Fremdzuschreibungen, welche einem Zugehörigkeitsgefühl entgegenstehe und zur Abkehr von aktiver politischer Partizipation führe. Andere befragen radikal ihre Zugehörigkeit zu Deutschland sowie den Begriff der Heimat und weisen die an sie herangetragenen Ansprüche ab: »Es hängt nicht vom Schulabschluss ab, ob man integriert ist oder nicht«, so Nada Assaad (2017), Bloggerin mit familiären Bezügen zu Syrien. Sie könne Deutschland nicht als Heimat bezeichnen, da es die bundesdeutsche Gesellschaft nicht zulasse, als fremd deklarierte Elemente zu integrieren, mit deren Hilfe eine
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Als Beispiel uneingelöster Ankündigungen siehe die speziell eingerichtete Homepage der Bundesregierung »Integration, die allen hilft. Deutschland kann das«, die nach Verabschiedung des Integrationsgesetzes 2016 dieses über ein Informationsangebot zu verschiedenen Initiativen legitimieren helfen sollte, aber offensichtlich nach der Erstveröffentlichung nicht mehr aktualisiert wurde.
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eigene, auch gebrochene Form von Deutschsein kreiert werden könne. Öffentlichkeitswirksam war die Veröffentlichung des Sammelbandes Eure Heimat ist unser Albtraum (Aydemir/Yaghoobifarah 2019), der sich als übergreifendes Manifest diverser Positionen zugeschriebener Differenz präsentiert und als »zornig, trotzig, hoffnungsvoll« (ebd.) rezipiert wurde. »Heimat« im traditionellen Sinn erscheint etwa Salzmann nicht erstrebenswert, die Integrationsangebote werden als diskriminierend abgewiesen, stattdessen favorisiert Salzmann eigene Zugehörigkeitsbeziehungen und Allianzen, die sich auf die Gemeinsamkeit des »Aus-dem-Raster-Fallens« und dessen Sichtbarkeit beziehen (2019: 26). Auch Yaghoobifarah bezieht sich auf die Gewalt von Sichtbarkeits- und Blickstrukturen. In der Kritik steht der klassifizierende Blick des white gaze, der die Körper ›der Anderen‹ aus einer weißen Perspektive normalisiert und stereotypisiert (ebd.: 74). Unterschiedliche künstlerische Projekte haben sich damit befasst, eben diesen Blick zurückzuspiegeln und zu dekonstruieren. Dazu gehören parodistische Strategien, wie die der Comedykünstlerin und Schauspielerin Idil Nuna Baydar, die mit ihrer Figur Jilet Ayşe seit 2011 Integrationsanforderungen und -widersprüche persifliert. Dazu gehören ebenfalls Film- und Fotoprojekte. Dornhof analysiert verschiedene Strategien zeitgenössischer Künstler*innen, welche die stereotypen Darstellungsformen von Muslim*innen durchschreiten und darüber zu neuen Ausdrucksformen kommen würden. Dem weißen Blick wird, so Dornhof, ein subjektiver, repräsentationskritischer Blick entgegengesetzt, so dass die Kategorie »muslim« nicht zurückgewiesen werden müsse, sondern als andere Sichtweise refiguriert werden könne (2013: 182). In diesem Kontext verweist Dornhof auch auf die Fotoserie We, they, and I von Feriel Bendjama, die diese Arbeit im Rahmen eines Wettbewerbs unter dem Titel Islam in Deutschland? 2011 veröffentlicht hat. Die Fotokünstlerin kommentiert die Fotoserie auf ihrer Webseite folgendermaßen: Die 12 Selbstportraits zeigen verschiedene Sichtweisen auf die islamische Kopfbedeckung. Auf den Fotografien ist eine Frau mit dem islamischen Kopftuch zu sehen. Zum einen sieht man das Kopftuch aus der Perspektive und Wunschvorstellung von Muslimen. Zum anderen aus der klischeebehafteten Perspektive von Nichtmuslimen. Die Frau mit dem roten Kopftuch stellt Facetten einer Muslimin dar, welche zumeist nicht konform mit den üblichen Vorstellungen sind.
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Während die Arbeit sich klassischer Stereotype bedient, sie jedoch vervielfältigt und Selbst- und Fremdwahrnehmungen aneinanderreiht, durchkreuzt sie das vorherrschende Blickregime: [O]ne where the Muslim woman is shown as the object of a collective gaze, or a screen for projecting collective fantasies, and another where the object of view is simultaneously a subject that returns the gaze, looking at the viewer in a manner that is unsettling, disturbing or not quite easy to read. (Dornhof 2013:181) Die Bedeutung einer solchen Zurückweisung des herrschenden Blicks als Antwort auf orientalisierende und muslimifizierende Zurichtungen weist implizit auch auf die Kolonialgeschichte, in der Verschleierung und Entschleierung als Topos wie als (gewaltvolle) Praktik ein zentraler Stellenwert zukam. Ein Kernelement ist die bereits erwähnte Verknüpfung von Verschleierung und Unfreiheit, die Entschleierung als Befreiung aufruft.28 Darüber hinaus erscheint der Schleier dem westlich europäischen Blickregime der Moderne als Provokation, insofern, wie vielfach herausgearbeitet wurde, Sichtbarkeit mit Wissen, (An-)Erkennung und Kontrolle verknüpft ist (vgl. zusammenfassend Wenk/Krebs 2007: 24ff.). Eine Umkehr der Blickpositionen, welche die Konstituierung des überlegenen wissenden Subjekts durchkreuzt, kann daher grundlegend verstörend wirken. Dass solche Verstörungen auch zur Geschichte von Kolonisierung und Dekolonisierung gehören, zeigt die Lektüre algerischer Frauenporträts durch Dubois, die nach einem Akt gewaltsamer Entschleierung während des Algerischen Bürgerkriegs aufgenommen wurden. Die Gewaltsamkeit des kolonialen Blicks wurde hier fotografisch fixiert und gespiegelt: Weil diese Frauen ihren Blick auf das Objektiv richten, das sie vergewaltigt und ihnen ihre Identität nehmen will, fokussieren […] halten sie alle […] nicht nur dem Blick stand, […] sondern wenden ihn überdies um und schicken ihn (an uns) zurück. Indem sie den Operator in seinem Akt positionieren und indem sie über ihn hinweg das Dispositiv aufzeigen, in dem er nur ein Akteur ist, scheint uns jede dieser Frauen zu sagen: Ihr habt mich sehen, mir euren Blick aufzwingen wollen, ihr habt mich gezwungen, mein Gesicht zu entschleiern. Dann schaut nur, schaut mir gerade in die Augen, und in gewisser Weise werdet ihr euch
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Eine Figur, die ebenfalls in nationalen Befreiungsgeschichten verankert ist; vgl. Wenk/Krebs 2007: 24; Yegenoglu 1998: 12.
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selbst sehen und entdecken, woraus euer eigener Blick besteht. (Dubois 1998: 181f., zit.n. Wenk/Krebs 2007: 30) Ganz ähnlich ließe sich das Verfahren der Umkehr des Blickstruktur und der Verweis auf das vorherrschende Blickregime bei der Fotoserie Reda (›Zur Genugtuung‹) von Isra Abdou (2018) deuten.29 Isra Abdou beschreibt in Blogs und Interviews auch eigene Ausgrenzungserfahrungen als Lehrerin, die sie aufgrund ihrer Kopfbedeckung erlebt hat. Die Fotoserie besteht aus acht Einzelporträts von Frauen mit unterschiedlichen Kopfbedeckungen (Hijab, Burka, Turban, Shayla, Al Amira, Selendang, Chemar und Niqab) sowie einem Gruppenporträt. Das Setting erinnert an Fotoserien, welche den ästhetischen Wert muslimisch-konnotierter Kopfbedeckungen hervorheben, anders als dort sind die Kopfbedeckungen hier jedoch durchsichtig und jeweils mit einem Untertitel versehen: »Dein HIJAB funktioniert nicht«, »Deine BURKA funktioniert nicht« etc. Abdou zielt damit auf eine Selbstreflexion sowohl Kopftuch-tragender Mädchen als auch deren Kritiker*innen. Das tut sie, indem sie mit Reda den Enteignungsprozess adressiert, welcher mit Dressregulierungen und den zugrundeliegenden Projektionen verbunden ist: Die Kopftuchbefürworter werden glücklich gestimmt, weil die Frauen Schleier tragen, die Kritiker sind zufriedengestellt, weil der Schleier durchsichtig ist. Alle werden zufriedengestellt. Nur die Selbstbestimmung der Frauen – die durch das Kopftuch eigentlich selbst entscheiden, wie viel sie von sich zeigen, wie sie ihre Religion ausleben wollen, was das Kopftuch für sie bedeutet – bleibt auf der Strecke. (Abdou 2018) Sowohl das Begehren nach Entschleierung wie das nach Verschleierung werden hier sichtbar und aufeinander verwiesen, ebenso wie deren unmögliche Erfüllung. Denn der transparente Stoff erlaubt keine wirksame Verhüllung, aber auch der Blick durch den Schleier führt nicht zu einer weiterführenden Erkenntnis, sondern entlarvt dieses Bestreben nach Entschleierung als Illusion. In umgekehrter Richtung jedoch wird der beobachtende Blick zurückgegeben, wobei die Gewaltförmigkeit deutlich wird, die in der Verwehrung des selbstgewählten Auftretens liegt.
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Zunächst auf dem Blog UrbanMuslims HuffgingtonPost veröffentlicht (Abdou 2018), inzwischen u.a. auf dem bento-Portal zu finden (Abdou 2019).
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Dies ist eben jene Gewaltförmigkeit, die auch in dem zu Beginn beschriebenen Gesichtsverhüllungsverbot liegt sowie in dem zugrundeliegenden vergeschlechtlichten und orientalisierten Bilderrepertoire und den damit verknüpften binären Konzepten der internen Anderen, der familiar stranger oder der good muslima. Sie basieren auf einer hierarchisierenden Aufspaltung als fremd definierter Gruppen im Dienste einer Doppelfunktion der Spiegelung und Vermittlung eines nationalen Selbstbildes als divers. Die Lektüre unterschiedlicher Fremd- und Selbstpositionierungen migrantischer Muslima konnte einige Dilemmata aufzeigen, aber auch einen selbstermächtigenden Umgang. Anders als bei Bendjamas Serie gibt es bei Abdous Inszenierungen keine glückliche Auflösung jenseits des Dilemmas der Nicht-/Sichtbarkeit, zumindest nicht auf individueller Ebene. Dafür zeigt Abdou eine andere Perspektive auf: Das Zusammenstehen in der Gruppe zeigt sich auch als Akt der Solidarität und des Empowerments.
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Ich suche nach einem Anfang für diesen Artikel, aber es gelingt mir nicht, über mich selbst hinaus zu denken. Ich möchte von meiner Angst vor dem »anderen Mann« erzählen und von meinem Begehren und von meiner Macht und ich traue mich nicht. Ich traue mich nicht, weil es beschämend wäre, so persönlich zu schreiben, und ich traue mich nicht, weil es beschämend wäre zu zeigen, dass ich Rassismus nur über mich selbst zu entschlüsseln in der Lage zu sein glaube. Zugleich ahne ich, dass meine Unfähigkeit, vielleicht Unwille, in Verbindung mit der Position steht, die mir als weißer bürgerlicher deutscher Frau angeboten wird und an die ich mich gefällig anschmiege, und darüber zumindest lässt sich schreiben.
Weißer Frauen Ängste Die Migrationsfrage ist für unseren Heimatminister die »Mutter aller« politischen »Probleme« (Bröcker/Quadbeck 2018) und damit redet er den ProChemnitzer/-innen1 gut zu, die, wenn auch andere (Hashtag hier und Hashtag da) mehr sind2 , bei Weitem genug sind, um als besorgte Wähler*innen ernst genommen zu werden. Aber Seehofer sollte sich nichts vormachen. Die 1
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»27.147 Personen gefällt das« und »das« ist die Facebookseite der Initiative Pro Chemnitz (https://de-de.facebook.com/prochemnitz). Kommentare der FacebookSeitenadministrator*innen sprechen für sich, beispielsweise am 19. September 2018: »Daß jetzt schon Kinder von Asylbewerbern in Chemnitz zum Messer greifen, ist ein weiterer Grund, am Freitag auf die Straße zu gehen« oder am 9. September 2018: »Und der Wahnsinn geht weiter! Überall werden Deutsche wie Vieh abgeschlachtet, wir dürfen uns das nicht gefallen lassen!« Das #wirsindmehr-Konzert am 3. September in Chemnitz besuchten 65 000 Menschen; ein Slogan: »Aufstehen gegen rechte Hetze – Solidarität statt Rassismus« (vgl. www.facebook.com/wirsindmehrwsm).
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AfD war wieder einmal schneller und »Messermigration« ist ein eingängiges Wort.3 Ich glaube ja, es wird unsere Bildungsarbeit in Sachsen vereinfachen. In unserer Workshoparbeit beschäftigen wir uns gemeinsam mit Teilnehmenden aus sozialen Berufen mit Bildern muslimischer Männlichkeiten in der deutschen Gesellschaft.4 Das tun wir schon ein paar Jahre und umso faszinierender war es mitzuerleben, wie eine neue (alte) Angst entstand: die vor dem sexuell übergriffigen jungen anderen Mann. Aus unserer Arbeit kannten wir bis dahin die Figur des gewaltbereiten Heranwachsenden, des Patriarchen und die des Terroristen. Seit dem »Knotenpunkt«5 Köln sind noch einmal viele kluge wissenschaftliche Texte zu diesen Bildern geschrieben und sehr viel mehr gesagt worden, als in einen Workshoptag passt. In unseren Workshops stellen wir bezugnehmend darauf Materialien zur Verfügung, die Menschen die Möglichkeit geben, diese »Abwehrfigurationen« (Dietze 2017: 19) zu erkennen und noch dazu die historischen Linien und zeitgeschichtlichen Ereignisse, die solche Bilder produzieren. Aber erfahrungsgemäß wird dieser Erkenntnisprozess durch Widerstände erschwert. Ich weiß nicht, welche Rolle das Bild des Messermigranten in unseren zukünftigen Workshops spielen wird. Ich habe seit Chemnitz keinen Workshop gehalten.6 Aber ich habe von klein auf gelernt, von mir auf alle Frauen* zu schließen, und bin nach langen Jahren Arbeit gerade so weit gekommen, von mir nur noch auf alle weißen Frauen* zu 3
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Tweet von dem AfD-Bundestagsabgeordneten Markus Frohnmaier am 26. August 2018: »Heute ist es Bürgerpflicht, die todbringende ›Messermigration‹ zu stoppen!« und André Poggenburg (von 2014 bis 2018 Vorsitzender der AfD Sachsen-Anhalt, Austritt aus der AfD im Januar 2019) am 27. August 2018: »Die illegale Masseneinwanderung mutiert zur hemmungslosen #Messermigration! Es kann jeden und überall treffen. Die #AfD hat also keine unbegründeten »Ängste geschürt«, sondern frühzeitig auf reale (Fehl-)Entwicklungen hingewiesen.« Wir bieten vier Module zum Thema Männlichkeitskonstruktionen im antimuslimischen Rassismus im Rahmen unseres Projekts »Vaterzeit im Ramadan?!« vom Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V. Leipzig an (gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms »Demokratie Leben!« und vom Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz, Freistaat Sachsen im Rahmen des Landesprogramms »Weltoffenes Sachsen«): »Antimuslimischer Rassismus und Männlichkeitskonstruktionen in Deutschland«, »Soziale Arbeit im antimuslimischen Rassismus«, »Pädagogische Praxis im antimuslimischen Rassismus« und »Interventionsstrategien gegen antimuslimischen Rassismus im Alltag« Hark/Villa in Anlehnung an Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, Hark/Villa 2018: 13. Der Text entstand im Spätsommer 2018 nach dem Tötungsdelikt und den darauffolgenden rassistischen Hetzjagden in Chemnitz im Spätsommer 2018.
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schließen, und ich sage als weiße Frau*: Das Spukgespenst der Messermigration macht mir, ganz anders als Vorstellungen von Sexhorden, keine Angst. Die meisten unserer Workshopteilnehmenden sind Frauen*, und das machte die omnipräsente Rede von Sexmobs7 , die durch Messermigration kurzfristig abgelöst zu sein scheint, zu einer Herausforderung. Eine Vielzahl der Frauen* in Deutschland hat in ihrem Leben sexualisierte Übergriffe erfahren.8 Wir wissen, die allerallermeisten davon zu Hause.9 Selbstverständlich reagieren einige ihrer Körper auf Geschichten sexualisierter Gewalt. Die Bedrohung durch Messer gehört nicht zu meiner eigenen Erfahrungswelt. Aber ich müsste nicht sexualisierte Übergriffe erfahren haben, um mich als Opfer zu fühlen. Die Frauen* in den kollektiven Bildern der Geschichte hängen ohnmächtig in den Armen ihrer Vergewaltiger. Feministinnen* haben viel über die Entmächtigung gesprochen, die mit viktimisierenden Bildern und Erzählungen einhergeht (vgl. z.B. Heberle 1996). Die männliche Macht über Frauen*körper ist ein alt bekanntes Motiv und ein rassistisch vereinnahmtes noch dazu. Mit Blick darauf, dass Europa Anfang des 20. Jahrhunderts über ca. 85 Prozent des globalen Territoriums in Form von Kolonien, Protektoraten und Dependancen regierte (vgl. Castro Varela/Dhawan 2015: 9), lässt sich denken, welche »anderen« Männer über wessen »eigene« Frauen Macht ausüben konnten. Dabei wissen wir von unterschiedlichen
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Beispielsweise Bildzeitungsschlagzeilen zu den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht: »So wütet der SEX-MOB in unseren Städten!« (Bild vom 6. Januar 2016) und auf Grundlage von frei erfundenen Falschaussagen über »900 betrunkene Flüchtlinge«: »Sex-Mob tobte in der Freßgass« (Bild Frankfurt vom 6. Februar 2017). Laut der EU-Studie aus dem Jahr 2014, bei der 42 000 Frauen befragt wurden, hat jede dritte Frau in Europa als Erwachsene körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren. Deutschland liegt im Mittelfeld: 35 Prozent haben hier seit ihrem 15. Lebensjahr mindestens einmal sexuelle oder körperliche Gewalt erlebt. Das heißt, sind geschlagen, getreten, geohrfeigt, begrapscht, genötigt oder zum Sex gezwungen worden. Eine von 20 Frauen wird demnach vergewaltigt, eine von zehn erlebt andere Formen sexueller Gewalt (Britzelmeier 2016). Das Familienministerium veröffentlichte 2004 eine umfassende Studie zu Gewalt gegen Frauen, auf die bis heute in vielen Untersuchungen und Berichten Bezug genommen wird. So erklärte beispielsweise die Organisation Terres des Femmes auf Anfrage, man benutze diese Untersuchung weiterhin – und die Ergebnisse deckten sich mit den aktuellen Erfahrungen aus Beratungsgesprächen. Die Studie war zu dem Ergebnis gekommen, dass die meisten sexuellen und körperlichen Gewalttaten gegen Frauen in der eigenen Wohnung begangen wurden (vgl. Gensing 2018).
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Versuchen der Ermächtigung weißer Männer* über Frauen* of Color, sexuelle Ausbeutung kolonisierter Frauen* durch Kolonialherren beispielsweise ebenso wie inszenierte Befreiungen.10 Zugleich inszenierten auf unterschiedliche Weise in unterschiedlichen Kontexten weiße mörderische Mobs ebenso wie erfolgreiche rassistische Kampagnen der Geschichte »andere« Männer* als sexuelle Gewalttäter. Bilder weißer Frauen* in Missbrauchsszenen finden sich im Propagandamaterial gegen die Rheinbesetzung durch französische Kolonialsoldaten nach dem Ersten Weltkrieg ebenso wie in der nationalsozialistischen Hetze (vgl. Mecheril/van der Haagen-Wulff 2016: 124). Zeitungsbilder aus dem Jahr 2016 zeigen bedrohte nackte Frauenkörper in Weiß und bedrohende Hände in Schwarz.11 Nicht wenige Menschen, die als weiße Frauen* sozialisiert wurden, spüren die Macht dieser Erzählungen an ihren Leibern. Der Feind ist erfunden, die Angst ist sehr real. Ich frage mich (wenn auch nicht in diesem Artikel), was wir mit unseren ängstlichen Körpern machen, wenn wir erst klüger sind. In unsere Workshops kommen die eindeutig Guten, vornehmlich Frauen*, die, obwohl weiß positioniert, ein Gespür für Rassismen haben. Viele wollen sich gegen Rassismus einsetzen, auch »sächsischen Zuständen«12 zum Trotz und bringen doch zugleich das »Aber« mit in den Raum. Das berühmt berüchtigte nagende, das rassistische »Aber«. Das sich ABER in der eigenen sexuellen Selbstbestimmung durch Migration aus muslimischen Ländern getroffen Fühlen beispielsweise. Mich interessiert das Zweifache dieser Angst, die Angst als Folge von Vergeschlechtlichung und Rassifizierung. Und auch wenn
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Fanon beschreibt dies am Beispiel Algeriens: »The occupying forces, in applying their maximum psychological attention to the veil worn by Algerian women, were obviously bound to achive some results. Here and there is thus happenedthat a woman was ›saved‹, and symbolically unveiled.« (1965: 42) Siehe u.a. Titelbild der Focus-Ausgabe vom 8. Januar 2016. Der spezielle Blick auf die Situation in Sachsen macht deutlich, dass viele Sachsen schon aus der Stichprobe (2008-2011) bereit waren, menschenfeindlichen Einstellungen zuzustimmen. So waren beinahe zwei Drittel (62,3 Prozent) der Sachsen der Ansicht, es lebten zu viele Ausländer in Deutschland und gut 37 Prozent stimmten der Aussage zu, dass in Deutschland lebende Ausländer in ihre Heimat zurückgeschickt werden sollten, wenn Arbeitsplätze knapp werden. Immerhin etwa 17 Prozent der Sachsen vertraten die Meinung, Weiße seien zu Recht führend in der Welt. Ebenso viele stimmten dem klassisch antisemitischen Vorurteil zu, Juden hätten in Deutschland zu viel Einfluss. 31 Prozent würden Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland untersagen (vgl. Beckmann 2012).
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es mich einmal nicht interessiert, in der Workshoparbeit zum Thema Rassismus beispielsweise, drängt es sich auf. »Ich leide doch auch« ist als Ausweichreflex in der Auseinandersetzung mit Rassismen bekannt und vertraut. In unseren Workshops werfen uns Teilnehmende nicht selten vor, die Unterdrückung und sexuelle Ausbeutung von Frauen* zu dethematisieren. Und wenn auch zu fragen bleibt, wozu der Vorwurf in einem rassismuskritischen Workshop dient, ist doch der Beitrag, den das Als-Frau-Gelten zur »Position der Verletzlichkeit« (vgl. Castro Varela/Dhawan 2004: 218ff.) hat, der Rede wert. Sexuelle Verwundbarkeit beispielsweise ist diskursiv stark mit dem weiblichen Körper und dem öffentlichen Raum verknüpft. Mit der Änderung des Sexualstrafrechts 199713 wurde Vergewaltigung in der Ehe ebenso wie Vergewaltigung von Männern überhaupt erst als Straftat anerkannt. Abends allein im Park und Frau* sein ist angsteinladend. Fügen wir dieser Szenerie noch eine Gruppe junger rassistisch markierter Männer* hinzu, ist für die eine oder andere spürbar, dass diese Angst längst rassistisch vereinnahmt ist. Ich habe keine große Lust, rassistische Ängste ernst zu nehmen (erst recht nicht meine eigenen). Aber ernst zu nehmen ist doch, dass hinter all der Angst vor dem Falschen eine vergeschlechtlichte Verletzlichkeit und verletzende Vergeschlechtlichung liegt, die weit über die Verletzlichkeit des Körpers hinausgeht.
Weißer Frauen Ängste Folgen Mein Partner ist ein großer als muslimisch gelesener Mann. Im Laufe der Jahre, in denen wir in Leipzig leben, hat er eine Handtaschenmarotte entwickelt. Betritt er einen öffentlichen Raum, orientiert er sich an den dort befindlichen Handtaschen, möglichst weit fort von allen dort. Es ist wie eine Choreografie, ein Tanz. Er und die Handtaschen in den Händen weißer Frauen*. Die Angst weißer Frauen* macht etwas mit ihm. Die Angst macht auch etwas mit den Frauen* selbst. Nicht wenige berichten von der Handlungsunfähigkeit, die sie empfinden, wenn sie beispielsweise als Lehrerinnen mit Siebenjährigen umzugehen aufgefordert sind, die sie als Machos wahrnehmen. Oder mit
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Vgl. Deutscher Bundestag: Vergewaltigung in der Ehe. Strafrechtliche Beurteilung im europäischen Vergleich. Ausarbeitung. Drucksache WD 7 – 307/07. Bonn 2008, online unter www.bundestag.de/resource/blob/407124/6893b73fe226537fa85e9ccce444dc95/wd-7-307-07-pdf-data.pdf (Zugriff: 30.04.2020).
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den Vätern von Kindergartenkindern, die sie als Machos lesen. Anhaltspunkt für Machismus kann dabei ganz Unterschiedliches sein. Männer, die sich zu viel einbringen. Männer, die sich zu wenig einbringen. Männer, die sich zu laut einbringen. Rassistische Bilder verstellen nicht selten die Wahrnehmung vom Gegenüber. Zugleich scheint zumindest irgendein Gespür für irgendwie an Geschlecht gebundene Machtverhältnisse ermöglicht. Andere Machtverhältnisse werden dabei nicht nur ignoriert, sie scheinen überhaupt erst den Blick auf Sexismus freizugeben. Als Lehrerin und Herrin über die Noten seines Kindes einem der deutschen Sprache nur wenig mächtigen Menschen ohne gesellschaftliche Anerkennung gegenüber zu sitzen beispielsweise lässt dessen dominantes Auftreten als verboten erscheinen. Ihre eigenen Dominanzansprüche in direkter Auseinandersetzung durchzusetzen ist nicht jede trainiert.14 Folgerichtig dient das, was von den Frauen* als eigene ungerechte Unterordnung wahrgenommen wird, als Argument in einem Diskurs mit dem Ziel der machtvollen Unterordnung in vielerlei Hinsicht deprivilegierter anderer Männer*. Immerhin höre irgendwo Toleranz auf. Oder anders: Donald Trumps öffentliche Frauenverachtung15 hat sehr viele Frauen nicht daran gehindert, ihn zu wählen, und Brett Kavanaugh16 ist bis zu seinem Lebensende ein oberster Richter im Supreme Court. Vermeintliche wie tatsächliche Machismen ebenso wie vermeintliche wie tatsächliche sexualisierte Übergriffe vonseiten »anderer« Männer werden und wurden rassistisch instrumentalisiert, interessanterweise immer wieder zur Sicherung männlicher weißer Herrschaft. Witwenverbrennungen in Indien dienten der Rechtfertigung der britischen Kolonialherrschaft, wie Spivak herausarbeitete und auf den Punkt brachte: »White men saving the brown wo-
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Im November 2017 verkaufte Lidl Kinderschlafanzüge in Blau mit der Aufschrift »Be your own superhero« und in Rosa mit der Aufschrift »Daddy is my superhero«. »Wenn Du ein Star bist, dann lassen sie Dich ran«, prahlte Trump im Gespräch mit einem TV-Moderator, das ohne sein Wissen im September 2005 aufgezeichnet wurde. »Pack sie an der Muschi!«, »Du kannst alles machen.«; vgl. online unter www.welt.de/newsticker/news1/article158635130/Trump-geraet-wegen-vulgaererund-frauenverachtender-Sprueche-in-die-Defensive.html (Zugriff: 30.04.2020). Die Professorin Christine Blasey Ford wirft Kavanaugh vor, dass er als Teenager versucht habe, sie zu vergewaltigen; vgl. www.faz.net/aktuell/politik/trumps-praesidentschaft/debatte-um-brett-kavanaugh-schauen-sie-nicht-weg-15812904-p2.html (Zugriff: 30.04.2020).
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men from brown men« (Spivak 1994: 93). Mit der Verteidigung von Frauenrechten wurde auch der Krieg in Afghanistan gerechtfertigt.17 Rassismus fühlt sich wohl im feministischen Gewand. Das Thema Sexualität ist rassistisch einsetzbar und eingesetzt. Damit einher ging oft auch die Einschränkung der sexuellen Handlungsmacht deutscher weißer Frauen. Sowohl im Kolonialismus als auch im Nationalsozialismus wurden sie zu Figuren moralischer Reinheit stilisiert. Im Kolonialismus konnte das für Frauen* auch eine Bewertung ihrer Rolle meinen, die einige Wissenschaftler*innen, wie Dietrich herausarbeitet, als Umkehr der Geschlechterzuschreibungen beschrieben. »Die weiße (bürgerliche) Frau sorgte in dieser Konstruktion ihrer Tugendhaftigkeit für eine Disziplinierung des triebhaften weißen Mannes, der durch den kolonialen Alltag von der weißen Kultur, Nation bzw. ›Rasse‹ zu entfremden drohte.« (Dietrich 2010: 224) Weiße deutsche Frauen hatten nach nationalsozialistischer Propaganda ganz »mütterliche« Tugendhaftigkeit zu sein. Neben dieser sehr machtvollen Erzählung gab es andere und erst recht Frauen, die sich anders gesehen und verhalten haben. Aber wer sich diesem Bild hingab, war bei aller Entmächtigung doch eingeladen, sich »rassisch« überlegen zu fühlen (vgl. Rommelspacher 1995: 91). Vor diesem Hintergrund ist interessant, dass neben geäußerten Ängsten weniger explizit geäußerte Vorstellungen von (häuslich-familiärer) Überlegenheit ein wichtiges Moment in der rassismuskritischen Bildungsarbeit mit weißen Frauen* einnehmen. Ein typischer Anlass für den Besuch unserer Workshops ist folgender: Eine Frau besuchte eine aus Syrien geflüchtete Familie und erlebte dort, dass ein Vater seinem sechs Monate alten Säugling Schwarztee mit Honig zu trinken gab. Sie habe versucht, das zu verhindern, aber sei (u.a. sprachlich) nicht verstanden worden. Sie ist ganz aufgeregt, als sie das sagt. Hier wünscht sie sich Ausbau an Handlungskompetenz, um Kinder in Zukunft besser vor Honig schützen zu können. Es gibt Tage, da bin ich gewillt, den Workshop entsprechend zu überarbeiten. Modul 1: Wie vermittle ich Neuzugezogenen aus muslimisch geprägten Ländern anschaulich und nonverbal und mit den Wirkungen, die ich mir erhoffe, welche Ernährung für Kinder gesund ist? 17
Vgl. hier Thesen der afghanischen Politikerin Malalai Joya, z.B. in einem Interview mit Heike Hänsel 2007 »Die USA und ihre Verbündeten haben das Elend der afghanischen Frauen als Vorwand missbraucht, um ihren Angriff auf Afghanistan zu legitimieren, mit dem sie vorgaben, »den afghanischen Frauen Frieden zu bringen«. Kurz nach dem Sturz der Taliban verkündete Herr Bush, dass »die afghanischen Frauen jetzt frei sind. Dies ist nur eine Lüge und verblendet die Menschen weltweit.« Vgl. online unter www.malalaijoya.com/de/interview_de.htm (Zugriff: 30.04.2020).
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Und um auch den Unmut anderer Teilnehmender besänftigen zu können. Modul 2: Wie vermittle ich Neuzugezogenen aus muslimisch geprägten Ländern anschaulich und nonverbal und mit den Wirkungen, die ich mir erhoffe, dass sich Erziehungsberechtigte in den Kindertagesstätten ihrer Kinder mit Engagement und zugleich zurückhaltend, durch regelmäßige Präsenz und zugleich in paritätischem Verhältnis mit ihren Ehepartner/-innen, die eigene Erziehungsverantwortung wahrnehmend, ohne je die Autorität der Erzieher*innen infrage zu stellen, einzubringen haben? Es kann gerade bei all den durch Migration provozierten Zweifeln an der eigenen »imperialen Lebensweise« (Brand/Wissen 2017: 13) ungemein stabilisierend sein, sich edel, hilfreich und gut fühlen zu können und sich ausdrücklich nicht selbst infrage zu stellen. Die bei Weitem meisten Menschen in sozialen Berufen sind Frauen. Die bei Weitem wenigsten Menschen, die Mitglieder in der AfD sind, sind Frauen*18 . In Institutionen des nationalsozialistischen Machtapparats waren Frauen nur machtfern eingebunden (vgl. Obens 2015: 309). Zugleich haben sowohl im ›Dritten Reich‹ als auch bereits zu Kolonialzeiten Frauen* aktiv an Vorstellungen rassischer Reinheit mitgewirkt. Heute sind Frauen* in Führungspositionen rechtspopulistischer Vereinigungen, und beim Frauenmarsch der AfD kamen beinah nur Rednerinnen* zu Wort. Auch Feministinnen* wie Alice Schwarzer bringen sich stimmgewaltig mit rassistischen Äußerungen in den Diskurs über muslimische Männlichkeiten ein.19 Mensch könnte meinen, ihre Stimmen und Ängste fänden Gehör. Nach Köln kam es sowohl zu einer Verschärfung der Asylgesetzgebung20 als
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Die Statistiken über den Anteil der Frauen an den Mitgliedern der politischen Parteien in Deutschland am 31. Dezember 2017 zeigen, dass die Grüne und die Linke Partei über den größten Frauenanteil verfügten, 39,80 Prozent und 36,50 Prozent. Auf dem letzten Platz lag die AfD mit dem weiblichen Mitgliederinnenanteil von 17 Prozent; vgl. online unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/192247/umfrage/frauenanteil-in-den-politischen-parteien (Zugriff: 30.04.2020). Schwarzer sieht hierfür einen Beleg im Wahlerfolg der AfD. Ohne die Schwierigkeiten mit dem »Zuzug von Männern aus tief patriarchalen Ländern, die auch noch vom radikalen Islam verhetzt sind, wäre vermutlich die AfD heute nicht im Bundestag«. Viele Menschen hätten die AfD aus Frustration darüber gewählt, »dass alle demokratischen Parteien wegsehen und so tun, als gäbe es diese Probleme nicht«, vgl. online unter www.welt.de/politik/deutschland/article171123397/Zuzug-von-Maennernaus-patriarchalen-Laendern-erklaert-AfD-Erfolg.html (Zugriff: 30.04.2020). Vgl. online unter www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2018/kw45-pa-innenasylrecht-570846 (Zugriff: 30.04.2020).
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auch des Sexualstrafrechts21 . Und es waren wieder machtvolle Männer*, die vorgaben, »ihre« Frauen* zu schützen. Die »Junge Alternative Essen« hat die Widersinnigkeit dieses Anspruchs verbildlicht. Auf Facebook veröffentlichte sie am 7. Mai 2018 ein Foto mit einem Stapel Geschirrtücher und darüber den Schriftzug »Das einzige Tuch, das Frauen brauchen«.22 Der rassistische Diskurs funktioniert auch ohne die Angst um die propagierte sexuelle Selbstbestimmung weißer Frauen*. Das zeigt beispielsweise das verleumdende Reden über Messermigranten. Markus Frohnmaier, zu dem Zeitpunkt AfD-Mitglied, beispielsweise schrieb: »Heute ist es Bürgerpflicht, die todbringende ›Messermigration‹ zu stoppen! Es hätte deinen Vater, Sohn oder Bruder treffen können!«23 Aber der Verweis auf den vermeintlichen Sexismus anderer rechtfertigte bisher nicht nur immer wieder rassistisches Handeln, sondern sicherte auch die in und über Sexismus erstiegenen Positionen deutscher weißer Männer*.
Der Wille zur Macht Vorausgesetzt wird häufig, dass wir in unseren Workshops über Geschlechterbilder im Islam sprechen. Das tun wir nicht. Die Kölner Silvesternacht hat unser Projekt enorm unterstützt. Rundum Köln entstand eine Menge Anschauungsmaterial zu rassistischen Bildern muslimisch markierter Männlichkeiten. Und die Workshopanfragen stiegen immens. Aber gebucht wurden wir immer noch und immer wieder auf Grundlage von Missverständnissen. Erwartet wurde, etwas über die Frauenbilder »muslimischer Männer« zu erfahren, dabei handeln unsere Workshops eher noch von den rassistischen Männerbildern (nicht nur, aber auch) weißer Frauen. Das glaubt uns nur kaum eine. Das Bild von der unschuldigen weißen bürgerlichen Frau ist noch immer wirkmächtig, nicht zuletzt in Selbstbildern. Es gibt Frauen* in Führungspositionen rechter Parteien. Aber die kommen nicht in unsere Workshops. Es gibt überhaupt Frauen* in Machtpositionen. Es gibt Frauen*, die sich ihrer Macht bewusst sind. Mich interessieren diejenigen, die sich selbst nicht als 21 22 23
Vgl. online unter https://kripoz.de/2016/08/25/das-reformierte-sexualstrafrecht-einueberblick-ueber-die-vorgenommenen-aenderungen (Zugriff: 30.04.2020). Vgl. https://twitter.com/LorenzMaroldt/status/1049606656160657409 (Zugriff: 30.04.2020). Vgl. https://twitter.com/frohnmaier_afd/status/1033806135990644744?lang=de (Zugriff: 30.04.2020).
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machtvoll entwerfen, während sie sehr wohl von Rassismen profitieren und sich außerdem in ihren Arbeitszusammenhängen durchaus in Machtpositionen gegenüber als anders markierten Männern* befinden. Aber nicht nur weißen Frauen* in sozialen Berufen werden Positionen der Unschuld angeboten. Pratt beschreibt die Position des Unschuldigen mit Blick auf das männlich europäisch-bürgerliche Subjekt als eine Position, die zugleich den eigenen Hegemonieanspruch sichert. Wie Castro Varela zusammenfasst, ganz nach dem Motto: »Wir sind gegen Eroberung, aber unsere Vormachtstellung ist unantastbar.« (2015: 357) Und in Pratts Worten: »[H]e whose imperial eyes passively look out and possess« (1992: 7). Der Afrikabeauftragte der Bundeskanzlerin Günter Nooke behauptete unlängst, die europäische Kolonialherrschaft habe dazu beigetragen, Afrika »aus archaischen Strukturen zu lösen«.24 Die eigene Verantwortung zu spüren kann unter sexistischen Vorzeichen und angesichts einer rassistischen Vergangenheit, in der mehrheitlich Männer über das Private hinausreichende Entscheidungen getroffen haben, den teilnehmenden Frauen* unserer Workshops ungleich schwerer fallen. Diese Frauen* sind unterschiedlich. Sie erleben unterschiedliche Weiblichkeitszuschreibungen und gehen unterschiedlich damit um. Thema unserer Workshops sind und bleiben Männlichkeitskonstruktionen im antimuslimischen Rassismus und damit u.a. ein diese Diskurse stützendes Bild weißer Frauen*, das für moralische Unschuld steht, das manche weiße Frauen in manchen Zeiten ihres Lebens zu ihrem machen und machen können. Rassismuskritische Selbstauseinandersetzungen weißer Frauen* erlebe ich deshalb häufig auch als Trauerarbeit angesichts der eigenen Fragmentierung. Auch wenn es für rassistisch Diskreditierbare wie Hohn und Spott klingen mag, zielen unsere rassismuskritischen Workshops auch darauf ab, weiße Frauen* zu unterstützen, in die eigene Kraft zu kommen, dorthin also, wo eigene Anteile an gewaltvollen Ungleichheitsverhältnissen fühlbar werden. Schwarze Feministinnen haben schon vor Jahrzehnten weißen Feministinnen ihre blinden Flecke, ihre Ignoranz und ihren Rassismus aufgezeigt (vgl. z.B. bell hooks 2019). Nur ändern müssen weiße Frauen sich noch selbst. Wenn meine eigenen rassistischen Anteile wieder mit mir durchgehen möchten, nehme ich mir ein Beispiel an einer Frau* aus einem der Chemnitz-Videos,
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Im Interview mit dem Berliner Boulevardblatt B. Z. im Oktober 2018, online unter www.bz-berlin.de/deutschland/afrikabeauftragter-guenter-nooke-der-kalte-krieghat-afrika-mehr-geschadet-als-die-kolonialzeit (Zugriff: 30.04.2020).
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die Maaßen nicht wachsam geschaut zu haben scheint.25 Weiße glatzköpfige, augenscheinlich rechtsextreme Brecher sind auf dem Sprung, um hinter anderen Männern herzujagen. Einer der Männer hält inne, als eine Frauenstimme aus dem Hintergrund zu hören ist: »Hase, du bleibst hier.«
Literatur Beckmann, Lisa: Expertise: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Sachsen 2008 – 2011 (im Vergleich zu 2002-2005). Bielefeld: Universität Bielefeld, Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, online unter www.lpr.sachsen.de/download/landespraeventionsrat/Expertise_GMF-SN_2008-2011.pdf (Zugriff: 30.04.2020). bell hooks (2019): Schwarze Frauen und Feminismus [1982]. In: Kelly, Natasha A. (Hg.): Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte. Münster: Unrast, S. 63-108. Brand, Ulrich/Wissen, Markus (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München: oekom. Britzelmeier, Elisa: Die 7 wichtigsten Fakten zu sexueller Gewalt. Die wenigsten Vergewaltigungen werden angezeigt, und meist ist der Täter kein Unbekannter (27.04.2016). In: SZ.de, online unter www.sueddeutsche.de/panorama/vergewaltigung-die-wichtigsten-fakten-zusexueller-gewalt-1.2937498 (Zugriff: 30.04.2020). Bröcker, Michael/Quadbeck, Eva: »Migrationsfrage ist die Mutter aller Probleme«. Horst Seehofer im Gespräch mit der Rheinischen Post (06.09.2018). In: RP Online, online unter https://rp-online.de/politik/ deutschland/horst-seehofer-lehnt-stichtagsregelung-fuer-fluechtlingeals-fachkraefte-ab_aid-32736207?token=AElXmPFl8BCIBsUfF7UXf Zu_ mYb_wxkViw %3D %3D (Zugriff: 30.04.2020). 25
Heiko Maaßen in der Bild am 7. September 2018: »Die Skepsis gegenüber den Medienberichten zu rechtsextremistischen Hetzjagden in Chemnitz werden von mir geteilt. Es liegen dem Verfassungsschutz keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben.« Und über ein Video, das eine Attacke von Rechten auf Menschen of Color zeigt, ebd.: »Nach meiner vorsichtigen Bewertung sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken.« (Zit. n. www.zeit.de/politik/deutschland/2018-09/verfassungsschutz-hansgeorg-maassen-chemnitz-hetzjagd; Zugriff: 30.04.2020)
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Castro Varela, María Do Mar (2015): Überdeterminiert und reichlich komplex. Überlegungen zu Politischer Bildung im Kontext von Postkolonialismus und Postnazismus. In: Hechler, Andreas/Stuve, Olaf (Hg.): Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen rechts. Opladen: Barbara Budrich, S. 343364. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2004): Horizonte der Repräsentationspolitik – Taktiken der Intervention. In: Ross, Bettina (Hg.): Migration, Geschlecht und Staatsbürgerschaft. Weiter-denken für antirassistische, feministische Politik/-wissenschaft. Wiesbaden: Springer VS, S. 205-226. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2005): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. Bielefeld: transcript. Dietrich, Anette (2010): Koloniale Emanzipation. Die bürgerliche Frauenbewegung im Kontext kolonisierender und rassifizierender Praktiken. In: Dietze, Gabriele/Brunner, Claudia/Edith Wenzel (Hg.): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht. Bielefeld: transcript, S. 213-232. Dietze, Gabriele (2017): Sexualpolitik. Archäologie einer Problematisierungsweise. In: Dies. (Hg.): Sexualpolitik. Die Verflechtung von Race und Gender. Frankfurt a.M.: Campus, S. 7-69. Fanon, Frantz (1965): A dying colonialism. New York: Grove Press. Gensing, Patrick (2018): Schwere Straftaten gegen Frauen. Die männliche Gewalt (14.03.2018). In: tagesschau.de, online unter https://faktenfinder. tagesschau.de/inland/fakten-gewalt-gegen-frauen-101.html (Zugriff: 30.04.2020). Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene (2018): Unterscheiden und herrschen. Ein Essay zu den ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart. Bielefeld: transcript. Heberle, Renée (1996): Deconstructive Strategies and the Movement Against Sexual Vio-lence. In: Hypatia 11, H. 4, S. 63-76. Mecheril, Paul/van der Haagen-Wulff, Monica (2016): Bedroht, angstvoll, wütend. Affektlogik der Migrationsgesellschaft. In: Castro Varela, María Do Mar/Ders.: Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart. Bielefeld: transcript, S. 119-142. Obens, Katharina (2015): Täterinnenbilder: Geschlecht und Emotion in der Rezeption von Zeitzeug_innen-Erzählungen. In: Hechler, Andreas/Stuve, Olaf (Hg.): Geschlechterreflektierte Pädagogik gegen rechts. Opladen: Barbara Budrich, S. 303-324.
Unsere unschuldigen Frauen
Pratt, Mary Louise (1992): Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation. New York/London: Routledge. Rommelspacher, Birgit (1995): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit. Berlin: Orlanda Frauenverlag. Spivak, Gayatri C. (1994): Can the subaltern speak? In: William, Patrick/Chrisman, Laura (Hg.): Colonial discourse and post-colonial theory: a reader. New York [u.a.]: Columbia University Press, S. 66-111.
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Autorinnen und Autoren
María do Mar Castro Varela, Prof. Dr., Diplom-Psychologin, DiplomPädagogin und promovierte Politikwissenschaftlerin ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen die Gender und Queer Studies, die Postkoloniale Theorie, die Kritische Migrationsforschung, die Kritischen Bildungswissenschaften und Trauma Studien. In 2015/16 war sie Senior Fellow am Institut für die Wissenschaft des Menschen (IWM) in Wien. Sie ist Gründerin und Mitglied des bildungsLab* Berlin (www.bildungslab.net). Gemeinsam mit Aïcha Diallo ist sie Produzentin und Moderatorin der Radioserie: »A Lover’s War«. Sabine Hess ist Professorin für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Universität Göttingen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Transnationalisierungs- und Europäisierungsforschung, Migrations- und Grenzregimeforschung, politische Anthropologie, kulturanthropologische Geschlechterforschung sowie die Methodenlehre. Sie ist Gründungsmitglied des Netzwerkes kritische Migrations- und Grenzregimeforschung und Mitglied des Vorstands des Rats für Migration. Seit 2018 leitet sie als Direktorin das Centre für globale Migrationsforschung der Universität Göttingen. Juliane Karakayalı, Prof. Dr., ist Professorin für Soziologie an der evangelischen Hochschule Berlin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Migration, Rassismus, Geschlechterverhältnisse, Bildung und Organisationen. Sie ist Mitherausgeberin von movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung und Sprecherin der Sektion postmigrantische Gesellschaft im Rat für Migration. 2020 hat sie den Sammelband »Unterscheiden und Trennen. Die Herstellung von natio-ethno-kultureller Differenz und Segregation in der Schule. Beltz.« herausgegeben.
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Geschlechterdiskurse in der Migrationsgesellschaft
Dr. Meltem Kulaçatan ist Erziehungs- und Politikwissenschaftlerin. Sie studierte Islamische Religionslehre und Politikwissenschaft an der FriedrichAlexander-Universität in Erlangen. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Erziehungswissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt a.M. und war im Herbstsemester 2017 als Gastprofessorin am Religionswissenschaftlichen Seminar an der Universität Zürich in der Schweiz tätig. Im Januar 2018 war sie im Rahmen der Carl von Ossietzky Gastdozentur an der Universität Oldenburg am Center for Migration, Education and Cultural Studies (CMC) tätig. Meltem Kulaçatan ist Mitglied im Rat für Migration und Mitglied im Vorstand der Anne-Frank Bildungsstätte in Frankfurt. Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind Jugend, Islam, Migration, Gender und Feminismus sowie Islam, Nationalismus und Bildung in der zeitgenössischen Türkei. Ulrike Lingen-Ali, Dr. phil., lehrt am Institut für Pädagogik der C arl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachgruppe Migration und Bildung. Forschungsschwerpunkte sind Migrationsgesellschaftliche Geschlechterverhältnisse und Zugehörigkeitsordnungen, Migration und Familie, Fluchtverhältnisse, Orientalismus, Othering und Intersektionalität. Aktuelles Forschungsprojekt: »Geflüchtete Frauen, Familiendynamiken und Gewalt: Traumabewältigung, Intervention und Prävention im Aufnahmekontext«. Prof. Dr. Paul Mecheril, Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Migration an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld. Schwerpunkte: methodologische und methodische Fragen interpretativer Forschung, Pädagogische Professionalität, migrationsgesellschaftlichen Zugehörigkeitsordnungen, Macht und Bildung. Sylvia Pritsch, Dr. phil., seit 2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Forschung und Lehre am Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. 2010 bis 2011 Gastprofessur für Kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien sowie Digitalität an der Universität der Künste Berlin, Institut für Geschichte und Theorie der Gestaltung. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien, Politiken der Repräsentation, vergeschlechtlichte und ethnisierte Formierungen von Subjekt und Identität, mediale Konzepte von Gemeinschaft, postcolonial/transnational Feminisms.
Autorinnen und Autoren
Anna Sabel, Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin, leitet das Bundesmodellprojekt »(Un)Sichtbarkeiten in der Migrationsgesellschaft. Storytelling angesichts von antimuslimischem Rassismus« beim Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V. in Leipzig. Sie ist außerdem Produzentin bei Wunschkindfilm. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich antimuslimischer Rassismus und Gender. Zuletzt kuratierte sie die Sonderausstellung »Re:Orient. Die Erfindung des muslimischen Anderen« (GRASSI Museum für Völkerkunde zu Leipzig) und die Wanderausstellung »Ein muslimischer Mann – kein muslimischer Mann« und führte Regie beim Dokumentarfilm »Spendier mir einen Çay und ich erzähl dir alles«. Nadine Sarfert promoviert am Zentrum Gender Studies der Universität Basel und lehrt u.a. an der Alice Salomon Hochschule Berlin und der Frankfurt University of Applied Sciences. Sie forscht aus multidimensionaler Perspektive zu Artikulations- und Subjektivierungsweisen von Jugendlichen in der Jugendhilfe. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind kritische Soziale Arbeit, Gender Studies, Intersektionalität von Macht- und Herrschaftsverhältnissen und Qualitative (insbes. tiefenhermeneutische) Forschung. Marc Thielen, Dr. phil., Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH) und Diplompädagoge, Professor für Berufsorientierung in inklusiven Kontexten an der Leibniz Universität Hannover. Forschungsschwerpunkte: Migration und Flucht im Kontext Bildung, Bildungsverläufe und Bildungsinstitutionen des Jugendaltes. Prof. Dr. Vassilis S. Tsianos unterrichtet Soziologie an der Fachhochschule Kiel und ist Mitglied des Rates für Migration. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Soziologie der postmigrantischen Gesellschaft, critical race and racism Theory sowie ethnographische Grenzregimeanalyse der europäischen Grenze.
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Soziologie Naika Foroutan
Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6
Maria Björkman (Hg.)
Der Mann und die Prostata Kulturelle, medizinische und gesellschaftliche Perspektiven 2019, 162 S., kart., 10 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4866-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4866-3
Franz Schultheis
Unternehmen Bourdieu Ein Erfahrungsbericht 2019, 106 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4786-0 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4786-4 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4786-0
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Soziologie Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)
Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten
2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7
Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf
Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2
Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6
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